[][][][][][][][][[I]][[II]]
Staatengeſchichte
der neueſten Zeit.

Vierundzwanzigſter Band.


Deutſche Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert
Erſter Theil.

Leipzig:
Verlag von S. Hirzel.
1879.

[[III]]
Deutſche Geſchichte
im
Neunzehnten Jahrhundert


Erſter Theil.
Bis zum zweiten Pariſer Frieden.

Leipzig:
Verlag von S. Hirzel.
1879.

[[IV]][[V]]

An Max Duncker.


Nehmen Sie, mein verehrter Freund, die Widmung dieſer Blätter
als ein Zeichen alter Treue freundlich auf. Sie haben mir bei den
langwierigen Vorarbeiten ſo oft Ihre warme Theilnahme erwieſen; es
thut mir wohl, zuerſt vor Ihnen auszuſprechen was ich über Anlage und
Abſicht des Buchs den Leſern zu ſagen habe.


Mein Plan war urſprünglich, nur die Geſchichte des Deutſchen
Bundes zu ſchreiben, nach einem kurzen Eingang ſofort mit den Ver-
handlungen des Wiener Congreſſes zu beginnen. Ich erkannte jedoch
bald, daß ein nicht ausſchließlich für Gelehrte beſtimmtes Buch weiter
ausholen muß. Die Schickſale des Deutſchen Bundes bilden nur den
Abſchluß des zweihundertjährigen Kampfes zwiſchen dem Hauſe Oeſter-
reich und dem neu aufſteigenden deutſchen Staate; ſie bleiben dem Leſer
unverſtändlich, wenn er nicht über die Anfänge der preußiſchen Monarchie
und den Untergang des heiligen Reichs unterrichtet iſt. Eine allen Gebil-
deten gemeinſame nationale Geſchichtsüberlieferung hat ſich in unſerem
kaum erſt wiedervereinigten Volke noch nicht entwickeln können. Jenes
einmüthige Gefühl froher Dankbarkeit, das ältere Nationen ihren politi-
ſchen Helden entgegenbringen, hegen wir Deutſchen nur für die großen
Namen unſerer Kunſt und Wiſſenſchaft; ſelbſt über die Frage, welche
Thatſachen in dem weiten Wirrſal unſerer neuen Geſchichte die wahrhaft
entſcheidenden waren, gehen die Meinungen noch weit auseinander.


Ich entſchloß mich daher in einem einleitenden Buche kurz zu ſchil-
dern, wie ſich ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden das neue Deutſchland
[VI] gebildet hat. Einem Kenner brauche ich nicht zu ſagen, wie ſchwer es
iſt dieſen maſſenhaften Stoff in gedrängter Ueberſicht zuſammenzufaſſen.
Der unendlichen Mannichfaltigkeit und Bedingtheit des hiſtoriſchen Lebens
kann nur eine tief in das Einzelne eindringende Schilderung ganz Ge-
nüge leiſten. Sie werden leicht zwiſchen den Zeilen leſen, wie oft ich
in einem kurzen Satze meine Meinung über eine ſchwierige Streitfrage
ſagen, wie oft ich jedes Wort abwägen mußte um beſtimmt zu reden ohne
Härte, gerecht ohne Verſchwommenheit. Das Unternehmen war um ſo
gewagter, da wir in Häuſſers Deutſcher Geſchichte bereits eine umfaſſende
Darſtellung der letzten Jahrzehnte des heiligen Reichs beſitzen, ein Buch,
das bei ſeinem Erſcheinen wie eine politiſche That wirkte und für immer
eine Zierde unſerer hiſtoriſchen Literatur bleiben wird. Aber ſeit dem
Tode des unvergeßlichen Mannes iſt unſere Kenntniß des napoleoniſchen
Zeitalters, nicht zuletzt durch Ihre Arbeiten, weſentlich erweitert worden.
Auch der Standpunkt des hiſtoriſchen Urtheils hat ſich verändert. Wer
heute durch eine Schilderung jener Epoche das Verſtändniß der Gegen-
wart fördern will, muß die innere Entwicklung des preußiſchen Staates
und die großen Wandlungen des geiſtigen Lebens in den Vordergrund
der Erzählung ſtellen.


In dem einleitenden Buche bin ich nicht darauf ausgegangen neue
Thatſachen mitzutheilen. Ich habe mich auch nicht geſcheut, zuweilen
Allbekanntes zu wiederholen; denn will der Hiſtoriker immer und überall
neu ſein, ſo wird er nothwendig unwahr. Mein Beſtreben war, aus
dem Gewirr der Ereigniſſe die weſentlichen Geſichtspunkte herauszuheben,
die Männer und die Inſtitutionen, die Ideen und die Schickſalswechſel,
welche unſer neues Volksthum geſchaffen haben, kräftig hervortreten zu
laſſen. Darum ſind auch die inneren Zuſtände der kleineren deutſchen
Staaten nur kurz behandelt; ich denke erſt im zweiten Bande, bei der
Schilderung der ſüddeutſchen Verfaſſungskämpfe, mich auf dieſe Verhält-
niſſe näher einzulaſſen. Möchten Sie und andere nachſichtige Richter
finden, daß dieſe Ueberſicht einen annähernd richtigen Begriff giebt von
den großen Gegenſätzen, welche den Staatsbau unſeres Mittelalters zer-
ſtörten und den Boden ebneten für die weltlichen Staatsgebilde des neuen
Jahrhunderts. Mehr als die Umriſſe des Bildes konnte ich auf ſo engem
Raume nicht bieten.


[VII]

Nach dem Untergange des alten Reichs wird die Darſtellung allmäh-
lich ausführlicher, und mit den Tagen des erſten Pariſer Friedens be-
ginnt dann die eingehende Geſchichtserzählung, die ich im zweiten Bande
zunächſt bis zum Jahre 1830 fortzuführen hoffe. Für dieſen Zeitraum
habe ich, mit Erlaubniß des Fürſten Reichskanzlers und des Freiherrn
von Roggenbach, die Acten des Berliner Geh. Staatsarchivs und des
Auswärtigen Miniſteriums in Carlsruhe benutzt. Ich kann nicht genug
danken für die freiſinnige Bereitwilligkeit, die mir von der hieſigen Archiv-
verwaltung, erſt unter Ihrer, dann unter H. von Sybels Leitung, immer
bewieſen wurde. Ich habe dies Vertrauen nicht mißbraucht weil ich es
nicht mißbrauchen konnte. In der Geſchichte Preußens iſt nichts zu be-
mänteln noch zu verſchweigen. Was dieſer Staat geirrt und geſündigt
hat weiß alle Welt ſchon längſt, Dank der Mißgunſt aller unſerer Nach-
barn, Dank der Tadelſucht unſeres eigenen Volks; ehrliche Forſchung
führt in den meiſten Fällen zu der Erkenntniß, daß ſeine Staatskunſt
ſelbſt in ihren ſchwachen Zeiten beſſer war als ihr Ruf.


Es giebt viele Arten Geſchichte zu ſchreiben, und jede iſt berechtigt
wenn ſie nur ihren Stil rein und ſtreng einhält. Dies Buch will einfach
erzählen und urtheilen. Sollte die Darſtellung nicht völlig formlos wer-
den, ſo durfte ich den Leſern nur das fertige Ergebniß der Unterſuchung
vorlegen ohne ihnen das Handwerkszeug der Forſchung aufzuweiſen oder
ſie mit polemiſchen Auseinanderſetzungen zu beläſtigen.


Indem ich noch einmal zurückblicke auf die anderthalb Jahrhunderte,
welche dieſer Band zu ſchildern verſucht, empfinde ich wieder, wie ſo oft
beim Schreiben, den Reichthum und die ſchlichte Größe unſerer vater-
ländiſchen Geſchichte. Kein Volk hat beſſeren Grund als wir, das An-
denken ſeiner hart kämpfenden Väter in Ehren zu halten, und kein Volk,
leider, erinnert ſich ſo ſelten, durch wie viel Blut und Thränen, durch
wie viel Schweiß des Hirnes und der Hände ihm der Segen ſeiner Ein-
heit geſchaffen wurde. Sie, lieber Freund, haben ſchon in der Paulskirche
den Traum vom preußiſchen Reiche deutſcher Nation geträumt und ſind
im Herzen jünger geblieben als Mancher aus dem altklugen Nachwuchs;
denn Sie wiſſen, wie erträglich die Sorgen der Gegenwart erſcheinen neben
dem Jammer der alten kaiſerloſen Tage. Sie werden mich nicht tadeln,
wenn Ihnen aus der gleichmäßigen Ruhe der hiſtoriſchen Rede dann und
[VIII] wann ein hellerer Ton entgegenklingt. Der Erzähler deutſcher Geſchichte
löſt ſeine Aufgabe nur halb, wenn er blos den Zuſammenhang der Er-
eigniſſe aufweiſt und mit Freimuth ſein Urtheil ſagt; er ſolle auch ſelber
fühlen und in den Herzen ſeiner Leſer zu erwecken wiſſen was viele un-
ſerer Landsleute über dem Zank und Verdruß des Augenblicks heute ſchon
wieder verloren haben: die Freude am Vaterlande.


Berlin 10. Februar 1879.


Heinrich von Treitſchke.


[[1]]

Erſtes Buch.


Einleitung.
Der Untergang des Reichs.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 1
[[2]][[3]]

Erſter Abſchnitt.
Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.


Die deutſche Nation iſt trotz ihrer alten Geſchichte das jüngſte unter
den großen Völkern Weſteuropas. Zweimal ward ihr ein Zeitalter der
Jugend beſchieden, zweimal der Kampf um die Grundlagen ſtaatlicher
Macht und freier Geſittung. Sie ſchuf ſich vor einem Jahrtauſend das
ſtolzeſte Königthum der Germanen und mußte acht Jahrhunderte nachher
den Bau ihres Staates auf völlig verändertem Boden von Neuem be-
ginnen, um erſt in unſern Tagen als geeinte Macht wieder einzutreten
in die Reihe der Völker.


Sie hatte einſt in überſchwellendem Thatendrang die Kaiſerkrone der
Chriſtenheit mit der ihren verbunden, ihr Leben ausgeſchmückt mit allen
Reizen ritterlicher Kunſt und Bildung, Ungeheures gewagt und geopfert um
die Führerſchaft des Abendlandes zu behaupten. In den weltumſpannenden
Kämpfen ihrer großen Kaiſer ging die Macht der deutſchen Monarchie zu
Grunde. Auf den Trümmern des alten Königthums erhebt ſich ſodann eine
junge Welt territorialer Gewalten: geiſtliche und weltliche Fürſten, Reichs-
ſtädte, Grafen und Ritter, ein formloſes Gewirr unfertiger Staatsgebilde,
voll wunderbarer Lebenskraft. Mitten im Niedergange der kaiſerlichen Herr-
lichkeit vollführen die Fürſten Niederſachſens, die Ritter des deutſchen
Ordens und die Bürger der Hanſa mit Schwert und Pflug die größte
Coloniſation, welche die Welt ſeit den Tagen der Römer geſehen: die Lande
zwiſchen Elbe und Memel werden erobert und beſiedelt, die ſkandinaviſchen
und die ſlaviſchen Völker auf Jahrhunderte hinaus deutſchem Handel,
deutſcher Bildung unterworfen. Aber Fürſten und Adel, Bürgerthum
und Bauerſchaften gehen Jeder ſeines eigenen Weges; der Haß der
Stände vereitelt alle Verſuche, dieſe Ueberfülle ſchöpferiſcher Volkskräfte
politiſch zu ordnen, die zerfallende Staatseinheit in bündiſchen Formen
wieder aufzurichten.


Dann hat Martin Luther nochmals begeiſterte Männer aus allen
Stämmen des zerſplitterten Volkes zu großem Wirken vereinigt. Der
1*
[4]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Ernſt des deutſchen Gewiſſens führte die verweltlichte Kirche zurück zu
der erhabenen Einfalt des evangeliſchen Chriſtenthums; deutſchem Geiſte
entſprang der Gedanke der Befreiung des Staates von der Herrſchaft
der Kirche. Unſer Volk erſtieg zum zweiten male einen Höhepunkt ſeiner
Geſittung, begann ſchlicht und recht die verwegenſte Revolution aller
Zeiten. In anderen germaniſchen Ländern hat der Proteſtantismus
überall die nationale Staatsgewalt geſtärkt, die Vielherrſchaft des Mittel-
alters aufgehoben. In ſeinem Geburtslande vollendete er nur die Auf-
löſung des alten Gemeinweſens. Es ward entſcheidend für alle Zukunft
der deutſchen Monarchie, daß ein Fremdling unſere Krone trug während
jener hoffnungsfrohen Tage, da die Nation frohlockend den Wittenberger
Mönch begrüßte und, bis in ihre Tiefen aufgeregt, eine Neugeſtaltung
des Reiches an Haupt und Gliedern erwartete. Die kaiſerliche Macht,
dermaleinſt der Führer der Deutſchen im Kampfe wider das Papſtthum,
verſagte ſich der kirchlichen, wie der politiſchen Reform. Das Kaiſerthum
der Habsburger ward römiſch, führte die Völker des romaniſchen Süd-
europas ins Feld wider die deutſchen Ketzer und iſt fortan bis zu ſeinem
ruhmloſen Untergange der Feind alles deutſchen Weſens geblieben.


Die evangeliſche Lehre ſucht ihre Zuflucht bei den weltlichen Landes-
herren. Als Beſchützer des deutſchen Glaubens behaupten und bewähren
die Territorialgewalten das Recht ihres Daſeins. Doch die Nation
vermag weder ihrem eigenſten Werke, der Reformation, die Alleinherrſchaft
zu bereiten auf deutſchem Boden, noch ihren Staat durch die weltlichen
Gedanken der neuen Zeit zu verjüngen. Ihr Geiſt, von Alters her
zu überſchwänglichem Idealismus geneigt, wird durch die tiefſinnige neue
Theologie den Kämpfen des politiſchen Lebens ganz entfremdet; das leidſame
Lutherthum verſteht nicht die Gunſt der Stunde zu befreiender That zu
benutzen. Schimpflich geſchlagen im ſchmalkaldiſchen Kriege beugt das
waffengewaltige Deutſchland zum erſten male ſeinen Nacken unter das Joch
der Fremden. Dann rettet die wüſte Empörung Moritz’s von Sachſen
dem deutſchen Proteſtantismus das Daſein und zerſtört die hispaniſche
Herrſchaft, aber auch die letzten Bande monarchiſcher Ordnung, welche
das Reich noch zuſammengehalten; in ſchrankenloſer Willkür ſchaltet fortan
die Libertät der Reichsſtände. Nach raſchem Wechſel halber Erfolge und
halber Niederlagen ſchließen die ermüdeten Parteien den vorzeitigen
Religionsfrieden von Augsburg. Es folgen die häßlichſten Zeiten deutſcher
Geſchichte. Das Reich ſcheidet freiwillig aus dem Kreiſe der großen
Mächte, verzichtet auf jeden Antheil an der europäiſchen Politik. Unbe-
weglich und doch unverſöhnt lebt die ungeſtalte Maſſe katholiſcher,
lutheriſcher, calviniſcher Landſchaften durch zwei Menſchenalter träge
träumend dahin, während dicht an unſern Grenzen die Heere des katho-
liſchen Weltreichs ihre Schlachten ſchlagen, die niederländiſchen Ketzer um
die Freiheit des Glaubens und die Herrſchaft der Meere kämpfen.


