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Neue belletriſtiſche Werke
ſehr beliebter deutſcher Schriftſteller
aus dem Verlage von Otto Janke in Berlin,
welche durch jede Buchhandlung zu beziehen und in jeder guten
Leihbibliothek vorräthig zu finden ſind:
- Becker, Auguſt, Der Karfunkel. Roman. 8°. Geh. 1 Thlr. 15 Sgr.
- Byr, Robert, Sphinx. Roman. 3 Bde. 8°. Geh. 4 Thlr.
- Byr, Robert, Zwiſchen zwei Nationen. Roman. 3 Bde. Geh. 3 Thlr.
- Galen, Philipp, Der Friedensengel. Roman. 3 Bde. 8. Geh. 6 Thlr.
- Gieſe, Marie, Es iſt beſtimmt in Gottes Rath. Erzählung. Geh. 1 Thlr.
- Gieſe, Marie, Die Frau Meiſterin und ihr Sohn. 8°. Geh. 1 Thlr. 15 Sgr.
- Gutzkow, Karl, Die Ritter vom Geiſte. Fünfte, völlig umgearbeitete Auf¬
lage. 4 Bde. Geh. 2 Thlr. - Gutzkow, Karl, Die Söhne Peſtalozzi's. Roman. 3 Bände. Gr. 8°. Eleg.
geh. 5 Thlr. 20 Sgr - Lewald, Fanny, Nella. Eine Weihnachtsgeſchichte. Gr. 8. Eleg. geh.
1 Thlr. 22½ Sgr. - Ludwig, Otto, Geſammelte Werke. Neue, revidirte Ausgabe mit einer
Einleitung von Guſtav Freytag. 4 Bde. 8°. Geh. 2 Thlr.
Druck und Verlag von Otto Janke.
Einführung.
Es war etwa zwei Jahre nach der Schlacht von
Waterloo, als in einem niederländiſchen Gränzſtädtchen
armen Eltern eine Tochter geboren wurde.
Die kleine, fremde Stadt iſt nicht der Schauplatz
unſerer Geſchichte und die kleinen, fremden Leute ſind
nicht deren Helden. Das alltägliche Ereigniß aber
ſollte gleichſam den Angelpunkt bilden, um welchen
dieſelbe rückwärts und vorwärts ſich bewegen wird.
Denn wäre jenes Kindlein nicht geboren, oder wäre
es nicht in der Fremde und in Dürftigkeit geboren
worden, ſo würde die weite Welt von unſerer wirk¬
lichen Heldin nichts erfahren und wir würden ihr
nicht deren Bekenntniſſe zu offenbaren haben.
Der Vater des Kindes war noch jung, vielleicht
kaum großjährig. Dazu ein Mann von auffälliger,
ſagen wir ritterlicher Kraft und Schöne der Geſtalt,
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 1[2] wenngleich das ſturmvolle Leben des Feldlagers in
den frühverwüſteten, narbigen Zügen zu leſen ſtand
und wenngleich der Verluſt eines Armes ihn zum
Krüppel machte. Er war als unbärtiger Forſtlehrling
der Schaar des Braunſchweig-Oels in Sachſen zu¬
gelaufen, hatte die heldenmüthigen Fahrten und Thaten
dieſes Corps unter britiſcher Fahne auf der Halb¬
inſel, wie ſpäter in den Niederlanden getheilt, bis er
bei la Haye ſainte ſchwer [verwundet] und eines
Gliedes beraubt, als Wachtmeiſter verabſchiedet wor¬
den war. „Prinz Guſtel“ hatten die Kameraden der
Legion den ſtattlichen, flotten Sachſen titulirt; er ſelber
nannte ſich beſcheidentlich Auguſt Müller.
Die Mutter mochte leicht ein Mandel Jahre mehr
zählen als ihr Geſpons, und liegt es uns zu unſerer
Befriedigung nicht ob, über die vergangenen Tage der
„ſchwarzen Liſette“ gewiſſenhaft Buch zu führen. Genug,
daß ſie als Marketenderin, zuletzt bei der Legion, ge¬
dient, daß ſie ihren Auguſt nach ſeiner Verwundung
getreulich verpflegt hat, daß ſie ſein rechtmäßiges Weib
geworden und jetzt ämſig bemüht iſt, den armſeligen
Haushalt durch langentwöhnte Handarbeit zu friſten.
Die ſpäte Wiege ſchien eine unberechnete Geräth¬
ſchaft in ihrem Mahlſchatze geweſen zu ſein. Jeden¬
[3] falls hatte die Kampfesſtunde, welche einem Menſchen
das Leben giebt, das wetterbraune, hartgliederige Weib
ſchwerer mitgenommen als zwanzig Kampfesjahre, in
welchen ſie Tauſende das ihre verenden ſah. Die Finger
zitterten und der Schweiß tropfte von ihrer Stirn,
als ſie jetzt, bei eintretender Dämmerung, die feinen
Lederzwickelchen noch aneinanderpaßte, die ſich, ſobald
der Morgen graute, in zierliche Damenhandſchuhe ver¬
wandeln ſollten. Sie ſeufzte, wenn ſie von Zeit zu
Zeit einen ſchüchternen Blick auf das ſchwächliche
Weſen fallen ließ, das ſeit drei Tagen, faſt ohne zu
erwachen, an ihrer Seite kaum merkbar athmete.
Noch weit unbehaglicher indeſſen ſchien dem jungen
Invaliden dieſer häusliche Zuſtand vorzukommen. Er
ſchritt in der halbdunklen, niedrigen Kammer auf und
ab gleich einem eingefangenen Hirſch, der ſich das Ge¬
weih abzuſtoßen fürchtet, riß dann, ſchwer athmend,
das Fenſterſchößchen auf und ſchlug es unwirſch wieder
zu, als er die Frau ängſtlich das Kind gegen den Luft¬
zug bedecken ſah. Endlich aber rannte er, ein Donner¬
wetter brummend, aus der Thür, durch welche wir ihn
nach einer Weile, eine Weinflaſche in der Hand und
in gemüthlicherer Laune, zurückkehren ſehen.
„Leg' das Zeug bei Seite und thu' einen Zug,
1*[4] Liſette!“ rief er der Wöchnerin entgegen. „Du biſt's
gewöhnt, und es thut Dir noth, armes Weib.“
Frau Liſette ſchüttelte bedenklich den Kopf, ſeufzte
und frug mit tiefer, zur Zeit merkbar angegriffener
Stimme: „Und die Zahlung, Auguſt? Wieder ge¬
knöchelt geſtern Nacht? Wieder gekärtelt? Mann,
Mann!“
„Nun, ſeit wann hältſt Du denn Knöcheln und
Kärteln für eine Sünde, altes Haus?“ entgegnete
lachend der Invalid. „Trink, und ſchneide kein Ge¬
ſicht! Kann ich Holz hacken mit meinem Stumpf?
Soll ich die Orgel umhängen und vor den Thüren
dudeln, he? Schmählich genug, daß Eine, die ſo
tapfer dem Kalbsfell gefolgt, elende Ziegenfellchen zu¬
ſammenſtoppeln muß. Aber laß das Geſtöhn! Greinen,
wenn man unterm Kanonendonner gelacht! Einen
Schluck und herzhaft drein geſchaut wie ſonſt. Es
kann ja nicht ewig Frieden bleiben. Wie lange wird's
dauern, iſt der Napoleon retour und dann — —“
Er verſtand den kläglichen Blick, mit welchem die
Marketenderin ſeine Rede unterbrach, fuhr aber nach
kurzem Beſinnen in munterſter Laune alſo fort: „Man
braucht nur einen Arm, um dreinzuhau'n, Liſette.
Ich habe ihrer mit der Linken losfeuern ſehen und
[5] mir iſt die Rechte geblieben, die Mannesfauſt. Nur
erſt den Napoleon retour, das Zelt aufgeſchlagen, ein
Pferd unter den Leib, und Stumpf und Kindsbett —
bah! wer denkt noch an die? Pack die Lappalien zu¬
ſammen und laß uns Eins ſchwatzen. Sei wieder
meine alte, brave, luſtige Schwarze!“
„Du haſt Recht, Auguſt; laß uns Eins ſchwatzen,“
verſetzte die Frau nach einer Pauſe mit einem herz¬
haften Entſchluß, indem ſie erſt ihr Nähzeug ſorg¬
fältig verpackte, dann die Flaſche entkorkte, einſchenkte
und nach einem kräftigen Zug das Glas dem In¬
validen reichte. — „Bleib' einmal bei mir heute
Abend, Mann. Wir wollen uns Geſchichten er¬
zählen, wie ſonſt im Zelt. Aber keine von den alten,
keine, die wir an den Fingern ableiern können, Du,
wie ich.“
Der Invalid lachte. „Curios, juſt von den
Schnurren, die Einer von den Fingern ableiern kann,
hört und ſchwatzt er am liebſten,“ meinte er.
„Nun freilich, freilich, Auguſt, ſo für alle Tage.
Nur heut' einmal zum Spaß ein Extraſtück. Ein noch
älteres, Mann. Etwas von vor unſerer Fahnen¬
zeit. Ich meine, etwas von der Heimath und den
Angehörigen, die wir — —“
Sie machte eine Pauſe, in der ſie einen ihrer
Kehle fremdartigen Ton hinunterpreßte. Dann, nach
einem Blick auf das Kind, der etwa wie „armer, ver¬
laſſener Wurm!“ auszulegen war, fuhr ſie fort:
„Freilich, bei mir iſt's eine Weile her. Die
Eltern waren todt, Geſchwiſter hatte ich keine und die
Gevattern und Muhmen, wenn ſie allenfalls noch lebten,
ich würde ſie ſchwerlich wiedererkennen, oder richtiger
ausgedrückt, ſie würden die Liſette nicht wiedererkennen
wollen, die — — Aber Du, Auguſt, Du biſt ein
junges Blut gegen mich. Wie lange iſt es denn her?
Keine zehn Jahr.“
„Anno neun, Liſette. Netto acht Jahre. Es
war, wie der Herzog —“
„Ich weiß das vom Herzog, Freund. Acht
Jahre! In der Zeit wird ein Menſch nicht ver¬
geſſen und ein Mann wird nur mit Ehren darauf an¬
geſehen. Kehrteſt Du heute heim, Deine Leute würden
Dich mit Vergnügen aufnehmen, Auguſt.“
Freund Auguſt lachte aus vollem Halſe. „Meine
Leute?“ fragte er, „der Förſter etwa, dem ich aus dem
Garne gelaufen bin?“
„Nun, wenn der Förſter juſt auch nicht, ſo doch
die, welche Dich vor ihm in Verſorgung hatten.“
[7]
„Der Waiſenvater, meinſt Du? Der gute Mann
war alt; er wird lange todt ſein, Liſette.“
„Aber Dein leiblicher Vater, Mann!“
„Ei, wie dumm, kluge Liſette! nachdem ich eben
erſt des Waiſenvaters erwähnt. Einen leiblichen
habe ich nicht gekannt.“
„Oder Deine Mutter — —“
„Ich weiß von keiner Mutter, Frau.“
„Von keiner Mutter? Aber eine Waiſenanſtalt
iſt doch kein Findelhaus. Du hatteſt Deine Jahre,
mußt Dich auf etwas vorher beſinnen können.“
„Vorher? nun ja, auf die alte Muhme im Walde.“
„Eine Muhme! Wie hieß ſie, Mann?“
„Sie hieß Juſtine.“
„Und weiter?“
„Weiter weiß ich's nicht.“
„Aber Du mußt doch einen Vater gehabt haben.
Was war er, wo lebte er, Auguſt?“
„Weiß ich Alles nicht, altes Fragezeichen.“
Die Frau ließ ſich durch dieſen Ehrentitel nicht
irre machen. „Beſitzeſt Du denn gar nichts Schrift¬
liches?“ forſchte ſie nach einigem Beſinnen weiter.
„Nicht Deinen Taufſchein, den Todtenſchein der El¬
tern und dergleichen?“
„Haſt Du Deine Kirchenzeugniſſe eingeholt, als
Du bei Nacht und Nebel Deiner Dienſtherrſchaft von
dannen rannteſt?“ gegenfragte ſpottend der Mann,
ſetzte aber, da er wieder einen Seufzer zu hören glaubte,
gutmüthig hinzu: „Na, nimm's nicht übel, Liſette.
Etwas Schriftliches möchteſt Du? Ja, da wäre allen¬
falls der Schein, mit dem mich der Probſt aus dem
Kloſter entlaſſen hat.“
„Auch im Kloſter biſt Du geweſen? Unter Mön¬
chen, Auguſt? Wohl gar katholiſch?“
„Lieber gar, altes Haus! Das iſt nicht Mode
im Leipziger Kreis. Die Anſtalt hieß nur das Klo¬
ſter und der Director der Probſt von päpſtlichen Zei¬
ten her. Der alte Zettel hat ſich erhalten, weiß ſel¬
ber kaum wie. So oft ich ihn wegwerfen wollte, ſah
ich den guten, blaſſen Mann und ſeine Thränen, als
er mir ihn gab. Wir hatten ihn Vater genannt,
und er war uns wie ein Vater geweſen. Da ſteckt'
ich den Wiſch denn immer wieder ein.“
„Zeige mir den Schein, Auguſt,“ bat die Frau,
indem ſie ſich haſtig daran machte, Feuer zu ſchlagen
und die Lampe auf dem Tiſch vor ihrem Bette anzu¬
zünden. Als ſie damit zu Stande gekommen, entfal¬
tete ſie das Papier, das der Invalid aus ſeiner Bruſt¬
[9] taſche hervorgeſucht hatte, und deſſen pulvergeſchwärzte,
blutige Spuren ein beredtes Zeugniß ſeiner Jünglings¬
jahre waren.
„Pſalm 146, Vers neun.“
„Der Herr behütet die Fremdlinge und Wai¬
ſen. Auguſt Müller. Eingeſegnet und unſerer
Pflegeſtätte entlaſſen am vierten April 1807.
Kloſter Laurentii, Ludwig Nordheim,
Kreis Leipzig. Probſt und Director.
Frau Liſette hatte dieſen knappen Inhalt kopf¬
ſchüttelnd vor ſich hingemurmelt. „Kein Geburtsda¬
tum,“ ſagte ſie nach einer nachdenklichen Pauſe; „nicht
Name, Stand und Wohnort der Eltern! War das
Kloſter eines für eheliche Kinder, Auguſt?“
„Für Soldatenwaiſen,“ antwortete ſtolz der
Mann. „Nur als Lückenbüßer dann und wann ein
Bürgerjunge.“
„Und Du erinnerſt Dich auch entfernt keines
Pflegers, oder Vormunds, keiner Ortsbehörde, die Dich
in die Anſtalt gebracht hätte?“
„Hingebracht? ei freilich, hingebracht hat mich Fräu¬
lein Hardine.“
Die Marketenderin zuckte neubelebt auf.
[10]
„Fräulein Hardine!“ rief ſie, „Mann, wer war
Fräulein Hardine?“
„Ein Frauenzimmer, groß und ſchwarz, wie Du,
Liſette,“ verſetzte, von dem Eifer ſeiner Frau beluſtigt,
der Invalid. „Wenn die alte Beckern recht hat, meine
Frau, oder Fräulein Mama.“
„Und die alte Beckern, wer war die?“
„Die Waſchfrau der Anſtalt und eine Klatſche.“
„Fräulein Hardine! Ein Fräulein, keine Mam¬
ſell! Eine Adlige ſonach.“
„Kann ſein. Ihr Vater war ein kurfürſtlicher
Major.“
„Sein Name —?“
„Hab' ihn niemals nennen hören; vielleicht auch
vergeſſen. Die Tochter hieß bei Allen ſchlechtweg
Fräulein Hardine.“
Frau Liſette ſaß eine Weile in ſtillen Gedan¬
ken, dann rückte ſie hervor mit einem kriegsliſtigen
Plan.
„Gieb mir die Pfeife, daß ich ſie Dir ſtopfe, Guſtel,“
ſagte ſie munter; „und da noch ein Glas, das den
Kopf aufräumt. Nun aber erzähle mir einmal hübſch
im Zuſammenhange Alles, was Du aus Deinen Kin¬
derjahren behalten haſt. So wenig es ſein mag, — man
[11] kann immer nicht wiſſen — — und von etwas muß
doch einmal geplaudert ſein, gelt?“
Ein trockner Text für den Liebhaber der Lager¬
geſchichten, trotz Pfeife und Flaſche, die ihn mundrecht
machen ſollten. Indeſſen er hatte gehört, daß man
einem Weibe im Kindbett zu Willen reden müſſe, und
er war im Grunde ein gutmüthiger Geſell. So legte
er denn Hand über's Herz, und während die Frau
ihre Ziegenfellchen wieder aufnahm, erzählte er, paf¬
fend den engen Raum auf- und niederſchreitend, — mit
Auslaſſung etwelcher Kraftausdrücke, die wir einer zar¬
ten Leſerin erſparen, — wörtlich wie folgt:
„Wie geſagt: wenn, wo, von wem ich geboren
worden, weiß ich nicht. So weit ich zurückzuſchauen
vermag, ſehe ich eine alte Frau, die ich „Muhme“
nannte und die mich keine Noth leiden ließ. In einer
Stadt oder in einem Dorfe war es nicht, denn ich
habe keine Häuſer weiter bemerkt, mit Ausnahme des
kleinen, darin die Muhme wohnte. Spielkameraden
hatte ich auch nicht, abgerechnet die Karnickel und Eich¬
katzen im Walde, der hinter dem Hauſe lag. Mit
denen aber bin ich um die Wette gehetzt und geklet¬
tert den lieben langen Tag. Und das war mir recht.
Die Muhme würde ich vielleicht wiedererkennen, viel¬
[12] leicht auch nicht. Das Haus aber könnte ich noch malen.
Es ſprang aus einem Dickicht hervor; Tannen, ſo
hoch, wie ich keine wieder geſehen, und am Giebel war
aus Stein ein Hundekopf angebracht und darüber eine
Krone von Gold.
„Die Muhme hieß Juſtine. So nannte ſie we¬
nigſtens das Frauenzimmer, das ſie wohl Tag für
Tag beſuchte. „Vom Schloſſe her,“ wie die Muhme
ſagte; ich habe aber niemals ein Schloß geſehen. Die¬
ſes Frauenzimmer war Fräulein Hardine. Ob ſie
jung oder alt geweſen iſt, kann ich ſo eigentlich nicht
ſagen, auch nicht, ob ſie es gut oder böſe mit mir ge¬
meint. Ich glaube aber gut zu jener Zeit. Gemacht
habe ich mir niemals etwas aus ihr. Gemerkt aber,
zum Wiedererkennen gemerkt hätte ich ſie mir, glaub'
ich, ſchon aus jener Zeit. Es war etwas an ihr, das
ſich nicht vergißt. Was, das kann ich wieder einmal
nicht ſagen.
„Eines Tages ſaß ich eingeſperrt mit Fräulein
Hardine in einem engen Kaſten, der ſich fortbewegte.
Item in einer Kutſche. Von Anfang machte ich große
Augen, da ich die Bäume am Wege ſo hurtig an
mir vorüberrennen ſah. Ich ſehe ſie noch rennen,
Liſette. Bald aber kriegte ich das Ding ſatt, tobte,
[13] ſchrie, und würde über den Kutſchenſchlag geſprungen
und in meinen Wald zurückgelaufen ſein, wenn Fräu¬
lein Hardine mich nicht an den Ohrlappen feſtgehal¬
ten und ſo lange darein gekniffen hätte, bis ich end¬
lich vom Heulen müde ward, mich auf die Bank
ſtreckte und in Schlaf verfiel. Ich wachte wohl wie¬
der auf und erhob den vorigen Rumor. Fräulein
Hardine kriegte mich aber immer wieder bei den Oh¬
ren, ich ſchlief immer wieder ein und kann daher nicht
ſagen, ob die Fahrt Stunden, Tage, Wochen lang
gedauert hat, oder wie ich im Uebrigen an mein Ziel
gekommen bin.
„Von der Zeit ab war ich im Waiſenkloſter und
ſchlecht gegangen iſt es mir darin bei Leibe nicht.
Der alte Probſt war eine Seele von einem Mann;
in Wahrheit ein Waiſenvater und mir, wie es ſchien,
ganz abſonderlich zugethan. Zu eſſen gab's reichlich
und Fuchtel lange nicht genug für uns wilde Brut.
Aber ich hatte kein Sitzefleiſch; mich zog's zurück in
den Wald. Ein paarmal nahm ich auch Reißaus,
wurde natürlich aber wieder eingefangen, und mag
man aus dieſem Grunde mich auch ſpäterhin niemals,
wie manche von den größeren Jungen, in die Stadt ge¬
laſſen haben, wenn es daſelbſt eine Extrabeſorgung galt.“
„Aber Fräulein Hardine!“ fiel ungeduldig die
Zuhörerin ein, als hier der Erzähler eine Pauſe
machte.
„Nun Fräulein Hardine,“ fuhr dieſer fort,
„Fräulein Hardine, die kam denn auch wohl dann
und wann auf Beſuch zu unſerem Probſt, ſchnitt aber
regelmäßig ein eſſigſaures Geſicht, ſo oft ich ihr vor¬
geführt ward, raiſonnirte, weil ich nichts lernen wollte,
und ſchimpfte mich einen Wildling oder dergleichen.
Einmal hat ſie mir in der Bosheit auch eine ganz
gehörige Backpfeife applicirt.“
Frau Liſette fuhr auf wie electriſirt. — „Eine
Backpfeife!“ rief ſie mit dem Ausdruck höchſter Be¬
friedigung; „eine Backpfeife, Auguſt — “
„Ganz gewiß nicht unverdient, Liſette!“
„Gezüchtigt mit eigener Hand! Und das ſoll
nicht ſeine Mutter geweſen ſein!“
„So? Du hätteſt alſo eher Deinen eigenen
Wurm als einen fremden durchgewichſt?“
Die arme Mutter nahm bei dieſer Gewiſſens¬
frage ziemlich kleinlaut ihr Nähzeug wieder auf. —
„Ein adeliges Fräulein und unter den Augen der geiſt¬
lichen Obrigkeit, ſie muß doch ein Recht dazu beſeſſen
haben,“ — murmelte ſie wohl noch, wurde aber nicht
[15] mehr gehört, denn ihr Geſpons hatte den Faden be¬
reits wieder aufgegriffen.
„So viel ſteht feſt, Liſette,“ erklärte er, „hätte
Fräulein Hardine mich lebtags mit Streichelfingerchen
angefaßt, ich könnte ſie vergeſſen haben. Nun ſie ſich
thätlich an mir vergriffen hat, bleibt und lebt ſie vor
meinen Augen und würde ich hundert Jahre.
„Ich war auf dieſe Weiſe ein ſtämmiger Burſche
geworden; kopfshoch größer als ſämmtliche Kameraden,
und in mir rumorte anjetzo nur noch ein einziges
Gelüſt. Nicht mehr: „In den Wald!“ wie früherhin.
Nein: „Ein Pferd unter den Leib und unter die
Soldaten!“ Ich hatte in meinem Leben die erſten
Truppen geſehen. Preußen und Landeskinder waren
an dem Kloſter vorübergezogen. Nämlich während
der Mobilmachung von Anno fünf, wo ſie dem Oeſter¬
reicher zu Hülfe wollten. Der Oeſterreicher wurde in
der Klemme gelaſſen und meine Preußen zogen wieder
ab. Aber nächſten Herbſt kamen ſie retour. Recta¬
mente dem Napoleon auf den Pelz, der bereits auf
dem Wege ſei, wie es hieß. Da prickelte es mir
freilich vom Kopf zur Zeh'! Ich hatte aber doch ſo
viel Einſehen, daß ſie einen halbwüchſigen, verlaufenen
Waiſenjungen bei der Armee nicht nehmen würden.
[16] Einſtweilen ſpielte ich daher nur Soldat, und es war
eine Luſt, wie ich die Jungens zuſammenwalkte. Ich
war der Größte und darum von Rechtswegen unſer
Kurfürſt, den ich mir immer nur wie einen Schlage¬
todt vorſtellen konnte. Die Meiſten, aber Kleinſten,
waren die Franzoſen und ein Knirps ihr Napoleon.
Nun ich habe ihn gebläut, wie vor zwei Jahren den
richtigen Napoleon der alte Marſchall Vorwärts und
unſer iron duke.“
„Aber Fräulein Hardine?“ — fragte von Neuem
die erwartungsvolle Hörerin und der Exwachtmeiſter
antwortete: „Nur Geduld, gleich iſt ſie wieder da!“
„Es war am vierzehnten October, — ſolch ein
Elendsdatum vergißt ſich nicht, Liſette! — Wir ſtan¬
den zum Morgenbrod im Kreuzgange aufgeſtellt, als
der Probſt zu uns trat mit Hut und Stock, zitternd
über den ganzen Leib und weiß wie eine Wand.
„Das erſte Blut iſt gefloſſen,“ ſagte er mit bebender
Stimme, „theures Blut, Heldenblut! Ihr ſeid Sol¬
datenſöhne, meine Kinder. Eilt in den Wald, pflückt
das letzte Eichenlaub und bindet einen Kranz auf das
Grab eines tapferen Herrn, der Allen voran, im
Kampfe für das Vaterland gefallen iſt.“ Darauf an
mich herantretend, ſetzte er leiſe hinzu: „Es iſt der
[17] Vater von Fräulein Hardinen, den man geſtern als
Leiche in ihr Haus gebracht hat. Dort erwarte ich
Dich, Auguſt, mit dem Kranze. Die Waſchfrau
Becker“ — ſie verſah nämlich nebenbei den Boten¬
dienſt nach der Stadt — „begleitet Dich und zeigt
Dir das Haus.“ Damit ging er. Wir Jungen
rannten in den Wald. Ich war zu oberſt auf den
Bäumen und warf die Zweige herab, die unten um
einen Faßreif gebunden wurden. Es war ein Stück,
daß eine Kuh ſich daran ſatt hätte freſſen können,
Liſette. Kaum eine Stunde und ich trabte neben der
alten Beckern auf dem Wege nach der Stadt.“
„Wenn die Botenfrau ſo wie ſo nach der Stadt
ging,“ fiel hier Frau Liſette, höchlichſt geſpannt, dem
Redner in's Wort, „warum mußteſt Du ſie begleiten,
Auguſt? Du den Kranz zu Fräulein Hardinen tra¬
gen? von Allen juſt Du? Mann, Mann, das war
eine Finte!“
„Du kommſt auf die Sprünge der alten Kloſter¬
klatſche, Liſette,“ verſetzte der Invalid, der allmälig
Feuer und Flamme über ſeiner Erzählung gewor¬
den war. „Aber höre nur weiter. Auf dem Wege
hatte ich meinen Heidenärger mit dem dummen Weib.
Es wäre im Oberlande eine Schlacht geſchlagen wor¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 2[18] den, behauptete ſie, die nämliche, in welcher Fräulein
Hardinens Vater gefallen ſei, und der Franzoſe hätte
obtinirt. Das konnte und wollte ich nicht glauben.
Ich ſchimpfte die Alte ein Schandmaul und würde ſie
handgreiflich zur Ruhe gebracht haben, wenn ſie, na,
wenn ſie nicht eben ein Weib und obendrein ein altes
Weib geweſen wäre. Die aber blieb baumfeſt bei
ihrem Satz und in der Angſt vor dem „grauſamen
Bohnebart.“ Sie zitterte wie ein dürres Laub, ſo
oft ihr der Name über die Lippen lief. Es war nicht
anders, als ob der Bohnebart expreß in's Land gekom¬
men ſei, um der alten Beckern auf den Leib zu gehen.
„So in Gift und Galle kamen wir in die Stadt.
Ich hatte noch nie eine geſehen und mir eine Stadt
weit anders vorgeſtellt. Nur hoch oben das große
Schloß, wie es allmälig aus dem Nebel hervortrat,
das gefiel mir. „Da möchte ich wohnen,“ ſagte ich
und die Beckern ſchmunzelte geheimnißvoll: „Nun wer
weiß, Guſtel, ob Du nicht noch eines Tages in einem
Prinzenſchloſſe logiren thuſt. Der Bohnebart iſt auch
nur ein armer Junge geweſen, wie Du, und am Ende
ein Kaiſer geworden.“ — Und ſo ein Knirps! ſagte
ich verächtlich.
„Bei den Worten kamen wir auf den Markt.
[19] Die Alte wies auf ein Haus und ſprach: „Da woh¬
nen die Majors.“ Das Haus, wiewohl ich es nur
das einemal und ſeitdem viele tauſend andere ge¬
ſehen habe, das Haus könnte ich noch malen. Es
glich einem Mops, dem Einer eine Zipfelmütze auf¬
gebunden hat. Die Beckern ſetzte ſich neben dem
Thorweg auf eine Bank, allwo ſie mich zurück erwar¬
ten wollte, und ich ging mit meinem Kranze hinein.
„Im Thorwege kam mir auch ſchon der Probſt
entgegen, nahm mich bei der Hand und führte mich
in eine Stube auf der rechten Seite. Die Fenſter
waren zugehängt und ich mußte mich erſt an das
Dämmerlicht gewöhnen. Ich unterſchied aber doch
irgend ein menſchliches Weſen, das mit ausgebreiteten
Armen nahe der Thür geſtanden hatte und, auf einen
Wink des Probſtes, haſtig in „die Hölle“, — ſo heißt
bei uns zu Lande der tiefe Ofenwinkel, — huſchte. Ich
ſpitzte die Ohren. Mir war, als hätte ich Einen
ächzen oder ſchluchzen gehört.“
„Fräulein Hardine!“ rief Frau Liſette in athem¬
loſer Spannung. Der Erzähler aber entgegnete:
„Behüte! Fräulein Hardine war keine von der
Art, die ächzt und ſchluchzt. Die ſtand aufrecht und
ernſthaft, ſchwarz vom Kopf zur Zeh' in der Kammer
2*[20] vor der Leiche des Majors, zu welcher der Probſt
mich unverweilt führte. Es war der erſte Todte, den
ich zu ſehen kriegte und ich kann Dir gar nicht be¬
ſchreiben, Liſette, wie er mir gefiel. So hatte mir
noch nie ein Lebender gefallen. Er ruhte wie im
Schlafe, die Rechte ingrimmig geballt; ſie mochten
ihr den Säbel, der neben der hohen Ungarnmütze an
ſeiner Seite lag, mit Gewalt entriſſen haben. Und
dann das Ordensband, der blaue Huſarenpelz mit
ſilbernen Schnüren und dem kleinen Brandmal, durch
welches die Kugel in das Herz gedrungen war. Ich
betaſtete Stück für Stück. Ich konnte mich nicht ſatt
ſehen, bohrte mit dem Finger nach der Wunde, ob
die Kugel zu ſpüren ſei; ich drückte eine kalte Hand
nach der anderen und würde nicht von der Stelle ge¬
wichen ſein, wenn mich der Probſt nicht mit Gewalt
in die Stube zurückgezogen hätte.
„Dort hielt er mir nun eine feierliche Rede, von
der ich aber nichts weiter gehört oder gemerkt habe,
als daß er den Mann ſelig pries, der als ein Held
für das Vaterland geſtorben ſei. — Ich will auch
für das Vaterland ſterben! — platzte ich heraus und
bei den Worten trat Fräulein Hardine, die ohne daß
ich's gemerkt, am Fenſter Platz genommen hatte, raſch
[21] auf mich zu und drückte mir die Hand, als ob ſie
ſagen wollte: — brav, Junge, bleibe bei dieſem
Satz! — Geſprochen aber hat ſie an dieſem Morgen
kein Sterbenswort, und ich habe auch nicht weiter
auf ſie Acht gegeben, ſondern unverwendet nach der
Hölle geſtarrt. Denn während meiner Rede war von
dorther ein Schrei gedrungen, der mir durch's Herz
ging wie ein Brand. Ich konnte aber nichts weiter
unterſcheiden als eine kleine, weiße, in ſich gekrümmte
Geſtalt, die ihren Kopf hinter einem Schnupftuche
verborgen hielt. Auch trat jetzt der Probſt von Un¬
gefähr zwiſchen mich und die Hölle, ſo daß ich nur
noch des guten Mannes ſchwarzen Rock und weiße Perrücke
erblickte, wenn ich hinter den Ofen zu lugen ſuchte.
„Du biſt nun faſt ein Erwachſener, Auguſt,“ ſo
ſetzte der Probſt, zu mir gewendet, ſeine Anſprache
fort. „Kommende Oſtern wirſt Du confirmirt und
mußt Dich für einen Lebensberuf entſcheiden. Was
willſt Du werden, mein Sohn?“ — Soldat! — rief
ich ohne Beſinnen. Und wieder drang es, aber dies¬
mal wie ein Wimmern, aus der Hölle.“
„Es wird die Mutter von Fräulein Hardinen
geweſen ſein,“ rief in athemloſer Spannung Frau
Liſette. Der Erzähler aber entgegnete:
„Ob Fräulein Hardine dazumal noch eine Mutter
gehabt hat, weiß ich nicht. Das aber weiß ich, daß
es nicht die Stimme einer alten Frau geweſen iſt,
die da hinter dem Ofen jammerte. Weit eher die
eines kleinen, bekümmerten Kindes. Aber höre nur
weiter, Liſette.
„Du biſt zum Soldaten noch zu jung, Auguſt,“
ſagte der Probſt. „Auch muß das Schickſal unſeres
Vaterlandes erſt entſchieden ſein. Möchteſt Du für
den Napoleon kämpfen, wie die Deutſchen draußen
im Reich?“ — Nein! — antwortete ich, — aber
überall gegen ihn. — Und zum zweiten Male drückte
mir Fräulein Hardine ſtumm die Hand.
„Die Zeit kann kommen, mein Sohn,“ verſetzte
der Probſt. „Für den Augenblick gilt es zu warten.
Erhalten wir Frieden und bleibt alles beim Alten,
darfſt Du nimmer an den Soldaten denken. Du biſt
nicht von dem Stande, um Officier zu werden, und
als Gemeiner ertrügſt Du's nicht bei Deiner Sinnes¬
art. Die laufen noch Spießruthen. Möchteſt Du
Dich peitſchen laſſen, Auguſt?“ Ich ballte ſtatt aller
Antwort nur die Fauſt. Der Probſt aber fuhr fort:
„Du haſt Dich immer in den Wald zurückgeſehnt.
Wie wär's mit einem Jägersmann, mein Sohn?“ —
[23] Nun gut, wenn nicht Soldat, ſo will ich Jäger wer¬
den und ſchießen lernen, — ſagte ich.
„Was der Probſt noch weiter in mich hinein¬
gepredigt hat, weiß ich nicht. Ich dachte an den
todten Major und blinzelte nach dem jammernden
Kinde in der Hölle. Da war ich denn quaſi verdutzt
und wußte gar nicht wie mir geſchah, als ich mich
plötzlich beim Arme gefaßt und nach der Thür ge¬
ſchoben fühlte. Vom Probſte nämlich. Schon hat
er die Thür aufgeklinkt und ich ſtehe auf der Schwelle,
da höre ich etwas hinter mir, als wenn ein Vogel
flattert. Raſch wende ich mich um und ſehe — ja
was denn nun eigentlich? Es war ja nur ein ein¬
ziger Blick und einer aus dem hellen Flur in das
halbdunkle Zimmer. Ich ſehe alſo mit ausgeſpreizten
Armen eine Geſtalt klein und fein wie ein Kind, von
ſchneeweißem Angeſicht und hellgelbem Gelock, gegen
die große, ſchwarze Hardine, die hinter ihr ſtand, ſich
abhebend wie am Himmel ein weißes goldgerändertes
Wölkchen, wenn die Nacht ſchon hereingebrochen iſt.
Mir ſchwamm es vor den Augen als hätte ich einen
Schwindel. Da ſtieß mich der Probſt über die Schwelle,
die Thür fiel in die Angel und ich hörte von drinnen
nur noch einen ſchrillen Schrei.
[24]
„In der nächſten Minute ſtand ich vor der Thür
neben meiner Alten. Unter freiem Himmel legte ſich
der Schwindel allſobald, ich ſah und hörte wieder
munter wie ſonſt und kam ſchier auf den Gedanken,
daß die Geſchichte, — nicht die vom todten Major,
aber die von dem Wolkenkinde, — nur ein Spuk ge¬
weſen ſei.
„Auf der Gaſſe war es ſeit der Stunde lebendig
geworden. Gleich einem aufgeſcheuchten Bienenſchwarm
ſummte die Menſchheit auf und nieder, und mein
altes Weib war voll wie ein Schwamm von all' den
Geſchichten, die ſie auf der Thürbank eingeſaugt hatte.
Die Geſchichten waren wahr, Gott ſei's geklagt. Die
alliirte Armee hatte ſich auf zwei Punkten überrumpeln
laſſen und zwei hundsföttiſche Schlachten wurden in
den nämlichen Stunden geſchlagen. Aber ſie wur¬
den juſt erſt geſchlagen. Die Stadt lag drei Stun¬
den vom nächſten Kampfplatze entfernt: wie konnte
das Volk den erbärmlichen Ausgang ſo dreiſt be¬
haupten? Witterung ſagen ſie, wie vom lieben Vieh
vor dem Sturm. Aber warum hatte ich die Witterung
nicht? Warum haſt Du, Liſette, niemals gezittert bei
einem erſten Kanonenſchlag? Weil Du ein Mann
warſt, Liſette, und jene Männer alte Weiber wie die
[25] Beckern, Memmen, die nichts beſſeres verdient haben
als die Fuchtel des Napoleon ſo lange, bis am Ende
auch bei ihnen die Berſerkerwuth zum Ausbruch ge¬
kommen iſt.
„Auf Schritt und Tritt guckte mein altes Weibs¬
ſtück ſich um, ob ihr der grauſame Bohnebart nicht
bereits auf den Hacken ſäß'? Bei aller Angſt jedoch
ſchwamm die Neugier nach dem, was ich bei den
Majors erlebt, obenauf, und wir waren noch nicht
aus dem Thore, da hatte ſie mich ausgepreßt wie eine
Citrone und zu jedem Tropfen ihren Senf gerührt.
Ich wollte nur Eines wiſſen: wer das kleine Mäd¬
chen geweſen ſei, deſſen letzter Schrei mir noch immer
in den Ohren gellte. Aber juſt dieſes Eine wußte
die alte Weisheit nicht. — „Eine Bekanntſchaft aus
der Stadt,“ — ſo meinte ſie, denn Anverwandte hätten
die Majors hier zu Lande keine. — Aber warum
ſeufzte und weinte ſie denn ſo jämmerlich? forſchte
ich weiter und brachte damit meine Alte wieder in
das richtige Fahrwaſſer.
„Wer heult und ſchreit denn anjetzo nicht, Guſtel?“
ſagte ſie. — „Wer ſieht im Geiſte nicht Einen von
den Seinigen todtgeſchoſſen, oder zum Krüppel ge¬
hauen, oder in Gefangenſchaft, oder auf der Flucht?
[26] Den Bohnebart mit ſeiner Kopfabſchneidemaſchine
noch gar nicht eingerechnet. Ja, das ſind wilde Zeiten
wie unter dem Schwedenkönig, oder dem alten Fritz.
Paß' auf, Guſtel, wenn wir heimkommen, ob uns
der Franzoſe da nicht ſchon entgegenrückt und das
Kloſter iſt ein Aſchenhaufen, und Lehrer und Jungen
ſind über alle Berge wie eine Heerde, in die der Wolf
gerathen iſt. Und darum Guſtel, darum will ich Dir
noch in dieſer Stunde offenbaren, was ich in der
nächſten vielleicht nicht mehr zu offenbaren im Stande
bin. Etwas, auf das noch kein Menſch verfallen iſt
als die alte Beckern ganz allein. Wenn es aber einſt¬
mals vor aller Welt an's Tageslicht gekommen ſein
wird, dann ſollſt Du denken: die alte Beckern hat
mir's prophezeit und Dich hübſch dankbar erweiſen an
der armen, alten Frau; nämlich inſofern ſie vor dem
grauſamen Bohnebart ihr bischen elendes Leben davon
getragen hat.“ —
„Sie guckte ſich nach dieſer Rede ſcheu in alle
vier Weltgegenden um, hob ſich auf die Zehenſpitzen
und wisperte, ihren Mund an mein Ohr gelegt:
„Auguſt, haſt Du Dir niemals Gedanken darüber
gemacht, was Fräulein Hardine eigentlich mit Dir zu
ſchaffen hat?“ — Ich ſchüttelte lachend den Kopf.
[27]
„Und Dir ſchwant auch gar nicht, wer der Mann
geweſen iſt, vor deſſen Leichnam man Dich heute ge¬
führt?“ — Ein Major? ſagte ich. — „Ein Major nun
freilich,“ verſetzte die Alte ärgerlich. — Ein Major für
Seine Churfürſtliche Gnaden; ich meine aber, was
er für Dich, Auguſt, geweſen iſt?“ — Ich ſchüttelte
wiederum den Kopf.
„Nun ſo vernimm es denn, Auguſt, — ſagte die
Beckern feierlich wie die Hexe im alten Teſtament: —
der Mann iſt Dein Großvater geweſen, denn Fräulein
Hardine iſt Deine Mutter.“ —
„Die Wahrheit zu ſagen, ich war dazumal in
derlei Hiſtorien wie ein ungeſchorenes Lamm. Das
einſame Waiſenhaus führte mit Fug ſeinen Kloſter¬
titel; Angehörige, die wir beſuchten, hatte keiner von
uns und alles was eine Schürze trug, wenn es nicht
lahm und grau war wie die Beckern, wurde von der
Anſtalt fern gehalten wie ein Zunder. Die Lehrer
waren unverheirathete Anfänger, warm aus dem Se¬
minar, der Probſt ein Wittmann. So merkten wir
denn nichts von Küchengeträtſch und Klatſch und ich
argwohnte durchaus nicht, welch ein gefährlicher Leu¬
mund über Fräulein Hardinen mir in's Ohr geträufelt
ward. Ich würde mir jedoch jede Andere als ſie
[28] lieber als Mutter ausgebeten haben, hätte ich mich
überhaupt jemals nach Vater oder Mutter geſehnt.
Ich ſehnte mich aber in die Freiheit, in den Wald,
oder in die Welt und weiter nach nichts. Indeſſen
einen Großvater, der auf dem Schlachtfelde geblieben
war, hätte ich mir ſchon gefallen laſſen und ihm zu
Liebe allenfalls auch die geſtrenge Hardine als Fräu¬
lein Mama in den Kauf genommen. Darum ſpitzte
ich wohl einen Augenblick die Ohren.
„Aber der Major war ein vornehmer Herr und
ich hieß ſchlechtweg Müller. Der Probſt hatte mir
kaum vor einer Stunde geſagt, daß ich es um meines
Standes willen nur bis zum Gemeinen bringen könne.
Das fiel mir zur rechten Zeit wieder ein, und ohne
mich viel darum zu grämen, erklärte ich der alten
Hexe, welch ein Wind es mit ihrer Prophezeiung ſei.
„Die aber blieb bocksſteif bei ihrem Satz und
wurde noch obendrein rabbiat. — „Was Du für ein
blitzdummer Junge biſt, Guſtel,“ — eiferte ſie, indem
ſie beide Arme in die Hüften ſtemmte.
„Als ob ein Edelweiß nicht auch wilde Schö߬
linge treiben könne! Als ob man ein Kind, wenn
man ſeinem Urſprunge nicht auf die Spur kommen
laſſen will, nicht blos als einen Müller, oder meinet¬
[29] wegen als eine Beckern und dergleichen in das Re¬
giſter einzutragen brauchte. Notabene: inſoferne der
Paſtor mit Einem unter einer Decke ſteckt. Was
aber, frage ich, iſt unſer Herr Probſt? Ein alter
guter Freund von Fräulein Hardinen. Wer hat Dich
heimlich bei Nacht und Nebel in das Waiſenkloſter
eingeſchmuggelt, wer, frage ich? Fräulein Hardine.
Biſt Du ein Soldatenſohn wie die Anderen? Weiß
Einer überhaupt, wer Dein Vater geweſen iſt? Siehſt
Du aus wie von gemeinem Gezücht? Wie ein
Junker, Auguſt, wie ein Prinz ſiehſt Du aus.“ —
„Wahrlich, ja wahrlichen Gott, wie ein Prinz!“
unterbrach Frau Liſette den Erzähler, eine ſtolze Röthe
über dem abgezehrten Geſicht, — „Der Prinz hießeſt
Du, Prinz Guſtel in der ganzen Legion!“ —
Prinz Guſtel ſchmunzelte nicht unempfindlich bei
dieſer ſchmeichelhaften Erinnerung, hielt aber den
Faden ſeiner Mittheilung getreulich feſt.
„Wer hat Dir eine halbe Freiſtelle ausge¬
wirkt?“ fragte die Alte weiter. — „Eine Mutter
etwa, die Wittwe iſt? ein Vormund, ein Rath, oder
Amt? Gott bewahre, Fräulein Hardine. Wer bringt
dem Probſt netto alle ſechs Monate die Unkoſten für
Deinen Unterhalt? Wer beſucht Dich im Kloſter?
[30] wer ſetzt Dir den Kopf zurecht? Niemand Anderes
als Fräulein Hardine. Und nun noch zu guter Letzt:
Was brauchte der todte Major einen Kranz aus dem
Waiſenkloſter, wenn's nicht Einer von ſeinem Blute
war, der ihm die letzte Ehre anthun ſollen? Was
brauchte der Probſt Dir im Leichenhauſe eine Stand¬
predigt zu halten, wenn Du nicht quaſi zur Familie
gehörteſt? Wer den Zuſammenhang nicht mit Hän¬
den greift, nun, der kann ſagen, er hat keinen Grips.
Fräulein Hardine iſt Deine Mutter, das ſteht ſo feſt
wie das Amen im Evangelium.“
„Die Alte machte eine Pauſe, weil ſie doch ein¬
mal verpuſten und ausſpucken mußte. Ich ſagte kein
Wort, denn im Grunde war mir die Sache einerlei.
Nach einer Weile fing die Beckern mit friſcher Lunge
wieder an: „Ich will mit meinem Satze nichts Un¬
reputirliches von Fräulein Hardinen behaupten, Auguſt.
Aus ſo einer honetten Familie, und ſo eine Erbſchaft
vor Augen, beileibe nicht, beileibe nicht! Denn zur Zeit
iſt Fräulein Hardine freilich ſo arm wie eine Kirchen¬
maus; aber das alte ſchwarze Spukeding, ihre Muhme,
kann's doch nicht ewig in ihrem Goldthurme Schätze
graben. Und wenn ſie ſich zehnmal dem Leibhaftigen
verſchrieben hat, unſer Herrgott hält ihm Widerpart
[31] und über hundert Jahre hat's der ärgſte Geizkragen
noch nicht gebracht. Dann aber giebt's keine Zweite
im Churfürſtenthum wie unſer Fräulein Hardine.
Nichts Unreputirliches, Guſtelchen, um's Himmels¬
willen nichts dergleichen! Aber eine Heimlichkeit ſteckt
dahinter; darauf nehme ich Gift. So eine Prinzen¬
heirath etwa, die der Frau nicht die Mannesehre und
den Kindern nicht den Vaternamen giebt, wie die alte
geizige Schloßfrau ihrer Zeit auch eine eingegangen
hat; oder ſo etwas dergleichen, was Unſereiner nicht
verſteht. Warum ſchlägt Fräulein Hardine die ſchönſten
Bewerbungen aus? Wird Eine freiwillig eine alte
Jungfer, die an jedem Finger einen Freier haben
könnte? Warum, frage ich, als weil ſie in der Stille
ſchon Einen hat, der mit ihr auf die Grafenerbſchaft
lauert. Laß ſie aber nur erſt ſicher in ihrem Gold¬
thurme ſitzen, dann wird der verſteckte Prinz ſchon zum
Vorſchein kommen. Und dann wirſt Du ein Junker,
Auguſt, und ein reicher Millionair und dann denke
an die alte, arme Beckern, die Dir zuerſt ein Lichtchen
angeſteckt hat.“
Der Erzähler ſchwieg. — „Weiter, weiter, Mann!“
rief Frau Liſette in athemloſer Spannung. „Weiter,
weiter! —“
„Weiter — nichts!“ verſetzte lachend der Invalid.
„Die Geſchichte iſt aus.“
„Aus?“
„Rein aus, ſage ich Dir. Wir waren unter dem
Geklätſch vor der Kloſterpforte angelangt. Ich drehte
meiner Alten eine Naſe, denn das Haus war nicht
in einen Aſchenhaufen umgewandelt und die Heerde
nicht über alle Berge entflohen. Nun aber die Angſt,
als das Weibsſtück ſah, wie ich ſeine Weisheit auf¬
genommen hatte. Sie zitterte wie ein naſſer Pudel¬
hund und ihre Zähne, — nein, die klapperten nicht,
denn ſie hatte keinen Zahn, — aber das Kinn wackelte
ihr und: „Um Gottes, Jeſus willen, Guſtelchen, reinen
Mund!“ jammerte ſie, „bringe eine alte, arme Wittfrau
nicht um ihr hartes Stückchen Brod.“
„Ich lachte aus vollem Halſe und rannte in das
Thor, hinter welchem die Kameraden ſich luſtig wie
alle Tage tummelten. In aller Eile lieferte ich ihnen
eine Schlacht von entgegengeſetzter Façon, wie die,
welche in den nämlichen Stunden zu Ende ging. Aller
Spuk und Schwatz des Morgens war wie weggeblaſen.
„Im nächſten Frühjahr brachte mich der Probſt
zu dem Förſter, dem ich zwei Jahre ſpäter aus dem
Garne lief, als der Herzog in unſerer Nähe campirte.
[33] Fräulein Hardinen aber habe ich mit keinem Auge
wieder geſehen, habe auch keine Sylbe wieder von ihr
gehört und heute zum erſten Male, glaub' ich, wieder
an ſie gedacht.“
Die arme Marketenderin war durch dieſen jähen
Abſchluß bitterlich enttäuſcht. Sie nahm ſchweigend
die Arbeit wieder zur Hand, die im Eifer des Zu¬
hörens in ihren Schooß geſunken war und ſtichelte
eine lange Weile mit fieberhafter Haſt, bis ſie über
einen neuen Plan im Klaren und des jovialen Tones
wieder Herr geworden war, in dem ſie ihren Eheliebſten
zu einer ferneren Bereitwilligkeit zu ſtimmen gedachte.
„Ich danke Dir, Auguſt,“ ſagte ſie endlich, in¬
dem ſie ihm die Hand reichte. „Du verſtehſt zu er¬
zählen. Und ein Anhalt bliebe Deine Geſchichte
immer für unſeren armen, kleinen Wurm, wenn ich
eines Tages nicht mehr für ihn ſorgen könnte: Ich
meine, wenn eines Tages unverſehens der Napoleon
retour gekommen wäre! Und darum, Freund, laß
uns das Ding gleich heute zu einem Ende bringen.
