[][][][][]
Adam Menſch.

Roman


„‚Sünde‘ iſt das Vergehen wider
das Geſetz der Zukunft.“


(Oskar Hänichen.)

Laß fahren, was dich traurig macht,

Und was die Enge dir geboren —:

In dieſer großen Freudennacht

Bleibt dir dein Genius unverloren

Wir leben, mein geliebtes Weib —

Und unſer Leben athmet Fülle —:

Der Dinge unverſtand'ne Hülle

Fiel ab vom nackten Gottesleib.

[figure]
Leipzig.
: Verlag von Wilhelm Friedrich.
K. R. Hofbuchhändler.

[]
[]

Oskar Hänichen
zugeeignet.



Von einem Grabe komm' ich her. — Du weißt,

Mein lieber Freund —: von welchem Grabe —

Du weißt —: wie viele Träume, wie viel Glück —

Wie viele Vergangenheit ich da begraben habe ...

Von des Vergeſſens Fluth unüberſpült

Mahnt dieſer Hügel noch im fernen Süden —

Da wir ſo groß gelebt, ſo ſtark gefühlt,

So heiß gekämpft um unſ'res Willens Frieden.

Ob wir ihn fanden —? Nun, mein lieber Freund —

Wir lächeln ſchmerzlich — doch wir lächeln eben —

Wir ſind allein — wir haben nur noch uns —

So bleiben wir zuſammen für das Leben ...

Der Regen klatſcht an meine Fenſterſcheiben —

In's Nordland wieder wurden wir verbannt —

Getroſt mein Freund! Wir werden ſüdwärts treiben

In unſ'rer Sehnſucht — unſ'res Sieges Land!

Ein Grab zu hüten gilt's. Mit weißen Kerzen

Hat's unterweil der junge Lenz geſchmückt —

Für das Unſterbliche verglüh'n die Herzen —

Mit rothem Blut getauft der tiefſten Schmerzen

Ward uns der Geiſt, der Zukunftsfrüchte pflückt. —

[][[1]]

I.


Es gab gerade die Zeit um die vierte und
fünfte Nachmittagsſtunde an einem Märztage. Der
Wirth vom Café Caeſar ſtand hinter dem Buffet
und zählte Geld. Das Klimpern und Klirren der
Metallſtücke klang deutlich zu dem Tiſche herüber,
an dem Herr Dr. Adam Menſch und Herr Referendar
Clemens von Bodenburg ſaßen. Bodenburg zog ſich jetzt
hinter den Figaro zurück. Nur ein paar Gäſte noch
lebten da und dort im Lokal herum. Der Verkehr
war im Ganzen geringfügig um dieſe Stunde.


Adam Menſch trank den letzten Schluck ſeines
cognacgemiſchten Kaffees aus und rückte ſeiner Börſe
auf den Leib.


„Kellner!“


„Herr Doctor!“


„Bitte zahlen!“


„Jawohl!“


Der Kellner kam herangelaufen.


„Ein Kaffee — ſchwarz — und einen Cognac —“


„Vierzig Pfennige!“


Adam gab einen Fünfziger hin: „Bitte!“


„Danke ſehr!“


Conradi. Adam Menſch. 1
[2]

Der Kellner raffte die Zeitungen zuſammen, die
auf dem Tiſche und den nächſten Stühlen herum-
lagen, bückte ſich nach einem Journal, das ihm
entglitten war, und ſchleppte die papierne Bürde
von dannen. Adam Menſch ſtand auf, fuhr ſich
mit der linken, etwas fieberfroſtrothen Hand über
Stirn und Haar und griff mit einer Bewegung,
die nicht ganz frei von Poſe war, nach ſeinem
Ueberzieher.


Der Kellner, der ſich ſeiner Zeitungen entledigt
hatte und eben um das Buffet bog, ſtürzte wieder
auf Adam zu, um ihm beim Anlegen behülflich
zu ſein.


„Danke!“


„Bitte!“


Da that ſich die Thür des Café's auf und eine
Dame trat herein, machte ein paar Schritte, blieb
ſodann ſtehen, wurde etwas verlegen, etwas roth,
ſah ſich fragend um, ging noch einen Schritt
weiter — und blieb wiederum ſtehen.


Das Buffet war jetzt leer, der Wirth zufällig
abweſend.


Nun tauchte vom hinteren Raume des Café's
der Zeitungskellner, ein kleiner, beweglicher Geſell
mit einem angenehm verkniffenen Geſicht, auf. Er
trug eine Zeitung in der Hand, die er der Dame
übergab. Dieſe drehte ſich, ohne ein Wort zu ſagen,
um und verließ mit nicht ganz ſicherem Schritt das
Lokal. Adam bemerkte, wie ſie von den Blicken der
meiſten Gäſte zuvorkommend hinausbegleitet wurde.
[3]
[A]uch Herr von Bodenburg hatte ſeinen breitblättrigen
[F]igaro ſinken laſſen. „Ganz niedliches Kind!“ ur-
t[h]eilte er ſchmunzelnd.


„Wer iſt die Dame eigentlich —?“ fragte Adam
d[e]n Kellner, der noch immer in ſeiner Nähe ſtand
u[n]d natürlich an der allgemeinen Aeugelei theil-
g[e]nommen hatte. „Ich habe ſie ſchon mehrere
[M]ale um dieſe Zeit hier geſehen“, fuhr der Herr
[D]octor fort.


„Ich glaube, Fräulein Irmer heißt ſie — ſie
h[o]lt immer die Volkszeitung für ihren Vater —
d[e]r hat nachabonnirt“, berichtete der Kellner.


„So! Danke ſchön! Adieu, Herr von Boden-
b[u]rg!“


„Adieu, Herr Doctor!“


Adam Menſch ging langſam hinaus, Herr von
B[o]denburg ſah ihm nach und ſchüttelte den Kopf.
[S]onderbarer Kerl!“ murmelte er. „Kellner, nehmen
[S]ie das Schachbrett weg und bringen Sie mir
n[o]ch — ach ja! ich wollte ja einmal Ihren Ab-
ſ[y]nth probiren — alſo bitte! ..“ rief der wackere
H[e]rr Referendar ſodann laut.


„Ja wohl —!“ —


Adam hatte vor dem Café nach rechts und
li[n]ks ausgeſchaut, um die Spur von Fräulein
I[r]mer — „ja ja! ſo hieß ſie doch —? hatte der
K[e]llner nicht dieſen Namen genannt?“ — wieder-
zu[fi]nden. Richtig! Da drüben ging ſie. Und jetzt
bo[g] ſie um die Ecke. Sollte er ihr folgen? Aber
w[a]rum? Hatte er einen Grund dazu —? Ließ er
1*
[4] ſich, indem er dieſem ſpontanen Bedürfniſſe nach-
gab und daſſelbe in einen bewußten Willensakt
umſetzte, nur von einer zufälligen Stimmung, einer
erſten beſten Laune leiten? Wollte er ſich zerſtreuen,
auf andere Gedanken kommen, ſich den ſtechenden
Schmerz in den Schläfen vergeſſen machen? Oder
reizte ihn irgend Etwas an dieſem Weibe, das er
ſchon öfter im Café Caeſar geſehen ... deſſen
aufgereckte Geſtalt mit ihrer reſervirten Halbfülle
ſeinem Auge wohlgethan? War ihm dieſes bleiche
Geſicht mit der ſonderbaren Kreuzung im Ausdruck,
wenn ſeine urſprüngliche Herbheit und abweiſende
Strenge ſich mit der momentanen Verlegenheit,
Scheu und Unſicherheit paarten — war es ihm „an-
ziehend“? Adam war noch nicht zu einem trans-
parenten Ergebniſſe gelangt, als er ſich ſchon über den
Fahrdamm ſchreiten und die Richtung nach jener
einmündenden Straße nehmen ſah, um deren Ecke
Fräulein Irmer ſoeben verſchwunden war.


Einige Minuten ſpäter hatte der grübelnde Herr
Doctor die Dame dicht vor ſich.


Fräulein Irmer ging langſam, einförmig, bei-
nahe ſchwerfällig. Sie wandte ſich nicht nach rechts
noch nach links, gerade aufgerichtet trug ſie den
Kopf und mußte, wie Adam aus ihrer Haltung
ſchloß, ſtets in der Richtung ihres Weges vor ſich
hinſtarren — und doch über all' die Menſchen, die vor
ihr hergingen oder ihr begegneten, hinwegſehen, un-
berührt von den lärmenden, zuckenden Schatten,
mit denen das unſtäte Leben ſie umgab. Adam
[5][M]enſch imponirte dieſe Theilnahmloſigkeit immerhin
[ei]n Wenig. Und ſie imponirte ihm vor allem darum,
[w]eil ſeine eigene, ſehr nervöſe und unruhige Natur
[ſi]ch von Jedwedem in Anſpruch nehmen ließ, was auf
[ſi]e eindrängte, auf Alles eingehen mußte, was um
[ſi]e herum athmete, lebte und ſprach.


Nun fiel es ihm gerade ein, ſich der Dame einmal
b[e]merklich zu machen. Er ging hart an ihr vorüber,
ſ[a]h ſie ſcharf von der Seite an und ſchritt ihr
d[a]nn voraus. Jetzt blieb er vor dem Schaufenſter
[ei]nes großen Delicateſſengeſchäftes ſtehen und wandte
ſi[ch] auffällig um, als er annehmen konnte, daß
F[r]äulein Irmer in ſeiner Nähe war. Er fixirte
ſi[e] ſcharf und ſuchte ihr Auge feſtzuhalten. Die
[D]ame ſtreifte ihn mit einem kurzen Blicke und ſah
d[a]nn über ihn hinweg. Das ärgerte den Herrn
[D]octor ein Wenig. Er hielt ſich jetzt in ihrer
[int]imen Nähe und folgte ihr dicht auf den Sohlen.
F[r]äulein Irmer wurde augenſcheinlich unruhig.
D[e]r Kopf ſenkte ſich und drehte ſich in kurzen,
h[a]rten Bewegungen, bald nach links, bald nach
re[ch]ts. Sie hatte begonnen, von ihrem Begleiter
N[o]tiz zu nehmen.


Die Dämmerung wuchs. Die Schatten der
au[s]einanderquellenden Nacht fielen dichter und dunk-
le[r.] Jetzt flammten die erſten Laternen auf.


Eine Buchhandlung lag am Wege. Fräulein
I[r]mer trat in den Laden, Adam Menſch folgte ihr nach
ein[i]gen Secunden. Er hörte, wie ſich die Dame mit
et[w]as belegt- ausgefranſter Stimme Eugen Dühring's
[6] „Werth des Lebens“ ausbat. Ihr Geſicht trug
wieder denſelben Doppelausdruck, den es im Café
Caeſar anzunehmen pflegte.


Adam beſtellte flugs ein Exemplar deſſelben
Werkes. Das mußte doch auffallen. Und es ſchien
auch Fräulein Irmer aufzufallen. Sie wandte ſich
zu ihrem Nachbar um, ſchlug die braunen ernſten
Augen groß auf .. und fragte mit ihnen eine ſtumme,
tiefe Frage, auf die Adam nur eine gleiche, ſtumme
Antwort wußte, die für ihn plötzlich nicht minder
tiefen Inhalts war.


Das Werk fand ſich natürlich nicht auf Lager.
Der Gehilfe erbat ſich die Adreſſen und verſprach die
Exemplare in ſpäteſtens acht Tagen beſorgt zu haben.


„Hedwig Irmer — oder ſenden ſie das Buch
bitte direct an meinen Vater: Dr. Leonhard Irmer,
Herderſtraße 7 III. ..“


„Danke verbindlichſt, mein gnädiges Fräulein —
ſoll geſchehen! Und Sie, mein Herr —?“


Dr. Adam Menſch, Gartenſtraße 14 II. ..“


Der Herr Doctor erhielt jetzt zwei verwunderte
Blicke. Dem Gehilfen ſchien ein Menſch, der Adam
Menſch heißen könnte, bisher unmöglich geweſen
zu ſein.


Auch Fräulein Irmer war betroffen. Adam gab
ihren Blick mit einem diskret-ironiſchen Lächeln
zurück. Die Dame wurde vorwiegend verlegen.


Nun wandten ſich die beiden zum Gehen. Adam
öffnete die Thür und ließ das gnädige Fräulein
zuerſt hinaustreten. Dann folgte er ſchnell.


[7]

Er konſtatirte, daß ſeine Nervenſchmerzen nach-
gelaſſen hatten. „Man muß nur einmal in einer
fremden Atmoſphäre herumvagabundiren und dem
ehrenwerten Corpus ein wenig Abwechslung gönnen:
dann machts ſich ſchon —“ monologiſirte er ſtill vor
ſich hin. Inſtinctiv hatte er Fräulein Irmers
Spur wieder aufgenommen. Aber er war doch
zweifelhaft. Sollte er noch weiter hinter der Dame
hertrollen, wie ein zitternder Gymnaſiaſt hinter
ſeiner in ſich hineinkichernden Pouſſade, hinter ſeiner
„Flamme“ — oder ſollte er ihr ſeine „Begleitung
anbieten“ — oder ſollte er wieder umkehren und ruhig
nach Hauſe ſtapfen —? Was hatte dieſes närriſche
Nachlaufen für Sinn! Uebrigens — die Adreſſe
wußte er ja, wenn er alſo — — „Herderſtraße
7 III.“ — — ja! ja! — ach was! — „wenn
er“ — Unſinn! —


Aber Adam ging noch immer dicht hinter der
Dame. Man war allmählich in einen ſtilleren
Stadttheil gekommen.


Plötzlich fand ſich Adam an der Seite Fräulein
[I]rmers vor! Er ſtutzte einen Moment, verſtand ſich
[n]icht und .. fragte ſchließlich, indem er etwas linkiſch
[u]nd rathlos den Hut zog: „Erlauben Sie, mein
[g]nädiges Fräulein, daß ich Sie —“


Keine Antwort.


„Verzeihen Sie, mein Fräulein — aber Sie
[w]erden unſchwer — —“


„Ich verſtehe Sie nicht, mein Herr! Was wollen
[S]ie? — Verlaſſen Sie mich! —“


[8]

„Mein Fräulein —!“


„Noch einmal — verlaſſen Sie mich — ich
erſuche Sie dringend — oder ...“


Adam war plötzlich ſehr ſelbſtbewußt und trotzig ge-
worden. Er betippte nachläſſig ſeinen Hut, wandte ſich
ab, ging einige Schritte zurück, ſtampfte einmal recht
erbittert aufs Pflaſter und lachte ſehr indignirt.
Was nun? Er drehte ſich noch einmal um. Und es
dünkte ihn, als ob Fräulein Irmer recht langſam ginge
— zudem — zudem noch gar nicht ſo beſonders
weit entfernt von ihm wäre — ſollte ſie doch — ſollte
er — — aber nein! — nichts da! — Unſinn!
— — — Adam ſchob ſich entſchloſſen wieder um
und wanderte nach Hauſe. Nach einer halben Stunde
ſtieg er die Treppen zu ſeiner Wohnung empor. Die
Glieder waren ihm ſchwer und die Schläfen ſchmerzten
wieder heftiger. Und es fiel ihm ein, daß man
doch im Grunde kaum Herr ſeiner Handlungen iſt.
Plötzlich, im wahren Sinne „unvorbereitet,“ hatte er
vor einer kleinen Weile vor Fräulein Irmer geſtanden.
Wie war er an ihre Seite gekommen? Urtheil —
Vorſtellung — Willensimpuls — Coordinations-
centren — Muskelcontraction — — — Alles
Blech! Adam wußte nur, daß man einmal ebenſo
„unvorbereitet“ eine .. Waffe in der Hand haben
könnte — — und daß man unter Umſtänden ſchon
nicht mehr ſein könnte, ehe man es überhaupt
bewußt gewollt hätte. Aber .. aber aus de[m]
ohne! — ja! was denn: „ohne?“ — ohne —
[9] ohne! .. Dieſe beleidigte Schöne! Sie einmal küſſen —?
„Küſſen“? Pah! Zu geſchmacklos! Aber ah! eigentlich
ſtand er doch noch ſehr feſt im Leben, noch ſo
mitten darin! Und wie ſicher er mit beiden Füßen
noch auftrat! Wie ihm aus der engen Zone ſeiner
Augenblicksphantaſieen heraus das Leben doch
noch ſo .. ſo ... lebenswerth erſchien! Herr
Gott! Und nur, weil er heute dieſes Weib —
dummes Zeug! Er hatte wahrhaftig Ernſteres zu
thun, als immer wieder auf derartige U.-S.-W.-
Weiblichkeiten 'reinzufallen. —


Grauſchwarze Dämmerungsflocken lagen im
Zimmer. Es pochte. Die Wirthin erſchien, die
flammende Lampe in der Hand. Nach einer kleinen
Friſt: — „Sie ſehen recht blaß aus, Herr Doctor —“


„Hm!“ —



[[10]]

II.


Wie einer ſeiner Vorfahren eigentlich dazu ge-
kommen war, ſich ſchlechtweg „Menſch“ zu nennen oder
zu einem derartigen Beſonderheitsmenſchen ſich er-
nennen zu laſſen, hatte Adam wirklich nicht ergraben
und ergründen können. Ja! Er hatte ſich alle Mühe
gegeben, ſotanes Geheimniß zu entlarven, und manche
Stunde war darüber vergrübelt worden. Uebrigens ge-
fiel ihm ſein Familienname, dieſer Name, der das
Moment des Typiſchen und des Individuellen ſo intim
vereinigte, der ebenſo originell und tiefſinnig, wie ge-
wöhnlich, oberflächlich und trivial war, gar nicht
übel. Und nicht übel paßte objectiv und behagte
ſeinem Beſitzer auch ſubjectiv der Vorname Adam —
„Adam Menſch“: eine originelle Idee ſeines Vaters
war es doch geweſen, die Familienüberlieferung,
nach welcher jeder Erſtgeborene den Vornamen Gott-
fried erhalten ſollte, zu durchbrechen und ſeinen
Erſtling „Adam“ zu taufen! Manchmal war der Name
ſeinem Träger allerdings mehr eine Laſt, denn eine
Luft geweſen: zu den Zeiten, da er die Volksſchule
ſeiner kleinen Vaterſtadt beſucht und mit Kameraden
auf einer Bank hatte ſitzen müſſen, die an ſich wohl
[11] auch ſo etwas Aehnliches, wie .. wie Menſchen eben ge-
weſen waren, ſonſt aber nur Richter, Schneider, Gerne-
groß, Potſchappel — und zuweilen ſelbſt Müller und
Schulze geheißen hatten. Da hatte denn ſein Name
den Fiſch abgegeben, nach dem die wühlende Buben-
ſippſchaft die Angeln ihres tölpelnden Nörgelns
ausgeworfen. Das hakt ſich feſt in der Seele
deſſen, der früh von der großen, breiten Durch-
ſchnittsſtraße abzubiegen beginnt .. oder, wenn in
jungen Jahren auch noch nicht wirklich abbiegt, ſo
ſich doch ſchon mehr und mehr an die Ränder
der Straße ſchlängelt, auf daß er dem Nebendickicht
näher ſei und beſſer und deutlicher einen ſchmalen
Einzelpfad durch die wuchernde Wildniß für ſich
erſpähe.


Adam war in engen, drückenden, rohen Verhält-
niſſen aufgewachſen. Sein Vater, Gottfried Menſch,
hatte einen Bäckermeiſter vorgeſtellt. Ein Mann,
verſchwommen an Leib und Geiſt, eigenwillig, auf-
brauſend, unſtät in Stimmungs- und Willensgegen-
ſätzen lebend, von ſchnurrigen Einfällen behaftet,
nicht ohne eine gewiſſe Eigenart und Kraft, aber
ohne die Sicherheit, ohne die Lebensgarantie der
Beſchränktheit. Er hatte ſich in ſeiner Natur aus-
gelebt — das heißt: er hatte nach Welt und Men-
ſchen nicht viel gefragt und nur dem bunten Bündel
ſeiner Neigungsſtröme gefröhnt. Dabei war das
Geſchäft natürlich heruntergekommen — und unbe-
wußt, naturgemäßig-nothwendig, im Beſitze des
Muthes, Alles gehen zu laſſen, wie es geht, und
[12] dem ökonomiſchen Verderbensmoloch ruhig ſeine Gift-
zähne zu laſſen, hatte ſich Meiſter Gottfried Menſch
immermehr an den Alkohol angeſchloſſen, welcher ihm
allerdings weniger Tröſter war, als ein guter Kamerad,
der Feuer in die Seele goß und wirbelnde Phantaſie'n
gebar.Und eines Tages war dann das Delirium
gekommen. Die Krämpfe und Wuthausbrüche wuch-
ſen an Oftheit und Stärke, aber es trat auch
nicht allzuſpät der Gehirnſchlag ein, der den Raſen-
den eines Abends ausblies. Adams Mutter hatte
ſich die Kehlkopfſchwindſucht anſchaffen müſſen. Vier
Kinder waren da: zwei Knaben und zwei Mädchen.
Die Brut war nicht geſund. Adam mußte ſich in
ſpäteren Jahren noch öfter ſattſam wundern, daß
er alle die Plackereien und Quälereien, die er hatte
auf ſich nehmen müſſen, ausgehalten, wenigſtens
einigermaßen ausgehalten. Nun ja doch! Brüchig
und in ſich mannigfach auseinandergekeilt war er
ſchon längſt. Das Leben hatte ihm kein Stück ge-
ſunder Krafterde hingeſchoben, auf daß er feſt in ſie
hineinwurzele und aus ihr heraus drangvoll und
ſäftereich treibe. Das war ſein ganzes Leben lang
nur ein loſes Wurzelhängen geweſen. Von ſeinem
achten, neunten, zehnten Jahre bis zu dem neun-
undzwanzigſten, in dem er nun ſtand .. und das
vielleicht noch nicht das letzte war, deſſen Ring er
ſich eingrub.


Nach dem Tode des Vaters hatte der Bäckerge-
ſelle Karl Salge den Kopf ordentlich in die Höhe
gereckt und ſich an's Meiſterſpielen gemacht. Das
[13]
Ge[ſ]chäft verſuchte wieder einen kleinen Lebensauf-
ſchwung. Dafür war denn die Meiſterin dankbar
geweſen .. und hatte in einer Stunde der Freude,
Hoffnung und Seelenſchwäche dem drängenden Ge-
ſell[e]n ihre Hand zugeſagt. Die Hochzeit war auch
ein[e]s Tages ſtill, glanzlos, verſchämt gefeiert —
un[d] Herr Salge ſomit Meiſter und Beſitzer einer
Bäc[k]erei geworden, die ihm, dem bisher ar-
me[n] Burſchen, doch immerhin eine gewiſſe Würde
gab und ein bewußteres Auftreten geſtattete. Ueber-
die[s] war ja die Meiſterin todtkrank .. ihr Lichtlein
bre[n]zelte, zuckte und knarrte ſchon leiſe .. lange
kon[n]te es nicht mehr brennen .. Eines Tages er-
loſc[h] es denn auch, und Herr Salge, der wacker ge-
arbe[i]tet hatte und dem es auch gelungen war, ſeine
Wa[a]re wieder mehr zu Ehre und Anſehen zu brin-
gen, heirathete ſeine Dienſtmagd, mit der er ſich
ſcho[n] vorher eingelaſſen hatte, und die ſich eine nicht
gan[z] kümmrige Summe aus ihren früheren Dienſt-
ſchaf[t]en zuſammengeſpart. Die Stiefkinder kamen
natü[r]lich früh aus dem Hauſe. Die Mädchen mußten
ſich mach ihrer Einſegnung bald nach auswärts ver-
ding[e]n, Guſtav wurde zum Nachbar Schlächter in
die [L]ehre gethan: er konnte ja vielleicht daſſelbe
Glüc[k] haben, wie ſein Stiefvater. Adams nahm ſich
als d[i]e Zeit dazu gekommen war, einer ſeiner Lehrer
an [u]nd verſchaffte ihm einen Platz im Gymnaſial-
Alu[m]nat der nächſten größeren Provinzialſtadt: in
dem [J]ungen ſchien etwas Mehr zu ſtecken, als in ſeinen
Geſc[h]wiſtern .. und des Experiments, das noth-
[14] wendig war, um ſeine etwaigen Fähigkeiten an's
helle Licht der Sonne zu befördern, war er ja im-
merhin werth! Hieß er doch nicht nur Menſch, noch
dazu Adam Menſch — war er doch ſchließlich auch
ein Menſch und bot als ſolcher fürtreffliche Gelegen-
heit, chriſtliche Nächſtenliebe getreu nach dem Evan-
gelium zu üben.


Und nun kam die lange, drückende, ausmergelnde
Leidenszeit Adams. Wie engten ihn die Schulwände
ein! Wie gaben ſie ihm ſo blutwendig Luft und Licht
und Freiheit und Wind! Wie langſam ſchleppten
ſich die Jahre hin — und wie viel Fleiſch von
todten, crepirten Fiſchen wurde ihm als Geiſtesſpeiſe
zum Hinunterſchlingen vorgeſetzt! Wie oft mußte
er ſich verleugnen, ſich demüthigen, zu Kreuze kriechen,
um die Broſamen nicht zu verlieren, die man ihm
bewilligt hatte — und die man ihm Jahre lang ſo
gern und ſo freudig gab!


Aber die Stunde, da dieſes Zuſammenleben mit
dem Buchſtabendogma der Kirchenlehrer, dieſes Er-
kaltenmüſſen in den todten Schnee- und Eis- und
Gletſcherregionen der galvaniſirten Antike Ciceros und
Vergils aufhörte, ſie kam doch. Und nun ſprang das
Thor auf — und der Mulus lief wie wahnſinnig
vor Freude im oſtwindverkühlten Sonnenſchein der
jungen Märztage herum .. und dachte nicht daran,
daß er doch eigentlich verdammt wenig Ausſicht be-
ſäße, ein rechtſchaffenes Burſchenleben auf der Uni-
verſität führen zu dürfen. Der Glückliche, der mit
Patent entlaſſene Sträfling, dachte nicht daran, daß
[15] in [n]aher Zukunft ein neuer Wermuthskelch wieder
ein[m]al — nicht an ihm vorübergehen würde —
daß er noch Jahre .. noch drei, vier Jahre lang
är[m]lich und erbärmlich wie die bewußte Kirchen-
ma[u]s würde leben müſſen — und die ganze Fülle
der Kräfte, die in ihm rang und ſtritt und nach
Au[s]bruch und Bethätigung lechzte, würde entweder
verl[e]ugnen, eindämmen, einſargen, „kaltſtellen“, er-
ſticke[n] oder — in ein Strombett lenken müſſen, das
ſein[e]n Lauf nach dem an materieller Ausbeute gewiß
reich[e]ren Meere des „praktiſchen“ Lebens nimmt ...


[U]nd die Stunden, Wochen, Monate und Jahre
kam[e]n und gingen — und Adam Menſch durchlebte
ſie: ein Sclave ſeiner Armuth und ein Freier zu-
gleic[h]. Die große Fluth des Lebens umbrandete ihn.
Abe[r] er hatte kaum einen Platz an der Tafel dieſes
Lebe[n]s. Durch Ertheilen von Privatunterricht ver-
dient[e] er ſich nothdürftig die paar Kreuzer, die dazu
gehö[r]ten, um ihn überhaupt über Waſſer zu erhalten.
Man[c]hmal, wenn es ihm gar zu heiß in der Bruſt
wurd[e], ſprang er mitten ins Leben hinein und
ſpielt[e] trotzig va banque. Dann ſtaunte er wohl
auch dieſes ſo bunte, ſo verwickelte Leben an, und
ihm [z]u faſſen und auf all das tauſendfältig Kleine
und [B]eſondere, das ſich nun plötzlich vor ihm auf-
rollte, liebevoll einzugehen. In Stunden des
Tau[m]els riß er ein verlorenes Weib an ſeine
Menſ[ch]enbruſt und lachte und ſchwelgte und weinte
mit [d]er Armuth und mit der Schmach. Sein
[16] philologiſches Brotſtudium betrieb er mit bedeuten-
dem Eifer: war es doch, beim Styx! der einzige
Weg, der ihn hinaufführen konnte in die Berg-
ſiedeleien der geiſtig und leiblich „Vornehmen“, der
„Bildungsidealiſten“! Mitunter machte er Schulden,
und die Docentenhonorare ließ er ſich mit liebens-
würdiger Bereitwilligkeit ſtunden. Er verſuchte wohl
auch die buntſcheckige Sammlung ſeiner Talente:
er ſchrieb Leitartikel für Zeitungen, machte Gelegen-
heitsgedichte, die ihm manchmal einige Mark ein-
trugen, verbrach Recenſionen philoſophiſcher Werke
für akademiſche „Organe“ und hielt in ſtudentiſchen
Vereinen Vorträge über culturgeſchichtliche Themata,
dann und wann mit einem vagen Saumſtreifen
moderner politiſcher Verhältniſſe .. Einmal war
es ihm auch geglückt, ein Theaterreferat über eine
Sommertheaterbühne für eine untergeordnete Zeitung
zu erlangen: da ließ er ſich denn die Gelegenheit
zu allerlei Couliſſenſtudien nicht entgehen … und
ob es wohl nicht vorgekommen war, daß er ſich mit
dem … Kuſſe einer Soubrette beſtechen oder be-
lohnen ließ ..? Auch im Strudel der ſtudentiſchen
Kameradſchaften trieb und wirbelte er eine Zeit
lang herum — und ſo floß dieſes Stück Leben hin
voll Wirrwarr, Zeriſſenheit und Zerſtücktheit ..
Eines Tages ſtand Adam vor dem Staatsexamen. Er
genügte gerade noch den Prüfungen — und kroch eine
kleine Friſt ſpäter in das Joch einer Hauslehrerſtellung
bei einer adligen Gutsbeſitzersfamilie. Seine beiden
Zöglinge erfreuten ſich zwar einer ganz braven
[17] Lei[b]esgeſundheit — mit der Kraft und Geſundheit
ihr[e]s Geiſtes jedoch war es ein Biſſel ſchwächer be-
ſtell[t] — und ſo redliche Mühe ſich Adam zuweilen
auc[h] gab, dem edlen Blaublut die Geheimniſſe des
A[c]cusativi cum infinitivo“ zu erſchließen: im
Gr[u]nde erreichte er nur verdammt Wenig mit ſeiner
Ab[q]uälerei. Nach zwei Jahren hing er den Prä-
cept[o]rrock an den Nagel und zog von dannen. Er
hatt[e] ſich wenigſtens einige hundert Mark erſpart
und war ſomit in der Lage, ſich den Doctorhut,
welc[h]en zu tragen doch nun einmal unter Anderem
a[u]ch“ in das corpulente Pflichtenregiſter eines „aka-
dem[i]ſch gebildeten“ Menſchen gehört, zu kaufen.
For[t]an durfte er ſich alſo mit Fug und Recht die
ſehr gewöhnliche Anrede „Herr Menſch“ verbitten
und die jedenfalls wohllautendere „Herr Doctor“
verl[a]ngen. —


[A]n dem Progymnaſium einer kleineren Pro-
vinz[i]alſtadt abſolvirte er ſein Probejahr. Hier
wur[d]e das Maß voll. Adam konnte durchaus nicht
begr[e]ifen, warum er ſeinen Schülern außer den
inte[r]eſſanten Anfangsgründen der lateiniſchen Syn-
tax auch noch die Schönheiten altteſtamentlicher
My[t]hen, Märchen und mindeſtens ſonderbarer Opfer-
geſch[i]chten zu Gemüthe führen ſollte. Zudem ekelten
ihn [d]ie kleinen und engen Verhältniſſe dieſer lobe-
ſame[n] Spießerwelt unbeſchreiblich an. Und ſo ſchnitt
er d[a]s Tafeltuch zwiſchen ſich und einer ſoliden, ge-
ſicher[t]en Zukunft entzwei — einer Zukunft, welche
ſo g[e]rn eine der reizenden Honoratiorentöchter des
C[o]nradi, Adam Menſch. 2
[18] Städtels, allwo er ihren Brüdern ein in mancherlei Hin-
ſicht doch etwas merkwürdiger Lehrer geweſen war, mit
ihm getheilt hätte — ſotanes Tafeltuch ſchnitt er alſo
mitten durch — und ließ ſich auf den curioſen Einfall
kommen, ein … „moderner“ Menſch zu werden. —


Hm! So war er denn wirklich ein „moderner“
Menſch geworden. Und ſo ſaß er zu dieſer Stunde
dort auf dem Sopha, zog ſeine Virginia-Cigarette
mechaniſch durch die Lippen, gab den Qualm
mechaniſch von ſich, preßte ab und zu Zeige- und
Mittelfinger der linken Hand gegen die linke Seite
ſeiner Schläfen und dachte manchmal an Hedwig
Irmer. Wie dumm ihm jetzt die Geſchichte vorkam,
die er vor kaum einer Stunde mit dieſer Dame
in Scene geſetzt! Nein! Er wußte es: er beſaß
kein … wenigſtens noch kein tieferes Intereſſe für
dieſes Weib .. Ob er wohl jemals in den Beſitz
dieſes „tieferen Intereſſes“ für Fräulein Irmer ge-
langen würde? Kaum .. Er konnte ſich allerdings
nicht trauen. Zuweilen überraſchte ihn ſein ſonder-
bar complicirtes Ich mit Thatſachen, die ihn in
Erſtaunen ſetzten. Er hätte eigentlich immer en
vedette
ſich gegenüber ſein müſſen. Doch vorausbe-
ſtimmen konnte er abſolut Nichts. So mußte er
ſich denn eben überraſchen laſſen. Beſaß er Ellen-
bogen? O ja! Aber er gebrauchte ſie nicht, ſich
Platz auf der Welt zu verſchaffen. Wollte er ſie
nicht dazu gebrauchen? Hm! War er blaſirt?
Gâté? Nein! Nein! Er kannte ja das Leben noch
kaum. Es war ja eigentlich noch gar nicht ſo lange
[19] her [,] daß er aus dem Ei gekrochen. Ein paar
Eie[r]ſchaalenreſtchen hafteten ihm ſicher noch an.
Wa[s] verſchlugs! Das Eine ſtand jedenfalls feſt:
frei[,] ganz frei, keiner Machtſphäre unterthan,
kein[e]m Urtheilstribunal unterworfen mußte er ſein,
wen[n] er wenigſtens die Abſicht gebären ſollte,
ſich — irgend einem Joche zu fügen. Er
ſpie[l]te wohl zuweilen mit dem Gedanken, aus
dieſ[e]m allmählichen Zerfallen, Verwittern und Ver-
mor[ſ]chen ſeiner „Perſönlichkeit“ an Kraft und Talent
und Muth noch zu retten, was zu retten wäre, und
mit den Reſten und Stümpfen, die trotz ihrer relativ-
ſubj[e]ktiven Kärglichkeit vielleicht noch zehntauſend
Ma[l] bedeutender und werthvoller waren, denn die zur
Ein[h]eit geſammelt gebliebenen Fähigkeiten manches un-
zerſ[p]litterten Durchſchnittlers — mit ihnen alſo in eine
nor[m]ale und genau abgeſteckte Laufbahn einzubiegen.
Ach[!] Adam wußte ſo manches Mal ſehr genau, daß er
mit dieſem Gedanken nur ſpielte. Konnte er ſich
zu d[i]eſer That der Umkehr wirklich noch aufraffen?
Hm[!] Hielt er die Umkehr denn überhaupt noch der
[h]e für werth? Sein pſychologiſches Feingefühl
ſagt[e] ihm doch wahrhaftig genau, daß man ſchließlich
Alle[s] gehen laſſen muß, wie es geht. O ja! Man
faßt Entſchlüſſe. Aber man kehrt doch bald wieder
in [d]ie Bahn zurück, der man eben verfallen iſt.
Ada[m] gehörte zur Sippe jener „unglücklichen“ Naturen,
bei [d]enen Willenskraft, Phantaſie und nüchterner
Verſ[t]and gleiche Stärke- oder gleiche Schwächegrade
beſitz[e]n. Wohl löſt zeitweilig gleichſam das eine
2*
[20] Perſönlichkeitsmoment das andere in der Herrſchaft
ab. Jedoch ſind dieſe Menſchen ſehr oft nachdrück-
lichſter Hochgefühle fähig, dabei alle Kräfte ſich zu ein-
heitlicher Stärke zuſammenſchließen — und darum
müſſen ſie ſo oft auch die Gegenwirkung auf dieſen
Aufſchwung: eine allgemeine Gleichgültigkeit, eine
ſchwere, blutleere Herabgeſtimmtheit, über ſich er-
gehen laſſen. Iſt das nicht eigentlich ihr — was
man ſo nennt: ihr „Normalzuſtand“? Adam Menſch
war ſich ſoweit klar über ſich, daß er dieſe Weſen-
heit ſeiner Natur erkannt hatte und ſie zuweilen
berückſichtigte, das heißt: ſich mit ihr tröſtete. Die
klare Einſicht in eine Thatſache hat ja immer etwas
Tröſtendes — nicht wahr? Aber beſtätigte er mit
dieſem Troſte nicht ſein Leben — ſeine Neigung
zum Leben? War da nicht ſein „Wille zum Leben“
thätig? Wohl doch. Und dann: hatte er das Leben
eigentlich ſchon „genoſſen“? Oefter packte ihn —
oh! er erinnerte ſich deſſen! — ein wahrer Heiß-
hunger auf das gewiſſenhafte, feierliche Genießen
der bunteſten, tollſten, ſeltenſten, ſüßeſten Lebens-
reize. Allein dieſer Heißhunger war im Grunde doch
ſehr gegenſtandslos. Wiſſenſchaftlichen Ehrgeiz be-
ſaß Adam nicht. Zur Liebe hatte er nicht Geduld,
nicht Ausdauer mehr. Erkenntnißreſultate befriedig-
ten ihn nicht, da er wußte, daß es ihm doch nicht
gegeben war, dem myſtiſch-metaphyſiſchen Drange
ſeiner Seele ganz zu genügen. Ja! Unberechenbar
in ſeinen Stimmungen, in ſeinen Neigungen und
Launen; zerſplittert in ſeinen Kräften; unbeſtändig,
[21] flac[k]ernd in „erotiſchen Fragen,“ in der „Leidenſchaft“
ſatt und unbefriedigt zugleich; müde, todtmüde —
und begeiſterungsfähig wie ein Jüngling, der ſoeben
ma[n]nbar geworden iſt; angefreſſen von dem Skepticis-
mu[s] ſeiner Zeit; unklar und wechſelnd in ſeinen Be-
ſtre[b]ungen; radical in ſeinen Anſchauungen; und wieder
übe[r] Alles bornirt, einſeitig, engherzig, intolerant,
beſo[n]ders hinſichtlich mancher geſellſchaftlichen Formen
und Gewohnheiten; — der Volksſeele mitunter in
Alle[m] ſo nahe und dem dargeſtellten Volke ſelber
zum[e]iſt in Allem ſo fern, ſo fremd; auf ſich neu-
gier[i]g, über ſich erſtaunt und ſeiner ſelbſt überdrüſſig;
nich[t] wiſſend: Warum das Alles? Wozu? Wohin
mit dem Allen? Wo hinaus? Oder wo hinein? —
Oft [d]eklamatoriſch, pathetiſch, agitatoriſch; oft ironiſch,
cyni[ſ]ch, gezwungen geiſtreich, ſelten „normal,“ ſelten
ſchli[c]ht, einfach, gewöhnlich, mittelmäßig, mittelhoch
oder mitteltief —: alſo war es im Allgemeinen be-
ſtellt um Adam Menſch — um dieſen „Menſchen-
ſohn[,]“ der noch immer in ſeiner Sophaecke ſitzt, das
letzte Stümpfchen ſeiner Cigarette an die Lippen
gekle[b]t hält — und an ſich .. und manchmal auch an
Hed[w]ig Irmer denkt, an dieſe Dame, die ihm vor-
hin [e]igentlich einen rechtſchaffenen Korb gegeben hat,
— d[i]e ihm auch ſkandalös gleichgültig iſt — und
in d[i]e er ſich doch eigentlich ſo etwas wie .. wie
„verl[i]eben“ möchte, bloß um Gelegenheit .. bloß um
eine[n] inneren Grund zu beſitzen, ihr dann und wann
noch ein Wenig zu ſchaffen zu machen. —


[[22]]

III.


Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer
Wohnung langſam emporgeſtiegen. Sie hatte beim
Hinaufgehen öfter inne halten, öfter ſtehen bleiben
und Athem ſchöpfen müſſen. Was war ihr nur?
Es lag ein Druck auf ihr, den ſie ſich nicht erklären
konnte. Schreckte ſie auf einmal zurück vor der Enge,
Einförmigkeit und Kärglichkeit der Exiſtenz, die ſie
mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, ſchwerhörigen
Vater führte? Nun ſchon ſeit Jahr und Tag führte?
Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl
war ſie im Grunde ſehr gleichgültig durch dieſe
ſie umflirrende Welt gegangen. Sie beſaß nicht das
Talent, ſich in die Herzen der Menſchen hineinzu-
denken. Sie hatte nicht das Bedürfniß, hinter jeder
Geſichtsmaske ein Schickſal zu ſuchen. Sie dachte
an die Menſchen eigentlich kaum, ſie dachte kaum
an ſich, ſie lebte nur auf, beſtätigte ſich nur, wenn
ſie mit ihrem Vater in intim-wiſſenſchaftlichen,
zumeiſt philoſophiſchen Verkehr trat. Eine tiefere
Tendenz ihrer Natur ſtellte dieſes ernſte Studium
allerdings auch nicht dar. Sie mußte ſich oft zwin-
gen, zu den Büchern zu greifen, wenn nicht eine
[23]
unmittelbare Anregung dazu von ihrem Vater voraus-
gega[n]gen war. Alle dieſe Weisheiten der modernen
Phi[l]oſophie waren ihr ja ſo gleichgültig. Die Stürme
ihre[r] Seele waren vorüber. Ihr Blut war todt.
Gre[n]zenlos nüchtern und kahl lag das Leben vor
ihr … eine große, öde, handflache Ebene .. lag
es [v]or ihr .. würde es vor ihr liegen, weiter und
wei[t]er — wenn ſie es nicht eines Tages freiwillig
aus[b]lies … lag es vor ihr mit ſeinem kleinlichen
Ka[m]pf ums Daſein, ſeinen erbärmlichen Mühen und
So[r]gen, ſeinem reizloſen, einförmigen, ſo unendlich
über[f]lüſſigen Wellenſchlage … Immer dieſelbe Me-
cha[n]ik, immer daſſelbe einſchläfernde Surren der Spin-
del .. Hatte ihr die Philoſophie ihres Vaters dieſe
Ruh[e] und Kälte und Theilnahmloſigkeit gebracht?
Da[m]als, als ſich die Waſſer der Kataſtrophe ver-
lauf[e]n, hatte er ſie eingeführt in ſeine Gedankenwelt,
in ſ[e]ine philoſophiſchen Glaubensſätze .. hatte er
ihr [S]tille und Troſt durch die Erkenntniß brin-
gen wollen. Nun — und? Darüber waren faſt
fünf Jahre hingegangen. Die Stürme ihrer Seele
war[e]n vorüber, ihr Blut war todt, ihre Natur ein-
gefr[o]ren. Manchmal wohl … manchmal raſchelte
plötz[l]ich ein heißer, ſchwüler Sehnſuchtshauch durch
die [d]ürren Blätter der Reſignationsphiloſophie, in
der [i]hr Vater lebte und deren Reſultate auch ihr
einle[u]chten mußten. Aber ſie konſtatirte eigentlich dieſe
Reſu[l]tate nur vernunftsmäßig, ſie beſaß nicht Grund
und [B]edürfniß, ſich dieſelben verinnerlicht zuzueignen.


Hedwig hatte auf dem ſchmalen, engen, von
[24] einer blakenden Küchenlampe mit angebrochenem Cylin-
der nothdürftig erhellten Corridor Hut und Mantel
abgelegt, war eine Sekunde vor einem kleinen, ſchmuck-
loſen, halb erblindeten Wandſpiegel ſtehen geblieben,
hatte flüchtig an ihrem Haar geordnet .. und war ſo-
dann durch die nächſte Thür in ein Zimmer eingetreten,
welches ſich als Wohnzimmer zugleich und Arbeits-
gemach ihres Vaters benahm. Der Raum, mittelgroß,
einigermaßen behaglich eingerichtet, augenblicklich von
einer milden Wärme durchfüllt. Rechts hinten in
der Ecke, neben dem jetzt rouleaux- und teppichver-
hangenen Fenſter, ſtand der Schreibtiſch ihres Vaters,
ein anſehnliches, maſſiveichenes Geſtell, nach Ein-
richtung und Ausſtattung mit dem ganzen Wirrwarr
behaftet, den eine ſtarke geiſtige Thätigkeit, welche
für die kleinliche Krämerordnung der Dinge keine
Zeit hat, herausfordert und beſtehen läßt. Rechts
vom Schreibtiſch drückte ſich ein hohes Bücherregal
an die Wand, in deſſen Fächern es auch recht bunt
ausſah. Fräulein Hedwig beſaß entſchieden wenig
Sinn für häusliche Ordnung.


In ſeinem Seſſel vor dem Schreibtiſch ſitzt Doctor
Leonhard Irmer. Er hat ſich zurückgelehnt, der
Kopf hängt ein Wenig der Bruſt zu, die Arme lie-
gen auf den Lehnen des Seſſels. Die Augen zu-
meiſt halb geſchloſſen, blinzelnd, öfter ganz über-
lidert. Das gedämpfte Licht der mit einem grünen
Schirm bedeckten Lampe fällt auf ſein Geſicht. Dieſes
Geſicht hat einen großen, feſſelnden Zug, einen außer-
gewöhnlichen Stil. Leidend, ſehr leidend erſcheint
[25] es m[i]t ſeiner mehr krankhaft weißen, denn verſchoſſen an-
geröt[h]elten Farbe. Stirn gefurcht, um Naſe und Mund
point[i]rte Schmerzensfalten. Hinter dieſer hohen Stirn
iſt v[i]el gedacht worden, dieſe Unterpartie des Ge-
ſichts hat ſich wohl oft genug für ein bitteres, ironiſches
Läche[l]n hergeben müſſen. Ein geſtutzter, weißgrauer
Bart liegt um Kinn und Wangen. Das ſpärliche
Kopf[h]aar vertheilt ſich in einigen dünnen, ſprödfaſrigen
Strä[h]nen über die Platte.


„Guten Abend, lieber Papa!“ Hedwig begrüßt
ihren Vater mit angenommener Munterkeit.


„Guten Abend, mein Kind! Du biſt recht lange
heute ..“ Herr Doctor Irmer ſpricht langſam, ſchlep-
pend, halblaut, undeutlich. Mehr mit den Lippen,
denn mit dem inneren Munde.


[F]indeſt Du, Papa? Ich bin etwas langſam
gegan[g]en — mag ſein! Hier iſt die Volkszeitung.
Soll [i]ch Dir jetzt vorleſen oder nach Tiſch? Das
Buch von Dühring war nicht vorräthig. Ich habe
es be[ſ]tellt. In acht Tagen werden wir's haben.
Brauc[h]ſt Du's zu irgend einer Arbeit? ..“


[D]er Vater ſchüttelt den Kopf.


[N]a! dann ſchadet's ja nichts! Dann können
wir j[a] warten. Emma holt wohl ein zum Abend-
brot? Schmerzt der Kopf noch ſo, Papa? Wenn
Du [D]ich nur entſchließen könnteſt, wieder einmal
eine [S]traße zu gehen — die ewige Stubenluft
thut [D]ir nicht gut —“


[M]orgen vielleicht .. morgen, Hedwig .. Ich
möchte Dir eigentlich noch vor Tiſch … vor Tiſch
[26] einige Zeilen dictieren — willſt Du … ja? ..
Du weißt: zu dem Aufſatze „Poeſie und Philoſophie
in ihrem gegenſeitigen Verhältniß“ — aber nachher
— nachher ſtört uns doch das Eſſen wieder — —
was ſteht denn heute in der Volkszeitung ..?“


Hedwig rückt ſich einen Stuhl neben den Seſſel
ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und
lieſt zuerſt die Telegramme.


Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigen-
thümliches Verhältniß zu einander gefunden.


Irmer iſt ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiund-
zwanzig Jahre alt. Sie hat ſich, allerdings mit
einer gewiſſen Aeußerlichkeit, in die Anſchauungen
ihres Vaters eingelebt, ſie hat es gelernt, ſich ſeinen
Gewohnheiten zu fügen. Sie iſt ſeine Gehilfin,
ſeine Schülerin, ſeine einzige, zuverläſſige Lebens-
ſtütze geworden. Die Stürme ihrer Seele ſind
vorüber, ihr Blut iſt todt, ſie braucht ſich nicht mehr
zu bezwingen, ſie kann alles mechaniſch, alles hübſch
automatenhaft bewältigen. Ihr Vater fragt nicht
viel darnach, ob ſie ſich zur gläubigen, wirklich
überzeugten Anhängerin entwickelt. Er beſitzt den
Egoismus des Kranken, des Leidenden, des Hülfloſen.
Er lebt ganz in der Welt ſeiner Gedanken. Die
andere Welt, der Mutterboden der geiſtigen, dünkt
ihn ſo ziemlich verſchollen. Die Sphäre der Idee
hat für ihn faſt etwas Körperliches, formell Reales
angenommen. Er ſinnt über die Räthſel der Dinge
nach. Er ſieht, denkt, träumt, viſionirt, combinirt,
gewinnt. Nichts iſt ihm das Individuum mehr.
[27] Nich[t] reizt es ihn mehr, individuelle Entdeckungen
zu machen. Damit hat er abgeſchloſſen. Ob er
auch ſchon über die Tendenz der Selbſterkenntniß
hina[u]sgekommen? Kaum. Er wird auch noch nicht
wiſſe[n], wer er iſt.


[H]edwig hat keine Neigung, ſich über ihren Vater
zu w[u]ndern. Sie hat eben überhaupt keine Nei-
gung[e]n mehr. Liebt ſie ihren Vater? Er erhält
ſie, ſ[i]e darf bei ihm wohnen, zuſammenwohnen mit
ihm [i]n den wenigen, engen Räumen, für die er den
Miet[h]szins nothdürftig zuſammenarbeitet. Ein paar
Helle[r] ſind ihnen noch aus früheren, volleren, runderen
Zeite[n] geblieben. Die beiden Leute kommen einiger-
maße[n] aus. Hedwig kann ſich ſogar noch ein
„Die[n]ſtmädchen“ halten.


E[s] iſt ein farbloſes, eintöniges Leben, das ſie lebt.
Wird es ihr öfter nicht doch zu Sinn, als müßte ſie
aufſp[r]ingen, einmal laut .. laut aufſchreien —
aufſch[r]eien, wie Jeſus, ehe er am Kreuze verreckte —
und d[a]nn hinausſtürzen aus dieſer lähmenden Enge —
irgen[d]wohin — irgend Etwas, von dem ſie ſich be-
ängſt[i]gend-unklar bezwungen fühlt, befriedigen —?
In d[i]eſer dämoniſchen Oscillation ſich ausleben? ..
Wird es ihr alſo nicht öfter doch zu Sinn? Nein!
Sie [k]ann ſich nicht erinnern, von ſolchen elemen-
taren Erſchütterungen heimgeſucht zu ſein. Vielleicht
dann und wann einmal ein jähes Aufzucken —
mehr war's nicht — nein! mehr nicht. Manchmal ſagt
mehr [w]ar's nicht — nein! mehr nicht. Manchmal ſagt
ſie ſic[h] ganz klar und vernunftsmäßig: dies und das
im Le[b]en müßte doch eigentlich auch für mich noch
[28] einen Reiz beſitzen, da es doch Millionen Andere
auch reizt — in irgend einem Stärkegrade reizt —?
Hm! Das Theater! Die Muſik! Geht nicht durch
die Träume ihrer Nächte manchmal ein Schatten,
der ihr in die Seele prickelt? Iſt die Luft nur
voll von Stecknadeln? Da ſitzt ein Stück com-
primirten Lebens vor ihr — ihr Vater. Ein
Menſchenalter liegt hinter ihm. Von allen Seiten
iſt das Leben zu ihm herangekommen. Der
nun Einſame beſaß einmal tauſend Beziehungen.
So viel verrauſcht, ſo viel vergilbt, vergeſſen,
verſchleppt und verloren! Freut ſie ſich nicht
doch darüber, wenn ihr manchmal unter ihres
Vaters Anleitung und Führung ein Gedanke tiefer
Eigenthum wird, eine Erkenntniß ihr in ſchärferen
Linien aufgeht? So ſonderbar iſt ihr dann und
wann. Etwas in klarer Grenzbeſtimmung erfaſſen,
macht ihr zeitweilig doch eine Art Spaß, ſo etwas
wie Vergnügen. Sie weiß: darüber vergißt man
ſich am Beſten und Leichteſten. Aber ſie weiß auch:
Stimmungen ſind Blaſen, die aufſteigen, ſich eine
Sekunde lang irisfarben brüſten und zerplatzen. Un-
hemmbar rollt der Grundſtrom weiter. Zu der und
der Grundcombination haben ſich die Moleküle ihres
Weſens zuſammengeſchloſſen. Sie bleibt, dieſe Com-
bination; ſie beſtimmt ihr Leben. Von ihr wird
ſie in Gedanken, Wort und That geleitet. Eine „Be-
kehrung“, eine entſcheidende Beeinfluſſung iſt nicht mehr
möglich. Das Schickſal vollzieht ſich. Hedwig weiß,
daß ihr einmal eine überſchäumende Leidenſchaft aus
[29] der [B]ruſt gebrochen. Vor Jahren. Sind neue
Ausb[r]üche möglich? Aber Nichts ſtört ja ihre Kreiſe.
Sie war einmal ein ſehr ſinnliches Weib. Wie
nücht[e]rn ſie bleibt, wenn ſie jetzt an ihre „Schmach“
denkt, wenn ſie ſich ihres Kindes erinnert! Wie
kalt [ſ]ie bleibt, wenn es ihr einfällt, daß dieſes Kind
ihr e[n]triſſen worden iſt! Sie hat es nicht geliebt.
Nein[!] Sie hat es nicht geliebt. Sie haßt auch
den [V]ater des Kindes nicht. Es iſt ihr wirklich
Alles gleichgültig, ſehr gleichgültig. Die Stürme ihrer
Seele ſind vorüber und ihr Blut iſt todt.


[H]edwig iſt bei dem Verzehren ihrer Sardellen-
leberwurſt und bei dem Hinunternippen ihres Glaſes
Dres[d]ener Tafelbiers ſehr ſchweigſam geweſen. Sie
hat i[h]rem Vater die Biſſen zurechtgeſchnitten und
ſelbſt ſehr mechaniſch die Speiſen zu ſich genommen.
Nun [ſ]treicht ſie ſich mit der Serviette über den
kleine[n], feinlippigen Mund und ſchellt. Emma tritt
ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer iſt es nicht
aufgef[a]llen, daß ſeine Tochter während des Eſſens
ſo ve[r]ſchloſſen geweſen. Ihm iſt es ſehr gleich-
gültig [,] was für Selbſtbetrachtungen ſie anſtellt.
Er iſ[t], ohne daß er es eigentlich weiß, ſo verbiſſen
in ſe[i]ne Art, geiſtig abgelöſt, hinweggeſondert, zu
exiſtir[e]n, daß er kaum mehr im Stande, die leichteſte
Spur eines ſubjektiven Zwieſpalts zu vermuthen.
Wenn es ihm gerade einfällt, beſtätigt er ſich, daß er
durch [ſ]eine Philoſophie ſeiner Tochter das innere Gleich-
gewich[t], das ſie einmal verloren hatte, wiedergegeben.
Und e[r] fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß
[30] hinzu, daß Hedwig ſchon in ihrer Jugend durch ein
gewaltiges Wetter gehen mußte, um früh zu Erkennt-
niſſen kommen zu können, die er ſich erſt in ſpäteren
Jahren zueignen durfte. So läßt ſich denn aus
All' und Jedem etwas Zweckmäßiges und individuell
Verwendbares herausdenken.


In den nächſten Stunden lieſt Hedwig ihrem
Vater einige Kapitel aus Hartmanns „Phaenome-
nologie des ſittlichen Bewußtſeins“ vor. —



[[31]]

IV.


Geſtern um die Mittagsſtunde, als Adam eben
zum Speiſen gehen wollte, war er mitten auf dem
Marktplatze Herrn Traugott Quöck in die Arme ge-
laufen. Sapriſti! hatte ſich dieſer Menſch doch ge-
freut! Adam hätte es gar nicht für möglich gehalten.
Er war beinahe ganz entſetzt geweſen über dieſe
Freudenſprünge und Hühnerhundscapriolen. Hatte
er dem Manne denn jemals Gelegenheit gegeben,
ihn für einen approbirten „Freund“ von ſich, wenig-
ſtens für einen „Freund ſeines Hauſes,“ zu halten —?
Ih bewahre! Keine Spur! Es giebt Leute, die
aus ehrbarer menſchlicher Lebenslangeweile immer
guter Dinge, immer in der beſten, weltfreundlichſten
Laune ſind. Traugott Quöck gehörte nicht ganz
zu dieſen Stoikern des Optimismus, aber doch ſehr
theilweiſe. Er war halb und halb mit der Coupon-
ſcheere auf die Welt gekommen. Das giebt gewiß
ein ganz nettes und bequemes Rundreiſebillet durch's
„menſchliche Leben“ ab. Traugott Quöck sen. war in einer
ſächſiſchen Provinzialſtadt Tuchmacher geweſen, hatte es
aber in den letzten Jahren ſeines geſegneten Erden-
wallens fertig gekriegt, ſich zum „Fabrikanten“ umzu-
[32] züchten und in die Höhe zu ſchwingen. Man muß
mit ſeiner Zeit „fortſchreiten.“ Alſo hat man eines
Tages die Pflicht, „Fabrikant“ zu werden. Das iſt einfach.


Traugott Quöck sen. beſaß einen Sohn, an den
er „viel drangewandt“ hatte, das heißt: Viel Geld,
viel Mühe, Geduld, Lebensſpeſen, Nachſicht — und
ſchließlich war es ihm auch nicht darauf ange-
kommen, ein kleines Bündel unerfüllt gebliebener
Hoffnungen an ſeinen eingeborenen Filius noch
extra „dranzuwenden“. —


Nach dem Tode ſeines Vaters hatte es Trau-
gott Quöck jun. für nützlich befunden, ſich ſchon in
jüngeren Läuften ſeines angenehm geſicherten Lebens
zum jovialen Menſchen herauszufexen. Er hatte
die „Fabrik“ ſeines Vaters, deren Mitinhaber er ein
paar Jahre hindurch formell geweſen, nach dem
Tode ihres Begründers ſchleunigſt verkauft,
war in die nächſte größere Stadt verſiedelt —
und „verwaltete“ nun ſein Vermögen, „ſpeku-
lirte“ ein Wenig zum Zeitvertreib, war Mitglied
einer bierbräulichen Aktiengeſellſchaft — er ſaß ſo-
gar in ihrem „Verwaltungsrathe“! — und genoß im
Uebrigen ſein Leben harmlos, einfach, beſcheiden, ge-
müthlich, höchſtens mit einem nur ganz kleinen, nur
ganz ſpröden Stich in's Raffinirte, befriedigte zeit-
weilig, wie es gerade kam, auch ſeine „geiſtigen Be-
dürfniſſe“, ging 'mal in's Theater, 'mal in's Concert,
unterſtützte mit Vorliebe einen Verein, der es ſich
angelegen ſein ließ, für Vermehrung der öffentlichen
Aborte und Retiraden Sorge zu tragen, trug einen
[33]
großen, monſtrös-breitſpurigen Siegelring mit
ſchmutzig grünem Stein auf dem Zeigefinger der
rechten Hand — und führte gelegentlich 'mal ein paar
mehr oder weniger „geiſtreiche“ Leute, zu deren Bekannt-
ſchaft er zumeiſt gekommen war, wie die bewußte Magd
zu ihrem Kinde, in ſein Haus ein, „ſchmiß“ dieſen Aus-
erwählten ein kleines Frühſtück oder ein delikates
Souper, ſetzte ihnen, aus der menſchenfreundlichſten
Stimmung von der Welt heraus, einen trinkbaren
Wein und ein rauchbares Kraut vor ... und
arrangirte ſchließlich eine Scatpartie ... in höheren,
weiteren Abendſtunden ... eine Scatpartie, bei
der man gewöhnlich „ganz zwanglos,“ „ganz unter
ſich“ war .. und für welche ſich Adam Menſch mit
der Zeit beinahe ſo etwaswie ein kleines „Fäbel“
angezüchtet hatte. Es waren wirklich immer ſehr
nette, ſehr amüſante Abende geweſen ... dieſe
ſpäteren Scatnächte Miſter Traugott Quöck ...


Allerdings! in den letzten ſechs Wochen war
Adam Menſch nicht dazu gekommen, in die gaſt-
freundliche Burg ſeines „jovialen Freundes“ einzu-
kehren, dieſes Mannes, der ſchon ſeit erklecklicher
Zeit gerade in ſeinen „beſten Jahren“ ſtand und
vermuthlich noch in Zukunft eine beträchtliche Weile
alſo weiterſtehen würde.


Hatte Adam irgend ein erſteres Etwas von
dieſer „Einkehr“ zurückgehalten? Nein. Er er-
innerte ſich nicht. Aber das Leben reißt ſo hin
und her, verzettelt, verkrümelt und zerkrümelt ſo,iſt
ſo bei der Hand mit dem Entwegen, Verſchieben,
Conradi, Adam Menſch. 3
[34] Aufſchieben, mit dem Ueberſchatten und Vergrauen.
Oder — ja doch! richtig! — ſo war's —: irgend-
wo, irgendwann hatte er 'mal gehört, im Café oder
in der Kneipe oder ſonſtwo, daß Frau Möbius, die
alte Verwandte Herrn Quöck's, welche dieſer als
weibliche Repräſentationsfigur in ſein Haus aufge-
nommen hatte, ſeit längerer Zeit leidend ſei — na!
und da war es ja ſowieſo ausgeſchloſſen, daß — hm!
— aber ein Beileidsbeſuch, ein Erkundigungsbeſuch
wäre dann wohl erſt recht geboten geweſen ...
Nun! Der Herr Doctor war denn auch geſtern nett
'reingeplumpſt — das heißt: nur vor ſich ſelber. —
Herr Quöck ſchien die Geſchichte nämlich gar nicht
ernſthaft capirt zu haben — war hübſch 'reinge-
fallen alſo, als er ſich nach dem Befinden der Frau
Möbius — es ginge ihr doch hoffentlich wieder
beſſer? — erkundigt und damit verrathen hatte, daß
er ziemlich ſauber orientirt war —: „Ach Gott!
die alte Schachtel! Die hat auch immer 'was!
heute das, morgen das! Na! ſie hat wenigſtens
Zeit, ihre Krankheiten pouſſiren zu können. So
hängt Jedem ſein kleines Privatvergnügen an. Mo-
mentan iſt ſie übrigens wieder auf dem Damm ...“
Somit könnte denn morgen Abend, das war alſo
heute Samſtag, endlich 'mal wieder ein kleines
Souper vor ſich gehen, hatte Herr Quöck nunmehr
gemeint. Lydia käme natürlich auch. Lydia —?
„Wer iſt denn das —?“ — „Ach ſo! Sie kennen
meine — ſie will nämlich eine Couſine von mir
ſein, wenigſtens hat's meine Tante Wort — na!
[35] thun wir ihr den Gefallen! — mir kann's ja egal
ſein — Couſine hin, Couſine her — aber ich ſage
Ihnen, Doctor — : ſo 'n Weib haben Sie überhaupt
noch nicht geſehen — —“ — „Na! na! Herr
Quöck — Sie! — —“ „— Ruhig! ruhig, mein
Lieber! Feudal, capital, pikant, Sie wiſſen ja, kennen ja
die Litanei — ei—genartig, emanci—pirt, capri—ciös
— was Sie wollen! Mit einem Wort —: 'n janz jött-
liches Frauenzimmer! — Wird Ihnen gefallen. Spielt
nämlich ooch ſo 'n Bischen mit der Feder — ver-
ſtehen ſchon! ... hätte 's ja gar nich nöthig, nicht
im Geringſten — iſt ihr ooch nicht Ernſt damit —
bewahre! — bloß — na! Federwiſch und Fleder-
wiſch und ſo weiter — junge Wittwe — lebt erſt
ſeit Kurzem hier — hat wenig Umgang noch —
will ſich 'n Biſſel zerſtreuen — 's Leben genießen —
ganz hübſch vermögend — laß ich mir gefallen —
Alles ſolid bei ihr, Doctor: — Geld, Fleiſch, Lebens-
anſchauung — und ſo weiter .... Warum alſo
nicht —? 'n Narr, der's menſchliche Leben nicht
ſo nimmt, wie's iſt. — Habe übrigens ſchon mit
ihr von Ihnen geſprochen — ſie ſagt: ſie intereſ-
ſirte ſich — —“


„Um Gottes Willen —“


„Was erſchrecken Sie denn ſo —? Werden mir
noch dankbar ſein. Das heißt, lieber Doctor —:
Sie ſind in gewiſſen Dingen 'n kleener Schwere-
nöther, ich weiß wohl — aber hier — —“


„Sie haben die Vorhand, Herr Quöck — ver-
ſteht ſich! — verſteht ſich! — wir mogeln grund-
3*
[36] ſätzlich nicht —“ hatte Adam laut lachend einge-
räumt, zugeſtanden, ganz und gar ohne inneren
Rückhalt — und doch ein klein Wenig gnädig, einen
Fingerhut voll Souveränität in der Seele, eine Idee
„von oben 'runter“ ... Aber er kannte ja dieſe
Dame, dieſes „janz jöttliche Frauenzimmer“ über-
haupt nach gar nicht. Alſo! War er etwa neu-
gierig —? Quatſch. Seitdem er ſich ſelber ſo oft
als pointenloſer, intereſſant dekadirter Schlingel vor-
kam, hatte Adam ein wahres und auch ganz auf-
richtiges, ehrliches Entſetzen vor allem Neuen, Außerge-
wöhnlichen, allem„Ei—genartigen.“ Manchmal wenig-
ſtens pilzte ſich das Abwehrgefühl prall auf und
energiſch entgegen —: „Alles! — nur das nicht!“
Dieſer verfluchte Exotismus! Das „gewöhnliche“
Leben iſt ernſt, ſchwer, traurig, elend, verworren,
monſtrös, angenehm, lieblich, beſeligend, berauſchend
genug. Ha! das „gewöhnliche,“ das gewöhnlichſte
Leben. Aber Adam hatte die Einladung Herrn
Quöcks doch angenommen. „Selbſt—verſtändlich!“
Sich ſo Etwas auch entgehen laſſen ſollen! Ein patenter
Abend: Wein, Cigarren, Scat, Souper, Weiber —
da bleibe der Teufel zu Hauſe! Lydia —? Nein!
Sie reizte ihn nicht. Dieſer dämliche Köder. Viel-
leicht eine ganz angenehme Zugabe ... eine pikante
Würze — warum denn nicht —? Alſo abwarten.
Nur nichts erwarten. Hinterher iſt man auch nicht
enttäuſcht. Enttäuſchungen verſtimmen ſo. Und
wenn man die Karten nachher doch wieder in die
Hand nimmt, in die Hand nehmen muß, ſind ſie mit
[37] eineem Male ſo klebrig, ſo ſchmutzig, ſo ... ſo ...
ſo — abgeſpielt eben — man weiß gar nicht —
mann gewöhne ſich bitte! daran, allenthalben als das
Sellbſtverſtändlichſte von der Welt nur Dreck, Moder,
Sc[h]weiß, Staub, Koth, Schleim und andere Parfums ..
zu [e]rwarten. Handſchuhe. Hm! Handſchuhe? Hand-
ſch[u]he ſind doch eigentlich ſehr merkwürdige Dinger.


Adam erinnerte ſich wirklich nicht mehr, bei
we[l]cher Gelegenheit er Herrn Quöcks Bekanntſchaft
ge[m]acht hatte. Ein ganz nettes Zeitweilchen war's
im[m]erhin doch ſchon her. Aber das war ja jetzt
ſeh[r] ſchnuppe. Der „Zufall“ iſt ein ſo gediegener,
ein ſo zuverläſſiger Improviſator. —



[[38]]

V.


Es war alſo heute Samſtag Abend um die
achte Stunde. Adam Menſch hatte ſich natürlich
ein Paar neuer Glacés erſtanden, die er mit großem
Behagen, mit großer Selbſtgefälligkeit über ſeine
weißen Hände zog, als er die Treppe hinunter-
ſchritt, um gen Quöck-Heim zu wallfahrten. Der
Herr Doctor trug leidenſchaftlich gern Glacé-
handſchuhe. —


Es gab viel Unraſt und Bewegung in den
Lüften. Die Zeit lief wieder einmal dem Kalender-
frühling in die Arme — und dabei war einiger
Windrumor, verſchiedentliches Stürmen und Blaſen
und Pfeifen unumgänglich nothwendig. Aber die
Temperatur war noch kaum angelenzt. Der Wind
kalt, ſchneidend, ſtechend, als wirbelte er kleine,
ſpitze Eiskriſtalle durch die Luft. Es hatte am
Nachmittage geregnet, und große Pfützen ſtanden
auf den Straßen. Das Pflaſter hatte ein ſehr
ſchmieriges, breiiges, klebriges Geſicht aufgeſteckt.
Die Gasflammen zuckten nervös in ihren Glas-
käfigen hin und her und ſpiegelten ſich unruhig in
den Pfützen wieder. Am Himmel war ſchläfrig-
[39] dämmernde Mondhelle. Die Wolken zogen in großen,
unförmigen Schwämmen und Schwärmen hin. Ab
und zu ließ ſich die eine oder andere herbei, den
Mond gleichſam zu verſchlingen. Und gleichſam
von ihrem Magen her floß ein weißgelbes Feuer in
alle ihre Glieder und durchleuchtete ſie blendend
von innen heraus.


Adam ſagte ſich, daß dieſer Aufruhr in der
Natur ein köſtliches Frühlingsſymbol ſei. Und
doch dünkte ihn dieſer ſtechende Stecknadelwind im-
pertinent. Er klappte den Kragen in die Höhe und
ſchob die frierenden Hände reſignirt in die Rock-
taſchen. Ja! Es gehörte ein ſehr biegſamer und
an's Pariren gewöhnter „Wille“ dazu, um an dieſes
Frühlingsſymbol glauben zu können.


Adam ſchlug den Rockkragen wieder nieder und
drückte auf den Knopf der elektriſchen Klingel. Das Gas-
licht lag dick auf dem gelben, funkelnden Metallſchild,
das den Namen „Traugott Quöck“ eingravirt trug.


Ein Diener öffnete. Er complementirte den
Ankömmling in den Vorſaal hinein und war ihm
beim Ablegen des Überziehers behülflich. Dann
ſtieß er die Thür zum Salon auf.


Adam trat ein. Herr Quöck ſchnellte von einem
Fauteuil auf und eilte ſeinem Gaſte entgegen.


„Willkommen, Herr Doctor —“


„Guten Abend, Herr Quöck —“


„Darf ich Ihnen meine — ich ſagte ja Ihnen
geſtern ſchon — Sie werden ſich erinnern — alſo meine
Couſine — Frau Lydia Lange — vorſtellen —?“


[40]

Herr Quöck deutete auf eine Dame, die im
Hintergrunde des Zimmers an einem kleinen Eck-
tiſche ſtand und ſich ſoeben umwandte. Ein auf-
geſchlagenes Album wurde jetzt ſichtbar.


„Herr Doctor Menſch —“


Adam verneigte ſich ſehr ceremoniell. Die Dame
nickte kurz.


„Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Doctor? —“


„Wenn ſie geſtatten —“


Adam warf ſich in einen Fauteuil. Er knöpfte
ſeine Glacé's auf und ſah zu der Frau hinüber,
die näher getreten war und jetzt am Sophatiſch ſtand.


Hm! Frau Lange beſaß allerdings Etwas, das
— gewiß! das „eigenthümlich“ war, das in-
tereſſiren, das unter Umſtänden ſogar — hm! —
ſogar —


„Na! nur nicht gleich ſo hitzig!“ bremſte Adam ſeine
ſchmunzelnde Zufriedenheit feſt ... und geſtand ſich nun
eine volle, die durchſchnittliche Mittelgröße ein Wenig
überragende Geſtalt; einen, wie die Dame ſo daſtand,
durch kleine, runde, gelenke Bewegungen mit den
Armen, mit dem Kopfe, Elaſticität und Geſchmeidig-
keit verrathenden Körperbau; eine prachtvoll durch
das Corſet zu eleganter Wölbung herausgecurbte
Bruſt; volle, warme Arme, die durch das glatt
und eng anliegende Kleid entzückend beſtimmt her-
vortraten — einen breit und gebärtüchtig ſich ausladen-
den Unterkörper — „allerdings! derartige Frauen ſind
ſehr oft unfruchtbar“ — — und ſchließlich ein, wenn
auch nicht gerade „durchgeiſtigtes,“ ſo doch ſehr regel-
[41] mäßiges Geſicht: feine, zierliche Naſe, kleiner, üppiger
Mund, niedrige, weiße, von einigen zwanglos herab-
fallenden Ringeln des rothblonden Haars coquett
überſchattete Stirn — und ein Paar grauer, merk-
würdig unruhiger, verzettelt ſich ausgebender Augen,
die einen Moment groß aufgeſchlagen ſind, um im
nächſten wiederum halb überlidert zu werden.


„Das iſt alſo unſer berühmter ‚Proletarier des
Geiſtes‘ — ſagteſt Du nicht, liebe Lydia, daß Du
Dich für den Ul—k — — pardon, Herr Doktor! —
intereſſirteſt? Ich erzählte Dir doch neulich davon ...
nicht wahr — der Herr Doctor ſieht gar nicht ſo
proletarierhaft aus gar nicht ſo ...? —“


Frau Lydia Lange und Adam Menſch ſahen
ſich ſcharf in die Augen. Dann rümpfte die Dame
ein Wenig das feine Näschen und meinte leichthin:


„Es kommt ſo oft vor, daß man in Wirklichkeit
doch das iſt, was man ſich — einbildet —“


„Aber Lydia —“ wehrte Herr Quöck mit pouſ-
ſirlicher Erſchrockenheit ab.


Adam war einen kleinen Augenblick verblüfft.
Auf eine derartige .. hm! immerhin paradoxe Con-
verſation war er kaum gefaßt geweſen. Dann ver-
zog er den Mund zu einem nachſichtig-ironiſchen
Lächeln und parirte ab:


„Sie haben ſo Unrecht nicht, gnädige Frau.
Aber ich möchte mir eine Lanze, ſogar eine „warme“
Lanze, wie man zu ſagen pflegt, für die andere Seite
Ihrer Behauptungsmedaille — „wie geſchmacklos!“
dachte er bei ſich, als ihm dieſe nette „Metapher“
[42] entfahren war — zu brechen erlauben. — Es giebt
nämlich in der That auch Fälle, wo ... wo ...
nun ſagen wir: wo „man“ ſich das nicht einbildet,
was „man“ im Grunde — auch .. nicht iſt —“


Herr Quöck that ſehr verwundert über dieſe Art
von Unterhaltung. Die Beiden ſchienen ja ſogleich
beim erſten Sichbegegnen ſehr energiſch Notiz von
einander nehmen zu wollen. Er blickte erſt zu Adam
hinüber, dann wandte er ſich, eine ſtumme Frage in
den Augen, zu ſeiner Couſine hin.


Dieſe mußte auch ein wenig erſtaunt ſein. Wagte
... wollte .. dieſer — nun ja! der Herr hieß
ja curios genug thatſächlich „Menſch“ — — alſo
wagte ... wollte dieſer — Menſch ihr eine ...
Impertinenz ſagen? Das wäre doch unerhört ge-
weſen —


„Sie meinen damit, Herr Doctor —?“ kam es
darum ſehr indignirt von ihren Lippen.


„Nun .. ich meine damit, gnädige Frau, um mich
Ihrer Urtheilsart an—zu—ſchließen — — noch
einmal, wenn Sie gütigſt geſtatten, anzuſchließen —
— ich meine damit, daß es Individuen giebt, die
zu viel .. und zumeiſt zu viel innerlich erlebt
haben, als daß ſie nicht ſo weit ... alſo ſo weit
unklar über ſich ſein ſollten, um das zu behaupten.
wofür ſie keine direkten Beweiſe beſitzen ...“ redete
ſich Herr Doctor Adam Menſch ſehr dunkel aus und
zwar, indem er ſehr langſam, ſehr gedehnt ſprach ..


Frau Lydia lange war wie verwandelt. Sie
lachte hell auf, zupfte unruhig an ihrer Uhrkette
[43]
und rief luſtig: „Das iſt mir zu hoch oder zu tief
Herr Doctor! Das verſtehe ich nicht —“


„Ich eigentlich auch nicht, gnädige Frau —“ ver-
ſicherte Adam treuherzig. Er mußte nicht minder lachen.


Traugott Quöck ſah ziemlich verdutzt aus. Da
öffnete ſich die Thüre zum Nebenzimmer und Frau
Möbius trat über die Schwelle. Adam begrüßte die
Dame und erkundigte ſich ſehr theilnehmend nach
ihrem Befinden. Die „alte Schachtel“ war enorm gerührt.


„Es iſt Alles ſo weit fertig, Traugott —“ bemerkte
ſie nun zu ihrem Neffen — „wir könnten anfangen —“


„Schön, liebe Tante! Aber Du vergißt ganz —
wir haben ja noch Fräulein Irmer und Herrn Re-
ferendar Oettinger geladen — — ſo müſſen wir
denn wohl noch einen Augenblick warten — ich denke:
die Beiden kommen noch. Oder haben ſie in letzter
Stunde abſagen laſſen —?“


„Nein! — aber es iſt ſchon ſo ſpät — und
der Braten —“


„Die Geſchichte wird ja immer famöſer,“ plau-
derte ſich Adam zu und wollte ſich einreden, daß er
nicht im Mindeſten verwundert wäre. Alſo kannte
Herr Quöck auch Hedwig — das heißt —: jedenfalls
ihren Vater —? Aber ſeit wann denn eigentlich —?
Na! dös war nun halt 'mal ſo! da ließ ſich Nix gegen
machen — alſo 'mal zu, Kutſcher, bis zur Pechhütte!


Die Klingel ſchlug an. Die Thür ging auf und
ein .. Herr trat in den Salon. Herr Referendar
Oettinger wurde den Anweſenden, ſoweit er ihnen
unbekannt war, vorgeſtellt.


[44]

Adam muſterte den Ankömmling mit ſcharfen
Blicken. Er bemerkte, wie deſſen Augen ſich ſehr
intim mit dem Erfaſſen von Frau Lydias menſch-
licher Ausgedrücktheit beſchäftigten. Die ſtreifte ihn
mit einem kurzen Blicke, wandte ſich ſodann wieder
Adam zu und kehrte nochmals zum Geſicht Herrn
Oettingers zurück. Adam konnte ſich eines verkapp-
ten Lächelns nicht enthalten. Aha! Sie vergleicht!
conſtatirte er ſtillvergnügt. Wie doch die Weiber
ſofort an das Aeußere, an die zufällige Erſcheinung
anknüpfen! Plötzlich verſpürte er den Blick Lydias
anhaltend auf ſich. Er reagirte naiv-brüsk auf dieſe
augenſcheinliche Zurechtweiſung. Die Beiden verſtan-
den ſich. Und Adam mußte ſich mit einer heiteren
Befriedigung einräumen, daß Frau Lange ſeine Ge-
danken durchſchaut hatte.


Herr Referendar Oettinger beſaß im Ganzen
ſehr nichtsſagende, ſehr nichtsthuende Züge. Ein matt-
rothes, ziemlich volles, prahleriſch geſundes Geſicht.
Das Haar mit zudringlicher, beleidigender Sauber-
keit in der Mitte geſcheitelt. Ein ſüßliches Geſell-
ſchaftslächeln um den unſchönen, langweilig breiten
Mund. In Kleidung und Haltung natürlich tadel-
los, natürlich „patent.“ Ein discreter Moſchusduft
quoll von ihm aus durch den Raum.


„Fräulein Irmer bleibt aber wirklich etwas
lange —“ urtheilte Herr Quöck, der ziemlich hungrig
ſein mochte.


„Warten wir doch noch 'ne Sekunde! Wir
werden doch nicht 'gleich verhungern —“ ſchlug
[45] Frau Lydia ſorglos vor. Sie erhielt einen etwas
mißbilligenden Blick von ihrem Herrn Vetter.


„Sie kommen eben aus Italien, Herr Referen-
dar —?“ fragte Herr Quöck ſeinen Gaſt, weniger
aus Theilnahme oder objectivem Intereſſe, als aus dem
Bedürfniß heraus, ſich über die peinliche Zwiſchen-
aktsfriſt nach Kräften hinwegzutäuſchen. Er hatte
wirklich redlichen Hunger.


„Ja —! Das heißt — ich bin ſchon vier
Wochen wieder in Deutſchland ... Es war ja
ganz nett jenſeits der Alpen — natürlich! Aber
es gab doch 'n Biſſel zu viel — Schmutz ... Die
Damen verzeihen, allein die Wahrheit über Alles —“


„Bravo, Herr Referendar!“ rief Adam ungenirt.
Ihm kam das Geſtändniß und zumal die Entſchul-
digungsphraſe Herrn Oettingers überaus drollig vor.


Der platzte dem Bravorufer mit einem ungnädigen
Blicke entgegen, in welchem Blicke allerdings zu-
gleich ein verhaltenes Erſchrockenſein lag. Frau
Lydia trug ein moquantes Lächeln um die Mund-
winkel. Sie ſah Adam an, der erwiderte ihren
Blick. Und Herr Oettinger, welcher dieſes Herüber
und Hinüber der Augen bemerkt, ſchaute wirklich
einen Moment lang rechtſchaffen unzufrieden aus.


Der Märzwind ſchnob die Straße entlang. Das
war ein wüthiges Brauſen, als ſtünde das Herz des
körperloſen Athemgottes in hellen Zornesflammen,
als ſuchte er etwas Verlorenes, das ihm entwiſcht
wäre .. und das er durchaus nicht wieder finden
könnte ... durchaus nicht ...


[46]

Das Geſpräch war plötzlich verſtummt. Es ſchien,
als hätten die Menſchen da drinnen im Salon das
Gefühl, den Unhold unbehelligt vorüberraſen laſſen
zu müſſen.


„Das iſt aber windig —“ unterbrach Frau
Möbius die Stille. Die alte Dame beſaß entſchieden
das Talent, zur rechten Zeit ſehr richtige Bemerkungen
zu machen.


„Frühlingsſymbol, gnädige Frau —!“ erläuterte
Adam ſcherzend.


Frau Lange verzog den Mund zu einem gegen-
ſtandsloſen Lächeln.


„Es ſymbolt ſich 'was, Herr Doktor —!“ urtheilte
Herr Quöck mit gezwungenem Geſichtsausdruck. Sein
Hunger ſchien entſchieden wieder ein tüchtiges Stück
gewachſen zu ſein.


„In Palermo hatten wir einmal — —“ begann
Herr Oettinger — da klang ein ſpitzes, ſcharfes
Läuten auf.


„Das wird doch endlich Fräulein Irmer ſein —“
hoffte der Wirth des Hauſes brummig.


Die Dame war es denn auch.


„Ich bitte um Entſchuldigung, daß ich ſo ſpät
komme — mein Vater — —“ begann Hedwig,
als ſie in den Salon getreten war und die Anweſenden
kurz begrüßt hatte. Ihre Stimme gab einen haſti-
gen Stoß, im Ausdruck tief, monoton, etwas ver-
ſchleiert, etwas heiſer. Frau Möbius ſtellte ihr die
beiden Herren vor, die zum Souper mitgeladen
waren. Fräulein Irmer wurde ein Wenig verlegen,
[47] als ſie ſich unvermuthet Adam gegenüberſah. Der
hatte ſich erhoben und verneigte ſich unendlich paſſiv.
Er freute ſich im Stillen 'n Bein aus, daß er ſich
vollkommen beherrſcht hatte.


„Nun darfſt Du Deinen Willen haben, liebe
Tante —“ wandte ſich Herr Quöck großmüthig zu
Frau Möbius, die ſich auch ſofort nach dem Speiſe-
zimmer kehrte.


„Darf ich bitten —?“ lud der Wirth ſeine Gäſte ein.


Adam ſaß zur Rechten Herrn Quöcks, dieſem
zur Linken Herr Referendar Oettinger. Neben letz-
terem Frau Lydia, alſo Adam ſchräg gegenüber.
Seine rechte Nachbarin war Fräulein Irmer. Frau
Möbius, die kleine, purzlige Frau mit dem harm-
loſen Geſicht — der goldene Kneifer, den ſie bald
aufſetzte, bald wieder von dem Rücken der ſcharfge-
falteten Naſe herunterholte, nahm dieſem Geſicht
nichts von ſeiner blaſigen Teigheit — Frau Mö-
bius rundete die kleine Geſellſchaft liebenswürdig ab.


Adam war vollſtändig ein Opfer der Situation
geworden. Die Atmoſphäre berührte ihn außer-
ordentlich ſympathiſch, ſtimmte ihn überaus einheit-
lich. Die Gegenwart Fräulein Irmers dünkte ihn
ausnehmend pikant, kam ihm wie das Vorſpiel eines
intereſſanten Abenteuers vor — eines Abenteuers,
das ihm ein tüchtiges Maß bunter Reize zuwerfen
mußte. Da ſtand etwas bevor, das ihn mit einer
köſtlichen Unruhe erfüllte. Und Frau Lydia? Sie
coquettirte doch ein klein Wenig mit ihm. Auch
das ſchmeichelte ihm. Seine Beziehungen zu ihr
[48] mußten nicht minder Form und Farbe, beſtimmte
Contouren annehmen: das ahnte, wußte, hoffte er.
Seine Phantaſie tändelte gern. Sie war augen-
ſcheinlich heute Abend in der beſten Laune. Zudem dieſe
reichbeſetzte Tafel, dieſe Fülle von Eleganz, dieſes
geſchmackvoll zuſammengeordnete Leben, dieſe be-
hagliche Zwangloſigkeit — die verhalten-geſummte
Muſik der Lüſtreflammen: das Alles prickelte ſich
ihm berauſchend in die Seele, ſchob und hob ihn
ohne jede Abſichtlichkeit über ſich hinaus, ließ ihn
vergeſſen, was hinter ihm lag, was vor ihm lag,
was er ſich ſelbſt eigentlich war — nahm ihn ganz
hin — zehrte ihn ganz auf ....


Herr Quöck aß ſehr tapfer drauf los. Der
ſaftige Rehbraten mundete ihm vortrefflich. Die
Ouvertüre: delicate grüne Erbſen mit Beilage, hatte
er ziemlich unbehelligt vorübergehen laſſen. Er ſchien
ſich an das Körperlichere halten zu wollen.


„Nehmen Sie Rum oder Rothwein zum Thee,
Herr Doctor —?“ fragte Frau Möbius Adam.


„Danke ſehr, gnädige Frau! Ich habe mich
ſchon mit Rum bedient —“


„Ich gieße mir immer Rothwein hinzu —“
geſtand Quöck.


„Und Sie, Herr Referendar —?“


„Auch ich, gnädige Frau, habe mir ſchon erlaubt,
Rum vorzuziehen —“


„Wie geht es Ihrem Herrn Vater, Fräulein
Irmer —?“ fragte der Wirth des Hauſes und ſchob
ein anſehnliches Stück Rehrücken zwiſchen die Zähne.


[49]

Fräulein Irmer, die ſoeben nach ihrem Theeglaſe
gegriffen, ſetzte es wieder nieder und antwortete:
„— Papa war gerade in den letzten Tagen recht
leidend — hatte viel nervöſen Kopfſchmerz .. Er läßt
ſich Ihnen übrigens beſtens empfehlen, Herr Quöck —“


„Danke, liebes Fräulein, danke —! Ich glaube,
Ihr Herr Papa arbeitet zu viel .. er ſollte ſich mehr
Ruhe gönnen ... das viele Denken ſtrengt ſo an —“


„Mag ſein, Herr Quöck — aber das iſt nun
einmal ſein Leben — und ich glaube, man kann
die Geſetze, nach denen ſich ein individuelles Leben
regelt, nicht ungeſtraft verletzen —“


Herr Quöck kaute gerade an einem etwas heißen
Stück Bratkartoffel herum und konnte darum nicht
ſogleich zu Wort kommen. Adam wandte ſich zu
ſeiner Nachbarin hin —:


„— Wenn ich mich nicht irre, mein gnädiges
Fräulein, hörte ich neulich — ich erinnere mich
freilich nicht gleich, wo? —, daß Ihr Herr Vater
auch — hm! auch Bücher zu ſchreiben pflegt —? —
Ich huldige zeitweilig leider auch dieſer triſten
Praxis — es wäre mir darum ganz intereſſant und
zudem eine hohe Ehre, Ihren Herrn Vater gelegentlich
perſönlich kennen lernen zu dürfen — „Collegialität“
iſt zwar ſonſt nicht gerade —“


„Papa iſt, wie geſagt, ſehr leidend .. wir leben
ſehr zurückgezogen .. empfangen ſelten Beſuche ..
Papa iſt ſo ungeſellſchaftlich geworden .. das iſt ja
natürlich .. Aber wenn Ihnen daran liegt, Herr
Doctor — — ich werde Papa vorbereiten — —“


Conradi, Adam Menſch. 4
[50]

Hedwig hatte ſehr kalt, ſehr zurückhaltend, bei-
nahe abweiſend, geſprochen. Es ſchien ihr perſönlich
gar nichts daran zu liegen, eine Beziehung zwiſchen
ihrem Vater und Herrn Doctor Menſch herzuſtellen
oder hergeſtellt zu ſehen.


„Sehr liebenswürdig, mein Fräulein!“ dankte
Adam reſervirt und wollte ſodann fortfahren: „Der
Werth des Lebens —“


Da fiel Frau Lange ein: „Pardon, Herr Doctor,
wenn ich Sie unterbreche — ich — ich —“


Frau Lange wußte entſchieden nicht recht, was
ſie eigentlich von Adam wollte in dieſem Augenblick.
Es ſchien ihr nur unbequem zu ſein, ihn und Fräu-
lein Irmer in ein ernſthafteres, längeres Geſpräch
kommen zu ſehen.


Als Adam die Worte „— Werth des Lebens —“
über die Lippen gebracht, war Hedwig zuſammen-
gefahren. Er wird doch nicht — — —


„Ja!“ fuhr Frau Lydia fort, „Sie haben, Herr
Doctor —“


„Darf ich Ihnen noch einmal Thee eingießen,
Herr Referendar —?“ fragte Frau Möbius an ..


„Wenn ich bitten darf, gnädige Frau — —.“


„Mir auch noch 'n Schluck, liebe Tante, ja —?“
bat Herr Quöck.


„Recht gern, Traugott —“


„Ich mache Ihnen mein Compliment, gnädige
Frau,“ hub Herr Oettinger an, „— Ihre Küche
iſt vorzüglich! Ich habe ſelten ein ſo delikates
Stück Fleiſch — —“


[51]

„Ach, bitte, bitte! .. “ wehrte Frau Möbius
beſcheiden ab.


„Uebrigens,“ wandte ſich Lydia an Adam —
„ſagen Sie, Herr Doctor: — ſind Sie denn immer
ſo .. ſo ſteif .. ſo ceremoniell —? Ich hörte zufällig
vorhin, als Sie zu Fräulein Irmer — Sie geben
ja in der That keinen einzigen ... wie ſoll ich
ſagen —? keinen .. keinen einzigen Naturlaut von
ſich —.“


Adam war ein Wenig verblüfft. Er reichte
gerade die Schüſſel mit Bratkartoffeln ſeiner Nach-
barin hin.


„Immer ſo —?“ wiederholte er befangen-mecha-
niſch. Er wußte nicht ſogleich, was er antworten ſollte.


Lydia lachte hell auf: „— Aber, Herr Doctor —“


„Aber, Lydia —!“ monirte verlegen-unwillig
ihr Vetter.


Herr Oettinger ſchmunzelte. Um dieſe ſüße
Freude über Adams kleine Abfuhr ein Wenig zu
verhüllen, griff er ſchnell nach ſeiner compote mêlée ..


Adam hatte ſich gefaßt. Er ſchlug die Augen
groß auf und ſah ſcharf zu Lydia hinüber. Dann
kniff er den Blick etwas zuſammen — und während
ihm ein wegwerfendes Lächeln Mund und Naſe
umkräuſelte, fragte er ſeine ſchöne Gegnerin:
„Wollen Sie es dem Schornſteinfeger verdenken,
gnädige Frau, daß er ſich zuweilen .. wäſcht —?“


Fräulein Irmer blickte ihren Nachbar erſtaunt-
erwartungsvoll von der Seite an. Was meinte er
damit —?


4*
[52]

Auch Frau Lange wußte nicht recht, was ſie
von dieſer Antwort denken ſollte.


Der Herr Referendar hielt das Geſicht gebeugt
und ſtocherte mit dem kleinen Löffel in ſeinem
ſteifſchleimigen Fruchtbrei herum. Seine roſigen,
wohlgepflegten Fingernägel glänzten.


Adam legte Meſſer und Gabel über ſeinen Teller
und lehnte ſich zurück. Er ſah Frau Lydia heraus-
fordernd an.


Herr Quöck blickte bei ſeinen Tiſchgäſten fragend
herum und machte ſich dann an das Geſchäft, ſeinen
goldgelben Rüdesheimer zu verſchenken.


„Pythius —!“ warf Lydia provokant hin.


„Pythius' —?“ — Adam lachte. „Nein!
gnädige Frau ſcherzen ... Ich weiß ganz genau,
was ich will .. was ich geſagt habe .. Uebrigens
geſtehe ich recht gern zu, daß Ihnen meine Worte
weniger dunkel —“


„Heraklitiſch dunkel —“ warf Herr Oettinger
ein.


„Ganz Recht, Herr Referendar! .. alſo „herakli-
tiſch“ dunkel und räthſelhaft erſcheinen würden,
wenn ich die Ehre genöſſe, von Ihnen näher gekannt
zu werden —“


„Na! Dazu kann ja eventuell noch Rath
werden —“ äußerte Lydia offen und ſah Adam
groß und coquett-verſprechend an. —


Hedwig machte ein ziemlich müdes und gelang-
weiltes Geſicht. Was wollten eigentlich dieſe Leute
von ihr —? Was gingen ſie dieſe Menſchen an —?
[53]
Was hatte ſie in dieſer leichtſinnig phosphorescirenden
Welt zu ſuchen —? Nichts! Rein gar Nichts!
Vertrug ſich überhaupt dieſer Aufenthalt in einer
Sphäre, die ihr im Grunde abſolut gleichgültig …
ja! ja! ... ganz beſtimmt! .. ganz beſtimmt ab-
ſolut gleichgültig war — vertrug er ſich überhaupt
mit ihrer ‚Weltanſchauung‘ —? Nein! Sie that es
nur ihrem Vater zu Gefallen, wenn ſie zeitweilig in
dieſen Kreiſen verkehrte. Ihr Vater zwang ſie
allerdings nicht dazu, dieſen lächerlich leeren Formen-
cultus mitzumachen. Aber er ſah es im Grunde
doch ganz gern. — gewiß! ‚ideell‘, ‚theoretiſch‘ ver-
warf er den Humbug ... aber ſo „lebensklug“
war er immerhin doch noch — ſchien er immerhin
doch noch zu ſein, daß er ſich und ſeiner Reſignation
Nichts zu vergeben glaubte, wenn er ſeine Tochter
den Firlefanz bisweilen mitmachen ließ. Hedwig ſagte
ſich ſehr klar, daß ihr Vater ſich nur als Denker be-
thätigen konnte, wenn er lebte — wollte er aber
‚leben‘, mußte er mit gewiſſen Verhältniſſen klug und
praktiſch rechnen — ſonſt konnte er eben einpacken.
Oder — oder war ſie heute Abend bloß ſo übel-
launig, ſo verſtimmt, wenigſtens ſo gleichgültig,
weil ihr Lydia unſympathiſch? Weil ihr Nachbar
ſie ſtörte, dieſer ſuffiſante Doctor Menſch, der ſich
ihr neulich ſo impertinent frech aufgedrängt hatte —?
Aber nein! Dieſe Welt war nicht ihre Welt — und
ſie durfte ſich mit dem Bewußtſein tröſten, daß ſie
dieſelbe nur zuweilen beſuchte, um ihre eigene Welt —
ſelbſtverſtändlicher zu finden.


[54]

„Proſit, meine Herrſchaften —!“ lud Herr Quöck
ein und erhob ſein Glas zum Anſtoßen.


Die Gläſer klangen zuſammen.


Frau Lydia hatte ihren ‚Kelch‘ zuerſt an den
Adams klingen laſſen. Der lächelte ironiſch. Dann
wandte er ſich auffallend ſeiner Nachbarin zu. Er
begegnete ihrem müden, theilnahmsloſen Blicke. Und
er bemühte ſich, dieſen Blick feſtzuhalten und ihm da-
mit ein eigenes Feuer, einen beſonderen, ſelbſtändigen
Werth zu geben. Plötzlich ſtieg ein leiſes, diskret-
wolkiges Roth in Hedwigs Geſicht.


Lydia, welche dieſe kleine, überflüſſige Scene
beobachtet hatte, war etwas pikirt und kehrte ſich
mit nervöſer Plötzlichkeit zu ihrem Nachbar: „— Wie
lange waren Sie in Italien, Herr Referendar —?“


Herr Oettinger, der ſoeben von ſeinem Weine ge-
trunken, ſchluckte den köſtlichen Tropfen hinunter,
jedenfalls zu haſtig für ſein Gefühl, und antwortete:
„Fünf Monate, gnädige Frau! Gerade genug, um
die Schönheiten und, wie geſagt, auch — den Schmutz
dieſer Dorados der guten Nordländer kennen lernen
zu können —“


„Fünf Monate —“ wiederholte Lydia mechaniſch
und ſah zu Adam hinüber, der zerſtreut-gedankenvoll
an ſeiner Serviette herumſpielte.


„Wollen Sie nicht einmal von dieſem Apfel-
ſinencompot koſten —?“ wandte ſich Frau Möbius
an Hedwig. Dieſe nahm dankend an, ſchöpfte ein
paar Löffel des Nachtiſches auf ihr Tellerchen und gab
die kleine Terrine weiter an Adam.


[55]

Herr Quöck hatte wieder einmal an ſeinem
Glaſe genippt und ſchnalzte befriedigt mit der Zunge.


„Wiſſen Sie übrigens ſchon, lieber Doctor —“
hub er jetzt zu Adam Menſch zu ſprechen an, „— daß
meine verehrliche Frau Baſe auch — auch — ſchrift-
ſtellert — das heißt —“


„Beſter Traugott —“


„Ich bin erſtaunt, gnädige Frau —,“ heuchelte
Adam —: er wunderte ſich doch ein Wenig, daß
Herr Quöck manchmal ſo merkwürdig taktfeſt im ge-
ſellſchaftlichen Lügenſpiel ſein konnte.


„Na! So ſchlimm iſt das nicht —“ gab Lydia
lachend zu — „ſchwache Verſuche, die —“


„Nette ‚ſchwache Verſuche‘, wenn man gleich 'ne
‚moderne Bibel‘ ſchreiben will —“ flüſterte Herr
Quöck mit drolligem Geheimnißvollthun über den
Tiſch —


„Das iſt ja außerordentlich intereſſant —“ ver-
ſicherte der Herr Referendar —: „eine ‚moderne
Bibel‘ —“


„Ja —? finden Sie?“ fragte Lydia neckiſch-
boshaft.


„Auf Ehre, gnädige Frau —!“


„Ich habe einen Gedanken, liebe Couſine —“
nahm Herr Quöck wiederum das Wort —


„Und das wäre —? Du haſt, wenigſtens ſo weit
ich es vorläufig beurtheilen kann, ſo ſelten Gedanken,
beſter Herr Vetter — daß ich wirklich geſpannt bin —“


„Sei doch nicht ſo ... ſo eigenthümlich liebens-
würdig, Lydia — höre mich doch erſt an — viel-
[56] leicht genüge ich Deinen hohen Anſprüchen ausnahms-
weiſe doch einmal —“ ließ Herr Quöck beleidigt-
zurechtweiſend verlauten ..


„Na! — nur nicht böſe ſein, Vetter! Ich wider-
rufe ja gern, wenn — —“


„Alſo ... Ja! .. Wie wäre es, wenn Du
im Verein mit .. Herrn Doctor Menſch Deine eben-
ſo ſchöne wie tiefe Idee ausführteſt —? Der Herr
Doctor iſt wohl, wenigſtens ſoweit ich urtheilen darf
— ich habe ja die Ehre, ihn ſchon ſeit mehreren
Jahren zu kennen — alſo der Herr Doctor möchte
Dir ein ganz famoſer — verzeihen Sie gütigſt, Herr
Doctor, dieſes etwas burſchikoſe Beiwort — aber
mein Jugendfreund Saldern gebrauchte das Wort
öfter — und da habe ich es mir denn auch
un poco — —“


„Ah! ‚un poco‘! Süßer Laut der ſchönen
Fremde —“ fiel Herr Oettinger affektirt-pathetiſch
ein. Der Wein ſchien ihm die Zunge etwas ſchwippig
gemacht zu haben.


„Alſo auch etwas angewöhnt — — ja! ..
um den Satz endlich fertig zu bringen —“ fuhr
Herr Quöck fort — „ein ganz prächtiger Mitarbeiter
ſein .. Ich glaube nämlich ehrlich, daß das Buch
Aufſehen machen — unter Umſtänden ſogar einen
ſenſationellen Erfolg haben würde, wenn es nur
erſt ... erſt fertig wäre —“


Frau Lange ſah zu Adam hinüber. Der war
immerhin etwas betreten. Dieſe Wendung des
Geſprächs kam ihm zu unerwartet. Sollte das den
[57] Weg bedeuten, auf welchem ſich ſeine Beziehungen zu
dieſem ſchönen Weibe, das ihn ausnehmend reizte,
anknüpften ... enger zuſammenfädelten —? Und ...
und Hedwig? .. Er ſah ſich zu ihr um. Fräulein
Irmer machte ein etwas maliciöſes Geſicht. Die
Schmerzensfalten um die Naſe waren ſchärfer hervor-
getreten. Und doch lag in dieſem Geſicht zugleich ein
Zug des Geſpanntſeins, der Neugier, der Theilname.


„Hm! .. hm! —“ begann Lydia. Sie wunderte
ſich ein Wenig, daß Adam nicht ſogleich freudig und
hingeriſſen auf den Vorſchlag einging. Das ärgerte ſie.


„Ja! Ja! Der Gedanke iſt .. ausnahmsweiſe
wirklich nicht ſo übel .. Ich danke Dir, lieber Vetter ..
nur fragt es ſich, ob .. ob der Herr Doctor —
ich — ich — gewiß! — mir behagt die Idee ſehr ..
ſehr .. ich finde ſie ganz ausgezeichnet, aber eben —“


„Na! Mir gefällt ſie natürlich auch —“ ver-
ſicherte Adam brüſk.