[5]Anfang der neuen deutſchen Geſchichte.

Da endlich bricht der letzte, der entſcheidende Krieg des Zeitalters
der Glaubenskämpfe über das Reich herein. Die Heimath des Pro-
teſtantismus wird auch ſein Schlachtfeld. Sämmtliche Mächte Europas
greifen ein in den Krieg, der Auswurf aller Völker hauſt auf deutſcher
Erde. In einer Zerſtörung ohne Gleichen geht das alte Deutſchland zu
Grunde. Die einſt nach der Weltherrſchaft getrachtet, werden durch die
unbarmherzige Gerechtigkeit der Geſchichte dem Ausland unter die Füße
geworfen. Rhein und Ems, Elbe und Weſer, Oder und Weichſel, alle
Zugänge zum Meere ſind „fremder Nationen Gefangene“; dazu am Ober-
rhein die Vorpoſten der franzöſiſchen Uebermacht, im Südoſten die Herr-
ſchaft der Habsburger und der Jeſuiten. Zwei Drittel der Nation hat
der gräuelvolle Krieg dahingerafft; das verwilderte Geſchlecht, das noch
in Schmutz und Armuth ein gedrücktes Leben führt, zeigt nichts mehr
von der alten Großheit des deutſchen Charakters, nichts mehr von dem
freimüthig heiteren Heldenthum der Väter. Der Reichthum einer uralten
Geſittung, was nur das Daſein ziert und adelt, iſt verſchwunden und
vergeſſen bis herab zu den Handwerksgeheimniſſen der Zünfte. Das
Volk, das einſt von Chriemhilds Rache ſang und ſich das Herz erhob an
den heldenhaften Klängen lutheriſcher Lieder, ſchmückt jetzt ſeine verarmte
Sprache mit fremden Flittern, und wer noch tief zu denken vermag,
ſchreibt franzöſiſch oder lateiniſch. Das geſammte Leben der Nation liegt
haltlos jedem Einfluß der überlegenen Cultur des Auslandes geöffnet.
Auch die Erinnerung an die Hoheit wundervoller Jahrhunderte geht der
Maſſe des Volks über dem Jammer der Schwedennoth, über den kleinen
Sorgen des armſeligen Tages verloren; fremd und unheimlich ragen
die Zeugen deutſcher Bürgerherrlichkeit, die alten Dome in die ver-
wandelte Welt. Erſt anderthalb Jahrhunderte darauf hat die Nation
durch mühſame gelehrte Forſchung die Schätze ihrer alten Dichtung
wieder aufgegraben, erſtaunend, wie reich ſie einſt geweſen. Kein anderes
Volk ward jemals ſo gewaltſam ſich ſelber und ſeinem Alterthum ent-
fremdet; ſogar das heutige Frankreich iſt nicht durch eine ſo tiefe Kluft
getrennt von den Zeiten ſeines alten Königthums. —


Die grauenhafte Verwüſtung ſchien den Untergang des deutſchen
Namens anzukündigen, und ſie ward der Anfang eines neuen Lebens.
In jenen Tagen des Elends, um die Zeit des Weſtphäliſchen Friedens
beginnt unſere neue Geſchichte. Zwei Mächte ſind es, an denen dies
verſinkende Volk ſich wieder aufgerichtet hat, um ſeitdem in Staat und
Wirthſchaft, in Glauben, Kunſt und Wiſſen ſein Leben immer reicher
und voller zu geſtalten: die Glaubensfreiheit und der preußiſche Staat.


Deutſchland hatte durch die Leiden und Kämpfe der dreißig Jahre
die Zukunft des Proteſtantismus für den geſammten Welttheil geſichert
und zugleich den Charakter ſeiner eigenen Cultur unverrückbar feſtgeſtellt.
Sein äußerſter Süden ragte hinein in die katholiſche Welt der Romanen,
[6]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſeine Nordmarken berührten das harte Lutherthum Skandinaviens, doch
ſeine Kernlande blieben der Sammelplatz dreier Bekenntniſſe. Die
deutſche Nation war das einzige paritätiſche unter den großen Völkern
und darum gezwungen den blutig erkämpften kirchlichen Frieden in
Staat und Geſellſchaft, in Haus und Schule durch die Gewöhnung
jedes neuen Tages zu befeſtigen. Vor Zeiten, da die römiſche Kirche
noch die allgemeine Kirche war und die Keime des Proteſtantismus in ſich
umſchloß, hatte ſie unſer Volk für die Geſittung erzogen, ſeine Kunſt und
Wiſſenſchaft reich befruchtet. Als ſie dieſe Mächte der Freiheit ausſtieß
und geſtützt auf die romaniſchen Völker ſich umgeſtaltete zu einer ge-
ſchloſſenen kirchlichen Partei, da gelang ihr zwar durch die Herrſcherkunſt
des Hauſes Habsburg einen Theil des deutſchen Reiches zurückzuerobern;
dem Gemüthe unſeres Volkes blieb der jeſuitiſche Glaube immer fremd.
Die reichen geiſtigen Kräfte der neu-römiſchen Kirche entfalteten ſich
prächtig in ihren romaniſchen Heimathlanden; in dieſem feindlichen
deutſchen Boden, in dieſem Volke geborener Ketzer wollten ſie nicht Wurzel
ſchlagen. Hier ſang kein Taſſo, kein Calderon, hier malte kein Rubens,
kein Murillo. Niemand unter den faulen Bäuchen des deutſchen Mönch-
thums wetteiferte mit dem Gelehrtenfleiße der ehrwürdigen Väter von
St. Maur. Die Geſellſchaft Jeſu erzog unter den Deutſchen viele
fromme Prieſter und gewandte Staatsmänner, auch manche plumpe
Eiferer, welche, wie Pater Buſenbaum, mit ungeſchlachter Germanenderb-
heit der Welt das Geheimniß verriethen, daß der Zweck die Mittel heilige;
doch ihre geſammte Bildung war das Werk romaniſcher Köpfe, wie die
ſinnberauſchenden Formen ihres Cultus. In Deutſchland wirkte der
neue Katholicismus nur hemmend und verwüſtend; ſein geiſtiges Ver-
mögen verhielt ſich zu der Gedankenwelt der deutſchen Proteſtanten wie
die unfruchtbare Scholaſtik unſeres erſten Jeſuiten Caniſius zu der
ſchlichten Weisheit der Werke Luthers. Rom wußte es wohl, Deutſchland
blieb die feſte Burg der Ketzerei, trotz aller Maſſenbekehrungen der Gegen-
reformation. Das Mark unſeres Geiſtes war proteſtantiſch.


Die theuer erkaufte kirchliche Duldung bereitete die Stätte für eine
maßvolle Freiheit, eine beſonnene Verwegenheit des Denkens, die unter
der Alleinherrſchaft einer Kirche niemals gedeihen kann. Auf ſolchem
Boden erwuchs, ſobald das erſchöpfte Volk wieder geniale Naturen zu
ertragen vermochte, unſere neue Wiſſenſchaft und Dichtung, die wirkſamſte
Literatur der neuen Geſchichte, proteſtantiſch von Grund aus und doch
weltlich frei und mild. Sie ſchenkte der verkümmerten Nation aufs Neue
eine mächtige Sprache, gab ihr die Ideale der Humanität und den
Glauben an ſich ſelbſt zurück. Alſo ſind unſerm Volke ſelbſt die Niederlagen
der Reformation zuletzt zum Segen geworden. Gezwungen, alle die großen
Gegenſätze des europäiſchen Lebens in ſeinem eigenen Schooße zu beher-
bergen, ward Deutſchland fähig, ſie alle zu verſtehen und mit der Kraft
[7]Die Reichsverfaſſung.
des Gedankens zu beherrſchen. Seine Seele tönte von jedem Athemzuge
der Menſchheit. Seine claſſiſche Literatur ward vielſeitiger, kühner,
menſchlich freier, als die früher gereifte Bildung der Nachbarvölker.
Hundertundfünfzig Jahre nach dem Untergange der alten deutſchen
Cultur durfte Hölderlin das neue Deutſchland alſo anreden:


O heilig Herz der Völker, o Vaterland!

Allduldend gleich der ſchweigenden Mutter Erd’

Und allverkannt, wenn ſchon aus deiner

Tiefe die Fremden ihr Beſtes haben.

Zugleich erwachte wieder die ſtaatenbildende Kraft der Nation. Aus
dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien
hob ſich der junge preußiſche Staat empor. Von ihm ging fortan das
politiſche Leben Deutſchlands aus. Wie einſt faſt um ein Jahrtauſend
zuvor die Krone von Weſſex alle Königreiche der Angelſachſen zum Staate
von England vereinigte, wie das Königthum der Franzoſen von der Isle
de France aus, das ganze Mittelalter hindurch, die Theilſtaaten der
Barone und Communen eroberte und bändigte, ſo hat die Monarchie der
brandenburgiſch-preußiſchen Marken der zerriſſenen deutſchen Nation
wieder ein Vaterland geſchaffen. Das harte Ringen um die Anfänge
der Staatseinheit gelingt gemeinhin nur der derben bildſamen Lebens-
kraft jugendlicher Völker; hier aber vollzog es ſich im hellen Mittagslichte
der neuen Zeit, gegen den Widerſtand des geſammten Welttheils, im
Kampfe mit den legitimen Gewalten des heiligen Reichs und den unzähligen
durch eine alte Geſchichte verhärteten Gegenſätzen des vielgeſtaltigen
deutſchen Lebens. Es war die ſchwerſte Einheitsbewegung, die Europa
erlebte, und nur der letzte, volle, durchſchlagende Erfolg hat endlich die
widerwillige Welt gezwungen, an das ſo oft ausſichtslos geſcholtene Werk
zu glauben. —


Von Kaiſer und Reich konnte die Neugeſtaltung des deutſchen
Staates nicht mehr ausgehen. Die alte längſt ſchon brüchige Reichs-
verfaſſung wurde ſeit dem Eindringen des Proteſtantismus zu einer
häßlichen Lüge. Die letzten Folgen alles großen menſchlichen Thuns
bleiben dem Thäter ſelber verhüllt. Wie Martin Luther, da er von der
Kirche des Mittelalters ſich löſte, ahnungslos die Bahn brach für die
weltliche Wiſſenſchaft unſerer Tage, die ſeinen frommen Sinn empören
würde: ſo hat er auch, indem er den Staat von der Vormundſchaft der
Kirche befreite, die Wurzeln jenes römiſchen Kaiſerthums untergraben,
das er als treuer Unterthan verehrte. Sobald die Mehrheit der Nation
der evangeliſchen Lehre ſich zuwandte, ward die theokratiſche Kaiſerwürde
ebenſo unhaltbar wie ihre Stütze, das geiſtliche Fürſtenthum. Der ge-
krönte Schirmvogt und die Biſchöfe der alten Kirche durften nicht
herrſchen über ketzeriſchem Volke. Darum wurde ſchon in den erſten
Jahren der Reformation, auf dem Reichstage von 1525, die Forderung
[8]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
laut, daß die geiſtlichen Gebiete heimgeramſcht, den benachbarten weltlichen
Fürſten unterworfen würden; und an allen großen Wendepunkten der
Reichspolitik iſt der nothwendige Gedanke der Seculariſation ſeitdem
regelmäßig wieder aufgetaucht, denn aus ihm ſprach die Natur der Dinge.
Aber das unheilvolle Gleichgewicht der Kräfte und der Gegenkräfte, das
jede Bewegung des Reiches hemmte, vereitelte auch dieſe unabweisbare
Folge der Reformation. Die Mehrzahl der geiſtlichen Fürſten blieb er-
halten, und mit ihnen die traumhaften Herrſchaftsanſprüche der Sacra
Caesarea Majestas,
obſchon das deutſche Königthum, das dieſe römiſche
Krone trug, längſt aller Macht entkleidet, alle Hoheitsrechte der alten
Monarchie längſt übergegangen waren in die Hände der Landesherren.


Zwei Drittel des deutſchen Volkes außerhalb der kaiſerlichen Erb-
lande bekannten das Evangelium, desgleichen alle mächtigen Fürſtenhäuſer
mit Ausnahme der Wittelsbacher und der Albertiner. Das amtliche
Deutſchland aber blieb katholiſch. Die Altgläubigen behaupteten die
Mehrheit im Kurfürſten- wie im Fürſtenrathe, und das Kaiſerthum be-
wahrte noch immer ſeinen halb prieſterlichen Charakter. Der Kaiſer
wurde durch die Krönung „ein Theilhaber unſeres geiſtlichen Amtes“,
gelobte dem Papſte und der Kirche die gebührenden geiſtlichen Ehren zu
erweiſen; er war von Amtswegen Canonicus mehrerer katholiſcher Stifter
und empfing darum das Abendmahl in beiderlei Geſtalt. Es iſt nicht
anders, unter dieſer römiſchen Theokratie konnte die Ketzerei rechtlich
nicht beſtehen. Die erſte große politiſche That der deutſchen Lutheraner
war jene Proteſtation von Speyer, die dem neuen Glauben den Namen
gab; ſie erklärte rund heraus, die Evangeliſchen würden der Mehrheit
im Reiche ſich nicht fügen. Und alſo im Kampfe gegen das Reich, wie
er begonnen, in beſtändiger Empörung hat ſich der Proteſtantismus auch
fürderhin behauptet. Er erzwang die Religionsfriedensſchlüſſe, dem alten
Kaiſereide wie dem Grundgedanken des heiligen Reichs ſchnurſtracks
zuwider, und bildete einen Staat im Staate, um die ertrotzte Glaubens-
freiheit gegen die Mehrheit des Reichstags zu ſichern. Das Corpus
Evangelicorum
blieb in milderen Formen doch ein nicht minder anarchi-
ſcher, ſtaatswidriger Nothbehelf, als die Conföderationen der polniſchen
Adelsrepublik.


Nur ein revolutionärer Entſchluß, nur die Umwandlung des heiligen
Reichs in einen Bund weltlicher Staaten konnte die Nation erretten
aus ſolcher Unwahrheit ihres politiſchen Lebens; nur eine nationale
Staatsgewalt, die ehrlich ihr weltliches Weſen eingeſtand, konnte den
Altgläubigen wie den Evangeliſchen auf dem Boden des Geſetzes gerecht
werden. Schon den beiden größten Publiciſten unſeres ſiebzehnten Jahr-
hunderts drängte ſich dieſe Ueberzeugung auf: der Wortführer der ſchwe-
diſchen Partei, Hippolithus a Lapide predigte mit heißer Leidenſchaft den
Vernichtungskrieg wider das Kaiſerthum; der beſonnenere Samuel
[9]Das Kaiſerthum.
Pufendorf ſah das Reich „ſicher wie einen rollenden Stein“ der Umge-
ſtaltung in einen Staatenbund entgegeneilen. Auch das amtliche
Deutſchland empfand dunkel, wie ſinnlos die alten Formen in der neuen
Zeit geworden. Die Religionsfriedensſchlüſſe gaben ſich ſelber nur für
Waffenſtillſtände, vertröſteten die Nation auf beſſere Zeiten, da „durch
Gottes Gnade eine Vereinigung in Glaubensſachen zu Stande kommen
wird“. Der Weſtphäliſche Friede beauftragte den nächſten Reichstag,
durch eine umfaſſende Verfaſſungsreviſion die neu errungene Macht der
Reichsſtände in Einklang zu bringen mit den alten Rechten der Kaiſer-
krone. Doch das Haus Oeſterreich verhinderte auch diesmal den Verſuch
der Reform. Die Reichsverſammlung von 1654 ging unverrichteter
Dinge auseinander, und da der folgende Reichstag durch anderthalb
Jahrhunderte zu Regensburg tagte, ohne ſeine wichtigſte Aufgabe jemals
in Angriff zu nehmen, ſo blieb der deutſche Staat in Wahrheit ver-
faſſungslos. In ſeinem öffentlichen Rechte lagen die Trümmerſtücke
dreier grundverſchiedener Staatsformen wirr und unverbunden neben
einander: die ſchattenhaften Ueberbleibſel der alten monarchiſchen Einheit,
die verkümmerten Anfänge einer neuen ſtaatenbündiſchen Ordnung, endlich,
lebendiger als Beide, der Particularismus der territorialen Staats-
gewalten.