Du biſt ein perfecter Schreiber, haſt manchen Rapport
geführt und die Feder zu regieren, ſo gut wie den
Säbel, braucht's ja nur eine Hand. Mach' alſo ein
Schriftſtück aus der Sache, warm wie ſie Dir im Ge¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 3[34] dächtniß aufgewacht iſt. Das und der Waiſenhaus¬
ſchein werden die Familienpapiere ſein, die Prinz
Guſtel ſeiner Prinzeſſin zurück läßt, wenn's einmal
ſchnell mit uns von dannen geht.“
Sie hatte während dieſer Rede ein Paar von den
Bogen, in welchen ſie ihr Handſchuhleder eingewickelt
erhielt, ſorgfältig geglättet, auch das Schreibzeug her¬
vorgekramt, das ihr zum Abfaſſen ihrer Rechnungen
diente. Nachdem ſie die Feder geſpitzt und die Tinte
umgerührt, begann ſie die Pfeife des Mannes friſch
zu ſtopfen, vergaß auch nicht, das Glas mit dem Reſte
der Flaſche zu füllen.
Freund Auguſt brummte und zeterte zwar ſein
gehörig Theil, fügte ſich ſchließlich aber doch in die
wunderliche Laune der Wöchnerin. „Was ſolch' ein
Wurm für Scheererei macht!“ ſagte er, indem er ſich
an dem Arbeitstiſch ſeiner Frau niederſetzte.
Bald flog die Feder in freien, kräftigen Zügen
über das Papier und ſchwarz auf weiß bildete ſich die
Erzählung, die wir mit den nämlichen Worten aus
ſeinem Munde vernommen haben.
Mitternacht war vorüber, als er das letzte Blatt
ſeiner Frau in's Bett reichte. Sie hauchte es trocken
mit dem heißen Athem ihrer Bruſt, barg es, ſammt
[35] dem Einſegnungsſcheine in dem unterſten Fach ihres Näh¬
kaſtens, und löſchte die Lampe. „Auguſt,“ ſagte ſie darauf,
während der Mann ſeine Kleider auszog, und ſich auf die
Strohſchütte zu Füßen des Bettes niederwarf, „Auguſt,
wir wollen unſere Kleine Hardine taufen laſſen.“
„Liſette wäre mir lieber geweſen,“ erwiderte gäh¬
nend der Herr Papa. „Aber meinethalben auch Hardine.“
Und das kleine Mädchen wurde Hardine getauft.
Jahre vergingen, ohne daß Fräulein Hardinens
zwiſchen dem Invalidenpaar wieder Erwähnung ge¬
ſchah. Faſt ſechs Jahre, in welchen die kleine Na¬
mensträgerin der unbekannten Dame mühſelig auf die
Füßchen kam, und aus welchen ihr keine Erinnerung
geblieben iſt, als daß ſie vielmals hungerte und oft¬
mals fror.
Der Wachtmeiſter der Legion wartete zwar nicht
mehr auf den noch immer rückkehrenden Napoleon,
denn der ſchlief beruhigt und beruhigend in ſeinem
Inſelgrabe, aber er wartete auf irgend einen anderen
reſpectablen Feind, gegen welchen eine brave Solda¬
tenfauſt den Säbel wieder zücken dürfe. Freilich er¬
wartete er ihn ſelten an dem ſchwachlodernden häus¬
lichen Heerdfeuer, das ſeit dem Einrücken der Wiege
3*[36] nicht an Behagen für ihn gewonnen hatte. Er hielt
ſich zu den luſtigen Plätzen, die ihm das Marketen¬
derzelt in Erinnerung riefen; da wo Karten und Wür¬
fel fallen, wo der Schoppen kreiſt und ein friſcher
Soldatenſchwank nicht ſelten die Zeche bezahlt.
In der engen, dumpfen Soldatenkammer daheim
aber ſaß ſeufzend und ſtichelnd die alternde Marketen¬
derin, ohne ſich Raſt zu gönnen zu einem Liebesblick
in ſchwerer Mühe und Sorge für ihr Kind. Von
Woche zu Woche wurden ihre Wangen hohler, die
Finger zitternder, der Athem kürzer, aber ſie ſeufzte
und ſtichelte noch immer den ganzen Tag und die
halbe Nacht.
Endlich jedoch kam die Stunde, in welcher alles
Sticheln und Seufzen ein Ende hat, und es war eine
Sterbekammer, in die der ſorgloſe Zecher aus dem
Schenkhauſe berufen wurde. Auguſt Müller hatte in
ſeinen jungen Tagen Tauſende von Männern, aber
noch nie eine Frau ſterben ſehen; er hatte niemals
früher daran gedacht, daß der Tod ein Geſchäft auch
für Weiber ſei, ſelber für ſo tapfere Weiber, wie
ſeine Liſette eines geweſen war. Nun tobte und ſchrie
er vor dem ungeahnten Bild, zerraufte ſein Haar und
zerſchlug ſich die Bruſt.
[37]
Die brave Marketenderin aber verſtand ſich auf
den düſteren Geſellen, den ſie unter Männern kennen
gelernt. Sie hatte ihn langſam heranſchleichen ſehen
und blickte ihm unerſchrocken in's Angeſicht, als er
jetzt hart an ihrer Seite ſtand. Ob es ihr wehe that,
von dem Weſen zu ſcheiden, das die Natur erſt ſo
ſpät an ihr Herz gelegt? Es ſchien nicht ſo. Die
Pflicht für ſeine Erhaltung jedoch erfüllte ſie bis zum
letzten Athemhauche.
„Sei kein Narr, Auguſt,“ ſagte ſie zu dem
Manne, der ſich faſſungslos an der Bettſeite nieder¬
geworfen hatte. — „Einmal muß doch ein Ende ſein.
Setz' Dich hier auf den Rand; merke auf und thu',
was ich Dir ſagen werde.“
Sie legte bei dieſen Worten die treulich verwahr¬
ten Familienpapiere in des Mannes Hand und fuhr
darauf in klarer, eindringlicher Rede alſo fort:
„Hüte dieſe Blätter als das einzige Erbtheil, das
Du Deinem Kinde zu hinterlaſſen haſt. Ich habe
dieſe ſechs Jahre Tag und Nacht darüber nachgedacht,
und nun ſterbe ich in der Gewißheit, daß Fräulein
Hardine Deine Mutter geweſen iſt. Für Dich ſelber
thu' oder laſſ', was Du willſt. Du biſt ein Mann.
Aber ſuche ſie auf und bring' ihr das Kind, das Du
[38] nicht verſorgen kannſt. Verkaufe meinen Hausrath;
der Erlös ſchafft das Reiſegeld. Für unſer Trau¬
atteſt und der Kleinen Taufzeugniß habe ich geſorgt.
Vergiß aber nicht meinen Todtenſchein. Laß dann im
Kloſter Dein Einſegnungszeugniß beſcheinigen; erforſche
in der Stadt Fräulein Hardinens Vaternamen und
was aus ihr geworden iſt. Lebt ſie noch, — in Reich¬
thum, oder arm wie einſt, — ſie muß eine alte Frau
jetzt ſein und wird ſich der Sünde ſchämen, ihr Blut
zu verſtoßen. Iſt ſie geſtorben, finden ſich wohl An¬
gehörige. Vielleicht, daß auch der Probſt noch bei
Wege iſt, oder der Förſter. Kurzum, Du biſt in
Deiner Heimath und Dein Kind muß und wird
einen Anhalt finden, inſofern Du Deine Schuldigkeit
thuſt. Laß es aber bald ſein, Mann, denn es geht
jach mit Dir abwärts auf dem Wege, den Du einge¬
ſchlagen. Das Kind zu Fräulein Hardinen! Gieb
mir die Hand darauf, Auguſt, die Manneshand, die
das Schwert geführt.“
Er reichte ihr ſchluchzend die Hand, die ſie herz¬
haft drückte. „Mutter — Hardine!“ lallte ſie noch,
legte ſich dann auf die Seite, zog das Kopftuch über
die Augen und verſchied.
Der Invalid— um unſerem früheren Gleichniß treu
[39] zu bleiben — der Invalid bäumte ſich wie ein ange¬
ſchoſſener Hirſch. Er fühlte ſeine alten Wunden hef¬
tiger brennen als zu der Zeit, da die ſchwarze Liſette
ſie auf dem Schlachtfelde verbunden hatte, er wich
keinen Schritt aus der dunklen Kammer, ſo lange die¬
ſelbe die Leiche barg.
Nun aber deckte ſie die Erde. Er hatte ihr nicht
gebührendlich mit Sang und Klang die letzte Ehre er¬
weiſen können, aber er war es gewohnt, einen braven
Kameraden mit einem Trauermarſche zur Grube zu
geleiten und mit einer luſtigen Weiſe heimzukehren.
Am Abend ſaß er in dem Weinhauſe, aus welchem
man ihn vor drei Tagen in die Sterbekammer abbe¬
rufen hatte. Der Schoppen kreiſte, die Würfel roll¬
ten wie ſonſt. Das Weib, die Mutter Liſette waren
verſchwunden, und bald nur die luſtige Marketende¬
rin noch eine ſtehende Figur in den Bildern, die
ſich unter dem Banner des ſchwarzen, wie des eiſer¬
nen Herzogs vor ſeinen Augen entrollten.
Und wieder gingen Jahre dahin, aus welchen
die kleine Hardine keine Erinnerung bewahrte, als daß
ſie oftmals hungerte und immer fror. Ein blödes,
zitterndes, trübſeliges Geſchöpf, ſchlich ſie am Morgen
aus der kalten, immer leerer werdenden Kammer,
[40] hockte einſam und ſtumm vor der Thür, bis eine mit¬
leidige Nachbarin ihr einen Biſſen reichte, oder ſie in
ihr durchwärmtes Zimmer führte. Den Vater ſah ſie
faſt nie. Wenn er ſpät in der Nacht heimkehrte,
ſchlief ſie ſchon, und wenn er früh am Morgen wie¬
der aufbrach, ſchlief ſie noch. Es ging jach abwärts
mit dem Manne, wie ſeine ſterbende Frau es voraus¬
geſagt: aus dem Weinhauſe in die Branntweinskneipe,
aus dem Kreiſe kannegießernder Bürger unter ein Pu¬
blikum roher Geſellen. Sein lockigen Haare wurden
ſtruppig, blutrothe Flecken brannten auf den gedunſe¬
nen Wangen; die Adern ſchwollen neben den Narben
der Stirn, und ein wüſtes Feuer brannte aus den
großen, blauen Augen, wenn er nach dem Pferde
ſchrie, das er tummeln, nach dem Säbel, mit dem er
den noch immer erwarteten Feind niederhauen wollte.
Das alte Soldatenherz rumorte noch wie einſt, aber
Prinz Guſtel war untergegangen, und das Vaterherz
hatte noch niemals pulſirt. Der Handſchlag, den er
ſeinem ſterbenden Weibe gegeben, war ſo gut wie ver¬
geſſen.
Zu ſeinem Glücke kam der Tag, wo das letzte
Stück Hausrath, das letzte Kiſſen von Frau Liſettens
Brautſchatz abgepfändet waren, wo der Hauswirth die
[41] Miethe, der Schankwirth die Zeche nicht länger ſtun¬
den wollten, wo dem unheimiſchen Manne und ſeinem
Kinde der Schub über die Landesgrenze drohte. Die
Noth heiſchte einen Entſchluß und die Noth gab auch
die Kraft, ihn zu vollbringen.
Es war wieder einmal eine Zeit, in welcher
ein Schrei der Rache gegen einen Erbfeind den Welt¬
theil durchdrang: die Zeit der Griechenerhebung, der
ſchon mancher tapfere Fremdling ſich zum Opfer ge¬
bracht, wenngleich noch keine chriſtliche Regierung ihr
ihren Beiſtand geliehen hatte. Auch in dem Arme
unſeres Veteranen zuckte das Schwert von Vittoria
und Waterloo. „Komm Hardine!“ ſagte er an einem
Frühlingsmorgen 1825, „ich will Dich zu Fräulein
Hardinen bringen und dann wider den Türken ziehen!“
Und an der Hand ſein Kind, in der Taſche deſſen
„Familienpapiere“, und ſonſt nicht viel mehr, ſo
ſchritt er aus dem Thore der kleinen niederländiſchen
Stadt.
Freilich der Weg war weit aus dem Maaß- in
das Elbgebiet; der Beutel war leer, Athem und Kraft
nur noch gering. Die alten Nachbarn und Zechbrü¬
der ſchüttelten die Köpfe und meinten, daß dieſer Wan¬
dersmann weder im Kampfe gegen Ali-Paſcha, noch
[42] ſelber in der Heimath, ſondern daß er auf der Land¬
ſtraße enden werde. Auch gingen Monate dahin, be¬
vor er ſeinem Ziele näher rückte. Aber es war Som¬
merszeit, die Straße führte durch reiche vaterländiſche
Gauen und das Ehrenkreuz, der pulvergeſchwärzte,
kugeldurchlöcherte Mantel, der verſtümmelte Arm von
Waterloo waren warme Fürſprecher des armen In¬
validen und ſeines blaſſen Kindes. Es fand ſich ſo
mancher Fuhrmann oder Schiffer, der die Beiden
für einen Gotteslohn eine Strecke beförderte, mancher
Wirth, der die Herberge nicht anrechnete, und manche
Hand, die ungebeten einen Zehrpfennig oder Wander¬
biſſen reichte. Mußte dann auch wohl einmal unter
freiem Himmel genächtigt werden, ſo war das eine
alte Gewohnheit für den Soldaten der Legion; die
Nacht war kurz und er erwachte kräftiger als ſeit Jah¬
ren in der dumpfen Kammer nach einem wüſten Zech¬
gelag.
Alles in Allem: die Zeit dieſer Wanderung war
nicht die böſeſte in Auguſt Müllers Leben. Er hätte
länger, ja er hätte ſein Lebtag wandern mögen, wenn
nicht der Zug gegen den Türken ihn doch noch mäch¬
tiger gelockt. Für ſeine kleine Begleiterin aber, ſo
oft ſie in ihren Lumpen unter einem Regenguß zu¬
[43] ſammenſchauerte, oder mit wunden Füßchen ſtumm,
wie immer, am Wege niederhockte, für ſie hatte er
einen Zaubernamen gefunden, deſſen Klang ihr immer
wieder friſche Kraft verlieh. „Fräulein Hardine!“
lautete der Name. „Vorwärts zu Fräulein Hardinen!“
oder „Bald ſind wir bei Fräulein Hardinen!“ brauchte
der Vater nur zu ſagen und die Kleine ſchleppte ſich
weiter, bis ſich eine Herberge aufgethan. „Fräulein
Hardine“ war das einzige Wort, das ſie während der
langen Reiſe gemerkt oder leiſe nachgelallt hatte.
Vielleicht, daß in dem kleinen Herzen ein Echo mütter¬
licher Seufzer und Tröſtungen lebendig geworden war.
Man ſagt: ein brechendes Auge ſieht klar; und
gewiß liegt etwas Ergreifendes in der Zuverſicht, die,
ſei's für Dieſſeits, ſei's für Jenſeits, auf einem
Sterbebette verkündet wird. Auch Auguſt Müller war
einen Augenblick von dem Glauben geblendet worden,
in den ſich ſeine Frau Jahre lang hineingegrübelt
und deſſen ſie ſich in ihrer letzten Sorgenſtunde ge¬
tröſtet hatte. Im Grunde des Herzens aber hatte
er, wie früherhin, ſo auch jetzt, Fräulein Hardinens
niemals als einer Blutsverwandten gedacht, und den
Weg zur Heimath keineswegs mit dem Anſpruch von
Sohnesrechten angetreten. Er hoffte für ſein mutter¬
[44] loſes Kind auf eine Verſorgung durch die Frau, die
aus irgend einem Grunde ſeine eigene verwaiſte Kind¬
heit überwacht hatte. War ſie im Laufe der Zeit
zu Glanz und Fülle gelangt, — eine Vorſtellung, die
ſich ſeiner heiteren Gemüthsart gar leicht einſchmei¬
chelte, — und wollte ſie ihn noch außerdem mit einem
Pferde und einer blanken Uniform für ſeinen Türken¬
zug ausſtatten, deſto froher ſein Habdank. Soviel,
oder ſo wenig, hatte er im Sinn, wenn er ſeinem
ermatteten Kinde zurief: „Wir gehen zu Fräulein
Hardinen!“
Es war hoher Sommer geworden, als er eines
Morgens in einem wohlangebauten Thale vor einem
einſamen, alten Gebäude Halt machte und mit dem
Freudenrufe: „das Kloſter!“ durch die geöffnete Pforte
rannte. Er drang in den Hof, in den Kreuzgang,
in den Garten, in das Schulhaus, in die Probſtei;
er erkannte jeden Winkel: den Spielplatz, auf welchem
die Knaben heute wie damals ſich tummelten; den
Brunnen, in welchem ſie heute wie damals ihre Becher
füllten; das Zinngeſchirr, das heute wie damals die
Tafeln des Cönakels bedeckte; den Holzſchuppen, in
welchem heute wie damals Unruhſtifter ſeiner Gat¬
tung ihre Strafe verbüßten. Nur von den Menſchen,
[45] welche, alt und jung, den aufgeregten Fremdling neu¬
gierig umringten, von den Menſchen kannte er keinen.
Er fragte nach Ludwig Nordheim, dem Probſt und
Director; er war todt und vergeſſen viele Jahre
ſchon. Er fragte nach der alten Beckern. Niemand
hatte je von einer alten Beckern gehört. Keiner
erinnerte ſich eines der ehemaligen Lehrer und Mit¬
ſchüler, deren Namen er zu nennen wußte. Die
preußiſche Herrſchaft, die dieſen Landestheil überkom¬
men, hatte fremde, der Gegend unkundige Leute in die
alten Räume geführt. Er hätte ſich ſchämen müſſen,
Fräulein Hardinens nur zu erwähnen.
Enttäuſcht, wollte er ſeinen Stab weiter ſetzen,
als ihm das Atteſt einfiel, deſſen Beglaubigung nach¬
zuſuchen er ſeiner Liſette gelobt hatte. Kluge Liſette!
Namen, Datum, Wahlſpruch und Handſchrift ſtimmten
mit dem des Schulregiſters überein; der neue Director
konnte getroſt ſein Fiat darunterſetzen und der ärm¬
liche Landſtreicher hatte in dem polizeiſtrengen Staate
immerhin eine Legitimation gewonnen, die ihm die
Wanderſchaft erleichterte. Nun durfte es aber auch
an einer gaſtlichen Bewirthung nicht fehlen, da ja
Narben und Ehrenkreuz des vormaligen Zöglings einem
Erziehungshauſe für Soldatenwaiſen wohl zum Ruhme
[46] gereichten. Die grauen, ſtillen Kloſtermauern hallten
wieder von kühnen Streichen und luſtigen Schwänken,
von abenteuerlichen Zügen über Land und Meer, von
dem ſchwarzen Herzog und der ſchwarzen Liſette. Die
Frau Directorin tiſchte auf was Küche und Keller
vermochten; der Herr Director ſammelte unter Beamten
und Lehrern zum Beſten des invaliden Helden. Er¬
quickt, beſchenkt, froh wie ein König ſchied Auguſt
Müller aus den Mauern, zwiſchen denen er zwanzig
Jahre früher ſo widerwillig ſtill geſeſſen hatte.
Er ſchlug nun den Weg nach der Stadt ein und
die Sonne ſenkte ſich, als er über den Häuſern im
Thal das Schloß im Abendgolde leuchten ſah. Jetzt
biegt er aus der langen, ſchmalen Gaſſe auf den
Markt und ſein erſter Blick fällt auf das Haus, das
unverändert auf niederem Geſtell eine thurmhohe Dach¬
haube trägt. Der Mops mit der Zipfelmütze! „Hier,
hier,“ ſchreit er ſeiner Kleinen zu, „hier wohnt Fräu¬
lein Hardine!“
Er ſtürmt in die Thorfahrt und in die Thür
zur Rechten. Das Zimmer iſt in eine Schneider¬
werkſtatt umgewandelt; der tiefe Höllenwinkel — des
Mannes erſter Blick! — er iſt mit dem rieſigen Kachel¬
ofen verſchwunden. Auf dem Platze in der Kammer,
[47] wo damals der Sarg des Majors geſtanden, ſteht
heute eine Wiege. Angſtvolle Geberden und zornige
Scheltworte begrüßen den Eindringling, den man für
einen Betrunkenen oder Tollen hält.
Indeſſen waren auch die Nachbarn, die vor den
Thüren Dämmerſtunde feierten, auf des Fremden
ſeltſames Gebahren aufmerkſam geworden. Der Lärm
lockte ſpielende Kinder, Mägde vom Brunnen herbei,
eine dichte Gruppe bildete ſich vor dem Thor. Die
Frauen näherten ſich dem abgezehrten Mädchen, das
ſich ermattet neben demſelben niedergekauert hatte. —
„Wie heißt Du, Kleine?“ fragte eine Nachbarin. —
„Hardine,“ lispelte das Kind mit ſchwacher Stimme.
— „Iſt der Mann Dein Vater?“ — Das Kind
nickte. — „Wie heißt er?“ — Das Kind ſchüttelte
ſein Haupt. — „Was will er? Wen ſucht er in dieſem
Hauſe?“ — „Fräulein Hardinen.“
„Fräulein Hardinen!“ die Nachbarn ſteckten bei
dem Namen die Köpfe zuſammen. Als aber nun auch
der Vater, gefolgt von der Schneiderfamilie, von
Geſellen und Lehrlingen, aus dem Hauſe zurückkehrte
und immer den nämlichen Namen wiederholte, da ent¬
ſtand ein Rumor, ein Gewirr von Kreuz- und Quer¬
[48] fragen, das endlich in der Kürze zu folgendem Ab¬
ſchluß führte:
Die älteren unter den Bürgern des Städtchens
hatten in der That ein Fräulein, das Hardine hieß,
gekannt, das einzige, das jemals unter ihnen dieſen
Namen getragen. Fräulein Hardine war in dieſem
Hauſe geboren und erzogen; die Leiche ihres Vaters,
der als Major in dem Gefecht bei Saalfeld geblieben,
war auf dem ſtädtiſchen Kirchhofe begraben und die
Tochter hatte ihm ein Monument errichten laſſen,
das die Stadt zu ihren vornehmſten Sehenswürdig¬
keiten zählte. Der Name Fräulein Hardinens hatte
überhaupt einen ſtolzen Klang in ihrer Vaterſtadt.
Der Magiſtrat ging damit um, ihr einen Ehrenbürger¬
brief zu votiren, für welche Auszeichnung man ſich
denn ganz unverhohlen auf ein teſtamentariſches Legat
zu Gunſten einer ſtädtiſchen Stiftung Rechnung machte,
denn die vielgeprieſene Dame, die reichſte Grund¬
beſitzerin der Provinz, ermangelte jeglichen berechtigten
Erbens und ſtand in den Jahren, wo man ſein Haus
zu beſtellen pflegt. Daß dahingegen Fräulein Hardine
jemals ein fremdes Kind, — von einem eigenen war
natürlich nicht die Rede, — in einem Waiſenhauſe
verſorgt haben ſollte, wollte zu den von ihr gäng und
[49] geben Erinnerungen und Vorſtellungen nicht im Ent¬
fernteſten paſſen. Fräulein Hardine ſtand in dem
Rufe einer großen und klugen Dame, aber nicht in
dem einer Samariterin.
Auguſt Müllers Erinnerungen ſprachen indeſſen
all zu deutlich für einen immerhin möglichen Fall,
auch empfahlen die kriegeriſchen Narben und Decora¬
tionen den ehemaligen Schützling ihrer Landsmännin
und ſo war man denn allſeitig bereit, ihm eine gaſt¬
liche Herberge in ihrer Vaterſtadt zu gewähren. Die
kleine Hardine, reichlich beköſtigt und reinlich aus¬
ſtaffirt, ſchlief ſo ſanft wie noch nie auf der ganzen
Reiſe in dem Bettchen, das ihr die Schneidersfrau neben
der Wiege in der Kammer aufgeſchlagen hatte. Vater
Müller aber dachte gar nicht an ein Bett; er durch¬
zechte die kurze Sommernacht an der Tafel des Schlo߬
kellerwirths nebenan und belohnte das freihaltende
Publikum mit dem köſtlichſten Humor ſeiner ſpaniſchen
Erinnerungen und der Erwartungen ſeines Türken¬
zuges. Ein ſo tapferer Landsmann, der ſich ſo weit
in der Welt umhergetrieben hatte und noch ferner
umherzutreiben gedachte, ein Krüppel, der, ſeinem
Elend zum Trotz, ſo luſtig zu erzählen verſtand, er
durfte aber nicht ohne einen anſtändigen Zehrpfennig
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 4[50] in das Gebiet der auserkorenen Ehrenbürgerin ent¬
laſſen werden. Und ſo endete der Raſttag in Fräu¬
lein Hardinens Vaterſtadt als ein Freuden- und
Erntetag für den ehemaligen Waiſenknaben, der ihren
Schutz genoſſen hatte.
Den Himmel voller Geigen und mit reichlich ge¬
füllter Taſche holte er am anderen Morgen ſein kleines
Mädchen aus dem Nachbarhauſe ab, drückte den vor
den Thüren harrenden Bürgern zu Dank und Abſchied
die Hand und — beſann ſich erſt jetzt, daß er ver¬
geſſen hatte, nach Namen und Wohnort der Dame
zu fragen, deren Wohlthat er genoſſen habe und von
Neuem beanſpruchen wollte! Möglich, baß er beide
geſtern in ſeinem Freudenrauſche überhörte, ſo oder ſo,
aber gleichviel! Er kannte den Namen „von Recken¬
burg“ nicht, er wußte kein Wort von dem Stammſitze
der Familie, der reichſten Herrſchaft, dem Stolze der
Provinz! Wer vermöchte das verdrießliche Staunen
unſerer freigebigen Bürger zu beſchreiben! War der
Mann mit dem ehrlichen Soldatengeſicht, mit ſeinen
Orden und Narben, ſeinen Fahrten und Schwänken,
mit der Berufung auf Fräulein Hardinen ein toll¬
köpfiger Abenteurer, ein Betrüger, der ihre Leicht¬
gläubigkeit benutzt hatte, um ſeinen Seckel zu füllen?
[51] Es währte Wochen, bevor unſere Bürgerſchaft über
den ärgerlichen Streich zur Ruhe kam; nur aber um
von einem Erſtaunen in das andere zu fallen und ihr
Ehrendiplom vor der Hand zu ſiſtiren.
Während deſſen wanderte der Wachtmeiſter Müller
wohlgemuth ſeines Weges. Sie hieß das Fräulein
von Reckenburg, ſie wohnte kaum zwölf Meilen fern
auf Schloß Reckenburg und jedes Kind wußte ihm den
Weg nach Schloß Reckenburg anzugeben. Er konnte
auf dieſem Wege ſeine Zehrung bezahlen; er hatte
Weile zechend zu raſten wo ihm beliebte, und ihm be¬
liebte mancher Orten zechend zu raſten. So währte
es denn eine Woche, ehe er den Strom erreichte, an
deſſen jenſeitigem Ufer das Reckenburger Gebiet be¬
ginnen ſollte.
Je näher er nun aber ſeinem Ziele rückte, um ſo
anziehender wurde die Auskunft, die er über die Schlo߬
dame von Reckenburg erhielt. Es waren natürlich nur
kleine Leute, die er in den Herbergen, oder als ge¬
legentliche Weggenoſſen befragen konnte: Pächter, Förſter,
Viehhändler und dergleichen, einmüthig aber ſprachen
ſie von dem Fräulein mit dem tiefſten Reſpect. Und
zwar ſprachen ſie von ihr nicht nur wie von einer
ſteinreichen Frau, ſondern wie von dem klügſten und
4*[52] reſoluteſten Manne, deſſen landwirthſchaftliche Ein¬
richtungen weit und breit der Gegend zum Muſter
dienten. Ebenſo einſtimmig waren aber auch die Be¬
denklichkeiten über die Zukunft der großen Beſitzung
nach dem Tode der Dame. Manche bedauerten die
alleinſtehende Matrone, Andere beneideten zum Voraus
die lachenden Erben.
Unſer Invalid, des Landes, wie des Landbaues
unkundig, verſtand natürlich nichts von den Einzeln¬
heiten dieſer Mittheilungen. Aber ſeltſam! Je länger
er von der Fülle des Reckenburg'ſchen Erbes reden
hörte, deſto tiefer ſchmeichelten ſich Hoffnungen und
Wünſche in ſein Gemüth, die ihm bis dahin völlig
ferngelegen hatten. In Armuth und Heimathloſigkeit
wurden die Muthmaßungen erſt der alten Kloſter¬
klatſche, ſpäter ſeiner eignen Frau von ihm verlacht.
Jetzt auf der Wanderung in einer friedlichen, gedeih¬
lichen Landſchaft, ein Paar Thaler in der Taſche,
jederzeit etwas Warmes im Magen und den Krug
gefüllt für ſeinen Durſt, kurz und gut, in einem be¬
haglichen Zuſtande, wie er ihn kaum jemals gekannt,
jetzt überließ er ſich willig dem Zweifel, ob die beiden
Weiber, ob namentlich ſeine kluge Liſette in der Hell¬
ſicht des Sterbebetts ſein Verhältniß zu Fräulein Har¬
[53] dinen doch am Ende nicht richtiger erkannt haben
möchten, als einſt der einfältige Knabe und ſpäter der
leichtſinnige Mann. Er überlas jetzt zu wiederholten
Malen ſeine aufgeſchriebenen Erinnerungen, er ließ
auch wohl Fremde einen Einblick thun, ohne zu be¬
denken, welches Keimkorn von Verdächtigungen er da¬
mit ausſtreue. Allerdings glaubte er auch heute noch
nicht mit Zuverſicht an ſein Sohnesrecht, aber er be¬
gehrte nach dieſem Recht und vom Begehren bis zum
Beanſpruchen, man weiß es ja, iſt ein Katzenſprung.
Die Freiſtatt für ſein Kind und ſelber die Equipage
für ſeinen Türkenzug genügten ihm ſchon nicht mehr;
vor Allem aber genügte ihm nicht mehr, dieſelben als
eine Wohlthat zu erbetteln. Mit jeder zurückgelegten
Meile wuchs ſein luftiges Prinzenſchloß in die Höhe,
und wenn ſeine Kleine müde ward, entſchlüpfte ihm
mehr als einmal der Zuruf: „Bald ſind wir bei Deiner
Großmutter Hardine!“
Es war an einem heiteren Auguſtmorgen, als er
den erſten Gränzpfahl mit der Aufſchrift: „Flur
Reckenburg“ erreichte. Die Landſchaft unterſchied ſich
in keiner Weiſe von der, welche er ſeit mehreren Tagen
durchſchritten hatte; auch gehörte unſer erwartungs¬
voller Fremdling nichts weniger als zu den die Cultur
[54] beobachtenden Wandersleuten. Trotzdem kam es ihm
vor, als wandle er in einem neuen Land. War es
der Schimmer der Heimath, der ihn blendete? Oder
ſtanden die Wieſen wirklich ſo viel ſaftiger, die Felder
ſo viel reicher und üppiger bebaut? Wuchſen die
Waldbäume ſo viel gradſtämmiger? Trugen die Obſt¬
bäume ſo viel üppigere Frucht? Wie ebenmäßig
waren alle Kreuz- und Querwege chauſſirt, wie zweck¬
mäßig geführt und bezeichnet! „Auf denen ſtockt keine
Kanone und ſtrömte es wie bei Quatrebras!“ rief
der alte Soldat. Wie mußte er des hirſch- und holz¬
gerechten Waidmannes, ſeines Lehrherrn gedenken, als
er die ſtattlichen Dammböcke, das kräftige Edelwild
in den uralten Tannenforſten über die Umhegungen
lugen ſah, während hier und dort um den Trinkquell
die Thiere lagerten und die Kälber ſie luſtig umſprangen.
„Ja hier iſt gut ſein!“ rief der arme Landſtreicher
aus. „Schau Dich doch um, dummes Kind. Alles
das gehört Deiner Großmutter Hardine!“
Weniger anſprechend indeſſen als das Land,
dünkten ihm die Leute in der Reckenburger Flur. Es
war Erntezeit und ein reges Leben auf den Feldern.
Da ſah er denn einen Menſchenſchlag, nicht groß und
ſtattlich wie Prinz Guſtel in ſeiner Erinnerung ſtand,
[55] aber geſund und hartſehnig, knapp und reinlich ge¬
kleidet, ſcharf bei der Arbeit und karg im Genuß.
Das war ein Schaffen ohne Raſt; Jeder für ſich und
dabei doch Einer fördernd in des Anderen Hand.
Dabei kein Wort, kein umſchweifender Blick, kein
Lachen und Schäkern zwiſchen Burſchen und Dirnen,
während die Mahden geſchnitten, die Garben gebunden
und verladen wurden. In einem Ameiſenhaufen konnte
es nicht ſtummer und ämſiger vor ſich gehen. Selber
die, welche Mittag haltend, am Straßengraben ſaßen,
verzehrten die ſchwarzen Brodſchnitte und leerten ihren
Krug Dünnbiers ſchweigend und haſtiger, als ander¬
wärts Bauern es pflegen. Keiner lud den wandernden
Krüppel und ſein müdes Kind zu Raſt und Labe;
kaum daß ſie ſeinen Gruß erwiderten, als er aber gar
nach Schloß Reckenburg und nach Fräulein Hardinen
fragte, da ſtarrten ſie, ohne Auskunft zu geben, das
armſelige Paar mit verwunderten, ſchier verächtlichen
Blicken an, als wollten ſie ſagen: „Was wollt Ihr
faules, verlaufenes Geſindel in der fleißigen, geſegneten
Reckenburger Flur und bei unſerem reichen, ſtolzen
Fräulein Hardine?“
Der „Nach Schloß Reckenburg“ bezeichnete Weg
hatte die Wanderer in mannichfaltigem Wechſel ſtun¬
[56] denlang durch Wald, Wieſen, Feld und endlich wieder
in ein Forſtrevier geführt mit noch ſtattlicherem Be¬
ſtande und mit parkartiger verſchlungenen Pfaden als
die früheren. Auch hier herrſchte ein geſchäftiges
Treiben. Viel kleinere Kinder als die kleine Hardine
ſammelten die letzten blauen und die erſten rothen
Heidelbeeren des Sommers, alte Mütterchen kamen
und gingen mit Kräuter- oder Reiſigbündeln, mit
Körben duftender Pilze. Von der Wiege bis zum
Grabe ſchien Alles im Reckenburg'ſchen zu arbeiten.
Aber die Kinder arbeiteten ſtumm, wie vorhin die Er¬
wachſenen und die Greiſe ebenfalls ſtumm, wie neben
ihnen die Kinder; auch ſie ſtarrten verblüfft dem fu߬
wandernden Paare nach, während eine gleichzeitige
militairiſche Cavalcade und mehrere vornehme Equipa¬
gen, welche in raſcher Folge an ihnen vorüberſauſten,
ihre Aufmerkſamkeit nicht im Geringſten erregten. Ver¬
geblich fragte der Invalid, was dieſe glänzende Auf¬
fahrt geputzter Damen und Herren zu bedeuten habe?
Sie zuckten ſchweigend die Achſeln und bückten ſich,
um ämſig weiter zu ſammeln. „Ein curioſes Völk¬
chen, meine Reckenburger!“ ſagte Auguſt Müller, „aber
ich werde ihm Mores lehren!“
Der tiefſchattige Waldweg öffnete ſich eben wieder
[57] nach dem freien Felde, als der Wanderer durch eine
Gruppe uralter Weimouthskiefern gefeſſelt ward. Er
blickte lange die ſchlanken Schäfte bis in die ſchwarz¬
grünen Wipfel hinan, die wie eine Laube in einander
verwachſen waren. „Bah! Bäume ſind Bäume!“ ſagte
er endlich, indem er ſich mit Gewalt losriß und in's
Freie hinaustrat.
Er hatte bisher noch kein Dorf wahrgenommen,
nur in der Ferne zerſtreut einzelne Gehöfte, die er
für Meiereien, Mühlen, oder Ziegelſcheunen hielt. Ihn
plagte der Durſt. Irgendwo mußte doch eine Schenke
zu finden ſein. So hielt er denn Umſchau am Aus¬
gang vor dem Waldesrande. Zur Linken deſſelben
ſetzte die Straße nach dem Schloſſe in einer breiten
Lindenallee ſich fort; geradeaus ſtreckte ſich eine Flucht
von Gemüſefeldern. Jetzt wendete er ſich zur Rechten
und ſtand wie vom Blitze getroffen, als er hart vor
dem Kieferndickicht ein kleines Haus von altväteriſcher
Bauart gewahr wurde. Er ſtarrt hinauf zu dem
Giebel, an welchem ein gräflich gekrönter Doggenkopf
in Steinarbeit prangt, athemlos umgeht er das Häus¬
chen nach den drei freiliegenden Seiten, ſchlägt ſich
mit der geballten Fauſt vor die Stirn und ſtürzt end¬
[58] lich mit dem Schrei: „Muhme, Muhme Juſtine!“
durch die geöffnete Thür.
Aber es war nicht die alte Muhme, es war eine
junge Familie, die er in dem netten Zimmer zur
Mittagsmahlzeit verſammelt fand. Der Tiſch ſtand
blitzblank gedeckt, obgleich nur mit Buttermilch und
einem Grützbrei beſetzt. Herr Auguſt hätte keinen
Appetit auf dieſe Koſt verſpürt, wenn man ihn zum
Niederſitzen eingeladen hätte.
Indeſſen man lud ihn nicht ein; im Gegentheil,
man erhob ſich und drängte ihn ganz unmerklich wieder
zur Thüre hinaus. Sichtlich mit Widerwillen gab
man den Beſcheid, daß das vormalige gräfliche Meute¬
wärterhaus jetzt die Wohnung des Schäfereiaufſehers
ſei. Mit mißtrauiſchen Blicken wurde dann die Thür
abgeſchloſſen und der Weg nach der Schäferei, einem
neuen Anbau, von der geſammten Familie angetreten.
Nur ein eisgrauer Großvater war zurückgeblieben,
um im Sonnenſchein auf der Bank vor der Thür die
ſteifen Glieder zu wärmen. Bei ihm verhielt ſich
unſer Invalid, noch einmal Aufſchluß über Muhme
Juſtinen und Fräulein Hardinen erbittend. Und ſei
es nun, daß zu des Alten Zeit in Reckenburg weniger
gearbeitet und mehr geſchwätzt worden war, ſei es,
[59] nach Greiſenart, daß der Aufruf einer in jungen Tagen
gekannten Geſtalt, des Alten Gedächtniß und ſeine
Zunge löſte, von ihm erhielt Auguſt Müller eine Mit¬
theilung, welche gleichſam den Kettenſchluß ſeiner Er¬
innerungen und Hoffnungen bilden ſollte.
Frau Müller, oder vertraulicher Weiſe Muhme
Juſtine, war in Begleitung des blutjungen Fräuleins
Hardine, deſſen Amme oder Kindsmagd ſie geweſen
war, nach Reckenburg gekommen und dort von der
alten ſchwarzen Gräfin zurückgehalten worden; die
Einzige, die ſie jemals in ihrem Goldthurme geſehen
hat. Für gewöhnlich aber hat ſie in dem leerſtehen¬
den „Hundehauſe“ gewohnt und das Geſchäft einer
Wehmutter im Dorfe betrieben. Als die Muhme vor
vielen, vielen Jahren geſtorben iſt, hat das Fräulein
ein Kreuz über ihr Grab ſetzen laſſen, worauf mit
goldenen Lettern die Inſchrift: „der treueſten Die¬
nerin“ zu leſen ſteht. Ob Muhme Juſtine jemals
ein Ziehkind gehalten habe, deſſen wußte ſich der alte
Mann allerdings nicht zu erinnern, vielleicht daß es
während ſeiner Soldatenzeit in der Rheincampagne
geſchehen war.
Aber Muhme Juſtine hatte ein ſolches Kind ge¬
halten; Auguſt Müller wußte ſich deſſen nur allzu¬
[60] wohl zu erinnern und das Kirchenregiſter mußte
darüber Auskunft geben, wo, wann und von wem es
geboren worden war. Mit großen Schritten, ſeiner
Tochter halbwegs voran, eilte er nach der Pfarre.
Das Pfarrhaus, neuen, ſtattlichen Anſehens, lag
zu Füßen der Kirche, die auf leiſer Anhöhe das Dorf
überragte. Rückwärts, auf dem öſtlichen Abhange des
Kirchhügels, ſenkte der Friedhof ſich ab, während die
Schule der Pfarrwohnung gegenüber am Eingang der
Dorfſtraße errichtet war: neu, reinlich und räumlich
wie dieſe geſammte Anlage. Dem athemloſen Manne,
der jetzt von der Waldſeite daherrannte, fehlte freilich
jeder theilnehmende Blick für alles, was ihm ſolcher¬
geſtalt ſegenverkündend entgegentrat.
Er war im Begriffe die Thür zu öffnen, als ein
halbwüchſiger Knabe, im bunten Gymnaſiaſtenkäppchen
ihm aus derſelben entgegenkam. Zum erſtenmale auf
Reckenburger Grund ein offnes, fröhliches Geſicht, das
auf den erſten Blick das Herz unſeres Wanderers gewann.
Sein Vater, ſo antwortete der Schüler auf
Auguſt Müllers Frage nach dem Herrn Pfarrer, be¬
finde ſich auf dem Schloſſe, wo heute, am dritten
Auguſt, der Geburtstag des Königs von dem Fräulein
durch ein Feſtmahl gefeiert werde.
[61]
Er — der Schüler, — ſei gleichfalls auf dem
Wege dorthin. Nicht als Gaſt, — wie er lachend
hinzufügte, — denn ſolche Ehre widerfahre ihm noch
nicht, — nur um ſich die ſchönen Wagen und Pferde
der Schloßgäſte ein wenig anzuſehen. Habe das An¬
liegen Eile, ſei er bereit, ſeinen Vater herbeizurufen.
Der Invalide brachte nunmehr in polternder
Haſt das Begehren nach ſeinem Taufſchein zu Gehör,
indem er zu ſeiner Empfehlung ſich auf das Zeugniß
der beiden Kloſterpröbſte berief, das er ſchon auf dem
Wege aus ſeiner Brieftaſche genommen hatte.
„Ludwig Nordheim,“ ſagte der Schüler, nachdem
er das Blatt überblickt hatte. — „Der Name und die
Handſchrift meines Großvaters!“ —
„Ihres Großvaters!“ — rief Auguſt Müller auf
das Angenehmſte überraſcht. „Junger Herr — Sie
heißen — —“
„Ich heiße Ludwig Nordheim, wie er,“ antwortete
treuherzig der Knabe. — „Die Nordheims ſind ein
ſtändiges Geſchlecht in der Pfarre von Reckenburg.
Erſt mein Großvater, des Fräuleins alter Freund,
dann mein Vater, auch wieder ihr Freund, und ginge
es nach deſſen Willen, würde ich einmal der Dritte.
Mir aber,“ ſo plauderte er fröhlich weiter, „mir iſt
[62] die Kanzel zu eng. Ich möchte Landwirth werden
wie unſer Fräulein Hardine. Vorher freilich, ſagt ſie,
ſoll ich ſtudiren.“
Ein Wirbel war während dieſer Rede in des
Invaliden Kopfe aufgeſtiegen. Er ſtand einen Augen¬
blick wie geblendet von dem Lichte dieſer neuen Auf¬
klärung. „Begriff ich Sie recht,“ ſagte er darauf, des
Knaben Hand ergreifend und heftig drückend, „ver¬
ſtand ich Sie recht, junger Herr, ſo war Ihr Gro߬
vater, ehe er Kloſterprobſt ward, Pfarrer hier, hier
in Reckenburg. Können Sie mir ſagen, in welchen
Jahren?“
„Nicht genau, wann er eingetreten iſt, aber eine
lange, lange Zeit, bevor er gegen Ende des Jahr¬
hunderts in das Kloſter berufen wurde.“
„Jedenfalls alſo Anfangs der neunziger Jahre,
in denen ich geboren ſein muß. Er, er hat mich
ohne Zweifel getauft; ſeine Hand meinen Namen in
das Kirchenregiſter eingetragen. Darum, darum hat
er mich vor allen Anderen lieb gehabt. Laſſen Sie
Ihren Vater in Frieden auf dem Schloſſe, mein lie¬
ber junger Herr. Ein raſcher Blick in das Kirchen¬
buch, und die Sache iſt abgemacht.“
„Es thut mir leid, dieſen Wunſch, ſelber wenn
[63] ich dürfte, nicht erfüllen zu können,“ verſetzte der
Gymnaſiaſt. „Es exiſtiren keine Regiſter aus jener
Zeit. Die Bücher ſind mit abgebrannt, als anno 97,
glaub' ich, der Blitz in die Sakriſtei geſchlagen und
auch die alte Kirche zum großen Theil zerſtört hat.
Die Sie hier oben ſehen, iſt neu errichtet durch Fräu¬
lein Hardinen, wie denn alles in unſerem Reckenburg
neu geworden iſt durch ſie: die Flur, das Dorf und
ſelber das Menſchengeſchlecht. Das himmliſche Feuer
aber mußte vom Himmel fallen, ſagt mein Vater, daß
auch in den Regiſtern keiner mehr an die alte, böſe,
zuchtloſe Zeit erinnert werde. Aber wiſſen Sie was,
guter Mann,“ fuhr er nach einigem Beſinnen fort,
„warten Sie, bis gegen Abend die Gäſte das Schloß
verlaſſen haben werden und fragen Sie dann nach
bei Fräulein Hardinen ſelbſt. Sie iſt in den neun¬
ziger Jahren ſchon häufig als Gaſt bei der alten
Gräfin geweſen, und ſie, die nichts vergißt, erinnert
ſich gewiß noch jedes Kindes, das in dieſer Zeit im
Dorfe geboren worden iſt, zumal wenn ihre alte
Muhme daſſelbe aufgezogen hat.“
Nach dieſen Worten ſprang der Knabe munter
voran, da er eben ein elegantes Viergeſpann in die
Dorfſtraße einbiegen ſah. Auguſt Müller folgte ihm
[64] mit ſtolzen Schritten und gehobenen Hauptes. Die
Enthüllungen im Wald- und Pfarrhauſe hatten das,
was vor einer Stunde nur noch Verlangen geweſen,
zur Gewißheit geſteigert. Was bedurfte er eines Zeug¬
niſſes ſchwarz auf weiß, wo der Zuſammenhang ſo
untrüglich mit Händen zu greifen war?
In einem abgelegenen Waldhauſe wird ein Knabe
geboren. Er wird aufgezogen von der Gemeinde¬
pflegerin, welche dieſes Haus bewohnt und welche die
treueſte Dienerin ſeiner Mutter geweſen iſt. Der
Ortspfarrer, der Mutter vertrauter Freund, tauft den
Knaben und trägt ihn unter dem Namen der Dienerin
in das Kirchenregiſter ein. Ohne Zweifel iſt er es
auch geweſen, der vorher ſchon die Ehe der Dame
heimlich eingeſegnet hat, die Ehe mit irgend einem
gleichviel ob zu hoch, ob zu niedrig ſtehenden beliebigen
Quidam. Unter den Schutz dieſes bewährten geiſt¬
lichen Freundes, der indeſſen an die Spitze einer an¬
ſtändigen Verſorgungsanſtalt aufgerückt iſt, ſtellt ſpäter
die Mutter ihren Knaben. Sie führt ihn perſönlich
ihm zu, ganz im Geheim. Noch iſt ſie arm und ab¬
hängig, ſie darf ihn nicht öffentlich anerkennen; aber
ſie überwacht ihn im Stillen, ſie ſorgt für ihn, ſtraft
ihn, ſie ſucht einen tapferen Soldatenſinn in ihm zu
[65] erwecken; ſie bringt ihn in einem ſelbſtgewählten Be¬
rufe unter und als ſie endlich, zu Fülle und Freiheit
gelangt, ihn vor der Welt anerkennen darf, — iſt der
Knabe ſpurlos verſchwunden, verſchollen ſein Name
viele, viele Jahre lang. Die Mutter aber bleibt einſam
zurück, ſie harrt ſeiner Heimkehr, ſie hält ihm das
Erbe offen, das ihm rechtmäßig zuſteht, erweitert es
zu einem fürſtlichen Beſitz. Und er, er iſt dieſer
glückliche Knabe, er, der Sohn der letzten Recken¬
burgerin, er, der Erbe der reichen Reckenburg!
So der Roman, welchen unſer heißblütiger
Kumpan ſich im Fluge auferbaute. Die Daten, die
etwa mit ſeiner Rechnung nicht ſtimmen mochten, die
mancherlei Lücken, die Widerſprüche in dem Charakter
der mütterlichen Heldin, die problematiſche Rolle des
beliebigen Quidam, mit alle dem beunruhigte er ſeine
Phantaſien nicht. Wenngleich noch nüchtern, fühlte
er ſich wie berauſcht. Hätte er eine wohlconditionirte
Uniform auf ſeinem Leibe gefühlt, er würde ſporn¬
ſtreichs nach dem Schloſſe aufgebrochen und ohne
Scheu vor Fräulein Hardinen und ihre vornehme
Tafelrunde getreten ſein. „Mutter!“ würde er ihr
zugerufen haben, „Mutter, Dein Sohn iſt heimge¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 5[66] kehrt, und ſieh, dieſe hier iſt ſeine Tochter, die Dir
zur Erinnerung den Namen Hardine trägt!“
Aber leider in ihrem gegenwärtigen Aufzuge konn¬
ten die Erben der Reckenburg ſich nicht im Kreiſe
ihrer künftigen Standesgenoſſen präſentiren. Man
mußte ein Wirthshaus ſuchen und die abendliche Ein¬
ſamkeit erwarten.
So nahm denn unſer Freund die Kleine, die
ihm ermattet nachgeſchlichen kam, wieder an die Hand
und ſchritt forſchend die breite, lange Dorfſtraße ent¬
lang. Aber ſeltſam! wie die Gehöfte ihm hüben und
drüben entgegentraten, alle neu, ſchweigſam, ſauber
und ſo nüchtern ſolide, da däuchte ihm, als ob aus
jeglichem Fenſter die Augen der geſtrengen Hardine
auf ihn herniederſchauten, ſo wie ſie einſt den un¬
bändigen Waiſenknaben angeblickt; es ſummte wieder
wie „Wildling!“ vor ſeinem Ohr und er fuhr mit
der Hand nach ſeiner glühenden Backe, wie damals
als er ihren züchtigenden Streich auf derſelben gefühlt
hatte. Ihn überkam eine Anwandlung zweifelnder
Schwäche; ohne eine herzſtärkende Labe hätte er jetzt
nicht vor der handfeſten Dame erſcheinen mögen. Und
hinwiederum ſeltſam! in dem langgereihten Dorfe
ſchien nirgends eine Stätte für ſolche Labe aufzufin¬
[67] den. „Haben denn die Leute unter Fräulein Har¬
dinens Regiment keinen Durſt?“ fragte er verdrießlich.