Lydia ſtutzte. Der Ton, in welchem dieſe Worte
geſprochen waren, mußte ihr auffallen. Sie wollte
eben eine ſpitze Bemerkung loslaſſen — ſie hatte
allerdings vorläufig bloß das Gefühl, das thun
zu müſſen, ohne im Augenblick ſchon zu wiſſen, wie
ſie die Unart dieſes ... unverſchämten Menſchen
rügen ſollte — als dieſer, ein Wenig moquant-
lächelnd, ſeine Worte wieder mit den alten Farben
der ſteif-geſpreizt-ironiſchen Höflichkeit zu bemalen
begann —: „Vorausgeſetzt natürlich, gnädige Frau,
daß Sie es der Mühe für werth halten, mich intimer
in Stoff und Motiv einzuführen —“


[58]

Lydia war wieder verſöhnt. — „Alſo Sie ſpielen
mit —?“ fuhr ſie lebhaft auf, „— das enchantirt
mich aufrichtig, Herr Doctor! Sie ſollen ſehen —:
wir kriegen ein ganz prächtiges Geſch — — alſo —
nicht wahr —? auf gute Kameradſchaft! Wahrhaftig
der Stoff fängt wieder an, mich ſtärker zu
intereſſiren —“


Sie reichte ihre kleine, fleiſchige, ringblitzende
Hand über den Tiſch zu Adam hinüber. Der brachte
ſeine Finger mit der Sammthaut Lydias in eine
vornehm-zurückhaltende Berührung. Frau Lange's
Augen ſtrahlten. Adam fragte ſcherzend —: „Theilen
wir nun, gnädige Frau, die Arbeit ſyſtematiſch —?
Dann möchte ich mir das moderne neue Teſtament
zur Bewältigung ausbitten —“


„Wie wir's anſtellen — nun! das werden wir
ja noch finden, Herr Doctor! Sie trinken vielleicht
in den nächſten Tagen, wenn Sie über ſich ver-
fügen können, eine Taſſe Thee bei mir —? Dann
können wir ja das Problem in aller Ruhe einmal
näher anſchauen. Aber warum erbaten Sie ſich
vorhin das ‚neue‘ Teſtament zur Bearbeitung —?
Iſt Ihnen das alte —“


„Das alte — hm! — das alte Teſtament, gnädige
Frau, iſt mir, wenn ich offen ſein ſoll, iſt mir ein Wenig
zu .. zu ſemitiſch ... Gewiß! es hat gewaltige,
von der bewußten „elementaren“ Poeſie ſtrotzende
Capitel — aber —“


„Ah! das freut mich, Herr Doctor! Sie ſcheinen
auch Antiſemit zu ſein?“ — fragte Herr Oettinger
[59] lebhaft — „das einzig Vernünftige heute —
verſteht ſich ..“


„Ob ich gerade regelrechter ‚Antiſemit‘ bin —
‚Antiſemit‘ mit allen Chikanen — — das — das
weiß ich eigentlich nicht recht, Herr Referendar ..
Aber ich glaube kaum .. Die Frage, die gewiß
eine „moderne“ und zudem gewiß auch eine ſehr
„brennende“ iſt, bedeutet bei mir weniger eine
neutrale Angelegenheit des Intellekts mit dem
Stempel der Selbſtverſtändlichkeit — ſelbſtverſtändlich
aus wirthſchaftlichen, politiſchen, ſocialen, philoſo-
phiſchen und tauſend anderen ‚Vernunfts‘-Gründen —
als vielmehr eine Art von Herzensbedürfniß .. Meine
Weltanſchauung iſt, den Haupttendenzen, der Polarität
meiner Natur gemäß, eine vorwiegend äſthetiſche ..
Sogenannte „Principien“ habe ich nicht, höchſtens nur
in ſehr ſchwachen Anſätzen — ſie „liegen“ meiner Natur
nicht .. und ich halte ſie darum für geſchmacklos und
langweilig .. u. ſ. w. — aber verzeihen Sie! — ich bin
ganz abgeſchweift — —“


„‚Abgeſchwiffen‘ — pflegte Otto von Galdern
immer zu ſagen“ — warf Herr Quöck lachend ein.


„Alſo! . ja! . — ſehen Sie“ — nahm Adam
das Geſpräch wieder auf, halb zu Lydia, halb zu
Oettinger hingewendet — „der große Marx z. B.
war auch ein Jude — dann Laſſalle — und nehmen
wir Heine, Börne — —“


„Marx? — Marx? — Iſt das nicht — nicht
der ... der —“


„Ganz recht, Herr Referendar, der ... der —
[60] der große Werthanalytiker nämlich — Sie werden
gewiß ſeine Werke kennen, wenigſtens ſeine Sätze,
ſeine Reſultate, ſeine Definitionen —“


„Nein! — Gott ſei Dank! nicht —“


„Aber — pardon! — Sie ſind doch Juriſt —“


„Allerdings! Und ich muß zu meinem aller-
größten Bedauern bemerken, daß ich ſehr — ſehr
viel jüdiſche Collegen habe .. Dieſe Herren mögen
die Theſen ihres Heros beſſer kennen, als ich —
ich bin ſtreng — ich bin à tout prix monarchiſch,
Herr Doctor — ſtockconſervativ, wenn Sie wollen —
mein Kaiſer braucht bloß zu winken, ſo lege ich
mit tauſend Freuden mein Haupt auf den Block
für ihn — dulce et decorum, pro imperatore
mori,
Herr Doctor! Heilig — heilig iſt mir die
Regierung — unantaſtbar — —“


„Unfehlbar —“ warf Lydia ein, die ſich zurück-
gelehnt hatte und amüſirt, ein verhaltenes, halb
ſpöttiſches, halb gutmüthiges Lächeln im Geſicht, den
Verſicherungen ihres Nachbars zuhörte.


„Jawohl, gnädige Frau! In gewiſſem Sinne ſogar
‚unfehlbar‘ iſt mir die Regierung! Und ich wäre
glücklich, ſollte es mir vergönnt ſein, dereinſt einmal
ein guter Hüter und Wahrer und Pfleger des Geſetzes
zu werden — des Geſetzes, das für mich vorläufig
nur einen Fehler hat — nämlich den, daß es in
mancher Beziehung zu mild, zu tolerant iſt. So
ſollte z. B. Jeder — ich wähle das Beiſpiel, weil
mir gerade kein anderes einfällt — ſo ſollte alſo
Jeder, der im öffentlichen Beſitze einer Waffe ge-
[61] funden wird, quasi als Mörder behandelt werden,
denn er hat, reſpective hatte es ja jeden Augen-
blick in der Hand, einem ſeiner Mitmenſchen das
Leben, dieſes höchſte, koſtbarſte Gut, wie Sie mir
zugeſtehen werden, zu nehmen —“


„Das kann doch nicht Ihr Ernſt ſein, Herr
Referendar —?“ fragte Adam beluſtigt.


„Wollen Sie nicht auch einmal den Käſe koſten,
Herr Doctor?“ bot Frau Möbius, die aufmerkſame
Wirthin, an. Sie benutzte den Moment, wo das
Geſpräch ſich wieder gabeln zu wollen ſchien.


Auch Hedwigs Geſicht hatte einige Ausdrucks-
grade ſeines Ernſtes verloren. Auch ihr mußten
die Geſtändniſſe Herrn Oettingers etwas drollig
und ſchattentöterig-bizarr vorkommen.


„Zweifeln Sie daran, Herr Doctor? — Ich
bitte doch ſehr ... Allerdings — Sie ſcheinen
mir in dieſer Beziehung etwas laxere Anſichten zu
haben —“ entgegnete der Herr Referendar ein
Wenig indignirt. Er führte ſein Weinglas an die
Lippen und ſah furchtbar moraliſch entrüſtet aus.


„‚Laxere‘ .. hm! — ich weiß nicht, Herr Refe-
rendar, ob gerade ‚laxere‘ — — jedenfalls .. hm!
nun! jedenfalls modernere ..“ warf Adam mit einem
kleinen Anflug von Spott hin.


„Was verſtehen Sie eigentlich unter ‚modern‘,
Herr Doctor? — Man hört das Wort heute ſo oft.
Man kann ſich gar nicht mehr retten vor ihm —“
fragte Lydia dazwiſchen. Sie ſchien momentan ganz
[62] vergeſſen zu haben, daß ſie ja ſelbſt eine —
‚moderne‘ Bibel ſchreiben wollte.


„Ja! das iſt ſchwer zu ſagen mit einem Worte,
gnädige Frau ..“ begann Adam. Auch ihm fiel
der Umſtand, daß gerade Lydia ihn um eine Art
von Begriffsbeſtimmung gebeten, weiter nicht auf.
„‚Modern‘ ſein heißt, heißt, gnädige Frau — ja!
alſo ſagen wir — heißt: ſich auf Etwas vorbereiten,
was Einen im Grunde gar nichts angeht — —
ich meine: auf Etwas, deſſen Eintreten in die Welt
man ſicher nicht erleben wird, das ſich vielleicht
erſt in einer ſehr fernen Zukunft erfüllt — ‚modern‘
ſein heißt aber zugleich: — bei dem Vorbereiten
auf dieſes problematiſche Etwas ganz gefälligſt ...
zu Grunde gehen —“ fuhr Adam ſodann mit
einem ſpröden Stich ins Paradoxe und Bittere fort.


Hedwig ſah ihren Nachbar erſtaunt-theilnehmend
an. Herr Oettinger machte ein verblüfft-ungläubiges
Geſicht. Von Lydia erhielt Adam einen ſehr eigen-
thümlichen Blick. Und nun erkundigte ſie ſich etwas
leichthin —: „Gehört das ‚Zu-Grunde-Gehen‘, wie
Sie ſich ausdrückten, Herr Doctor, abſolut dazu —?“


„Allerdings, gnädige Frau,“ erwiderte Adam ernſt,
„das gehört dazu, wenn man treu ſein will ... und
ſich, wenigſtens in der Hauptſache, in den Grund-
zügen, in den Kernlinien ſeiner Natur, erkannt
hat — das heißt: wenn man weiß, daß man nicht
treu ſein kann .. Der incarnirte Widerſpruch iſt
immer Subtrahent —“


„Herr Gott! Wieder einmal Pythius! Wenn Sie
[63]
im Alterthum, zu Zeiten Frau oder Fräulein Pythia's
gelebt hätten, Herr Doctor, — ich bin feſt über-
zeugt: aus Ihnen und jener ehrenwerthen Dame
wäre ein Paar geworden ...“ ſcherzte Lydia
lachend.


„Meinen Sie, gnädige Frau? — Ob aber die
Concordanz immer addirt —?“


„Himmliſcher Vater! Nun fehlt bloß noch das
Multipliciren und Dividiren ... Die armen vier
Spezies! —“


Hedwig konnte ſich nicht mehr verbergen, daß
Adam ſie jetzt intereſſirte. Und ſie mußte ſich geſtehen,
daß ſie in ihrem Denken und Fühlen dieſem merk-
würdigen Cauſeur unter den Anweſenden jedenfalls
am Nächſten ſtände. Das machte ſie immerhin
eine Idee ſtolz und befriedigte ſie. Tiefer in Anſpruch
genommen wurde ſie allerdings auch kaum, es war
ihr nur lieb, daß in das Geſpräch einmal ein paar
kühnere, neuere Töne hineinklangen.


„Sie ſcheinen nicht gerade religiös zu ſein,
Herr Doctor —?“ interpellirte jetzt Oettinger Adam.


„‚Religiös‘? Sie etwa, Herr Referendar —?“
fragte Adam barſch entgegen.


„Ich — ich ſchmeichle mir allerdings, mein
Herr, in gewiſſem Sinne religiös zu ſein — ja!
Gott ſei Dank! noch religiös zu ſein —“ gab
Oettinger etwas von oben herab zur Antwort.


„Na! das iſt kennzeichnend —: ‚in gewiſſem
Sinne‘ — hm!“ —


Herr Quöck wurde unruhig: „Proſit, meine
[64] Herrſchaften!“ Die Gläſer klangen wieder einmal
zuſammen. Und wieder ließ Lydia das ihrige
zuerſt an das Adams tönen.


Dieſer hatte plötzlich die ganze Situation, zumal
ſein Verhältniß zu Frau Lange, klar erfaßt und
wandte ſich jetzt mit einer auffälligen Wendung zu
Hedwig hin ... und zwar ſo beklemmend nahe, als
wollte er dieſer Dame Etwas ins Ohr flüſtern.
Hedwig ſah verwundert auf. Ihre Brauen zogen
ſich zuſammen. Verſtand ſie das Manöver —?


„Ich muß doch bitten, Herr Doctor —“ nahm
Oettinger das Geſpräch wieder auf.


„Um was —?“ flegelte Adam.


„Ja! . Aber ... Gewiß bin ich religiös ...
wenn auch — — wie ich mir ſchon einmal zu
bemerken erlaubte —: in erſter Linie bin ich con-
ſervativ — und dieſer Standpunkt ſchließt ja ein
mehr oder weniger intimes Verhältniß zu den
Satzungen der Landeskirche ganz von ſelber ein — —
ich klebe durchaus nicht am Dogma — gehe ſogar
ſo weit, in gewiſſem Sinne — verzeihen Sie!
— nun! wie ſoll ich ſagen? — ja! — frei —
vielleicht ‚modern‘ zu ſein — es iſt wahr: ich beſuche
ſelten die Kirche — vertrete aber als Juriſt, als
Geſetzeshüter, ganz entſchieden die Anſicht, daß
die Maſſe der Religion bedarf — und ſollte das —
Sie ſehen, ich bin ganz aufrichtig — und ſollte
das auch nur nothwendig ſein, damit ſie, die Plebs,
der Mob, kurz: das Volk — damit dieſes alſo ſtets in
der Gewalt, in den Händen der ‚oberen Zehntauſend‘
[65] bleibt .. Ich bitte, in meinen freimüthigen Worten
weiter keinen Cynismus zu ſuchen —“


Adam lächelte ſehr ironiſch.


Er ſpielte mit den Fingern der rechten Hand an
dem Griffe ſeines Weinglaſes herum und warf nun
mit gutmüthig-boshaftem Geſichtsausdruck die Frage
über den Tiſch zu ſeinem Gegner hinüber: „Dann
gehören Sie alſo, Herr Referendar, ſo ungefähr
zu den Leuten, die im Grunde als erſte Autorität
über ſich ihren — Cylinder anerkennen —?“


Frau Möbius ſah recht erſchrocken aus. Lydia
lächelte wie zuſtimmend, lenkte dann aber mit ſeinem
Takte ab: „Und die Cigaretten, Herr Vetter —?“


Traugott Quöck verſtand. Er erhob ſich, warf
dabei Adam einen nicht gerade „gnädigen,“ kaum
freundlichen und aufmunternden Blick zu und
wünſchte ſeinen Gäſten „Geſegnete Mahlzeit!“ —


„Sie rauchen doch, Herr Referendar —?“


Oettinger ſtarrte noch immer auf Adam hin. Es
ſchien ihm unbegreiflich zu ſein, daß dieſer Menſch
gerade ihm mit ſeinen Impertinenzen zu kommen
wagte. Sollte er die Beleidigung auf ſich ſitzen
laſſen —? Sollte er einen Skandal provociren —?
Er war unſchlüſſig. Adam machte ein unſchuldig-
heiteres Geſicht. Er wandte ſich jetzt zu Fräulein
Irmer, die hinter ihrem Stuhle ſtand und theil-
nahmslos vor ſich hinſah, mit der Frage: „Rauchen
Sie auch, mein gnädiges Fräulein?“


„Nein!“ kam es kurz und ſchroff von Hedwigs
Lippen.


Conradi, Adam Menſch. 5
[66]

„Wollen die Herren in mein Zimmer treten —?“
forderte Herr Quöck auf.


Man verbeugte ſich ziemlich ſteif gegen einander.


Lydia ſah nach ihrer kleinen, goldnen Uhr. „Schon
Zehn durch! Um Elf kommt mein Wagen —“


„Um Elf ſchon —?“ fragte Frau Möbius,
wohl nur, um überhaupt Etwas zu ſagen.


„Wenn es Ihnen recht iſt, Fräulein Irmer,
fahren Sie mit mir —? Wir wohnen ja nicht weit
auseinander. Ich werde Friedrich ſagen, daß er
durch Ihre Straße den Weg nimmt —“


„Sehr liebenswürdig, Frau Lange, ich nehme
mit Dank an —“


„Aber was fangen wir nun an —?“ überlegte
Lydia. „Die Herren ſpielen natürlich den unver-
meidlichen Scat ... Ach! Wir armen Frauen —!“


„Traugott ſpielt eigentlich ſelten Scat —“ be-
merkte Frau Möbius ſchüchtern.


„Ich werde mir wahrhaftig noch die Geheim-
niſſe dieſes verteufelten Scatſpiels beibringen laſſen —
man iſt ja ſonſt rein verloren heute .. Ob der
Doctor Menſch auch ſpielt —? Er ſieht gar nicht
ſo aus .. Was meinen Sie, Hedwig —?“


„Warum ſollte er nicht —?“ antwortete die
Gefragte kurz, etwas geringſchätzig. Die beiden
Frauen ſahen ſich an. Eine jede wußte, was die
andere im Stillen dachte, was ſie wiſſen wollte, zu
hören verlangte, und was doch keine von ihnen
ausſprach .... keine ausſprechen mochte.


„Bitte, Couſine —!“ Herr Quöck war aus dem
[67] Nebenzimmer getreten und hatte eine Schachtel
amerikaniſcher Cigaretten auf den Tiſch geſtellt.


„Verſuchen Sie es doch auch einmal, Fräulein
Irmer —!“ forderte er halb im Scherz, halb im
Ernſte auf. „Die Damen rauchen heute alle ...
Es iſt ſo faſhionable ...“


„Ich danke, Herr Quöck —“


Lydia ſaß im Fauteuil und ſpie ganz reſpectable,
weißgelbe Rauchwolken durch die Lippen. Sie
hüſtelte ein Wenig.


„Wir ſpielen natürlich Scat, Lydia. Der Doctor
iſt nämlich auch ein leidenſchaftlicher Scatverehrer,
wie er neulich verſichert hat —“


„So —?“


Lydias und Hedwigs Augen fanden ſich wieder
einmal.


Aus dem Nebenzimmer klang gedämpftes Sprechen.
So leiſe die Unterhaltung geführt wurde — man
hörte doch immer den gereizt-markirten Ton heraus.


Hedwig hatte in einem Album geblättert. Jetzt
ſah ſie auf und horchte geſpannt hinüber.


Lydia erſchien ſehr gleichgültig. Sie blies eine
dicke, weißgelbe Dampfwolke nach der anderen vor
ſich hin. Im Zimmer machte ſich ſchon das Cigaretten-
Parfüm deutlich riechbar. Es war Frau Lange
entſchieden ſehr behaglich zu Muthe.


Herr Quöck war nach dem Salon hinüberge-
gangen. Er arrangirte den Scattiſch. Frau Möbius
hatte ſich nach der Küche begeben. Oettinger und
Adam waren natürlich gegen einander gerathen.
5*
[68] Der Herr Referendar hatte den Herrn Doctor bezüglich
deſſen Bemerkung bei Tiſch noch einmal interpellirt.
Das hätte kaum unterbleiben dürfen. „Ich habe weiter
nichts gethan, als gleichſam die Quadratwurzel aus
Ihren Aeußerungen gezogen, Herr Referendar. Ihr
conſervativer Standpunkt mag ehrliche Ueberzeugung
ſein — das gebe ich ſehr gern zu. Warum auch
nicht —? In Puncto der Religion geſtanden Sie
ſelbſt ein, daß Ihnen dieſelbe nur noch als ein
Mittel in den Händen der „oberen Zehntauſend“
erſchiene, das den Zweck hat, die Plebs geduckt
und unterwürfig zu erhalten — Herrenmoral und
Sclavenmoral — Punktum —“


„Aber bitte — das iſt doch heute die An-
ſchauung jedes gebildeten Menſchen —“


„Das weiß ich recht gut. Der Standpunkt iſt
auch ein dieſer gebildeten Menſchheit vollkommeu
würdiger. Ich erlaube mir nämlich die Anſicht zu
haben, Herr Referendar, daß dieſe famoſe ‚Bildung‘
und der bodenloſe Indifferentismus in religiöſen,
philoſophiſchen, künſtleriſchen Dingen heutzutage ſo
ziemlich identiſch ſind mit einander —“


„Hm! . Mag ſein! .. Aber bitte, Herr Doktor
— wir kommen ganz von dem Punkte ab, deſſen
Erörterung mir momentan zumeiſt am Herzen liegt
— Sie gebrauchten bei Tiſch ein Bild — einen
Vergleich — ein — ei—n—e — nun! — es
bleibt Ihnen ja unbenommen, auch mich unter
dieſe Indifferenten zn rechnen — —“


„Pardon, Herr Referendar! Wenn mir das
[69] unbenommen bleibt, nun! ſo iſt doch die einfache
Folge davon die, daß ich Ihnen einen großen
Reſpect vor dem — Cylinder als dem Symbole
der auf das Aeußerliche geſtellten Bildung vindiciren
darf — die einfache Conſequenz, nichts weiter —“


„Ich glaube aber kaum, Herr Doctor, daß es
erlaubt iſt, derartige etwas — verzeihen Sie! —
immerhin — immerhin etwas boshaft-geſuchte Conſe-
quenzen öffentlich auszuſprechen .. Ich kann — ja!
ich muß das geradezu als eine perſönliche Beleidigung
auffaſſen — und ich ſähe mich genöthigt, wenn Sie
nicht revociren — —“


Adam lachte: „‚Beleidigung‘! — — ‚revociren‘
— — Sie ſcherzen, Herr Referendar! Sie ſcherzen
jetzt, wie ich vorhin — geſcherzt habe — wir ſind
alſo quitt — nicht —?“


„Das iſt eine ſonderbare Auffaſſung, Herr
Doctor —“


Herr Quöck trat wieder ein.


„Wie ſchmeckt Ihnen das Kraut, Doctor —?“


„Vorzüglich, Herr Quöck ... etwas ſchwer zwar —“


„Ach! Nee! ſchwer —? Finden Sie auch, Herr
Referendar —? Aber bitte, meine Herren — —
es iſt Alles bereit — kommet und gehet ein in den
Freudenhimmel, allwo duftende Blumen in Fülle
wachſen — wo es Könige giebt und Fürſten — —“


„Auf Kartenblättern — famos, Herr Quöck!
Die Herren dieſer Welt ſind doch eigentlich furchtbar
witzige Kerle, daß ſie ihre Bilder auf Münze und
Karte malen laſſen .. immer noch malen laſſen ...
[70] Wollen ſie damit etwa ſagen, — ſymboliſch an-
deuten, daß — daß — — na! manchmal wirft
man eben das Geld weg —“ ſcherzte Adam.


„Still, Doctor, — das klingt ja ganz gefährlich
— Sie ſind des Teufels —“ wehrte Herr Quöck
erſchrocken ab.


„Pflegen Sie das ... Geld auch ſo .. wegwerfend
zu behandeln, Herr Doctor —?“ fragte Oettinger.


Man trat gerade in den Salon ein. Lydia hatte
ihren Fauteuil im Speiſezimmer verlaſſen und ſtand
jetzt am Spieltiſch. Sie hielt die rändervergoldete Scat-
karte zwiſchen Daumen und Mittelfinger ihrer kleinen,
weißen, rechten Hand, ungefähr in Schritthöhe über
dem Tiſch, und ließ nachläſſig, träumeriſch, gedanken-
abſeits ein Blatt nach dem anderen auf die Fläche
niedertaumeln.


„Leider!“ erwiderte Adam, einen komiſch-drolligen
Ton des Bedauerns in der Stimme.


Lydia wandte ſich um. Sie ſah die Herren
fragend an.


„Wo ſteckt denn Tante Möbius —?“ ärgerte ſich
Herr Quöck laut. Er ſchien irgend ein Anliegen zu haben.


„Die wird wohl noch in der Küche ſein —“
vermuthete Lydia.


„Es iſt doch genug Wein da —? .. Nein! Wo die
alte — ich hätte beinah' was geſagt — nur ſteckt —?“


Hedwig erſchien im Rahmen der Thür. Sie
ſah ſehr verſchloſſen und gelangweilt aus.


„Die Damen werden entſchuldigen — aber der
Scat — dieſes jöttlichſte aller Spiele — — bitte,
[71] placiren Sie ſich, meine Herren! Sie führen Buch,
Doctor, nicht —? .. Alſo um die Ganzen — nicht
wahr —? Sie geben, Herr Referendar — bitte!
Jüngſtes Semeſter — ich denke wenigſtens — jenöthigt
wird nicht — übrigens ſo ein Scätchen — Teufel —!
es geht doch Nichts drüber! Ich bitte nochmals die
Damen um Entſchuldigung —!“ Herr Quöck war
ganz Feuer und Flamme. „Und ein guter Tropfen
dabei“ — fuhr er befriedigt fort ..


„Und ſchöne Frauen!“ complimentirte Oettinger,
indem er den Scat auslöſte —


Lydia brannte ſich eben eine neue Cigarette an.
Hedwig hatte ſich wieder ins Nebenzimmer zurück-
gezogen. Das kniſternde Umſchlagen von großen
Buchſeiten drang ab und zu herüber.


„Sie reizen, Herr Doctor —“


„Ich paſſe —“


„Tournée —?“


„Carreau! Carreau-Solo aus der la main! ..“


Die Karten flogen auf den Tiſch. Man ſpielte
ſehr flott. Herr Quöck beſchrieb beim Ausſpielen
immer erſt einen Halbkreis mit ſeinem Blatte.
Adam warf ſeine Karten mit einem gewiſſen pathe-
tiſchen Bogenſchwung von oben herunter, Oettinger
ließ ſie nachläſſig-graziös fallen.


„Einundſechzig! .. Teufel! .. Das Spiel war
überhaupt gewagt. Ohne Renonce in Pique —“
begann Herr Oettinger frohlockend ..


„Das fängt ja jut an —“ brummte Herr
Quöck, ein klein Wenig erboſt. —


[72]

Adam ſchrieb an, dann miſchte er die Karten.
„Sie langweilen ſich gewiß recht, gnädige Frau —“
fragte er zu Lydia hinüber. Frau Lange hatte
ſich einen Fauteuil in die Nähe des Ofens gerückt.


„Langweilen — warum, Herr Doctor —?
Eine Cigarette iſt eine vorzügliche Geſellſchafterin.
Uebrigens — Scat mußt Du mir doch noch bei-
bringen, lieber Couſin! Wenn Ihr Männer ſo ver-
ſeſſen darauf ſein könnt, muß das Spiel doch etwas ..
Anziehendes, etwas Pikantes haben ...“


„Gewiß hat es das!“ verſicherte Herr Oettinger
eilfertig. „Vielleicht dürfen wir Sie, gnädige Frau,
ſchon heute Abend in unſere köſtlichen Geheimniſſe
einweihen —?“


„Na! na!“ wehrte Herr Quöck erſchreckt ab.
Der Herr Referendar war doch etwas zu galant!
Sie hatten kaum angefangen zu ſpielen — und nun
womöglich erſt wieder das umſtändliche Dociren —
die langwierige Erklärung — und nachher dann noch
die erſten ſtümperhaften Spielverſuche Lydias mitaus-
halten müſſen — nein! nein! — ganz undenkbar —!


Aber Lydia war ſchon aufgeſprungen. „In der
That — eine ganz prächtige Idee, Herr Referendar
— ich danke Ihnen! Ich muß Ihnen nämlich ge-
ſtehen, Herr Doctor, daß Sie nicht ſo ganz Unrecht
hatten mit Ihrer Vermuthung, daß ich mich ...
langweilte ... Wir Frauen ſind ja alle ſo ...
ſo gedankenarm ...“


Adam erhielt einen herausfordernden Blick. Lydia
war zu ihm hingetreten.


[73]

„Auch die Verfaſſerin der ‚modernen Bibel‘ —
wenigſtens die beſſere Hälfte der Firma —?“ fragte
die ſchlechtere Hälfte boshaft-galant.


„Man braucht doch nicht immer Gedanken zu
haben!“ ſchmollte Lydia neckiſch.


„Aber, liebe Couſine —“ verſuchte Herr Quöck
das drohende Scatverderben noch einmal zu be-
ſchwören, einen zärtlich abrathenden Ton in der
Stimme —


„Die Grundgeſetze des Scats, gnädige Frau —“
hub Oettinger an.


Adam klappte mit pathetiſcher Reſignation ſein
zierliches, goldſchnittgeziertes Rechnungsbüchlein zu.


Frau Möbius trat über die Schwelle. „Wo
ſteckſt Du nur in aller Welt, Tante —?“ mußte ſie
ſich von ihrem Herrn Neffen etwas barſch anfahren
laſſen.


„In der Küche, lieber Traugott — Du weißt
ja: auf Marien iſt kein Verlaß .. Und die Herren
wollten ja auch ſpielen — —“


Herr Quöck leerte ſein Glas. „Iſt denn noch
genug Wein oben —?“ fragte er ärgerlich.


„Ich denke —“ antwortete Frau Möbius mit
ſanfter Gelaſſenheit.


Man ſprach nun viel und trank im Ganzen recht
tapfer. Herr Quöck hatte ſich einigermaßen gefügt.
Er wanderte im Zimmer auf und ab, die Hände
auf dem Rücken, ſtellte ſich gelegentlich an den Ofen,
blies dicke, blauſchwarze Rauchwolken aus Naſe und
Mund. Ab und zu warf er eine humoriſtiſch-
[74] kauſtiſche Bemerkung in den Spielunterricht, welchen
Frau Lydia zu ertheilen, der Herr Referendar Oettinger
auf ſich genommen. Frau Möbius lachte mit ängſt-
licher Aufrichtigkeit zu den Bemerkungen ihres Neffen.
Oettinger führte ſeine Schülerin ſehr geſchickt in die
ſchwierigen Scatprobleme ein. Und Lydia war eine
gelehrige Schülerin. Es ärgerte ſie nur ein Wenig,
daß Adam jetzt im Ganzen ſo zurückhaltend gegen
ſie war. Wollte er demonſtrativ merken laſſen, daß
dieſer erſte beſte Herr Referendar gerade gut genug
war für die Rolle des Scatpräceptors —? Plötz-
lich hatte ſich Adam erhoben und war in das Neben-
zimmer verſchwunden. Man plauderte im Salon
gerade ſehr eifrig durcheinander. Herr Quöck
ſchien der genoſſene Wein ſchon recht tüchtig an-
gefranſt zu haben. Auch Oettinger ſprach ſchärfer
und lauter als gewöhnlich, betonte unregelmäßig
und falſch. Lydia war nicht minder unruhig. Ihre
Gedanken waren zerſtückt, ihr Blut kochte auf. Al-
kohol und Nicotin hatten ſie aus den Geleiſen der
normalen Selbſtbeherrſchung geſchleudert.


Adam war zu Hedwig getreten.


Dieſe hatte ihren rechten Oberarm weit, nach-
läſſig, unkritiſch, über den aufgeſchlagenen Band, in
dem ſie geblättert, gelegt und den Kopf in die
Handhöhlung geſtützt. Der linke Arm hing ſchlaff
herunter. Der Blick gedankengebannt oder phan-
taſieverloren. Da fiel der Schatten einer fremden
Geſtalt in ihren Kreis. Sie ſchrak zuſammen.


Adam trat ganz dicht an ſie heran. Er athmete
[75] ſchwerer. Hedwig zog den zurückgeglittenen Aermel
bis zum Gelenk herunter und ſah zu Adam empor,
erſchreckt und doch zugleich fragend, erwartend —
abweiſend und doch zugleich normal verwundert, un-
willkürlich aufreizend.


Aus dem Salon klang buntes, ſich gegenſeitig ver-
hakendes Stimmengewirr. Aber wie ferne, dumpfe,
monotone Brandung dünkte es Adam. Die Situation
nahm ihn ganz hin. Jetzt allerdings ſchnellte die Stimme
Oettingers ſcharf, zackig, hart in der Höhe. Dann
ſprach Lydia auch lauter, auch artikulirter.


Adam hatte nach der rechten Hand Hedwigs ge-
haſcht, ſie hatte ſie ihm mit zufahrender Heftigkeit
entzogen. Und doch neigte ſie jetzt den Kopf ein
Wenig. Ein ſchmales Stück des weißen, glänzenden
Halſes wurde ſichtbar.


Da packte es Adam. Es rüttelte und ſchüttelte an
ihm, ſchlug ihm die Zähne in die Nerven. Er wußte
nicht, wie es ſo jäh, ſo bezwingend über ihn kam. Der
Wein hatte ſein Blut aufgejagt, hatte zuckende, von
unten herauf bohrende Flammen hineingeſchmiſſen.
Er war ſeiner nicht mehr mächtig. Es flimmerte
ihm roth vor den Augen. Er beugte ſich nieder,
ſog ſich eine Sekunde lang feſt an dieſem weißen,
glänzenden Halſe und lallte Fräulein Irmer im
nächſten Augenblicke ein heißes, leidenſchaftliches
„— Hedwig!“ in's Ohr.


Jetzt fuhr die Dame auf. Ihr Geſicht war
weiß, die Augen ſtarr, groß aufgeriſſen, ohne Pol.


Durch den Salon kugelte ſich gerade ein lautes
[76] Lachen. Herr Quöck ſchien ſo etwas wie eine
Anekdote, wie einen guten Witz erzählt zu haben.


„Hedwig —!“ wiederholte Adam dringend,
bebend vor Erregung. „Weib! ich liebe Dich ja —!“
fuhr er wie im Taumel fort.


Hedwig ſchoß mit einem jähen Rucke in die
Höhe.


„Ich muß Dich ſprechen, Hedwig — laß
mich Dich nach Hauſe be—gleiten —“ bat Adam
mit mühſam geduckter Leidenſchaft. Seine Stimme
raſſelte heiſer, die Finger zuckten.


„Ich danke, Herr Doctor —“ erwiderte Hedwig
auffallend laut — „ich fahre mit Frau Lange —“
Und zugleich ging ſie an ihm vorüber, der Thür
nach dem Salon zu.


„Verflucht! —“ knurrte Adam wüthend vor
ſich hin, zugleich bedeutend ernüchtert. Dann be-
gann er mit gemachter Haſt in dem großen Bande
zu blättern, über welchen Hedwig vorhin ihre
Träumereien ... oder die Nachtfalter ihrer ſchwarzen
Schwermuth hatte hinflirren laſſen.


In dem Augenblicke, da Hedwig über die Schwelle
in den Salon trat, war dort das Geſpräch jäh
verſtummt. Unwillkürlich, wie auf Verabredung,
richteten ſich aller Augen auf ſie. Was wollten
dieſe Augen nur von ihr —? Was zwang die
Leute da, ſo plötzlich ihre vorher doch recht laute,
auffallend laute Unterhaltung abzubrechen —? Hatte
man Hedwigs letzte, mit unwillkürlich geſteigerter
Stimme geſprochenen Worte verſtanden — dieſe
[77] Worte, die ſie allerdings halb bewußt, halb un-
bewußt, in der Abſicht, daß ſie gehört würden, ſo
laut hinausgeſtoßen —? Lydia machte ein faſt
ſpöttiſches, beinahe beleidigendes Geſicht. Hedwig
fühlte, wie ſie verwirrt, immer verwirrter wurde,
wie ein unzurückdrängbar in die Höhe ſiedendes
Roth ihr über Stirn und Wangen ſchoß. Hülflos,
haltlos irrten ihre Blicke von Einem zum Anderen.


Herr Quöck, der ſich ſchon vorhin bei Tiſche im
Beſitze des glücklichen Talentes gezeigt hatte, einem
Geſpräche, das eine unwillkommene Wendung ge-
nommen, ungezwungen eine andere zu geben, ver-
ſtand es auch jetzt vorzüglich, durch eine an ſich
recht banale Bemerkung über die peinliche Situation
hinwegzuhelfen.


„Aber! Fräulein Hedwig — wir haben Sie ja ganz
vergeſſen — ich glaube entſchieden, Sie ſind zu kurz ge-
kommen in Puncto des Weins — Sie müſſen nachholen
— — und nun wollen wir wieder einmal anſtoßen,
meine Herrſchaften — wo ſteckt denn nur wieder
der Doctor —? — — Doctor! — Kommen Sie!
— Proſt! — Proſt! — Auf daß meine innig
verehrte Frau Baſe den auch in weiteren Kreiſen
mit Recht ſo beliebten Scat, wie mein Buſenfreund
Saldern immer zu ſagen pflegte, recht bald capirt
habe — auf daß ſie eine würdige Partnerin werde,
die ihrem würdigen Scatmentor Ehre mache — die
— die — aber Proſt! — Proſt — meine Herren
und Damen — wollte ſagen: meine Damen und
Herren — und trinken Sie aus, Fräulein Hedwig
[78] — denn der Wein erfreut des Menſchen Herz, ſagt
ſchon der alte Homer — oder irgend ein anderer
Zechkumpan hat alſo geweiſſagt — bravo, Doctor!
— das war ein Männerſchluck — kommen Sie
her: — Sie ſollen 'gleich neue Füllung haben —“


Adam hatte ſein Glas auf einen Zug geleert.
Er ſah düſter, geärgert aus. Lydia coquettirte mit
dem Referendar. Sie blickte ihn ſchwärmeriſch,
dankbar, beinahe herausfordernd an. Adam's und
Hedwig's Augen waren noch einmal kurz aneinander
vorbeigegangen. Beide wußten, daß es nun ein
Etwas für ſie gab, das einer dem ander'n nicht
reſtlos vergeſſen konnte.


Da tönte das eckige Raſſeln eines mit faſt be-
leidigender Exaktheit angefahren kommenden Coupés
von der ſtillen Straße her in's Gemach.


„Mein Wagen!“ fuhr Lydia auf.


„Nanu! Schon ſo ſpät?“ fragte Herr Quöck
verwundert. Er zog ſeine große, ſchwere, goldene
Uhr.


„Gnädige Frau —!“ bat Oettinger geſchmeidig-
vorwurfsvoll. Er war ganz ſelig. Er glaubte an
ſeine Zukunft. Er war überzeugt von ſeiner Un-
widerſtehlichkeit.


Lydia blickte zu Adam hinüber, der mit forcirter
Ruhe ſeine Cigarre wieder in Brand ſetzte. Adam
ſah nicht auf, obwohl er den Blick Lydia's deutlich
auf ſich fühlte. Es war ihm, als ob ihm die Netz-
haut plötzlich brennend heiß würde.


„Wenn Sie nun noch mit mir fahren wollen,
[79] liebes Fräulein —?“ fragte Frau Lange Hedwig,
mit ſcharfer Betonung des „noch“ —


„Wenn Sie geſtatten —“


Die Damen verabſchiedeten ſich. Oettinger küßte
hingeriſſen Lydias Hand. Dann wandte ſich Frau
Lange zu Adam .. und ohne ihm die Hand zu reichen,
meinte ſie leichthin, gleichgültig: „—Alſo, vergeſſen
Sie unſere Verabredung nicht, Herr Doctor —!
Kommen Sie in den nächſten Tagen einmal zu einer
Taſſe Thee — — wie wäre es, wenn Sie mir
ſchon etwas .. Fertiges mitbrächten — — vielleicht
— vielleicht eine Art von — — von ... nun! —
vielleicht ein modernes ... „hohes Lied“ oder etwas
Aehnliches — ja? — — Aber, pardon! — ich
vergaß ganz — Sie baten ſich ja das neue Teſta-
ment aus — nun! — ich überlaſſe Ihnen die Aus-
wahl — es wäre zu nett, könnten wir 'gleich
mit einem kleinen fait accompli an die Arbeit
gehen —“


Lydia hatte die Worte langſam, zögernd heraus-
geſtoßen, als fiele es ihr ſchwer, ſie zu ſprechen —
und doch zugleich in einem Tone, mit einem Accente,
der deutlich verrieth, daß ſie ärgern, ſpotten, ſich
rächen, aber auch ſtimulieren wollte.


Adam verneigte ſich ſtumm. Er behielt Hedwig
im Auge, er verfolgte jede ihrer Bewegungen.
Dieſe verabſchiedete ſich mit einem oberflächlichen
Gruße von ihm. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen
und ſah ſehr hochmüthig aus.


Frau Möbius zog ſich bald zurück.


[80]

Die Herren waren wieder allein. Der Scat
konnte fortgeſetzt werden. Und man fühlte ſich bald
ganz unter ſich. Die Unterhaltung wurde freier, die
Worte wurden nicht mehr abgewogen, nicht mehr
peinlich bedacht, gewählt, geſetzt. Adam verhielt ſich
allerdings im Ganzen ziemlich ſchweigſam. Herr
Quöck ſprudelte verſchiedene pikant gewürzte Anekdoten
heraus und mußte oft ſo herzlich über ſeinen eigenen
Ulk lachen, daß ihm die Brille überſchweißt wurde.
Dann kramte er ſein großes, gelbſeidenes Taſchen-
tuch heraus und putzte mit zwinkernden Weinaugen
über die Gläſer hinweg. Die Hände waren roth,
etwas aufgeſchwollen, und ganz ſicher gehorchten ſie
auch nicht mehr.


Herr Oettinger erzählte allerhand italieniſche
Reiſeabenteuer. Die Ueberzeugung von ſeiner Un-
widerſtehlichkeit, die er heute Abend aus dem Be-
nehmen Lydias ihm gegenüber folgern zu müſſen
geglaubt, verleitete ihn, ſeine an ſich recht harmloſen
Geſchichten mit kühneren erotiſchen Pointen auszu-
ſchmücken. Der Herr Referendar bekundete in ſeiner
Weinlaune eine ganz reſpectable Phantaſie.


Man ſpielte ſehr unregelmäßig .. und man er-
laubte ſich ſchon allerlei kleine Freiheiten. Man
guckte ſich gegenſeitig in die Karten und ignorirte
kühn die Unantaſtbarkeit des Scats. Dabei wurde
dem Weine wacker zugeſprochen. Und die Stunden
ſchienen etwas Beſonderes darin zu ſuchen, ſich über-
ſchnell aus dem Staube zu machen.


Mit der Zeit wurde Adam matt, abgeſpannt.
[81] Er unterdrückte nur mühſam das Gähnen, und Wein
und Cigarren verloren immermehr ihre Reize für
ihn. Er trank öfter, nippte aber immer nur kleine
Schlucke und kaute mechaniſch den Nicotinſaft aus
ſeiner Cigarre heraus. Ab und zu warf er ein gleich-
gültiges Wort in das Geſpräch, welches Oettinger
jetzt faſt allein führte. Denn auch Herr Quöck kämpfte
mit der überhandnehmenden Müdigkeit.


Nach drei Uhr trennte man ſich. Der Herr
Referendar wankte und ſchwankte ein Wenig. Adam
nahm ſich des armen Kerls an und ſchob ſeinen
Arm unter den Oettingers.


Die Straßen lagen in tiefer Stille. Ab und
zu begegnete den einſamen Nachtwandrern ein lang-
ſam heranſpazierender Wächter. Manch' einer dieſer
edlen Herren blieb breitſpurig auf dem Trottoir
ſtehen und beäugelte kritiſch die vorüberſtapfenden
Spätlinge. Der Herr Referendar konnte einige
herzhafte Redensarten über dieſe „zu—dringliche,
ganz ver—fluchte O—cu—cular-Inſpektion“ nicht
unterdrücken. Er ſprach überhaupt etwas laut, der
ehrenwerthe Cylinderenthuſiaſt. Die „Angſtröhre“
ſaß ihm allerdings ſchief und verrätheriſch nach
hinten geſchoben auf dem jugendlichen Haupte, das
der erſte, zarte Flaum einer discreten ... Platte
zierte, wie Adam heute Abend mit dem banalen
Genugthuungsgefühl eines berechtigten Sarkasmus
wahrgenommen.


„Feudales Weib, dieſe Lydia, nicht, Doctor —?“
phantaſirte Herr Oettinger, „Göttergeſtalt — feſcher
Conradi, Adam Menſch. 6
[82] Corpus — und dieſer Buſen — möchte wohl
'mal — nur 'mal küſſen dieſe L ... l .. ippen
— — Ah! ... ah! ... ent—zückend! ... Uebrigens,
Doctor — — ſind doch 'n famoſer Kerl — —
gehen ſo ein—ein—trächtig Arm in Arm — wollen
uns nur wieder ver—vertragen — ha ... ha ...
Wollen nächſtens 'mal Sect kneipen zuſammen —
ja —? glorioſe Idee — — bringen kleine Hedwig
mit — na? ... na? ... Verhältniß anbändeln
— — auch nicht übel — — auf Ehre! werde
das reizende Scheuſal gelegentlich 'mal pou—pou—-
ſſiren — — —“


Adam ließ die Rede Oettingers Monolog bleiben.
Er begnügte ſich, die kargen Ueberreſte ſeiner geiſtigen
Wachbarkeitskräfte vor Allem zur Steuer ihrer nicht
mehr ganz ſeetüchtigen Leibesfahrzeuge zu verwenden.
Er hatte ſeine liebe Noth, den Herrn Referendar
von allzu intimen Berührungen mit verſchiedenen
Häuſerwänden zurückzuhalten.


Plötzlich fühlte Adam das brennende Bedürfniß,
allein zu ſein. Ein Gedanke war in ihm aufge-
ziſcht, ein Wunſch war in ihm emporgeſprungen,
deſſen Erfüllung der merkwürdigen, halb träumeriſch-
müden, halb bewegt-reizſuchenden Stimmung, die
ihn gekapert hatte, entſprach. Er wollte noch ein-
mal durch die Straße gehen, in welcher Hedwig
wohnte, wollte noch einmal vor ihrem Hauſe ſtehen,
noch einmal zu ihrem Fenſter hinaufſchauen.
Vielleicht .. vielleicht gab es hinter den Gardinen,
hinter den Vorhängen noch ein ſpätes, heimliches
[83]
Leben, das ihm zarte Zeichen, eine geheimnißvolle,
ſüße Kunde brächte. Doch er mußte allein ſein.
Und ganz Egoiſt, ſuchte er dem ſchwer athmenden,
pruſtenden, oft ausſpuckenden Oettinger begreiflich zu
machen, daß es das Beſte wäre, wenn er nun allein
nach Hauſe wanderte. Der Herr Referendar war
ſchon viel zu acut über ſich hinausgekommen, um
eines kräftigeren Widerſtandes noch fähig zu ſein.
An der nächſten Ecke machte ſich Adam von ihm
los und überließ ihn ſeinem Schickſal. Man ver-
abſchiedete ſich ſehr kurz und abgeriſſen.


Adam trottete eine Weile hin, ganz im Zwange
ſeiner hüpfenden Gedankenſchemen. Da merkte er,
daß er ſich in der Richtung geirrt. Er mußte um-
kehren. Und am Beſten wäre es, wenn er die
Straße, in die vor einer kleinen Weile Oettinger
hineingeſchwankt, kreuzte. Wahrhaftig! Da drüben
auf der anderen Seite — da ſtapfte ſein wackerer
Zechgeſell immer noch redlich fürbaß. Adam konnte
ſich nicht enthalten, mit verſtellter, dumpf gurgelnder
Stimme ein diaboliſch-myſteriöſes „Oettinger!“
über den Straßendamm hinüberzuknurren. Der ge-
heimnißvoll Angerufene wandte ſich jäh um und
blieb ſtehen. Adam ſetzte ſeinen Weg mit großen
Schritten fort und kicherte leiſe in ſich hinein.


So! ... Nun war der Herr Referendar in
den Schatten der Nacht hinter ihm verſchwunden.
Adam ſchluckte mit Behagen den kühlen Wind ein
und ſetzte ſeine Füße emphatiſch auf die Asphalt-
flächen. Grell, in ſcharf abgekantetem Rhythmus,
6*
[84] hallte ſein Gang wider. Einförmig und unförmlich
lagen die Häuſermaſſen da. Selten klebte ſich in
der Gegend der oberen Stockwerke ein magerer
Lichtſchein an die Rieſentafeln. Die Gasflammen
hüpften nervös in ihren Glaskäfigen hin und her.
Es hatte geregnet: Ueber das Pflaſter hin lagen
hier und dort dunkelgelbe Reflexe geſtreut. Oefter
leuchtete verſchwommen-ſchmutzig ein Stück einer an-
gebrochen-verkümmerten Iriſ auf.


Adam traf auf eine Brücke. Er lehnte ſich eine
kleine Friſt hindurch über das Geländer und ſah
auf das träge, gleichgültig hinſchleichende Waſſer
hinab. Ein nörgelnder, zupfender Wind puſtete jetzt
über die Fluth hinweg. Und es nahm ſich aus,
als wäre der Spiegel mit einer Legion von kleinen,
braungrünen Schildkrötenrücken gepolſtert.


Nun ſtand Adam vor dem Hauſe, da Hedwig
mit ihrem Vater wohnte. Aber oben war Alles
dunkel. Allenthalben tiefe, nur von den verhaltenen
Athemzügen des feuchten Nachtwindes monoton duch-
ſummte, zaghaft durchmunkelte Stille.


Und der einſame Wanderer ſetzte ſein Wandern
fort, das ihn endlich nach ſeiner Klauſe führen ſollte.
Verworrener Gedanken, einer dunklen Sehnſucht war
ſeine Seele voll. —



[[85]]

VI.


„Ah, lieber Doktor! Das iſt ja famos von
Ihnen, daß Sie ſich wieder 'mal ſehen laſſen! Nun
— wie gehts Ihnen? Viel gearbeitet? Aber Sie
ſchauen immer noch ſehr angegriffen aus. Wie wäre
es heute mit der Revanchepartie? Hätte Luſt —
Sie auch — ja ..?“


Herr von Bodenburg hatte den „Figaro“ aus
der Hand gelegt und ſtocherte mit dem Löffel auf ein
Stück Zucker los, das er ſoeben in ſeinen Kaffee
geworfen. Er ſah erwartungſvoll zu Adam Menſch auf.


„Verdammt windig heute. Bei einem Haar
wäre mir mein Hut in irgend 'n Weltmeer oder
in 'ne Pfütze geflogen ... Macht der Krakehler
von Frühlingſwind Aufhebens! ... Impertinenter
Stachelburſche!..“


Herr von Bodenburg lächelte.


Adam warf ein Zigarrenetui auf den Tiſch und
rückte ſich einen Stuhl zurecht.


„Viel Zeit habe ich gerade nicht — wollte auch
ein paar Zeitungen durchfliegen — bringt der „Fi-
garo“ etwas Intereſſantes? Ach! die leidige Ge-
wohnheit! Man büßt wahrhaftig nichts ein, wenn
[86] man das Zeug 'mal 'n paar Wochen nicht anſieht.
Alles Einbildung und Gewohnheit! So ſchleppt man
eben die Tage hin. Man läßt ſich immer wieder
von ſeinen triſten Bedürfniſſen überrumpeln. Es
iſt geradezu tragiſch, daß der Menſch ſo im Zwange
des Trägheitsgeſetzes ſteht. Ja! wenn dieſes retar-
dirende Moment nicht wäre — die Menſchheit — Sie
wiſſen, wen ich meine — müßte entſchieden ein kleines
Stück weiter ſein. Daß es zum Beiſpiel noch ſogenannte
„Fürſten“ giebt! Unſereiner faßt ſich an die Stirn —
müſſen denn einzelne Individuen ſo unheimlich weit
voraus ſein? Dieſe Differenz! Oder nehmen Sie die
Pyramide von Cheops. Sie kennen doch die Saga von
Cheops' Töchterlein? Nicht? Werde ſie Ihnen gelegent-
lich 'mal erzählen. Pikant! ſage ich Ihnen. Alſo dieſer
kryſtalliſirte Despotismus — — ſo und ſo viel Tau-
ſende von Jahren alt — und heute? Denken Sie
an Rußland. Ja! ja! der Hunger und die Peitſche.
Man möchte ſich vor tragikomiſchem Weltvergnügen
manchmal in einen Böcklin'ſchen Meergreis ver-
wandeln —“


„Die Gallenſteinablöſung war nicht übel, Herr
Doctor — aber ich möchte doch vorſchlagen, daß
wir — pardon! — nun — wenn auch gerade
nichts „Vernünftigeres“, ſo doch .. na! ſo doch etwas
Amu—ſanteres vornähmen — alſo wie wäre es
mit der Revanche? Wollen Sie? Kommen Sie! Ja?“


„Meinetwegen denn, Herr Referendar, warum
auch nicht? Wenn Sie durchaus wollen! .. Aber
— — jetzt iſt es dreizehn Minuten nach Drei
[87] — ich möchte ſo gegen Vier wieder auf meiner Bude
ſein! Möglich, daß ich Beſuch kriege — wenn nicht
— ich muß mal wieder ein paar Stunden concen-
trirt arbeiten .. In den letzten Tage viel frei-
willig und unfreiwillig gebummelt ...“


„Kellner! Das Schachbrett ...“


„Jawohl!“


„Was trinken Sie, Herr Doctor?“


„Was? Ja — — ach! Kaffee? — Nee! Bringen
Sie mir 'n Abſynth!“


„Sehr wohl!“


Die beiden Herren vertieften ſich in ihr Spiel.
Es wurde nicht viel geſprochen. Abam ſpielte auch
heute mit ſehr getheilter Stimmung. Er wußte die
Schwächen des Gegners nicht zu gebrauchen, er über-
ſah ſeine eigenen Vortheile. Mit großem Behagen
dagegen ſchlürfte er ſeinen kupfergrünen Abſynth.


„Kennen Sie einen Referendar Oettinger, Herr
von Bodenburg?“


„Oettinger? Oettinger? Ja wohl! Sehr patentes
Individuum — nicht? Elegant — Cavalier —
Lieutenantsſcheitel — langweilige Viſage — ja! ja!
— bin ihm gelegentlich 'mal vorgeſtellt — ſcheint
mir nicht beſonders viel los zu ſein mit dem Herrn.
Kann mich allerdings auch irren. Was iſt mit ihm?
Haben Sie 'n Rencontre mit ihm gehabt? Kartell
ſchleifen? Ich ſtehe Ihnen zur Verfügung, Herr
Doctor!“


„Sehr liebenſwürdig, Herr Referendar!“ Adam
lächelte discret. Dabei goß er ſeinem Abſynth einen
[88] neuen Wurf Waſſer zu. Das Getränk ſchaute jetzt
asbeſtgrün aus. „Bis zur Forderung direct kam es
nicht. Ah pah! Komödianterei! Wäre noch beſſer!
Wir begegneten uns nur neulich in einer Abendge-
ſellſchaft — waren beide zum Souper geladen. Ich
war wieder einmal nolens volens etwas biſſig —
Gott! die Affäre verlief ſehr drollig. Auf dem
Nachhauſewege erklärte mich der Biedermann für
einen famoſen Menſchen — ſprach den Wunſch aus,
demnächſt 'mal Sekt mit mir zu kneipen — der
Knabe war allerdingſ ſchon ſtark angebohrt. Er
ſchwankte ſehr hingebend und gab eine merkwürdige
Vorliebe für Häuſerwände und Laternenpfähle zum
Beſten ..“


So! ...“


Ich dachte, Sie kennten den Herrn zufällig
näher. Es wäre ja möglich geweſen. Der gute
Mann entwickelte bei Tiſch ſeltſam praehiſtoriſche
Ideen .. ich war zuerſt ganz verblüfft. Und ſein
Standpunkt zur Religion — — eſ iſt eine Schmach,
daß dieſes Geſindel, das geiſtig noch auf der primi-
tivſten Entwicklungsſtufe ſteht — daß dieſe ordinäre
Sippſchaft — dieſe Larven und Marionetten, dieſe
Hohlhänſe überhaupt Gelegenheiten haben, öffentlich
Proben ihrer approbirten Bornirtheit abzugeben!
Und eines Tages gehört dieſer Lumpenbagage wo-
möglich noch höchſt perſönlich den ſogenannten „leitenden
Kreiſen“ an! Ich verſtehe den ſchreienden Unſinn
— dieſe ſociale Barbarei nicht!“


Ereifern Sie ſich nicht ſo furchtbar, Doctor!
[89] Laſſen Sie doch die guten Leute! Lieber Himmel! Ich
habe auch noch 'n ganzes Rudel derartiger vieilleries
auf Lager .. Das ſpart man ſich ſo zuſammen mit
den Jahren ... Und wenn Sie ehrlich gegen ſich ſein
wollen —: Sie haben nicht minder Ihre Zöpfe und
Vorurtheile! .. Uebrigens gardez!“


„Gott ſei's geklagt — ja! ich weiß — ja doch!
— meinetwegen! — alſo gardez! haben ſie mir
— aber was zu ſtark iſt, iſt zu ſtark! Man darf
ſchlechterdings nicht zu ſehr in Schimmel und Grün-
ſpan verliebt ſein ...“


Da öffnete ſich die Thür, und Fräulein Irmer
trat in's Café. Der Zeitungskellner lief nach
dem Schränkchen in der hinteren Ecke des Lokals,
in welchem die ausgeſpannten Nummern vom Tage
vorher aufbewahrt wurden. Nun überreichte er der
Dame das Blatt.


Adam hatte Hedwig ſcharf fixirt. Als ſie ſich
umwandte, hinauszugehen, nachdem ſie diesmal mit
einem kurzen, leiſe hingeworfenen Dankeswort die
Zeitung in Empfang genommen, ſtreifte ſie Adam
mit einem jähen, vorüberſchießenden Blicke. Sie
ſchrak ein Wenig zurück. Adam lächelte befriedigt.
Hedwig hatte die Thür zugeſchlagen.


Der Herr Doctor ſprang auf, zog haſtig ſeine
Börſe und warf das Geld für den Abſynth auf
den Tiſch.


„Nanu!?“


„Verzeihen Sie, Herr Referendar! Dispenſiren
Sie mich, bitte, heute — ja? Dieſe Dame —
[90] Kellner! — ich traf ſie neulich Abend dito bei dem
bewußten Souper — wo bleibt nur der Menſch? —
Kellner! — ſie ſpielt in die Geſchichte hinein, die
ich Ihnen vorhin — — —“


„Danke ſehr, Herr Doctor!“ Fritz ſtrich das
Geld ein und ſchickte ſich an, beim Anlegen des
Ueberziehers behülflich zu ſein.


„— Die ich Ihnen vorhin von Herrn Oettinger
erzählte — muß ſehen, daß ich das Weib abfange
— lauter kleine Hiſtorien — ich bitte noch einmal
um Verzeihung — vielleicht morgen, wenn Sie —
um dieſelbe Zeit — ja? — aber ich muß mich beeilen
— auf Wiederſehen, Herr Referendar —“


Adam ſtürmte hinaus.


„Das iſt verdächtig, Herr Doctor —“ rief
Bodenburg indignirt-beluſtigt dem Flüchtling nach.


„Na! bringen Sie mir auch noch 'ne Karaffe
Abſynth —“ wandte er ſich ſodann an den Kellner,
der noch immer in der Nähe des Tiſches ſtand und
ſich jedenfalls alle Mühe gab, die Situation zu be-
greifen. Er hatte ein blödſinnig-ſchläuliches Geſicht
aufgeſteckt.


„Noch ein Abſynth —? Sehr wohl!“ — —


Adam hatte ſich in die unmittelbare Nähe
Fräulein Irmers zu machen gewußt. Er war er-
regt, ſein Gang nicht ganz ſicher, mechaniſch ſprach
er immer wieder allerlei Phraſen in ſich hinein,
mit denen er Hedwig auf den Leib rücken wollte.
Als er bemerkte, daß die Dame durch verſchiedene,
an ſich kaum auffällige, aber doch unwillkürlich für
[91] Adam deutlich wahrnehmbare Zeichen der Unruhe
auf ſeine Gegenwart reagirte, wurde er ruhiger,
ärgerte er ſich über die kindiſche Unſicherheit, er-
innerte er ſich der Stunden, wo er ſich in ſeiner
Gleichgültigkeit ſo ſtark, ſo ruhig und unverwirrbar
gefühlt hatte .. und freute ſich über den Strom von
pſychiſcher Elektricität, der zu dieſer Friſt von ihm
zu Hedwig .. und von ihr zu ihm zurück fluthete.


Nun bog Fräulein Irmer in eine Nebenſtraße
ein, die viel Vornehmes, Stilles, Reſervirtes, Selbſt-
genügſames beſaß. In den kleinen Gärten vor den
Häuſern, die zumeiſt Villenanſtrich hatten, ſah es
peinlich ſauber, regelmäßig, ſehr leer aus. Man
hatte das Gefühl, als müßten es die Bewohner
dieſer Straße unter ihrer Würde halten, der Außen-
welt die geringſte Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Man
war einander fremd und nahm mit ſich allein für-
lieb. Es mochte in Wirklichkeit kaum ſo ſein. Aber
dieſe menſchenloſen Fenſter mit den eleganten, kalten
Vorhängen; dieſe großen, ſchweren, maſſiven, mit
ſtolzer Selbſtverſtändlichkeit geſchloſſenen Thüren;
dieſe aufdringlichen und doch zugleich unſäglich dis-
creten Namenſchilder; die natürliche Lebloſigkeit der
Vor- und Zwiſchengärten: das Alles gab der Si-
tuation den Ausdruck innerer Leere und Theilnahms-
loſigkeit.


Adam war an die linke Seite Hedwigs ge-
treten. Fräulein Irmer vollzog unwillkürlich einen
kleinen Schritt nach rechts und ſah ihren Verfolger
finſter, zurückweiſend an. Die über der Naſenwurzel
[92] zuſammengewachſenen Brauen waren dicht an die
Augenlider herangezogen.


„Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, daß ich
ſo kühn bin, mich zum zweiten Male auf offener
Straße Ihnen zu nähern. Nehmen Sie, bitte, heute
meine Begleitung an. Ich möchte Sie — ich fühle
das Bedürfniß — Sie erinnern ſich der kleinen ...
der kleinen Scene, die ſich neulich Abend zwiſchen
uns abſpielte — — vergeben Sie mir meine
eigentlich unverzeihliche Dreiſtigkeit — ja? ..“


Die erſten Worte dieſer Anſprache an das Opfer
ſeiner neulich bei Herrn Traugott Quöck impro-
viſirten Liebeserklärung waren Adam ſehr glatt
und ſicher abgefloſſen. Dann hatte ſich die Stimme
doch ein Wenig eingeklemmt, war ein Wenig leiſer,
ſtockender geworden, war gleichſam geſtolpert und
hatte erſt am Schluß wieder müheloſe Beweglichkeit
und die intime Färbung der Aufrichtigkeit ge-
wonnen.


Hedwig ſchwieg. Die beiden gingen eine kleine
Weile ſchweigend neben einander. Oefter ſah Adam
Hedwig von der Seite an, fragend, bittend, doch
zugleich auch merkwürdig amüſirt — und dadurch
ganz tüchtig ironiſch geſtimmt.


„Fräulein Hedwig — haben Sie kein Wort
für mich —?“


„Mein Herr —!“


„Hedwig —!“


Das klang beſtimmt, dringend, entrüſtet, aber
auch flehend, ein ehrliches Betrübtſein verrathend.


[93]

„Ich verſtehe Sie nicht —“


Adam fuhr auf. Er ſtampfte mit dem rechten
Fuße indignirt auf den Boden und gab ſich ſehr
ungeſammelt. Mit nervöſer Haſt knöpfte er an
ſeinen Handſchuhen herum.


„Sie wollen mich nicht verſtehen, mein Fräulein!
Heiliger Nepomuk! Giebt es denn heute auf Gottes Erd-
boden keinen Menſchen mehr, dem man zwanglos, dem
man unmittelbar begegnen darf — dem man ſo gegen-
übertreten kann, wie es Einem gerade ums Herz iſt —
wie man gerade Stimmung hat? — Iſt denn heute
das kleinſte Bißchen Unmittelbarkeit verpönt? Soll
man Nichts — gar Nichts improviſiren dürfen? —
Soll man immer wieder erſt die chineſiſche Mauer
der dummen, urdummen conventionellen Redensarten
zwiſchen ſich und ſeinen Nächſten ſchieben — ſoll
man auf Niemanden mehr ſtracks losgehen? Fräu-
lein Hedwig —“


„Mein Name iſt Irmer —“


Adam lachte aufgeräumt. „Bon! Irmer!
Sehr liebenswürdig, mein gnädiges .. Fräulein ..
Irmer ...“


„Mein Herr!“


„Laſſen Sie doch endlich einmal einen anderen
Ton zwiſchen uns aufkommen!“ bat Adam, einen
neckiſch-vorwurfsvollen Accent in der Stimme. „Auf-
richtig, ich ertrage das nicht länger! Sie kennen
mich noch nicht. Sie wiſſen noch nicht, daß ich ein
ſonderbares Gemiſch von .. von Naivetät und ..
und Raffinement bin. Vielleicht coquettire ich auch
[94] ſchon zu ſehr mit dem Bewußtſein, daß ich coquettire
— vielleicht bin ich in natura .. meerſchendeehls —
pardon! — alſo ſehr oft viel ehrlicher und wahrer,
als ich mir einbilde. Ich intereſſire mich nun ein-
mal für Sie. Sehr ſogar! Sehr! Vielleicht bin
ich auch ſchon ehrlich verliebt in Sie — weiß der
Teufel! — liebe Sie womöglich ſchon hagebüchen
leidenſchaftlich — — aber, Hedwig — ein Geſtändniß
— verzeihen Sie! — aber ich kann nicht anders —
ich muß es Ihnen doch zum Beſten geben — alſo:
ich bin ſo grenzenlos egoiſtiſch, daß ich vollſtändig
zufrieden bin, wenn ich durch ein tieferes Intereſſe,
durch eine heftigere Neigung für ein weibliches Weſen,
vielleicht ſogar durch eine ſtürmiſche Leidenſchaft, an
mir ſelbſt eine Steigerung meines Ichs erfahre —
auf Erwiderung meiner Gefühle rechne ich eigentlich
gar nicht — ich bedarf ihrer gar nicht — — ich
will nur Gelegenheit und Möglichkeit haben, mich
auch nach dieſer Richtung hin auszuſtrömen, ſo wie
ich mich auch in jeder anderen Beziehung, als
fanatiſch auf Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit Ver-
ſeſſener, vollkommen zwanglos, ungehemmt, rückſichts-
los ausleben will .. Verſtehen Sie mich, Fräulein
Hedwig —?“


„Ich denke! Aber was ſoll das mir —?
Warum ſagen Sie das mir —? Darin verſtehe ich
Sie allerdings nicht —“


„Warum ich Ihnen das ſage, Hedwig? Nun,
ich denke: das iſt doch einfach genug. Ich geſtand
Ihnen ſchon: Sie intereſſiren mich. Aber Sie ſprechen
[95] nicht allein zu meinem Blute .. nicht allein — offen
heraus: zu meiner .. meiner Sinnlichkeit. Ich bin,
wie geſagt, ganz offen, Fräulein Irmer. Ich weiß
abſolut nicht, warum man das nicht ſein dürfte.
Wenn zwei Menſchen, die ſich bis dato fremd waren,
zuſammentreffen, ſo ſollten ſie immer ſogleich Weſens-
fragen ſtellen. Und um ſo eher, wenn ſie merken, daß
ſie nicht ganz alltägliche Waare ſind. Ich liebe die
Ueberraſchungen über Alles. Und da ich Sie
leider nicht damit überraſchen kann, daß ich Ihnen
irgend ein außergewöhnliches Geſchenk machte, Ihnen
z. B. einen ausgeſtopften Hummer verehrte, oder
etwas Aehnliches, ſo laſſen Sie mich Sie doch damit
überraſchen, daß ich Ihnen allerlei curioſe Geſtänd-
niſſe mache, welche das Fundament meiner Perſön-
lichkeit angehen ... daß ich Ihnen allerlei Intimes
aus meinem Seelenleben erzähle. .. Ich muß aller-
dings bemerken, daß ich jenem Motive der Weſens-
fragen gegenüber zumeiſt leider auch nur Theore-
tiker bin — in Wirklichkeit bin ich ſchon viel zu
gleichgültig und zu verſchloſſen und zu ſelbſtgenügſam,
um ſotane „Weſensfragen“ noch zu ſtellen ... Manchmal
fahre ich wohl den Erſten Beſten unverhofft damit
an und verblüffe ihn. Mein Gott! Warum ſoll
man zuweilen ſeinem „Nächſten“ nicht ein Fläſchchen
Salmiakgeiſt unter die Naſe halten? Aber Ihnen
gegenüber, Fräulein Hedwig hatte und habe ich jetzt
noch das Gefühl, daß ich Ihnen mit Fug und Recht
ſogleich in der erſten Zeit unſerer — Sie geſtatten
mir den Ausdruck! — alſo unſerer Bekanntſchaft Dies
[96] und Das erzählen darf, was Weſenhaftes meiner
Natur ausmacht. Ich ſagte Ihnen ſchon: ich bin
ein monſtröſer Egoiſt. Aber ich glaube beinahe,
daß ich doch ſo intenſiv für Sie aufflammen könnte
— vielleicht ſchon aufgeflammt bin — daß ich mich
ſelber vergäße und mir in Folge deſſen mit Grazie
und Würde einbildete, daß ich mich ganz von Ihnen
hätte auffreſſ — pardon! das fährt Einem immer
ſo 'raus! — Na ja! Und ſo weiter — Sie wiſſen
ſchon. ... Dabei — hm! alſo dabei würde es mir,
vermuthe ich wenigſtens, ſchließe ich wenigſtens aus
erlebten, praktiſch erfahr'nen Analogie'n, immer noch
ſehr gleichgültig ſein, ob Sie mein Feuer, meine
Leidenſchaft erwiderten, oder nicht. Ich glaube in
Ihnen einen in manchen Punkten weſensverwandten
Menſchen gefunden zu haben. Laſſen Sie uns ein
Stück unſeres Weges zuſammengehen! Behalten
wir uns wenigſtens im Auge! Laſſen Sie uns
natürlich mit einander verkehren — ſprechen
und denken und fühlen wir nach Kräften unmittel-
bar! Mein Gott! Ich weiß gar nicht, was uns
daran hindern ſollte, wenn wir erkannt haben, daß
dieſe köſtliche Zwangloſigkeit und Natürlichkeit allein
unſerer würdig iſt, weil ſie uns congenial .. weil ſie
uns in jeder Beziehung entſpricht ...“


Hedwig ſchwieg zu dieſer prachtvollen Aus-
einanderſetzung. Sie verſtand ſie, wenigſtens im
Großen und Ganzen, und mußte Manchem darin zu-
ſtimmen. Sie conſtatirte auch mit einer gewiſſen
inneren Befriedigung eine ſtarke Geiſtesverwandtſchaft
[97] zwiſchen dieſem kühnen Herrn Doctor und ſich.
Und doch ſträubte ſie ſich, laut zu äußern, wie
ſympathiſch ſie ſich ganz unten auf dem Boden ihres
Ichs berührt fühlte. Vielleicht war ſie durch die
Einſamkeit, in der ſie mit ihrem Vater jahrelang
gelebt, innerlich auch ſchon zu verſteift und verhärtet,
um für Dialektik noch die gehörige Geſchmeidigkeit
des Geiſtes zu beſitzen.


So fügte Adam nach einer Weile, während welcher
ſie ſchweigend neben einander hergeſchritten waren, hin-
zu: „— Darauf kommt es ja auch gar nicht an, was
man iſt, ſondern darauf: wie man das iſt, was
man iſt. ..“


„Wollten Sie nicht einmal meinen Vater beſuchen,
Herr Doctor?“


Die Frage klang liebenswürdig, einladend. Un-
willkürlich münzte ſie Adam zur zuſtimmenden, Ver-
ſtändniß und verwandte Anſchauung verrathenden
Antwort auf ſeine Auseinanderſetzung um. Er
freute ſich darüber, aber, merkwürdig und erklärlich
zugleich, veranlaßte ihn dieſe Frage zu einer geſpreizt-
höflichen Erwiderung: „Gewiß, mein gnädiges
Fräulein! Ich werde mir mit Ihrer Erlaubniß dem-
nächſt die Ehre geben —“


Hedwig ſah ihren Begleiter wegwerfend von der
Seite an.


Adam fing den Blick auf und erklärte ihn ſich.
Er lächelte.


„Hedwig!“


„Herr Dcotor —?“


Conradi, Adam Menſch. 7
[98]

„Geben Sie mir den Arm — ja —?“


„Ich danke! Ich gehe ſo freier —“


„Gefühl ... Verſtändniß für Freiheit — das
Bedürfniß derſelben ſind gewiß große, ſchöne, be-
deutende Dinge .. Aber man darf eine Paſſion
nicht in äußerliche, kleinliche Pedanterie'n und Will-
kürlichkeiten zerſplittern —“


„Ich bin übrigens ſogleich zu Hauſe —“


„Hedwig! Wollen wir uns denn immer ſo
fremd bleiben? Ich habe Geduld, unter Um-
ſtänden viel Geduld — aber ich bemerkte Ihnen
ſchon —: ich muß zeitweilig ſehr despotiſch ſein —“


„Ich bitte, Herr Doctor —“


„Sind Sie mir noch böſe von neulich? — Ich
handle immer nur aus dem Rahmen meiner Stimmung
heraus —“


„Darüber brauche ich wohl nicht zu reden. —
Aber hier ſind wir ... Adieu!“


„Sie malträtiren mich geradezu, mein Fräulein!
Aber wie Sie .. wie Sie wollen. . Alſo adieu!
Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Vater!
Ich habe die Ehre. .“ Adam lüftete den Hut und
verneigte ſich ſehr ceremoniell. Dann blieb er noch
einen Augenblick vor der geöffneten Thür ſtehen.
Auch Hedwig war ſtehen geblieben. Beide ſahen
ſich feſt in die Augen. Um Adams Lippen kräuſelte
es ſich wie ein verhaltenes Lächeln der Befriedigung.


Als Hedwig Irmer die Treppen zu ihrer Wohnung
hinaufſchritt, war es ihr plötzlich zu Sinn, als ver-
ſtünde ſie dieſen Adam Menſch beſſer, als er ſich
[99] ſel[b]ſt verſtünde. Und doch war ihre Welt eine ſo
ga[n]z andere, denn ſeine Welt. —


Adam ging langſam nach Hauſe. Es war
zw[i]ſchen fünf und ſechs Uhr. Die eben aufkeimende
Ab[e]nddämmerung des jungen Frühlingstages ließ ihre
erſ[t]en, leiſen, ſo wundervoll discreten, ſo entzückend
ver[ſ]chämten Schatten ſpielen. —




[[100]]

VII.


Adam Menſch waren einige Tage in ziemlich
blödem Einerlei hingegangen. Er hatte die phyſio-
logiſchen Nachwirkungen jener durchgenoſſenen Wein-
und Spielnacht über ſich ergehen laſſen müſſen.
Eine unleidliche Gemüthsdepreſſion war jetzt über
ihn gekommen. Eine peinliche Schwere hatte ſich
ſeiner bemächtigt, die wie ein unaufrührbarer Boden-
ſatz auf dem Grunde ſeiner Seele lag. Eine Fülle
von Gedanken und Gefühlen ſtieg in ihm empor,
aber jede Einheitlichkeit fehlte und jede Neigung,
die Anläufe und Fragmente zu packen, zu vertiefen,
zu erſchöpfen, zu vollenden. Unheimlich ſcharf ſchaute
er zeitweilig in Welt und Leben hinein, und die
Nachtſeiten des Daſeins erſchloſſen ſich ihm in zer-
malmender Klarheit. Er fühlte, wie ungeheuer
weit er davon entfernt war, ein Kind der Stunde
ſein zu können, ein von der mechaniſch-regelmäßigen
Erfüllung einfacher Pflichten befriedigter Menſch.
Er ſehnte ſich nach einer neuen Umgebung, nach
neuen Verhältniſſen, die ihn ganz herausforderten,
die im Stande wären, ihn ganz hinzureißen. Er
ſehnte ſich nach einem großen Schickſal, nach vollen,
[101] ſtarken, runden Gefühlen, nach einer gewaltigen
Freude, einem erſchütternden, entſcheidenden Schmerze.
Alles in ihm war weit und verworren, Nichts eng,
klar umriſſen. Und doch bebte er inſtinctiv vor
einem großen Erlebniß zurück. Er wußte nicht, in
welcher Geſtalt er es ſich vorſtellen, erwarten ſollte.
Aber er wußte auch zugleich, daß er bei dieſer
nervöſen Ueberreizung, bei dieſer pathologiſchen Ab-
hängigkeit von ſeinem Organismus einem bedeuten-
den Schickſale kaum gewachſen ſein würde. Rathlos
ſtand er vor ſich, hülflos taſtete er an ſich herum,
und ſchneidend äußerte ſich ihm die marternde Hoff-
nungsloſigkeit ſeiner Generation. Seiner Genera-
tion —? Adam ſagte ſich ſehr klar, daß es unter
ſeinen Altersgenoſſen verhältnißmäßig nur Wenige
gab, die ſeiner Art verwandt waren. Aber dieſe
Wenigen bedeuteten die urſprünglich geiſtig Bevor-
zugten. Ihre Kräfte fanden nur keine Sphäre, in
der ſie ſich zwanglos bethätigen konnten. Das
Sichabfinden, Sichanpaſſen, Sichhineinpreſſen oder
Sichhinaufſchrauben ekelte ihn an, weil es ihn un-
natürlich dünkte. Ja! Er fühlte unheimlich deut-
lich, daß er krank, unglücklich war ... wie ſo
Mancher, mit dem ihn das Leben in ſeinen Stu-
dienjahren zuſammengeführt hatte. Verſchiedene
Mitglieder des Kreiſes, in welchem er damals eine Zeit
lang verkehrte, hatten ſich abgewandt, wie er
nachher gehört, waren ein Stück zurückgegangen,
waren zu Kreuze gekrochen, arbeiteten in enger
Umgrenzung, mit müden Herzen. Die Schlechteſten
[102] waren ſie gewiß nicht, aber den Zwang, ihren
Naturen bis ins Kleinſte hinein treu ſein zu müſſen,
hatten ſie in einem geringerem Grade beſitzen dürfen.
Immerhin noch ſo viel Drang, ſo viel Bethäti-
gungsbegehren lebte in ihnen, daß ſie ſich wenigſtens
einigermaßen mit dem begnügen konnten, was ihnen
zu eigen geworden, wenn es ihnen nur geſtattet
war, ein klein Wenig ihrem Geiſte und Weſen ge-
mäß zu bilden und zu formen. In ſtillen Stun-
den der Sammlung .. in Augenblicken, wo Stim-
mung und Neigung vorhanden waren: zurückzu-
ſchauen, der geweſenen großen geiſtigen Tapferkeit, der
ſtolzen Kampfgewärtigkeit und bewußten Wehrhaftigkeit
zu gedenken, befiel wohl auch ſie das Bewußtſein,
wie vergeblich, wie formlos ihr jetziges Thun, wie
ſchmachvoll ihre Capitulation ſei ... Nun! Sie
nutzten ihre Kraft ab ... und das war genug. Die
Maſſe regiert, ſagte ſich Adam, und die große
Schlacht wird geſchlagen werden. Wir ſind auf
neuen Wegen zu neuen Zielen. Und doch! Wird
Etwas bleiben, wenn das ... alſo das „Volk“
losbricht? Die herrſchende Generation der Zukunft
entwächſt dem vierten Stande. Das werden Alles
ſehr bornirte Leute ſein, aber ſie werden dafür oder
darum ſehr geſund, ſie werden ſehr nüchtern ſein.
Ueberreizung, unnatürliche Ueberheizung werden ihnen
im Ganzen fremd ſein. Blut von unſerem Blut —?
Geiſt von unſerem Geiſt —? Dieſes Blut iſt faul
und ſchwer und dick, und dieſer Geiſt iſt morſch und
krank und brüchig. Verzichten wir! Leben wir
[103] uns aus! Auch ſo wirken wir, wenn es denn ein-
mal „gewirkt“ ſein muß — wirken nach natürlichen
Geſetzen .. und wenn wir bloß unſere Kleider ab-
tragen und unſere Sohlen ablaufen ... Der Schlag
bedingt den Gegenſchlag. Aber das ſoll uns kein
Troſt ſein, ſoll unſer etwa mahnendes „Gewiſſen“
nicht beruhigen. Vielleicht müſſen wir uns für das
große Zukunftsereigniß aufſparen, unter dem die
Erde in Krämpfen erbeben, in fanatiſchen Zuckungen
ſich ſchütteln wird. Wir ſind ſo gut wie ausge-
höhlt. Durch Leidenſchaften gebrochen, denen wir
uns ergeben haben, weil wir nicht wußten, wie wir
beſſer unſere Zeit todtſchlagen ſollten. Wir waren
rathlos geworden, weil wir erkannt, daß unſere
Ideale Illuſionen geweſen. Eine jede Bruſt hatte
den Kampf gegen die Convenienz, gegen die Tra-
dition gekämpft ... wir hatten nicht geſiegt, aber
haben auch nicht verloren. Nun unterliegen wir,
weil wir uns haben zu alt werden laſſen, um den
phyſiologiſchen Einflüſſen des Alten noch entrinnen
zu können. Wir prunken wohl auch ein Wenig
mit unſeren Schmerzen und noch mehr mit unſerer
Kraft: brechen, ſtürzen zu können, energiſch ſein zu
können. Auch jetzt ſpielen wir noch Komödie. Aber
wir wiſſen doch jetzt zugleich ſehr gut, daß wir
darauf verzichten mußten, unſere beſten Kräfte in-
takt erhalten zu können, unſere intenſivſten Aus-
ſtrahlungen wirken zu laſſen. Wir trugen den
Himmel, das ganze All in der Bruſt, aber wir be-
dürfen einer Generation, der ſich die Sterne ver-
[104] hüllen, damit ſie auf Erden nicht ſtolpere. Wir
werden von der abkühlenden Zeit früher oder ſpäter
gezwungen, unſeren Frieden mit der Welt zu ſchließen.
Aber wir ſind doch unterlegen. Wir haben wirken
müſſen, und Pflichten haben wir erfüllt, obwohl es
einmal eine Zeit gegeben hat, wo wir keine Pflicht
anerkennen zu dürfen geglaubt. Wir haben ſchein-
bar gehandelt und doch immer nur gelitten.
Wir waren Genies im Denken, Fühlen, Entwerfen,
Träumen, Dulden. Nun werden die Talente der
That kommen, weil ſie kommen müſſen. Eigentlich
bedauern wir ſie. Denn wir verſtehen ſie auch, ſie,
die für uns kein Verſtändniß mehr beſitzen werden.
Vielleicht beneiden wir ſie doch ein Wenig. Denn
ſie athmen in einer reineren Luft, und ein geſün-
deres Blut rollt durch ihren Leib.


Dieſe Gedanken und Betrachtungen, dieſe mehr
oder weniger gültigen und richtigen Bruchſtücksreſul-
tate waren zu dieſer Friſt auf- und niedergeſtiegen
in Adam. Ungeläufig konnten ſie ihm allerdings
kaum ſein. Er hatte ſie zumeiſt ſchon in ſeiner
kleinen Schrtft „Das Proletariat des Geiſtes,“ an
der er ab und zu einige Seiten ſchrieb, ausge-
ſprochen.


Merkwürdig, wie wenig er ſich eigentlich mit
Lydia und Hedwig beſchäftigte. Er warf ſich dieſe
Gleichgültigkeit, dieſe Kälte ſelbſt vor. Aber es ge-
lang ihm doch nicht, über ſie hinauszukommen.
Oefter fiel ihm wohl dieſes oder jenes Moment ein,
das ſich neulich bei dem Souper zwiſchen Lydia und
[105] ihm abgeſpielt, das ſich bei ſeinem letzten Zuſammen-
treffen mit Hedwig ereignet — aber er mußte im
Grunde mehr ſouverän darüber lächeln, als daß
ihm dieſe Erinnerung ein gewiſſes Behagen berei-
tete. Unmittelbar mit den Weibern in Berührung
gebracht; durch eine zugeſpitzte, überdies vielleicht
noch etwas außergewöhnliche Situation angeregt,
konnte er leicht aufflammen, leicht aus ſich heraus-
gehen, ſeine Natur in ihrer eigenwilligen Art ſich
äußern laſſen. Aber für ſich haften, für ſich ga-
rantiren konnte er nicht. Sobald er aus dem
Zwange der beſonderen Stunde wieder herausgetre-
treten, und ſobald die nächſten Nachwirkungen vor-
über, kehrte er unwillkürlich wieder ſehr intim zu
ſich zurück, lebte er ſich ſehr nachdrücklich wieder in
ſeine eigene Welt hinein. Er dachte und ſprach ja
ſchon in einem Jargon, der ganz ſchließlich nur
ihm ſelber verſtändlich war, er gebrauchte Ausdrücke,
Bilder, Gedankenverbindungen, operirte mit An-
ſchauungen, die an innerer Bedeutung und ſelbſtändigem
Curswerth entſchieden verlieren mußten, wenn ſie zu
der glatten, abgetragenen, abgeſchabten Sprache der
Außenwelt in Beziehung gebracht würden.


Eines Abends hatte ſich Adam von einer ſtilleren,
flüſſigeren Stimmung in Beſchlag nehmen laſſen.
Stunden eines klaren, kräftigen Denkens waren vor-
hergegangen. Eine gewiſſe, nicht gerade ganz tri-
viale Zukunftshoffnung war in ſeiner Seele empor-
gewachſen. Und wenn es wahr iſt, hatte ſich Adam
ſchließlich geſagt, daß es ein Weſensmoment des
[106] „Modernen“ iſt, ſich zuerſt in gewaltigen, äußeren
Fortſchritten, in Errungenſchaften mehr techniſcher
Natur, darzuſtellen, ſo wird zweifellos dieſer Zeit
wieder einmal eine Zeit der Verinnerlichung folgen.
Das Pathologiſche und Pſychopathiſche unſerer Tage
wird ſich in der Zukunft zum normal Pſychiſchen
umwachſen. Man wird eine große Fülle von Vor-
urtheilen und veralteten Anſchauungen zuſammen-
ſchlagen, wenn die Erkenntniſſe der Pſychophyſik erſt
Gemeingut größerer Maſſen geworden ſind. Die
„Myſtik“ iſt eines Tages vielleicht eine ganz gerecht-
fertigte Wiſſenſchaft. Denken und Thun, Urtheil und
Handlung werden im Geiſte einer humaneren Auf-
faſſung der Dinge, einer toleranteren Anſchauung der
Welt und ihrer Verhältniſſe ausgeübt werden. Nüch-
terner vielleicht wird dieſe Menſchheit der Zukunft ſein,
aber wohl auch maßvoller, aber wohl auch — „ge-
rechter“. Der blutige „Kampf ums Daſein“, dieſes
Ringen um Leben und Tod unſerer Tage, wird ge-
mildert und geſänftigt werden. Erkennen, Ergrün-
den pſychiſcher Geſetze: das iſt die Hauptaufgabe der
modernen Forſchung. Das Neue iſt dabei, ſich ſeine
Formen zu ſchaffen, ſich ſein Neſt zu bauen. Wü-
thende, ſataniſche Stürme werden an dieſem Neſte
noch herumzauſen. Aber alle Stürme wird es über-
dauern. Und einmal wird die Zeit gekommen ſein,
wo ſich das Neue heimiſch fühlt in ſeiner Umgebung.
Nicht mehr nach „Wahrheit,“ nur noch nach Wahr-
heiten
wird die Menſchheit ihre Columbusfahrten
unternehmen.


[107]

Adam kannte ſich viel zu gut, als daß er nicht
hätte wiſſen ſollen, daß dieſe Stimmung ſehr bald
wieder abgefloſſen ſein würde. Er ſpintiſirte da
vom Allgemeinen aus ins Allgemeine hinein und
dachte kaum daran, ſich der Theilnahme an jener
wiſſenſchaftlichen Pionirarbeit noch fähig zu erachten.
Aber es war ſeine Art, derartige leichtere, lebhaf-
tere Stimmungen zu irgend einer kleinen, ſpontanen
„That“ zu benutzen. Und ſo kam ihm jetzt der Ge-
danke, durch einen gleichſam improviſirten, kühn hin-
geworfenen Brief einmal unmittelbar an Lydia her-
anzutreten. Wollte er damit das Gedeihen ſeiner ...
Zukunftsernte fördern? War es ihm Bedürfniß,
irgendwelche Hoffnungen und Erwartungen auf
ſeine Beziehungen zu Lydia zu ſetzen? Wollte er
bewußt dieſe Beziehungen pflegen, um eines Tages
Vortheile, die ſie brächten .. etwa brächten, ein-
heimſen zu können? Dieſe pſychologiſche Selbſt-
inquiſition beläſtigte ihn ſchon wieder ein Wenig
und fädelte ſeinen verknoteten Drang auseinander.
Und doch fand er ſich plötzlich vor ſeinem Schreib-
tiſche ſitzen und ſich einen mit discretem Moſchus-
parfum getränkten Briefbogen zurechtlegen. Und
Adam faſelte in ſeiner, in kühn-coupirtem Stil ſich
ausgerenkt vergliedernden Epiſtel ſo viel zerfahrenes
Zeug zuſammen, daß es ihn nachher, als er es noch
einmal überflog, viel zu geſchmacklos dünkte, als daß
noch ein Witz dabei herauskäme, wenn es nicht an
ſeine Adreſſe abgeſchickt würde. —



[[108]]

VIII.


Adam wartete zwei Tage. Von Lydia kam keine
Antwort. Hatte ihr die ſpontane Auslaſſung miß-
fallen? Jedenfalls doch! Aber was that das?
Das war im Grunde ſo nebenſächlich, ſo belanglos.
Ein Wenig allerdings war Adams Eitelkeit verletzt.
Und der Herr Doctor bedauerte wirklich aufrichtig,
ſeinen bunten Augenblickskram abgeſchickt zu haben.
Zudem war er heute wieder in einer ganz anderen
Stimmung. Seine normale Apathie hatte von Neuem
Gewalt über ihn genommen. Die Welt rempelte
ihn zu wenig an. Er mußte Waffen klirren hören.
Dann konnte er noch aufflammen.


Mittags beim Speiſen fiel Adam ein, heute bei
Doctor Irmer den beabſichtigten Beſuch zu machen.
Mit Hedwig zuſammenzutreffen — es hatte immer-
hin Etwas für ſich. Und doch reizte es ihn auch
eigentlich nicht. So beſchloß er denn zu der Stunde,
wo Hedwig in Café Caeſar die Zeitung abzuholen
pflegte, alſo von Hauſe abweſend war, ihren Vater
heimzuſuchen. —


„Iſt Herr Doctor Irmer zu ſprechen —?“


[109]

„Ich weiß nicht .. der Herr Doctor — wen
darf ich melden?“


Adam ſuchte ſeine Karte hervor und hielt ſie
dem Mädchen hin. Dabei warf er einen kurzen,
ſcharfen Blick auf das Dirndl. Das wurde ein
Biſſel verlegen und erröthete. Das Ding war nicht
übel. Eine kleine, unterſetzte, volle Geſtalt. Aller-
dings etwas lotterig und unſauber, von Spuren
grober häuslicher Arbeit überſäet. Das Mägdlein
wiſchte ſich die rothen, unfeinen, unappetitlichen
Hände an der dreckigen Schürze ab, ehe ſie Adam
die elegante, elfenbeingelbe Viſitenkarte zaghaft-
täppiſch abnahm.


„Der Herr Doctor läßt bitten ..“


Das Mädchen ging auf dem ſchmalen, ſchatten-
durchdunkelten Corridor vor Adam her. Der konnte
ſich nicht enthalten, einen Augenblick die Finger
ſeiner glacégantirten Rechten um den vollen, linken
Oberarm der kleinen ancilla amandissima zu ſpannen.


Ein leiſes, Entrüſtung, Ueberraſchung und heim-
liches, verhaltenes Vergnügen zugleich verrathendes
„Na!“ ließ ſich hören. Der Arm entſchlüpfte.


Adam ging auf Herrn Doctor Irmer zu, der
im Seſſel vor ſeinem Schreibtiſche ſaß und den
Kopf halb zu dem Eintretenden hingewandt hielt.


„Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich mir die
Freiheit nehme, Sie aufzuſuchen. Aber — nun —
offen geſagt: Sie intereſſiren mich. Ich hatte neu-
lich die Ehre, Ihr Fräulein Tochter gelegentlich eines
Soupers bei Herrn Quöck kennen zu lernen. Und
[110] da erfuhr ich —“ (Adam improviſirte eben wieder
einmal) — „daß wir ſo etwas wie .. wie — ver-
zeihen Sie! — das Wort iſt eigentlich häßlich, aber
man hat es nun einmal ſo an der Hand — da erfuhr
ich alſo, daß wir „Collegen“ wären. Sie haben auch
ſchon verſchiedene philoſophiſche Schriften veröffent-
licht — ich allerdings .. noch nicht — aber die
Philoſophie iſt doch das Einzige geblieben, was mir
noch ein gewiſſes Intereſſe einflößt. Im Uebrigen
.. mein Gott! Man wird alt und müde, nicht
wahr? — „blaſirt“ .. nicht wahr? — gâté ...
râté ..“


„So .. ſo! .. Aber bitte .. nehmen Sie doch
Platz, Herr Doctor .. Ich habe leider keine Ge-
walt mehr über mich .. kann mich nur wenig be-
wegen .. Sie müſſen mir ſchon erlauben, hier ſitzen
zu bleiben ...“


Die Worte waren leiſe, mühſam, faſt ohne jede
Tonfärbung geſprochen. Auf dem bleichen Geſicht
Herrn Irmers lag ein Ausdruck, der halb Hülfloſig-
keit, halb Verlegenheit verrieth. Irmer war nicht
gewöhnt, Beſuche zu empfangen. Zudem befremdete
ihn wohl auch die etwas burſchikoſe Art, die abge-
brochene Geſtändnißhaftigkeit Adams.


Adam ſchob ſeinen großen Schlapphut nachläſſig
ungenirt in ein Fach des Bücherrücks und warf
ſich in die Sophaecke.


Eine Pauſe entſtand. Doctor Irmer blickte
fragend, erwartend, verlegen zu ſeinem Gaſte hinüber.


„Sie ſchriftſtellern alſo auch?“ fragte er endlich.


[111]

„Schriftſtellern? Mein Gott! Nun ja, wenn
man's ſo nennen will.. Aber weit iſt's damit Gott
ſei Dank! nicht her — ich bin durchaus kein ſoge-
nannter „Schriftſteller von Beruf“ — um Himmels-
willen — nein! ... nein! .. Ich habe Dies und
Das gemacht — einige Artikel philoſophiſch-kritiſchen,
nationalökonomiſchen, literarhiſtoriſchen Charakters
für Zeitungen zuſammengeſtoppelt — ein paar
längere Aufſätze über pſychophyſiſche Materien für
wiſſenſchaftliche Fachblätter geliefert — na! das iſt
aber auch Alles.. Allerdings ... nicht zu ver-
geſſen die ulkigen Brochüren, die mich momentan
beſchäftigen. ...“


Das war leichthin, nachläſſig geſprochen, ohne
weitere innere Theilnahme, mit dem Accente halb
ehrlicher, halb affectirter Selbſtironie.


Herr Doctor Irmer nickte mit dem Kopfe.
Wiederum trat eine Pauſe ein. Was wollten die
beiden Menſchen nur von einander?


Adam muſterte ſeine Umgebung. Zur Noth
konnte man dieſe Einrichtung ja behaglich nennen!
Und doch athmete das Zimmer einen Geruch der
Aermlichkeit aus, der kaum verſchleierten, kaum zu
verkennenden Nüchternheit, der Adam etwas be-
klemmte. Er liebte den mit feinem, äſthetiſch
durchgebildetem Geſchmacke angewandten Luxus. Er
bewohnte ſelbſt zwei ſehr comfortabel ausgeſtattete
Zimmer, die ihn eigentlich mehr koſteten, als er
nach ſeinen Verhältniſſen an Miethszins dafür hätte
ausgeben dürfen. Aber es war ihm Bedürfniß, in
[112] einer vornehmen, eleganten, weichen, mit künſtleriſchem
Verſtändniß arrangirten Umgebung, die ſoviel als
möglich alle trivialen, hyperboreiſchen Reibungen
überflüſſig machte, zu leben. In dieſer Hinſicht be-
ſaß Adam alſo auch ſehr epicureiſche Gelüſte.


„Was enthalten denn die Brochüren, die Sie
jetzt geſchrieben haben, Herr Doctor?“ fragte Irmer
endlich.


„Ach Gott! das ſind mehr feuilletoniſtiſche Stil-
übungen. Ich lege weiter keinen Werth auf ſie.
Moderne, zeitgemäße Themata übrigens. Hoffentlich
bringen ſie mir ein paar Dreier ein. In dem
einen Hefte habe ich allerlei Pikanterie'n über das
ſpecifiſche Weſen des deutſchen Gymnaſiallehrers aus-
gekramt — — ich hatte nämlich ſelbſt einmal die
Ehre, einem Präceptorencollegium anzugehören, Herr
Doctor — na! und da lernt man ja dieſe famoſe,
menſchliche pêle-mêle-Speiſe kennen — in dem ander'n
Hefte, das aber noch nicht ganz fertig iſt, plaudere ich
über — — oder ſagen wir meinetwegen: liefere
ich eine pſychologiſche Analyſe des geiſtigen Pro-
letariats von heute — „modern,“ wie geſagt, „zeit-
gemäß“ ſind die Motive jedenfalls..“


„Ja! .. Ja! .. verſicherte Doctor Irmer zu-
ſtimmend. Er ſah vor ſich hin. Sein Geſicht nahm ſich
ſehr nachdenklich aus. Zugleich etwas ſchmerzhaft
verzogen. Adam konnte ſich des Gefühls nicht er-
wehren, daß ſein Gegenüber bedauerte, auf den Ge-
danken, derartige „brennende Fragen“ zu behandeln,
nicht ſelbſt gekommen zu ſein.


[113]

„Und wie denken Sie ſich Ihre Zukunft, Herr
Doctor —?“ fragte Irmer drauflostolpatſchend.


„Ich intereſſire mich aufrichtig für die Dame,“ ge-
ſtand Adam lachend. „Sie kennen die orientaliſche
Methode, Herr Doctor, zwei Weſen zu copuliren, die
ſich nie geſehen haben: ſo kommt es mir immer vor,
wenn ich an mich und meine Zukunft denke. . Schließ-
lich ergeht es ja jedem Individuum alſo .. aber Un-
ſereiner — hm! nun! ich wiederhole: ich intereſſire
mich ſehr .. ſehr .. für meine ... Zukünftige..“


„Ihr Fräulein Tochter iſt nicht zu Hauſe —?“
fragte Adam nach einer Weile. Er hatte vergeblich
einer Erwiderung Irmers auf ſeinen ſpaßigen Ver-
gleich geharrt.


„Nein!. die macht ſich um dieſe Zeit immer
etwas Bewegung. Das arme Mädchen kommt ja
ſonſt nicht viel heraus. Hedwig iſt mein Ein und
Alles, ohne ſie wäre ich vollſtändig hülflos, ſie lieſt
mir vor — ich dictire ihr — ich habe ſie ganz
in meine philoſophiſche Weltanſchauung eingeführt.
Ich glaube, ſie hat überwunden und die große
Lebensilluſion erkannt ... “


„Proſt!“ wäre es Adam beinahe über die Lippen
gefahren. Im letzten Augenblicke hakte er das
fatale Wörtchen noch zurück. „Sie ſind Schopen-
hauerianer, Herr Doctor?“ vermochte er nun zu
fragen.


„Nicht eigentlich.. Ich bin überhaupt kein
Anhänger eines beſtimmten Syſtems — eben aus
Philoſophie.. Sie erinnern ſich des Schiller'ſchen
Conradi, Adam Menſch. 8
[114] Diſtichons .. Ich denke und forſche. Nur die Er-
kenntniß iſt real ...“


„Gewiß! Aber um erkennen zu können, bedarf
man, abgeſehen von der pſychiſchen Grunddispoſition,
einer gewiſſen inneren, durchgeſiebten Fülle, die in-
dentiſch mit Stille und feiner, leiſe vibrirender,
ſeeliſcher Geſpanntheit iſt ... Und der Beſitz dieſer
Geſpanntheit hängt doch vielfach von den äußeren
Verhältniſſen ab — von Verhältniſſen, die man in
der Erkenntniß als werthloſe Illuſionen verwerfen
muß .. und die trotzdem die Bedingungen ſind, sine
quibus intelligi non possit,
nicht wahr? Das Reale
iſt vom Abſtrakten abhängig, nicht das Abſtrakte vom
Realen ...“


„Hm ... hm ...“ Irmer fuhr ſich mit den
weißen, ſchmalen, knochigen Fingern ſeiner rechten
Hand über die hohe, durchfurchte, krankhaft ausge-
bleichte Stirn. „Und ſchließlich wiſſen wir doch
Nichts —“ fügte er mit leiſer, müder, umflorter
Stimme hinzu.


„Haben Sie's fertig gebracht, ganz zu ver-
zichten, Herr Doctor?“ fragte Adam, weniger, um
das Geſpräch zu vertiefen, als um es weiterzu-
ſpinnen. Es war ihm plötzlich eine bezwingende Sehn-
ſucht nach Hedwig in die Seele getreten. Er hätte
heute zu gern noch einmal ihr trotzig-gleichgültiges
Geſicht vor ſich gehabt, zu gern noch einmal den
Blick ihres ſchweren, dunklen Auges herausgefordert.
Alſo durfte er die Unterhaltung um keinen Preis
an der galoppirenden Schwindſucht crepiren laſſen.