Das Kaiſerthum hielt in allem Wandel der Zeiten die alten An-
ſprüche monarchiſcher Machtvollkommenheit feſt und geſtattete niemals,
daß ein Reichsgeſetz ihm den Umfang ſeiner Rechte feſt begrenzte. Der
kaiſerliche Oberlehnsherr empfing noch immer ſitzend, mit bedecktem
Haupte die Huldigung ſeiner knieenden Unterthanen, der Reichsſtände;
er übte, ſoweit ſein Arm reichte, die Gerichtsbarkeit durch ſeinen Reichs-
hofrath, als ſei er wirklich noch der höchſte Richter über Eigen und Lehen
und über jeglichen Mannes Leib, wie einſt in den Tagen des Sachſen-
ſpiegels. Noch immer ſchwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiſer-
ſchwert nach allen vier Winden, weil die weite Chriſtenheit dem Doppel-
adler gehorche; noch ſprach das Reichsrecht mit feierlichem Ernſt von den
Lehen des Reichs, die auf den Felsterraſſen der Riviera von Genua und
tief in Toscana hinein lagen; noch beſtanden die drei Reichskanzlerämter
für Germanien, Italien und Arelat; Nomeny und Biſanz und ſo viele
andere, längſt den Fremden preisgegebene Stände wurden noch auf den
Reichstagen zur Abſtimmung aufgerufen; der Herzog von Savoyen galt
als Reichsvicar in Wälſchland, und Niemand wußte zu ſagen, wo des
heiligen Reiches Grenzpfähle ſtanden. Dem Dichterauge des jungen Goethe
wurde in dem altfränkiſchen Schaugepränge der Kaiſerkrönung die farben-
reiche Herrlichkeit des alten Reiches wieder lebendig; wer aber mit dem
nüchternen Sinne des Weltmannes zuſchaute, gleich dem Ritter Lang,
dem erſchien dies Kaiſerthum der verblaßten Erinnerungen und der gren-
zenloſen Anſprüche als ein fratzenhafter Mummenſchanz, ebenſo lächerlich
[10]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
und abgeſchmackt, wie das Schwert Karls des Großen, das den böhmiſchen
Löwen auf der Klinge trug, oder wie die Chorknaben von St. Bartholomäi,
die durch ihr hellſtimmiges fiat! vom hohen Chor herab im Namen der
deutſchen Nation die Erwählung des Weltherrſchers genehmigten.


Die Umbildung des altgermaniſchen Wahlkönigthums zur erblichen
Monarchie hat den meiſten Völkern Weſteuropas die Staatseinheit ge-
ſichert. Deutſchland aber blieb ein Wahlreich, und die dreihundertjäh-
rige Verbindung ſeiner Krone mit dem Hauſe Oeſterreich erweckte nur
neue Kräfte des Zerfalles und des Unfriedens, denn das Kaiſerthum der
Habsburger war unſerem Volke eine Fremdherrſchaft. Abgetrennt von
der Mitte Deutſchlands durch das ſtarke Slavenreich in Böhmen, hatte
die alte deutſche Südoſtmark ſchon früh im Mittelalter ihres eigenen
Weges gehen und ſich einleben müſſen in die verſchlungene Politik des
ungariſch-ſlaviſch-walachiſchen Völkergemiſches der unteren Donaulande.
Sie wurde ſodann durch das Haus Habsburg zum Kernlande eines
mächtigen vielſprachigen Reiches erhoben, durch falſche und echte Privi-
legien aller ernſtlichen Pflichten gegen das deutſche Reich entbunden und
erlangte bereits im ſechzehnten Jahrhundert eine ſo wohlgeſicherte
Selbſtändigkeit, daß die Habsburger ſich mit dem Plane tragen konnten
ihre deutſchen Erblande zu einem Königreich Oeſterreich zu vereinigen.
Mitten im Gewimmel fremden Volksthums bewahrten die tapferen
Stämme der Alpen und des Donauthales getreulich ihre deutſche Art;
ſie nahmen mit ihrer friſchen herzhaften Sinnlichkeit rühmlich Theil an
dem geiſtigen Schaffen unſeres Mittelalters. An dem lebensfrohen
Hofe der Babenberger blühte die ritterliche Kunſt; der größte Dichter
unſerer Staufertage war ein Sohn der Tyroler Alpen; die prächtigen
Hallen von St. Stephan und St. Marien am Stiegen erzählten von
dem Stolze und dem Kunſtfleiß des deutſchen Bürgerthums in Nieder-
öſterreich. Alsdann wandte ſich auch hier der deutſche Geiſt in freudigem
Erwachen der evangeliſchen Lehre zu; in Böhmen wurde das Huſſitenthum
wieder lebendig, und am Ausgang des Jahrhunderts der Reformation
war der größte Theil der deutſch-öſterreichiſchen Kronländer dem Glauben
unſeres Volkes gewonnen. Da führte der Glaubenseifer des Kaiſerhauſes
alle Schrecken des Völkermordes über Oeſterreich herauf. Unter blutigen
Gräueln ward die Herrſchaft der römiſchen Kirche durch die kaiſerlichen
Seligmacher wieder aufgerichtet. Was deutſchen Sinnes war und dem
fremden Joche ſich nicht beugte, Hunderttauſende der Beſten vom böh-
miſchen Volke fanden eine neue Heimath in den Landen der evangeliſchen
Reichsfürſten. Die daheim geblieben, verloren in der Schule der Jeſuiten
die Lebenskraft des deutſchen Geiſtes: den Muth des Gewiſſens, den
ſittlichen Idealismus. Kirchlicher Druck zerſtört die tiefſten Wurzeln des
Volkslebens. Der helle Frohmuth des öſterreichiſchen Deutſchthums ver-
flachte in gedankenloſer Genußſucht, das leichtlebige Volk gewöhnte ſich
[11]Oeſterreich und die Gegenreformation.
raſch an die verlogene Gemüthlichkeit einer pfäffiſchen Regierung, die ihre
kalte Menſchenverachtung hinter läßlich bequemen Formen zu verbergen
wußte.


Der Weſtphäliſche Friede gab dieſem letzten großen Siege der Gegen-
reformation die geſetzliche Weihe. Der Kaiſer genehmigte die Gleich-
berechtigung der drei Bekenntniſſe im Reiche nur unter der Bedingung,
daß ſeine Erblande der Regel nicht unterliegen ſollten. Seitdem ſchied
Oeſterreich aus der Gemeinſchaft des deutſchen Lebens. Das Einzige,
was der zerrütteten Reichsverfaſſung noch Sinn und Inhalt gab, die
geſicherte Glaubensfreiheit, war für die habsburgiſchen Länder nicht vor-
handen; zur ſelben Zeit, da Deutſchland in prunkenden Friedensfeſten
ſich der endlich errungenen Verſöhnung freute, ließ ſein Kaiſer die päpſt-
liche Bulle, welche den Friedensſchluß verdammte, in Wien und Prag,
in Graz und Innsbruck an die Kirchthüren anſchlagen. Auch nach dem
Frieden arbeitet das Kaiſerhaus unabläſſig an der Ausrottung der Ketzerei.
Noch an hundert Jahre lang, bis zum Tode Karls VI., fluthet in
immer kürzeren Wellenſchlägen die Auswanderung öſterreichiſcher Pro-
teſtanten nach dem deutſchen Norden hinüber, bis endlich alle Erblande
den Todesſchlaf der Glaubenseinheit ſchlummern. Zu Anfang des
dreißigjährigen Krieges bekannte ſich die böhmiſche Grafſchaft Glatz, bis
auf eine einzige römiſche Gemeinde, zum evangeliſchen Glauben; als die
Grenadiere König Friedrichs dort einzogen, war das Volk katholiſch bis
auf den letzten Mann, und mitten in dem neubekehrten Lande prangte
die gnadenreiche Wallfahrtskirche von Albendorf, ein Siegesdenkmal für
die Schlacht am Weißen Berge. Den katholiſchen Nachbarn in Baiern
verfeindet durch Stammeshaß und uralte politiſche Gegnerſchaft, arg-
wöhniſch abgeſperrt von jeder Berührung der norddeutſchen Ketzerei, führen
die deutſch-öſterreichiſchen Länder fortan ein ſtilles Sonderleben. Der
Verkehr zwiſchen Böhmen und der unteren Elbe, im Mittelalter ſo
ſchwunghaft, daß Kaiſer Karl IV. hoffen durfte ein großes Elbreich von
Prag bis Tangermünde aufzurichten — alle die alten fruchtbaren Wechſel-
wirkungen zwiſchen dem Nordoſten und dem Südoſten Deutſchlands verfallen
gänzlich, und an der ſächſiſch-böhmiſchen Grenze bildet ſich allmählich eine
ſcharfe Völkerſcheide, ein grundtiefer Gegenſatz der Gedanken und Lebens-
gewohnheiten. Von den ſeelenvollen Klängen der wiedererwachenden
deutſchen Dichtung, von den freien Reden unſerer jungen Wiſſenſchaft
drang kaum ein Laut in dieſe abgeſchiedene Welt. Während die deutſche
Jugend um die Leiden des jungen Werther weinte und mit dem Räuber
Moor auf die Thatenarmuth des tintenkleckſenden Seculums zürnte,
ergötzte ſich das luſtige Wien an den platten Zerrbildern der Blumauer-
ſchen Aeneide. Allein die Werke der großen Tonſetzer Oeſterreichs be-
kundeten, daß die ſchöpferiſche Macht des deutſchen Geiſtes noch nicht
ganz erloſchen war in der ſchönen Heimath Walthers von der Vogelweide.
[12]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Erſt im neunzehnten Jahrhundert ſollte das zertretene Deutſchthum
der Südoſtmarken wieder die Kraft finden allen Arbeiten der modernen
deutſchen Cultur mit lebendigem Verſtändniß zu folgen.


Dergeſtalt hat die Politik der katholiſchen Glaubenseinheit die Donau-
lande auf lange hinaus unſerem Volke entfremdet. Sie zerſpaltete das
alte Reich, ſie ſchuf den vielbeklagten deutſchen Dualismus; ſo lange
die Deutſchen ſich nicht ſelber aufgaben, durften ſie auch den Widerſtand
gegen die Fremdherrſchaft der Habsburger nicht aufgeben. Das Haus
Oeſterreich war im Verlaufe der Jahrhunderte mit der römiſchen Kaiſer-
krone ſo feſt verwachſen, daß die Volksmeinung Beide kaum noch zu
trennen wußte; der einzige Nicht-Oeſterreicher, der während dieſer letzten
Jahrhunderte den deutſchen Thron beſtieg, Karl VII., erſchien den Zeit-
genoſſen wie ein Gegenkaiſer. Eine tiefe innere Verwandtſchaft verband
das entdeutſchte Kaiſerthum mit ſeinem alten Gegner, dem heiligen
Stuhle. Die Wiener Politik zeigt wie die römiſche jenen Charakterzug
heuchleriſcher Salbung, welcher die Theokratie zur unſittlichſten aller
Staatsformen macht. In Wien wie in Rom die gleiche Unfähigkeit,
das Recht des Gegners zu verſtehen. Alle Habsburger, die heitere Liebens-
würdigkeit Maria Thereſias ſo gut wie der ſtumpfſinnige Hochmuth
Leopolds I., ertragen die Schläge des Schickſals in dem zuverſichtlichen
Glauben, daß ihr Haus dem Herzen Gottes am nächſten ſtehe und nur
böſe, gottloſe Menſchen das fromme Erzhaus zu bekämpfen wagen. Hier
wie dort dieſelbe ſtarre Unbeweglichkeit in allen Stürmen der Jahrhun-
derte: jeder ſchmähliche Friede, den die lebendigen Mächte der Geſchichte
dem alten Kaiſerhauſe auferlegen, wird von den Habsburgern unterzeichnet
mit dem ſtillen Vorbehalt, daß zur rechten Stunde die unveräußerlichen
Rechte kaiſerlicher Vollgewalt wieder in Kraft treten ſollen. Hier wie dort
dieſelbe Dreiſtigkeit theokratiſcher Mythenbildung und Rechtsverdrehung.
Indem Maria Thereſia ſich wider den rechtmäßigen Kaiſer Karl VII.
empört, trägt ſie ſelber die ſittliche Entrüſtung der beleidigten kaiſerlichen
Majeſtät zur Schau; als König Friedrich ſodann ihrem drohenden An-
griffe zuvor kommt, da ſchwingt ihr Gemahl, der als ſchlichter Privatmann
an ihrem Hofe lebt, das kaiſerliche Scepter und verurtheilt den Feind
der Königin von Ungarn als Rebellen gegen Kaiſer und Reich; unbe-
fangen, als verſtände ſich’s von ſelber, nimmt nachher das kleine Haus
Lothringen alle die herriſchen Anſprüche des alten Kaiſergeſchlechtes wieder
auf, und wie die Päpſte von dem Throne des Apoſtelfürſten fabeln, ſo
gebärden ſich die Lothringer, als ſeien die Habsburger niemals ausge-
ſtorben. In Wien wie in Rom derſelbe hoffärtig träge Kaltſinn gegen
das Wohl des eigenen Volkes: ſobald die Glaubenseinheit feſt begründet
und der ſchweigende Gehorſam der Unterthanen geſichert iſt, wird die
geſammte Macht Oeſterreichs nach außen gewendet. Alles Leben des
Staates geht in der europäiſchen Politik auf, im Innern wird gar nicht
[13]Das neue Oeſterreich.
regiert, die alte ſtändiſche Verwaltung ſchleppt ſich gemächlich dahin in
ihren verlebten Formen. Niemand denkt an die Ausbildung einer ge-
ordneten Regierungsgewalt, an die Pflege des Wohlſtandes und der
Bildung, an alle jene unſcheinbar großen Aufgaben der inneren Politik,
welche einem geſunden weltlichen Staate den beſten Inhalt des Lebens
bilden. Jahrhunderte lang hat die Geſchichte Oeſterreichs neben zahl-
reichen fähigen Feldherren und Diplomaten kein einziges Talent der Ver-
waltung aufzuweiſen. Erſt unter Maria Thereſia entſinnt ſich die Krone
der nächſten Pflichten der Monarchie.