„Oder ſaufen ſie nur Waſſer wie das liebe Vieh?“
Endlich im allerletzten Hauſe, da fand er, was
er ſuchte, wenn auch durch kein Schild oder Schen¬
kenzeichen, keine Kegelbahn, Laube oder Tanzlinde ein¬
ladend angekündigt. Nein, das war nicht der Platz,
wo ein Zögling des Bivouaks das wandernde Mar¬
ketenderzelt vergißt, wo Karten und Würfel fallen und
der Schoppen unter zechenden Kumpanen kreiſt. Noch
viel weniger war es eine Herberge, die dem müden
Bettler, dem irrenden Landſtreicher Labſal und Ob¬
dach bot. Es war ein ruhiges, nüchternes Gehöft
wie alle anderen des Dorfes, nur die untergeſtellten
Equipagen der Schloßgäſte und eine betreßte Diener¬
ſchaft vor dem Thor deuteten an, daß wohlbeſtelltes
Volk und Gethier, gegen ſofortige Bezahlung, hier
gelegentlich eine Raſtſtunde halten durften.
So wenig anheimelnd der Platz, unſer Veteran
warf ſich in die Bruſt, ſetzte ſich auf eine Bank vor
der Thür und forderte Wein. Aber die Zornesader
auf ſeiner narbigen Stirne ſchwoll, als der Wirth,
ohne ſich von der Stelle zu rühren, ihn von Oben
bis Unten mit einem nichts weniger als bewillkommnen¬
5*[68] den Blicke maß. Was Wunder, wenn in unſerem
Bruder Habenichts heute Prinz Guſtels ſplendide
Soldatennatur wieder aufgewacht war! Er wieder¬
holte barſch ſeine Forderung, indem er mit der Miene
eines Cröſus ſein letztes Thalerſtück auf den Tiſch warf.
Vergebliche Herausforderung! Ein Achſelzucken
des Wirths war die einzige Antwort; das goldhelle
Wörtchen Wein ſchien ein fremdartiger Klang in der
Schenke von Reckenburg.
Indeſſen hatte die auswärtige Dienerſchaft den
ſeltſamen Wandersmann, der in Lumpen ging und
mit Thalern um ſich warf, auf's Korn genommen.
Man näherte ſich, man gab gefällig Beſcheid und hatte
unſer Freund vor einer Stunde kaum ſich dreiſt an
die Magnatentafel des Grafenſchloſſes geträumt, ſo
ſaß er jetzt wohlgemuth im Kreiſe ihres gallonirten
Lakaienthums. Kümmel und Gerſtenſaft löſten die
Zunge ſo gut wie der verſagte Rebenſaft. Er plauderte
von alten kriegeriſchen Erinnerungen, aber er plauderte
noch lebhafter von den älteren friedlichen Erinnerungen,
welche die Wanderung durch die Reckenburger Flur
in ihm wach gerufen hatte und er fühlte ſich ermuthigt,
als auch andere kluge Leute einen Vers daraus zu
bilden wußten, der auf den ſeinen reimte. Halb im
[69] Ernſt, halb im Spott wurde ſein Angriffsplan unter¬
ſtützt; die Krüge klappten zuſammen in einem Friſch¬
auf zu glücklichem Erfolg.
Hin und wieder ging auch ein Einheimiſcher, der
zu Hauſe Mittag gehalten hatte, an dem Schenken¬
platze vorüber; volle Erntewagen ſchwankten in das
Dorf und kehrten leer wieder nach den Feldern zurück.
So ſeltene Gäſte die Bauern und Knechte von Recken¬
burg an dieſem Platze ſein mochten, die Muſterung
der fremden Geſpanne war wohl ausnahmsweiſe einen
Krug Dünnbiers werth, und es verbreitete ſich da¬
her auch unter ihnen die wunderbare Mähr von dem
Reckenburger Kinde, das plötzlich als Herrenerbe ein¬
geſprungen war. Kopfſchüttelnd und ſchweigend, wie
ſie der Mähr gelauſcht, entfernten ſich die Einheimiſchen,
Einer nach dem Andern, auch die betreßte Tafelrunde
brach auf, um die Geſchirre für die Heimfahrt zu rüſten:
ehe aber der Abend ſich ſenkte, war das lang bewahrte
Geheimniß Fräulein Hardinens weit über die Recken¬
burger Flur in das Land hinausgeſtreut.
Der ſich am ſpäteſten erhob, war der jetzt doppelt
berauſchte Erbe. Er bezahlte das letzte Glas mit
ſeinem letzten Groſchen, riß ſeine Kleine, die in einem
ſonnigen Winkel eingeſchlummert war, in die Höhe
[70] und rief barſch: „Wach auf, Schlafmütze! Jetzt geht's
zu Deiner Großmutter Hardine!“
„Zu meiner Großmutter Hardine!“ lallte das
Kind wie in einem fortgeſetzten Traum.
So wanderten ſie Hand in Hand voran. Die
Füße des Invaliden ſchwankten und ſeine Bruſt keuchte
beklemmt. Warum eigentlich? Ohne eine merkliche
Spur hatte er häufig das Doppelte zu ſich genommen.
Freilich der Tag war heiß geweſen, die Wanderung
weit und die Aufregung gewaltig. Es währte eine
Weile, bevor er das Gitterthor erreichte, auf welchem
ein vergoldetes Doppelwappen im letzten Sonnenſchein
funkelte. Im Hintergrund einer langen, breiten
Rüſternallee präſentirte ſich das Schloß auf erhöhter
Terraſſe; zu beiden Seiten der Avenue dehnte ſich bis
zum Waldesſaume der Garten, linealgerecht durch
hohe Buchenhecken abgetheilt. Goldgelbe Pfade ſchlän¬
gelten ſich zwiſchen den vielgeſtaltigen Schnörkelbeeten,
auf denen hinter einem Einfaß von Bux und bunten
Perlenringeln zwar keine Blumen, aber kunſtvoll
dreſſirte Baumfiguren in die Höhe wuchſen. Weiße
Marmorbilder, deren Structur ſich gar nicht übel mit
den Pflanzungen dieſes Ziergartens vertrug, ragten
längs der Heckenwände, umſchichtig mit gar verwunder¬
[71] lichen Ungeheuern, die aus weitgeöffnetem Rachen ein
ſpindeldünnes Waſſerfädchen ſprühen ließen. Die
kleine Hardine klammerte ſich zitternd an den Vater,
ſo oft ſie eine dieſer Kunſtgeſtalten lugen ſah; dem
Vater aber, der in fremden Landen an mancher ver¬
wandten Anlage vorübergekommen ſein mochte, ohne
ſie zu beachten, dem Vater ſchien ſie hier in ſeiner
Erbheimath ſchier zur Beunruhigung großartig und
imponirend.
Als er ſich dem Schloſſe näherte, ſah er die reich
geputzte, und uniformirte Geſellſchaft die Terraſſe her¬
abſteigen, um ſich luſtwandelnd im Garten zu zer¬
ſtreuen. Zum erſtenmale ſchämte ſich der Wachtmeiſter
der Legion des geſchwärzten, zerfetzten Mantels von
Waterloo. Er bog aus der großen Allee nach den
Heckenwegen ein und gelangte ſo unbemerkt in einen
der Laubengänge von vergoldetem Gitterwerk, welche
zu beiden Seiten die Terraſſe hinanführten. In dieſem
halbdunklen Verſteck wollte er warten, bis die heran¬
rollenden Equipagen die letzten Gäſte entführt haben
würden und dann friſchen Muths vor Fräulein Har¬
dinen treten.
So langſam er voranſchritt, das Zittern ſeiner
Glieder, die Beklemmung des Athems nahm zu. Es
[72] kochte etwas in ſeiner Bruſt, als ob eine der alten
Wunden ſich geöffnet habe. Er ſchlug mit der Fauſt
gegen das hämmernde Herz und mußte eine Lehne
ſuchen, als er jetzt am Ausgang des Berceau nach
dem Schloſſe blickte, deſſen hohe Fenſter und Spiegel¬
thüren nach der Terraſſe geöffnet ſtanden. Alte reich
gallonirte Diener, noch gepudert, gingen gravitätiſch
hin und wieder, auf ſilbernen Platten den Kaffee
ſervirend; Andere räumten das funkelnde Geräth und
die leckeren Reſte von der Tafel im großen Speiſeſaale
des Parterre. Wie die Adern des armen Vagabonden
ſchwollen, wie fieberiſch ſeine Augen leuchteten vor
dieſem nie geſchauten Bilde der Fülle und der Pracht!
Nach und nach hatte ſich die Terraſſe von Gäſten
und Dienern geleert. Nur noch ein einziges Paar
ſchritt langſam von der entgegengeſetzten Seite her der
Laube zu, in welcher der Invalid athemlos lauſchte.
Ein ſtattlicher Herr in hoher Beamtenuniform, einen
Stern auf der Bruſt; an ſeiner Seite mit majeſtäti¬
ſchem Anſtand eine Dame von gleicher Größe wie
er ſelbſt und auf der Bruſt den Orden, welcher für die
Patriotinnen des Befreiungskrieges ſo ſinnvoll geſtiftet
worden war. Reiches Geſchmeide funkelte unter der
Spitzenumhüllung des gegen die Mode der Zeit fal¬
[73] tigen, ſchleppenden Gewandes und die Strahlen der
ſinkenden Sonne ſpiegelten ſich in einem Diadem über
dem vollen, ſchwarzen Haar. Der Herr ſprach mit
Eifer; ernſt und gedankenvoll hörte die Dame zu.
In der Nähe des Laubenganges ſtand ſie ſtill.
Sie ſchien eine Antwort zu ſuchen, legte den Arm auf
eine Vaſe; in welcher eine Aloe ein verkümmertes Ur¬
alter friſtete und wendete bei dieſer Bewegung das
volle Geſicht dem heimlichen Lauſcher zu.
Alle Vorſätze der Zurückhaltung, alle beklemmende
Scheu waren jählings verſchwunden. „Fräulein Har¬
dine!“ ſchrie er auf. „Sie iſt es! ja, das iſt Fräulein
Hardine!“ Er ſtürzte aus der Laube und mit ausge¬
ſtreckter Hand der Dame entgegen.
So haben wir denn das, was wir zu Anfang ein
Geheimniß genannt, nebelartig aus loſen Erinnerungen,
ſo gleichſam aus dem Hauche eines Namens aufſteigen
und ſich in vorlauten, eigennützigen Deutungen immer
dichter und dichter herandrängen ſehen, bis es als eine
drohende Wetterwolke über dem Haupte Fräulein Har¬
dinens hing. Ueber dem Haupte einer Frau, die wir
als die Schöpferin unſeres heimathlichen Wohlſtandes
verehrten, die in ihre mit männlicher Kraft und Aus¬
[74] dauer gegründete, junge Colonie den Wahrſpruch ihres
Hauſes: „In Recht und Ehren“ eingepflanzt und ſie
vor jeder entſittlichenden Berührung gehütet hatte, einem
Spiegel gleich, den der leiſeſte Moderhauch trübt.
Und wir Reckenburger Leute hatten ſie gekannt
faſt noch als ein Kind; ihr Leben lag vor uns durch¬
ſichtig und eben wie ein Kryſtall. Da war kein Schatten,
keine Lücke, ja nicht einmal eine gemüthliche Regung,
welche eine Heimlichkeit hätte ahnen laſſen. Der
Wechſel unſerer beiden letzten Herrinnen, der geſpenſti¬
ſchen Urgreiſin im Goldthurme, mit deren Beſchwörung
wohl heute noch die Mütter ihre Kinder zur Ruhe
ſcheuchen, und der heute im fünfzigſten Jahre noch
friſch und kräftig, faſt wie im fünfzehnten, ausſchauen¬
den und ſchaffenden Hardine glich dem des Tages
mit der Nacht.
So ſtand ſie vor Hoch und Gering ehrenreich
und ehrenrein wie keine Zweite; ſo ſtand ſie im Kreiſe
der Notabeln ihrer Gegend, an der Seite des Mannes,
der für ihren einzigen Vertrauten galt, und den man
neuerdings vielfach den Erkorenen für ihr freies Erbe
nannte, als ein landſtreichender Bettler, der erſte ſeiner
Art, der ihr Gehege zu betreten wagte, ſich zu einer
Bezüchtigung, zu einer Anforderung an ſie erdreiſtete,
[75] vor welcher das niedrigſte Weib in Scham und Zorn
entbrannt ſein würde.
Die Unterredung mit dem Grafen, ihrem Be¬
gleiter ſchien ihre Aufmerkſamkeit ſo ſehr in Anſpruch
genommen zu haben, daß ſie das Nahen der beiden
Fremdlinge nicht früher bemerkte, bis Auguſt Müller
dicht zu ihren Füßen ihren Namen rief. In ſeinem
verwilderten Zuſtande, mit allen Anzeichen des Trunken¬
bolds, war der erſte Eindruck der des Widerwillens
und der Entrüſtung. „Fort!“ befahl ſie, indem ſie
einen Diener herbei winkte, den Eindringling zurück
zu treiben.
„Fort!“ rief der Invalid, bis jetzt noch aufge¬
räumten Humors; „fort weiſen Sie mich Fräulein
Hardine? Sie erkennen mich wohl nicht, und ich er¬
kannte Sie doch auf den erſten Blick, wenngleich Sie
vor zwanzig Jahren noch keine Krone getragen haben.“
Er war während dieſer Worte die Stufen hin¬
angeſtiegen und faßte nun dreiſt nach der Dame Hand.
Unwillig wehrte ſie mit beiden Armen den Zudring¬
lichen ab, während mehrere Diener herbeiſprangen,
die Gäſte aus dem Garten ſich nach der Terraſſe
drängten und der Graf eine Bewegung machte, den
wüſten Geſellen die Treppe hinabzuwerfen. War es
[76] nun in Folge des Rauſches, der vorigen Schwäche,
oder blos der kräftigen Abwehr der Reckenburgerin,
genug, der Mann taumelte und ſtürzte die Stufen
hinab, eine Blutſpur zeigte ſich am Boden, der ver¬
witterte Mantel entfiel ihm; das militairiſche Ehren¬
zeichen, der Stumpf des Armes wurden ſichtbar;
Fräulein Hardine erbleichte.
Die leichte Verletzung hatte den Berauſchten
plötzlich entnüchtert. Er richtete ſich raſch in die Höhe
und ſtand einen Moment in drohendem Trotz, mit ge¬
ballter Fauſt der Dame Aug' in Auge. Dann ließ
er den Arm ſinken und ſprach mit einem Stolz, der
ſich ſeltſam gegen die vorige Rohheit abhob: „Es iſt
nicht das erſtemal, Fräulein Hardine, daß Sie Ihre
Hand gegen mich erhoben haben; aber Gott ſei mein
Zeuge, es iſt das letztemal. Sie werden Auguſt
Müller nicht wiederſehen. Ich hätte es mir ja den¬
ken können, daß Einer, deſſen Daſein in einem Wai¬
ſenhauſe verborgen worden iſt, nun, da das Elend
ihn treibt, für ſein mutterloſes Kind eine Freiſtatt zu
ſuchen, von der Schwelle Ihres ſtolzen Hauſes wie
ein Verbrecher verjagt werden würde.“
Die Blicke der ſprachloſen Dame fielen während
dieſer Schmährede auf das Kind, das hinter dem Va¬
[77] ter drein bis dicht in ihre Nähe geſchlichen, und jetzt
von einer Gruppe mitleidiger oder neugieriger Gäſte
umringt worden war. „Wie heißt Du?“ fragte eine
Dame. „Hardine,“ murmelte die Kleine. Es folgte
noch eine weitere Examination, auf welche ſie mit ſtumpf¬
ſinniger Gleichgültigkeit den Kopf ſchüttelte. Endlich:
„Was wollt Ihr, wen ſucht Ihr hier?“
„Meine Großmutter Hardine,“ ſagte das Kind.
Auch das hörte das ſtolze Fräulein mit an; ſie
ſah die verblüfften Mienen der hohen Geſellſchaft und
— ſie ſchwieg. Sie ſchien wie erſtarrt oder in ferne
Erinnerungen verloren.
„Schweig, Hardine!“ herrſchte jetzt der Invalid
ſeine Tochter an, indem er ſie mit Gewalt aus der
Gruppe zog. „Schweig und komm! Gott iſt ein Va¬
ter der Waiſen. Es wird anderwärts barmherzigere
Seelen geben.“
Damit wendete er ſich zum Gehen. Nach ein
Paar Schritten aber ſah man einen bleifarbenen
Schatten über ſeine Züge fliegen. Er ſchauderte zu¬
ſammen und klammerte ſich zitternd an das Lauben¬
gitter. Auf einen Wink des Fräuleins eilte der Pre¬
diger ihm zu Hülfe; ſein Sohn, der uns ſchon be¬
kannte Gymnaſiaſt, ſprang zwiſchen den Hecken her¬
[78] vor und nahm die kleine Hardine an ſeine Hand.
Auch der Graf folgte ihnen in merklicher Beſtürzung.
Sie verſchwanden im Laubengang. Fräulein Hardine
aber wendete ſich mit verſtörten Mienen, ohne ihre
Gäſte zu beachten, ihrem Schloſſe zu.
Wie möchten wir nun aber bei dieſem Betragen
der ſtets ſo gehaltenen, ſelbſtbewußten Dame die Stim¬
mung der verlaſſenen Geſellſchaft zu beſchreiben wa¬
gen? Ein Theil, und ſicherlich der klügſte, beſtieg ohne
Abſchied die bereits vorgefahrenen Wagen. Andere
entblödeten ſich nicht, in der eigenen Umhegung der
Feſtgeberin den am Nachmittag in der Schenke ge¬
ſammelten Erläuterungen ihrer Dienerſchaft Gehör zu
geben. Der Reſt ſchlenderte in den Gartenwegen auf
und ab, ein Wiedererſcheinen der Dame, oder die Lö¬
ſung des Räthſels erwartend.
Nach kurzer Zeit kehrte Ludwig Nordheim athem¬
los zurück, um den Kreisphyſikus, der ſich unter den
Gäſten befand, zu dem in der Schenke plötzlich er¬
krankten Fremdling zu holen. Später kam der Pre¬
diger mit dem Grafen, der letztere mit dem Ausdruck
der ſtärkſten Empörung. „Der Säuferwahnſinn iſt
bei dem Vagabonden ausgebrochen,“ antwortete er
auf die Fragen der ihn umringenden Bekannten. Der
[79] Prediger zuckte ſchweigend die Achſeln. Beide bega¬
ben ſich nach dem Schloſſe.
Wenige Minuten ſpäter eilte von dorther ein
Diener nach der Schenke; bald darauf folgte ihm der
Prediger. Man erfuhr, daß das Fräulein die ſorg¬
fältigſte Pflege für den Kranken befohlen habe, auch
deſſen Ueberſiedelung nach dem Schloſſe wünſche, falls
der Arzt dieſelbe für zuläſſig halte. Noch hatte man
nicht dazu kommen können, ſein Erſtaunen über dieſe
Weiſung auszuſprechen, als der Graf aus dem Por¬
tale trat, leichenblaß, in heftigſter Aufregung an der
Unterlippe nagend. Ohne ein aufklärendes Wort zu
gewähren, beſtieg er den bereithaltenden Wagen, und
jagte von dannen.
Auch den letzten Gäſten ſchien der Aufbruch ge¬
boten. Kaum eine Stunde nach der aufregenden Be¬
gegnung war es in der Umhegung der Reckenburg ſo
ſtill wie alle Tage. Am anderen Morgen jedoch kehr¬
ten etliche der geſtrigen Gäſte — wohlzumerken der
Graf nicht unter ihnen — zurück, um aus reinſtem
Wohlwollen, wie ſich von ſelbſt verſteht, Erkundigun¬
gen über das Befinden der Dame und des räthſelhaf¬
ten Fremden einzuziehen. Der letztere lag noch in
der Schenke, ſchwer krank, aber nicht am Säuferwahn¬
[80] ſinn, ſondern an einer Lungenentzündung, wie der
Doctor erklärte. Fräulein Hardine war verreiſt. Sie,
die Stetige in ihrem Revier, die man nie, außer zu
einer Viſite in der Nachbarſchaft, und immer nur in
der ſagenhaften goldenen Kutſche und dem ſchier un¬
ſterblichen Schimmelzug, zwei gepuderte Heyducken auf
dem Trittbrett — ſämmtlich Erbſtücke der ſchwarzen
Gräfin — ſich aus der Reckenburger Flur hatte ent¬
fernen ſehen, ſie war dieſe Nacht ohne Dienerſchaft
im leichten Jagdwagen bis zur nächſten Station und
von da mit Courierpferden weiter gefahren. Trotz der
ämſigſten Nachforſchungen hat Niemand erfahren kön¬
nen, wohin oder zu welchem Zweck. Als ſie nach
zwei Tagen auf dieſelbe heimliche Weiſe zurückkehrte,
war ihr erſter Gang in die Schenke an das Kranken¬
bett Auguſt Müllers.
So befremdend dieſes ganze Gebahren war, es
lag im Grunde noch nichts darin, was ein ſo makel¬
loſes Anſehen, wie Fräulein Hardinens, hätte trüben
dürfen. Sie gab durch daſſelbe zu, daß Auguſt Mül¬
lers Erinnerungen richtig waren, aber der Schluß,
den eine begehrliche Natur daraus gezogen hatte, er
konnte, nein, er mußte ein irriger ſein. Fräulein
Hardine hatte niemals für eine Samariterin gelten
[81] wollen, und wir wiſſen es ſchon, ſie galt auch nicht
dafür. Aber wäre es ſelber für Fräulein Hardinen
etwas Unnatürliches geweſen, eine hülfloſe Waiſe in
einer öffentlichen Anſtalt zu verſorgen und zu über¬
wachen? Oder wäre, ſelber für Fräulein Hardinen,
eine mitleidige, vielleicht vorwurfsvolle Erſchütterung
ſo ſchwer zu begreifen, wenn ein Schützling aus der
Jugendzeit uns im Alter plötzlich als eine untergegan¬
gene Creatur gegenübertritt? Sie brauchte nur einen
Namen zu nennen, nur die Herkunft des Waiſenkna¬
ben zu erklären, und der Sturm im Waſſerglaſe
legte ſich.
Aber Fräulein Hardine nannte dieſen Namen,
gab dieſe Erklärung nicht. Die guten Freunde ſchmach¬
teten nach dem Labſal eines Worts, — aus reinſter
Sorge für den Ruf der edlen Dame, wie ſich wiederum
von ſelbſt verſteht, — und ſie ſchwieg vor wie nach.
Fürwahr, Fräulein Hardine war keine mitleidige Na¬
tur, nicht einmal gegen ſich ſelbſt. Weder jetzt, noch
ſpäter hat ſie der verhängnißvollen Begegnung am
Königsfeſte gegen irgend einen Menſchen erwähnt.
Nach vielen Jahren jedoch und für einen be¬
ſtimmten Zweck, richtiger, für eine beſtimmte Perſon,
hat ſie ihren Lebenslauf niedergeſchrieben, und darin
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 6[82] „ihr Geheimniß“, wie ſie es ſelbſt genannt, enthüllt.
Sie hat es ſichtlich mit Luſt und Liebe, ſogar in hei¬
terer Anordnung gethan, und möchten wir uns nicht
irren, wenn wir bei Veröffentlichung dieſer Bekennt¬
niſſe auf den Antheil auch eines weiteren Kreiſes, als
den ihrer einſtigen Lebensgenoſſen zu rechnen wagen.
Denn iſt es auch ein etwas altväteriſches Charakter-
und Sittenbild, das wir vor dem Leſer entrollen, aus
ſeinen Zügen ſpricht eine Wahrheit, die keiner Zeit
und Mode unterworfen iſt: Ja, Gottes Wege ſind
wunderbar, auch die zu den Herzen der Menſchen!
Erſtes Capitel.
Die Roſe und ihr Blatt.
Die Reichthümer der Reckenburg lagen meiner
Wiege ſo fern, wie die Goldminen von Peru, die
letzten der „weißen“ freiherrlichen Linie waren nicht
die begehrlichen Abenteurer, die um ſchnöden Mam¬
mons willen ſich in das Bereich der „ſchwarzen“
Häuptlingin ihres Stammes gewagt haben würden.
Sie hatten ſeit Generationen eine Zuflucht gefunden,
welche die adelige Armuth ehrenvoll deckte und ſich
unter der Fahne wohl und zufrieden gefühlt. Keiner
jedoch wohler und zufriedener als der Allerletzte in
ihrer Reihe, der ſchon als Lieutenant ein Bäschen
gefreit hatte, auch von den „Weißen,“ arm und ahnen¬
rein wie er ſelbſt.
Eberhard und Adelheid von Reckenburg waren
geſchwiſterlich nebeneinander aufgewachſen und zweifle
6*[84] ich, daß in irgend einem Stadium ihrer Bekanntſchaft
das große Wort Liebe zwiſchen ihnen gewechſelt
worden ſei. Große Worte ſo wenig wie kleine Zärt¬
lichkeiten waren Reckenburg'ſcher Habitus; aus welcher
Bemerkung indeſſen keineswegs gefolgert werden ſoll,
daß die Leute nicht tief im Herzensgrund aneinander
gehangen hätten. Ich wüßte, im Gegentheil, mir
kaum einen glücklicheren Ehebund vorzuſtellen, als den,
in welchem Eberhard und Adelheid ſich länger als
dreißig Jahre in einmüthigem Pulsſchlag ergänzten
und trugen. Er: groß, roth, robuſt; wie er ſich ſelber
nannte: „ein Urſachſe,“ den ein neckiſcher Kobold unter
die leichte Reiterei gewürfelt hatte. Sie: klein, fein,
blaß und behende. Er: gutmüthig, ſorglos, gelaſſen,
bereit, die Dinge, ſobald ſie ihm zu ernſthaft wurden,
mit einem Scherzworte abzufertigen. Sie: bedacht¬
ſam, klug, praktiſch und darum, zu allſeitiger Be¬
friedigung, der Souffleur und heimliche Maſchiniſt
der häuslichen Bühne. Beide: Ehren- und Edelleute
vom Scheitel zur Zeh'. Daß die Heldin und Schrei¬
berin dieſer Geſchichte, das einzige Kind des glücklichen
Paares, körperlich nach der Structur des Vaters,
geiſtig mehr nach der der Mutter geſchlagen iſt, wird
aus ihrem Lebensbaue zu erſehen ſein.
[85]
Ich erhielt den Namen Eberhardine, wie einſt
der Vater ſchon den ſeinigen erhalten hatte, zu Ehren
des gräflichen Familienoberhauptes. Beide Genera¬
tionen per procura und ohne daß Verleiher und
Empfänger ſich jemals mit Augen geſehen hätten.
Da der hohen Pathin hinwiederum aber ihr Name
durch die kurfürſtliche Eberhardine eingebunden worden
war, durch jene Brandenburgerin, welche ihrem ſtarken
Auguſt und der polniſchen Königskrone zum Trotz,
ihre Tugend und proteſtantiſche Treue zu behaupten
wußte, ſo bin ich der unmaßgeblichen Meinung, daß
eine Ader dieſer ausländiſchen Zähigkeit, per procura
des Taufregiſters, ſich auf die ſächſiſche Pathenfolge
in weiblicher Linie vererbt haben mag. Das königlich-
kurfürſtliche Namenserbe dahingegen wurde für einen
Lieutenantshaushalt zu großartig befunden. Der
Papa ſtrich „die ungeſchlachte Beſtie“ am Anfang
und auch die Tochter hat ſich, ex officio, ſpäterhin
gern mit der Hardine begnügt, wenngleich ſie der
Sanction des Kalenders entbehrte.
Das junge Ehepaar hatte ſeinen Haushalt ge¬
gründet, — notabene: in der Theuerungsnoth der
ſiebenziger Jahre, — mit einer Monatsgage von
zwölf Thalern und einem Lehnſtamm, ungefähr des
[86] nämlichen Betrages. Soweit jedoch meine eigenen
Erinnerungen reichen, führte der Vater die Schwadron,
ein Poſten, der für Manchen ſeines Gleichen die
Revenüen eines Rittergutes abwarf und von juſt nicht
Ehrſüchtigen den Majorsepauletten vorgezogen ward.
Da der Rittmeiſter von Reckenburg aber ein Mann
war, der nicht mit Zopfbändern zu knauſern verſtand
und jeden Hufbeſchlag für eine Gewiſſensſache hielt,
ſo hütete ſich ſeine „Hausehre“ das wirthſchaftliche
Budget nach Maßſtab der Charge zu erhöhen. Bei
aller Verwaltungsweisheit brachte ſie ſich indeſſen wenig
auf einen grünen Zweig, wenn ſchon ein ruinirendes
Zelt- und Wandervogelleben das des Soldaten in
jenen kurfürſtlichen Zeiten nicht genannt werden kann.
Der Vater ſtand während ſeines langen Fahnen¬
dienſtes bei dem nämlichen Regiment und mit dem¬
ſelben in der nämlichen Garniſon. Wir hatten in
unſerem Landſtädtchen heimiſch Wurzel geſchlagen und
achteten es als Gewinn für die häusliche Gemächlich¬
keit, daß ein Nebenzweig des Kurhauſes, der bisher
im Orte reſidirt hatte, ſeit Kurzem erloſchen war,
obligatoriſche Standespflichten nach obenhin unſeren
Tageslauf ſonach nicht regulirten.
Dahingegen erfreuten wir uns mancher glanz¬
[87] vollen Erinnerung an jene herzogliche Zeit. Auf der
Höhe ragte, wenn auch unbewohnt, das reich aus¬
geſtattete Schloß, deſſen Terraſſen, Weinberge und
Gärten ſich bis in die Bürgerhöfe hinabzogen und
angenehme Erholungsplätze boten. Wir beſaßen noch
eine verwittwete Frau Hofmarſchallin, einen penſionir¬
ten Hofjunker, einen Titular-Hofjägermeiſter, Hof¬
ſchneider, Hofprediger und eine Hofkellerei. Die letztere
ſogar in unmittelbarer Nachbarſchaft. Ein Faßbinder,
Namens Müller, hatte ſie ſammt der Schankgerechtig¬
keit in und außer dem Schloßpavillon erpachtet und
ſo konnten wir uns in Haus und Garten an den
Bacchanalien unſerer Mitbürger ergötzen oder über ſie
entrüſten, je nach Stimmung und Gelegenheit.
Auch das Haus, in welchem meine Eltern vom
Traualtar bis zum Grabesrande geheimſt haben,
rühmte ſich eines fürſtlichen Urſprungs. Ein weiland
Herzog hatte es für ſeinen Leibbader, vulgo Barbier,
anlegen laſſen, war aber des Todes verblichen, bevor
es über den Unterſtock hinausgelangte. Der Poſten
eines Leibbaders wurde von dem neuen Hofhalte und
die Beletage von dem Bauplane geſtrichen. Der
Dachſtuhl ſenkte ſich unmittelbar auf das Erdgeſchoß,
wurde aber, nach Bedürfniß ſpäterer Geſchlechter,
[88] Stockwerk um Stockwerk erhöht, bis ſchließlich die
Haube dreimal ſo hoch war wie das Geſtell.
Wie freut es mich heute, meine Freunde, Euch
juſt in dieſe naturwüchſige Heimſtätte einführen zu
können. Denn nichts erfriſcht ſo die Eintönigkeit des
Alters, wie eine Curioſität aus unſerer früheſten Zeit.
„Der Mops mit der Zipfelmütze“ ſteht vor meinen
Augen gleich einem lebendigen Geſchöpf; was aber
würde ich Euch aus einer glatten, reſidenzlichen Zim¬
merflucht zu beſchreiben haben?
Man nannte das Haus die Baderei oder auch
die Faberei, denn es war, ſammt der Kunſt des Er¬
bauers, in deſſen Nachkommenſchaft fortgeerbt und
„Faber“, ſo hieß jener vom Hofſtaat geſtrichene Leib¬
barbier, an deſſen allerhöchſtes Amt noch das Pfört¬
chen erinnerte, das von unſerer Gartenterraſſe auf
das Schloßplateau führte.
Dieſes Haus nebſt Pertinenzien war nun gegen
dreißig Laubthaler Jahresmiethe der Familie von
Reckenburg ſo gut wie ein ſelbſtherrliches Bereich.
Meiſter Faber, ein Wittmann, raſtete wenig daheim.
Seine Scheerſtube, im bewohnbaren oberen Dach¬
geſchoß, gränzte an das Zimmerchen, das mir von
früh ab privatim eingeräumt worden war, und die
[89] drei anlockenden Meſſingbecken klapperten im Winde
und funkelten im Sonnenſchein zwiſchen der uns tren¬
nenden Fenſterwand. In den Kammern über unſeren
Häuptern nächtigte Reckenburgs Dienerſchaft: will
ſagen die Magd und der Soldatenburſche, der ein für
allemal „Purzel“ hieß. Höher hinauf thürmten ſich
Vorraths- und Futterſpeicher, Trockenboden, Rauch¬
kammer und ſo weiter und ſo weiter.
Nun aber der fürſtliche Grundbau im Parterre.
De plain pied aus der Thorfahrt, welche die Hälfte
einnahm, trat man in das geräumige, gelb getünchte
Familienzimmer; aus dieſem in die Schlaf- und ver¬
trauliche Rathskammer des ehelichen Conſortiums. Hin¬
ter beiden lagen die Küche und das Büreau der Schwa¬
dron. Das waren die freiherrlichen Apartements!
Zwiſchen dem Raum und ſeiner Füllung aber
welche ſtylvolle Harmonie! Das hochbeinige Kanapee
mit dem blaugewürfelten Leinenzeug, eigenhändig von
Frau Adelheid geſponnen, die dito Gardinen, der große
eichene Ausziehtiſch und der lederne Ohrenſtuhl, in
welchem der Hausherr ſein Mittagsſchläfchen hielt,
das mütterliche Spinnrad und die roh gezimmerte
Hütſche; in der Hölle, hinter dem Ungeheuer von
grünen Kacheln, der Waſchtiſch, an welchem die Familie
[90] nach dem Eſſen ſich die Hände ſpülte, darüber, als
Draperie, die ſelbſtgeſponnene, blitzblanke Quehle, —
Kinder, ſeht ſie mit Ehren an, die alten Stücke in
Reckenburgs neuem Thurm: es waren gute Menſchen,
welche ſich zwiſchen ihnen glücklich fühlten!
Und nun das Kleinzeug der Haushaltung: das
braune Kaffeegeſchirr und das Tafelſervice von Zinn;
die Meſſingleuchter mit der tiefſchnuppigen Unſchlitt¬
kerze, die kupferne Feuerkieke, welche Ehren-Purzel
ſeiner gnädigen Frau Sonntags auf dem Kirchgange
nachtrug; — Euch, Menſchen von heute, dünken dieſe
Geräthſchaften wohl wie Rudera aus einem Hünen¬
grabe; aber fragt einen ergrauten Junggeſellen, eine
einſame, alte Jungfer, die für kein Tändelwerk in
einer Kinderſtube zu ſorgen, fragt ſie, wie es thut,
wenn ſolch rücklaufendes Fädchen aus dem Netze ihrer
Gewohnheiten geriſſen wird?
Was würden jedoch dieſe einfachen Umgebungen
bedeuten, ohne die gelaſſene Grandezza, mit welcher
die Bewohner ſich in denſelben bewegten? Nichts für
ungut, meine jungen Freunde, aber das Bewußtſein
reinen Bluts verlieh einen ſicheren Ductus, welchen die
Matadore der Comtoirs und Büreaux größtentheils
noch erlernen müſſen und welchen die der zweiunddreißig
[91] Quartiere erſt verlernten, wenn die Manier des Höf¬
lingslebens ſie beleckt hatte. Bei Eberhard und Adel¬
heid von Reckenburg mögt Ihr in die Schule gehen,
wollt Ihr erhobenen Haupts und ohne Schwanken,
wie jeder brave Menſch es ſoll, vor Hoch und Gering
im Takte ſchreiten.
Wenn die Freifrau von Reckenburg ſich nach der
Poſt begab, um ein durchreiſendes Mitglied ihres
Fürſtenhauſes zu begrüßen, in der nämlichen Robe,
in welcher ſie als blutjunges Fräulein demſelben hohen
Haupte präſentirt worden war, ſo ſchritt ſie, beugte
ſich und redete, bei aller Ehrfurcht, ſelber wie eine
Kurfürſtin, denn ſie wußte ihre Ahnenreihe ſo alt
und rein wie die des Hauſes Wettin. Wenn die Ge¬
mahlin des vielſchröpfenden Herrn Amtmanns, oder
die des reichſalarirten Oberforſtmeiſters in eigner Ca¬
roſſe, Kammerdiener oder Jäger auf dem Trittbrett,
zur Viſite vorfuhren, ſo ging ſie denſelben in ihrer
getünchten Wohnſtube mit der Quehle im Ofenwinkel,
eher einen Schritt weniger entgegen und machte ihre
Reverenz eher eine Linie weniger tief als jene Damen
es thaten, ſobald ſie in deren Prunkzimmern zur Ge¬
genviſite empfangen ward, denn die reiche Amtmannin
war gar nicht und die Andere von neuerem Adel als
[92] die Freifrau von Reckenburg. Die Freifrau von Recken¬
burg erwiderte ohne Beſchämung die genußwechſelnden
Gelage der Honoratiores alle Jahre nur ein einziges
Mal mit einem Schälchen Kaffee, ſtark mit Mohr¬
rüben verſetzt, und der Rittmeiſter von Reckenburg
ſtängelte unbekümmert die Bohnen ſeines Gartenbeets,
ob auch die Gäſte des Nachbar Kellerwirths des häus¬
lichen Treibens Zeugen waren. Der Rittmeiſter von
Reckenburg, die kurze Thonpfeife im Mund und vor
ſich den irdenen Deckelkrug ſelbſtgefüllten Dünnbiers,
wenn er an langen Winterabenden die Aepfelſchnitzel
auf Fäden reihte, welche „ſein Frauenzimmer“ geſchält
hatte, ließ ſich durch eine Meldung, oder einen ſpäten
Beſuch ſo wenig beirren, als wenn er ſeine Huſaren
im Parademarſch einem Generaliſſimus vorführte. Thut
desgleichen mit der nämlichen Manier, und die zwei¬
unddreißig oder gar vierundſechszig Quartiere der
Reckenburger werden ein Sparren, oder eine Seifen¬
blaſe geworden ſein.
Zu meiner Zeit und in unſerem Landſtädtchen
mit den Reliquien des erloſchenen Herzogszweigs waren
ſie aber weder ein Sparren noch eine Seifenblaſe,
ſondern ein zuverläſſiges Poſtament, auf welchem man,
auch in den Bewegungen nach unten hin, heute ſich
[93] wohlgemuth eine patriarchaliſche Miſchung geſtatten
durfte, und morgen ohne Aergerniß eine kaſtiſche
Gränze zog. Nicht dem wohlhäbigſten Kaufmann
oder Gewerbtreibenden würde es eingefallen ſein, ſich
in die adlige Societät zu drängen, welche ſich Donnerſtag
Nachmittags in des Kellermeiſters erpachtetem Schlo߬
garten verſammelte. Nicht die freudenarmſte und töch¬
terreichſte adlige Wittib würde in der bürgerlichen Ge¬
ſellſchaft, die ſich Montags unter den nämlichen Lauben
ergötzte, eine frohe Stunde, oder gar einen Freier für
ihre Fräulein geſucht haben. Die bürgerlichen Ho¬
noratioren: Beamte, Prediger, Aerzte gehörten zwar
beiden Reunionen an, ohne jedoch eine Kette zwiſchen
ihnen zu bilden, und ohne von den Donnerſtäglern
anders als unvermeidliche Füllung betrachtet zu werden.
Geſchmack und Bildung waren weſentlich die nämlichen
und ſo konnte das Unterhaltungsmaterial Donnerſtags
wie Montags auch nur das nämliche ſein. Die Herren
kegelten, kannegießerten, ſpielten — meiſt mit deutſchen
— Karten, und ſchlürften des Kellermeiſters ſaures
Landgewächs; das ſchöne Geſchlecht ſtrickte, tunkte
ſelbſtgebackenes Kuchenwerk in einen dünnen Milch¬
kaffee und gloſſirte: die Montägler über die Donners¬
tägler und vice versa. An Winterabenden wurde
[94] von der Jugend im Pavillon Pfänder geſpielt und ge¬
legentlich getanzt.
Dahingegen ſaßen wir in der Dämmerſtunde
aller übrigen Tage nicht abgeſondert in unſeren Gärten
hinter dem Haus, ſondern nachbarlich bei einander auf
der Bank vor der Straßenthür. Die Männer, bür¬
gerlich und adlig, Militair und Civil ſpazierten ſchmau¬
chend auf und nieder, die Frauen plauderten hinüber
und herüber, riefen die Vorübergehenden an, rückten
zuſammen, prüften ihr gegenſeitiges Geſpinnſt und
ließen Eine die Andere von ihrem Abendbrod koſten,
wobei denn nicht verhehlt werden ſoll, daß wir und
unſeres Gleichen die ſaftigeren Biſſen gekoſtet haben
mögen. Auch gab es keine Schlachtſchüſſel, kein Feſt¬
gebäck, keine Wein- und Obſternte bei dem Nachbar
Kellermeiſter hüben und dem Nachbar Tuchmacher
drüben, daß die gnädige Frau Rittmeiſterin nicht ho¬
noris causa ein Pröbchen zum Schmecken erhalten
hätte. Die gnädige Frau Rittmeiſterin bedankte ſich
durch einen ſchönen Empfehl, rühmte auch gelegentlich
die wohlſchmeckende Darbietung, daß ſie dieſelbe aber
von ihrer eignen Schlachtſchüſſel, oder von ihrem eignen
Chriſtwecken erwidert hätte, wüßte ich nicht zu berichten.
Unter derlei Anſchauungen war ich in die Jahre
[95] gekommen, in welchen die Pflicht für einen ſtandes¬
mäßigen Unterricht ernſthaft in Betracht gezogen wer¬
den mußte. Da eine Franzöſin, will ſagen Gouvernante,
mit der Oekonomie des Hauſes ſich nicht vertragen
haben würde, hatte die fürſorgliche Mama, bereits
von der Wiege ab in dem Hauptſtücke einer guten
Education vorgebaut: Sie ſprach ſtets nur franzöſiſch
mit mir und lehrte mich in der Folge auch die Grammatik,
die ſie correcter inne hatte als die der Mutterſprache.
Für das was außerdem zu lehren übrig blieb, wurde
in meinem achten Jahre ein Hofmeiſter engagirt,
brühwarm vom Seminar und ſanft und zärtlich
wie ſein Name: Chriſtlieb Taube. Sieben Jahre
lang hat dieſer Muſterjüngling ſich buchſtäblich aus¬
gerungen, um der ihm anvertrauten Schülerin auch
nicht ein Tröpfchen des kürzlich eingeſaugten, edlen
Stoffes vorzuenthalten; er hat nebenbei im Büreau
der Schwadron, — „zu ſeiner Uebung,“ — manche
Correctur und manchen Rechnungsplan ausgeführt, in
welchen Obliegenheiten der Rittmeiſter von Reckenburg
ſich nicht immer als ein Held ohne Fehl erwies; er
hat, — „zu ſeiner Unterhaltung,“ — den Hausgarten
in ſeine Pflege genommen und auf der Terraſſe eine
Weinhütte angelegt, auch eigenhändig die weißen Wände
[96] ſeines Kämmerchens zwiſchen dem der Magd und des
Burſchen Purzel mit Gewinden von Roſen und Ver¬
gißmeinnicht ausgemalt; er hat demnach Nutzen ge¬
ſtiftet und Schaden verhütet, wie ſo leicht kein Zweiter
für fünfundzwanzig Laubthaler Salair. Er hat mir
ſpäterhin einen Beweis der rührendſten Freundestreue
gegeben und bei alledem noch kürzlich in ſeinem letzten
Briefe „die Schüler- mehr denn Lehrjahre in dieſem
humanen Edelhauſe als die glückſeligſten in ſeinem
glückſeligen Leben“ gerühmt. Dank und Ehre daher
meinem glückſeligen Hofmeiſter, Chriſtlieb Taube!
Da die Einſeligkeit in der Schulſtube von der
Mama nicht für ſchicklich und von dem Papa für allzu
langweilig erklärt worden war, hatte ſich die Wahl
einer Studiengenoſſin in Nachbar Kellermeiſters Dört¬
chen, ſchon bisher meiner ausſchließlichen Spielkameradin,
von ſelbſt ergeben. Es war dies auch eine erlaubte
Herablaſſung zu den unteren Ständen, da ja ſelbſt an
Fürſtenhöfen ein „Prügelkind“ gäng und gebe iſt; eine
Herablaſſung, die in unſerem Falle ſich aber auch in
gemüthlicher Richtung empfahl. Denn die Kleine war
eine Waiſe von Mutterſeite und der Vater Schenk¬
wirth ein arger Hüter für dieſes Kind.
Ja für dieſes Kind! Daß ich es Euch vor die
[97] Augen zaubern könnte, warm wie es nach einem halben
Jahrhundert noch vor den meinigen lebt! So wie es
damals war und ſo wie es kaum merklich hineinwuchs
in jedes folgende Stufenjahr: als Jungfrau, als Weib,
als Matrone, das holdſelige Kind Dorothee!
Aber wer beſchreibt jener Sonntagsgeſchöpfe eines,
deren Wiege, wie die Redeweiſe läuft, die Liebesgöttin
ſammt allen drei Huldinnen umſtanden hat? Und
wenn ich den Pinſel ſtatt der Feder zu führen ver¬
ſtände, ſo ſähet Ihr vielleicht die feine, wie aus Wachs
boſſirte Geſtalt, die leiſe gerundete Wellenlinie der
Glieder; Ihr ſähet über dem Roſenknöspchen des
Haupts den goldigen Flor, der wie ein Schleier bis
zu den Knieen niederwallte, ſähet die Grübchen in
Wangen und Kinn. Aber ſähet Ihr auch die Pur¬
purwoge unter der blüthenweißen, blaugeäderten Haut?
Das ſchillernde Farbenſpiel des Auges, wenn es, ein
durchſichtiger Cryſtall, in dieſer Sekunde ſich lachend
und forſchend in die Höhe ſchlug, und in der nächſten,
dunkel beſchattet, ſich demüthig zu Boden ſenkte? Sähet
Ihr das liebliche Neigen und Biegen, den raſchen
Uebergang von flüchtiger Weisheit zu Scherz und
Tändelei? Hörtet Ihr das ſilberhelle Stimmchen die
Tonleiter auf und niederhüpfen, das herzige Ge¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 7[98] lächter gleich dem Locken des Pirols am ſonnigen
Maientag?
Doch was hilft es mir in dieſer Blumenſprache
von Anno Dazumal fortzufahren? Ihr werdet das
Reizende in unſerer kleinen „Dorl“ aus ſeiner Wir¬
kung auf Andere verſtehen lernen, die einzige Manier,
in der das Reizende überhaupt geſchildert und ver¬
ſtanden werden kann. Zu allernächſt in ſeiner Wir¬
kung auf mich ſelbſt.
In jenen Kindheitstagen, ei nun, ſo wie ſie da
dachte ich mir die Engelchen unter Gott-Vaters
Baldachin und die pausbäckigen Trompetenbläſer in
unſerer alten Poſtille, die dünkten mich gar grob¬
ſchlächtige, himmliſche Geſellen neben meiner zierlichen,
irdiſchen, kleinen Dorl. Von Jahre zu Jahre aber
wuchs der Zauber, welchen die Menſchenſchöne allezeit
über mich ausgeübt hat, — vielleicht weil ich ehrlicher
Weiſe ſie in meinem Spiegel recht gründlich vermißte.
Das Mädchen wurde meine Augenweide, das Wohl¬
gefallen ſteigerte ſich zum Wohlwollen, und ich würde
Euch wahrſcheinlich von einer ſchweſterlichen Jugend¬
freundſchaft zu erzählen haben, wenn — ja wenn — —
Wir hatten, faſt von der Wiege ab, Stunde für
Stunde mit einander gelebt; wir waren gleichen Alters,
[99] gleichmäßig gebildet, beide arm; ſie war ſchön und
ich war es nicht: — aber ſie war eines Faßbinders
Tochter und ich eine Freiin von Reckenburg; es lag
eine Kluft zwiſchen uns, für welche ich das Maaß
gleichſam mit der Muttermilch eingeſogen hatte. Ich
durfte ihre Vertraulichkeit empfangen, nicht erwidern,
und trotz ihres Liebreizes, oder juſt wegen ihres Lieb¬
reizes, der mir jeden weniger reizenden Umgang ver¬
leidete, war und blieb ich ein herzenseinſames Ding.
„Die Roſe und das Blatt, das ſie ſchützend um¬
giebt,“ ſo hatte — wie er meinte für mich ſchmeichel¬
haft — der ehrliche Taube uns in einem Neujahrs¬
carmen beſungen und das Stück grasgrünen Raſch's,
mit welchem die Frau Mutter einen recht vortheilhaften
Jahrmarktshandel gemacht hatte, da es für meine ganze
Kinderzeit als Bekleidungsſtoff ausreichte, ihm ohne
Zweifel als Vorwurf für den zweiten Theil ſeiner
Metapher gedient. Kehren wir denn mit derſelben in
die Schulſtube Chriſtlieb Taube's zurück: Die Roſe
und ihr Blatt.
Es würde Vermeſſenheit ſein, zu behaupten, daß
es niemals eine eifrigere und aufmerkſamere Schüle¬
rin gegeben habe, als Kellermeiſters kleine, bewegliche
Dorl. Ganz gewiß aber keine, mit welcher auch ein
7*[100] hitzköpfigerer Informator ſo bereitwillig Geduld ge¬
hegt haben würde. Ohne Vermeſſenheit dahingegen
läßt ſich behaupten, daß es ſelten eine Schülerin ge¬
geben haben wird, ſo lernbegierig und beharrlich,
wie die große, ruhige Hardine von Reckenburg, ebenſo
ſelten aber auch Eine, die ſelber ein Taubenblut dann
und wann in Verzweiflung bringen konnte. „Jung¬
fer Grundtext“ nannte ſie der Herr Papa, wenn er
gelegentlich Zeuge ward der unermüdlichen Wie? und
Wo? und Warum? mit welchen ſie den ihr zu Ge¬
bote ſtehenden Wiſſensborn bis auf die Grundneige
auspumpte.