[115]

Ganz zu verzichten — das iſt wohl aus
pſychologiſchen Gründen unmöglich ... Einige Nabel-
ſchnüre dürfen wohl nicht reißen ...“


„Aber warum denn überhaupt verzichten, Herr
Doctor? Ich finde zeitweilig das Leben dämoniſch
ſchön .. dämoniſch berauſchend ... ich glaube faſt: ſogar
auch in dieſem Augenblicke .. Ja! Gewiß! Es kann
Einem jede Sekunde eine Dachziegel auf den Kopf
fallen .. und man läuft immer Gefahr, irgend einen
Fuß oder irgend ein Genick zu brechen .. Aber warum
ſoll man der menſchlichen Natur immanenten
Leichtſinn — und nur er exportirt ja das Oel,
welches die ſchaurig-groben Reibungen des Lebens
verringert — „tragiſch“ nennen, wie ſo viele alte
und junge Unglückstanten thun? Leben wir doch drauf
los! Mag's doch kommen, wie's will! Eine geradezu
fanatiſche Lebensſehnſucht krampft ſich manchmal in
meinem Herzen zuſammen. Es giebt ja namenlos
viel Unglück und Elend auf der Welt ... ja! ...
ja!. ich weiß es recht gut .. Was die Armuth
leidet, die nackte und die verſteckte, — es iſt un-
ſagbar .. Der Menſch liebt das Vergleichungsverfahren.
Das iſt ſein Grundelend. Ich wohnte einmal bei
einer Familie, wo die Frau Tag ein, Tag aus, vom
frühen Morgen bis zum ſpäten Abend, weiter Nichts
zu thun hatte, als Magd und Mutter zu ſpielen ..
Unſereiner kann die Enge, die Monotonie, die
Schmuckloſigkeit, das grenzenlos Mechaniſch-Mario-
nettenhafte einer ſolchen Exiſtenz gar nicht faſſen.
Und dabei dieſe Bedürfnißloſigkeit!. Es iſt un-
8*
[116] glaublich, wie beſchränkt der Anſchauungskreis iſt, in
dem eine ſolche Kleinbürgerfamilie lebt! Immer
dieſelben Pflichten, dieſelben Arbeiten, dieſelbe Be-
urtheilung des Lebens, dieſelben Sorgen, dieſelben
Gedanken, dieſelben Worte, dieſelben Eindrücke, die-
ſelben Gedanken- und Vorſtellungsverbindungen! ..
Und täglich die gleichen Lebensbedingungen! ..
Ich machte mir öfter das, meinetwegen: das etwas
wohlfeile Vergnügen, ganz meiner Natur gemäß,
in meiner Art, in meinem Jargon mit der Frau zu
verkehren: ſie verſtand mich einfach nicht. Die
Kluft, welche individuelle Civiliſation, eigene Geiſtes-
cultur hier geſchaffen, iſt unüberbrückbar. Und doch
kann ich nicht umhin, ſelbſt von meinem Stand-
punkte aus, der vielleicht ein Kirchthurmſtandpunkt iſt
gegenüber dem — halten Sie mir, bitte! den Vergleich
zu Gute, — alſo gegenüber dem Düngerhaufenſtand-
punkte jener Kleinweltsleute — vielleicht aber
auch nicht! giebt es denn etwa einen ein-
zigen, wirklich competenten Maßſtab? — ſelbſt alſo
bei dieſem Sehverhältniß muß ich etwas Heroiſches
in dem ſtillen Aufſichnehmen, in dem beinahe kritikloſen
Ertragen aller jener erbärmlichen Lebensumſtände
ſehen. Eine ſolche „Frau aus dem Volke“ bleibt
mit ihren kleinen und ihr doch ſo wichtigen Sorgen
um Wirthſchaft und Kinder faſt immer hinter den
Couliſſen, kommt äußerſt ſelten auf die Bühne des
Lebens. Sie ſorgt ſich und quält ſich den ganzen
lieben Tag ab und opfert ſchließlich auch den größten
Theil der Nacht ihren Kindern .. jammert wohl auch
[117] öfter 'mal und ſtöhnt auf — und arbeitet, trägt, er-
trägt morgen doch wieder ſo geduldig, wie ſie geſtern
gearbeitet, getragen und ertragen hat .. Aber ich
bin ganz von dem abgekommen, was ich eigentlich
ſagen wollte. Jenes Vergleichungsverfahren, das ich
vorhin das Grundunglück der Menſchheit nannte,
begiebt ſich übrigens auch bei den Märthyrern der
Beſchränktheit nicht ganz ſeines Einfluſſes .. Aber
hier, wo Alles noch einigermaßen niet- und nagel-
feſt, wenn auch ungeheuer eng und klein iſt; wo die
Reifen nicht vom Faſſe ſpringen, höchſtens einmal
aufknarren — hier iſt zum Gebrauch der Comparation
verhältnißmäßig wenig Zeit übrig .. und wo ſie
unwillkürlich geübt wird — und das geſchieht aller-
dings ziemlich oft — macht ſie bei der Lage der
Dinge höchſtens eine böſe Stunde, kaum einen böſen
Tag ... Die entfeſſelte Noth, die grollende, aus-
ſichtsloſe Armuth bietet der Phantaſie einen viel
fruchtbareren, viel günſtiger präparirten Mutterboden.
Doch ich bin immer noch nicht bei dem angelangt,
auf das anfangs hinauswollte. Alſo ... ja! ..
warum durchaus — warum partout, wie man im
Deutſchen ſagt, „verzichten“, Herr Doctor? Ich möchte
das Leben noch einmal entfeſſeln .. noch einmal
inbrünſtig, leidenſchaftlich an die Bruſt reißen ..
wie ein weiches, ſaftiges, halb durchgebratenes Stück
Filetfleiſch zwiſchen die Zähne ſchieben und tüchtig
draufloskauen .. Das muß doch ganz köſtlich ſein!.
Reiſen .. abenteuern, ſich neuen Eindrücken über-
laſſen .. von neuen Erlebniſſen ganz hingenommen,
[118] ganz eingepökelt werden .. in eine neue Umgebung ...
in neue Verhältniſſe kommen ... gegen den Strom
jedweder Gewohnheit ſchwimmen .. natürlich
„ſchwimmen“ .. der Nüchternheit durch feinſtes,
epicureiſches Lebensraffinement den Kopf zertreten ...
Talent und Glück beſitzen, um große, tiefe, volle
Stimmungen provociren, genießen, feſthalten zu
können —: ich denke mir, wenn man das ſo könnte,
wie man das ſo wollte, es müßte dieſem ſogenannten
Daſein doch Reiz, Geſtalt, Werth verleihen .. Ich
glaube: ſo blaſirt — oder wenn nicht im Welt-
mannsſinne des Wortes blaſirt, ſo doch: ſo gleich-
gültig ich gegen das Alles auch bin, was ich jetzt
beſitzen, genießen .. oder mit forcirter Reſignation
verſchmähen darf — ich glaube: käme ich in eine
Sphäre hinein, wo ich allen meinen Launen und
Bedürfniſſen fröhnen, wo ich mir Natur- und Kunſt-
genüſſe ... wo ich mir Frauen, Wein, Spiel
Sport, Luxus, kurz ein im großen Stile gehaltenes,
im großen Stile ausgegebenes, äſthetiſch feingeiſtig
beſtimmtes, reich nuancirtes Leben geſtatten dürfte —
ich würde mit beiden Händen zugreifen und mit
liebenswürdiger Bereitwilligkeit vergeſſen, daß ich
einmal in Schopenhauer'ſchem Panilluſionismus
gemacht habe — das Märchen von den Trauben,
die man ſauer findet, weil ſie zu hoch hängen,
Herr Doctor — nicht? Und mir ſcheint zudem
auch: die individuelle Seelendispoſition läßt ſich in
jungen Jahren noch ganz gehörig von den Verhält-
niſſen, alſo auch von eventuell neuen Einflüſſen,
[119] die wirkend werden, durchcorrigiren .. Man verbeißt
ſich nun ſo oft in ſich, weil — nun, weil es Einem
unbequem — ja! eben unbequem iſt, mit der größten
Freundin der Menſchheit, mit der dreimal heiligen,
dreimal gebenedeiten Gewohnheit zu rechnen,
die Alles ebnet, Alles ſiebt, Alles ſchlichtet, Alles
glättet und verſöhnt .... Das iſt gewißlich wahr!.“


Irmer lächelte, halb gutmüthig-beluſtigt, halb
ironiſch. „Ich habe das Gefühl, Herr Doctor,“
begann er ſodann, nachdem er eine kleine Pauſe
nach der buntſcheckigen Rede Adams hatte verſtreichen
laſſen, — „daß das Alles gar nicht Ihr Ernſt
iſt .. Ich höre nicht gut .. und Sie ſprechen auch
nicht ſehr laut, aber mir kommt es vor, als ob
Ihre Stimme etwas ſpöttiſch geklungen hätte vor-
hin. Nun .. ich habe eine andere Art ... wenn
ich damit auch nicht geſagt haben will, daß ich nicht
auch einmal ſo wie Sie gedacht, gewollt und ge-
wünſcht hätte .. das iſt aber ſchon ein Weilchen
her .. ſo ein paar Jahrzehnte. Gehen Sie hinaus
in die Welt, lieber Doctor! Sie ſind noch jung ..
Und wenn Sie älter ... alt — älter iſt manchmal
weniger, als alt — geworden ſind, auf ganz ge-
wöhnliche, hergebrachte Weiſe alt .. phyſiologiſch
kühler und enger .. dann kommen Sie wieder ...
und Sie ſind wieder „Peſſimiſt“, wie es Kant,
Schopenhauer, Goethe, Humboldt und die ganze
Geſellſchaft von Kerlen, die Etwas bedeutet haben,
geweſen ſind .. On revient toujours .. Sie ver-
ſtehen — das iſt auch in der philoſophiſchen Welt-
[120] anſchauung nicht anders. Der Peſſimismus des
Alters unterſcheidet ſich von dem der Jugend nur
dadurch .. oder wenigſtens in der Hauptſache nur
dadurch, daß ihm auch ſtarke ethiſche Elemente
legirt ſind ..“


„Hm! Ich muß allerdings geſtehen, daß es mit
meinen ethiſchen Principien ziemlich ſchlecht beſtellt
iſt .. Aber ... verzeihen Sie, Herr Doctor .. da kommt
mir eine Frage — ich will im Himmelswillen nicht
indiscret ſein — nun — alſo: finden Sie es mit Ihren
ethiſchen Normen vereinbar, daß Sie Ihr Fräulein
Tochter, die jung iſt, wie ich, und gewiß Stimmungen,
Bedürfniſſe, Wünſche hat, wie ich — ich ſchließe
einzig und allein per Analogie — daß Sie Ihr
Fräulein Tochter alſo ganz in die Hände Ihrer
Entſagungsphiloſophie liefern? — Halten Sie dieſe
Praxis für abſolut richtig —?“


Adam ſah bei dieſen, nicht ganz ſicher und unbe-
fangen geſprochenen Worten auf die Fingernägel
ſeiner rechten, nach innen gekrümmten, in Schrittweite
dem Geſicht genäherten Hand — er hatte die Glacés,
die ihm nicht beſonders zu der ſchlichten Umgebung zu
paſſen ſchienen, ſchon vorher abgezogen — er ſah auf
die Fingernägel ſeiner rechten Hand, als wollte
er ſich in den kleinen, glänzenden Flächen ſpiegeln.


„Ah ... Hedwig! .. Nun ... Nun ... ich ..
ich — meine Tochter hat ſchon viel durchgemacht,
Herr Doctor .. ſehr viel. Ich glaube, es
iſt Zeit, daß ſie zum Frieden kommt. Und
dann ... warum ſoll ich's nicht geſtehen? ..
[121] etwas Egoismus iſt meinerſeits dabei wohl auch im
Spiele. Ich bin, wie ſchon bemerkt, gänzlich abhängig
von meiner Tochter .. Wir arbeiten zuſammen, ſie
lieſt mir vor .. ich dictire ihr .. wenn ſie mich
verließe — ich könnte nicht weiterleben .. Wenn
ſie der Welt noch einmal zum Opfer fiele — ſie
müßte erſt mich .. erſt meinen Sarg bei Seite ſchieben ..
er würde ihr den Weg verſperren ...“ Das war
noch leiſer, noch unverſtändlicher, undeutlicher ge-
ſprochen, als gewöhnlich. Irmer hatte das Haupt
ſchwer, tiefgebeugt auf die Bruſt fallen laſſen ..
als würde es von den Henkersknechten des Schickſals
niedergedrückt. Der Mann ſchaute ſtarr vor ſich hin.


Adam erhob ſich und griff nach ſeinem Hute.


„Ich danke Ihnen, Herr Doctor, für die An-
regung, die Sie mir gegeben .. Und hoffentlich ..
hoffentlich iſt es nicht das letzte Mal, das wir
zuſammengeplaudert. Die Welt iſt gemein .. ganz
Recht! .. und die Menſchen ſind Beſtien .. ſie
ſchwatzen und klatſchen und kritiſiren und .. keifen
und ... zucken die Achſeln und treten einander
todt ..


„Hülfreich iſt der Menſch,

Edel und gut —

Doch zuweilen, wenn er gerade Durſcht hat,

Säuft er ſeines ‚Nächſten‘ Blut ...“

Eh bien! . Das iſt eine bekannte Geſchichte ..
Doch das iſt der Peſſimismus der Jugend, der
zwanziger Jahre ... Man findet Alles gemein,
weil man Alles noch zu allgemein findet ... finden
[122] muß ... Qu 'importe? Wenn ich nicht zu ſehr
Ihre Kreiſe ſtöre, Herr Doctor — —“


„Bitte!.“


„Alſo auf Wiederſehen! .. Wollen Sie mich
gütigſt Ihrem Fräulein Tochter empfehlen .. Ich
habe die Ehre! ..“


„Adieu! ..“


Adam verließ das Zimmer. Auf dem Corridor
athmete er einmal tief auf und ſchaute unwillkürlich
nach der feſchen Dienſtmaid aus. Er hätte zu gern
eine kleine Abwechslung gehabt. Aber das Mädel
blieb unſichtbar.


Als Adam die letzten Treppenſtufen hinunter
ſchritt, betrat Hedwig den Hausflur. Der Herr
Doctor ging langſam an ihr vorüber und grüßte
ſehr förmlich. Die Dame nickte kurz.


An der Thür wandte ſich Adam noch einmal um.
Fräulein Irmer ſtieg ruhig die Treppe hinauf.


Adam gab einen kurzen, grellen, ſcharfen Pfiff
von ſich. Dann ſchlug er die große, ſchwere, un-
gefüge Thür hinter ſich zu. —


Endlich war Nachricht von Lydia gekommen.
Frau Lange ſchrieb mit kleiner, ſchräger, nicht be-
ſonders geübter, kaum charakteriſtiſcher Schrift:


„Werther Herr Doctor!

Wollen Sie morgen
Abend die bewußte Taſſe Thee bei mir trinken —?
Gegen acht Uhr — ja? Bitte, bringen Sie doch
die Stimmung wieder mit, in der Sie den Brief
geſchrieben! Er hat mir viel Vergnügen gemacht,
trotzdem ich ihn wohl noch nicht ganz verſtanden
[123]
h[a]be. Wir wollen ihn noch einmal gemeinſchaft-
l[i]ch durchſtudiren. Haben Sie Ihr Bibelcapitel
f[e]rtig? Ich habe leider wieder ſehr viel Ab-
h[a]ltung gehabt. Mit beſtem Gruße


Lydia Lange.“


[...]“ meinte Adam ſchmunzelnd, be-
frie[d]igt. Und er las das Billet ein zweites Mal. —



[[124]]

IX.


Am nächſten Tage ſchwankte Adam unaufhörlich
in ſeinen Stimmungen hin und her. Er wußte wieder
einmal nicht ein noch aus. Es war ihm wieder einmal
das Talent ganz abhanden gekommen, ſich von der
Widerſpenſtigkeit der Objecte anziehen, beluſtigen zu
laſſen. Das kann doch zuweilen wirklich ſehr amüſant
ſein. Zweifelte er an ſich, an ſeinen Kräften und
Fähigkeiten? Er beſaß ein ſehr ſchlechtes Gedächtniß
für ſich. Eine erneute Stimmung nahm ihn immer
ſo ganz hin. Und war das gerade eine Stimmung
marternder Geiſteszerriſſenheit, ſo mußte er ganz
vergeſſen, daß ihm einmal klarer, einfacher, un-
mittelbarer, praktiſcher zu Sinn geweſen. Es laſtete
ein unerklärlicher Druck auf ihm, eine gerechtfertigt-
ungerechtfertigte Trauer .. eine peinigende, gegen-
ſtandsloſe Betrübniß .. kein ſchneidender Gethſe-
maneſchmerz .. eine lähmende, zuſammenzwingende
Schwere. Er hatte keine Freude daran, die kleinen
Arbeiten des Lebens auf ſich zu nehmen. Nichts
Großes erſchütterte ihn, das kleine Gewürm halber,
angedeuteter Gefühle verleidete ihm das Leben,
welches ihm doch manchmal mit ſeinem bunten
Wirrwarr, ſeinem unermüdlichen Farben- und Formen-
ſpiel ſo unendliche Reize bieten konnte. Warum
[125] ſollte er heute Abend zu Lydia gehen? Es war
doch eigentlich nicht der geringſte Grund dazu vor-
handen. Gewiß! Er wollte ihr im letzten Augen-
blick noch abſchreiben — das war das Geſcheiteſte.
Er konnte nicht für ſich gutſagen. Er hatte die
Empfindung, als müßte er heute Frau Lange gegen-
über zu bizarr in ſeinem Betragen, zu willkürlich
ſein. Oder würde ihn die fremde, gewiß vornehme,
in eigener Ordnung ausgebaute Umgebung doch ein-
engen? Würde ſeine zwar nicht beſonders große,
aber noch immerhin genügende Fähigkeit: Cavalier,
Geſellſchafter zu ſein, hervortreten, ſobald er Lydia
gegenüber ſtand? Er hatte ja ſchon, wie er ſich
äußerlich erinnerte, eine ganze Reihe derartiger
Jongleurkunſtſtücke fertig gebracht. Aber Hedwig?
Hedwig? Wie ſtand er zu ihr? Liebte er ſie? Er
hatte ſich allerdings ſehr oft eingebildet, ein Weib
zu lieben — und er hatte ſich für daſſelbe ſchließ-
lich nur intereſſirt, ganz beiläufig „intereſſirt“. Er
hatte Gefallen an ihm gefunden, irgend Etwas hatte
ihn gereizt: ſchönes Haar; ſchöne Augen; graciöſe
Beweglichkeit des Oberkörpers; Halbfülle der Ge-
ſtalt; ein kurzer, entſchiedener Tritt; oder Naivetät
des Herzens; das Parfum geiſtiger Selbſtändigkeit;
Unbeholfenheit oder Schlagfertigkeit .. Vorurtheils-
loſigkeit .. Coquetterie .. ehrliche oder gemachte
Verſchämtheit .. oder ſo etwas Aehnliches .. Und
Hedwig? Ja! Ja! Es wurde ihm mit bezwingender
Deutlichkeit klar: er liebte ſie — liebte ſie mit all'
der Glut und Leidenſchaft, deren er noch fähig
[126] war .. die er noch für ſie aus allen ſeinen früheren,
engeren oder loſeren Beziehungen und „Verhältniſſen“
hatte retten müſſen. Der Gedanke an ſie hatte doch un-
willkürlich — jetzt wurde er ſich deſſen bewußt — in den
letzten zwei Tagen die ſtete Unterſtrömung ſeines
Seelenlebens gebildet. Immer wieder war ihr Bild
vor ihm aufgetaucht, manchmal ſchärfer, deutlicher,
manchmal unklarer, ſchwächer, linienmatter. Er hatte
der einzelnen Gelegenheiten gedenken müſſen, die ihn
mit ihr zuſammengeführt. Er hatte ſich die Worte ...
das Herüber und Hinüber ... das bewegte Widerſpiel
der Gefühle und Gedanken wiederholen müſſen, die
ihn in ihrer Gegenwart beſeſſen, die ſie ihm zu ver-
ſtehen gegeben, die ſie ihn hatte ahnen laſſen, oder
die er ihr anvermuthet. Er hatte viel an ſie gedacht,
viel über ſie nachgedacht ... hatte ſich gefragt: wo ſie
wohl in dieſer Stunde wäre ... was ſie thäte .. wie
ſie jetzt ihr Verhältniß zu ihrem Vater auffaßte ..
ertrüge ... ob er ſelbſt vielleicht ſchon eine kleine
Rolle in ihrer Welt ſpielte? .. Aber was zog ihn
nur zu ihr hin? Reizte ſie ſeine Sinnlichkeit?
Eigentlich nicht. Seit jenem Abend bei Herrn
Quöck, wo der Wein ſein Blut aufgejagt, wo ihm
Lydia's Raffinement und Coquetterie brennendes
Begehren in die Bruſt getropft .. mit berechnender
Grauſamkeit langſam getropft hatte; wo er ſich wohl
nur aus Trotz gegen das ſchöne, verführeriſche
Weib — wenigſtens wie er ſich heute einbildete —
Hedwig genähert — ſeit jenem Abend hatte deren
Gegenwart oder die Erinnerung an ſie eine immer
[127] nur mit geringen Sinnlichkeitsaffecten verbundene
Sympathie in ihm ausgelöſt. Nun denn! — ſo
mußte es eben ihr Schickſal ſein, was ihn reizte.
Oder etwa ihre Sprödigkeit? Ihre Art, kalt und
beſtimmt abzuweiſen ... ihre wie ſelbſtverſtändlich
dargeſtellte ... Selbſtändigkeit? Es war doch merk-
würdig! Und da! ... da ſchäumte es auch in
ihm auf ... da begehrte er plötzlich, dieſe Unge-
berdigkeit zu zähmen, dieſen Trotz zu brechen, dieſe
Kälte zu bezwingen ... Da mußte er, wie ſüß
und berauſchend es ſein müßte ... es wahr und
wahrhaftig ſein würde, dieſe herben Lippen zu
küſſen ... dieſen verſchloſſenen Mund zu köſtlichen
Geſtändniſſen zu bewegen ... Ein fanatiſcher Sehn-
ſuchtsrauſch war jäh über ihn gekommen. Ein
ſtarkes Leben durchpulſte ihn ... ein einziges
Wollen erfüllte ihn ganz. Seine Phantaſie umhing
die Geliebte mit Reizen, die ſie kaum beſaß. Aus
allen Poren ſtrömte Adam der Drang ... quoll
ihm das glühende Begehren der entfeſſelten Leiden-
ſchaft heraus ... Aber da verflüchtigte ſich auch
die heiße Sehnſucht deſ Blutes ſchon wieder. Eben
war Adam noch der Gedanke gekommen, daß es
doch eigentlich ganz praktiſch ſei, in dieſer ſinnlich-
empfänglichen Stimmung zu Lydia zu gehen.
Hedwig ... oh! Die Erinnerung an ſie konnte ſeine
Phantaſie wohl mit tauſend verführeriſch-reizvollen
Bildern ſpeiſen. Aber die Wirklichkeit? Die Dame
war doch eigentlich ſchon zu eingefroren, zu ſteif, zu
erkaltet. Und Adam liebte das Spontane, das Tu-
[128] multuariſche am Weibe ... das plötzlich Hervor-
brechende, elementar Hinreißende. Und doch reizte
ihn im Grunde ein Weib ... jedes Weib nur ſo
lange, als es ſich ihm entzog, als es ſeine Selbſt-
ſtändigkeit mit ſtarkem Nachdruck aufrechterhielt.
Die geringſte Nachgiebigkeit kühlte ihn ab ... kühlte
ihn beſonders dann ſofort ab, wenn ſie mit
einer gewiſſen Apathie und gleichgültigen Nach-
läſſigkeit in Scene geſetzt wurde. Adam liebte es,
Quellen aus Felſen zu ſchlagen. Die erſte ſtür-
miſche Glut, mit der das junge Waſſer an's Licht
trat, reitze ihn. Nachher ... nachher wurde ihm das
Waſſer in der Regel bald .. bald ſehr, ſehr lang-
weilig. Er beobachtete es höchſtens noch mit dem
Intereſſe des objectiven Wiſſenſchaftlers. Nein! nein!
Das war Unſinn — er liebte Hedwig nicht ...
nicht im Mindeſten. Wie war er nur in aller
Welt darauf gekommen, ſich das einzubilden, ſich
das vorzudeclamiren! Es dünkte ihn nur pikant ...
weiter nichts als pikant, auf ſie zu wirken, ſie zu
beeinfluſſen, ſie zu beunruhigen ... in den zähen, träge
geronnenen Lauf ihres verſtockten und verkümmerten
Lebens allerlei neues, eckiges, ſtrudelerweckendes
Zeug hineinzuwerfen. Er wußte, daß er das Weib
eines Tages einmal küſſen würde. Vielleicht war
er auch im Stande, im Aufruhr der Stunde noch
intimere Leidenſchaftsbeweiſe zu erzwingen. Und
dann? Dann mußte er die angebiſſene Frucht nach
den Geſetzen ſeines Organismus eben wegwerfen.
Eine grauſame Unzuverläſſigkeit gehörte ihm an
[129] Oh! Er wußte: einmal hatte er mit dieſer gren-
zenloſen Gleichgültigkeit nur geſpielt. Es war ihm
pikant geweſen, ſich ihren Beſitz anzudichten, vorzu-
lügen. Und nun? Nun beſaß er ſie wirklich — und
die Brutalität dazu, ſie halb bewußt, halb unbe-
wußt vor ſich und Anderen verleugnen zu können ..
oder er prunkte mit ihr. Und da gefiel es ihm öfter,
ſie für harmloſe Coquetterie auszugeben, wo ſie
doch wohl nur traurige Thatſache war. Nein! Fräu-
lein Irmer war Adam in dieſem Augenblicke nichts
... abſolut nichts. Warum ſollte er heute Abend
alſo nicht zu Lydia gehen? In ſeinem Spiegel-
ſchränkchen trieb ſich eine Anzahl verbrauchter Glacé-
handſchuhe ... eine ſehr niedliche Sammlung ab-
getragener Shlipſe und Schleifen herum. Die Sipp-
ſchaft fiel Adam in die Augen, als er nach ſeiner
Eau de Cologne-Flaſche ſuchte. Er nahm einen
Handſchuh zwiſchen die Finger und betrachtete ihn
ſehr gedankenvoll. Das Leder war mürb, brüchig,
rauh, hier ſchlaffer, dort härter, ſteifer geworden ...
wie gedörrt, runzelig zuſammengetrocknet. Die Farbe
unreinlich, verſchoſſen, ſtark verſchmutzt. Allenthalben
geplatzte Nähte ... ein Knopf war abgeſprungen,
ein anderer ließ ſeinen ſchmutzig-gelben Meſſing-
ſcheitel todestraurig herabhängen. Warum ſchmeißt
man das Geſindel nicht in die Lumpen? philoſo-
phirte Adam ſehr tiefſinnig. Und er dachte an ſein
Individuum. Ob ... hm! ... ob man ſeine „Seele“
nicht einmal ... nicht einmal — raſiren laſſen
könnte? — —


Conradi
[[130]]

X.


In tadelloſem, ſchwarzem Geſellſchaftanzuge; mit
einem Geſicht, das halb müde Gleichgültigkeit, halb
obligate, gegenſtandsloſe Neugier und Geſpanntheit
ausdrückte, trat Adam Menſch einige Stunden ſpäter
in das Cabinet Lydias.


„Sie haben mich gerufen, gnädige Frau — ich
bin gekommen ...“


„Ich danke Ihnen, Herr Doctor!“


Lydia hatte bei dem Eintreten Adams vor ihrem
zartgliedrigen Luxusſchreibtiſche, der ſo gar nicht
für ehrliche, ſchwere Arbeit auf der Welt zu ſein
ſchien, geſeſſen und war nun aufgeſtanden. Ein
leiſer Moſchusduft lag im Gemach. Auf dem
Schreibtiſche brannte inmitten einer Fülle eleganter
Nippes, inmitten einer zwanglos und doch ge-
ſchmackvoll arrangirten Kleinwelt von Statuetten,
Photogrammen, Portraits, Goldſchnittbändchen, loſe
durcheinandergezetteltem Pergamentpapier, Muſcheln
und Steinen, eine grünverhangene Broncelampe.
Das mittelgroße Zimmer war von den Schatten
anheimelnder Dämmerung durchdunkelt. Die Umriſſe
der Möbel verſchwammen, die Farben und Muſter
[131] der Teppiche und Decken hatten einen ernſten, ſchwarz-
braunen Ton angenommen.


Lydia hatte die Lampe auf den kleinen, runden
Tiſch geſtellt, der, umgeben von einer Fauteuils-
Corona, vor dem Sopha an der gegenüberliegenden
Breitſeite des Zimmers ſtand.


„Ich muß doch wohl für etwas mehr Licht
ſorgen —“


„Wenn ich bitten darf, gnädige Frau ... dieſe
Lichtſtimmung ... es iſt ſo poetiſch, dieſes Zu-
ſammenfließen von Hell und Dunkel —“


„Ja? Nun ... dann ... Ich habe dieſe Be-
leuchtung auch ſehr gern ... gerade dieſes clair-
obscur
... Aber modern ... „modern“ iſt es doch
eigentlich kaum, Herr Doctor ... So mittel-
alterlich ... ſo romantiſch ... Nun ſuchen Sie ſich
bitte einen Fauteuil aus ... und dann will ich
den Thee beſtellen ... oder ... oder — Emma wird
ihn allerdings ſchon bereitet haben ... aber das
thut ja nichts ... ſie mag ihn 'mal ſelbſt probiren —
ich ſchlage vor, Herr Doctor, daß wir unſere erſte
Sitzung mit einem Glaſe Steinberger Cabinet ein-
weihen — ja ..?“


„Gnädige Frau — ich ... meinetwegen —“


„Jetzt iſt er ſchon ſo weit, daß er ‚meinet-
wegen‘ ſagt!“ fiel Frau Lange neckiſch ein. „Dieſe
Gnade, lieber Doctor! ... Ich danke Ihnen! ...“


„Ich bitte ... Sie haben mich mißverſtanden,
gnädige Frau ...“


Lydia ſchellte. Ein Diener trat ein.


9*
[132]

„Alſo einige Flaſchen Steinberger, Auguſt, und
ſagen Sie Emma, ſie möchte auftragen.“


„Denken Sie, Doctor, dieſer junge Mann, dieſer
Weinapoſtel, heißt Auguſt — ſchrecklicher Name ...
nicht? Aber er läßt ihn ſich nicht abgewöhnen ...
dieſe Leute haben auch ihren Stolz ... Was will
ich machen? So ſehr ich mich empöre — ich muß
mich ſchließlich fügen. Es bleibt mir nichts Anderes
übrig. Und der Menſch iſt doch ſonſt ganz tüchtig
und zuverläſſig ...“


Adam antwortete nicht. Eine ſpitze, bittere
Bemerkung lag ihm auf der Zunge. Aber er unter-
drückte ſie. Da klagte ihm eine ſchöne, vornehme
Dame ihr Leid ... ein Leid, das im Grunde
wirklich außerordentlich ſchwer und herb war. Und
ſie fand es der Mühe werth, an ein Nichts eine ganze
Reihe von Worten zu verſchwenden. Wußte ſie
wirklich nicht, daß man ſich manchmal noch in ganz ...
andere Dinge fügen muß?


„So ſchweigſam, Herr Doctor? Warum?
Nein! ... heute Abend ... heute Abend lieber nicht!
... Melancholiſch? Nun ... vielleicht löſt Ihnen
der Wein die Zunge ... Laſſen Sie doch die
alten, odioſen Geſpenſter! Bei meinem Vetter
... neulich ... fiel es mir ſchon auf, daß ...
doch ... hören Sie! Draußen tobt der April!
Wir wollen uns recht gemüthlich fühlen ... die
letzte, karge Wintergemüthlichkeit ... es wird leider
ſo bald auch außerhalb des Kalenders Frühling ...
und dann ...“


[133]

„Und dann werden wir auf Ihrem Balkon ſitzen,
gnädige Frau, und ... und — und werden — —“


„Und werden? Was Sie ſich einbilden, Doctor!
Doch ... pardon! ... Ja ... ich hoffe auch —
Mai ... Juni — nun! Wir wollen uns vor-
nehmen, einen recht intimen Frühling zu ver-
leben ... einverſtanden? ...“


„Lydia! ...“ Adam war der Vorname Frau
Lange's entfahren — er wußte nicht, wie ...


„Dummheit, Herr Doctor! Was fällt Ihnen
ein! Wir ſind doch zwei ganz vernünftige Menſchen!
Nicht wahr? ... Was macht übrigens Ihr Bibel-
Capitel? .. Nein! Wie mich Ihr hübſcher Brief
amuſirt hat! — Aber was hat die Emma nur?“


Frau Lange ſchellte zum zweiten Male. In
demſelben Augenblicke trat das Mädchen ins Zimmer,
eine ziemlich umfangreiche Tablette nur mit Mühe
vor ſich her balancirend.


„Was ſoll das nur heißen, Emma! Du haſt Dir
wohl den Thee erſt 'mal näher beſehen? ... Dazu war
doch nachher auch noch Zeit! Und auch der ... der Auguſt
bleibt mit dem Weine — ich glaube gar, Ihr ...
Emma! ... ich will nicht hoffen — — Ihr fliegt alle
Beide an die Luft — das kann ich Euch ſagen ...“


Emma war roth geworden. „Gnädige Frau ...“
ſtotterte ſie —


Adams Auge weilte wohlgefällig auf der vollen,
ebenmäßig abgerundeten Geſtalt des Mädchens. Das
war nicht zu viel und nicht zu wenig. Dieſe Arme
unter dem ſtraffen, enganliegenden Kleide ... dieſe Bruſt
[134] unter dem wie geſchient geſchnürten Corſet ... dieſes
friſche, volle, nur etwas zu gleichmäßige, zu runde Ge-
ſicht .. die Gelenkigkeit der Bewegungen ... der nicht
unangenehme Geruch friſchgewaſchenen, friſchgeſtärkten
Leinens, der von ihrer Kleidung ausging —: mit
dem Allen war Adam ſehr einverſtanden. Lydia
bemerkte, wie aufmerkſam und augenſcheinlich wie
befriedigt der Herr Doctor das Mädchen muſterte.


„Sie ſind ein Epicureer, Herr Doctor!“ ſagte
Frau Lange ſpöttiſch.


„Wieſo, gnädige Frau? Weil ich für Ihre
reiche Tafel kein Auge ... kein Verſtändniß zu
haben ſcheine? Verzeihen Sie! ...“


„Sie geſtehen alſo? ...“


Emma ſchickte ſich an, das Zimmer zu verlaſſen.
An der Thür wußte ſie ſich noch einmal ſo zu drehen,
daß ſie einen vollen Blick auf Adam werfen konnte:


„Emma!“ rief Lydia laut nach. Das Mädchen
trat in den Thürrahmen zurück.


„Auguſt mag ſich ein Wenig beeilen — und
dann bring' die große Lampe aus dem blauen
Salon herüber ... Sie ſollen Ihre Augen nicht
zu ſehr anſtrengen, Herr Doctor!“ fügte Frau Lange,
zu Adam gewendet, ironiſch hinzu.


Adam und Lydia ſahen ſich feſt an. Sie ver-
ſtanden ſich. —


„Aber ... Sie ſind doch noch nicht fertig, Herr
Doctor? Ich bitte Sie! Wollen Sie nicht noch 'n Stück
Fleiſch nehmen? Bitte ... ja! Es iſt delicat, wie ich,
ohne meine Küche rühmen zu wollen, ſagen darf ...
[135] Ein Scheibchen Pökelrippe — ja? Oder ein
Wenig Deſſert? Laſſen Sie ſich nicht nöthigen!
Schlimm genug, daß man ſelbſt Ihnen gegenüber
die alten, abgeſtandenen Redensarten gebrauchen
muß! Aber Sie ſind gar nicht originell! Sie
bilden ſich gar nichts auf ſich ein! Und — was
das Schlimmſte iſt — Sie vergeſſen ganz, daß Sie
mich beleidigen, wenn Sie mich zwingen, Sie nach
der Art des erſten beſten Durchſchnittsmenſchen zu
behandeln ...“


„Ich bitte, gnädige Frau! ... Ich habe gar
kein Recht, etwas Beſonderes ſcheinen zu wollen,
ſintemalen ich gar nichts Beſonderes bin ... Wenigſtens
momentan ... In den letzten Wochen, wenn nicht
Monaten, bin ich meinem ganzen Denken und
Fühlen nach ein verzweifelt alltäglicher Menſch ge-
weſen ... Ich finde nichts Neues mehr ... ich
erkenne Nichts mehr ... ich habe keine Intereſſen
mehr ... ich bin gegen Alles grenzenlos gleich-
gültig ... Alles iſt todt, verſchüttet, ausgeſtorben
in mir. Ein Druck liegt auf mir — ich ſage
Ihnen: furchtbar! Ganz furchtbar! Und Nichts ...
Nichts reißt mich aus dieſer Verſtumpfung heraus ...
Ich glaube ... ich fürchte: meine beſte Zeit ... die
Zeit, wo ich geiſtig aktiv ſein durfte ... wo ich
für tauſend Reize empfänglich war ... wo ich nach
allen Seiten hin Anregung gab und Anregung
empfing, iſt vorüber ... Und ... und gewöhn-
lich vermiſſe ich abſolut Nichts ... das
iſt das Entſetzlichſte. Nur manchmal, wie eben
[136] jetzt, werde ich mir dieſer hagebüchenen Leere und
Nüchternheit bewußt — und dann krampft's ſich in
mir zuſammen — ach! ... Varus! Varus! Gieb
mir meine Legionen wieder! ...“


Lydia ſah den ihr gegenüberſitzenden Adam ge-
ſpannt an. Sie hielt ſein Geſicht auch mit dem
Auge feſt, als Auguſt eintrat und den Wein brachte.
Frau Lange verſtand den Herrn Doctor im Grunde
wohl kaum. Aber mit dem feinen Inſtinkt des
Weibes fühlte ſie, daß ihr Gaſt da etwas aus ſeinem
Seelenleben preisgab, was für ihn ſchmerzliche Wahr-
heit und Gültigkeit beſaß.


„Nun ... nun, Herr Doctor .. in dieſem
Sinne — — ich wollte durchaus keine Beichte
herausfordern .. verzeihen Sie, wenn ich Ihnen
Gelegenheit zu einem Mißverſtändniß gab .. Bei
meinem Vetter übrigens .. neulich Abends ... er-
ſchienen Sie mir durchaus nicht ſo peſſimiſtiſch ...
haben Sie inzwiſchen — doch pardon! .. Und ...
und damals empfing ich auch den Eindruck von Ihnen,
daß man Sie durchaus nicht mit dem erſten beſten
Strohmann — bewundern Sie nur meine Scatkennt-
niſſe! — mir ſchien es alſo, als ob man Sie durch-
aus nicht für einen Strohmann des Lebens halten
dürfte .. Und darum meinte ich vorhin — —
ach! ... Wiſſen Sie übrigens, Herr Doctor, daß
ich Ihnen eigentlich .. eigentlich ein Wenig böſe
ſein ſollte? Sie —“


Lydia hatte ſich erhoben und füllte die Gläſer.
Dabei ſah ſie, am Tiſche diskret eingewinkelt nach
[137] vornüber gebeugt ſtehend, ihren Gaſt mit einem
reizenden Lächeln von der Seite an.


„Böſe? Sie erſchrecken mich, gnädige Frau!
Warum böſe, wenn ich fragen darf?“


„Verſtellen Sie ſich nur nicht! Sie wiſſen
ganz genau, was ich ... was ich ... meine —
oder ſollten Sie ... ſollten Sie? Das wäre doch
zu naiv! . Nicht wahr —?“


„Ich bin immer noch rathlos —“


„Vergeſſen wir den Wein nicht! .. Und nun
laſſen Sie Ihre Reſerve ein Wenig fahren, Herr
Doctor — ja? Sie geben ſich in der Unterhaltung
ſo ohne Pathos ... ſo — ich weiß gar nicht ..
ich liebe die Force, das Spontane ... das Unbe-
rechenbare ... und Sie ſcheinen doch ſonſt das
Zeug zu haben, ein eigenes Geſicht zu machen ..
einen eigenen Menſchen vorzuſtellen — heute ſind
Sie ſo conventionell — wie ich ſchon vorhin ſagte ...
ſo ... ſo ... nun! ... man erwartet gar Nichts
von Ihnen .. kurz: heute ſind Sie ganz ſchrecklich,
Herr Doktor! ... Was fehlt Ihnen nur —?“


„Mir? .. Nichts ... gar Nichts, gnädige Frau! ..
Im Gegentheil: ich fühle mich ſehr wohl ... ſehr
behaglich ...“


„Nun! dann wollen wir 'mal anſtoßen —
bitte!“


Die Gläſer trafen ſich, aber auch die Augen.
Schlumernde Flammen wurden da geweckt, brachen her-
aus und züngelten heftig in einander.


„Alſo ... Sie wiſſen noch nicht —?“


[138]

„Nein! Noch nicht, gnädige Frau —!“


Lydia wandte ſich ab. Sie neſtelte an ihrer
Uhrkette und ſah nach dem Schreibtiſche hinüber.


„Wie geht es eigentlich Fräulein Irmer, Herr
Doctor“? fragte ſie nach einer kleinen Pauſe leichthin,
ohne Adam anzuſehen.


Jetzt hatte der Herr Doctor allerdings verſtan-
den. In ſeinem Geſicht zuckte es. Und da wandte
ſich ihm Frau Lange auch wieder voll zu. Sie be-
merkte den ironiſchen Zug um Adams Mund und
Naſe, bemerkte die etwas zuſammengekniffenen Augen.
Ein ſehr verzweigter, im Ganzen aber doch mehr
angedeuteter, als erſchöpfend ausgeführter Gefühls-
complex: momentane Wuth .. Haß .. Zorn ... Neid
... drängte ſich ihr auf. Dieſer Menſch konnte
doch zu impertinent, zu moquant ſein. —


„Nun?“ fragte Frau Lange indignirt.


„Hedwig Irmer, gnädige Frau ...“ — Adam
ſetzte abſichtlich, mit einer kleinen, unſcheinbaren und
doch, wie er wußte, nicht wirkungsloſen Betonung
den Rufnamen voran — „Hedwig Irmer — ja!
... habe ich die Dame denn ſeitdem — — ſeit-
dem? — richtig! ich machte ihrem Vater neulich
einen Beſuch — und da —“


„Gefällt Ihnen Hedwig, Herr Doctor —?“
Frau Lange hatte ſich zurückgelehnt und ſtreckte die
Hand nach ihrem Weinglaſe aus. Die wundervolle
Plaſtik des Armes trat berückend hervor. Der
Aermel ſtraffte ſich zurück, und das volle, runde
Handgelenk ſchimmerte verführeriſch auf in ſeiner
[139] friſchen, gelbweißen Waizenfarbe. Nun hatte Lydia
das Glas zum Munde geführt und blinzelte Adam
über den Rand hin an.


„Warum ſollte mir Fräulein Irmer nicht ge-
fallen —?“ erwiderte Adam ſpöttiſch-nachläſſig. „Die
Dame hat entſchieden etwas ſehr Eigenthümliches.
Sie ſcheint auch intellektuell nicht unbedeutend zu
ſein. — Allerdings! ein Biſſel zu viel triſte,
dürre Abſtractions-Philoſophie hat ſie unter der
Anleitung ihres Herrn Vaters wohl doch ſchon ge-
ſchluckt. Unmittelbares .. Urſprüngliches geht ihr
vollkommen ab. Ich glaube, man muß ſich ... man
müßte ſich erſt durch einen dicken Wall von Vor-
urtheilen und Voreingenommenheiten hindurcharbeiten
— ganz abgeſehen von der ſeeliſchen Schwerfälligkeit,
die gar nicht zu brechen ſein wird —“


„Hm! ..“


Adam ſah Frau Lange an. Sie verſtanden ſich
wieder einmal.


„ ... Die gar nicht zu überwinden ſein wird ..
ſein würde — — wenn ... wenn alſo ein ſeeliſch einiger-
maßen intimer Verkehr ermöglicht werden ſollte. In-
tereſſant iſt die Dame aber zweifellos. Nun .. es
wird nachgerade Zeit, auf Urwüchſigkeit überhaupt
zu verzichten. Man hat ſie ja ſelbſt längſt .. längſt
eingebüßt — es iſt rabbiater Unſinn, ſie immer
wieder mit Pathos zu fordern und zu erwarten.
Wenn man bedenkt, wie beſcheiden man eigentlich ſchon
geworden iſt! Es iſt mitunter rein zum Todtlachen!
Das heißt: man wird .. man iſt unkritiſch geworden.
[140] Von welchen kargen, geradezu dämoniſch kargen Reizen
läßt man ſich nur immer wieder ködern und bewältigen!
Man ſtudirt und lieſt und ſchreibt und plaudert und ver-
kehrt mit Menſchen .. man beſucht Geſellſchaften, treibt
ſich in Localen herum ... wie geſagt: faſt ohne jede Kritik
mehr .. ohne ſich noch darüber klar zu werden, daß man
ſich mit dem Allen doch eigentlich furchtbar vor ſich
ſelber compromittirt! Gott ſei Dank, daß ich kein
ſogenannter „Dichter“ bin! Dieſen Leuten ſollen ja
alle Creaturen auf Gottes Erdboden .. ob ſie nun
vierbeinig oder zweibeinig oder x-beinig, wie der
liebe Hummer, herumlaufen, intereſſant ſein .. Das
ſchwatzt nämlich immer einer von dieſen Herren
„Dichtern“ dem ander'n vor: Du! Höre' mal! Du
mußt für Alles Sympathie haben! Du mußt hinter
Allem das „rein Menſchliche“ ſuchen, wie hinter dem
Spiegel das Queckſilber. Stöbere nur — du wirſt's
ſchon finden, lieber Freund! Als ob der ſogenannte
„Dichter“ nicht auch geiſtige Selektionstendenzen be-
ſäße! Nein! Es iſt oft zum Verzweifeln, wenn man
ſieht, was für Phraſen heutzutage colportirt werden auf
der Welt! — — Schätzen Sie ſich glücklich, gnädige
Frau, daß Sie von all' dem elenden Wirrwarr, von
der coloſſalen Begriffsverwirrung, die ſich allenthalben
breit macht, hier in Ihrem ſchönen buen retiro ſo
wenig, ſo blutwenig hören! ...“


„Aber Sie wollten ja von Fräulein Irmer ſprechen,
Herr Doctor ... Sie begannen doch wenigſtens in der
Tonart — und nun ſind Sie wieder einmal ...
wieder einmal bei mir angelangt — das iſt doch —“


[141]

„Wundern Sie ſich darüber, Lydia —?“ Das
hatte Adam halb abſichtlich, zweckbewußt, halb un-
abſichtlich, von ſeiner Stimmung, ſeiner momentan
auffahrenden Leidenſchaft hingeriſſen, mit leiſer,
vibrirender Stimme geſprochen.


Die Beiden ſahen ſich an. Und Adam verſuchte,
Frau Lange's linke Hand — Lydia ſaß rechts von
ihm auf dem Sopha — zu erhaſchen. Es gelang
ihm. Lydia hatte ſich abgewandt. Sie athmete
erregter. Einen Augenblick fühlte Adam die kleine,
warme, weiche Hand der ſchönen Fran zwiſchen
ſeinen bebenden Fingern. Ein heftiges Begehren
durchſchüttelte ihn. Er bezwang ſich. Und elegant
zog er Lydias Hand an ſeine Lippen. Frau Lange
ſeufzte leiſe auf und erhob ſich.


„Da haben Sie's, Herr Doctor: das Mädchen
läßt ſich nicht wieder blicken. Es iſt unerhört. Nun,
ihre längſte Zeit iſt ſie hier geweſen, die Dame.
Ich muß doch 'mal ſelber nachſchauen, wo ſie eigent-
lich ſteckt. Verzeihen Sie — ich bin ſogleich zurück —“


„Bitte ſehr, gnädige Frau ...“


Lydia verließ das Zimmer. Im nächſten Augen-
blick öffnete ſie noch einmal die Thür von außen
und rief ins Cabinet zurück: „Ich hatte ganz ver-
geſſen ... die Cigaretten ... wollen Sie ſich be-
dienen, Herr Doctor! — auf meinem Schreibtiſch
— rechts .. neben dem Couverts-Carton ...
ſteht die Schachtel ... fangen ... fangen Sie nur
Feuer —!“


Lydia lächelte berückend zu Adam hinüber.
[142] Nur ein kleiner Raum lag zwiſchen den beiden.
Die Beleuchtung war allerdings zu ſchwach, um
die Formen der ſchönen Frau ſcharf und deutlich
hervortreten zu laſſen. Und doch floß ein ver-
führeriſcher Athem von dieſer in der Thüröffnung
etwas nach vorn gebeugt ſtehenden Geſtalt zu
Adam hin.


„Sehr liebenswürdig, gnädige Frau ...“


Lydia verſchwand wieder. Der Herr Doctor
hatte ſich erhoben. Er fühlte ſich ſehr behaglich.
Er ſtand einen Augenblick mitten im Zimmer ſtill
und dehnte und reckte ſich. Ein kleiner Drang zum
Gähnen befiel ihn. Aber er unterdrückte ihn tapfer.
Das dünkte ihn denn doch zu undankbar. Mit
großer Genugthuung ſog er die Atmoſphäre des
elegant-gemüthlichen Cabinets ein. Dieſe von der
matten Beleuchtung mehr durchdunkelte als erhellte
Umgebung entſprach ſehr intim ſeinen Bedürfniſſen
und Neigungen, gebar ihm eine eigenthümlich reiz-
volle Stimmung. Und das Begehren ward in ihm
lebendig, dauernd unter ſolchen, in ſich geſicherten
Bedingungen zu leben. Und Lydia? Adam ſagte
ſich, daß er ihrer pikanten, vollen, reifen Frauen-
ſchönheit heute Abend zum Opfer gefallen war.
Starken Eindrücken war er ja ſo zugänglich ...
wenigſtens konnte er ſich für eine kurze Zeitſpanne
ganz von ihnen aufzehren laſſen. Nun! Er wollte
den Genuß der Stunde auskoſten. Wer weiß, was
ihm noch bevorſtand! Oder ſollte er ſelbſt verſuchen,
mit ſtarker Hand in die Speichen ſeines kleinen
[143] Privatſchickſalsrades zu fallen? Sollte er verſuchen,
mit ſchnellem, kühnem Griff das an ſich zu reißen,
was ihm da aus dem Dämmerungsſchooße einer,
wie es ſchien, nicht ungnädigen Zukunft blendend
entgegengaukelte? Adam war unſchlüſſig. Er konnte
auch nicht anders, als unſchlüſſig ſein. Noch zu
amorph, noch zu unklar und verſchwommen lag
Alles vor ihm. Und gerade die Ungewißheit war
es ja, die ihn reizte, die ihm eine pikante Be-
rechtigung gab, Alles zu erwarten, Alles zu erhoffen.
Nachher ... nachher, wenn er ſeinen Sieg oder
ſeine Niederlage erlebt hatte, war er ja wieder in
die kalte, ſchneidende Winterluft ſeiner radicaleu
Reſignation, ſeiner brutalen Gleichgültigkeit zurück-
geſtoßen. Doch auf die Dauer war ihm das Klima
dieſer Eiszone unerträglich. So hatte ſich mit der
Zeit bei Adam das Bedürfniß herausgebildet, ſich
allerlei Möglichkeiten zu verſchaffen, die ſeinen Hoff-
nungen, ſeinen Erwartungen einen möglichſt großen
Spielraum gewährten, ... die bei einer günſtigen
Combination zu Thatſachen werden konnten, welche
für ſein Leben entſcheidend waren ... entſcheidend
nach der zukunftſichernden, emporführenden, Alles
verſprechenden Seite hin. Vor der unmittelbaren
Prüfung jener Möglichkeiten ſchrak Adam zurück.
Er war nicht kleinlich, nicht feige. Aber nach dem
ſüßen Morphiumgift eines gewiſſen, nicht be-
ſonders merkwürdigen, aber auch nicht gerade all-
täglichen, im Uebrigen eigentlich ſehr unſchädlichen
Epicureismus hatte auch ſchon ſein Blut — und
[144] war das auffallend? — heißes Verlangen tragen
gelernt.


Adam trank ſein Glas leer und ging zu Lydias
Schreibtiſch hinüber. Er betrachtete einige Augen-
blicke ſinnend das kleine, feine, entſchieden diſtinguirte,
jetzt nur zu undeutlich beleuchtete Möbel. Nein! Das
war Alles viel zu zierlich, das war Alles viel zu
geſchmackvoll arrangirt, zu feingeiſtig zuſammen-
geordnet, um mehr, denn eine ſchöne Dekoration zu
ſein. Dieſe engen, flachen Schubkäſten waren nur
dazu beſtimmt, ſchmale, dünne, discret parfümirte
Briefchen, die wohl eine roth- oder blauſeidene
Schlinge einſchnürt, aufzunehmen. Dieſe kleine,
dünne, feuchtbraun glänzende Platte ertrug höchſtens
den reſervirten Druck eines zärtlich-vorſichtigen
Frauenarms, duldete wohl gerade nur die Gegen-
wart eines Briefblattes, auf welches eine ſchöne,
ringblitzende Damenhand allerlei Koſeworte, ein
ſchillerndes Wortgetändel, krauſe Gedankenarabesken
niedertropfen läßt ... oder die Gegenwart eines
graciöſen Goldſchnittbändchens, in dem man blättert,
um hier einen elegant geformten Satz, dort einen
geſchmeidigen Reim aufzupicken, oder eine perlende,
ſchillernde Strophe, die leiſe eine Saite der Er-
innerung anſchlägt ... eine Saite, die nun ver-
halten aufklingt ... und in zarten Schwingungen
Bilder um Bilder empordämmern läßt ...


An dieſem Tiſche muß eine ſchöne Frau wunderbar
träumen und ſinnen und plaudern können ... plaudern
mit den Geſtalten ihrer Träume, ihrer Phantaſie'n ...


[145]

Adam verſpürte wirklich Appetit auf eine gute
Cigarette. Er bemächtigte ſich der Schachtel, die
er leicht fand, und ging zum Sophatiſch zurück. In
demſelben Augenblick, wo er den braungelben, kraus-
geflockten Tabak über der Lampe anzündete, trat
Lydia wieder ins Zimmer.


„Mit Ihrer Erlaubniß, gnädige Frau, habe ich
alſo ſoeben ... ſoeben Feuer gefangen ...“


„Bravo, Herr Doctor!“ Lydia lächelte, aber
etwas gezwungen. Unmuth und Aerger lagen auf
ihrem Geſicht.


„Wie glücklich ſind doch dieſe Menſchen!“ ließ
Frau Lange jetzt verlauten — „Sitzen die beiden,
Auguſt und Emma, ſeelenvergnügt in der Küche
zuſammen und ſchwatzen ſich tauſend Dummheiten
vor ... Alles Andere wird ganz gemüthlich ver-
geſſen — die Leutchen ſcheinen rechtſchaffen verliebt
ineinander zu ſein ... Geſchmacklos — finden Sie
nicht auch, Herr Doctor? Dieſe dumme Plebejer-
liebe! ..“


„Geſchmacklos — warum, gnädige Frau? Warum
nennen Sie das Natürliche ‚geſchmacklos‘? Und Sie
finden doch auch, daß die Menſchen glücklich ſind!
Ja! Ich glaube es beinahe auch: glücklicher ſind
ſie, als Unſereiner ... Sie dürfen ſo viel un-
genirter, ſo viel zwangloſer, unmittelbarer, derber,
ehrlicher ſein! Allerdings ... für uns iſt unter
Umſtänden ja gerade das Unnatürliche .. glücklicher-
weiſe das Natürliche ... das Pikante, das Rei-
zende, Anreizende, Schaffende. Ich wenigſtens liebe
Conradi, Adam Menſch. 10
[146] offene Thüren nicht beſonders ... Es iſt ſo lang-
weilig, eins zwei drei ſein Ziel zu erreichen ...“


Lydia hatte ſich Adam gegenüber auf einen Fauteuil
niedergelaſſen und zündete ſich jetzt eine Cigarette an.


Es klopfte.


„Herein!“


Emma brachte zwei Flaſchen Wein und ſchickte
ſich an, das Geſchirr abzuräumen. Das Mädchen
ſah ſehr kleinmüthig aus. Adam erhielt einige
ſcheue, unbeholfene Blicke. Lydia ſchien ganz von
ihrer Cigarette engagirt zu ſein. Eine peinliche
Stille lag im Zimmer. Emma hantirte unſicher,
ihre Hände zitterten. Einige Male ließ ſie ſehr
unſanft das Geſchirr zuſammenklappern.


„Nun ſchmollt die Dame auch noch —“ begann
Frau Lange, als das Mädchen das Zimmer wieder
verlaſſen hatte.


„Wie haben Sie eigentlich das Rauchen gelernt,
gnädige Frau?“ fragte Adam in der Abſicht, dem
Geſpräche eine andere Wendung zu geben.


„Wie? Komiſche Frage, Doctor! So viel ich
mich erinnere, habe ich mich dieſem abſcheulichen
Laſter ſchon ſehr früh ergeben. Das heißt —: ge-
boren bin ich mit einer Cigarette im Munde gerade
nicht ... aber ſpäter ... einige Jahre darauf ..
in der ſchönen, ſchönen Backfiſchzeit — da rauch-
ten wir Selektanerinnen eben alle ... Ueber-
haupt, Doctor, Sie können ſich keinen Begriff
davon machen, wie ... geſcheit ſo eine „höhere
Tochter“ ſchon iſt! ... Sie weiß ... ſie weiß ſo
[147] Manches, das ... nun! das ... ich will nicht ſagen:
das ſie eigentlich noch nicht wiſſen ſollte — —
mein Gott! warum ſo heucheln, ſo prüde thun,
ſo vorurtheilsvoll ſein! ... aber ... ſie weiß
doch offengeſtanden ſo Manches, was man durchaus
nicht erwarten ſollte von einer ſolchen wohlerzogenen
jungen Dame ... Wir hatten damals einen kleinen,
intereſſanten „Amazonenclub“ geſtiftet — sous main!
lieber Doctor! ... aber bitte! — ſchenken Sie
meinem Wein ein klein Wenig mehr Ihre Gunſt —
er iſt doch nicht gerade ſchlecht — Proſit! ...“


Die beiden thaten einen tüchtigen Zug. Uner-
wartet war durch den offenen, burſchikoſen Ton, den
Lydia angeſchlagen, eine friſchere, intimere Bewegung
in die Unterhaltung gefloſſen.


„Alſo Ihr Amazonenclub, gnädige Frau —?“


„Nein! .. Von dem will ich doch lieber ſtille
ſein ... Wir haben tolle Geſchichten gemacht — weiß
Gott! — aber bedienen wir uns nur wieder einmal
des bekannten Schleiers der chriſtlichen Liebe —“


„Gnädige Frau! ..“ bat Adam ſehr eindringlich.
Das Thema intereſſirte ihn aufrichtig. Er hätte
zu gern noch einige harmloſe Einzelheiten aus
ſotanem Capitel erfahren.


„Ih! Wie werd' ich denn, Herr Doctor! Und
warum Ihre Neugier? Wir ſind allzumal Sünder!
Alſo ... ſpäter — ſpäter verheirathete ich mich.
Mein ſeliger Mann rauchte leidenſchaftlich. Er
konnte es nicht laſſen, obwohl es ihm ſeiner defekten
Lunge wegen der Arzt ſtreng unterſagt hatte. Mein
10*
[148] Mann ſah es gern, wenn Damen rauchten. Er
hatte eine große, freie, ſtarke Seele, die anders
fühlte, als der Troß der beſchränkten Krämer- und
Lakaienſeelen. Er ſah nichts Beleidigendes, nichts
Compromittirendes darin, wenn eine Dame ein
Wenig ſelbſtändig im Denken und Handeln war ..
ein wenig ‚emancipirt‘, wie man zu ſagen pflegt.
Schade, daß er ſo früh gehen mußte .. Nun kommt
er nie wieder zurück ....“


Lydia hatte die letzten Worte mit leiſer, ſtockender,
zitternder Stimme geſprochen. Sie war ſehr nach-
denklich geworden, beinahe weich, vielleicht ſo etwas
wie ſentimental. Auf ihrem Geſicht ſtand ein Aus-
druck ehrlicher Trauer, eines beinahe zärtlichen
Schmerzes. Adam ſtutzte. Nun wurde er doch
verwirrt. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte
ſich ſo ganz daran gewöhnt, Frau Lange als ...
nun! .. eben gleichſam als jungfräuliche Wittwe
zu betrachten .. losgelöſt von allen Beziehungen,
die ihm etwa peinlich, unbequem hätten ſein, die
ihm hemmend hätten werden können. Und jetzt
bewies dieſe ſchöne, verführeriſche Frau plötzlich die
innigſte Theilnahme für ihren verſtorbenen Gatten.
War ihre Trauer echt, ihr Schmerz wahr? Oder
coquettirte ſie nur? Wollte ſie ihn durch dieſen
ſchluchzenden Schmerz nur reizen? Oder hatte ſie
ihren Mann wirklich .. geliebt?


Adam ſog noch einmal an ſeiner Cigarette und
legte den mürben, runzligen Reſt dann weg.


Lydia fuhr auf. Sie ſtrich ſich mit den kleinen,
[149] ſchmalen Fingern der linken Hand über Stirn und
Augen, preßte die Hand einen Augenblick gegen die
Bruſt und griff nach ihrem Glaſe.


„Proſt, Doctor! Nun wollen wir wieder ver-
nünftig ſein! Was kann das ſchlechte Leben helfen!
Es iſt ſo dumm, ewig mit der Vergangenheit zu ...
zu ... nun .. Ihnen kann ich's ja ſagen — Sie
werden es wohl auch ſelbſt gemerkt haben —: ich habe
nur coquettirt! Wahrhaftig! ich habe nur coquettirt!
Verlaſſen ſie ſich d'rauf! Ich wollte Sie 'n Biſſel —
was? — Sie glauben mir nicht? Sie unſchulds-
voller Engel Sie! Jawohl! Glauben Sie's nur!
Ich bin eine ganz herzloſe Coquette! Ich bin ein ſehr
ſchlaues, liſtiges, berechnendes Weib! .. Nun thun
Sie mir aber den Gefallen — und ſehen Sie nicht
ſo — ich hätte beinahe geſagt: nicht ſo — dumm
aus! Pardon! So Etwas iſt Ihnen noch nicht vor-
gekommen? Ja! Ihr Männer! Ihr glaubt immer,
Ihr hättet die Originalität allein gepachtet! So'n
armes, dummes Weib kann auch 'mal ‚genial‘
ſein — warum denn nicht? Ihr ſeid durch die
Bank eben ſo eitel, wie wir! Es iſt ja alles ganz
gleich: der eine iſt 'n Trefle-Bube, der andere 'ne
Carreau-Sieben — zu Kartenkunſtſtücken müſſen
wir alle herhalten .. Laſſen wir die Todten ihre
Todten begraben! Da haben ſie wenigſtens Etwas
zu thun! O über dieſes tiefſinnige Leben! Leben!
Leben! Ich lebe! Ich will leben! Ich vergehe vor
Appetit auf das Leben! Mein lieber, guter Männe!
Nicht wahr — Du biſt Deinem kleinen Weibchen nicht
[150] böſe, wenn es ſich noch 'n Biſſel amuſiren will auf
dieſer ſchönen Welt? Nein! nicht wahr? — Du
ſchläfſt ruhig weiter und läßt Dich gar nicht ſtören?
Recht ſo, mein liebes Kerlchen! Wir haben uns
ja immer ſo gut vertragen! Doctor! Wollen wir
morgen früh beide nach Italien reiſen? Ich halte es
unter dieſen Philiſtern hier nicht mehr aus. Aber ..
mein Gott! Was ſehen Sie mich denn ſo erſchrocken
an? Ja, ja! mein Herr! So .. ſo aufgeräumt ..
ſo offen und burſchikos kann Fräulein Irmer nicht
ſein — wie? oder doch? Das gute, kleine Fräulein!
Nächſtens muß ich es doch wieder 'mal einladen!
Die Dame macht ſich nur immer ſo rar —
kommt eigentlich nie .. aber wenn Sie auch hier
ſind — —“


„Gnädige Frau! .. “


„Na ja, Doctor! .. Was — der Wein iſt gut?
Ja, ja! Mein Mann hatte eine feine Zunge. Mir
iſt ganz merkwürdig zu Muthe. Ich ſehe plötzlich
Alles ſo unheimlich ſcharf — das Bedeutende löſt
ſich kräftig heraus — ich komme ſo unheimlich nahe
an die Dinge heran .. weiß gar nicht ... gar
nicht — — — haben Sie, Doctor ... wollen
wir nicht in dieſer Stimmung — — — ganz
ſonderbar! — haben Sie Nichts — Nichts —
kein Gedicht oder ſo Etwas bei ſich? .. Irgend
einen Dithyrambus der Freude — ich bin ja jetzt
alles Kleine und Enge los — doch richtig! Sie ſind
ja kein Dichter! Vorleſen? Nein! Nein! Das iſt
zu abgeſchmackt! Muſik! Muſik! Sie ſpielen auch
[151] nicht? Sie Barbar! Jetzt Beethoven — oder noch
beſſer Wagner — das Vorſpiel zum dritten Akt vom
‚Siegfried‘ — die Welt iſt ja gewöhnlich ſo eng
und ſchwarz und ſchwer ... ſo karg und kümmerlich —
aber Doctor —!“


Auch über Adam war es plötzlich mit berau-
ſchender Gewalt gekommen. Die tolle, ekſtatiſche
Stimmung Lydias hatte ihn angeſteckt, entzündet,
hatte ihn mitfortgeriſſen, träge, unbeholfen zuerſt,
nachdem ſie ihn anfangs beinahe angewidert, zurück-
geſchreckt hatte, nachdem ſie ihn ſehr ironiſch und
ſpottluſtig geſtimmt — nachher aber unwiderſtehlich ...
Nun jagte er hin, und der Taumel war in ihm.
Der Wein ebnete den Weg, minderte die Reibung,
glättete die Geleiſe.


Da hatte ſich Adam von einem elementaren
Zwange packen laſſen müſſen. Es ſtieß ihn wie
mit einer übergewaltigen Fauſt von ſeinem Fauteuil
herunter und warf ihn vor die Füße Lydias. In
dieſem Augenblicke liebte er das Weib fanatiſch.
Sein Denken war ausgelöſcht, ſein ganzes Ich ein
einziges großes, dämoniſches Gefühl .. ein einziges
aufdampfendes Begehren. Adam hatte den Kopf
in Lydias Schooß gelegt und ſchluchzte, ſeine Arme
hingen ſchlaff herab.


„Aber Doctor —!“ hatte Lydia mit unnatürlich
leiſer, halberſtickter Stimme hervorgeſtoßen und mit
jähem Rucke aufſpringen wollen.


Adam richtete ſeinen Kopf empor ... langſam,
faſt feierlich, beſchwörend. In ſeinen verthränten
[152] Augen lag die heiße Bitte, ihn nicht hinwegzuſtoßen.
Lydia löſte jetzt ſanft ihren rechten Arm frei und
ſtrich leicht, lind, mit liebkoſenden Fingern über
Adams Haar. Der aber erbebte mächtig unter
dieſer weichen, zärtlichen Berührung.


Im Zimmer war es ſtill. Nur das Licht der
Lampe ſurrte leiſe .. und ungleich, heftig haſtete der
Athem der beiden Menſchen, die, ganz hingenommen,
ganz berauſcht von ihren verworrenen Gefühlen,
eine kleine Weile in eng zuſammengeſchmiegter Ge-
meinſchaft beieinander waren. Zu dieſer Zeit waren
beide gut, beſſer, denn ſie je geweſen. Alles, was
das Leben in ihnen verzerrt hatte, war ausgeglichen.
Fülle und Kraft lebte in ihnen, Hoffnung, Sehn-
ſucht, Erwartung und eine mächtige Geſpanntheit
aller Sinne und Gefühle.


Nun richtete Lydia das Geſicht Adams mit
discretem Nachdruck zu ſich empor.


„Steh auf, Adam! Wir waren einen Augenblick
zwei dumme, thörichte Kinder — jetzt wollen wir
wieder vernünftig ſein — ja? Komm! —“


„Lydia! ..“


„Na, was denn, Herr Doctor? Ich weiß gar
nicht — — laſſen Sie mich! Bitte — na? ...“
Die Worte waren mit zweideutiger Betonung ge-
ſprochen. Es ſchien Frau Lange halb und halb
mit ihrem Abwehren ernſt zu ſein .. und doch
war ihr vielleicht eine drängende, ſtürmiſche, beharr-
liche Zärtlichkeit Adams noch mehr willkommen.


„Lydia!“ bat Adam noch einmal, dringend,
[153]
inſtändig ... vielleicht beſaß ſeine Stimme auch
einen Stich ins Drohende. Und doch hatte der
Gefühlstumult in ſeiner Bruſt ſchon bedeutend an
Stärke und Energie eingebüßt. Die gemacht naiven, zu-
dem, wie es ihn dünkte, nicht ſpottloſen Worte der
ſchönen Frau hatten Adam etwas ernüchtert. Zugleich
aber war ihm, wenn auch kaum in ſcharfen Bewußt-
ſeinslinien, der kluge Gedanke gekommen, die Situation,
die ſich ja nun einmal in Scene geſetzt hatte, nach
Kräften auszunützen ... natürlich ſoweit er das
unbeſchadet ſeiner Mannesehre thun durfte.


„Stoß' mich nicht von Dir, Lydia! Ich gehöre
ja ganz Dir — nur Dir allein! Ich habe keinen
Vater und keine Mutter mehr und habe keine
Heimath mehr .. Lydia! Ich liebe Dich grenzen-
los —“


Unwillkürlich war Adam doch wieder wärmer,
ehrlicher, natürlicher geworden. Da lag er in einem
eleganten Cabinet zu den Füßen einer ſchönen
Frau .. und er durfte die Kleider dieſer ſchönen
Frau berühren .. ihre Hände, ihre Arme .. er
fühlte ihren wärmeren Athem, er fühlte ihre heftig
auf und nieder gehende Bruſt — ja! ja! er liebte
dieſes Weib .. er begehrte es .. er lechzte nach
ſeinen Küſſen — es riß ihn unaufhaltſam in die
Arme dieſer Frau — dieſer — dieſer — —


„Lydia!“ ſchrie er noch einmal auf — —


Frau Lange ſchien nachgeben zu wollen. Sie
lehnte ſich einen Augenblick wie gebändigt, wie
beſiegt, gegen die Rücklehne des Fauteuils —
[154] Adam ſprang auf — — nun ſchnellte auch Lydia
empor — — die beiden ſtanden ſich hart, eng
gegenüber.


„Herr Doctor —!“


Aber noch gab Adam die Partie nicht verloren.
Dieſe Frau trotzte ihm. Seine ganze, widerſpenſtige,
zu despotiſchem Imperium geneigte Natur brach
nun durch. Und doch ließ er ſich nicht völlig von
ſeinem Zorne, ſeiner Wuth hinreißen. Ein unklares
Gefühl ſagte ihm, daß eine gewiſſe ſentimental-
nachgiebige Zurückhaltung ſehr wirkſam ſein müßte.


„Glaubſt Du mir nicht, Lydia? — Habe ich
das verdient —?“


Frau Lange ſchwieg, ſie war einige Schritte
nach rechts, mehr nach dem Innern des Zimmers
zu, getreten.


„Sie ſind ein großer Phantaſt, Herr Doctor!“
nahm ſie nun das Wort. „Sie bilden ſich ein, daß
Sie mich .. mich .. ‚lieben‘, wie Sie ſagen — weiter
Nichts als Einbildung, mein Herr! Wir haben beide
unſer'n Stimmungen nachgegeben — wir haben uns
überrumpeln laſſen — wir haben einen Augenblick
geträumt — vielleicht auch .. ganz ſchön geträumt —
nun laſſen Sie uns aber wieder wach ſein — wir
wollen ein fettes Punctum hinter dieſe Scene machen —
und wir wollen ſie alle beide ſo ſchnell als möglich
vergeſſen —“


Adam wandte ſich ab. „Herzlos! .“ knurrte er
in ehrlicher Entrüſtung, im Zwange eines ernſten,
redlichen Schmerzes, durch die Zähne.


[155]

„Adam!“ fuhr Lydia auf. Der ſchnellte jählings
um. Sollte doch noch Hoffnung ſein? ... Sollte er
heute Abend doch noch zu einem ... hm! ... zu
jenem — Ziele kommen .. zu jenem unklaren
Ziele, das er zu erreichen erſehnte .. das ihn
lockte .. und vor dem er doch zurückſchrak? —
Leidenſchaft und Berechnung ſtritten in ſeiner Bruſt.
Aber er beherrſchte ſich. Er nahm eine nachläſſige,
ironiſche Haltung an. Die Hände lehnte er hinter
dem Rücken gegen die Tiſchplatte und kreuzte die
Beine.


„Gnädige Frau —?“


„Es iſt genug —“


Lydia ging zu ihrem Schreibtiſch hinüber. Dort
ſtand ſie, Adam abgekehrt, eine Weile ſtarr, bewe-
gungslos, wie in einen tiefen Strudel tumultuariſch
ringender Gedanken und Gefühle hinabgezogen.


„Sie erlauben mir noch eine Ihrer köſtlichen
Cigaretten, gnädige Frau —?“


Lydia wandte ſich langſam wieder um. Sie
war ſehr bleich. Von der Naſe zum Munde
herunter zog ſich eine ſcharfgeſchnittene Falte, wie
ein Signal bodenloſer Verachtung.


„Bitte ſehr, Herr Doctor!“ Die Stimme klang
müde und höhniſch zugleich.


„Sie ſehen, gnädige Frau .. das Feuerfangen
iſt gefährlich .. und .. und .. undankbar ..“ ſtichelte
Adam — „aber es wird Zeit, daß ich mich auf-
mache ..“ fuhr er fort und zog ſeine Uhr —
„Sie ſind müde von den .. den Anſtrengungen des
[156] Abends — und es geht ſtark auf Mitternacht ...
Geſtatten Sie darum, daß ich mich empfehle. Und
verzeihen Sie in Gnaden dem reumüthigen Sünder!
Ich danke Ihnen für die ſchönſte Stunde meines
Lebens, verehrte Frau — ſie wird mir unvergeßlich
bleiben. Ich habe nicht umſonſt gelebt, da ich
einmal — doch pardon! Und nun geben Sie mir
Ihre kleine, ſüße Hand zum Abſchied — ja? Ich
bitte —“


Lydia ſtand einen Augenblick unbeweglich. Dann
ſtreckte ſie Adam langſam ihre rechte Hand entgegen.
Der zog dieſe entzückende, nur jetzt etwas ſchweiß-
feuchte Hand galant an ſeine Lippen und küßte ſie.


„Und nun gute Nacht, liebe, gnädige Frau ..
doch .. ach ja! was wird .. was wird nun aus
unſerer modernen Bibel —? Soll ſie für immer —
ungeſchrieben bleiben .. oder ..?“


„Nun ... wir haben ja heute Abend .. wir haben
ja ein Capitel aus ihr — erlebt .. renken Sie's ein,
Herr Doctor, und ... und bringen Sie's mir gelegent-
lich .. ich bitte darum .. für die Zukunft dürfte
es ſich allerdings kaum empfehlen — — “


Lydia verſuchte ihre Worte in einem leichten,
harmlos-liebenswürdigen Tone vorzubringen. Aber
es wollte ihr nicht ſo recht gelingen. Ihre Stimme
klang unſicher, hart, etwas heiſer, verwalzt.


„— dürfte es ſich kaum empfehlen, daß wir wieder
ſo .. ſo plaſtiſch verfahren, wie es .. leider heute
der Fall geweſen,“ ergänzte Adam — „ſeien Sie
unbeſorgt, gnädige Frau! . Aber ... wenn Sie
[157] die Gelegenheit dazu ganz aus der Welt geſchafft wiſſen
wollen — ſo überlaſſen Sie doch bitte das Motiv
mir allein — ich werde mir wahrhaftig alle Mühe geben,
ein wahnſinnig ſchönes Buch zu Stande zu bringen —
und dieſes wahnſinnig ſchöne Buch, gnädige Frau —
nicht wahr? — ich darf es Ihnen nachher widmen —?“


„Sie tragen immer Siebenmeilenſtiefel, Herr
Doctor ... gewöhnlich geht doch Alles viel lang-
ſamer auf der Welt — warum denn nur immer
ſo ſtürmiſch —?“


Frau Lange hatte das „immer“ auffällig betont.
Adam ſtutzte.


Ah! Nun verſtand er! „Ja! ..“ erwiderte er
mit ſuffiſant-melancholiſchem Tonfall, „der Eine
klappert ſchwerfällig mit Pantoffeln durch's Leben ..
der Andere durchſauſt das reizende Daſein auf einem
Bicycle. Da hat nun ein Jeder ſo ſeine Art, ſo
ſeine kleine Methode ... Verzeihen Sie noch ein-
mal mein ... mein .. nun! mein Bedürfniß, zuweilen
ſehr offen .. ſehr wahr zu ſein, Lydia .. unprak-
tiſch offen .. unangenehm wahr. Aber vielleicht
haben Sie auch darin Recht: dieſes Bedürfniß
iſt wohl auch weiter nichts, als — Einbildung.
Und nun — gute Nacht —!“


„Gute Nacht —!“


Adam verließ ſchnell das Zimmer. Als er den
Corridor betrat, kam Auguſt, der ſchon gewartet zu
haben ſchien, langſam auf ihn zugeſtapft. Ein Zug
des Unwillens, des Verdruſſes, ſtand auf ſeinem
Geſicht. Mit Mühe unterdrückte er das Gähnen.
[158] Der Herr Doctor fühlte ſich von der plumpen
Geſchmackloſigkeit dieſer rüden Lakaienpflanze ſehr
peinlich berührt.


Der Diener geleitete ihn durch das Vorhaus
zur Thür. Adam fröſtelte es. Er ſchlug den Rock-
kragen in die Höhe.


„Gute Nacht, Herr Doctor!“


„Gute Nacht!“ Eine Sekunde vorher noch das
obligate Verdrücken eines Silberlings. Nun donnerte
dumpf krachend die ſchwere Thür hinter ihm zu. —


„Hallali! Jetzt ſeid Ihr wieder einmal aus
einem Paradieſe vertrieben, Monſieur!“ — ſprach zu
ſich ſelber der einſame Menſch, der da durch die
kühle, windige Frühlingsnacht hinſchritt. —



[[159]]

XI.


Und wie der einſame Menſch durch die kühle,
windige Frühlingsnacht weiterſchritt, fand er Zeit,
Gelegenheit und allmählich auch immermehr wachſende
Stimmung, noch Näheres wie Ferneres mit ſich und zu
ſich zu ſprechen. Zunächſt ging der Herr Doctor aller-
dings eine kleine Weile ſehr gedankenlos fürbaß. Er be-
ſchäftigte ſich, unter dem Drucke einer einförmigen Mü-
digkeit leidend, unwillkürlich mit allerhand ſehr äußer-
lichen Dingen. Er betrachtete ohne Theilnahme den
leicht überwölkten Himmel; ſein Auge nahm gleich-
gültig von den paar Sternen Notiz, die da und dort
ſchläfrig, mattblinzelnd auf die Erde herunterguckten;
der Menſchen, die ab und zu, bald ſchneller, bald
langſamer, an ihm vorüberſtapften, achtete er nur
mechaniſch, er ſann ihnen nichts nach, ſpann ihnen nichts
zu, vermuthete und verglich, verknüpfte nicht, wie es wohl
ſonſt ſeine Gewohnheit war; die unklare, verworrene
Welt der nächtigen Schatten, die ſich durch ſpär-
liches Gaslicht compromittiren laſſen mußten, reizte
ihn nicht — es war zunächſt eine große Leere,
Stumpfheit und Gleichgültigkeit in ihm. Dann
fiel ihm Dieſes und Jenes ein, was er vorhin ..
[160] was er vor einer .. vor zwei Stunden mit Lydia
erlebt hatte: einer Geſprächswendung erinnerte
er ſich ... einer Frage ihrerſeits, einer Antwort
ſeinerſeits — plötzlich ſah er ſich wieder zu den
Füßen der ſchönen Frau liegen — er ſpürte den
weichen Druck ihrer Hand, er ließ ſich noch einmal
von ihrer zarten Liebkoſung durchbeben — er
athmete das Parfüm ihrer Kleider ein — er ſah
wieder die erregt auf- und niedergehende Bruſt vor
ſich — — dann ſtand er Lydia noch einmal
gegenüber, nachläſſig-herausfordernd an den Tiſch
gelehnt — hm! der Schlußtrumpf mit ſeinen
kleinen, niedlichen Anhängſeln: der Bibeldedication,
dem eleganten Handkuß — er war wirklich nicht übel!
Aber was ſollte er nun mit der Dame ſeines
Herzens anfangen? Wie verhielten ſie ſich zu einander?
Hatte er noch Etwas zu erwarten — oder war Alles
vorbei — ſollte er das Spiel verloren geben?
Welches Spiel? Aber — beim Zeus! — war ihm
das Weib denn jetzt ſchon wieder gleichgültig?
War ſeine Liebe, ſeine Leidenſchaft wirklich weiter
nichts, denn ſchemenhafte Augenblicksphantaſie ...
überflüſſige Einbildung geweſen? Waren ſeine
Stimmungen in derbſter Thatſächlichkeit weiter
nichts — als eben die lösbarſten Stimmungen von
der Welt? Durfte er ſich gar nicht mehr auf ſich
verlaſſen? Haftete Nichts mehr in ihm? Hatte der
Impuls ſeiner Kräfte ſo bedeutend eingebüßt —
war er in jeder Hinſicht ſo entſcheidend herabge-
drückt worden? Und Adam dachte eine Sekunde
[161] daran, ſich einmal den Proceß zu zergliedern,
unter dem die Menſchen ... andere Menſchen, ein-
fachere Individuen, die Durchſchnittsmaſſe .. zu
handeln pflegen. Der Motiv entfiel ihm wieder,
entwiſchte ihm. Es war wohl auch zu complicirt und
bedurfte einer ruhigen, objectiven, kritiſchen Secir-
ſtimmung, welche Adam jetzt kaum vorräthig bei
ſich fand. Das Bewußtſein ſeiner Unzuverläſſigkeit
in erotiſchen Angelegenheiten zerrte doch gewaltig
an ihm. Es machte ihn zuerſt unruhig, es empörte
ihn gegen ſich, dann legte es ſich als ein ſchwerer,
maſſiver Druck, lähmend und zuſammenſchnürend, auf
ihn. Adam athmete einige Male heftiger, er ſchüttelte
an ſich herum — er wollte um jeden Preis das
Blei dieſer troſtloſen Starrheit aus ſeiner Seele
los ſein. Andere Gedanken kamen nun. Ja! Ja!
Und nochmals Ja! —: er mußte ſich andere, neue
Verhältniſſe ſchaffen, unter denen er in Zukunft
leben durfte. Ah! da erwartete er alſo doch noch
eine Erneuerung ſeiner „Perſönlichkeit“ — er hielt
ſie für möglich — er rechnete ſogar ſchon mit ihr —?
Oder that er das Letztere etwa nicht? Gewiß that
er's! Er hatte noch längſt nicht à la Doctor Irmer
auf das Leben „verzichtet“. Nein, keine Spur
davon! Er wollte leben: reich, unabhängig .. in
einer Lage leben, wo er nicht jeden Groſchen
dreimal umdrehen und beſehen mußte, ehe er ihn
ausgab — was er allerdings ſonſt auch nie that,
was er aber eigentlich den ökonomiſchen Privatgeſetzen,
unter denen er jetzt exiſtierte, ſchuldig geweſen wäre —
Conradi, Adam Menſch. 11
[162] in einer Lage, wo er ſeinen Neigungen, ſeinen
Paſſionen, ſeinen Stimmungen zwanglos nachgeben
durfte ... Eine reiche Heirath —: es war ſchließlich
das Einzige, was ihn aus dem Dreck der Enge,
in welcher er ſtak, herausretten konnte. Und .. und
lag es nun nicht blos noch an ihm, in den
Hafen ſeiner ſehr praktiſchen Wünſche einzulaufen?
Lydia ſchien doch ein tieferes Intereſſe für ihn zu
haben — das war aus ihrem ganzen Benehmen
heute Abend zu erkennen geweſen. Wirkten auch
eine Portion Coquetterie .. und ein gut Theil
jener ſuffiſant-gutmüthigen Launenhaftigkeit, die ſich
eine junge, ſchöne, reiche, unabhängige Frau immer
geſtattet, mit — vielleicht ließ ſich die Geſchichte ...
hm! ... die Geſchichte ... ließ ſich dieſes dumme
Intereſſe'-Gefühl doch vertiefen — vielleicht vertiefte es
ſich durch einen ſtarken Appell, den es erführe, unwill-
kürlich! Adam ſagte ſich, daß es vom praktiſchen
Standpunkte aus wahrhaftig unverzeihlich thöricht
wäre, die Fäden wieder aus der Hand zu geben ...
vom dürren Sande des Lebens wieder verſchleppen
zu laſſen. Das war ja Unſinn, wenn er ſich einbildete,
Lydia zu lieben. Oh! Er würde gewiß noch im
Stande ſein: angeregte, reizvolle, intime, vielleicht
auch leidenſchaftliche, den ganzen Menſchen er-
füllende und aufwühlende, wahnſinnig ſchöne
Stunden mit ihr zu erleben .. ein Sclave
ihrer Reize, ein dämoniſch Begehrender — ein —
ein — ein — nun was denn —? pah! nur
eine einzige, große, dürſtende Sinnlichkeit — hm! ..
[163]
wenn ... wenn er eben in der entſprechenden
Stimmung war ... wenn ihn eine übermächtige
Kraft in den Strudel, in die Kreißende Gefühlsfülle
hineingeworfen ... Gewiß! Er war noch fähig, ſich
das gefallen zu laſſen. Aber dauernd mit einem
Weibe zuſammenzuleben? Da lag der Haſe im
Pfeffer. Nein! das konnte er von ſeiner Natur
nicht verlangen. Warum ſollte er treu ſein wollen,
wo er wußte, daß er nicht treu ſein konnte?
Seine Natur war ſchon viel zu differenzirt, ſchon
viel zu ſehr auf die verworrene, verwirrende Maſſe
der Lebensreize geſtimmt. Er hatte es ſchon ſeit
Jahren nicht mehr der Mühe für werth gehalten,
kleinen Verſuchungen gegenüber unzugänglich zu ſein.
In große Verſuchungen war er leider im Grunde noch
gar nicht geführt worden. Aber hat man überhaupt
ein Recht, zwiſchen ‚kleinen‘ und ‚großen‘ Verſuchungen
zu unterſcheiden? Adam ſagte ſich, daß ſein Ver-
hältniß zu der Ehe .. ſeine perſönliche Auffaſſung
der Ehe im landläufigen Sinne, im Mund- und
Buchſtabenſinne, eine bodenlos „unmoraliſche“ ſei.
Aber was that das? Er wollte — hm! nun ja! —
er wollte alſo ‚Privatdocent‘ werden — irgendwo .. in
Van Diemensland, Tokio oder Angra Pequena, das war
egal .. Dazu bedurfte er reicher Mittel. Broſchüren
weiterſchmieren .. Leitartikel für conſervative Zeitungen
zuſammenlügen, das hatte nicht viel Werth. Das
brachte nicht viel ein — und konnte ihn zudem
noch in Verhältniſſe ſtoßen, die Opfer von ihm
forderten .. Opfer, die er bei ſeiner ziemlich an-
11*
[164] ſpruchsvollen Natur kaum auf ſich nehmen konnte.
Den ‚Märtyrer‘ ſpielen — nein! Vielleicht hatte er
es einmal vermocht. Vor Jahren, vor vielen Jahren
— heute vermochte er es ſicher nicht mehr. Und
ſich ſonſt zum Träger einer ‚Rolle‘ aufwerfen —?
Es hatte nicht viel Zweck. Mag es den Friſeuren
überlaſſen bleiben, auf vorüberflatternde lange Haare
lüſtern zu ſein. In ſich ſein — bei ſich ſein, in
ſich hineinleben, aus ſich herausleben — darauf kam
es an. Ein paar kleine Zugeſtändniſſe mußten ge-
macht werden. Darauf kam es ja aber auch
nicht an. Doch ... ſich ausleben ... in der Fülle
und Kraft, wie er es ſich einmal erträumt, vor
Jahren für ſpätere Zeiten der Freiheit erträumt
hatte — davon konnte wohl kaum mehr die Rede
ſein. Er fühlte oft eine ſo furchtbare Leere in der
Bruſt .. wie Einer, der an heftigem Schleimhuſten
leidet, meint, ſeine Bruſt ſei leer, ganz leer, ganz
hohl. Und doch! Er mußte ſich dieſes Weib zu
eigen machen, tauſend Gründe zwangen ihn dazu.
Er liebte eigentlich die Menſchen .. aber mit ge-
wiſſen Vertretern ſotaner ‚Menſchheit‘ kam er zeit-
weilig ſehr ungern in Berührung. Und dann um
Gotteswillen keine Enge, keine Beſchränkung, keine
Noth! Die Noth ſtimmt Alles ſo herab .. ent-
nervt ... entſeelt Alles .. höhlt aus .. zerfrißt ..
Nur nicht mechaniſch vegetiren, wo man das natür-
liche
Recht beſitzt, organiſch zu leben. Was hätte
er davon, fragte ſich Adam, daß er mußte, wie
Peter ſeine Wurſt ißt und Paul ſeinen Furz läßt?
[165] Totalement Nix! Das iſt ja Alles ſo gleichgültig.
Aber das Volk — hm! das Volk — das ‚Volk‘! ..
Man könnte mit ſeiner Hülfe unter Umſtänden
eine vorzügliche Carrière machen! Socialdemokra-
tiſcher Reichstagsabgeordneter! Donnerwetter! das
wäre 'was? Nicht? Hm! Nur die Glacéhandſchuhe
müßte man ſich abgewöhnen .. und .. und ſich
nicht mehr darüber wundern, daß es die Menſchen
für eminent überflüſſig halten, ihren geliebten Mit-
menſchen eine Lüge nachzurechnen und demonſtrativ
vorzuwerfen! .. Doch .. die Zukunftsidee des
Proletariats — ſie wird und wächſt — und
ſie ſiegt auch zweifellos einmal — aber ich —
declamirte ſich Adam mit ſonorem Pathos vor — ich
ruhe mich doch von den Strapazen, Dummheiten und
Narrenspoſſen des Lebens wahrhaftig viel lieber à la
Hamlet zwiſchen den Beinen eines Weibes aus, als
innerhalb der vier Wände einer monſtröſen Gefäng-
nißzelle ... Und ſo kommt man denn allmählich da-
hinter, daß man zu Allem und noch Verſchiedenem
außerdem verflucht untauglich iſt! ..


Aber — hielt ſich Adam plötzlich ſelber auf —
wie oft ſchon habe ich dieſes dumme, triſte, oberfaule
Zeug durchgewürgt! Es iſt ja leider Alles ſo
ſcandalös richtig, doch ſollte man ſich das Blech
nicht zu oft vorkauen. Laſſen wir wieder einmal
die Zukunft eben — Zukunft und die Gegenwart
eben — Gegenwart ſein! Das Andere ‚findet ſich‘
ſchon von ‚janz alleene‘ .. Trinken wir lieber
noch 'n Glas Abſynth! Den erſten Schluck auf
[166] Lydias Wohl! Es lebe der Leichtſinn und ſeine
ehrenwerthe Amme —: die Allerweltsgleichgültig-
keit! ..


Adam ſah nach der Uhr. Es war kurz nach
Eins. So hatte er ſich doch faſt eine Stunde in
der Stadt herumgetrieben. Und was hatte er von
der endloſen Converſation mit ſeinem höchſteigenen
Ich profitirt? Er hatte ſich eine Reihe tödtlich lang-
weiliger Thatſachen vorerzählt und war ſchließlich
zu keinem Reſultate gekommen. Nun! das war
ihm ſchon öfter paſſirt. Darüber brauchte er ſich
nicht mehr zu ärgern. Schließlich würde er ja
ſchon handeln, wir er mußte — wie er gezwungen
ſein würde. Und das ließ ſich abwarten .. bequem
abwarten.


Adam orientirte ſich. Er bemerkte, daß er aus
der ſtillen, vornehmen Gegend, in der Frau Lange
wohnte, unwillkürlich in die Mitte der Stadt ſeinen
Weg genommen. Da konnte es ja bis zum Wiener
Café nicht mehr weit ſein. Nach einigen Minuten
hatte Adam ſein Ziel erreicht. Er trat ein. Es
war ſehr ſchwül, dunſtig in dem großen, hellerleuch-
teten, vollbeſetzten Raume. Die Gerüche von Kuchen,
Kaffee, Cigaretten, Billardkreide, Menſchenſchweiß
ſchwammen in der dicken, ſchweren, von ſchwarzblauen
Rauchſchwaden und Dunſtpolſtern durchlagerten Luft.
Dazu ein wirres, geſetzloſes, unregelmäßiges Geſumme
und Gebrauſe von Menſchenſtimmen .. die Muſik an-
einandergeſchlagener Taſſen ... das ſchrille Klappern
der Löffel .. das kalkige Rollen der Billardbälle ...
[167] Adam ſuchte nach einem unbeſetzten Tiſche. Er
ſuchte vergebens. Da kam der Zahlkellner auf ihn
zugelaufen, nahm ihm Hut und Ueberzieher ab und
machte ihn in ſeiner ſouverän-zudringlichen, gleich-
gültig-intereſſirten Art auf einige leere Stühle
aufmerkſam. Schließlich ließ ſich Adam an einem
kleinen, runden, ſo ziemlich in der Mitte des Cafés
ſtehenden Tiſche nieder, an dem ſchon ein Herr und
eine Dame ſaßen. Die Dame hatte Adam nun links
neben ſich, den Herrn ſich gegenüber. Er betrachtete
ſeine Nachbarn.


Aber jetzt tauchte vorerſt ein Kellner auf.


„Was darf ich bringen? ..“


„Einen Abſynth und 'n paar Cigaretten —“


So gut wie Deine Sorte, geliebte Lydia, mo-
nologiſirte Adam leiſe, werden ſie wohl nicht ſein ...
aber Feuer zu fangen ... hm! .. dazu wird man
ſie wohl auch noch bewegen können —


Das kleine Weib hat ein verdammt hübſches
Profil, conſtatirte der Herr Doctor jetzt mit großer
Befriedigung. Und Er dagegen! Stutzerhaft elegant,
ſehr patent, ſehr raſirt und tadellos friſirt. Aber
wie dumm, wie ausgefahren war dieſes Geſicht!
Der liebe Gott mußte ſchlechterdings gerade am
Aſthma gelitten haben, als er dieſem Menſchen da
ſeinen Odem in die Naſe blies. Aber was ſo'n
Fatzke für Glück hat! Das Mädel war wirklich ſehr
appetitlich. Die zollſchmale, im Gaslicht discret
mattroth aufſchimmernde, entzückend abgerundete
Fleiſchſpanne am rechten Unterarm zwiſchen dem
[168] Aermel und dem bräunlich gelben Glacéhandſchuh —
Donnerwetter! war ſie nicht zum Küſſen —? Das
ſchwarze, wellige Haar, am Hinterkopfe zu einem
vollen, ſchweren Knoten zuſammengeflochten, unter
dem Hute noch deutlich ſichtbar, mit ſelbſtändiger
Plaſtik hingeſtellt, ergänzte prachtvoll die ſcharfen
und doch feinen Züge des Profils.


Die beiden ſchienen ſich nicht viel zu ſagen zu
haben. Das kleine Weib ſog öfter durch die zarten,
ſauberen Strohröhrchen an ſeinem Eiskaffee und
ſchaute ſich ſonſt fleißig im Saale um. Adam be-
merkte, wie der Dame von einigen Herren, die
hinten in der einen Ecke des Zimmers ſaßen, zu-
genickt wurde. Die Cumpane grinſten geärgert-
amüſirt. Nun ja doch! Was wunderte er ſich denn?
Immer wieder das alte Erſtaunen und der alte
Unmuth .. das alte Bedauern? Nun erhielt auch
Adam einmal das volle Geſicht ſeiner Nachbarin und
einen kurzen, ſcharfen Blick dazu. Jetzt wurde er
von dem Herrn, dem Ritter und Liebhaber der
reizenden Donna, nachdrücklich fixirt. Der Her Doctor
ließ ſich nicht aus der „Contenance“ bringen. Er
bereitete ſich ſehr ruhig ſeinen Abſynth, der unter-
weilen vor ihm hingeſchoben war, that einen vollen
Zug und brannte ſich nachläſſig-herausfordernd eine
Cigarette an. Die erſte Ladung Rauch blies er
ſeinem Gegenüber etwas unhöflich in's Geſicht. Der
huſtete ein Wenig, wurde etwas roth, ließ es auch
an einem ziemlich wüthigen Blicke nicht fehlen,
begnügte ſich ſodann aber ſehr praktiſch damit, nach
[169] ſeinem Bierglaſe zu greifen und ebenfalls einen
derben Schluck zu thun, welcher Aktus ſich faſt ſo
ausnahm, als käme der fremde, zurückhaltende Herr
Adam ein vorgekommenes ‚Stück‘ pflichtſchuldigſt nach.
Adam mußte lächeln. ‚Ich werde dir ſchon in
anderer Weiſe ein ‚Stück‘ vor- oder nachkommen,
mein Lieber — warte nur noch ein Weilchen —
bald iſt meine Kammer voll Sonne! .. Wahrhaftig!
ich möchte dem göttlichen Paul Heyſe eigentlich eine
Bierkarte ſchreiben!‘ Adam mußte ſich ja doch
vorläufig noch mit ſeiner eigenen Wenigkeit unter-
halten.


Und wie er ſo behaglich daſaß, jetzt einen Schluck
Abſynth zu ſich nahm, jetzt an ſeiner Cigarette zog,
an ſeiner reizenden Nachbarin in aller Ehrbarkeit
herumſchnüffelte und ihren Liebhaber mit mitleidig-
impertinenten Blicken ſpickte, fiel es ihm plötzlich
ein, daß ihm vorhin bei ſeinem Selbſtgeſpräche zu
mitternächtigſter Stunde Hedwig gar nicht in den
Sinn gekommen war. Das frappirte ihn und doch
wunderte es ihn eigentlich nicht. Was war ihm
Hedwig, wenn er vor Lydia auf den Knieen lag?
Und was war ihm Lydia, wenn er Hoffnung hatte,
mit ſeiner ſchönen Nachbarin hier eine ſüße, köſt-
liche Nacht .. eine Nacht berauſchenden Minneſpiels,
genießen zu dürfen? Und was würde ihm dieſes
Weib ſein, wenn er morgen ein anderes fände, das
ihm noch größere, feinere, heftiger lockende Reize
entgegenbrächte —? Er ſuchte ja längſt nicht mehr
im Weibe ein Weib .. ein beſonderes, individuelles,
[170] ihm congeniales Weib — er ſuchte nur noch das
Weib, welches ſich von jenem einem Weibe gerade
ſoviel geborgt hatte, daß es ihm für eine mehr oder
weniger große Spanne Zeit genügen konnte. Und
doch .. jenes eine Weib — waren die Tage
ſchon vorüber, da er geträumt hatte, daß er es
finden würde? Waren ſie wirklich ſchon vorüber
oder .. oder träumte er jetzt noch zuweilen denſelben
dummen, einfältigen Traum? Das wäre doch zu
geſchmacklos. Die Jugend mit dem geſchmeidigen
Gehirn im Schädel und dem friſchen, unausgefahrenen
Pumpwerk des Herzens — ja! die beſitzt wohl das
Recht und die Kraft, zu abſtrahiren .. Idealſchemen
zuſammenzukneten: fehlt ihr doch noch die ganze
maſſive Fülle des Lebens, der Erfahrung an den
Objekten. — Aber wie im ſpätgewordenen Menſchen
noch ſo Mancherlei rudimentär bleibt .. liebliche
Erinnerungen aus den Kindheitstagen animaliſchen
Erdenlebens — ſo nimmt der ältergewordene Ein-
zelmenſch nicht minder ... ganz unwillkürlich ...
noch dieſes und jenes Moment aus ſeiner Kindheit
in die ſpäteren Tage mit hinüber: ein ‚Ideal‘,
eine harmloſe Abſtraktion ... einen Traum, der ein-
mal ſo friſch und ſo voll und ſo ſaftig geweſen ..
und der ſich nun — o! alle Farben und Formen des
Lebens allmählich hat abſtehlen laſſen müſſen ...


Adam beugte ſich vor und legte den Reſt ſeiner
Cigarette auf den Aſchenteller. Der Herr ihm
gegenüber erhob ſich jetzt plötzlich mit einem halb-
laut zu ſeiner Dame geknurrten „Verzeih!“ und
[171] ging nachläſſig-langſamen Schrittes hinaus. Adam
mußte die Situation benutzen.


„Sie haben einen ganz vorzüglichen Geſchmack,
mein gnädiges Fräulein —“ begann er mit unwill-
kürlich ein Wenig ſtockender, undeutlich verſchleierter
Stimme.


Die Dame ſchien Adams Anrede vollſtändig
überhört zu haben. Sie klopfte mit dem Löffel
ſehr energiſch an ihr Kaffeeglas und beſtellte bei
dem Kellner, der herangeſtürzt kam, noch einen
Eiskaffee. „Mein Kind! Ich bitte Dich! Thu' doch
nicht ſo! Du haſt Dich eben 'mal verſehen! .. Dieſer
Fatzke! Dieſes anlackirte Rhinoceros — — kannſt
Du Dich denn nicht losmachen? Komm! Es iſt viel
geſcheiter, wenn wir beide heute zuſammenſchlafen —“
Adam hatte ſchon etwas lauter und zudringlicher
geſprochen. Die Apathie der Dame ärgerte ihn.
Aber das kleine Weib rührte und regte ſich nicht.
Es ſaß ſehr ſteif, ſehr abgewandt, ſehr unnahbar da.


Jetzt kam das Getränk. „Noch ein Eiskaffee!“
Die ſchöne Sünderin beugte ſich graziös über die
beiden zarten, ſauberen Strohröhrchen und zog ſie
zwiſchen die ſchmalen, dünnen, blaßrothen Lippenlinien.
Gerade dabei erhielt Adam einen kurzen, äußerſt
liebenswürdigen und aufmunternden Seitenblick.


Der Herr Doctor hatte die Belagerung ſchon
abbrechen wollen. Aber ſeine Sache ſchien doch gar
nicht ſo ungünſtig zu ſtehen. Wenn nur der Menſch
... der unbequeme Burſche noch ein paar Sekun-
den bleiben wollte, wo er war.


[172]

„Ihr Weiber ſcheint doch manchmal recht dumme
Kerls zu ſein! Auf den Erſten Beſten fallt Ihr
'rein! ... Alſo! ... Du gehſt mit mir — nicht
wahr —?“


„Wie ſoll ich ihn denn los werden —? Heute
muß ich ſchon ... morgen — wir können uns ja
irgendwo treffen —“


„Ach was morgen! Heute! Es iſt übrigens
ſchon längſt ‚heute‘, mein Kind — und wir thun
ſehr gut, wenn wir dieſes ominöſe ‚heute‘ recht
früh anfangen ... mir wäre es recht, wenn wir
es auch — —“


Adam hielt plötzlich inne. Er hatte zufällig nach
dem nächſten Billard hinübergeſehen und bemerkt, daß
dort der Ritter der Dame ſtand, anſcheinend dem
Spiele zuſah, in Wahrheit aber ſeine Auserwählte
und ihren neuen Galan ſcharf beobachtete.


„Der Würfel iſt gefallen, Kind — Dein Herr
und König hat ſchon Lunte gerochen — die Sache
wird ſich ſofort entſcheiden —“


„Um Gottes Willen —!“


Jetzt kam der gute Mann affektirt-nachläſſig, die
Hände in den Hoſentaſchen, im Geſicht einen Aus-
druck furchtſamer Verbiſſenheit, nach ſeinem Stuhle
zurückgeſchlendert. Er ſetzte ſich langſam, nachdrück-
lich nieder, griff nach ſeinem Glaſe und würdigte
die Dame ſeines Herzens keines Blickes.


Adam aber hub an, alſo zu ihm zu ſprechen:
„Geſtatten Sie, mein Herr, daß ich mich vorſtelle!
Mein Name iſt Doctor Menſch. Ich ſehe, daß Sie
[173]
geradeſo ein Anhänger der ſogenannten „freien
Liebe“ ſind — wie ich. Das heißt: wohl ebenfalls
nur in der .. Praxis — denn theoretiſch werden
Sie aus gewichtigen, ſocialen Gründen die ‚freie
Liebe‘ ebenſo ſehr verwerfen — wie ich es thue. Nun
iſt aber einer der Hauptparagraphen dieſer prak-
tiſch angewandten ‚freien Liebe‘, daß das Weib den
Mann verlaſſen darf, ſobald es ſeiner überdrüſſig ge-
worden iſt. Nun iſt aber die hier momentan zwiſchen
uns ſitzende junge Dame Ihrer ſo ziemlich überdrüſſig
geworden, wie ſie mir ſoeben geſtanden hat, und
hätte Luſt, mir ihre Gunſt zuzuwenden. Ergo
werden Sie nur conſequent ſein, mein Herr, wenn
Sie die Dame ſofort freigeben und — mir über-
laſſen. — Nicht wahr? — Sie begreifen —? “


Auf dieſen feierlichen Appell ſchien der Herr aller-
dings nicht beſonders vorbereitet geweſen zu ſein. Er
machte ein mehr verblüfftes, denn verwundertes Geſicht
und fuhr mit den Augen rathlos zwiſchen Adam und
ſeinem ungetreuen kleinen Weibe hin und her. Endlich
knirſchte er ein gepreßtes „Mein Herr —!“ heraus,
dem gleich darauf ein ebenſo heiſeres „Emmy —!“ folgte.


Die Dame ließ ihre beiden Kämpen ſich balgen.
Sie ſaß wieder ſehr ſteif, ſehr reſervirt, ſehr unnah-
bar da. An den Nachbartiſchen war es auffallend
ruhiger geworden.


„Unverſchämte Frechheit —!“


„Aber ... mein Gott! Wünſchen Sie denn
noch etwas?“ wandte ſich Adam mit gemachtem
Erſtaunen an ſein Gegenüber. „Die Sache muß
[174] Ihnen doch klar ſein. Uebrigens ... wenn ſie wirklich
noch Wünſche haben ſollten — hier iſt meine Karte —“


Adam warf eine Viſitenkarte auf den Tiſch, die
ſein Gegner ſehr ſchnell zu ſich ſteckte und dafür die
ſeine hinſchleuderte.


„Ah ... mein Herr ... nun! ... wie ich ſehe,
ſind Sie ... mein Gott! Sie ſind ja wirklich
Kaufmann ... Vertreter der Firma ... Firma Dietz
\& Sperling .. Seidenmanufactur ... Freiberg ...
hm! ... Alle Hochachtung — doch ... nun —
das wird ſich ja finden — alſo ... vorläufig —
ich wäre für Sie ausnahmsweiſe zu Hauſe ... doch
— pardon! — noch eine Frage — ſind Sie ...
vielleicht ſind ſie Reſerve-Officier? Es könnte ja
doch ſein, obwohl auf ihrer Karte —“


„Nein!“


„Ich danke!“


„Kellner! Zahlen!“


„Sehr wohl!“


„Ein Bier ...“


„Fünfundzwanzig Pfennige — und zwei Eis-
kaffees —“


„Die bezahle ich natürlich!“ erklärte Adam mit
vorſpringendem Pathos.


„Ah! Sehr wohl! Danke ſehr!“ begriff der Kellner.


„Alſo — wir ſprechen uns noch —“


„Wird mir natürlich eine Ehre ſein —“


Der geſchlagene Held — „ein patenter Jammer-
kerl!“ urtheilte ihm Adam halblaut nach — verließ
die Wahlſtatt.