Indeſſen zeigte jene ſtaatenbildende Kraft der neuen Geſchichte, die
überall zur feſten Abrundung der Staatsgebiete drängte, auch in dem
bunten Ländergemiſch der habsburg-burgundiſchen Erbſchaft ihre Wirkſam-
keit. Unter Leopold I. wird Ungarn erobert, die Stephanskrone erblich
dem Hauſe Oeſterreich übertragen. Damit beginnt die Geſchichte der
neuen öſterreichiſchen Großmacht, wie gleichzeitig mit dem Großen Kur-
fürſten die neue deutſche Geſchichte. Der Hausbeſitz der Habsburger wird
zur geographiſchen Einheit; das Donaureich findet den Schwerpunkt ſeiner
militäriſchen Macht in Ungarns kriegeriſchen Völkern. Starke wirth-
ſchaftliche und politiſche Intereſſen verbinden fortan die deutſchen Erb-
lande mit dem Völkergewimmel jener ſubgermaniſchen Welt, wo das
Deutſchthum nur mühſam ein geiſtiges Uebergewicht behauptet; im Ver-
laufe der langen ruhmvollen Türkenkriege entſteht unter den deutſchen,
ungariſchen und ſlaviſchen Kampfgenoſſen ein Bewußtſein der Gemeinſchaft.
Durch die Eroberung Ungarns wurde vollendet, was die Politik der
Gegenreformation begonnen hatte: die Trennung Oeſterreichs von Deutſch-
land. So lange die Paſchas der Osmanen auf der Königsburg von
Ofen hauſten, führte Oeſterreich den Markmannenkrieg für die deutſche
Geſittung gegen die Barbarei des Oſtens; nur mit Deutſchlands Hilfe,
durch das gute Schwert der Märker, der Sachſen, der Baiern gelang die
Vertreibung der Türken aus Ungarn. Seit die Pforte in Schwäche
verſank, zerriß auch dies letzte Band gemeinſamer Gefahr, das unſere
Nation noch an das Kaiſerthum gekettet hatte. Deutſchland und Oeſter-
reich waren nunmehr zwei ſelbſtändige Reiche, allein durch die Formen
des Staatsrechts künſtlich verbunden; die Zerſtörung dieſer unwahren
Formen blieb für lange Jahrzehnte die große Aufgabe der deutſchen
Geſchichte.


Schritt für Schritt befeſtigte ſich ſeitdem die Staatseinheit des neuen
Oeſterreichs. Die Pragmatiſche Sanction verkündete die Untheilbarkeit des
kaiſerlichen Hausbeſitzes. Darauf gab der größte Herrſcher des Habsburger-
ſtammes den Erblanden, die bisher nur durch das Kaiſerhaus, den Clerus,
den Adel und das Herr verbunden geweſen, eine nothdürftige gemeinſame
Verfaſſung. Maria Thereſia begründete das Syſtem des öſterreichiſch-
ungariſchen Dualismus. Sie ſtellte die böhmiſch-öſterreichiſche Hofkanzlei
[14]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
als höchſte Behörde über die Kronländer dieſſeits der Leitha, während die
Lande der Stephanskrone in ihrem althiſtoriſchen ſtaatsrechtlichen Ver-
bande blieben. Alſo ward mit ſicherem Griffe die Form gebildet, welche
allein dies an Gegenſätzen überreiche Ländergewirr zuſammenhalten konnte;
nach mannichfachen vergeblichen Anläufen zum Einheitsſtaate wie zum Staa-
tenbunde iſt die Monarchie ſeitdem immer wieder zu den Gedanken der
Kaiſerin zurückgekehrt. Auch die Noth und der Ruhm der thereſianiſchen
Tage kräftigten den Beſtand des Staates: durch acht ſchwere Kriegsjahre
behauptete die ſtolze Habsburgerin, beharrlich unterſtützt von ihren treuen
Völkern, das Erbe ihres Hauſes gegen eine mächtige Coalition; und wie
leuchtend auch während des ſiebenjährigen Krieges das Geſtirn König
Friedrichs empor ſtieg, die Beſiegten ſelber zur Bewunderung zwingend, das
kaiſerliche Heer trug doch die Kränze von Kollin und Hochkirch, freute ſich
der Heldengröße ſeines Loudon, ging mit berechtigtem Selbſtgefühl aus dem
gewaltigen Kampfe hervor. Lange bevor es ein Kaiſerthum Oeſterreich
gab, redete der allgemeine Sprachgebrauch Europas ſchon von dem öſter-
reichiſchen Staate und Heere.


Der Beſitz der Stephanskrone gewährte dem Kaiſerhauſe die Mög-
lichkeit, in der europäiſchen Politik eine feſte Richtung folgerecht einzuhalten.
Der Eroberer Ungarns, Eugen von Savoyen, wies dem Staate die ver-
heißende Bahn nach dem Schwarzen Meere; vorzudringen bis zu den
Mündungen des Stromes und die ſlaviſch-walachiſchen Völker auf
beiden Ufern einer überlegenen Geſittung zu unterwerfen, dies ſchien
fortan der natürliche Beruf des Donaureichs. Darum galt das ent-
legene Belgien, das den Staat beſtändig in die Händel Weſteuropas zu
verwickeln drohte, bald als eine unbequeme Laſt; ſchon zur Zeit der
ſchleſiſchen Kriege begannen die ſeitdem beharrlich wiederkehrenden Ver-
ſuche, den unhaltbaren Außenpoſten gegen ein näher gelegenes Gebiet
auszutauſchen. Gleichwohl lernte das Kaiſerhaus niemals, in weiſer
Selbſtbeſchränkung die geſammelte Kraft des Staates gegen den Südoſten
zu wenden. Eine nationale Politik war in dieſem Reiche der Völker-
trümmer ohnehin unmöglich; zu keiner Zeit und am Wenigſten in jener
Epoche des Abſolutismus hat die öffentliche Meinung auf Oeſterreichs
diplomatiſche Haltung irgend welchen Einfluß ausgeübt. Die europäiſche
Stellung des Staates ward jederzeit allein durch das perſönliche Be-
lieben ſeiner Herrſcher beſtimmt. Die Macht des Hauſes war einſt
gegründet worden durch eine ſchlaue und kühne Familienpolitik, die
planlos begehrlich nach allen Seiten hin um ſich griff, ohne nach der
Weltſtellung und Eigenart der unterworfenen Länder zu fragen. Die
Gedanken dieſer dynaſtiſchen Staatskunſt und die glänzenden Erinnerungen
kaiſerlicher Weltherrſchaft bleiben auch in dem neuen Donaureiche noch
lange lebendig. Die Hofburg hält ihre Herrſcherſtellung im deutſchen
Reiche beharrlich feſt; ſie verſucht zugleich, durch die Eroberung Baierns
[15]Die kaiſerliche Partei.
die vorderöſterreichiſchen Beſitzungen am Rheine mit den Kernlanden der
Monarchie zu verbinden; ſeit Karl VI. nimmt ſie auch die italieniſche
Politik der ſpaniſchen Habsburger wieder auf und ſtrebt jenſeits der
Alpen die Oberhand zu behaupten; dazwiſchen hinein ſpielen in raſchem
Wechſel kecke Anſchläge gegen Polen und die Osmanen: — ein Uebermaß
unſteter Herrſchſucht, das den mächtigen Staat von einer Niederlage zur
andern führt.


Alſo ſtand die kaiſerliche Macht der proteſtantiſch-deutſchen Bildung
feindſelig, den europäiſchen Aufgaben der deutſchen Politik gleichgiltig, den
Handelsintereſſen unſerer Küſten mit binnenländiſcher Beſchränktheit gegen-
über. Die Habsburg-Lothringer konnten in den unklaren Befugniſſen
des Kaiſerthums nur ein willkommenes Mittel ſehen um die gewaltige
kriegeriſche Kraft deutſcher Nation auszubeuten für die Zwecke des Hauſes
Oeſterreich, die Machtfragen dieſer Hauspolitik zu entſcheiden durch den
Mißbrauch der Formen des Reichsrechts. Die altehrwürdige kaiſerliche
Gerichtsbarkeit ward ein Tummelplatz für rabuliſtiſche Künſte, Deutſchlands
auswärtige Politik ein unberechenbares Spiel. Das Reich, von der
Hofburg bald fremden Angriffen preisgegeben, bald in undeutſche Händel
hineingezogen, mußte regelmäßig den Preis für Oeſterreichs Niederlagen
zahlen. Holland und die Schweiz, Schleswigholſtein, Pommern und
das Ordensland, Elſaß und Lothringen gingen weſentlich durch die Schuld
der Habsburger dem Reiche verloren: unerſetzliche Verluſte, minder
ſchmachvoll für jene halbfremde Macht, welche die Kaiſerpflicht mit den
Intereſſen ihres Hauſes nicht vereinigen konnte, als für die deutſche
Nation, die nach ſolchem Unſegen der Fremdherrſchaft nimmer den Willen
fand das Löwenbündniß mit Oeſterreich zu zerreißen.


Das Kaiſerthum wurzelte in einer überwundenen Vergangenheit
und fand darum ſeinen natürlichen Gegner in dem erſtarkenden weltlichen
Fürſtenthum, ſeine Anhänger unter den verfaulten und verkommenen
Gliedern des Reichs. „Das ſtiftiſche Deutſchland“ bildete den Kern der
öſterreichiſchen Partei: jene reichgeſegneten geiſtlichen Gebiete, die, durch die
Siege der Gegenreformation der römiſchen Kirche zurückgegeben, nunmehr
unter der weichen Herrſchaft des Krummſtabs, im Behagen der Vetterſchaft
und der Sinnlichkeit ein bequemes Stillleben führten. Sie konnten,
rings umklammert und durchſchnitten von evangeliſchen Gebieten, dem
Leben der Nation nicht ſo gänzlich entfremdet werden wie die kaiſerlichen
Erblande; mancher milde und gelehrte Kirchenfürſt kam den Ideen des
Zeitalters der Aufklärung freudig entgegen. Doch die politiſche Lebens-
kraft der geiſtlichen Staaten blieb unrettbar verloren, und der Gedanken-
arbeit des neuen Jahrhunderts ſtand die Maſſe des Volkes in Köln,
Mainz und Trier ſo fern, daß ſpäterhin der Verluſt des linken Rhein-
ufers dem geiſtigen Leben Deutſchlands kaum eine fühlbare Wunde ſchlug.
Zum Kaiſer hielt desgleichen der mächtige katholiſche Adel, der in ſeinen
[16]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Domcapiteln über drei Kurhüte und zahlreiche Fürſtenſtühle des Reichs
verfügte, in den Dienſten des adelsfreundlichen Erzhauſes bequeme
Verſorgung für ſeine Söhne fand. Auch die Landſtände der weltlichen
Fürſtenthümer riefen die Hilfe des Kaiſers an, wenn ſie ihre habenden
Freiheiten gegen das gemeine Recht der neuernden Monarchie vertheidigten.
Der katholiſchen Mehrheit ſicher ſchaute die Hofburg gemächlich zu, wie
die Parteien im Reiche ſich an einander zerrieben, das gegenſeitige Miß-
trauen jeden Gedanken der Reichsreform im Keime erſtickte, jede dem
Kaiſerthum bedrohliche Macht durch andere Mächte darnieder gehalten
wurde. Die überlieferte Ehrfurcht der kleinen Fürſten vor dem Erzhauſe,
der Neid des Nachbars gegen den Nachbarn, der Einfluß der Beichtväter
auf die zahlreichen fürſtlichen Convertiten, endlich die reichen Gnaden
und Privilegien, womit die Hofburg ihre Getreuen belohnte, ſicherten dem
Kaiſerhauſe auch an den proteſtantiſchen Höfen jederzeit einen ſtarken
Anhang; mancher fürſtliche Geheime Rath erhielt geradezu den Titel
eines kaiſerlichen Miniſters und damit den Auftrag, die Sache Oeſterreichs
an ſeinem Hofe zu vertreten. Die Kaiſerwürde, werthlos in der Hand
eines kleinen Herrn, bot einer Großmacht mannichfache Handhaben, den
hohen Adel deutſcher Nation mittelbar zu beherrſchen; und dieſer mächtige
Einfluß ſtand einem Fürſtenhauſe zu, das weder gewillt noch im Stande
war, ſich den Geſetzen des Reichs, den Pflichten deutſcher Politik zu fügen.
Ein gewandter Parteigänger des kaiſerlichen Hauſes, der Freiherr von
Gemmingen, ſchrieb in einem unbewachten Augenblicke ehrlicher Erregung
kurzab: „Das Haus Oeſterreich kann nur das Oberhaupt oder der
Feind des deutſchen Reiches ſein.“ —


Neben dieſen Trümmern einer verfallenen, fremden Zwecken dienenden
monarchiſchen Gewalt enthielt die Reichsverfaſſung noch die Anfänge
einer bündiſchen Ordnung: ein Vermächtniß jener großen Reformperiode
des Reichs, da Berthold von Mainz, Friedrich von Sachſen, Eitelfritz
von Zollern an der Spitze unſeres Fürſtenſtandes den kühnen Verſuch
gewagt hatten, das deutſche Gemeinweſen in einen kräftigen Bundesſtaat
zu verwandeln. Von daher ſtammten die Kreisordnung und der von den
Reichsſtänden beſetzte Bundesgerichtshof, das Reichskammergericht. Aber
wie der Kaiſer die Wirkſamkeit dieſes ſtändiſchen Tribunals durch die con-
currirende Gewalt ſeines monarchiſchen Reichshofraths beſtändig ſchwächte,
ſo gelang es auch der Mehrzahl der größeren Reichsfürſten, ihre Gebiete
der Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts zu entziehen. In Schwaben,
Franken und am Rhein, wo ein Gewölk von Biſchöfen und Reichsrittern,
Fürſten und Reichsſtädten, Aebten und Grafen in wunderlichem Gemenge
durcheinander hauſte, genügte das Anſehen der Kreisoberſten und der
Kreistage noch zuweilen um die polizeiliche Ordnung nothdürftig aufrecht
zu halten und die winzigen Contingente der Reichsſtände zu größeren
Heerkörpern zu vereinigen. Im Norden und Oſten hatte die Kreis-
[17]Foederalismus und Territorialismus.
ordnung niemals feſten Boden gewonnen. Hier waren die geiſtlichen
Gebiete ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden faſt gänzlich vernichtet, die
mächtigen weltlichen Fürſten meinten ſich ſelber zu genügen. Wie
aus einer hellen modernen Welt blickte der Norddeutſche hochmüthig
hinüber nach jenem bunten Gewirr der Kleinſtaaterei im Südweſten, das
er ſpottend „das Reich“ nannte. Was noch jung und ſtark war im
alten Deutſchland, ſtrebte aus den beengenden Formen der Reichsver-
faſſung hinaus.