Lerne was, kannſt Du was, heißt's! Ei nun,
am Ende ihrer ſiebenjährigen Studienzeit konnte
Schülerin Nummero Eins, in geziemender Beſcheiden¬
heit ſei es vermeldet, mit deutlicher Handſchrift richtig
deutſch ſchreiben, auch die vier Species ohne Fehl im
Kopfe wie auf der Tafel rechnen. Sie konnte die
Stammtafel des Hauſes Wettin und die Reihe der
deutſchen Kaiſer bis auf Leopold II., ſeit Kurzem re¬
gierende Majeſtät, inſonderheit aber Doctor Martin
Luthers großen und kleinen Katechismus am Schnür¬
chen herſagen. Möglich, daß ſie zu jener Zeit auch
ſchon gewußt, die Erde drehe ſich; wenngleich mir die¬
[101] ſer Caſus eher unter diejenigen zu gehören ſcheint,
von welchen der Informator ſeufzend eingeſtand: „Das
kann man ſo eigentlich nicht ſagen,“ und erleichtert
aufathmete, wenn ſein freiherrlicher Patron lachend
hinzuſetzte; „Iſt auch ſehr thöricht, danach zu fragen.“
Zum ſchwerſten Kummer aber gereichte es unſe¬
rem gewiſſenhaften Chriſtlieb Taube, daß es bei alle¬
dem eine Ader und juſt eine Hauptader in ſeinem
Borne gab, die er ohne erſchöpfenden Erguß in ſich
ſelber verſchließen mußte. Der freiherrliche Beſitzſtand
erſtreckte ſich nicht auf ein Clavier, und da die Jung¬
fer Grundtext ein hartes Ohr und eine ungefüge Kehle
zu beklagen hatte, eine Kunſtfertigkeit ohne Talent
aber keine obligatoriſche Forderung der damaligen Er¬
ziehungsmethode war, ſo mußte die edle Muſica von
dem Lehrplane geſtrichen werden. Nur die üblichen
Kirchenlieder wurden nach dem Klange der hofmei¬
ſterlichen Geige eingeübt, und außer der Lection für
das Lerchenſtimmchen der Schülerin Nummero Zwei
noch eine und die andere weltliche Weiſe beigefügt.
Nach dieſen mannichfaltigen Leiſtungen gab es
allerdings noch ein letztes categoriſches Soll und Muß
einer ſtandesmäßigen Education, für welches die Se¬
minarbildung eine Lücke ließ und die emeritirte Her¬
[102] zogsreſidenz keine zuläſſige Aushülfe bot. Indeſſen
wie für das franzmänniſche Alpha, ſo für das choreo¬
graphiſche Omega fand ſich im Schooße der Familie
ein würdiger Dilettant. Hatte der Rittmeiſter von
Reckenburg ſich nicht der Ausbildung im Dresdener
Cadettencorps erfreut, der edelſten Pflegeſtätte jener
ritterlichen Kunſt, welche dem ungeleckteſten Bären An¬
ſtand, Conduite und geſellige Unwiderſtehlichkeit ver¬
leiht? War er nicht als ein Muſterſchüler derſelben
geprieſen und hatte als Vortänzer der Donnerſtags-
Geſellſchaft ſie con amore practizirt, bis die zuneh¬
mende Corpulenz ihm den Ballſaal einigermaßen ver¬
leidete? In häuslicher Bequemlichkeit dahingegen,
ohne preſſende Montur und Escarpins, konnten die
Regeln der rhytmiſchen Bewegung zum Segen eines
aufblühenden Geſchlechts noch mit Behagen entwickelt
werden, und ſo ſehen wir denn das vieldienliche
Reckenburg'ſche Familienzimmer endlich auch noch in
einen Tempel Terpſichore's umgewandelt.
Dreimal wöchentlich während dreier Winter¬
ſemeſter wurde der ſchwere Speiſetiſch in den Thor¬
weg geſchoben, erklang, als Orcheſter, die Geige Chriſt¬
lieb Taube's aus der Fenſterniſche, ſaß die Freifrau,
als kritiſche Ballmutter, hinter dem Spinnrocken in
[103] dem Ofenwinkel. Der Herr Rittmeiſter aber in wei¬
chen Filzſocken und flanellgefüttertem Schlafrock von
gelblichem Kattun, den fauſtdicken Zopf wie ein Per¬
pendikel im Nacken hin und wieder hüpfend, ſtand ſei¬
ner Tochter Hardine und deren Partnerin gegenüber,
um ſie gewiſſenhaft die ganze hohe Schule ſeiner Lieb¬
lingskunſt durchlaufen zu laſſen: von Poſitionen und
Portebras, durch alle Wendungen und Senkungen des
Menuet, durch Chaſſés und Entrechats der Anglaiſe,
bis zum heiteren Rundtanz mit dem gefälligen Drei¬
ſchlag der Hacken.
Allein Manches wird der Erinnerung zum Gold,
was uns in der Gegenwart Blei gedünkt. Heute
ſchaue ich auf jene Tanzabende zurück als auf die
luſtvollſten meiner Kinderzeit; damals erduldete ich ſie
wie ein quälendes Verhängniß. Die väterliche In¬
ſtructorenrolle beleidigte mein Gefühl der Reckenburg¬
ſchen Würde, und die ererbten Reckenburg'ſchen Glied¬
maßen zeigten ſich wenig geſchickt für das gelenkige Spiel.
Meine Mittänzerin dahingegen, o welche leichte
Erſcheinung, welche helle, unerſchöpfliche Luſt! Roſig
überhaucht bis unter den goldigen Lockenſcheitel, halb¬
geöffnet das Mündchen, ſo kreiſelte ſie ſich wie in
ihrem Element, lachend und jauchzend, die ächte, rechte,
[104] leibhaftige Dorl, ſchwebte gleich einer Libelle im
Shawltanz, der Krone der Kunſt, den Raum auf und
nieder, jetzt den Kopf hinter dem Neſſelſtreifen verber¬
gend, dann plötzlich ſchelmiſch hinter ſeinen Falten
hervorlugend, ſich hebend und neigend und biegend,
eine flüſſige Welle vom Scheitel zur Zeh. Der Mu¬
ſikant in der Fenſterniſche ſeufzte zwiſchen den zärtli¬
chen Weiſen, die er ſeiner Geige entlockte; die Part¬
nerin in grünem Raſch hatte Strapaze und Ingrimm
vergeſſen, und der Lehrmeiſter klatſchte Beifall mit
künſtleriſchem Entzücken.
„Die wird Furore machen!“ rief er eines Abends,
als das Dreiblatt der Familie wieder allein bei ein¬
ander war.
„Furore, wo?“ fragte die Kunſtrichterin mit je¬
nem Ton, den ihr Eheherr die Weisheit Salomonis
zu nennen pflegte.
„Denkſt Du ſie im Corps de Ballet unterzubrin¬
gen, Eberhard?“
„Schade, Schade!“ ſeufzte der Papa. Frau
Adelheid aber fuhr fort:
„Der Ballſaal iſt der Jungfer Müllerin ver¬
ſchloſſen, und für das Publikum des Tanzbodens
würde weniger gut beſſer ſein, meine ich.“
„Schade, Schade!“ ſeufzte der Vater zum zwei¬
tenmal.
„Davon abgeſehen, Eberhard, den Geiſt der Me¬
nuet hat ſie nicht gefaßt, konnte ſie vermöge ihrer
Extraction nicht faſſen. Wie ſie den Rock in die Höhe
zieht, als wär's ein Tändelſchürzchen im Schäferſpiel!
Heißt dieſer Knix eine Reverenz? Da muß ich unſere
Tochter loben. Ohne eine Muskel des Oberkörpers
zu bewegen, ſenken ſich die Kniee bis zum Boden
hinab, und heben ſich wieder peu à peu. Ohne ſich
in die Robe zu verwickeln, ohne Fehltritt ſchreitet ſie
rückwärts, würdevoll, wie ſie vorwärts geſchritten iſt.
Correctement der Anſtand, mit welchem eine Recken¬
burg ihrer Souverainin Hand und Schleppe küßt!“
„Nun freilich, freilich, unſere Dine, unſere gute,
brave Ehrenhardine!“ beſtätigte der Papa, indem er
mich herzlich auf die Backen klopfte. Dann aber
ſeufzte er zum drittenmale: „Schade, Schade um die
kleine Dorl!“
Ich hatte dieſe Ergießung nur ſo bei Wege auf¬
geſchnappt, und wußte, daß ich bei derlei Angelegen¬
heiten zu ſchweigen hatte. Die mütterliche Weisheit
aber war auf fruchtbarem Boden aufgegangen. Der
armen, kleinen Dorl war das Entrée zu jedem Platze,
[106] auf dem ſie geglänzt haben würde, verſagt; Eberhar¬
dinen von Reckenburg geziemte eine Empore, auf wel¬
cher ſie den Höchſten der Erde ihre Huldigung darbie¬
ten durfte.
Wir ſtanden im fünfzehnten Jahre. Wir waren
gebildet, die Eine ihrem Stande gemäß, die Andere
weit über denſelben hinaus: wir parlirten franzöſiſch
und tanzten Gavotte, wir hatten unſeren eigenen Hof¬
meiſter gehabt und wußten unſeren Katechismus ohne
Fehl: wir waren reif, unter die Zahl der erwachſenen
Menſchen und Chriſten aufgenommen zu werden. Und
ſo knieten wir denn auch am Palmſonntag 1790 ne¬
beneinander vor dem Altar, zur Erneuerung unſeres
Taufgelübdes und zum erſten Genuſſe des heiligen
Kelchs.
Erſte Abendmahlsgenoſſen! Ein Bekenntniß für
Zwei aus einem Munde; die prieſterliche Hand gleich¬
zeitig ſegnend auf Beider Haupt; ein gemeinſamer
Wahrſpruch für Beider Leben: das giebt, das gab zu
meiner Zeit mindeſtens ein Band. Und gewiß, ich
fühlte dieſes Band feſt und ſtark wie eine Pflicht. Die
warmherzige Dorothee aber, die hätte in jenen Ta¬
gen freudig ihr Leben für mich hingegeben.
Und wenn das Leben ſelbſt auch nicht, ſo doch
[107] ein gutes Stück Füllung in Deinem Mädchenleben;
das liebe Närrchen brannte, mir bei dieſer feier¬
lichen Gelegenheit ein Opfer darzubringen. Sie
hatte von ihrer Pathin einen ſchweren ſchwarzen Stoff
als Abendmahlskleid verehrt erhalten, während für
mich nur das zurecht geſtutzt worden war, das ſchon
der Mama bei ihrer Einſegnung gedient. Ich im ab¬
getragenen, angeſtückten Habit, ſie nagelneu von Kopf
zu Fuß, die Kleine verging faſt vor Scham bei die¬
ſer Vorſtellung und ruhte nicht, bis ſie einen Aus¬
gleich erklügelt hatte. Schenken durfte ſie mir das
werthvolle Angebinde nicht, denn wie hätte ſolch' ein
großes Glück ſich für ſie geſchickt! Aber ſie wollte
ihr altes, ſchwarzes Sergekleid anlegen, um mir rang¬
gemäß zur Seite zu ſtehen. Sie wollte es durchaus,
kehrte wieder und immer wieder mit ihrer demüthigen
Bitte zurück. Selbſtverſtändlich vergebens. Ich trug
eine Perlenſchnur, welche die Mutter als eignes Pa¬
thengeſchenk auf mich vererbte. Aber es hätte dieſes
Kleinods nicht bedurft. Eberhardine von Reckenburg
würde ſich nicht beſchämt gefühlt haben, auch wenn
ſie ſelber in Zindel und Dorothee Müllerin in Bro¬
cat einhergeſchritten wäre.
Das rauſchende Gros de Tours ſtörte übrigens,
[108] zu meiner gerechten Entrüſtung, die andächtige Samm¬
lung meiner Abendmahlsſchweſter, ſie ſtrich mit der
Hand darüber hin und ſchmunzelte bei dem ſcharfen,
kniſternden Geräuſch, ſie ſtieß mich während des Lie¬
des an und blinzelte zu mir hinauf, um mir die
Blicke bemerklich zu machen, welche die Verſammlung
auf ſie richtete. Die liebe Unſchuld dachte, ihr ſtol¬
zes Gewand für das Aufſehen, das ihre Schönheit
erregte, verantwortlich machen zu müſſen. Ich ſelber
dahingegen war, jene Entrüſtung abgerechnet, mit un¬
geſtörter Ernſthaftigkeit bei der wichtigen Feier, und
der Bibelvers, der uns als Geleitſpruch für's Leben
ertheilt ward, hat der Jungfer Grundtext tiefſte Ge¬
danken nachhaltig angeregt. Es war einer von denen,
die gar leichtverſtändlich klingen, und doch ſelten von
uns Weltkindern richtig verſtanden werden: „Denn
welche der Geiſt Gottes treibt, die werden Gottes
Kinder heißen.“
Ja, welches war denn der Geiſt, der uns in das
Vaterreich treiben ſoll? War es der, welcher über
dem Waſſer ſchwebt, der Geiſt des Schaffens und
Förderns, des Umbildens der natürlichen Kraft, der
den verſunkenen Garten Eden auf Erden wieder her¬
zuſtellen ſtrebt? Oder war es der, welcher auf den
[109] Geſetztafeln verzeichnet ſteht, der Geiſt der Ehrfurcht,
des Rechtes und der Treue? Von beiden dieſen Gei¬
ſtern würde ich mich willig aus dem Dieſſeit in das
Jenſeit haben treiben laſſen.
Allein man hatte mich auch noch von einem dritten
Geiſte gelehrt, von einem, der jenen beiden erſten oft
ſchnurſtracks zuwider zu treiben ſchien. Von dem
Geiſte, der die Sorge für den anderen Tag verdammt,
der dem ehebrecheriſchen Weibe vergiebt und dem Be¬
leidiger die Wange reicht. Der Geiſt ſtimmte nicht
zu meinem natürlichen Willen und das ſiebenfache
Selig, das der Erlöſer über die erneute Menſchheit
ausgeſprochen hatte, es war meinem Herzen ein leerer
Schall. Sollte, konnte dieſer unverſtändliche Geiſt
der Geiſt der Kindſchaft ſein?
In derlei Grübeleien über den geheimnißvollen
Wahrſpruch ging ich nach dem Frühgottesdienſt am
Oſtermorgen in unſerem Garten auf und nieder. Ich
achtete nicht des goldenen Sonnenlichtes, nicht der er¬
wachenden Vogelſtimmen und ſchwellenden Frühlings¬
blüthen; ich fühlte nicht die Auferſtehungsluſt um mich
her. Da hörte ich hinter mir Dorotheens leichten Schritt;
ich wendete mich raſch und fragte mit Ernſt, welche
Deutung ſie unſerem Einſegnungsſpruche gegeben habe.
[110]
Sie ſchlug die großen Augen verwundert zu mir
auf und dann dunkelerröthend zu Boden. Sie hatte
den Spruch überhört oder vergeſſen und nicht ein ein¬
ziges Mal auf ihrem Confirmationszeugniß nachge¬
leſen. Ich ſchluckte meinen Unwillen hinunter, citirte
den Spruch und fragte dann: „Was nennſt Du, von
Gottes Geiſte getrieben ſein, Dorothee?“
Da ſann ſie denn einen einzigen Augenblick nach,
erbleichte dann eben ſo jäh, wie ſie vorhin erröthet
war, hob ſich auf die Zehenſpitzen und flüſterte mir
in's Ohr: „Gut ſein, gut ſein, Hardine!“
Im nächſten Moment aber ſprang ſie laut ju¬
belnd nach einem Beet, auf welchem ſie die erſten
Veilchen entdeckt hatte, pflückte ſie, flocht ein paar
grüne Sproſſen dazwiſchen und befeſtigte das Sträu߬
chen an meinem Buſentuch. Dann ſchlüpfte ſie vogel¬
leicht durch eine Lücke des Zauns, der unſere Gärten
trennte, warf mir noch lächelnd eine Kußhand zu und
flog nach dem Haus.
„Gut ſein!“ hatte ſie geſagt und eine innerſte
Stimme mir zugerufen, daß die Kindeseinfalt das
Richtige getroffen habe. In Wahrheit aber war mir
das alte Räthſel nur durch ein neues Räthſel gelöſt.
Hieß gut ſein, handeln nach Geſetz und Sitte, wie ich
[111] es verſtand? Oder hieß es, empfinden in jenem ſelig¬
ſprechenden Sinne, den ich nicht verſtand.
Ich brachte mich endlich mit Gewalt über den
zweifelhaften Spruch zur Ruhe, und es war das das
erſte Mal, daß ich eine Entſagung geübt habe, die ich
mir im ſpäteren Leben zum Geſetz ſtellte. Ich han¬
delte nach meinem natürlichen Willen, mit welchem
meine Erziehung, treu dem Wahrſpruch unſeres Hau¬
ſes in Einklang ſtand und ich zweifelte nicht, daß es
gut war, wenn ich „in Recht und Ehren“ handelte.
Spät erſt, in dem Alter, wo Andere graue Haare
tragen, iſt jener zweite Wahrſpruch für das Leben in
meiner Seele wieder aufgeklungen, und durch eine un¬
ſcheinbare Fügung der Schall des Räthſels mir zu
einem Sinn geworden. Wohl bin ich heute noch keine
von denen, die der Heiland ſchon hinnieden ſelig preiſt.
Wenn wir aber eines Tages jenſeit anfangen ſollten,
da, wo wir dieſſeit aufgehört, ſo getröſte ich mich der
Hoffnung, dem Vaterreiche um eine Wegſtunde näher
gerückt zu ſein.
Zweites Capitel.
Mosjö Per—ſé.
Unſer Verhältniß änderte ſich natürlich, ſeitdem
wir nicht mehr Kinder hießen. Dorothee trat in das
väterliche Schenkgeſchäft; ich wurde als erwachſene
Dame bei den Honoratioren von Stadt und Umge¬
gend eingeführt, empfing deren Gegenviſite, beſuchte
dann und wann eine Kaffeegeſellſchaft und regelmäßig
die Donnerſtagsfeſte im herzoglichen Pavillon. Einen
zuſagenden Umgang unter gleichaltrigen Standesge¬
noſſinnen fand ich nicht, vermißte ihn aber auch nicht.
Dorothee betrat das Reckenburg'ſche Familienzim¬
mer nur noch, wenn ſie ſich eine Bitte, oder einen
Vorwand ausgeklügelt hatte; die Dutzkameradſchaft
hörte auf; — will ſagen für die Dorl. Ich blieb
bei dem Du und der Dorothee; ſie nannte mich Sie
und Fräulein wie alle anderen ihres Gleichen, nur
[113] daß ihr das „gnädige“ gnädig erlaſſen ward. Sie
herzte und ſtreichelte mich auch nicht mehr wie ſonſt,
ſondern machte ihren Knix und lief das Herzchen ihr
über, dann küßte ſie meine Hand.
Völlig ſtörten die neuen Formen den alten Um¬
gang indeſſen nicht und ganz und gar nicht das Ver¬
hältniß der Roſe zu ihrem Blatt. Es verging kein
Tag, daß die Kleine nicht einmal durch die Hecken¬
lücke geſchlüpft, oder in meinem Dachſtübchen einge¬
kehrt wäre. Ich blieb ihre Vertraute bei jeglicher Freude,
ihre Ratherin in jeglicher Noth; ja, ich ſah die letztere
ſchärfer und fühlte ſie bänglicher als die Kleine ſelbſt.
Ihr Vater hatte das nährende Handwerk an den
Nagel gehängt und war auf dem herkömmlichen Schenken¬
wege hart beim Trunkenbold angelangt. Es ſtand
übel um den Mann; die Pachtung der herzoglichen
Keller wurde ihm nach abgelaufenem Termine voraus¬
ſichtlich entzogen; ſeine Zukunft war der Spittel.
Dieſe Verirrungen waren es indeſſen nicht, welche
die ſorgloſe Dorl überſchaut oder gewürdigt haben
ſollte. Ihr täglicher Verdruß war das Schenken¬
treiben, für welches der Vater ihre Aushülfe forderte.
Die ſchöne Kellnerin lachte die Gäſte an und die
Gäſte wurden nicht gewählt. Da gab es denn Scherz¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 8[114] und Nachreden, die dem natürlich feinen Sinne des
Kindes und dem Tone, an den es ſich in Reckenburgs
Familienzimmer gewöhnt hatte, unleidlich widerſtanden.
Mein Vater ſah ſeinen Liebling in drohender
Gefahr. „Das Kind iſt zu ſchön für eine Schenk¬
jungfer,“ hörte ich ihn eines Tages in der vertrau¬
lichen Raths- und Schlafkammer der Mutter klagen.
„Viel zu ſchön und zu apart für ihren Stand. Sie
weiß nicht mehr, wo aus noch ein. Adelheid, Adel¬
heid, die kleine Dorl geht uns zu Grunde!“
„Du rechneſt ohne den Faber, Eberhard,“ ent¬
gegnete die Mutter ſehr beſtimmt. „Allerdings mü߬
ten wir uns anklagen, das Mädchen ſeinem natür¬
lichen Terrain entrückt zu haben, hätten wir nicht ſeit
Jahren dieſen Ausgang vorausgeſetzt. Der Menſch
ſtrebt hoch und das Gelingen ſteht ihm an der Stirn
geſchrieben; er goutirt Dorotheens feinere Lebensart,
er kennt ihre mißliche Lage ſo gut wie wir ſelbſt und
wird, verlaß Dich darauf, Eberhard, nun, da der
Tod ſeines Vaters ihn unabhängig gemacht hat, mit
der Hochzeit nicht lange zögern.“
„Gott geb's, Gott geb's!“ verſetzte der Vater,
indem er ſich freudig die Hände rieb.
Mir aber ſtockte während dieſer Rede der Athem
[115] und jetzt beim Schluſſe war mir, als ob ich gegen
das hoffnungsvolle „Gott geb's!“ laut proteſtiren
müſſe. Warum eigentlich? Ich wußte, daß wir mit
dem Einſegnungstage heirathsfähig geworden waren
und die fünfzehnjährige Dorothee wäre nicht das erſte
Kind geweſen, das ich warm vom erſten Abendmahls¬
tiſche zum Traualtare hätte ſchreiten und glücklich
werden ſehen. Warum ſummte es denn vor meinen
Ohren gleich Unkenruf: „Gott verhüt's!“
Wie ſie ſo Einer nach dem Anderen in die Reihe
meiner Bekenntniſſe treten, die wenigen Menſchen,
mit welchen ich im Leben wirklich gelebt! Der Faber,
der Siegmund Faber! Wenn ſpäter ſo oft der Name
dieſes Mannes mit Dank und Bewunderung vor mir
genannt worden iſt, neulich noch meine Freunde, als
Ihr mich fragtet, ob ich mich des Mannes als meines
Heimathsgenoſſen erinnere? Da ahntet Ihr nicht,
Keiner hat es jemals geahnt, daß dieſer Mann mein
früheſter Bekannter, mein Wandnachbar, der erſte
Menſch und faſt der einzige geweſen iſt, der mir zu
denken gegeben hat und daß zwiſchen dieſen Mann
und mich ſich ein Verhängniß gedrängt hatte, ein Ge¬
heimniß, das ich lange Jahre ein Verbrechen nannte.
Siegmund Faber war das einzige Kind unſeres
8*[116] Hauswirths, des Barbiers und mütterlicherſeits von
ſeiner erſten Stunde ab verwaiſt. Da er ungefähr
ſechs Jahre mehr zählte als ich, hätte er zur Zeit
meiner früheſten Erinnerungen noch auf der Schulbank
ſitzen müſſen.
Aber Siegmund Faber hatte längſt etwas Klü¬
geres erwählt, als auf der Schulbank hin und her zu
rutſchen. Sobald er ſich, raſch und ſicher die Elemente
angeeignet, hütete er ſich den Curſus alljährlich mit
einer Schaar von Neulingen von vorn anzufangen und
der einſichtige, alte Rector war weit entfernt, ihn darob
zu ſchelten. „Der Faber geht ſeinen eignen Weg,“
ſagte er, „der Faber iſt ein Menſch für ſich.“ Vater
Faber aber, der die Kunſt des Scheerſacks für die an¬
genehmſte der Welt und es für zuverläſſiger hielt,
ſeine Sparpfennige in Feld- und Wieſenparcellen ſtatt
in Humaniora für ſeinen Sprößling anzulegen, Vater
Faber hatte ſich die Argumente des weiſen Schul¬
regenten zu Nutze gemacht. Wurde er, wie oftmals
geſchah, angegangen, den auffälligen Knaben einer
höheren Lehranſtalt zu übergeben, ſo lautete ſeine Ant¬
wort unveränderlich: „Mein Munde geht ſeinen eignen
Weg, mein Munde iſt ein Menſch für ſich.“
„Der Menſch für ſich“ wurde demnach unter der
[117] Faber'ſchen Kundſchaft die gäng und gebe Bezeichnung
des kleinen Scheerſackserben. Papa Reckenburg aber,
der ſo leicht keinen, den er gern hatte, — einzig und
allein ſeine „Hausehre“ ausgenommen, — ohne einen
harmloſen Spitznamen entwiſchen ließ, er konnte ſich
nicht verſagen, den „Menſchen für ſich“ ein wenig
fremdländiſch umzumodeln. „Mosjö Per—ſé“ hieß
der Hausſohn innerhalb der alten Baderei.
Und mit Fug und Recht. Siegmund Faber war
ein Original, das heißt er war einer von jenen Sel¬
tenen, der ſeiner Eigenart unbeirrt eine Straße durch
den Haufen bricht. Denn für eine herrſchende Leiden¬
ſchaft rüſtete ihn die Natur mit dem beherrſchenden
Willen und nach dem inneren Gehalte modelte ſich
kennzeichnend die Form.
Denkt Euch ein Männchen, kaum Soldatenmaaß,
wie der Rittmeiſter von Reckenburg verſicherte. Gleich¬
wohl, curios! blickt Ihr zu ihm empor. Ihm geht's
wie ſeinem Haus: er wächſt erſt über der Schulter¬
höhe. In ſeinem Nacken müſſen wohl etliche Wirbel
mehr, als die Regel iſt, zu zählen ſein, Drehwirbel,
welche die ſpürende Beweglichkeit nach allen Seiten
vermitteln. Noch länger als der Hals ragt der Kopf,
nach hinten ſteil abfallend, die Stirn gewaltig und
[118] edel geformt. Unter dieſer hohen, breiten Stirn ſtreckt
ſich eine lange, breite Naſe, die Höhlen weit geöffnet,
die Flügel zitternd, und unter dieſer richtigen Spür-
und Schnüffelnaſe dehnt ſich der breite, dünne Mund,
feſtgeſchloſſen wie ein Gedankenſtrich. An den Seiten
aber ragen zwei ungeheuere Ohren, die ſich — ſchüttelt
immerhin die Köpfe! — in fortwährender Spannung
wie die eines Haſen hin und her bewegen.
Es iſt kein Adonis, den ich Euch zeichne, gelt?
Nun aber blickt in ſeine Augen. Eine beſtimmbare
Couleur werdet Ihr nicht unterſcheiden, ſo tief liegen
ſie hinter den vorſpringenden Stirnknochen eingeſenkt
und mit ſo raſtloſem Flimmer ſchweifen ſie von einer
Richtung nach der anderen. Haben ſie aber den ge¬
witterten Gegenſtand aufgeſpürt, dann bohren ſie ſich
ihm hartnäckig bannend bis in das Mark. Ihr wür¬
det ihrer Forſchung nicht entſchlüpfen und Euch ihrem
Geheiſch nicht widerſetzen dürfen.
Kurz und gut: patent ein Doctorenſchädel und
eine Doctorenphyſiognomie! Denkt ſie Euch nun von
der gleichmäßigen Röthe eines geſunden Bluts und
unlöſchbaren Eifers durchdrungen; denkt Euch die
Glieder klein wie die einer Frau, aber von einer
ehernen Musculatur; die Hände durch inſtinctives
[119] Greifen, Dehnen, Spannen zu einem Federwerk aus¬
gebildet; denkt Euch den Mann jederzeit wie aus dem
Ei geſchält, kein Fältchen in dem blendenden Jabot,
kein Stäubchen auf dem unveränderlich hechtgrauen
Habit, kein Härchen ſich ſträubend aus dem mageren,
ſchwarzgebänderten Zopf, kein Bartſtoppelchen am
Kinn — ob verſagt von der mütterlichen Natur, oder
getilgt durch die väterliche Kunſt, wage ich nicht zu
unterſcheiden — und Ihr habt einen ungefähren Ab¬
riß unſeres Menſchen für ſich.
Er ſchien niemals in Eile und war immer in
Bewegung. Kaum jemals habe ich ihn ſitzen ſehen
und fünf Stunden nächtlicher Raſt genügten ihm ſchon
in der ſchlafbedürftigen Knabenzeit. Noch nach Mitter¬
nacht bemerkte ich den Reflex ſeiner Lampe auf den
blanken Becken zwiſchen unſerem Fenſterſtock und bei
Tagesgrauen hörte ich ihn ſchon wieder mit leiſen
Katzentritten die Treppe hinunterſchleichen und das
Haus verlaſſen. Daß er Nahrung zu ſich nahm, muß
wohl vorausgeſetzt werden; geſehen habe ich es niemals.
Vielleicht im Gehen aus der Taſche, oder ſtehenden
Fußes beim Nachbar Kellermeiſter, der auch ſeinen
Vater beköſtigte. Keinenfalls regelmäßig und deſſen
könnt Ihr verſichert ſein, daß „dieſer Menſch für ſich“
[120] nicht einmal in ſeinem Leben mit Behagen ein Mahl
gehalten, oder einen Schoppen geleert haben wird.
Er rauchte nicht, er ſchnupfte nicht wie ſeines Gleichen
von der Ekel überwindenden Zunft; er kannte kein
Spiel, keinen Tanz, kein Steckenpferd, keine jugendliche
Plauderei; er hatte keinen Freund. Seine Rede war
raſch, kurz, ein wenig durch die Fiſtel; mit möglicher
Sparniß der Pronomina, hinter jedem Satze ein
Punktum. „Preußiſch“ nannten wir dieſen unlieb¬
ſamen Ductus, wiewohl Mosjö Per—ſé bis dahin
ihn ſchwerlich aus eines Preußen Munde vernommen
hatte. Er kam der Gegenrede zuvor und ſchnitt den
Widerſpruch harſch ab. Dennoch reizte er nicht, ver¬
letzte nicht. Sein Selbſtbewußtſein imponirte, weil
er nur über Gegenſtände ſprach, die er bemeiſtert
hatte. Selber der Freifrau von Reckenburg kam es
nicht bei, ihn „Er“ wie ſeinen Vater und anders als
„Herr“ zu nennen, wenngleich er ſelber mit Titu¬
laturen geizig und merklich befliſſen war, durch keiner¬
lei Zuvorkommenheit an die Manieren des Scheer¬
beckens zu erinnern.
Ich habe den erwachſenen Per—ſé geſchildert.
Aber ſo wie ich ihn geſchildert, zeigte ſich ſchon der
kleine Bube, als er mit Vater Faber „auf Praxis“
[121] ging, deſſen Inſtrumententaſche trug, oder beim Schröpfen
und Aderlaſſen ihm das Becken hielt. Nebenbei aber
operirte er damals ſchon ſelbſtſtändig. Er konnte keine
Warze ſehen, er drehte ſie ab, keine Balggeſchwulſt,
er drückte ſie ein. Die Krähenaugen verſchwanden
ſchmerzlos unter ſeinen Meſſerchen. Hatte Einer eine
Blutung, auf den erſten Blick erkannte er die Stelle,
wo die Ader lädirt war, und die kleinen Finger pre߬
ten ſich ſo eiſern auf die Wunde, bis dieſelbe ſich
wieder ſchloß. Er zog ſeinen Schulkameraden die
kranken Zähne aus, und erkaufte mit ſeinen Spar¬
pfennigen manchen, der noch heil war, zu gleicher bil¬
denden Operation. Bald hatte er den Vater in allen
höheren Zweigen ſeiner Kunſt überholt. Ein Jeder
wollte lind und behende von Faber junior bedient
ſein, und Faber ſenior überließ ihm denn auch willig
Lanzette und Zange, ſich ſelber mit dem Scheermeſſer
und der Aufſicht über ſeine Wieſen und Aecker be¬
gnügend.
In der freien Zeit, welche dem unermüdlichen
Knaben neben Büchern und Praxis noch hinreichend
blieb, ſaß er im Laboratorium des Apothekers, oder
machte Studien im Schlachthauſe, oder in dem des
Abdeckers, der nebenbei, wie viele ſeines Zeichens, für
[122] einen Geheimkünſtler galt. Bei keiner Leichenſchau,
keiner Obduction fehlte Siegmund Faber. Als er aber
endlich auch dem Namen nach der Schulbank entlaſſen
war, da blieb er häufig tage-, ja wochenlang aus dem
Hauſe verſchwunden, und hätte Vater Faber nach den
Wegen eines Menſchen, der ſeinen eigenen geht, ge¬
forſcht, in den kliniſchen Inſtituten und anatomiſchen
Kabinetten unſerer beiden Nachbaruniverſitäten, ja ſel¬
ber in denen des ferneren Jena würde er ihn aufge¬
funden haben. Profeſſoren und Sectoren, von dem
ſeltſamen Eifer des jungen Autodidacten angezogen,
nahmen ihn willig in ihr Gefolge auf, und gaben
mancherlei Anleitung, die zu weiteren Forſchungen
führte. Im Gymnaſiaſtenalter war Siegmund Faber
bereits eine bekannte Perſönlichkeit und hatte eine Art
von Ruf meilenweit in der Runde.
Es wurde daher kein Bedenken getragen, ihn als
Gehülfen unſeres alternden Regimentsfeldſcheers ein¬
treten zu laſſen. Im ärztlichen Militairdienſt fragte
man wenig, was Einer wußte, oder nicht wußte,
ſondern begnügte ſich mit dem, was er konnte, oder
auch allenfalls nicht konnte. Da aber Siegmund
Faber ohne Zweifel etwas konnte, ſo galt es für
ausgemacht, daß ihm der Poſten des alten Feldſcheers zu
[123] geſprochen werden würde, als dieſer endlich zu der
Ueberzeugung gelangt war, daß er nichts mehr konnte.
Während dieſes Interims ſtarb Vater Faber; ſein
Sohn war volljährig, das heißt einundzwanzig Jahre,
ein vermögender, unabhängiger Mann. Und das war
der Zeitpunkt, in welchem meine Eltern die Rettung
der kleinen Dorl von ihm erwarteten.
Denn in ſolchen Widerſprüchen, — oder Aus¬
gleichungen? — gefällt ſich die Natur: dieſer Menſch,
der keinen Sinn zu haben ſchien, als für die leibli¬
chen Verirrungen der Creatur; kein Bedürfniß, als
deren Herſtellung, keine Leidenſchaft, als den Ehrgeiz
des Meiſterwerdens in ſeiner Kunſt, derſelbe Menſch,
als ob ſeine Organe der Erholung bedürften, fühlte
ſich mit einem eben ſo frühen, ausſchließlichen Ver¬
langen einem Weſen zugetrieben, dem heilſten und
ſchönſten, das ſich in ſeinem Geſichtskreiſe erſpähen
ließ. Dieſes Weſen war ſeine kleine Nachbarin Do¬
rothee.
Schon als Wiegenkind ſoll er ſie mit Entzücken
betrachtet, er, der Ruheloſe, oft ſtundenlang in ihrem
Anblick verweilt haben; ſpäterhin wurde ſie nicht ſeine
Geſpielin, aber das einzige Spielwerk, das er jemals
gehegt. Er brachte ihr Näſchereien, Blumen, allerlei
[124] Putz und Tand; er nannte ſie ſein Dörtchen, ſein
Kind, ſeine Braut, ſprach von ihr als von ſeiner ein¬
ſtigen Frau mit derſelben Zuverſicht, wie von dem
großen Doctor, zu dem er es bringen werde. Und
ſeltſam! Keiner lachte über den kleinen, ernſthaften
Mann.
Wieder ſpäter ſahen wir ihn ſich zu einem Schutz¬
herrn über die reifende Jungfrau erheben. Er hütete
ſie mit einer Art von Eigenthumsrecht; wie ein Blitz
rachſüchtigen Grimmes zuckte es in ſeinen forſchenden
Augen bei jedem Beifallszeichen eines Fremden, die
Fäuſte ballten ſich bei einer unziemlichen Neckerei über
die hübſche Kellnerin; gewiß, er hätte den Beleidiger
morden können, der ihm ſeine Blume entweihte. Daß
dieſer Menſch eine Seele habe neben dem ſtolzen, ſpe-
culativen Geiſt, eine zärtliche, bedürftige Seele, das
offenbarte ſich ausſchließlich in ſeinem Verhalten gegen
das Kind, von welchem er, wie von ſeiner Kunst,
aus eigener Machtvollkommenheit Besitz ergriffen hatte.
Daß Mosjö Per—ſé ſein „kleines Anweſen“ (zwi¬
ſchen den Gänſefüßchen allemal Papa Reckenburg'ſcher
Humor) mit Befriedigung unſerem Familienkreiſe ein¬
gereiht ſah, könnt Ihr denken. Hier war ſie gebor¬
gen, hier ſchulte ſie ſich für eine geſellſchaftliche Stel¬
[125] lung, die er a priori für ſich ſelbſt in Anſpruch nahm.
Er, der ſo ſelten lächelte, ſtrahlte vor Entzücken, wenn
er an den geſchilderten Tanzabenden den zierlichen
Schmetterling auf und nieder ſchweben ſah, oder das
ſilberne Stimmchen fix und fertig in einer Mundart
plappern hörte, die er ſelber nicht verſtand.
Das Verlangen nach ſeinem Augentroſt führte
ihn daher auch öfter, als es wohl ſonſt geſchehen ſein
würde, in das Reckenburg'ſche Familienzimmer und
wurde er auf dieſe Weiſe Dörtchens Kameradin eine
Art von Kamerad.
„Sie begreifen das, Fräulein Hardine,“ pflegte er
zu ſagen, wenn er mich — und mich allein — zur
Vertrauten neuer Wahrnehmungen und Folgerungen
in ſeiner jugendlichen Praxis, oder des Zweckes und
Zieles ſeiner Ausflüge machte. Die Gedanken der
Jungfer Grundtext wurden durch dieſe Aphorismen
in Bahnen gelenkt, welche der ehrliche Chriſtlieb Taube
nicht zu eröffnen verſtand. Und ſo war es der Sohn
und Gehülfe eines Barbiers, der mir in einem ge¬
fährlichen Alter die Langeweile der Intelligenz ver¬
ſcheuchte, dem jugendlichen Verlangen Salz und Würze
bot. Nicht ihm zu gefallen, aber ihn zu verſtehen
ſtrengte ich mich an. Mosjö Per—ſé war der Menſch,
[126] der mich im fünfzehnten Jahre mehr als ein ſpäterer
im Leben, wie man es nennt, intereſſirte.
Die leiſeſte Andeutung ſeines Berufs ſtockte da¬
hingegen, ſobald ſein Dörtchen in unſere Nähe trat,
und zwar nicht darum, weil er ſie vielleicht einmal
bei der bloßen Erwähnung von Blut und Wunden
hatte erbleichen, oder ſich die Ohren verſtopfen ſehen,
ſondern einfach, weil er ſeinen Beruf in ihrer Nähe
vergaß, weil ſein Pulsſchlag einen anderen Takt an¬
nahm und die Strebenslaſt von ihm wich unter dem
Behagen einer Herzensweide.
Und Dorothee? werdet Ihr fragen. Ahnte das
leichtblütige Kind das Bedeuten einer ſolchen Natur,
würdigte ſie den beſonderen Platz, den ſie in derſelben
eingenommen hatte? Rief ſie mit dem erfahrenen
Freunde: „Gott geb's!“ oder mit der unerfahrenen
Freundin: „Gott verhüt's!“
Nun ſeht und hört ſie ſelbſt in der Stunde,
welche über ihr Leben entſchied.
Es mochte einen oder den anderen Tag nach je¬
nem elterlichen Geſpräche ſein, das mich noch immer
beſchäftigte. Es war Anfang Juli und unſer junger
Wirth wohl ſchon eine Woche lang abweſend auf
einer ſeiner wiſſenſchaftlichen Excurſionen. Er hatte
[127] ſich ſeit Kurzem beritten gemacht und der ſachverſtän¬
dige Rittmeiſter geſagt: „Ein Teufelskerl, dieſer Mosjö
Per—ſé! Hat niemals ein Pferd, als etwa auf dem
Schindanger, unter dem Leibe gehabt, aber er reitet
wie ein Daus!“
Die Eltern dinirten bei einem benachbarten Guts¬
beſitzer, ich war allein zu Haus und am Nachmittag
im Garten beſchäftigt, ein Bohnengericht für den mor¬
genden Tiſch zu pflücken. Eben hatte ich in der
Weinlaube auf der Terraſſe das ſaure Werk der
Schnitzelei begonnen, als Dörtchen, lachend über das
ganze Geſicht, durch die Heckenlaube herbeiflatterte.
„Nein, Fräulein Hardine,“ rief ſie ſchon von
Weitem, „nein, giebt es einen curioſeren Kunden, als
dieſen Mosjö Per—ſé!“
„Iſt Herr Faber zurück?“ fragte ich.
Die Dorl nickte. „Eben hat er ſein Pferd bei
uns eingeſtellt. Ich ſtehe mit dem Vater unter der
Thür. Giebt er mir wohl die Hand wie ſonſt? Be¬
hüte. Er macht mir einen Diener, ſo —“ ſie bückte
ſich raſch und tief im Hüftgelenk, als ob ein Taſchen¬
meſſer zuſammenklappt, „und ſchickt mich ohne Um¬
ſtände fort, weil er mit dem „Herrn Vater“ unter
vier Augen zu ſprechen habe. Dabei nennt er mich
[128] nicht etwa „Du“ und „Dörtchen“ wie bisher, ſon¬
dern ganz feierlich Sie und Jungfrau Dorothee.“
„Ich finde es nur ſchicklich, Dorothee,“ verſetzte
ich weiſe, „wenn ein junger Mann derlei Vertraulich¬
keiten aufgiebt, einem Mädchen gegenüber, das ſich
jeden Tag verheirathen kann.“
„Verheirathen!“ rief die Dorl ſeelenvergnügt. „Ja,
aber mit wem denn, Fräulein Hardine?“
„Nun vielleicht eben mit dem Siegmund Faber.“
Die Kleine blickte enttäuſcht. „Mit dem?“
ſchmollte ſie, „mit dem? Ach warum nicht gar. Der
denkt an Krüppel und Leichen, aber nicht an eine
Frau.“
„Meine Eltern hoffen und wünſchen das Gegen¬
theil, Dorothee. Sie nennen dieſe Heirath Deine Ret¬
tung, Dein Glück.“
Sie wurde blaß; ihre Augen füllten ſich mit
Thränen. „Aber ich fürchte mich vor ihm!“ lispelte
ſie bebend.
„Haſt Du die Auslegung des ſechsten Gebots in
unſeren Abendmahlsſtunden vergeſſen?“ fragte ich in
der lehrreichen Manier, die mir meiner kleinen Dorl,
und zum Glück nur dieſer gegenüber, zur anderen Na¬
tur geworden war: „Ihren Gott im Himmel und
[129] ihren Mann auf Erden ſoll das Weib fürchten, lie¬
ben und ihm vertrauen.“
Dorothee ſah mich mit ihren großen, himmelblauen
Augen an, wie damals am Oſtermorgen, als ſie mir
mit einem Worte den Sinn des Apoſtelſpruchs er¬
klärt hatte. „Ihn fürchten,“ ſagte ſie leiſe, „nicht,
ſich vor ihm fürchten. Fürchten Sie ſich vor Gott,
Fräulein Hardine?“
„Aber warum fürchteſt Du Dich vor dem Fa¬
ber? Er iſt ein außergewöhnlicher Menſch, anders als
alle anderen — —“
„Eben darum,“ unterbrach ſie mich lebhaft. „Ich
will keinen Menſchen für ſich; ich will einen Mann
wie alle anderen Leute; Einen wie ich ſelber bin, nur
um vieles klüger und beſſer.“
Das Kind hatte wieder einmal das Rechte ge¬
troffen. Damals zwar ſchüttelte ich den Kopf. Zehn
Jahre ſpäter war ich zu der nämlichen Weisheit ge¬
langt. Menſchen für ſich geben nicht Menſchen zu
Zweien. Ehe und Haus vertragen keine Originale.
„Nein, nein, Fräulein Hardine,“ wiederholte Do¬
rothee. „Er denkt nicht an mich, und Gott ſei ge¬
dankt dafür, denn mir graut vor ihm.“
Die Sache war damit abgethan und mein heim¬
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 9[130] licher Proteſt gegen den elterlichen Plan erklärt. Dorothee
liebte ihn nicht und Siegmund Faber war zu gut
für eine Frau, die ihn nicht lieben konnte.
Ich lud meine kleine Nachbarin ein, den Nach¬
mittag mit mir zuzubringen; wir ſetzten uns in die
Laube und bald fielen unter den runden Fingerchen
die Bohnenſchnitzel flink und zierlich in die Schüſſel
auf ihrem Schooß. Sie plauderte und lachte über
meine ungeſchickten „Hünenpflocken“; der drohende Be¬
werber war vergeſſen.
Eine Stunde mochte ſo vergangen ſein, als ein
haſtiger Schritt auf der Terraſſentreppe uns den un¬
gewohnteſten Gartenbeſucher verkündete. Im nächſten
Moment ſtand Siegmund Faber uns gegenüber; er
trug ſeinen Sonntagsſtaat und verbeugte ſich raſch
und tief, ſo wie die Kleine ihm vorhin nachgeäfft
hatte. Das luſtige Lachen erſtarb auf ihren Lippen,
ſie wurde roth bis unter das Buſentuch, blickte in die
Schüſſel und ſchnitzelte mit Fieberhaſt.
Um ſo geſpannter blickte ich zu dem jungen
Mann hinüber. Die gewaltigſte Aufregung las ich
auf der ſonſt ſo ruhigen Stirn; die rothe Farbe war von
ſeinem Geſichte gewichen, das Herz hämmerte ſicht¬
bar unter dem ſilbergeſtickten Gilet und die Hände
[131] krampften ſich zuſammen, um ein Zittern zu verber¬
gen. So mochte er ausſchauen, wenn er zu einer
Operation auf Leben und Tod den Entſchluß gefaßt
hatte.
Doch zögerte er nicht, ſeinen Beſuch zu erklären.
„Die Unterredung, um welche ich bitte, geſchieht im
Einverſtändniß mit Ihrem Vater, Jungfrau Dorothee,“
ſtieß er hervor.
Der Hauswirth war Herr in ſeinem Revier und
Vater Kellermeiſter hatte das tête-à-tête mit meiner
Beſucherin bewilligt, ſo flehentlich dieſelbe mich daher
anblicken mochte, ich erhob mich, um die Laube zu
verlaſſen. Faber aber trat mir in den Weg, faßte
nach meiner Hand und ſprach: „Sie verpflichten mich,
wenn Sie bleiben, Fräulein Hardine.“
So nahm ich denn meinen Platz wieder ein und
deutete für den Faber auf eine Bank uns gegenüber.
Er ſetzte ſich nicht, hob aber nach einem tiefen Athem¬
zuge, zu mir gewendet, unverweilt ſeine Rede an.
„Sie kennen das Ziel, das ich mir geſetzt habe,
Fräulein Hardine. Die Jahre herkömmlichen Stu¬
diums ſind verſäumt. Ich muß es auf praktiſchem
Wege zu erreichen ſuchen. Und ich werde es errei¬
chen. Aber nicht in meiner kleinbürgerlichen Heimath,
9*[132] auch nicht im Friedensſtande unſeres ſächſiſchen Va¬
terlandes. Ich erfreue mich gütiger Empfehlungen.
Meine Vorkehrungen ſind getroffen. Ich gehe nach
Preußen. In wenigen Wochen vielleicht ſtehe ich auf
einem Felde, wo Wunden geſchlagen werden und Wun¬
den geheilt werden müſſen.“
Ihr wißt, wir ſchrieben anno neunzig, und in
Preußen herrſchte ſeit ſiebenundzwanzig Jahren ſo gut
wie Friede. Allerdings hatte ich meinen Vater mit
ſeinen Kameraden von einer „Verhedderung“ zwiſchen
dem Kaiſer und König in Sachen der Großtürken dis¬
curiren hören; Keiner aber wurde aus dieſem Wirr¬
warr klug, und Keiner dachte an Ernſt in einem weit¬
abgelegenen Gebiet, wo man für den Preußen nichts
Verdauliches zu ſchlucken ſah. Siegmund Faber konnte
daher wohl eine verwunderte Miene bemerken, mit
welcher ich ſeine Witterung von Blut und Leichen be¬
antwortete.
„König Friedrich Wilhelm,“ ſo fuhr er ohne Auf¬
enthalt fort, „iſt zu der Armee nach Schleſien abge¬
gangen. Dort treffe ich auch das Regiment Weimar,
an deſſen durchlauchtigen Chef ich von Jena aus re¬
commandirt bin. Wetter, welche ſich thürmen, wie
die in Oſt und Weſt, klären ſich nicht. Verzöge ſich's
[133] heuer, um ſo günſtiger für mich. Ich hätte in be¬
deutender Umgebung ein Jahr der Vorbereitung ge¬
wonnen. Uebermorgen bin ich auf dem Wege nach
Berlin.“
Der Redner machte eine Pauſe und ich hörte ein
fröhliches Aufathmen an meiner Seite. Dorothee
hatte das Meſſer fallen laſſen und blinzelte ſchelmiſch
zu mir in die Höh'. Es war alles ganz anders ge¬
kommen, als ich prophezeit. Mosjö Per—ſé ging in
den Krieg, um ein berühmter Doctor zu werden; er
dachte nicht an ſein Dörtchen und an einen häus¬
lichen Herd.
Aber Mosjö hatte nur wieder einmal ſchwer
Athem geſchöpft; er war noch lange nicht zu Ende.
Eine Blutwoge drang ihm zu Kopf, um ebenſo jach
wieder zu ſinken; er ſetzte ſich, denn ſeine Kniee
zitterten. Was mochte dieſe gefaßte Natur ſo bäng¬
lich bewegen?