[175]

„Siehſt Du, Kind — nun ſind wir auf einmal
entre nous! .. Die Geſchichte war doch ſehr ſchnell
arrangirt — nicht? Uebrigens — jetzt fehlte nur
noch, daß ein Dritter anſpaziert käme und Dich
wiederum mir abſpenſtig machte! Das heißt: ſo
leicht ſollte es ihm nicht werden — beileibe nicht! ..
Aber ... laß uns bald aufbrechen — ja? Wir
ſind den Göttern eine Hekatombe ſchuldig ... Ich
habe Sehnſucht nach .. Dir, Kind! Mache! ..
Komm! .. Trink Deinen Kaffee aus, bitte! — wir
gehen zu mir — da wird's gut ſein .. und da wer-
den wir Hütten bauen ...“


Eine kleine Friſt darauf verließ Adam mit ſeiner
köſtlichen Kriegsbeute das Lokal. Die beiden ſchritten
Arm in Arm, eng aneinandergeſchmiegt, durch die
ſtillen Straßen dahin und plauderten miteinander
und neckten ſich und koſten, als ſtellten ſie vor ein
bräutlich liebend Paar. Und der Nachtwind ſtrich
um ſie herum und zauſte zaghaft an ihnen und blies
ſie ſanft an und lauſchte auf die Ouvertüre der
Liebesnacht, welche zwei Menſchenkinder feiern wollten,
die ſich vorher noch nie begegnet waren .. die der
Gott der Stunde heute zuſammengethan .. Es
war zwiſchen zwei und drei Uhr. Der Himmel
ließ ſoeben ſein ſtarres, gebundenes Schwarz in die
erſte hellere, mehr dunkelblaue Farbenwellung hinüber-
ſchlüpfen. Der Schlummer des Lichts begann un-
merklich leiſer und leiſer zu werden. Bald mußte
es aufwachen und den ganzen Horizont überflammen.


Adam aber vergaß in den weißen Armen ſeiner
[176] Emmy Frau Lydia Lange, vergaß die Betheuerungen
und Schwüre, die er ihr — waren denn unter-
weilen erſt vier, fünf Stunden vergangen? —
ſchluchzend zugeſtammelt. Und er vergaß Fräulein
Hedwig Irmer, dieſes blaſſe, ernſte Weib mit den
ſchweren, dunklen Augen und dem herben, langweiligen
Schickſal. Der Stern einer unheimlich ungenirten
Liebe ſtand leuchtend zu Häupten ſeines Lagers ...
ſeines Lagers, auf dem er ſo oft allein, ſo oft ver-
waiſt geruht — ſtand, bis die rothe, ehrliche Mor-
genſonne kam und Emmys ſchwarzes Haar bläulich
aufſchimmern ließ. Die Schläfer aber erwachten,
blinzelten in den goldenen Glanz hinein, küßten ſich
und koſten miteinander in ſeltſamer Kurzweil. Das
Licht wuchs und wuchs. —



[[177]]

XII


In immerhin ziemlich prägnantem Einſiedlerſtyle
durchlebte Adam die nächſten Tage und Wochen. Der
zeitweilige Verkehr mit Emmy, die ihn öfter beſuchte, und
mit welcher er ab und zu kleinere Spaziergänge machte,
hatte für ihn kaum etwas Anſchraubendes, Beſtimmen-
des, Ablenkendes, Hinauszwingendes. Emmy war
doch ganz feinfühlig und zurückhaltend.


Wohl geſtand ſich der Herr Doctor mit leiſem
Bedauern ein, daß ihm in dieſer Zeit der Stille
und Ebbe alles geiſtig Größere, Bedeutendere,
Impoſantere fern und verſagt blieb. Aber dieſes
Bedauern war doch ſchließlich nur ein ſehr nüchternes
und oberflächliches. Adam verſpürte zuweilen einen
Mangel, den er ſich halb unwillkürlich, halb künſtlich,
aus Erinnerungen und zufälligen Vergleichen zwiſchen
früheren, bewegteren Tagen und dem gleichmäßigeren
Jetzt zuſammenbuk. Das war aber mehr eine correkte,
etwas wehmüthig angeſprenkelte Abſtraktion, denn ein
redlicher Vollſchmerz.


Adam hatte ſich zwar vorgenommen, die Be-
ziehungsfäden zu Lydia nicht leichtſinnig zu ver-
ſchleppen ... aber wie er ſo von Tag zu Tag
Conradi, Adam Menſch. 12
[178] in ſeinem Gefühls- und Gedankenleben vereinſamte ..
ſelbſtinniger und intimer wurde; wie er die Kreiſe
immer enger zog; wie ſich ihm die äußere Welt
mehr und mehr zum Accidenz vereinfachte, das verhält-
nißmäßig nur ſelten von Emmy wieder zum gleich-
oder mehrwerthigen, unmittelbaren Object zurück-
gemünzt und ausgeglichen wurde; wie er ſich ſtets
eingehender und reicheren Gewinn ſchöpfend in das
Motiv der bewußten „modernen Bibel“ verſenkte: da
trat unwillkürlich das perſönliche Gefühl, das Ver-
ſtändniß, das Intereſſe für die Frau bedeutend zurück,
verlor an Kraft und verblaßte — für die Frau,
die ihm jenes Motiv in einer loſeren Stunde
überantwortet — wie eine für ſie reizloſe Frucht
in den Schooß geworfen hatte. Ideen, nicht zu
alltägliche, nicht zu wohlfeile, dämmerten ihm auf,
gewannen Ausdruck und Umriß ... und in dem
ſpecifiſch modernen Momente des wiedergefun-
denen Germanenthums
glaubte er ſich des
bewegenden und entſcheidenden Gegenſatzes der neuen
Bibel zu dem ſemitiſchen Grundelemente der alten
bemächtigt zu haben. Eine bedeutende Reihe neuer,
intereſſanter Perſpektiven ergab ſich nun .. eine über-
reiche Fülle von Gedankenkeimen ſchoß auf — eine Ernte
von originellen, neuen Anſchauungen, Auffaſſungen,
zeitweilig recht merkwürdigen Ahnungen, welche aber
Adam mehr mit der diskreten Zurückhaltung eines
raffinirten Gourmand behandelte — eines Gour-
mand, der im unklaren Bewußtſein ſeines Reich-
thums ſchwelgt — und die er deshalb nur läſſig,
[179] faſt gegen ſeinen Willen, weiterentwickelte und fort-
bildete ... Zugleich verſtand er es aber auch, eben
als vorzüglich geſchulter Gourmand, jene Scheu vor
dem klaren Wiſſen um ſeinen Beſitz als ein neues,
pikantes Reizmoment in den Kreis ſeiner geiſtigen
Luſt zu ziehen. —


Eines Tages war Adam wieder einmal von
Emmy um die Mittagsſtunde abgeholt worden. Sie
pflegten dann zuſammen zu ſpeiſen .. aus Pietät und
Anhänglichkeit in jenem Café, in dem ſie ſich kennen
gelernt, eine Taſſe Melange zu trinken .. und
nachher eine Weile zu promeniren. Sie tändelten
und plauderten mit einander ... ſie erzählten ſich
Dies und Das .. ſie langweilten ſich faſt ... und
waren doch eigenthümlich angeregt, wenn auch ſanft
nur und verhalten. Ab und zu ließ Adam, mehr zu-
fällig denn abſichtlich, ein ernſteres Wort fallen, das
Emmy mit drolliger Gewichtigkeit aufnahm und
manchmal zum ſelbſtändigen Geſprächsmotiv zu machen
verſuchte. Adam verſtand das kleine Weib und
mußte lächeln. O! Emmy wußte die Ehre zu
ſchätzen .. die Ehre, mit Herrn Doctor Menſch
verkehren zu dürfen. Sie war nicht unbeanlagt
und gewiß geiſtig nicht ganz bedürfnißlos. Oefter
ſchon hatte ſie Adam, halb im Ernſte, halb im
willkommenen Spaße, den Vorwurf gemacht, daß er
ſie zu geringſchätzig behandelte .. zu ſehr die
Geliebte .. zu wenig den Menſchen in ihr ſähe.
Aber war ſie denn im Stande, den Untergrund
ſeines Gedankenlebens aufzuwühlen? Wenn ſie zu
12*
[180] ihm komme, ſehe er immer ſo ernſt aus und ſei ſo
wortkarg, hatte ſie ſich beklagt, und ſtudire immer
in ſo vielen Büchern oder kritzele auf einem großen
Blatte Papier herum — mit ihr aber plaudere
er ſtets nur loſes, leichtes Zeug — warum leſe er ihr
denn nicht einmal aus einem ſeiner Bücher vor —?
Emmy war wirklich zeitweilig ein zu ſpaßiges Ding.
Einmal hatte Adam ſie auf jenen Vorwurf hin
in die Sophaecke gedrückt .. hatte ſehr ſonderbar
gelächelt .. ihre dünnen, ſchmalen Lippenbänkchen
unzweideutig verſeſſen geküßt ... und dann be-
gonnen, an den Bruſtknöpfen ihres Jaquets zu
neſteln —: das war ſeine ganze Antwort geweſen.
O! Emmy hatte verſtanden — — ja! ja! Sie wußte
wohl, daß ſie ihm gefiel .. und das freute ſie auch
tüchtig, denn ihr gefiel dieſer Herr Doctor nicht
minder — aber ein klein Wenig hatte ſie es doch
geärgert, daß er öfter ſo gar nicht auf ſie eingehen
wollte ... Nun! es war immerhin ſchon viel,
daß er ſie mit feinſtem Zartgefühl behandelte ..
nicht .. gar nicht, als wäre ſie auch .. auch „ſo
Eine“ — „ſo Eine“, wie ſie es ... im Grunde ja
doch war.


Nun ja! Kellnerin war ſie geweſen — und jetzt
„privatiſirte“ ſie. Aber jeden Augenblick konnte ſie
wieder irgendwo Stellung nehmen — ſchließlich wieder
in ein Geſchäft als Verkäuferin eintreten .. oder als
Putzmacherin, Maſchinennähterin, „kalte Mamſell“ oder
ſo etwas Aehnliches „gehen“ — jedoch ... war dazu
nicht immer noch Zeit? Warum denn nicht? Jetzt lebte
[181] ſie „ſo“ entſchieden freier ... und Noth litt ſie nicht.
Sie hatte ſich als Kellnerin einige Batzen erſpart — und
ganz verdienſtlos war das „Privatiſiren“ ſchließlich
doch auch nicht. Adam allerdings ... Adam war nicht
beſonders freigebig gegen ſie. Er bezahlte ja ſehr
oft für ſie .. er machte ihr kleine Geſchenke —
aber der arme Kerl ſchien ſelbſt nicht Allzuviel in
die Milch brocken zu können. Und dann hatte er
ſelbſt ſtarke Bedürfniſſe, brauchte einen ganz netten
Haufen .. und .. und verſtand es überdies keine
Idee, ein Bischen haushälteriſch zu ſein. Wie? wenn
— ſie — ihm die — hm! — alſo die .. die Kaſſe —
führte? Dann müßten ſie aber zuſammenwohnen —
und das — ob das Adam wollte —? O! Emmy
hatte ſchon öfter daran gedacht. Ihr wäre es
gewiß recht geweſen. Sie hatte den Punkt auch
ſchon einige Male zur Sprache bringen wollen —
und es war ihr doch ſchließlich immer wieder nicht
über die Lippen gegangen. Warum nur nicht?
Und er, Adam, ſchien mit keinem Gedanken daran
zu denken. Er machte ſich wohl überhaupt nicht
beſonders viel aus ihr — ſonſt hätte er doch darauf
wahrhaftig ſchon kommen müſſen! Er konnte ſich
doch an fünf Fingern abzählen, daß er nicht
der Einzige war, mit dem ſie verkehrte .. Aber
das ſchien ihm Alles furchtbar gleichgültig zu ſein.
Emmy that es ſehr weh, daß ſie für Adam keine
größere Bedeutung beſaß. Und unwillkürlich hing
ſie ſich in ihrem Innern um ſo feſter an ihn,
beſchäftigte ſich um ſo intimer mit ihm — rupfte
[182] zeitweilig mit großer, naiver Gewiſſenloſigkeit andere
Männer um ſo nachdrücklicher, da ihr der, welcher ihr
der liebſte war, nichts Entſcheidendes, nichts Ent-
ſchiedenes „bieten“ kannte. O! Eine ſtarke, zärt-
liche Neigung für Adam war allmählich in der Bruſt
Emmys emporgewachſen.


Und nun promenirten ſie heute in dem kleinen
Stadtpark. Nach dem Walde waren ſie lieber nicht
hinausgegangen. Es ſah aus, als ob es jeden
Augenblick regnen wollte. Die Luft ging kühl ..
ganz gewiß zu kühl für die letzten Maitage. Die
Natur machte ein halb bekümmertes, halb gleichgül-
tiges Geſicht. Adam erſchien ſie wie verwittwet,
wie verwaiſt. Da hatten alle Quellen eines ehe-
lichen Sonnenlebens zu ſprudeln aufgehört — ernſt
und zurückhaltend, wie in windſtillen Oktobertagen,
ſtand Baum und Strauch da ... nur die prahle-
riſchen Farbenſymphonie'n des Herbſtes fehlten — aber
Adam war es zu Sinn, als ob dieſes ſchwere, ſtumpfe,
glanzloſe Grün nicht echt — als ob es von den
Cypreſſen der ganzen Welt zuſammengeborgt wäre ....


Der Herr Doctor war heute wieder einmal
ſehr ſchweigſam Die Sprödigkeit und Neutralität
der Natur zwangen ihn noch mehr in ſich zurück.
Es laſtete kaum ein beſonderer Druck auf ihm. Und
doch konnte er es nicht über ſich gewinnen, ſich in
ein längeres, zuſammenhängendes Geſpräch mit Emmy
einzulaſſen. Ab und zu fiel ein Wort, welches aber
mehr aus dem Bedürfniß heraus, das Peinliche und
Drückende dieſer Stille zu vermindern, geſprochen
[183]
wurde, als weil es an ſich bedeutend und berechtigt
geweſen wäre. Nicht im Banne irgend eines tieferen
Gedanken- oder Gefühlsmotivs befand ſich Adam
Allerlei krauſes Zeug, an dem er herumſpann, war
ihm nahe ... er kaute geiſtig an dieſem und jenem
Einfall .. eine heiße Sehnſucht packte ihn jetzt nach
einer großen, geſammelten Stimmung .. nach einem
intimen ſeelichen Erlebniß .. Erinnerungen keimten
auf .. er konnte nicht begreifen, wie er plötzlich
hierher käme ... er wußte nicht, was er mit dieſem
Weibe an ſeiner Seite eigentlich zu ſchaffen hätte ...
er hatte doch ganz andere Pflichten zu erfüllen ..
eine ganz andere Miſſion war ihm doch geworden —
ha! aber welcher Art waren denn dieſe „Pflichten“ —?
Und welcher Art war denn dieſe merkwürdige
„Miſſion“ —?


„Adam! Du biſt heute unausſtehlich! ..“ Emmy
hatte nicht länger an ſich halten können.


„Hm! . Unausſtehlich ... warum, Kind? Ich
träumte nur wieder einmal allerlei dummes Zeug
zuſammen .. Du kennſt ja meine Schwäche .. Aber
wir wollen bald umkehren — ja? Ich möchte, ſo-
lange es Tag iſt .. ſo ..-lange es ... Tag iſt —
hm! .. Emmy, weißt Du: die Sonne iſt eigentlich
ein furchtbar überflüſſiges Möbel — —“


„Aber Adam! ..“


„Was denn? . Sieh mal, wenn — alſo wenn
— — denke Dir zunächſt 'mal einen Laubfroſch — —“


„Einen Laubfroſch? .. Das wird ja immer
hübſcher —“ Emmy lachte ſehr aufgeräumt.


[184]

„Und dann denke Dir eine Perrücke — —“


„Eine Perrücke? Adam!Ich glaube, Du biſt — —“


„Und denke Dir drittens eine Schale Spargel-
ſalat — —“


„Aber nein! — ſei ſtill! .. das iſt ja zum Ver-
rücktwerden! ..“


„Ja! — alſo — aber Du haſt mich ganz aus
dem Konzept gebracht — nun hör' zu: wir ſetzen
den jrasjrünen Laubfroſch in den Spargelſalat und
decken die Perrücke darüber — jetzt rathe 'mal, was
das iſt? .“


„Ich halte mir die Ohren zu ... ſei ſtill ..
ſei ſtill! ..“ Emmy drückte die Finger gegen ihre
allerliebſten Ohrmuſcheln und trippelte mit komiſcher
Eile einige Schritte voraus. Nun mündete der ſchmale
Spazierpfad, auf dem die beiden bis jetzt hingeſchritten
waren, in den breiten Hauptweg des Parkes aus.


Quer über den Alleedamm kam ein Herr auf das
Paar zu.


„Ah! Herr Doctor! . Habe ich endlich ein-
mal wieder das Vergnügen — ich dachte, Sie
wären längſt nach unſeren Kolonie'n als kaiſerlich
deutſcher Dolmetſcher oder mit ſonſt 'nem Ulke chargiert
ausgewandert .. Und nun .. hier .. auf altem Boden
noch — dazu in reizender Damenbegleitung —“


Herr von Bodenburg hatte den Hut gezogen,
mit eleganter Verbeugung ſeine rechte Hand Adam
entgegengeſtreckt und zugleich, ein Lächeln des Er-
ſtaunens und der Genugthuung im Geſicht, einen
kurzen, prüfenden Blick auf Emmy geworfen.


[185]

„Ich begrüße Sie, Herr von Bodenburg —
meine kleine, reizende Frau — Herr Referendar
von Bodenburg —“ ſtellte Adam jetzt mit drolliger
Ernſthaftigkeit vor.


„Helfen Sie mir, Herr Referendar — ich ſuchte
meine Frau ſoeben über die inneren Beziehungen,
in welchen ein Laubfroſch zu einer Schüſſel Perrücken-
ſalat ſteht, aufzuklären — aber ſie will mich durch-
aus nicht verſtehen —“


„Hm! hm! ..“ lächelte Herr von Bodenburg
wohlwollend, herablaſſend, als hätte er recht gut
verſtanden, daß es ſich um einen barocken Spaß
handelte — ‚Perrückenſalat‘ — nicht übel, Herr
Doctor —!“


„Nicht war — Sie wiſſen, was ich meine? ..
Natürlich wiſſen Sie's — dann können Sie's mir
vielleicht ſagen, Herr Referendar? Ja? Ich bin
mir nämlich in dieſem Augenblick ſelbſt ein rieſiges
Räthſel ... Ich weiß abſolut nicht, was ich mir
unter ‚Perrückenſalat‘ vorſtellen ſoll — Goethe
ſagt zwar, die Welt ſei ein Sardellenſalat, aber
— aha! Laſſen Sie uns nachdenken, meine Freunde! .
Wir finden ſie — ich ſage Ihnen: wir finden ſie,
die Löſung nämlich dieſes Räthſels ... wir finden
ſie — ich wette um einen Korb Röderer, Herr
Referendar, daß wir ſie finden, die verdammte
Hexe —!“


Adam lachte aus vollem Halſe, unangenehm
energiſch, dröhnend. Er ſchüttelte ſich und lachte,
daß ihm die Thränen über die Backen liefen. Ein
[186] nervöſer Luſtigkeitskrampf war jäh über ihn ge-
kommen. Emmy blickte erſchrocken zu ihm hinüber.
Herr von Bodenburg machte ein ehrlich verblüfftes
Geſicht, in welches zugleich ein paar Unmuths- und
Aergerslinien hineingeritzt waren. „Eine merk-
würdige Unterhaltung —“ murmelte er.


„Alſo, meine Freunde — es wird Zeit, daß
die Götterdämmerung endlich losgeht! —Ich er-
ſticke an dieſem triſten Zuſchauerjargon, den man
immer radebrechen muß ... Emmy! Sehen Sie,
Herr Referendar — das iſt nun auch „ſo Eine“ ...
ich habe das kleine, entzückende Weib neulich Abend
einem überflüſſigen Laffen abgejagt — aber glauben
Sie wohl, daß es bisher zum geringſten tragiſchen
Konflikte zwiſchen uns gekommen wäre? . Keene
Spur, Verehrteſter! Es iſt ſo blutig langweilig
auf der Welt — die Leidenſchaft iſt todt — und
die großen Gefühle ſind penſionirt ... Laſſen wir
wir uns dito penſioniren, lieber Mitmenſch — —“


„Sie ſind heute in einer eigenartigen Stimmung,
Herr Doctor!“


„Was haſt Du nur, Adam —?“


„Ich? Nichts, Kind! Gar Nichts! Aber wollen
wir nicht heimwärts ziehen, wie die ... nun! ..
wie die bewußten Schwalben im Herbſt? .. Meine
Stunde wenigſtens iſt gekommen .. Sie begleiten
uns vielleicht, Herr Referendar —?“


„Wenn Sie gütigſt geſtatten —“


„Bitte ſehr —“


Die drei kehrten um. Da kam ihnen ein offener,
[187] zweiſpänniger Wagen in ziemlich ſcharfem Trabe
entgegengefahren. Adam ſchnäuzte ſich gerade mit
oſtentativer Umſtändlichkeit. Er wiſchte ſich eben
zum letzten Male unter der Naſe weg, als der Wagen
an ihm vorüberfuhr. Unwillkürlich blickte er zu ihm
hin. Ah! Teufel! Das war ja Lydia!


Mit verlegener Haſt grüßte Adam. Er hatte
im Augenblicke keine Zeit, über die Frage nachzu-
grübeln: Warum er denn jetzt nicht dort neben
dieſer ſchönen Frau ſäße ... neben dieſer ſchönen Frau,
die — die — hm! .. na ja! — und ſo weiter ...


Er fühlte das Auge Emmys auf ſich liegen, nun
laſten. Doch da ſetzte das Pferdegetrappel plötzlich aus.
Adam ſah ſich um, ungewollt und halb unbewußt
erfreut, daß er eine Gelegenheit erhielt, die unver-
meidliche Frage Emmys noch hinauszuſchieben. Aber
er war ihr doch eigentlich gar keine Rechenſchaft
ſchuldig. Der Wagen hielt in einiger Entfernung ..
und der Herr Doctor bemerkte, wie ſich Frau Lange
über den Schlag lehnte und ihn zu ſich heran-
winkte. Er war unſchlüſſig. Er wurde aufs Neue
verlegen. Er warf ſcheue Blicke auf Emmy und
Herrn von Bodenburg, die ihn fragend, erſtaunt
anſahen.


„Erlaube, Emmy! .“ ſtieß er endlich heraus —
„Pardon, Herr Referendar — ich — ich ... bin
ſogleich zurück —“


„Sind Sie frei, Herr Doctor? ..“ redete ihn
Frau Lange an und ſtreckte ihm ihre kleine, volle,
ſchwarzbehandſchuhte Rechte entgegen. „Dann ſteigen
[188] Sie bitte ein — ich muß Ihnen einen Capitalſpaß
erzählen —“ Lydia machte ein ſehr vergnügtes
Geſicht, ihre Augen blitzten, ihr ganzes Weſen athmete
Füllung, Angeregtheit, den Drang: ſich ausſtrömen,
ſich mittheilen zu dürfen.


Adam war in peinlichſter Verlegenheit. Er konnte
doch Emmy unmöglich ſtehen laſſen. Aber — nein!
— das ging auch nicht! — zugeben durfte er doch
auch nicht, daß er ... er der Ritter ... der Lieb-
haber dieſer Dame wäre — — er zögerte, er wurde
immer befangener — „gnädige Frau —“ ſtammelte
er — —


„Ach ſo, Herr Doctor — nun ... wenn Sie
engagirt ſind — natürlich — dann verzichte ich
— — Ihre Dame — —“


„Pardon! . Davon kann wohl keine Rede ſein
— ich begegnete vorhin dem Herrn in Begleitung
der Dame — ein Bekannter von mir, Referendar
von Bodenburg — aber ich .. ich .. ich müßte
mich doch erſt entſchuldigen und verabſchieden, ehe
ich Ihrer liebenswürdigen Aufforderung folgen dürfte
— geſtatten Sie alſo, gnädige Frau —“


„Bitte! ..“ Das klang ſehr gleichmüthig ...
es war eben nur mit den Achſeln gezuckt, kaum
mit dem Munde geſprochen. Lydias friſche, volle
Stimmung ſchien einen herzhaften Sprung erhalten
zu haben.


Als Adam vom Wagen Frau Langes zu Emmy
und Herrn von Bodenburg, die, vielleicht abſichtlich
mit ſeiner Diskretion, vielleicht unabſichtlich, in ent-
[189] gegengeſetzter Richtung weitergegangen waren, zurück-
ſchritt, freute er ſich im Stillen gar ſehr, daß er Lydia
gegenüber immerhin doch ſo ſchnell ſeine Verlegenheit
überwunden hatte ... und daß es ihm allem Anſchein
nach vorzüglich geglückt war, ſich durch eine kräftige
Lüge aus der Klemme zu ziehen. Ein zart nuan-
cirtes Lächeln umkräuſelte ſeinen Mund. Hm! Wenn
das Emmy wüßte! Nun! am Ende verſtand ſie
ihn vielleicht ... begriff ſie vielleicht ſehr gut, daß
man eine ... eine „Freundin“ ... „une bonne came-
rade
unter Umſtänden einmal verleugnen muß ..
verleugnen muß einer Dame „von Welt“ ... einer
Dame „aus der feineren Geſllſchaft“ ... einer
Dame „aus den höheren Ständen“ gegenüber. ...
Adam hatte Luft, vor Emmy jetzt ſogleich die Karten
aufzudecken. Der dumme, kleinliche Gedanke ver-
urſachte ihm ein köſtliches Behagen. Aber nun
fürchtete er doch hemmende Weitläufigkeiten — und
ſo entſchuldigte er ſich ſehr kurz: er müßte leider
aus Höflichkeit einer Einladung der Dame, — die
er übrigens ſehr gut kenne — einer Einladung, in
ihren Wagen zu ſteigen, Folge leiſten — nun! ..
Herr von Bodenburg würde wohl die Güte haben,
Emmy nach der Stadt zurückzubegleiten —


Emmy ſah mit einem halb ironiſchen, halb
traurigen Blicke Adam an. Natürlich! Sie hatte
ihn verſtanden. Der Herr Referendar war entzückt.
Ihm gefiel das kleine Weib ausnehmend. Ha! .
„So Eine“ — Schwerebret! — „ſo Eine“ war
ſchließlich auch einmal für ihn zu Hauſe. —


[190]

„Haben Sie dem armen Mädchen den Lauf
paß gegeben? Sie Grauſamer! ..“ Lydia lächelte
wirklich beleidigend ſpöttiſch und ſah ihrem Nachbar
feſt ins Geſicht.


„Gnädige Frau! —“


„Lügen Sie mir doch nichts vor, Herr Doctor! .
Ich erkannte Sie längſt, bevor Sie mich ſahen ..
Sie gingen auf der linken Seite der Dame — das
ſagt doch genug — nicht wahr?“


„Wenn Sie eine Zufälligkeit — eine pure
Zufälligkeit — nun ja doch! .. ſo beſonders ſchwer
iſt es ja nicht, einen Menſchen zu verdächtigen —“
Adam hielt es für praktiſch, den Beleidigten zu
ſpielen. Mit verſchränkteu Armen ſo daſtehen ..
ſich nicht vertheidigen, obwohl man alles Recht auf
ſeiner Seite hat ... ſich ruhig abſchlachten laſſen
im ſüßen Vollgefühl, daß der Gegner ein ſchreiendes
Unrecht begeht, indem er ſotanes Abſchlachten eben
vollbringt: oh! . auch das kann Wolluſt .. beißende,
betäubende Wolluſt ſein ..


„Herr Doctor — ich bitte Sie! .. Aber laſſen
wir das! . Was .. was gehen mich Ihre Nei-
gungen — Ihre ... Ihre Gewohnheiten — Ihre
ſonſtigen .. Beziehungen an! .. Ich wollte Ihnen
einen famoſen Spaß erzählen, den ich heute früh
erlebt habe — nun .. um es gerade heraus zu
ſagen: ich — ich habe mich — heute früh ver-
lobt ... Was? das iſt doch göttlich — nicht?
Und Sie ſehen, wie glücklich ich bin! .. Ich ſage
Ihnen: wie neugeboren! da weiß man doch wenigſtens
[191] wieder, wozu man auf der Welt iſt! Da hat man
doch wieder einen vollen Lebenszweck — und nun
gratuliren Sie mir, lieber Freund —“


Adam war doch zuſammengefahren. Das hatte
er nicht erwartet. Einen Augenblick dachte und
fühlte er nichts. Wie gelähmt war er. — Dann
ziſchte das Leben wieder gewaltig in ihm auf.
Eine ſcharfe Bläſſe bedeckte ſein Geſicht, an welchem
jetzt alles Ungleichmäßige, was es beſaß, in greller
Klarheit hervortrat. Nun wurde er glühend roth,
er zitterte an allen Gliedern, die Sprache verſagte
ihm, er athmete gepreßt, der Blick ſeines Auges
wurde unſicher .. es war ihm, als ob in ſeiner
Bruſt eine Fauſt in die Höhe wachſe und ſich mit
aller Wucht in den Kehlkpf preſſe — und doch ſagte
er ſich, daß er ſich beherrſchen .. gewaltſam zur
Ruhe zwingen müßte, wenn er ſich nicht vor Lydia
unſterblich blamiren wollte — er ärgerte ſich wüthend
über ſich .. er verachtete ſich ... er bemerkte
entſetzt, daß ſich all' ſeine Willenskraft plötzlich voll-
kommen machtlos erwies — endlich knirſchte er ein
heiſeres, kaum verſtändliches „Lydia —!“ hervor.


Frau Lange hatte den Eindruck, den ihr Ge-
ſtändniß auf den Herrn Doctor gemacht, ſehr genau
beobachtet. Sie freute ſich zunächſt außerordentlich
über dieſe erſchütternde Wirkung. Dann wurde ſie
ſehr ernſt. Wenn Adam von der Nachricht, daß
ſie ſich verlobt habe, ſo furchtbar angefaßt wurde
dann — — nun dann mußte ſie für ihn ..
mußte ſie in ſeinem Leben doch eine größere Be-
[192] deutung beſitzen, als ſie bisher geglaubt hatte.
Dieſe Folgerung erfüllte ſie mit einem gewiſſen
Stolze. Sie wuchs vor ſich .. und zugleich wuchs,
vertiefte und veredelte ſich ihre Theilnahme für
Adam. Sie dachte an jene bewegte Stunde zurück,
da er vor ihr auf den Knieen gelegen und um
ihre Liebe geworben .. Sie konnte jetzt nicht be-
greifen, daß ſie ihn damals ſo ſpöttiſch abgewieſen ...
ſo ſouverän-mütterlich behandelt ... daß ſie ſelbſt
in jener Scene ſo oberflächlich und äußerlich gefühlt
hatte. Sie hätte ihn jetzt am Liebſten an die
Bruſt gezogen und geküßt. Da war kein Zweifel
mehr: er liebte ſie — und ſie? — Nun! ſie
liebte ihn auch, dieſen wunderlichen Menſchen —
ſie liebte ihn, trotzdem er ein ziemlich loſer und
unzuverläſſiger Geſell zu ſein ſchien. Plötzlich war
es ihr klar geworden .. und von dem ungeſtümen
Drange ihrer Gefühle ließen ſich alle Zweifel
und Bedenken bequem in eitel Dunſt zerblaſen.
Die ganze Lebhaftigkeit ihrer Natur machte ſich
geltend und war im Begriff, entſcheidend zu wirken.
Allein! ſie war doch zu feinfühlend ... und zu rück-
ſichtsvoll gegen die „gute Sitte“ .. war zu ſehr Welt-
dame, um ſich hier auf offener Landſtraße, in
Gegenwart ihres Kutſchers, zwanglos gehen laſſen
zu können. Der Druck der Situation engagirte ſie und
löſte beinahe wieder eine ironiſche Stimmung in ihr
aus. Sie wußte nicht, daß Adam zumeiſt deshalb
von ihrem Geſtändniß ſo betroffen war, weil ihm
damit im ſelben Augenblick eine ganze Zukunftswelt
[193]
verkrachte. Er hatte ſich mit jäher Ueberſtürzung
daran erinnern müſſen, daß er unendlich Viel ein-
büßte, wenn ihm Lydia verloren ging. Nun ja
doch! Er hatte durchaus nicht mit zäher Energie
ſein Ziel verfolgt. Er hatte, gewiß ſeiner Natur
gemäß, mehr mit dem Gedanken geſpielt, daß
Lydia eines Tages ſein Weib werden könnte. Sie
hatte ihm ein heimliches, volles Behagen verurſacht,
dieſe unklare, lienienverſchwommene Zukunfts-
reſerve .. Er war viel zu gleichgültig gegen ſeine
Zukunft, als daß er unmittelbar für ſie einzutreten,
für ſie zu arbeiten vermocht hätte. Sein Gedanken-
und Gemüthsleben war viel zu differenzirt, als daß
er nicht eng an die Gegenwart hätte anknüpfen müſſen.
Und doch war es ihm jetzt zu Sinn, als hätte er Etwas
verloren, was ſchon ganz ſein eigen geweſen ...


„— Herr Doctor —!“ Lydia wußte nicht recht .. ſie
war erſchrocken, verlegen, faſt bekümmert — aber Alles
nicht ganz rein, es zweifelte etwas Unklares in ihr —


Adam hatte ſich gefaßt. Seine Stimme klang
noch gepreßt und ſtockend, aber äußerlich nahm er
ſich doch bedeutend kühler und ruhiger aus.


„Sie haben Recht, gnädige Frau — da bleibt
mir wirklich nichts weiter übrig, als Ihnen meine
herzlichſten Glückwünſche auszuſprechen —“


„Ich danke Ihnen verbindlichſt, Herr Doctor!.“
Lydia lächelte ſchelmiſch-ironiſch.


Dann ſchwiegen beide eine kleine Weile. Nun
begann Lydia wieder, einen ſchmollend-vorwurfsvollen
Ausdruck in der Stimme: „Aber Sie fragen ja gar
Conradi, Adam Menſch. 13
[194] nicht, wer mein Auserwählter iſt?! Nehmen Sie in
der That ſo wenig Antheil an mir? ..“


„Ich bitte Sie, gnädige Frau! Einem armen
Burſchen, der todeswund am Boden liegt, iſt es ſo
ziemlich gleichgültig, wer ihm die Kugel in die
Bruſt gejagt hat — er weiß nur, daß man ihm
das Aufſtehen verleidet hat —“ antwortete Adam
mit affektirter Trauer und Reſignation.


„Na — nehmen Sie's nur nicht zu tragiſch,
Herr Doctor!. Sie thun ja gerade ſo, als ob ...
nun! — jedenfalls ſind Sie wieder einmal auf dem
beſten Wege, Ihnen und mir Etwas vorzulügen —“


„Sie ſind doch eine unverbeſſerliche Zweiflerin,
Lydia!.“ Das hatte Adam in ehrlichſtem Ernſte,
wirklich bekümmert, geſprochen.


„Ich will Ihnen reinen Wein einſchenken, lieber
Freund! Die Geſchichte von der Verlobung war
natürlich nur ein Scherz .. Ich habe heute früh
allerdings einen Heirathsantrag erhalten — von —
aber das iſt Ihnen ja gleichgültig .. Ein Major
außer Dienſt — nebenbei Weinhändler und Agent
einer Lebensverſicherungsgeſellſchaft — natürlich von
Adel — übrigens 'n ganz paſſabler Menſch — nur
'n Biſſel zu alt .. 'n Biſſel zu unbedeutend und ..
und 'n Biſſel zu verſchuldet — hat mich ſchon ſeit
Jahr und Tag mit ſeinen Aufmerkſamkeiten verfolgt
— iſt mir nachgereiſt — u. ſ. w. — u. ſ. w. —
aber — pardon! — das intereſſirt Sie ja nicht —
alſo ... nun! — ich habe für die Ehre gedankt,
Frau von ... von X oder Y zu werden ... Mein
[195] Name gefällt mir zu gut .. und meine Freiheit
gefällt mir noch beſſer ... Sie werden mich ver-
ſtehen, Herr Doctor —“


„So? — Glauben Sie, gnädige Frau? —“


Adam hatte ſehr kalt und gleichmüthig geant-
wortet. Er vermied es, Lydia anzuſehen. Er wandte
ſich ab und ſchien die ihm gegenüber liegende Front
des Parkes mit außerordentlicher Aufmerkſamkeit zu
betrachten. Seine Finger trommelten mit nervös
ſchwirrendem Nachdruck auf dem Wagenſchlage herum.


Der Wagen hatte das ganze Gehölz durchfahren
und näherte ſich jetzt — auf einer anderen Seite —
der Stadt. Die erſten Tropfen eines leichten Regens
rieſelten nieder.


Lydia war empört. Eine verworrene Fülle
von Gedanken und Gefühlen durchgährte ſie. Sie
wußte nicht, wie ſie ihrem Aerger, ihrer Erbitterung
auf eine beſonders maliziöſe Weiſe Luft machen ſollte.


Man kam der Stadt immer näher.


„Geſtatten Sie, daß ich hier ausſteige, gnädige
Frau —“ begann Adam jetzt und ſah Lydia von
der Seite an ..


„Ah! — Fräulein Irmer .. gewiß mit ihrem
Vater!. Der Mann ſieht ſehr leidend aus — er
ſcheint doch recht hinfällig zu ſein —“


Adam wandte ſich ſchnell um ... und bemerkte,
wie Herr Doctor Irmer, von Hedwig geführt, lang-
ſam .. ſehr langſam, zuſammengebückt, mit dem Stocke
in der linken Hand unſicher vor ſich hintaſtend,
herankam. Adam grüßte mit zufahrend pathetiſcher
13*
[196] Höflichkeit ... und wurde dabei doch wieder ein
Wenig verlegen. Aber zugleich machte ihm der
harmlos-einfältige Gedanke wollüſtiges Vergnügen,
daß für Hedwig die Thatſache, ihn in einem offenen
Wagen an der Seite Frau Lange's geſehen zu haben,
zu einem neuen Grunde, ſich mit ihm zu beſchäftigen,
werden mußte — und daß andrerſeits ſein auffallend
höflicher Gruß gegen Irmers nicht ohne Eindruck
auf Lydia bleiben konnte.


„Geſtatten Sie, daß ich hier ausſteige, gnädige
Frau! ..“ wiederholte Adam, als der Wagen kaum
noch hundert Schritt von dem Ausgang des Parkes
entfernt war — „und“ — fügte er leiſer hinzu —
„wann werden Sie einmal für mich zu Hauſe ſein,
Lydia? Das geht ſo nicht weiter — das ertrage ich
nicht länger — die Sache muß zur Entſcheidung
kommen — — oder — ja! — das iſt beſſer —
ich ſchreibe Ihnen —“


„Wie Sie wollen, Herr Doctor. Ich weiß übri-
gens nicht, was Sie mir — doch — nebenbei be-
merkt — ich verreiſe demnächſt auf einige Wochen —“


Frau Lange ließ halten. Adam ſtieg aus und
zog den Hut.


„Adieu! ..“ Das klang entſetzlich kurz und
ſchroff.


Der Wagen rollte davon. Es regnete ſtärker.


Adam ſchlug die Richtung nach ſeiner Wohnung
ein. Das leiſe Prickeln und verhaltene Stechen
der Regentropfen that ihm faſt wohl. Bei einer
ſolchen Naturſtimmung fliegen keine großen Gedanken
[197] auf. Da kann man, in ſich zuſammengezogen, ſtill
vor ſich hindenken, behaglich vor ſich hinbrummeln.
Und Adam bemühte ſich, eine reine, köſtliche Heiterkeit
im Gemüth, über das ſoziale Verhältniß nachzu-
grübeln, in dem ein Laubfroſch zu einer Perrücke
und einer Schale Spargelſalat ſteht. Ein Schwarm
drolliger und putziger Gedankenbilder umgaukelte
ihn. Der Schlapphut hatte zwar eine tüchtige
Portion Näſſe geſchluckt ... nichtsdeſtoweniger kam
der Herr Doctor ſehr angeregt und aufgeräumt
nach Hauſe. Lydia war ihm ſchauderhaft gleich-
gültig. —


Er fand einen Brief von ſeinem Bruder vor,
welcher ſchrieb, daß er ſich verlobt hätte. Adam
las die nichtsſagende, umſtändlich-unbeholfene Epiſtel
flüchtig durch und warf ſie in den Papierkorb.
Was ... wer war ihm ſein Bruder? Er hatte ihn
ſeit Jahren nicht geſehen. Adam beſaß ſo gar kein
Talent, verwandtſchaftliche Inſtinkte bei ſich zu
pflegen.


Aber noch ein Brief war angekommen: eine
ſehr liebenswürdige Einladung von Irmers für
übermorgen Abend: „Zu einer Taſſe Thee“. „Ah!
So kommſt Du alſo wieder einmal an die Reihe,
geliebte Hedwig —“ verſetzte halblaut vor ſich hin
dieſer Menſch, um den ſich .. andere Menſchen zu
„reißen“ ſchienen, „ſieh da! das iſt hübſch von Dir! ..
Ihr wechſelt Euch fürwahr ſehr nett ab, Kinder!
„Lydia — Hedwig — Emmy — Emmy — Hed-
wig — Lydia — Hedwig — Lydia — Emmy —:
[198] ganz annehmbar! Uebrigens — Emmy! Hm! Ich
traue dieſem Herrn von Bodenburg doch nicht
recht — er wird doch ... wird doch keinen ..
Unſinn machen mit meiner „kleinen reizenden
Frau“ —? Zu dumm, daß Emmy ein ſo eman-
cipatives Weſen iſt — zu dumm!“ Zum erſten
Male war Adam ſo etwas wie eiferſüchtig ...
wie eiferſüchtig auf die unvermeidlichen, anderen
Liebhaber ſeiner „kleinen, reizenden Frau“ ...


In der folgenden Nacht ſchlief er ſehr unruhig.
Er wachte öfter auf — und ſo oft er aufwachte,
mußte er daran denken, daß dieſer dumme Kerl von
Referendar und ſeine Emmy jetzt wohl in ſüßem
Minneſpiel beieinander wären. Es war zum
Raſendwerden.


„Wahrhaftig! Nächſtens werde ich mich auch
noch in die Hure verliebt haben ..“ knurrte er
einmal erboſt vor ſich hin. —



[[199]]

XIII


Und nun war die Stunde gekommen, da Adam
ſich aufmachen durfte, der Irmer'ſchen Einladung
Folge zu leiſten.


Um die Zeit, da der Nachmittag Miene zu
machen begann, ſich zum Abend auszuwölben, war
der Herr Doctor natürlich mit ſich einig geweſen,
nicht zu Irmers zu gehen, ſich noch entſchuldigen zu
laſſen.


Er war ſoeben erſt nach Hauſe gekommen.


Am Vormittage hatte er ſich, von einer uner-
träglich zerfaſerten und zerkrümelten Stimmung
gequält, faſt aus ſeiner Wohnung geflüchtet ..
hatte er ſich geflüchtet vor ſich ſelber .. vor einem
Geſpenſt ... vor der furchtbaren Entdeckung, daß
er in dieſer Stimmung Welt und Leben gegenüber
vollſtändig waffenlos wäre. Die ſtille, köſtliche Heiter-
keit des Herzens, mit welcher er geſtern heimgekehrt
war, hatte ſich ihm bis auf den letzten, mageren
Nachglanz entzogen .. er verſtand ſie nicht mehr ..
er konnte nicht begreifen, daß er ſie beſeſſen ..
er verachtete ſich, weil er das nicht begreifen, weil
er keinen Zuſammenhang finden konnte .. und
[200] verachtete ſich zugleich, weil er nach einem Zu-
ſammenhange ſuchte ... weil er jener Stille des
Gemüths inſtinctiv Wert und Bedeutung beilegte ...
und er verachtete ſich zum Dritten, weil er geſtern
im Stande geweſen war, die unermeßliche Schwere
des Lebens zu vergeſſen ... und ſie heute faſt mit
dem Gefühle eines Menſchen trug, der nach neuen
Mitteln und Wegen ſuchte, ſich über ſie hinwegzu-
täuſchen .. eines Menſchen, der am Liebſten vor
ihr geflohen wäre ...


Und ſo war er denn auch vor ſeiner Stimmung
geflohen .. hatte ſich mit eintöniger Nachdrücklichkeit
eingeredet, daß er einige Beſorgungen, die er ſchon
längſt hatte machen wollen, nicht länger aufſchieben
könnte .. war, von den Eindrückeu der Außenwelt
beſtürmt, überhäuft, zerſtreut, endlich auch etwas
ruhiger geworden .. hatte dann mit auffälligem
Appetit zu Mittag geſpeiſt .. und ſchließlich den
größten Theil des Nachmittags im Café Caeſar
verſtumpftſinnt. Einmal war hier Herr von Boden-
burg vor ihm aufgetaucht, hatte ſich aber mit merk-
würdiger Eile ſehr bald wieder empfohlen. Adam
hatte lächeln müſſen: der Herr Referendar ſchien
wahrhaftig ein böſes Gewiſſen zu haben! Er ſollte
die Emmy, die eben doch weiter nichts als auch
„ſo Eine“ war, nur ruhig zu ſeinem Privatgebrauche
engagiren — er, Adam Menſch, würde nicht das
Geringſte dagegen einzuwenden haben! Was war
ihm denn dieſe ſchöne Sünderin mit dem verzettelten
Herzensleben und dem beſchränkten Intellekt?
[201] Dummheit, wenn Herr von Bodenburg ſich genirte —
capitale Dummheit! Solch' ein kleines Weib iſt
doch gleichſam nur eine lebendige Münze .. es
geht von einer Hand in die andere — was
weiter? — Und doch war er zuſammengezuckt, als
er ſich Emmys Untreue, die er ſelbſt erſt heraus-
gefordert hatte, vorgeſtellt. Adam hatte ſich an
Emmys Leidenſchaftlichkeit .. an ihre Liebkoſungen,
an ihre Küſſe erinnert .. an ihre Umarmungen, die
ihn faſt erſtickt ... Und wie ſüß war es geweſen, als ſie
ihm in jener Nacht im erſten Paarungstumult rührend
einfach zugeſtammelt: „Ich habe Dich gern, Adam!“ Und
da war es wirklich heiß in ihm emporgeſtiegen .. eine
unheimliche Exſtaſe hatte ihn bis in ſeine kleinſten
Organe hinein durchſpült .. eine dampfende, lähmende
Sehnſucht nach Emmys ſchönem Leibe .. nach ihren
Küſſen .. ihrem weichen, molligen Liebesgeplauder ..
ihrer köſtlichen Routinirtheit im aufſaugenden Minne-
ſpiel, war jäh zu ihm gekommen — verflucht! Er
hatte ſeine köſtliche Lagergenoſſin verloren, weil er
einem Weibe nachgelaufen war, das ihm eine dumme
Komödie vorgeſpielt! Er hatte ſich auf die Seite der Kon-
venienz, der Lüge ... allerdings auch der „Tugend“ ge-
ſchlagen — und hatte darüber die Freiheit und die Un-
gebundenheit der vorurtheilsloſen „Sünde“ eingebüßt ..
Er war doch ein Schaafskopf erſten Ranges geweſen ...


Aber der Groll gegen ſich ſelbſt .. der Aerger
über ſeinen taktiſchen Schnitzer hatte doch nicht
entſcheidend bei Adam nachgewirkt. Nun er zu
Hauſe war und ſich mechaniſch auf den Beſuch bei
[202] Irmers vorbereitete, obwohl er eigentlich entſchloſſen
war, dieſen Kelch an ſich vorübergehen zu laſſen,
hatte ſich ſeiner das Gefühl einer entkräftenden
inneren Leere und Nüchternheit bemächtigt. Alles
widerte ihn an. Was ſollte er in aller Welt heute
Abend bei Irmers! Wieder zu Hedwig die Fäden
hinüberſpinnen? Zur Abwechslung ſich wieder einmal
von dieſer Dame anregen oder aufregen laſſen?
Es war ſo überflüſſig .. ſo unſäglich überflüſſig.


Apathiſch lag Adam auf dem Sopha. Es dünkte
ihn erſchütternd komiſch, daß er ſich ſoeben einen
friſchen Kragen umgeknöpft. Aber im nächſten
Augenblicke ertappte er ſich ſchon dabei, wie er
nach einem beſonders draſtiſchen und impertinenten
Motive ſuchte, mit dem er heute Abend Fräulein
Irmer traktiren wollte. Adam wurde ſich klar
darüber, daß er das unnatürliche Verhältniß, in
welchem heute das männliche und weibliche Geſchlecht
zu einander ſtehen, einmal mit rückſichtsloſer und,
wenn nothwendig, mit cyniſcher Offenheit einer
Dame gegenüber zur Sprache bringen mußte.
Und dieſe Dame abzugeben .. nun! — dazu ſchien
Fräulein Irmer, dieſes blaſſe, ſpröde, in einem
engen Leben hinkümmernde Weib, vorzüglich geeignet
zu ſein. Es war jedenfalls ſo etwas wie eine
„That“, einmal mit der Brandfackel zu hantiren ..
ein verlöſchendes Daſein noch einmal den Traum
von einem vollen, glühenden, ungehemmt vorwärts-
ſtürmenden Leben träumen zu laſſen ...


Aber auch dieſer Vorſatz erſchien dem Herrn
[203]
Doctor ſehr bald geſchmacklos. Wozu in aller Welt
dieſes doktrinäre Geſchwafele! Er erhob ſich lang-
ſam, nachläſſig .. zog die Augenbrauen dicht über
der Naſenwurzel zuſammen .. machte ein ſehr ver-
ächtliches Geſicht ... und ſuchte nach dem Meſſerchen,
mit welchem er ſeine Fingernägel pflegte.


Wenn er gehen wollte, mußte er übrigens bald
aufbrechen. Aber warum ſollte er denn gehen? Und
doch .. mein Gott! — warum ſollte er denn
nicht gehen? Warum nicht? Man thut ſo Vieles
in dieſer Welt, weil man abſolut nicht weiß, warum
man es nicht thun ſollte .. Und zudem: es war
ja auch ſchon zu ſpät, ſich noch entſchuldigen zu
laſſen. Getröſtet von dem Gedanken, daß er ohne
Verletzung des „geſellſchaftlichen Anſtandes“ jetzt
nicht mehr ausbleiben konnte, machte ſich Adam auf
den Weg zu Irmers. Er pfiff das unſterblich
ſchöne „Komm herab, o Madonna Thereſa —“
leiſe vor ſich hin, löſte es einige Male mit Motiven
aus Wagners „Fliegendem Holländer“ und „Sieg-
fried“ ab .. und ſchluckte mit verhaltener Wolluſt die
ſchweren, ſchwülen Lüfte des zuſammendämmernden,
letzten Maiabends ein. Adam dachte nicht mehr an ſich
und vergaß, daß er nicht wußte, wer er war ...
was er von der Welt ... und was dieſe Welt von
ihm wollte. —



[[204]]

XIV.


Ja! Es war doch recht heiß bei Irmers ..
in dem doch recht engen und niedrigen Wohnzimmer,
in welchem die Drei, Vater, Tochter und Adam
Menſch, um den runden Sophatiſch beiſammenſaßen
und einen „Imbiß“ zu ſich nahmen .. alſo einen
kleinen Imbiß, den Adam wirklich etwas „frugal“
finden mußte. Der Herr Doctor dachte unwillkürlich
an den vornehmen Stil, an die Eleganz von Lydia's
Wohnräumen zurück ... an die anheimelnde Licht-
ſtimmung .. die behagliche, geſchmackvolle Fülle, die
ſich im Arbeitscabinet Frau Lange's ſo wohlthuend
dem empfänglichen Geiſte mittheilte ... an das
diskrete Werben des taktvoll arrangirten Reichthums
um verſtändnißvolle Anerkennung — und ihn fror
ein Wenig in dieſer Umgebung, die nur von dem
wehmüthigen Parfum der notdürftig verhangenen,
mühſam verſchleierten Armut durchzittert wurde ..


Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang
kommen. Hedwig ſchien verſtimmt zu ſein. Ihr
Geſicht war faſt noch bläſſer und ernſter, ihr Blut
faſt noch ſchwerer, als ſonſt. Bläulich ſchwarze
Halbringe unter den Augen deuteten auf ſchlaflos
[205] verbrachte Nächte hin. Die Pflichten der Wirthin
erfüllte ſie mit nervöſer Aufmerkſamkeit. Adam
fühlte ſich ſehr peinlich berührt. Er ſagte ſich,
daß Hedwig unter der reizloſen, kargen Unfruchtbar-
keit, unter dem Druck und der Enge ihrer Lage
litt. Sie gab ſich alle Mühe, es nicht merken zu
laſſen .. beſaß aber eine viel zu ſpröde und unge-
ſchmeidige Natur, um ſich zwanglos hinter das
Pſeudonym einer geraden, reinen, zugänglicheu
Stimmung verſtecken zu können.


Herr Doctor Irmer huſtete viel ... einen
kurzen, trockenen, heiſeren Stoßhuſten. Er ſah ſehr
zuſammengedrückt und entwaffnet aus .. ſehr muth-
los und ängſtlich. Oefter preßte er die langen,
mageren, wachsgelben Finger der rechten Hand
geſpreizt gegen die Bruſt .. und athmete faſt
ſtöhnend.


„Papa hat ſich vorgeſtern erkältet ..“ erklärte
Hedwig mit einem kurzen, nicht ganz beziehungsloſen
Seitenblick auf Adam. Der Herr Doctor verſtand.
Das gnädige Fräulein hielt es alſo für überflüſſig,
auf Grund und Gelegenheit dieſer Erkältung näher
einzugehen. Hm!. Sie waren ſich ja begegnet.
Adam mußte ſich das Uebrige ſelbſt ſagen können.
Das that er denn auch. Zugleich ärgerte er ſich
aber, daß es Hedwig augenſcheinlich vermeiden
wollte, jene Begegnung ſelbſt zu berühren. Sie war
ſo harmlos. Und doch war Adam nicht im Stande,
das gewiß nicht heikle, höchſtens etwas pikante
und widerhakige Motiv zur Sprache zu bringen.
[206] Vielleicht hinderte ihn die Rückſicht auf ſeinen
leidenden Wirth daran. Oder wollte er Hedwig
nicht wehe thun? Schließlich entſchuldigte er
ſeine Feigheit mit dem lähmenden Einfluſſe, den
dieſe dunſtige Krankheitsatmoſphäre auf ihn ausübte.
Gewiß! Er hätte viel geſcheiter gethan, wenn er
ſeiner Apathie nachgegeben und ſich in letzter Stunde
noch entſchuldigt hätte. Das wäre wohl auch den
beiden Menſchen lieber geweſen, die da neben ihm
ſaßen und ſich redlich bemühten, das Unglück ihres
Lebens zu verhüllen .. und doch nicht Komödianten
genug waren, um das ſcheinen zu können, was ſie
nicht ſein konnten ...


Die Fenſter ſtanden offen. Auf der Straße
war es ſtill. Nur ab und zu ſtolperte ein Wagen
über das Pflaſter. Nun ſtrich ein Luftzug herein,
raſchelte in den Papieren auf dem Schreibtiſche,
zupfte an der grünen Gardine vor dem Bücher-
regal und gab der Lampenflamme ein kurzes,
ſtechendes Zuſammenzucken. Adam fühlte ſich mit
einem Male ſehr angeheimelt von dieſer einfachen,
mit verhalten geſchwätzigem Schweigen erfüllten
Umgebung. Eine gewiſſe Stimmung ... ein zartes
Fluidum rührender Poeſie ließ ſich ſchließlich auch
aus dieſer Gruppirung der Atome herausfühlen ..
Der Herr Doctor wurde wärmer ... er erinnerte
ſich einiger Träumereien ſeiner Jugend .. einiger
Träumereien, die ihm als Ideal ein ſchlichtes,
bücherüberfülltes Arbeitszimmer vorgegaukelt ...
und er ſaß unter ſeinen Schätzen, weltentrückt,
[207] weltentfremdet, unverſuchbar .. aber viel Drang zu
ſuchen und forſchen war in ihm ... und viel
tiefe Herzensſtille — und Adam beneidete einen
Augenblick ſeinen Wirth um die Enge und Welt-
abgekehrtheit ſeiner Klauſe ... und um eine Natur,
die ſich in ihren beſten Stunden durch ernſte,
neutrale Betrachtung alles Seins und Werdens und
geſammeltes Verſenktſein in die Räthſel des Kosmos
erlöſen durfte vom Staube und der beklemmenden
Enge des Daſeins .. Oh! Er genoß dieſer großen
Stunden manche nicht minder. Aber immer wieder
ließ er ſich in das Leben .. in dieſes fade, er-
müdende, abflachende und wurzelausrodende Werkel-
tagsleben hinausverführen ... Und darum denn
ſo oft dieſer Ekel .. und darum ſo oft dieſe namen-
loſe, zermarternde Angſt vor einem Verhängniſſe,
das über ihm ſchwebte — und dem zu trotzen
er doch keine Waffen beſaß .. keine Waffen mehr
beſaß ... Nein! Er hatte nicht mehr die Kraft,
mit ſouveräner Ironie auf das Leben zu verzichten —
auf ſeine kargen Reize und Freuden, welche er auf-
ſuchte, um ſie einfach hinzunehmen .. kaum, um ſie mit
vollem, ſtarkem, innerem Dabeiſein zu genießen —
und die er trotzdem ſo oft auch mit wahnſinniger Wuth
und Gier aufſuchte, um ſich zu vergeſſen — um
ſich zu betäuben .. um ſeine harte Seelennoth ..
das bohrende Grübeln über die Fruchtloſigkeit ſeines
Arbeitens .. die Unzuverläſſigkeit ſeines Temperaments
... die ſociale Lüge und Ausſichtsloſigkeit ſeiner Lage
durch phyſiſche Ausſchweifungen abzuſtumpfen ...


[208]

„Wollen Sie nicht etwas Caviar nehmen, Herr
Doctor —?“


„Ich danke recht ſehr —“


Eigentlich aß Adam Caviar ſehr gern. Aber
der ihm von Fräulein Hedwig angebotene ſah nicht
beſonders appetitlich aus .. ſchien doch ſchon ein
Wenig alt, trocken, zähe, ſalzig geworden zu ſein.


„Aber etwas Wurſt oder Käſe oder etwas Beef
nehmen Sie doch noch — ja? . Bitte! .“


„Wenn Sie gütigſt geſtatten —“ Adam bediente ſich.


„Papa, Du vergißt Dein Bier ganz .. willſt
du nicht 'mal trinken? . Es iſt zwar etwas warm ..
unſer Keller taugt nicht viel —“


„Mir iſt gar nicht recht, Kind .. Du weißt
ja ... und Bier — ich glaube, es iſt beſſer, wenn
ich's ſtehen laſſe — es könnte mich noch mehr reizen —
gieb mir bitte lieber noch einen Schluck Thee — obwohl
Thee meinen Nerven — aber verzeihen Sie nur, Herr
Doctor! Wir haben's diesmal ſchlecht getroffen ... Sie
hätten uns übrigens ſchon längſt wieder einmal
aufſuchen ſollen .. Hedwig ſprach öfter von Ihnen —
ich bin heute leider ſehr unpäßlich — vorgeſtern
fühlte ich mich ſo wohl und friſch, wie lange nicht —
und nun —“


Ein neuer Huſtenanfall unterbrach die mühſam,
ſchleppend, unter ſtoßendem Athmen hingeliſpelten
Worte Irmers.


Adam ſah zu Hedwig hinüber. Sie hatte ſich
zu ihrem Vater gekehrt und wiſchte dieſem mit
einem friſchen, leinenen Tuche den Schweiß von der in
[209] krankhafter Bläſſe glänzenden, dick überperlten Stirn.
Jetzt fühlte ſie den unangenehm ſcharfen Blick
Adams. Sie wurde unruhig .. in ihr Geſicht trat
ein ſeltſamer Ausdruck, der zugleich Scheu, Aengſt-
lichkeit, Verlegenheit .. einen leiſen Aerger über
die Ungeſchicklichkeit ihres Vaters .. und doch auch
eine gewiſſe Freude — aber worüber? — verrieth.


„Was arbeiten Sie jetzt, Herr Doctor?“ fragte
Irmer nach einer kleinen Weile und ſah mit müdem,
erloſchenem Blick zu ſeinem Nachbar hin.


„Ach Gott! Dies und Das! Es iſt nicht der
Mühe werth. Ich mache jetzt anthropologiſche
Studien — die ſind werthvoller und .. nothwen-
diger —“ bemerkte Adam kurz.


Hedwig ſah mit unſäglich wehmüthigem Blicke
zu ihrem Vater hin.


Eine längere Pauſe entſtand. Adam betrachtete
mit ſehr gemiſchten Empfindungen die beiden
Menſchen, die da vor ihm ſaßen. Er fühlte ſich
nicht wohl bei ihnen — nein! Ihre Hülfloſigkeit
machte ihn nervös .. peinigte, beklemmte ihn.
Und doch appellirten ſie, gewiß ganz, ohne daß ſie
es wollten, an ſein Mitleid. Sie erwählten ihn
unwillkürlich zum Vertrauten ihrer Schmerzen ..
und ſie wandten ſich, gewiß nicht minder unbewußt,
an ihn um Hülfe .. um Linderung .. Rettung ..
Nun fiel es Adam ſchwer aufs Herz .. nun that
es ihm ſehr weh, daß er nicht helfen konnte .. Das
„Schickſal“ mußte wieder einmal ſeinen üblichen Lauf
nehmen. Eines Tages würde Irmer ſterben und
Conradi, Adam Menſch. 14
[210] ſeine Tochter mittellos .. ausſichtlos .. zukunfts-
los zurücklaſſen. Und doch war es vielleicht das
Beſte, wenn der Vater bald ſtarb .. und Hedwig
bald in neue Verhältniſſe, in eine neue Umgebung ein-
treten mußte. Hier verwelkte und verkümmerte ſie
ganz .. an der Seite eines Sterbenden .. unter
dem ſteten Einfluſſe ſeiner Krankheit und ſeiner
weltabgewandten Schattenphiloſophie. Aber wie
würde es dieſer ſpröden, ſchweren Natur draußen
in der Welt ergehen .. unter den Menſchen, denen
ſie dienen ſollte? Die Leute, die ſichs geſtatten
können, „dienſtbare Geiſter“ zu halten, verlangen
offene, empfängliche Charaktere ... Temperamente,
die gleichſam mit großen, blanken Fenſterſcheiben
ausgeſtattet ſind, durch welche das volle Licht der
Sonne in breiten Maſſen hereinfallen kann ...
Adam ſagte ſich, daß Hedwig ſehr wenig Glück und
Erfolg unter den Menſchen finden würde. Sollte er
aber darum ſein Schickſal mit dem dieſes armen, hülf-
loſen, verlaſſenen Weibes verknüpfen? Er, der ſelbſt
ſchwer genug an ſeinem eigenen Leben trug? Daran
war doch nicht zu denken. Geſetzt ſelbſt, daß er
ſeinen äſthetiſchen und metaphyſiſchen Widerwillen
überwand — daß er es für eine „ethiſche“ Forderung
erkannte, der Verlaſſenen Stütze und Zuflucht zu
werden: ſchon aus materiellen Gründen war es
ihm unmöglich, dieſe Forderung zu erfüllen. Und
dann —: ſchließlich das Opfer eines moraliiſchen —
Hirngeſpinnſtes werden? Da wurde ja alle Natür-
lichkeit über den Haufen geworfen. Daß er Hedwig
[211] liebte — davon konnte ja nicht die Rede ſein —
ebenſowenig, wie davon, daß er ſich intimer an
Lydia oder an Emmy gefeſſelt fühlte. Je nachdem
die Stunde die Stimmung brachte, dünkte er ſich
zu der einen oder anderen der Damen hingezogen.
Die Stimmung lief ab — und über die Theilnahme
triumphirte wieder die alte, müde, einfältige, un-
fruchtbare und doch ſo praktiſche Gleichgültigkeit ...
Woher das nur kam? Das hatte wohl ſeinen Grund
zumeiſt darin, daß ſeine feine, äſthetiſche Natur zu
hohe Anforderungen ſtellte .. daß ſie zuſammen-
zuckte, zurückfuhr, ſich unbefriedigt .. oft verwun-
det und beleidigt fühlte, wenn einem, ob auch an
ſich noch ſo geringfügigen Bedürfniſſe nicht genügt
wurde .. Oh! Er hatte es ja ſo oft in älteren
und jüngeren Tagen mit Freunden und Bekannten
durchgekaut, das ehrenwerthe Motiv von dem
„hehren“ Frauen-Ideale, das ſich ein Jeder zu-
ſammenträumt und zuſammendichtet in der großen
Zeit ſeines geiſtigen und ſinnlichen Aufwachens und
Umſichgreifens .. in der großen Zeit ſeiner erſten
gewaltigen Jugendſchauer! Und das beſchworene
Bildniß läßt nicht von dir. Es folgt dir zur
Seite überallhin .. es zwingt dir Maß und Urtheil
auf .. es beeinflußt alle deine „Beziehungen“ und
„Verhältniſſe“ zu den wirklichen, fleiſchgewordenen
Töchtern der Erde —: das dein Glück dereinſt ge-
weſen, iſt dir zum Fluche geworden. Es rächt
ſeine Schattenexiſtenz, ſeine vage Unkörperlichkeit an
dir .. es flößt dir eine brennende, namenloſe
14*
[212] Sehnſucht nach ſeiner Verkörperlichung in die
Seele — die reifſten, ſaftigſten Früchte giebſt du
aus der Hand, weil dein Auge auf der Schaale
einen leiſen, winzigen Makel entdeckt, der dich
beleidigt .. Aber warum baueſt du dir überhaupt,
weltſeliger, menſchengläubiger Jüngling, ein ſolches
despotiſches „hehres Frauen-Ideal“ auf —? Ja!
Warum —?


Doch nein! Das ging zu weit. Das war über-
flüſſig. Was ſollten dieſe tragikomiſchen Betrachtungen
hier? Adam ſagte ſich nicht mehr klar, fühlte aber
inſtinktiv, daß er auf dieſem Wege wieder einmal
zu jenem Gebiete gelangen würde, mit dem er ſich
ſo oft in lautem Wort und leiſem Gedanken be-
ſchäftigt: eben zu dem leidigen Verhältniſſe, in das
die beiden Geſchlechter zu einander von Jugend auf
durch Herkommen und Erziehung geſtellt werden.
Ach ja! Er hatte dieſes Thema heute Abend Fräulein
Irmer gegenüber auf's Tapet bringen wollen! Nun!
Vielleicht kam die Gelegenheit dazu noch ...


Adam fühlte Hedwigs fragenden Blick auf ſich.
Das hülfloſe, verlaſſene Weib hatte plötzlich alle
Konvenienz bei Seite geſchoben. Nichts mehr lag
zwiſchen ihm und dem Manne, der ihm in ernſtem,
bewußtem Schweigen gegenüberſaß. Nichts mehr ſollte
nach dieſem Blicke, der zugleich unendlich troſtlos und
unendlich begehrend, zwiſchen ihnen liegen. Adam
fühlte ſich gewaltig ergriffen. Es wäre ein Frevel
geweſen, ein Verbrechen an dem „heiligen Geiſte der
Menſchheit“ — an den Adam allerdings in ſeinen
[213]
beſſeren und größeren Stunden doch noch glaubte —
ließ er thatlos untergehen, was dem Untergange —
trotz alledem unabänderlich verfallen war ... Ja!
Er wollte ... was wollte er? ... er wollte wenigſtens
ſein „Gewiſſen“ ſalviren. Er wollte ſich ſagen können,
daß er Alles gethan hätte, was er zu thun ver-
mocht habe. Er wollte der Selbſtvorwürfe über-
hoben ſein. Oder ... wenn er jetzt beſchloß, in das
Schickſal Hedwigs einzugreifen — beſtimmte ihn
dazu ſein Egoismus ... ſeine geſchmeichelte Eitel-
keit ... die heiße Bitte, die in Hedwigs Blick ge-
legen ... das Verſprechen, welches ihm dieſer bruſt-
erſchütternde Blick nicht minder gegeben? Es ſtieg
glühend auf in Adam ... er hätte das Weib, das
ihm bisher immer ſo ſpröde, ſo zurückhaltend be-
gegnet war ... und das ſich jetzt in ſeiner Noth
und Verzweiflung ihm ergeben wollte ... gewiß! ſich
ihm zu eigen geben wollte — er hätte es an ſich
reißen mögen — und mit ihm zu Füßen des armen
Mannes ſtürzen: dem Sterbenden zu ſchwören, daß
ſein Kind nicht verlaſſen wäre, daß er über ſein Kind
liebend wachen werde in allen kommenden Tagen ...


Die Kuckucksuhr über dem Sopha vermeldete
gluckſenden, mürriſch-verroſteten Tones die neunte
Stunde.


Hedwig erhob ſich leiſe ſeufzend und wünſchte
mit müder, klangloſer Stimme „Geſegnete Mahl-
zeit!“


Adam war unſchlüſſig. Sollte er noch bleiben
oder ſollte er lieber gehen? Dieſem Gefängniß ...
[214] dieſem Lazareth entfliehen? Sich draußen rein-
und freiathmen von den hier eingeſchluckten Miasmen?
Es war ſicher das Geſcheiteſte. Und doch gewann er
es nicht über ſich, ſo hart abzubrechen ... ſo auffällig,
ſo indiscret zu zeigen, daß ſich ihm der Eindruck
von Hedwigs ſtummer Augenbitte ſchon wieder ſtark
verwiſcht hatte.


Adam verſpürte einen bezwingenden Appetit nach
einer guten Cigarre. Doch ... hier im Kranken-
zimmer wurde nicht geraucht. Er mußte ſich den
Appetit ſchon verkneifen. Das ärgerte ihn ein
Wenig. Und nun knurrte er ſich im Geiſte ſchon
wieder an, daß ihn eine ſolche Bagatelle überhaupt
ärgern konnte. Allein er kam nicht über das pei-
nigende Gefühl des Mangels hinweg. Was küm-
merte ihn jetzt das Schickſal Hedwigs? Und der
Anblick dieſes leidenden, zuſammengedrückten Mannes
war ihm jetzt über Alles läſtig.


Um die unbequeme Stimmungsſcene zu wechſeln,
wandte ſich Adam eine Andeutung nach rechts und
ſtreifte mit müder, zögernder Hand die grüne Gardine
vom Bücherregal zurück. Langſam drehte ihm
Doctor Irmer ſein bleiches, weißes Geſicht zu.


Jäh ließ Adam die Gardine fahren. Er mußte
ſeinem Impulſe folgen. Er konnte nicht widerſtehen.
Er fühlte ſich plötzlich auf's Tiefſte durch die Ge-
duld beleidigt, mit der Irmer ſein elendes Leben
trug, weitertrug, weiterſchleppte. Nichts von Mitleid
mehr und Verſtändniß war in ihm. Ein kochender
Groll über dieſes reizloſe, werthloſe Ertragen und
[215] Aushalten ſiedete plötzlich in ſeiner Seele empor.
Er konnte nicht an ſich halten.


Hedwig hatte mit dem Mädchen, welches die
zuſammengeſtellten Teller abgeholt, das Zimmer ver-
laſſen. Sie trat in dem Augenblick wieder ein,
als Adam ihren Vater, ohne jede äußere Vermitt-
lung, barſch anfuhr: „— Aber ich bitte Sie, Herr
Doctor — warum haben Sie dieſem Hundeleben
nicht ſchon längſt ein Ende gemacht —?“


Hedwig blickte halb erſchreckt, halb erſtaunt zu Adam
hinüber, der, von ſeiner Offenheit ſelbſt ein Wenig
betroffen, wieder an der grünen Gardine zupfte.
Ein leichtes Verlegenheitsroth ſtand doch auf ſeinem
Geſicht.


Irmer ſchien den pſychologiſchen Proceß, der
ſich in Adams Bruſt abſpielte, zu begreifen, zu durch-
ſchauen. Ein verhaltenes, nur markirtes, aber doch
unverkennbar ſouveränes Lächeln legte ſich auf eine
kleine Weile über ſeine ſcharfen Dulderzüge.


„Sie täuſchen ſich, Herr Doctor“, antwortete
er nun mit ſeiner müden, ſchleppenden, heiſeren
Stimme, „— wenn Sie glauben, daß Ihr Leben etwa
weniger elend ſei, als das meine ... Ich leide nur
ſichtbarer, als Sie ... erkennbarer für jedes Laien-
auge — Sie — —“


„Pardon! Ich fühle mich ſehr wohl auf der
Welt ... Aber verzeihen Sie mir meine brutale
Geradheit — es fuhr mir ſo heraus —“


„— Als Sie mich wie ein Häufchen Unglück vor
ſich ſitzen ſahen — ich begreife, Herr Doctor —“


[216]

„Oh!“ ſtotterte Adam.


„Was iſt's denn, daß Sie noch an dieſem Hunde-
leben feſthält, wie Sie ſagen —? Was denn —?“


„Eigentlich nichts ... uneigentlich ſehr viel —“
erwiderte Adam gleichmüthig. Er hatte ſeine volle
Selbſtbeherrſchung wiedergewonnen.


„Mit dem ‚uneigentlich‘ — das iſt ſo 'ne
Sache! Nun — Sie werden ſich wohl ebenſo
täuſchen, wie ich mich getäuſcht habe, als ich in Ihren
Jahren war ... Damals waren mir einzelne peſſi-
miſtiſche Ahnungen und Stimmungen gleichſam
Surrogate, wenn's mit dem Leben ſelber einmal
nicht recht klappen wollte ... So wird's bei Ihnen
auch ſein. Aber Sie werden ſo ſicher wie ich zu
der Erkenntniß kommen, daß Sie ſich belogen —
allerdings Ihrer pſychiſchen Combination gemäß be-
lügen mußten ... Das iſt ja eben das ſogenannte
„Glück“ der Jugend, daß ſie ſich an jedem Da-
ſeinsmomente zu ſättigen vermag ... nach der Kette
der Entwicklung aber, dem logiſchen Zwange der
Fortbildung, nichts fragt. Es giebt natürlich noch
Millionen andere Spielarten von Seelenanlage. Aber
ich ging jetzt von der meinen aus und von der
Ihrigen, die, wenn ich mich nicht ſehr täuſche, der
meinen doch immerhin ziemlich verwandt iſt ...
Und darum werden Sie, Herr Doctor, mit der Zeit,
früher oder ſpäter, zu denſelben Reſultaten kommen,
zu denen ich gelangt bin. Ihr Selbſtbetrug beſteht
nur darin, daß Sie Ihre Weiterentwickelung jetzt
noch nicht vorausſehen können. Jawohl: können!
[217] Sie ſind für Ihre Verblendung nicht verantwortlich
— ſie liegt in der Natur der Sache —“


Adam dünkte dieſe Ausführung Doctor Irmers
gar ſeicht und oberflächlich. Was ſollte er darauf
erwidern? Hatte denn Irmer gar nicht herausge-
fühlt, daß er jene barſch herausgeſchleuderte Vor-
wurfsfrage in tiefſtem Grunde nur an ſich ſelber ge-
richtet? Oh! Er war trotz ſeinen jungen Jahren in
der „Erkenntniß“ ſchon weiter vorgeſchritten, als dieſer
arme, eingekapſelte Entſagungsfanatiker und Kartoffel-
ſuppenmeergreis glaubte. Ihre Seelenanlagen waren
doch wohl unter ſich ausnehmend verſchieden. Allein
— es tickte ihn, den Unmündigen und Kurzſichtigen
zu ſpielen — ſich ſo zu geberden, als coquettire er
eigentlich nur mit ſeiner Blaſirtheit ... als ſei er noch
voll von flammendem Jugendfeuer ... als halte er es
wirklich noch der Mühe für werth, für ein Dutzend
„bedeutender Ideale“ einzutreten.


Hedwig hatte ſich einen Stuhl an den Tiſch gerückt
und eine Häkelarbeit vorgenommen. Sie hielt den
Kopf über die Arbeit gebeugt .. ſah nur zuweilen
zu ihrem Vater auf .. und in ihrem Blick lag dann
die ganze Sorge um den Leidenden, zugleich aber
auch, wie es Adam ſchien, ein Wenig Ungeduld, ein
Wenig Zorn. Selten ſchielte ſie einmal zu Adam
hinüber. Blendend hob ſich das weiße Garn von
der kirſchbraunen Tiſchdecke ab. Mit dieſem dunklen
Untergrunde, den weißen Fingern, dem blaßgelben
Teint und dem ſchwarzen Haar Hedwigs bildete es
eine Farbengruppe voll einfach-bizarrer Plaſtik.


[218]

Adam aber begann alſo zu ſprechen — aller-
dings nicht ohne vorher noch einmal im Stillen be-
dauert zu haben, daß ihm keine gute Cigarre die
Rede begleiten und würzen ſollte —:


„Sie beurtheilen mich vielleicht doch etwas zu
ſehr nach ſich, Herr Doctor — verzeihen Sie, daß
ich ſogleich mit einer deductio ad personam beginne.
Es klingt ein Wenig paradox, enthält jedoch ſehr
viel Richtiges, wenn ich behaupte, daß wir, das
heißt: ich und verſchiedene Andere meiner Generation
— wir ſind übrigens ſo frech, uns immerhin zu
den Beſten des jungen Nachwuchſes zu zählen! —
alſo daß wir mit dem Momente — ich möchte bei-
nahe ſagen: angefangen haben, mit dem Sie und
mit Ihnen gewiß Unzählige Ihrer Generation auf-
hören. Ihre Entwicklung hat ſich den individuellen
Verhältniſſen gemäß, von denen Sie ausgingen,
ganz organiſch, ganz normal vollzogen. Aber die
unſere nicht minder. Zu Ihren Reſultaten ſind wir
in unſerem Gedanken- und Gefühlsleben ſchon vor
Jahr und Tag gelangt. In einem Punkte mögen
Sie allerdings Recht haben: die Jugend, das heißt:
unſere allerdings vielfach lädirte, durchbrochene, be-
einträchtigte Kräftegruppe, läßt ſich nicht verleugnen
— ſie muß ſich nach den natürlichen Geſetzen alles
Geſchehenen auslöſen und in Handlungen umſetzen.
So arbeiten wir trotz all' unſerer Müdigkeit .. und
„Blaſirtheit“ — arbeiten .. einmal zielbewußt .. zu-
meiſt aber nur im Zwange jenes ſogenannten metaphy-
ſiſchen Stadiums, wo das Individuum über ſich
[219] hinausgeht .. wo ſein Wille waltet und wirkt, ohne
jedoch eine klare Tendenz zu beſitzen. So ſind wir
denn vorwiegend auch in der Arbeit Aeſthetiker —
den ethiſchen Effekt bedingen ja ſo wie ſo die Geſetze,
nach denen der ſociale Zellenverband funktionirt!.
Aber wir arbeiten eben .. wenn auch ſtets der Ge-
fahr ausgeſetzt, das uns eine ſchwere, dunkle Stunde
der Verzweiflung .. des erneuten Durchſchauens ...
der geſpannteſten Sammlung und klarſten Umſicht
in alle Horizonte — daß uns eine ſolche Stunde,
ſage ich, die Waffe zur letzten, realſten und .. reellſten
Abfuhrthat in die Hand preßt .. die Waffe, die wir
als Sclaven kleinlicher Umſtände und Verhältniſſe
ſo oft ſchon bei Seite werfen mußten .. Es iſt
eben nicht nur ſehr gut möglich — es iſt ſogar
beinahe ſelbſtverſtändlich, daß eine Erkenntniß einmal
ſo intenſiv und überzeugend wirkt, daß unter ihrem
heißen Athem auch die letzte Rückſicht und Bean-
ſtandung dahinſchmilzt .. Dann iſt's eben aus —
dann heißt es nur noch: „tirez le rideau! La farce
est jouée!
“ — wir empfehlen uns auf gut Rabe-
lais'ſch ... Aber vor der Hand iſt ja dieſer letzte
Knalleffekt noch unvollbracht. Und wir müſſen mit
den Thatſachen rechnen .. ſo, wie ſie liegen. Wir
‚ſättigen‘ uns durchaus nicht ‚an jedem Daſeins-
momente‘ in dem Sinne, wie Sie es vorhin meinten,
Herr Doctor. Wir können uns eigentlich gar nicht
mehr begeiſtern. Wohl ſind wir noch großer, ſtarker
Gefühle fähig .. eben weil wir noch eine Fülle ge-
ſammelter, großer, unverbrauchter Kräfte beſitzen.
[220] Aber wir ſtellen dieſe Gefühle zumeiſt in den Dienſt
des Intellekts, wenn ich mich ſo ausdrücken darf.
Wir haben die hiſtoriſche Entwicklung der Philoſophie
vom Dogmatismus über den Skeptizismus zum Kri-
tizismus in unſerem individuellen Sonderleben in
ſchneidender Schärfe und Betonung durchgemacht. So
ſind wir — und mag das noch ſo widerſpruchsvoll
klingen — hagebüchene Individualiſten — geblieben
.. und doch zugleich auch Poſitiviſten und Phaeno-
menaliſten geworden. Sie haben ſich gerade umgekehrt
entwickelt, Herr Doctor. Und .. offen herausgeſagt:
von der ſocial-ethiſchen Bedeutung Ihres Reſignations-
ſtandpunktes verſpreche ich mir nicht viel — mögen
Sie Ihre Anſchauungen nun im Sinne Schopen-
hauers, Hartmanns oder Mainländers krönen ..
Kann ſein, daß das ſogenannte „Volk“ für die Ethik
eines Hartmanns eines Tages „reif“ geworden iſt —
ich wüßte nicht, ob ich mich darüber freuen, oder
ob ich es bedauern ſollte .. Sie ſind Ariſtokrat,
Herr Doctor — wir ſind auch Ariſtokraten. Aber
wir ſind Ariſtokraten der Zukunft .. vielleicht der
nächſten — Sie dürfen höchſtens erſt am jüngſten
Tage in die Urne greifen und das große Loos der
geiſtigen Weltherrſchaft ziehen ... Nun ja! Sie
können uns bemitleiden .. Sie können über unſere Be-
ſcheidenheit .. über unſeren „praktiſchen“, „realiſtiſchen“
Sinn mit ſouveräner Erhabenheit lächeln .. Wir
verſtehen Sie verhältnißmäßig ſehr gut, Herr Doctor.
Denn wir haben einmal mutatis mutandis Ihnen
ſehr ähnlich gedacht und gefühlt. Mein Gott!
[221] Die Entwicklung eines modernen Menſchen, der
einigermaßen außergewöhnlich .. einigermaßen über
den Durchſchnitt hinausragt, vollzieht ſich ja ver-
hältnißmäßig ſehr einfach. Das mit reichen Kräften
ausgeſtattete Individium entfaltet ſich gewöhnlich in
der erſten Zeit unter relativ guten Bedingungen. Da-
durch wird ein ebenſo hochgradiger, wie einſeitiger
Idealismus provocirt — ein Idealismus, der ſich über
Alles gern in Thaten ſetzen möchte .. dem aber Gott
ſei Dank! vorläufig noch alle Thaten allergnädigſt
geſchenkt bleiben. Allmählich kommt das arme-reiche
Individuum mit der Welt in Berührung ... mehr
und mehr. Natürlich ſtößt es an allen Ecken und
Enden an .. findet allorts Widerſpruch .. und zieht
ſich, in der Regel noch dazu ſehr zart, ſehr fein, ſehr
ſenſitiv von Natur, wieder ſcheu zurück .. Aber der
heißen Schwüre, die es ſich und Seinesgleichen in den
großen Schwärmertagen ſeiner Jugend gegeben hat,
kann es nicht vergeſſen. So ſtürzt es ſich in die
Welt zurück .. und tritt jetzt gewöhnlich ſehr kühn
und ſelbſtbewußt auf — was dann natürlich die Sipp-
ſchaft der guten Freunde, getreuen Nachbarn und
ähnlicher Conſorten, die ſich auch „Menſchen“ tituliren,
„brutal“, „anmaßend“ und weiß der Teufel! wie
noch nennen. So ein armes, wirklich ganz meſſianiſch
veranlagtes; mit dem wüthendſten Drange zu helfen,
zu erhöhen, zu verſöhnen, ausgerüſtetes — von allen
Welträthſelngequältes ... von tauſend Ahnungen, Stim-
mungen, Erwartungen, Hoffnungen, Entſagungen ...
von tauſend Tendenzen ... von einer Unzahl von
[222] Gefühlen, Gedanken und Problemen hin-und herge-
ſchütteltes Individuum wird dann gewöhnlich nebenbei
auch noch für „verrückt“, „unzurechnungsfähig', „un-
normal“, „überſpannt“, „pathologiſch“ u. ſ. w. erklärt.
Doch ſchiert es das im Ganzen wenig — es hat eben
genug mit ſich ſelber und ſeinem Skeptizismus zu thun.
Manchmal wohl ... manchmal fährt es auf in ſeinem
Grimme und zertritt einer zu unverſchämt gewordenen
Natter den Kopf. Natürlich wird es dabei ſtets höchſt-
eigenkörperlich in die bewußte Ferſe geſtochen. Das
Gift iſt nicht gerade tödtlich .. aber es macht doch
müde, blaſirt, welk .. ‚blaſirt‘ vor der Zeit ... es ent-
kräftet, zehrt auf vor der Zeit .. Indeſſen — das arme,
gemißhandelte, unverſtandene Individuum wird da-
durch zugleich auch ſo etwas wie „weltklug“ .. Es
fällt in allerlei Schrullen und Grillen ſeiner Jugend
zurück, kramt ſeinen alten, verſtaubten „Idealismus“
wieder aus ... ſtutzt ihn ein Wenig „modern“ auf:
vertieft, erweitert ihn hier .. verflacht ihn dort ...
ſchlägt „für vorkommende Fälle“ eine Brücke nach
Walhall — und paßt ſich doch im Großen und
Ganzen in einer ſtattlichen Reihe von Punkten der
„poſitiven““ Welt an .. verſucht mannigfache „real-
politiſche“ Experimente, Kunſtſtücke und Sperrenzchen
—: jetzt iſt es glücklich in ſein phaenomenaliſtiſch-
kritiſches Zeitalter eingelaufen — daß heißt: die
Welt iſt ihm furchtbar gleichgültig, aber es rechnet
doch mit ihr ... es analyſirt ſie .. es findet ſie ſehr
oft ſehr abſcheulich ... mitunter aber auch wiederum
„zu den ſchönſten Hoffnungen berechtigend“ — es
[223]
glaubt dabei immer noch, daß ſich einige ſeiner neu-
aufgefärbten „Ideale“ einmal erfüllen werden ...
es lebt ſehr äſthetiſch-epicureiſch — zugleich in ge-
wiſſer Hinſicht ſehr moraliſch ... intereſſirt ſich ſtark
für alle möglichen nationalen und .. internationalen
Fragen, die jedenfalls immer ſehr „brennende“ ſein
müſſen — — kurz: das Individuum lebt ... er-
lebt ... trägt ... erträgt ... leidet — arbeitet ...“


Adam unterbrach ſich. Er wiſchte ſich mit dem
Taſchentuche über die ſchweißfeucht überlaufene Stirn
und nippte an dem Bierglaſe, das Hedwig vor-
hin wieder friſch gefüllt hatte. Im Allgemeinen
war er mit ſich ganz zufrieden. Er fühlte zwar
ſehr gut heraus, daß er hier und da den Nagel durch-
aus nicht auf den ſogenannten Kopf getroffen hatte ..
daß mancher Wurf fehl gegangen .. daß mancher Hieb
abgerutſcht war .. Vieles hatte er, ein Opfer ſeiner
augenblicklichen, durchaus nicht ſo unbequemen, immer-
hin ganz „gemüthlichen“ Situation, nur logiſch aus
der Erinnerung nachkonſtruirt — Schwere, Tiefe
und Ernſt ſeines Motivs keineswegs erſchöpft. Halb
bewußt, halb unbewußt hatte er hier ein Zuviel,
dort ein Zuwenig gegeben .. manchen Accent falſch
aufgeſetzt .. Lichter und Farben öfter etwas will-
kürlich vertheilt ... Aber das iſt ja ſchließlich unver-
meidlich, tröſtete ſich Adam. Im Monolog wie im
Dialog iſt die Anknüpfung und Fortführung der
Gedankenreihe eine mehr oder weniger zufällige ..
von der Aſſociationsgewohnheit des Individuums
abhängige .. Nicht die innere Geſchloſſenheit und
[224] logiſche Unantaſtbarkeit des Gefüges — vielmehr nur
die auftretende Maſſe und Fülle wirkt .. das Pa-
thos
bedingt den Eindruck. Und wußte Adam auch,
daß er im Ganzen ohne Glanz und Schwung geſprochen
— ſo ohne all' und jeden Eindruck auf die beiden
Menſchen, die, eine beſondere, fremde, ihm mehr un-
ſympathiſche, als ſympathiſche Welt darſtellend, ihm
da gegenüberſaßen, — ohne all' und jeden Eindruck
auf ſie glaubte er wohl doch nicht geblieben zu ſein.


Aber welchen Eindruck hatte er denn eigentlich
erzielen ... was hatte er bekämpfen .. wofür hatte
er eintreten wollen? Adam mußte lächeln. Er
kam ſich einen Augenblick faſt wie ein Beamter einer
hochwohllöblichen Miſſionsgeſellſchaft vor. Doch ..
zu Ruinen von der Zukunft predigen? Aber das
war ja eben das Komiſche. Und nun ſtieg es alſo
wieder wie Mittleid in ihm auf .. wie Mittleid vor
Allem mit Hedwig, die verwelkte und verkümmerte ...
und es ſo gar nicht verdiente. Und eine Art von
ſentimental-cyniſchem Erlöſerdrang kam über ihn ...
und er beſchloß, um dieſes Leben, dieſes arme,
verblühende Leben, für eine kleine Weile einen breiten,
goldenen Sonnengürtel zu legen ... einen Sonnen-
gürtel erheuchelter Liebe ... Dann konnte die Kerze
ja langſam ausflackern, langſam verkniſternd er-
löſchen. ...


„ — Der Unterſchied zwiſchen Ihnen und mir,“
begann jetzt Irmer, nachdem er ſich ein Wenig
emporgerichtet und einmal tief aufgeathmet hatte,
„iſt nur der, daß mein Reſignationsſtandpunkt mehr ein
[225] intellektualer iſt, der Ihrige dagegen nur einer des
Herzens, des Gefühls, des Willens —“


„— Das iſt doch aber natürlich genug“, bemerkte
Adam entgegen — „Sie ſcheinen ganz zu vergeſſen,
Herr Doctor, daß die Entwicklung des Individuums
doch eine ausgemacht pſychophyſiologiſche iſt! Das
Alter iſt eben etwas total Anderes, als die Jugend
— ſein ſpecifiſches Organ iſt der Intellekt — Alter
und Jugend, deren ſpecifiſches Organ meinetwegen
das Herz iſt, um mich der herkömmlichen Termino-
logie zu bedienen, verſtehen ſich im Grunde über-
haupt nicht ... kommen ſich nur durch gewiſſe lo-
giſche Schlüſſe in Dieſem und Jenem näher —
ebenſowenig wie zum Beiſpiel der Kulturmenſch
unſerer Tage ſeinen Urururahn, ich meine die Sipp-
ſchaft der ſogenannten „erſten Menſchen“, verſteht
... der erſten Menſchen, bei denen das Gefühl
jedenfalls auch das Primäre geweſen iſt — das
Gefühl, welches, in den erſten ſprachlichen Taſtver-
ſuchen objectivirt, zur Ausbildung des Denkver-
vermögens als eines Organes, wenn ich ſo ſagen
darf, führte — was dann wiederum zurückwirkte
und in ſeinem Reagens zur Differenzirung der
Sprache Anlaß gab ... Wenn es möglich wäre —
aus geſellſchaftlichen und ſocialen Gründen iſt es
eben unmöglich —: dann ſollten Alter und Jugend
höchſtens eine Partie Scat miteinander ſpielen, ſich
aber um Gotteswillen nicht auf irgendwelche „tiefe-
ren“ Geſpräche, auf „weſentliche“ Debatten, kurz!
auf einen intimeren Verkehr miteinander einlaſſen
Conradi, Adam Menſch. 15
[226] — das iſt ganz unfruchtbar und macht zumeiſt nur
böſes Blut ... wenn ich auch nicht verkenne, daß
ſich Alles nur per Reibung entwickelt — und ſomit
das Alter ein ganz brauchbares — Feuerzeug für
die Jugend abgiebt ... Aber mit dem Kultus des
Alters ... mit dem Reſpect, der Ehrfurcht vor ihm
... mit der Rückſicht auf daſſelbe — damit ſollte doch
im Namen einer vernünftigen, keimkräftigen Zukunfts-
ethik einmal gründlich aufgeräumt werden. Ruinen
ſtudirt man nur — betet ſie aber nicht an — —“


„Nun begreife ich allerdings Ihre erſte Frage,
Herr Doctor, erſt vollſtändig — die Seite, die Sie
eben berührten, hatte ich bisher ganz außer Acht ge-
laſſen —“


Adam fühlte ſich von dieſem Vorwurfe ſeines
Wirthes — denn als etwas Anderes konnten die
Worte kaum aufgefaßt werden — ſehr unangenehm
berührt. Nun blickten ihn auch die ernſten, ſchweren
Augen Hedwigs fragend und zugleich bittend an.
War er zu weit gegangen —? Eine Reihe ver-
erbter, ſogenannter „Anſtandsgefühle“ nahm von
ihm Beſchlag. Aber er war einmal im Zuge. Und
er ſpürte, wie er lebendiger, wärmer, leidenſchaft-
licher geworden. Uebrigens — was wiſſen Herbſt und
Winter eigentlich vom Frühling? Aber er — verkör-
perte er in ſeiner Natur nicht alle vier Jahreszeiten
zugleich? Und doch! Gab dieſes Moment, wenn
es thatſächlich exiſtirte, nicht einen Widerſpruch zu
der von ihm Doctor Irmer gegenüber ausgeſprochenen
Anſchauung ab? Es nahm ſich faſt ſo aus. Nein!
[227] Nein! Die Jugend war noch voll in ihm — und
was bedeutete denn ſeine phänomenaliſtiſche Betrach-
tungsweiſe, wenn ſie hier nicht Stich hielt?


In einem Zuge trank Adam ſein Bier aus.
Gedankenverloren ſpielte er mit den Fingern noch
an dem Henkel des Glaskruges herum. Hedwig
erhob ſich, eine neue Füllung zu beſorgen. Zu-
fällig ... wie zufällig berührten ſich beider Hände.
Sie ſahen ſich an. Grüßte die Jugend die Jugend?
Sie wollten wenigſtens beide jung ſein. Das lag
in dieſem tiefen, ſich einbohrenden Blick, mit dem
ſie umeinander warben. Ein diskreter Luftzug ſtrich
zu den offenen Fenſtern herein. Die Lampe flackerte
ein Wenig. Irmer lag wieder ganz zuſammenge-
ſunken im Lehnſtuhl und hatte die Augen geſchloſſen.
Adam fühlte ſich von einem Schwarme heftiger, un-
klarer Gefühle beſtürmt. Es ging auf zehn Uhr.


Langſam ſchlug Irmer ſeine Augen wieder auf
und blickte ausdruckslos vor ſich hin.


„Willſt Du Dich nicht lieber zurückziehen, Papa —?
Du biſt ſchläfrig —“ fragte Hedwig.


Adam erhob ſich und bekundete damit, daß er
ſich empfehlen wollte.


„Na! der Wink mit dem Zaunpfahl war eigent-
lich überflüſſig,“ knurrte er in ſich hinein, natürlich
verſtimmt von der Taktloſigkeit Hedwigs.


„Aber bitte, Herr Doctor —“ begann jetzt dieſe ..
und brach dann jäh ab. Sie konnte Adam doch
unmöglich zum Bleiben auffordern. Der wußte nicht
recht, was er machen ſollte —


15*
[228]

„Ja! bitte, Herr Doctor — leiſten Sie meiner
Tochter noch etwas Geſellſchaft! Wenn Sie geſtatten
— ich möchte allerdings doch lieber zu Bett gehen
— das iſt ſo meine gewohnte Stunde — ich kann
ja nicht viel ſchlafen — der Huſten — die Ge-
danken und manches ... manches Fremde haben
Sie meinem alten Kopfe heute doch aufgegeben,
Herr Doctor ... Es iſt mir Vieles aus meiner
Jugend wieder eingefallen ... ich hätte Ihnen auch
Dies und Das erwidern können — es iſt zu ſpät ...
zu ſpät für heute Abend ... und wohl auch zu
ſpät — für immer ... Ich muß der Jugend die
Arbeit überlaſſen ... zu früh vom Leben gebrochen.
Auch Sie werden ſich müde arbeiten ... müde ...
müde ... Sie ſind es ja jetzt ſchon, wie Sie ſagen.
Aber arbeiten Sie ſich Ihre Jugend erſt tüchtig
herunter von Seele und Leib ... und Sie kommen
ſchließlich zu mir zurück — vielleicht von einem
anderen Punkte aus — vielleicht auf einem anderen
Wege — aber gewiß zu demſelben Ziele, zu dem
die Weiſen aller Zeiten noch zurückgekommen ſind.
Und nun leben Sie für heute wohl, Herr Doctor,
und ſchenken Sie mir recht bald wieder einmal die
Freude Ihres Beſuches. Ich denke, wir haben noch
Mancherlei miteinander auszumachen ...“


Hedwig führte ihren Vater, der mit Mühe einen
Huſtenausbruch unterdrückte, hinaus. Adam war
allein. Er trat an's Fenſter und legte ſich weit
über die Brüſtung. Die Nacht war ſchwül. Am
Himmel ein einförmiges Wolkengewirr ... ſchwere,
[229] blauſchwarze Maſſen. Es ſchlug zehn Uhr. Mecha-
niſch zählte Adam die ſonor widerhallenden Schläge.
Und er wußte, daß er die Entſcheidung über ein
Frauenſchickſal in der Hand hielt. Das ſchmeichelte
ihm ... das machte ihn ein Wenig eitel ... ein
Wenig ſtolz — und doch zugleich merkwürdig ängſt-
lich und beklommen. Er brütete eine Weile vor
ſich hin, in die ſchwarze, ſchweigende Nacht hinein.
Da fühlte er einen leiſen Luftzug ſeinen Hals be-
ſtreichen. Hedwig war wieder eingetreten. Er
wandte ſich um. — Mochten die Würfel denn
fallen. —


„Ich habe Ihrem Herrn Vater doch nicht weh ge-
than vorhin, mein gnädiges Fräulein? Ich war einige
Male allerdings ziemlich offen und geradezu — —“


„Ach bitte, Herr Doctor! Uebrigens ... ſagten
Sie nicht ſelbſt, daß es keine Brücke zwiſchen dem
Alter und der Jugend gebe — da mußten Sie
doch offen und geradezu ſein — nicht ...?“


„Sie zürnen mir doch, mein Fräulein ... Ich
höre es aus Ihren Worten heraus — ich be-
dauere ſehr — aber Geſchichten, die Einem am
Herzen liegen ... und die Einem ſo ſonnenklar ſind
— und die doch — — aber — — und dann
nimmt man ja immer nur ein winziges Moment
aus der ungeheuren Fülle der Gegenſatzmotive
heraus — gerade das Moment, auf welches man
durch eine, allerdings nur ſcheinbar zufällige Ideen-
aſſociation trifft — ſo macht ſich dem überall eine
gewiſſe Willkür breit — eine Willkür, die aber
[230] andrerſeits auch wiederum das Leben in allen
ſeinen Aeußerungen bunter und reizvoller ſtimmt.
Leider giebt es Naturen, welche das Bewußtſein,
daß Alles in der Welt nur ſucceſſiv und Nichts
ſimultan geſchieht, einfach wahnſinnig machen kann.
Vielleicht gehöre ich zu dieſen Naturen. Man hat
ſich für ein Moment entſcheiden müſſen — man
nimmt es heraus — tauſend andere drängen nach
— die nächſten hat man ſchon in's Auge gefaßt —
das erſte iſt bewältigt — man will zum zweiten,
das Einem ſchon entgegenblitzt, greifen — und trifft
auf ein ganz fremdes —: die Kombination iſt unter-
weilen eben eine völlig andere geworden. Das iſt
Tragik
. Es läßt ſich nichts in der Welt ganz
erfaſſen — nichts erſchöpfen ...“


Eine kleine Pauſe entſtand. Hedwig lehnte am
Tiſche und neſtelte gedankenverſponnen an ihrem
Garnknäuel herum. Auch Adam war an den Tiſch
getreten. Er ſah dem Spiel ihrer weißen Finger
zu. Bunte Gedanken flogen durch ſeine Bruſt.