Der Particularismus des weltlichen Fürſtenthums blieb doch die
lebendigſte politiſche Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der
That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deutſcher
Fürſten. Seine Stände beſaßen ſeit dem Weſtphäliſchen Frieden das
Recht der Bündniſſe und die Landeshoheit in geiſtlichen wie in weltlichen
Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens der
Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben dem
Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammesherzogthümer
emporgewachſenen weltlichen Staaten umfaßte ein abgerundetes Gebiet,
keiner einen ſelbſtändigen deutſchen Stamm; ſie dankten alleſammt ihr
Daſein einer dynaſtiſchen Staatskunſt, die durch Krieg und Heirath, durch
Kauf und Tauſch, durch Verdienſt und Verrath einzelne Fetzen des zer-
riſſenen Reiches zuſammenzuraffen und feſtzuhalten verſtand. Dieſe
Hauspolitik ergab ſich nothwendig aus der Reichsverfaſſung ſelber.
Die Nation war mediatiſirt, nur die Herrengeſchlechter galten als Reichs-
unmittelbare; auf dem Reichstage waren nicht die Staaten, ſondern die
Fürſtenhäuſer vertreten; das Glaubensbekenntniß des fürſtlichen Hauſes,
nicht des Volkes, entſchied über die Frage, ob ein Reichsſtand den Evan-
geliſchen oder den Katholiken zuzuzählen ſei; kurz, das Reichsrecht kannte
keine Staaten, ſondern nur Land und Leute fürſtlicher Häuſer. Die
Wechſelfälle einer wirrenreichen Geſchichte hatten die Grenzen der Terri-
torien beharrlich durch einander geſchoben, jede Achtung vor dem Be-
ſitzſtande der Genoſſen, jeden eidgenöſſiſchen Rechtsſinn im deutſchen
Fürſtenſtande ertödet. Begehrlich ſah der Nachbar auf des Nachbars
Land, ſtets bereit mit fremder Hilfe den Landsmann zu überwältigen.
Die Ländergier und der Dynaſtenſtolz der großen Fürſtengeſchlechter be-
drohten das Reich mit gänzlichem Zerfalle. Längſt ſtrebten Sachſen und
Baiern nach der Königskrone; Kurpfalz hoffte ſeine niederrheiniſchen Lande
zu einem Königreich bei Rhein zu erheben und alſo der Oberhoheit des
Reiches ledig zu werden.


Gleichwohl lag in dem Leben dieſer weltlichen Fürſtenthümer nahezu
Alles umſchloſſen, was noch deutſche Politik heißen konnte. Es bleibt
der hiſtoriſche Ruhm unſeres hohen Adels, daß Deutſchlands Fürſten die
der nationalen Monarchie entriſſene Macht nicht wie die polniſchen
Magnaten allein verwendeten, um die Pracht und den Glanz ihres
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 2
[18]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Hauſes zu mehren, ſondern ſich redlich bemühten in ihren engen Gebieten
die politiſchen Pflichten zu erfüllen, denen das Reich ſich verſagte. Das
Kaiſerhaus lebte ſeinen europäiſchen Plänen, der Reichstag haderte um
leere Formen; in den Territorien wurde regiert. Hier allein fanden
das Recht, der Wohlſtand, die Bildung des deutſchen Volkes Schutz und
Pflege. Unſere Fürſten hatten einſt das Kleinod deutſcher Geiſtesfreiheit
gerettet im Kampfe gegen das Haus Habsburg. In der langen matten
Friedenszeit nachher blühte jene treufleißige Kurfürſtenpolitik, die, jedes
großen Gedankens baar, ängſtlich zurückſchreckend vor den geſchwinden
Händeln der europäiſchen Kämpfe, ihre wohlwollende Sorgfalt allein
dem Gedeihen des eignen Ländchens widmete. Die durch wunderliche
Glücksfälle zuſammengewürfelten Ländertrümmer verwuchſen nach und nach
zu einer kümmerlichen politiſchen Gemeinſchaft. Die Territorien wurden
zu Staaten. In der Enge ihres Sonderlebens bildete ſich ein neuer
Particularismus. Der Kurſachſe, der Kurpfälzer, der Braunſchweig-
Lüneburger hing mit feſter Treue an dem angeſtammten Fürſtenhauſe,
das ſo lange Freud’ und Leid mit ſeinem Völkchen getheilt. In der Hand
der landesfürſtlichen Obrigkeit lag ſein und ſeiner Kinder Glück;
das große Vaterland ward ihm zu einer dunkeln Sage. Nach dem
dreißigjährigen Kriege waren es wieder die Landesherren, nicht Kaiſer
und Reich, die dem Bürger und Bauern halfen ſeine verwüſteten Wohn-
plätze aufzubauen, kärgliche Trümmer des alten Wohlſtandes aus der
großen Zerſtörung zu retten; ihrem Karl Ludwig dankte die Pfalz die
Wiederkehr froherer Tage. Dies weltliche Fürſtenthum, das mit ſeiner
dreiſten Selbſtſucht jedes Band nationaler Gemeinſchaft zu zerſprengen
drohte, ſtand doch rührig und wirkſam mitten im Leben der Nation. War
ein Neubau des deutſchen Geſammtſtaates noch möglich, ſo konnte er
nur auf dem Boden dieſer Territorialgewalten ſich erheben. —


In ſolchem Chaos von Widerſprüchen hatte jede Inſtitution des
Reichs ihren Sinn, jedes Recht ſeine Sicherheit verloren. Der Mehrer
des Reichs mehrte ſeine Hausmacht zu Deutſchlands Schaden. Das ehr-
würdige Amt des Reichskanzlers in Germanien, der vormals der natürliche
Führer der Nation in allen ihren Verfaſſungskämpfen geweſen, ward in
den Händen des Mainzer Erzbiſchofs nach und nach ein gefügiges Werk-
zeug öſterreichiſch-katholiſcher Parteipolitik. Die Wahlcapitulation, vor
Zeiten beſtimmt den dynaſtiſchen Mißbrauch der kaiſerlichen Gewalt zu
verhindern, diente jetzt die dynaſtiſche Willkür der Landesherren von jedem
Zwange zu entfeſſeln. Der Reichstag hatte ſich gleich den Generalſtaaten
der Niederlande aus einer Ständeverſammlung thatſächlich in einen
Bundestag verwandelt und vermochte doch niemals, wie jene, ein geſundes
bündiſches Leben auszubilden. Ueberall widerſprachen die Formen des
Rechtes den lebendigen Mächten der Geſchichte. Die Reichsverfaſſung legte
das Recht der Mehrheit in die Hand der ſchwächſten Stände; ſie zwang
[19]Die Lüge des Reichsrechts.
die Mächtigen zu dem trotzigen Bekenntniß: was dem Reiche zugeht
wird unſerer Freiheit genommen. Ein dichter Nebel von Phraſen und
Lügen lag über den gothiſchen Zinken und Zacken des alten Reichsbaues;
in keinem Staate der modernen Welt iſt ſo beharrlich und feierlich von
Amtswegen gelogen worden. Die frommen reichsväterlichen Vermahnun-
gen der entdeutſchten kaiſerlichen Majeſtät, die inbrünſtigen reichspatrio-
tiſchen Betheuerungen der mit dem Auslande verſchworenen Reichsſtände,
die prahleriſchen Reden von deutſcher Libertät und dem ungebeugten
Nacken der Nation, Alles, Alles in dieſem Regensburger Treiben erſcheint
dem redlichen Sinne als eine grobe Unwahrheit.


Seit jenen müden Tagen nach dem Augsburger Frieden, die den alten
deutſchen Stolz in zagen Philiſterſinn verwandelten, kam in unſerem Volke
die kleinmüthige Neigung auf, nach Troſtgründen zu ſuchen für das Unleid-
liche und Schmachvolle; die deutſche Geduld ließ ſichs nicht nehmen, ſelbſt
den Aberwitz dieſer Reichsverfaſſung wiſſenſchaftlich zu erklären und zu
rechtfertigen. Vergeblich erhob Samuel Pufendorf ſeine mahnende Stimme
und ſchilderte das Reich wie es war, als ein politiſches Ungeheuer. Da
die Leidenſchaft der Glaubenskriege allgemach verrauchte und die Unwahr-
heit der theokratiſchen Reichsformen im täglichen Leben wenig mehr
empfunden wurde, ſo ließ ſich die zünftige Rechtsgelahrtheit in ihrer
unterthänigen Ruheſeligkeit nicht ſtören. Noch immer verſicherten einzelne
Cäſarianer aus Reinkingks Schule, das heilige Reich ſei eine Monarchie
und ſein Kaiſer der rechtmäßige Nachfolger des Divus Auguſtus. Andere
prieſen die Ohnmacht des Reichs und die Zuchtloſigkeit ſeiner Glieder als
das Palladium deutſcher Freiheit. Die Meiſten fanden in dem beglückten
Deutſchland das Idealbild des gemiſchten Staates verwirklicht, der alle
Vorzüge anderer Staatsformen in ſich vereinigen ſollte. Selbſt ein
Leibnitz vermochte dem Bannkreiſe dieſer wiſſenſchaftlichen Traumwelt
nicht zu entfliehen.


Die Fäulniß eines ſolchen Staatslebens begann bereits den recht-
ſchaffenen Gradſinn des Volkscharakters zu zerſtören. Ein Menſchenalter
voll namenloſer Leiden hatte den bürgerlichen Muth gebrochen, den kleinen
Mann gewöhnt vor dem Mächtigen zu kriechen. Unſere freimüthige Sprache
lernte in allerunterthänigſter Ergebenheit zu erſterben und bildete ſich
jenen überreichen Wortſchatz von verſchnörkelten knechtiſchen Redensarten,
den ſie noch heute nicht gänzlich abgeſchüttelt hat. Die gewiſſenloſe Staats-
räſon des Jahrhunderts vergiftete auch den bürgerlichen Verkehr. Das
geldgierige Geſchlecht warb, wetteifernd in Beſtechung und Ränkeſpiel, um
die Gnade der Großen; kaum daß ſich noch in der Stille des häuslichen
Lebens ein Hauch treuherziger Gemüthlichkeit verſpüren ließ. Der Edel-
mann ſtrebte die Herrſchaft, die er in den Landtagen gegen die aufſteigende
Monarchie nicht mehr behaupten konnte, durch höfiſchen Einfluß und durch
die Mißhandlung des Landvolks von Neuem zu befeſtigen; niemals in
2*
[20]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
unſerer Geſchichte war der Adel mächtiger, niemals ſchädlicher für das Leben
der Nation. Der Fürſtenſtand vergaß ſeine alte landesväterliche Sorgſam-
keit, ſeit das gleißende Vorbild des bourboniſchen Königthums den kleinen
Herren den Sinn bethörte. Die größeren Höfe mißbrauchen das neu erwor-
bene Recht der Bündniſſe, drängen ſich vorlaut, vielgeſchäftig ein in die
Händel der europäiſchen Mächte, bilden glänzende Armeen mit Marſchällen
und Generalen, und glücklich wer einen Admiral zu halten vermag wie der
pfälziſche Kurfürſt auf ſeinen Rhein-Zollſchiffen. Alle, die großen wie die
kleinen, wetteifern in prahleriſcher Pracht mit dem großen Ludwig; das
ärmſte Land Weſteuropas überſtrahlt bald alle Nachbarn durch die Unzahl
ſeiner prunkenden Fürſtenſchlöſſer. Kein Reichsgraf, der ſich nicht ſein Ver-
ſailles, ſein Trianon erbaute; im Schloßgarten von Weikersheim bewachen
die Standbilder der Welteroberer Ninus, Cyrus, Alexander und Caeſar
den Eingang zu dem Herrſcherſitze des Hohenlohiſchen Reichs. Der deutſche
Kleinfürſt fand weder in dem Pflichtgefühle der Monarchie noch in der
Standesgeſinnung eines politiſchen Adels einen ſittlichen Halt; Mancher
empfand voll Unmuth den Fluch eines zwecklos leeren Daſeins, Mancher
vertobte ſeine Kraft in frecher Unzucht und grauſamen Sultanslaunen.


Für ein Zuſammenwirken des Adels mit dem Bürgerthum, für
ein engliſches Unterhaus bot der alte deutſche Staat keinen Raum. Der
Städtebund der Hanſa war zerfallen ſeit die geeinte nationale Macht der
Völker des Weſtens die beiden Indien erobert hatte; jene glorreiche Flagge,
die im Mittelalter auf allen nordiſchen Meeren herrſchte, ließ ſich kaum mehr
blicken in dem neuen transatlantiſchen Verkehre. Die Nation ward dem
Meere ſo fremd, wie ihr Kaiſerhaus. Unter allen Schriftſtellern unſeres
achtzehnten Jahrhunderts iſt nur Einer, der Seeluft geathmet hat und
die befreiende Macht des völkerverbindenden Handels zu ſchätzen weiß:
Juſtus Möſer. Wie ein Hohn klang in der ſtockigen Luft dieſes binnen-
ländiſchen Stilllebens der frohe Schifferſpruch, der noch am Hauſe Seefahrt
in Bremen zu leſen ſtand: navigare necesse est, vivere non necesse.
Engliſche und holländiſche Schiffe führten die Waaren der Colonien zur
Elbe und den Rhein hinauf; faſt allein mit ſeiner Leinwand und ſeinen
Metallwaaren beſchickte der deutſche Gewerbefleiß noch den Weltmarkt.
Keine der altberühmten Städte des Reichs vermochte ihre hiſtoriſche
Größe zu behaupten; die Trave verödete, der oberländiſche Handel verfiel,
die Lübecker Baugeſchichte endete mit der Gothik, die Augsburger mit dem
Zeitalter der Renaiſſance. Nur an einigen jüngeren Handelsplätzen, in
Hamburg und Leipzig, ſammelte ſich wieder langſam ein neuer Verkehr. Die
alten Reichsſtädte verſchloſſen ſich ſtill hinter ihren Wällen, ängſtlich das
Stadtrecht und den Zunftbrauch hütend, kleinlaut auf den Reichstagen,
voll Mißtrauens gegen die ausgreifende Gewalt der fürſtlichen Nachbarn
ringsum; aus langen Jahrzehnten meldet kaum eine dürftige Kunde, daß
dieſe ſtolzen Communen noch lebten. Und da auch in dem bedienten-
[21]Wehrloſigkeit des Reichs.
haften Treiben der neuen Reſidenzen der Bürgerſtolz nicht gedeihen wollte,
ſo wurde das Land, deſſen hanſiſche Helden einſt die Königskronen Skan-
dinaviens verſchenkten, zum claſſiſchen Boden kleinſtädtiſcher Armſeligkeit.
Deutſchland bot das in aller Geſchichte unerhörte Schauſpiel eines alten
Volkes ohne eine Großſtadt. Nirgends ein Brennpunkt des nationalen
Lebens, wie ihn die Nachbarvölker in London, Paris und Madrid, ja
ſelbſt in Kopenhagen, Stockholm und Amſterdam beſaßen. Nirgends eine
Stelle, wo die Parteikämpfe eines politiſchen Adels mit der Bildung und
dem Reichthum eines ſelbſtbewußten Bürgerthums befruchtet und be-
fruchtend ſich berührten. Alle Kräfte der Nation ſtreben in unendlicher
Zerplitterung auseinander, in tauſend Rinnſalen verſiegend gleich dem
deutſchen Strome: jeder Stand, jede Stadt, jede Landſchaft eine Welt
für ſich ſelber.