Er wendete ſich jetzt zu meiner Nachbarin und
ſeine Stimme vibrirte ſo ſeelenvoll, daß ich ſie kaum
für die ſeinige halten konnte. „Ich weiß nicht, Jung¬
frau Dorothee, ob auch Sie das Streben geahnt
haben, das mich, neben jenem ernſten, ſeit Jahren er¬
füllt hat. Sie lächelten wie über ein Scherzwort,
[134] wenn ich Sie die Meine nannte. Aber es war keine
Knabenlaune, Dorothee. Es iſt mir heute nicht hei¬
ligerer Ernſt, als in jeder früheren Stunde, ſeit ich
mich auf mein Selbſt zu beſinnen weiß. Sie ſind
noch ſehr jung, Dorothee, und ich hätte das bindende
Wort verzögern mögen. Aber mich drängt die Zeit,
deren Sie bedürfen. Ich habe das Ja Ihres Vaters;
wollen Sie das Ihre gewähren, wollen Sie die Meine
werden, Dorothee?“
Bei allem Vertrauen zu dem Mann war mir
nach der kriegeriſchen Vorrede dieſe plötzliche Werbung
doch ein bischen zu bunt. Heirathen, ein halbes Kind
heirathen, wenn Einer im Begriffe ſteht, ein Schlacht¬
feld, oder als deſſen Vorſtudium ein chirurgiſches In¬
ſtitut zu betreten! Ich fing an der geſunden Ver¬
nunft eines Menſchen für ſich zu verzweifeln an und
rüſtete mich, als quaſi Patronin meiner kleinen Dorl,
die ſich zitternd wie Maienlaub an mich klammerte,
zu einer herzhaften Abfertigung.
Der wunderliche Heirathscandidat ſchnitt indeſſen,
noch ehe ich zu Worte kam, meinen Proteſt mit einem
haſtigen Nachtrage ab. „Es liegt auf der Hand,“
fuhr er fort, „daß ich die Erfüllung meiner Wünſche
nicht heute oder morgen erwarten darf. Es können,
[135] ja es müſſen Jahre vergehen, Jahre harten Ringens,
vielleicht ein Jahrzehnt. Haben Sie das Herz, Do¬
rothee, dieſe Jahre zu harren in Treuen und Ehren
als meine anverlobte Braut? Sind Sie meiner, ſind
Sie Ihrer ſelber gewiß zu ſolchem Verſpruch? Nie¬
mals ſehen Sie mich wieder, ſollte ich im Lauf nach
dem Ziele unterliegen. Aber ich werde nicht unter¬
liegen. Und wenn ich, früh oder ſpät, zurückkehre,
vor meinem Gewiſſen und vor der Welt als ein fer¬
tiger Mann, wollen Sie dann die Meine werden?
Ich habe bis heute nach keinem Menſchen begehrt als
nach Ihnen allein, wollen Sie, daß ich auch ferner¬
hin Ihrer begehren, daß ich auch in Zukunft Sie
lieben darf, Dorothee?“
Des Mannes Wallung hatte mich ergriffen. Das
Wagniß ſeines Anerbietens entſprach recht gründlich
meinem fünfzehnjährigen Temperament. Mit Triumph
würde ich, — natürlich vorausgeſetzt, daß ich Do¬
rothee Müllerin und nicht Hardine von Reckenburg
geheißen hätte, — mit Triumph würde ich in Sieg¬
mund Faber's Hand eingeſchlagen und geſagt haben:
„Brich Dir einen Weg, ſuche Dein Ziel. Ein Mann
wie Du iſt es werth, daß ein Weib ſeiner harrt,
Jahre lang, Jahrzehnte lang, wie Gott es fügt!“
Aber die wirkliche Dorothee, die keine Mutter
hatte und keinen Vaterſchutz, die von Verführung und
Gemeinheit umgeben war, die ſo rathlos und hülfe¬
flehend zu mir in die Höhe blickte, unfähig Nein zu
ſagen und noch unfähiger Ja: aber meine ſchöne,
frohlebige, arme, kleine Dorl?
Noch einmal wollte ich in ihrem Namen das
Wort ergreifen und noch einmal ſchnitt Siegmund
Faber mir es ab. „Ich weiß, daß ich Ungewöhnliches
verlange,“ fuhr er in viel ſicherer Stimmung fort als
zuvor, „und ich fühle, was Sie mir entgegen halten
wollen, Fräulein Hardine. Aber trauen Sie mir nicht
zu, daß ich die Jungfrau, die ich liebe, in ihrer halt¬
loſen Lage zurückzulaſſen, daß ich meine Braut vom
Schenktiſche zum Altar zu führen gewillt ſein kann.
Ich gehe den Weg des Mannes, den Weg der That.
Mir wird es ein Leichtes ſein, der Geliebten das Ge¬
fühl dieſer Stunde treu bis zum Ziele zu bewahren.
Sie aber, Dorothee! ſoll ich das Opfer ihres Jugend¬
rechtes annehmen, ſo muß ſie dem Manne ihrer Zu¬
kunft das Recht eines Verſorgers auch in der Gegen¬
wart zugeſtehen. Gern ſähe ich ſie, als Schützling
einer gebildeten Familie in einer größeren Stadt ein¬
gereiht. Aber ihr Vater lebt und die Kindespflicht
[137] beſteht, ſo lange das Weib nicht dem Manne folgt.
Ueberdies würde ſie in jedem fremden Kreiſe ſich un¬
vermeidlich als Abhängige fühlen, und ich will, daß
ſie frei und ledig ſei, ſchalte und walte nach Frauen¬
art. Möge ſie denn ihren Vater pflegen, ihm bei¬
ſtehen, ſo weit er perſönlich ihrer bedarf, ohne in das
Getriebe ſeiner Wirthſchaft einzugreifen. Ich habe
ſeinen Handſchlag, daß er keine derartige Forderung
an meine Braut ſtellen wird. Alle Vorkehrungen ſind
getroffen. Sagen Sie Ja, Dorothee, ſo treten ſie
morgenden Tages durch gerichtliche Schenkung in
den Beſitz ſämmtlicher Liegenſchaften, die mein Vater
mir hinterlaſſen hat. Sie bleiben bis zur Volljährig¬
keit deren Nutznießerin ohne jegliche Bevormundung,
und da ſie kürzlich in Pacht gegeben worden ſind,
ohne irgend welche Beläſtigung. Kehre ich bis dahin
nicht zurück, erlangen Sie freies Verfügungsrecht. Es
iſt kein Opfer, das ich Ihnen bringe, es iſt eine Laſt,
von der Sie mich befreien, mein liebes Kind. Mir
bleibt für den Beginn mehr als ich bedarf und bald
werde ich ſicher auf eignen Füßen ſtehen. Sie über¬
ſiedeln in mein Vaterhaus, ſtatten es aus nach Ihrer
zierlichen Art. Geſchäftig als Herrin im eignen Re¬
vier, in dem Zimmer, wo meine Wiege geſtanden hat,
[138] wo ich ſo lange in Hoffnung glücklich war, ſehe ich
Sie zum Voraus als die Meine, ſehe ich Sie mit
Vertrauen auch fernerhin unter den Augen der hoch¬
verehrten Familie, in der Sie aufgewachſen ſind,
unter Ihren Augen, Fräulein Hardine, die Sie der
Verlobten Siegmund Fabers Rath und Antheil nicht
verſagen werden.“
Ich hatte während der letzten Erklärung nicht
aufgeſchaut, weil ich mich des feuchten Nebels über
meinen Augen ſchämte. Nun, wo der Sprecher mit
einem Aufruf an meine Freundſchaft ſchloß, blickte ich
in ehrlicher Zuſtimmung zu ihm hinüber, dann aber
angſtvoll geſpannt auf die Kleine, die ſich ſo plötzlich
über die unerwartetſte Lebenswendung entſcheiden ſollte.
Was würde ſie vorbringen, wie ſich herauswinden, ſie,
die vor kaum einer Stunde erklärt hatte: „mir graut
vor dem Mann!“ die aufathmete wie erlöſt, als er
von ſeinem Abſchied, vielleicht auf Nimmerwieder¬
ſehen ſprach.
Und nun? o, der kleinen, beweglichen Dorl! o
des wunderbaren Wechſels in einem Mädchenherzen!
Wie der See, der grau und trübe unter einem Nebel¬
himmel geſtanden hat, wenn plötzlich ein Sonnenſtrahl
den Dunſtkreis durchbricht, klar und himmelblau
[139] ſtrahlte das Augenpaar; freudenroth waren die Bäckchen
überhaupt. Ein Kind unter dem Lichterbaum! Braut
heißen und dabei frei ſein; reich ſein, ſchalten und
walten im eignen Haus, ſich ſchmücken und tändeln
dürfen, — all dieſe Herzensluſt, — und nicht ein
Fünkchen mehr, las ich mit einem Blick in dieſen
lächelnden Zügen. In meinem Herzen brannte es
wie eine Scham.
Ob Siegmund Faber dieſen jachen Zauber aus
tieferen Gründen gedeutet hat? Ich glaube es nicht.
Er kannte ſie ja als ein Kind, liebte ſie als ein Kind.
Er traute ja eben der frohen Unſchuld einer Kinder¬
ſeele, dem Bande, das die Dankbarkeit webt, der Treue
der Pflicht in einem unentweihten Gemüth. Und er
fühlte ſich der Mann, das Herz des Weibes zu er¬
obern, ſobald er es als Eigenthum in Anſpruch
nehmen durfte.
Wie dem auch ſei: Siegmund Faber blickte jetzt
nicht mehr beklommen, ſondern ſo froh und getroſt
wie ſeine kleine Dorl. Er ſtreckte die Hand zu ihr
hinüber und fragte lächelnd: „Nun, liebe Dorothee?“
Sie legte ihre Rechte in die ſeine und neigte das
Köpfchen zu einem glückſeligen Ja.
„Sagen Sie Amen, Fräulein Hardine, als Zeu¬
[140] gin und Bürgin unſeres Verſpruchs,“ rief der junge
Bräutigam, ſich zu mir wendend.
Ich ſagte nicht Amen, aber ich drückte Siegmund
Faber die Hand, und umarmte — ſchweren Herzens,
Gott weiß! — ſeine ſtrahlende Braut.
Auch Siegmund Faber — daß es an keiner Ver¬
lobungsförmlichkeit fehle — hauchte einen Kuß auf
Dorotheens Stirn, ſo zagend jedoch, als ob er ſich
fürchte, einen gefährlichen Sinn in dem Kinde —
oder in ſich ſelber? — zu erwecken. Dann aber,
wieder ernſt und feierlich wie beim Beginn der ſelt¬
ſamen Scene, ſtreifte er zwei einfache Goldreifen von
ſeiner Hand, ſteckte den einen an ſeinen eignen Ring¬
finger, den anderen an den ſeiner Braut und ſprach:
„Die Trauringe meiner Eltern! Wenn ich eines
Tages, dieſen Reif am Finger, Ihnen gegenüber treten
werde, Dorothee, dann wiſſen Sie, ohne Wort, daß
ich in Treuen und Ehren mein Ziel erreichte. Und
wenn ich den anderen dann an Ihrer Hand gewahre,
dann weiß ich, ohne Wort, daß ich in Treuen und
Ehren mein Weib zum Altare führen darf.“
Der Wagen der Eltern fuhr in dieſem Augen¬
blicke vor. Langſam ſchritt ich meinem Hauſe, raſch
[141] und fröhlich, Arm in Arm, ſchritten die beiden An¬
deren dem des Brautvaters zu.
Ein kaum bärtiger Jüngling, ein Feldſcheergehülfe,
der abenteuerlich in's Blaue zieht und ſein Erbtheil
verſchenkt, um ſich damit das Herz eines unflüggen
Mädchens zu erkaufen; eine Verlobung wie aus der
Piſtole geſchoſſen; ein zweites halbflügges Mädchen
als Zeugin und Bürgin des wunderlichen Bundes auf¬
gerufen: — meine Freunde, wie ich dieſes Bild aus
der Erinnerung faſt eines halben Jahrhunderts her¬
vorgekramt habe, da mag es wohl recht thöricht, viel¬
leicht läppiſch vor Eueren Augen ſtehen. Ich ſage
Euch aber: hättet Ihr den Siegmund Faber gekannt,
Ihr würdet meine ernſthafte Bewegung nicht belächelt
haben. Und nicht die unerfahrene Tochter allein, auch
die erfahrenen Eltern ſahen kein Kinderſpiel in Sieg¬
mund Fabers raſcher That.
„Ein Sonntagskind, unſere kleine Dorl!“ rief
gerührt der Papa. „Ein Sonntagskind, dem das
Glück wie im Traume in das Schürzchen fällt. Und
ein Tauſendſaſſa, dieſer Mosjö Per—ſé, ſo ſein Vö¬
gelchen an einer goldenen Kette feſtzulegen!“
Die bedachtſame Mama aber, die wohl ſchwerlich
ohne einen Anflug mütterlichen Neids die kleine Schen¬
[142] kendirne wohlhäbig und früher Braut werden ſah, als
ihre Hardine, ſie erklärte nicht minder: „Kein Advo¬
kat hätte es ſchlauer auszudüfteln gewußt, als dieſer
junge Pfiffikus. Wohl oder übel: das Fideicommiß
bis zur Volljährigkeit, das heißt bis über die gefahr¬
volle Jugend hinaus, bannt den Flatterling und am
Traualtare erhält der großmüthige Verſchenker ſein
Eigenthum zurück.“
Der gerichtliche Akt ward genau nach der An¬
gabe am anderen Tage vollzogen, und mit dem Mor¬
gengrauen des übernächſten war der wunderliche Bräu¬
tigam hoch zu Roſſe auf und davon. Der letzte Hei¬
mathsgruß ward nach Fräulein Hardinens Dachfenſter
hinaufgewinkt und von dort aus erwidert.
„Hatteſt Du Herrn Faber ſchon geſtern Abend
Lebewohl geſagt?“ fragte ich Dorothee, als ſie bald
darauf in meine Kammer trat.
„Ach nein, Fräulein Hardine,“ ſtammelte ſie ver¬
legen, „ich wollte es heute früh, aber — ich habe es
verſchlafen.“
So war denn ſelber eine Anſtandszähre beim
Abſchied unſerem glücklichen Bräutchen erſpart worden.
Wie flink ging es nun aber noch ſelbigen Ta¬
ges an ein Scharwerken und Räumen! Das Unterſte
[143] wurde zu oberſt gekehrt in dem Zimmer, vor deſſen
Fenſter noch im Winter Meiſter Fabers Scheerbeutel
geglänzt hatten; getüncht, geſcheuert, das alte Mo¬
biliar blank auflackirt und friſch bezogen. Bald ſtand,
ſchneeweiß verhüllt, ein zierliches Himmelbett auf der
Stelle, wo Siegmund Faber ſich auf hartem Stroh¬
ſack eine kurze Nachtruhe gegönnt hatte. In der
Ecke, die ſeine ungehobelten Bücherbretter gefüllt,
prangte ein Schränkchen mit Puppen und Tändelwerk
aus der Kinderzeit der kleinen Dorl; luftige Gardi¬
nen, Blumen, immer friſch gepflückt, ſchmückten den
Fenſterplatz; im grünberankten Käfig ſchnäbelte ſich
ein Zeiſigpaar. Keine Bürgerstochter hatte ein zier¬
licheres Stübchen aufzuweiſen, und wie kahl und dürf¬
tig erſchien nebenan Fräulein Hardinens nüchterne
Mädchenkammer!
Die kleine Wirthin aber, im kurzen Röckchen und
flittergeſtickten Hackenſchuhen, flatterte fröhlich Trepp'
auf, Trepp' ab. In der einen Taſche bauſchte ſich die
Düte mit dem Candis und Zuckerbrod, welche die
Näſcherin niemals ausgehen ließ; in der anderen klap¬
perte das Beutelchen, aus welchem jedem Bettelkinde
ein Pfennig oder Kreuzer zugeworfen ward. So ging's
hinüber in die Kellerei, wo zu Nutz und Frommen
[144] der Wirthſchaft eine handfeſte Magd vorgeſetzt wor¬
den war; durch die Heckenlücke in den Garten; hin¬
auf in die Brautlaube; ein Huſch in die [Nachbarſchaft];
ein Guck in Fräulein Hardinens Kammer; ein Knix
und Handkuß in Reckenburgs Familienzimmer, lächelnd
und tänzelnd und trällernd vom Morgen zur Nacht:
die ächte, rechte, unermüdliche, kleine Dorl.
Drittes Capitel.
Die ſchwarze Reckenburgerin.
Ich hatte übrigens nur kurze Zeit, das glückſe¬
lige Treiben unſerer neuen Hauswirthin zu beobach¬
ten, denn auch mein eigenes Leben ſollte in jenen Som¬
merwochen einen unvorhergeſehenen Wechſel erfahren.
Ich habe ſchon zu Anfang der alten Gräfin als
meines Vaters und meiner eigenen Pathin erwähnt,
und hinzugefügt, daß keines von Beiden ſich jemals
einer zeitgemäßen Pflicht- oder Gunſtbezeugung von
Seiten ihrer hohen Namensverleiherin zu erfreuen,
ſich keiner ſolchen, wahrheitsgemäß, auch von ihr ver¬
ſehen hatten. Anders vielleicht, wenn der letzte Sprö߬
ling des alten Stamms ein männlicher geweſen wäre.
Aber ein Mädchen, die Tochter eines verarmten Sei¬
tenzweigs, wie hätte die „ſchwarze Häuptlingin“ in
ihrer fürſtlichen Hoheit ſich Einer erinnern ſollen, mit
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 10[146] welcher der Name vorausſichtlich in Dunkelheit er¬
loſch? Wer auch immer die Erben der wunderlichen
Greiſin ſein mochten, der beſcheidene Rittmeiſter von
Reckenburg und ſein dürftig erzogenes Fräulein, wir
wußten es, waren es nicht.
Groß, über allen Ausdruck groß war daher das
Wunder, als im Laufe des Spätſommers ein eigen¬
händiges Schreiben der Gräfin, das erſte ſeiner Art,
die weiße Vetternſippe beehrte. Das Schreiben lau¬
tete, aus dem Franzöſiſchen überſetzt:
„Wenn die Freifrau und der Freiherr von
Reckenburg geneigt ſein ſollten, ihre Tochter Eber¬
hardine der Gräfin von Reckenburg als Gaſt
während des nächſten Winters zu überlaſſen, ſo
wird die gräfliche Equipage die junge Dame —
(das Datum und der Stationsort waren genau
bezeichnet) — zur Beförderung nach Schloß
Reckenburg erwarten.“
So wenig einladend dieſe Gunſtbezeugung geſtellt
war, und ſo ſchwer den Eltern das, wenn auch nur
zeitweiſe Ueberlaſſen des einzigen, kaum erwachſenen
Kindes in völlig unbekannte Hand vorkommen mochte,
die Möglichkeit einer Ablehnung iſt gar nicht in Be¬
tracht gezogen worden. Die Gräfin war, — nun ſie
[147] war eben die reiche Gräfin von Reckenburg und nahe
dem achtzigſten Jahre. Das Fräulein von Recken¬
burg aber war ein blutarmes Ding, wenig begehrens¬
werth für einen Freiersmann, und verlor es den Va¬
ter, ſchutzlos der Welt gegenüberſtehend. Mancher
mütterliche Sorgenſeufzer mochte in dieſer Ausſicht in¬
nerhalb der vertraulichen Rathskammer laut geworden
ſein. Eine Ausſteuer, ein Legat von dem Ueberfluſſe
der einzigen Verwandtin, die heute zum erſtenmal eine
Art von Antheil bekundete, konnte allen Sorgen und
Seufzern ein Ende machen.
Der Vater antwortete daher zuſtimmend, wenn
auch in der würdigſten Haltung. Gunſt und Vertrauen
wurden erwieſen, mehr als empfangen; nicht die glän¬
zender geſtellte Verwandtin, die zu einem Wunſche be¬
rechtigte Pathin war es, der man Folge leiſtete.
Längeres Bedenken erregte die Art der Beförde¬
rung. Das blutjunge Fräulein konnte nicht allein
und nicht in der gelben Poſtkutſche reiſen; der Vater,
wie er es am ſchicklichſten gefunden haben würde,
nicht die Begleitung übernehmen, da der Termin der
Einladung mit dem einer kurfürſtlichen Revue zuſam¬
menfiel, die Mutter aber kränkelte ſeit einiger Zeit,
und der Arzt hatte ihr das Fahren ſtrengſtens unterſagt.
10*[148]
Die Verlegenheit wurde indeſſen beſtens gelöſt,
da „Muhme Juſtine“ ſich freiwillig als Duenna und
Reiſeſchutz erbot. Denn wenn auch hundert Meilen
zurückzulegen geweſen wären, ſtatt zwölf, und zwanzig
Nachtquartiere zu halten, ſtatt zwei, keinem Menſchen
auf der Welt würde die Mutter ihr Kind ſo zuver¬
ſichtlich übergeben haben, als unſerer Muhme Juſtine.
Muhme Juſtine, Du Treueſte der Treuen, ſo
trittſt Du denn auf dieſer Reiſe zum erſtenmale in
den Rahmen meiner Geſchichte, da Du doch ſchon
beim erſten Schritt der Lebensreiſe gebührentlich hät¬
teſt Erwähnung finden müſſen. Du haſt mich auf
Deinen Händen an das Licht getragen, haſt mich ge¬
ſchaukelt, als die Mutterarme noch zu ſchwach waren
für das „Hünenkind“, und niemals iſt ein Pflegling
mit zärtlicheren Blicken gehütet worden, als die letzte
Reckenburgerin von ihrer Muhme Juſtine.
Sie war, als Wittwe eines Wachtmeiſters, in
den elterlichen Dienſt getreten und hatte ihn, lediglich
mit Aushülfe des Soldatenburſchen, verwaltet, auch da
die Pflege der Neugeborenen ſie zum Range einer
Muhme erhob. Alle Pflichten und Künſte dieſer ehr¬
würdigen Zunft hatte ſie geübt und keine ihrer be¬
freienden Befugniſſe beanſprucht. Erſt als ihr „Din¬
[149] chen“ der Zucht einer Kinderfrau entwachſen war,
vertauſchte ſie ihr laſtvolles Amt mit dem wenigſtens
einträglicheren einer Wickelmutter, ohne aber auch
dann ſich aus dem Geſichtskreiſe ihres Pflegekindes zu
entfernen, denn ſie theilte mit der neuen Magd das
Kämmerchen zwiſchen den Gemächern des Hofmeiſters
und Ehren-Purzels.
Sie hatte kein eigenes Kind gehabt und ſtand
ganz allein in der weiten Welt; ſo wurde die kleine
Hardine ihr Ein und All, und Gott verzeih's der
großen Hardine, wenn die Liebe, die ſie nicht in
gleichem Maße erwidern konnte, ſie ſpäterhin manch¬
mal wie eine Laſt bedrückte. Die kleine Hardine war
ihr Augapfel, ihr Lebenszweck, ihre Hoffnung, ihr
Stolz. Sie ſah ſie prophetiſch unter den Großen
der Erde, ſie dereinſt als Englein mit dem goldenen
Flügelpaar vor Gottes Thron. Der übrigen Menſch¬
heit mag ſie wohl dann und wann ein wenig biſſig und
neidiſch und haberiſch vorgekommen ſein; aber biſſig und
neidiſch und haberiſch nur für die Rechte und Vor¬
rechte ihres Fräulein Hardine; für ihr Fräulein Har¬
dine ſann ſie und ſpann ſie, ſparte und darbte ſie; Fräu¬
lein Hardine iſt die Erbin der paar hundert Thaler
geworden, die ſie kreuzerweis zuſammengeſcharrt hatte.
[150]
Muhme Juſtine war bibelfeſt; aber die göttlichen
Verheißungen genügten ihr nicht, wo es das Erden¬
loos ihres Herzblatts galt. Die geheimnißvollſten
Wahrnehmungen mußten für ſie ausgedeutet, dunkle
Orakel befragt werden, und das Schlußbild ſämmt¬
licher Geſichte zeigte immer nur Glück und wieder
Glück. Schon der Tauftag, der dritte des Lebens,
war ſegenverheißend geweſen: Täuflingin hatte, wäh¬
rend ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig
genieſt: item, ſie war ein Weltwunder von Geiſt und
Gaben; ſie hatte unter dem Träufeln des Taufwaſſers
unbändig geſtrampelt und gebrüllt: item, ihrer harr¬
ten der Erde Schätze und Güter. Seit dieſer Weihe¬
ſtunde ſtand für Muhme Juſtine die gräfliche Erb¬
ſchaft feſt wie ein Evangelium und es verging ſelten
ein Tag, daß ſie für ihr Goldkind nicht irgend etwas
Herrliches in ihren Träumen oder Karten ausgeſpäht
hatte. Ein Glücksbrief war angekündigt, wochenlang
bevor die Einladung der Gräfin die Inſaſſen der Ba¬
derei ſo hoch überraſchte.
Nur in einem einzigen Punkte wollten die ge¬
heimnißvollen Orakel ſeltſamer Weiſe niemals mit
den Herzenswünſchen meiner alten Muhme ſtimmen.
So oft die hochwichtige Frage nach „dem Zukünftigen“
[151] erhoben ward, zeigte die Seherin ſich kopfhängeriſch
und kleinlaut, an ihr Fräulein aber erging die deu¬
tungsſchwere Mahnung: „ſich vor Schindern und
Schabern in Acht zu nehmen.“ Auf einen Obſieg
des Herzkönigs ſchien die Muhme nach manchen leid¬
vollen Proben verzichtet zu haben; aber ſelber die viel¬
verheißendſte Conſtellation des Grünkönigs wurde im
letzten Augenblicke jederzeit von einem ausverſchämten
Schellenunter gekreuzt.
Wer war nun aber dieſer unvermeidliche Schellenun¬
ter, der die Nachtruhe meiner alten Muhme ſo grau¬
ſam ſtörte? Eine Zeitlang hatte ſie ein gar böſes
Auge auf den wortkargen, hochfahrenden Wirthsſohn
gerichtet; ſeit deſſen plötzlicher Entfernung aber, und
dem veränderten Glückszuſtande ſeiner Braut waren
die Gedanken in eine andere Bahn gedrängt worden.
Der verhängnißvolle Schellenunter brauchte nicht noth¬
wendig eine Mannsperſon zu ſein; ja weit natürlicher
war es ein Frauenzimmer, und dieſes Frauenzimmer
kein anderes, als — unſere neue Wirthin, Dorothee.
Muhme Juſtine war zwar keine leibliche, aber
doch eine Namensbaſe der kleinen Dorl. Beide
nannten ſich Müllerin; da aber Muhme Juſtine ein
Gemüth hegte, ſtolzer noch als das der Reckenburgs,
[152] hatte ſie die Bevorzugung der kleinen Plebejerin von
Haus aus mit unholden Blicken angeſehen. „Gab
es denn kein adliges Kind, Dinchen, zur Geſellſchaft?“
brummte ſie Anfangs, und ſpäterhin: „Mußte es
denn Eine ſein von einer beſſeren Couleur, wenn auch
lange nicht ſo nobel und durabel, wie Fräulein Har¬
dine?“ Die Schenkung und der blinkende Verlobungs¬
ring konnten natürlich keine humane Auffaſſung be¬
wirken; ſeit ſich aber gar der bedrohliche Schellen¬
unter unter dem Lärvchen der Schenkentrine enthüllte,
hätte, — abgeſehen von den geſteigerten Erbſchafts¬
ausſichten in Reckenburg, — der Muhme gar nichts
Erwünſchteres, als meine zeitweiſe Entfernung von
Hauſe widerfahren können.
Kaum hörte ſie daher von den elterlichen Reiſe¬
ſorgen, ſo erklärte ſie, daß ſie ſich die Begleitung nicht
nehmen und ihrem Fräulein kein Härchen auf dem
Wege krümmen laſſen werde. Man traf ſeine Abrede
und unter allerlei Zurüſtung gingen die Wochen im
Fluge dahin.
An Dorotheens Geburtstag, dem 29. Septem¬
ber, langte die erſte Sendung des fernen Bräutigams
an: Brief und Schächtelchen. Sie öffnete das letz¬
tere haſtig und jubelte hellauf beim Anblick der koſt¬
[153] baren Granatgehänge, die ihr als Angebinde verehrt
wurden.
„Und was ſchreibt er?“ fragte ich, nachdem ſie
vor dem Spiegel den großen Schmuck den kleinen
Ohren eingehenkelt hatte. Sie überflog den Brief
und reichte ihn mir mit den Worten: „Es ſteht nicht
viel darin.“
Und es ſtand allerdings nicht viel darin. Her¬
kömmliche Glückwünſche und eine ziemlich altmodiſche
Redensart von ewiger Liebe und Treue und ſo wei¬
ter. Sie ſchien dem Schreiber nicht eben flott vom
Herzen gekommen zu ſein. Eine Nachſchrift brachte
die Notiz, daß er allſobald von Berlin zur königlichen
Armee nach Schleſien dirigirt und dort, nach Wunſch,
dem Regiment Weimar zugetheilt worden ſei. Da die
hohen Potentaten ſeitdem Verſöhnung geſchloſſen, ſei
die kriegeriſche Ausſicht zunächſt verſchoben, Schreiber
aber habe in dem chirurgiſchen Inſtitute zu Breslau
förderliche Beſchäftigung gefunden, eine Gunſt, welche
er nicht allein der gnädigen Verwendung ſeines durch¬
lauchtigen Chefs zu verdanken habe, ſondern mehr
noch der eines erhabenen Geiſtesfürſten, bei welchem
eine Empfehlung von Jena ihn eingeführt, und mit
dem er eine über alle Maßen intereſſante Unterre¬
[154] dung über die in das chirurgiſche Gebiet einſchlägig¬
ſten Lehren gepflogen.
(Notabene: Jungfer Grundtext, welche die Stamm¬
tafel der ſächſiſchen Fürſten am Schnürchen herzuſa¬
gen wußte, von einem „Geiſtesfürſten“ aber noch nie
eine Sylbe gehört hatte, zerbrach ſich vergeblich den
Kopf über Natur und Namen des Erwähnten.)
Nach in Bälde bevorſtehendem Rückmarſch hoffe
er, wieder durch Verwendung jenes außerordentlichen
Herrn, einen längeren Urlaub zu erhalten, und den¬
ſelben in der Univerſitätsſtadt Göttingen, als in der
Nähe ſeines im Harz garniſonirenden Regiments, zu
verbringen. Bis das Zeitweſen ſich unvermeidlich
wieder kriegeriſch geſtaltet haben werde, erfreue Schrei¬
ber ſich ſonach der förderſamſten Thätigkeit.
„Haſt Du Herrn Faber geantwortet?“ fragte ich
am Tage vor meiner Abreiſe Dorothee, die erröthend
das Köpfchen ſchüttelte.
„So thu' es heute noch,“ mahnte ich.
„Wenn ich nur wüßte, was!“ ſagte ſie kläglich,
ſetzte ſich aber gehorſam nieder und begann ziemlich
flink mit dem Dank für die wunderſchönen Ohrge¬
hänge. Nun jedoch ſtockte der Fluß. Sie kaute an
der Feder, ſeufzte und rieb ſich die Stirn, auf wel¬
[155] cher die hellen Angſttropfen perlten. „Helfen Sie
mir ein Bischen, Fräulein Hardine,“ bettelte ſie
endlich.
Das that ich nun freilich nicht. Im Gegentheil,
ich entfernte mich, hoffend, daß es in der Einſamkeit
beſſer gelingen werde. Aber der Nachmittag verlief
über dem ſauren Werk, und am Abend erſt wurde
das Blatt zur Durchſicht in meine Hand gelegt.
„Fräulein Hardine ſagt dies, Fräulein Hardine thut
das,“ ſo lautete es Satz für Satz. Aus dem eigenen
Herzen und Leben kein Wort. Der wunderlichſte erſte
Liebesbrief einer Braut! Indeſſen die Kleine dankte
Gott, daß er fertig war, ſiegelte raſch mit einem
Sechſer und trug das Schriftſtück gleich noch nach
der Poſt.
Der Abſchiedsmorgen brach an. Eine Reiſe, und
wäre es nur auf zwölf Meilen, eine erſte Reiſe zu¬
mal, galt uns Kleinſtädtern anno Neunzig noch für
einen halben Tod. Man ſchien ſich ſo unerreichbar,
wenn man ſich nicht mehr mit Händen greifen konnte,
man mochte geſtorben und verdorben ſein, ehe nur
ein Hülferuf zu dem Verlaſſenen gedrungen war.
Wir ſaßen bei Kerzenlicht um den Frühſtücks¬
tiſch; Keiner berührte einen Biſſen, Keiner redete ein
[156] Wort. Mama und ich, wir ſchluckten unſere Thrä¬
nen tapfer hinunter, der ehrliche Vater aber ließ ſie
frei laufen und die kleine Dorl ſchluchzte laut. Der
Tag begann zu dämmern, die einſpännige Chaiſe fuhr
vor; der eiſenbeſchlagene Seehundskoffer wurde auf¬
gebunden, Kiſten und Kober mit Mundvorräthen ge¬
füllt, thürmten ſich, als ging' es rund um die Welt.
Vor den Thüren lugten die Nachbarn in Pantoffeln
und Nachtmützen; Mägde, die Waſſerbütten auf dem
Rücken oder den Semmelkorb am Arm, Kinder, die
den Betten im Schlafkittelchen entſprungen waren,
drängten ſich vor unſerem Thor. Alle wollten Ritt¬
meiſters Fräulein, das zu einer uralten, ſteinreichen
Erbtante auf die Reiſe ging, in die Kutſche ſteigen
ſehen.
Endlich erſchien auch Muhme Juſtine mit aller
Würde einer Duenna, in blendendweißer Flügelhaube
und der Feſtſchürze von grasgrünem Taft. Schon
ſaß ich im Wagen und hatte ſie den Fuß auf den
Tritt geſetzt, als die Betglocke anſchlug. An keinem
Morgen, Mittag oder Abend hörte die Muhme die
feierlichen drei Schläge, ohne zu einem Vaterunſer
auf die Kniee zu ſinken. Nur auf der Straße be¬
gnügte ſie ſich dreimal mit der Verbeugung, mit wel¬
[157] cher wir im Gotteshauſe dem Namen unſeres Herrn
und Heilands Verehrung zollten. An dem heutigen
wichtigen Tage aber beugte Muhme Juſtine auf off¬
nem Markte ihre alten Kniee. Der Vater nahm die
weiße Zipfelmütze vom Haupte und aus dem Munde
die Thonpfeife, der er bis dahin krampfhafte Wolken
entlockt hatte; die Mutter, Dorothee und ich falteten
die Hände zu einem ſtummen Gebet. „Unſern Aus¬
gang ſegne Gott, unſern Eingang gleichermaßen!“
rief die Muhme laut, indem ſie ſich von den Knieen
erhob. Sie kletterte in die Chaiſe und ſetzte ſich ge¬
ziementlich auf den Rückſitz, ihrem Fräulein gegen¬
über. Der Vater ſchloß den Schlag. Noch ein „Glück¬
auf!“ und dahin rumpelten wir auf dem holprigen
Pflaſter in eine neue, unberechenbare Welt.
Dank der reſoluten Reiſemarſchallin ging die drei¬
tägige Fahrt ohne Hinderniß von Statten. Auf der
letzten Station harrte verabredetermaßen, das „Spuke¬
ding“ von Reckenburgs goldener Kutſche, mit dem un¬
ſterblichen Schimmelzug und der gleicherweiſe unſterb¬
lichen Lakaienſchaft.
Ihr habt, meine Freunde, mich vor Jahren
noch in dem ſchweren broncirten Glaskaſten dann und
wann einen Ausflug machen ſehen. Ich that es,
[158] wie ich manches vererbte Unbequeme that und erhielt
— aus Bequemlichkeit. Es war einmal da, es ge¬
nügte mir. Ich that es aber auch mit der Abſicht,
das böſe Ding allmälig ſeines geſpenſtiſchen Nimbus
zu entkleiden. In dieſem alten Gehäuſe hatte die Gräfin
ihren Einzug in Reckenburg gehalten, war in der er¬
ſten Zeit ihrer Herrſchaft hinter von Außen her ver¬
hüllenden Gardinen bei ihren Flurbeſichtigungen ver¬
muthet worden. In ihm folgte ich, als einzige Leid¬
tragende, ihrem Leichenzuge. Daß die Schimmel und
Heiducken von 1750 und 1806 nicht die nämlichen
waren, ſondern nur von möglichſt ähnlichem Caliber
und nur mit dem ſilberbeſchlagenen Geſchirr und der
ſilberſtrotzenden Livrée ihrer ſehr ſterblichen Vorgän¬
ger behängt, brauche ich Euch nicht zu verſichern.
Und wie mit der Unſterblichkeit der Schimmel
und Heiducken, wie mit der alten ſchwarzen Recken¬
burgerin ſelbſt, wird es auch mit allen ihren übrigen
Seltſamkeiten eine natürliche Bewandtniß haben. Der
Menſch, welcher ſich aus Neigung oder Fügung dem
Tagestreiben entzieht, verfällt eben dem Vergeſſen oder
dem Märchenſinn ſeiner Lebensgenoſſen.
Nun ja, ſie hat in faſt einem halben Jahrhun¬
dert ihre unzugängliche, dämmrige Klauſe nicht ver¬
[159] laſſen; aber das geſchah, weil das Sonnenlicht ihre
Augen blendete und weil ein ſchlecht geheilter Knochen¬
bruch ihr jede Bewegung empfindlich machte. Ja, ſie
hat die Nächte ohne Schlummer in ihrem Stuhle auf¬
recht geſeſſen, aber nur, weil aſthmatiſche Beſchwerden
ihr erſt am Morgen ein paar Ruheſtunden gönnten.
Ja, ſie hat ſich lange Jahre faſt ausſchließlich von
Grützbrei und Eicheltrank genährt, aber nur, weil der
Magen keine kräftigere Koſt mehr duldete. Nicht un¬
erklärlicher Weiſe trotz ihrer Diät, ſondern erklär¬
licher Weiſe wegen ihrer Diät hat ſie ſich das Da¬
ſein über das gewöhnliche Menſchenmaaß hinaus ge¬
friſtet. Je einfacher wir, freiwillig oder gezwungen,
unſere Funktionen beſchränken, um ſo zäher wird ja
das Leben. Menſchen mit mangelnden Sinnen dauern
gemeinhin länger als die mit allen Sinnen. Geizige,
das heißt Menſchen mit verknöchertem Herzen, werden
faſt immer uralt.
Und ſo möge denn auch zugeſtanden ſein, daß die
ſeltſame Gründerin und Erhalterin der Reckenburg als
ſolch eine verknöcherte Geizige in die Grube gefahren
iſt. Wie ſie aber von einem reichen Eingange zu ſol¬
chem armſeligen Ausgang gelangen konnte, das erkläre
Euch ein Blick über ihren Lebenslauf, der ſich auch
[160] vor meinen Augen erſt nach ihrem Tode aus einer
vorgefundenen Correſpondenz im Zuſammenhange ent¬
hüllt hat.
Eberhardine von Reckenburg hatte von ihrem
Vater nichts als die Trümmer ſeiner Stammburg in
einem ſumpfigen, verrufenen Waldwinkel überkommen.
Mütterlicherſeits aber war ſie eine Erbtochter. In
der Wiege verwaiſt, verdreifachte ſich ihr Vermögen
unter einer gewiſſenhaften Vormundſchaft, da die Kur¬
fürſtin, ihre Pathin, ſie innerhalb ihrer eigenen Hof¬
haltung erziehen und ſpäter als Hoffräulein in ihren
Dienſt treten ließ. Bei ihrer Mündigkeitserklärung
ſah ſie ſich in einem Beſitzſtand, der ihrer Zeit ein
fürſtlicher genannt ward.
Klug und ehrgeizig von Natur, beſaß ſie den
Sinn, dieſen Werth nach ſeinem Abſtande von dem
großentheils verarmten Höflingsadel zu ermeſſen. Sie
galt für ſchön, und ſie galt ſich ſelbſt dafür; aber ſie
ſah manche ihres Gleichen ſich und Anderen mit noch
größerem Rechte dafür gelten, und nach einem Carne¬
val oder zweien, verdrängt, vergeſſen von der Bühne
verſchwinden, ſobald nicht eine andere Macht der
Schönheit eine dauernde Unterlage gab. Daß von
der Tugend als ſolcher Unterlage zu Auguſt des Star¬
[161] ken Zeiten keine Rede war, braucht nicht erörtert zu
werden, aber auch der Adel gewährte ſie nicht, denn
die reinſte Ahnenprobe führte eine abgeblühte Schöne
beſtenfalls in ein Fräuleinſtift. Nur eine Goldtonne
war ein zuverläſſiges Piedeſtal. Zwiſchen Feſt und
Spiel, inmitten der gewiſſenloſen Wirthſchaft eines
Brühl und ſeiner tollen Nacheiferer, gab es am Hofe
von Sachſen ein junges Mädchen, das mit heimlichem
Hohn die Schnüre ſeines Beutels feſt in den Händen
hielt und mit der nüchternen Berechnung eines Man¬
nes ſeinen Schatz zu mehren verſtand. Mochten die
Kartenhäuſer um ſie her zuſammenſtürzen, ſie ſtand
ſicher, ſie durfte ſteigen.
Tag für Tag meldete ſich ein Bewerber um die
Hand der reichſten Partie des Landes. Keiner ge¬
nügte ihrem hochſtrebenden Sinn. Sie war dreißig
Jahre alt geworden und wählte noch immer. „Der
Rechte wird kommen!“ ſagte ſie ſich, wenn ſie ihr
Contobuch zugeklappt und ein beredtes Schönpfläſter¬
chen auf die geſchminkte Wange geheftet hatte, um
ihrer Herrin — jetzt der Nachfolgerin der Brandenburg¬
ſchen Eberhardine — zu einem Feſte des unerſchöpf¬
lich erfinderiſchen, allgewaltigen Miniſters zu folgen.
Und der Rechte kam noch zur rechten Zeit, bevor
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 11[162] die letzte Jugendblüthe gewelkt war. Was wißt Ihr,
meine Freunde, unter den ungezählten, länderloſen
Fürſtenſöhnen des heiligen römiſchen Reichs deutſcher
Nation von einem Prinzen Chriſtian? Und was
braucht Ihr von ihm zu wiſſen, als daß er ein
ſchöner Mann und nach den Begriffen ſeiner Zeit und
Zone ein Genie geweſen iſt — ein Genie, das heißt
ein durchlauchtiger Libertin nach dem Schlage des
Maréchal de Saxe — nur daß er ſich auf kein
Fontenoy und Rocour zu berufen hatte — daß er
an den verwandten Hof von Sachſen zurückkehrte, ſei
es, um nach allerlei abenteuernden Fahrten ſich eine
Ruhepauſe zu gönnen, ſei's, um nach erſchöpftem
Erbtheil ſich neue Quellen aufzuſchließen. Die fürſt¬
liche Sippe war der wiederholten Schröpfungen über¬
drüſſig; das Suchen nach einer ebenbürtigen Erbin
erwies ſich als verlorene Mühe. Brühl glaubte da¬
her einen Meiſterzug zu thun, indem er die Blicke
des unbequemen Schützlings auf das immerhin noch
anſehnliche und im Ehrenpunkte untadelige Frei- und
Hoffräulein von Reckenburg als eine der beſten Par¬
tien in deutſchen Landen lenkte.
Ob das vorſichtige Fräulein dem verführeriſchen
Coqueluche der Damenwelt widerſtanden haben würde,
[163] wenn er einfach ihres Gleichen geweſen wäre, ſei da¬
hingeſtellt. Aber er war ein Prinz, berechtigt, um eine
Kaiſertochter zu werben, und dieſem Zauber wider¬
ſtand ſie nicht. Ihr Kinder eines anderen Jahrhun¬
derts habt keinen Maßſtab für eine Anſchauung, welche
auch den letzten Anhängſel eines Thrones hoch über
alle menſchlichen Ordnungen erhob und den Geſalbten des
Herrn der Pflicht ſelber gegen die ewigen Geſetzes¬
tafeln entband; für eine Anſchauung, welche den ver¬
irrten Tropfen königlichen Blutes höheren Adels ach¬
tete, als den, welcher in den Kreuzzügen erobert wor¬
den war. Nach einer Ertödtung ohne Gleichen wäh¬
rend der verheerenden dreißig Jahre hatte die Zeit
über unſerem Vaterlande gleichſam ſtill geſtanden und
das Säculum der äußerſten Verdumpfung des Bürger¬
thums, des tiefſten Verfalls der Ritterſchaft war noch
nicht abgelaufen. Erſt des preußiſchen Friedrich Schwert
und Scepter hat die Uhr für eine neue Zeitrechnung
aufgezogen.
Der Prinz von Geblüt hatte dem reichen und
ahnenreichen Fräulein kein ebenbürtiges Bündniß an¬
zubieten; ſie durfte nicht ſeinen Namen führen; ihre
Kinder — hätte er etwas zu ſuccediren gehabt —
würden nicht ſucceſſionsfähig geweſen ſein. Aber die
11*[164] Stellung einer fürſtlichen Gemahlin auch nur zur lin¬
ken Hand bot der zur „Reichsgräfin von Reckenburg“
Erhobenen noch immer den erſten Rang nach den reichs¬
unmittelbaren Geſchlechtern; der Ehrgeiz ſah kein er¬
reichbar höheres Ziel und ſo wurde die urſprünglichſte
Leidenſchaft zu einem magnetiſchen Strom, der eine
unſtillbare Gluth in dem lange kalten Herzen entzün¬
dete. Die Hände, welche ein fürſtlicher Gemahl mit
galanter Inbrunſt küßte, wie hätten ſie fortan die
Schnüre des Seckels ängſtlich zuſammenhalten mögen?
Hoffart, die Herrin, hatte ihr Ziel erreicht; Klug¬
heit, die Magd, wurde des Dienſtes entlaſſen.
Bald war die Haushaltung in der Hauptſtadt
mit rangentſprechendem Glanze eingerichtet. Das
junge Paar zählte zu dem Anhange der regierenden
Kurfürſtin-Königin und mit ihr zu den Feinden des
allgewaltigen Favoriten. Am Haſſe entzündete ſich
die Rivalität, und es war vielleicht der einzige Wer¬
muth in Eberhardinens Honigzeit, daß ſie ihren an¬
gebeteten Prinzen es nicht einem Emporkömmling gleich
thun laſſen konnte, der ſich Hunderte von Lakaien und
eine eigene Leibgarde hielt, der, wie Friedrich der Große
ſagt, in Europa die meiſten Pretioſen, Spitzen, Pantoffeln
u. ſ. w. beſaß, und mit den Narretheidingen eines ver¬
[165] ſchmitzten Sclaven die träge Sultanslaune ſeines ſoge¬
nannten Herrn bis an den Rand des Abgrunds gängelte.
War nun der Abſtich ſchon empfindlich während
der reſidenzlichen Winterzeit, um wie viel mehr, wenn
der Sommer kam mit ſeinen ländlichen Feſten, der
Herbſt mit der einzigen königlichen Paſſion, der Jagd.
Da verging wohl kein Jahr, daß nicht der ſchöpferiſche
Miniſter in einem eigenen neuen, aus dem Boden ge¬
ſtampften Prachtbau ſeinem Herrn ein Feenſpiel oder
eine Sauhetze bereitet hätte. Der Parvenü zählte
ſeine Luſtſchlöſſer und Jagdgebiete nach Dutzenden;
der Prinz von Geblüt erfreute ſich keiner Handbreit
eigenen Landes und auch das Vermögen ſeiner Ge¬
mahlin war nicht in Grundbeſitz angelegt.
In dieſer Verlegenheit gedachte man der alten,
verwüſteten Reckenburg und da romantiſche Natur¬
ſchönheit ſo wenig wie fruchtbringende Bodencultur in
der Berechnung lag, fand man die erwünſchteſte Ge¬
legenheit: in der Nähe eines ſchiffbaren Stromes ein
Waldrevier mit einem Wildbeſtand, deſſen die ver¬
zweifelnden Bauern trotz gewaltſamſter Selbſthülfe auf
ihren kargen Feldſtücken ſich nicht erwehren konnten.
Man feierte a priori im Geiſte die Gondelfahrten,
Hetz- und Treibjagden, die auf dieſem älteſten Recken¬
[166] burgiſchen Grunde arrangirt werden ſollten, ſobald an
Stelle der eingeäſcherten Burgtrümmer ein Neubau,
ſtolzer als alle Schöpfungen Brühls, ſich erhoben ha¬
ben würde.
Allerdings erforderte dieſer Neubau Jahre; Jahre,
deren ſommerliche Hälfte in Ermangelung einer ſtan¬
desmäßigen Reſidenz auf Reiſen verbracht werden
mußte. Welche Verlockung nun aber, ſich in den
kunſtfertigſten Ländern Europas mit den Erzeugniſſen
des Luxus und der Mode für die heimathliche Ein¬
richtung zu verſehen!
Endlich ſtand der heißerſehnte Palaſt aufgerichtet;
das letzte Marmorſims, das letzte Getäfel waren ein¬
gefügt; Stuckatur und Schnitzwerk, Gobelin und Bro¬
cat, vor allem das gräflich gekrönte fürſtlich-freiherrliche
Allianzwappen nicht geſpart. Der junge Heckenwuchs
des Luſtgartens ſproßte; Faunen und Amoretten ſpru¬
delten einen Willkommenſtrahl; Keller und Speicher
waren zum Uebermaaß gefüllt; eine Reihe von Feſten
ſollte den Einzug des hohen Paares verherrlichen.
Da, in der letzten Stunde, enthüllte ſich der Ab¬
grund, in welchem mit der Fülle des Seckels die Treue
des Geliebten verſunken war. Ein Zufall lüftete den
Schleier. Ob aber in Wahrheit der Taumel der Luſt
[167] die ſcharfblickende Frau ſo lange verblendet hatte? Ob
ſie nicht freiwillig die Augen geſchloſſen, ſo lange ein
Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich
glaube das letztere. Sie würde mit dieſem Manne,
ſie würde für ihn gedarbt, ja ſie würde ſeine Untreue
geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen
geweſen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen
die alternde Schöne den verwöhnten Lüſtling gefeſſelt
hatte, ſie ſah ſie geſchmolzen. Kein Jahr mehr dieſes
ſchrankenloſe Treiben und ſie war eine verlaſſene
Bettlerin. So willigte ſie denn in eine Scheidung
als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz,
ſondern einfach ihre Exiſtenzmittel zu retten. Der
flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬
ſtattete, ſeine Wünſchelruthe nach einem neuen Glücks¬
born auszuwerfen.
Während er nun in Italien und Rußland, den
beiden Pflegeſtätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer
jener Zeit, das unſtäte Treiben ſeiner Jugendjahre
erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, geſtaltete
die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um ſo ſtätiger.
Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr
ſchön und, nach ihrem Maaßſtabe, arm. Was Wun¬
der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß ſie ihr verhaßt
[168] geworden war. So bezog ſie denn das Erbe ihrer
Väter mit dem Entſchluſſe, den alten Grund zu einer
Fundgrube für die erſchöpfte Schatzkammer umzuarbeiten.