Und ein bezwingendes Träumen kam über ihn ...
ein bezwingendes Träumen, das doch zugleich ein
helles und klares Wachen war. Und es ergriff
ihn, zu dieſem Weibe zwanglos von dem zu reden,
was ihn erfüllte ... zwanglos, ſo wie es in ihm
aufſtieg und von ihm ſich löſte. Närriſch dünkten
ihn die Schranken, die ſich die Menſchen zwiſchen
einander aufbauen. Mit einem leiſen Fingerdruck
ſtieß er ſie nieder. Und er ſprach zu dem Weibe,
das neben ihm ſtand —:


[231]

„Nicht, Hedwig, ſo ſind wir zwei Kinder der-
ſelben Generation. Und wir müßten uns doch eigent-
lich recht gut verſtehen. Eine Fülle gleichartiger
Zeitkeime hat Dich und mich befruchtet. Und doch
ſind wir ſo ſehr entfernt von einander. Ich
ſtehe ja viel mehr im fließenden Leben, als
Du. Deine Heimath iſt enger — ich habe im
Grunde keine Heimath mehr. So ſollte ich keine
Schranken ſpüren ... und ſpüre und finde allent-
halben doch nur — Schranken. Das iſt ein Wider-
ſpruch, an dem ich noch zu Grunde gehe. Das
Leben iſt ſo wahnſinnig komplicirt. Und doch hat
Jeder, der ſich nur ein Biſſel in's allgemeine Da-
ſeinsgetriebe hineindenkt, das Gefühl, als müßte
Alles ungeheuer einfach ſein. Und — ja! — ja!
— es wäre in Wirklichkeit auch Alles ungeheuer
einfach — wenn es nur Menſchen auf der Welt
gäbe ... und nicht Zweibeinler, die ihr Menſchen-
thum in die Zwangsjacke einſchnürender Formen und
Vorurtheile verſteckten ... Du biſt am Morgen vom
langen Schlafe aufgewacht und ſinnſt nach, welche
Träume Dir in der Nacht erſchienen waren. Die
Erinnerung iſt ſchroff und widerſpenſtig — und Du
findeſt keine Anknüpfung. Der Tag nimmt von Dir
Beſchlag ... und er zwingt Dich ganz in ſeinen
engen und doch ſo weiten Kreis hinein. Da plötzlich
löſt ein zufälliges Bild, das ſich Dir vor's Auge
ſchiebt im hellen Spiele der Tagesdinge, die Erin-
nerung an eine Traumſcene aus ... und ſie fliegt
an Dir vorüber ... langſam und doch zu ſchnell.
[232] Bald iſt ſie wieder aufgeſchluckt von dem fließenden
Wirrwarrwandel der Tagesdinge. Auch die Seele
hat einmal von der Einfachheit und der Freiheit
des Lebens geträumt. Aber dann kam das Leben
ſelbſt und löſchte mit ſeinem bunten Zuviel alle
dieſe vagen Träume aus. Nur manchmal flattert
noch ein verlorener Traumfetzen durch Deine Welt
der wirklichen Dinge und mahnt Dich an einſtige
Sehnſuchten, Hoffnungen, Erwartungen, an einſtige
Gewißheiten. Merkwürdig verſtören dieſe Erinne-
rungen und ſtärken doch zugleich. Schmerzlich ge-
bären ſie Ideale ... oder erneuern, vervollkommnen
verblichene wieder und verkümmerte. Wie ein me-
taphyſiſches Erzittern feinſten, ſublimſten Nerven-
lebens iſt es in Dir ... wie ein Erzittern, das
aber immer weitere Kreiſe ſchlägt und immermehr
hinein in den Fluthſpiegel der realen Welt. So
wird man wieder zum bewußten Kämpfer,
wo man vorher nur unfreiwilliger Arbeiter ge-
weſen war. Der, den ſich die Welt unterworfen
hatte, hat nun die Welt ſich unterworfen. Und die
Zeit iſt wahrhaftig dazu angethan, daß man ein
Kämpfer in ihr iſt! Wie oft habe ich ſie ſchon
packen wollen in ihrem innerſten Nerv — dieſe
merkwürdige Zeit — unſere Zeit! Es gelingt
mir nicht. Indizienkrumen ſammeln ... Brocken
... Steinchen ... Steinchen auf Steinchen kleben —
das kann ich nicht. Von ihren großen Strömungen
laſſe ich mich gar gern ergreifen. Vieles ... zu
Vieles darf ... muß hier an uns rühren. Es
[233]
gilt Mancherlei gutzumachen und noch Mehr auszu-
gleichen. Die moderne Wiſſenſchaft iſt für einen
äſthetiſch ... für einen künſtleriſch veranlagten Geiſt
ein Ungeheuer. Sie fordert ſtille, dauernde Arbeit
... ein ſtetes Bemühtſein ... ein Wachbleiben durch
viele einſame Nächte hindurch und immer erfriſchte
Geduld. Wo ſollen wir da hin mit unſerem bis
in's Feinſte nüancirten Stimmungsleben ... mit
unſeren ſtürmiſchen Affekten ... mit den großen und
kleinen — mit den ganzen und halben Wünſchen
unſeres Blutes? Und unſer Auge liebt noch viel
zu ſehr das Sehen nach innen ... und iſt noch ſo
ungeſchickt im ſcharfen Erfaſſen der Außendinge, die
doch jetzt ſo ſehr alle Welt beſchäftigen und ſo dik-
tatoriſch Reſpekt verlangen. Wir müſſen die klare
Linienwelt der Antike und die verſchwommene
Flächenwelt der Romantik mit ihren kosmiſchen
Verallgemeinerungen und ihren radicalen Principien
ſchon hinter uns laſſen ... und müſſen uns ſchon
bemühen, mit der nüchternen Korrektheit des Pſycho-
logen den Objecten auf den Leib zu rücken. Das
wird uns vorwiegend äſthetiſch angelegten Naturen
recht ... recht ſchwer werden — aber das einzige
Heil für uns wird es doch wohl ſein. In dieſem
Sinne müſſen wir uns unſere Zeit analytiſch zu
unterwerfen ſuchen. In dieſem Sinne müſſen wir
an ihre großen Probleme herantreten. Gewaltiges
bereitet ſich vor ... eine neue Zeit liegt in den
Geburtswehen. Wo ſind die unglücklichen Opfer,
die jede Uebergangsepoche fordert? Wir ſind es,
[234] hier ſind ſie. All' unſer Wünſchen und Wollen ge-
hört der Zukunft — wenigſtens in unſeren beſten
und größten Stunden — aber unſerem Können
giebt Richtung und Ziel ſo oft nur die ererbte
Vergangenheit. In dieſem Zwieſpalt werden wir
an uns irre, zweifeln ... verzweifeln wir hundert
und tauſend Mal ... und kommen ſchließlich dazu,
einen ſchrankenloſen Individualismus zu kultiviren,
einen Individualismus, der im Grunde doch nur ein
verunglückter, verſetzter Sozialismus iſt ... der aber
zugleich die dumme Angewohnheit hat, daß er uns
zerfleiſcht, aushöhlt, entnervt ... Aber wir fühlen
ſo tief und ſehen ſo ſcharf gerade in den Stunden,
wo wir ſpüren, daß Alles in uns auseinanderreißt
und aufbricht — und alle Irrthümer, Widerſprüche
und Vorurtheile der Welt erkennen wir nie klarer
und bedauern wir nie aufrichtiger, als gerade in
dieſen Stunden, wo die innere Zerklüftung am hef-
tigſten brennt. Da ſind wir zugleich Beſiegte und
Kämpfer — Kämpfer mit Siegeshoffnungen und An-
wartſchaften auf Zukunftstriumphe. Nun ja! Wir
werden unter unſäglichen Schmerzen zwiſchen dem
Alten und dem Neuen hin- und hergezerrt ... aber
wir denken in dieſen ſchweren Stunden doch darüber
nach, wie wir das Kommende am Schärfſten erfaſſen
... wie wir das „Moderne“ erſchöpfend definiren
— und wir erſtaunen freudig über die Fülle der
uns zuſtrömenden Begriffe, die im Wörterbuche der
Zukunft einen anderen Werth, einen anderen Inhalt,
eine andere Erklärung beſitzen werden. Und ſind
[235] uns auch nur Moſesblicke vorbehalten — wir
glauben an das Germanenthum, das ſeine höchſte
Miſſion: die Ueberwindung und Knechtung des
ſemitiſchen Geiſtes, erfüllen wird — mag dann
nachher der Konflikt zwiſchen germaniſchem Nationa-
lismus und europäiſchem Internationalismus gelöſt
werden ... Allerdings! ein Bedenken dürfen wir
nicht verſchweigen: vielleicht kann der ſemitiſche Geiſt
in ſeinen Wurzeln nur durch die gewaltſamen Ex-
propriationsakte der Zukunftsdemokratie ausgerodet
und ausgerottet werden. Ohne jene Gewaltakte wird
es aber überhaupt nicht abgehen, wenn einmal der
Verſuch gemacht wird, einige allzu hagebüchene Un-
terſchiede auszugleichen, einige allzu freche Unge-
rechtigkeiten zu ſühnen. Und dieſer Verſuch wird
allem Anſchein nach gemacht werden müſſen. Am
Ende dieſes Jahrhunderts — wie wird es da in
Europa ausſehen? Eins iſt jedenfalls gewiß: eine
ganz anſehnliche, gar nicht ſo minorenne Menge irriger
Anſchauungen und eingewurzelter Vorurtheile wird
dann beſeitigt ſein. Z. B. die von gewiſſen Zöpfen
und Perrücken heute noch mit ſperrangelweit auf-
klaffenden Mäulern beanſtandeten „materialiſtiſchen“
Auffaſſungen in puncto der Beurtheilung von ſoge-
nannten „Verbrechern“ — überhaupt von allen „Ge-
ſetzesübertretern“ — ſie werden natürliches Gemein-
gut Aller geworden ſein. Die Aera der ſeeliſchen Ver-
tiefung und Erkenntniß — des pſychologiſchen
Verſtändniſſes
wird gekommen ſein. Die
Märchen vom „freien Willen,“ von „perſönlicher
[236] Schuld“, von „perſönlicher Verantwortung“ — ſie hat
ein freier und klarer und gegenſtändlicher denkendes
Geſchlecht in die Rumpelkammer der Vergangenheit
geworfen. Oh! Es könnte immerhin eine Luſt
ſein, in dieſer neuen Epoche zu leben! ... in dieſer
Zeit, wo auch die Schranken zwiſchen den beiden
Geſchlechtern gefallen ſein werden — dieſe dummen,
einfältigen, nichtswürdigen Schranken, die jeden na-
türlichen, naiven Verkehr zwiſchen Mann und Weib
unmöglich machen ... Das wiedergeborene germa-
niſche
Grundgefühl wird das barbariſch unappetit-
liche, über Alles ekelhafte Verhüllen und Verſchweigen,
das in der chriſtlich-ſemitiſchen Auffaſſung der Sinn-
lichkeit die Hauptrolle ſpielt, als brutal unſittlich
erkannt und zurückgewieſen haben. Es wird —
verzeihen Sie, liebe Hedwig, meine Offenheit ...
und lächeln Sie zugleich — — nein! wenden Sie
ſich nicht ab und erröthen Sie nicht! — beſchämen
Sie mich vielmehr und lächeln Sie darüber, daß
ich Sie um Entſchuldigung bitte ... als hätte ich
das Gefühl ... das Bewußtſein — was ich leider,
offen geſagt, auch habe — daß ich hier ein „unan-
ſtändiges,“ „heikles“ Thema berühre, wo ich doch
nur von den natürlichſten Dingen der Welt ſpreche!
— alſo — aber was wollte ich ſagen —? ja —!
es wird — es wird — nein! es wird dann keine
„verbotenen Genüſſe“ — keine heimlich großge-
zogene, verſteckte Lüſternheit — keine — alſo ...
ich darf ganz offen ſein —? keine künſtlich gezüchtete
Selbſtbefriedigung mehr geben ... Unendlich Viele
[237] Ihres Geſchlechts werden von den ſcheußlichſten, un-
erträglichſten Qualen befreit ſein — und unendlich
Vielen meines Geſchlechts wird der Gang durch die
... die ... alſo durch die Bordelle erſpart bleiben —
durch dieſe zweifelhaften „Roſenhage“, welche bis dato
Generation auf Generation abſolviren mußte. Von
dem furchtbaren Drucke, den uns die ſo grauſam un-
natürlichen Verhältniſſe unſerer Zeit auf die Bruſt
gewälzt, haben dieſe Menſchen der Zukunft aufathmen
dürfen. In dem klaren Erkennen der Natur, welche
die Geſchlechter zueinander zwingt, werden ſie die
Geſetze ihres Lebens natürlich einrichten und ge-
ſtalten ...“


Adam brach ab. Hedwig hatte ihren Platz am
Tiſche, den ſie bis dahin unverändert innebehalten,
bei der letzten Wendung, die Adam's buntförmige
Rede genommen, verlaſſen und war an das offene
Fenſter getreten. Sie ſtützte die rechte Hand auf
den Schreibtiſch ihres Vaters.


Adam fühlte ſich doch ein Biſſel beklemmt. Er
bereute faſt ſeine Offenheit ... er konnte jetzt ſeine
Kühnheit kaum begreifen ... er ärgerte ſich über
ſich und zugleich über Hedwigs Prüderie. Sie ver-
ſtand ihn alſo doch nicht. Aber er — verſtand er
ſich denn noch in dieſem Augenblick? Und doch hätte
er noch ſo Manches auf dem Herzen gehabt und ſehr
gern noch eine kleine Weile weiterdozirt, wie er ſein
breitſpuriges, allerdings ſehr doktrinäres Schwatzen
und Salbadern im Stillen titulirte. Und nun wurde
es ihm wieder zu Sinn, als wäre Hedwig weniger
[238] prüde geweſen, als wäre ſie vielmehr von einem
halb ehrlichen, halb ſentimentalen Mitleid mit ſich
ſelber ergriffen worden. Das ſtimmte ihn weich,
zärtlich, hingebend und verlangend — und er trat zu
dem Weibe, dem er einen Augenblick früher wiederum
faſt fremd gegenübergeſtanden hatte, ans Fenſter —
ein dunkles Wollen und Müſſen in der Bruſt. Adam
trat dicht an Hedwig heran und flüſterte ihr leiſe zu,
den Nachdruck der Innigkeit und Ergriffenheit in der
Stimme: „Habe ich Dir wehgethan, Hedwig? Sei
mir nicht böſe —“


Hedwig hatte die linke Hand über die Augen
gelegt. Den Kopf hielt ſie gebeugt. Ein leiſes,
verhaltenes Schluchzen ging jetzt von ihr aus. Adam
athmete ſchwer auf.


Draußen lag die Nacht ... die letzte Mai-
nacht ... ruhig, ſchwarz. Nur ein nervöſes Er-
zittern der Schwüle prickelte zuweilen durch die
Luft.


Adam Menſch verſpürte ſich wieder einmal ganz
im Zwange ſeiner Stimmung. Wie ein un-
endliches Mitleid mit ſich ſelber ergriff es auch ihn.
Unklare, halbfertige Sinnlichkeitsaffekte löſten ſich
in ihm aus. Dieſe nächtige Schwüle bedrückte ihn.
Dieſes ſchluchzende Weib quälte ihn ... und be-
glückte ihn doch zugleich unſäglich. Eine ſchickſals-
mächtige, fanatiſche Nothwendigkeit bändigte ihn jetzt
zu Hedwig hin. Aber nein! Er durfte ſich nicht
überwältigen laſſen. Er dachte an Lydia, er dachte
an Emmy. Ach! es ekelte ihn vor ſich. Das war
[239] ein wüſtes, wahnwitziges Hin- und Herirren von
Einer zur Anderen ... ein verzehrendes Suchen
ohne eigentliche Abſicht zu finden — zu finden, um
dann feſt- ... feſtzuhalten. Und doch: hatte er nicht
ſchon tauſend Mal die Sünden bereut, die er nicht
gethan? Er hatte Gewalt über dieſes Weib. Es war
in ſeiner Hand. Und er lechzte nach — wonach?
Nach den ſogenannten „Freuden“, den „Amuſements“
der Liebe? Das nun weniger. Jedoch! Er unter-
lag. Er mußte nachgeben. Er mußte das an ſich
reißen, was ihm den Weg kreuzte und ſich ihm zu-
wandte. Er konnte ja auch gar nichts Geſcheiteres thun.
Und er nahm dem weinenden Weibe die Hand von
den Augen und raunte ihm zu: „Ich habe Dich
ſehr lieb, Hedwig ... weine nicht! ... Wir ge-
hören doch zuſammen! Komm!“


„Adam!“ ſträubte ſich Hedwig.


„Haſt Du mich denn nicht ein Wenig lieb —?“


Die Worte waren leiſe, langſam, flehend geſprochen,
eine große Traurigkeit und Bekümmerniß verrathend
... und wie eine ſchwere Enttäuſchung zugleich.


Hedwig ſtand da, den Kopf geſenkt, ihre Hände
lagen auf dem Fenſterbrett.


Und Adam nahm dieſe kleinen, mageren, blaß-
gelben Hände und zog an ihnen das Weib, das er
liebte, an ſeine Bruſt. Und er berauſchte es mit
glühenden, ſtechenden Küſſen. Die Lippen wollten
nicht von einander laſſen, und es war, als wollten
ſich die Beiden gegenſeitig das Leben ausſaugen
und auftrinken.


[240]

Adam war es ſehr mild und weich zu Sinn.
Er hatte eine gute That vollbracht. Er hatte dieſem
armen, eintönigen, farbloſen Daſein ein großes Er-
lebniß, eine große ſeeliſche Erſchütterung gegeben.


Hedwigs Arme umſchlangen ſeinen Hals. Eine
unendliche Hingebung und Zärtlichkeit ſprach und
bat aus ihren verthränten Augen.


„Nun haben wir uns doch gefunden —“ flüſterte
ſie und legte den Kopf an Adams Bruſt, als ſchämte
ſie ſich ihrer Worte ... als wollte ſie ſich vor ſich
ſelber verſtecken.


„Jawohl!“ antwortete Adam ſehr laut und
lächelte eine Stecknadel lang ſpöttiſch. Das kleine
Weib war doch eigentlich etwas zu ſentimental.


Langſam lockerten ſich Hedwigs Arme. Der Herr
Doctor verſtand. Hm! So leicht zu verletzen? Aber
da packte ihn auch wieder die Leidenſchaft — und
von Neuem riß er das Liebſte, was er zu dieſer
Friſt auf der Welt beſaß, an ſich und erſtickte es
faſt mit ſeinen Küſſen und Umarmungen.


„Mein Weib! Mein ſüßes, einziges Weib!“
ſtieß er gepreßt hervor und zwang Hedwig mit
Ueberkraft zu ſich heran ... bis ihnen der Athem
abriß und ſie langſam von einander laſſen mußten.


Nun ſtanden ſie neben einander und ſahen in
die Nacht hinaus, die ruhig, ſchwarz, ſchwül zwiſchen
Himmel und Erde hing.


„Was ſoll mit uns werden, Adam —?“ kam
es nach einer kleinen Weile leiſe von Hedwigs
Lippen.


[241]

Adam antwortete nicht ſogleich. Wußte er denn
etwa ſelbſt, was mit ihnen werden ſollte?


„Du antworteſt nicht —“ begann Hedwig wieder.
Mühſam unterdrücktes Aufſchluchzen gab ihrer Stimme
etwas Hartes, Rauhes, Gezacktes.


„Was mit uns werden ſoll, mein Lieb? Aber
wir wiſſen doch, daß wir zu einander gehören! Iſt
das vorläufig nicht genug? Wollen wir uns die
Schönheit und Größe dieſer Stunde durch kleinliche,
philiſtröſe und trivial-proſaiſche Erwägungen ſtören
laſſen? Zwei Lebensläufte ſind nun zuſammengefloſſen
und haben eine Richtung erhalten ... und ein
Ziel ... Und ... nun ja! — aber wirklich, meine
Liebe — laß das jetzt — ja? Wir ſehen und ſprechen
... und ... küſſen uns ja nun alle Tage ... und da
werden wir wohl gelegentlich ſchon 'mal eine Stunde
finden, wo wir ſo einfältig und nüchtern und ... und
ſo kalt und trocken ſind, daß wir auch einige unver-
meidliche praktiſche Fragen erledigen können. Komm,
mein Lieb — gieb mir jetzt lieber noch einen recht
herzigen Kuß —!“


Hedwig trat einen Schritt zurück und wehrte
ſanft ab. „Das iſt es nicht, Adam, was ich meine
— das nicht. Wir müſſen tiefer gehen. Ich weiß:
Du fühlſt den Zwieſpalt ebenſo gut, wie ich ..
und willſt ihn Dir wohl jetzt nur nicht eingeſtehen.
Du weißt ebenſo gut, wie ich, was uns trennt ...
was uns immer trennen wird. Deine jähe Leiden-
ſchaftlichkeit hat mich beſiegt — ich habe Dir nach-
gegeben. Es war ja auch nicht ſo ſchwer, mich zu
Conradi, Adam Menſch. 16
[242] beſiegen. Denn ich habe Dich nicht minder liebge-
wonnen, Adam. Zuerſt — ja! — da haſt Du
mich abgeſtoßen ... Du haſt doch öfter mein Fein-
gefühl ſehr beleidigt. Trotzdem habe ich mich ſeit
jenem Abend bei Quöck ſtärker und tiefer für Dich
intereſſiren müſſen. Ich ahnte zuerſt ... und
nachher wurde es mir immer klarer, daß wir
manches Gemeinſame beſäßen. Eine unglückliche
Natur biſt Du ... wie ich es bin. Ich kann Dir
in Vielem ſehr gut und ſehr fein nachfühlen, Adam.
Ich verſtehe Dich vielleicht beſſer, als Du Dich ſelbſt
verſtehſt — jedenfalls ebenſo gut. Nur hätte ich
tapferer Dir gegenüber ſein ſollen. Ich hätte Dich
um jeden Preis abweiſen müſſen, Dein Werben und
Betheuern nur für das nehmen ſollen, was es in Wirk-
lichkeit allein iſt: ein Produkt Deiner Stimmung,
die morgen wieder eine ganz andere ſein kann —
ja! — ſicher eine ganz andere iſt, als ſie es
heute geweſen. Nein! Bitte, lieber Adam! unter-
brich mich jetzt nicht — laß mich einmal ausreden.
Aber ich habe doch nicht widerſtehen können. Das
Jahrelang verleugnete Weib in mir konnte ſich
nicht länger verleugnen. Ich fühlte noch zu heftige
Jugendbedürfniſſe in mir ... und fühle ſie noch.
Du kannſt jetzt mit mir machen, was Du willſt,
Adam. Ich ſage Dir das ganz offen. Und nicht
etwa, um Dich um Schonung zu bitten. Mein
Schickſal liegt in Deiner Hand. Ach! Das un-
natürlich Niedergezwungene ſprengt ja mit einem
Rucke ſeine Ketten, wenn man ſie ihm nur ein
[243] Wenig lockert. Alle philoſophiſchen Erziehungsverſuche
meines Vaters ſind vergeblich geweſen. Das Blut
meiner Mutter — das ſagt Alles. Ich bin nicht zu
dem Frieden gekommen, den mir mein Vater gegeben
zu haben glaubt. Ich verbarg und verſteckte die
letzten Funken meiner Jugend vor ihm — die letzten
Funken, die Du angefacht haſt, Adam. Es war
ja nicht ſchwer, ſie vor dem alten Manne zu ver-
heimlichen. Er lebt ja nur in ſeiner Welt — und
unſere engen, kargen, farbloſen Verhältniſſe brachten
es mit ſich, daß ich äußerlich ruhig und ernſt und
zufrieden erſcheinen konnte. Und doch — und doch
— Adam — trotz alledem habe ich das Gefühl,
daß ich zu welk und zu alt bin für Dich. Laß die
letzten Flammen erſtorben ſein — und ich falle ganz
zuſammen. Das traurige, eintönige Leben, das ich
ſeit Jahren habe führen müſſen und das ...
wenigſtens anfangs ... dem innerſten Grundzuge
meiner Natur ganz entgegengeſetzt war — mit der
Zeit paßt man ſich eben mehr und mehr an —
dieſes Leben konnte nicht ohne abtödtende Einflüſſe
auf mich bleiben. Ich bin nur ein Schatten noch von
dem, was ich einſt war. Ich gehe durch die Welt ...
durch die reale Welt der Sinne wie im Traume ...
wie eine Nachtwandlerin ... ich habe kaum Fühlung
mit dem, was die Zeit bewegt. Nur ein dunkles Ahnen
... ein gewiſſer Inſtinkt ſagt mir noch Manches. Ich
bin vielleicht keine verlorene Seele, aber ſicher eine
verlegene ... eine verwelkende und verkümmernde.
Das iſt Alles, Alles ſo traurig — ſo unſäglich
16*
[244] traurig. Nun ich mich an Dir meſſen kann, fühle
ich meine Kraftloſigkeit doppelt. Aber auch Du,
Adam — auch Du biſt nicht geſund — ich meine:
biſt nicht ſo, wie die Anderen — wie die Mehrzahl
— die Maſſe. Robuſtes und Dickhäutiges — nein!
das haſt Du gar nicht. Du biſt viel zu fein
und zart organiſirt, um Dich in dieſer rauhen
Zeit ſo behaupten zu können, wie Du es wohl ver-
dienteſt. Wenn Du wirken .. noch wirken willſt —
wenn Du noch mit Deinen Kräften für jene Ideale
eintreten willſt, die Du vorhin erwähnteſt, muß Dir
die Sonne ſcheinen .. mußt Du in die volle, warme
Mittagsſonne gehen. Bei mir findeſt Du nur Schatten.
Wir beide zuſammen — wir empfänden die Schwere
und Reizbarkeit unſerer Naturen nur doppelt ſcharf
— wir wären nur doppelt unglücklich. An einer
endloſen Kette unerträglichen Elends würden wir
zu ſchleppen haben. Mit mir kannſt Du Deine Kräfte
nicht flüſſig machen. Ich ſtehe dem Leben zu ſkeptiſch
gegenüber, obwohl ich es faſt gar nicht kenne. Meine
Zweifel würden auf Dich fallen .. würden Dich
hemmen, wenn Du einmal Deine eigenen glücklich
vergeſſen hätteſt. Um für Deine Ideale eintreten zu
können, mußt Du mit neuen Illuſionen rechnen
dürfen. Das iſt mir ſehr klar. Und um Dir dieſe
Illuſionen zu ſchaffen, bedarfſt Du der Fülle, des
Glanzes, des Reichthums, der Dich aller kleinlichen
Alltagsſorgen überhebt und Dir die gröbſten Rei-
bungen des Lebens beſeitigt. Wenn Du nicht in
den Beſitz von Gold, von Mitteln kommſt, gehſt Du
[245] unter. Ohne dieſe ſtärkſte Waffe im Leben ver-
bluteſt Du vor der Zeit. Nun ſieh: wir beide —
Du und ich — und ich mittellos, wie Du — wir
beide mit unſeren müden Herzen und müden Sinnen
.. mit unſeren feineren, ariſtokratiſchen, differen-
zirten Naturen — wir ſollten uns nun ordinär
wie zwei gewöhnliche Arbeiter ums tägliche Brot
abplagen, damit wir überhaupt nur leben könnten?
Es iſt zu viel Schatten um mich, Adam — zu viel.
Gar keine Sonne — gar keine. Der Kampf würde
uns aufreiben .. würde uns mit ſeinen Fauſtſchlägen
und Nadelſtichen zu Tode martern. Und dann: ich
kann meinen armen, hülfloſen Vater auch nicht ver-
laſſen. Ich bin gebunden. Verkehren — ja! vielleicht
können wir in Zukunft öfter ... und intimer mit
einander verkehren — und es ergiebt ſich vielleicht
auch manches Gute aus dieſem zeitweiligen Verkehr.
Und das Letzte, Adam — der letzte und ſchwerſte
und triftigſte — wenigſtens vor der Welt triftigſte
Grund, warum ich Dir nicht angehören kann: ich
bin nicht die mehr, für die Du mich wohl bisher
gehalten haſt — ich habe — o Gott! — ich habe
auch ſchon eine — Vergangenheit ...“


Adam hatte die Auseinanderſetzung Hedwigs
ſchweigend angehört. Er hatte ſie einige Male
unterbrechen wollen, auf ihre Bitten aber immer
wieder an ſich gehalten. Ja! Gewiß! Sie hatte
in Vielem .. wohl ſchließlich in Allem Recht — er
mußte ihr beiſtimmen, wenn er ehrlich gegen ſie und
gegen ſich ſelber ſein wollte. Nur — nur mit der
[246] Erwähnung ihrer „Vergangenheit“ — was hatte ſie
denn damit ſagen wollen? Ihre Schlußworte hatten
ihn doch frappirt. Eh bien — eine „Vergangen-
heit“ — eine „Vergangenheit“ hat ſchließlich Jeder
... und es iſt immerhin beſſer, eine hinter ſich, als
eine vor ſich zu haben ... Aber .. aber es iſt doch ...
doch immerhin mißlich für einen Mann, wenn eine
Frau, mit welcher er verkehrt — und die er .. die er
alſo liebt — wenn eine ſolche Frau eine „Vergangen-
heit“ hat. Das kann unter Umſtänden ſehr weh thun.
Aber es iſt eigentlich zu dumm ... zu dumm .. Sitzen
denn dieſe verfluchten Vorurtheile ſo feſt — ſind ſie ſo
eingewurzelt — ſo die ganze Natur durchtränkend und
überklettend vererbt? Entſetzlich iſt dieſer Zwang des
Geweſenen — und lächerlich — über alle Begriffe
lächerlich dazu! Und doch — — und doch — — ach!
Wer hat ſchon gegen das „ewig Geſtrige,“ das allem
Geborenen eingeimpft wird, mit Erfolg gekämpft —?


Adam athmete ſchwer. Er wollte einen leichten,
luſtigen, burſchikoſen Ton anſchlagen, aber es gelang
ihm nicht.


„Eine Vergangenheit —?“ fragte er ebenſo leiſe,
wie Hedwig ihre letzten Worte geflüſtert hatte.


„Ja! —“


„Aber zum Teufel —“ nun brach der Grimm
über ſeine altehrwürdige Auffaſſung bei Adam
doch durch — „aber zum Teufel, mein Lieb, —
was geht mich denn Deine ſogenannte ‚Vergangen-
heit‘ an? Oder glaubſt Du etwa, ich hätte keine ‚Ver-
gangenheit‘? Da irrteſt Du Dich doch gewaltig —“


[247]

„Du biſt auch ein Mann, Adam — aber
ich —“


„Ach ſo? Na! das iſt wieder einmal die be-
wußte alte, aber Gott ſei's geklagt! ewig neue Ge-
ſchichte! Dir iſt verwehrt, was mir erlaubt iſt? —
Hm! das kann vielleicht eine Formel aus dem
‚Guten Tone‘ — oder ein lobeſamer Paſſus in
dem Moralexercitium eines philoſophaſternden Theo-
logen ſein — aber vernünftig iſt dieſer ekelhafte
Gemeinplatz — dieſe abgedroſchene Trivialität beileibe
nicht — und zwei Menſchen wie Du und ich ſollten
ſich am Allerwenigſten von dieſer capitalen Dummheit
irre machen laſſen. Habe ich nicht Recht —?“


„Vielleicht, Adam — aber — —“


„Aber? Ihr Weiber ſeid doch Alle über einen
Leiſten! Und meine Hedwig iſt um kein Haar
klüger ... denkt um kein Haar freier, als die ganze
andere Geſellſchaft! Nur ſo weiter, mein Lieb!
Da wirſt Du ſchon ganz ‚vernünftig‘ werden mit
der Zeit — paß 'mal auf —“


„Adam! —“


„Nun ja! . Oder hätte ich Unrecht? Ich wüßte
nicht ... Wenn das am grünen Holz geſchieht — —“


„Adam! ..“


„Pardon! ‚Grünes Holz‘ — — ich werde
unangenehm — ich werde boshaft — verzeih, mein
Lieb! Aber im Unrecht biſt Du doch. Ich hätte ..
wahrhaftig! ich hätte Luſt, Dir 'mal einige pikante
Geſtändniſſe zu machen — weißt Du: ‚pikant‘ hin-
ſichtlich — — —“


[248]

„Nein! — Nein, Adam! —“


„Nicht? Aber warum denn nicht? Nun erſt
recht! .. Ich ſehe: man muß auch Dich noch er-
ziehen, Hedwig — Dein Vater — —“


„Ich ertrage es nicht, Adam — ſei ſtill! .
bitte! .. Ja? ..“


„Nun — wenn Du abſolut willſt — — aber
ſage mir nur — —“


„Ich habe Dich ſo unendlich lieb, Adam —
und — und — —“


„Nun — und? Und, Hedwig —?“


„Wenn — wenn — — ach, Adam — laß
mich doch! .. laß mich! —“


„Ich verſtehe Dich nicht —“


„Nun denn: Wenn Deine Vergangenheit in die
— Gegenwart eingriffe — — Adam! — ich er-
trüge es nicht! . Nein! ich ertrüge es nicht. Ich bin
nur ein Weib — nur ein Weib, was Dich — —“


„Aha! . Daher weht der Wind? Verzeih',
daß ich brutal bin, mein Kind! . Da ſcheint doch
eine Radicalcur ſehr nothwendig zu ſein — alſo —“


„Adam! —“


„Nun? .“


„Du liebſt mich nicht! —“


„Sei ohne Sorge, Hedwig! Ich habe immer
ſchöne Formen ... und .. und eigenartige Charaktere
... und .. und ſeltſame Schickſale geliebt — immer,
Hedwig! —“


„Du biſt furchtbar, Adam! —“


„Furchtbar? Warum? —“


[249]

„Du biſt jetzt ſo ganz anders, als vorher —“


„Oder Du ... aber —“


Adam unterbrach ſich und wandte ſich ab. Er
legte ſich weit über die Fenſterbrüſtung, ſah auf die
ſtille Straße hinab — nur ein welliges Wipfel-
rauſchen ſummte von den Linden, die da unten
ſtanden, herauf — und blickte empor zum Himmel.
Im Nordoſten hatten ſich die Wolken zu ſchwarzen, ge-
waltigen Polſtern zuſammengeknäuelt. Die Luft war
faſt noch heißer und ſchwüler geworden. Adam
athmete tief auf. Ein Reichthum verhalten brennender
Gefühle ſtand in ſeiner Seele. Er hätte ſo gern an
harmloſeren Fäden ſeiner Vergangenheit angeknüpft.
Die Gegenwart zerſchnürte ihn faſt mit ihren Un-
klarheiten, mit ihren verſchwommen, zerriſſen auf-
gurgelnden Geräuſchen. Nein! Nein! Das drängte ſich
Alles zu dicht an ihn heran! Er ſah ſich um. Er ſah
dieſen engen, frugalen Raum, der eng und frugal
blieb, ob ihn auch das gedämpfte Licht der Lampe
anheimelnder ſtimmte — — er ſah dieſes Weib an
ſeiner Seite — dieſes ſchluchzende Weib, das ihn
mit ſeiner thörichten Liebe quälte — — es war
unerträglich! Ein Gedanke befiel ihn.


„Hedwig! —“


Und nun noch einmal, aber in leiſerem, ernſterem,
bittendem Tone:


„Hedwig! —“


Die Angerufene richtete langſam den Kopf in
die Höhe.


„Ich will Dir einen Vorſchlag machen. Es iſt
[250] ſo heiß und ſo eng hier. Komm! Laß uns noch
ein Wenig hinausgehen! Draußen ... draußen wird
uns freier werden — ich erſticke hier faſt ... und
wir haben wohl noch ſo Manches miteinander zu
reden, mein Lieb! ... Komm! Ja —?“


„Aber, Adam —!“ Hedwig wiſchte ſich mit ihrem
Taſchentuche die Thränen aus den Augen und trock-
nete ſich die Stirn. Nun neſtelte ſie mit den Händen
an ihrem Haar herum und ſah Adam erſchrocken an.


„Nun ja! ... Erſcheint Dir mein Vorſchlag ſo
ungeheuerlich? Mein Gott! Es iſt doch weiter
nichts dabei! Wir gehen nachher noch in 'n Café
— ich muß noch andere Menſchen ſehen ... muß
auf andere Gedanken kommen — 'n biſſel fremdes
Leben um mich ſpüren — 'n Glas Abſynth trinken
— 'ne gute Cigarre rauchen — — und ich dächte:
auch Dir thäte eine Abwechslung wohl ... Alſo
komm! Ja —?“


„Um dieſe Stunde, Adam —!“


„Es iſt eben erſt Zwölf. Und dann — — ich
weiß nicht — Du biſt doch in meiner Geſellſchaft!
Da kann Dir doch weiter Nichts paſſiren ... In
ein Nachtcafé zu gehen — nun ja! es mag für
eine Dame, wie für Dich, liebe Hedwig, vielleicht
nicht gerade, wie man ſagt: ‚anſtändig‘ ſein — aber
ich ſollte doch meinen: dieſe dummen Philiſterflauſen
hätten für Dich weiter keine Geltung! Ich würde
es wenigſtens ſehr bedauern, wenn Du noch in All'
und Jedem mit den verbohrten Anſchauungen der
alten Generation rechneteſt. Alſo bitte —!“


[251]

„Ich kann doch meinen Vater nicht allein
laſſen — —“


„Der wird jedenfalls ſchlafen — und wenn er
irgend welcher Hülfe bedarf — er kann ja das
Mädchen rufen —“


„Aber was würde Papa ſagen —“


„Immer neue Bedenken! Ihr Weiber habt das
Talent, am allererbärmlichſten Sandkorn feſtzurennen,
wenn es Euch gerade 'mal in den Kram paßt!
Biſt Du denn um gar nichts anders, als die An-
dern, Hedwig —?“


„Nein, Adam —“


„Nicht? Das iſt allerdings ſehr ſchlimm —!“


„Ich meine — Du mißverſtehſt mich —“


„Na! Wohl kaum —“


„Und wie lange — wie lange würden wir
bleiben —?“


„Gott! Das läßt ſich doch wahrhaftig auf die
Secunde nicht beſtimmen vorher —“


Hedwig war unſchlüſſig. Adams Vorſchlag reizte
ſie immerhin. Dieſe ſchwüle Atmoſphäre lag auch
auf ihr ſchwer und drückend genug. Die ſtarke ſeeliſche
Aufregung ... der brennende, ſtechende Sinnlichkeits-
affekt, welcher ſie vorhin durchkrampft, hatte ſie müde,
abgeſpannt gemacht, wie zerſchlagen, zerfaſert, zerrupft.
Zu Bett gehen konnte ſie in dieſer fiebernden Stimmung
kaum. Sie athmete langgezogen auf. Aber ihr Vater
— und weiter: wenn es zufällig Jemand von den
Hausgenoſſen bemerkte, daß ſie ſo ſpät noch weg-
ginge — mit einem fremden Herrn — und dann
[252] womöglich erſt mitten in der Nacht nach Hauſe
käme — nein! nein! — es war doch nicht möglich —


„Nun? Alſo —?“


„Adam! Bitte — laß mich hier! Thue es
mir zur Liebe — ja? Ich wollte ja gern — aber
es geht wirklich nicht! Ich riskire zu viel —“


„So? Du riskirſt zu viel? Hm! Und das
ſagt ein Weib, das eine ... das eine — ‚Ver‘ —
na! ich hätte beinah' was geſagt — verzeih' meine
Derbheit, Hedwig! Aber mir liegt eben viel daran
— ſehr viel ſogar, daß ich noch eine kleine Weile mit
Dir zuſammen ſein darf, mein Lieb! Wir haben
uns eben erſt gefunden — und ſollen nun ſchon
wieder auseinandergehen! Das iſt doch hart —
nicht wahr —? ſehr hart! Laß Dich doch endlich
erweichen, Kind! Soll ich Dich fußfällig bitten?
Mein Stolz verböte es mir eigentlich — doch —
wenn Du es durchaus willſt — —“


„Laß die Komödie, Adam! ... Aber ſage mir
noch Eins: wenn ich nicht mitginge — was thäteſt
Du dann —?“


„Aha! ... die Frage iſt nicht übel ... Schon
der conditionale Conjunctiv Imperfecti! ... ‚Wenn
ich nicht mitginge —‘ Na! das iſt ja quasi ge-
wonnen Spiel! ... Uebrigens — wenn Du nicht
mitgingſt, Kind — ja! ... dann müßte ich wohl
allein gehen. Eins plus Null bleibt Eins, nach
Adam Rieſe. Aber Du könnteſt Dich doch wirk-
lich 'mal dazu bequemen, Hedwig, mehr als eine —
Null zu ſein ... Willſt Du —?“


[253]

Hedwig lächelte doch ein Wenig. „Du biſt drollig,
Adam —“ antwortete ſie.


„Das iſt eine ganz neue Eigenſchaft bei mir,
mein Lieb! Du ſcheinſt Talent dafür zu haben,
Entdeckungen zu machen. Vielleicht tüftelſt Du auch
noch alles mögliche Andere bei mir aus. Vielleicht
manches ganz Löbliche und Brauchbare. Das wäre
ja ſehr nett. Ich bliebe ſonſt auch ein verzweifelt
einſeitiger Burſche! Wahrhaftig! ich wäre Dir ſehr
dankbar, wenn ich mich unter Deinem ... Regi-
mente noch ein Biſſel vervollkommnete. Das könnte
mir gar nichts ſchaden. Kleine, weiße Frauenhände
beſitzen eine entzückende Fertigkeit darin, ſelbſt aus
den reſervirteſten, verſteinertſten Felſenwänden noch
neue Quellen zu ſchlagen ...“


„Spotte doch nicht ſo, Adam —“


„Ich ſpotte gar nicht —“


„Alſo ... Du würdeſt auch ohne mich noch in
ein Café gehen — nach dem heutigen Abend noch
Abwechslung ... Unterhaltung ſuchen —?“


„Was bliebe mir denn weiter übrig, Kind?
‚Abwechslung‘ — meinetwegen! ... ‚Unterhaltung‘
— hm! — warum wählſt Du nicht lieber gleich das
wunderſchöne Wort ‚Vergnügen‘? Ich liebe dieſes
Wort nämlich leidenſchaftlich ... Man hört es nur
ſo ſelten heute ... die Leute nehmen es ſo ungern
in den Mund ... Alſo — Du kommſt mit —?“


„Adam —!“


„Dann leb' wohl, mein Lieb! Und nun ge-
hören wir zuſammen, Hedwig — nicht wahr? Und
[254] die Dame meines Herzens iſt in Zukunft nicht
mehr ſo ſpröde, wie ſie es einmal geweſen! ... Aber
— in Dieſem und Jenem — in Dieſem und Jenem —
exempla ſind wieder einmal odiosa —: da lernſt Du
noch ein Wenig freier und ſelbſtſtändiger denken —
gelt, Kind? Du thuſt mir den Gefallen — ja?
Grüß Deinen Vater herzlich von mir! Und laß
mich nur machen! Ich werde ſchon einen einiger-
maßen annehmbaren modus vivendi für uns finden.
Es geht Alles, wenn man nur ernſtlich will. Sind
wir erſt einmal ... einmal ver — —“


„Ach! belüge Dich doch nicht ſo abſichtlich,
Adam — das kann ja nicht ſein —“


„‚Belügen‘ — der Ausdruck iſt etwas ... etwas
ſtark, Hedwig —“


„Verzeih', Adam! Aber ich habe Dich ja ſo
unſäglich lieb! Du biſt ja in all' dieſem Elend —
in all' dieſer entſetzlichen Noth mein einziger Halt
— meine einzige Hoffnung! Ich ertrage es nicht,
Dich zu verlieren — ich ertrage es nicht! Wenn
Du mich verließeſt, Adam — mich verließeſt — —
ich — ich — — o Gott! — und doch ganz klar
vorausſehen müſſen, daß Du es thun wirſt — —
daß Du es thun wirſt, Adam — daß es doch ſo
kommen wird — das iſt zu viel — das geht über
meine Kraft! Adam! Adam! oh! wie das in mir
wühlt und zerrt und ſticht! — — Ich — ich er-
ſticke — Adam! — Und wenn es mein Unglück
iſt — —: ich kann dieſes Leben nicht mehr er-
tragen — ich will dieſes Leben nicht mehr er-
[255] tragen — ich — ich — — hier haſt Du mich —
ich kann Dich jetzt noch nicht laſſen — noch nicht
— Alles empört ſich in mir gegen dieſen Zwang
— die Jahre der Entſagung, der Erſtarrung —:
eine einzige Viertelſtunde des Glücks ſoll ſie ver-
geſſen machen — eine einzige, winz'ge Viertel-
ſtunde — — ich bin von Sinnen, Adam — —
komm! — komm! — oder — — nein! — nein! —
das nicht — das doch nicht — doch nicht — — aber
— aber — warte! ich gehe mit Dir — ich komme mit
— ich muß — ich muß — mag werden was will — —“


Adam war von dieſem elementaren Leidenſchafts-
ausbruche der „Dame ſeines Herzens“ ... von
dieſem Ausbruche, in dem ſich eine tolle Hingebungs-
wuth, trunkenes Entzücken und eine fanatiſche Ver-
zweiflung zugleich durchrangen ... mehr betroffen,
als erfreut. Er hatte ſich mit dem Gedanken, allein
zu gehen, ſchon halb und halb vertraut gemacht.
Ja! Er hatte ſich ſeiner Freiheit eigentlich ſchon
gefreut ... und allerhand Erwartungen daran ge-
knüpft. Gewiß! Der Abend war ja noch ganz
intereſſant geworden. Aber die letzten Scenen, die
er ſoeben durchlebt, legten Adam doch allerlei Ver-
pflichtungen für die Zukunft auf — Verpflichtungen,
die anzuerkennen, er ſich im Grunde ſchon ſträubte
— und die erfüllen zu wollen, es ihn doch merk-
würdig reizte.


Hedwig war nach dem Flurraume geſtürzt. Nun
ſtand ſie im Rahmen der offenen Thür, knöpfte ihr
Jaquet zu und ſetzte ihren Hut auf.


[256]

Adam trat auf ſeine Braut zu. „So gefällſt
Du mir, Kind! Das iſt doch Leidenſchaft, Verve,
Temperament! Das iſt doch Muth —!“


„Wo habe ich nur meine Handſchuh' —?“


„Ach was — Handſchuhe! Heute Abend, Hed-
wig — ich bitte Dich!“


„Willſt Du die Lampe ausdrehen —?“


„Wenn Du fertig biſt —“


„Und recht leiſe, Adam — ja —? Tritt recht
leiſe auf, damit Papa Nichts hört! Es wäre ent-
ſetzlich, wenn er — —“ Hedwigs Stimme ging
doch wieder etwas heiſer und ſtockend, ſtolpernd, ſie
fieberte gleichſam.


Adam ließ einen halbfertigen Seufzer fahren.
Es war ihm gar nicht behaglich zu Sinn. Seine
arme, unvorſichtig hingeopferte Freiheit! Das kleine
Weſen that ihm ſehr leid. —


Die Treppenſtufen knarrten und knackten recht
impertinent. Adam tappte und taſtete ſich unbe-
holfen vorwärts. Er wurde ärgerlich. Nun blieb
er ſtehen, ſuchte nach ſeinem Feuerzeuge und ließ
ein Streichholz aufflammen.


„Um Gotteswillen! — löſch aus — ſchnell!“
fiel Hedwig ... wie zum Tode erſchrocken ... ein.


„Na aber — das iſt doch —“ knurrte der ge-
maßregelte Herr Doctor. Und neues Dunkel war
um die Beiden zuſammengeronnen. Sie ſtanden auf
einem Treppenabſatze.


„Nimm Dich in Acht, Adam — falle nicht! —
es iſt hier etwas ſteil —“


[257]

Der ſiegreiche Entführer hatte indeſſen ganz andere
Gedanken. Er ſuchte recht intime Fühlung mit ſeiner
Herzallerliebſten zu gewinnen. Er legte ſeinen Arm
um ihre ſchlanke, vielleicht ein Wenig zu ſchlanke
Taille und preßte das Weiblein in wüthender Glut
an ſich.


„Laß mich —! nicht hier —“ ſträubte ſich Hed-
wig. „Adam —!“


Endlich ſtanden ſie auf der Straße. Es war
ſo ſtill. Der Hausſchlüſſel ging ſchwer und kreiſchte
mit belegter Stimme. Schlaftrunken blätterte
der Nachtwind im ſchwarzgrünen Laube der Lin-
den. —


„Gieb mir den Arm, mein Lieb!“


„Wo gehen wir hin, Adam —?“


„Nun — ich denke: wir athmen uns erſt 'mal
recht tüchtig aus — die Luft iſt zwar ſchauderhaft
dick und heiß, aber doch nicht ganz ſo drückend, wie bei
Euch oben. Und nachher — nachher können wir ja in
ein Café ſpazieren — vielleicht iſt auch noch 'ne
Weinſtube auf — —“


„Du biſt überall bekannt —?“


„Hier und da —“


„Du verkehrſt wohl viel in den Cafés —?“


„Das macht ſich ſo .. mein Gott! Dann und
wann .. Man geht 'mal mit Ander'n hin, 'mal allein
— es iſt ja überall nicht viel zu holen .. Man
langweilt ſich .. ſpielt eine Partie Billard — lieſt
'ne Zeitung — am Angenehmſten iſt es noch, wenn
man eine oder .. oder auch ... mehrere Damen
Conradi, Adam Menſch. 17
[258] bei ſich hat — die gehören nun einmal zum Beſuchs-
inventar derartiger Lokäler ...“


Nach einer kleinen Pauſe ließ ſich Hedwig leiſe
vernehmen, und ihre Stimme hatte den Tonfall des
Vorwurfes, der Anklage: „Und da willſt Du jetzt
mich hinführen, Adam, wo Du wohl ſchon öfter
mit — mancher anderen Dame geweſen biſt —?“


„Aber Hedwig! Du bekommſt Rückfälle! Die
Sache iſt doch einfach die — wir geben doch weiß
Gott! kein ganz gewöhnliches, kein ganz communes
Verhältniß zuſammen ab! Du weißt ja: ich habe
die ehrlichſten Abſichten von der Welt Dir gegen-
über! Ob da nun aber ſo 'n paar Menſchen ange-
tanzt kommen und uns mit demſelben niedrigen
Maß meſſen, das ſie bei ſich ſelber anzulegen ge-
wohnt ſind — mein Gott, das kann uns doch
furchtbar gleichgültig ſein! Daß Du an innerem
Werth verlöreſt, wenn Du Dich an einen Tiſch mit
Menſchen ſetz'ſt, welche ſo etwas wie — meinetwegen!
wie: ‚ſtigmatiſirt‘, ‚gebrandmarkt‘, die ausgeſtoßen
ſind von der „Geſellſchaft“ — das glaubſt Du doch
ſelber nicht, Hedwig! Ich hätte übrigens nicht ge-
dacht, daß in der Praxis das Nachwirken von An-
ſchauungen, die Du intellektuell, theoretiſch, längſt
zum alten Eiſen geworfen haſt — nicht wahr das
haſt Du doch gethan? — daß dieſes Nachwirken
noch ſo intenſiv bei Dir wäre! Es geht ja mir zum
Theil auch noch ſo — gewiß! Aber darum gerade ärgert
mich dieſe Inconſequenz, ärgert mich dieſer Zwieſpalt
doppelt — bei mir — und leider auch bei Anderen ..“


[259]

„Leider? —“


„Nun ja! Man hätte genug mit ſich ſelber zu
thun, wenn man's ernſt und gewiſſenhaft nähme!
Aber da bindet man ſich auch noch Peter und Paul,
Hinz und Kunz vor — drechſelt ſie hübſch unter's
Mikroskop —“


„Du ging'ſt doch jetzt von mir aus — und
ich — —“


„Verzeih! Hedwig! Was über meine engſte
perſönliche Sphäre hinausgeht, wird mir immer
'gleich zum prinzipiellen Motiv —“


„Das verſtehe ich nicht recht —“


„Das verſtehſt Du nicht? Du — meine kleine
Philoſophin —? Und es iſt doch ſo dämoniſch
einfach! Allein jetzt — nein! — die Geſchichte
würde zu gelehrt. Laſſen wir den Unſinn! Wir
wollen lieber ein Wenig plaudern ... une pe-
tite causerie
anſpinnen .. uns ein Wenig amüſiren
— wir wollen uns lieber recht von Herzen freuen,
daß wir beiſammen ſind, Hedwig .. ſo recht ungeſtört
beiſammen ſind — in Liebe und Eintracht .. eng an-
einandergeſchmiegt .. einherwandeln dürfen — daß
wir zärtlich ſein dürfen .. ſehr zärtlich ſogar, mein
Lieb — und kein neidiſches Männlein und kein
neidiſches Weiblein gelbgeärgert uns zuſchauen kann
— wir wollen lieber — — übrigens, Hedwig —
haſt Du denn noch gar keine Gewiſſensbiſſe — hm?“


„Gewiſſensbiſſe —?“


„Nun ja! Wenn Dein armer Papa nun doch
etwas merkte! — nun doch Lunte röche, daß ſein
17*
[260] braves Töchterlein bei Nacht und Nebel auf und da-
von gegangen iſt — —“


„Aber Adam! —“


„Verzeih', mein Lieb! Teufliſch, daß ich Dir
damit komme — ich, der — — aber ach! es iſt mein
Verhängniß, das zu martern und zu quälen, was
ich liebe! Und je mehr ich ſo ein menſchliches
Weſen liebe, deſto mehr muß ich es peinigen. Schreck-
lich, aber wahr? Dieſe ſchöne Eigenſchaft haben mir
alle Weiber —“


„‚Weiber‘! Adam! — ‚Weiber‘! —“


„Nun ja! ‚Weiber‘! Oder beleidigt Dich das
Wort —?“


„Es klingt ſo häßlich —“


„Häßlich? Finde ich nicht im Geringſten! Mir
klingt es ſehr voll, dick, rund, maſſiv — zudem
recht deutſch —“


„Was wollteſt Du vorhin ſagen —?“


„Nun ja! . alſo: meinen Hang, mich zeitweilig
ein Wenig à la monsieur diable aufzuſpielen, haben
[w]ir bis jetzt alle ... meinetwegen alſo .. wie Du
willſt: alle Damen, mit denen ich in den Läuften
der Zeit enger .. intimer verkehrt habe, zum Vorwurf
gemacht — und doch hat ſich die ganze Geſellſchaft
mit der größten Bereitwilligkeit von mir ärgern
laſſen — ich ſage Dir: Stunden- — Tage- —
Wochenlang ärgern laſſen —“


„Du haſt wohl ſchon viel Damenverkehr gehabt?“


„Aha! Köſtlich, Hedwig, daß Du Dir die Frage
doch nicht verkneifen kannſt! Ich habe ſie längſt
[261] erwartet. Viel Damenverkehr? Na! Es geht
immer noch. Soll ich ausführlicher ſein? Wenn
es Dir daran liegt — von Herzen gern! Die
Sache macht mir ſelber Spaß! Rieſigen Spaß
ſogar —“


Die beiden Nachtwandrer waren in den engeren
Lichtkreis einer Laterne getreten. Adam prüfte den
Geſichtsausdruck ſeiner Dame. Aber er konnte beim
beſten Willen die Wirkung ſeiner Worte auf Hedwigs
Zügen nicht deutlich erkennen. Sie hielt den Kopf ge-
bückt und einen knappen Winkel nach rechts gewandt.
Dieſe Abkehrung mußte Adam für eine ſtumme Ab-
weiſung halten. So ärgerte ihn die Abweiſung. Und der
Aerger löſte wiederum eine größere Fülle des Dranges
in ihm aus — des teuflichen Dranges, vor ſeiner
Herzallerliebſten einmal alle ... oder wenn nicht
alle, ſo doch immerhin eine ſchwere Menge in-
tereſſanter .. pikanter Trümpfe auszuſpielen. Sein
fahriges Vagantenleben .. dieſe überflüſſige, gottloſe
Irrfahrt des Leibes und der Seele, hatte ihm ſotane
Trümpfe ja in verſchwenderiſchem Reichthum zugelooſt.


„So ſtill, Hedwig? Woran knabbert denn wieder
'mal Dein kleiner Querkopf —?“


„Ach laß mich! —“


„Ueber dieſe Töne verfügſt Du alſo auch, Kind?
Ich hätte ſie bei Dir kaum geſucht. Wenn meine
ſchöne Freundin, Frau Lydia Lange — dieſe ‚Dame
von Welt‘ .. dieſe ‚vornehme Frau‘ .. dieſes
‚edle Weib‘ — oder wenn .. wenn meine kleine
Emmy alſo ſchmollt — dann — —“


[262]

„Deine Emmy? — Was? — —“


„Nun ja!. Das iſt nämlich ein wunderhübſches
und dazu ein äußerſt vorurtheilsloſes Kind — ein
‚Weltkind‘ — ein ‚Kind der Sünde‘ — wie Du
willſt, Hedwig, — aber entzückend, ſage ich Dir,
entzückend — leider von Natur ebenſo zur Untreue
und Unbeſtändigkeit angelegt, wie ich — ich habe
wirklich ſehr pikante Stunden mit dem emancipirten
Fräulein verlebt, kann ich Dir ſagen —“


„Aber Adam! Nein! Ich gehe keinen Schritt
weiter mit Dir! — Das ſagſt Du mir?! Waren
denn alle Deine Worte vorhin Lügen —?“


„Lügen? Warum Lügen? Ich habe Dir doch
ſoeben nur ein harmloſes hiſtoriſches Faktum mitge-
theilt — daß auch ich ſo etwas wie eine ‚Vergangen-
heit‘ beſitze — nun! — ich habe mir ſchon erlaubt,
Dir vorhin davon Andeutungen zu machen, dächte
ich. Oder haſt Du's überhört? Das wäre ſchlimm —“


„Die Vergangenheit ſcheint aber noch ſtark genug
Gegenwart bei Dir zu ſein ..“ erwiderte Hedwig,
ſehr entrüſtet und ſehr erbittert, wie es ſchien.


„Vergangenheit und Gegenwart laſſen ſich be-
kanntlich nicht haarſcharf trennen von einander —
ja! im Grunde überhaupt nicht trennen — ſeien
wir nicht ſo hagebüchen unlogiſch, mein Lieb! Alles
Geweſene wirkt nach. Wie ſollten wir ſonſt Raſſen-
feindſchaften, Krebsgeſchwüre, Knochenverkalkungen
und allerlei ſeeliſche Blutvergiftungen erklären? Wir
ſchleppen die Bagnokugel unſerer ſpeziellen Ver-
gangenheit Alle mit herum. Das Ding wächſt ſogar
[263] noch .. wächſt mit jeder Stunde, jeder Minute ...
Was iſt denn Gegenwart ſchließlich Anderes, als
aufgeſummte Vergangenheit —?“


„Dann iſt es ein Verbrechen, Adam, das ein
Jeder von uns an ſich und dem Andern be-
geht, wenn wir noch länger mit einander ver-
kehren —“


„Nimm doch die Sache nicht ſo tragiſch, Hedwig!
Du kommſt aus Deiner Sphäre — ich aus meiner.
Die Lauflinien unſeres Lebens haben ſich gekreuzt ...
haben ſich für uns durch einen Zufall gekreuzt. An
ſich war es ja durch die Vorausſetzungen — und
die Vergangenheit iſt auch in der Welt der neutralen
Objekte immer Vorausſetzung der Gegenwart — an
ſich war es alſo bedingt, daß wir uns begegneten. Ge-
wiſſe Neigungen und Tendenzen zogen den Einen
zum Andern hin. Es iſt ja Alles nur nothdürftigſte
Anpaſſung in der Welt! Und weil das ſo iſt —
nun, darum mußten wohl jene Neigungen und
Tendenzen ſchon einmal vorher durch andere Erſchei-
nungen, die ihnen einigermaßen Wurzelbedingungen
boten, provocirt und ausgelöſt werden. Ich nun
für meine Perſon — ‒ aber ich habe Dir ja
ſchon geſagt, Hedwig, daß ich immer ſchöne Formen,
merkwürdige Schickſale und eigenartige Charactere
geliebt habe ... Ich konnte nicht anders — und
ich werde nie anders können. Und wirklich — Du
darfſt es glauben, Hedwig —: meine kleine Emmy
hat einen wundervollen Leib ... iſt auch ſonſt nicht
übel — nur eben viel geiſtiges, tieferes, verinner-
[264] lichtes Verſtändniß darf man nicht von ihr er-
warten — das — —“


„O Gott! machſt Du mich unglücklich, Adam!
Das kann Dir überhaupt nie verziehen werden. Wenn
ich mich nicht ſo an Dich klammern müßte — —
habe doch nur ein wenig Mitleid mit mir —!“


Hedwig ſchluchzte laut auf. Adam ſchüttelte
ärgerlich den Kopf. Das Weib iſt überreizt, ſagte
er ſich. Es muß 'mal ordentlich befriedigt wer-
den. Und doch ſchmeichelte es ſeiner Eitelkeit, daß
er ſo leidenſchaftlich geliebt .. ſo brennend begehrt
wurde. Jene Doppelſtimmung des abweiſenden
Aergers und des unwiderſtehlichen Dranges, ent-
gegenkommend, liebevoll, zärtlich zu ſein, befiel ihn.


„Wir wollen einen Strich durch unſer Vergangen-
heitsconto machen, Hedwig — wenigſtens für heute
Abend reſpektive heute Nacht ... Ich werde mir alle
Mühe geben, in [Zukunft] nicht mehr an die ſchöne
Frau Lydia zu denken ... und meine reizende Emmy
ſoll auch den Laufpaß bekommen. Das kleine
Ding hängt zwar ſehr an mir. Aber ich hoffe, ſie
wird ſich ſchon mit dem Prachtkerl von Bodenburg,
meinem eminenten Freunde, tröſten. Die beiden
ſcheinen ſich übrigens bereits gefunden zu haben.
Verteufelt! Wenn ich mir denke, daß dieſer Burſche
— dieſer ... dieſer — ich finde gar keine Worte
vor Wuth ... ach! ſie konnte ſo lieb, ſo zärtlich ſein
— ſo ... na! Schwamm drüber! ... Hin iſt
hin — und nobel muß die Welt zu Grunde gehen!
Ich habe Dich ja jetzt, Hedwig — laſſen wir alſo
[265] die ſchöne Sünderin ſchwimmen und halten wir's
mit der Tugend! ... Und weiter noch in die Ver-
gangenheit zurück: die Soubrette ... die Chanſo-
nettenſängerin ... die Choriſtin ... die zweite Lieb-
haberin — die kleine Katze war nur etwas zu
eiferſüchtig — Ida, die Kellnerin — Pauline, die
Conſervatoriſtin — Donnerwetter! das Kind konnte
verblüffend offen und geradezu ſein! — Auguſte,
die Kindergärtnerin — Helene, die Confektioneuſe —
die ſchwarzzöpfige Maxel, die ſo etwas wie eine Collegin
von Emmy war — Ottilie, die pralle Jüdin mit den
polirten Sammetaugen und dem Teint, der wie gekoch-
tes Hühnerfleiſch ausſah — Toni, das fürwitzige, ver-
liebte Töchterlein des Herrn Polizeicommiſſars — —
mein Gott! die Proſkriptionsliſte will gar kein Ende
nehmen .. Wie viel vergeudete und verſchwendete Zeit!
Wie viel verzettelte, verpuffte Kraft! Wie viel zerquirlte
Stimmung! Wie viel überflüſſig verlottertes Geld!
Und doch —: man hat wenigſtens Etwas erlebt!
Etwas erlebt, von dem tauſend andere Pomadenheilige
keenen blauen Dunſt haben! War's auch im Grunde
immer wieder daſſelbe —: man hat ſeinen pſycholo-
giſchen Blick doch bedeutend geſchärft — man hat die
Weiber — verzeih', mein Lieb! — einigermaßen kennen
gelernt — man iſt hinter unendlich viele Schliche und
Couliſſengeheimniſſe des Lebens gekommen — summa
summarum
: ich bereue mein fahriges Zigeunerleben
keineswegs. Ich habe manche unvergeßliche Stunde
durchlebt ... manches volle, große, ganze Gefühl ge-
noſſen — ich habe manchen brennenden Schmerz durch-
[266] koſten müſſen ... ich habe manche wahre Thräne fließen
ſehen ... und manche wohl auch ſelbſt geweint — meine
Erinnerungen werden einmal ... in ſpäteren Tagen ...
ſie werden dann kaum nüchtern, kaum glanzlos und kalt
ſein — der Einkaufspreis, um den ich ſie erſtanden,
thut mir nicht leid. Es trocknet übrigens nichts ſchneller
auf der Welt, als ſo eine kleine, heiße, ſalzige
Thräne. Und doch thut jede Trennung weh —
man begegnet ſich ſo ſelten noch einmal im Leben,
wenn man's mit dem Auseinandergehen wirklich
ernſt genommen hat ... Und das iſt auch ſehr
gut. Aber jede Trennung reißt doch zugleich ein
Partikelchen Herz mit fort. Nun! wir Miſchlinge
der Romantik und des modernen ‚Realismus‘ haben ja
Vorrath in dieſer Beziehung — wir leiden ja Alle
an einem gewiſſen trop de coeur ... Oder würden
wir uns ſonſt ſo furchtbar intereſſant vorkommen,
wie es thatſächlich der Fall iſt? Würden wir ſonſt
ſo eifrig an uns herumſpintiſiren und herumtüfteln,
herumſchnüffeln und uns von hinten und von vorn
begucken und behorchen? Wären wir ſonſt ſolche
capitalen Narren und machten durch eine ewige Ana-
lyſirungswuth aller Worte, die wir ſprechen, aller
Handlungen, die wir in Scene ſetzen — machten
wir dadurch unſere Beziehungen zu einander ...
unter einander ... zu den denkbar unerquicklichſten
von der Welt —? Ach! Was ſind wir doch
für unſagbar dumme Kerls! Indeſſen! welche
Wolluſt, ſo ein intereſſanter Narr ſein zu dürfen!
Uebrigens, Hedwig — damit ich nicht allzu ſehr in
[267] Deiner Achtung ſinke —: ich habe nämlich auch mit
ſogenannten ‚edlen Frauen‘ verkehrt! Dieſe ‚edlen
Frauen‘ — nein! das ſind wirklich zu putzige
Weſen! Das Märchen von ihnen hat mich immer
ſehr amüſirt. Doch das iſt 'n Capitel, das ſich auch zu
einem ganzen Buche ... einem corpulenten Folio-
bande erweitern ließe. Und der ganze Band würde
ſchließlich nichts weiter enthalten, als einen einzigen
... allerdings ſehr reſpektablen Beitrag zur Dumm-
heit und pſychiſchen Kurzſichtigkeit des Menſchen.
Merkwürdig! Ich habe immer mehr Kraft, mehr
Natur, mehr echte Wahrheitsſucht und aufrichtige
Lebensbezeugung — mehr naives, ungebrochenes
Ausſichherausleben in jenen Frauenkreiſen gezwungen,
die durch allerlei Verhältniſſe ... perſönliche Sonder-
bedingungen, äußere Einflüſſe u. ſ. w., dahin geführt
waren, ſich zu freieren Anſchauungen, zu freieren
Sitten und Gewohnheiten bekennen zu müſſen. Das
iſt aber doch auch ganz natürlich. Je größer die
Bewegungsſphäre, deſto größer damit der Spielraum
der Kräfte. Nichts herrlicher, als eine Kraft, die
ſich tüchtig nach allen Seiten hin ausleben darf.
Da liegt doch „Muſike drin“, wie die braven Leute
vom dritten, vierten und ... fünften Stande zu
ſagen pflegen. Aber da kommen andere Leute ...
eine nicht minder üble Sippſchaft ... brechen die
Kraft ... und ſind nun heidenfroh, daß ſie ſich
einbilden können, ſie hätten dieſe arme, ſchimpfirte
Kraft in den Dienſt der ‚Anſtändigkeit‘ und wie
die Larifaritugenden dieſer Hundeſeelen ſonſt alle
[268] noch heißen mögen, gezwungen — und ſie haben ſie
doch nur gemißbraucht und verſtümmelt ... Unbe-
ſchnitten kommt ja Keiner durch's Leben. Aber man
ſollte uns doch nicht zu enge Zellen ... nicht zu
enge Käfige anweiſen. Indeſſen — ſchließen wir
dieſen Speech, mein Lieb! Riechſt Du nicht die
Klaue des Weltverbeſſerers? Du darfſt ſtolz ſein
auf Deinen Herzallerliebſten, Kind! Wenn ich erſt
'mal den bewußten Punkt gefunden habe, hebe ich den
ganzen Krimskrams von Kosmos ... das ganze Mehl-
töpfchen ... die ganze Würmerſchüſſel von Weltall
aus den Angeln. Verlaß Dich drauf! Vorläufig aller-
dings wird nur mein Appetit auf eine gute Cigarre
immer barbariſcher. Wenn Du ein Nachtcafé ab-
ſolut nicht goutiren kannſt, gehen wir meinetwegen
in eine Weinkneipe! Laß 'mal ſehen! Es iſt jetzt
zehn Minuten nach Eins. Bis Zwei ſind ja die
meiſten Lokale dieſes Genres auf. Das nächſte —
ja —! komm —! Gehen wir zu Engler! Man trinkt
dort eine wenigſtens einigermaßen annehmbare Marke
Liebfrauenmilch. Damenbedienung mußt Du aller-
dings mit in den Kauf nehmen. Es ſcheint doch
noch loszugehen heute Nacht. Eben blitzte es —
haſt Du geſehen? Aha! Der obligate Wind! Nur
nicht ſo eilig, ihr Herren und Damen da oben!
Bitte — rechts! Und nun ſei mir nicht böſe, Hed-
wig! Sei mein kleines, herziges, luſtiges Weib!
Kommt Zeit, kommt Rath! Vielleicht auch Heirath,
wie der Kalauer tröſtet. Und gieb mir noch einen
Kuß, Kind — bitte —!“


[269]

Adam küßte ſein Weib und drückte es feſt an
ſich. Die edelſten, redlichſten Vorſätze, Abſichten,
Gewißheiten und Hoffnungen erfüllten zu dieſer Friſt
ſeine Bruſt. —


Es blitzte wieder. Nach einer kleinen Weile
rollte ein ſchwacher Donner nach. Heftiger kam der
Wind angeblaſen. Die erſten Tropfen fielen. Die
beiden Wandrer beſchleunigten ihre Wanderung.


„Und wenn der Wirth nun ſchon zu hat —?“
fragte Hedwig ängſtlich.


„Das wäre eine feudale Frechheit von dem
Menſchen —“ diktirte Adam ärgerlich — „aber ich
glaube nicht — — wir ſind übrigens gleich da.
Triumph! Es iſt noch Licht — dort! kurz vor
der nächſten Ecke die große, weiße Lichttraube —
ſiehſt Du: die Welt iſt noch gar nicht ſo herunter-
gekommen, wie es oft den Anſchein hat! Auch mit
den Objekten läßt ſich noch reden! Es wäre wahr-
haftig fatal geweſen, nach einem Café zurückrennen
zu müſſen — denn von einem Droſchkengaul iſt na-
türlich wieder 'mal kein Ohrzipfel zu vernehmen. —“


„Ach Gott! Wenn das Wetter nur nicht zu
arg würde — Papa wird ſchon längſt aufgewacht
ſein und nach mir rufen. Adam — bitte, lieber
Adam, bring' mich wieder nach Hauſe! Wenn
Papa — ich habe ihn ſchon einmal — ich kann ihm
nie wieder vor die Augen kommen — — o Gott!
es iſt zu entſetzlich! Mein armer, alter Vater —!“


„Ich verſtehe Dich, Hedwig —“ erwiderte Adam
ernſt — „aber — zur Umkehr iſt es jetzt wirklich zu
[270] ſpät! Du mußt Dich ſchon zu faſſen ſuchen. Und weine
doch nicht ſo — Du haſt ja mich! Vertraue mir
doch ein Wenig, mein Lieb! Man darf wirklich
nicht zu ſentimental ſein im Leben! Wir können
das Neue ſo oft — ſo unendlich oft nur durch
Aufopferung des Alten erkaufen — es iſt nun ein-
mal ſo — Du mußt Dich an den Gedanken ge-
wöhnen, ſo herb und hart er auch ſein mag —“


Der Regen ging eben in den hergebrachten Ge-
witterrhythmus über, als die beiden das Lokal er-
reicht hatten.


„Guten Abend, Herr Doctor —“ begrüßte der
Wirth, Herr Engler, ſich höflich verneigend die Ein-
tretenden — „das war aber die allerhöchſte Zeit!
Noch ein paar Minuten ſpäter — und — — nicht
wahr? man ſollte es gar nicht glauben: wir haben doch
eigentlich noch gar keine beſonders heißen Tage gehabt
— und nun knallerts ſchon los — es ſcheint 'n ganz
hübſches Gewitterchen werden zu wollen —“


In hartem, ſcharfem Blauweiß prallte jetzt der
Wiederſchein eines Blitzes gegen die ſchwarzen Fenſter-
ſcheiben. Aber im Innern des Raumes konnte er
bei der runden Lichtfülle, die ſich hier ausgab, nicht
recht zur Geltung kommen. Ein dröhnender Donner
rollte unmittelbar hinterher.


„Mein Gott —!“ ſchrak die Kellnerin zuſammen,
die mit der Weinkarte zu Adam hingetreten war.


„Das hat eingeſchlagen!“ verſicherte Herr Engler
ſehr beſtimmt. Er ſchien ſich auf derartige Prophe-
zeihungen zu verſtehen.


[271]

Adam wiſchte mit dem Taſchentuche die Sternchen-
zeichnungen von ſeinen Kneifergläſern, die der Regen
dort aufgemalt hatte.


„Wo wollen Sie Platz nehmen, Herr Doctor —?
Vielleicht hier auf dem Sopha, mein Fräulein —?“


„Ja! Bitte, Hedwig! Uebrigens mein Lieblings-
platz — nicht wahr, Herr Engler? Haben ſo
manches Glas hier geſchluckt .. in angenehmſter Ge-
ſellſchaft .. tempi passati! Nun müſſen wir halt
vernünftig werden. — Aber ſchöne Stunden waren's
doch —!“


Der Wirth ſchmunzelte. Er warf einen kurzen,
ſcharfen Blick auf Hedwig. Und er ſah ſehr nach-
denklich aus — als zählte er im Geiſte alle die
Damen zuſammen, mit denen ſein lieber Stammgaſt,
der Herr Doctor Menſch, ſchon bei ihm eingekehrt
war und hier in dieſer traulichen Ecke geſeſſen ..
getrunken .. geplaudert .. gekoſt .. und wohl auch
einmal geküßt hatte. Aber dieſe Dame da —
die ſah doch gar nicht danach aus, daß ſie —
hm! .. Nee! ſo'n blaſſes, ernſtes, mageres Frauen-
zimmer — ohne Feuer und Leben — Herr Engler
konnte ſich keinen Vers darauf machen ... Der Herr
Doctor hatte doch ſonſt einen beſſeren Geſchmack be-
wieſen! Was ihm nur heute eingefallen war? Ja!
Als er noch mit der Dame da drüben ... mit der
Dame, die heute Abend am ander'n Ende des Zimmers
an dem runden Marmortiſchchen mit dem eleganten
Herrn zuſammenſaß — — ja! als der Herr Doctor
Menſch noch mit dieſem amuſanten Dämchen ver-
[272] kehrte — die beiden ſchienen ja jetzt nichts mehr
von einander wiſſen zu wollen — wie das nur
gekommen war? — — da — ja da — — aber
Herr Engler hütete ſich gar ſehr, auch nur den
kleinſten und harmloſeſten ſeiner Ketzergedanken aus-
zuſprechen


„Alſo eine Liebfrauenmilch —!“ beſtellte Adam
und ſah ſich im Lokale um.


„Eine Liebfrauenmilch!“ beſtellte die Kellnerin
weiter an den Wirth, der darauf in ein Neben-
zimmer verſchwand.


Adam drückte die Gläſer ſeines Kneifers dicht an
die Augen heran. Irrte er ſich denn — oder? Aber
das war ja nicht möglich! Das konnte ja nicht
ſein! Der Herr da drüben — und die .. die Dame
an ſeiner Seite — das waren doch nicht — waren
doch nicht — — und jetzt ſah der Herr zu ihm
herüber — und nickte er ihm nicht zu? Teufel! Wahr-
haftig! Nein! Aber doch! Gütiger Heiland von Plun-
dersweilen! Das war wirklich Herr von Bodenburg
— und die Dame an ſeiner Seite war — die
Dame war wirklich Emmy! Na! Eine köſtliche
Beſcheerung! Vorzüglich! Ganz vorzüglich! ..


Adam ſchnitt ſein ernſteſtes Geſicht und grüßte
wieder. Er fühlte, daß er Emmy ſeine ſie ironiſirende
Verachtung zeigen müßte und ſich zugleich vor Hed-
wig nicht verrathen dürfte.


Hm! das war aber ſo'ne Sache mit dem ‚ſich nicht
verrathen dürfen‘! Warum denn nicht? Und da
kam auch ſchon ſein Dämon angekrochen und kitzelte
[273]
ihn. Er hatte ſeine kleine Braut heute Abend ja
ſchon ſattſam geärgert. Und mehr als geärgert:
er hatte ſie gepeinigt, gemartert, gequält — er hatte
ſie eigentlich ſcandalös behandelt. Das that ihm
leid — gewiß! Aber was ſollte er jetzt mit ihr
reden? Sie hatten ſich heute ja ſchon gegenſeitig
die längſten und tiefſten und ernſthafteſten Vorträge von
der Welt gehalten! Ein pikanter Nachtiſch war kaum
zu verachten. Und jetzt tuſchelten die Beiden drüben
ſo impertinent auffällig. Es ging gewiß über Hed-
wig her — man kritiſirte gewiß die „neue Dame ſeines
Herzens“ .. dieſe Dame, die mit ihrem herben,
verſchloſſenen Weſen, ihrer ſpröden Zurückhaltung,
ſo gar nicht in dieſe Umgebung paßte ... in dieſe
Umgebung, die nur gewohnt war, ein helles, luſtiges
Lachen zu hören .. und blitzende Augen zu ſehen ..
und die köſtliche Melancholie des verſchwiegenen
Minneſpiels zu ſtudiren, welches in immer wieder
neuer Geſtalt zu erfinden und zu bethätigen, das ge-
heime Einverſtändniß zweier Liebenden ſo unermüdlich
iſt und ſo unübertrefflich ...


Die Kellnerin brachte den Wein und ſchenkte ein.
Ein paar gelbweiße Tropfen fielen auf die weiße
Tiſchdecke. Das kleine Fräulein war ein Biſſel
unaufmerkſam geweſen. Sie hatte nicht auf den
Wein geachtet, ſie hatte Hedwig inſpizirt. Sie ſchien
ſich ein Urtheil bilden ... ſich über Etwas klar
werden zu wollen. Adam verſpürte den Zuſammen-
hang. Er mußte lächeln. Wie die Hunde, dachte
er. Aber cosi fan tutte. Sie müſſen ſich erſt
Conradi, Adam Menſch. 18
[274] beſchnüffeln, beſchnuppern — obgleich ſie ganz genau
wiſſen, welch' Geiſtes Kinder ſie ſind ...


Adam war unſchlüſſig. Sollte er einmal zu
den beiden hinüber ſchlendern .. das Pikante der
Situation noch um einige Grade ſteigern .. und
dann mit größtem Gleichmuth das verführeriſche Ge-
bräu hinabſchlürfen? ..


„Wie heißen Sie, mein Fräulein?“ fragte er vor-
erſt die Kellnerin. So thut man ſo oft etwas Ueber-
flüſſiges, ſo lange man nicht weiß, ob man das
weniger Ueberflüſſige nicht für das noch mehr Ueber-
flüſſige halten ſoll.


„Melitta!“ antwortete die Dame.


„Donnerwetter! Melitta! Die Kellnerinnen
werden immer vornehmer, Sie gefallen mir übrigens,
Melitta — wollen Sie nicht 'n Glas mittrinken? —“


Das Mädchen blickte fragend auf Hedwig, die
ſich zurückgelehnt hatte und finſter, beinah drohend
zu Adam hinüberſah. Der fühlte ſich ſehr unbe-
haglich. Konnte denn die Dame nicht einmal aus ſich
herausgehen, nicht einmal in einen luſtigeren, leichteren
Ton miteinſtimmen? Das Leben etwas zwang-
loſer, etwas kritikloſer nehmen? Immer daſſelbe
gleichſam feſtgefrorene Abweiſungs- und Entſagungs-
pathos — es wird etwas langweilig auf die Dauer.
Jawohl! Es kann ſogar ſehr langweilig werden.
Wie? Wenn er jetzt neben Emmy ſäße .. und ſein
leckeres Weiblein an dieſem köſtlichen Goldwein nippte
und ihm dabei über den Rand des Glaſes hin zu-
blinzelte mit ſeinen luſtigen, lockenden Augen .. ſo
[275] verführeriſch-verheißungsvoll zublinzelte — wie?
wäre daß nicht ein ſüßer, berauſchender Genuß ...
eine beſeligende Traumſtimmung .. ein ſolider Augen-
blick des Glücks, der Illuſion .. zwiſchen Gliedern
an der Lebenskette, die entwaffnet haben und ent-
waffnen werden, weil ſie in nüchterner, durchſchauen-
der Erkenntniß beſchloſſen ſind? In Geſellſchaft von
Naturen à la Hedwig warf ſelbſt der goldenſte, gött-
lichſte Wein keine bunten, ſammtenen Lichter über
das dumme, rohe, rauhbeinige Leben.


Der Regen praſſelte mit derſelben trockenen Drei-
ſtigkeit immer noch nieder .. und mit den rothgelben
Lüſtreflammen des Saales coquettirten noch immer die
weißblauen Blitze. Aber der Donner nahm ſich
ſchon mehr Zeit .. ſchien ſchon vorwiegend müde ge-
worden zu ſein. Er humpelte langſamer hinter den
ſchießenden Flammen her .. und ſein Poltern klang
bedeutend gemüthlicher.


„Na! das ſcheint ja noch 'mal gnädig ablaufen
zu wollen —“ meinte Herr Engler und trat an den
Tiſch heran, hinter dem Adam und Hedwig ſaßen.
Melitta entfernte ſich, ernſtlich gekränkt, wie es ſchien,
einen böſen Blick auf Hedwig werfend.


„Ja! .“ erwiederte Adam zerſtreut .. und ſchwang
ſich dann zu der Frage auf: „Wie lange haben Sie
noch auf, Herr Wirth?“


„Bis halb Drei .. Drei — ſo genau läßt ſich
das nicht nehmen. Je nachdem das Local beſetzt
iſt. Wie Viele kommen nicht erſt kurz vor Thores-
ſchluß —!“


18*
[276]

„Gewiß! Na! da dürfen wir ja noch 'ne
Weile ſitzen! Wie ſpät haben wir's denn jetzt?“


„Es geht auf Zwei! Nehmen Sie ſich nur Zeit,
Herr Doctor! Noch 'n Stündchen — dann müſſen
wir aber Schicht machen —“


„Bitte, Hedwig, trink doch! Ich glaube, Du biſt
noch beim erſten Glaſe! Nimm Dir an mir ein
Beiſpiel! Nicht wahr, Herr Wirth — bei einer
Flaſche Liebfrauenmilch habe ich es noch nie be-
wenden laſſen —?“


„Ja! Ja! Es ſind wohl meiſtentheils ... mehrere
... Flaſchen geworden .. Aber da waren Sie auch
— wie ſoll ich ſagen? — da gings flotter — luſtiger
[h]er — da —“


„Pſt!“ drohte Adam, halb im Ernſte, halb im
Spaße. „Nix ausplaudern, mein Lieber —!“


„Du brauchſt Dir gar keinen Zwang aufzulegen,
Adam! Du weißt doch — wir haben uns ja über
dieſen Punkt ausgeſprochen —“ warf Hedwig ein,
Aerger und Verbitterung in der Stimme.


„Sie ſehen, Herr Engler: ſo ein Pantoffel-
held iſt man nun glücklich geworden! Ja! Die
Liebe! Die Liebe! Die kriegt Alles fertig und
krümmt ſelbſt den trotzigſten Nacken —“ ſcherzte
Adam gezwungen .. „— aber ganz haſt Du mich noch
nicht gebändigt, liebe Hedwig — ganz noch nicht —“


„Bitte, laß das! —“


Herr Engler entfernte ſich. Er konnte den Doctor
nicht begreifen. Wollte der's denn wirklich nur noch
mit den Philiſtern halten? Und der würdige Wein-
[277] wirth glaubte Grund genug zu der Befürchtung zu beſitzen,
über kurz oder lang einen ſeiner beſten Stammgäſte zu
verlieren — und das würde doch ſehr fatal ſein. — —


Adam fühlte ſich immer ungemüthlicher. Hedwig
war ſo wortkarg .. ſtarrte in Einem fort vor ſich
hin — und ſchien mehr an ihren verlaſſenen Vater
zu denken, als an den Geliebten, der ihr zur Seite
ſaß — eine lebendige, begehrende und gabenbereite
Gegenwart ... der mit köſtlichem Weine den Bund
ihrer Herzen feiern wollte heute Nacht ... der die
Stimmung für orgiaſtiſches Draufgehn wachſen und
wachſen ſpürte in ſich .. wachſen mit dem ge-
noſſenen Weine und der vorenthaltenen Genugthuung
des Leibes, die immer heißer und brünſtiger um
ihr Recht warb .. Adam verbiß ſich rein in ſeinen
Aerger über Hedwigs Sprödigkeit. Er trank immer
haſtiger, wurde immer nervöſer, ſuchte die Müdig-
keit, die manchmal mit eingeriemter Schlinge an ſeinen
Gelenken zerrte, durch krampfhafte ſeeliſche Sprünge
und Erſchütterungen zu verſcheuchen. Nun ſchnappte
ein leichter, discreter Rauſch nach ihm: verhangene
Fernſichten ſchloſſen ſich auf .. und tagsüber ver-
ſchüttet gebliebene Gedanken, Stimmungen, Erinne-
rungen kamen zu ihm, flink, geſchwind, behend wie
Eidechſen, aus Riſſen und Spaltungen, darin ſie
geſchlummert hatten ...


Adam fühlte den Blick Emmys anhaltend auf
ſich. Er konnte nicht widerſtehen. Das Ungewöhn-
liche der Situation reizte ihn zu ſehr. „Verzeih,
Hedwig! Ich muß erſt 'mal zu meiner Emmy
[278] hinüber —“ entſchuldigte er ſich leiſe, verlegen-
haſtig, und erhob ſich.


Zu ſeiner Emmy? Hedwig fuhr zuſammen und
ſchaute Adam nach, wie er, ein klein Wenig unſicher,
durch das Zimmer ſchritt und an den Tiſch trat,
an welchem, ihnen gegenüber, allerdings in beträcht-
licher Entfernung, ein Herr und eine Dame ſaßen.
Sie hatte die beiden Menſchen dort bisher kaum
beachtet. Und nun entpuppte ſich die Dame als
„ſeine Emmy“! Nein! das war zu viel! Am Liebſten
wäre ſie aufgeſprungen und zum Lokale hinaus-
geflohen. Unwillkürlich horchte ſie darauf, ob der
Regen nachgelaſſen. Es ſchien ſo. Aber die Dach-
rinnen plätſcherten das Waſſer immer noch mit hef-
tigem Affekt auf das Pflaſter ... es tropfte und
quirlte noch allenthalben. Und jetzt blitzte es auch
noch, wenn auch ſchwächer, wie müde und gelang-
weilt. Das Gewitter gähnte ſchon. Das grau-
weiße Morgenlicht machte ſich immer breiter und
ſpielte immer zudringlicher durch die Vorhänge ins
Zimmer, welches dadurch einen Stich ins ſündhaft
Uebernächtigte, ins klebrig Unreinliche erhielt.


Hedwig verſuchte es, die Scene, die ſich jetzt
am Tiſche da drüben abſpielte, weiter nicht zu
beobachten. Sie verſpürte auf einmal das brennende
Bedürfniß, ſich zu betäuben. Vielleicht wuſch ihr
der Wein das Bewußtſein der Schmach, die ihr
widerfahren war, aus der Seele. Und ſie ſpülte haſtig
einige Gläſer furchtſam gelber Liebfrauenmilch hinab. —


Adam ſtreckte die Hand Herrn von Bodenburg
[279] entgegen. „Guten Abend, Herr Referendar! Guten
Abend, Emmy! Ich freue mich, daß ich Sie einmal
wiederſehe. Und noch dazu unter dieſen pikanten Ver-
hältniſſen ... in dieſem ſüßen Nebeneinander ...
Darf ich einen Augenblick Platz nehmen —?“


„Bitte!“


Adam fühlte ſich plötzlich ſehr ſouverän und ſpott-
luſtig aufgelegt. Ihn dünkte, er hätte die beiden
Menſchen da vollſtändig in der Hand — und ein
klein Wenig mit ihnen zu ſpielen, müßte ein Kapital-
vergnügen ſein, das er ſich nach den Zeiten der
Dürre, die er ſoeben mit Hedwig durchlebt, wohl
leiſten dürfte. Der genoſſene Wein, der ihm ſchon
eine vage Andeutung von Rauſch angeheftet, machte
nicht minder ſeinen ſtachelnden Einfluß gelten.


„Nun, mein gnädiges Fräulein, wie gefällt Ihnen
eigentlich mein neuer Nachfolger im Amte —
oder darf ich ihn nur für meinen Stellvertreter
halten —?“


Adam ſog nachläſſig an ſeiner Virginia. Sie
war wieder einmal ausgegangen. „Die Dinger ſind
wie die Weiber: man muß ſie in Einemfort pouſſiren ..
ſonſt gehen ſie aus ... das heißt: ſie gehen in ein
anderes Lager über. Ich will übrigens damit bei-
leibe nicht geſagt haben, Herr Referendar, daß bei
Ihnen Nordpoltemperatur herrſchte —“ witzelte
Adam und hielt ſich ein brennendes Streichholz vor
die Cigarre.


„Ich verſtehe Sie nicht, Herr Doctor —“ er-
klärte Herr von Bodenburg pikirt.


[280]

„Proſt, Clemens!“ verſuchte Emmy ſehr diplo-
matiſch zu tröſten und abzulenken, dabei warf ſie
einen Blick auf Adam, als wollte ſie ſagen: „Siehſt
Du, ſo intim ſind wir ſchon! Etſch!“


„Proſt, Emmy!“ kam Herr von Bodenburg nach
und fuhr, als er das Glas wieder niedergeſetzt,
fort: „Ich muß Sie wirklich bitten, Herr Doctor —“


„Mein Gott, Herr Referendar — Sie werden
mir doch geſtatten, Sie ein wenig zu bewundern!
Und das thu' ich mit dem redlichſten Gemüthe von
der Welt! Vorgeſtern — es war doch vorgeſtern?
— ja! — vorgeſtern alſo — na! da noch durch
die Bruſt geſchoſſen — ich meine: ohne weiter'n
weiblichen Anhang — und heute ſchon auf ſtolzen
Roſſen — ich gratulire herzlichſt —“


Emmy wurde unruhig und ſah Adam an, wie
drohend und zugleich gütlich abrathend, in dieſem
Stile fortzufahren.


Der Herr Doctor lächelte.


„Verzeihen Sie, mein Herr — ſo viel ich ſehe,
befinden Sie ſich doch ſelbſt in Damengeſellſchaft
— wenn ich nicht irre, iſt Ihre Begleiterin die
Dame, die wir öfter im Café Caeſar —“


„Sie haben ganz richtig geſehen, Herr Referendar.
aber das hindert doch nicht — ich meine: wenn ich
auch momentan verſehen bin — Sie werden doch
nicht glauben, daß ich ſo verzweifelt einſeitig ſei,
um — nun! — nun! — ich verſichere Sie, mein
Herr: ich halte es für meine Pflicht, mich auch noch
für ... wie ſoll ich ſagen? — für verfloſſene Lieb-
[281] ſchaften ein Wenig zu intereſſiren ... Die armen
Mädels! Wenn ihnen eine kleine, harmloſe Ent-
täuſchung in der Bruſt herumrumort, laufen ſie
dem Erſten Beſten in die Arme ... wie der ver-
zweifelte Skorpion ins Feuer ...“


„Dem Erſten Beſten — mein Herr —!“


„Clemens —! Ich bitte Dich! Proſt!“


„Laß mich! — Dem Erſten Beſten — was
ſoll das heißen —?“


„Nun wird der auch noch katholiſch! Adam! ...
pardon! ... Herr Doctor —!“


„Sie wünſchen, mein gnädiges Fräulein —?“


„Das gnädige Fräulein wünſcht gar nichts, aber
ich wünſche —“


„Was denn?“ fragte Adam jovial, mit größter
Seelenruhe.


„Daß Sie ſich menagiren — ſonſt —“


„Sonſt —?“


„Ich ſähe mich gezwungen —“


Herr Engler war hinzugetreten. „Ich bitte Sie,
meine Herren — Sie werden doch nicht — — es
iſt übrigens Feierabend, meine Herren!“


„Darf ich bitten? — ich möchte Kaſſe machen —“
bemerkte Melitta. Dabei ſah ſie Emmy an und
ſchielte dann zu Hedwig hinüber. Das arme, ver-
laſſene Weib ſchien ihr jetzt ſehr leid zu thun.


„So eilig, Herr Wirth?“ fragte Adam und
erhob ſich.


„Es iſt halb Drei durch — ſehen Sie doch:
es iſt ſchon ganz hell draußen —“


[282]

„So? Gute Nacht, Emmy! Und im Uebrigen,
Herr Referendar — thun Sie, was Sie nicht laſſen
können! Ich ſtehe Ihnen zur Verfügung —“


„Nun! Das Weitere wird ſich morgen finden —“


„Adieu —“


Emmy konnte ſich doch nicht enthalten, ein zag-
haft geflüſtertes „Adieu!“ zu antworten.


„Mein Herr! Pardon! —“ Herr von Boden-
burg eilte Adam nach. Der wandte ſich um.


„Darf ich Sie um Angabe Ihrer Wohnung
bitten? — ich weiß nicht mehr genau —“


„Hier iſt meine Karte — meine Wohnung ſteht
dabei — bitte! .“


„Danke verbindlichſt —!“


Die Herren verneigten ſich und gingen aus-
einander.


„Verzeih, mein Lieb — eine kleine, humoriſtiſche
Scene! Hat natürlich weiter nichts auf ſich ...“


Hedwig war durch die Spannung, mit welcher
ſie trotz alledem unwillkürlich den Vorgang beobachtet,
der ſich ſoeben zwiſchen Adam und dem fremden
Herrn abgeſpielt — und durch den mit nervöſer
Haſtigkeit genoſſenen Wein bedeutend aufgelockert.
Das Paradoxe, Bizarre ihrer Lage war ihr erſt
eigentlich jetzt zum Bewußtſein gekommen. Und
faſt reizte ſie ſchon das Abenteuerliche daran und
dünkte ſie ausnehmend pikant. Sie gewann dem,
was ſo neu, ſo außerordentlich war, ſchon Geſchmack ab.
Es fiel zu ſehr aus dem Zuſammenhange ihres bis-
herigen Lebens heraus. Und zugleich wuchs in ihr
[283] das Bewußtſein der inneren Fülle ... der Fülle von
Erlebniſſen, die ihr in wenigen, zuſammengedrängten
Stunden zugefloſſen waren. Ihr Leben ſtand an
einem Wendepunkte ... war vielleicht nur durch
die frivole Laune eines Vabanque-Spielers dahin-
geführt worden — aber ſie liebte nun einmal dieſen
Vabanque-Spieler, ſie hatte ſich ihm ergeben und
ſie mußte ihm weiterfolgen. Gleichgültig, wohin.
Große Stunden ſchieben enge Sphären auseinander
und verrücken die Maßſtäbe. Ein ſchnaubendes
Wühlen und Bohren in der Enge iſts und zugleich
eine weltenzuſammenraffende Gipfelſchau. Faſt war
Hedwig auf ihre Zukunft neugierig, naiv neugierig.
Das Bild ihres verlaſſenen Vaters trat zurück und
verblaßte jählings in die Vergangenheit hinein. Sie
freute ſich darüber und gedachte ſeiner wie eines
Todten, deſſen man ſich nicht mehr deutlich zu er-
innern vermag ... und auch nicht mehr deutlich
zu erinnern die Pflicht hat ...


„Ihr werdet Euch doch nicht —? — —“


„Gott! wir kitzeln uns vielleicht 'n Biſſel! Solche
‚kleinen Scherze‘, wie mein verfloſſener Buſenfreund,
Herr Kakatus Maximilian Ritter von Stämpellſtrunk,
zu ſagen flegte, das Stereotypen-Männchen, wie wir
den Knaben ſeiner feſtgefror'nen Redensarten wegen
immer nannten — ſolche „kleinen Scherze“ alſo er-
halten die Geſundheit und befördern die Verdauung.
Es iſt übrigens ziemlich tiefſinnig, ſich wegen einer
... einer femme pour tous eine Rippe zu zer-
brechen reſpektive ſich eine zerbrechen zu laſſen ...“


[284]

„Alſo der Dame ... Deiner ... Deiner Emmy
wegen, Adam —?“


„Die Damen, mein Lieb, für die oder deren
wegen ſich Helden, wie wir, ſchlagen — dieſe Damen
— — nun! glaubſt Du etwa, Hedwig, daß ich
für Dich eintreten würde — das heißt — ich
meiue — —“


„Wenn mich nun Jemand beleidigte —?“


„Ich würde den Kerl niederſchlagu — aber
wahrhaftig nicht auf den Unſinn des patentirten
Mords 'reinfallen! Bei Damen dagegen à la Emmy,
die Alles darauf ankommen laſſen, läßt man eben
auch Alles darauf ankommen — genau ſo zwei-
deutig, wie der Charakter dieſer Frauenzimmer
iſt das Duell — genau ſo! — ein Capitel aus
den Demimondiana des Lebens, mein Lieb —
weiter nichts! Dort Alternativen — hier auch!
Aber nun laß uns gehen! Die theure Donna Melitta
wartet ſchon. Trink' aus, bitte! Sieh, wie hell es
ſchon geworden iſt! Wir gehen der Frühe entgegen,
dem Morgen — der Sonne! Wenn ſich nur der
Staub der Nacht nicht ſo in meine Poren ein-
gefreſſen hätte! Komm! Und nun wollen wir allen
Unrath aus der Seele ſpülen ... und weiter nichts
ſein, als zwei harmloſe Weſen, die ſich zu Tode
wundern möchten, daß ſie hier auf dem dummen,
hökrigen Erdrücken Stehauf! und Duckdichnieder!
ſpielen müſſen ... die baß erſtaunt ſind, daß ſie
nicht gelegentlich herunterrutſchen von dem Kugel-
würmchen — und die manchmal, wie zum Beiſpiel
[285] jetzt, mit dem ganzen Hokuspokus doch von Herzen ein-
verſtanden ſind! Nicht wahr? mein Lieb — das Leben
iſt doch ſchön! doch! doch! doch! — Allerdings!
dieſes ‚doch!‘ iſt ſehr verdächtig —!“


Adam hatte an Fräulein Melitta den Wein be-
zahlt und war nun Hedwig beim Anziehen des
Jaquets behülflich.


Herr von Bodenburg und Emmy gingen in
dieſem Augenblicke vorüber.


Emmy warf einen kurzen, vorwurfsvollen Seiten-
blick auf Adam, der, hinter Hedwig ſtehend, nickte
ihr zärtlich-ironiſch zu. Er wußte ja: Herr von
Bodenburg war nur ein „Interims-Verhältniß“.


Die Luft hatte ſich kaum abgekühlt. Der Morgen
war dick und ſchwer, der Himmel mit aufgebauſcht
maſſigen, gelbgrauen Wolkenlagern überzogen. Der
Tag ſchien recht mürriſch und einſilbig werden zu
wollen. Es war kaum Stimmung in dieſem Wetter.
Das junge, wachſende Licht drückte ſich nur in
breiten, verſchwommenen Maſſen auseinander. Oefter
kam ein warmer Wind angeblaſen und furchte die
Pfützen, die auf den Fahrdämmen ſtanden. Er
klopfte ſanft auf die Büſche und Bäume und
ſchüttelte einen kleinen, kitzelnden Regen hängen-
und ſitzengebliebener Tropfen herunter.


Adam fühlte ſich doch etwas übernächtigt. Eine
große Spannung wohnte kaum noch in ſeiner Seele.
Er mußte öfter gähnen, ſo Vieles war ihm ſehr
gleichgültig, er ſehnte ſich nach einigen Stunden
tiefen Schlafes. Er wäre jetzt ſo gern allein ge-
[286] weſen. Wenn ſich noch die Sonne gemeldet hätte!
Oft ſchon war er in ſeinem Leben heimgegangen,
wenn ſie in der Frühe gekommen war. Dann
waren ihm ihre erſten Scheinverſuche immer ſo lieb
geweſen, ſo anheimelnd. Junges, erſtes Licht hat
ſo etwas putzig Stolperndes, naiv Drauflosgehendes,
es iſt noch ſo viel Reinheit und Schmelz und Kritik-
loſigkeit in ihm. Und wenn ſich das junge, erſte
Licht mit ſeinen blitzenden Silbergliedern gegen die
Scheiben oberer Häuſerfronten legte, hatte Adam
oft über dieſes Kecke, Backfiſchige dabei redlichen
Ernſtes lächeln müſſen. Heute war Alles trüb und
zuſammengeronnen, wenn auch unendlich hingebend
und weich ... muntere, begehrende Menſchen zum
Lager lockend und ladend, zum gemeinſamen Lager.
Aber Adam fühlte ſich eben ermattet, wie ſteif ver-
holzt und zuſammengedrückt, klebrig verfilzt, hier
und da in ſeinen Gelenken überflüſſig unterbunden,
und dazu aufgelegt, ſo viel als möglich kraft-
verwaiſten Herzens zu vernachläſſigen. Auch das
Weib an ſeiner Seite zu vernachläſſigen, das er
aber doch nicht gut um dieſe frühe Stunde allein
nach Hauſe gehen laſſen konnte. Eine Auseinander-
ſetzung mit Hedwigs Vater war unvermeidlich. Auch
er mußte dabei ſein. Ja! dieſe Auseinanderſetzung
wohl eigentlich ſelbſt einleiten. Das fiel ihm jetzt
erſt ein. Fatal und unbequem war's doch. Nun!
— da er das auf ſich nehmen mußte, konnte er
die paar Schritte, die ihm noch bis zu einem ge-
wiſſen, an ſich ſelbſtverſtändlichen Ziele zu gehen
[287] blieben — dann konnte er ſie nur getroſt gehen.
Hedwig würde wohl nicht minder im Sinne haben,
die letzte Hand an ihr gemeinſames Werk mitan-
zulegen. Dann ſtimmte dieſes Capitel wenigſtens
einigermaßen und erlebte eine Art Ende und Ab-
ſchluß. Alſo vorwärts!


„Ich bin doch etwas müde!“ begann Adam
ſtockend und gähnte dazu ein Gähnen, das nicht
recht aus ſich herauskommen wollte.


„Bring mich nach Hauſe, Adam!“ bat Hedwig
leiſe. Sie wußte ſelbſt nicht recht Beſcheid in ſich
in dieſem Augenblicke. Auch ſie war abgeſpannt,
und nach dem Hochſchwung des kleinen Weinrauſches,
den ihr die goldene Liebfrauenmilch und die mit-
erlebte Plänkelei zwiſchen den beiden Herren ein-
geflößt, litt ſie jetzt nur um ſo mehr unter der wieder-
kehrenden Müdigkeit. Aber zu ihrem Vater zurück?
Um dieſe Stunde? Doch wohin ſonſt? Etwa mit
Adam herumſpazieren, bis der Tag ſich ganz breit
gemacht hatte und die Menſchen glaubten, es mit
ihm wagen zu können? Oh! ſie gingen beide ſchon
ſo langſam und ſehnten ſich beide nach Ruhe und
Raſt!


Adam lachte mit forzirter Heftigkeit. „Hedwig!
Ich ſoll Dich nach Hauſe bringen —? Das iſt mehr
als naiv, mein Kind! Hörſt Du die Nachtigallen
ſchlagen? Nun! die ſchlagen uns etwas Anderes
und Vernünftigeres vor. Wir promeniren erſt noch
ein Weilchen — ſiehſt Du: hier ſind wir ja gleich
am Parke — die Wege werden allerdings verdammt
[288] matſchig und breiig ſein — na! wir wollens nur
'mal verſuchen — alſo wir ſchlucken noch ein Wenig
die Morgenluft ein — machen uns 'n biſſel friſcher
und dehniger, ſehniger, beweglicher — nicht wahr,
Kind? — plaudern noch über Dies und Das — und
nachher — nachher kommſt Du mit zu mir, mein Lieb —
und ſchläfſt Dich bei mir tüchtig aus — und morgen
reſpective heute früh gehe ich zu Deinem Papa und ſage
ihm ganz vergnügt, daß uns übermüthigen Menſchenkin-
dern der kleine Extra-Streich urfamos bekommen wäre!
Dein Papa wird doch auch in praxi Philoſoph genug
ſein, um unſere That, in der ſich die Natur einmal
ſo recht ausgelebt hat, nicht mit der Krämerelle zu
meſſen. Meinſt Du nicht auch —?“


„Mit zu Dir gehen — nein, Adam, das thue
ich auf keinen Fall!“ erklärte Hedwig ſehr beſtimmt
und umſchritt, zu Boden blickend, eine braungraue
Wegpfütze, die ſich in der Mitte des ſchmalen,
glitſchrigen Parkſteges über Gebühr breit hingegoſſen
hatte.


„Das thuſt Du nicht —? Nun! was denken
das gnädige Fräulein dann zu thun —?“ fragte
Adam, höhniſch-verdrießlich. Er war doch im Grunde
nur berechtigt, ſeiner Sache gewiß zu ſein. Warum
alſo überflüſſige Weitläufigkeiten? Unglaublich! Aber
die Weiber!


„Du haſt doch gehört — ich will nach Hauſe
gehen —“


„Um dieſe Stunde? Früh genug iſt es aller-
dings. Aber wir ſind ſchon von heute, mein Fräu-
[289] lein, und nicht mehr von geſtern. Es iſt 'n viertel
Vier. Sonderbar! Plötzlich genirſt Du Dich nicht
mehr! Und geſter Abend —“


„Aber Du mußt doch begreifen, Adam, daß ich
nicht mitgehen kann! Und ſelbſt — wenn auch —
nein! nein! — —“


„Ah! ‚Wenn auch‘! Was denn nun noch,
Hedwig —?“


„Nein! nein — —!“


Hedwig hatte ſich von Adam losgemacht und
war ſtehen geblieben. Sie ließ den Kopf auf die
Bruſt herabhängen und ſtreckte mit zuſammen-
geſchobenen Fingern die Hände vor ſich hin.


„Ich kann nicht —!“ ſtieß ſie gepreßt hervor.