Die ganze Schmach dieſer Zerſplitterung zeigte ſich in der Wehr-
loſigkeit des Reichs. In den Zeiten ſeiner Größe hatte Deutſchland ſeine
gefährdete Oſtgrenze mit dem eiſernen Gürtel der kriegsbereiten Marken
umſchloſſen. Jetzt, da beſtändig vom Weſten her der Angriff drohte,
lagen dicht vor Frankreichs begehrlichen Händen die ſchwächſten, die
waffenloſen Glieder des Reichs. Die lange Pfaffengaſſe des Rheines
entlang erſtreckte ſich von Münſter und Osnabrück bis nach Conſtanz
hinauf ein Gewirr winziger Staaten, unfähig zu jeder ernſthaften Kriegs-
rüſtung, durch das Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrathe gezwungen.
Faſt alle rheiniſchen Höfe bezogen Penſionen aus Verſailles; der erſte
Rheinbund von 1658 ward von begeiſterten Reichspatrioten als ein
rühmliches Unternehmen zum Schutze deutſcher Freiheit geprieſen. Ein
Gebiet von faſt dreitauſend ſechshundert Geviertmeilen gehörte ſolchen
Kleinſtaaten, deren keiner mehr als 130 Geviertmeilen umfaßte; der
Volkswitz verhöhnte die ſtrümpfeſtrickenden Kölniſchen Stadtſoldaten und
das grimmige Kriegsvolk des Biſchofs von Hildesheim, das auf ſeinen
Hüten die Inſchrift trug: Gieb Frieden, Herr, in unſern Tagen! Dies
reichſte Drittel Deutſchlands diente in den Kriegen des Reiches nur als
todte Laſt. Es bleibt ein glänzendes Zeugniß für die deutſche Tapfer-
keit, daß die Nation nach ſolcher Selbſtverſtümmelung von den Heeren
Frankreichs und Schwedens nicht gänzlich überwältigt wurde. Die Ge-
ſammtheit des Reichs galt kaum noch als eine Macht zweiten Ranges,
während ſeine mächtigeren Glieder längſt ſchon ſelbſtändig auf der freien
Bühne der europäiſchen Politik ſich bewegten.


Die Reichsverfaſſung erſcheint wie ein wohldurchdachtes Syſtem,
erſonnen um die gewaltigen Kräfte des waffenfroheſten der Völker künſtlich
niederzudrücken. In der That wurde der unnatürliche Zuſtand nur
durch die Wachſamkeit des geſammten Welttheils aufrecht erhalten. Das
heilige Reich blieb durch ſeine Schwäche, wie einſt durch ſeine Stärke,
der Mittelpunkt und die Grundlage des europäiſchen Staatenſyſtems.
[22]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Auf der Ohnmacht Deutſchlands und Italiens ruhte die neue Macht-
ſtellung von Oeſterreich und Frankreich, von Schweden, Dänemark und
Polen, wie die Seeherrſchaft der Briten und die Unabhängigkeit der
Schweiz und der Niederlande. Eine ſtille Verſchwörung des geſammten
Auslandes hielt die Mitte des Feſtlands gebunden. Die Fremden lachten
der querelles allemandes und der misère allemande; der Franzoſe
Bouhours ſtellte die höhniſche Frage: ob es möglich ſei, daß ein Deutſcher
Geiſt haben könne? Niemals früher war die Nation von den Nachbarn
ſo tief verachtet worden; nur den alten Ruhm deutſcher Waffentüchtigkeit
wagte man nicht zu beſtreiten. Der politiſche Zuſtand aber, der dies
ſchmähliche Sinken des deutſchen Anſehens verſchuldete, ward überall in
der Welt als die feſte Bürgſchaft des europäiſchen Friedens geprieſen;
und dies Volk, das vormals durch ſeinen Hochmuth ſo übel berüchtigt
geweſen wie heute die Briten, ſprach gelehrig nach, was die Eiferſucht
der Nachbarn erfand, gewöhnte ſich das Vaterland mit den Augen der
Fremden zu betrachten. Die deutſche Staatswiſſenſchaft des achtzehnten
Jahrhunderts bereichert die alten Wahnbegriffe von deutſcher Freiheit noch
durch das neue Schlagwort der Freiheit Europas. Alle unſere Publiciſten
bis herab auf Pütter und Johannes Müller warnen die friedliebende
Welt vor der verderblichen Macht der deutſchen Einheit und ſchließen das
Lob des heiligen Reichs mit der inbrünſtigen Mahnung: wehe der Freiheit
des Welttheils, wenn die hunderttauſende deutſcher Bajonette jemals
Einem Herrſcher gehorchten!


Eine unerforſchlich weiſe Waltung züchtigt die Völker durch dieſelben
Gaben, welche ſie einſt frevelhaft mißbrauchten. Die Weltſtellung, die
angeborene Eigenart und der Gang der Geſchichte gaben unſerem Volke
von früh auf einen Zug vielſeitiger weltbürgerlicher Weitherzigkeit. Die
deutſche Nation beſaß ein natürliches Verſtändniß für die romaniſche
Welt: war doch einſt das romaniſche Volksthum durch deutſche Eroberer
auf den Trümmern der römiſchen Geſittung begründet worden; ſie war
den Briten wie dem ſkandinaviſchen Norden blutsverwandt, mit den
Slaven von Alters her durch Krieg und Handel wohlvertraut; im Mittel-
alter hatte ſie als ein Volk der Mitte vom Süden und Weſten her Cultur
empfangen, dem Norden und Oſten Cultur gegeben. So wurde ſie das
weltbürgerlichſte der Völker, empfänglicher noch für fremdes Weſen als
ihre Schickſalsgenoſſen, die Italiener. Der Drang in die Ferne ward
uns zum Verhängniß, in ihm lag die Schuld und die Größe des deutſchen
Lebens. Auf die Jahrhunderte der deutſchen Weltherrſchaftspläne folgte
nunmehr eine Zeit des leidenden Weltbürgerthums. Das Volk der
Mitte empfing die Befehle aller Welt. Sämmtliche mächtige Fürſten des
Welttheils gehörten als Reichsſtände oder als Friedensbürgen dem deutſchen
Reiche an und meiſterten ſein Leben. Die Nation aber lebte ſich ein in
die Fremdherrſchaft, hing mit deutſcher Treue an den Fahnen des Aus-
[23]Deutſches Weltbürgerthum.
lands. Der partikulariſtiſche Dünkel, die Ueberhebung des Nachbarn über
den nachbarlichen Stammgenoſſen trat nirgends trotziger auf als in den
deutſchen Provinzen ausländiſcher Fürſten. Mit Stolz pries der Holſte
ſeinen Danebrog; der Stralſunder freute ſich des Schlachtenruhmes der
drei Kronen und bemitleidete den brandenburgiſchen Pommern, deſſen
Landesherr nur einen deutſchen Kurhut trug; die Nachkommen der Er-
oberer des Weichſellandes, die ſtolzen Geſchlechter der Hutten, Oppen,
Roſenberg nahmen polniſche Namen an und ſpotteten, froh der ſarmatiſchen
Adelsfreiheit, über den märkiſchen Despotismus im Herzogthum Preußen.


Dabei lebt in dem thatenfrohen Volke unverſieglich die alte
abenteuernde Wanderluſt. Ungezählte Schaaren deutſcher Reisläufer
ſtrömen in alle Lande, drei volle Jahrhunderte hindurch, ſolange das
Söldnerweſen blüht. Deutſche Hiebe klingen auf jedem Schlachtfelde
Europas, vor den Mauern von Athen wie auf Irlands grüner Inſel.
Die Fahnen Frankreichs, Schwedens, Hollands und der kaum minder
undeutſche kaiſerliche Dienſt gelten für adlicher als das öde Einerlei des
heimiſchen Garniſonlebens; auf dem Sterbebette ermahnt der alte deutſche
Degenknopf ſeine Söhne, dem Wappenſchilde des Hauſes Ruhm und
Reichthum zu erwerben im Dienſte fremder Kronen. Die deutſchen
Regimenter Bernhards von Weimar bildeten den Kern jener unüberwind-
lichen Heere, welche Turenne und Condé zum Siege führten; nur in
deutſcher Schule lernten die Nachbarn uns zu ſchlagen. Und dazu die lange
Reihe deutſcher Staatsmänner, Aerzte, Gelehrten und Kaufleute in der
Fremde: kraftvolle Wildlinge vom deutſchen Stamme und alleſammt ver-
loren für das Vaterland. Ein unheimlich großartiger Anblick: dieſe
titaniſche Ueberkraft eines von den Fremden getretenen Volkes. Jede
Darſtellung unſerer Geſchichte bleibt Stückwerk, wenn ſie dies über die
weite Welt verzweigte Wirken deutſchen Geiſtes und deutſcher Waffen
nicht würdigt. Um dieſelbe Zeit, da Frankreich die Weſtmarken des
heiligen Reiches eroberte, ſchuf Peter der Große durch deutſche Kräfte
den neuen ruſſiſchen Staat. Auch die Fürſtenhäuſer wurden von dem
nationalen Wandertriebe ergriffen; jeder ehrgeizige deutſche Hof trachtete
nach fremden Thronen, und das Kaiſerhaus begünſtigte dies Beſtreben
um läſtige Nebenbuhler aus dem Reiche zu entfernen. Endlich fielen
alle Kronen Europas, allein Piemont und die bourboniſchen Staaten aus-
genommen, in die Hände deutſcher Fürſtengeſchlechter; aber dieſe glänzende
Herrenſtellung unſeres hohen Adels verſtärkte nur das Gewicht der cen-
trifugalen Kräfte im Reiche, kettete den deutſchen Staat nur um ſo feſter
an den Willen des Auslands.


Ueber dieſem verrotteten Gemeinweſen lag der Zauber einer tauſend-
jährigen Geſchichte. Eine niemals unterbrochene Ueberlieferung verband
das Heute mit dem Geſtern. Der Kenner der Reichsgeſchichte war zugleich
ein kundiger Rath für die Rechtshändel der Gegenwart; wenn der junge
[24]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Juriſt Wolfgang Goethe ſich aus Datt’s Folianten gewiſſenhaft über Land-
frieden und Reichskammergericht unterrichtete, ſo ſah er die biderbe Geſtalt
des Ritters Götz von Berlichingen leibhaftig auf dem Armenſünderbänkchen
ſitzen. Die Reichsverfaſſung blieb immerhin das einzige Band politiſcher
Einheit für dies zerriſſene Volk. Noch im Jahre ihres Unterganges
ſchrieb der Hamburger Publiciſt Gaspari: „Nur durch den Kaiſer ſind
wir frei, ohne ihn ſind wir gar keine Deutſche mehr.“ Aus ihren
ſchwerfälligen Formen ſprach noch immer jener altgermaniſche Staats-
gedanke, der ſchon in den Anfängen unſerer Geſchichte den ſittlichen Ernſt
und den Freiheitsmuth der Deutſchen bekundet hatte: die Reichsgewalt
war die Schirmerin des gemeinen Friedens und darum ehrwürdig ſelbſt
im Verfalle. Das Bewußtſein ſeiner Einheit konnte dem Volke niemals
gänzlich verloren gehen, ſo lange noch das gemeine Recht beſtand und
der rechtsbildende Gemeingeiſt der Nation in der Arbeit der Rechtswiſſen-
ſchaft wie der Gerichte ſich bekundete; auch als das gemeine Recht nach
und nach von partikulariſtiſchen Rechtsbildungen überwuchert wurde, blieb
die nationale Form der Rechtsſprechung aufrecht, das Reich ſicherte der
Nation die Unabhängigkeit und Ständigkeit der Richterämter. Auf dem
Rechte des Kaiſers ruhte zuletzt jedes Recht im Reiche; wer der kaiſerlichen
Majeſtät widerſtand, verlor den Boden unter den Füßen. „Halte ich
zum Kaiſer, ſo bleibe ich und mein Sohn immer noch Kurfürſt!“ — mit
ſolchen Worten hatte einſt der zaudernde Georg Wilhelm von Branden-
burg die Anträge Guſtav Adolfs zurückgewieſen. Dieſelbe Erwägung
hemmte noch im folgenden Jahrhundert jeden tapferen Entſchluß, ſobald
ein revolutionärer Wille ſich anſchickte neue Wege zu bahnen durch die
wuchernde Wildniß dieſes naturwüchſigen und doch ſo unnatürlichen
Reichsrechts. Die Politik des Auslandes und des Hauſes Oeſterreich,
die Selbſtſucht der kleinen Höfe und die Eiferſucht Jedes gegen Jeden,
das Gleichgewicht der politiſchen Kräfte wie die Intereſſen einer dem
Untergange zueilenden Geſellſchaftsordnung, das Weltbürgerthum und
die Träume von deutſcher Freiheit, Rechtsgefühl und uralte Gewöhnung,
die Macht der Trägheit und die deutſche Treue, Alles vereinigte ſich die
beſtehende Unordnung aufrecht zu erhalten. Um die Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts ſchien das heilige Reich, nach der Meinung aller
Welt, noch einer unabſehbaren Zukunft ſicher. —


Auf dem Boden dieſes Reichsrechts und ſeiner territorialen Staats-
gebilde, und doch in ſcharfem Gegenſatze zu Beiden iſt der preußiſche
Staat entſtanden. Die zähe Willenskraft der norddeutſchen Stämme
war dem weicheren und reicheren oberdeutſchen Volksthum in der Kraft
der Staatenbildung von Altersher überlegen. Nur ſo lange der Sach-
[25]Anfänge Brandenburgs.
ſenſtamm die Krone trug blieb die deutſche Monarchie ein lebendiges
Königthum; ihre Macht zerfiel unter den Händen der Franken und der
Schwaben, zumeiſt durch den trotzigen Ungehorſam der ſächſiſchen Fürſten.
Dann erwuchſen in Niederdeutſchland die zwei mächtigſten politiſchen
Schöpfungen unſeres ſpäten Mittelalters, die Hanſa und der deutſche
Orden, beide unabhängig von der Reichsgewalt, oftmals mit ihr ver-
feindet. Im Norden ſtand die Wiege der Reformation; an dem Wider-
ſtande der Norddeutſchen ſcheiterte die hispaniſche Herrſchaft, und ſeit die
undeutſche Politik der Habsburger den Dualismus im Reiche hervorge-
rufen, blieb der Norden das Kernland der deutſchen Oppoſition. Die
Führung dieſer Oppoſition ging im Laufe des ſiebzehnten Jahrhunderts
von dem unfähigen Geſchlechte der Wettiner auf die Hohenzollern über.
Der Schwerpunkt deutſcher Politik verſchob ſich nach dem Nordoſten.


Dort in den Marken jenſeits der Elbe war aus dem Grundſtock
der niederſächſiſchen Eroberer, aus Einwanderern von allen Landen
deutſcher Zunge und aus geringen Trümmern des alteingeſeſſenen Wenden-
volks ein neuer norddeutſcher Stamm emporgewachſen, hart und wetter-
feſt, geſtählt durch ſchwere Arbeit auf kargem Erdreich wie durch die
unabläſſigen Kämpfe des Grenzerlebens, klug und ſelbſtändig nach
Coloniſtenart, gewohnt mit Herrenſtolz auf die ſlaviſchen Nachbarn herab-
zuſehen, ſo ſchroff und ſchneidig, wie es die gutmüthig geſpaßige Derbheit
des niederdeutſchen Charakters vermag. Dreimal hatte dies vielgeprüfte
Land das rauhe Tagewerk der Culturarbeit von vorn begonnen: zuerſt
als die ascaniſchen Eroberer die Tannenwälder an den Havelſeen rodeten
und ihre Städte, Burgen und Klöſter im Wendenlande erbauten; dann
abermals zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts, als die erſten
Hohenzollern den unter bairiſch-lützelburgiſcher Herrſchaft völlig zerrütteten
Frieden und Wohlſtand ſorgſam wieder herſtellten; und jetzt wieder war
Brandenburg durch die Schrecken der dreißig Jahre ſchwerer heimgeſucht
als die meiſten deutſchen Lande, mußte ſich die erſten Anfänge der Ge-
ſittung von Neuem erobern.