Nach Außen hin mußte der überkommene Rang
behauptet, der gewohnte Glanz gehütet, die gehaßte
Welt, und mehr als ſie der noch immer geliebte Freund
über den wirklichen Mangel getäuſcht werden. Er ſollte
fühlen, welche Befriedigungen er ſo leichtfertig auf¬
gegeben hatte. Daher die Marotte, die ſie in den
Augen der Welt von einem ſoliden Harpagon unter¬
ſchied, allen und jeden Beſitz, den ſie beim Einzug in
ihren Neubau vorgefunden hatte, zu erhalten und beim
Verbrauch zu ergänzen, auch wenn er ihrem perſön¬
lichen Leben überflüſſig geworden war, und ſtatt Zinſen
zu tragen Opfer forderte. Kein Menſchenauge, am
wenigſten das der Gräfin, erfreute ſich des weitläufigen
Ziergartens rings um das Schloß, aber Hecken und
Pyramiden wurden regelrecht verſchnitten, Pfade und
Schnörkelbeete ſäuberlich gepflegt, Statuen und Or¬
namente von ihren Beſchädigungen durch Wetter und
Zeit geheilt. Man feierte keine Feſtgelage, empfing
keinen Gaſtfreund auf Reckenburg, aber die Fülle des
Tafelgeräths, alle der zweckloſen Koſtbarkeiten, die
veräußert, in jener klammen Zeit ein nicht gering zu
[169] ſchätzendes, zinstragendes Kapital abgeworfen haben
würden, ſie blieben, nur durch periodiſches Reinigen
vor Roſt und Staub geſchützt, unverrückt an ihrer
Stelle. Ja ſelbſt die maſſenhaften Vorräthe in Speicher
und Keller wurden ſchleunigſt ergänzt, ſobald ein Bruch¬
theil davon in Gebrauch genommen worden, gleichviel
ob der Reſt verhärtete, vergilbte, bei der genauſten
Aufſicht nicht vor Wurm und Moder zu ſchützen war.
Daher ſchreibt ſich die Unſterblichkeit des nie mehr
benutzten Schimmelzugs; die der prunkvollen Lakaien¬
ſchaft. Die Rache der ſeltſamen Erhaltungskünſtlerin
hieß reich werden und reich ſcheinen, bis ſie es ge¬
worden. Der angeborene kluge Sinn des Sammelns
und Vermehrens, durch eine übermächtige Leidenſchaft
zeitweiſe verdrängt, trat wieder in ſeine Rechte.
Es war die Arbeit eines Coloniſten im Hinter¬
walde, welche ein einſames, in der Atmoſphäre eines
üppigen Hofes gealtertes Weib unternahm. Niemand
ahnte wie erſchöpft ihre Mittel und wie geboten von
Anfang ihre perſönlichen Einſchränkungen waren. Nie¬
mand hat daher auch in vollem Umfange die Klugheit,
Kraft und Ausdauer gewürdigt, mit welcher ſie ihr
Werk in's Leben ſetzte.
Man freut ſich heute der Cultur einer Gegend,
[170] die vor hundert Jahren ein bruchiger Waldwinkel
war, und mit Scham höre ich mich häufig als deren
Schöpferin gerühmt. Aber ich bin nur auf die Schul¬
tern meiner Vorarbeiterin getreten; die Grundlegung,
die unſägliche Schwierigkeit der Urbarmachung iſt ihr
Verdienſt. Sie hat die Sümpfe ausgetrocknet und die
Kanäle gegraben, Forſten regulirt, bequeme Trans¬
portwege, umfängliche Wirthſchaftsbauten angelegt, auf
verſchlemmten Aeckern neue Culturen eröffnet, ſie hat
den umfänglichen Deichverband hergeſtellt, durch welchen
unſere Flur gegen die häufigen Uebertretungen des
Stromes geſchützt wird. Sie hatte die Müh', ich
Lohn und Dank, weil ſie mich ſicher genug geſtellt
hatte, um über das eigne Gebiet hinaus zu refor¬
miren: Sie erntete Spott und Grauen, ich den Se¬
gen, welcher von der Einzelnarbeit auf die Geſammt¬
heit, von der Geſammtarbeit auf den Einzelnen zurück
wirkt, jenen erſten Segen alles Schaffens, groß oder
gering, der auch mir, dem einſamen Weibe, zu einem
erfüllten Daſein verholfen hat.
Kaum hatte die unerſchrockene Pionierin ſich aus
dem Gröbſten herausgewunden, kaum trieben ihre
Saaten die erſte Frucht, als der Krieg ausbrach, welcher
auf wenige Gegenden unſeres Vaterlandes härter ge¬
[171] drückt hat als auf dieſe. Was ich den einzigen Sommer
von 1813 hindurch, das erduldete dieſe Frau ſieben
Jahre. Wo ich, aus dem Vollen ſchöpfen durfte,
ſah ſie den beſten Theil ihrer Anlagen zerſtört und
in einem Alter, wo Andere ſich zur Ruhe neigen, fing
ſie unverdroſſen ihr Werk von Neuem an.
Und welchen Muth, welche Entſchloſſenheit hat
die alleinſtehende Matrone gegenüber der Ungebühr
der Armeen von Freund und Feind an den Tag ge¬
legt; wie beherzt hat ſie ſich der Schaaren der Ma¬
rodeure und des einheimiſchen Raubgeſindels, das noch
lange nach dem Friedensſchluſſe ſich in unſeren Wäl¬
dern eingeniſtet hatte, zu erwehren gewußt. Es iſt
buchſtäblich wahr, daß die ſchwarze Reckenburgerin,
ein geladenes Piſtol in jeder Hand, ihre beiden rieſigen
Heiducken bewaffnet hinter ſich, die Schwelle ihres
Hauſes gegen dieſen wüſten Zudrang vertheidigte.
Dieſe Heldenthat kann als Keimſaat des abenteuer¬
lichen Spukweſens betrachtet werden, das allmälig über
die wunderliche Gräfin in Schwang gerieth. Die ge¬
ſpenſtiſche Geſtalt wuchs, als die leibhaftige Geſtalt,
da wo ſie bisher wenigſtens gemuthmaßt worden war,
— das heißt während ihrer Flurbeſichtigungen in der
verhüllten, goldenen Kutſche, — plötzlich verſchwand.
[172] Von der Zeit ab ſah ſie unſer Volk im ſpaniſchen
Habit, Tag wie Nacht, die Schätze ihrer Klauſe mit
Drachenaugen hüten und mit feurigen Waffen ver¬
theidigen. Unermeßliche Schätze! Je höher die Ziffer
gegriffen, deſto einleuchtender für das hungernde, lun¬
gernde Geſindel, das nur nach Hellern und Kreuzern
zu rechnen verſtand und niemals einen Heller oder
Kreuzer aus der Hand der zähen Alten beſehen hatte.
Ob die Gräfin von dieſem fabelhaften Nimbus
um ihre Perſon jemals Kunde erhalten hat, weiß ich
nicht. Ohne Zweifel aber würde er ihr, anſtatt wider¬
wärtig, willkommen erſchienen ſein als eine ſicher
ſtellende Schicht gegen eine beſchwerliche, oder bedroh¬
liche Welt. Sie hatte mit richtigem Blick den öſt¬
lichen Erkerbau des Schloſſes zu ihrer Schlaf- und
Schatzkammer auserſehen, weil er, von Außen unzu¬
gänglich, auch von Innen die größtmöglichſte Sicher¬
heit bot. Handwerker, aus weiter Ferne verſchrieben,
hatten in die tiefen Niſchen feuerfeſte Schränke, mit
kunſtvollen Schlöſſern eingefügt. Nur durch eine mas¬
kirte Schrankthür ſtand der „Goldthurm“ mit dem
Zimmer der alten, vertrauten Kammerfrau und durch
dieſes mit dem Corridor in Verbindung, auf welchem
die beiden, abwechſelnd Wache haltenden Heiducken
[173] die Befehlsvermittler zwiſchen Thurm und Wirthſchaft
wurden, während die Gebieterin hinter Schloß und
Riegel ihr Credit und Debit buchte, oder Dokumente
und Baarſchaften in den geheimen Eiſenſchränken barg.
Sie kränkelte; die Arbeitskraft minderte und die Ar¬
beitslaſt mehrte ſich. Bald war kein Fortkommen
mehr von der gewichtigen Stätte; denn, wenn auch
nicht in dem Wundermaaße des Volksglaubens, die
wohldurchdachten Anlagen trugen nach dem Frieden
hundertfältigen Gewinn.
Sie hatte während des Krieges den größten Theil
ihrer Juwelen in England veräußern laſſen, da dieſes
Opfer einſtigen Schimmers bei ihrer Lebensweiſe am
wenigſten in die Augen ſprang. Der Erlös davon,
meine Freunde, das war der Grundſtock ihrer ver¬
meintlichen Wunderſchätze! Ein beſcheidener Spar¬
pfennig, der aber zu einem Heckpfennig wurde, in
einer Zeit, wo der Bodenwerth auf ein Minimum
herabgedrückt war, wo Gemeinden und Einzelne um
einen Spottpreis das Beſitzthum verſchleuderten, für
deſſen Beſtellung Menſchenhände und Saatkörner
mangelten. Binnen eines Jahrzehnts hatte ſich das
Areal der Reckenburg verdoppelt, binnen eines zweiten
vervierfacht. Konnte das Kapital auch nur ratenweiſe
[174] abgetragen werden, ſchon eine regelmäßige Verzinſung
galt in jener geldarmen Zeit als eine vielgeſuchte
Gunſt.
Und wie auch in anderer Weiſe das allgemeine
Elend dem Gedeihen des Einzelnen in die Hand ar¬
beitete, das zeigt unter Anderem die Hungersnoth der
ſiebenziger Jahre, wo der Scheffel Roggen auf zwanzig
Thaler ſtieg. Calculirt, wie da die ſtrotzenden Speicher
der Reckenburg — in Staat und Volk die Wirth¬
ſchaftsmaxime einer ſchwer beweglichen Zeit, — ſich
leeren und die entleerten Geldtruhen ſich ſtrotzend füllen
mußten. Wo Tauben niſten, flattern Tauben zu!
„Die erſten hunderttauſend Thaler koſten Schweiß.
Wem aber die nächſten Neunmalhunderttauſend Schweiß
koſten, iſt ein Tropf!“
Als die Millionairin der Reckenburg in ihrem
letzten Stadium, mit funkelnden Augen mir dieſes Ge¬
ſtändniß ablegte, da war ſie in Wahrheit die ver¬
knöcherte Mumie, deren Herz nur noch in der Wacht
über ihre Schätze ſchlug. Zu der Zeit aber, als ſie
dieſe Schätze mühſam erarbeitete, und ſelber zu der
noch, als ſie mich zuerſt in die Geheimniſſe ihres
Goldthurmes einweihte, da war ſie dieſe herz- und
geiſtloſe Mumie nicht, denn damals ſchaffte, darbte,
[175] ſammelte ſie für einen Zweck; richtiger: ſie ſchaffte,
darbte, ſammelte für eine Perſon.
Und das iſt der Grund, aus welchem ich vor
Euren Augen, meine Freunde, zwiſchen den beiden
letzten Reckenburgerinnen — längſt nicht ſo genau
wie mich verlangt — die Bilanz gezogen habe. Ihr
ſolltet wiſſen, was die Frau that, die Eure Heimath
urbar machte; was die Frau war, welche in keinem
Menſchenherzen, außer dem meinen, eine Spur, und
in der zähen Vorſtellung des Volkes das Bild eines
goldgierigen Dämons hinterlaſſen hat. Ihr ſolltet
dieſe Frau in einem guten Lichte ſehen, und in welchem
beſſeren hätte ich ſie glücklich liebenden Menſchen zeigen
können, als in dem der unwandelbaren Treue gegen
den treuloſen Mann, in jenem heimlichen Feuer, welches
der Sporn ihres Treibens und Wühlens geworden war.
Sie hatte alle früheren Verbindungen harſch ab¬
gebrochen und nur mit einem alten Freunde, der an
dem Hofe von Sachſen eine vertrauliche Stellung ein¬
nahm, eine Correſpondenz unterhalten, um von dem
Schickſale des Unſtäten jederzeit in Kenntniß zu ſein.
Sie wußte daher, daß er ſchwelgte und ſchweifte,
während ſie ſich keine Raſtſtunde gönnte, im Eifer das
wieder aufzurichten, was er zerſtört hatte. Sie wußte,
[176] daß er ein überſchuldeter Aermling geblieben, während
ſie zum zweiten Male die reiche Reckenburgerin ge¬
worden war. Hätte er aber, wenn auch nur als Be¬
gehrender, ſich dem Hauſe genaht, deſſen Anſehen ſie
ſo peinlich bewahrte, ſie würde nach dem Triumph
dieſer Genugthuung, ihn mit Entzücken als Herrn
willkommen geheißen, würde ihm noch einmal die
Schlüſſel ihrer Schatzkammer überantwortet und ihr
Werk von vorn begonnen haben, um ihm, auch nach
ihrem Abſcheiden, eine fürſtliche Herrſchaft zu ſichern.
Viele Jahre lang hatte die Hoffnung ſeiner Heim¬
kehr ſie bei ihrer einſamen Arbeit getragen und ſie
war eine runzlige Matrone geworden, ehe ſich dieſelbe
erfüllte. Endlich wußte ſie ihn im Vaterlande — und
die nächſte Kunde, die ſie über ihn erhielt, war die
ſeiner Vermählung mit einer Ebenbürtigen! An der
Gränze des Alters folgte er, ſo ſchien es, einer Wallung
wahrhaftigen Gefühls, denn die junge Prinzeſſin war
ſo arm wie er ſelbſt.
Die Kraft, welche ſo vielen Gefahren und An¬
ſtrengungen widerſtanden hatte, brach bei dieſem un¬
berechneten Schlage zuſammen. Ihre Kammerfrau
fand ſie bewußtlos am Boden liegend, den verhängni߬
vollen Brief in der Hand. Ein Hüftenbruch, den ſie
[177] ſich bei dieſem Falle zugezogen hatte, machte ſie für
den Reſt des Lebens zum Krüppel.
Dennoch, nach langer qualvoller Niederlage, war
ihr erſter klarer Gedanke wieder an den ungetreuen
Mann. Ja alle ihre Hoffnungen lebten kaum nach
Jahresfriſt wieder auf, bei der faſt gleichzeitigen Kunde
von ſeiner Vaterſchaft und Verwittwung. Nun mußte
er ja kommen, ſeinem mutterloſen Sohne eine Hei¬
math und eine Erbſtätte bei ihr aufzuſuchen.
Es war die letzte Hoffnung, die ihr der Geliebte
täuſchen ſollte. Der nächſte Brief brachte die Botſchaft
ſeines abermaligen Entfliehens; der übernächſte die ſeines
Todes. Unter den Fahnen Katharinens, ſeiner Gönnerin,
war er in dem Krimfeldzug von Einundſiebenzig geblieben.
Die Gräfin legte Trauerkleider an und niemals
wieder ab. Sie war und blieb die Wittwe eines
Fürſten. Sie ſchaffte, darbte und ſammelte vor wie
nach. Von der Flamme, die ihr Leben durchleuchtet
hatte, war noch ein Abglanz zurückgeblieben: ſie ſchaffte,
darbte und ſammelte für ein armes, ungekanntes, für
ein verlaſſenes Menſchenkind.
Was ſagt Ihr jetzt, meine Freunde, zu der ge¬
ſpenſtiſchen Alten auf Reckenburg?
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 12
Viertes Capitel.
Der Erbprinz
Von dieſer langen Liebes- und Leidensgeſchichte
wußte ich natürlich kein Sterbenswort, als ich mich
ſtolz und wohlgemuth in die goldne Caroſſe ſchwang,
um vor das Angeſicht der hohen Repräſentantin meiner
Familie, der Wittwe eines durchlauchtigen Herrn, ge¬
führt zu werden. Vor mir auf hohem Throne ragte
Muhme Juſtinens Flügelhaube neben der Allongen¬
perrücke des uralten Roſſelenkers. Der rieſige
Heiduck klammerte ſich an die ellenlangen Gold¬
quaſten über dem Trittbrett hinter mir und dahin
rollte das ſtolze Gefährt auf der einſamen Straße
von Reckenburg.
Sie führte in gleichmäßiger Ebene durch dichten
Nadelwald, dann und wann das Stromufer berührend.
Ich war in einem Frucht- und Laubholzthale aufge¬
wachſen, zwiſchen deſſen felſigen Abfällen ein kleiner
[179] Fluß ſich anmuthig wand, und die weniger romantiſche
Region, in welcher ich mich ſeit zwei Tagen bewegte,
hatte mich weidlich gelangweilt. Jetzt aber, in der
goldenen Kutſche, heimelte ſie mich an wie die in¬
tereſſanteſte auf dem Erdenrund; der ruhige, breite
Waſſerſpiegel imponirte mir und ich ſchlürfte mit Be¬
hagen den würzigen Tannenduft, den ich bisher durch¬
aus nicht geſpürt hatte. Es war ja Reckenburg'ſcher
Stammgrund, dem das Arom entſtrömte!
Nach einer Stunde etwa näherten wir uns der
Lichtung, die für den neuen Herrenſitz geſchlagen wor¬
den war. Die Hütten des Dorfes blieben zum Glück
vom Walde verhüllt, denn ihre Armſeligkeit würde
mein ſtolzes Wohlgefühl um einige Grade abgekühlt
haben. Es temperirte ſich bereits, als wir, nahe dem
Eingangsgitter, auf eine Gruppe zerlumpter, verküm¬
merter Geſtalten ſtießen, die zu mir gleich einem Meer¬
wunder in die Höhe ſtarrten. Ich hielt ſie für Bettler,
die ich von jeher, als Faullenzer, verachtet und mit
Widerwillen gemieden hatte. Muhme Juſtine belehrte
mich indeſſen anderen Tags, daß es die Bauern und
Fröhner des Dorfes geweſen ſeien, welche das ſeit
einem Menſchenalter nicht mehr geſchaute „Böſe Ding“
der goldnen Kutſche herbeigelockt hatte.
12 *[180]
Der Rieſe ſprang vom Trittbrett, das wappen¬
prangende Thor zu öffnen und allſobald wieder zu
verſchließen. Vor meinen Augen dehnte ſich die breite
Avenue inmitten des ſauber gehegten, reich gefüllten
Gartens. Im Hintergrunde ragte das Schloß, deſſen
röthliche Bekleidung die untergehende Sonne mit einem
Goldſchimmer übergoß. Die weißen Marmorſimſe,
die hohen Spiegelfenſter, die mit Statuen und Vaſen
gezierte Terraſſe, auf deren Rampe wir anhielten,
die Säulen des großen Portals, alles das verfehlte
ſeine Wirkung nicht. Ich begriff während dieſer Auf¬
fahrt die Gleichgültigkeit der Eignerin dieſes fürſtlichen
Beſitzthums gegen ihre beſcheidene Sippe in der Ba¬
derei. Aus welchem Begreifen indeſſen nicht gefolgert
werden ſoll, daß ich etwa gedrückt oder eingeſchüch¬
tert meiner vom Glücke reichlicher geſegneten Ver¬
wandtin entgegenging. Auch ich war eine Recken¬
burg und niemals, denn als geladener Gaſt, würde ich
dieſe ſtolze Schwelle betreten haben.
Von meinem Heiducken geleitet, erſtieg ich die
breite Marmortreppe. Jede Thür, die ich paſſirte,
wurde ſorgfältig, wie hinter einer Gefangenen ver¬
riegelt. Ich trat in den langen Veſtibüle, auf welchen
die Zimmerflucht mündete. Die goldgerahmten Trü¬
[181] meaux zwiſchen den Fenſterniſchen, die mythologiſchen
Reliefs und Fresken an der gegenüberliegenden Wand
— Ihr geht mit einem gnädigen Lächeln an dieſen
Kunſtgebilden vorüber, hochweiſe Zöglinge eines ande¬
ren Geſchmacks, die Einfalt von damals aber, glaubt
nur, daß ſie Augen machte!
Am Ende des Ganges ſtand, Wache haltend, der
Heiduck du jour, meinem bisherigen Begleitsmann
ähnlich wie ein Zwillingsbruder. Schweigend wie
jener — alles ſchwieg, alles war grabesſtill in dem
Zauberpalaſte — öffnete er die letzte Thür. Ich be¬
trat ein Vorzimmer, das den einzigen Eingang zu dem
vielberufenen Thurmbau bildete (der „öſtlichen Ro¬
tonde,“ wie es damals hieß). Zur Rechten des Vor¬
zimmers lag der Speiſeſaal. Dieſe drei Piecen, „das
Apartement Ihrer Hochgräflichen Gnaden,“ waren die
einzigen, welche jemals in dem weitläufigen Frontbau
bewohnt worden waren. Sämmtliche Wirthſchafts¬
räume befanden ſich im weſtlichen Flügel.
Der Leibwächter hatte mit dem goldenen Knopf
ſeines Stockes dreimal laut an die Thurmthür ange¬
klopft und ſich auf ſeinen Poſten zurückgezogen. Ich
war allein und nicht ängſtlich, nur neugierig, was
weiter über mich verfügt werden würde. Ich legte
[182] ab, ſetzte mich in die tiefe Fenſterniſche und ſchaute
über den Garten hinweg in die düſtren Föhrenwipfel,
zwiſchen welchen das Abendroth verglomm. Inmitten
der wunderlichen Baum- und Steinfaxen zu meinen
Füßen ſtiegen und ſchwebten die Octobernebel phan¬
taſtiſch auf und nieder; es war der erſte und ich
glaube auch letzte Märchenſchauer meines Lebens, der
mich im Dämmerlicht dieſes dunkel boiſirten, todten¬
ſtillen Wartezimmers überrieſelte.
Eine halbe Stunde mochte auf dieſe Weiſe ver¬
gangen ſein, ich war des Antichambrirens und der ro¬
mantiſchen Schauer herzlich müde geworden; da hörte
ich das Zurückſchieben eines Riegels, das Dröhnen
eines Krückſtocks, endlich ein pfeifendes Keuchen auf
der Schwelle des Thurmgemachs. Meine hohe Gaſt¬
freundin war eingetreten.
Die Eltern, wenn ſie überhaupt um die land¬
läufigen Vorſtellungen über ihre einzige Verwandtin
Näheres gewußt, hatten mir dieſelben wohlweislich
vorenthalten. Meine Inſtruction lautete einfach:
Einer hochbetagten, daher wunderlichen, möglicherweiſe
ſtolzen und ein wenig ökonomiſchen Würdenträgerin
mit Ehrerbietung zu begegnen.
Da überlief mich denn nun freilich eine Gänſe¬
[183] haut bei dem Anblick, der ſich nach und nach mir
gegenüber als eine Menſchengeſtalt entwickelte. O du
weiſer Prediger der Vergänglichkeit, ja was iſt der
Menſch in ſeiner Herrlichkeit! Eberhardine von Recken¬
burg, einſt an dem ſchönheitskundigſten Hofe von
Deutſchland als Schönheitsgöttin gefeiert und heute
wie ein Sprenkel zuſammengekrümmt, mühſam am
Krückſtocke keuchend, bebend vor innerlichem Froſt wie
ein Laub im Novemberſturm, das kaum noch hand¬
große Geſicht in tauſend kleine Fältchen eingeſchrumpft,
gleich einem vergilbten Pergament aus der Kloſterzeit.
Und dennoch! Alles was jemals unter der an¬
muthsvollen Hülle gelebt hatte, das lebte noch heute
unter der runzligen Haut, und die ſchwarzen Augen
funkelten noch heute ſo muthig, ſcharf und klug, ſo
heimlich paſſionirt, wie ſie in den Tagen des ſtarken
Auguſt gefunkelt haben mögen. Ein einziger Blitz
dieſer durchdringenden Augen und der heimlichſte Win¬
kel, die verborgenſte Falte in des armen Pathen¬
kindes Seele waren blosgelegt, inſofern nämlich Win¬
kel und Falten in beſagter Seele bloszulegen geweſen
wären.
Die kleine, unheimliche Geſtalt war ſchwarz ge¬
kleidet vom Kopf zur Zeh, nach einer Façon, die wir
[184] auf Maskenbällen einen Domino nennen. Ueber
einem ſchleppenden Untergewande hing ein kurzer, fal¬
tiger Mantel, unter dem Kinn mit einer dichten Krauſe
geſchloſſen. Ueber der Wittwenhaube thronte ein
runder Hut mit wallendem Federſchmuck. Ich habe
die Gräfin ſpäterhin, ſelbſt in den vertraulichſten
Situationen niemals ohne ihren „ſpaniſchen“ Hut
und Mantel, wie auch niemals ohne Handſchuhe
geſehen und ihre Mode praktiſch gefunden. Sie war
warm und bequem und verlieh ihr in ihren eigenen
Augen eine Würde, die Schlafrock und Kapuze zer¬
ſtört haben würde. Beim erſten Eindruck aber, im
Dämmerlicht des geiſterſtillen Palaſtes, wird man mir
ein gelindes Gruſeln nicht übel nehmen.
Indeſſen war ich nicht dauernd auf apprehenſive
Stimmungen angelegt; bevor die Gräfin ſich in ihrem
Lehnſtuhle verſchnauft, hatte ich meine natürliche Faſ¬
ſung wiedergewonnen. Ich ſchritt herzhaft auf ſie zu
und Handkuß wie Reverenz gelangen in dem correc¬
ten Style, der einer Reckenburgerin, fürſtlichem An¬
ſehen gegenüber, als Vorſchrift galt.
Die Gräfin hatte nach einſamer und etwas hart¬
höriger Leute Art, die Gewohnheit angenommen, Ein¬
drücke oder Einfälle vor ſich ſelber laut werden zu
[185] laſſen, und dankte ich dieſen unbewußten Plaudereien
in der Folge manche Enthüllung, die ſie mir bewußt
nicht gemacht haben würde. Bei ihren heutigen
Gloſſen aber war es ihr jedenfalls mehr als gleich¬
gültig, ob ich ſie auffing oder nicht.
„Grobſchlächtig, aber friſches Blut!“ ſagte ſie
nach einem muſternden Blick, mit dem Kopfe nickend.
„Eine Weiße! Wir Schwarzen von jeher feiner und
ſchön. — Leidliche Tournüre! — Wo haſt Du tan¬
zen gelernt?“ fragte ſie darauf, zu mir gewendet.
„Bei meinem Vater, gnädige Gräfin,“ antwor¬
tete ich.
Gloſſe der Gräfin: „Sächſiſcher Cadet. Gute
Schule!“
Zweite Frage: „Verſtehſt Du franzöſiſch?“
„Meine Mutter hat immer franzöſiſch mit mir
geſprochen, gnädige Gräfin.“
„Recitire ein Paar Sätze. Gleichgültig was.“
Mir fiel juſt nichts anderes ein, als meine letzte
Gedächtnißübung; eine Fabel, den Segen ſchildernd,
der den Nachkommen aus der Arbeit der Greiſe er¬
wächſt. Unbekümmert um das A propos oder Mal
à propos dieſer Wahl deklamirte ich meinen octogé¬
naire plantant friſch von der Leber von A bis Z.
[186]
„Ingenuité absolue!“ gloſſirte denn auch die
Gräfin mit einer Lippenbewegung, die wohl ein
Lächeln bedeuten ſollte. „L'accent passablement
pur!“ ſetzte ſie darauf den Kopf neigend hinzu. „Die
Mutter als Fräulein viel in Dresden zu Hof. Ver¬
ſtändige Erziehung! — Wir werden franzöſiſch mit
einander reden, Eberhardine!“
„Wie Sie befehlen, gnädige Gräfin.“
„Du magſt mich Tante nennen,“ ſagte die Gräfin.
Während ich, zum Dank für dieſe Huld, ma tante
zum zweiten Male die Hand küßte, meldete der dienſt¬
thuende Heiduck: „Madame la comtesse est servie!“
„Ein zweites Couvert für meine Nichte, Jacques!“
befahl die Gräfin.
Eberhard und Adelheid, o weiſe Erziehungsau¬
guren! Ohne den ſauren Schweiß Deiner Tanzabende,
mein braver Vater, ohne Deine Sprachmühen, kluge
Mutter, würde die letzte Reckenburgerin Gott weiß in
welchem Winkel des Stammſitzes ihrer Ahnen eine
Abſpeiſung gefunden haben und wie höchlich durfte ſie
nun mit ihrem Entrée zufrieden ſein!
So folgte ich denn um die Stunde, wo wir da¬
heim unſer Vesper zu verzehren pflegten, meiner neuen
Tante zum Souper in den Speiſeſaal. Seine Aus¬
[187] ſtattung entſprach dem Prunke des übrigen Schloſſes.
Es brannte ein ſilberner Candelaber, deſſen braun¬
gelbe Wachskerzen die faſt fünfzigjährigen Vorräthe
anzeigten. Das Tafelſervice, wenn auch ein wenig
verbraucht, bekundete den gediegenen Urſprung; dem
geringſten Stücke war gleichſam der Stempel des
Hauſes: das Doppelwappen mit der obligaten Grafen¬
krone eingeprägt. Allerdings perlte in den venetiani¬
ſchen Gläſern nur reiner Reckenburger Born und das
japaniſche Porzellan beſah nichts edleres als rothe
Reckenburger Grütze. Als Nachkoſt wurde auf ſilber¬
ner Platte der alten Dame eine Schale ihres Eichel¬
trankes, der jungen ein Apfel präſentirt. Keine Sorge
indeſſen Kinder! Ich hatte während der Reiſe aus
dem heimiſchen Proviantkober wacker vorgelegt und bin
auch ſpäterhin auf Reckenburg allezeit ſatt geworden,
trotz meines damals wie heute noch kräftigen Appe¬
tits. Wenn aber, was der Himmel verhüte! der Eu¬
rige im Alter einmal ſchwach werden ſollte, ſo kann
ich Euch mit gutem Grund Grützbrei und Eicheltrank
als brave Erhaltungsmittel empfehlen.
In Parentheſe ſei mir an dieſer Stelle noch eine
zweite Bemerkung geſtattet: Wenn kein Mitglied des
gräflichen Haus- und Hofſtaates jemals freiwillig
[188] ſeinen Dienſt verlaſſen hat, wenn derſelbe pünktlich
und ſchweigſam im Sinne der Herrſchaft verrichtet
ward und gleich dieſer die Mehrzahl ein Uralter bei
demſelben erreichte, ſo ziehe ich unſerer Spinnſtuben¬
romantik von einer Verhexung der Zunge und Einge¬
weide die nüchterne Auslegung vor, daß beſagtem
Perſonal durch Koſt wie Lohn auskömmlich Magen
und Mund geſtopft worden ſei.
Das Souper war ſchweigſam verzehrt worden
und in wenigen Minuten abgethan. Während ich der
Gräfin in das Vorzimmer folgte, bemerkte ich, wie
der Rieſe Jaques in gewiſſenhafter Eile die Kerzen
des Candelabers löſchte. Die Gräfin entließ mich
mit den Worten: „Morgen Mittag auf Wiederſehen.
Vertreibe Dir die Zeit wie Du kannſt. Das Vorzim¬
mer ſteht Dir offen und iſt immer geheizt.“
Ich küßte die dargebotene Hand und ging knixend
nach der Thür.
„Du bedarfſt keiner Toilettenhülfe, nicht wahr?“
rief die alte Dame mir noch nach. Ich verneinte.
„Halte Dich vor Schlafengehen nicht auf, verriegle
die Thür und löſche das Licht allſobald.“
Damit taſtete ſie ſich nach ihrer Klauſe, deren
inneren Thürriegel ich noch klirren hörte. Dann ge¬
[189] leitete mich Monſieur Jaques, nachdem er auch das
Vorzimmer verſchloſſen hatte, den Corridor entlang
bis zu Reckenburgs „neuem Thurm“, die „weſtliche
Rotunde“ jener Zeit. Er ſtand durch eine Wendel¬
treppe mit den Wirthſchaftsräumen in Verbindung
und das mir geöffnete Zimmer war das einzige im
Frontbau, das urſprünglich zu einem Domeſtikenraum
eingerichtet ſchien. Denn die Wände waren nur ge¬
tüncht, der Fußboden roh gedielt, ein Ofen fehlte, und
es enthielt als Ausſtaffirung nichts als einen Tiſch,
einen Stuhl, einen Kleiderſchrank, das nothdürftigſte
Waſchgeräth und ein Bett, welches keineswegs Dau¬
nen und ſeidene Polſter ſchwellten. Gegen meine hei¬
miſche Dachkammer war der Abſtich nicht allzugroß;
aber freilich an das lachende Mädchenſtübchen der klei¬
nen Dorl durfte ich nicht denken.
Ich war an ſtrengen Gehorſam gewöhnt; habe
auch jederzeit, wo ich nicht befehlen durfte, gern ge¬
horcht. Ich warf alſo meine Kleider ab, löſchte das
Talglicht, das mein Führer zurückgelaſſen hatte, und
ſchlief, ohne durch eine Spuk- oder auch nur Traum¬
geſtalt behelligt zu werden, meine ſieben Stunden ſo
ungeſtört, wie ich ſie mein Lebtag immer geſchlafen
habe und noch heute ſchlafe.
[190]
Wer aber mit den Hühnern zu Bette geht, muß
mit den Hühnern erwachen. Noch bei Sternenſchein
war ich munter und bei Tagesgrauen in den Klei¬
dern. Was ſollte ich vornehmen? Auf meine Bitte
öffnete der Leibwächter im Veſtibüle mir die Thür der
Seitentreppe und ich ſtieg hinunter in den Garten.
Bald ſchweifte ich darüber hinaus in Wald und Flur
und ſah zum erſtenmale unter freiem Himmel die
Sonne aufgehen, klar und glanzvoll wie ein Gottes¬
auge.
Methodiſches Spazierengehen war weder ein Be¬
dürfniß, noch eine Modeſache meiner Zeit und würde
mir heute noch eine gar leidige Erholung dünken.
Aber ſo ungebunden ſchweifen durch Land und Volk;
beobachten die ſtille Arbeit der Natur, wenn auch die
letzte vor der winterlichen Raſt, die umbildende der
Menſchen, Kraft und Widerſtand hier wie dort; —
und das Alles auf einem altüberkommenen, heimath¬
lichen Grund; — es war ein großer Sinn, der mir
an dieſem erſten Morgen in der Flur von Recken¬
burg aufgegangen iſt, ein urſprünglicher, ſtarker
Sinn, der mich lebenslang beglücken ſollte.
Da gewahrte ich denn zum erſtenmal die Be¬
wirthſchaftung in einem bedeutenden Dominium; ſah,
[191] wie das Holz gefällt und die Flößen nach dem Strome
geſchleift wurden, ſah Kohlenbrennen und Torfſtechen,
die letzten Reſte des Grummets, die Spätfrüchte der
Felder einheimſen. Ich ſah die Aecker für die Win¬
terſaat neu beſtellen, die der Stallhaft entlaſſenen
Heerden Wieſen und Brachen abweiden, ſah des Wil¬
des freies, fröhliches Treiben im umhegten Revier.
Ich unterhielt mich mit Hirten, Arbeitern und
Aufſehern über einſchlägiges Gebiet; ſchloß mit dem
alten, verſtändigen Oberförſter Waldkameradſchaft und
machte mich auch den übrigen Beamten bekannt. Das
friſche, junge Blut, welches den Namen Reckenburg
trug, und ſo urplötzlich mit ſeiner Neugier aus dem
ſchweigſamen Schloſſe in die Außenwelt drang, wurde
mit freundlichem Vertrauen aufgenommen; und frei¬
lich nicht am erſten Tage, aber mit der Zeit ſchwand
auch den armen Dörflern die Furcht, daß dieſe le¬
benskräftige Jugend unter dem Grabeshauche des ge¬
feiten Schloſſes verſteinern werde.
Reichere Ernte hatte ich keine Stunde in Chriſt¬
lieb Taube's Schulſtube gehalten, heimiſcher mich keine
Stunde in der alten Baderei gefühlt, als bei dieſer
erſten Wanderung durch die Reckenburger Flur, und
wie ich gegen Mittag nach dem Schloſſe zurückkehrte,
[192] da war es gleich wieder eine gute Botſchaft, mit wel¬
cher Muhme Juſtine mir entgegentrat. „Hochgräf¬
liche Gnaden“ waren in der Nacht von einem böſen
Gebreſten heimgeſucht worden und da die Gliedmaßen
hochdero Kammerfrau ſich für die vorſchriftsmäßigen
Manipulationen zu ſteif und zitterig erwieſen, waren
die der kunſtfertigen Reiſeduenna zu Hülfe gezogen
worden. Meiſter Fabers Schülerin hatte denn auch
im Setzen von Schröpfköpfen und anderweitigen we¬
niger ſchicklich auszuſprechenden Ableitungen zum er¬
ſtenmale in einem Grafenſchloſſe eine glänzende Probe
abgelegt; und hohe Patientin, — ſchneller denn je
von ihrer Bedrängniß erlöſt, — der Helferin den An¬
trag geſtellt, gegen ſtandesmäßiges Salair den Win¬
ter auf Reckenburg zuzubringen. — Die treue Seele
opferte ohne Bedenken dieſem zweifelhaften Anerbieten
ihre ſichere heimiſche Kundſchaft. Ihre Augen fun¬
kelten. Sie fühlte ſich als die Mittelsperſon, um ihre
ſtolzeſten Traumgeſichte zu verwirklichen. Denn un¬
ter ſolcherlei Proceduren kommt ein Menſch zur Rai¬
ſon und wird weich wie Wachs.
So ſollte es mir denn auch an einem gemüth¬
lichen Auſtauſch nicht fehlen, und noch ein anderer
weſentlicher Vortheil ſtellte ſich bald genug heraus.
[193] Das der wichtigen Leibwärterin im Seitenbau ange¬
wieſene Zimmer grenzte an das meine; es wurde er¬
leuchtet und geheizt; ich konnte mich in demſelben,
nach Abſperrung der gräflichen Zone, noch ein paar
Stunden ad libitum beſchäftigen und brauchte nicht
mehr mit den Hühnern zu Bett zu gehen.
Das Menü des Diners beſchränkte ſich keines¬
wegs auf die abendliche Grütze. Heute zum Beiſpiel
gab es, nach einer trefflichen Brühe, ein Hühnchen,
das bis auf einen geringen Bruſtbiſſen, auf meinen
Antheil fiel. Zum Nachtiſch Aepfel, für die Gräfin
gebraten, für mich roh. Es wurde auch Wein aufge¬
ſtellt. Die alte Dame vertrug aber keine Spirituoſen,
und von der jungen ſetzte man voraus, daß ſie ſie nicht
vertrug. Die Flaſchen wurden daher unentkorkt ab¬
getragen, um am anderen Tage unentkorkt wieder auf¬
getragen zu werden, und iſt es immerhin möglich, daß
es die nämlichen geweſen ſind, welche auf der erſten
und letzten gräflichen Tafel ihre Rolle ſpielten.
Auch die Zeit des Mahles wurde nicht ſo knapp
gemeſſen, wie die beim Souper; vielleicht weil es keine
Wachskerzen zu löſchen galt. Wir ſaßen wohl noch
ein Stündchen uns beim Eichelkaffee gegenüber und
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 13[194] ich machte mit der Schilderung meines Flurgangs
einen guten Effekt.
„Du haſt ſcharfe Reckenburger Augen,“ ſagte die
Gräfin. „Halte ſie offen und berichte mir ehrlich,
was Du bemerkſt.“
Mit dieſen Worten war das Amt meiner Zukunft
eingeleitet: Scharf zu ſehen und ehrlich Bericht zu er¬
ſtatten; dazu im Verlauf die mündliche Vermittelung
der Anordnungen und Ausführungen zwiſchen Thurm
und Flur: das iſt der Inhalt meiner langen, land¬
wirthſchaftlichen Lehrzeit auf Reckenburg.
„Indeſſen,“ ſo fuhr die Gräfin nach einer Pauſe
fort, „die Zeit für das Freie wird kürzer, und manche
häusliche Stunde möchte Dir einſam vorkommen,
Eberhardine. Tröſte Dich damit, daß die Heimath
Dir mindeſtens nichts Schicklicheres geboten haben
würde. Für die Saiſon in Dresden ſind Deine El¬
tern zu arm, und die geſelligen Allüren einer kleinen
Stadt würden Dich nur verſtimmen. Beſſer, einſam
ſein, als falſch placirt. Im Uebrigen möchte ich Dir
ſelber unter jener beſcheidenen Societät einen Succeß
nicht verbürgen, und welchen Genuß gewährt die Ge¬
ſellſchaft mit Ausnahme des Succeß? — Lieſt Du
gern, Eberhardine?“
Ich bekannte, daß ich noch garnichts geleſen,
mir die Freiheit zum Leſen aber längſt gewünſcht
habe.
„So benutze die Schloßbibliothek,“ verſetzte die
Gräfin. „Sie enthält das Leſenswerthe bis um die
Mitte des Jahrhunderts. Ich ſelbſt habe nicht den
Sinn mehr für Lectüre, auch nicht die Zeit. Schone
die Einbände und ſtelle die Bücher regelmäßig wieder
an ihren Platz. Die Ordnung darf nicht geſtört wer¬
den. Der Catalog macht die Auswahl leicht. Stößt
Du auf Romane: Dir ſchaden ſie nicht. Au con¬
traire! Verlangſt Du Neueres oder Deutſches, ſo
wende Dich an den Prediger. Perſönlich kenne ich
ihn nicht, nach ſeinen Eingaben jedoch ſcheint er —
ein wenig Phantaſt, — aber ein inſtruirter Mann.
Suche ihn auf, halte Dich an ihn. In Dir iſt kein
Boden für philanthropiſche Phantasmen; zur Betrach¬
tung haben ſie immerhin ihren Werth.“
So war es denn auch noch ein zweiter Lebens¬
born, der ſich in Reckenburg für mich erſchloß, wenn
mir auch nicht die natürliche Befriedigung des erſten
aus ihm entgegenquoll.
In der Bibliothek fand ich, — außer genealogi¬
ſchen und heraldiſchen Sammlungen, die ich unbe¬
13*[196] rührt ließ, und Italienern, die ich nicht verſtand, —
zwar lediglich Franzoſen; aber das, was eine große
Nation in ihrer größten Epoche hervorgebracht hat,
würde ſchon hingereicht haben, eine junge, durſtige
Seele für lange Zeit zu ſtillen. Und dazu trat nun
noch von vornherein der Pfarrer mit ſeinen geliebten
jungen Deutſchen. Am Sonntag Morgen hörte ich
ihn predigen und am Nachmittag klopfte ich an ſeine
Thür.
Ich war ein Kind an Lebenserfahrung und aus
einem härteren Stoffe geformt, als er. [Gleichwohl]
brachte ich ſchon aus dieſer erſten Begegnung in Amt
und Haus das bedrückende Vorgefühl einer verfehlten
Exiſtenz. Je länger ich ihn aber im Dienſte einer
leiblich und geiſtig verwilderten Gemeinde kennen
lernte, den milden, ſinnvollen Menſchen und Chriſten,
deſſen Grundneigung auf ein edles Maaß und har¬
moniſche Bildungen geſtellt war, unverſtanden, unge¬
liebt, die liebenswertheſte und liebevollſte Natur, um
ſo lebhafter fühlte ich in ſeiner Nähe buchſtäblich ein
körperliches Weh, und ſo viel ich perſönlich an ihm
verlor, ich fand keine Ruhe, bis ich ihn an einen
Platz geſtellt wußte, wo ſeine Lehre und ſein Vorbild
in empfänglicheren Gemüthern zünden durften.
[197]
Und nun zählt zu des Prieſters verhallendem
Wort die jammervoll leere Hand des Menſchenfreun¬
des. Einer, der nur geben, immer geben, unbe¬
rechnet hätte geben mögen, und der ſich mit einer
bettelarmen Gemeinde um magere Zinshähne und karge
Beichtgroſchen ſtreiten mußte, wenn er nur das Dürf¬
tigſte zu geben haben wollte. Zählt dazu endlich den Man¬
gel eines häuslichen Heerdes: die geliebte Gattin todt,
den einzigen Sohn ferne auf eigenen, rauhen Wegen.
Wahrlich, der Mann hätte verſiechen müſſen wie in
der Wüſte ein Quell, wenn nicht in unſerer jungauf¬
ſtrebenden Literatur ſich eine Welt für ſeine freudige
Beſchaulichkeit eröffnet hätte. Mit dem Blicke des Hu¬
maniſten und des Menſchenfreundes folgte er auch
den wildwuchernden Trieben jener Zeit, und ſein Herz
ſchlug in höchſter Beſeligung, wenn er etwas dauernd
Edles für ſein der veredelnden Schönheit ſo bedürf¬
tiges Volk entdeckt hatte; am reinſten aber ſtrahlte
ſeine Freude, ſobald er ſie, ſei's auch nur einen
ſchwachen Wiederſtrahl erwecken ſah.
Er empfing daher das anklopfende Kind wie
einen Sendling Gottes, denn bis zu einem gewiſſen
Grade fand er in ihm Aufmerkſamkeit und Verſtänd¬
niß für ſeine Welt. Jeden Nachmittag von dieſem
[198] erſten ab, kehrte ich in ſeiner Klauſe ein; jeden Abend
führte er mich zurück bis an die Schwelle jener an¬
deren Klauſe, in welcher eine Eremitin entgegengeſetz¬
ten Schlags ihre Weisheit vernehmen ließ, und ſeine
Hoffnung wurde nicht müde, wenn auch die Lehren
des alten Weltkindes eindringlicher als die des plato¬
niſchen Weltjüngers in beider Zögling hafteten.
So war ich denn in doppelter Weiſe in die hohe
Schule der Reckenburger eingeführt und wenige Stu¬
dioſi werden ſich rühmen dürfen, ſo ſelten ein unklu¬
ges oder verbrauchtes Wort von ihren Meiſtern ge¬
hört zu haben. Am lauteſten und erweckendſten aber
ſprach mir die Dritte in dem bildenden Bunde: die
Natur? — nein, mit dem ſtolzen Namen nenne ich
ſie nicht, aber meine von Tage zu Tage inniger ver¬
traute, altväterliche Flur. In ihr wußte ich mich aus¬
zufinden, in ihr kannte ich Weg und Steg, ſie wurde
die Welt, in der auch ich eines Tages zur Eremitin
werden ſollte. Die urſprüngliche Neigung meines
Weſens trieb mich nicht in die Geſellſchaft und nicht
in den Bücherſaal; ſie trieb mich in einen Winkel
heimiſcher Erde, in dem ich mir eine Werkſtatt grün¬
den durfte.
Indeſſen machte ich Fortſchritte und meine kluge
[199] Tante war nicht ſpröde, dieſelben zu verwerthen.
Bald ſah ich mich von der akademiſchen Lernfreiheit
in Comtoir und Schreibſtube abgelenkt. Ich ſagte
bereits, daß ich gleich in den erſten Tagen zum Dol¬
metſcher ihrer mündlichen Befehle berufen ward. Die
knappe, präciſe Art, mit welcher Meldung und Ge¬
genmeldung ausgerichtet wurden, nicht minder die
Schwäche, welche häufig genug die Feder aus der
Hand der unermüdlichen Greiſin ſinken ließ, erweck¬
ten den Verſuch auch im ſchriftlichen Gebiet. Bald
vollzog ich unter ihrem Dictat die Anweiſungen und
Antworten an Beamte, Gerichtshalter, Behörden und
ſo weiter; mit raſcher, deutlicher Handſchrift wurde in
wenigen Minuten expedirt, womit die zitternden Fin¬
ger ſich tagelang abgequält hätten, und nach wenigen
glücklich gelöſten Stylproben ſah ich mich zum ſelbſt¬
ſtändigen Secretair der Reckenburg aufgerückt.
Noch aber lag das Heiligthum des geheimni߬
vollen Caſſabuchs unenthüllt auch vor meinen Blicken
und juſt für dieſes Alpha und Omega ihres Tages¬
laufs bedurfte die glückliche Sammlerin am dringend¬
ſten eines zuverläſſigen Disponenten, ſo daß am Ende
auch aus dieſer Noth eine Tugend gemacht werden mußte.
Ich will Euch, meine Freunde, nicht des Brei¬
[200] teren mit meiner Reckenburger Lehrzeit beſchäftigen,
zumal ich in meiner Darſtellung weit über die Ge¬
genwart hinausgegriffen habe. Alles in Allem: ich
wurde im Laufe der Jahre die rechte Hand der Gräfin
in ihrem weitläufigen Geſchäftsverkehr, ſie erzog ſich
in mir einen Verwalter. Täglich arbeitete ich einige
Stunden unter ihren Augen in dem verrufenen Thurm¬
gemach und ſo geſchah es, daß nach Innen wie Außen
ich, und ich allein, den Werth eines Beſitzthums ken¬
nen lernte, welches eines Tages anzutreten ich weder
ein Recht, noch eine Ausſicht hatte.
Denn ſo feſt ich mit der Zeit in das Vertrauen
der Greiſin hineinwuchs, darüber konnte ich mich nicht
täuſchen, daß nur ihr Verſtand, nicht das Gemüth
ſich der Verwandtin zuneigte, die ſie immer näher an
ſich zog. Sie half ihr arbeiten, weiter nichts. Nur
eines Menſchen Schickſal kümmerte ſie noch auf Er¬
den, nur im Hinblick auf einen Menſchen ruhte die
Seele aus.
Ich aber mit dem natürlich ſpröden Herzen, wie
hätte ich mich einem Weſen anſchließen ſollen, das
mir ſo wenig entgegentrug? Ich ſchätzte ſie nach
einem anderen Maaßſtabe, als die Welt es that; ich
bildete mich in weſentlichen Punkten an ihrer Erfah¬
[201] rung, aber ſelber eine dankbare Empfindung ward
nicht herausgefordert, denn ich leiſtete ihr mehr, als
ſie gewährte, und ich leiſtete es ohne Eigennutz. Ge¬
liebt habe ich die einzige Verwandtin ſo wenig, als ſie
mich. Zwiſchen dem alten Idealiſten im Pfarrhauſe
und der alten Realiſtin im Thurm entwickelte ſich die
Jungfrau als ein herzensarmes Ding, ſo, ja mehr
noch, wie vordem das Kind in der Schulſtube Chriſt¬
lieb Taube's, neben der kleinen reizenden Dorl.
Als die vorausbeſtimmte Zeit meiner Heimreiſe
heranrückte, machte die Gräfin mir und den Eltern
den Vorſchlag meiner Rückkehr im nächſten Winter.