„Gieb mir nur einen einzigen, vernünftigen
Grund an —“


„Adam! Von Einem zum Ander'n reißt Du
mich —“


„Iſt Dir das Tempo zu ſchnell? Mit Schnecken
um die Wette zu laufen — das iſt allerdings reizlos
für mich ... Ueberdies mußte es ſo kommen!
Warum ſollen wir die Reiſe nicht an einem Tage
machen? Das Leben iſt ſo kurz. Man darf ſich
nicht zu viel Zeit nehmen. Nicht auf jeder Zwiſchen-
ſtation ausſteigen. Nun komm! Hake Dich wieder
ein! Bitte! Und ſei meine kleine, vernünftige Hedwig!
Ja —?“


„Lieber Adam —!“


„Aber, Kind — warum ſträubſt Du Dich denn
immer noch? Unerklärlich! Du kannſt doch beim
Conradi, Adam Menſch. 19
[290] beſten Willen jetzt nicht nach Hauſe gehen — ſiehſt Du
denn das gar nicht ein? Was ſollen wir noch ewig
debattiren darüber! Laß Dich doch überzeugen! Du
verdirbſt mir den letzten Reſt von Stimmung! Mir
war etwas viel Schöneres eingefallen. Na! Nicht
gerade eingefallen. Ueber Manches hätten wir wohl
noch zu ſprechen, Hedwig — über manches Wichtige,
Tiefe, Intime. Und wenn wir uns jetzt recht zu-
ſammennähmen — und uns ſo recht jung und rein,
kräftig und ungebrochen zu fühlen verſuchten —
und ſo recht allein und auf uns nur angewieſen
— mir ſchwebt noch Dies und Das vor ... dämmert
zu mir herüber — ich möchte Dir aus meinem
Leben erzählen ... Erinnerungen auffärben — Er-
innerungen anderer Art, als vorhin, wo ich Dir von
Deinen ... Deinen — Vorläuferinnen — pardon!
— alſo — — aber bitte! — Komm zunächſt!
Hedwig! Komm! Komm! Komm! Komm! Mach' doch!
Und thu' mir den Gefallen und weine nicht wieder!
Ein furchtbar ſchwerer Güterzug biſt Du! Donner-
wetter! Die Locomotive muß eine Puſte haben —“


Adam verſuchte zu ſcherzen und machte ein ge-
zwungen heiteres Geſicht. Warm blies ihn der
feuchte Frühlingswind an. Adam nahm den Hut
ab und lockerte das zuſammengedrückte Haar auf.
Nun gähnte er laut. Zögernd, verdroſſen führte
er die Hand zum Munde. Er blinzelte müden,
verſchwommenen Blickes zu Hedwig hinüber, die ein
paar Schritte vorwärtsgegangen und dann wieder
wie rathlos, zweifelnd, ſuchend, unentſchloſſen und
[291] doch zugleich auch direkt abweiſend ſtehen geblieben
war. Der Tag war ſchon tüchtig gewachſen. Das
Licht differenzirte Bäume, Büſche, Sträucher ſchon um
Vieles zwanglos-nachdrücklicher. Das Einzelne ge-
wann mehr und mehr ſeine Grenzen, ließ ſeine
Farben ſpielen, ſchuf ſich ſeine Umgebung. So ob-
jektivirt das Licht. Nacht, Schatten, Dämmerung
ſind immer ſubjektiv. Am Meiſten aber die
Dämmerung. —


Nein! Der Druck in den Augenwinkeln war
unerträglich. Und die Glieder wurden dem Herrn
Doctor immer ſteifer, zäher, widerſpenſtiger. Es
war ſchon viel Selbſtverſtändliches in ihm. Er hatte
gründlich abgewirthſchaftet. Sollte er das Weib
lieber doch nach Hauſe bringen ... zu ſeinem ver-
laſſenen Vater ... und ſeinem Schickſale über-
antworten? Es war ja ſchließlich Alles ſo egal.
Aber — beſonders ehrenhaft und muthig wäre es
doch wohl nicht geweſen. Allerdings — wie über-
reden, überzeugen, daß —? Ach! die Geſchichte war
verdammt langweilig und hausbacken geworden.
Selbſt wenn er das kleine Weib wirklich noch mit
nach Hauſe ſchleppte und dieſe lobeſam-labſälige
Tragikomödie in einer gewiſſen Mauſefalle ihren
ſüßen Abſchluß fand — beſonderen Reiz hatte der
Gedanke kaum noch für ihn, ſeine Sinnlichkeit ließ
den Kopf hängen und welkte — er war nicht mehr
im Stande, Etwas zu finden, das er tief durchfühlen
konnte. Nur ungeduldig konnte er noch ſein. Er
hatte ein ſtarkes, fein ausgebildetes Verſtändniß- und
19*
[292] Bedürfnißorgan für alles Weibliche — aber ſchließlich
wird jedes ſotane Weibliche doch blutig langweilig ...


„Na — wie denken das gnädige Fräulein —?“


„Adam —!“


„Wir wollen nicht wieder in krampfhafte Dialoge
verfallen, Hedwig! Das iſt auch ſo'n weltläufiger
Irrthum, als ob man mit Geſprächen und Verhand-
lungen irgend Etwas ausrichtete! Wir monologiſiren
ja Alle nur — reflektiren über unſere höchſt eigen-
hirnigen Triebe, Neigungen, Kräfte, Tendenzen —
und ſo weiter. Das verſteht ſich Alles ganz von
ſelber. Oder auch nicht. Das iſt aber ganz Daſſelbe.
Widerſprüche giebts nämlich gar nicht. Im Grunde
durchaus nicht. Bloß auf der Oberfläche. Die
Oberflächen drängen, ſtoßen, reiben, balgen ſich.
Das nennen wir denn begriffenes Leben. Das
weſentliche Leben iſt natürlich das Unbegreiflich-Un-
begriffene. Das ſind nämlich die verdammten Dinger
an ſich. Daraus folgt, mein Lieb, daß es nämlich
ganz ſchnuppe iſt, ab Du hier ſtehen bleibſt, oder
ob Du mitgehſt — ob Du nach Hauſe fürbaß
wandelſt oder bei mir campirſt, meine reizende
Kameradin — ob Du — — na! ich will nur
ruhig ſein — ich hätte nämlich beinahe wieder 'mal
'was Knalliges losgelaſſen ... Gott verdamm mich!
— bin ich zuſammengehauen von den Strapazen
des Abends und dieſer glorreichen Nacht! Ja!
Ja! —:

‚So'n klenet bisken Liebe —

Ach! det macht viel Pläſir —


[293]

Een Leben ohne Liebe —

Det wäre niſcht for mir ...‘ —


was ich mir allerdings unterthänigſt zu bezweifeln
erlaube. ‚Een Leben ohne Liebe‘ dürfte viel em-
pfehlenswerther ... jedenfalls viel geſünder ſein.
Aber was ſoll die ganze Schwatzerei! Wir gehen
direkt zu meiner Wohnung — nicht, Hedwig? Das
iſt am Geſcheiteſten —“


Seit einigen Minuten waren die beiden wieder
neben einander vorwärtsgeſchritten. Hedwig ſah
Adam von der Seite an.


„Adam —!“


„Nun —?“


„Ach! es iſt ſchrecklich!“


„Immer noch? Du biſt pouſſirlich, Kind!“


„Du weißt nicht —“


„Ich weiß nicht —? Was denn —?“


„Nicht wahr: Du läßt mich aber allein bei
Dir — ich meine: allein — ja — ich — ich
ruhe mich nur ein Wenig aus auf deinem Sopha
— dann —“


„Selbſtverſtändlich — wenn Du es durchaus
wünſch'ſt — ich dachte allerdings, daß wir —“


„Oh mein Gott —!“


„Was iſt denn nur ſo furchtbar —?“


„Meine — Ver — — ich bin ja ſchon — Adam!
ich habe ja nichts mehr .. zu — ver .. l — —“
Das war leiſe ... wie mit unſäglicher Ueberwin-
dung herausgeſtöhnt.


Adam war doch zuſammengezuckt. Hm! Er
[294] hätte ein derartiges Geſtändniß nach Allem, was
vorausgegangen war, allerdings erwarten müſſen.
Und nun berührte es ihn — ja! wie denn eigentlich?
peinlich? ſchmerzlich? Fühlte er ſich genirt — oder
machte ihn die an ſich kaum bedeutſame Thatſache
nur ſchulbubenhaft verlegen? Schließlich ſchwang er
ſich zu folgender hervorragender Antwort auf:


„Das kann Dir nur zur Ehre gereichen, Hedwig!
— Und Dein .. haſt Du — Dein .. Kind? —“


„Starb kurz nach der Geburt —“


„Nun .. da hats Dir der liebe Gott doch be-
quem genug gemacht —“


„Adam!“


„Verzeih! Aber ich — ſieh 'mal: iſt nicht
jedes Weſen beneidenswerth, das bald nach ſeinem
Kommen wieder weggeht .. weggehen darf?. Es
iſt ſo ſüß, mitten in der Nacht .. nach ſtundenlangem
Schlafen .. einmal aufzuwachen .. Man horcht ge-
ſpannt in die ſurrende, athmende Finſterniß hinein
— fühlt ſich unſäglich angenehm müde — und
dämmert langſam wieder ein ... Es verlohnt ſich ſchon,
die Augen einmal aufzuſchlagen, wenn man ſo ent-
zückend ſchnell und ſüß wieder einſchlafen darf .. Aber
nun hoffe ich, iſt der letzte Weigerungsgrund hinfällig
geworden, Hedwig — ich weiß ſehr wohl, was Du mir
haſt andeuten wollen — komm! gieb mir den Arm
endlich wieder — wir wollen uns etwas beeilen —“


Hedwig ſah Adam an .. und fügte ſich langſam
zögernd. Vielleicht doch nicht zu ungern. — — —
— — — — — — — — — — — — —


[295]

„Endlich!“ rief Adam, tief aufathmend, aus
und warf die Schlüſſel auf den Tiſch. „Nun mach'
Dir's bequem, mein Lieb! Deine Kleider wirſt Du
ſchon irgendwo unterbringen. Aber zunächſt wollen
wir erſt 'mal die Fenſter hübſch zumachen .. und
der neugierigen Welt ein Schnippchen ſchlagen ..“


Die Vorhänge waren zuſammengezogen. Das
Morgenlicht, das ſchon recht deutlich und grenzen-
reißend im Zimmer geſtanden, war wieder zu an-
heimelnder, welliger Dämmerung graugeronnen. Adam
warf einen Blick in den Spiegel. Seine Augen
waren glanzlos, ſein Geſicht verquollen und un-
natürlich geröthet.


„Ja! Ja! das kommt von ſo 'was!.“ ſpöttelte
er halblaut vor ſich hin. Nun ſchloß er ſein Cylinder-
Bureau auf und warf dabei einen Blick ſeitwärts
auf Hedwig.


„Aber, Kind! Willſt Du denn da an der Thür
ſtehen bleiben? Gefällts Dir ſo wenig bei mir?
Es iſt doch gar nicht ſo übel hier! Leg Deinen
Hut ab, bitte — Du haſt nun einmal A und B geſagt
— jetzt mußt Du das ABC auch ganz herſagen —
davon hilft Dir weder Gott noch Teufel los!
Sieh' mich 'mal an, Hedwig! Na? Willſt nicht?
Immer noch ſo ernſt und traurig? — Mein Lieb!“


Das hatte Adam in faſt innigem Tone ge-
ſprochen. Er war zu Hedwig hingetreten und be-
gann jetzt ſehr discret, beſcheiden und nicht unge-
wandt, der Dame ſeines Herzens allerlei kleine Zofen-
dienſte zu liefern. Er nahm ihr den Hut ab, knöpfte ihr
[296] Jaquet auf, zog es ihr aus und zupfte und neſtelte
an den enganſitzenden Handſchuhen herum, bis er
zuerſt den einen, dann den ander'n entfernt hatte.
Hedwig ließ Alles ruhig mit ſich geſchehen. Sie
war ſehr blaß, die Lippen hatte ſie feſt zuſammen-
gepreßt, die Augen waren über die Hälfte von den
Lidern belegt. Adam hing ihr Jaquet an ſeinem Kleider-
halter auf. Dieſe Apathie verdroß ihn. Er hatte nun
ſein kleines Weib im Fangeiſen — aber die Geſchichte
kam ſo gar nicht in Fluß .. ſchien im Gegentheil
pyramidal langweilig und langwierig werden zu wollen.


Hedwig kauerte ſich auf ein Streifchen Sopha-
rand hin. Adam zwang ſich zu einem helleren, an-
regendem Tone.


„Bitte, Hedwig, ſei nicht ſo ſtumm und zurück-
haltend! Nicht ſo furchtbar ſtarr und bewegungslos!
Du biſt doch die Herrin hier! Siehe! Dein Ritter und
Knecht wird es ſich auf dieſer ſchreiend rothen Damaſt-
cauſeuſe bequem machen! Aber Dir, ſeiner Königin,
hat er ein fürſtliches Lager aufgeſchlagen! Komm
und ſtaune!.“


Adam theilte die Portière auseinander und er-
wartete, daß Hedwig zu ihm hin und mit ihm in
ſein Schlafcabinet treten würde. Aber die Dame
rührte ſich noch immer nicht. Unwillig ließ Adam
die Vorhangfalten fahren. Er ſetzte ſich neben Hed-
wig auf das Sopha, zog ſie ein Wenig tiefer auf
den Sitz zurück, legte ſeinen linken Arm um ihre
Hüfte und bog ſanften Nachdrucks mit der rechten
Hand ihr Geſicht zu ſich heran.


[297]

„Hedwig —!“


Sie ſuchte ſich langſam von ihm loszumachen.
„Laß mich, Adam —!“


„Fällt mir gar nicht ein! Und folgſt Du nicht
willig, ſo brauch' ich Gewalt — —“


— — — — — — — — — — — — —


Nun Adam auf dem Sopha lag und ſich nach
Belieben recken und dehnen konnte; nun die Ein-
drücke der Außenwelt auf eine geringe Anzahl, die
ſich wohl noch bewältigen ließ, zuſammengeſchmolzen
waren .. nun er das Weib, welches er liebte, in ſo
enger, intimer Nähe bei ſich fühlte; nun er es mit
ſeinen Armen umſchlingen und küſſen durfte, ſiedete
das Blut, deſſen Leidenſchaft ſchon erſtorben war,
noch einmal ziſchend in die Höhe — und alle ge-
ſchlechtlichen Inſtinkte des Mannes lechzten danach,
durch das Weibe erfüllt und befriedigt zu werden. — —


Endlich legten ſich ihre Arme wie ein zerſchnüren-
der Ring um ſeinen Hals.


„Adam —! —“


„Hedwig —! —“


Die „Natur“ läßt ihrer nicht ſpotten. —


— — — — — — — — — — — — —


Das Licht wuchs und wuchs. Die Beiden aber lagen
beieinander und genoſſen die Süßigkeit verdienten
Schlafes. Wohl war ihr Schlaf nur flach und
dünn, wie eine Linnendecke, die jeder Windhauch
aufſcheucht und bläht .. dünn wie ein Lindenblatt,
das der junge, übermüthige Morgenwind anſäuſelt ..
Sie begegneten ſich ſo oft in den Bewegungen ihrer
[298] Glieder und erweckten ſich zu neuem Liebesleben.
Dann wieder ein mähliges Ablaſſen von einander ..
ein neues Müdewerden und Eindämmern .. und
ein Neuerwachen. Sie ſahen ſich in die Augen,
trugen keimende Küſſe auf die Lippen und pflückten
die ſüßen, berauſchenden Früchte. „Aber nun wollen
wir ſchlafen, Geliebter — —“ „Ja, Hedwig! Aber
erſt — — —“ „Nein! Laß, Beſter! Mich friert
ſo! .. —“ „Mir iſt erſtickend heiß! ich dampfe —“
und Adam küßte diskret die Bruſt ſeiner Geliebten ...
dieſe Bruſt, die ſo weiß und ſo elaſtiſch war, wie
ein weichgekochtes, nervös vibrirendes Ei ...


Unerſchöpflich iſt die Phantaſie genießender Liebe ..
unermüdlich weiß ſie neue Reize aufzuſpüren und
auszukoſten.


So ſchliefen ſie in den wachſenden Tag hinein. Es
wurde lebendig auf dem Vorſaal, man lief hin und her
und ſprach jetzt lauter, jetzt leiſer. Die bunte Welt der
Geräuſche durchſtach ſo oft die zarte Schaale ihres
Schlafes. Manches nahmen ſie wohl mit hinüber in
die gaukelnden Traumfetzen, die ſie gebären mußten.
Auch von der Straße herauf ſprach das Leben, das die
vernünftigen Menſchen wieder in Angriff genommen
hatten, ſo oft in ihre zuſammenknospende Raſt hinein.
Fliegen ſurrten um ſie herum und ſchreckten ſie auf. Und
immer heißer wurde es auf dem gemeinſamen Lager.


Hedwig ſchlummerte. Leiſe und langſam gingen
ihre Athemzüge. Adam ſtützte den Kopf auf ſeine
rechte Hand und betrachtete die Schlafende. Ihre
Haut war nicht rein .. und jetzt merkwürdig durch-
[299] faltet und angerunzelt. Das Haar hatte ſich ver-
ſchoben und ſich zu häßlicher Unordnung zuſammen-
geknäult. Unangenehm ſcharf traten die Backenknochen
hervor, die Wangeneinfaltungen leicht überſchattend.
Auf der Oberlippe erglänzten im klaren Lichte der
wahren Sonne einige bläulich ſchwarze, indiskrete
Härchen. Doch ſchön war der Leib dieſer widerſpenſtigen
Sünderin, etwas mager wohl, aber ſehnig und zu-
ſammenſaugender Kräfte reich. Und dabei gedachte
Adam der Huldinnen, die alle ſchon hier neben ihm
gelegen .. das Haupt in dieſes .. in dieſes ſelbe Kiſſen
geſchmiegt .. und er verglich ihre Reize, ſo gut er ſich
ihrer erinnerte, und durchkoſtete noch einmal in nach-
läſſigem Aufſtöbern und Zuſammenſchüren alle die
Freuden und Entzückungen, die er hier ſchon genoſſen,
ſo oft ſchon genoſſen ... Dieſelben Verführungsfak-
toren .. dieſelbe dampfende Entzündung .. derſelbe
Genuß .. daſſelbe Reſultat .. derſelbe Ekel ... ach!
ein ſo dummes, ſo wahnſinnig dummes und einfältiges
Genarrtwerden! Die Natur macht nicht viele Worte,
ihre Sprache iſt ſo blutarm. Sie wiederholt ſich immer
und plagiirt ſich ſelber mit denſelben Wendungen. Und
immer wieder muß man auf den armſelig geiſtloſen
Köder 'reinfallen. Aber es iſt, als ob ſie, die domina
natura
, ſtets den Intellekt ſo lange knebelte und verge-
waltigte, bis ſie mit der Brandung des entzündeten
Blutes ihr erhabenes Ziel erreicht hat. Und dann?
Dann läßt ſie ſtillvergnügt die genasführte Kreatur
räſoniren. Das letzte Wort behält ſie doch ...
behält ſie immer und überall. —


[300]

Adam ſchlich ſich leiſe von Hedwigs Seite, fuhr
in die Hoſen und ſchlürfte in ſein Arbeitszimmer hin-
über. Er trank ein paar Schlucke abſtoßend lauwarm
gewordenen Waſſers, riß die Fenſter auf und ſchaute
... bei ſeiner ſehr primitiven Morgentoilette mit
affektirter Ungenirtheit .. auf die Straße hinab,
zum Junihimmel hinauf, der in ſattem Stahlblau
flimmerte. Es war um die neunte Stunde .. drunten
hatte ſich das Leben ſchon ganz hübſch eingerichtet.
Schwerfällige Laſtwagen ſchoben ſich langſam mit
widerlichem Geknarr vorüber. Da lief ſein Barbier
vorbei — wenn es dem Kerl nur nicht etwa einfiel,
jetzt ſchon anzutanzen! Viel Staub und Dunſt gab's ..
und Menſchen, die ihre Hüte in der Hand trugen
und ſich mit großen, maſſigen Taſchentüchern die
Stirnen wiſchten. Ach! Adam fühlte ſich ſehr
miſerabel. Er ſchauderte vor dem zurück, was ihm
der Tag noch bringen würde, bringen mußte. Da
im Nebenzimmer ſchlief das Weib, das er .. nun!
das er liebte, und das er genoſſen hatte. Süße,
ſelige Stunden waren es doch geweſen. Einſame
Stunden, da ſie ſich wie herausgelöſt dünken durften
aus dem Zuſammenhange der Menſchen und der Dinge.
Nun forderte die geiſtloſe ſoziale Seite des Lebens
wieder ihr Recht. Sich einzurenken, ſich wieder auf
ſeinen beſtimmten Platz in Reih und Glied zu ſtellen,
das galt es nun wieder. Nach rechts und links ver-
treten und verantworten, was man in kühner Ab-
ſonderung gewagt und gethan hat. Ach! Die Scene
mit Hedwigs Vater, die dem Herrn Doctor bevor-
[301] ſtand! Das war allerdings ſehr peinlich. Und
wenn er ſich noch wohler und freier gefühlt hätte!
Aber holprig und langſam war ſein Denken, mühſam
vorwärtskriechend und nur ganz obenhin die Dinge
des Lebens betaſtend. Immer beſchäftigte ihn nur das
Nächſte. Alle ſeine Bewegungen waren ſchwerfällig,
träge, vollzogen ſich widerwillig. Eine filzige Zähig-
keit und zugleich eine nervöſe, unregelmäßige Be-
wegungsſucht, eine zitternde Unruhe ſpukten in ſeinen
Gliedern, die wie dicker Brei gern in ihren Lagen ver-
harren wollten und dieſe doch ſtetig zu wechſeln
ſtrebten. Seine Hände waren ſchwammig und aufge-
quollen, ſeine Geſichtslinien an einzelnen Stellen, um
Augen und Naſe herum, ſchärfer markirt und zugleich
widerlich verwiſcht. Die Lippen trocken, ſpröde, auf der
Zunge ſtand ein fader, dürrer, kieſig prickelnder Sand-
geſchmack, die Stirn brannte von einem preſſenden
Drucke. Oefter mußte Adam gähnen, aber ſeine Kiefer
ſchienen alle Biegſamkeit und Spannung verloren zu
haben. Die Kopfhaut ſchmerzte, als wäre ſie von einem
Heere engzuſammenſtehender Stecknadeln durchlöchert.
Zu jeder Handlung mußte ſich Adam beſonders
zwingen. Alle Reibungen des geiſtigen und des
thatſächlichen, praktiſchen Kleinlebens reizten ihn mit
geſteigerter Intenſität. Dabei beſaß Nichts ein
tieferes Intereſſe mehr für ihn .. und Alles, was
ihn ſonſt zum Denken, Bedenken, Betrachten heraus-
forderte, hatte Wert, Inhalt, Form und Farbe
verloren.


Adam wuſch ſich Geſicht und Hände und ſchellte.


[302]

Im Nebenzimmer raſchelte es. Ein langer
Seufzer zitterte herüber.


Dann rief eine müde, heiſere Stimme, wie ge-
brochen, „Adam —!“


„Gleich, mein Lieb! Einen Augenblick!“


Es klopfte. „Herein!“ Das Mädchen kam und
brachte den Kaffee.


„Morgen, Herr Doctor!“


„Morgen! Und bringen Sie bitte noch 'ne
Taſſe, Ida!“


„Noch 'ne Taſſe?“


„Ja! Iſt das ſo merkwürdig? Ich habe
Beſuch —“


Das Mädchen ſah ſehr verblüfft aus. Es ſtarrte
Adam einen Augenblick an.


„Aber iſt denn das noch nicht vorgekommen, ſo
lange Sie hier ſind —?“ fragte Adam unwirſch-
ungeduldig.


„Nee! In den acht Tagen, wo ich —“


„Na, alſo bitte —!“


Jetzt ſchien dem kleinen, friſch vom Lande im-
portirten „Beſen“ doch ein Licht aufzugehen. Er
verzog den Mund und grinſte tolpatſchig-ſchnippiſch.


„Rindvieh!“ knurrte ihm Adam nach und trat
in's Nebenzimmer.


Hedwig ſaß im Bett, hatte die Arme gegen die
unter der Decke heraufgezogenen Kniee geſtemmt und
die Hände vor das Geſicht gedrückt.


Adam rückte ſich einen Stuhl an das Bett heran
und ſtreichelte ſeinem Weibe liebkoſend Haar und Hals.


[303]

„Nun — wie fühlt ſich die gnädige Frau?
Mir iſt nicht ſo beſonders — ich weiß nicht, aber —“


Hedwig nahm die Hände von den Augen. Lang-
ſam wandte ſie ihr Geſicht mit den bleichen, über-
nächtigten Zügen und dem ſchweren, verthränten
Blick Adam zu. Das arme Weib ſchien ganz muth-
los, ganz „hin“ zu ſein. Sich im Bette eines
fremden Mannes zu finden — ihm mußte doch auch
die Scham in der Seele brennen —


„Mein Lieb —!“


„Das überlebe ich nicht, Adam! Mein armer —
armer Vater —!“


„Nur Muth, Hedwig! Es wird ſchon ſchief gehen
— pardon! wollte ſagen: es wird ſich Alles ſchon
machen. Schlimmſten Fall's — alſo — Du haſt
ja immer — haſt ja immer an mir Halt und
Stütze! Wir werden's ſchon überſtehen. Es wird
noch Alles gut werden — laß nur jetzt den Kopf
nicht zu tief hängen, Kind!. Und komm! ſteh' auf!
Du kannſt hier ganz ungenirt Toilette machen. Alles
Nöthige wirſt Du finden. Es wäre ja nicht das
erſte Mal, daß eine Da — — — man iſt für ſolche
Fälle eben vorbereitet, wie es ſich geziemt ..“ Der an-
gefügte Nachſatz ſollte wie ein harmloſer Scherz klingen
und war doch eine unwillkürlich beabſichtigte Bos-
heit. Der Herr Doctor mußte ſich in dieſer Richtung
leider nur zu oft gehen laſſen. Es war beinahe,
als ob nur die vaſamotoriſchen Nerven dieſen Reflex
auslöſten, und der Wille nicht einmal die Freiheit
mehr beſaß, unfrei zu ſei.


[304]

„Soll ich Dir den Kaffee herüberbringen, mein
Lieb?“


Hedwig antwortete nicht. Adam benutzte ihr
Schweigen und ging auf kleinen, wohlberechneten
Umwegen in ſein Arbeitszimmer zurück. Es war
ihm zwar zu Sinn, als ob er ſich ſo etwas wie
„gedrückt“ hätte. Aber da drinnen bei dem unglück-
lichen Weibe hatte er ſich doch zu unbehaglich ge-
fühlt. Und er war ſchon ſo nervös heute.


Er goß ſich eine Taſſe Kaffee ein und trank
das Gebräu, das nur noch lauwarm war, in haſtigen
Zügen hinter. Ein merkwürdiger Durſt quälte den
Herrn Doctor ſchon zu dieſer frühen Morgenſtunde.
Und Adam vergegenwärtigte ſich mit ſtiller Reſig-
nation, in der er doch aber immerhin ein Wenig
zungenſchnalzend ſchwelgte, welche Laſt er auf ſich
genommen ... und er erinnerte ſich, wie ſo ganz anders
er mit Emmy dieſe morgendliche Nachfeier genoſſen
hatte — wie dieſes ſchöne „Kind der Sünde“ an den
letzten verklingenden Melodien einer dithyrambiſchen
Liebesnacht zu ſchlecken verſtanden. Köſtliche, unver-
geßliche Stunden! Und heute —?


Adam lag in der Sophaecke und kaute an einer
Virginia-Cigarette, die gar nicht ſchmecken wollte. Im
Schlafzimmer ging man auf und ab. Schritte ſchlürften,
Kleider raſchelten, das Waſchwaſſer plätſcherte. Aber
Alles ſo langſam und eintönig, ſo ſtörriſch-verglaſt,
ſo leblos-mechaniſch. Adam beſaß ein ſehr feines Gehör.
Das war die Nuance der Trauer, der muthloſen Gleich-
gültigkeit. Ach! Und das wirkt ſo anſteckend ..


[305]

Es wurde an die Stubenthür geklopft.


„Herein!“


„Herr Doctor, 'ne Dame iſt draußen, die Sie
ſprechen will —“


„'Ne Dame —?“


„Ja!“


„Hat ſie denn ihren Namen nicht genannt —?“


„Nee! Sie ſagte man bloß, ſie müßte Sie
ſofort ſprechen —“


„Nun — ich laſſe bitten —“


Emmy ſtand auf der Schwelle.


„Emmy —!“


„Verzeih', Adam, daß ich ſo früh — ich komme
— Ihr wollt Euch — —“


Sie war ſehr verwirrt und verlegen, die ſchöne
Sünderin — eine Erſcheinung, die Adam noch gar
nicht bei ihr beobachtet hatte.


Sie ſtand noch immer an der Thür und irrte
unſicheren Blickes im Zimmer herum, ſchlug nun die
Augen nieder und vermied es, Adam anzuſehen.
Jetzt entdeckte ſie zufällig Hedwigs Hut, der auf
einem Stuhl neben dem Sopha lag.


Adam entging es nicht, wie ſie erſchreckend zu-
ſammenfuhr. Er lächelte.


„Du haſt, Adam —“


„Was denn, Emmy? Aber bitte — willſt Du
Dich nicht ſetzen? Und willſt Du mir nicht den
Grund Deines Kommens nennen? Es muß doch ..
muß doch etwas Beſonderes vorliegen — nicht? —
oder ſollte ich mich irren —?“


Conradi, Adam Menſch. 20
[306]

„Du haſt Beſuch —?“


„Beſuch? Das iſt der Hut meiner Frau, Emmy —“


„Deiner Frau —?“


„Nun ja natürlich! Was weiter? Soll ich ſie Dir
vorſtellen? Warte eine Secunde — ſie macht noch
Toilette .. Wir ſind etwas ſpät nach Hauſe gekommen
und .. und haben etwas lange geſchlafen .. Uebrigens!
wie geht es denn dem Herrn von und zu Bodenburg?
Du kommſt doch gewiß von ihm —?“


„Adam —!“


Emmy war dicht an Adam herangetreten und
ſah ihn mit großen, blitzenden Augen feſt an. Zorn
und Entrüſtung brannten in dieſem Blick. So ſpricht
die Leidenſchaft, die eine erlittene Schmach rächen
oder die etwas Verlorenes wiedergewinnen will.


Adam konnte ſich dem berauſchenden Parfüm dieſer
Leidenſchaft nicht entziehen. Da quoll ihm Blut und
Leben in ungeſtümem Rhythmus entgegen. Da athmete
ein Weib vor ihm, deſſen Leib ſeine Reize und Schön-
heiten wunderbar diskret und beſtimmt zugleich durch
das knappanſitzende Kleid zu verrathen wußte.


Er trat einen Schritt zurück. Und nun mußte
er doch wieder lächeln. Fade! Wollte ihn die Dame
etwa überrumpeln —?


„Nun? —“ fragte er ungeduldig-pikirt.


„Du haſt mich in die Arme dieſes Menſchen
getrieben — —“


„Ich? — Aber Kind, da muß ich doch —“


„Oder etwa nicht —?“


„Liebe Emmy! Das iſt doch — ich — ich
[307] denke, es iſt Dein Metier, heute mit dem und
morgen mit dem zu .. zu — verkehren — —?“


„Und das ſagſt Du mir —?“


Emmy hatte ſich abgewandt. Sie war glühend
roth geworden. Vielleicht aus Scham und Entrüſtung
zugleich. Nun empfand Adam doch wieder ſo Etwas
wie Mitleid mit ihr. Aber er wußte auch nicht ſo-
fort, was er antworten ſollte


„Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten, mein
Fräulein —?“


Emmy richtete langſam den Kopf in die Höhe.
Ein ſehr trauriger, vorwurfsvoller Blick ſtand in
ihren ſchönen Augen.


„Sie haben ganz Recht, Herr Doctor — es iſt
allerdings mein ‚Metier‘ — —“


„Aber bitte! laſſen wir doch das! Ich möchte
heute früh .. ſo am erſten Morgen quasi nach
meiner ... nach meiner Hochzeit alſo ... ich möchte
mich da nicht gleich wieder auf alle möglichen Scenen
einlaſſen — Sie verſtehen, mein Fräulein —“


„‚Auf alle möglichen Scenen‘ — ſo? ‚Scenen‘ —
ganz recht! ... Nun, Herr Doctor —“


„Ja —?“


„Sie wollen ſich mit Herrn von Bodenburg —
ſchlagen? ...“


„Schlagen? Hui! Mir wird janz jruſelig.
Uebrigens — 'mal ſehen .. kann wohl ſein! Warum
ſchließlich auch nicht? Ich erwarte vorläufig erſt
ſeinen Zeugen — und dann — —“


„Sie werden das Duell ablehnen, Herr Doctor—!“


20*
[308]

„Ablehnen? Wie kommſt Du mir denn vor,
Emmy? Dieſe Sprache — ich — ich verſtehe Sie
nicht, mein Fräulein —“


„Adam —!“ Das war ſehr innig, ſehr rührend,
ſehr flehend herausgeſtoßen.


Im Nebenzimmer wurde heftig ein Stuhl ge-
rückt. So hat ſich eine Hand krampfhaft auf eine
Lehne gelegt. Die Finger krallen ſich feſt, preſſen ſich
immer feſter. Jetzt ſchleudern ſie den Stuhl im Affekte,
der ſeinen Siedepunkt erreicht hat, von ſich Die
nervöſe Spannung läßt nach ...


Die Beiden ſahen ſich an.


„Denken Sie an .. an Ihre — Frau —“ bat
Emmy leiſe, mit zitternder, ſtockender Stimme —


„Hm!“


„Das hatte ich Ihnen ſagen wollen —“


„Ich danke Ihnen, mein Fräulein —“


„Adieu —!“


„Adieu —!“


Emmy wandte ſich nach der Thür um, in deren Nähe
ſich die ganze Scene abgeſpielt hatte. Einen letzten
Augenblick noch zögerte ſie jetzt. Und nun kehrte ſie Adam
noch einmal ihr volles Geſicht zu. Thränen ſtanden
in ihren Augen, um den Mund zuckte es ſchmerzlich.


Und da kam es über Adam. Es gebar ſich
ihm plötzlich das Gefühl, als verlöre er Unerſetz-
liches, wenn er Emmy jetzt gehen ließe. Und doch
— er durfte ſie nicht zurückhalten. Er war ja ge-
bunden. Er hatte ja eine beſtimmte Pflicht zu er-
füllen. Dieſes ‚Verhältniß‘ mußte alſo endgütlig
[309] abgebrochen werden. Es liegt eine ſo große Wolluſt
in dieſem Abbrechen und Entſagen ... eine ſo be-
rauſchende Wolluſt, eine ſo nahrhafte Trauer, eine
ſo merkwürdig fruchtbare Wehmuth .. Aber noch
einen Kuß! Einen letzten Kuß! Und dann Ab-
ſchied nehmen — Abſchied nehmen für immer von
dieſen ſchönen, ſchönen Reizen! Nun mag die Er-
innerung kommen — und genoſſene Wonnen in
ſtillen Stunden ausſchmückend noch einmal durch-
koſten .. all' das Liebesgeplauder wiederholen und
all' die tändelnden, loſen, neckiſchen .. halb ernſten,
halb ſpaßigen Geſpräche, die zwei Menſchen zu
einander geſprochen, die ſich einen Augenblick lieb-
gehabt ....


Adam küßte Emmy auf die Stirn.


„Verlaß mich nicht, Adam!“ — hörte er ſich mit
bebender, gleichſam in höchſter Angſt ſich anklammern-
der Stimme zuflüſtern.


Es raſchelte in den Falten der Portière. Adam
trat zurück. Emmy verließ ſchnell das Zimmer. —


Der Herr Doctor ſtand vor ſeinem Sophatiſche,
auf dem es troſtlos verworren ausſah, und ſuchte
Etwas, irgend Etwas, er wußte wirklich nicht, was.
Seine Finger tappten zwiſchen den Büchern, Manu-
ſcripten, Zeitungen hin und her, griffen nach einem
loſen Blatt, nach einem Schlüſſel, einer Cigarren-
ſpitze, einem Bleiſtifte .. jetzt nach der kleinen Mor-
phiumflaſche, die ſich in intimer Nachbarſchaft bei
Meynerts Lehrbuch der Pſychiatrie niedergelaſſen ..
und ſtellten Alles wieder hübſch gewiſſenhaft an ſeinen
[310] Platz zurück. Nun fiel Adam die Cigarettenſchachtel
in's Auge. Er nahm ſich eine friſche Virginia heraus
und pendelte ſie gedankenbeklommen zwiſchen den
Fingern hin und her. Jetzt mochte Emmy unten
ſein. Ob er ihr noch einmal nachblicken ſollte?
Ein letztes Zunicken? Ein letzter Gruß? .. Sie
würde jedenfalls zu ſeinen Fenſtern heraufſehen —
vielleicht, daß er — — nein! nein! Nicht co-
quettiren mit der Vergangenheit, die ein für alle
Mal abgethan ſein ſollte! Es mußte ja ſein. Da
nebenan ... die Dame da in ſeinem Schlafzimmer —
zum Teufel! Es war gegen alle Vernunft und
Ordnung, aber es war einzig und allein „anſtändig“,
wenn er ihr treu blieb ... Auch das mußte eben ſein.
Es iſt höchſt empfehlenswerth, im Prinzip keine
„Pflichten“ anzuerkennen ... und in der Praxis
möglichſt viele zu erfüllen ...


„Hedwig! Biſt Du fertig? Dann komm bitte!
Der Kaffee wird in der That ganz kalt —“


Keine Antwort. Adam gab der Cigarette Feuer
und trat in's Nachbargemach. „Himmeldonnerwetter
— da ſoll denn doch — —“


Die Luft war heiß und dunſtig hier. Eine
wüſte Unordnung, von dem brutalen Sonnenlicht bis
in's Kleinſte hinein entwirrt und umriſſen, machte ſich
allenthalben breit. Hedwig ſaß an dem einen Fenſter,
hatte den linken Arm auf das Brett geſtützt und
das Kinn in die Handhöhlung gelegt. Sie ſtarrte,
wie von einem einzigen dumpfen, maſſiven Schmerze
zuſammengezwungen, ausdruckslos durch die Scheiben.
[311] Das ſchwarze, ſchmuckloſe Kleid gab der ganzen Ge-
ſtalt etwas unendlich Trauriges, unſäglich Herbes
und Abgewelktes.


„Willſt Du nicht?“ bat Adam leiſe, innig. Er
war hinter den Stuhl Hedwigs getreten und hatte
ihr Geſicht ſanft zu ſich emporgezogen. „Komm,
meine kleine Frau!“


Hedwig ſeufzte laut auf.


„Und verzeih' dieſe dumme Störung vorhin!
Das war recht geſchmacklos. Siehſt Du: da hatteſt
Du gleich ſo'n Stückchen rabbiater Vergangenheit!
Aber es iſt vorbei. Ich habe es definitiv ad acta
gelegt. Du kannſt wirklich ganz ruhig ſein —“


„Was wird mein Vater ſagen?“ kam es darauf lang-
ſam und unheimlich abgewickelt deutlich von ihren Lippen.


Adam fuhr auf. Er hatte im Stillen wohl auf
einen neuen, pikant-harmloſen Disput gerechnet ..
der gewiß nicht ohne reizvolle Pointen geblieben
wäre! Und nun wieder die alte Geſchichte mit
ihrem Vater, an die er am Liebſten gar nicht er-
innert ſein wollte. „Nimm mir's nicht übel, Hed-
wig — aber immer und ewig nur Dein Vater!
Ich hab's Dir ja ſchon geſagt: ich gehe nachher
zu ihm hin und ſetze ihm die ganze Sachlage ruhig
und denkbar correkt auseinander. Dann werden
wir ja ſehen ... Vor Elf kann ich allerdings nicht.
Bis dahin muß ich ſchon warten .. muß eben erſt
ſehen, ob ſich Herr von Bodenburg mit ſeiner kindiſchen
Geſchichte meldet. Iſt das glatt, wird ſich das An-
dere auch finden. Dein Papa iſt doch kein Unmenſch.
[312] Ich begreife nicht, warum Du Dich darum ſo furcht-
bar abſorgſt und abgrämſt .. Die Situation iſt ein
Wenig außergewöhnlich — ich geſtehe es zu — das
iſt aber auch Alles. Sie mag nicht alle Tage vor-
kommen — nun ja! Aber ich danke auch dafür,
alle Tage Sauerkohl und Bratwürſtel eſſen zu müſſen.
Es ſind ſchon ganz andere Geſchichten auf dieſer Welt
paſſirt — ſei doch nicht zu klein, Hedwig! Wir
wollen nicht jeden Kram mit dem Pathos der geſchicht-
lichen Mundvöllerei-Tragödie ausſtaffiren — immer und
immer wieder dieſelben Phraſen, daſſelbe nauſéabonde,
urtriſte Gequatſche! Seien wir klar und nüchtern,
wie es unſere Zeit verlangt — ich haſſe dieſe ba-
nauſiſche Sentimentalität, dieſe ſchleimige Gefühls-
duſelei ... Komm! Ich kann Dir zwar momentan
nicht Beef und weiche Eier vorſetzen, wohl aber miſerab-
len Kaffee und ein Brödchen mit Sardellenbutter. Das
iſt auch Poeſie, Kind! Nun — das wird hoffent-
lich Alles anders und beſſer werden, wenn Du erſt
'mal meine kleine Hausfrau biſt — nicht wahr —?“


Hedwig war aufgeſtanden. Sie legte ihre Hände
auf Adams Schultern, barg das Geſicht an ſeiner
Bruſt und weinte leiſe in ſich hinein.


„Ich habe ja nur Dich noch auf der ganzen
weiten Welt, Adam — habe Mitleid mit mir!“ bat
ſie mit thränenerſtickter Stimme.


Adam drückte ſein Weib zärtlich an ſich.


Und nun ſaßen ſie wieder beiſammen auf der
ſchreiend rothen Damaſt-Cauſeuſe.


Adam nippte an ſeiner Cigarette, Hedwig trank
[313]
ab und zu einen Schluck kalten Kaffees und führte
ein butterbeſtrichenes Semmeleckchen zum Munde. Sie
ſprachen wenig zu einander. Das war keine beſonders
behagliche Frühſtücksſtimmung. Ob Hedwig wohl
viel Talent dafür beſaß, die ſehende, ſorgende Haus-
frau zu ſpielen? Sie ſchien nur immer noch über
das Eine, das Schickſal ihres Vaters, nachzugrübeln.
Daß Adam vor einer etwaigen Piſtolenmenſur ſtand,
durch welche, wenn ſie vor ſich ging, ihr Verhältniß
zu ihm eine andere, unter Umſtänden ihr keineswegs
günſtige Wendung erhalten konnte, — das hatte ſie
augenſcheinlich ganz vergeſſen. Oder erachtete ſie es
unter ihrer Würde, auch in dieſer Beziehung eine
Bitte für ſich bei Adam einzulegen, nachdem ſchon ...
Emmy für ſie gebeten hatte? ..


Es lag ein überaus discreter, nur ſcheu ange-
deuteter Moſchusduft im Zimmer .. eine liebe Hinter-
laſſenſchaft Emmys. Dazu das brenzlichte Parfüm
der Cigarette. Adam hatte allerlei kleine, dumme,
träge, ſaugrüſſlige ... überflüſſige Gedanken ...


Es war ſchon über elf Uhr.


„Nun könnte ſich der edle Trovatore eigentlich mel-
den!“ bemerkte Adam verdrießlich. Er hatte ſich eben das
Geſpräch, das er mit Herrn Doctor Irmer zu führen ge-
dachte, in den Hauptpunkten zurechtgelegt .. und hätte es
am Liebſten ſofort vom Stapel gelaſſen. Das Memo-
riren und Rekapituliren war ſo beunruhigend und pein-
lich. Nur neue Bedenken und Möglichkeiten gebar es, wel-
che das Motiv immer wieder beeinflußten und verſchoben.


Da ſchlug die elektriſche Klingel an.


[314]

„Iſt Herr Doctor Menſch zu ſprechen —?“
hörte Adam eine rauhe, belegt-fettige, wie verbogene
Stimme fragen.


Das Mädchen gab Beſcheid. Es klopfte an die
Stubenthür.


Hedwig zuckte zuſammen. Vielleicht eine Nachricht
von ihrem Vater —? .. eine Anfrage von ihm bei
Adam, ob — —? ..


„Herein —!“


Ein Herr trat in's Zimmer. „Herr Doctor
Menſch —?“


„Ja! Und darf ich fragen — —“ Adam
hatte ſich erhoben.


„Mein Name iſt von Schnauzl. Habe die
Ehre, von Herrn von Bodenburg — —“ Herr von
Schnauzl ſtockte. Er warf einen fragenden Blick
auf Hedwig, die ihn mit ängſtlicher Spannung, zu-
gleich äußerſt verlegen und genirt, anſah.


Adam fand den Zuſammenhang.


„Sei ſo gut, mein Lieb, und laß uns einen Augen-
blick allein —“


Hedwig entfernte ſich.


„Nun —?“ fragte Adam, einen Ton beleidigen-
der Abweiſung und Ungeduld in der Stimme.


„Herr von Bodenburg —“


„Wollen Sie ſich nicht ſetzen, Herr von ... von —“


„Von Schnauzl! Danke verbindlichſt!“


Herr von Schnauzl geruhte, mit ſteifer Nach-
läſſigkeit ein Fleckchen Cauſeuſe für ſeine dreidimen-
ſionale Leiblichkeit in Anſpruch zu nehmen.


[315]

„Alſo fühlt ſich Herr von Bodenburg wirklich be-
leidigt? Aber mein Gott! — wodurch denn nur —?“


„Herr von Bodenburg, mein verehrter, langjähriger
Freund — wir waren Kompennäler und ſpäter zu-
ſammen aktiv in Göttingen —“


„So —?“


„Ja!“ verſicherte Herr von Schnauzl mit un-
willkürlicher Treuherzigkeit .. und fuhr dann fort:
„Herr von Bodenburg war alſo vorhin bei mir und
erſuchte mich, Ihnen eine Piſtolenforderung ... für
den Fall, daß Sie nicht revociren und depreciren —
natürlich in Gegenwart der bei der betreffenden
Scene betheiligt geweſenen Perſonen — alſo vor Allem
in Gegenwart der Dame, mit welcher mein Freund —“


„Ah! In Gegenwart meiner Emmy —?“


Adam war doch unverbeſſerlich. War das nun
Abſicht geweſen — oder hatte er wirklich ganz vergeſſen,
daß ſich Hedwig im Nebenzimmer befand und ſicher
auf jedes Wort, das hier geſprochen wurde, auf-
merkſam hörte? Aber ... ſchlimmſten Falls ...
wenn es ſich — vor ihr — nicht anders drehen und
wenden ließ: ſchlimmſten Falls konnte er den faux
pas
als eine kleine, harmloſe Rache hinſtellen — ganz
bewußt beabſichtigt — das war doch noch etwas
pikant — warum hatte ſie ſich denn heute ſo ganz
und gar nur von der Sorge um ihren Vater erfüllen
laſſen? — und ihn ſo gut wie gar nicht berückſichtigt?.


„Verzeihung! Ihrer Emmy, ſagen Sie ...
hm! —“ fragte Herr von Schnauzl verblüfft und
pikirt zugleich.


[316]

„Ja! Natürlich! Die Mätreſſe des Herrn Re-
ferendars war vorher — meine Mätreſſe — iſt es quaſi
eigentlich noch! Die Dame war vor einer Stunde
bei mir ... Aber darf ich bitten, fortzufahren —“


Herr von Schnauzl war ein paar Finger breit aus
dem Geleiſe gekommen. Da warfen ſich ihm einige
Momente mir nichts dir nichts zwiſchen die Beine, auf
die er ſchlechterdings nicht im Geringſten gerechnet
hatte, als er ſich zur Erfüllung der ehrenvollen Miſſion,
die ihm von Seiten ſeines verehrten Freundes aufge-
ſchultert war, vorbereitet. Aber ſchließlich — das
war ja ſeine Sache nicht. Mochte die Dame doch
— — er hatte nur die Forderung zu überbringen
... reſpektive den Sühneverſuch einzuleiten.


„Doch ... das hat mit dem, was mir hier zu-
nächſt obliegt, direkt nichts zu thun. Ich bin nur
beauftragt, Ihnen, Herr Doctor —“


„Von Revociren und Depreciren kann natürlich
keine Rede ſein —“ fiel Adam barſch ein. Die
ganze Geſchichte langweilte ihn ſchon ganz gehörig.
Was wollten denn nur in aller Welt dieſe Idioten
von ihm —?


„Ja — dann —“


„Verzeihen Sie, Herr .. Herr von Schnäuzl —
pardon! — Schnauzl — durch welches Wort — hm!
— welchen Ausdruck, welche Geſprächswendung fühlt
ſich denn eigentlich Ihr Herr Mandant beleidigt —?“


„Sie haben, wie mir Herr von Bodenburg mit-
theilte —“


„Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten —?“


[317]

„Danke verbindlichſt! Aber verzeihen Sie —
ich muß doch bemerken, Herr Doctor —“


„Ja —?“


„Daß Sie den Ernſt der Stunde ein Wenig zu
unterſchätzen ſcheinen —“


„Meinen Sie? — Ach nee! Doch — offengeſagt —:
ich finde die ganze Geſchichte dämoniſch kleinlich, albern,
überflüſſig, trivial .. und vor Allem empörend lang-
weilig .. Geſtatten Sie übrigens, daß ich mir ein
Exemplar meiner Virginia zu Gemüthe ziehe. Hoffent-
lich finden Sie nicht, daß unſer ehrenwerther, blut-
rother Piſtolenſpeech durch ein paar blaue Rauch-
wolken entweiht wird — ich meine im Gegentheil:
derartige Akte dürfen des Weihrauchs nicht ent-
behren — ſie möchten ſonſt zu nüchtern und zu
ſchamlos nackt ſein —“


Herr von Schnauzl war etwas unruhig geworden.
Er wußte nicht recht, wie er dieſen Herrn Doctor nehmen
ſollte .. Sollte er ſich durch dieſe Art der Geſprächs-
führung auch beleidigt fühlen und .. und die ganze
Verhandlung abbrechen? Grund genug dazu hatte
er ſchließlich erhalten durch die höhniſch-moquante
Art, mit welcher der Gegner ſeines Freundes ſich
aufſpielte. Aber er hatte ja noch nicht einmal die
Forderung ſelbſt normirt — und darum — —


Adam hatte ſich in den Seſſel geworfen, der vor
ſeinem Cylinder-Bureau ſtand, und betrachtete ſein
ſchräges Gegenüber.


Herr von Schnauzl machte ihm durchaus keinen
ſympathiſchen Eindruck. Das ganze Weſen dieſes
[318] würdigen Jünglings athmete eine gewiſſe Freude
darüber, daß er auf der Welt war .. und daß dieſe
Welt nun gezwungen wurde, ihn ernſt zu nehmen ..
Von der Wichtigkeit ſeiner momentanen Miſſion ſchien
der mittelgroße, wie durch eine unnatürliche Gliederver-
kürzung corpulent gewordene Herr ganz außerordent-
lich durchdrungen zu ſein. Sein volles, möhrenrothes
Geſicht hatte etwas Verſchobenes, Zuſammengedrücktes,
gleichſam verſetzt Aſthmatiſches, zugleich etwas un-
beholfen Böckiſches, ſchnaufend Einhackendes, das emi-
nent komiſch wirkte. Auf beiden Seiten der prachtvoll
gewölbten Naſenkuppel zogen ſich abwärts zu dem ge-
wöhnlich breiten Munde zwei markante Falten, wie
Pfützenrinnſale in Miniatur-Ausgabe. Das Kinn war
ungefüg und ſchwulſtig, die Stirn ſchmal und niedrig,
hökrig, mit Hitzblüthen betupft, die Ohren auffallend
klein, das kurze, röthlich blonde Haar ſo elegant und
peinlich correkt friſirt, wie es bei ſeiner verſchüchterten
Spärlichkeit nur irgend möglich war. Hm! Idealiſir-
ter Bierhuhn-Stil. —


„Herr von Bodenburg fühlt ſich durch eine Aeuße-
rung Ihrerſeits, die Sie zwar nicht direkt an ihn
gerichtet haben, die er aber dem ganzen Zuſammen-
hange nach auf ſich beziehen mußte — alſo dadurch,
daß Sie von dem ‚Erſten Beſten‘, ſprachen, ‚in deſſen
Arme‘ — ich glaube, ſo drückten Sie ſich aus — —“


„Ach ja! Ich erinnere mich ... Nun, — ich weiß
ſchon — alſo wie geſagt —: auf eine weitere, revoci-
rende Erklärung laſſe ich mich nicht ein. Des Kurioſums
halber: Herrn von Bodenburgs Forderung —?“


[319]

Adam war ungeduldig geworden und aufge-
ſprungen. Er hatte die Komödie mit dieſem dummen
Jungen ſatt. Lächerlich! Im Nebenzimmer hörte
er Hedwig haſtig, aufgeregt hin- und hergehen. Die
Erwartung der Entſcheidung ihres Schickſals ſchien
ſie mit immer wachſender nervöſer Unruhe zu er-
füllen, je länger ſich dieſe Entſcheidung hinausſchob.
In der nächſten halben Stunde ſtand er vor ihrem
Vater und hatte mit dieſem eine ungleich ernſtere
und wichtigere Auseinanderſetzung zu beſtehen. Was
gingen ihn da dieſe Krautjunker an, die nichts An-
deres zu thun zu haben ſchienen, als ſich in das er-
bärmlichſte Zeug von der Welt, in den conventionellſten
Phraſenſchnickſchnack feſtzubeißen? Eine Unver-
ſchämtheit, ihr lächerliches Nichts hier vor ihm zu
einer Haupt- und Staatsaktion aufzublähen!


„Die Forderung Herrn von Bodenburgs: alſo
auf Piſtolen — fünfzehn Schritt Diſtance — zwei-
maliger Kugelwechſel — mit Zielen —“


„So? Danke ſehr! Im Uebrigen alſo theilen
Sie Herrn von Bodenburg nur gefälligſt mit, daß
ich ſeine Forderung nicht annehme —“


„Nicht —?“


„Nein —!“


„Und darf ich fragen, aus welchem Grunde —?“


„Aus welchem Grunde? Hören Sie 'mal, lieber
Herr —: ich wäre wohl kaum verpflichtet, Ihnen meine
Gründe auseinanderzuſetzen. Es würde uns auch zu
lange aufhalten, bin preſſirt. Ich ſage Ihnen nur,
daß ich durchaus kein prinzipieller Gegner des Duells,
[320] ſpeciell der Piſtolenmenſur, bin — durchaus nicht! Aber
ich halte zunächſt Herrn von Bodenburg in keiner Weiſe
für den Menſchen, der würdig wäre, daß ich ihm
mit der Waffe in der Hand gegenüberträte —“


„Ich muß doch bitten Herr Doctor! Ich bin
hier ſein Vertreter .. gleichſam in dieſer Angelegen-
heit mit ihm identiſch — und ich würde nun doch
endlich gezwungen ſein mich ſelber als beleidigt zu
betrachten, wenn — —“


„Das ſollte mir leid thun, Herr von ... Schnauzl
— ich würde es aber nicht ändern können. Uebrigens
wenn Sie mit Ihrem Mandanten identiſch ſind —
warum kommt er denn da nicht ſelber zu mir?
Wäre er vorhin anſtatt zu Ihnen zu mir gegangen,
hätte er — na! da hätte er eben unſere liebe Emmy,
den kleinen, reizenden Zankapfel, bei mir antreffen
können. Wir hätten dann jedenfalls ſehr bald Frieden
geſchloſſen. Frauen entzweien zwar leicht und wohl
in gewiſſen Fällen auch nicht gerade ungern — haben
aber doch auch wieder einen rieſigen Verſöhnungstic ..
Die Emmy war ganz außer ſich vor Aufregung ...
Nun — und dann —“


„Ja! Ihre weiteren Gründe —?“


„Ich laſſe mich nur mit — verzeihen Sie! —
nur mit Meinesgleichen ein — Herrn von
Bodenburg aber für Einen Meinesgleichen zu
halten — ja! — es ſträubt ſich Etwas in mir da-
gegen — ich glaube übrigens wirklich — ich kann's
mir wenigſtens nicht anders erklären — Sie werden
wohl beſſer orientirt ſein — kennen ihn ja näher
[321] — nicht? Ihr Herr Mandant kränkelt auch 'n Biſſel
am modernen Größenwahn —? Sich mit mir
na! — hören wir damit auf — nix für ungut,
Herr von Schnauzl — ja! — alſo — und dann
.. dann ſchlage ich mich noch, wenn ich die Ueber-
zeugung habe, daß ich für etwas Prinzipielles
eintrete ... eintreten muß. Kindiſche Lappalien
indeſſen —“


„Sie lehnen die Forderung alſo definitiv ab —?“


„Ja! — Außerdem giebt es noch einen Fall —“


„So wollen Sie mir wenigſtens beſtätigen, daß
ich Ihnen die Forderung Herrn von Bodenburgs
überbracht habe —“


„Mit Vergnügen! Wünſchen Sie eine ſchriftliche
Erklärung —?“


„Nein! Ich danke. Die mündliche Décharge
genügt mir .. Ich empfehle mich! Adieu!“


„Ich habe die Ehre! Adieu! —“


Adam trat zu Hedwig in's Schlafzimmer.


„Und nun will ich mich fertig machen und
zu Deinem Vater gehen, mein Lieb. Verzeih die
Verzögerung — die dumme Geſchichte ließ ſich aber
nicht fixer abwickeln. Mein Gott! Was habe ich
ſeit geſtern Abend bis heute Mittag nicht ſchon für
Scenen erlebt! Das geht auf keine Bärenhaut. Und
eine immer ſchöner als die andere! Na! Nächſtens
werde ich meine Memoiren ſchreiben. 'S wird Zeit.
Aber der Hauptcoup kommt noch. Hm! Doch
auch dieſer Kelch wird ſich wohl noch austrinken
laſſen. Himmel, haſt du keine Flinte! Mir iſt doch
Conradi, Adam Menſch. 21
[322] immer noch nicht wohler. Dieſe dummen, ſtechenden
Hitzeſchauer! Die Luders ſpringen an Einem auf
und ab, als wäre man 'ne Kletterſtange. Wie ge-
fiel Dir übrigens der Herr von Schnauzl? Eine
unglaubliche Leineweberſeele! Nee! So'n Trauer-
weiderich! Eh bien! Unſer'm Herrgott darf als Gene-
rallandwirth auch der zweibeinige Viehbeſtand nicht
fehlen ... Es wird Einem manchmal wirklich zu
ſchwer gemacht, nach Buddha's Recept „Mitleid mit
allem Erſchaffenen“ zu haben —“


„Und habe Nachſicht mit meinem armen, alten
Vater, Adam! Er wird ſehr unglücklich ſein ... Ach!
Das hätte ich ihm doch nicht anthun ſollen ... Wenn
Du ihn nur noch — wenn er nur noch — o Gott!
der Gedanke könnte mich wahnſinnig machen, daß
— — und dieſe Angſt — dieſe furchtbare Angſt —!
Und bitte für mich bei ihm, Adam —!“


„Für Dich? Für uns, Hedwig! Am Meiſten
aber für mich. Denn ich habe ihm ſein Kind ge-
nommen. Und nun leb' wohl, mein Lieb! Wo
hab' ich nur meine Handſchuhe? Du kannſt unter-
deſſen ganz ruhig hier bleiben — Du biſt ganz
ungenirt. Nimm Dir 'n Buch vor und ließ 'n
Biſſel! Da Daudets Tartarin! Der drollige Kerl
wird Dich aufheitern. Ich komme ſofort zu Dir zu-
rück. Es wird ſich ſchon Alles ordnen laſſen.
Adieu —!“


„Adieu, Adam! — Und — und — —“


Die Beiden küßten ſich. Hedwig wandte ſich
laut aufſchluchzend ab. —


[323]

Adam ging langſam die Treppen hinunter. Das
Gehen wurde ihm ſchwer. Er fühlte ſich doch noch
recht unbehaglich, ſo unruhig, ſchwül, wie charpie-
zerzupft. Wie ein Träumender ging er langſam
durch das Leben der Straße. Er konnte ſich nicht
in das Treiben der Dinge um ihn herum hinein-
fühlen. Alles gurgelte hohl und dumpf an ihm
vorüber, huſchte und flirrte wie Schatten an
ihm vorbei. Eine dicke, unerklärliche, nur matt
transparente Schicht trennte ihn von Allem, was
ihn umgab .. eine Schicht, die er faſt phyſio-
logiſch als eine ſchwankende, gallertartige, milchweiße
Subſtanz wahrnahm. Er war ganz auf ſich ange-
wieſen, auf ſich zurückgedrängt, in ſich hineingeſchoben.
Das Alles, was da vor ihm, neben ihm, hinter ihm
geſchah, hatte keine Beziehungen zu ihm, ging ihn
nichts an, das Alles verſtand er nicht. Und nach
einer halben Stunde ging er wiederum ſehr lang
ſam die Treppe zu Irmers Wohnung hinauf. In
ſeinen Schläfen ſtach und zerrte es heftig. Nun
ſtand er ſchwer athmend oben und hatte das blanke,
meſſinggelbe Namensſchild vor ſich und daneben den
kleinen, weißen, flachausgehöhlten Porzellanknopf der
elektriſchen Klingel. Pfui! Wie der Kerl mit ſeiner ein-
gedrückten Glatze grinſte! Adam ſtand vor der Entſchei-
dung. Er horchte einen Augenblick geſpannt, ob er hin-
ter dieſer Thür verdächtige, auffällige Geräuſchzeichen
wahrnähme. Es war Alles todtenſtill. Das ſtimmte
ihn noch ernſter, ſchwerer, machte ihn noch muthloſer,
erfüllte ihn mit bangen Ahnungen, Erwartungen,
21*
[324] quälenden Vermuthungen, ſteigerte ſeine Unruhe und
Aufregung. Endlich raffte er ſich auf und drückte mit
forzirter Heftigkeit auf dieſen ekelhaften, kleinen, weißen,
flachausgehöhlten Porzellanknopf. Scharf und ſchnei-
dend, wie unerbittlich, ſchlug die Glocke an. Adam zuckte
zuſammen. Dort die Treppenſtufen, welche er noch,
indem er ſich die peinliche Rechtfertigung erſparte,
vor einer halben Minute hätte unbehelligt zurück-
gehen dürfen — dieſe dummen, lächerlich ſelbſtver-
ſtändlichen und neutralen Treppenſtufen waren ihm
jetzt ein verbotenes Reich, das verboten blieb, ſo
heiß er es auch erſehnte ... Er dachte daran, wie
er ſich heute Nacht an der Seite Hedwigs an dieſem
Geländer hinuntergetaſtet. Da waren ſie dem Leben,
der Freiheit, dem Genuß entgegengegangen. Und
nun ſtand er hier und ſtellte ſich zur Abrechnung
mit dem Vater, dem er ſein Kind genommen. Aber
jetzt wurde eine Thür zugeſchlagen — Schritte ſchlürf-
ten heran — die innere Thürklinke ging nieder —



[[325]]

XV.


— Und die Thür that ſich auf. —


„Herr Doctor Irmer zu ſprechen?“ fragte Adam
das Mädchen mit halblauter, ſtolpernder Stimme.


Das Gefühl beherrſchte ihn ganz, daß er im
nächſten Augenblicke vor ſeinem Richter ſtehen würde.
Es war ſo altfränkiſch, dieſes anklagende, beängſtigende
Gefühl, Adam empörte ſich auch ganz gewaltig gegen
das Rudiment aus ſeinen Kindertagen, wie er es
affektirt geringſchätzig nannte, aber es war doch da,
war doch in ihm, es ließ ſich weder durch einen brutalen
Gewaltakt des Willens noch durch ein logiſches Rai-
ſonnement hinwegdisputiren. Adam hatte alles
Selbſtbewußtſein, alle Ueberlegenheit verloren. Er
abſtrahirte allerdings aus der Erinnerung, daß er
ſeine ganze Sicherheit wiedergewinnen würde, ſobald
er erſt mitten im Feuer ſtände und es zu ſtarken In-
dividualitätsreibungen gekommen wäre — er hatte
dieſe ſeeliſche Erſcheinung ſo oft ſchon an ſich er-
lebt. Nur das Unklare, Ungewiſſe erregte ihn, wühlte
ihn ſo auf, machte ihn ſo ängſtlich und furchtſam.
Seine Phantaſie trieb Alles auf, zog ſogleich die
letzten Schlußfolgerungen, zeigte Alles von der un-
[326] erträglichſten Seite, malte Schwarz in Schwarz. Adam
hatte auf dem Boden ſeiner Natur ſehr bedeutende
Neigungen für ein beſchauliches Künſtlerleben. Aber
früh war er in allerlei Mißverhältniſſe gerathen,
die ſeinen anfangs ziemlich ſchwachen, nachher immer-
mehr gewachſenen Widerſpruch herausgefordert. Wenn
es irgend anging, lebte er mit der Welt am Liebſten
in Frieden, das heißt: hielt er ſich dieſe feudale
Welt zehn Schritt vom Leibe —: um damit den er-
forderlichen, günſtigen Beobachtungsſtandpunkt zu ge-
winnen, wie er ſich mit liebenswürdiger Schalkhaftig-
keit vorlog. Aber zugleich war doch in ſeine Natur
ein heftiger, fahriger, unruhiger, widerſpruchsſüchtiger,
bekehrungswüthiger Zug gekommen, der ihn immer
wieder mitten in die Dinge hineinriß .. und mit
der Zeit ſeiner ganzen Perſönlichkeit immermehr et-
was Herausforderndes, abweiſend Kritiſches, Aetzen-
des gegeben hatte. Ein gewiſſer Leichtſinn, deſſen
Keim Adam jedenfalls von ſeinem Vater ererbt;
eine behende Sorgloſigkeit ermöglichten es ihm dann
öfter, eine Weile ſeelenvergnügt in Verhältniſſen aus-
zuhalten, die ſehr unerquicklich und peinlich werden
mußten, wenn ſie ſich zuſpitzten. Adam war ſich
dieſes unangenehmen Endes auch klar bewußt. Seine
Phantaſie war ja ſehr werkluſtig und übertreibungs-
kundig, ſehr ausmalungsbefliſſen. Aber er hielt es
nicht der Mühe für werth, Verſuche zu machen, um
jenes unangenehme Ende abzuwenden oder, war das
nicht möglich, wenigſtens abzuſchwächen. Er war
nicht einmal im Stande, ſich auf widerwärtige fünfte
[327] Akte vorzubereiten, wenn ſie durchaus unvermeidlich
waren. Er ließ ſie, öfter beinahe etwas wie Neu-
gier und Geſpanntheit in der Seele, getroſt an ſich
herankommen. Dann fiel er ihnen zunächſt zum Opfer,
indem er, unmittelbar vor ihnen ſtehend, heftig zu-
rückſchrak. Schließlich wurde er mitten in einen
ſolchen fünften Akt hineingeſchoben ... und machte
ſich's mit der Zeit ganz bequem darin. Alle Wider-
ſtandskräfte wurden in ihm ausgelöſt, er hatte ſich
allenthalben zu verantworten, zu vertheidigen, er
mußte erklären und aufklären — und that das im
vollen Bewußtſein ſeiner geiſtigen Fülle, Kraft und
Ueberlegenheit. Er ſah ja immer tiefer und ſchärfer,
fühlte ſtärker und klarer, als alle die Kreaturen,
die es für ihre Pflicht hielten, ſich mit breitſpuriger
Wichtigthuerei an ihm abzuwurſteln. Er lachte auf
die Zwerge herab, mußte ſich aber ihren läppiſchen
Reſultaten fügen .. ſo oft fügen ... wenn er eben
auch die äußere Möglichkeit behalten wollte, ab und
zu den Rieſen zu ſpielen.


Nun ſtand Adam wieder einmal, in gewiſſer
Hinſicht ein „unſicherer Kantoniſt“, vor einer Ent-
ſcheidung. Sie war ihm überaus läſtig und unbe-
quem. Er bebte vor ihr zurück. Wer konnte wiſſen,
welche Folgen dieſe Auseinanderſetzung mit Hedwigs
Vater für ihn haben würde! Wenn Alles ſehr
mißlich für ihn ablief — zu verwundern war's nicht.
Gar nicht. Wenn er nur vorher wüßte, ob Irmer
ihm recht aufgebracht entgegentreten würde! Ge-
ſchähe das — nun! dann würde er ſchon zu ant-
[328] worten wiſſen. Exploſionen liebte Adam. Sie er-
leichtern ſo .. und bleiben in der Regel ſo hübſch
in der ungefährlicheren Peripherie .. machen ſo oft
den Kern einer Sache — einer „Schuld“, die geſühnt;
einer „Sünde“, die gerächt werden ſoll — ganz ver-
geſſen. Exploſionen ſind ſehr praktiſch. —


„Ich weiß nicht, ob der Herr Doctor —“ begann
das Mädchen zögernd, beklommen. — Adam bemerkte
unwillkürlich, daß ſein Gegenüber recht bekümmert,
wie ſtarkverweint um die Augen herum, ausſah. Es
hatte ſo gar keine deutlicheren Farben im Geſicht.


„Iſt er ſehr leidend —? Dann könnte ich ja —
wenn auch — — es wäre mir doch wichtig — —“


„Ja! Der Herr Doctor iſt ſehr leidend — er
liegt zu Bett — er hat ſich wieder hinlegen müſſen
— aber Sie kommen gewiß von wegen unſeres
Freileins — —“


„Ja! Ja! Nun machen Sie doch! Führen
Sie mich an ſein Bett — oder — Hedwig wartet — —“


„Hed ... Mein Gott! Dann kommen Sie
nur! Aber ich wills doch lieber dem Herrn Doctor
erſt ſagen — bitte treten Sie ſo lange ein —“


Und nun ſtand Adam wieder in dem Zimmer,
in welchem er geſtern Abend ſo Vieles erlebt
hatte, was für ihn bedeutſam und entſcheidend ge-
worden war.


Dort an dem Fenſter — nein! es war doch ei-
gentlich zu närriſch! — dort hatte er ſich ſeine ..
ſeine Braut erobert. Es hatte ihn Mühe genug
gekoſtet. Nun! Er hatte ja ſeinen Lohn dahin.
[329] Er hatte erreicht, was er halb bewußt, halb unbe-
wußt gewollt hatte.


Aber nein! Das konnte ſich ja unmöglich Alles
ſo ereignet haben, wie er da glaubte — das wäre
ja der pure, blanke Wahnſinn geweſen —!


Quatſch! Seine Phantaſie war wieder einmal
mit ihm durchgegangen. Sie hatte doch ſonderbare
Paſſionen, dieſe merkwürdige Phantaſie! Manchmal
wurde ſie ganz unheimlich. Dieſe Vexierſpiele
ſtreiften ſchon an .... an — natürlich an Ver-
rücktheit ...


Adam ſtrich ſich mit der Hand über Augen und
Stirn. Und doch — aber nein! nein! Und noch
zehntauſendmal nein! Er wartete ja auf das
gnädige Fräulein, dem er einen conventionellen
Beſuch .. eine ganz formelle, gleichgültige Viſite
machen wollte — na! die Prinzeſſin ließ ein Wenig
lange auf ſich — auf ſich .. „warten“ — nun
könnte ſie doch eigentlich .. nun könnte ſie doch
eigentlich kommen! Was dachte ſie ſich denn? Er
ſtahl doch wahrhaftig ſeine Zeit nicht —


Adam fühlte ſich arg beleidigt. Er wollte es
ihr ſchon zu verſtehen geben, dieſer — —


Da öffnete ſich die Thür und Doctor Irmer
trat ins Zimmer, langſam, ganz langſam. Es
machte ihm ſichtbar Mühe, die Thür hinter ſich
nachzuziehen.


Adam ſtarrte den Eintretenden wie eine räthſel-
hafte, ganz unerklärliche Erſcheinung an. Was war
denn das? Nun ſollte er ſich auf einmal zwiſchen
[330] Traum und Leben entſcheiden. Was ſollte er denn
für Leben, was für Traum halten?


Unwillkürlich paßte Adam Auge und Intellekt
mehr und mehr dem Phänomen, das er da vor
ſich ſah, an. Ob es nun Täuſchung, ob es Wahr-
heit war — er kam ſchließlich doch ſo weit, daß
er ſo ziemlich unverworren mit der Thatſache, die
ſich ihm grell aufdrängte, die er ſich aber doch noch
nicht ganz zu eigen machen konnte, rechnete


Irmer hielt ſich den um ihn herumſchlotternden
Schlafrock in der Bauchgegend mit der linken Hand
zuſammen. Die ganze Geſtalt war geknickt, gebrochen,
überaus hülflos. Der Kopf hing auf die Bruſt
herab, wie von der Klammer eines unwiderſtehlichen
Zwanges heruntergepreßt. Das Geſicht war bleich
und welk, ſeine Furchen und Falten traten er-
ſchreckend ſcharf hervor. Das ſpärliche, mehr waſſer-
farbene als graublonde Haar ſtand in ungeordneten
Büſcheln auf dem Scheitel herum. Dazu müde, todte
Augen und rothentzündete Lider.


„Herr Doctor“ — — begann Adam leiſe,
ſtockend, ganz rathlos .. und trat einen Schritt zur
Seite.


Irmer nickte nur ſchwer mit dem Kopfe, ein
Nicken wie das eines Blödſinnigen, der nicht wußte,
was man von ihm wollte. Der ſchwerleidende
Mann ſchlich quer durch das Zimmer nach der Ecke
hin, wo ſein Schreibtiſch ſtand. Langſam ließ er
ſich in ſeinen breiten, wackeligen Seſſel fallen.


„Sie kommen —“ knüpfte er mit ſeiner müden,
[331] amorphen, hökrig-verſchleierten Windſtimme an, nach-
dem er einige Male ſchwer, pfeifend geathmet hatte —


„Ich komme, Herr Doctor, um Ihnen Nachricht von
Ihrer Tochter zu bringen — Hedwig iſt bei mir — —“


„Iſt — bei — Ihnen — ſo! So —!“


„Ja! Und nun verzeihen Sie uns, Herr
Doctor — mir und meiner Braut —“


„Ihrer — Braut! Hm! Ja! — Ja! — Mein
armes Kind —“


„Herr Doctor —!“


Adam athmete wie von einem ſchweren Drucke
befreit auf. Gott ſei Dank! Nun ſchien es doch
zum offenen Kampfe kommen zu wollen. Da er-
hielt er ja unter Umſtänden Gelegenheit, ſeine ganze
Dialektik zu entfalten. Nur ſich nicht ſo wehrlos
von halb verſchwiegenen, halb angedeuteten Vorwürfen,
von Anklagen, die tropfenweiſe durchſickern, mar-
tern laſſen müſſen — —


„Mein armes Kind! Sie haben es mir ge-
nommen — —“


„Ja! Ich weiß es. Und ich nehme auch alle
Schuld auf mich. Ich werde zu ſühnen verſuchen,
was ich verbrochen habe — wenn das, was ich
gethan, wirklich ein Verbrechen war —“


Adam war trotzig geworden. Das ſchleppte ſich
ſo langſam hin. Die Flamme fraß ſich ſo wider-
ſtrebenden Zahnes, wie ſtörriſch-gelangweilt, unter der
Oberfläche fort. Das war alles ſo neblig, ſo ſchleimig.
Er mußte ſeinen Gegner durch eine Kühnheit, ja!
durch eine — Unverſchämtheit herausfordern, wenn
[332] Schwung und Stil in dieſe vage Abrechnung kommen
ſollte.


Irmer hob ſeine linke Hand, die ſchielend und unbe-
ſtimmt auf dem Schreibtiſche gelegen, ſchwerfällig in die
Höhe und ließ ſie ſchnell wieder niederfallen, als
beſäße er keine Macht mehr über Muskel und
Gelenk. Dazu ſchüttelte er ein Wenig den Kopf,
ſagte aber weiter Nichts.


„— 's ſcheint Ihnen nichts daran zu liegen, Herr
Doctor, daß wir uns näher ausſprechen —“ nahm
Adam wieder das Wort, einen hochfahrenden Ton
in der Stimme. „Ich hatte allerdings erwartet,
daß — nun! vielleicht iſt es beſſer, wenn wir ein-
fach mit der vorliegenden Thatſache rechnen. Ich bin
auch damit zufrieden. Die Frage iſt jetzt alſo die,
ob Sie geſtatten, daß Hedwig ſo lange zu Ihnen
zurückkehrt, bis ich in der Lage bin, ſie als mein
eheliches Weib .. — alſo .. meinetwegen —: heimzu-
führen ... Das kann noch eine Weile dauern —
darüber können noch einige Monate hingehen —
ich muß mir erſt eine Situation ſchaffen, die mir
erlaubt — —“


„Mein Kind! Mein Kind! Meine einzige
Hoffnung — meinen einzigen Halt nehmen Sie
mir, Herr Doctor .. haben Sie mir genommen ..
was ſoll ich nun noch hier? Es iſt ja Alles für
mich vorbei — Alles werthlos geworden. Blut und
Jugend ſind ſtärker geweſen, als alle meine Ein-
flüſſe .. als alle Erfahrungen und Erkenntniſſe,
die ich Hedwig einzuflößen geſucht, durch die ich ſie
[333]
mit der Zeit immermehr gefeit glaubte. Ich habe
ja doppelt .. Doppeltes verloren. Ich mache Ihnen
keinen Vorwurf. In dieſer langen, ſchlafloſen
Leidensnacht, die ich hinter mir habe — möge
Ihnen das Schickſal ſolche Nächte erſparen, Herr
Doctor! — in dieſer Nacht iſt mir auch wieder
ſo Manches eingefallen, was Sie geſtern Abend in
unſerem Geſpräche geäußert .. da iſt mir erſt klar
geworden, wie Sie Verſchiedenes eigentlich gemeint
haben. Vieles wird ſo verſtändlicher. Was zwiſchen
Ihnen und meinem armen Kinde ſonſt noch vor-
gefallen iſt — das mögen Sie vor ſich ſelber ver-
antworten .. beide .. gegenſeitig. Ich will wenigſtens
verſuchen, Herr Doctor, Ihnen zu vertrauen. Man
urtheilt ja immer nur aus der Enge beſtimmter,
vorliegender Verhältniſſe heraus. Wenn Hedwig
von mir gehen will — und ſie hats ja bewieſen,
daß ſie 's kann — — ich muß mein Kind ziehen
laſſen — ich habe nicht das Recht zu verlangen,
daß es bei einer Ruine, die man nur ſtudiren,
aber nicht anbeten ſoll, wie Sie geſtern Abend
ſagten, Herr Doctor — daß es da noch mehr ver-
kümmern ſoll, als es vielleicht ſchon iſt. Ich bin
heute Nacht, als ich .. beim Ausbruch des Ge-
witters .. nach meiner Tochter rief — und ſie
nicht kam — und ich dann entdecken mußte, daß
ſie mich verlaſſen hatte — — — nachher dann —
da habe ich — da kamen dann Stunden, wo ich
um Vieles wieder menſchlicher geworden bin, wenn
ich ſo ſagen darf ... Auch mein Troſt in der
[334] Philoſophie — meine Gewißheit, durch philoſophiſches
Denken und Anſchauen erlöſt zu ſein, die Phänomene
des Lebens überwunden zu haben, war wohl ein
ſchwerer Irrthum, eine furchtbare Illuſion, eine grau-
ſame Selbſttäuſchung .. Es iſt ja Alles nur Nervenan-
lage. Bion — Seneka — Spinoza — ſie forderten
nichts Unnatürliches von ihrem Organismus, wenn
ſie entſagen wollten .. ſie waren darauf geſtimmt.
Wir Modernen ſind Stümper, Materialiſten,
Epikureer .. und wir bleiben es, mögen wir uns
nun drehen und wenden, wie wir wollen. Wenn
wir in ſpäterem Alter auf Dieſes und Jenes ver-
zichten, ſo ſind wir eben zu ſtumpf geworden, um
es noch begehren zu können. Das hat Alles ſeine
natürlichen, pſychophyſiologiſchen Gründe. Nun ich
mein Kind verloren habe, bin ich ganz wehrlos ge-
worden für's Leben. Und wenn Hedwig auch wieder
zu mir zurückkehrte — ich habe doch das Gefühl
eines ungeheueren Riſſes, der durch unſer Verhältniß
gegangen iſt und der nicht zu heilen wäre. Um
gegen Sie aufſtehen zu können, Herr Doctor .. um
Ihnen leidenſchaftlich zürnen — mit Ihnen um
mein verlorenes Kind kämpfen zu können — dazu
bin ich zu müde und ſchwach geworden. Es iſt
nichts mehr mit mir. Ich habe keine Kraft mehr
in Leib und Seele — — höchſtens noch ſo viel,
um dieſem Jammer ein ſchnelles Ende machen zu
können. Und ſo weit bin ich heruntergekommen,
daß ich es nicht einmal mehr aus Liebe zum Tode,
ſondern nur aus Furcht vor dem Leben thun würde.
[335] Das ſchmerzt auch. Noch ein anderer Grund kommt
hinzu. Da ein Brief — ich ſoll — — aber das
verliert ja dann auch ſeine Berechtigung, wenn — —
es iſt ganz gut, Herr Doctor, daß Sie ſich Hedwigs
annehmen ... Sie mögen ſehen, wie Sie beide
zuſammen mit dem Leben fertig werden ...“


Irmer brach ab. Er hatte die letzten Sätze mit faſt
ganz unverſtändlich gewordener Stimme geſprochen,
nur noch mühſam aus ſich herausſickern laſſen. Adam
hatte mit aller Macht aufmerken müſſen, um ſeinen ..
Schwiegervater auch nur einigermaßen zu verſtehen.
Er war uun doch ſo etwas wie erſchüttert und ergriffen.
Zugleich aber auch ſkandalös verſtimmt. Hm! Hatte
er denn nicht, allerdings nur ganz im Stillen
gehofft, daß es zu einem regelrechten Kampfe um
Hedwig zwiſchen dieſem Manne da und ihm kommen
würde? — Und hatte er nicht die .. die teufliſche
Abſicht gehabt, in dieſem Kampfe — freiwillig zu
unterliegen? Ja! Gewiß! Dieſe Abſicht wäre teufliſch
geweſen und ruchlos — warum auch nicht? — wenn er
ſie verwirklicht hätte. Aber er hätte ſich in ſeiner ſehr
gefährlichen Situation kaum anders helfen können.
„Liebte“ er denn Hedwig? War ihr Beſitz denn eine
„Lebensfrage“ für ihn? Scheibenſchießen! Und nun
war von einer ehrlichen Auseinanderſetzung keine Rede.
Der Herr da verzichtete, er begnügte ſich mit einer Reihe
ſentimentaler Lamentationen und wehmüthiger Betrach-
tungen — und Adam ſah ſich durch die Zuſammen-
knotung der Verhältniſſe mit einem Male gezwungen,
das Leben von einer Seite ernſt zu nehmen, mit
[336] der ſeine ſublim vibrende Natur bis dahin nur geſpielt;
über die ſie nur geſpöttelt; die ſie nur ſehr aus der Ent-
fernung herausgefordert hatte. Das war recht fatal.
Aber andrerſeits war es doch unmöglich, daß er jetzt
plötzlich zurückhakte, andere Saiten aufzog und ſeinem
liebenswürdigen, willfährigen Schwiegerpapa in aus-
führlicher Rede zu Gemüthe führte, daß es für beide
Parteien wahrlich am Beſten wäre, wenn er auf die
Ehre, eben ſein Schwiegerpapa zu werden, verzich-
tete — nicht? das war doch ganz unmöglich! Adam
wurde dem alten, hülfloſen, gebrochenen Manne ernſt-
lich gram. Er ſchalt ihn den ärgſten Egoiſten von
der Welt. Denn wenn er nicht immer nur an ſich und
ſeine eigenen Schmerzen dachte, mußte er doch einſehen,
daß eine Ehe .. und ſelbſt nur eine auf längere Dauer
gemünzte „wilde Ehe“ .. zwiſchen ſeiner Tochter
und dieſem unzuverläſſigen Weltkinde nach Allem,
was dieſes Weltkind mit naiver Offenheit über ſich
ausgeplaudert und verrathen hatte — wenn nicht eine
direkte Unmöglichkeit, ſo doch mindeſtens eine Ver-
rücktheit erſter Güte ſein würde ... ein Stückchen
unglaublich geſchickt inſcenirter Unnatur! Aber das
begriff der Mann nicht .. und Adam beſaß nicht
den Muth, es ihm klarzumachen. So blieb ihm
vorläufig nichts weiter übrig, als in den ſauern
Hering zu beißen, der ja eine ganz vortreffliche
Katerſpeiſe abgeben ſoll. Aber vielleicht wollte und
wußte das „Schickſal“ doch noch eine andere Löſung
dieſes pikanten Problems. Es galt ſich in Geduld
zu faſſen .. und zunächſt in der Maske des be-
[337] ſchränkten Biedermanns weiterzutragiren. Aber zu-
gleich verſpürte Adam trotzdem ein gewiſſes Mitleid
mit dieſem Manne, dem er ſein Kind genommen
hatte .. ein Mitleid, das ihm allerdings ſehr un-
bequem war. Denn ob es ihm auch nur mit
leichtem, loſem Geſchnür die Gelenke umhing —
es hemmte ihn doch, es deſtillirte ihm eine peinliche
Unſicherheit ab, es nöthigte ihm eine tolpatſchige Arro-
ganz auf und machte ſein Auftreten halb frei und hoch-
fahrend-zwanglos, halb eckig, verlegen und beklommen.


„So geſtatten Sie denn, Herr Doctor, daß
Hedwig — —“


„Ja! Ja! Ich will mein Kind doch noch
einmal wiederſehen, ehe — —“


„Es wird noch Alles gut werden —“ verſuchte
Adam lauen Herzens zu tröſten .. und fuhr dann
lauter, beſtimmter fort: „Und nun geben Sie mir
die Hand — und laſſen Sie mich die Ueberzeugung
mitnehmen, daß Sie uns verziehen haben, Herr
Doctor .. Und nehmen Sie in dieſem Sinne Ihr
Kind, meine Braut .. unſere Hedwig auf — Sie
werden ſehen: wenn ich erſt der Dritte in Ihrem
Bunde bin — das wird ein neues, ſonniges Leben
geben! . Und wenn Sie dann noch durchaus weiter-
machen wollen in Ihrer Entſagungsphiloſophie
— nun! dann helfe ich Ihnen dabei nach beſtem
Wiſſen und Gewiſſen, Herr Doctor —“


Adam lächelte. Er war zu Irmer hingetreten
und ſtreckte ihm, von heiß aufquellender Sympathie
übermannt, ſeine beiden Hände zum Abſchiedsgruße
Conradi, Adam Menſch. 22
[338] entgegen. Langſam kam dieſer mit den mageren,
knochigen Fingern ſeiner rechten Hand herbei: einen
Augenblick lagen die Hände ineinander. Ein zahmer,
fleiſchloſer Druck. Ueber Irmers dürre, furchige,
rechte Backe lief flink wie ein Mäuslein eine kleine
kugelrunde Thräne. — —


Adam ſagte ſich, daß er ſich nach dieſem
unerquicklichen Speech wohl einen kleinen „Abſchwiff“
zur Aufbeſſerung ſeiner Stimmung gönnen dürfte.
Hedwig erwartete ihn zwar. Aber was verſchlug's!
Ob ihr eine Viertelſtunde früher oder ſpäter das bitter-
ſaure Chinin des Reſultats eingelöffelt wurde — das
war ſchließlich egal. Nein! Jetzt gleich die ganze Ge-
ſchichte noch einmal von vorn bis hinten durchzukauen
— das konnte kein Menſch von ihm verlangen ... das
war entſchieden grauſamer, als neben einem Laſtwagen
hergehen müſſen, der mit ſchmunzelnder Behaglichkeit
über holpriges Pflaſter durch eine ſtille Straße knarrt ..


Adam ſuchte abſichtlich die prallbrütende Mittags-
ſonne auf. Ach! Dieſe Glut war ſo wohlthuend!
So ganz, ſo maſſiv, ſo angenehm prickelnd und discret
durchbratend dabei! Der Herr Doctor hatte ſein
nervöſes Fröſteln immer noch nicht ganz überwunden.


Schließlich lief er in Café Cäſar ein. Er
ließ ſich eine Flaſche Sodawaſſer und einen kleinen
Cognac bringen und vertiefte ſich in das leckere
Literaturgetändel des Gil Blas. —


Und nun ſaß Adam wiederum auf der ſchreiend
rothen Damaſtcauſeuſe neben ſeiner Hedwig und ſpielte
mit den ſchlanken, weißen Fingern ihrer linken Hand.


[339]

„Aber lange, Adam!“ — hatte ihm Hedwig ſtockend
und mit ängſtlich-vorwurfsvollem Blicke entgegenge-
rufen, als er endlich zur Thür hereingetreten war.


„Lange? — Ach nee! Ich komme direkt von
Papa —“


„Und —?“ Ein gepreßtes Athmen. Sodann
leiſe, beklommen: „Und verzeiht er mir, Adam —?“


Der warf ſeinen Hut auf den nächſten Stuhl
und ſetzte ſich zu ſeiner Braut.


„Natürlich, Kind! Und warum ſollte er auch
nicht? Papa iſt vernünftig. Ich habe ihm erklärt,
wie Alles gekommen iſt. Gott! Mir erſcheint die
ganze Geſchichte heute immens harmlos. Was haben
wir denn weiter verbrochen! Ein paar kleine ..
nun! meinetwegen ein paar pikante Fakta, die man
ſonſt erſt nach der Hochzeit zu erledigen pflegt —
die haben wir ſchon in die Ouvertüre verlegt. —
c'est tout! Dein Papa iſt Sprachphiloſoph genug,
um das Weſen einer Prolepſis zu verſtehen —“


„Ja! . Aber — —“ meinte Hedwig ängſtlich —


„Komm!“ forderte Adam auf. „Ich will Dich
hinbegleiten, Kind — Du bleibſt noch eine kleine
Weile bei Papa — wir haben ſchon Alles geordnet
— nachher gründen wir uns ein eigenes Neſt —
nicht wahr? Ich werde ſchon einen tüchtigen Baumeiſter
abgeben — paß auf —!“


Hedwig ſenkte den Kopf. Adam ſtarrte ge-
dankenabſeits vor ſich hin. Nun hob das Weib
das Geſicht zu ſeinem Geliebten auf .. und viel
Hingebung, Sanftmuth, natürliche Unterordnung,
22*
[340] guter Wille und viel zärtliches Flehen lag jetzt in
den Zügen dieſes bleichen, ſchmalen Geſichts.


Adam küßte ſein Weib. —


Und er geleitete Hedwig zu ihrer Wohnung.
Sie ſtanden vor der Hausthür. Hedwig zögerte.
Sie fürchtete ſich jetzt am hellen, leuchtenden Tage
vor den Räumen, die ſie zum letzten Male in ſpäter,
nächtiger Stunde betreten hatte. Und nachher oben
ihr Vater — das erſte Sich-Gegenüberſtehen — die
erſten Worte — —


Adam wurde ungeduldig. Er wußte ganz ge-
nau, was in Hedwig vorging. Aber Alles drängte
in ihm danach, endlich einmal frei aufzuathmen.
Immer und ewig Schleim und Leim und Angſt,
Kopfhängerei, Unſicherheit — zum Kuckuck — er
hatte genug! So wurde er mitleidslos, faſt brutal.


„Alſo adieu, mein Lieb! Und nun ſei recht
ſanft zu Papa! Ich komme, wie geſagt, heute
Abend .. ſpäteſtens morgen früh. Wir wollen
uns jetzt recht oft ſehen — nicht wahr —?“


„Ja! .“ Hedwig ſeufzte tief auf. Die beiden
trennten ſich endlich. —


Als Adam die Straße hinunterſchritt, warf
er, unbekümmert um die verwunderten Geſichter der
vorüberwandelnden Mittagsmenſchen, ſeine Arme
von ſich und prüfte ſeine Muskeln. Er reckte und
dehnte ſich nach allen Seiten, knirſchte ſich gleichſam
mit ſtarkem körperlichem Wohlbehagen um ſeine eigene
Axe herum. Hei! das war eine Luſt! Und dieſes
Freiherausſchnaufendürfen aus voller, tiefer Bruſt!
[341] Hei! das that wohl! Noch einmal ſo nachdrücklich
ſetzte Adam ſeine Füße auf das Pflaſter. Unwillkür-
lich horchte er an ſich hernieder. Nein! Nein!
Es klirrten da unten noch keine Ketten um ſeine
Knöchel. Noch war er frei. Und er wollte frei
bleiben. —


Er ſtand über Allen, die da an ihm vorüber-
gingen. Er war nicht verpflichtet, ein Opfer ihrer
lächerlichen Subalternmoral zu werden .. Nein!
Bei Gott nicht! Er ſtand über Allen. Und
darum, glaubte er, hätte er ein Recht
zu ſeiner Freiheit
. —



[[342]]

XVI.


Den Nachmittag über hielt ſich Adam zu Hauſe. Es
war ihm zu Sinn, als müßte er einmal wieder
recht tüchtig bei ſich einkehren, auf ſich zurückgehen,
in ſich hineingehen, Vieles lichten und ſichten, was
in der Hochfluth der letzten Tage ſich verdunkelt,
verſchoben und verwirrt hatte. Er klopfte nach Dieſem
und Jenem bei ſich an. Schmerzlich ergriff es ihn
und erfüllte ihn zugleich mit einem ſtillen Zorn,
der ſich gleichſam lautlos nach innen verblutete,
als er ſo oft keine Antwort erhielt. Da war er
wieder, der äſthetiſch-metaphyſiſche Schmerz ſeines
Lebens. Und doch geſchah ihm eigentlich nur, was
er verdiente. Alle einfachen, großen, ſtillen Troſt-
und Beruhigungsnadeln waren ihm abhanden ge-
kommen. Es war ihm unverſtändlich, wie es noch
Kräfte geben ſollte, welche über die Alltagsmiſère
mit ihren kleinen, aber raffinirten Stacheln hinweg-
tröſten konnten. Und er war ihr mit Haut und
Haaren, mit Leib und Seele verfallen, dieſer dummen,
triſten Alltagsmiſère. Kleinlich und eng war ſein
Denken und Thun geworden, von der Stunde be-
ſtimmt, für die Stunde gemünzt. Er beſchäftigte
[343]
ſich allerdings zuweilen mit Motiven, die ihrem inneren
Werthe und Weſen nach hinausgingen über die einfält-
tigen Grenzen des Augenblicks. Aber er that das eigent-
lich nur noch ganz mechaniſch und ohne ſich der
weiteren Geiſteszonen bewußt zu werden, in welchen
er dann ja athmete. Er zog eben die Karre fort,
die ihm einmal die Kombination der Verhältniſſe
und die Tendenzen ſeiner Natur anvertraut oder auf-
gehalſt hatten. Es war ſo viel rauchig graue Abend-
dämmerung, ſo viel waſſerfarbene Verſtummheit
in ihm.


Sein Erlebniß mit Hedwig Irmer dünkte ihn
ein abgeſchmackter, inſipider Traum. Es zerrann
ihm Alles ſo unter den Fingern. Das konnte ja
nicht ſein, das war ja pure Einbildung. Und doch
war er ſich zugleich klar darüber, daß die Komödie
noch nicht ihr Ende erreicht hatte. Und er erwartete
dieſes Ende mit einem gewiſſen kaltblütigen Trotz,
während er jetzt mit einem merkwürdigen Epikureis-
mus in der Zwiſchenaktspauſe ſchwelgte. Das war
auch ſo ein Zug ſeiner Natur, der ſich mit der Zeit
herausgebildet. Unangenehme Lebenspillen verſchluckte
Adam gern in Unterbrechungen. Schon die That-
ſache einer ſolchen Unterbrechung, ſchon die Möglich-
keit, ſie zu conſtatiren, hatte für ihn einen ge-
wiſſen Reiz.


Er kramte Dies und Das aus ſich heraus. Aber
das lag Alles ſo todt vor ihm. Da gab es nur
noch mit dickem, gelbem Roſt bedeckte, unfahrbar
gewordene Geleiſe zwiſchen den einzelnen Reſultaten
[344] des inneren Lebens. In ſeiner Beziehung zur
Außenwelt kam ſich Adam ganz ſonderbar verrenkt
und verbogen vor. Unmögliche Formenſpiele, auf-
fallende Farbenmiſchungen, bizarre Phantaſie'n glühten
langſam in ſeinem Gehirne auf. Dabei fühlte er
zugleich eine träge, zähe innere Leere und eine tief-
verſtimmende Unfruchtbarkeit Eine leiſe, prickelnde
Unruhe zittere durch ſeine Bruſt, eine nervöſe Un-
geduld, eine Unzufriedenheit, die zugleich aufgehoben
und vermehrt, genährt, gepflegt ſein wollte. An Hedwig
dachte Adam mit immer wachſendem Widerwillen.
Er ſtellte ſich die Enge eines kleinen Haushalts
vor. Er ſchauderte zurück. Schließlich, wenn es
nicht anders ging, wollte er doch lieber an ihrer
Vergangenheit Anſtoß nehmen. Es blieb ihm wohl
kein anderes Mittel übrig, ſich dieſer verhaßten Kette
zu entledigen. Schmachvoll war's, aber er mußte
ſich eben der Waffen bedienen, die er in Händen
hatte.


Seine Beziehung zu Lydia war ihm eine exakte
Thatſache, die er nüchtern und kalt, höchſtens mit
einem kleinen Aufwand von Selbſtironie, kritiſirte.
Ganz gewiß! Er würde es unter Umſtänden fertig
kriegen, Lydia friſchweg zu heirathen. Das würde
überhaupt wohl das Ende .. und das gewiß ſehr
vernünftige und wünſchenswerthe Ende von dem
ganzen Liede ſein. Dabei brauchte er ja Emmy
nicht zu verlieren. Hm! Auf längere, intimere
Gedanken an Emmy ertappte ſich Adam öfter. Da
mußte doch eine tiefe, nachhaltige Sympathie vor-
[345] handen ſein, eine geheimnißvolle Strömung elektriſchen
Seelenfluidums. Ihre Anhänglichkeit rührte ihn
und ſchmeichelte ihm. Er hätte ſich übrigens ihret-
wegen ſchon einmal mit dem ehrenwerthen Ritter
von Bodenburg ſchießen können. Warum nicht?
Na! Die Choſe war abgethan. Die größere Be-
wegungsfähigkeit, die im Umgange mit Emmy gewahrt
blieb, ſie war es wohl, die ihn vor Allem zu ihr
hinzog. Und dann hatte ſie ſich in der auszehrenden
Luft, in der ſie lebte .. in dieſer Luft, die ihre
Opfer und Kreaturen mit der Zeit doch ſo grenzenlos
berechnend ſtimmt, da hatte ſie ſich im Großen und
Ganzen eine gewiſſe immerhin delikate Unabgegriffen-
heit, Unmittelbarkeit, Schmelz und natürliche Ge-
fühlsrhythmen zu erhalten gewußt. Ueberdies war ſie
ein prächtig gebautes Weib, die köſtliche Mitte zwiſchen
Lydia und Hedwig — und das war doch wahrhaftig
nicht ihr geringſter Vorzug. —


Adam blätterte in einem Bündel von Papieren
und Manuſcripten, die er mechaniſch einem Schub-
fache ſeines Schreibtiſches entnommen hatte. Er
zerrte einige loſe Blätter heraus und begann, ohne
beſondere Abſicht, gleichſam nur ein Opfer ſeiner Augen,
die zufällig keine andere Blickfläche fanden, zu leſen:


„Ich bin bewegt, in tiefſter Seele bewegt. Noch
am ſpäten Abend, da ich ſchon frohlockt, daß ſich
das Auge dieſes Tages ſchließen will — dieſes
Tages, der ſo inhaltslos, ſo todt, fahl und verkommen
vor mir liegt; an dem ich faſt nur ‚geweſen‘ bin
— am Ende dieſer verlorenen Stunden erbebt
[346] und erzittert noch einmal der Fluthſpiegel meiner
Seele ... Und ſie nimmt willig die Bilder auf,
meine Seele, und geſtaltet ſie aus, die ſich über
ihren Spiegel gebeugt ...


Ich war in der lärmenden Welt draußen und
habe gelebt, wie die Anderen .... Ich war ſo gleich-
gültig, wie ſie — oder auch ſo hingenommen, ſo
beſchäftigt, ging ſo auf, wie ſie, in den kleinen
Tagesintereſſen .. Ich habe wohl allenthalben über
das Geſchaute mancherlei Eigenes und unbeſtochen
Identiſches mir zuſammengedacht — aber ich irrte
doch planlos und haltlos durch das Labyrinth der
Zeitlichkeit, und wenig Spannung und Berührung fühlte
ich mit den Weſenskräften, mit dem Grundgranite
des Daſeins .. Ich hatte mich nicht gehen laſſen
wollen — ich war nur noch unfeſt, ſchwankend gewe-
ſen, und die Stoßkraft der Verſuchung hatte leichten
Kauf mit mir gehabt. Ich war hineingewirbelt
worden ins Treiben. Ich war nicht mehr ſehend
und ſelbſtändig geblieben. Der pſychologiſche Vorgang
iſt ja durchſichtig genug. Aus phyſiſchen Bedingungen
war ich nachläſſig oder unfähig — und ſo erfolgte
auf die vereinheitlichende Anſpannung die Reaktion mit
ihrer zerfaſernden Zerſtreuung. Das iſt's eben, was mich
oft ſo namenlos traurig ſtimmt: gegen eingewurzelte
Gewohnheiten und Eigenheiten ſind wir im Ganzen
machtlos — wir ſtehen ſo gut wie waffenlos dem Hoch-
drucke ihres Einfluſſes gegenüber. Und der Wechſel
von Hoch und Nieder, von Auf und Ab, iſt ſo natur-
bedingt! Auch hier triumphirt das Fragment. —


[347]

Aelter werden und mit den Jahren an Kraft
und Ruhe und Maß wachſen, heißt weiter nichts, als
verzichten, ſich beſchränken, halb bewußt — halb ge-
wohnheitsmäßig, phyſiologiſch-bedingt unbewußt.
Prahle Keiner mit ſeiner Ruhe und Sicherheit. Ob
nicht in den Tagen einer ungeſtümen Gährung der
Blick doch weiter trägt? Im Spiegel der Ewigkeit
ſchrumpfen die Bilder der Zeitlichkeit bedenklich zu-
ſammen. Das Genie der Jugend bedeutet ein
längeres Senkblei, deun das Talent des Alters.


In dem pſycho-phyſiologiſchen Geſetze von
Wirkung und Gegenwirkung und in dem fortdauern-
den Einfluſſe unausrottbarer Weſenswurzeln, von
denen Jeder ein Rudel beſitzt, liegen die Grenzen
und Hemmniſſe, vor denen alles Größere und
Bedeutendere des Lebens zerbröckelt. Zu den un-
ausrottbaren Weſenswurzeln aber zähle ich den Zug
zum Leichtſinn, von dem ſich auch in das
ſchwerſte Gemüth eine Unze hineingemiſcht hat. —


Es iſt nicht allzuſchwer, alle Aeußerungen des
Lebens auf beſtimmte einfache Formeln zurückzu-
führen. Aber es gehört ein leichter, glücklicher Sinn
dazu, ſich von der Fülle der Erſcheinungen nicht
immer wieder verblüffen, nicht immer wieder ent-
muthigen und entwaffnen zu laſſen.


Ich beſiege ein Objekt, indem ich es fein ſäuber-
lich durchſchaue, erkenne. Erkennen iſt nur Anerkennen
— und umgekehrt. Es beſiegt mich, dieſes Objekt,
indem es auch auf mich weiter wirkt, nachdem ich
es mir geiſtig unterworfen habe. So bin ich Herr
[348] und Sklave zugleich. Das darf mich wurmen und
freuen, denn ich habe doch immer geſiegt, wenn auch
gleichſam nur negativ. Aber vielleicht ſind darum
die Schmerzen darüber, daß ich den Einfluß nicht
nach meinem Ermeſſen tilgen kann, nur um ſo
heftigere ...