Die rauhe Sitte des armen Grenzlandes blieb während des Mittel-
alters im Reiche übel berüchtigt. Der römiſchen Kirche iſt aus dem
Sande der Marken niemals ein Heiliger erwachſen; ſelten erklang ein
Minnelied an dem derben Hofe der ascaniſchen Markgrafen. Die fleißigen
Ciſtercienſer von Lehnin trachteten allezeit mehr nach dem Ruhme tüchtiger
Landwirthe als nach den Kränzen der Kunſt und Gelehrſamkeit; den
handfeſten Bürgern der märkiſchen Städte verfloß das Leben in grober,
hausbackener Arbeit, nur die Prenzlauer durften ihre Marienkirche mit
den prächtigen Bauten der reichen Oſtſeeſtädte vergleichen. Allein durch
kriegeriſche Kraft und ſtarken Ehrgeiz ragte der Staat der Brandenburger
über die Nachbarſtämme hervor; ſchon die Ascanier und die Lützelburger
haben mehrmals den Plan erwogen, hier in der günſtigen Lage zwiſchen
[26]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
dem Elb- und Odergebiete, zwiſchen den ſchwächlichen Kleinſtaaten Mecklen-
burgs, Pommerns und Schleſiens eine Großmacht des Nordoſtens zu
errichten. Noch größer ſchien ſich das Schickſal der Marken zu geſtalten,
als die Burggrafen von Nürnberg den Kurhut empfingen: Friedrich I.
war der Führer der deutſchen Fürſten bei der Reformbewegung in Reich
und Kirche, Albrecht Achill der bewunderte Held des ritterlichen Adels
in den Kämpfen gegen die Städte. Zugleich begann im Innern eine
kühne und feſte monarchiſche Politik. Früher als das heilige Reich er-
hielt die Mark ihren Landfrieden, durch Friedrich I.; früher als in
anderen Reichslanden wurde hier die Untheilbarkeit des Staates geſetzlich
ausgeſprochen durch die Geſetze Albrecht Achills. Adel und Städte
beugten ihren trotzigen Nacken vor der Willenskraft der drei erſten Hohen-
zollern. Aber dem vielverheißenden Anlaufe entſprach der Fortgang nicht.
Die Nachfolger jener hochſtrebenden Helden ſanken bald zurück in die be-
queme Enge deutſcher Kleinfürſtenpolitik. Sie verloren die kaum errungene
landesherrliche Gewalt zum guten Theile wieder an den Landtag, hielten
mit ihren übermüthigen Herren Ständen wohl oder übel Haus, ſuchten
wie alle mächtigeren Reichsfürſten Verwaltung und Rechtspflege ihres
Landes vor jedem Eingriff der Reichsgewalt zu behüten und blieben dabei
dem Kaiſerhauſe hold und gewärtig; ſie traten ſpät und zögernd in
die lutheriſche Kirche ein, überließen die Führung der proteſtantiſchen
Parteien gemächlich an Kurſachſen und Kurpfalz.


Mit gutem Grunde ſagt König Friedrich in den Denkwürdigkeiten
ſeines Hauſes: wie ein Fluß erſt werthvoll werde, wenn er ſchiffbar ſei,
ſo gewinne die Geſchichte Brandenburgs erſt gegen Anfang des ſiebzehnten
Jahrhunderts tiefere Bedeutung. Erſt unter Kurfürſt Johann Sigismund
traten drei entſcheidende Ereigniſſe ein, welche den Marken eine große
Zukunft, eine von dem Leben der übrigen Reichsländer grundverſchiedene
Entwicklung verhießen: die Vereinigung des ſeculariſirten Deutſch-
Ordenslandes mit Brandenburg, der Uebertritt des Fürſtenhauſes zur
reformirten Kirche, endlich die Erwerbung der niederrheiniſchen Grenz-
lande.


Auch andere Reichsfürſten, Katholiken wie Proteſtanten, hatten ihre
Macht durch die Güter der alten Kirche erweitert. Im Ordenslande
aber wagte die Politik der deutſchen Proteſtanten ihren verwegenſten
Griff; auf Luthers Rath entriß der Hohenzoller Albrecht der römiſchen
Kirche das größte ihrer geiſtlichen Territorien. Das geſammte Gebiet
des neuen Herzogthums Preußen war entfremdetes Kirchengut; des
Papſtes Bann und des Kaiſers Acht trafen den abtrünnigen Fürſten.
Niemals wollte der römiſche Stuhl dieſen Raub anerkennen. Indem die
märkiſchen Hohenzollern die Herzogskrone ihrer preußiſchen Vettern mit
ihrem Kurhute verbanden, brachen ſie für immer mit der römiſchen Kirche;
ihr Staat ſtand und fiel fortan mit dem Proteſtantismus. Zur ſelben
[27]Preußen und Cleve mit Brandenburg vereinigt.
Zeit nahm Johann Sigismund das reformirte Bekenntniß an. Er legte
damit den Grund für die folgenreiche Verbindung ſeines Hauſes mit dem
Heldengeſchlechte der Oranier und trat aus der leidſamen Trägheit des
erſtarrten Lutherthums hinüber in die Gemeinſchaft jener Kirche, welche
allein noch die politiſchen Gedanken der Reformation mit kriegeriſchem
Muthe verfocht. Der calviniſche Landesherr beherrſchte in den Marken
ein hart lutheriſches Volk; in Preußen ſaßen Lutheraner und Katholiken,
in den niederrheiniſchen Landen die Bekenner aller drei großen Kirchen
Deutſchlands bunt durcheinander. Von dem Glaubenshaſſe der eige-
nen Unterthanen bedroht, ſah ſich das Fürſtenhaus gezwungen, allen
kirchlichen Parteien durch duldſame Schonung gerecht zu werden. Der-
geſtalt ward die eigenthümliche Doppelſtellung der Hohenzollern zu
unſerem kirchlichen Leben begründet: ſie ſtanden, ſeit die Macht der
Pfälzer zerfiel, an der Spitze des ſtreitbaren Proteſtantismus im Reiche
und vertraten doch zugleich den Grundgedanken der neuen deutſchen Ge-
ſittung, die Glaubensfreiheit. Mit dem Scharfblicke des Haſſes ſagte
der kaiſerliche Vicekanzler Stralendorff in den Tagen Johann Sigis-
munds voraus: es ſtehe zu befürchten, daß der Brandenburger nun-
mehr der werden könne, den das calviniſche und lutheriſche Geſchmeiß
erſehne.


Mit der preußiſchen Herzogskrone gewann das Haus Hohenzollern
jene ſtolze Colonie des geſammten Deutſchlands, die mit dem Blute aller
deutſchen Stämme noch reicher als die Mark benetzt war und ſich vor
allen Landſchaften des Reiches einer großen und heldenhaften Geſchichte
rühmte: hier in dem „neuen Deutſchland“ hatte einſt der deutſche Orden
die baltiſche Großmacht des Mittelalters aufgerichtet. Das entlegene,
durch die Feindſchaft des polniſchen Lehnsherrn wie der ſkandinaviſchen
und moskowitiſchen Nachbarn unabläſſig bedrohte Grenzland verwickelte
den Staat der Hohenzollern in die wirrenreichen Kämpfe des nordiſchen
Staatenſyſtems. Während er alſo an der Oſtſee feſten Fuß faßte, erwarb
Johann Sigismund zugleich das Herzogthum Cleve nebſt den Grafſchaften
Mark und Ravensberg, ein Gebiet von geringem Umfang, aber hoch-
wichtig für die innere Entwicklung wie für die europäiſche Politik des
Staates: Lande von treu bewahrter alter Bauern- und Städtefreiheit,
reicher und höher geſittet als die dürftigen Colonien des Oſtens, un-
ſchätzbare Außenpoſten an Deutſchlands ſchwächſter Grenze. In Wien
und Madrid ward es als eine ſchwere Niederlage empfunden, daß eine
neue evangeliſche Macht ſich feſtſetzte dort am Niederrheine, wo Spanier
und Niederländer um Sein oder Nichtſein des Proteſtantismus kämpften,
dicht vor den Thoren Kölns, der Hochburg des römiſchen Weſens im
Reiche. Der junge Staat umſchloß auf ſeinen fünfzehnhundert Geviert-
meilen bereits faſt alle die kirchlichen, ſtändiſchen, landſchaftlichen Gegen-
ſätze, welche das heilige Reich mit lautem Hader erfüllten; mit geſpreizten
[28]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Beinen gleich dem Koloß von Rhodus ſtand er über den deutſchen
Landen und ſtemmte ſeine Füße auf die bedrohten Marken am Rhein
und Memelſtrom.


Eine Macht in ſolcher Lage konnte nicht mehr in dem engen Ge-
ſichtskreiſe deutſcher Territorialpolitik verharren; ſie mußte verſuchen ihre
weithin zerſtreuten Gebiete zu einer haltbaren Maſſe abzurunden, ſie war
gezwungen für das Reich zu handeln und zu ſchlagen, denn jeder Angriff
der Fremden auf deutſchen Boden ſchnitt ihr in ihr eignes Fleiſch. Und
dieſer Staat, der nur deutſches Land beherrſchte, ſtand doch der Reichs-
gewalt in glücklicher Unabhängigkeit gegenüber. Jenen Reichsſtänden, deren
Gebiete alleſammt innerhalb der Reichsgrenzen lagen, war eine ſelbſtändige
europäiſche Politik immerhin erſchwert; andere Fürſtengeſchlechter, die ſich
durch die Erwerbung ausländiſcher Kronen den hemmenden Feſſeln der
Reichsverfaſſung entzogen, gingen dem deutſchen Leben verloren. Auch dem
Hauſe Brandenburg ſind oftmals lockende Rufe aus der Ferne erklungen:
die Herrſchaft in Schweden, in Polen, in den Niederlanden, in England
ſchien ihm offen zu ſtehen. Doch immer hat bald die Macht der Um-
ſtände bald die verſtändige Selbſtbeſchränkung des Fürſtengeſchlechts dieſe
gefährlichen Verſuchungen abgewieſen. Eine ſegensreiche Fügung, die dem
ernſten Sinne nicht als Zufall gelten darf, nöthigte die Hohenzollern in
Deutſchland zu verbleiben. Sie bedurften der fremden Kronen nicht;
denn ſie dankten ihre unabhängige Stellung in der Staatengeſellſchaft dem
Beſitze des Herzogthums Preußen, eines kerndeutſchen Landes, das mit
allen Wurzeln ſeines Lebens an dem Mutterlande hing und gleichwohl
dem ſtaatsrechtlichen Verbande des Reichs nicht angehörte. Alſo mit dem
einen Fuß im Reiche, mit dem anderen draußen ſtehend, gewann der
preußiſche Staat das Recht, eine europäiſche Politik zu führen, die nur
deutſche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutſchland ſorgen, ohne
nach dem Reiche und ſeinen verrotteten Formen zu fragen.


Dem Hiſtoriker iſt nicht geſtattet, nach der Weiſe der Naturforſcher
das Spätere aus dem Früheren einfach abzuleiten. Männer machen die
Geſchichte. Die Gunſt der Weltlage wird im Völkerleben wirkſam erſt
durch den bewußten Menſchenwillen, der ſie zu benutzen weiß. Noch
einmal ſtürzte der Staat der Hohenzollern von ſeiner kaum errungenen
Machtſtellung herab; er trieb dem Untergange entgegen, ſolange Johann
Sigismunds Nachfolger Georg Wilhelm aus matten Augen ſchläfrig in
die Welt blickte. Auch dieſer neue Verſuch deutſcher Staatenbildung
ſchien wieder in der Armſeligkeit der Kleinſtaaterei zu enden, wie vormals
die unter ungleich günſtigeren Anzeichen aufgeſtiegenen Mächte der Welfen,
der Wettiner, der Pfälzer. Da trat als ein Fürſt ohne Land, mit einem
Stecken und einer Schleuder Kurfürſt Friedrich Wilhelm ein in das
verwüſtete deutſche Leben, der größte deutſche Mann ſeiner Tage, und
beſeelte die ſchlummernden Kräfte ſeines Staates mit der Macht des
[29]Brandenburg das Land der Parität.
Wollens. Seitdem blieb die Kraft des zweckbewußten königlichen Willens
der werdenden deutſchen Großmacht unverloren. Man kann ſich die
engliſche Geſchichte vorſtellen ohne Wilhelm III., die Geſchichte Frankreichs
ohne Richelieu; der preußiſche Staat iſt das Werk ſeiner Fürſten. In
wenigen andern Ländern bewährte das Königthum ſo ſtetig jene beiden
Tugenden, die ſeine Größe bilden: den kühnen, weit vorausſchauenden
Idealismus, der das bequeme Heute dem größeren Morgen opfert, und
die ſtrenge Gerechtigkeit, die jede Selbſtſucht in den Dienſt des Ganzen
zwingt. Nur der Weitblick der Monarchie vermochte in dieſen armſeligen
Gebietstrümmern die Grundſteine einer neuen Großmacht zu erkennen.
Nur in dem Pflichtgefühle der Krone, in dem monarchiſchen Staatsge-
danken fanden die verfeindeten Stämme und Stände, Parteien und Kirchen,
welche dieſer Mikrokosmos des deutſchen Lebens umfaßte, ihren Schutz
und ihren Frieden.


Schon in den erſten Jahren des großen Kurfürſten tritt die Eigen-
art der neuen deutſchen Macht ſcharf und klar heraus. Der Neffe
Guſtav Adolfs, der ſein junges Heer unter dem alten Proteſtantenrufe
„Mit Gott“ in die Schlachten führt, nimmt die Kirchenpolitik ſeines Oheims
wieder auf. Er zuerſt ruft in den Hader der Kirchen das erlöſende Wort
hinein, fordert die allgemeine unbedingte Amneſtie für alle drei Bekenntniſſe.
Es war das Programm des Weſtphäliſchen Friedens. Und weit über die
Vorſchriften dieſes Friedensſchluſſes hinaus ging die Duldung, welche die
Hohenzollern im Innern ihres Landes walten ließen. Brandenburg
galt vor dem Reichsrechte als ein evangeliſcher Stand und wurde doch
der erſte Staat Europas, der die volle Glaubensfreiheit gewährte. Das
bunte Sektenweſen in den Niederlanden verdankte ſeine ungebundene Be-
wegung nur der Anarchie, der Schwäche des Staates; hier aber ruhte
die Gewiſſensfreiheit auf den Geſetzen einer kraftvollen Staatsgewalt,
die ſich das Recht der Oberaufſicht über die Kirchen nicht rauben ließ.
In den anderen deutſchen Territorien beſtand überall noch eine herrſchende
Kirche, die den beiden anderen Confeſſionen nur den Gottesdienſt nicht
gänzlich unterſagen durfte; in Brandenburg ſtand die Krone frei über
allen Kirchen und ſchützte die Parität. Derweil Oeſterreich ſeine beſten
Deutſchen gewaltſam austreibt, öffnet eine Gaſtfreundſchaft ohne Gleichen
die Grenzen Brandenburgs den Duldern jeglichen Glaubens. Wie viel
tauſendmal iſt in den Marken das Danklied der böhmiſchen Exulanten
erklungen: „Dein Volk, das ſonſt im Finſtern ſaß, von Irrthum ganz
umgeben, das findet hier nun ſein Gelaß und darf in Freiheit leben!“
Als Ludwig XIV. das Edict von Nantes aufhebt, da tritt ihm der kleine
brandenburgiſche Herr als der Wortführer der proteſtantiſchen Welt kühn
entgegen und bietet durch ſein Potsdamer Edict den Söhnen der Mär-
tyrerkirche Schirm und Obdach. Ueberall wo noch die Flammen des alten
Glaubenshaſſes aus dem deutſchen Boden emporſchlagen, ſchreiten die
[30]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Hohenzollern ſchützend und verſöhnend ein. Sie rufen die Wiener
Judenſchaft an die Spree, ſie ſichern „via facti“, des Reiches ungefragt,
den Proteſtanten Heidelbergs den Beſitz ihrer Kirchen, ſie bereiten den evan-
geliſchen Salzburgern in Oſtpreußen eine neue Heimath. So ſtrömte Jahr
für Jahr eine Fülle jungen Lebens in die entvölkerten Oſtmarken hinüber;
das deutſche Blut, das die Habsburger von ſich ſtießen, befruchtete die
Lande ihres Nebenbuhlers. Beim Tode Friedrichs II. beſtand etwa ein
Drittel der Bevölkerung des Staates aus den Nachkommen der Ein-
wanderer, die ſeit den Tagen des großen Kurfürſten zugezogen.