Sie ſprach ihn aus in weniger herablaſſender Form,
aber doch nur als eine Gunſt, keineswegs als einen
Wunſch. „Wie Du einmal biſt,“ ſagte ſie, „iſt es
gut für Dich, der kleinſtädtiſchen Beſchränkung Dei¬
nes Vaterhauſes zeitweiſe entrückt zu werden und
Dich in einer größeren Lebensordnung bewegen zu
lernen.“
Verlockender war die Einladung, welche an die
wiederholentlich bewährte Leibpflegerin, „Madame Mül¬
lerin“, erging. Sie ſollte zwar während des Som¬
mers, der guten gräflichen Saiſon, mich in die Hei¬
math zurückbegleiten, zum Herbſt aber mit mir wie¬
[202] derkehren und ſich dauernd in Reckenburg niederlaſſen.
Ein fixer Gehalt für den Dienſt im Schloſſe wurde
bewilligt, und zu freierer Bewegung in ihrer Kunſt
— den im Dorfe erledigten Poſten einer Wehmutter
eingeſchloſſen — das Waldhäuschen eingeräumt, das
urſprünglich für den fürſtlichen Hundewärter errichtet
worden war, da aber der Fürſt mit ſeiner Meute
ausgeblieben, nicht als unveränderliches Erhaltungs¬
inventar betrachtet zu werden brauchte. Ein Gärt¬
chen, ein Stück Ackerland, freier Holzbedarf boten
nicht minder lockenden Vortheil, und ſo ſehen wir denn
im folgenden Herbſt Muhme Juſtine zur Zufrieden¬
heit eingerichtet, und als Helferin bei jeglicher Leibes¬
noth in Schloß und Umgegend hochgeehrt. Die Tränke,
welche ſie aus ſelbſtgeſammelten Kräutern zu brauen
verſtand, halfen für Fieber und Verſchlag, und hal¬
fen ſie einmal nicht, ſo hatte der liebe Himmel es
eben anders beſcheert, und die des Doctors würden
noch weniger geholfen haben. Mit den Apothekern
der Umgegend wurde ein lebhaftes Droguengeſchäft
unterhalten; ſo fleißig die Hände ſich rührten, ſie lang¬
ten kaum aus, den vielſeitigen Anſprüchen zu genü¬
gen. Die Alte im Grafenſchloß und die Alte im
„Hundehaus“ wetteiferten in jener Zeit in der Kunſt
[203] des Aufſammelns und Sparens. Mir aber, dem
Glückskinde, wenn mir aller Traumkunſt zum Trotz,
die Millionen der reichen Tante entſchlüpfen ſollten,
die Hunderte der armen Muhme würden mir nicht
entgangen ſein.
Als ich wenige Tage vor meiner Heimreiſe von
meiner Morgenwanderung in das Schloß zurückkehrte
— daß ich es eingeſtehe, beklommenen Herzens, weil
ich die Saaten, die ich legen und ſprießen ſah, nicht
auch reifen und ernten ſehen ſollte, — überraſchte mich
ein lebhaftes Treiben, ein ungewohntes Gebrodel wie
von Braten und Backwerk in den Wirthſchaftsräu¬
men. Ein Stückfaß wurde aus dem Keller in die
Geſindeſtube getragen, Frauen und Kinder der Beam¬
ten gingen beladen mit Weinflaſchen und Kuchenkör¬
ben nach ihren Behauſungen zurück; lange Tafeln für
die Tagelöhner des Gutes ſtanden gedeckt und reich¬
lich beſetzt. Ich fragte nach der Urſache dieſer ver¬
wunderlichen Gaſtlichkeit und männiglich wurde mir
geantwortet, daß heute der Feſttag der Reckenburg ge¬
feiert werde. Weſſen Feſttag? Der Kalender nannte
keinen; der Einzugstag der Gräfin fiel in den hohen
Sommer; ihr Wiegenfeſt wurde mit Stillſchweigen
übergangen, da ſie es nicht liebte, an ihr Alter erin¬
[204] nert zu werden. Der gefeierte Gegenſtand war ein
Geheimniß, wie ſo vieles auf der Reckenburg.
Auch die herrſchaftliche Tafel ward reich ſervirt,
Wein nicht nur aufgeſetzt, ſondern auch getrunken.
Beide Heiducken verſahen den Dienſt. Die Gräfin
trug einen neuen Sammetmantel und eine ſtolze Strau¬
ßenfeder auf ihrem ſpaniſchen Hut; ein ſchier verächt¬
licher Blick ſtreifte mein tägliches Kleid, — (noch im¬
mer von dem grasgrünen, unverwüſtlichen Raſch).
Als der Braten gereicht ward, ließ ſie ihr Glas mit
Champagner füllen, ſtieß mit mir an, und ſagte feier¬
lich; „Auf Sein Wohl!“
„Auf weſſen Wohl?“ fragte ich verwundert.
Ein zweiter, mehr als verächtlicher Blick wurde
mir zugeſchleudert. Was beſagten meine Studien in
der Bibliothek, wenn ich Stammbäume, genealogiſche
Tabellen und Urkunden ſo wenig gewürdigt hatte, um
über das wichtigſte Datum der Reckenburg noch in
Zweifel zu ſein?
„Der zwanzigſte April, Prinz Auguſt's Geburts¬
tag,“ ſagte ſie ſcharf, nachdem ſie ihr Glas auf einen
Zug geleert hatte, und da ſie aus meinen Mienen
ſehen mochte, daß ſie das Räthſel mit einem neuen
Räthſel gelöſt, ſetzte ſie hinzu: „Der Sohn meines
[205] hochſeligen Gemahls und der letzte ſeines durchlauch¬
tigen Hauſes. Gott erhalt' ihn!“
Zum erſtenmale hatte die Gräfin den Namen
ihres Gemahls vor mir genannt und zum erſtenmale
dämmerte mir die Ahnung, welchen Erben ſie ſich er¬
koren, vielleicht ſchon ernannt haben mochte.
Als ich der Mutter ſpäter von dem Feſttage der
Reckenburg erzählte, ſagte ſie: „Ich habe niemals
daran gezweifelt, daß die Gräfin nur zu des Prinzen
Gunſten unſere Reckenburg ſo herrſchaftlich erwei¬
tert hat.“
„Für den Mosjö Sauſewind?“ verſetzte lachend
der Vater; „nun weiß Gott, ſaurer als ſeinem Herrn
Papa wird ſie ihm das Durchbringen nicht werden
ſehen!“
„Nicht bei ihren Lebzeiten und jedenfalls nur als
Fideicommiß; deß aber ſei gewiß, Eberhard, die
Gräfin läßt ihre Herrſchaft nur in fürſtlichen Händen.“
Fünftes Capitel.
Der Kehraus.
Der regelmäßige Briefwechſel zwiſchen den Eltern
und mir war nichts weniger als communicativer Na¬
tur geweſen. In herkömmlichen Redensarten wurden
gute Lehren gegen Verſicherungen des Gehorſams aus¬
getauſcht und das gegenſeitige Wohlbefinden wünſchend
und lobend erwähnt. Vertrauliche Plaudereien ſchwarz
auf weiß würden gegen die Würde des Verhältniſſes
verſtoßen haben. Da gab es denn mündlich Man¬
cherlei zu berichten und zu berichtigen, was die erſten
Tage des Wiederzuſammenlebens füllte. Bald aber
ſollte ich inne werden, wie richtig mich meine alte
Reckenburgerin erkannt. Ich hatte mich in der ein¬
ſamen Freiheit ihres Hauſes dem kleinſtädtiſchen Wohn¬
ſtubentreiben der Heimath bereits entfremdet.
Auch zwiſchen der „allerunterthänigſten Magd,
[207] Dorothee Müllerin,“ und der „treugeſinnten Eber¬
hardine von Reckenburg“ war ein glückwünſchender
Neujahrsgruß, wie aus dem Complimentirbuche ge¬
ſchnitten, gewechſelt worden. Jetzt fand ich meine
kleine Kameradin in ihrem behaglichen Mädchenſtüb¬
chen und bräutlichen Wittwenſtande unverändert wie¬
der. Man merkte kaum, daß ſie in dem Halbjahre
vollkommen zur Jungfrau erblüht war, ſo rund und
kindlich waren Formen und Ausdruck geblieben. Sie
putzte ſich zierlicher als alle Bürgerstöchter, pflegte
Blumen und Vögel, ſtickte Flitterſchuhe und Teller¬
mützendeckel, mit deren Erlös ſie das Budget für ihr
Tändelwerk erhöhte; ſie backte wohlſchmeckende Krin¬
gel und Bretzelchen, welche in der Weinſtube ihres
Vaters guten Abſatz fanden, und hatte ſich zur Aus¬
füllung der bei alledem reichlichen Zeit auf die Lec¬
türe geworfen. Mit glühenden Wangen ſah ich ſie
die verwegenen Ritter- und ſüßlichen Liebesgeſchichten
der Leihbibliothek verſchlingen, hörte auch, daß ſie ſich
im Laufe des Winters fleißig der Muſik gewidmet
habe. Der zärtliche Chriſtlieb Taube kam allſonn¬
täglich zu einer Stunde im Guitarrenſpiel von ſeinem
unfernen Schuldorfe in die Stadt, und zweifle ich
nicht, daß dieſe Stunde ihm die angenehmſte der
[208] Woche geweſen ſei. Da zwitſcherte denn die Dorl
mit ihrem Lerchenſtimmchen die Arien, welche der mo¬
diſchen Lectüre entſprachen: „vom Kühnſten aller Räu¬
ber, den der Kuß ſeiner Roſa weckt,“ oder „von dem
Robert, den Eliſe an ihr klopfendes Herz“ ruft.
„Jungfer Ehrenhardine“ ſchüttelte gar weiſe den
Kopf. Denn wenn auch die Kleine dieſe Bedenklich¬
keiten mit der kindlichſten Unſchuld las und ſang, ohne
es zu wiſſen, that ſie es aus Langeweile, der recht
eigentlichen Mutter weiblicher Schuld. Sie bewun¬
derte meine Gelaſſenheit bei der Nachricht, daß ein
Trauerfall in der landesherlichen Sippe laute Luſtbar¬
keiten für die Donnerſtagsgeſellſchaft während des
Sommers verbiete. „Ich möchte Sie nur ein einzi¬
ges Mal tanzen ſehen, Fräulein Hardine,“ ſagte ſie
ſeufzend, „oder nur ein einziges Mal ſelber wieder
tanzen wie ſonſt mit dem gnädigen Herrn Papa.“
Der Faber hatte zum Weihnachtsangebinde eine
ſchöne Granatſchnur geſchickt und als Gegengeſchenk
eine Perltaſche für ſein Verbandzeug erhalten. „Einen
Tabaksbeutel hätte ich viel lieber geſtrickt,“ meinte
die Dorl. „Aber er raucht ja nicht; er kennt ja kein
Vergnügen, als ſeine gräßlichen Meſſer und Zangen.“
Im Uebrigen ſtudirte und praktizirte Siegmund Fa¬
[209] ber unverdroſſen weiter, rechnete auch ebenſo unver¬
droſſen auf das blutige Uebungsfeld eines Operateurs.
„Es wird eine Weile währen, ehe wir zu einan¬
der kommen,“ ſagte lachend die Dorl, „aber ich kann's
ja abwarten.“
„Das Kind hält ſich muſterhaft,“ verſicherte mein
Vater, und die Mutter konnte dem Lobe nicht wider¬
ſprechen. Muhme Juſtine aber bemerkte kopfwiegend:
„Man ſoll den Jungfernkranz nicht rühmen, bis man
ihm die Hochzeitsmütze übergeſtülpt.“
Die zweite Trennung von Hauſe war allerſeits
kein halber Tod, nachdem die erſte ſo ungefährlich
abgelaufen. Auch von dem zweiten Reckenburger Auf¬
enthalt würde nichts Neues zu berichten ſein. Als er
ſich zum Ende neigte, machte mir die Gräfin den An¬
trag, auch den Sommer hindurch und für alle Zeit
bei ihr zu bleiben. Ich ſagte rundweg nein. Denn
wohl muthete das thätige Treiben auf Reckenburg mich
freudiger an, als die ſtille Beſchränkung des Eltern¬
hauſes, nimmermehr aber würde ich mein Heimaths¬
recht und meine Heimathspflicht in demſelben freiwil¬
lig aufgegeben haben. Der Gräfin dahingegen, ob¬
gleich ſie mich ungern entbehrte, muß ich nachrühmen,
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 14[210] daß mein Freimuth ſie nicht verletzte, ja daß dieſe
rückſichtsloſe Ehrlichkeit es war, der ich die raſchen
Fortſchritte in ihrem Vertrauen zu danken hatte. Ich
ging ſchon in dieſer Zeit unangemeldet bei ihr aus
und ein, und der Riegel wurde nicht mehr vorgeſcho¬
ben, wenn ſie mich im Vorzimmer wußte.
Wie bedeutend dieſe Fortſchritte waren, ſollte ich
jedoch erſt am Vorabend meiner zweiten Heimreiſe,
der mit dem ſolennen Prinzenfeſte zuſammenfiel, ge¬
wahr werden. Die Gräfin war den Tag über ſo gu¬
ter Laune, wie ich ſie noch niemals geſehen hatte.
Sie erhielt eine ihrer geheimnißvollen Dresdener Cor¬
reſpondenzen, die ſie lächelnd las und wieder las.
Ich bemerkte, daß ſie ein Miniaturbild mit Wohlge¬
fallen betrachtete und dann ſorgfältig verſchloß. „Schön,
— ſchön, — wie Er!“ hörte ich ſie murmeln, und
dann ein andermal: „Jung Blut hat Muth!“ Ja,
als ich nach der üblichen Mittagsruhe bei ihr eintrat,
kam ich auf den ſträflichen Gedanken, hochgräfliche
Gnaden haben ſich im feſtlichen Champagner einen
Spitz getrunken. Sie ſaß mit halbgeſchloſſenen Augen
im Lehnſtuhl und trällerte ganz munter ein Liebeslied¬
chen, als deſſen Dichterin die ſchöne Aurora von Kö¬
nigsmark genannt worden iſt:
[211]
Der Eindruck war mir widerlich; ich machte ein
Geräuſch und die Alte bemerkte mich. Noch mur¬
melte ſie:
dann ſchlug ſie das Hauptbuch auf und wir rechneten
noch eine Stunde miteinander, um die laufenden Ge¬
ſchäfte vor der Reiſe abzuſchließen.
Nach dem Souper folgte ich ihr zum Abſchied in
ihr Kabinet. „Du biſt ſiebenzehn Jahre alt, Eberhar¬
dine,“ ſagte ſie, „und es könnte ſich auch in Deiner
kleinen Stadt eine Gelegenheit finden, bei welcher eine
ſtandesmäßige Toilette geboten iſt. Ich habe Dir
eine ſolche beſtimmt, die für mich angeſchafft aber nicht
benutzt wurde. Sie wird ſich für Dich zweckent¬
ſprechend arrangiren laſſen. Du findeſt den Carton
in Deinem Zimmer. Oeffne ihn erſt, wenn Du
heim kommſt, daß der Stoff ſich nicht unnöthig zer¬
drücke.“
Ich küßte ihre Hand mit aufrichtigem Dank.
Immerhin war es ja ein Akt des Heroismus, ſich von
einem in Reckenburg eingeführten Gegenſtande zu tren¬
nen. Heimlich aber mußte ich darüber lächeln, daß
14*[212] der Anzug einer angehenden Matrone faſt ein halbes
Jahrhundert ſpäter für ein junges Mädchen arrangirt
werden ſollte, das ſie um mehr als Kopfeshöhe überragte.
Die Gräfin fuhr fort: „Du biſt weder ſchön,
noch paſſionirt genug, Eberhardine, um jugendliche
Wallungen zu entzünden. Deines Herzens bin ich
ſicher. Hüte Dich aber vor einer vernunftmäßigen
Verſorgung nach dem Zuſchnitt Deines elterlichen Le¬
bens. Ich ſehe Höheres für Dich voraus. Deine
Tournüre iſt comme il faut; Geiſt und Körper zei¬
gen die Kraft, welcher die Stammmütter großer Ge¬
ſchlechter bedürfen. Ich wiederhole es: Du biſt
nicht beſtimmt, Neigung zu wecken und zu befriedigen,
Du biſt beſtimmt, Achtung und Vertrauen zu feſſeln,
nachdem die Leidenſchaft ausgeſchäumt. Nicht heute
oder morgen allerdings; aber Du zählſt erſt ſiebenzehn,
und ich wurde dreißig Jahre, bevor ich mein Ziel er¬
reichte. Auch Du wirſt es erreichen. Präge Dir die
Wappen ein, die über Reckenburg vereinigt ſtehen und
halte feſt daran, daß ſie ſich zum zweiten Male ver¬
einigen ſollen, dauernd vereinigen müſſen. Halte
Dich brav, Eberhardine. A revoir!“
Das alſo war's! Das der heimliche Plan der
alten Häuptlingin, als ſie die Letzte ihres Stammes
[213] zur Prüfung unter ihre Augen lud; das das Zeug¬
niß, daß ſie ihre Probe beſtanden hatte: das fürſtlich¬
freiherrliche Wappen, mit der obligaten Grafenkrone
in Permanenz über der Reckenburg! Die letzte Recken¬
burgerin und der Letzte eines erlauchten Fürſtenhauſes
die Gründer eines neuen, reichbegüterten Geſchlechts!
Ei nun, es war eine Greiſenſchrulle, würdig der
eiſenfeſten Erhalterin; aber eine gar anmuthende Schrulle
auch für einen jugendlich Reckenburg'ſchen Puls. Und
wenn es zuviel behauptet wäre, daß der ſchöne, prinz¬
liche Zukünftige ihr im Traume erſchienen ſei: ein
Paar Stunden gewohnter Nachtruhe hat er ſeiner
Braut in spe wahrhaftig gekoſtet.
Mein heuriger Reiſebegleiter war der Prediger,
der ſich durch kleine literariſche Arbeiten ein Paar
freie Freudentage erkauft hatte. Es galt einen Beſuch
bei ſeinem in Leipzig ſtudirenden Sohne; es galt
nebenbei einen Blick in den neuſten Meßcatalog und
in die antiquariſchen Schätze der Metropole deutſcher
Bücherwelt. Mein frohmüthiger Freund hoffte, dieſe
Meßfahrten halbjährig erneuern zu können und wir
verabredeten zum Voraus die gemeinſame Rückreiſe
im Herbſt.
Ohne Zweifel würde mir nun dieſes zweitägige
[214] Beieinander mit dem lieben, lehrſamen Herrn die er¬
ſprießlichſten Dienſte geleiſtet haben, wenn zwiſchen
die neuen ſpaniſchen Helden unſeres Schiller und die
metriſchen Fehden von Lichtenberg contra Voß nicht
immer von Neuem der zudringliche prinzliche Stören¬
fried gefahren wäre. Die alte Reckenburgerin hatte
wohl Recht: ihre erkorene Nachfolgerin war nicht
eben entzündlicher Imagination und die Warnungs¬
tafel mit dem ſpäten, ehelichen Correctiv war auch
nicht zum Ueberfluß aufgeſtellt; bei alledem aber war
es ein feuergefährliches Spielwerk, das ſie ſiebenzehn¬
jährigen Sinnen anvertraut hatte. So oft Dame
Weisheit den Verführer aus dem Felde ſchlug, lispelnd
und lächelnd gaukelte er ſich immer wieder ein. Chassez
le naturel, il retourne au galop!
Ich wußte von dem jungen Herrn nichts, als
daß mein Papa ihn einen Sauſewind genannt hatte,
und daß die Andeutungen der Gräfin dieſem Epitheton
nicht widerſprachen. Die Begierde ein Mehreres über
ihn zu erfahren, prickelte mich bis in die Zungenſpitze.
Ich machte endlich kurzen Proceß und platzte mit der
Frage: was von dem Stiefſohne meiner Tante zu
halten ſei? mitten unter die idylliſche Geſellſchaft im
ehrwürdigen Pfarrhauſe von Grünau.
[215]
Der ehrwürdige Pfarrherr von Reckenburg ſtutzte.
Er kannte den Prinzen natürlich nicht; er kannte ja
nicht einmal die Gräfin und war weit davon entfernt,
in dem Sohne des Ungetreuen ſeinen dermaleinſtigen
Patron zu vermuthen. Angeregt durch einen Zeitungs¬
artikel, hatte daher nur ein Zufall ihm vor Kurzem
flüchtige Kunde über ihn zugetragen.
Der junge, ſchöne Prinz, — einen Antinous
nannte ihn das Gerücht, — leichtlebig, zu galanten
Abenteuern geneigt und daher mit ſeinen knappen Fi¬
nanzen ärgerlich verwickelt, hatte längſt ſchon über die
methodiſchen Anforderungen des kurfürſtlichen Hofes,
dem er ſich als Verwandter, Mündel und Militair unter¬
geordnet ſah, Verdruß und Langeweile zur Schau ge¬
tragen, und ein Heißſporn in den Kauf, war er bei
dem läſſigen Ausgang der Monarchenverſammlung zu
Pillnitz im verfloſſenen Herbſt in offene Empörung
ausgebrochen. Er entwich heimlich von Dresden, um
an dem Hoflager des Kurfürſten Klemens in Koblenz
eine anregendere Kameraderie zu ſuchen. Hier in das
frivole Treiben der Emigrirten bedenklich verwickelt,
hatte er ſich in eine Schuldenlaſt geſtürzt, welche weder
die Verwandtſchaft von Kurſachſen, noch von Kur¬
trier zu honoriren geneigt war. Vor Kurzem ſollte
[216] er nun ſummariſchen Befehl zur unverweilten Rückkehr
nach Dresden erhalten haben, und hoffte man, auf
dieſe Weiſe bei dem ſich vorbereitenden Kreuzzuge gegen
den fränkiſchen Jakobinismus, vor einer compromit¬
tirenden Theilnahme des fürſtlichen Parteigängers ſicher
geſtellt zu ſein.
„Es hat ſich,“ ſo ſchloß der Prediger ſein Re¬
ferat, „es hat ſich nach anderthalbhundertjährigem
Schlummer im deutſchen Walde ein treibender Sturm
erhoben. Oben in den Wipfeln rauſcht's und brauſt's,
während das Wurzelland, ein breiter, dumpfer Weide¬
platz, noch der umarbeitenden Pflugſchaar harrt. In
der Gelehrtenwelt, in Kunſt und Poeſie, allerorten
ſehen wir einzelne Spitzen, unverſtanden, oder falſch
verſtanden, die Menge überragen. Auch in unſeren
ungezählten Dynaſtengeſchlechtern thut ſich dieſes jache,
ungleichartige Drängen kund. Wie viele ſind ihrer
nicht, die einen genialiſchen Sproſſen getrieben haben?
Sehen ſich dieſe Sprößlinge nun als Erben eines
Throns, wie Friedrich, wie Joſeph, oder auf anderem
Gebiete, wie der edle Weimaraner, ſo werfen ſie ſich
auf zu Bahnbrechern einer neuen Ordnung, um je
nach Kräften, Verhältniſſen und Temperament in
ihrem Streben zu ſiegen, oder unterzugehen, immerhin
[217] aber einen Keim zu legen, der der Zukunft Früchte
tragen wird. Sind es Nebenſchößlinge wie dieſer,
jüngere Söhne ohne Land und Macht, aber in fürſt¬
licher Blendung, in fürſtlicher Abſonderung aufge¬
wachſen, ſo ſehen wir ſie nur allzuhäufig als taube
Blüthen vom Mutterbaume ab- und dem Geſetze ver¬
fallen, welches jede Kraft, die nicht That wird, zum
Wahne werden läßt. Abenteurer und Tollköpfe, Lüſt¬
linge und Sonderlinge, Dilettanten und Pfuſcher, Frei¬
geiſter und Geiſterſeher rütteln ſie für ſich ſelbſt an
den Schranken, welche Sitte und Herkommen bis
heute geheiligt haben, ohne für die Freiheit und Wohl¬
fahrt der Anderen eine einzige zu durchbrechen. Höher
hinauf können ſie nicht; in die Breite und Tiefe wollen
ſie nicht, oder dürfen ſie nicht. Sie bleiben eben
Prinzen, das heißt Exceptionen, denen kein Feld des
Ruhmes und der Thatkraft angewieſen iſt, als das
blutige Leichenfeld, das auch zur Stunde, und Gott
weiß bis zu welcher Stunde unſer kaum erwachtes
Vaterland von Neuem zu erſtarren droht.“
Das waren nun freilich Belehrungen, welche die
Reckenburger Chimäre ihres blendenden Zaubers ent¬
kleiden durften, und als ich, von Leipzig ab allein, in
meiner beſcheidenen Zurückgelegenheit heimwärts ge¬
[218] rüttelt ward, da zerſtoben denn auch die bunten Sei¬
fenblaſen vor dem nüchtern geſchulten Blick. Würde,
ſo fragte ich mich, der tollmüthige, ritterliche Antinous
um ſchnödes Geld und Gut ſich der Verbindung mit
einem unſchönen, unſtandesmäßigen Fräulein, das er
nicht einmal kannte, unterwerfen? Würde die alte
Reckenburgerin auf dieſe Verbindung beſtehen, dem
Sohne eines Mannes gegenüber, der ihr Stolz und
ihre Luſt, der offen und geheim der Regulator ihres
Lebens geweſen war? Endlich aber, wenn ſie auf
die Bedingung beſtand, wenn er der Noth ſich unter¬
warf, würde das unſchöne, unbekannte Fräulein ſich
bedingungsweiſe einem Manne in den Kauf geben laſſen,
der ſie mit widerwilligem Gemüthe empfing? Nein,
dreimal nein! Nicht um den Beſitz eines fürſtlichen
Antinous; nicht um den Beſitz der Reckenburg und
aller Herrſchaften der Welt. Nimmermehr!
Mit dieſem herzhaften Strich durch alle gaukeln¬
den Hirngeſpinnſte und mit dem Vorſatz, mich durch
keine Andeutung der matrimonialen Schrullen auf der
Reckenburg lächerlich zu machen, betrat ich mein Eltern¬
haus. Bei alledem wird mir eine rückfällige Schwach¬
heit zu verzeihen ſein, als gleich nach der erſten Be¬
grüßung, der gute Papa mir mit der Frage entgegen¬
[219] fuhr: „Wußte die alte Gnädige ſchon, meine Dine,
daß ihr Erbprinz hieſigen Orts auf Strafcommando
verſetzt worden iſt?“
In Wahrheit, mir ſchwindelte. — „Prinz Auguſt
hier, — hier?“ — ſtammelte ich.
„Noch nicht,“ verſetzte die Mama, nach einem
Räuspern, das allemal eine gelinde Rüge für den
Herrn Gemahl bedeutete. „Noch nicht. Doch darf
er jede Stunde erwartet werden. Er iſt als Major
dem Regimente aggregirt worden, mithin Papas un¬
mittelbarer Vorgeſetzter, wie Manche wiſſen wollen,
um ſeine etwas brouillirten Verhältniſſe in der kleinen
Garniſon wiederherzuſtellen. Ich für mein Theil bin
der Anſicht, daß man ihm ein ſelbſtändiges Commando
zugedacht und daß man unſeren Ort gewählt hat, weil
das wohleingerichtete Schloß ein ſtandesmäßiges Lo¬
gement gewährt.“
„Bis zum Donnerſtag iſt er jedenfalls einpaſſirt,“
ſetzte der Vater hinzu. „Die Geſellſchaft arrangirt
ihm zu Ehren ein Pickenick, einen bal champêtre.“
„Einen Empfang, Eberhard,“ verbeſſerte die Mutter.
„Meinetwegen einen Empfang,“ fuhr der Vater
heiter fort. „Auf alle Fälle werden die Damen an
dem Tage ſeine Bekanntſchaft machen und endlich ein¬
[220] mal wird eine frohe Stunde auch für unſere arme,
brave Dine gekommen ſein.“
„Wir werden uns nun unverzüglich mit Deiner
Toilette zu beſchäftigen haben,“ hob die Mutter an,
wurde aber durch die Meldung eines Damenbeſuchs
in der hochwichtigen Pickenickangelegenheit unter¬
brochen. Ich war noch im Reiſekleid und durfte mich
in mein Zimmer zurückziehen.
Sollte ich denn über den verwünſchten Prinzen
nimmermehr zur Ruhe kommen? Kaum iſt das Traum¬
bild verſcheucht, ſteht er leibhaftig vor mir aufgepflanzt.
Hatte die Gräfin um dieſe Begegnung gewußt, ihre
Pläne darauf gegründet? War es ein Glücksfall von
denen, welche die Seherin der Familie in Karten und
Kaffeeſatz vorausgeſchaut? Waren die Reckenburg'ſchen
Bedingungen wohl ſchon dem armen, bedrängten, jungen
Herrn inſinuirt?
Nun auch mit einem leibhaftigen Störenfried läßt
ſich fertig werden und ſchneller häufig als mit einem
Hirngeſpinnſt, wenn nur das Rüſtzeug des Stolzes
ſcharf geſchliffen iſt. Ich war mit dem meinigen fertig,
ehe noch unten die große Conferenz abgelaufen war.
Ein leichter Schritt auf der Treppe brachte mich
vollends in das natürliche Geleis zurück. Es war
[221] Dorothee, die mich nicht vor dem morgenden Tage
erwartet hatte und von einem Ausgange zurückkehrte.
Jetzt erſt legte ich die Reiſekleider ab, öffnete dann,
meine Nachbarin zu überraſchen, leiſe die Thür und
ſtand eine Weile unbemerkt auf ihrer Schwelle.
Die rege, behende kleine Dorl ſaß am Fenſter,
das Köpfchen in die Hand geſtützt, ſie, die ich immer
nur lachen und plaudern gehört, ſie — ſeufzte; ſie
ſchien mir bleicher, als da ich ſie verlaſſen hatte, das
Auge weiter, fragender geöffnet und von einem bläu¬
lichen Schatten umringt. Die Blumen auf dem Fen¬
ſterbrett hingen durſtig die Köpfe, die Zeiſige im
Bauer flatterten unruhig nach Futter. Ihre fröh¬
liche Pflegerin hatte ſie verſäumt.
Sobald ſie jedoch meiner anſichtig ward, da goß
ſich der gewohnte blühende Lebenshauch über die lieb¬
liche Geſtalt. Sie ſtürzte mit einem Freudenſchrei an
meine Bruſt. „Hardine!“ jubelte ſie, „Fräulein Har¬
dine, o, nun iſt Alles wieder gut!“
„Was iſt gut?“ fragte ich, indem ich mich zu
ihr ſetzte und ihre Hand faßte. „Haſt Du Kummer,
Dorothee?“ Sie ſchüttelte den Kopf. „Oder Sorge?
Um den Faber etwa?“
„Um den Faber? ach, was weiß ich von dem!
[222] Der ſchneidet Krüppel und Leichen und bald zieht er
in den Krieg. Um mich kümmert er ſich nicht ſo viel.“
Sie ſchnippte lachend mit der Hand.
„Schreibt er Dir denn nicht?“
„Alle Jahr zweimal, zum Geburtstag und zum
heiligen Chriſt.“
„Und Du?“
„Was ſoll ich ihm ſchreiben? Ich erlebe ja
nichts. Ich bedanke mich für ſein Angebinde, ſchicke
ihm auch eins und damit gut.“
„Aber was fehlt Dir denn, liebe Dorothee?“
„Was mir fehlt? Ich glaube nichts. Ein we¬
nig Freude vielleicht. Aber ich weiß es nicht. Sie
haben ja auch keine Freude, Fräulein Hardine.“
„Du beſchäftigſt Dich nicht genügend, Kind,“
mahnte ich.
„Mit was ſoll ich mich denn beſchäftigen?“ ver¬
ſetzte ſie, „ich thue, was ich kann.“
Ich mußte ſchweigen. In der That, was ſollte
ſie thun in ihrer bräutlichen Freiheit und Beſchrän¬
kung? Undeutlich ahnte ich auch, daß Arbeit nicht
das Mittel ſein würde um dieſes Daſein auszufüllen.
„Aber was möchteſt Du denn, Liebe?“ fragte ich
nach einer Pauſe.
[223]
„Ich möchte leben!“ rief ſie mit jenem unbe¬
ſchreiblichen Impuls, mit welchem ſie damals im Gar¬
ten: „Gut ſein, Hardine, heißt Gottes Kind ſein!“
gerufen hatte.
Und wie ſie damals in raſcher Wandlung ſich
auf die erſten Veilchen ſtürzte, um die Freundin mit
ihnen zu ſchmücken, ſo ſtürzte ſie ſich heute auf deren
Hände, drückte ſie an ihr Herz und frohlockte: „O,
aber nun habe ich Sie wieder, Fräulein Hardine, nun
bin ich nicht mehr allein, nun bin ich vergnügt und
glücklich wie ſonſt!“
Gleichwohl verließ ich ſie mit dem Vorgefühl
nahender Schmerzen. „Dörtchen ſieht nicht mehr ſo
friſch aus, wie im Herbſt,“ ſagte ich, als ich zu den
Eltern zurückkehrte und der Vater entgegnete:
„Kein Wunder! Sie langweilt ſich, die arme
kleine Dorl. Schön wie ein Bild, ſiebenzehn Jahre
und immer das nämliche, freudloſe Einerlei!“
„Hat unſere Tochter etwa mehr Freude von ihrer
Jugend, Eberhard?“ fragte die Mutter ſcharf.
Der Vater ſtreichelte meine Backen und ich ſah
es wie einen Nebel über ſeine Augen fliegen. „Un¬
ſere Dine, unſere brave, gute Dine!“ ſagte er beküm¬
mert. „Verdammtes altes Hexenneſt! Ging's nach
[224] mir — —“ Er vollendete den Satz nicht, denn Frau
Adelheid hatte ein warnendes Räuspern hören laſſen.
Nach einer Pauſe aber fuhr er, ſich vergnügt die
Hände reibend, fort: „Nun Gottlob, nächſten Don¬
nerſtag kommt ja die Gelegenheit, wo Jungfer Eber¬
hardine auch einmal das Kittelchen ſchwenken darf,
wie es ihrer Jugend gebührt!“
Am anderen Tage war unſere kleine Wirthin
wieder die alte muntere Dorl und Feuer und Flamme
bei der großen Toilettenangelegenheit. Der Carton
der Gräfin wurde geöffnet und wir muſterten mit
wohlgefälligen Blicken eine Robe — kein Zweifel, daß
es die für die Einzugs-Tafel in Reckenburg beſtimmte
geweſen iſt — nun, eine Robe, die vor fünfzig Jah¬
ren vor einer glänzenden Hofgeſellſchaft Parade machen,
die aber heute noch in unſerer kleinen Exreſidenz hin¬
länglich modiſch und überreich erſcheinen durfte. Ein
meergrüner Damaſt mit leichten Silberfäden durch¬
woben, Aermel und Ausſchnitt mit einem Spitzen¬
hauche garnirt. Die Mama wiegte den Kopf mit dem
Ausdruck höchſter Befriedigung.
„Der Rock iſt zu kurz,“ meinte ſie, „kann aber
durch den entbehrlichen Manteau verlängert, auch die
Corſage paßlich dadurch hergeſtellt werden. Feinere
[225] Application ſah ich nie. Ihr Kaffeegelb hebt den brü¬
netten Teint, zumal bei gepuderter Friſur und echten
Perlen im Toupet. Eine fürſtliche Toilette, liebe
Tochter!“
Ich pflichtete dem bei. Die Dorl aber zog ein
Mäulchen, wie ein ſchmollendes Kind. „Beileibe
nicht Puder!“ Fräulein Hardine!“ raunte ſie mir in's
Ohr. „Keine Pariſerin trägt noch Puder und Toupet.
Und um Gotteswillen nicht dieſe ſtandfeſte Robe mit
der quittengelben Garnitur! Sie nähmen ſich ja aus
wie Ihre Großmutter, Fräulein Hardine. Ein Kleid
von weißem Neſſel, rothe Schleifen und eine friſche
Roſe — meine Stöcke blühen herrlich! — eine Roſe
im gekräuſelten ſchwarzen Haar, ſo möchte ich Sie
ſehen auf Ihrem erſten Ball!“
Der Tauſend, ich war auch einmal ſiebenzehn
Jahre! Im weißen Kleide, eine Roſe in den Locken
auf dem erſten Ball, zum erſten Male unter den
Augen von — — Kinder, das Herz zitterte mir im
Leibe vor heller Luſt.
Aber nur einen Augenblick, denn die Mama,
welche dem ungewohnten, halblauten Widerſpruch mit
ſichtlichem Mißfallen gelauſcht hatte, verſetzte: „Es iſt
kein Ball, mindeſtens nicht ſeinem erſten Zwecke nach
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 15[226] Es iſt ein Cercle, eine Präſentation. Mögen die
Amtmannsjungfern in Schäferröckchen einen Prin¬
zen von Geblüt umtänzeln: wir ſind nicht des Schlags,
der den Braten von einem Compottellerchen genießt.
Was aber den Puder anbelangt: haben die Jacobine¬
rinnen in Paris ihn abgelegt, der beſte Grund für
uns, ihn beizubehalten.“
Fahre wohl, Du leichter Neſſeltraum! Noblesse
oblige. Die letzte Reckenburgerin hat ihren Puder
ſo lange wie Eine und nie in ihrem Leben Roſen getragen.
Der Donnerſtagsmorgen brach an und noch
herrſchte in der Geſellſchaft die bänglichſte Spannung.
War der Prinz über Nacht angelangt? War er's
immer noch nicht? Was ſollte bei dem weichen Wet¬
ter aus Amtmanns Truthahn, was aus dem wilden
Schweinskopf der Frau Oberforſtmeiſterin werden?
Durfte die Freifrau von Reckenburg den Teig zum
Spritzkuchen einrühren?
Sie durfte ihn einrühren! Der Papa war es,
der athemlos die frohe Botſchaft brachte; der herzens¬
gute Papa, der mit Freuden den ſaueren Poſten eines
maître de plaisir und Vortänzers wieder übernom¬
men hatte, heute, wo es galt, ſeinem prinzlichen Com¬
mandeur einen würdigen Empfang und ſeiner Tochter
[227] ein erſtes Jugendfeſt zu bereiten. Der Prinz war in
der Nacht angelangt und hatte die Einladung des Co¬
mité huldreichſt acceptirt. „Ein Mann wie ein Bild!“
ſagte der Vater, „ſähe ihn Deine Gnädige, meine
Dine, ſie bezahlte mit Zuckerlecken ſeine Schulden.“
Nun hieß es alle Hände rühren. Schon früh
um neun erſchien der Friſeur. Kaum war der kunſt¬
volle Thurmbau mit erſter Kraft und Laune vollen¬
det, ſtellte auch ſchon Dörtchen ſich ein, um die Taille
zu ſchnüren und die Points vor dem Buſen feſtzuhef¬
ten. „O, das hat ja noch Zeit,“ ſagte ich abwehrend.
„Ich muß mich doch aber auch anziehen, Fräu¬
lein Hardine,“ entgegnete die Kleine, „und noch früher
oben ſein, als Sie.“
„Du?“ fragte ich verwundert.
„Ich helfe dem Vater nur ein wenig; der arme
Mann weiß nicht, wo ihm der Kopf ſteht, Fräulein
Hardine.“
Dawider konnte nun im Grunde nichts einge¬
wendet werden. Ich ließ mich daher zur Wespe zu¬
ſammenpreſſen und ſaß viele Stunden beklemmt und
mit noch rötherem Angeſicht denn ſonſt im väterlichen
Lehnſtuhl. Die Mama huſchte zwiſchen Backofen und
Toilettentiſch hin und wieder; der Papa hatte Noth,
15*[228] ſich in die alte Galamontur zu zwängen. Zwiſchen
Stück und Stück probirte er ein Entrechat, um die
Glieder für die große Abendaufgabe gelenk zu machen.
An ein Mittagbrod dachte von der geſammten Don¬
nerſtagsgeſellſchaft heute ſchwerlich ein Menſch.
Endlich, endlich ſchlug es vier. Die amtmänn¬
liche Caroſſe rollte vorüber und die Familie Recken¬
burg ſchlüpfte durch das Pförtchen des ſeligen Leib¬
barbiers auf die Schloßterraſſe und in den Pavillon.
Sie war die erſte auf dem Platze. Einem Prinzen
von Geblüt darf man nicht nur, man muß ihm zu¬
vorkommen.
Das Wetter war ſommermild; Bäume und
Sträuche blühten. Man hätte Ende April keinen
günſtigeren Nachmittag treffen können, wenn es auf
eine fête champêtre abgeſehen geweſen wäre. Da
es aber auf die Präſentation eines Fürſtenſohnes ab¬
geſehen war, hatte man ſich anſtandshalber für das
herzogliche Luſthaus entſchieden, wie Mutter Recken¬
burg für die Robe von drap d'argent. Das Luſt¬
haus beſtand allerdings nur aus einem einzigen Saal,
war aber für den heutigen complicirten Zweck mit
Hülfe einer Draperie in zwei Hälften getheilt worden.
Die vordere diente zum Empfang und darauf folgen¬
[229] dem Tanz, die hintere paſſirte als Speiſeſaal. Die
vorausgeſendeten Gerichte gewährten eine anlockende
Decoration, wie auch, gemiſcht mit den vom Garten
hereindringenden Frühlingsdüften, einen gar würzigen
Parfüm. Unter der Draperie, zwiſchen beiden Ab¬
theilungen, ſtand Meiſter Müllers Büffet und ſeine
behäbige Geſtalt lehnte in der Thür, die zur Seite
in Küche und Keller führte. Dorothee verhielt ſich
natürlich hinter der Scene.
In dieſem Raume, der übrigens ſein fürſtliches
Anſehen leidlich bewahrt hatte, harrte die vollzählig
verſammelte Geſellſchaft eine Stunde lang, zwei
Stunden, noch länger auf den Erſehnten, der — nicht
kam. Keiner ſetzte ſich, keiner hatte die Geduld ein
Geſpräch fortzuführen. Aller Blicke hingen geſpannt
an der geöffneten Thür. Es war ſo ſtumm in dem ge¬
füllten Saale, daß man die Vögel draußen zwitſchern
hörte. Auf der Tribüne hielt die Regimentsmuſik
ſtandhaft die Trompeten am Munde, um den Bewill¬
kommnungstuſch nicht zu verſäumen. Unter dem Ein¬
gange ſtand, im Prallſonnenſcheine, chapeau bas,
das Comité, an ſeiner Spitze, mit zum Tubus gehöhl¬
ter Hand, der Rittmeiſter von Reckenburg. Alles
lauſchte, lugte, lauerte — kein Prinz kam.
[230]
Abſichtliche Unpünktlichkeit von Seiten eines kur¬
ſächſiſchen Blutsverwandten konnte nicht angenommen
werden; es mußte ein Mißverſtändniß obwalten, oder
ein Unfall eingetreten ſein. Nach langer Deliberation
ſetzte ſich der Chef des Comité's zu einer unterthä¬
nigen Anfrage in Bewegung, und hat die Familie
dieſes Chefs ſpäterhin vertraulich in Erfahrung ge¬
bracht, daß es mit der unannehmbaren fürſtlichen Unhöf¬
lichkeit doch nicht ſo ganz ohne geweſen ſei. Als
der Abgeſandte vor dem hohen Gaſte erſchien, lag der¬
ſelbe gemächlich im Schlafrock auf der Cauſeuſe aus¬
geſtreckt, eine lange Türkenpfeife im Munde und den
Hamburger Correſpondenten in der Hand. „Schon?“
fragte er gähnend. „Sind die Schönen ihrer Reize
ſo ſicher, um ſie bei Sonnenſchein preiszugeben?“
Doch verhieß er ſein Erſcheinen, ſobald Zeitung und
Toilette vollendet ſein würden.
Es dämmerte bereits, als der Abgeſandte mit
dieſer Botſchaft zurückkehrte. Flugs wurden die Fen¬
ſterläden geſchloſſen, die Kronleuchter angezündet. Die
Geſellſchaft rangirte ſich in zwei Heckenwände, zwiſchen
denen der erlauchte Gaſt ſeinen Durchgang nehmen
ſollte. Obenan die Gemahlinnen des Adels, dann die
bürgerlichen; nunmehr die Fräulein, neben ihnen die
[231] Demoiſelles und endlich die Herren in gleicher Rang¬
ordnung.
Noch dauerte es eine gute Weile, ehe der lange
gehegte Tuſch und gleich darauf die vorſtellende Stimme
des maître de plaisir am oberen Ende erſchallten.
Ich hatte mich nicht umgeblickt und mein Haupt in
ſtolzeſter Haltung aufgerichtet, um das ſchlagende Herz
vor mir ſelber Lügen zu ſtrafen. Erſt als ich meinen
Vater den Namen: „Freifräulein Eberhardine von
Reckenburg,“ nennen hörte und während ich mich zu
der bewährten Menuetſenkung niederließ, hob ich das
Auge, ſo ruhig ich vermochte, zu dem Vorüberſtrei¬
fenden empor.
Ich war auf einen ſchönen Mann vorbereitet;
der aber, meine Freunde, welcher meinem Blicke be¬
gegnete, es war nicht der ſchönſte Mann, den ich bis
dahin geſehen — denn das würde nicht viel bedeuten
— aber es war und blieb, ich weiß keinen bezeichnen¬
deren Ausdruck, als der anmuthvollſte Jüngling, den
das Leben mir vorgeführt hat. Hatte er in ſeiner Ju¬
gend geſtürmt, das Aeußere wenigſtens trug von dieſen
Stürmen keine Spur; nicht die ſchlanke, geſchmeidige Fi¬
gur, nicht die roſige Farbe von faſt mädchenhafter
Transparenz, nicht die Züge, welche vielleicht zu weich
[232] und fein erſchienen ſein würden ohne das große,
ſchwarzblaue Auge, das mit kühnem Feuer das Ant¬
litz beherrſchte. Dazu das lichtblonde Bärtchen über
der heiter gekräuſelten Oberlippe, die üppige Locken¬
welle, welche dem ſteifen Zopfband widerſtrebte und
endlich jene ſichere Läſſigkeit in Tracht und Haltung,
die nur denen natürlich iſt, deren Herablaſſung als
Huld betrachtet wird. Mein biederer Vater in ſeiner
Zwangsjacke und ſtandfeſten Würde ſpielte in meinen
Augen eine ärgerlich komiſche Figur neben dieſem
Liebling der Grazien im bequemen, halbgeöffneten Collet.
Es war der erſte Blick, mit dem ich dieſen
vollen Eindruck erfaßte, und ich begriff während dieſes
erſten Blicks die Erinnerungsluſt meiner achtzigjähri¬
gen Reckenburgerin, wenn der Sohn ihres Ungetreuen
ſeinem Vater ähnlich ſah: Ja, ſeltſam — ſollte es
ein Ahnen der Zukunft geweſen ſein? — während
dieſes erſten, kurzen Blickes, ſurrte es vor meinen
Ohren, wie die Todtenklage des Hadrian, die mir der
Prediger neulich ſo beweglich geſchildert hatte, denn ein
Schönerer als dieſer Antinous konnte das kaiſerliche
Künſtlerauge nicht erquickt haben.
Als der Vater meinen Namen nannte, ſtutzte der
Prinz, der noch eben, nachläſſig mit dem Spitzentuche
[233] grüßend, an meiner Nachbarin vorübergeglitten war.
Er pauſirte einen Moment, ein vertrauliches Lächeln
auf den Lippen, ſo, als ob er einem alten Bekann¬
ten begegnet ſei; dann ging es weiter, vorſtellend und
ſich neigend die Reihe entlang.
Die Polonaiſe hob an. Der Prinz führte meine
Mutter durch den Saal, bei Weitem zu kurz und
kunſtlos für die Mode der Zeit. Jetzt entſtand eine
Pauſe; die Großwürdenträgerinnen erwarteten geſpannt
eine Näherung des gefeierten Gaſtes und zuckten unver¬
hohlen die Achſeln, als ſie ihn, nachdem er bereits der
verwittweten Excellenz vom Hofmarſchallamt die Gat¬
tin ſeines Rittmeiſters vorgezogen hatte, jetzt raſchen
Schrittes ſich deren Tochter zuwenden ſahen.
„Sie kommen von Reckenburg, Gnädigſte?“ ſo
redete er mich mit dem vorigen, vertraulichen Lächeln
an. „Wie geht es meiner Exmama? Unſterblich,
ſo ſagt man — —“
„Unentkräftet mindeſtens, Durchlaucht, und uner¬
müdet,“ antwortete ich.
„Auch unerſättlich, gelt, und unerbittlich über
ihren lydiſchen Schätzen! Nun, auch Cröſus hat ja
endlich ſeinen Solon gefunden. Wollen Sie nicht
Ihre Weisheit geltend machen, Gnädigſte, um wenig¬
[234] ſtens einen armen Schuldner von ſeiner Sclaven¬
kette zu befreien?“
Ich kann nicht ſagen, daß dieſe kameradſchaft¬
liche Einführung beſonders nach meinem Geſchmack
geweſen wäre. Aber ich merkte kaum auf den Sinn
der leichtfertigen Plauderei; ich lauſchte nur dem mu¬
ſikaliſchen Klang, der biegſamen, impulſiven Melodie
der Stimme, die gleich einem Zauber das Herz um¬
ſpann.
Das Orcheſter hob während der letzten Worte
die Weiſe eines Wiener Walzers an und ich las in
den neidiſchen Blicken meiner Mitſchweſtern, daß man
den Prinzen für meinen Tänzer hielt. Der brave
Vortänzer ſtürzte ſich heldenmüthig auf die beleidigte
Frau Amtmännin, um ſie für dieſe neue Bevorzugung
ſeiner Familie nach Leibeskräften zu entſchädigen.
Auch ich erwartete, daß mich der Prinz in die Reihe
führen werde, und ich erwartete es mit zitternder Luft.
Da er aber keine Miene machte, ſich vom Platze zu
rühren, ließ ich mich ruhig in einer Sophaecke nieder.
„Sie tanzen nicht?“ ſagte der Prinz, indem er
ſich an meine Seite ſetzte. „Deſto beſſer. So plau¬
dern wir und machen unſere Gloſſen.“
Die Paare drehten und wiegten ſich an uns vor¬
[235] über; keines entging dem prinzlichen Spott. „Nicht
eine Phyſiognomie! nicht eine friſche Natur!“ rief er
endlich verdroſſen. „Und Alles das rühmt ſich, nach
Gott-Vaters Ebenbilde geſchaffen zu ſein. Wie haben
Sie es fertig gebracht, Fräulein von Reckenburg, in¬
mitten dieſer Larven, unter dieſen platten, todten Her¬
kömmlichkeiten Sie ſelbſt zu bleiben?“
„Ich bin zum erſtenmale in Geſellſchaft,“ konnte
ich zu antworten mich nicht enthalten. Aber ich that
es mit leidlichem Humor, denn ich ſaß einem Spie¬
gel gegenüber und begriff, wie viele Sommer er der
meergrünen Brocatträgerin zuſprechen mochte.
„Oder wie werden Sie es fertig bringen?“ ver¬
beſſerte er ſich.