Organismus ... Syſtem ..: Alles geſetz-
mäßig Entwickelte, Zuſammengeſchloſſene, Abgerundete
hat größere Lebenskräfte in ſich, als das Verzettelte,
Aphoriſtiſche. Aber ſyſtematiſche Ordnung und
innere Harmonie, Schönheit organiſchen Zwanges
und natürlicher Einheit ſind nicht immer daſſelbe.
Lücken werden ſtets aus dem Weſen aller Dinge
heraus nothwendige, gleichſam wiederum negative
Verknüpfungsglieder ſein. Und iſt nicht das erſte
Weſensmoment der Harmonie auch gegeben in dem
Zuſammenſtrömen aller Tendenzen nach einem
Mittelpunkte? —


Und wieder einmal bin ich tief bewegt. Heiße,
jähe Schmerzen ſchießen durch meine Seele, und die
Stacheln einer zähen Reue drücken ſich tief, tief ein.
Soll ich das Leben anklagen? Soll ich mich
ſchwankendes Rohr anklagen? Am Kleinen, Klein-
lichen und Gemeinen hafteten meine Augen, und ich
ließ in ſtiller Ergebenheit unaufhörlich Tage um Tage
jenen dünnen, feinen, grauen Staub auf mich nieder-
rieſeln, den das blöde, monotone, im Banne des
Augenblicks befangene Alltagsleben aufſcheucht, in
gewaltigen Wogen durch die Lüfte bläſt und ſchiebt
und über Alles ſich ausſtreuen läßt ... Wenige
[349] wehren ſich dieſes einſchläfernden Staubregens. Ganz
läßt er ſich überhaupt nicht fernhalten. Aber in
manchen Naturen lebt doch der Drang, einmal mit
impoſanter Zuſammenraffung aller Leidenſchaften
und Kräfte die Kruſte von ſich zu ſchütteln, um
wieder eine Weile in einer Sphäre verjüngter Seelen-
freiheit, verjüngten Menſchenthums athmen zu können.
Wieder wird dieſer Staub fallen .. da giebts kein
Entrinnen — und unangetaſtet bleibt Keiner der Sterb-
lichen. Wieder wird er fallen, leiſe wird er ſich
über die üppig wuchernde, ſtrotzend blühende, mit
ſatter Kraft empordrängende Willens- und Sehn-
ſuchtslandſchaft deiner zürnenden, rebellirenden Bruſt
breiten — leiſe wird er ſich dichten und häufen
und ganz gemach wirſt du wieder eingereiht, lieber
Spießgeſell und unfreiwilliger Spaßgeſell, in die
Rieſenlegion der Alltagskinder, die da ſich bücken
und ſchicken und der Sterne vergeſſen und aller
gewaltigen Wunder im Himmel und auf Erden,
deren inbrünſtige Beachtung und zärtliche Betrachtung
ſie emporriſſe aus der Kleinheit und Enge und
inneren Gelähmtheit ihrer Exiſtenz .... Aber auch
ich — auch ich lag im harten Banne des Staubes,
und matt ſchlug mein Herz, langſam kroch mein
Blut — — — — —“


„— — langſam kroch mein Blut“ ſprach Adam
leiſe nach und legte die Blätter apathiſch aus der
Hand. „Das ſcheint doch öfter vorzukommen“, fuhr
er fort — „auch heute kriecht ſotanes Blut wieder
verflucht langſam. Es liegt ſo viel Staub und
[350] Moder in allen Ecken und Winkeln herum .. und zu-
gleich iſt mir doch, als wäre meine Bude 'mal
ordentlich „reine gemacht“ .. und keine Spur einer
ſtimmungsvollen Unordnung zurückgeblieben .. Teufel!
Warum iſt man auch ein ſo unleidlicher Individuali-
tätsfex geworden! Ich weiß ganz genau: ich leide an
verſetztem Thatendrang. Ich finde die Sphäre nicht,
in der allein ich wirken könnte. Das iſt mein
„tragiſches“ Schickſal. Nun ja! — warum auch
nicht? Meine Augen ſind zu ſehr auf das Leſen nach
innen geſtimmt. Sie ſind zu wenig zur Entwickelung
der Fähigkeit gekommen, ſich der vorüberfließenden
Erſcheinungswelt in allen Lagen und Graden anzu-
paſſen. Mein kleines irdiſches Unglück iſt, daß ich
mich nicht in Beziehung zum „Nicht-Ich“, zur
Außenwelt faſſe, ſondern dieſes ominöſe „Nicht-Ich“
immer in Beziehung zu mir. Im Uebrigen bin ich
'n Menſch, der zwar im Großen und Ganzen weiß,
was er will, aber es ſehr oft ſehr langweilig findet,
das zu wollen, was er weiß. Zu viel nebelhafte
Zukünftelei rumort in meiner Bruſt herum. Das
macht mich der Gegenwart gegenüber müde, apathiſch,
blaſirt. Uebrigens .. wer bürgt mir denn dafür,
daß die Atmoſphäre, die ich mir geſchaffen, und in
der ich mit einer gewiſſen ſouverän-ariſtokratiſchen
Wolluſt athme, nicht in letzter Hinſicht einer tief-
eingewurzelten, durch Naturanlage bedingten Scheu
vor dem Leben
ihr Daſein verdankt? Woher
ſonſt die öfter ausbrechende, krampfhafte Sucht, ſich
auf das Leben zu ſtürzen, es vampyrwüthig auszu-
[351] ſaugen, auszukoſten, zu brutaliſiren? Und im Genuß,
der allerdings merkwürdig genug zuweilen ein ſehr
behaglicher, zu vollſtändigem Selbſtvergeſſen einlullen-
der ſein kann — im Genuß doch wiederum ſo oft auch
dieſer Ekel und Abſcheu .. oder dieſe bittere, tief-
ſchmerzliche Freude, daß man eben auch zu „genießen“
verſteht, verſtehen gelernt hat, wo alle Selbſterfüllung
nur in neutraler Entſagung beſtehen ſollte! Ach!
Ewig karambolirt die individual-äſthetiſche Seite
meiner Natur mit der ſozial-ethiſchen. Oder wäre
es nicht ſozial-ethiſch im weiteſten, tiefſten Zu-
kunftsſinne: ein Bekenner der „abſoluten Philo-
ſophie“, der „Philoſophie der Erlöſung“ zu ſein —?
Und als ſolcher, ein Glied in der ſocialen Ver-
bandskette, nach rechts und links ein lobeſames
Beiſpiel zu geben? Anderer Willenspotenzen zu
glorreicher Nacheiferung zu entzünden? Und doch!
Gerade die Aeußerungen meiner äſthetiſchen Natur
ſind im Grunde nicht minder ſozial. Ich hatte
einmal einen Reformatorentic in mir. Der iſt todt.
Wenigſtens meerſchendheels todt. Nun möchte ich
mich gern auf den naiven „Künſtler“ hinausſpielen.
Ich wäre ganz vergnügt, wenn das ſo ginge. Aller-
dings .. den „Dichter“ in mir habe ich gründlich
erwürgt. Donnerwetter! Da fällt mir ein: habe
ich nicht 'mal über dieſes ulkige Motiv Etwas zu-
ſammengeſchmiert? Ich erinnere mich: damals war's
mir bitter ernſt um die Sache. Heute — ich möchte das
Geſchreibſel doch 'mal wieder leſen — hm! — Stim-
mung — „Stimmung“ is zwar nich — aber eben:


[352]
„Ich träufle gern des Wein's goldgelbe Tropfen

In rothe Roſen, die auf Gräbern blüh'n —“

Holla! Ja! den Wein wird ſpäter Frau Lydia
nachliefern — — wo ſtecken nur die ominöſen
confessions d'un pauvre enfant .. enfant .. enfant
... d'un pauvre enfant de la „future“
—?“


Endlich hatte Adam ſie gefunden, dieſe „con-
fessions“
— und er las —:


Selbſttod des Dichters.


„— Dieſe Stunde, da ich ausathmen will; da
ich Alles von mir werfen will, was mich an eine unzu-
längliche Welt bindet, an eine Welt voller Gemein-
heit und engſter Bedingung — dieſe große Stunde
ſchwillt an und wächſt und dehnt ſich zu einer Ewig-
keit. Noch einmal ſteigt Alles vor mir auf, was
ich gethan und was ich nicht gethan. Was ich
nicht gethan! das iſt's! das iſt's! Warum habe
ich ſo Vieles, ſo unzählbar Vieles nicht gethan?
Warum hatte ich es thun wollen? Es drängt
mich, einen Punkt zu finden, von dem aus ich hell-
ſtes, unverfälſchtes Licht empfange — der die ver-
worrenen Zickzackwege, die ich im Suchen und Schaffen
gegangen bin, überflammt und harmoniſch in ſich
gliedert. Oh! könnte ich doch Alles in ein
Wort zuſammenfaſſen
! Aber dieſes eine Wort
erinnerte mich, ſelbſt wenn ich es gefunden hätte, nur
an eine unendliche Anzahl anderer Worte — und ſo
würde es mir als bedingtes Glied in der Kette keinen
einzigen, letzten, großen, abſoluten Troſt
[353]
geben. Die Harpyen der nackten Wirklichkeit, der
lebendigen Lebensverlockung, ſitzen mir immer noch
auf den Ferſen. Ja! Und hier finde ich den Muth
und vor Allem, denke ich, das Wort, das mich er-
klärt
und mich erlöſt!. Zu Vieles und zu Großes
— zu Gewaltiges und ſchrankenlos Ueberirdiſches,
Uebermenſchliches hab' ich gewollt und in
tauſend glorreichen Viſionen und Stimmungen ge-
ahnt und gedacht .. Aber daß mir die gemeine Welt
mein Fühlen und Nachfühlen und feinſtes Hinein-
fühlen in das Getriebe der Ideen plump verleiden
mußte, indem ſie mich zu dem Drange des Hand-
werkers erzog
: das Uebermenſchliche, Unſagbare
mit den kargen Elementen, mit den lächerlich noth-
dürftigen Werkzeugen, die wir beſitzen, feſthalten und
bannen zu wollen! Oh! Wie noch in dieſer meiner
letzten, meiner heiligſten Stunde der Stachel der
Weltreize in meine zuſammenſchauernde Seele ſticht!
Faſſen das Unfaßbare! Oh! Ich hatte eine
Furcht vor der Uebermittelung meiner reinſten
Seelenkräfte an die Strömungen freier, urgeborener
Ideen! Ich hatte eine Furcht — denn die Sclaven-
kette umſchlotterte meine Füße, wenn ich in die Be-
zirke trat, wo die Freiheit athmete und mit kosmi-
ſchen Reizen um mich warb. Durchſchaut — ſo
bis auf Kern und Axe hatte ich alles Irdiſche, alles
irdiſch Lockende und Blendende, Betäubende und
Werbende durchſchaut — und doch warf mich immer
und immer wieder der Drang — die Selbſttäu-
ſchung
in die Arme einer brutalen Selbſtent-
Conradi, Adam Menſch. 23
[354] fremdung
. Wie habe ich — nun, da ich am Ende
ſtehe, ſehe ich Alles doppelt ſcharf und doppelt deut-
lich! — wie habe ich von der erſten Stunde an,
da ich die Flügel meines Geiſtes zu lüften verſuchte,
mich einengen und umdrängen laſſen müſſen von
dem gemeinen, landläufigen, kalten, nüchternen Regel-
werke der Welt! Nun da ich frei wurde, ſchiebt
die Vergangenheit ihre langen, taſtenden Finger nach
in die Gegenwart — in die Zukunft, die ich mir
darum vorenthalten will. Ja! Ich ſterbe an der
Fülle der „Sünden“, zu denen mich die Vergangen-
heit gezwungen
hat. — Und dieſe „Sünden“ ver-
dunkeln und verqualmen mir die Gegenwart, und ihr
ſchwarzes Nachtgewölk zieht mir nach in die Bezirke
meiner Zukunft — zöge mir nach — ich verſpüre
es an der Schwere meines Athems! — wollte ich
mich eben ſclaviſch an eine neue Zukunft verkaufen.
Aber ich habe es ſatt, gründlich ſatt, dieſes Sichhin-
ſchleppen an dürren, nackten, morſchen Spalieren.
Ich habe es ſatt, immer weiter den Hymnus mit-
zugröhlen, der das Fragment der bedingten Zeit-
lichkeit apotheoſirt! Den großen, allmächtigen Ring
ſchließen! Schließen! Soll meine Seele weiter
Nichts ſein, denn ein Heerd, darauf die Flammen
der durchſchauten Unzulänglichkeit tanzen? Soll
das der höchſte Triumph des bohrenden Menſchen-
geiſtes ſein, daß er in letzter Inſtanz ſeine Un-
zurechnungsfähigkeit, ſeine Unzuſammenfaſ-
ſungsfähigkeit
conſtatirt? Soll ich immer
und immer wieder auf dem dürren, ausgedienten
[355] Droſchkengaule einer nüchternen, verroſteten Logik an
das Räthſelweſen der letzten Dinge heranſtolpern?
Aber erkenne ich denn mehr, wenn mich das ſchnee-
weiße Araberroß der Intuition an die Schranken
heranträgt? Iſt Intuition mehr, als der gleichſam
enthymematiſche Carrièreritt einer überwundenen und
darum zwanglos-reflectoriſch ſich bethätigenden, alſo
in gewiſſem Sinne einer wiedergeborenen Logik —?
Oh! Müde bin ich der ſteten Selbſtverblendung und
Selbſtentfremdung! Ein Tropfen reiner Aether-
erkenntniß — und ein Ozean gemeiner, bedingter
und bedingender Werkeltagsträumereien! Ich erkenne,
daß dieſes Verhältniß ein unwürdiges iſt. Und
nicht duftet dieſer Wahrheitstropfen fein und ſüß,
wie köſtliches Roſenöl und befeuchtet die Zunge
meines Geiſtes wie Honigbalſam —: bitter vielmehr
mundet er wie Chinin: denn ſelbſt zu den Gipfeln
hinauf tönt das verworrene Geräuſch des Marktge-
triebes in den Thälern .. Ich bin ein Weſen, das
im Werden tiefſte, bitterſte Qual — das nur im
Sein Stille und Andacht und Sabbathsgenugthuung
findet. Denkend betaſten darf ich wohl die Bun-
deslade des Seins. Aber nimmer ſoll ich ſie ſchauen
mit den Augen meiner befriedigten, in ſich wahr-
heitsgeſättigten Seele .. Ich habe nicht Luſt, länger
den irdiſchen Proceßhansl abzugeben. Das
„Spiel der Kräfte“ iſt wohl ein fürtreffliches Ding
— aber manch' Einer findet es abgeſchmackt, lang-
weilig, dieweil es nur ſeine Arme und ſeine Beine
wünſcht, die Himmelsflügel aber ſeines Geiſtes zu-
23*
[356] ſammenſchrumpfen und ſich thatlos entfedern läßt.
Kleinſein mit dem Gewürm — und ſich behagen am
Farbenſpiel des Regenbogens mit einem kleinen Auf-
blick einer verſchüchterten, verkümmerten Menſchen
ſeele: das iſt der „Lauf der Welt“. Ich aber habe
den Drang und die ſtolze Sehnſucht, auf den Brücken-
ſtufen dieſes Regenbogens zu dem Reiche des ewig-
lich Unbedingten
emporzuklimmen. Dahin
ſtürmen die Wünſche meiner Seele. Und ich ging
auf den Markt, und auf meine Freiheit war ich be-
dacht, indem ich mit dämoniſcher Zärtlichkeit das
Bewußtſein meines Gegenſatzes großſäugte.
Oh! Ich Culturburſche! Ich pflückte die Orangen
der Sünde, wie die Anderen; ich ſpann die feinen
und groben Fäden der Lüge wie die Anderen; —
und heimiſch wurde ich im Alphabet der Hinterliſt
und Gemeinheit, wie kein Zweiter. Und es ekelte
mich vor mir und ich ging in die Einſamkeit. Aber
nachwirken ſpürte ich den Giftathem der Welt —
ich war gemünzt — und ich beſudelte die keuſche
Majeſtät der Einſamkeit. Ich ward ein tragiſcher
Zwerg. Ich wollte mich über mich erheben, indem
ich mich vor mir erniedrigte. Aber der Markt der
verbogenen, verlogenen und befangenen Zeitlichkeit
hatte ſchon das Brandmal in meine Schächerſeele
gedrückt, das Brandmal, das da verrieth: auch ich
habe ſchon in ſeinem Solde geſündigt. Und
ein Zweites offenbarte mir die Einſamkeit mit zer-
malmender Deutlichkeit: die grenzenloſe Unzuläng-
lichkeit meiner Kunſt! Sprechen wollte ich mit feuri-
[357] gen Zungen — und ich ſtammelte wie ein unmün-
diges Kind. Erheben wollte ich mich auf den Flügeln
der Morgenröthe — und ich watſchelte dahin, wie
eine fluglahme Ente. Selige Ahnungen, Offenbarungs-
träume ſchoſſen durch mein Hirn — ein taumelnder
Drang fluthete empor — und ich krümmte mich
ohnmächtig unter der Befangenheit meiner Aeußerungs-
kräfte. Zu groß für den Markt und zu klein für
die Einſamkeit — und doch auch wieder zu groß
ſelbſt für die Einſamkeit, deren letzte Reſultate ich
intuitiv vorwegnehme — ſie könnte mir ſchließlich
nur eine Schaale kleinerer Mittelerkenntniſſe zuſam-
menhäufen! — dort verachtend, hier verzweifelnd
— dort ſehend, hier blind — und doch zugleich
auch ſehend — nüchtern und trunken in Einem: ſo
ſchließe ich ab, da ſich in mir Alles vollendet und
beſchloſſen hat, was innerhalb dieſer engen Beding-
niſſe ſich vollenden und beſchließen kann. Mit über-
menſchlichen Ahnungen ausgerüſtet — im letzten
Lebensmomente noch einmal durchſchüttelt von den
Cyclonen einer Himmel und Erde durchſtürmenden
Leidenſchaft — — nun ſtiller ſchon und klarer —
nun ganz geläutert — gehe ich dahin, wo ich ſein
werde, wenn ich nicht mehr bin ... Noch einmal
locken mich die Reize der Natur — aber ich er-
innere mich, daß ich ſchon verlernt habe, mich von
ihrer nackten Keuſchheit naiv rühren zu laſſen —
ich dachte ſchon zu viel. Noch einmal locken mich
Liebe und Schönheit .. Aber ich erinnere mich,
daß ich alle Liebeswonne gekoſtet habe und ſie doch
[358]vergeſſen konnte — und Weibesſchönheit dünkt
mich nun ſo unwerth, ſo niedrig, ſo reizlos. Noch
einmal lockt mich des Lebens ganzer Wirrwarr
— aber ich erinnere mich, daß mir das Auf und
Nieder als ſolches niemals genügt hat — daß ich
je und je nach dem Endſinn geſucht — und da
ich ihn nimmer gefunden, fortſuchen würde — ein
armer räthſelgepeinigter Frager und Rufer und Taſter.
Nein! Nein! Das Schwimmen hat keinen Sinn,
wenn Einer ſein Ziel, ſeine Landungsſchwelle nicht
weiß, nicht kennt. Ich überlaſſe es lieber den Klüg-
lingen, dieſes Schwimmen — den Klüglingen, die
das Denken verlernt, und den Dümmlingen, die keines
Zieles bedürfen in ihrer geiſtigen Armuth. Und nun
reden ſie noch vom Stolze und dem Freimuth und
der Heiterkeit der „Weiſen“, die Alles erkannt und
durchſchaut haben und dennoch leben, weiterleben und
weiterſchreiten, der Stunde heiter entgegenharrend,
die ſie von hinnen ruft. Ich frage Euch, ihr Weiſen,
was wartet ihr auf dieſe Stunde? Wollt ihr dem
großen Enteignungsproceſſe der Natur nicht zuvor-
kommen? Ihr Kleingeiſter! Wer hat denn die Wahr-
heit dieſes Enteignungsproceſſes gefunden? Eure Er-
kenntniß, welche die Natur überwunden hat.
Und Ihr habt den Zuſammenhang erkannt — und
wollt Euch dennoch dem klaren Reſultate ent-
ziehen? Soll ich das Feigheit nennen oder Selbſt-
verblendung? Oh! Ihr habt nichts Großes erkannt,
wenn Ihr behauptet: Nur im Werden erhelle ſich
das Sein. Ich habe eine ſatte Angſt und Bang-
[359] niß um Euch: wenn das Stündlein ruft, werdet Ihr
noch nicht zu Ende ſein mit Eurer kleinen Leiden-
ſchaft für das Werden und Wachſen mit der Natur
— ſie wird Euch mit der Keule der [...] aufs
Haupt ſchlagen, dieſe letzte, nothwendige Stunde —
Ihr aber werdet verdutzt und verblüfft, Ihr werdet
unfertig ſein — und das Evangelium von der
Naturüberwindung durch das Naturbe-
greifen
wird Euch nicht ganz erfüllen. Geht!
Ihr ſeid nicht vom Geſchlechte der Starken und
Freien — vom Geſchlechte der Gott- und Welt-
verächter
! Ihr ſeid Schwächlinge, Ihr ſeid
Memmen und Lügner. —


Ich aber bin ſtark und frei, weil ich erkannt
habe, daß ein Jeglicher ſein eigener Richter ſein ſoll
— und daß ein Jeglicher die große Pflicht hat,
ſich das Todesurtheil zu ſprechen, wenn er die Er-
kenntniß empfangen hat! Ich habe überwunden.
Nicht ſchmerzlos. Aber ich ward wunſchlos
. —“



Adam lehnte ſich zurück. Er fühlte ſich doch
merkwürdig ergriffen. Er athmete tief auf. Mit
herber, ſchneidender Wucht warf ſich der Gegenſatz
zwiſchen dem Einſt und dem Jetzt auf ihn. Und nun
ſchoß es durch ſeine Bruſt wie ein brennender Strom
von Wuth und Scham vor ſich. Ja! das waren
Lebensquinteſſenzen, an ſich erfahrene, unwiderlegliche,
in tiefſtem Grunde alle Werdenskräfte berückſichtigende
Wahrheiten. Und es war ihm einmal ſo ernſt
[360] geweſen um dieſe Wahrheiten. Sie hatten ihn ſo
ganz erfüllt. So ganz. In einer großen Stunde
hatte er ſie herausgeſchüttelt und aufs Papier geſetzt
mit dem glühenden Enthuſiasmus des Triumphators,
der überwunden hat, der wunſchlos geworden
iſt. Wunſchlos! Wunſchlos? Oh nein! Nicht wunſch-
los. Denn er hatte ja weitergelebt. Er hatte es
ja nach dieſer gewaltigen Vereinheitlichung der Er-
kenntniß doch vermocht, weiterzuleben. Und was
heißt „weiterleben“ anderes, als Zeit, Luft, Gelegen-
heit finden, tauſend neue Wünſche zu gebären und nach
ihrer Erfüllung zu trachten? Das hatte er gethan.
Und es war ihm auch gar nicht ſo ſchwer gewor-
den, das zu thun. Als die Begeiſterung der Stunde
vorüber, als das Seherauge ſich geſchloſſen, hatte ihn
die klammernde Neſſelwelt der kleinen Alltagspflichten
wieder eng und compromißlüſtern geſtimmt. Das
„Verrath“ an ſich zu nennen — nun! ein Schwärmer
konnte ſich dieſen tauben, unfruchtbaren Luxus wohl
geſtatten. War er aber ein Schwärmer? War er's
geblieben? Kaum. Er war doch in Vielem recht
praktiſch, recht poſitiv geworden. Er hatte doch
wieder Gefallen daran gefunden, tiefinnerſte Genug-
thuung, von rothen Frauenlippen reife Küſſe zu
pflücken, Frauenreize mit vollendeter Virtuoſität,
mit feinſter äſthetiſcher Differenzirtheit zu genießen.
Nein! die Pſalmen und Dithyramben, die der große
Lyriker, der Frühling, zu ſingen wußte, ſie tönten
nicht wirkungslos an ihm vorüber. Er verſtand die
einfach-üppige, maſſive Epik des Sommers .. und
[361] ſchwelgte in den Elegie'n des Herbſtes, deren trans-
parente Faſchingsbuntheit ihn entzückte. Mit der Sonne,
der vollen, goldenen Sonne, war er nach und nach in
ein ganz leidliches Verhältniß gekommen. Er liebte ein
gutes Glas Wein, eine gute, mittelſchwere Felix-Braſil-
Cigarre, eine gute Virginia-Cigarette. Und ob auch die
brutale Welt der Objecte ſeiner Epidermis und dem, was
dahinterſtak, manchmal recht impertinent mitſpielte und
zuſetzte — Adam hatte ſich faſt ſo Etwas wie Humor
und kauſtiſches Behagen angeſchafft. Er ſtudirte
ſich mit coquetter Selbſtironie und kümmerte ſich doch
um das Elend der „Maſſe“, das ſein weiches Herz
zeitweilig mächtig ergriff. Er klügelte pädagogiſche
Weltbeglückungsſyſteme aus, träumte von einem euro-
päiſchen Staatenbunde, ſtudirte tapfer Sociologie,
und hielt es der Mühe für werth, Broſchüren über
den deutſchen Gymnaſiallehrer, dem er herzlich gram
war .. er hatte den Kerl eben gar ſehr in der Nähe
kennen gelernt .. und über das Proletariat des Geiſtes
zu ſchreiben. Er hielt es der Mühe für werth, ſich
immer leidenſchaftlicher als Germanen zu fühlen, die
Poeſie und hiſtoriſche Gewaltigkeit des deutſchen Kaiſer-
thums zu begreifen .. und den Juden glühender, immer
glühender, wilder, fanatiſcher zu haſſen .. mit unſchönem
freſſendem, perſönlichem Haſſe. Das war's: Adam
hatte ſich eben weiterentwickelt, er war ein natür-
liches Opfer ſeiner Fortentwicklung geworden. Ein-
mal hatte er ſich auf den Sternenpolſtern und in
den Hängematten des Kosmos herumgeräkelt und
ausgeflegelt. Einmal war ſein Seelenleben ein brei-
[362] ter, ungetheilter Strom geweſen, in dem ſich das ganze
Univerſum geſpiegelt. Da hatte er es leicht gehabt,
zu erkennen und zu durchſchauen. Nun hatte ſich
nach dem natürlichen Geſetze der geiſtigen Organ-
ſpaltung ſein Seelenleben differenzirt, und der große,
breite, ungetheilte Strom ſeines Inneren hatte ſich
in unzählige Flüſſe und Flüßlein, Bäche und Rinn-
ſale zerſplittert und aufgelöſt, darin ſich nur noch
zerbrochene Theile und Theilchen des Univerſums
ſpiegeln und wiederfinden konnten. Wo einmal ein
einziges, großes, geſammeltes Intereſſe geherrſcht, das
den Tod bedingen mußte, wenn es im rechten Augen-
blicke verſtanden, ausgelöſt und in die That umge-
ſetzt wurde, da herrſchten jetzt tauſend kleinere Son-
derintereſſen, die das Leben in ſich ſchloſſen. Ja!
Er mußte leben. Er hatte den Tod verſäumt. Er
war zum Leben verurtheilt.


Adam erhob ſich. Das Bewußtſein, daß er nun
leben mußte, erfüllte ihn mit ſchneidender Bitter-
keit. Oder —? Aber nein! Jetzt war der Selbſtmord,
der „Selbſttod“, kein Reſultat mehr, kein entſcheidender
Gewinn — nur noch ein Zufall, vielleicht gelegent-
lich die Folge einer zufälligen Nervenüberreizung. Das
war recht hausbacken und hatte ſo gar nichts Im-
poſantes.


Adam trat ans Fenſter, öffnete weit die Flügel
und lehnte ſich über die Brüſtung. Weich und
geſchmeidig, einſchmeichelnd ſtrich die Frühlingsluft.
Leiſe begann es zu dämmern. Da unten auf der
Straße warf das Leben ... dieſes Leben, das es
[363]
ſo unübertrefflich verſteht, ſich bei den Creaturen
der Erde als intimſter Hausfreund einzuquartiren ...
noch große, breite, prunkende Blaſen.


Und Adam beſchloß, ſich von dieſem Leben da
unten auf der Straße, zu welchem er „verur-
theilt
“ war ... ja nun einmal unwiderruflich
verurtheilt“ war, auf andere, geſcheitere Ge-
danken bringen zu laſſen.


Lost paradise“ knurrte er vor ſich hin, als er
die Treppen hinunterſchritt. Er wollte auch Abend-
brot eſſen. Und nachher natürlich — nicht zu
Hedwig gehen. —



[[364]]

XVII.


Am anderen Morgen erhielt Adam einen Brief
von Hedwig. Irmers Mädchen hatte ihn ſchon
ſehr früh in ſeiner Wohnung abgegeben. Hedwig
ſchrieb:


„Lieber Adam! Warum biſt Du heute Abend
nicht gekommen, wie Du verſprochen hatteſt? Ich
habe Dich ſo ſehnſüchtig erwartet. Bis gegen Zehn.
Nun iſt es faſt Elf. Ich bin ganz allein, Papa iſt ſchon
zu Bett — ich kann nicht anders: ich muß Dir
noch ſchreiben. Es iſt mir ſo ſchwer, ſo ſchwer
ums Herz. Bitte komme morgen früh beſtimmt.
Ach Adam! Ich habe ja nur Dich noch — und
wenn Du mich verläßt, wäre es mein Tod. Aber
nein! — nicht wahr? — Du bleibſt Deiner Hedwig
gut? Papa iſt ſehr unglücklich. Das hätten wir
doch nicht thun ſollen. Er hat mich freundlich auf-
genommen, er weinte, als ich kam, und hat mir
gar keine Vorwürfe gemacht. Er hat aber den ganzen
Nachmittag faſt kein Wort weiter geſprochen. Nur
einen Brief hat er mir gezeigt, der heute früh an-
gekommen war. Es iſt zu ſchrecklich. Mir will das
Herz brechen, wenn ich daran denke, was für Schreck-
[365] liches uns bevorſteht. Ich bin immer noch zu auf-
geregt, um Dir Alles in klarem Zuſammenhange
mittheilen zu können. Vor Papa habe ich alle meine
innere Angſt verbergen müſſen, um ihn nicht noch
trauriger zu machen. Papa hat nämlich einmal —
es iſt ſchon mehrere Jahre her — für einen guten
Bekannten, einen Ingenieur, der kränklich war und
auf den Rath ſeines Arztes ein Bad beſuchen ſollte,
aber keine eigenen Mittel dazu beſaß, für den hat
Papa eine Bürgſchaft von 1000 Mark geleiſtet, die
ſich Ferdinand, ſo hieß der Ingenieur, von einem
ihm bekannten Bankier geliehen hatte. Papa war
damals noch Univerſitätslehrer in der Schweiz und
uns ging es ganz gut. Ferdinand — ach! Adam —
es wird mir ſo ſchwer, Dir das zu ſchreiben, aber
Du mußt es doch einmal erfahren, war mein Ver-
lobter und iſt der Vater meines Kindes, das bald
nach ſeiner Geburt ſtarb. Verdamme mich nicht,
Geliebter. Ich habe gefehlt, aber ich habe hart
büßen müſſen dafür. Ich kann Dir jetzt nicht die
ganze Tragödie ſchreiben. Ich bin zu aufgeregt
dazu. Ferdinand war damals im Bade. Dann kam
der Bruch, der unvermeidlich war. Ich will Dir
das Alles mündlich noch mittheilen, wenn Du
es wiſſen willſt. Später, bald nach meiner Nieder-
kunft, ſind wir hierher übergeſiedelt. Die Verhält-
niſſe zwangen uns dazu. Papa war nicht beliebt
bei ſeinen Collegen, hatte keine Protektion und
wurde nicht befördert. Und dann kam mein Fehltritt
hinzu. Nun erhielt Papa heute Morgen einen Brief
[366] von jenem Bankier, der ſchrieb, daß Herr Pfeiffer,
eben mein damaliger Bräutigam, nach langem Siech-
thum kürzlich am Lungenſchlage geſtorben wäre,
aber ohne daß er in den vier Jahren, die ſeitdem
verfloſſen wären, ſeine Schuld zurückgezahlt hätte.
Er hätte immer Geduld und Nachſicht mit dem
Kranken gehabt, nun müßte er ſich aber an den
Bürgen halten, was ihm wohl Keiner verdenken
könnte. Aber wo ſoll Papa das Geld hernehmen?
Wir leben hauptſächlich nur von dem, was er und ich
verdienen. Unſere Verhältniſſe ſind, wie Du weißt, ſehr
beſchränkt. Ich mußte Dir das mittheilen, damit Du
weißt, woran Du biſt. Es bleibt uns nichts weiter
übrig, wenn der Herr auf ſein Recht beſteht, als
unſere paar Sachen zu verkaufen. Es iſt zu ſchreck-
lich. Was ſoll dann aus uns werden? Auch Du
kannſt uns wohl nicht helfen, lieber Adam. Ich bin
zu unglücklich und weiß nicht, wie das drohende
neue Unglück abgewendet werden ſoll. Aber nun gute
Nacht, Geliebter. Behalte lieb Deine arme Hedwig.


Nachſchrift. Papa iſt auch ſehr unglücklich, ganz
gebrochen, er ſpricht faſt gar nicht und brütet nur
immer vor ſich hin. Wenn er ſich nur kein Leid
anthut. Das ertrüge ich nicht. Bitte komm morgen
beſtimmt, lieber Adam.“


Adam faltete den Brief, der ihn kaum aufgeregt
hatte, zuſammen, ſteckte ihn ruhig wieder in ſein
Couvert zurück und warf ihn in einen halboffenſtehenden
Kaſten ſeines Schreibſchrankes Dann ging er nach-
denklich in ſeinem Zimmer auf und ab.


[367]

Das war ja klar: Das Geld mußte geſchafft
werden. Dieſe lumpigen tauſend Mark! So'n
dummer, windiger Fetzen! Was? Wie mancher blau-
blütige Jüngling mochte wohl ſeiner Mätreſſe ein
monatliches — — Unſinn! — „monatliches“ —
ein halbmonatliches, womöglich wöchentliches „Nadel-
geld“ von tauſend Mark leiſten! Und an dieſer
pauvren Summe, an dieſer triſten Bagatelle ſollte die
Exiſtenz einer Familie zerſchellen — eben daran, daß
ſie nicht aufzubringen war? Nee! So 'was Lächer-
liches lebte nicht noch 'nmal! Uebrigens — das
war alſo die .. die ſogenannte „Vergangenheit“ dieſer
Dame? Wie harmlos! Sie hatte ſich mit einem
Ingenieur eingelaſſen — und die Sache hatte ſich
auf dem ſeit Adam, dem Paradiesler, nicht mehr
ungewöhnlichen Wege zu der üblichen Fortſetzung
verſtiegen — det war Allens. Jroßartig!


Wo lag da nur die Pointe? Das war ſo
grenzenlos alltäglich, eine langweilige, hebeammenhafte
Spukgeſchichte ohne weiteren Spiritus. Um Gottes-
willen! Einzelheiten — um keinen Preis der Welt!
damit ſollte ſie ihn nur verſchonen! Nachher hatte
ſie ſich dann ihm hingegeben — und er war auf
ſie auch regelrecht „reingefallen“ — d. h. hatte ſich
regelrecht mit ihr „verlobt“ — hatte ihr regelrecht die
ſogenannte „Ehe“ verſprochen — und — und — — —
aber war denn dieſe kleine, unſcheinbare Hedwig wirk-
lich etwas Anderes, als die fürtreffliche Emmy, die aus
der Sache allerdings ſo etwas wie ein „Geſchäft“
machte, aber doch immerhin Liebe und Luſt zu ihrem
[368] „Berufe“ beſaß? Doch — das war ja vorläufig
alles Nebenſache. Es kam zunächſt nur darauf an,
die paar Groſchen in die Bude zu ſchaffen. Aber
wie? An wen ſollte er ſich wenden? fragte ſich Adam.
Bekannte, die eines ſolchen „Opfers“ fähig geweſen
wären, beſaß er nicht. Zu ſeinen Verwandten engerer
und weiterer Kategorie hatte er auch ſo gut wie
gar keine Beziehungen mehr. Ha! Etwa Lydia?
Nun! dieſer Dame war es ja ſchließlich ein Leichtes,
war es ja ein Kinderſpiel, das Geld aufzubringen.
Aber —: ſich bei Frau Lange darum bemühen —
ſie ſchriftlich oder womöglich gar mündlich darum zu
bitten — ging das an? Er hätte doch die ganze
Situation correct auseinanderſetzen müſſen und konnte
unmöglich ſeine Beziehungen zu Hedwig verſchweigen
dabei — dieſe Beziehungen eben, die er ja um
jeden Preis abbrechen wollte. Das war des Pudels
Kern. Eine merkwürdige Wandlung ging zugleich
in Adam vor. Er bekam plötzlich einen ganz ge-
hörigen Reſpect vor dem Gelde und ſeiner Macht.
Und als Gemahl Lydias — ei! da hatte er ja
Wünſchelruthe und Waffe zugleich in der Hand.
Hm! In ſeinem ſentimentalen, idealiſtiſchen Duſel
hätte er es ſchließlich gar noch fertig gebracht, ſich
mit Hedwig auf einen gemeinſamen Guerrillakrieg
um die Brocken und Broſamen des klebrigen
Kleinlebens einzulaſſen. Es war ganz gut —
und in gewiſſem Sinne zugleich auch ſehr tiefſinnig
und ſymboliſch — daß durch ſie ſelbſt ein Moment
in die Affäre eingeführt wurde, das ihn ſtutzig
[369] machte, das im Stande war, ihn auf ſeine
wahren Vortheile hinzuweiſen. Die lagen aber
wahrhaftig nicht in einer Ehe mit ... eben mit
einer Dame „von Vergangenheit“. Für dieſen Adel
mußte er ſich bedanken, wenn er ſein Glück im Auge
haben und ſeine Zukunft bedenken wollte. Uebrigens
— die Idee war gar nicht ſo übel, war im Gegen-
theile ganz famos: er verſchaffte Irmers das Geld
und — kaufte ſich damit los. Natürlich! So ließ
ſich die Geſchichte dengeln — und Jeder machte
ſeinen Profit dabei. Zudem waren ja auch noch
tiefere pſychiſche Gründe vorhanden, aus welchen
eine Ehe mit Hedwig ein Experiment ſehr proble-
matiſchen Charakters war. Ergo! Warum ſollten
denn dieſe „tieferen pſychiſchen Gründe“ nicht auch
mitzuſprechen haben? Man hatte ſie einmal ein Biſſel
ignorirt — eh bien! einmal darf man ſich das
ſchon erlauben. Aber um ſo deutlicher nur fühlt
und begreift man hinterher, daß jene Gründe berechtigt
ſind und berückſichtigt werden müſſen, wenn man keine
unfreiwilligen Karrikaturen in die Welt ſetzen will.


Alſo er — Adam — beſorgte die Loskaufungs-
ſilberlinge. So viel ſtand feſt. Es war nur die
Frage: wie? Ja! Wie —?


Aber eigentlich war es ja doch am Bequemſten, ſich
an Frau Lange zu wenden. Am Bequemſten? Das
allerdings gerade nicht. Allein was blieb ihm denn
weiter übrig, als dieſes Experiment zu machen, wenn
er von der Leimruthe, auf der er vorläufig wirklich
verflucht feſtſaß, überhaupt herunterwollte —? Doch
Conradi, Adam Menſch. 24
[370] nein! Das war doch Unſinn. Hatte er Frau Lange
gegenüber denn nur ein Fünkchen von Recht zu
dieſer Bitte? Und dann —: wollte er ſeine
Beziehungen zu Hedwig nicht aufdecken, mußte er
es ſich gefallen laſſen, daß Lydia annahm, ſelbſt
wenn er äußerlich noch ſo glaubwürdige Ausflüchte
verſuchte —: er ſelber ſei der eigentlich Bedürftige
— und in dieſem Lichte durfte er unter keiner
Bedingung vor ihr ſtehen, am Allerwenigſten, wenn
er an ſeinen Hoffnungen, ſie noch einmal als ſeine —
nun! eben als ſeine „Gattin“ zu ſehen, feſthielt — was
ja in ſeiner Abſicht lag. Wie alſo aus der ſchweine-
mäßig impertinenten Zwickmühle herauskommen?
Es war wieder 'nmal rein zum Verzweifeln. Donner
und Doria! Jetzt ging Adam ein Talglicht auf.
Er wollte doch — jawohl! und jetzt ſtand's unwider-
ruflich feſt — er wollte doch die gnädige Frau um die
Lumperei anrempeln. Er wollte ein Märchen von
einer Arbeiterfamilie, die am „Abgrunde ihres ſocialen
Verderbens ſtände“ — die „ein Opfer unglücklichſter
Verhältniſſe geworden wäre“ — und zweifellos „zu
Grunde ginge“, wenn ſich im letzten Augenblicke nicht
noch ein „Menſchenfreund“ ihrer annähme — alſo
ein derartiges pikantes Märchen wollte er erfinden —
er konnte von ſeinem Talente zum Komödianten die
exakte Durchführung der Rolle ruhig erwarten — und
vor Lydia als freiwilliger Advokat der Armuth
auftreten —: erſtens würde, calculirte der Herr
Doctor, die Thatſache der Noth als ſolche ihr weiches
Herz rühren und ſie zum Herausrücken der Summe
[371] bewegen — und tauſend Mark waren wirklich
nicht zu viel: es galt ja die Exiſtenz einer ganzen
Familie neu zu begründen! — und dann mußte er
doch, wenn er ſich ſo als Anwalt des ſocialen
Elends vor ihr gerirte, damit entſchieden Eindruck
auf ſie machen — das war klar. Ergo — los
denn! 'rin ins Verjniegen! —


Einen Augenblick dachte Adam noch an Herrn
Quöck. Aber nein! Dieſer Menſch, der alſo mit
der Couponſcheere auf die Welt gekommen war, beſaß
kein Verſtändniß für das Unglück Anderer. Wohl
möglich, daß Herr Quöck ihm, Adam, aus perſönlicher
Gewogenheit die Summe lieh — aber der brave
Mann blieb trotzdem der Herr Vetter von der Frau
Lydia — und wer weiß! — — es iſt jedenfalls
immer beſſer, immer praktiſcher und in der Regel
auch bequemer, mit dem Egoismus und den ordinärſten
Lebensinſtinkten ſeiner „Nächſten“ lieber etwas zu
viel, als zu wenig zu rechnen. Ohne An-
deutungen Frau Lange gegenüber würde es bei Herrn
Quöck doch nicht abgehen. Andeutungen jedoch —
na! was da unter Umſtänden für ein edler Brei
herauskommen kann, wenn man ſotane „Andeutungen“
ſich ſelber überläßt —: Adam hatte das etzliche
Male auf ſehr kitzliche Art erfahren müſſen in ſeinem
Leben und an ſeiner höchſteigenen Perſon dazu. Alſo
Vorſicht! Eines Tages, darauf mußte er ſich gefaßt
machen, fand er ſonſt ſeinen Weg zu Lydia in einen
rechtſchaffenen Neſſelacker verwandelt — und für die
Poſaunenengel ſeiner Hoffnungen und Erwartungen
24*
[372] konnte er dann nur getroſt ein halbes Dutzend tüchtiger,
dauerhafter Särge beſtellen, die auf den Läute-
Apparat für den Fall eines Scheintodes aus beſtem
Wiſſen und Gewiſſen verzichten durften .. Das
Märchen vom kaltgewordenen Ofen, vom zerbrochenen
Uhrweiſer, von den abgeſpielten Skatkarten ... Die
Pointe blieb halt überall dieſelbe.


Nun — dann alſo auf zum Tournier mit Lydia!
Noch einmal ſchrak Adam auf das Heftigſte zurück.
Er glaubte ſein zähes Feſthalten an dem Gedanken,
daß gerade er das Geld für Irmers zu beſchaffen
hätte, ſchon als idée fixe anſehen zu müſſen. Eigentlich
ging ihn das Alles ja gar Nichts an. Was miſchte
er ſich da in fremder Leute Angelegenheiten —?
Warum war er nur ſo erpicht darauf, ſich die Finger
zu verbrennen —? Und doch! Es rumorte wirk-
lich ſchon zu toll in ihm herum — es wucherte in
ihm und wuchtete ſich auf ihn, es fraß ſich immer
feſter bei ihm ein —: er mußte vor Lydia —
und eben gerade vor Lydia — ein ſo delikates
Motiv wie das vorliegende es war, — Geldge-
ſchichten ſind ja immer „delikat“! — endlich einmal
aufs Tapet bringen —: das ging ohnedem gar nicht
mehr ab, das war nun ſchon zur innerſten Noth-
wendigkeit geworden. Im erotiſchen und im
pekuniären Problem —: in beiden hanget ja
das ganze Geſetz, und die p. p. ehrenwerthen
Herren Propheten „hangen“ dazu in dieſem er-
habenen Dualismus ... Und ſchließlich: kam bei
ſeinem Dukatenſpeech mit Donna Lydia etwas
[373]
„Poſitives“ wirklich nicht heraus —: zu einer
pſychologiſchen Studie pikanteſter Natur würde die
Scene am Ende doch auswachſen ... und an
„pſychologiſchen Studien“ kann ein junger Mann,
der's Leben erſt noch kennen lernen will, gar
nicht genug machen. „Pſychologiſche Studien“ ſind
bekanntlich furchtbar lehrreich. Und ſo'n feudaler Kerl,
wie Adam Menſch alſo einer war — na! in dieſer
Beziehung gab es auch für ihn noch Manches zu
probieren. Adam Menſch war in der Wurzel ſeines
Weſens ſehr beſcheiden. Er hielt ziemlich Wenig
von ſich, zuckte oft in ehrbarſter Geringſchätzung die
Achſeln über ſich. Aber darum dachte er zeitweilig
eben nur um ſo geringer von den Anderen. Hatte
er etwa kein Recht dazu? —



[[374]]

XVIII.


Kurz nach drei Uhr, alſo nicht zu der üblichen
Beſuchsſtunde, ließ ſich Adam bei Frau Lange
melden. —


Es war ihm während des Eſſens und beſonders
während einer kurzen Promenade durch den Stadt-
park, den er von ſeinen Spaziergängen mit Emmy
her ſehr lieb gewonnen hatte, unerträglich klar
geworden, daß das Verlobungsproject mit Lydia
eine wahnſinnig groteske Ungeheuerlichkeit bedeutete —
eine Ungeheuerlichkeit, die ſich vielleicht heraufbeſchwören,
vielleicht ſogar unmittelbar in Scene ſetzen ließ,
die aber herauszufordern er heute nicht die min-
deſte Stimmung und nicht den mindeſten Muth
beſaß. Dagegen fühlte er den Muth in ſich,
wenigſtens momentan, dagegen reizte es ihn wirklich
immer mehr, Frau Lange direkt zu bitten, ihm die
lumpigen tauſend Mark zu leihen. Das war doch
in der That — Adam ſagte es ſich immer wieder —
ſo etwas wie eine ſocial-pſychologiſche Studie, ſo
etwas wie ein ſocial-ethiſches Experiment. Er trat
eben als „Anwalt der Armuth“ auf und klopfte an
die Pforten des Reichthums mit der Bitte um
[375] Hülfe — mit dieſer Bitte, zu welchen die bedrängte
Armuth eine heilige Berechtigung, eine heilige Ver-
pflichtung beſitzt. Auf eine mehr oder weniger
intereſſante, jedenfalls nicht ganz alltägliche und
nicht ganz pointenloſe Scene durfte ſich Adam
überdies gefaßt machen. Ah! Lydia würde zuerſt
verblüfft ſein. Und dann? Das war eben die
Frage. Doch dieſe Frage mußte ja ſofort ihre
Beantwortung finden.


Adam wurde in das Cabinet Frau Lange's
geführt. Er möchte einen Augenblick verzeihen, die
gnädige Frau käme ſogleich, bedeutete ihm das
Mädchen und verſchwand wieder.


Adam ſah ſich um. Da ſtand er alſo wieder
einmal auf der Wahlſtatt, auf der er neulich ſo
bedeutungsvolle Stunden durchlebt hatte. Aber
heute — wie war heute Alles ſo glanzlos und
nüchtern! Dabei überall ein Ton der Unordnung,
ein Accent der Verkramtheit. Jene einſchmeichelnde,
anheimelnde Demi-jour-Stimmung, die ihn neulich
ſo unwiderſtehlich beſtrickt hatte, und die er noch
ſo klar in der Erinnerung bewahrte, war nicht mehr
mit dem dünnſten Haarſtrichlein angedeutet. Und
doch ſtiegen ihm wie leichte Schaumbläschen allerlei
Erinnerungen auf. Er dachte daran, daß damals
in dem Fauteuil dort Lydia geſeſſen .. daß er,
ganz im Joche ſeiner emporgeſchäumten Stimmung,
vor ihr gekniet, ihr ſchluchzend ſeine Liebe zuge-
ſtammelt — daß er — — aber das war ja Alles
glücklich vorüber, die Augenblicksextaſe dünkte ihn
[376] jetzt unbegreiflich und über alle Begriffe abgeſchmackt —
die gnädige Frau wollte ja auch abreiſen — er würde
alſo vorläufig keine Gelegenheit wieder bekommen,
dieſe Räume zu betreten .. und allen ſentimentalen
Erinnerungsanwandlungen wurde damit Gott ſei
Dank! jedwede neue Nahrung entzogen.


Endlich trat Lydia ein. Sie ſah ein ganz
klein Wenig derangirt aus, ihr Geſicht war ungleich
geröthet, wie das eines Menſchen, der ſich öfter und
andauernd gebückt hat. Ihre freundlichen Züge
ſchienen Adam etwas gemacht und gezwungen.


„Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich Sie ſo
lange warten ließ — aber ich bin eben dabei zu
packen — morgen früh will ich endlich auffliegen —
meine Abreiſe hat ſich ſchon um einige Tage ver-
zögert — aber bitte, nehmen Sie wieder Platz —
ich freue mich doch, Sie noch einmal bei mir zu
ſehen .. Wie geht es Ihnen —?“


„Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, daß
ich zu ſo ungelegener Stunde — aber ich wußte
auch nicht, daß — — ich will mich auch nicht lange
aufhalten — nur — —“


„Bitte, bitte, Herr Doctor! . Sie wiſſen ja,
Sie ſind mir immer willkommen .. Uebrigens, wenn
Sie das tröſtet: ich — ich erwartete eigentlich Ihren
Beſuch — ich nahm ihn als ſelbſtverſtändlich an, nach-
dem Sie mir das letzte Mal, wo wir uns ſahen — —“


„Ja! Ich verſprach Ihnen zu kommen, gnädige
Frau — Sie ſehen: ich habe mein Wort gehalten,
wenn auch — —“


[377]

„Wenn auch —?“


Adam ſchwieg eine kleine Weile und fuhr ſich
mit der Hand über die Stirn. Er war da in ein
zweideutiges Fahrwaſſer gerathen. So ging das
Spiel nicht weiter. Er trieb einem Ziele zu, das
ihn jetzt nicht im Geringſten reizte. Oder doch?
Dünkte ihn dieſe Frau noch immer begehrenswerth?
Sie ſchien auf etwas anzuſpielen, das zwiſchen
ihnen einmal mehr oder weniger deutlich zur Sprache
gekommen war. Vielleicht legte ſie der ganzen Ge-
ſchichte doch mehr Werth und Bedeutung bei.
Vielleicht war ſie doch tiefer engagirt. Nun! das
konnte ihm ja nur ſchmeichelhaft ſein. Und augen-
blicklich war es ihm gewiß auch nur günſtig, wenn
dieſe Dame, die ihm einen Dienſt leiſten ſollte,
ſtärkere Sympathien für ihn hegte.


Adam wurde ganz ruhig und ſicher. Mit
klarer Stimme begann er: „Ich bin gekommen,
gnädige Frau, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten —“


„Und die wäre —?“ fragte Lydia, neugierig
und erſtaunt zugleich. So redet doch kein Mann,
der um eine Frau .. um eine Frau, die er ..
die er — liebt — — —


Nun wollten die Worte dem Herrn Doctor
doch nicht ſo glatt über die Lippen ſchlüpfen. Er
zauderte, er huſtete verlegen, er athmete kurz, gepreßt,
eine Reihe von Wendungen und Faſſungen ſchwirrte
ihm durch den Kopf, er prüfte ſie mechaniſch, indem
er ſie ſich leiſe objectivirte, er konnte ſich nicht
entſcheiden, er war nicht im Stande, die prägnanteſte
[378] Faſſung herauszufinden. Schließlich ſtotterte er
halblaut, nur einige Silben durch eine unnatürliche
Betonung ſcharf heraushebend: „Es iſt mir doch
peinlich, gnädige Frau — ich weiß nicht, wie Sie
meine Bitte auffaſſen werden — —“


„Schießen Sie doch nur los, Herr Doctor —
wir werden ja ſehen — wenn ich irgend im
Stande bin — —“


Adam erinnerte ſich plötzlich, daß er im Namen
der Armuth um die Hülfe des Reichthums werben
ſollte, daß er dazu eine heilige Berechtigung beſäße —
er wußte, daß nur das tiefeingewurzelte Bewußtſein
von dem Egoismus, der Engherzigkeit und Klein-
lichkeit der Menſchen, mit denen er allenthalben, ſein
ganzes Leben hindurch, hatte rechnen müſſen, ihn
auch hier muthlos und verlegen gemacht — aber
es kam ja ſchließlich nur auf den Verſuch an, es
handelte ſich ja ſchließlich nur um ein „ſocial-ethiſches
Experiment“, um eine „pſychologiſche Studie“, um
Nichts, um gar Nichts weiter — und er gewann bei
nahe den kühlen Ernſt, die ſouveräne Sicherheit des
Forſchers wieder.


„Sie ermuthigen mich, gnädige Frau — alſo
denn ohne Umſchweife herausgeſagt —: ich brauche
tauſend Mark — können Sie — können Sie mir
die Kleinigkeit leihen —?“


Auf dieſe ſehr materielle Wendung des Geſprächs
war Lydia allerdings nicht gefaßt geweſen. Feinere
Naturen fühlen ſich durch eine brutale, noch dazu
unvorbereitete Berührung von Geldfragen immer
[379] compromittirt. Daß aus einer etwaigen Verbindung
zwiſchen ihr und Adam, der, wie ſie wußte, ſo etwas
wie ein „armer Teufel“ war, letzterem allerlei ſehr
reale, ſehr realiſtiſche Vortheile erwachſen würden:
daran hatte ſie natürlich ſchon gedacht — und der Ge-
danke hatte ſie auch nicht weiter genirt, er hatte ihr
im Gegentheil eine gewiſſe Befriedigung und einen
gewiſſen Stolz eingeflößt. Im Uebrigen war ſie
zu eitel, um nicht zu glauben, daß ſie ſelbſt ihres
Beſitzes und ihrer Stellung in der Geſellſchaft ent-
kleidet, Werth und ſtarke Anziehungskraft genug für
Adam beſäße. Das waren Prämiſſen, über welche man
getroſt ſchweigen, die man getroſt unerörtert laſſen
konnte, denn ſie waren eben allzu ſelbſtverſtändlich.


Und nun rückte Adam plötzlich unvermuthet
mit einem Motive heraus, das an greller Betonung
des Materiellen nichts zu wünſchen übrig ließ.


Lydia war ſehr betroffen. Was ſollte ſie er-
widern? Mechaniſch ſchloß ſie, daß Adam ſich jedenfalls
in einer ſehr prekären Situation befand. Er hatte
gewiß Schulden contrahirt, die bezahlt ſein wollten,
er hatte Verpflichtungen übernommen, die er einlöſen
mußte. Und er wandte ſich an ſie, weil er anderweitig
— — ja! — mein Gott! — ſtanden ihm denn
keine anderen Wege offen, beſaß er keine anderen
Mittel — oder waren alle Quellen ſchon erſchöpft —?
War ſie ſeine letzte Hoffnung —?


Mitleid, ſtarkes, verſtehendes Mitleid quoll in
ihr auf. Und doch hatte ſie zugleich das Gefühl,
als wäre ſie von etwas unangenehm Klebrigem,
[380] Schmutzigem berührt worden. Die Lage des Herrn
Doctor war ſicher überaus proſaiſch. Und Lydia
verſpürte einen kleinen Hang zur Romantik in ſich.
Das paßte ſo gar nicht zuſammen, ihr Hang und
nackte Bedürfnißhaftigkeit Adams.


„Sie ſetzen mich in Erſtaunen, Herr Doctor —“
ſagte ſie endlich, unſicher und ſtockend — „ich hatte
nicht erwartet, daß — —“


„Das war allerdings vorauszuſetzen, gnädige
Frau — verzeihen Sie, bitte noch einmal, meine
Kühnheit, doch die Noth — —“


„Geht es Ihnen ſo ſchlecht —?“ unterbrach
Lydia, jetzt von ehrlichſter, ſchnell ausbrechender,
aufs Helfen geſtimmter Theilnahme ergriffen.


„Mir —? Mir —? Ah ſo! . Hm! Verſtehe
ſchon“ bemerkte Adam mit ſeinem, ironiſchem
Lächeln — „Sie haben mich nicht ausreden laſſen,
gnädige Frau — Ihr gutes Herz ging mit Ihnen
durch — alſo ich wollte ... wollte nicht von
meiner Noth, ſondern von der Nothwendigkeit ſprechen,
die mich zwingt — —“


„Iſt das nicht daſſelbe?“ fragte Lydia, ein
Wenig pikirt ..


„Pardon! Ich glaube kaum .. die Sache iſt
nämlich außerdem noch die, daß ich das Geld nicht
für mich brauche, ſondern — —“


„Ah! .. Aber für wen dann, wenn ich fragen
darf —?“


„Laſſen Sie das, bitte, mein Geheimniß bleiben,
gnädige Frau —“


[381]

„Wie Sie wollen, Herr Doctor .. doch muß ich
Ihnen nun bemerken, daß damit die Sache auch auf-
gehört hat, mich zu intereſſiren. Ihnen — Ihnen
perſönlich hätte ich vielleicht — ja! ſicher geholfen,
denn Sie ſind — ſind mir — — doch das — das
gehört nicht hierher — — für Menſchen dagegen, die
mir vollkommen fremd und unbekannt ſind, habe ich
kein ſo ſtarkes Intereſſe, daß ich für ſie Opfer bringen
könnte .. Meine ehrliche Meinung, Herr Doctor —!“


Lydia hatte ſich von dem Stuhle, auf dem ſie
ſeit dem Beginn des Geſprächs geſeſſen, erhoben und
war an ihren Schreibtiſch getreten. Sie ſtand da,
den Kopf ein Wenig geneigt, die volle, elegante Büſte
prachtvoll zum Ausdruck gebracht. Sie hatte ein
kleines, gläſernes Lineal ergriffen, mit welchem ſie
auf einem Briefbeſchwerer herumtrommelte.


„So —!“ ſagte Adam kalt und herb und erhob
ſich ebenfalls. „Gnädige Frau ſcheinen allerdings ſehr
merkwürdige moraliſche Prinzipien zu haben —“


„Wieſo —?“ Lydia ſchnellte herum und hielt
Adam mit großen, funkelnden Augen feſt.


„Wieſo —? Na! mein Gott, das iſt doch
einleuchtend! Wenn Sie ſo ſubjektiv, ſo willkürlich
ſind in der Ausübung Ihrer Menſchenpflicht, ſo
möchte ich beinahe glauben — verzeihen Sie gütigſt
meine Keckheit! — daß Sie überhaupt gar nicht
wiſſen, was eigentlich — —“


„Herr Doctor —!“


„Gnädige Frau —?“


„Sie ſcheinen gewiſſe .. unartige Gewohnheiten
[382] nicht loswerden zu können .. Schon damals — Sie
werden ſich erinnern — —“


In Adam ſchoß es in die Höhe. Es kreißte und
gährte und quoll in ihm, er wußte, daß ſie heran-
zog, daß ſie kam, vor der er ſich nicht retten, der
er nicht entrinnen konnte, wenn ſie die Arme nach
ihm ausſtreckte, ſie zerrte immer heftiger an ihm,
die heiße, erſtickende Wuth, ſie zog das Blut aus
ſeinem Geſicht, er wurde bleich, ſeine Glieder flogen,
er zitterte am ganzen Leibe, er mußte ſich an den Tiſch
klammern, um ſich aufrecht zu erhalten, er klammerte
ſich immer feſter, er wußte: — wenn er losließ — wenn
er losließ, würde ihn der Katarakt ſeiner Wuth auf
dieſes Weib peitſchen, würde er ſich auf dieſes Weib,
das ihn beleidigt, das ihn mit ſeiner vagen, erbärm-
lichen Andeutung, ſeinem kleinlichen Vorwurf zu Tode
gekränkt hatte — er würde ſich auf dieſe Creatur
— was war ſie denn ihm gegenüber? was denn? —
ſtürzen müſſen, um ſie zu — ja! zu erwürgen —
und davor — o Gott! davor bebte er inſtinktiv
doch zurück — nein! nein! nicht nachgeben! nicht
nachgeben — nicht das letzte Reſtchen halbklarer Be-
ſinnung fahren laſſen — —


Lydia hatte die Veränderung, die mit Adam vor-
gegangen war, unter heftigem Erſchrecken wahrge-
nommen. Sie war zuſammengezuckt, war vom Schreib-
tiſch näher ans Fenſter getreten, ſie fürchtete ſich,
ſie überlegte, ob ſie nicht ſchellen, ob ſie nicht Hülfe
herbeirufen ſollte — hatte ſie denn noch einen Zu-
rechnungsfähigen vor ſich —? Einen Menſchen, der
[383]
bei Beſinnung war —? War das nicht das Delirium
der Wuth, des Jähzorns, der ſein Opfer packt und
zerfleiſcht —? Und ſie war eine wehrloſe Frau —
— aber der Scandal — —


„— Sind Sie unwohl geworden, Herr Doc-
tor —?“ ſickerte es jetzt mühſam über ihre Lippen —


Adam faßte ſich. Er ließ ſich langſam vom Tiſch
los, dämpfte ſeinen keuchenden Athem, trat näher an
Lydia heran, die unwillkürlich immer weiter nach
dem Fenſter zu zurückwich, legte die wie feſtge-
ſchraubte Schienen aneinandergekrampften Arme über
die Bruſt — —


„— Unwohl wäre ich, glaubſt Du, Weib?“
ſtieß er heiſer heraus — „ei! Und wie unwohl!
Aber ich ſage Dir: — das iſt eine ganz verdammte
Lüge, die nur ein Schurke zuſammenkneten kann!
Mir iſt ſo wohl, ſo dämoniſch ſauwohl, ſage ich
Dir, Weib, wie mir in meinem ganzen Leben noch
nicht geweſen iſt! Aber Du — Du — Du ſollſt
zittern! Warte nur! Ha! Es iſt zum Andiedecke-
ſpringen! Zum Todtlachen! Zum — zum — —
Du wagſt es, mich zu beleidigen — Du ſpielſt Deine
kleine, egoiſtiſche Seele gegen mich aus — Du wagſt
es, mir mit Deinen abgeſtandenen Phraſen von „An-
ſtand“ und „Gutem Ton“ zu kommen, wo ich Dich
um Erfüllung Deiner allerordinärſten Menſchenpflicht
angehe — wo ich als Anwalt der Armuth vor Dir
ſtehe, der Du mit Deinem verfluchten Mammon hel-
fen ſollſt — ha! da kehrſt Du die feine Dame
'raus — und verbitteſt Dir ein Benehmen — ein
[384] Benehmen — — zum Teufel! Warte nur! Es
werden ſchon eines Tages Andere kommen, die an-
ders mit Dir reden, die eine andere Sprache im
Munde führen — warte nur, Weib! Und ſie wer-
den Dich nicht ſo ſanft anfaſſen, mein Täubchen —
Du wirſt Deine zarten Ohren ſchon an die dröhnende
Muſik gewöhnen müſſen, die ihre ungeſchlachten Stim-
men und ihre zerſchmetternden, groben Fäuſte machen!
Warte nur! Sie werden ſich ſchon mit Deinem Prunk
ihre Blößen decken, ſie werden Deinen Plunder ſchon
zerſchlagen, ihre Froſtgeſchwüre und ihren Hunger-
typhus damit auszucuriren — warten Sie nur,
meine Gnädige! Das wird ein netter Hexenſabbath
werden, ſage ich Ihnen — ein Hexenſabbath, daß
es eine Art hat! — und alle Ihre egoiſtiſche Willkür
— Ihre äſthetiſchen Geſchmacksfexereien werden zum
Teufel gehen — — und ich werde bei dem Rummel
mit beiſein, ich, gnädige Frau, ich — verlaſſen Sie
ſich drauf! — ich werde die Lumpen und Vaga-
bunden — die ganze losgelaſſene Volksfurie in
Ihren Lügentempel hetzen — warten Sie nur —!
es wird ſich Alles ſchon machen — das ſoll ein
Gaudium werden — na! wir werden Euch Eure
brutale Selbſtſucht ſchon aus den Gedärmen 'raus-
klopfen — Ihr ſollt Anderes zu denken bekommen,
Ihr verwahrloſtes Champagnergeſindel! Eure ruch-
loſen Lebensſpielereien werden wir Euch gründlich ab-
gewöhnen — aber ganz gründlich! — Und ich danke
Ihnen, gnädige Frau, für dieſe Stunde — ich danke
Ihnen — ich weiß jetzt ganz genau, ſage ich Ihnen
[385] — jetzt endlich ganz genau, wo meine Pflicht
liegt und wo mein Platz iſt! Leben Sie wohl!
Wir haben uns noch nicht das letzte Mal ge-
ſehen — —“


Immer näher war Adam an Lydia herangerückt,
bis ſich die beiden dicht gegenüberſtanden. Nun kehrte
er ſich mit einem harten Rucke ab und ging nach
der Tiefe des Zimmers zu, der Thüre entgegen.


Lydia fuhr auf, fuhr auf wie aus einem ſchweren,
ſchwülen Traum geſtoßen. Sie ſtrich ſich mit der
linken Hand über Augen und Stirn — ja! hatte
ſie denn wirklich geträumt? War das ein Spuk ge-
weſen, oder doch nackte, klare Wirklichkeit? War
denn das ihr Zimmer? Doch wohl. Aber — nein!
das konnte ja nicht ſein. Das Alles war nur eine
wüſte Phantaſie — dieſer Menſch ſollte es gewagt
haben — —?


Widerſtandslos hatte ſie die Fluth der Drohungen
und Anklagen, die aus dem Munde des zürnenden
Mannes da vor ihr herausſchoß, über ſich hingehen
laſſen. Wie gelähmt, gebändigt war ſie geweſen,
feſt in ſich verhakt und zuſammengezwungen. Er
hatte ſie überwältigt. Jetzt fühlte ſie eine ſchneidende
Zwieſpältigkeit in ſich, es zerrte krampfhaft an ihr
herum. Aber wer war denn dieſer Menſch? Der-
ſelbe, der ſich vor ihr immer nur als intereſſanter,
blaſirter Schwächling aufgeſpielt? Und nun dieſe
jäh ausgebrochene Leidenſchaft! Oder war das [um]
Verzweiflung — blutende Verzweiflung an ſich, an
der Welt geweſen? Sie wußte nicht ein noch aus
Conradi, Adam Menſch. 25
[386] Sie empörte ſich gegen die Vergewaltigung, die ihr
widerfahren war, — und doch ſchauerte ſie wie in
brennender Wolluſt zuſammen, denn ſie hatte den,
den ſie liebte, zum erſten Male hoch über ſich ge-
fühlt, ſie ſah nun zu ihm auf — nein —! ſie
konnte ihn nicht gehen laſſen — und doch! Ach!
Es war eine zu große Zwieſpältigkeit in ihr. Und
jetzt — — jetzt —


Adam hatte die Thür aufgeriſſen —


„Herr Doctor —!“ ſchrie ihm Lydia nach, einige
Schritte vortretend —


Der Angerufene blieb doch unwillkürlich ſtehen
und drehte ſich langſam in halber Wendung um.


„Geſtatten Sie, bitte, noch einen Augenblick —
nur ein Wort noch —“ begann Lydia tief aufath-
mend. Sie reckte ſich in die Höhe, die ganze Figur
ſtraffte ſich, wohl war ſie ein Wenig bleich, ſie
wollte jetzt erſt recht bewußte Weltdame ſein.


„Was ſoll's?“ polterte Adam erboſt. „Ich dächte,
ich wäre fertig mit Ihnen —“


„Aber ich noch nicht mit Ihnen, Herr Doctor!
Ich habe Ihre — nun! Ihre — Declamation hinge-
nommen, ohne ein Wort der Erwiderung —“


„Declamation —? ohne Erwiderung? — ich ſage
Ihnen, gnädige Frau: das war auch das Geſcheiteſte,
was Sie thun konnten —“ unterbrach Adam mit
grobem, ungeſchlachtem Sarkasmus —


„Nun — darüber ließe ſich am Ende noch ſtreiten —“


„Wäre verdammt überflüſſig! Aber ich mag
nicht mehr —“


[387]

„Bitte! Nur noch einen Augenblick! Und wer-
den Sie nicht von Neuem beleidigend, mein Herr!
Sie werden zugeben, daß ich im Rechte geweſen wäre,
wenn ich Ihnen ſchon nach Ihren erſten Worten
vorhin die Thüre gewieſen hätte —“


„Warum haben Sie's nicht gethan —? Dann
hätte ich mir meine Lungenſtrapaze eben erſpart —“


„Es iſt gut, daß Sie die Geſchichte jetzt auch
etwas weniger pathetiſch — ſchon etwas nüchterner
auffaſſen — Lungengymnaſtik — —“


„Gnädige Frau —!“


„Na ja! Thatſache iſt jedenfalls, daß ich mit
rieſiger Geduld — —“


„Wenn Sie mir nichts Wichtigeres zu ſagen
haben — um das Zeug anzuhören — —“


„Herr Doctor —! Nun dann gleich meine Frage!
Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß —
— Sie werden doch ſelbſt ſo viel Pſychologe ſein,
um ſich ſagen zu können: ich müßte ja ein Geſchöpf
von einer Beſchränktheit ohne Gleichen ſein, wenn —“


„Aber nun kommen Sie doch endlich mit der
Pointe — ich weiß abſolut nicht, worauf das Alles
hinauslaufen ſoll — ich habe keine Zeit, um — —“


„Sie ſind“ — Lydia war ſehr ruhig und kühl
geworden — „hier als Armenanwalt vor mir auf-
getreten — bitte, ſagen Sie mir: welche direkten
Gründe haben Sie dazu veranlaßt —?“


„Welche direkten Gründe? Nun, ich denke,
ich hätte Ihnen das ſattſam vorgerechnet —: meine
25*
[388] moraliſchen Anſchauungen — meine ethiſchen Prin-
cipien — —“


„Hm! . Und Sie täuſchen ſich wirklich nicht ſelbſt,
Herr Doctor —? Was hat Sie auf einmal ſo in
den Harniſch gebracht, wo Sie doch, ſo viel ich mich
wenigſtens erinnern kann, früher — —“


„Jawohl! Früher! — Kommen Sie nur ſo!
Das ſieht Ihnen ähnlich! 'N Weib! Nun ja!
Aber ich bin eben Gott ſei Dank! ein And'rer ge-
worden — ich — ich bin — —“ Adam war doch
etwas unſicher, kleinlaut, betreten geworden. Lydia
merkte dieſe zarte Nuance ſehr fein heraus. Sie
wurde kühner. Und jetzt zuckte eine Vermuthung
in ihr auf, kurz, jäh, ſchießend und ſo unmittelbar,
daß ſie faſt unverknüpft, ſelbſtändig erſchien, aber
darum nur um ſo nachdrücklicher zwang, um ſo mehr
und um ſo ſchneller überzeugte.


„Ich werde Ihnen ſagen, Herr Doctor, wem
Sie mit dem Gelde helfen wollen — und damit
ſind dann auch die bewußten direkten Gründe
bloßgelegt — —“


„Nun —?“ fragte Adam, halb ehrlich-neugierig,
halb verlegen, jedenfalls ſehr peinlich berührt, ſo
etwas wie geheimes Schuldbewußtſein in der Bruſt.


„Sie wollen das Geld für — für — Irmers
haben —?“


„Nun —? Und wenn das der Fall wäre — —“
antwortete Adam überlaut, mit affektirtem Trotz —


„Sie — Sie lieben Hedwig Irmer —?“ Lydia
hatte doch ſehr leiſe geſprochen.


[389]

„Aha! Jetzt ſpielen Sie das Geſpräch auf ein
Gebiet hinüber, gnädige Frau, das Ihnen allerdings
angenehmer ſein möchte, als die Diſtel- und Neſſelfel-
der, die ich Ihnen — na! — — ich ſage ja — nee!
zu köſtlich! zu köſtlich —! Uebrigens 'n bekannter
Weiberkniff — —“


„Bitte! Beantworten Sie meine Frage —“


„Liegt Ihnen wirklich ſo viel daran, gnädige
Frau —? Nun denn: Wenn das auch der Fall wäre
— wenn ich Hedwig Irmer — liebte — was wäre
dann? Was hat das damit zu thun, daß — —“


„Was dann wäre, Herr Doctor —? Hm —!
Dann wären Sie nicht nur mit mir fertig, wie Sie
ſich vorhin auszudrücken beliebten — dann wäre ich
allerdings auch mit Ihnen fertig — —“


Lydia ſtand hinter der Lehne eines Fauteuils, an
welcher ſie ſich jetzt mit ihren kleinen, vollen Händen
feſt anhielt. Die ganze Geſtalt war in ſich zuſam-
mengeſunken, wie von einem tiefen, ſeeliſchen Schmerze
überwältigt.


„Sie auch mit mir —“ ſprach Adam leiſe nach
und fuhr ſich mit der linken Hand über die Stirn.


Und eine jähe, gewaltige Wandlung erfaßte ihn.
Wie ein Riß klaffte es durch die Dünſte und Nebel,
in die er ſich hineinphantaſirt hatte. Dieſes Weib
da liebte ihn — und er — er liebte in dieſem
Augenblicke auch das Weib, er liebte es heiß, leiden-
ſchaftlich, bis zum Wahnſinn, bis zur Verzweiflung.
Das Andere, was er da vorhin zu ihr geſprochen
hatte — das war ja Alles nur Einbildung, Humbug,
[390] elender Mumpitz geweſen, triſtes Phraſengequatſche,
fadenſcheiniges Blendwerk. Er ein ſocialer Ver-
geltungsfanatiker? Es war zum Lachen, zum Todt-
lachen. Er liebte die Schönheit und den Glanz,
die heitere Vornehmheit und die geſchmackvolle Pracht,
den verſtändnißvoll arrangirten Luxus, die beſtechende
Form und den zwanglos, elegant geſammelten In-
halt. Und jetzt bot ſich ihm zum letzten Male dieſes
Glück an, dieſes Glück, das ſeinem Weſen und ſeiner
Geſtalt nach ihm einzig congenial war. Er ſollte
die Hand, die ſich ihm lockend entgegenſtreckte, zurück-
weiſen, weil es eine Armuth gab, die darbte, ein
Elend, das litt, eine Noth, die nach Rache ſchrie?
Was ging ihn dieſe Armuth an? Was dieſes Elend?
Was dieſe Noth, die nach Rache ſchrie? Was dieſe
problematiſche Rache? Nichts, Nichts, Nichts. Hier
ein Weib, das ihn liebte, hier Schönheit und
Fülle, Unabhängigkeit und Sorgloſigkeit, hier alle
Inſtrumente zur Erzeugung ſeiner Stimmungen,
alle Waffen für Erwerbung großer Genüſſe und Er-
lebniſſe — dort ein Haufen Lumpen, Schmutz, Unrath
in brutaler, nackter Nüchternheit, ſtinkende Fäulniß,
Dunſt, Moder, Schweiß, Staub, Dreck — — und
er zweifelte noch, was er wählen ſollte? Er zauderte
noch? Und alle Wunden, die ihm das kleine, enge,
allenthalben hemmende Leben, dem er ſich je und
je hatte unterwerfen müſſen, geſchlagen und die nur
ein galgenhumoriſtiſcher Leichtſinn nothdürftig hatte
vernarben laſſen .. ſie brachen wieder auf und blu-
teten in erneuter Friſche. Aller Demüthigungen,
[391] Zugeſtändniſſe und Kapitulationen, die er hatte auf
ſich nehmen müſſen, und die er weiter und weiter
würde auf ſich nehmen müſſen, wenn er die äußere
Niedrigkeit ſeines Lebens nicht abſchüttelte und von
ſich warf, gedachte er, und es ergriff ihn ein unge-
ſtümes Grauen vor ihnen und ein zehrendes, bohren-
des Mitleid mit ſich ſelber. Die „Bataillone der
Zukunft“ — mochten ſie ruhig weitermarſchiren,
näher und näher heran — noch war ihre Stunde
nicht gekommen, noch ſtanden ſie nicht auf dem
Kampfplatze, bereit zu vergelten, zu ſtürzen und neu
zu gründen — und unterweilen ließ ſich noch eine
Spanne Zeit gewinnen, da man glücklich ſein durfte
im Schooße der Schönheit und Leidenſchaft — und
einen Traum träumen durfte in irdiſcher Trunken-
heit, wohl einen flüchtigen und vergänglichen, aber
auch hinreißend ſchönen und unvergeßlichen Traum.
Nachher das Erwachen — was ging ihn das jetzt
an? Jetzt? Nichts, nichts, nichts — —


Adam ſchritt langſam auf Lydia zu .. und als
er dicht hinter ihr ſtand, ſprach er mit leiſer, ge-
preßter, heiſer vibrierender Stimme: „Verzeih' mir,
Lydia — ich — ich war von Sinnen vorhin —
ich wußte nicht — — ach! Du weißt nicht, wie
unglücklich ich bin — —“


Und Lydia ſah zu ihm auf, feucht ſchimmerte
es in ihren Augen — „Ja! Du mußt ſehr unglück-
lich ſein, Adam —“ ſagte ſie ebenſo leiſe .. Dann
wiſchte ſie ſich mit ihrem zarten, weißen Battiſt-
taſchentuch die Thränen aus den Augen, legte ihre
[392] kleinen, vollen Hände auf Adams Schultern und ſah
ihm feſt, klar ins Geſicht und ſprach: „Ich will
Dich geſund und glücklich machen, Adam. Du ſollſt
nicht mehr ſuchen, Du ſollſt gefunden haben. Ich
weiß, Du liebſt Hedwig Irmer nicht. Das haſt Du
vorhin nur ſo geſagt, um — — ich aber liebe
Dich, Adam — bleibe bei mir. Willſt Du — ja?
— willſt Du —?“


„Lydia —!“


Sie küßte ihn auf den Mund, ſehr ſcheu, ver-
ſchämt und haſtig. „Aber jetzt geh' —“ ſprach ſie
nun — „ich reiſe morgen früh gegen Elf ab —
komm nach dem Bahnhof, wenn Du kannſt — ja?
Wir ſehen uns bald wieder —“


Adam wandte ſich langſam ab. Seine Glieder
waren ihm ſehr ſchwer, er wollte gehen.


„Ach ja! Das Geld!“ rief ihn Lydia noch ein-
mal zurück. Er hatte die delikate Angelegenheit
allerdings ganz vergeſſen müſſen. „Es ſteht Dir
natürlich zur Verfügung — ſofort, wenn Du willſt.
Geh bitte zu meinem Banquier, Behrendt \& Comp.,
Adalbertſtr. 12 — warte! ich ſchreibe ihm gleich 'n
paar Worte —“


Wie gebrochen ſchwankte Adam eine kleine Friſt
ſpäter zum Zimmer hinaus. — Hatte er das beſſere
Theil erwählet? — — —


Endlich bog er in die Straße ein, wo das
Comptoir von Behrendt \& Comp. lag. Langſam
war er aus ſeinem Taumel, ſeiner einſchnürenden
Hingenommenheit und Befangenheit wieder zu ſich
[393]
zurückgekommen, war er wieder nüchterner und ein-
facher, klarer geworden. Die Kritik erwachte und
die kritiſche Entſcheidungsfähigkeit, aber nur erſt in
eckigen, unbeholfenen Sprüngen, in vagen, unſicheren
Andeutungen. Adam ſtapfte mit verbogenen Schritten
vorwärts, er nickte öfter vor ſich hin, warf den Kopf
mit nervöſem Accent nach rechts, nach links, und
malte mit den Händen allerlei geheimnißvoll-unver-
ſtändliche Figuren in die Luft. Er wußte: es hatte
ſich ihm da etwas Unerwartetes ereignet, ſein Leben
war ſcharfen Ruckes um eine Ecke geſchoſſen und in
eine andere, ganz andere Richtung eingelaufen. Aber
er trug Scheu, ſich in das Neue, das ihm zugefallen
war, zu vertiefen, er conſtatirte es nur, halb wider-
willig, halb erfreut darüber und auf ſeine Fort-
ſetzung geſpannt. Zumeiſt trieb es ihn, den nächſten,
zunächſtliegenden Vortheil aus dem ihm widerfahrenen
Glücke zu ziehen. Er hatte ja Irmers helfen wollen.
Dieſer Gedanke hatte die tiefſte Furche in ſeinem
Gehirn gegraben. Es zog und zerrte an ihm, wie
aus einer unergründlichen Tiefe ſeiner Seele zu ihm
ſprechend und ihn lenkend. Alſo erſt 'mal bei dem
Eſel von Banquier anſchwirren und das Geld erheben.
Das ging ſehr glatt, beinahe zu glatt für Adams
Gefühl. Dem Herrn Doctor wäre eine kleine, reelle
Abwechslung ſehr willkommen geweſen.


Adam rannte ſporenſtreichs nach dem nächſten Poſt-
amte, ſchrieb vier Anweiſungen und zahlte die tauſend
Mark an die Adreſſe Hedwig Irmers ein. Er konnte
das Geld gar nicht ſchnell genug loswerden. Nun
[394] athmete er auf. Das war der Kaufpreis. Da lag er.
Der Poſtbeamte ſtrich die dreißig Silberlinge gleich-
gültig ein. Er war frei. Tauſend Mark — das
war auch immerhin eine ganz anſtändige Summe als
Abſchlagszahlung auf — nun! eben auf gewiſſe
etwaige Alimente ....


Adam ſtand wieder auf der Straße. Er wußte
nicht, was er mit ſich anfangen ſollte. Nach Hauſe
gehen mochte er nicht. Ein heftiger Ekel vor ſeiner
Wohnung ergriff ihn. In dieſer hin- und hervi-
brirenden, zerklüfteten Stimmung konnte er ja doch
nicht arbeiten. Er war nicht fähig, ſich zu ſammeln.
Er wußte, wenn er zu Hauſe ſäße, in der Einſam-
keit ſeines Zimmers, würde ſeine Unraſt noch wachſen
und wachſen. Die Enge, die Stille würden ihn er-
drücken. Immer nur würde an ihm zerren, würde
in ihm wühlen, was er tagüber erlebt .. zerren,
wühlen in ſchneidender Eintönigkeit, mit ſymmetri-
ſchem, unerträglichem, ſchauderhaft correctem Des-
potismus. Aber wie ſollte er ſeine Unraſt auslöſen?
Eine leiſe Sehnſucht nach etwas Neuem, Unerlebtem,
Abenteuerlichem durchzitterte ſeine Bruſt. Er hätte ſich
ſo gern vergeſſen machen laſſen, er ſuchte Betäubung,
und war's auch gemeine, geſchmackloſe Betäubung.


Es war zwiſchen ſieben und acht Uhr. In den
Straßen lag dunſtige Wärme, beklemmende Stickluft,
heiße, braſige Stimmung. Der Himmel war unrein,
unreinlich, abſtoßend zerquirlt und verzettelt, hier ein
Ballen ſchmutziggrauer Wolken mit matter oder dunkler
gefärbten Rändern, die von tödtlicher Langweile zu
[395] triefen ſchienen, dort eine Spanne Wolkenloſigkeit
von der blaugrünen Bleifarbe des Nelkenkrautes.
Allenthalben breite, auf- und niederfluthende Menſchen-
ſtröme, behagliches Schlendern und gleichſam geöltes
Hinſchießen. Hunderte von entlaſſenen Arbeitsſclaven,
die aus ihren Sälen und Höhlen kamen und eine
karge Stunde der Freiheit genießen wollten. Aus
dem Innern ſteinerner Thorwege und Hausfluren,
aus geöffneten Kellerfenſtern quoll feuchte, kalte Luft.


Adam ließ ſich von der Maſſe mit forttreiben.
Es war ihm gleichgültig wohin. Es war ihm ſchon
recht ſo. Er hatte kein Ziel: das Schwimmen mit
dem Strome kam ihm heute außerordentlich gelegen.
Es dünkte ihn auch ſo paſſend zu der geſammten
Verfaſſung ſeiner Verhältniſſe, der ſchnurrigen Be-
ſchaffenheit ſeiner Lebensſituation, ſo, wie ſie heute
von einer ſchönen Frau eingerenkt und beſtimmt war.
Es galt, ſich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß
man einen feſten Punkt gewonnen hatte, von dem
aus man ſich dem realen, lebendigen Leben einfügen
und einordnen ſollte.


Jetzt verſpürte Adam einen zaghaft zupfenden
Hunger in ſich. Und auch die Neigung zu einem guten,
ſchweren Glaſe Bier ſtreckte verſtohlen ihre kleinen,
warmen, mahnenden, bittenden Fingerchen aus. Aber
wohin ſollte er gehen? Die Lokale, die er gewöhnlich
beſuchte, waren ihm momentan über Alles verhaßt. Er
konnte es nicht über ſich gewinnen, eins oder das andere
aufzuſuchen. Jetzt nur keine bekannten Räume, die,
gegenſtändliche Erinnerungskeime, von irgend welchen
[396] Erlebniſſen zu erzählen wußten! Und jetzt nur keine
bekannten Geſichter! Es aber mit einer Bierwirth-
ſchaft aufzunehmen, die ihm noch fremd war, davon
hielt ihn eine ſtarke, unerklärliche Scheu zurück,
vielleicht ein Mißtrauen gegen neue Objecte, denen
er ſich bei ſeiner nervöſen Zerfahrenheit und geiſtigen
Ungleichmäßigkeit zur Zeit nicht gewachſen fühlte.
Er mußte über ſich lächeln, konnte ſich aber nicht
zwingen, aus ſeiner lächerlichen Unentſchloſſenheit her-
auszugehen. So trollte er weiter. Und jetzt bog
er plötzlich in eine Thür ein, die zu einem Lokale
führte, in dem er früher öfter verkehrt hatte. Er
wußte nicht, wie er ſo jäh und unvermittelt dazu
kam, hier einzutreten. Er ſchüttelte den Kopf und
öffnete mechaniſch die Thür. Nun ſtand er im Zimmer
und ſuchte nach einem Platze.


Es war ein Reſtaurant ziemlich untergeordneten
Ranges. Im Winter gab es Tingeltangel hier, und
Adam war einige Male mit Bekannten hier 'reinge-
fallen, um ſich den geſchmackloſen, ſtumpfſinnigen Ulk
anzuſehen.


Im vorderen Theile des Raumes lag noch
Abendhelle, ſpinnendes, merkwürdig keuſches Zwielicht.
Hinten in der Nähe des Buffets brannte ſchon eine
trübe, gelangweilte Gasflamme. Sie ſchien ſich ziem-
lich anachroniſtiſch vorzukommen.


An den rohen, mit beleidigender Beſtimmtheit
aneinandergeſtellten Tiſchen ſaßen ein paar Gäſte.
Geſprochen wurde nicht viel. Ab und zu klapperte
ein Bierſeidel. Die Athmoſphäre war warm, ſchweiß-
[397] dunſtig, dazu der impertinent ſcharfe Geſtank von
ſchlechten Cigarren.


Adam ſetzte ſich an den erſten beſten Tiſch in
der Mitte des Zimmers. Aus dem Hintergrunde,
aus der Nachbarſchaft des Buffets, kam eine Kellnerin
auf ihn zu.


„Sie wünſchen —?“ fragte ſie mürriſch, ab-
ſtoßend.


„Ein Bairiſch und 'waſ zu eſſen —“


„Ein belegtes Brötchen, Frankfurter Würſtchen,
Aal in Gelée oder —? —“


„Bringen Sie mir 'n belegtes Brötchen —“


„Mit Wurſt, Schinken, Käſe —?“


„Ach Gott, das iſt gleichgültig .. alſo meinet-
wegen mit Käſe, Schweizerkäſe — es iſt ja ganz
egal — — nur 'n Biſſel hurtig, mein Fräulein — —“


Die Kellnerin begnügte ſich, eine verächtliche
Kopfbewegung zu machen und ging ab. Jetzt ſtellte
ſie das Bier vor Adam hin und zündete eine zweite
Gasflamme an.


Adam ſchräg gegenüber, am Nebentiſche, ſaß
ein junger Kerl, der darauf zu brennen ſchien, ſich
mit dem neuen Ankömmling in ein Geſpräch einzu-
laſſen. Er war augenſcheinlich nicht mehr ganz
nüchtern. Seine Hände zitterten, wenn er nach dem
Glaſe griff, er fuhr unruhig auf ſeinem Stuhle hin
und her und tolpatſchte unbeholfen an ſeinem Ci-
garrenſtummel herum, den er ſchon ganz zerkaut und
zerdrückt hatte.


„Ick bin Sie man nämlich heute nur in ab-
[398] sentia
hier ..“ lallte er jetzt zu Adam hinüber —
„eigentlich bin ick ſozuſagen von Hauſe aus, wiſſen
Se, gelernter Klempner, aber Sie müſſen doch zu-
geben, wenn Unſereener mit Bismarcken oben ..
na! wie heeßt nur das Neſt .. ja! in Stralſund
Theolojie ſtudirt hat — —“


„Greifswald wollen Sie wohl ſagen —“ be-
merkte Adam lächelnd und nahm ſein Käſebrötchen
in Empfang, das ihm eben die Kellnerin mit bru-
taler Nachläſſigkeit hinſchob.


„Ein klein Wenig höflicher dürfteſt Du auch
ſein, mein Kind — das könnte wahrhaftig nichts
ſchaden — —“


Das zur Ordnung gerufene Fräulein warf ihrem
Kritiker nur einen finſteren, drohenden Blick zu und
ſetzte ſich an den Nebentiſch. Sie ſagte kein Wort.


„Wat meenen Se? . Greifs .. Greifswald?
Mir ſolls Recht ſin .. hähähä .. ick bin ja heute,
müſſen Se wiſſen, nur in absentia hier — und wenn
Eener mit Bismarcken Theolojie ſtudirt hat, kann
er ooch wohl een kleenet Wörtchen mitreden in de
Weltgeſchichte, verſtehen Se mich! ... Habe ich etwa
nicht Recht —? ...“


„Na! und wie haben Sie Recht, mein Beſter!
Ich bin nämlich auch bloß in absentia hier —
wir ſind ja Alle nur in absentia auf der
Welt — —“


„Na! Ick habe doch alſo Recht!. Sage ick
denn det nich —? .“


„Meinetwegen! Aber jetzt laſſen Sie mich ge-
[399] fälligſt mit Ihrem Quatſch zufrieden, lieber Mit-
menſch — ja —?“


Der brave Klempnergeſelle war ſehr verſchüchtert.
Er ſah Adam groß, erſchrocken an, ſetzte dann ein
blödes Verlegenheitslächeln, das ironiſch und pfiffig
ſein ſollte, auf ſeine häßlichen, ſcharfen Züge, die
gelblichgrau und runzlig waren wie rauhe Elephanten-
haut, und taſtete unſicher nach ſeinem Glaſe.


„Und ick bin man doch bloß in absentia hier ..
det ſage ick und dabei bleibe ick —“ murmelte er
in ſeinem Kauderwälſch von reinem Schriftdeutſch
und Berliner Dialect vor ſich hin ..


„Bringen Sie mir noch 'n Glas! .“ comman-
dirte Adam nach einer Weile, während der er ſein
frugales Brötchen und den erſten Krug des ziemlich
warmen und abgeſtandenen Bieres bewältigt hatte.


Jetzt ſetzte ſich die Kellnerin mit an ſeinen
Tiſch. Sie ſah ihn mit ihren kalten, dunklen Augen
feſt an.


„Was habe ich Ihnen nur gethan, mein Fräu-
lein —?“ fragte Adam, dem dieſe energiſche Muſte-
rung unangenehm, unbequem war.


Das Mädchen ſchüttelte ein ganz klein Wenig
den Kopf und fixirte Adam ruhig weiter.


„Wollen Sie die Blume trinken —?“


„Ich danke —“


Jetzt ſpielte Adam den Beleidigten. Er ſah
das kleine, knurrige Weib herausfordernd an. Dabei
bemerkte er, daß die Donna kein unintereſſantes
Geſicht hatte. Die Züge waren nur etwas ſcharf,
[400] herb, zu nuancirt gefaltet, die Haut zerriſſen und
porös, als ob ſie früher ſtark geſchminkt worden
wäre.


Neue Gäſte kamen. Handwerker mit den breit-
ſpurigen Gerüchen ihrer Werkſtätten, Arbeiter: ge-
bückt, gekrümmt, nachläſſig, ſchleppend und ſchwerfällig
im Gang, unreinlich, abgeſchunden, zerriſſen, rußig,
allenthalben mit Fabriksſpuren und Arbeitsnarben
beſät, in den Geſichtern Gleichgültigkeit, Stumpfſinn,
oft auch zehrenden Gram, der ſich in den Phyſiog-
nomie'n ſeinen beſtimmten Ausdruck geſchaffen, hier
und da Spuren einſtiger Intelligenz, aber ſtark ver-
wiſcht und verkümmert. Ab und zu erſchien wohl
auch Einer, der nach Kleidung und Benehmen einer
„beſſeren“ Geſellſchaftsklaſſe angehörte. Das Sprechen
wurde lauter, ſchriller, die Stimmen vermiſchten und
verwirrten ſich. Jetzt brannten alle Gasflammen,
das letzte Streifchen, das letzte Pünktchen müden,
graublauen Abendlichts war aufgezehrt. Man hatte
in den Eingeweiden der Häuſer keine Zeit, auf das
völlige Hinſterben des Tages zu warten. Der konnte
ſich draußen auf der Straße, wo die breiten, ſchwarzen
Schatten lagen, auf dem Felde, im Walde mit der
ſiegenden Finſterniß abfinden. Hier lechzte das Leben
nach neuen Kryſtallen. Verblutende läßt man allein.
Auch das Licht, das verblutet. Und ſo bleibt es
keuſch und makellos. —


Hinter dem Buffet war der Wirth erſchienen.
Die Kellnerin lief auf und ab. Sie behandelte die
Gäſte ſchroff, herb. Das gefiel Adam. Er ließ ſie
[401] nicht aus den Augen. Sie mußte das fühlen.
Oefter, mit jähem, unvermitteltem Rucke, ſah ſie ſich
nach ihm um. Er fing ihren Blick lächelnd, ironiſch,
wie in halber, kopfnickender Genugthuung lächelnd, auf.
Sie zuckte zurück .. und ſah doch wieder zu ihm
hinüber. Wohl ſtreng und finſter .. und doch dünkte
es Adam zuweilen, als läge ein heißes, namenlos
heißes und brünſtiges Flehen in dieſem Blick —
eine erſchütternde Bitte um Hülfe ... Rettung ...
Erlöſung .... So blieb er ſitzen .. und trank —
ihr zu Gefallen. Sie intereſſirte ihn jetzt. Wie-
der
Eine .. wieder Eine ... wieder Eine ...
Aber es war nun einmal ſo. Und er konnte ſich
des geheimnißvoll zwingenden, immer wachſenden
Eindruckes nicht erwehren. Und er trank weiter —
ihr zu Gefallen. Sie ſah ihn ſo eigenthümlich an,
wenn ſie ein friſches Glas Bier vor ihm hinſtellte.
Und jetzt waren gerade alle Gäſte verſorgt, und ſie
hatte einen freien Augenblick. Sie wandte ſich lang-
ſam nach Adam um. Der winkte ihr mit den Augen.
Sie trat zu ihm hin und beugte ſich zu ihm nieder.
Geſicht lag neben Geſicht, Adam hörte ihr heftiges,
haſtiges Athmen. „Wie heißt Du —?“ raunte er
ihr leiſe zu.


„Leni. Bleib' noch 'n Bißchen hier — ich
muß Dir nachher 'was ſagen — —“


Und er blieb und blieb und trank und trank
weiter — ihr zu Gefallen. Er fühlte, wie das
ſchaale, abgeſtandene Zeug Gewalt über ihn gewann,
wie ſeine Gedanken kürzer, eckiger, ſpringender wurden,
Conradi, Adam Menſch. 26
[402] ſeine Bewegungen ſchwerer, ungelenker .. er ſtarrte
öfter vor ſich hin, ſecunden-, minutenlang, das
Sprechen und Schreien und Klappern um ihn herum
rann zuſammen zu einem ſchweren, dumpfen, ſum-
menden Geräuſch, jetzt war es ihm plötzlich einmal,
als ob er ſich einen Augenblick vorher ganz vergeſſen
hatte, er hatte eine Secunde lang nicht exiſtirt, er
hatte ſtumpf vor ſich hingebrütet und war doch zu-
gleich ganz ausgelöſcht geweſen, nun rollte er ſich
wieder auf und gliederte ſich, ſtraffte ſich ... und
da züngelte Leni's Blick wieder zu ihm herüber ..
und bat ihn .. und fragte ihn ... und flehte ihn
an ... und ſie kam zu ihm, berührte leiſe ſein
Haar, liebkoſte ihn .. und bog ſeinen Kopf zu
ſich in die Höhe und ſchaute in ſeine Augen
mit ihren kalten, dunklen, menſchenanklagenden
Augen. Und er blieb und blieb und trank
und trank weiter: dieſes warme, abgeſtandene,
zähſchleimige Geſöff weiter — ihr zu Gefallen,
ihr zu Liebe —


Nun lief das Lokal mit all' dem zechenden,
ſchreienden Menſchengeſindel, was ſich da zufällig in
ihm zuſammengefunden hatte, um Adam im Kreiſe
herum. Das war fatal. Er hatte die bewußte
„Contenance“ verloren. Nur eine Priſe friſcher Luft
konnte hier mildern.


Der Angezechte hatte eine gewiſſe Furcht vor
dem Aufſtehen. Immer wieder ſank er in ſich zu-
ſammen und blieb ſitzen. Endlich, ohne daß er es
noch einmal bewußt gewollt hatte, ſchnellte er mit
[403]
einem verbogenen Rucke in die Höhe und taſtete
ſchwerfällig-ungelenk nach ſeinem Hute. Die Kellnerin
kam auf ihn zugelaufen.


„Was habe ich —?“ fragte Adam mit ſchwerer,
unſicherer Zunge.


„Du willſt ſchon gehen —? Warum denn —?“


„Mir iſt nicht wohl .. Das iſt auch 'n Dunſt
— 'ne Luft — 'n Geſtank — hier — nicht zum
Aushalten! . Alſo wie viel Bier? . Und .. und ..
das .. das Bröt — chen —?“


Leni rechnete mürriſch zuſammen. Sie hatte
wieder ihr erſtes, abweiſendes, verächtlich achſelzucken-
des Benehmen angenommen. Adam warf das Geld
auf den Tiſch. Das Weib war ihm jetzt verflucht
gleichgültig. Nur 'raus aus dieſer entſetzlichen Bude!
Er hatte keine Zeit, den Beichtvater zu ſpielen ..
oder verpflichtende Zärtlichkeiten ſich abſchmeicheln
zu laſſen.


„Adieu! Ich komm morgen wieder —“


„Ach Du! Geh' nur! Du biſt ooch nicht an-
ders —“


„Du wirſt ja ſehen, daß ich Wort halte — —“


„Meinetwegen brauchſt Du nich zu kommen —“


„Nu denn nich, meine Theure! Adieu!“


An der Thür ſah ſich Adam noch einmal um.
Das war ein graues, widerlich verqualmtes, ſchwer-
fällig hin- und herſchaukelndes Bild, was er da vor
ſich hatte. Leni war verſchwunden, wie hinwegge-
nommen, verſchluckt. Nein! doch nicht. Da hinten
am Buffet flirrte ihre rothe Taille in falbem, ver-
26*
[404] hangenem Scheine. Und jetzt kam das matte
Flämmchen wieder näher und wurde größer, körper-
licher. Adam ſtieß die Thür auf.


Die Luft auf der Gaſſe war nicht viel friſcher.
Oefter lief ein kleiner, kühlerer, ſanft athmender
Wind vorüber, der Adam wohl that. Er wurde
bald ruhiger, ſicherer, klarer. In den Lüften ſchwamm
noch die letzte, die allerletzte, faſt farbloſe Erinnerung
an das weiße Licht des Tages. Bald kam der
Mond herauf. Mit einer leiſen, discreten Helle
überhäufte er zaghaft den Himmel. Einige Tropfen
fielen, bald hörte der Regen wieder auf. Adam
ſtapfte weiter und ließ ſich alle Stimmungserſchei-
nungen der anbrechenden, ſchwülen Sommernacht
gefallen.


Die Straßen waren leerer geworden, das Leben
ſtiller, heimlicher, verhaltener. Adam ward es ganz
ſonderbar zu Sinn. Er kam ſich ſo grenzenlos allein,
vereinſamt vor, wie ausgeſetzt, wie ausgeſtoßen. Er
empfand Mitleid mit ſich in dieſer großen Einſam-
keit. Sein Weg ging durch kleine, enge Straßen
und Gaſſen. Selten begegnete ihm ein Menſch, ein
unbekannter, aus den Schatten des Abends auftau-
chender Menſch, ein Einzelner, vielleicht auch ein
Vereinzelter, oder Zwei oder Drei. Vor einer
Thür, unter einem Fenſter, ſtand wohl auch hier und
da ein Pärchen und flüſterte. Adam zog vorüber.
Manchmal wunderte er ſich im Stillen über das,
an dem er vorüberzog, wunderte ſich über die warme,
geſchmeidige Sommernacht, über dies und das aus
[405] der Welt und dem Menſchenleben, was ihm gerade
als ſchärferer Gedanke, in ſchärferem Bilde zufiel
und aufging, wunderte ſich langſam über die bunten
Erlebniſſe ſeiner letzten Tage. Er wunderte ſich
mit der intimen und tolpatſchigen Naivetät des
Kindes. Er lächelte verſtohlen vor ſich hin und
that ſehr geheimnißvoll. Er war ſehr glücklich.


Nun trieb er durch eine breitere, hellere, be-
lebtere Straße. Und wieder kam das Gefühl gren-
zenloſer Vereinſamtheit über ihn, jetzt noch ſtärker,
bezwingender, noch mehr niederwuchtend und ein-
ſchnürend. Oefter war es ihm, als müßte er einen
Schrei ausſtoßen, einen kurzen, harten Schrei ..
einen dunklen, verlorenen Ruf durch die Nacht, einen
Ruf der Sehnſucht .. einen Schrei brennender
Herzensverzweiflung. Unter den Menſchen, die da
ihm entgegenkamen, die da an ihm vorübergingen,
mußte doch ſo Mancher ſein, der ihn verſtehen
würde, wenn er ihm ſeine Bruſt öffnete, der ſich zu
ihm geſellen, der mit ihm weitergehen würde, wenn
er ſeine Sehnſucht und ſein heimliches Weh erfahren.
Oh! Wenn er riefe — gewiß! ſie würden kommen,
froh, daß ſie Einen und Andere gefunden, die ihres-
gleichen wären. Aber er ging weiter, in ſich ver-
ſunken, der Ruf erſtickte und erſtarb in ſeinem
Munde, er ſchrie nicht, er hatte nicht den Muth dazu.


Der Mond war durchgebrochen. Mit ſeiner
goldgelben, maſſiven, durch ihre ſcharfe Plaſtik und
Umriſſenheit geradezu aufdringlichen Fülle ſtand er in
einem See flimmernden, ſtahlblauen Aethers. Ihm
[406] zu Häupten und zu Füßen, an ſeinen Flanken hatten
ſich vielgeſtaltige, ungefüge Wolkengruppen hinge-
lagert, mächtige Wülſte und Kämme, Schichten, mit
ſich emporſträubendem oder herabfaſerndem, braun-
gelb beleuchtetem Geſtreif. Stetig wechſelte das Bild,
die Formen verſchwammen in einander und ſchoben
ſich zuſammen, gewaltige Thierleiber wuchſen heraus,
Drachengeſtalten und Krokodile mit klaffenden Rachen,
Wälle mit Burgen quaderten ſich empor .. und in
gigantiſchen Umriſſen quollen nicht zu verſchwollene
Profile von ungeheueren Menſchengeſichtern auf ..


Aber ſolange Adam mit den Augen der großen
Himmelsſcene entgegenging, ſtand der Mond unan-
getaſtet, wie in ſelbſtverſtändlicher Souveränetät, in-
mitten ſeines flimmernden, ſtahlblauen Aetherſees.
Und um ihn herum, von ſeinem gelbweißem Lichte
übergoſſen, das impoſante Spiel der Phaenomene,
die wurden, waren, geweſen waren und wiederum
wurden. —


Adam ſah nach der Uhr. Es ging auf die
elfte Stunde. Nun dachte er daran, ſich heimwärts
zu ſchlagen. Er war eigentlich recht abgeſpannt, er
hatte gar nicht mehr Alles beiſammen, worüber er
ſonſt verfügte. Und doch faßte ihn ein unklares
Gefühl an und hielt ihn zurück. Mechaniſch trollte
er ſich weiter. Es war ihm, als ob er vor ſich
ſelber immer mehr erlöſche, als ob ſich alles Geiſtige
in ihm verſtofflichte und zur Epidermis hinaustriebe,
hinauseiterte. Er mußte über dieſe Wahrnehmung
lachen, der Vorgang dünkte ihn zu dumm.