„Nun, auch Durchlaucht werden es ja fertig brin¬
gen müſſen,“ ſagte ich lächelnd.
„Ich? beim Zeus, ich wahrlich nicht!“ rief er
aus. „Man hat mich hier an die Kette gelegt. Aber
wähnt mein würdiger Vormund von Sachſen, daß der
erſte Kanonenſchuß am Rhein dieſe Kette nicht ſpren¬
gen wird? Endlich, endlich iſt es ja ſo weit! O, der
Schmach, daß Franz von Oeſterreich nach väterlichem
Exempel zögern konnte, bis ſein unglückſeliger Ohm
unter der Tortur ſeiner jacobiniſchen Häſcher, ihm
[236] ſeine Horden entgegentreibt! Schmach, ewige Schmach,
daß dieſer, unſer baldiger Kaiſer heute noch ſich win¬
det und krümmt wie ein Aal. Aber Gottlob! König
Friedlich Wilhelm iſt Feuer und Flamme, jenen
Häſchern die Daumſchrauben anzuſetzen. Stelle er
ſich an die Spitze der Armee, rufe er ſein Vorwärts
und wenigſtens wir, das heißt die Legion deutſcher
Fürſten ohne Land, werden nicht ſäumen, um unter
Friedrichs Banner dem Erben des heiligen Ludwig
ſeine königliche Freiheit zurückzuerobern.“
Auf dieſe Weiſe zwiſchen Scherz und Pathos
plauderte mein junger Held unter dem Rauſchen des
Wiener Walzers, harmlos ſeine Zukunftspläne aus.
Ich wußte ja, wie kriegeriſch ſein Sinn geſtellt ſei.
Nur daß er damit umgehe, in preußiſche Dienſte zu
deſertiren, mußte mich Wunder nehmen. Und ſo ent¬
blödete ich mich denn auch nicht, ihn daran zu erin¬
nern, daß eine Schwenkung juſt in dieſes Lager wenig
Anklang in ſächſiſchen Herzen finden werde.
„Habe ich eine eigene Armee in's Feld zu füh¬
ren?“ verſetzte er lachend. „Oder ſoll ich darauf war¬
ten, bis das heilige römiſche Reich deutſcher Nation
ſich auf ſeine Pflicht — bah! nur auf ſeine Nothwehr
beſonnen hat? Bis am Ende auch der oberſächſiſche
[237] Kreis ſein Fähnlein aufgeboten? Oh! nur die Sub¬
ſidien Ihrer Reckenburg, Gnädigſte,“ ſetzte er mit
einem ſchelmiſchen Augenblinzeln hinzu, „nur die Sub¬
ſidien Ihrer Reckenburg und ich lege den erſten Lor¬
beerkranz zu Ihren Füßen, den ich wie mein braver
Vetter von Weimar als preußiſcher Soldat errungen
haben werde.“
Der Tanz ging während dieſer Tirade zu Ende
und ich erhob mich, um mich vor den ärgerlichen
Blicken der Geſellſchaft unter die Flügel meiner Mut¬
ter zurückzuziehen. Der Prinz folgte mir. Das erſte
Menuet wurde eben angeſtimmt.
„Sie ſcheinen eine Virtuoſin in der Kunſt, ſich
mit Anſtand zu ennuyiren,“ ſagte er, „wollen Sie
mir Stümper in derſelben noch dieſen Tanz hindurch
als guter Kamerad zur Seite ſtehen?“
Freilich wäre ich lieber im Rundtanz als flotte
Partnerin in ſeinen Armen durch den Saal gewirbelt,
aber auch nur, als guter Kamerad eine Viertelſtunde
länger ihm vis-à-vis, dünkte mich eine Herzensluſt.
Als wir, nach vollbrachter Tour am Ende der Co¬
lonne anlangten, ſeufzte mein Chapeau ſo herzbeweg¬
lich, daß ich die Ungalanterie mit einem Lächeln zu
beantworten vermochte. Auch er lachte. „Dieſe feier¬
[238] liche Strapaze nennt der Deutſche Vergnügen,“ rief
er aus, „Beim Zeus! mit Wolluſt reichte ich meinen
Herrn Jacobinern die Hand zu einer ehrlichen Car¬
magnole!“
Ich erlaubte mir zu bemerken, daß ein luſtiger,
deutſcher Ländler vielleicht dieſelben Dienſte leiſten
werde und daß Durchlaucht ihn nur zu befehlen brauche,
um ſich für die Strapaze einer Anſtandspflicht zu
entſchädigen.
„Zum Luſtigſein gehören mindeſtens Zwei,“ er¬
widerte er, indem er die Blicke ſpöttiſch über unſere
ſtolze Geſellſchaft ſchweifen ließ. Jählings aber ſtockte
er. „Himmel, wer iſt das?“ rief er mit Entzücken;
„wer iſt das?“
Mir war als ob ich den Blitz in einer Pulver¬
mine zünden ſähe, denn meine Augen waren den ſei¬
nigen gefolgt. Wären ſie aber auch mit Blindheit
geſchlagen worden, weſſen Anblick hätte denn eine ſo
jähe Bezauberung wirken können, als der meiner eignen,
einzigen Schönen, als — Dorotheens?
Die Tanzmuſik hatte ſie aus ihrem Verſteck her¬
vorgelockt. Sie ſtand einen Schritt vor dem Büffet,
mit leuchtenden Augen, verlangend wie ein Kind, das
die erſehnte Frucht unerreichbar am Baume hängen
[239] ſieht. Die leibhaftige Eva! Die Arme waren leiſe
gehoben, der Körper vorgeneigt, in der Hand hielt ſie
ein Körbchen, mit Blumen umwunden und gefüllt mit
dem Zuckerbrod, das ſie ſo zierlich zu formen ver¬
ſtand. Der lichtblaue Saum des weißen Neſſelrocks
reichte knapp bis zum Knöchel; die Füßchen in den
flitternden Kinderſchuhen trippelten den Takt der Muſik;
das goldne Gelock wogte unter dem blauen Bande,
das es loſe zuſammenhielt und der Roſenſtrauß, den
ſie für mich gezogen hatte, bebte unter den raſchen
Schlägen des Herzens. So reizend wie in dieſem
Augenblicke ſah ich die reizende Dorl niemals vor
und niemals nach der Zeit.
Als ihr Auge dem unſeren begegnete, ſchlug ſie
es dunkelerröthend zu Boden und entſchlüpfte durch die
Seitenthür.
„Wer iſt dieſe Hebe?“ wiederholte der Prinz.
„Die Tochter des Schenkwirths,“ antwortete ich,
verbeugte und ſetzte mich neben meine Mutter.
Es folgten verſchiedene Tänze, die ich in den
Armen dieſes und jenes jugendlichen Springinsfeld
abhaspelte, ſo ſeufzend wie vorhin mein Prinz die
Anſtandsſtrapaze der Menuet. Er ſelber tanzte nicht
wieder. Unbekümmert, wie im Wirthshaus, ſaß er
[240] neben dem Büffet in einem Kreiſe von Officieren, mit
denen er tapferlich zechte. Aber nicht etwa von Meiſter
Müllers landwüchſigem Product, auch nicht von den
edelſten Sorten, welche die feſtgebende Geſellſchaft zu
liefern vermocht hatte; nein, ſchäumenden Cliquot, den
er, „als Scherflein zum Pickenick,“ aus ſeinem eignen
Keller holen ließ.
So häufte er Beleidigung auf Beleidigung. Mit
jedem ſpringenden Pfropfen aber ſuchten ſeine Augen
flammender nach der lieblichen Schenkin, die ſo oft
eine neue Tanzweiſe anhob, wie von Hüons Horn ge¬
lockt, in der Thür erſchien, bis unter den Vorhang
ſchlüpfte und mit Sehnſucht die wirbelnden Paare ver¬
folgte. Daß während dieſer Wanderung ihre Blicke
manchesmal den ſuchenden am Zechtiſche begegneten,
daß ſie dem zürnenden Mienenſpiel Jungfer Ehren¬
hardinens gar behende auszuweichen verſtanden, das
erſcheint Jungfer Ehrenhardinen heute freilich verzeih¬
licher, als es ihr anno 92 erſchienen iſt.
Endlich verkündete ein Trompetenſtoß das Souper.
Nun mußte das frevelhafte Intermezzo doch ein Ende
nehmen! Die Geſellſchaft verfügte ſich in das zweite
Compartiment, allwo an kleinen Tiſchen rings um die
Mitteltafel das ſchöne Geſchlecht von den Cavalieren
[241] bedient werden ſollte. Innerhalb jeder dieſer Gruppen
war, mit Liſt und Gewalt, ein Platz offen gehalten
worden, in der Hoffnung, daß der gefeierte Gaſt ihn
zu dem ſeinigen erkieſen werde.
Aber die ſchon ſo vielfältig herausgeforderte Ent¬
rüſtung ſchwoll zur Empörung, als der ſchnöde junge
Herr keine der heimlich Erwartenden befriedigte und
alle enttäuſchte, indem er einfach inmitten ſeiner Zech¬
geſellſchaft ſitzen blieb; als er von keinem der mit ſo
viel Kunſt und Aufwand hergeſtellten Leckerbiſſen auch
nur koſtete, ſondern ſich mit einem Kringelchen begnügte,
welches Hebe Dorl, auf einen Wink Meiſter Müllers,
ihm in ihrem Blumenkörbchen präſentirte.
Wie ich die Erröthende mit einer unbeſchreiblichen
Neigung vor ihn treten ſah; wie er aufſprang, ſein
Glas gegen ſie hob und es in einem Zuge bis auf
die Nagelprobe leerte, — der Biſſen im Munde ſtockte
mir, und der Tropfen, mit dem ich ihn herunterſpülen
wollte, brannte mich wie Gift; aber es war ein Bild,
vor welchem ſelber das zornſprühende Naturkind die
Luſt eines Künſtlerauges begreifen mußte.
Programmgemäß ſollte das Feſt mit dem Souper
zu Ende gehen. Alles rüſtete ſich zum Aufbruch. Unſer
bisher ſo läſſiger Held jedoch fuhr plötzlich in die
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 16[242] Höhe und forderte mit lauter Stimme den Kehraus.
So ſtark der Unwille geweſen, die Großmuth gegen
einen Gaſt von Geblüt war ſtärker. Lag doch an ſich
auch für die Donnerſtagsgeſellſchaft nichts Ungebühr¬
liches in der Aufführung eines gewohnten Schlußtanzes,
deſſen bäuriſche Weiſe und buntſcheckiger Wechſel nach
dem Souper erſt den rechten Humor zur Geltung
brachten. Alt und Jung reihte ſich zu Paaren, nur
der Feſtordner ſtand noch auf der Lauer, um, nachdem
ſein hoher Chef ſich entſchieden, aus der Ueberzahl der
Schönen die Würdigſte als Anführerin zu erküren.
Jetzt aber, da Prinz Sansfaçon der verehelichten
Gruppe gleichgültig den Rücken kehrt, ſchießt er auf
die Frau Amtmännin zu, bietet ihr begütigend die
Hand und iſt im Begriffe, mit ihr an die Spitze der
Colonne zu treten, als — o wehe, dreimal wehe
unſerer adligen Reunion! — als er den Prinzen an
den Schenktiſch ſtürzen und Kellermeiſters kleine Dorl
in die Reihe ziehen ſieht.
Ein Donnerſchlag hätte nicht vernichtender zün¬
den können. Einen Augenblick ſtand Alles ſtarr und
ſtumm, dann helle Revolution! Die Frau Amtmännin
kehrte mit einem kopfnickenden „bedanke mich,“ wieder
um; ſämmtliche Frauen und Fräulein von Adel traten
[243] aus der Reihe und eilten nach der Thür, hinter deren
Säulen verborgen ſie den unberechenbaren Ausgang
erwarteten.
„Glaubt Seine Durchlaucht zu einer Kirmeß ge¬
laden zu ſein?“ hörte ich hinter mir die von dannen
rauſchende verwittwete Excellenz vom Hofmarſchall¬
amt höhnen.
Ich mit einem blutjungen Junkerchen, das ich
auf dem Präſentirteller hätte ſchwenken können, bil¬
dete von der adligen Spitze den Uebergang zu dem
bis jetzt ſtandfeſten bürgerlichen Gefolge. Dachte ich
daran, dem von oben herab gegebenen Signale der
Deſertion zu folgen? Doch wohl nicht. Denn warum
ſonſt vermied ich den rathgebenden mütterlichen Blick?
Meine Augen hingen an dem anſtößigen Paare, das
jetzt in der entſtandenen Lücke an meine Seite rückte.
Ich ſah Dorotheens flehende Angſt und Luſt; ſah des
Prinzen vertraulichen Wink, der zu ſagen ſchien: „Du
biſt keine Närrin, Du bleibſt.“ Kurzum ich blieb.
Die Bourgeoiſie folgte meinem Exempel und der Tanz
hob an.
Das war freilich ein anderes Treiben als die
Strapaze, welche der Deutſche ſonſthin Vergnügen
nennt! Wie raſch und luſtig die Gefüge wechſelten,
16*[244] die Paare ſich verſchlangen und in einander ſchoben!
Wie die roſige Hebe im Arme ihres Götterjünglings
den Saal durchkreiſelte, wenn beim Schluſſe jede Tour
in eine Galoppade überging! Wie nun in den Wirbel
der Glieder auch der der Kehlen ſich miſchte, der prinz¬
liche Vortänzer unter Händeklatſchen und jauchzendem
Chorus die alte Sangesmähr von „dem Großvater,
der die Großmutter nahm,“ intonirte, und endlich nichts
Altes und Neues mehr übrig blieb als — der Kuß!
Zeitlich, ſittlich, meine Freunde! Wir ſchrieben
zweiundneunzig und ein Küßchen im Tanze dünkte uns
damals beileibe nicht ein Raub. Manchmal wurde
gleich die Polonaiſe damit eingeleitet; oder man ver¬
legte es in eine Tour des Engliſchen; keinenfalls fehlte
es im biederen, vaterländiſchen Großvater und nicht
etwa blos beim Mannſchießen, oder auf der Kirmeß.
Meine Mitſchweſtern von der Montagsgeſellſchaft
waren es gewohnt, die Bäckchen ihrem Partner dar¬
zureichen und nach dem Partner jedem Anderen, mit
dem die Verſchiebung ſie zuſammenführte. So ein
halbes Hundert Mäulchen in einer Tour, — nun es
war kein berauſchendes Gewürz, aber es würzte doch.
Unſere vornehme Reunion, mit den Reminiscenzen
des weiland Herzogshofs war allerdings zu nobel con¬
[245] ſtituirt, um derlei naturaliſtiſche Ausſchweifungen zu
vertragen. Nun aber an ihrem ſtolzeſten Tage einen
Prinzen von Geblüt die Lippen auf einer Schenkdirne
Lippen drücken zu ſehen, und wie zu drücken, — ſo
ſonder Kunſt und Methode! — ſie hat ſich von dieſem
ſchauderhaften Bilde niemals erholt; es war der To¬
desſtreich, der ſie getroffen.
Er küßt ihren Mund, umſchlingt ſie, preßt ſie
an ſeine Bruſt und jagt mit ihr durch den Saal.
Im raſenden Tempo löſt ſich die blaue Schleife aus
ihrem Haar; er reißt ſie an ſich und birgt ſie an
ſeinem Herzen. Das goldene Gelock wallt und weht
im Wirbel bis zu den Knieen hinab. Die Ordnung
iſt aufgelöſt. Singend, jauchzend, athemlos ſtürmen
alle Paare hinter dem erſten drein. Ganz zuletzt auch
Jungfer Ehrenhardine nach einem züchtigen Handkuß
ihres Junkerchens.
Da jählings — halt! Der Feſtordner hat Trom¬
peten und Pauken das Schweigſignal zugewinkt. Noch
ſehe ich, wie Dorothee, gleich einem geſcheuchten Reh,
durch die Seitenthür verſchwindet, wie der Prinz ein
ſchäumendes Glas hinunterſtürzt. Dann wirft mir
die Mutter die eigne Saloppe über den Kopf. Wirr
und jäh drängt alles nach dem Ausgang.
[246]
Und ſo in einem bachantiſchen Taumel, mit einem
haarſträubenden Aergerniß endet das Prinzenfeſt der
adligen Donnerſtagsgeſellſchaft anno 92, dem großen
Jahre der Revolution. Ich habe ihm ein langes Ka¬
pitel in meiner Lebensgeſchichte gewidmet: es war ja
das einzigemal, daß ich beinahe Roſen getragen hätte.
Sechstes Capitel.
Die Brautlaube.
„Ein höchſt verdrießlicher Eclat!“ ſo unterbrach
die Mutter unſer allſeitiges Schweigen, nachdem des
Leibbaders Pförtchen ſich hinter uns geſchloſſen hatte.
„Nach Lage der Dinge aber, Eberhard, muß ich ſa¬
gen, daß unſere Tochter ſich taktvoll benommen hat.“
„Brav, recht brav, meine Dine!“ ſagte der Va¬
ter, als ob ihm ein Stein vom Herzen fiele. „Die
Kleine wurde mit Gewalt in den Tanz gezogen; ſie
war Dinens Geſpielin, iſt unſere Hauswirthin, und
hat der Faber ſie erſt geheirathet, ſo gehört ſie in die
Geſellſchaft, ſo gut als —“
„Deine Gründe gelten nicht, Eberhard,“ unter¬
brach ihn die Mama. „Das Mädchen hat ſich auf
das Unſchicklichſte betragen. Als Fabers Braut mußte
ſie zu Hauſe bleiben, oder als des Schenkwirths Toch¬
[248] ter, ſich in Küche und Keller halten. Der ſchäferli¬
chen Toilette noch gar nicht einmal zu gedenken. Un¬
ſere Tochter jedoch ſtand einmal in der Reihe und eine
Reckenburg wird auf jedem Platze ihre Haltung zu
behaupten wiſſen, zumal wenn eine Amtmannsfrau,
die aus einer Mühle ſtammt, ihr beim Rückzug das
Prävenire ſpielt.“
Ich erwiderte kein Wort, küßte den Eltern die
Hand und eilte in meine Kammer. Ich dachte nicht
daran, mich auszukleiden und niederzulegen. Unbe¬
weglich ſaß ich auf dem Bettrand, ich weiß nicht, wie
lange. Mir war, als wäre ich von einem hohen Thurm
gefallen und krauſe Phantome wirbelten in dem er¬
ſchütterten Hirn. Ich hörte einen leiſen Schritt an
der Thür: ich rührte mich nicht; ich ſpürte einen hei¬
ßen Athem an meiner Wange, ich blickte nicht auf,
aber meine Hand zuckte, die Frevlerin von mir zu ſto¬
ßen, die zu meinen Füßen niederkniete und ihren Kopf
in meinem Schoße barg. „Sind Sie mir böſe,
Fräulein Hardine?“ flüſterte ſie mit ihrem kindlich¬
ſten Klang.
Ob ich ihr böſe war! Der Athem ſtockte mir
und das Blut ſiedete im Grimm gegen die treu- und
ſchamloſe Schenkendirne. Ich wendete das Geſicht
[249] von ihr ab und ſtarrte geradeaus in den Spiegel, der
auf meinem Nachttiſche ſtand. Und dieſer Spiegel¬
blick löſte den Bann. Denn was heißt denn gerecht
ſein, als richtig ſehen? Ich aber ſah in dem engen
Rahmen das Freifräulein von Reckenburg in ſeinem
hohen Toupet und ſteifen Brocat, die mannshohe Ge¬
ſtalt, mit dem hochgerötheten Geſicht, zu der die welt¬
kundige Greiſin geſagt hatte: „Du entzündeſt kein jun¬
ges Herz.“ In ihrem Schoße aber lag, vom golde¬
nen Lockenſchleier umhüllt, ein Kind mit allen Reizen
des Weibes, mit pulſirender Gluth und auf der Stirn
den Stempel: „Dir wird kein junges Herz wider¬
ſtehen.“
Nach langer Pauſe und einem tiefen Athemzuge
ſenkte ich den Blick von dem Spiegelbilde hinab in
den Schoß. „Gut ſein, gut ſein!“ flüſterte die Zau¬
berin und ihre Lippen brannten auf meiner Hand,
heiß von dem Leben, den eines Anderen Athem dem
Buſen eingehaucht hatte.
„Du haſt Dich hinreißen laſſen, Dorothee,“ ſagte
ich, indem ich ſie in die Höhe zog und mich erhob.
„Wenn es Dir aber leid iſt —“
„Leid?“ rief ſie, erbebend unter dem Schauer
des erſten, kaum geahnten Glücks. „Leid? Nein, o
[250] nimmermehr leid! Und wenn ich darüber ſterben
ſollte, Hardine!“
Sie floh aus der Thür. Und ich? Gelt, ich
lag wie auf Roſen gebettet und ſchlummerte in Got¬
tes Frieden nach großmüthiger Heldinnen und ſchöner
Seelen Art? Ich ſage Euch, auf Neſſeln und Dor¬
nen habe ich mich gewälzt, wie ſiedendes Blei hat es
in meinem Herzen gewühlt, und wenn eines gebe¬
tet hat in dieſer Nacht, ſo war es das ſelig fre¬
velnde, nicht das entſagende Menſchenkind.
Die Familie von Reckenburg konnte es allſeitig
nur gut heißen, daß ihre beſchämte Hauswirthin ſich
in den nächſten Tagen ihrer Begegnung entzog, daß
ſie auch den lauernden Blicken und Stichelreden der
Nachbarſchaft aus dem Wege ging, und nur von der
Gartenſeite in die väterliche Wohnung ſchlüpfte Sel¬
ber Frau Adelheid hielt das Kind, das unter ihren
Augen erwachſen war, zu hoch, um nachhaltige Wir¬
kungen einer übermüthigen Laune zu befürchten, und
die kleinſtädtiſche Klatſcherei ſtachelte dieſe ſtolze Ge¬
ringſchätzung der Gefahr.
Im Uebrigen hatten wir genug zu thun, uns der
eigenen Haut zu wehren; denn wenn die bürgerlichen
Bolzen ſich nach dem Dachſtübchen richteten, vor wel¬
[251] chem die Faber'ſchen Scheerbecken geglänzt hatten, die
giftigen Pfeile der „Geſellſchaft“ zielten auf das un¬
tere Geſchoß, deſſen Inſaſſen, bethört von fürſtlicher
Gunſt, der gerechtfertigten Empörung Trotz geboten,
und erſt dadurch den Scandal unheilbar gemacht hatten.
Selbſtverſtändlich, daß unter dieſen Zuträge¬
reien die freiherrliche Familie ihren Nacken höher und
ſtolzer denn jemals trug. Verhehlt aber ſoll nicht
werden, daß eine Migraine, welche die Hausfrau eine
Woche lang an das Bett feſſelte, in heimlichen Gallen¬
affectionen ihren Grund gehabt haben mag.
Solchergeſtalt wandelten Vater und Tochter am
Sonntagmorgen allein zur Kirche und hier war es,
wo ſie die ſchöne Frevlerin zum erſtenmale nach je¬
nem heilloſen Abend wiederſahen. Sie ſaß unſerer
adligen Empore gegenüber im Schiff dicht unter der
Kanzel, und ſchon während des Lieds konnten uns
die neugierigen Blicke nicht entgehen, welche in der un¬
teren Gemeinde zwiſchen ihrem Platz und dem hohen Her¬
zogsſtuhle, hinter deſſen Gittern der Prinz, — leider
mit Unrecht, — vermuthet ward, auf- und niederflogen.
Wie mußte nun aber das Behagen dieſer Aufre¬
gung wachſen, als jetzt der würdige Hofprediger die
Kanzel beſtieg und über das bekannte Thema: „Ge¬
[252] bet Gott und Caeſar,“ die Pflichten gegen Altar und
Thron, die der Fügſamkeit gegen die geheiligte Ord¬
nung der Stände und das Schauerbild ſündiger Frei-
und Gleichmacherei ſeiner Gemeinde kräftiglich zu Ge¬
müthe führte.
Dem einſamen, harthörigen alten Herrn war
ohne Zweifel kein Wort über die große locale Tages¬
frage zu Ohren gekommen. Er hatte ſeine Predigt
ſchon Anfangs der Woche ausgearbeitet, im lodern¬
den Zorn über die Rebellen in Paris, welche den
frommen, unglückſeligen König zur Kriegserklärung
gegen das verwandte Oeſterreich, ſeinen einzigen Hoff¬
nungsanker gezwungen hatten. Wenn das wohlſtu¬
dirte Redeſtück durch augenblickliche Eingebung eine
perſönliche Schärfung erhielt, ſo konnte höchſtens der
junge Fürſtenſohn dafür verantwortlich gemacht wer¬
den, deſſen Herz zu ergötzen es beſtimmt geweſen war,
und der in ſolch gottloſer Zeit ſich ſchnöde der Pflicht
gegen des Himmels Heiligthum entzog. Des beſchei¬
denen Beichtkindes zu ſeinen Füßen gedachte der feu¬
rige Redner in dieſer Stunde nicht, vorher und nach¬
her aber mit väterlicher Liebe.
Unſere ſolide Bürgerſchaft dahingegen, wie ferne
lag es ihr, einen Rückſchlag von Dumouriez's Ulti¬
[253] matum auf ihrer Kanzel vorauszuſetzen! War ſie eine
Jakobinerhorde, die eines geiſtlichen Ordnungsrufs
bedurfte? Gab man ohne Murren nicht Gott, was
Gottes, und dem Kurfürſten, was des Kurfürſten war,
vorausgeſetzt, daß die Steuer ſich nicht allzuhoch be¬
lief? Hatte Einer in der Gemeinde von Freiheit und
Gleichheit auch nur geträumt?
Ja, Eine war unter ihnen, eine Einzige, die
vom Teufel der Hoffart und Eitelkeit verblendet,
ihrem von Gott geſetzten Kreiſe den Rücken gekehrt
hatte, ſeitdem ſie über Nacht wie ein Glückspilz zur
Braut und Nutznießerin eines hochfliegenden Patrons
emporgeſchoſſen war; die ſich in die Reihen des Adels
gedrängt, in die allerhöchſte Nähe geſchlichen, in leicht¬
fertigem Putz, mit anlockenden Geberden den fürſt¬
lichen Sinn bethört und ein Aergerniß heraufbeſchwo¬
ren hatte, dermaßen, daß eine ſeit Herzogs Zeiten
beſtehende, hochadlige Societät dadurch geſprengt und
eine Rüge von der Kanzel herab zur Chriſtenpflicht
geworden war. Es fehlte nicht viel, man deutete mit
Fingern auf die arme kleine Dorl, die mit nieder¬
geſchlagenen Augen und Thränen auf den Wangen,
jetzt roth wie Scharlach, dann kreideweiß hinter ihrem
Betpulte zitterte.
[254]
Als der Gottesdienſt vorüber war, traf ich ſie
halb vernichtet an einen Pfeiler gedrückt unter dem
Gedränge der Kirchenpforte. Uebereinſtimmender denn
jemals von ihrer Morgenandacht erregt, ſtänderten
und plauderten die Patrizier der Emporen und die
Plebejer des Schiffs vor dem Ausgange. Keiner
wechſelte ein Wort, einen Gruß wie ſonſt mit der
hübſchen „Jungfer Augentroſt,“ keiner machte ihr
Platz, man gaffte ſie an, bekrittelte ihren Staat und
kehrte ihr ſpottend den Rücken. Freundlicher als ich
es ohne dieſes chriſtliche Schauſpiel gethan haben
würde, redete ich ſie an, nahm ſie unter den Arm
und führte ſie, — mir machte man Platz, — an der
Frau Amtmännin vorüber, die eben in ihre ſtolze
Caroſſe ſtieg. Auf dem Markte hielt die Wacht¬
parade ihren Aufzug, und der gottloſe Fürſtenſohn,
gleichmüthig flanirend, entſendete uns einen huldvollen
Gruß.
So ſchritten die Beneideten und Verläſterten der
Baderei durch den Kriegsbeſchluß der Nationalver¬
ſammlung in Paris auf's Neue ſolidariſch verbunden,
Arm in Arm ihrem Heimweſen zu und ſpazierten auch
noch ein Viertelſtündchen im Garten, um ſich unter
Gottes freiem Himmel von der angreifenden Mor¬
[255] genandacht zu erholen: die Roſe und ihr Blatt wie
einſt! Ich beſtärkte Dorothee in dem Vorſatz, bis
der Sturm ſich beſchwichtigt habe, ſich möglichſt zu¬
rückzuziehen und rieth ihr ſogar ſtatt des Hauptgottes¬
dienſtes eine Zeitlang die ſtillen Frühmetten zu be¬
ſuchen. Sie dankte mir zwiſchen Lächeln und Thränen,
küßte meine Hand und ſagte: „Fräulein Hardine, Sie
ſind in Wahrheit eine große Dame.“
Nun, was Einer von ſich ſelber hält, das hört
er gar gern von Anderen beſtätigt, wenn ſie im Uebri¬
gen ihm auch nicht als Autoritäten gelten.
Als wir in das Haus zurückkehrten, trat der
Prinz von der Straßenſeite herein. Dorothee floh
dunkel erröthend die Treppe hinan; ich führte den
Beſucher in das Familienzimmer und verplauderte, da
die Mutter krank und der Vater noch auf der Parade
war, ein Stündchen mit ihm tête à tête. „Sie haben
ein braves Herz,“ ſagte er, indem er mir die Hand
reichte, „laſſen Sie uns Freunde ſein, Fräulein von
Reckenburg.“
Er beſprach darauf, geordneter als neulich Abends,
ſeine kriegeriſchen Pläne. Es war ihm Ernſt mit dem
preußiſchen Dienſt und er hoffte auf baldiges Gelin¬
gen. Der Herzog von Weimar hatte die Anbahnung
[256] nach beiden Seiten übernommen, auch den Wunſch
ausgeſprochen, ihn ſeinem eigenen preußiſchen Re¬
gimente aggregirt zu ſehen. Unter dem nächſten Be¬
fehle eines ſächſiſchen Verwandten, ſo meinte er, werde
die unliebſame Uniform der kurfürſtlichen Tutel er¬
träglich werden, und was könnte man im Grunde
auch beſſeres wünſchen, als den unbequemen Schütz¬
ling in den Kampf ziehen zu ſehen für den bedräng¬
ten königlichen Sohn einer ſächſiſchen Fürſtentochter?
Völlig unbefangen ſprach er auch über ſeine pecuniairen
Verlegenheiten und hoffte deren Abwicklung durch die
nämliche vermittelnde Hand.
Der Prinz kehrte ſeit dieſem Tage häufig in dem
Reckenburg'ſchen Familienzimmer ein, ohne an der Quehle
in der Hölle ein Aergerniß zu nehmen. Er begegnete
uns wie Altbekannten, oder gar Verwandten, vertraute
uns den Gang ſeiner geheimen Unterhandlungen; wir
wußten um Zweck und Erfolg ſeiner häufigen Aus¬
flüge, wir hegten und bargen ſein Schickſal wie das
eines Angehörigen. Alle übrigen Kleinſtädter dahin¬
gegen ließ er mit ſouveräner Verachtung bei Seite
liegen und auf unſere ſchöne Hauswirthin ſtieß er un¬
ter unſeren Augen nicht ein einziges Mal. Sie
waltete ſtill für ſich in ihrem Dachgeſchoß, wir ſelber
[257] ſahen ſie nur gelegentlich an uns vorüberſtreifen.
Die Eltern lobten dieſen beſcheidenen Takt und auch
nach Außen hin verflüchtigte ſich das Gedächtniß je¬
ner einzigen Ausſchreitung raſcher, als man hätte er¬
warten ſollen. Des würdigen Hofpredigers Aufklä¬
rungen über die Lehre von Urſache und Wirkung ſei
dabei in Dank und Ehren gedacht.
Wie es nun geſchehen konnte, das, meine Freunde,
was Ihr lange ſchon geahnt haben werdet, wie es
in dieſen Sommerwochen ſich vollbracht hat, ſo tief
verhüllt, daß nicht damals noch ſpäter ein argwöh¬
niſcher Blick die Heimlichkeit ausgeſpürt — ich weiß
es nicht. Und wenn ich es wüßte: ich habe Euch die
Offenbarung meines eigenen Geheimniſſes verheißen,
nicht die der anderen Herzen.
Mein Geheimniß in dieſen Sommerwochen aber
war, daß ich — ich ganz allein das der Anderen —
geahnt —? nein daß ich es gewußt habe. Ich ſah
nichts, ich hörte nichts, ich ſpürte ihm nicht nach, be¬
rechnete nicht die verführeriſche Gunſt der Gelegen¬
heit. Aber ich athmete die Wahrheit gleichſam mit
der Luft; ich fühlte es faſt als eine Nothwendigkeit,
daß ein glückgewohnter Sinn wie der ſeine und ein
Louiſe v. François, Die letzte Reckenburgerin. I. 17[258] nach Glück ſchmachtender wie der ihre zuſammentreffen
mußten, daß ſie ſich liebten und ſich dieſer Liebe
freuten.
Ich fühlte, ich wußte es und ich wehrte der
Sünde nicht. So oft die Warnung: „Denk' an Sieg¬
mund Faber!“ oder die Mahnung: „Sie iſt einem
Ehrenmanne zur Treue verlobt,“ auf meinen Lippen
ſchwebten, ich unterdrückte das Wort, denn ſeine Quelle
war nicht rein. Es war nicht Dorotheens Pflicht,
nicht die Ehre Siegmund Fabers, nicht das ſtarke
Gefühl für Recht und Sitte, es war dies alles we¬
nigſtens nicht allein, ſondern das eigene gekränkte
Verlangen, das meinen Argwohn ſtachelte. Völlig
unbefangen, ganz ohne Eigenſucht und Eiferſucht würde
ich, die Unerfahrene, der Reinheit einer Schweſter¬
ſeele vertraut haben, wie Vater und Mutter, die Er¬
fahrenen, derſelben vertrauten. Ich fühlte mich nicht
unſchuldig, fühlte es mit Scham, und Scham und
Stolz banden meine Zunge und ſo wurde ich mit¬
ſchuldig.
Freilich, auch ein Poſaunenſchall würde die Be¬
rauſchten nicht aus ihrem erſten Taumel geweckt haben.
Und warum dachte Siegmund Faber nicht ſelbſt daran.
[259] ſeine einſame Braut an ihre Pflicht zu mahnen?
Warum ſchrieb er nicht? Warum kehrte er nicht,
und wäre es auf eine Stunde, vor dem Aufbruch in's
Feld zu ihr zurück? Warum traute er in ſorgloſem
Wiſſens- und Thatendrange blindlings einem Worte,
das nur Ueberraſchung dem unerfahrenen Kinde abge¬
lockt hatte? einem herkömmlichen Geſetze der Treu,
zu welchem das Herz nicht ja geſagt? Hatte der Mann
über dem Zergliedern der Nerven und Bänder des
Leibes, den Nerv und das Band der Seele zu prüfen
verſäumt? Oder hatte er deren Schwachheit an dem
Maße ſeiner eigenen Schwachheit erkannt und das
Wagniß der Treue von vornherein als Thorheit auf¬
gegeben? Alle dieſe Entſchuldigungen habe ich mir
jetzt und ſpäter oft genug wiederholt, und — ſie ha¬
ben mich niemals entſchuldigt.
Indeſſen nicht meine apprehenſive Stimmung
allein, auch äußerliche Merkzeichen wurden für mich
zum Verräther. Wer beſchreibt den geheimnißvollen
Schimmer über dem Leben und Weben eines Glück¬
lichen? Wer beſchriebe ihn zumal über dem Leben
und Weben einer ſo freudigen Natur wie Dorotheens?
Ich ſah den Rückſtrahl ihres erfüllten Gemüths, und
17*[260] zwar am deutlichſten daran, daß ich ſie ſelber nur
noch ſo ſelten ſah. Wir waren ausgeſöhnt, ſie hatte
keinen Grund, mich zu meiden. Sie mied mich auch
nicht, aber ſie ſuchte mich nicht, ſie bedurfte meiner
nicht wie ſonſt. Sie, die vor wenigen Wochen mir
entgegenjauchzte: „Nun, da Sie da ſind, iſt Alles,
Alles gut!“ ſie hatte einen Andern, der mich verdrängte.
Aus dem Kinde, der Jungfrau, war ein Weib ge¬
worden.
Deutlicher aber noch ſprach die heimliche Wand¬
lung aus der Stimmung des Prinzen. Seine per¬
ſönlichen Angelegenheiten hatten ſich über Erwarten
günſtig geſtaltet, indem der gutherzige Friedrich Auguſt
ihn zwar nicht aus ſeinen Dienſten entlaſſen, aber
ihm die Theilnahme am Feldzug unter preußiſcher
Fahne bewilligt, auch ſeinen Gläubigern gegenüber
großmüthig Bürgſchaft übernommen hatte. Er, der
im vorigen Jahre in das wüſte Emigrantenlager
deſertirte, der vor Kurzem noch ſo zornig über das
Zögern der Verbündeten aufbrauſte; jetzt war er frei,
warum ging er nicht? Er, der die Vernichtung des
fränkiſchen Geſindels für ein Parademanöver, den
Einzug in Paris für eine Promenade und die Her¬
[261] ſtellung des ſouveränen Thrones für ein Kinderſpiel
erklärt, er hatte jetzt tauſend Bedenken, welche das
gefliſſentliche Zaudern in ſeinen Augen bemäntelten.
Der Zwieſpalt der verbündeten Kabinette, der im
eigenen preußiſchen Lager, die Wahl des Braunſchwei¬
gers ſtatt des Königs zum Oberfeldherrn, die unfer¬
tige Rüſtung, die Verſpätung für einen Sommerfeld¬
zug — alles Bedenken, welche die Folgezeit nur gar
zu ſchmerzlich gerechtfertigt hat! Dieſem feurigen
Jünglingsmuthe aber waren ſie angekünſtelt und ein¬
geklügelt, weil es eine Macht gab, die ihn zurückhielt,
eben ſo ſtark, wie die, welche ihn vorwärts trieb.
Ich theilte die Auffaſſung meiner Lebensgenoſſen
über die Natur dieſes Krieges. Ich hielt es für eine
gerechte, ja heilige Sache, die Wohlfahrt, vielleicht die
Exiſtenz des eigenen Volks auf's Spiel zu ſetzen, um
einem fremden König ſeine Krone zu retten. Ich zwei¬
felte auch nicht an einem raſchen Sieg der ſieggewohn¬
ten preußiſchen Armee und es war mir eine genug¬
thuende Vorſtellung, die Tochter Maria Thereſia's
durch den Erben Friedrichs wieder in ihre Rechte ein¬
geführt zu ſehen. Ich verhehlte mir überdies nicht,
daß die Mannesſchule für meinen jungen Freund allein
[262] das Schlachtfeld ſei, und daß der Conflict, welcher
uns Alle bedrohlich umſpann, nur durch ſein Scheiden
eine Löſung fände. Ich billigte daher des Prinzen
kriegeriſchen Entſchluß, unterſtützte ihn ihm gegenüber
und dennoch, dennoch athmete ich auf wie erlöſt, wenn
er wieder einen neuen Grund des Hinhaltens und
Verweilens aufgefunden hatte.
Das Regiment Weimar, dem er zugetheilt war,
brach auf ohne ihn. „Cunctator Braunſchweig wird
ſich nicht übereilen,“ ſo hieß es, „ich erreiche den
Rhein früher als er.“ Dann wieder ſollte das „Ma¬
rionettenſpiel“ der Kaiſerkrönung in Frankfurt vorüber
gelaſſen werden, und endlich ſelber, als der König nach
der Begegnung mit Franz II. ſich nach Mainz begab,
ſah er noch hinlängliche Weile, bis jener ſich mit der
Armee jenſeits des Rheins vereint haben werde. Mein
Vater ſchüttelte den Kopf zu dieſer plötzlichen Läſſig¬
keit. „Da ſieht man's“ ſo meinte er, welch' ein eigen
Ding es für einen Sachſen iſt, und wäre es zum
ſtolzeſten Fluge, ſich unter die preußiſchen Adlerfänge
zu bequemen.“
Ich ſchwieg, denn ich verſtand den Kampf zwiſchen
Epos und Roman in dieſem jungen Herzen, fühlte ihn
[263] tief im eignen. Dorothee war völlig ſorglos. Ein¬
mal fragte ſie mich ängſtlich, ob die ſächſiſche Armee
auch mit in den Krieg ziehe? und als ich die Frage
verneinte, lächelte ſie ſeelenvergnügt. Ein Siegmund
Faber, welcher der Gefahr täglich näher entgegenrückte,
ſchien für ſie nicht auf der Welt zu ſein.
Es war am Nachmittage des zweiten Auguſt, daß
der Prinz ſtürmiſch aufgeregt bei uns eintrat; er
brachte Braunſchweigs Manifeſt aus dem Hauptquartiere
Koblenz. All ſeine Begeiſterung war wieder ange¬
facht; er bat dem bewährten Feldherrn ſeine Zweifel
ab. „Der Himmel ſei geprieſen,“ ſo rief er, „des
Königs ritterlicher Geiſt hat über die ſchnöde Eigen¬
ſucht geſiegt. Das iſt der Tenor, der die entfeſſelte
Beſtie in den Käfig zurücke treibt. Nun raſch nur
geharniſchte Thaten auf das geharniſchte Wort und
am Tage des heiligen Ludwig ſetzen wir ſeine jetzt gefähr¬
dete Krone friſcherglänzend auf des Enkels Haupt.“
Er weilte nur wenige Minuten, umarmte den
Vater, drückte uns Frauen die Hand und ſtürmte von
dannen. Er hatte nicht Lebewohl geſagt, aber wir
wußten, daß es ein Abſchied war, — vielleicht für's
Leben. —
[264]
Bis tief in den Abend hinein ſaßen wir ſchwei¬
gend bei einander. Ob die Eltern ahnten, was ſich
in mir bewegte? ob ſie heimliche Hoffnungen gehegt
hatten, mehr als ich ſelbſt? Zu wiederholten Malen
begegnete ich ihren ſorgenvoll auf mich gerichteten
Blicken.
Als ich die Treppe zu meiner Kammer hinanſtieg,
erinnerte ich mich Einer, welche dieſe Trennung un¬
vorbereiteter und niederſchlagender treffen mußte als
mich ſelbſt. Ich klinkte an Dorotheens Thür, fand
ſie aber verſchloſſen. Sie pflegte früherhin niemals
ſo ſpät in ihres Vaters Hauſe zu weilen und ent¬
fernte ſich niemals am Abend zu einem anderen Be¬
ſuch. Wo mochte ſie ſein?
Ich war nicht ruhig genug, dieſer Frage nach¬
zuhängen. Es mußte aufgeräumt werden im inneren
Revier, und ſo ſaß ich denn lange, es mochten Stunden
ſein, unbeweglich in meiner Kammer.
Monate lagen hinter mir, bei aller Entſagung
die reichſten meines Lebens. Was von loſen Hoff¬
nungen und Träumen nicht zu bannen geweſen war,
jetzt mußte es verſchwinden, verſchwinden mit dem,
welcher die Einbildung angefacht, verſchwinden für alle
[265] Zeit. Er war ein Mann raſch zum Lieben und Wieder¬
lieben, nicht einer, der nach dem Aufbrauſen der Lei¬
denſchaft Ruhe erträgt und gewährt. Fort denn mit
den Chimären der Reckenburg, fort auf Nimmer¬
wiederkehr.
Ich wollte das, wollte es ernſthaft und ohne
Erfolg war meine Anſtrengung ſelber in dieſen ernſten
Stunden nicht. Ich ſah ja zwei von uns, richtig ge¬
ſtellt wieder auf dem Platze, von dem ſich ihre Wünſche
einen Moment verirrt hatten: den Prinzen im Kampfe
gegen die Feinde alt geheiligter Ordnung; mich in der
Werkſtatt von Reckenburg. Schwer war es allein, das
zum Leben erwachte Kind in ſeiner bräutlichen Wittwen¬
kammer ſtill wieder einzurichten.
Aber wo blieb Dorothee? Hatte ich ihren leiſen
Schritt überhört? Ein Wort der Aufklärung und des
Troſtes ſollte nicht bis morgen verzögert werden.
Thränen rinnen am ſtillſten in der Nacht und Kinder
ſchlummern ſanft, nachdem ſie ſich ausgeweint haben.
So klinkte ich denn noch einmal an der Thür und
fand ſie noch immer verſchloſſen. Sie mochte wohl
früh zur Ruhe gegangen ſein und von Innen ver¬
riegelt haben.
[266]
Es war eine ſtillſchwüle Hochſommernacht; der
Mond ſchien von der Gartenſeite hell durch die geöffnete
Bodenluke. Ich bog mich hinaus und athmete in einem
tiefen Zuge den Duft, der von den Nelkenbeeten in die
Höhe ſtieg. Mir gegenüber ragte das Schloß; ein
Nachtlicht flackerte im Zimmer des Eckthurms, in
welchem mein junger Held zum letzten Male ruhte,
oder ſich zur Abreiſe rüſtete. Es wurde mir ſchwer,
mich von dem Flämmchen loszureißen, nur zögernd
ſenkte ſich der Blick hinab auf die Terraſſe, welche der
Mond faſt mit Tagesklarheit beleuchtete.
In dieſem Augenblicke, — war es ein Phantom
des aufgeregten Bluts, war es Wirklichkeit? — ſah
ich zwei Geſtalten aus der Laube gleiten, aus der
Brautlaube Siegmund Fabers. Sie ſchmiegten ſich
an einander; fein und hell das Weib an die Seite
des Mannes, deſſen dunkle Umhüllung ſie halb umfing.
Es war ein einziger Blick, aber nein, nicht eine
Täuſchung und was ich auch immer geahnt, — bis
zu dieſem Abgrunde hatte die Einbildung ſich nicht
verirrt.
Mir ſchwindelte, ich ſchwankte und klammerte mich
an die Brüſtung der Luke. Als ich zagend den Blick
[267] wieder in die Höhe ſchlug, ſah ich eine dunkle Geſtalt
durch das Pförtchen verſchwinden, unten aber wurde
die Hausthür leiſe geöffnet.
Ich floh in meine Kammer, deren Schloß ich
nicht mehr zuzudrücken wagte. Schon hörte ich Schritte
auf der Treppe und hätte um die Welt nicht meine
Nähe verrathen mögen. Aber vielleicht, daß es eine
erſte nächtliche Begegnung geweſen war, eine erſte und
letzte zum ewigen Lebewohl.
Athemlos lauſchte ich an der Spalte der Thür.
Nein! dieſer elaſtiſche, hüpfende Schritt, dieſes freie,
volle Hauchen der Bruſt, ſie ſprachen nicht von Schei¬
den und Meiden. So ſchwebt, ſo athmet nur der
Glückliche. Sie tänzelte über Roſen und ſah die
Sünde nicht, die ſie umrauſchte, nicht den Tod, der
im Hintergrunde lauerte.
Und nun ſaß ich oben in der Laube. Fragt mich
nicht, was mich hineingetrieben hatte, oder wie viel
Stunden es mich dort gebannt. Ich hatte kein Maaß
für die Zeit, hatte keine bewußte Vorſtellung. Alles
lag mir in Dumpfheit und Nebel.
Der erſte Schimmer dämmerte im Oſten; zu
meinen Füßen ſah ich einen blauen Streifen. „Do¬
[268] rotheens Haarband vom Frühlingsfeſte,“ murmelte
ich, hob es auf und wickelte es mechaniſch um meinen
Finger.
Dann wieder hörte ich das Pförtchen gehen und
haſtige Männertritte. Ich rührte mich nicht. Sie
kamen näher und näher. „Hardine!“ rief es am
Eingang der Laube. Ich ſaß noch immer wie ge¬
lähmt.
Er war im Reiſekleid und ſchattenbleich. Doch
blickte er mir feſt in's Auge und nahm ruhig das
Band aus meiner Hand. Hatte er das geſucht; ein
erſtes Andenken und ein letztes? Hatte er von Oben
mich in der Laube erkannt?
„Sie wiſſen alles,“ ſagte er, „und das iſt gut.
Nun ſcheide ich ruhig. Kehre ich zurück, ich ſchwöre
es bei Gott! wird ſie die Meine. Bleibe ich, dann
hat ſie nur Sie, Hardine, — aber Sie! —“
Das Rollen eines Wagens auf dem Plateau
drang durch die Stille. Er warf noch einen Blick
nach der Luke, an welcher ich in der Nacht gelauſcht
hatte. Eine Thräne glitt über ſeine Wange und tropfte
auf meine Hand, die er in der ſeinen gefaßt hielt.
„Schütze das argloſe Kind, ſchütze mein Weib, mein
[269] geliebtes Weib. Schütze es für mich, um meinetwillen,
Schweſter Hardine!“ flüſterte er, drückte mich an ſeine
Bruſt, — und ich war wieder allein.
Wenige Minuten und ein Poſthorn ſchmetterte.
Der letzte Laut verlor ſich nach Weſten hin. Gen
Morgen ſtieg die Sonne in die Höhe; heute nicht wie
damals in Reckenburg mir ein Gottesauge: ein leuch¬
tender Ball, der über Verzweiflung und Wonne, Ver¬
rath und Liebe mechaniſch dahingleitet, klar und ſee¬
lenlos.
Auf dem Platze, wo ich ſaß, hatte vor Jahren ein
Freund um die Geſpielin meiner Kindheit geworben
und mich als Bürgin für die Treue ſeines verlobten
Weibes angerufen. Auf dem nämlichen Platze, der
den Treuſpruch gehört, war die Treue gebrochen wor¬
den, und hatte heute ein anderer Freund, der heimlich
die Luſt meiner eignen Seele war, mir das treuloſe
Weib als Schweſter an das Herz gelegt.
Es giebt Verhängniſſe, die geſetzmäßig aus un¬
ſerem Sein erwachſen und doch jeder geſetzmäßigen
Löſung zu ſpotten ſcheinen. Das Rad des Schickſals
rollt hinweg über unſeren Stümperwillen und in der
entſcheidenden Stunde iſt es nicht die Leuchte aller
[270] Tage, es iſt ein Funken aus unerforſchten Tiefen,
der, — ſei es zur Zerſtörung, ſei es zur Erfüllung, —
uns die Richtung zeigt.
Und einem ſolchen Verhängniß gegenüber wurde
ich in dieſer Stunde geſtellt.
Ende des erſten Bandes.
Appendix A Inhalt des erſten Bandes.
- Seite
- Einführung 1
- 1. Capitel. Die Roſe und ihr Blatt 83
- 2. „ Mosjö Per—ſé112
- 3. „ Die ſchwarze Reckenburgerin 145
- 4. „ Der Erbprinz 178
- 5. „ Der Kehraus 206
- 6. „ Die Brautlaube 247
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). François, Louise von. Die letzte Reckenburgerin. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpk4.0