[407]

Nun war er mit einem Male in die Nähe des
bewußten Parkes gekommen. Es zog ihn hinein,
da drinnen mochte es noch mehr Leben geben, als
hier auf den ſchmalen Gaſſen der Vorſtadt. Und
plötzlich ſehnte er ſich nach dem Leben, wie es ſich
im zärtlichen Widerſpiel zweier Menſchen, die auf
einander geſtimmt worden, erfüllt. Das war wohl
ein kleinliches, ſchwächliches Gefühl. Er warf es von
ſich und ſuchte nach neuer Speiſe des Geiſtes. Er
dachte an Lydia, die ja ſeine Braut ſein ſollte. Er
blieb mitten auf dem Wege ſtehen, blinzelte zum
Monde hinauf, der eben die Finſterniß einer breit-
leibigen Wolke überwunden hatte und wieder in
ſeinen flimmernden, ſtahlblauen Aetherſee ſchoß. Adam
gab ſich alle Mühe, Lydias Geſicht im Geiſte deut-
lich vor ſich zu ſchauen. Es gelang ihm nicht, manch-
mal blitzte es vor ihm auf, jetzt glaubte er ſie deut-
lich zu faſſen, wie ſie zu ihm ſagte: „Ja! Du mußt
ſehr unglücklich ſein, Adam —“, aber nur eine Se-
kunde war's, Alles verſchwamm wieder, die Linien
der Züge wollten ſich in der Erinnerung nicht zu-
rückgewinnen laſſen, und auch der Ton ihrer Stimme,
auf den Adam horchte, ganz ſtill, mit verhaltenem
Athem horchte, flirrte nur in undeutlichem Surren
an ihm vorüber. Wie weit war ſie ihm, wie wenig
intim und unverlierbar gehörte ſie ihm, wie nach-
läſſig hatte er im Geiſte ihren Beſitz gehütet!


Hier und da, von den Bänken her in den Wald-
niſchen, an den Wegen, an den breiten und ſchmalen
Pfaden, gab es leiſe flüſternde Stimmen. Menſchen
[408] zu Zweien und Mehreren, ſchritten ſtill an Adam
vorüber, manchmal war's dem, als träumte er, als
wäre er emporgehoben und ſchwebte dahin, ſo leicht
erſchien ihm auf kurze Spannen das Gehen im
dünnen, feinen Staubmehle des Weges. Es war doch
Alles ſehr merkwürdig auf der Welt, man konnte
darüber ſtill vergnügt lächeln, alles Vielfältige, Zer-
riſſene und Vertheilte ſtand jenſeits dieſes verſchol-
lenen Reiches, in dem man ſo ganz vergeſſen durfte,
daß es ſehr rauhe Reibungen gab und ſo viele
Ecken, Kanten und Spitzen, an denen man ſich ver-
wunden ſollte.


Nun ſetzte ſich Adam auf eine Bank, die gerade
leer war. Er dehnte behaglich die Beine weit vor
ſich hin, ſteckte die Hände in die Hoſentaſchen und
brütete, nur die leiſeſten Wirbel in der Seele, vor
ſich hin, das kleine Stück Ringsum mehr von unten
herauf anblinzelnd. Vor ihm lag eine große Wieſe,
hoch, dicht, üppig ſtanden die Gräſer und Kräuter,
darüber plänkelte ein dünner, zartwolkiger, grauweißer
Nebel, dazu das blaſſe, verſchämt taſtende Aſchen-
licht des Mondes. Von jenſeits der Wieſe, aus
einem Garten wohl hinter der dortigen Waldwand,
kam verhaltene Muſik, der Wind ſchob verzettelte
Töne vernehmbarer dem Lauſchenden heran, der Ruf
eines Nachtvogels ſtieg aus den Lufthöhen nieder.
Nun ſchwieg die Muſik. Ein zuſammengeſchmiegtes
Pärchen, das ſich in brünſtiger Hingegebenheit mehr
trug als führte, ſchleifte ſich, laut athmend und
erregt tuſchelnd, vorbei, es verſchwand im Walde.
[409] Durch die Gräſer und Kräuter der Wieſe ſtrich ein
murmelnd aufblätternder und raſchelnd niederſegnen-
der Nachtwind. Adam war ganz allein, überant-
wortet den ſanften Gewalten der ſchwülen Sommer-
nacht. Er wurde müde, ſprach in bunter Willkür
Allerlei vor ſich hin, fuhr wieder empor, betaſtete
mit halblauten Worten ſeine verworrenen Gedanken,
ſchüttelte den Kopf und ließ ſich vom Schlafe wie-
derum übermannen ... Unterweilen wuchs die Som-
mernacht, Adam Menſch ſchlief, im Walde, auf einer
Bank am Wege, als hätte er, wie Unzählige ſeiner
Brüder und Schweſtern, keine andere Stätte, da er
ſein Haupt niederlegen könne. Und er war doch
heute erſt im Schooße der Schönheit und des Reich-
thums eingekehrt. —


Eine Stunde wohl ſaß ſo Adam in ſich zu-
ſammengekrümmt da und ſchlief. Nun mochte ein
kühlerer Athemzug des Nachtwindes an ihm gezupft
und ihn geweckt haben. Er ſchlug die Augen lang-
ſam auf, ſtarrte verblüfft ſeine Umgebung an und
richtete ſich aus ſeiner halbliegenden Stellung immer-
mehr in die Höhe. Allmählich kam ihm das Be-
wußtſein ſeiner Situation. Er lächelte ein klein
Wenig, war aber doch ſehr mürriſch und ſuchte nach
einer beißenden Gloſſe auf ſich. Er fand keine kräftige,
pointirte Wendung, die geiſtige Münzkraft ſchien,
ſich ihm ganz entzogen zu haben. Seine Glieder
waren ſchwer und ſteif, ein prickelndes Fröſteln durch-
zitterte ihn, ſeine Augen brannten, ſeine Stirn war
heiß, dicht über den Augen lag ein harter Druck
[410] mit trockenem, mechaniſchem Schmerze. Nun zog er
den Hut, der ſich arg verſchoben hatte, in ſeine ge-
wöhnliche Lage zurück, knöpfte ſeinen Rock zu und
ſtand auf. Das Gehen wurde ihm ſchwer, er konnte
den Kopf nicht bewegen, wie er wollte, der Hals
war ganz geſteift. Adam ſah nach der Uhr, es war
nach Mitternacht. Er ſuchte nach einer Cigarre,
gleichſam um außer ſich etwas Fremdes, etwas An-
deres zu haben, Etwas, das ihn begleitete, das dieſe
Einſamkeit, dieſe grenzenloſe Einſamkeit, die ihn zu
erdrücken drohte, zerſtreute, unterbrach, verſcheuchte,
wenigſtens mit ihm theilte. Er hatte keinen Genuß
an der Cigarre, aber das rothe, runde Auge ihrer
Brandſtätte tröſtete ihn. Mit großen, eiligen
Schritten ſuchte er aus dem Bereiche des Waldes
zu entkommen. Die große, monotone, aber ergreifende
Poeſie der Sommernacht bewegte ihn nicht mehr. Die
leidende Creatur konnte nicht über ſich hinausgehen.


Nun war er wieder in der Stadt, er hatte das
Pflaſter wieder unter den Füßen, die flankirenden
Häuſer ſchienen, wie ein geheimnißvoller Schutz,
eine innige Beruhigung auszuathmen. Die lähmende
Dumpfheit, die auf ihm gelegen hatte, wich zurück,
das Nervenleben erhöhte ſich wieder, die Sinne
wachten auf, das Leben pulſte von Neuem, wenn
auch immer matt noch und ſtockend. Das heftige
Laufen hatte ihn angeſtrengt, eine ſchwüle, ſchweißige
Schwere lag in ſeinen Gliedern. Jetzt wollte Adam
endlich nach Hauſe gehen. Es war Zeit dazu.
Allerdings, ob er würde ſchlafen können, bezweifelte
[411] er. Er fieberte immer noch ſtark, ſtechende Hitze-
ſchauer liefen an ſeinem Leibe auf und nieder. Wie
mechaniſch aufgezogen ſtapfte er vorwärts. Die
Cigarre war ausgegangen, er konnte ſich nicht dazu
bequemen, ſie wieder in Brand zu ſetzen, er be-
durfte ihrer ſchließlich auch nicht mehr. Jetzt ging
er eine breite Straße hinunter, die am Tage, beſonders
in den ſpäteren Nachmittagsſtunden, die belebteſte
der Stadt war. Am Himmel gab es immer noch
ſanfte, discrete Mondhelle, die Laternen brannten
eine um die andere, ſtill, kleinlaut, verträumt
ſtanden die gelbroten Flammen in ihren weißen
Glasbauern. Da und dort tauchte noch ein Menſch
auf, ein ſpäter Zecher, eine ſatte oder ſuchende
Vagantin, zuweilen auch ein kleiner Schwarm be-
haglich plaudernder Nachtwandler. Allerlei leiſes,
verworrenes Geräuſch ſummte um Adam herum,
ein kleiner Burſche mit einem Korbe verwelkter
Blumen, verwelkter Veilchen und Roſen, lief ihm
in den Weg, beinahe wäre er über das Kind ge-
ſtolpert, das ihn mit ſeinen großen, blöden Augen
im blaſſen, häßlichen, früh entwickelten und zer-
falteten Geſicht erſchrocken anſah. Adam mußte
einem jähen Einfalle folgen, er kaufte ſich ein ver-
welktes, nur noch ein ſchmutziges Parfüm aus-
athmendes Veilchenſträußchen und warf ein Markſtück
in den Korb. Die blauſchwarzen Blumen zog er
mit unendlicher Genugthuung ins Knopfloch und
lief weiter. Eine große, bohrende Leere war in
ihm, nur manchmal ſchoß ein Ballen verworrener
[412] Vorſtellungen und Gedanken empor, dann dünkte ihn
das Leben unerträglich ſchaal und überflüſſig, es er-
ſchien ihm als ein Dämon, als ein Ungeheuer, und
der Ekel vor ihm ſtellte ſich in einem zuſammen-
ſchnürenden, inneren Krampfe dar. Wieder überfiel
ihn das Gefühl ſeiner Einſamkeit, Alles hatte ſich
von ihm losgeſagt, er war allein, ganz allein. Er
wußte, daß er vor einem großen Unglück ſtände, er
biß ſich feſt hinein in die Furcht vor dieſem geheim-
nißvollen Unglück, er glaubte an dieſes Unglück, er
ſchauderte zurück, der Dämon wurde immer ge-
waltiger in ihm. Alles war ihm reizlos, er ver-
zweifelte. Die Leidenſchaften ſeiner Seele ver-
achtete er, die Lüge ſeiner Exiſtenz ging ihm in
ſchneidender Schärfe auf, vor ſeiner Verlobungs-
komödie mit Lydia ſpuckte er aus, er fühlte ſich
herabgewürdigt, er hatte ein dumpfes, unklares Ge-
fühl, als wäre er bis auf den Tod beleidigt, als
könnte er nach der Schmach, die ihn getroffen, die
er ſich hatte gefallen laſſen, nicht mehr leben. So
kam er auf den Tod. Er dachte an den Tod, er
haſchte nach klaren, ſcharfen Eindrücken vom Tode,
er wollte ſein Bild zwiſchen die Zähne des Geiſtes
ziehen und knirſchend zermalmen. Sie ſollte ihm
nichts mehr anhaben, die fahle, zerlöcherte Larve.
Aber er konnte das ſtachlige Gefühl wurmender
Todesfurcht nicht los werden, all' ſein Anſtemmen,
ſein Empören war vergeblich, ſchließlich ſummte er
mit verhalten gellender Wut vor ſich hin: „O
Thanatos, o Thanatos, wie ſchwarz ſind deine
[413]
Blätter —“ Er fürchtete den Tod, er liebte das
Leben, die Bewegung, das beflügelte Blut. Plötzlich
erſchien ihm das Leben ſehr werthvoll, er fand mit
auffallender Geſchicklichkeit tauſende ſeiner Reize,
ſeiner feineren, geiſtvolleren Freuden. Er beſchloß,
ſich das Leben um jeden Preis zu wahren, ſelbſt wenn
er ein Lump, ein Ehrloſer, ein Verbrecher darüber
werden ſollte. Zuweilen hatte er wohl in triſter Ent-
ſagungsphiloſophie gemacht. Er mußte jetzt über dieſe
Bubenſtreiche lachen. Er lachte laut, unheimlich laut.
Wünſche, Begierden, Hoffnungen, kühne, bedeutende
Hoffnungen ſproßten auf in ſeiner Bruſt. Er wollte
leben, wollte leben um jeden Preis. Was? Ent-
ſagen, ohne genoſſen zu haben? Da wäre der Tod
ein ſchlechter Witz ohne Pointe. Ah! das ver-
achtete Leben rächt ſich. Adam war damit ein-
verſtanden. Er wollte ſich an ſich ſelber rächen.
Und doch durchſchaute er den ganzen, brutalen
Egoismus des Weltapparats: die Reize und Freuden
des Lebens ſchoben ſich wieder zurück vor ihm, weit,
weit in einen dämmerungsverſchwommenen Hinter-
grund zurück. Vor ſich ſah er jetzt nur ſteinichte
Wege, zielloſe Bahnen. Das Andere lag ja Alles
nur in der beſtechenden Nähe, war Augenblicksgenuß
aus geſchwollener Börſe, mit vollen, kauenden Backen.
So dumm! Und doch gabs große, unabhängige, ge-
bundene Kräfte hier und da in beſonderen Menſchen-
herzen, die nach kosmiſcher Ungebundenheit lechzten.
Dabei lebten ſie ſich aus und entfalteten ſeltene
Schauſpiele. War's nicht der Mühe werth, da Zu-
[414] ſchauer zu ſein? Auch nicht, ſchließlich auch nicht.
Auch nicht der Mühe wert. Und dem Adam eben
noch in inſtinctivem Daſeinsgefühl zugejauchzt, das
ihn werthvoll gedünkt und begehrenswerth, verwarf er
jetzt und verachtete er. Eine große, trübe Leere
war in ihm ... und ſein Intereſſe am Weibe,
das immer ſo groß und ſo ſtark geweſen, und ſein
Intereſſe an der Kunſt und an der Natur mit ihren
magiſchen Troſtreizen zerſtäubte, zerfiel und erſtarb
in dieſer Stimmung, wo er nur noch lebte, weil
zufällig über ſeinen Organismus noch keine an-
dere, fremde, äußere Macht Herr geworden.


Adam ging an einem Nachtcafé vorüber. Sollte
er eintreten? Er hatte oft dort geſeſſen, hatte
manchen Scat mit Kameraden und Kumpanen dort
gedroſchen, manchen faulen Witz geriſſen und eine
ſchwere Menge Unflätereien angehört. Sollte er
eintreten? Es hatte keinen Zweck. Dieſe Talmireize
des Lebens ſind wirklich zu blöde und zu geſchmack-
los. Er ging weiter. Eine hellerleuchtete Bahn-
hofsuhr kam in Sicht. Es war Eins durch. Adam
blieb ſtehen. Eine gewaltige Sehnſucht packte ihn,
eine fanatiſche Sehnſucht in die Ferne hinein. Wenn
er ſich jetzt in den erſten beſten Zug warf und
hinausfuhr, war er all' den dummen, rüden Krempel
los, hatte er alle dieſe abgeſchmackten Lügen hinter
ſich, verſchwamm Alles, ſchlug Alles zuſammen hinter
ihm. Da war die Thür. Eine Pforte zu auch
einer Zukunft. Er ſchüttelte wehmütig den Kopf.
Ach! Er ſtak zu tief, zu tief im Schlamme dieſes
[415] verworrenen Lebens. Nun wollte er nach Hauſe
gehen, endlich nach Hauſe, auf dem kürzeſten Wege.
Er bog in eine ſchmale Gaſſe ein, die an ihrem
Ende breiter wurde. Da links war eine Lücke,
wenigſtens eine Art von Lücke, eine auffällige
Unterbrechung. Ein Haus wurde abgeriſſen. Einen
wüſten Schutthaufen gab's, grauſchwarz nahm ſich's
in der falben Monddämmerung aus, Balkenköpfe
ragten aus dem maſſiven Wirrwarr mit den ſtumpfen
Grenzen ihrer plumpen Formen heraus, verſchiedene
wie geſchundene Mauerreſte ſtanden herum, herab-
faſerndes Rohrwerk lugte aus einer verwinkelten
Hausecke. Und da war auch noch eine Tapete
ſichtbar, eine grünſchwarze Tapete. Adam war
über die Barrière, in deren Mitte eine trübe,
verſchlafene Oelfunzel blinzelte, geklettert und
verſuchte, ſich ſo weit als möglich der Wand zu
nähern. Es war ihm ein ungeſtümes Zucken, ein
nervöſes Prickeln in den Fingern, es trieb und
zwang ihn unwiderſtehlich, die Tapete zu betaſten.
Aber der Schutt war zu hoch und zu riſſig, zu klüftig,
er mußte umkehren. Und da kam ihm der Ge-
danke: wie ſieht die Tapete in deinem Arbeits-
zimmer aus —? Er beſann ſich, beſann ſich, er
konnte ſich der Farbe nicht erinnern. Der Gedanke,
die dumme, einfältige Frage hatte ihn gepackt und
ließ ihn nicht wieder los. Sie keilte ſich feſt in
ſeinem Gehirne. Er dachte nichts anderes mehr, er
fragte ſich nur immer und immer wieder nach der
Tapete in ſeinem Arbeitszimmer ... wie ſie aus-
[416] ſähe ... wie ſie ausſähe ... wie ſie ausſähe — dieſe
Tapete ... dieſe Tapete ... dieſe Tapete ...?


So lief er weiter, ſeiner Wohnung zu, je näher
er ihr kam, um ſo mehr eilte er, die Schwere ſeiner
Glieder war noch gewachſen, ſie war faſt unerträglich
geworden, ſeinen Kopf fühlte Adam wie eine ſchwere,
amorph verquollene Maſſe, er glaubte, ein dumpfes,
knurrendes Kreiſen in ſeinem Schädel zu verſpüren,
Alles war in ihm erſtorben, todt, wie aufgeſogen
von dem Einen, das er wie eine materielle Laſt in
ſeinem Gehirn empfand ... wie aufgeſogen von der
Frage, die immer wiederkam und ihn ganz ausfüllte —
von der Frage nach der Farbe ſeiner Tapete ...
Und er lief weiter in die Nacht hinein und keuchte
halblaut vor ſich hin: Tapete ... Tapete ...
Tapete ...


Nun ſtand er vor dem Hauſe, in dem er wohnte.
Er ſah unwillkürlich zu ſeinen Fenſtern hinauf.
Oben war Licht.


Adam ſchrak zuſammen. Wer war da oben?
Wer war in ſeinem Zimmer? Wer erwartete ihn
da? Wer? Wer? Wer? Wer lauerte auf ihn? Ah!
Das Unglück! Jawohl, das Unglück, das er ſchon
den ganzen Abend über geahnt hatte! Oder der
Tod? Oder der Wahnſinn? Wer ſaß da hinter
dieſen blaßerleuchteten Scheiben ... auf einem
Fauteuil ... auf dem Sopha ... irgendwo in
ſeinem Zimmer —? Wer kauerte unter dem Tiſche,
auf dem Teppich? Wer? Wer? Wer —?


Aber es konnte ja nicht ſein. Es war eine
[417] Täuſchung. Er ſchlich ſich über den Fahrdamm,
leiſe, ganz leiſe, als ob ihn Keiner hören ſollte ...
auch jener Unbekannte nicht, der da oben hinter den
blaßerleuchteten Scheiben ſaß, auch jener unbekannte
Gaſt nicht ... und ſchaute noch einmal empor.
Aber der matte falbe Lichtſchein blieb, er blieb, in
derſelben discreten Stärke, in derſelben monotonen
Gleichmäßigkeit, er blieb und blieb ... und blieb ...
und kein Schatten lief dort oben hinter den Scheiben
vorbei ...


Adam athmete tief auf. Er fürchtete ſich wohl
noch? War er denn ein Mann oder ein ſchlottriger
Bube? Mochte ihn doch dort oben erwarten, wer
wollte, wer Luſt dazu hatte — ha! er fürchtete ſich
nicht, gewiß nicht ... er würde jetzt hinaufgehen
und ſich mit eigenen Augen überzeugen ... und
dem Eindringling entgegentreten ... und ſich ihm
zum Kampfe ſtellen, wenn's ſein mußte — ja! —
wenn's ſein mußte —


Adams Hände zitterten doch ſtark, als er das
Schlüſſelloch ſuchte. Nun ging er die Treppen in
die Höhe, langſam, ſchwer athmend, immer langſamer,
er ſchleppte ſich hinauf, es lag eine dumpfe, ſchwere,
unabwälzbare Furcht auf ihm. Die Heimchen zirpten,
auf den Stufen winſelten blauſchwarze, ſchwindſüchtige
Mondſcheinſchatten.


Nun ſtand er auf dem Corridor, dicht vor ſeiner
Thür. Er horchte. Es war Alles ſtill, Alles todten-
ſtill hinter dieſer Thür. Nichts regte ſich, bewegte
ſich. Adam athmete ſchwer. Ein eingekrallter Druck
Conradi, Adam Menſch. 27
[418] würgte an ſeiner Kehle. Ha! Fürchtete er ſich denn
immer noch? Nein! Nein! Er brauchte ja bloß dieſe
Thür aufzureißen ... und er wußte, wer ihn er-
wartete ... er ſah Den, der die Hände nach ihm
ausſtreckte ... Es war zum Todtlachen! Er fürch-
tete ſich! Und jetzt plötzlich kam ihm der Gedanke
an die Tapete wieder, an die Farbe ſeiner Tapete.
Ha! Was ging ihn der an, der da hinter dieſer
Thür ſaß und ihn erwartete? Nichts! Nichts! Er
wollte ja nur wiſſen, wie die Tapete in ſeinem
Zimmer ausſähe — es war das Einzige, was ihn
noch auf der weiten, weiten Welt intereſſirte —
Alles andere war ihm ſo gleichgültig, ſo furchtbar
gleichgültig — — und wenn der Tod ... und
wenn der Wahnſinn ... und wenn irgend ein Un-
glück mit fletſchenden Zähnen hinter dieſer Thür
ſaß und auf ihn lauerte — was verſchlug's? Ha!
War denn das nicht ſchon der Wahnſinn, dieſe Wuth,
die in ihm brannte und biß und fraß, dieſe Wuth,
die Farbe ſeiner Tapete, auf die er ſich nun ein-
mal nicht beſinnen konnte, zu erfaſſen? War denn
das nicht ſchon der pure, blanke Wahnſinn? Alſo
denn los! Bebend legte Adam die Hand auf die
Klinke und riß die Thür auf.


Das Zimmer lag in ſtillem Frieden. Auf dem
Tiſche brannte ruhig die Lampe. Auf dem Sopha
ſaß Emmy. Sie war gegen die Lehne zurückgeſunken
und ſchlief. Langſam und ruhig, tief, ſicher, geſund
ging ihr Athem. Auf dem Tiſche lag ein auf-
geſchlagenes Buch.


[419]

Adam zog die Thür mechaniſch hinter ſich zu
und blieb dicht an der Schwelle ſtehen. Mit großen,
ſtarren Augen ſchaute er auf die friedliche Idylle
hin, die in klaren Linien, in ſcharfer Plaſtik vor
ihm lag. Ein Fenſter war offen, ein warmer
Nachthauch ſäuſelte flüſternd herein, leiſe kniſterte
das Licht der Lampe.


Adam athmete tief auf. Er nahm den Hut ab
und fuhr ſich mit der linken Hand über Augen und
Stirn. Es war ihm, als glitte Etwas von ihm
nieder, fiele von ihm ab, er glaubte, eine wirkliche,
gegenſtändliche Erleichterung zu verſpüren, er war
phyſiſch entlaſtet, er fühlte ſich plötzlich freier und
beweglicher, ſeine Glieder waren flüſſiger geworden.
Der Spuk, vor dem er ſich wie ein unmündiger
Knabe gefürchtet, vor dem er gezittert, war zerronnen,
er war gerettet. Ein unendlich wohlthuendes Gefühl
der Geborgenheit kam über den Gefolterten und
Abgehetzten.


Adam ſtand immer noch dicht an der Schwelle.
Unwillkürlich ſcheute er ſich, durch das Zimmer zu
gehen, er wollte Emmy, die tief und feſt zu ſchlafen
ſchien, nicht aufwecken, er ſog ſich feſt an dem Bilde,
das ſein Auge ſchaute, ſog ſich feſt mit der heißen,
intimen, ungeſtümen Dankesinbrunſt des Geretteten.
Er fürchtete, durch einen lauten, zu lauten Schritt
die holde Phantaſie zu verſcheuchen — und dann,
das wußte er, war er ja wieder ihr verfallen, der
zerſchnürenden Furcht — und ihm, dem zer-
wühlenden Wahnſinn. Nun wurde Emmy unruhig.
27*
[420] Das in ihre Umgebung neu eingetretene Moment
lockerte wohl die Decke ihres Schlafes. Ihr Kopf rutſchte
einige Male, wie ſuchend, wie in der Abſicht, ſich
zu entwirren und ſich einem anderen, dem wirk-
lichen
Leben wieder anzupaſſen, hin und her, der
Mund, der vorher ein klein Wenig geöffnet geweſen,
ſchloß ſich, nun ſchlug ſie die Augen auf, noch ein-
mal fielen die Lider nieder, jetzt wurden ſie abermals
mit jähem Rucke emporgezogen, die weit geöffneten
Augen ſtarrten Adam wie eine fremde, unheimliche
Erſcheinung an. Das Weib ſchnellte empor, ſank
wieder zurück —: „Adam! — Mein Gott! Ich
habe wohl geſchlafen —? Aber Du biſt lange ge-
blieben —! — Wo bin ich denn nur —? —“


„Bei mir, Emmy — und ich danke Dir, daß
Du hier biſt —“ Das hatte Adam in faſt feier-
lichem Tone geſprochen. Er war mit ſteifen, cor-
recten Schritten durch das Zimmer geſchritten, als
wäre er zum Automaten eingedrillt. Emmys Blicke
waren erſtaunt ſeiner Curve gefolgt. Es lag ein
ſtummer Schrecken, der ſich nur noch nicht ordentlich
hervorwagte, in ihren Augen.


„Ich habe lange auf Dich gewartet —“ begann
ſie leiſe, zaghaft — „ſei mir nicht böſe, Adam —
nachher bin ich wohl eingeſchlafen — ich hatte erſt
geleſen — aber ich hatte keine Ruhe mehr — Du
hätteſt doch 'mal zu mir kommen können, Du
Böſer —“


Adam ſtieß ein rauhes, gezacktes, blechernes
Lachen aus: „Ah! zur Mätreſſe dieſes — dieſes
[421] — na! wie heißt denn der Bengel —? — alſo
na ja! — Was? hä! das wäre famos geweſen! ...
Da mußt Du Dir aber andere Liebhaber ausſuchen,
Zerlinchen! ... Ich bin zu gut für ſo 'ne ver-
fluchte Hurenbagage, wie Ihr alle zuſammen — —“


„Adam! Mein Gott! was iſt Dir denn —?
Iſt Dir was paſſirt —? Und was ſtarrſt Du
denn die Tapete ſo an? Mein Gott! Das iſt ja
furchtbar — Du biſt ja — — Adam —!“


Emmy war aufgeſprungen und ſtand jetzt zwiſchen
der einen Sophalehne und dem Tiſche. Sie war
blaß geworden, zitterte und mußte ſich rechts und
links mit den Händen feſthalten.


Aus der Tiefe des Zimmers ſchlich Adam auf
den Zehen der Wand zu. Der Leib war vorn-
übergebeugt, der Kopf zwiſchen die Schultern ge-
zogen, die ganze Geſtalt trug die krampfhafte Ge-
ſpanntheit eines Irrſinnigen. Zufällig war ſein
Blick vorhin auf die Tapete über dem Sopha ge-
fallen, war einen Moment dort haften geblieben.
Und da war die Erinnerung aufgezuckt und hatte
ihm den Gedanken zurückgebracht, der ihn auf ſeiner
Irrfahrt ſo müde gehetzt. Ha! das war's ja!
Das hatte er ja wiſſen wollen — alles Andere —
die Furcht vor dem dunklen Etwas, das da oben
auf ihn lauerte, war ja nichts geweſen — nichts —
nichts — gar nichts — gegenüber dieſer fürchter-
lichen Neugier auf die Farbe ſeiner Tapete ...
Und nun hatte er die Tapete vor ſich. Ha! Die Beſtie
konnte ihm nun nicht mehr entſchlüpfen, er würde
[422] ſie ſchon kriegen — ha! jetzt mußte ſie Farbe be-
kennen — jetzt war ſie geliefert! — Nichts half ihr
mehr — nichts —! —


Emmy wollte ſich Adam entgegen werfen. Er
ſchleuderte ſie auf die Seite und ſtürzte ſich auf die
Wand. Mit geballten Fäuſten trommelte er wie ein
Verrückter auf der Tapete herum, daß es verſchluckt-
dumpf von der Steinmauer widertönte, er krallte die
Fingernägel ein und kratzte gerippte Fetzen herunter.
Seine Hände ſchmerzten ihm nicht, ſeine Augen waren
weit aufgeriſſen und brannten in unſtäter Flamme.
„Ha! Alſo dieſe dummen, lehmgelben Fratzen haſt
du, Beſtie — und drunter ein ſo blödes, ſchauder-
haftes Grau — ha! wie dieſe ſchönen gelben Blätter
und Ranken — und — und die kleinen niedlichen
Figürchen — — na ja! — na ja! — — hahaha
— ach! — dieſe Mätzchen — hähähä — dieſe
Mätzchen — und — und ...d — d — d —
da — b ... b ... bildet ſich — bildet ſich ...
hähähä ... es iſt zum Todtſchreien — Todtſchreien
— Todtſchreien — Todtſchreien — zum Todt-
ſchreien! — na ja! na ja! — denke du — du
Weib! — Weib! — Weib! nun denke 'mal: da
bilden — bilden ſich dieſe bezechten Ara — arab ...
b ... b ... b ... besken noch was druf in —
zu dumm! — zu dumm! — und das iſt alſo das
Ganze — ach! ach — mir iſt grenzenlos elend
ums Herz — das ... das Denken hat ſie mir ver-
brannt — die verfluchte Beſtie — und nun iſt's
wieder 'mal niſcht — niſcht — gar niſcht — —
[423]
— ab — ſo — lut niſcht! Ach! Iſt das lang-
weilig — —“


Adam ſickerte ſich aus, verſtummte nun, ſchob
ſtöhnend die Arme über einander, preßte ſie taumelnd
gegen die Wand und legte den Kopf darauf, als
wäre er müde, todtmüde, als wollte er von all dem
elenden, verwirrenden Lebenskram nichts mehr hören
und ſehen —


Emmy hatte ſich gefaßt. Zuerſt war ſie von
einer lähmenden Furcht befallen worden. Die Worte
waren ihr im Munde ſtecken geblieben, ſie hatte dieſe
Scene eines unzweifelhaften Irrſinns nicht unter-
brechen können. Nun raffte ſie ſich auf — wie gut
war es doch, daß ſie hier war, daß ſie ihrem Drange,
Adam zu ſehen und zu ſprechen, ob er ſie geſtern
auch impertinent genug behandelt hatte, doch noch
nachgegeben! Sie zuckte zuſammen bei dem Ge-
danken, wie furchtbar es geweſen wäre, würde Adam
heute allein, ſich ſelbſt überlaſſen geblieben ſein.
Leiſe trat ſie zu ihm hin: „— Komm, Adam! Sei
wieder gut! Du biſt krank — Du haſt Fieber —
was geht Dich die dumme Tapete an! Komm! Setz'
Dich hierher aufs Sopha — komm! —neben
mich ... Du biſt ſo heiß — ſoll ich Dir kalte
Umſchläge machen —? Du wirſt ſehen: es wird
bald beſſer werden, wenn Du Dich nur ruhig hältſt ...
Und ſiehſt Du: ich bleibe bei Dir — ja —? Willſt
Du —?“


Sie hatte den Kranken ſanft bei den Armen ge-
faßt und aufs Sopha gezogen. Müde, ganz ent-
[424] kräftet und haltlos lehnte Adam das Haupt zurück.
Er ſchloß die Augen. Er fühlte ſich unſäglich elend,
er hätte weinen mögen, nun ſchluchzte er leiſe auf.
Und doch war es ihm ein liebes, ſtilles Troſtgefühl,
daß Emmy in ſeiner Nähe war.


Die hatte das Fenſter geſchloſſen und die Vor-
hänge zuſammengezogen. Nun ging ſie nach dem
Schlafzimmer hinüber und ſuchte nach Leinen für die
kalten Umſchläge. Sie kam mit dem Waſchbecken
zurück, rückte einen Stuhl neben das Sopha und
begann ihr Liebeswerk. Die „Sünderin“ war zur
Samariterin geworden.


Allmählich wurde Adam ruhiger, das unendlich
wohlthuende Gefühl der Geborgenheit kam wieder
über ihn. Er träumte leiſe vor ſich hin, ſchlief
wohl öfter auch einmal eine kleine Weile, dann
ſickerte er wieder zum Leben, zum annähernden Be-
greifen ſeiner momentanen Lage zurück. Einmal
flüſterte er „Leni“ vor ſich hin. Emmy hatte ſich
neben ihn geſetzt, ſie ſah ihn mit ihren großen,
dunklen Augen traurig an, manchmal ſtrich ſie leiſe,
liebkoſend mit ihrer kleinen, glatten, kühlen Hand
über ſeine Stirn oder ließ dieſe kleine, feſte,
kühle Hand ſeiner Hand, die immer wieder
nach ihr ſuchte ... Die liebe Tröſterin hatte das
Buch wieder vorgenommen und las ab und zu ein
paar Zeilen. Oefter blinzelte ſie Adam von ſeiner
verdämmerten Sophaecke aus an und genoß mit
leiſem Behagen die hellen, klaren Linien ihres ſchönen
Profils. Da ſie ihn alle verlaſſen hatten, war ihm
[425] die „Sünderin“ treu geblieben. Nun tickte es ihn
aber doch nieder, verhalten war ihm der arge Ge-
danke gekommen, er konnte ihn nicht unterdrücken,
nicht hinunterſchlucken, mit einem matten, ironiſchen
Lächeln begann er: „Du biſt wohl eigentlich ge-
kommen, Emmy — — Du haſt wohl gedacht — —
ja! ſiehſt Du — dazu bin ich heute nun doch zu
ſchwach — haha — ich — ich — na! warte nur
— wir holen's nach, mein Liebchen —“


„Aber Adam —! Was fällt Dir ein —!“


„Nu ja! Geſtern habe ich Dich doch ſo quasi
'rausgeſchmiſſen — und heute kommſt Du — aber
es iſt doch brav von Dir, Du armes, verrathenes
Kind — brav — na warte! — morgen —
morgen — —“


„Sei ſtill, Adam! Thu' mir den Gefallen! Wir
reden morgen davon ... Aber willſt Du nicht lieber
zu Bett gehen —? Hier kannſt Du doch nicht
bleiben ... Ja? — Komm! Ich führe Dich hin-
über ... Nachher rücke ich mir 'n Seſſel neben
Dein Bett und wache bei Dir ... Das iſt das
Beſte — komm!“


Adam gab nach. Es war ihm auch ſo gleich-
gültig, was mit ihm geſchah. Emmy brachte ihn
zu Bett. Sie war um ihn herum, wie eine Mutter,
die ihr krankes Kind wartet und pflegt und beſorgt
in ſichere Hut birgt. Mit ſeiner Discretion, mit
tactvollſter Gewandheit brachte ſie den Erſchöpften
auf ſein Lager zur Ruhe. Dann zog ſie einen
Fauteuil neben ſein Bett und ſetzte ſich zu ihm. Leiſe
[426] küßte ſie ihn auf die Stirn und gab ſeinen heißen,
ſchweißigen, teigigen Fingern ihre kleine, glatte, kühle, feſte
Hand zurück. „Nun ſchlaf' ſüß, Geliebter, und
träume von mir —“ flüſterte ſie ihm leiſe zu und
fühlte, wie ſie erröthete. Wie gut war es, daß er
ſie nicht ſah und nicht dieſes Erröthen bemerkte!
Adam lächelte matt. Schon zogen die letzten ver-
worrenen Tagesgedanken von ihm. Bald war er
eingeſchlafen. Leiſe entzog ſie ihm ihre Hand und
lehnte ſich zurück. Allerlei buntes Zeug ſchwirrte
und flog noch durch ihren Kopf, ſie ſtarrte noch eine
Weile vor ſich hin in die dämmrige Nacht. Dann
fielen auch ihr die Augen zu. —


Draußen huſchten die erſten, ſcheuen Frühlichter
über den Horizont. —



[[427]]

XIX.


Als Adam erwachte, lag die Sonne in breiten
Licht- und Wärmemaſſen im Zimmer. Die Luft
war ſchwül, ſchweißdurchdünſtet. Adam hob den
Kopf aus den Kiſſen und ſah ſich um. Allmählich
kehrte ihm die Erinnerung zurück, er entſann ſich,
wie es gekommen war, daß Emmy da im Seſſel,
kaum einen Schritt von ihm entfernt, ſaß und ſchlief.
Ach ja! Das war geſtern ein böſer Tag ge-
weſen und ein wüſter Abend. Aber nun war der
Spuk verflogen, das kleine Weib da hatte ſeine
letzten ſchwarzen Schatten zu verſcheuchen gewußt.
Adam fühlte ſich heute wohler, im Ganzen geſtärkt
und gekräftigt, wenn er auch noch eine träge Schwere
und Mattigkeit in den Gliedern verſpürte und einen
heftigen Schmerz im Hinterkopf. Auch das Genick
war ſteif geworden, jede Bewegung zuckte ſtechend
in den Schläfen nach. Adam beſchloß, leiſe aufzu-
ſtehen. Die Zeit lief auf Neun, es war alſo ſchon
ſpät genug. Aber Emmy konnte noch ruhig weiter
ſchlafen. Ihr Athem ging tief und langſam. Der
Kopf ruhte in halber Wendung nach links zwanglos
an der Lehne, auf der Stirn ſtanden ein paar kleine
[428] Schweißtropfen. Die Decke war ihr von den Knieen
auf den Teppich hinabgeglitten, die oberſten Knöpfe
des Kleides waren ihren Oeffnungen entſchlüpft,
discret ſchimmerte das Weiß vom Spitzenbeſatze des
Hemdes durch den ſchmalen Spalt.


Adam erhob ſich, kleidete ſich nothdürftig an
und ſchlich nach ſeinem Arbeitszimmer hinüber. Er
öffnete das Fenſter, unten auf der Straße trieb
rüſtig das Leben. Da drüben auf der anderen
Seite hatte er geſtern Abend ... hatte er heute
Nacht geſtanden, und nach hier hinaufgeſtarrt. Und
jetzt lag der helle Tag da unten, und allerlei buntes
Menſchenvolk zog an der Stätte vorüber, da er noch vor
ein paar Stunden — denn länger war's doch nicht
her — geſtanden, mutterſeelenallein geſtanden, mutter-
ſeelenallein in der ſchweigenden Nacht. Und doch
dünkte es ihn, es wäre das ſchon lange, lange her,
viele, viele Jahre. Er war heute ein ſo ganz An-
derer, wohl war kaum das Bewußtſein intimer
Fülle in ihm, aber doch durchzitterte es ihn wie
eine Ahnung, daß es in ein anderes Geleiſe einge-
lenkt. Dies und das kam noch zu ihm in ſeiner
ſtillen Morgenſchau an loſen Erinnerungen, die Er-
lebniſſe der jüngſten Tage mitbrachten. Hui! Er
war ja auch Bräutigam, glücklicher Bräutigam ...
und das war jedenfalls das Curioſeſte von Allem,
worauf er ſich in dieſer Stunde beſinnen mußte.


Nun beſtellte er ſich ſeinen Kaffee und machte
Toilette. So viel Zeit war gar nicht mehr übrig.
Um elf Uhr fuhr der Zug, mit dem Lydia abreiſen
[429] wollte — und — nein! ... es ging wohl doch
nicht an, daß er die Abſchiedsſcene verſäumte. Er
mußte ſich ſchon bei Zeiten an den obligaten Biß in
den bewußten ſaueren Apfel gewöhnen.


Da ſchlug die Glocke der elektriſchen Klingel
heftig an. Adam horchte erſtaunt auf. Das mußte
etwas Beſonderes zu bedeuten haben. Im nächſten
Augenblick wurde auch ſchon die Thür ſeines Zimmers
aufgeriſſen und Hedwig ſtürzte herein.


Adam war nicht im Stande, ein Wort hervor-
zubringen. Er ſtarrte das Weib an, das todtenblaß,
keuchend, mit fliegenden Gliedern, verſtörten Mienen,
unſtet umherirrenden Augen vor ihm ſtand. Er ſprang
nicht hinzu, als Hedwig jetzt ſchwankte, zuſammen-
brechen zu müſſen ſchien und ſich nur noch im
letzten Augenblick am nächſten Thürpfoſten feſt-
klammerte.


„Adam —!“ ſtieß ſie aufſtöhnend heraus —
„mein Gott —! ich kann nicht mehr — daß iſt zu
viel — mein Vater — o Gott! — mein armer
Vater iſt — iſt — todt ... oh — —“


Das Aufkreiſchen der Stimme bei dem Worte
„todt“ riß Adam aus ſeiner Erſtarrung. Zuerſt
wußte er nicht, was dieſer kurze, ſchneidende Laut
ihm ſagen ſollte, jetzt wurde ihm ſein Inhalt plötz-
lich klar — nein! das war ja nicht möglich —
nicht möglich —


„Hedwig —! Beſinne Dich —! O Gott! Das
kann ja nicht ſein — kann ja nicht ſein —“


„Todt —“ wiederholte das Weib nur, leiſe,
[430] dumpf, der Kopf war haltlos auf die Bruſt herab-
geſunken, die groß aufgeriſſenen Augen ſtierten vor
ſich hin —


Adam war zu Hedwig hingetreten — „komm —!“
ſagte er leiſe — „beſinne Dich, Hedwig —! Das
iſt ja nicht möglich — komm zu Dir — hier ſetz'
Dich nieder — ſoll ich Dir 'n Schluck Waſſer
bringen — es iſt nur ſo warum — oder etwas
Rum — ich habe auch Portwein — warte —“


„Nein —! nein —! Laß doch, Adam, laß
doch —!“ wehrte Hedwig mit merkwürdig haſtiger,
eindringlicher, im Ton ganz veränderter Stimme
ab —


Adam rollte den Seſſel in ihre Nähe. Dabei
bemerkte er, daß Emmy's Hut auf dem Plüſchſitze
lag. Das war doch recht fatal. Aber ſchon hatte
er den Hut, ohne daß er es gewollt hätte,
ergriffen und auf den Tiſch gelegt. Hedwig war
mechaniſch ſeinen Bewegungen gefolgt.


„Was haſt Du da —?“ fragte ſie mit rauher,
zeriſſener Stimme.


In dieſem Augenblick ſchlug Emmy die Portière
auseinander und trat ein. Adam ſah ſich halb un-
willig, halb erfreut nach ihr um.


„Ah! Auch das noch —?“ ſchrie Hedwig auf
und ſchlug die Hände vor die Augen. Sie ſchwankte.
Adam und Emmy ſtürzten hinzu, hielten ſie auf
und legten ſie langſam, behutſam in den Seſſel.


Das arme Weib ſchluchzte einmal tief auf, dann
ſank es zuſammen.


[431]

„Schnell Eau de Cologne her —!“ rief Emmy
und rieb der Ohnmächtigen Schläfen und Stirn ein,
als Adam das Waſſer gebracht hatte.


Nach einer Weile kam Hedwig wieder zu ſich
und ſchlug die Augen auf. Mit jähem Schrecken
erkannte ſie ihre Umgebung, erkannte ſie Emmy
neben ſich — ſie wollte ſich emporraffen, ſie haſtete
mit den Händen an den Lehnen hin und her —
„gehen Sie —! laſſen Sie mich —!“ ſtöhnte ſie —
„rühren Sie mich nicht an —“


„Na! hab' Dich nur nicht ſo —!“fuhr es
Adam barſch heraus, dem die ganze Scene ſchon
ſehr unbequem geworden war. Er drehte ſich ein
Wenig ab und ſetzte das Glas Portwein, das er in
der Hand gehalten, unwillig auf den Tiſch.


Emmy war unwillkürlich einen Schritt zurückge-
treten. Sie ſah Adam traurig-fragend an, ſie wußte nicht,
ob ſie bleiben oder gehen, ob ſie die beiden allein
laſſen ſollte, oder — oder —? — ſie war ganz rathlos.
Das arme, gefolterte Weib da vor ihr im Seſſel that
ihr ſehr leid, ſie erkannte es aus der Engler'ſchen Wein-
kneipe wieder, ſie fühlte ſich zu ihm hingezogen, ſie ſagte
ſich, daß Adam Beziehungen, jedenfalls ſehr intime
Beziehungen zu ihm hätte — und wie ein Gefühl von
Haß ... von Haß — wie ein heißes, wüthendes
Erpichtſein auf Rache und Vergeltung an dem Herz-
loſen ſchoß es ihr brennend auf in der Bruſt.


Wieder verſuchte Hedwig aufzuſtehen, ſie ſtützte
ſich krampfhaft auf die niedrigen Seitenwände des
Fauteuils, aber ſie war zu ſchwach, ſie ſank wieder zurück.


[432]

„Beruhigen Sie ſich doch, liebes Fräulein —“
bat Emmy leiſe, zaghaft — „mein armer Vater —“
ſtöhnte Hedwig —


Adam ſtand daneben, es war ihm ſehr unbe-
haglich zu Muthe, er mußte es wohl doch glauben,
daß Irmer nicht mehr lebte, aber er konnte das
hülfloſe Weſen da doch jetzt unmöglich erſuchen,
ihm nähere Auskunft zu geben — und er ſchrak
auch davor zurück, jetzt Einzelheiten zu erfahren, er
fühlte, daß ſie ihn quälen, aufregen würden ...
und er hatte nicht den Muth, er war zu feige, um
ſich die Kraft zuzutrauen, die engeren Umſtände von
Irmers Tode einigermaßen ruhig hinzunehmen.
Aber Etwas mußte doch geſchehen, die Situation
ſtockte peinlich, er mußte doch auch ein Wort zu fin-
den wiſſen, auszuſprechen wiſſen, er mußte doch
Hedwig zeigen, daß er mit ihr litte, daß ihr Schmerz
auch der ſeine wäre, daß ſie auf ſein vollſtes Ver-
ſtändniß zu rechnen hätte ... Und da erinnerte er
ſich, daß er ihr geſtern die tauſend Mark geſchickt,
ſie hatte ſie wohl noch nicht erhalten, aber es mußte
doch beruhigend auf ſie wirken, wenn ſie die That-
ſache erführe, damit war doch wenigſtens eine Sorge
ihr von der Seele genommen. Und doch zögerte
er, es nahm ſich ſo auffällig aus, jetzt mit dem
Gelde zu kommen, aber die Frage glitt ihm ſchon
wider Willen über die Lippen: „Haſt Du das Geld
bekommen, Hedwig —?“


Die Gefragte ſchlug langſam die Augen zu ihm
auf, ſtarrte ihn erſt eine Weile verſtändnißlos an,
[433] dann fragte ſie mechaniſch, mit dumpfer, verſchleierter
Stimme, als wüßte ſie nicht, was ſie ſich unter
ſeiner Frage denken ſollte: „— Geld —? — was
für Geld —?“


„Nun, die tauſend Mark, von denen Du mir
ſchriebſt — ich habe ſie geſtern an Dich abgehen
laſſen —“ erwiderte Adam, einen gewiſſen Ton des
Stolzes und der Befriedigung in der Stimme. Auch
Emmy mußte er damit imponiren.


Hedwig ſtarrte immer noch zu ihm in die Höhe,
ſie wußte nicht, was er meinte, ſie verſtand ihn
nicht — „tauſend Mark —?“ wiederholte ſie ebenſo
mechaniſch, ſie ſchüttelte ein Wenig den Kopf — was
wollte er nur von ihr —?


„Na ja!“ fuhr Adam ärgerlich auf — „Du
haſt mir doch des Langen und Breiten davon ge-
ſchrieben — erinnerſt Du Dich denn nur gar
nicht —?“


„Tauſend Mark —?“ Hedwig ſchüttelte wieder
den Kopf. Plötzlich fragte ſie, aber eigentlich nur
ganz gleichgültig: „— wo haſt Du denn das Geld
her —?“ Sie ſchien durchaus keine Antwort da-
rauf zu erwarten.


Adam zuckte zuſammen. Zuerſt verblüffte ihn
dieſe Frage. Er war nicht gefaßt geweſen auf ſie.
Nun ſchoß ihm ein teufliſcher Gedanke durch den
Kopf. Wär's nicht am Beſten, jetzt ſofort — und
auch vor Emmy ſogleich! — zwei Fliegen mit der be-
wußten einen Klappe zu ſchlagen? Mit der Wahrheit
herauszurücken? Den Zuſammenhang aufzudecken?
Conradi, Adam Menſch. 28
[434] Dieſem Weibe, das da hülflos und gebrochen, ent-
ſtellt, baar aller Reize der Jugend und der Kraft,
vor ihm im Seſſel lag — dieſem Weibe, das er
nicht liebte, mit dem er kaum Mitleid empfand, das
er jetzt faſt ſo etwas — ſo etwas wie — verabſcheute
— war's nicht am Beſten, dieſem Weibe ruhig zu
geſtehen, wie ... woher er die tauſend Mark ſich
verſchafft —? Wer ſie ihm gegeben hatte —? Ah!
Oder war es doch eine Grauſamkeit, eine brutale
Grauſamkeit, der Wahrheit jetzt, unter dieſen Ver-
hältniſſen, in dieſer Stunde, die Ehre zu geben —?
Nein! Er brachte es doch nicht über's Herz. Nein!
doch nicht! Aber — einmal mußte es ja doch ſein
Einmal ja doch! Und wenn nicht heute, ſo mor-
gen! Dieſes verfluchte Aufſchieben! Immer und
ewig dieſe überflüſſige Rückſicht! Die brutale Rück-
ſichtsloſigkeit gegen Andere und gegen das eigene
feige, zimperliche und noch dazu erzegoiſtiſche
Schonungsgefühl iſt das einzige Fortſchritts- und
Entwicklungsprincip im Leben. So? Wirklich?
Alſo — alſo drückte Adam alle zarteren Gedanken
die ihm aufſtiegen, gewaltſam nieder und fragte noch
einmal mit affektirter Ruhe, im Grunde aber nur,
um innerlich mit dem letzten Reſte ſeiner Rückſicht
und Scheu, auf welche ſeine Natur urſprünglich allein
geſtimmt war, fertig zu werden —:


„Woher ich das Geld habe —? Hm!“ — jetzt
erfolgte eine letzte, kurze Pauſe, dann ſtieß er ton-
los, ſtockend, doch zugleich mit ſehr forcirter Be-
ſtimmtheit heraus: „Nun! von meiner — Braut —“
[435] Aber wie um eine unmittelbare Antwort Hedwigs
zu verhindern oder doch in irgend einer Weiſe ab-
zuſchwächen, erläuterte er haſtig: „— das heißt —
das heißt — vorher — ehe — das kam natürlich
ſo — —“


„Von wem —?“ fragte Emmy unwillkürlich
und ſah Adam erſchrocken an. Der war froh, daß
er durch Emmys Zwiſchenfrage wenigſtens äußerlich
einen anderen Partner, zu dem er ſprechen konnte,
bekommen hatte — war froh, daß die Auseinander-
ſetzung nicht unmittelbar zwiſchen ihm und Hedwig
ſtattzufinden brauchte. Eine gewiſſe Rückſicht, zu der
er ſich Hedwig gegenüber immerhin unwillkürlich
hätte bequemen müſſen, durfte er nun fallen laſſen.
Und das war ihm ſehr lieb. Denn der barſche,
ungeſchlachte, rauhbeinig-rückſichtsloſe Ton, den er
anſchlagen wollte, verdeckte viel beſſer ſein inneres
Widerſtreben, ſeine innere Zaghaftigkeit, die er trotz
aller Anſtrengung nicht loszuwerden vermochte.


„Von meiner Braut, wenn Sie nichts dagegen
haben, mein Fräulein —!“ wiederholte alſo Adam
laut, trotzig. Er ſah dabei Emmy herausfordernd
an und ſtellte ſich, als bemerkte und fühlte er den Blick
troſtloſen Entſetzens nicht, mit dem Hedwig ihn an-
ſtarrte.


Ein ſchwüles, beklemmendes Schweigen war ein-
getreten. Adam wollte ſchon die Gelegenheit be-
nutzen, ſich von dem unmittelbaren Kriegsſchauplatze
unauffällig ein Wenig in den Hintergrund ... viel-
leicht in's Nebenzimmer ... zu ſchwindeln —
28*
[436] als Hedwig plötzlich mit einem jähen, krampfhaften
Sprunge in die Höhe fuhr, auf Adam losſtürzte
und aufkreiſchte: „— was haſt Du da geſagt —?
Sag's noch 'nmal! Mein Gott! Bin ich denn
verrückt —? Bin ich denn wahnſinnig —?“ Und
dann ein heiſerer, erſchütternder Nothſchrei, der be-
wies, daß ſie den Zuſammenhang ſo ziemlich er-
rieth —: „Adam —!“


Der wich einen Schritt zurück, „Hedwig —!“
ſtotterte er, Emmy ſprang hinzu, faßte die Tau-
melnde und verſuchte, ſie wieder auf den Seſſel hin-
abzuziehen.


Aber es war, als ob plötzlich eine fremde Kraft
über das arme, unglückliche, in ſeinem tiefſten Elende
aufſchreiende Weib gekommen wäre: es ſchleuderte
Emmy bei Seite, klammerte ſich mit ſeinen dünnen,
mageren Fingern am linken Arme Adams feſt
und kreiſchte ihm entgegen: „Ah! Ich weiß — ich
weiß — Canaille! Ich verſtehe Dich, Du Schuft!
Loskaufen haſt Du Dich wollen — haſt mir mein
Sündengeld hinſchmeißen wollen, weil Dir eine
andere beſſer gefällt — weil Du mich ſatt hatteſt
— weil — weil — — o Gott! Und Alles habe
ich Dir gegeben — habe Dir geglaubt — und nun
behandelſt Du mich wie — wie — — nun giebſt
Du mir 'n Fußtritt — was hab' ich Dir gethan,
daß Du mich ſo wegwirfſt — ſo zertrittſt —? —
Meinen Vater haſt Du ermordet, meinen armen,
alten, unglücklichen Vater — nichts war Dir heilig
— nichts — nichts — Alles haſt Du mit Füßen
[437] getreten — meine — meine Ehre — meine — ach!
Aber ich war ja ſchon ſo Eine, nicht wahr —? ſchon ſo
Eine, wie die da, wie die Dirne da, die man mit
Geld abfindet, wenn man ſie los ſein will — all-
mächtiger Gott! nur 'n Wahnſinniger kann Deine
Verruchtheit begreifen — und ich ſchleppe mich her
zu Dir — von der Leiche meines Vaters weg —
an Allem verzweifelte ich — ich hatte Dich nur
noch — nur noch Dich — ja —! — und — und
nun verleugneſt Du mich — und jagſt mich hinaus
— nun ſagſt Du Dich von mir los — Alles ver-
läßt mich — Alles — Alles — — Canaille! —
Auch mich haſt Du auf'm Gewiſſen — hier! das letzte
Wort meines todten Vaters an Dich — todt iſt er
— ja! — todt — todt — todt — todt — hörſt
Du — — ich möchte mich zerreißen, um das
Furchtbare nur zu begreifen — und ich — o Gott!
— ich kann's nicht faſſen — kann's nicht — kann's
nicht — ach! ich muß wohl ſchon wahnſinnig ſein,
daß ich nicht erſticke an meiner Verzweiflung — —“


Adam hatte einen Augenblick geglaubt, unter der
Anklage des verzweifelten und verrathenen Weibes
zuſammenbrechen zu müſſen. Er wußte, daß er die
ſchweren Vorwürfe, die ihm da entgegengeſchleudert
wurden, verdiente. Sie waren alle ſo gerecht. Ja!
er hatte das Weib überredet, ihm zu Willen zu ſein.
Er hatte wohl auch allerlei Verpflichtungen über-
nommen, hatte verſchiedene Verſprechungen gemacht —
aber das Alles doch eigentlich nur, ohne ſich deſſelben
beſonders bewußt zu werden, beinahe nur aus einer
[438] communen Laune, aus einer durch beſondere Umſtände
geſchaffenen Stimmung heraus, vielleicht in frivolem
Leichtſinn, aber doch ganz den Geſetzen und Methoden
ſeiner Natur gemäß, die derartige Weibergeſchichten mit
einer ihr organiſchen Oberflächlichkeit, Nebenſächlichkeit,
Gleichgültigkeit behandelte; die ſich „moraliſch“ dadurch
nicht im Geringſten tiefer verpflichtet fühlte; die das
Alles nur als unvermeidliches Lebensaccidenz auffaßte.
Er konnte nicht anders, es war ihm ganz ſelbſtver-
ſtändlich, daß er hier die Treue brach, um dort
von Neuem Treue zu verſprechen, er beſaß im Grunde
gar kein Talent zur hausbackenen Treue, das ſpielte
ſich alles viel zu weit draußen auf der Peripherie ſeiner
Perſönlichkeit ab, als daß er es vermocht hätte, ſich
für irgend eine begangene Untreue beſonders verant-
worlich zu fühlen. Er gab ſich eben ſo, wie es
gerade ſeiner Stimmung entſprach. Reagirte ein
Anderer darauf, ſo mochte der das hübſch ſelber ver-
antworten. Er war viel zu wenig bornirt, um ſich
in eine Leidenſchaft feſtbeißen zu können. Hedwig
war alſo gar nicht berechtigt zu ihrer Anklage. Und
dieſes Bewußtſein löſte ein ſtarkes Gefühl des Aergers
und der Entrüſtung in Adam aus, er riß mit einem
brutalen Rucke ihre eingekrallten Finger von ſeinem
Arme los, ſchleuderte den Arm von ſich, packte ein
zerknittertes Papier, das Hedwig ihm immer noch
mit der anderen Hand ſtarr entgegenhielt, und warf
es auf den Tiſch, trat einige Schritte zurück und
machte ein ſehr wüthendes Geſicht. Was wollte
denn das Weib von ihm —? Lächerlich, ſich auch
[439] nur einen Augenblick von ſeinen blödſinnigen Vor-
würfen verblüffen zu laſſen! Glaubte es etwa, ihn
auf dieſe Weiſe wieder zu gewinnen? Da konnte
ſich die Dame doch gewaltig ſchneiden! Oh! Sie
hatte ja längſt alle Reize für ihn verloren.


Und doch konnte ſich Adam nicht ganz dem Ein-
drucke ihrer in furchtbarſter Seelenangſt herausge-
ſchrieenen Anklagen entziehen. Er hatte ihr nun
einmal ſein Wort gebrochen, ſo gut wie ſein Wort
gebrochen, ſie zieh ihn mit Recht der Abſicht, ſich
mit dem Golde von ihr loszukaufen, ſie hatte ihn,
darin durchſchaut, obwohl er doch eigentlich ſchon
vorher entſchloſſen geweſen war, Irmers die tauſend
Mark auf irgend eine Weiſe zu verſchaffen, ehe ihm,
zumeiſt wohl nur in dem Beſtreben, einen Namen
für die Sache zu finden, der Gedanke gekommen
war, ſein Thun im Sinne eines Rückkaufes ſeiner
Freiheit aufzufaſſen. Es war ſchließlich im tiefſten
Grunde blutige Selbſtironie geweſen — und dafür
ſollte er ſich jetzt abkanzeln laſſen, als wäre er ein
Hallunke erſten Ranges? Und dennoch kam er von
einem unklaren Schuldgefühl nicht los. Die Wuth,
die er in ſich aufkochen ſpürte, brach nicht aus, ſeine
Entrüſtung zerſplitterte ſich, ſein Aerger verzettelte ſich,
ſchließlich knirſchte er nur ein paar banale Redensarten,
wie „verrückte Faſelei —“ „— thut mir leid, aber es
iſt nun einmal ſo —“ — „wer kann wider ſeine Natur?“
— heraus, zuckte die Achſeln, lächelte ſpöttiſch, ſteckte mit
forcirter Gleichgültigkeit den zerknitterten Brief Irmers
in ſeine Rocktaſche und wandte ſich ab — — — —


[440]

Hedwig war wieder in den Seſſel zurückgetaumelt,
ihre Finger waren ineinandergekrampft, ſie ſchluchzte
leiſe. Emmy ſtand neben ihr, ſie hielt den Kopf
ein Wenig gebeugt, ihr Geſicht war ungleich ge-
röthet, ſie ſah aus, als wäre ſie in tiefe, ſtarre Ge-
danken verſunken, ihre Augen lagen in Thränen.


Adam ſah ſich noch einmal nach den Beiden um,
es ſchien, als wollte er Etwas zu ihnen ſagen, aber
er zuckte wieder nur in willkommener Reſignation
die Achſeln, knurrte verächtlich „— hyſteriſche
Weiber —“ vor ſich hin und ging auffallend lang-
ſam ins Nebenzimmer.


Plötzlich fuhr Hedwig wieder auf. „— ich muß
fort — ich erſticke hier — fort zu meinem Vater —
der wartet auf mich — der will mich mitnehmen — —“
heiſerte ſie ziſchelnd vor ſich hin, jetzt ſtand ſie, ſie
ſchwankte haltlos hin und her, Emmy wollte ſie
umfaſſen. „Bleiben Sie noch, liebes Fräulein —“
bat ſie leiſe, da fuhr Hedwig herum, ſie ſtarrte
Emmy mit großen, verglaſten Augen an, nun
lachte ſie gellend auf, warf ihre mageren Arme
mit krampfiger Wuth um Emmys Hals, riß die
an ſich heran, ſtürzte rücklings mit ihr in den Seſſel
und lallte ihr mit erſtickter, gebrochen gellender
Stimme zu: „— Du —! Du —! Weißt Du: ich
bin nämlich auch ſo Eine, wie Du — auch ſo Eine,
weißt Du — Dein Liebſter hat's mir gezeigt —
ei! — ei! — hat's mir gezeigt, wie man's macht —
ſiehſt Du: nun mußt Du mich mitnehmen — ja?
willſt Du —? Nun bringſt Du mir ſchöne Herren —
[441] ja! — ja! — ei! — ich kann's auch — Dein
Liebſter hat mirs gezeigt — ja! — das war ſchön
— — und ich ſoll Dir auch'n Gruß beſtellen
von meinem todten Väterchen — der hat geſagt:
ich ſollt's nur ſo machen, wie Du — da käm' ich
anſtändig durch die Welt, weißt Du — ja! ja! ja!
ja! — und hätte alle Tage gut zu eſſen, weißt
Du, hat mein todtes Väterchen geſagt — und
das wäre 'n Wonne, hat er geſagt — wenn
der Mond ſcheint — und die weißen Gardinen
werden roth, blutroth — und die Katzen ſchreien —
und die Muſik ſpielt — ſpielt — und wir tanzen dazu,
mein Liebſter und ich — wir tanzen — tanzen —
tanzen — immer toller und toller und toller —
bis — bis — und dann geht die Sonne auf —
und der Tag — und der Tag — —“


Emmy war es endlich gelungen, ſich aus der
Haft der Arme, die ſie einſchnürend umklammert
hatten, loszumachen. Sie war brandroth im Geſicht,
ſie athmete gepreßt, ſie wollte Adam rufen, denn
ſie hatte ja eine Wahnſinnige vor ſich, aber kein
Laut löſte ſich aus der Kehle, es war alles wie zu-
gequollen in ihr, wie verſchüttet, Hedwig kicherte
leiſe vor ſich hin, nun trällerte ſie: „tam — tam —
taramtam — tam — tam — taramtam — —“
plötzlich ſprang ſie auf, ihre Augen brannten, die
ganze Geſtalt war krampfhaft geſpreizt —: „ich bin
wahnſinnig —“ ſchrie ſie — „ich muß fort —“ ſie
packte ihren Hut, den ihr Emmy vorhin abgenommen
hatte, und ſtürzte zur Thür hinaus — —


[442]

Adam hatte gehört, wie die Thür zugeſchlagen
wurde. Er war aus ſeinem herumtaſtenden Brüten
aufgefahren und erſchien jetzt unter der auseinander-
geteilten Portière.


„Sie iſt fort —?“ fragte er „— allein —?“


Emmy antwortete nicht. Sie ſtand, noch immer
aufs Tiefſte erſchüttert, neben dem Fauteuil und
ſtarrte vor ſich nieder. Sie hatte die Hände über-
einander auf die Fauteuillehne gelegt und nickte wie
in tiefem Traume vor ſich hin. „Warum biſt Du
nicht mitgegangen —?“ fragte Adam von Neuem,
unwillkürlich beſorgt um Hedwig, zugleich unwillig
über Emmys überflüßiges Verſteinertſein.


Die drehte ihm langſam ihr Geſicht zu. Sie
ſah ihn fragend, verwundert an, als müßte ſie ſich
erſt auf die Bedeutung ſeiner Worte beſinnen. Nun
hatte ſie wohl begriffen — „ich gehe 'gleich — Du
wirſt mich 'gleich los ſein — —“ ſagte ſie leiſe
und ſah ſich im Zimmer um, als ſuchte ſie etwas,
ihr Jaquet oder ihren Hut.


„So hab' ichs nicht gemeint — das weißt Du —“
erwiderte Adam ärgerlich — „aber es könnte ihr
'was paſſiren — und da wäre es beſſer, ſie hätte
Jemanden in ihrer Nähe, der — —“


„Ihr iſt ſchon genug paſſirt —“ ſagte Emmy
laut, beſtimmt und ſah Adam mit großen, heraus-
fordernden Augen an —


„Meinſt Du —?“ fragte der ſarkaſtiſch — „Du
mußt's ja wiſſen — ja! Ihr Weiber! — Eine
wie die Andere —“ Nun fing die auch noch an —
[443] ſogar die — na! da hörte denn doch Verſchiedenes
auf —


Jetzt ſtand Emmy vor Adam. Sie machte ein
ſehr feierliches Geſicht, es ſah aus, als wollte ſie
Abſchied für immer von ihm nehmen, ihm ein letztes
Lebewohl ſagen.


Adam wurde es unbehaglich. „Hab' Dich nur
nicht ſo —!“ wehrte er eifrig ab — „bitte, Emmy,
keine neuen Sentimentalitäten — keine neuen
Scenen —! Ich habe ſchon an der einen genug —
verſchone mich — ja? Uebrigens — wie ſpät
haben wir's denn? Zehn durch. Ich habe meiner
Braut verſprochen, gegen Elf am Bahnhofe zu ſein —
ſie verreiſt — und da kann ich doch nicht gut —
alſo — wenn Du noch einen Augenblick warten
willſt, komm' ich 'gleich mit —“


„Wie heißt denn Deine Braut —?“ fragte
Emmy leiſe, befangen, ſie konnte die Frage doch
nicht unterdrücken.


„Lydia natürlich —! Wie ſonſt —? Lydia Lange!
Jene Dame — Du wirſt Dich erinnern — der wir
'mal begegneten, weißt Du — es iſt ja noch gar
nicht ſo lange her — im Park, an dem Tage, wo
Du — jetzt wirſt Du Dich ſicher daran erinnern —
wo Du die Bekanntſchaft des Herrn von Bodenburg
machteſt, die ſo wichtig für Dich werden ſollte —
alſo die Dame iſt's — nun weißt Du's — was
macht denn übrigens der kleine Piſtolenſchäker —?
Gehts ihm gut? Natürlich! Dieſem Geſindel gehts
immer gut. Haſt Du Deinen Trovatore geſtern nicht
[444] geſehen? Warſt nicht mit ihm zuſammen —?“
fragte Adam mit biſſigem Lachen.


Emmy wandte ſich ab und erwiderte kein Wort.
Sie hatte erſt einen Augenblick Luft, ſich nach dem
Verlaufe der Duellgeſchichte zu erkundigen. Aber ſie
unterdrückte die Frage. Sie hätte nach tieferer Theil-
nahme ausgeſehen, und obwohl ſie dieſe Theilnahme
immer noch für Adam empfand, jetzt vielleicht un-
willkürlich ſtärker als je — denn ein mit ihr
rivaliſirendes Moment war ja aus ſeinem Leben
geſtrichen — ſie wollte ſie doch nicht zeigen, in
dieſem Augenblick erſt recht nicht, um keinen Preis
der Welt. Uebrigens ging ja auch ſchon daraus,
daß Adam kein Wort von dem Duell wieder erwähnt
hatte, hervor, daß die Geſchichte in irgend einer
Weiſe erledigt ſein mußte. Und es erbitterte ſie,
daß ſie in den letzten Tagen ſo oft ſo überflüſſig
um Einen gebangt hatte, der es nicht verdiente —
um einen Blaſirten, einen Unzuverläſſigen, einen
Herzloſen — —


Nun gingen die Beiden unten auf der Straße
neben einander her. Eine längere Weile ſchwiegen
ſie. Hatten ſie ſich nichts mehr zu ſagen? Oder
ſcheuten ſie ſich, auf ein Thema zurückzukommen, das
ebenſo unerquicklich war, wie undankbar? Und doch
laſtete nicht minder peinlich auf Jedem der Druck,
den das Schweigen des Anderen ihm auferlegte.
Vielleicht aus dieſem Grunde, vielleicht auch, weil
es ihn doch drängte, Emmy noch dies und das zu
ſagen, begann Adam endlich, leiſe, langſam, ſprung-
[445] weiſe, zugleich abſichtlich einen Accent der Bitte und
Abbitte in der Stimme, als redete er, wie von einem
tiefen Traume beſeſſen, nur zu ſich —: „Sei mir
nicht böſe, Emmy! Siehſt Du: das mußte ja
Alles ſo kommen. Das hat ja Alles ſeine tiefen,
tiefen Gründe. Kennſt Du mich? Weißt Du, wer
ich bin —? Nein! Ich kenne mich zwar ſelber
ebenſo wenig. Oft bin ich ganz erſtaunt über mich.
Ich weißt nicht, wer ich bin. Ich ahne mich nur.
Ja! Aber ich ahne mich eben wenigſtens doch.
Nicht immer, doch manchmal mit brennender Schärfe
und Annäherung. Dann iſt Alles ſo voll in mir,
ſo weit, ſo groß, ſo gewaltig, dann bin ich nicht
mehr, dann hat mich etwas Unerklärliches, Geheim-
nißvolles in ſich aufgenommen, mein Leben ſtrömt
in ſtolzem Drange, ein ſanftes, unendlich wohlthuendes
Fieber durchprickelt mir Leib und Seele, Alles in
mir iſt Dank, Inbrunſt, Hingenommenheit, Fülle,
Begeiſterung, Größe .. Aber dieſem unendlich
Süßen, dem ich dann gehöre, das mich dann ganz
aufgezehrt hat —: ihm einen Namen geben — dieſem
verklärten Sein, da Sehnſucht und Erfüllung
zugleich in mir iſt, eine Formel, ein Schema, eine
Rubrik für den Tagescurs auf den Leib ſchreiben —
nein! das kann ich nicht. Wenn ich mit Euch, Ihr
anderen Menſchen, Ihr Außenmenſchen, mit einem
ſogenannten „Bekannten“, einem „Kameraden“, mit
irgend einem Weibe zuſammen bin — mein Gott!
dann bin ich Geſellſchaftsthier, meinem tieferen Ich
entfremdet, dann rede und denke und ſcherze und
[446] lache und ärgere ich mich und raiſonnire, ſchimpfe,
ſchwadronire, debattire, diskutire, ſpreche ich ganz
wie Ihr, nach dem berühmten Muſter ſocialer
Individuen, im Jargon des Alltags, der Straße,
der Kneipe, des Geſellſchaftszimmers .. Was wollt
Ihr! Mich kennt Ihr nicht. Das heißt: jenes
Weſen eben, in welchem ich zuweilen ſein darf. Aber
nun ſieh: gerade das Bewußtſein, daß ich zuweilen
ein Anderer ſein darf, das giebt meinem ganzen
Leben doch eine große Zwieſpältigkeit, eine ewige
Unruhe, das macht mich ſo oft mürriſch, melancholiſch,
unzuverläſſig, unberechenbar, ungeduldig, ungenießbar,
das wirft mich aus einer Stimmung in die andere.
Ich ſtürze mich in Genüſſe, die für mich keine
Genüſſe ſind, aber ich muß ſie immer wieder auf-
ſuchen, weil ich mich loswerden will, weil ich mich
betäuben will — ich ſuche ſie auf, dieſe faden Genüſſe,
obwohl ich mich vor ihnen ekele, obwohl ich ſie
verachte .. Ich habe eben überhaupt kein Organ
für alle dieſe gerühmten plebejiſchen Freuden. Aber
ich mache mit ... und ich bin zuweilen nicht der
ſchlechteſte und zurückhaltendſte Cumpan — das
wirſt Du aus Erfahrung wiſſen .. Mein Pech iſt
nur, daß Ihr Alle mit mir wie mit einer gewöhn-
lichen Werkeltagsmünze rechnet — und ich bin,
Gott ſei's geklagt! oft zu feige oder oft auch zu
gleichgültig, um gegen dieſe Unverſchämheit, zu der
ich Euch übrigens ein gewiſſes Recht gar nicht ab-
ſpreche, zu proteſtiren. Ich lache Euch oft im Stillen
aus, verachte Euch bodenlos, mache aber doch ganz
[447] gemüthlich mit, gehe auf Euch und Euere abge-
ſtandenen Lebensſpäße und Interimsmätzchen ein —
um nachher mich ſelber deſto mehr auszulachen ...
Ja! Ja! Dieſe einſamen Stunden der Sammlung,
der Rückſchau, der Reue, des Beiſichſeins! Da er-
lebt man 'was! Manchmal allerdings auch Nichts.
Und dann geht man wieder hinaus, die Menſchen
kommen zu Einem oder man ſucht ſie auf, man
plaudert mit ihnen, man langweilt ſich mit ihnen,
man rempelt ſie an, man klappert mit ihnen zu-
ſammen, die Zungen balgen ſich, zuweilen wohl auch
die geſammten ehrenwerthen Leiblichkeiten — und
ſo gehts fort, einen Tag wie alle Tage ... Man
wird älter, enger, die Ausſchweifungen, die doch nur
die Folgen von großen, elementaren Jugendleiden-
ſchaften der Seele waren, rächen ſich, die Nerven
rebelliren, man merkt: es geht mit dem ganzen
Kerl bergab .. Na! Und man läßt's halt gehen ..
Was bleibt Einem auch übrig! Nur manchmal, erſt
ſeltener, dann häufiger, tauchen ſo allerhand verflucht
faule, weil arg philiſtröſe Gefühle und Wünſche auf,
die großen Stunden werden immer ſeltener, man
ſchmilzt ſich unwillkürlich immer natürlicher und
zwangloſer der Maſſe ein, in ſo vielen Punkten
geht das Sonderbewußtſein ganz flöten, man ſehnt
ſich nach einem engeren Kreiſe, einer feſteren Scholle,
einer geſicherteren Stätte, allwo man in Frieden
leben, vielleicht auch noch 'n Biſſel ſchaffen und
wirken und nachher in Frieden ſterben darf, nachdem
man noch Dies und Das von der Welt und ihren
[448] Reizen genoſſen hat und einigermaßen ſoweit zu-
frieden iſt, um nicht allzuviel von einem proble-
matiſchen anderen Leben noch erwarten zu müſſen ..
Das iſt ſo ein Reſultat, zu dem man kommt, eine
der ſchönen und holden Erfahrungen, die man an
ſich macht. Eine andere Erfahrung, die bei ſolchen
verwickelten und zerdröſelten „Perſönlichkeiten“, wie
Unſereiner nun einmal eine iſt, auftritt — und noch
dazu mit jener erſten oft in intimſter, örtlicher und
zeitlicher Nachbarſchaft, iſt die, daß man die indivi-
duelle Differenz mit der Geſellſchaft, der Menge,
der Maſſe feſthält, ja erweitert, ſteigert .. Man
ſagt ſich von einer Anſchauung nach der anderen,
an welcher die Geſellſchaft ihrer lumpichten Fort-
exiſtenz halber feſthalten zu müſſen glaubt, los —
kritiſirt Alles und man verwirft Alles, Formen,
Ideen, Einrichtungen, Anſchauungen, Gewohnheiten ...
Iſt man ſich in Dieſem und Jenem noch nicht klar
darüber, ob man Ja! oder Nein! dazu ſagen ſoll —
weiß der Teufel! — man hat doch eine inſtinktive
Abneigung dagegen .. Oft begnügt man ſich mit
dieſer inſtinktiven Abneigung, man verwirft, weil
man einmal im Zuge iſt, zu verwerfen — und
kommt ſo zu einer Paralyſe des Seelenlebens, die
entſetzlich iſt und auf die Dauer unerträglich. Mit
der Zeit wird man aber auch hierin ſtumpfer und
gleichgültiger. Man wird überhaupt müde und
lethargiſch. — Das iſt ſchon kein „Peſſimismus“
mehr, das iſt regelrechte Décadence und Auflöſung
des ganzen Menſchen. Vielleicht befinde ich mich
[449] ſchon in dieſem verheißungsvollen Stadium des
inneren Lebens. Und ſo bin ich denn, eben in
Folge dieſer köſtlichen „Reife“ meiner Natur, im
Stande, „vernünftig“ zu werden — ich komme auf
einem zweiten Wege zu demſelbem Reſultate — das
heißt: ich verſuche mir die Mittel zu ſchaffen, jenes
„vernünftige“ Leben führen zu können — in meinem
Falle: ich verheirathe mich reich. Das iſt der bequemſte
Modus. Nicht wahr —? Das wirſt Du zugeben
müſſen, Emmy. Und dann könnte ja auch die
Möglichkeit eintreten, daß ſich jene bewußten, theore-
tiſchen Erkenntniſſe und radikalen Anſchauungen bei
mir ſo feſtſetzten, daß ſie unwillkürlich zur reflektoriſchen
Auslöſung von ihnen entſprechenden Handlungen
führten — und zu ſolchen „abnormen“ Handlungen,
die Einen ſofort in den allerdirekteſten Bruch mit
der Geſellſchaft bringen würden, kann ſich nur der
verſteigen, der es aus äußeren, alſo aus materiellen
Gründen nicht nöthig hat, nach der Sanktionirung
ſeiner Handlungen von Seiten der Geſellſchaft zu
fragen. Sonſt — müßte er auf dieſe Sanktionirung
ſehen, müßte er mit dieſem Moment rechnen — du
lieber Himmel! — wenn er ſeinem Jammer nicht
ſelbſt ein redliches Ende ſetze — er würde in der
That ſehr bald zerrieben und zermalmt, zerriſſen,
zerquetſcht werden .. Alſo heirathe ich meine Lydia —
nicht wahr? — nun begreifſt Du ... Ob ich das Weib
„liebe“ — ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleichter
auch nicht. Es iſt ja Alles Stimmung bei mir,
Emmy, Alles .. Und Hedwig —? Ja wohl! Sie
Conradi, Adam Menſch. 29
[450] dauert mich, ſie thut mir leid, ſogar ſehr leid —
aber was will ich machen —? Im Grunde iſt ſie
ſelbſt ſchuld an ihrem Unglück. Ich habe ihren
Vater und ſie ſattſam über meine Anſchauungen,
Gewohnheiten, über die Art meines Handelns auf-
geklärt. Es iſt ja wahr, daß ich ſie ſozuſagen „in
Verſuchung geführt“ habe. Warum hat ſie mir
aber nicht widerſtanden? Sie konnte nicht, ſie
mußte aus Gründen, die bei ihr gültig waren und
ſie zwangen, unterliegen. Sie iſt eben auch nicht
verantwortlich zu machen, nur muß ſie eben als
Object, in dem und an dem ſich Etwas ereignete,
auch die Folgen dieſer Ereigniſſe tragen. Das
müſſen wir eben Alle. Was kann ein Getreideacker
dafür, daß ein Gewitter über ihn niedergeht? Er
muß die Folgen hinnehmen, muß ſich zerſtampfen
laſſen, muß ſeine Aehren opfern .. So ſpringt die
Natur mit uns Allen um — und uns bleibt bloß
die ſtatiſtiſche Recapitulation, die ſauerſüße Reſig-
nation — nichts weiter. — C'est tout. Das iſt Alles,
aber auch andrerſeits — gerade genug. Siehſt Du,
Emmy, Du biſt doch vielleicht das einzige Weib
von allen Weibern, mit denen ich in der letzten Zeit
verkehrt habe, dem ich tiefer zugethan geweſen. An
Dir hänge ich vielleicht ſogar jetzt noch am Meiſten.
Ich habe neulich eine ſchlafloſe Nacht Deinetwegen
gehabt. So 'was iſt immer verdächtig. Und wenn ich
nun alſo hingehe und mich mit einer anderen .. einer
anderen Dame verbinde, die — verzeih'! — die keine
„ſo Eine“ iſt — wenn ich ins andere Lager deſertire —
[451] — nun, ſo thue ich das eben und eigne mir damit
eine ganze Reihe von Vortheilen zu — aber warum
ich es thue, ſiehſt Du — das weiß ich eigentlich trotz
aller kritiſchen Analyſen im Grunde doch nicht ...
ich bin mir ja ſchon viel zu gleichgültig. Das
Leben reizt mich nicht mehr. Es iſt mir ganz klar:
ſchließlich bin ich daſſelbe, was Du biſt, nur ins
Männliche überſetzt, ſeeliſch ganz daſſelbe ... Ich
bin pſychiſch ebenſo vielſeitig und ebenſo .. einſeitig,
wie Du, eben ſo wenig bornirt, wie Du — nur
bin ich verhältnißmäßig freier, als Du, uneinge-
ſchränkter in meinen Gedanken und Handlungen.
Mich reſpectirt die Geſellſchaft, mich erkennt ſie an —
Dich nicht. Ich darf mir Alles oder doch ſehr
Vieles geſtatten, Du nicht. Mir erlaubt ſie, eines
Tages ihr ſelber gegenüber womöglich eine Herrſcherrolle
zu ſpielen .. Aber — und das iſt die ſehr ernſte und
traurige Kehrſeite der Medaille — aber ich bin,
eben weil ich ſo wenig Schranken zu reſpectiren
hatte, tauſend Mal ärger zerfetzt und zerfaſert als
Du ... Du biſt noch wärmerer, beſtändigerer Gefühle
fähig — ich kaum ... Bei mir flackerts, flammts
wohl noch jäh, leidenſchaftlich, auf — aber es ver-
fliegt auch wieder — und es verfliegt halt ebenſo
ſchnell, wie es gekommen war. Ich weiß, daß Du
mich liebgehabt haſt, Emmy — vielleicht haſt Du
mich auch noch 'n Biſſel lieb, trotzdem mir Hedwig
ſo ſchwere und harte Anklagen in's Geſicht ge-
ſchleudert hat ... Du haſt für die Arme unwill-
kürlich Partei genommen — ich begreife das Alles
29*
[152] ſehr gut. Und doch — ich weiß es — ich erſehe
es aus Deinem ganzen Betragen mir gegenüber —
Du wirſt mir wohl den pſychologiſchen Blick dafür
zutrauen — und doch, ſage ich, ſchmerzt es Dich
auch Deinetwegen — und vielleicht am Meiſten
Deinetwegen — daß ich Lydia heirathen will. Aber
zwiſchen uns liegt die Sache doch anders und ein-
facher, dächt' ich. Wir können ja unſer Verhältniß
nach wie vor aufrecht erhalten. Ich weiß zwar
nicht, ob wir hierbleiben werden nach unſerer Ver-
heirathung, Lydia und ich. Aber wäre das der
Fall —: was hindert uns beide, Emmy, unſeren
Verkehr ruhig fortzuſetzen —? Nichts. Du biſt
doch nun einmal „ſo Eine“ — verzeih'! ich wollte
Dich nicht kränken — aber die äußere Thatſache
bleibt doch beſtehen. Und ich bin froh genug, daß
ich Dich damals dem Freiberger Seidenfritzen, der
ſich übrigens nie wieder gemeldet hat, abgejagt habe.
Alſo bitte — wenn Du mich nur ein Wenig gern
haſt, wirſt Du ſchon einwilligen. Und dann, wenn
die Tage gekommen ſind — na! Du weißt ſchon:
dann erinnerſt Du mich an die Zeit, da ich jung
und frei war .. da ich Dich liebte .. und mich
manchmal in meinem Elend unſäglich reich und ſtolz
gefühlt habe ... Aber nun muß ich wirklich machen,
daß ich zum Bahnhof komme .. Sonſt provocire ich
'gleich den erſten Sturm — und dazu — iſt's ſpäter auch
noch Zeit .. Alſo Adieu, Emmy! Ich ſchreibe Dir —“


Adam ſtürmte hinweg, Emmy blieb unwillkürlich
ſtehen, verblüfft über die jähe Verabſchiedung. Dann
[453]
ging ſie mechaniſch weiter. Ihm iſt's ja doch nicht
Ernſt, meinte ſie im Stillen und wurde ſehr traurig.
Sie dachte noch an dies und das, was ſie von
Adams langer Erklärung behalten hatte. Manches
glaubte ſie zu verſtehen, aber auch ſo Vieles nicht.
Er war ein merkwürdiger Menſch, ſo ganz anders,
als die Anderen, mit denen ſie ſonſt verkehren
mußte. Er behandelte ſie eigentlich recht wegwerfend,
man konnte nie klug aus ihm werden, er war heute
ſo und morgen ſo. Manchmal mußte ſie ihn be-
wundern, wenn ſie ihn auch nicht verſtand, ſie fühlte,
daß etwas Neues und Großes aus ihm ſpräche, ſie
fühlte, wie er innerlich hoch über ihr ſtand. Oefter
ſtieß ſie das gerade wieder von ihm ab, ſie ſehnte
ſich nach Ihresgleichen, ſie war dann froh, auch ein-
mal mit einem einfacheren, oberflächlicheren Menſchen
verkehren zu dürfen — und doch trieb es ſie immer
wieder zu ihm hin, ſeine Räthſelhaftigkeit, ſeine Un-
berechenbarkeit, ſeine Blaſirtheit reizten ſie, ſie fühlte
ſich oft nicht wohl in ſeiner Nähe — und doch war
ſie leidenſchaftlich gern mit ihm zuſammen, er hatte
eine merkwürdige Macht über ſie, eine Gewalt, der
ſie ſich manchmal zu entziehen ſuchte und wohl auch
mit ſchwerer Mühe einmal entzog — und der ſie
doch immer wieder verfiel. Emmy ſah ſehr beklom-
men der Zukunft entgegen. —


Adam hatte ſeine Uhr befragt, es war wirklich
höchſte Zeit. Er trabte nach dem nächſten Droſchken-
halteplatz, warf ſich in das erſte beſte klapprige Unge-
thüm und raſſelte davon. —


[454]

Am Portal der Vorhalle ſtand ein Weib, das
Roſen feil hielt. Adam riß eine gelbe Roſe aus
ſeinem Korbe, warf der runzligen, abſchreckend häß-
lichen Hexe einen Fünfziger in die dreckige, ver-
krümmte, wie von einem Erdhufe überwachſene
Hand und ſtürzte nach dem Perron.


Es hatte ſchon zum zweiten Male geläutet. Die
Wagenthüren waren ſchon zugeſchlagen, hie und da
den Zug entlang gab es haſtig-laut plaudernde,
unter lebhaftem Geſtenſpiel ſich ausgebende — oder
leicht ſtockend, beklommen ſprechende Gruppen, auf-
und niederrennende Schaffner, in der Ferne, gerade
unter der großen Uhr, die rothe Mütze des dienſt-
thuenden Beamten, an den Wagenfenſtern da und
dort ein Geſicht, gleichgültig oder ernſt, weil es
vielleicht einen Abſchied, einen ſchmerzlichen Abſchied,
gilt .. Adam ſpähte herum, jetzt entdeckte er ſeine
Braut, die ſich aus dem Fenſter eines Wagens zweiter
Klaſſe lehnte und ihm zuwinkte. Der Wagen ſtand
ziemlich weit vorn, nahe an der Lokomotive.


Ein helles Freudenlächeln huſchte über Lydias
Geſicht, als ſie Adam im letzten Augenblick doch
noch vor ſich ſah. Sie hatte ſchon alle Hoffnung
aufgegeben. Sie war ganz traurig geworden, ſein
Wegbleiben hatte ſie verſtimmt, am liebſten wäre
ſie wieder ausgeſtiegen. Nun war er doch noch ge-
kommen. Das war ſo gut von ihm. Sie ſah ihn
zärtlich an, als er vor ihr ſtand, vor Aufregung
kein Wort über die Lippen bringen konnte und ihr
nur ſtumm die Roſe reichte.


[455]

„Du ſiehſt recht blaß aus, Adam —“ bemerkte
Lydia beſorgt und führte die Roſe mit den kleinen,
glattbehandſchuhten Fingern der rechten Hand an
ihre zarte, weiße Naſe. Sie ſah fragend auf ihren
Verlobten nieder.


„So —? Mir war heute früh auch nicht ganz
wohl —“ antwortete Adam haſtig — „ und wie
geht es Dir, Lydia —?“ fuhr er dann fort, nach-
dem er einmal tief Athem geholt —


„Ich danke —“


„Und wie lange willſt Du mich allein
laſſen —?“


„Ich komme bald zurück — vielleicht eher, als
es Dir lieb iſt — —“


„Lydia —!“


„Meine Adreſſe ſchreibe ich Dir — alſo Fried-
richroda — ich muß erſt ſehen, ob ich Privatlogis
nehme, oder —“


„Und ſchreib' mir, bitte, recht bald und recht
viel — ja? Zu ſchade, daß Du jetzt gerade —
— bleib' nicht zu lange, Lydia —?“ bat Adam
leiſe —


Es war ihm plötzlich ſehr weich ums Herz ge-
worden. Nun ſeine Braut in der Fülle und Reife
ihrer Kraft und Schönheit vor ihm ſtand, loderte
die Leidenſchaft zu dieſer Frau wieder in ihm auf.
Ja! Er liebte ſie doch — und ſie allein. —


Es läutete zum dritten Male. Die Lokomotive
pfiff, langſam ſetzte ſich der Zug in Bewegung.


Die Hände der beiden hatten zum letzten Male
[456] in einander gelegen, feſt, zärtlich. Dabei hatten ſie
ſich voll in die Augen geſehen. Sie gehörten nun
zuſammen und ſie mußten ſich ſchon treu ſein. — —


Das weiße Taſchentuch Lydias flatterte immer
noch, Adam ſchwenkte den Hut. Der weiße, hin- und
herzitternde Punkt verſchwamm nun und verblaßte
mehr und mehr, jetzt war er ganz und gar von der
Entfernung aufgeſchluckt. Der Perron war leer ge-
worden. Adam blieb noch einen Augenblick ſtehen,
blickte vor ſich hin, freute ſich, daß Lydia diskret
die Geldgeſchichte auch nicht mit der kleinſten An-
deutung wieder berührt hatte, dann wandte er ſich
um, ging langſam durch die Vorhalle dem Ausgang
zu und ſtieg langſam die Steintreppe hinunter, die
vom Bahnhofsportal auf die Straße führte. Er
befand ſich in einem ſeeliſch ſehr merkwürdigen Zu-
ſtande. Lydias Abreiſe ſtimmte ihn beinahe ſenti-
mental, that ihm beinahe weh. Er wunderte ſich
darüber und ſchüttelte den Kopf. —



[[457]]

XX.


Nun kamen ſtillere Tage für Adam. Er ging
nicht viel aus, er ſaß oft ſtundenlang auf ſeinem
Zimmer, er ſpann ſeine loſen, verzettelten Gedanken
in der Sophaecke, er las dies und das ohne inneren
Zwang, ohne beſondere geiſtige Genugthuung. Der
Juni war ſehr heiß, trotzdem überlief Adam oft ein
leiſes, ſtachliges Fröſteln, beſonders gegen Abend
ſtellte ſich gewöhnlich ein heftigeres Fieber ein, ſein
Schlaf war dünn, unruhig, von ſchwülen, bizarren
Träumen erfüllt. Früh fühlte er ſich oft matter
und hinfälliger, als er den Abend vorher geweſen
war. Endlich nahm er Chinin ein, da wurde es
beſſer, das Fieber trat weniger akut auf, ſchließlich
blieb es ganz weg.


Lydia hatte Adam bald nach ihrer Ankunft in
Friedrichroda geſchrieben. Er hatte den lieben, zärt-
lichen Brief mit ſeiner zartſtrichigen Schrift, ſeinen
pikanten ſtiliſtiſchen Inkorrektheiten, ſeinen verſteckten
Liebkoſungen oft genug geleſen, wieder und wieder.
Lydias Hingebung ſchmeichelte ſeiner Eitelkeit, er
vergaß, welchen Umſtänden er ſchließlich ihren Beſitz
verdankte, es kam ſo weit, daß er ſich unwillkürlich
[458] einredete, er hätte ſie ſich errungen, und er war
ſtolz auf dieſen Erfolg. Aber dennoch verſchob er
es von Tag zu Tag, Lydia zu antworten. Dieſes
Hinausſchieben machte ihm ein pikantes Vergnügen,
gewährte ihm einen angenehm prickelnden Reiz. Hatte
er erſt geſchrieben, ſo war damit auch die momen-
tane Situation erſchöpft — und der Genuß, der in
dem Bewußtſein lag, daß ſich Lydia um ſo mehr
und um ſo intimer mit ihm beſchäftigen würde, je
länger ſeine von ihr erſehnte Erwiderung ausblieb,
hörte dann auf. Vielleicht wirkte bei ſeinem Zögern
auch mit, daß ihm das Bild ſeiner Braut ſchon ein
Wenig verblaßt, daß er ſchon etwas in den Hinter-
grund getreten war, daß der Einfluß ihrer reifen
Frauenſchönheit unter der Trennung doch ſchon ge-
litten hatte. Er mußte ſich das eingeſtehen und
ärgerte ſich darüber. Aber er konnte nichts dagegen
machen. Er gab ſich oft alle Mühe, Lydias Bild
in Klarheit und Friſche vor ſein geiſtiges Auge zu
rufen, aber es wollte ihm nicht gelingen, nur Sche-
men kamen und vage Andeutungen. Dann konnte
er nicht begreifen, daß nun in Zukunft er ihr und
ſie ihm angehören ſollte, daß ſie Beide hingehen
ſollten, um ſich ihren lieben Mitmenſchen als ein
zuſammengehöriges Paar vorzuſtellen. Das war
Alles ſo drollig, ſo wunderbar, das konnte nicht ſein,
das widerſprach doch ſo ganz den Geſetzen, unter
denen zu leben er ſich gewöhnt hatte. Er ertappte
ſich auf dem Gedanken, auf dem leiſen, geheimen
Wunſch, daß ſeine Braut ſo lange als möglich in
[459] Thüringen bleiben möchte. Er wollte ſich jetzt nicht
von ihr ſtören laſſen, er gewann ſeine Einſamkeit
täglich lieber, und doch hatte er in dieſen Tagen
eigentlich gar Nichts vor ſich, er vegetirte mehr me-
chaniſch dahin, als daß er bewußt lebte, als daß
er jetzt eine Individualität ſein durfte, die ſich in
ihrer reichen Subjektivität ſelbſt genug iſt.


Manchmal beunruhigte ihn das Schickſal Hed-
wigs doch ſehr. Zuerſt zuckte er bei jedem Anſchlagen
der Glocke zuſammen, er fürchtete, der Poſtbote
würde in ſein Zimmer treten und ihm die tauſend
Mark zurückbringen, deren Annahme die Adreſſatin
verweigert hätte. Aber der ſonſt ſo Willkommene
blieb aus, blieb aus einen Tag nach dem anderen
— und Adam war das in dieſem Falle ganz recht,
er beruhigte ſich wieder. Hedwig hatte das Geld
alſo angenommen, ihre Lage hatte ſie wohl dazu
gezwungen, aber warum ſollte er Bedenken tragen,
ſein Thun als eine Art von Sühne aufzufaſſen?
Es iſt ja nun einmal ſo auf der Welt, daß ſeeliſche
Verletzungen durch materielle Bußacte wieder
ausgeglichen werden können. Und doch kam ihm der
Gedanke an den Tod Irmers immer wieder, er ver-
mied es mit ängſtlicher Scheu, eine Zeitung zur
Hand zu nehmen, in der er etwa eine Notiz darüber
finden konnte. Irmers Brief, den er in einer be-
ſonders nervöſen Stunde aufgebrochen und in zit-
ternder Haſt flüchtig überflogen hatte, nachdem er
ihn ſchon unzählige Male in Händen gehabt, aber
ſtets wieder bei Seite gelegt, hatte er ſofort ver-
[460] brannt. Er hatte ihn los ſein wollen .. und trium-
phirend hatte er vor dem Häufchen Aſche geſtanden,
die von ihm noch übrig geblieben war. In einer
ſtillen Sommernachtsſtunde hatte er ſich weit zum
Fenſter hinausgelehnt .. und die Aſche in alle Winde
verſtreut .. Und doch blieb eine Stelle des letzten
Vermächtniſſes Irmers haften in ſeinem Gedächtniß,
ſie tauchte immer wieder auf, mochte er ſie auch
mit aller Gewalt niederdrücken und zurückdrängen,
ſie kamen wieder, immer wieder, jene ernſten, ſchweren,
beſchwörenden Worte: „— Ich laſſe mein Kind in Ihren
Händen zurück, Herr Doctor — und ich weiß, Sie
werden niemals vergeſſen, was ſie ihm ſchuldig ſind.
Ich vertraue Ihnen und ſterbe ruhig — —“ Adam
ſagte ſich ganz klar, daß er Hedwig gegenüber eine
Schurkerei begangen, wenigſtens eine Schurkerei im
Sinne der gültigen Moral der Maſſe, er fand ſchließ-
lich auch „höhere“ ethiſche Geſichtspunkte, die ihn
tröſteten und freiſprachen, aber es fruchtete wenig,
das Neue war noch zu dunkel in ihm, noch zu
theoretiſch, zu vergeiſtigt, die alten thörichten Kate-
chismusgefühle waren doch noch zu ſtark. Und ſie
klagten ihn Tag für Tag aufs Neue an. Nein!
wenn Hedwig noch einmal in ſein Leben träte, wollte
er nicht zurückweichen vor ihr. Sie aber aufzuſuchen
— dazu hatte er nicht die Kraft und nicht den
Muth. Und dann auch: ſie verachtete ihn gewiß
ſchon ſo ſehr, daß ſie ſeine Nähe gar nicht ertragen
würde. Was ſollte er alſo ſie und ſich quälen —?
Es war überflüſſig. —


[461]

Einmal dachte Adam auch an den Selbſtmord.
Das war zu komiſch. Hatte er denn ganz vergeſſen,
daß er zum Leben „verurtheilt“ war? Hatte er das
nur einen Augenblick vergeſſen können —? Ja! Es
war doch möglich geweſen. Merkwürdig! Merkwürdig!
Oh! Und er beſaß ja nicht einmal mehr die Größe
und die Gewalt der Seele, die ſchmerzlich ſüßen
Wolluſtſchauer eines Galaſelbſtmords genießen zu
können. Das kritiſche Delirium hatte Alles zermalmt,
Alles, Alles. Ja! Ja! das war das curioſe Märchen
von der Analyſe und von der Syntheſe, die ſich ſo
gut zu vertragen wiſſen ... Adam lächelte. Das
Leben hatte ihn wieder. —


Eines Morgens fühlte er ſich beſonders behag-
lich. Er hatte gut, beſſer wenigſtens, denn gewöhn-
lich, geſchlafen, ſchleimige Träume hatten ihn ver-
ſchont, er fühlte ſich ſtärker, freier, flüſſiger, auf das
Spiel der Menſchen und Dinge .. und auf das Mit-
ſpielen geſtimmter. Er trank ſeinen Kaffee und rauchte
mit großem Genuß ſeine Morgencigarette. Er lehnte
ſich zurück und dachte an Lydia. Er nahm ſich vor,
ihr heute zu ſchreiben, ganz beſtimmt zu ſchreiben,
ſie könnte ſonſt leicht auf allerlei Gedanken kommen
— und das hatte ſicher ſeine Schattenſeiten und
Nachtheile für ihn. Er verdankte ihr doch eigentlich
recht Viel, es wäre barbariſch dumm geweſen, leicht-
ſinnig wieder fahren zu laſſen, was ſie ihm aus Liebe
entgegengebracht. Ja! Nun er ſich zum erſten Male
wieder werkthätiger aufgelegt fühlte, fand er ſeine
Bräutigamsſchaft äußerſt famos und praktiſch. Es
[462] iſt gut, wenn der Menſch eine „reiche Partie“ macht.
Adam wurde mit der Partie, die er gemacht hatte,
immer einverſtandener. Er nahm ſich vor, unter
der Hand bei einem kaufmänniſchen Auskunftsbureau
einmal genauer nach den Vermögensverhältniſſen
Lydias zu recherchiren — das war doch ſehr von
Belang für ihn. In den letzten Tagen war ihm
überdies öfter ein Gedanke zurückgekehrt, mit dem er
ſchon vor Jahren geſpielt, der ſich aber wieder ver-
flüchtigt hatte, weil damals zu ſeiner Verwirklichung
blutwenig Ausſicht, weil blutwenig Material vorhan-
den geweſen war. Nun ſtand die Sache ſchon an-
ders. Jetzt durfte er ſchon mit größerem Rechte an
ſein geliebtes „Paedagogium der Zukunft
denken. Und Adam beſchloß, ſich demnächſt einmal
ernſtlich daran zu machen, die Grundprincipien dieſes
ſeines „Paedagogiums der Zukunft“ zu entwerfen. —


Auf die Tage der äußeren und inneren Stürme
und Kataſtrophen ſollten die Tage ernſter, geſammel-
ter, „ſühnender“ Arbeit folgen. Ja! Er wollte ar-
beiten, beſaß er doch noch Ideale! Vielleicht noch
zwei, vielleicht ſogar noch drei, vielleicht auch nur
noch eins. Er vermied es, ſich zu fragen, wie dieſes
eine, dieſes letzte „Ideal“ hieße, wie es beſchaffen wäre,
in welcher Richtung es läge —? Er wußte, daß
er dieſe Frage vermied, und das beunruhigte ihn.
Und doch freute es ihn zugleich, daß er ſich über-
haupt noch entſchließen konnte, im Dienſte eines
„Ideals“ zu arbeiten. Ja! Er wolle arbeiten.
Und war das im tiefſten Grunde auch nur eine
[463] Reſignation — ſchließlich bedeutete dieſer Entſchluß
doch auch eine Hoffnung auf die Zukunft und eine
Bürgſchaft für die Zukunft. Adam zweifelte daran
wenigſtens nur dann und wann.


Im Uebrigen wurde er von Tag zu Tag mehr
und mehr guter Dinge. Er koſtete die kargen, letzten
Zeitläufte ſeiner „Freiheit“ in ſanfter Behaglichkeit
aus. Der Sommer war ſo ſchön, die Roſen blüh-
ten, bald mußte es auch Levkojen und Reſeda geben.
Und ſonſt — „na! Ick bin ja man ooch bloß in
absentia
uff der Welt“ — tröſtete ſich Adam —
der brave Klempnergeſelle behielt doch Recht.


„ Auf welcher Welt werden wir einmal nicht ‚in
absentia
‘ daſein —?“


Adam hatte gut fragen. Die Antwort war ihm
ja doch furchtbar ſchnuppe. —



Ende.

Appendix A

Druck von Oswald Schmidt, Leipzig-Reudnitz.


[[464]]

[[465]][[466]][[467]]

Lizenz
CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Conradi, Hermann. Adam Mensch. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpdk.0