Erſt dieſe Kirchenpolitik der Hohenzollern hat das Zeitalter der
Religionskriege abgeſchloſſen; ſie zwang ſchließlich die beſſeren weltlichen
Fürſten zur Nachahmung und entzog zugleich den geiſtlichen Staaten
das letzte Recht des Daſeins; denn wozu noch geiſtliche Reichsfürſten,
ſeit die katholiſche Kirche unter den Flügeln des preußiſchen Adlers ge-
ſicherte Freiheit fand? Friedrich Wilhelm erwarb im Weſtphäliſchen
Frieden die großen Stifter Magdeburg, Halberſtadt, Minden, Cammin.
Sein Staat ward wie kein anderer in Deutſchland durch die Güter der
römiſchen Kirche bereichert; doch er rechtfertigte den Raub, denn er über-
nahm mit dem Kirchengute zugleich die großen Culturaufgaben, welche die
Kirche des Mittelalters einſt für den unreifen Staat erfüllt hatte, Armen-
pflege und Volkserziehung, und er verſtand den neuen Pflichten zu ge-
nügen. Daſſelbe Gebot der Selbſterhaltung, das die Hohenzollern nöthigte
Frieden zu halten zwiſchen Katholiken und Proteſtanten, drängte ſie auch
innerhalb der evangeliſchen Kirche zwiſchen den Gegenſätzen zu vermitteln.
Der Gedanke der evangeliſchen Union blieb dem preußiſchen Staate
eigenthümlich ſeit Johann Sigismund zuerſt den lutheriſchen Eiferern
das Zetern wider die Calviniſten unterſagte, und was anfänglich die
Noth erzwang, ward endlich zur politiſchen Ueberlieferung, zur Herzens-
ſache des Fürſtenhauſes.


Wie der preußiſche Staat alſo der deutſchen Nation den kirchlichen
Frieden ſicherte, der ihr erlaubte wieder theilzunehmen an dem Schaffen
der Culturvölker, ſo gab er ihr auch zurück was ihr ſeit den Tagen der
Glaubensſpaltung fehlte: einen Willen gegen das Ausland. Ueberall im
Reiche verkamen reiche Kräfte in engen Verhältniſſen, und wer hoch
hinausſtrebte eilte in die Fremde; da faßte Friedrich Wilhelms gewaltige
Hand die dürftigen Mittel der ärmſten deutſchen Gebiete entſchloſſen zu-
ſammen und zwang ſein Volk der Heimath zu dienen und zeigte dem Welt-
theil wieder was das deutſche Schwert vermöge. Das Reich zehrte von
alten Erinnerungen, bewahrte die Staatsformen des Mittelalters mitten
im neuen Europa; dieſe norddeutſche Macht aber wurzelte feſt in der
modernen Welt, über den Trümmern der alten Kirchenherrſchaft und der
altſtändiſchen Rechte ſtieg ihre ſtarke Staatsgewalt empor, ſie lebte den
Sorgen der Gegenwart und den Plänen einer großen Zukunft. Mit
[31]Weltſtellung des preußiſchen Staates.
einem Schlage führte Friedrich Wilhelm ſeinen mißachteten kleinen Staat
in die Reihe der europäiſchen Mächte ein; ſeit der Schlacht von Warſchau
ſtand Brandenburg den alten Militärſtaaten ebenbürtig zur Seite. Wie
eine Inſel ſchien dieſe feſtgeeinte kriegeriſche Macht urplötzlich emporzu-
ſteigen aus der tobenden See deutſcher Vielherrſchaft, vor den verwun-
derten Blicken eines Volkes, das längſt verlernt an raſchen Entſchluß
und großes Gelingen zu glauben. So ſcharf wehte der friſche Luftzug
des bewußten politiſchen Willens durch die Geſchichte des neuen preußiſchen
Staates, ſo ſtraff und gewaltſam ward jeder Muskel ſeines Volks zur
Arbeit angeſpannt, ſo grell erſchien das Mißverhältniß zwiſchen ſeinem
Ehrgeiz und ſeinen Mitteln, daß er bei Freund und Feind durch an-
derthalb Jahrhunderte nur als eine künſtliche Schöpfung galt. Die
Welt hielt für das willkürliche Wagniß einiger Lieblinge des Glücks,
was der nothwendige Neubau des uralten nationalen Staates der
Deutſchen war.


Preußen behauptete wie in den deutſchen Glaubenshändeln, ſo auch
in den großen Machtkämpfen des Welttheils eine ſchwierige Mittelſtellung.
So lange das proteſtantiſche Deutſchland willenlos darniederlag, zerfiel
Europa in zwei getrennte Staatenſyſteme, die einander ſelten berührten.
Die Staatenwelt des Südens und Weſtens kämpfte um die Beherrſchung
Italiens und der rheiniſch-burgundiſchen Lande, während die Mächte des
Nordens und Oſtens ſich um die Trümmerſtücke des deutſchen Ordens-
ſtaates und um den Nachlaß der Hanſa, die Oſtſeeherrſchaft ſtritten.
Der Oſten und der Weſten begegneten ſich nur in dem einen Verlangen,
die ungeheure Lücke, die in der Mitte des Welttheils klaffte, immerdar
offen zu halten. Nun erhob ſich die jugendliche deutſche Macht, das
vielverſpottete „Reich der langen Grenzen“. Sie gehörte dem Welttheil
an, ihr verſprengtes Gebiet berührte die Marken aller Großmächte des
Feſtlands. Sobald ſie anfing mit ſelbſtändigem Willen ſich zu bewegen,
griffen die Mächte des Weſtens in die Händel des Oſtens ein, immer
häufiger verſchlangen und durchkreuzten ſich die Intereſſen der beiden
Staatenſyſteme.


Der geborene Gegner der alten, auf Deutſchlands Ohnmacht ruhenden
Ordnung Europas, ſtand Preußen in einer Welt von Feinden, deren
Eiferſucht ſeine einzige Rettung blieb, ohne irgend einen natürlichen
Bundesgenoſſen, denn noch war der deutſchen Nation das Verſtändniß
dieſer jungen Kraft nicht aufgegangen. Und dies in jener Zeit der harten
Staatsraiſon, da der Staat nur Macht war und die Vernichtung des
Nachbarn als ſeine natürliche Pflicht betrachtete. Wie das Haus Savoyen
ſich hindurchwand durch die Uebermacht der Habsburger und der Bour-
bonen, ebenſo, doch ungleich ſchwerer bedrängt mußte Preußen ſich ſeinen
Weg bahnen zwiſchen Oeſterreich und Frankreich hindurch, zwiſchen
Schweden und Polen, zwiſchen den Seemächten und der trägen Maſſe
[32]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
des deutſchen Reichs, mit allen Mitteln rückſichtsloſer Selbſtſucht, immer
bereit die Front zu wechſeln, immer mit zwei Sehnen am Bogen.


Kurbrandenburg empfand bis in das Mark ſeines Lebens, wie tief
das ausländiſche Weſen ſich in Deutſchland eingefreſſen hatte. Alle die
zuchtloſen Kräfte ſtändiſcher Libertät, welche der ſtrengen Ordnung der
neuen Monarchie widerſtrebten, ſtützten ſich auf fremden Beiſtand. Hol-
ländiſche Garniſonen lagen am Niederrhein und begünſtigten den Kampf
der cleviſchen Stände wider den deutſchen Landesherrn, die Landtage
von Magdeburg und der Kurmark rechneten auf Oeſterreich, der polenzende
Adel in Königsberg rief den polniſchen Oberlehnsherrn zu Hilfe gegen
den märkiſchen Despotismus. Im Kampfe mit der Fremdherrſchaft
wurde die Staatseinheit dieſer zerſtreuten Gebiete und das Anſehen ihres
Landesherrn begründet. Friedrich Wilhelm zerſtörte die Barriere der
Niederländer im deutſchen Nordweſten, vertrieb ihre Truppen aus Cleve
und Oſtfriesland; er befreite Altpreußen von der polniſchen Lehenshoheit
und beugte den Königsberger Landtag unter ſeine Souveränität. Dann
ruft er der tauben Nation ſein Mahnwort zu: „Gedenke, daß du ein
Deutſcher biſt!“ und verſucht die Schweden vom Reichsboden zu ver-
drängen. Zweimal gelang der Mißgunſt Frankreichs und Oeſterreichs, den
Brandenburger um den Lohn ſeiner Siege, um die Herrſchaft in Pommern
zu betrügen; den Ruhm des Tages von Fehrbellin konnten ſie ihm nicht
rauben. Endlich wieder, nach langen Jahrzehnten der Schande, ein glän-
zender Triumph deutſcher Waffen über die erſte Kriegsmacht der Zeit; die
Welt erfuhr, daß Deutſchland wieder wage ſein Hausrecht zu wahren. Der
Erbe der deutſchen Kirchenpolitik Guſtav Adolfs zerſprengte den verwegenen
Bau des ſkandinaviſchen Oſtſeereiches, den das Schwert jenes Schweden-
königs zuſammengefügt. Die beiden künſtlichen Großmächte des ſiebzehnten
Jahrhunderts, Schweden und Holland, begannen zurückzutreten in ihre
natürlichen Schranken, und der neue Staat, der ſich an ihrer Stelle
erhob, zeigte weder die ausſchweifende Eroberungsluſt der ſchwediſchen
Militärmacht noch den monopolſüchtigen Kaufmannsgeiſt der Niederländer.
Er war deutſch, er begnügte ſich das Gebiet ſeiner Nation zu ſchirmen
und vertrat gegen die Weltherrſchaftspläne der Bourbonen den Gedanken
des europäiſchen Gleichgewichts, der Staatenfreiheit. Als die Republik
der Niederlande dem Angriff Ludwigs XIV. zu erliegen drohte, da fiel
Brandenburg dem Eroberer in den erhobenen Arm; Friedrich Wilhelm
führte den einzigen ernſthaften Krieg, den das Reich zur Wiederer-
oberung des Elſaſſes gewagt hat, und noch auf ſeinem Sterbebette entwarf
er mit ſeinem oraniſchen Neffen den Plan, das evangeliſche und parla-
mentariſche England zu retten vor der Willkür der Stuarts, der Vaſallen
Ludwigs. Ueberall wo dieſe junge Macht allein ſtand kämpfte ſie ſiegreich,
überall unglücklich wo ſie dem Wirrwarr des Reichsheeres ſich anſchließen
mußte.


[33]Der neue Mehrer des Reichs.

So erwies ſich die neue Staatsbildung ſchon in ihren Anfängen
als eine europäiſche Nothwendigkeit. Deutſchland aber fand endlich
wieder einen Mehrer des Reichs. Mit dem Aufſteigen Preußens be-
gann die lange blutige Arbeit der Befreiung Deutſchlands von fremder
Herrſchaft. Seit hundert Jahren von den Nachbarn beraubt ſah das
Reich jetzt zum erſten male das ausländiſche Regiment von einigen Schollen
deutſcher Erde zurückweichen. In dieſem einen Staate erwachte wieder,
noch halb bewußtlos, wie trunken vom langen Schlummer, der alte
herzhafte vaterländiſche Stolz. Das treue Landvolk der Grafſchaft Mark
begann den kleinen Krieg gegen die Franzoſen, die Bauern von Oſtpreußen
ſetzten in wilder Jagd den fliehenden Schweden nach. Wenn die Bauern-
landwehr der Altmark, an den Elbdeichen Wache haltend wider die Schweden,
auf ihre Fahnen ſchrieb: „Wir ſind Bauern von geringem Gut und
dienen unſerem gnädigſten Kurfürſten und Herrn mit Gut und Blut“,
ſo klingt uns aus den ungelenken Worten ſchon derſelbe Heldenſinn
entgegen, welcher dereinſt in freieren Tagen Deutſchlands Schlachten
ſchlagen ſollte unter dem Rufe: „Mit Gott für König und Vaterland!“


Während die Hausmacht der Habsburger aus Deutſchland hinaus
wuchs, drängte ein ſtetig waltendes Schickſal den Staat der Hohenzollern
tief und tiefer in das deutſche Leben hinein, zuweilen wider den Willen
ſeiner Herrſcher. Friedrich Wilhelm hat es nie verwunden, daß er ſeine
pommerſchen Erbanſprüche im Weſtphäliſchen Frieden gegen den Wider-
ſtand Oeſterreichs und Schwedens nicht behaupten konnte. Er hoffte
als ein König der Vandalen von dem Stettiner Hafen aus die Oſtſee
zu beherrſchen und mußte ſich mit den ſächſiſch-weſtphäliſchen Stifts-
landen, zum Erſatz für die Odermündungen, begnügen. Doch ſelbſt dieſe
diplomatiſche Niederlage ward ein Glück für den Staat; ſie bewahrte ihn
vor einem halbdeutſchen baltiſchen Sonderleben, verſtärkte ſeine centrale
Stellung und zwang ihn theilzunehmen an allen Händeln der binnen-
deutſchen Politik. Zudem war ganz Norddeutſchland überſponnen von
einem Netze hohenzollerſcher Erbverträge, die dies bedachtſam rechnende
Haus im Laufe der Jahrhunderte abgeſchloſſen; an jedem neuen Tage
konnte ein Todesfall der ehrgeizigen Macht eine neue Vergrößerung
bringen.


Das Haus Habsburg erkannte früher als die Hohenzollern ſelber,
wie feindſelig dieſer moderne norddeutſche Staat der alten Verfaſſung
des heiligen Reichs gegenüberſtand. Er war das Haupt des Proteſtan-
tismus im Reiche, mochte immerhin Kurſachſen noch Director des Corpus
Evangelicorum
heißen; er bedrohte mit ſeiner monarchiſchen Ordnung
den ganzen Bau jener ſtändiſchen und theokratiſchen Inſtitutionen, welche
die Kaiſerkrone ſtützten; ſein ſtarkes Heer und ſein ſelbſtändiges Auf-
treten in der Staatengeſellſchaft gefährdeten das altgewohnte Syſtem
kaiſerlicher Hauspolitik. In Schleſien, in Pommern, in dem jülich-cleviſchen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 3
[34]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Erbfolgeſtreite, überall trat Oeſterreich dem gefährlichen Nebenbuhler
mißtrauiſch entgegen. Gleich dem Wiener Hofe beargwöhnten alle Reichs-
fürſten den unruhigen Staat, der den geſammten deutſchen Rorden zu
umklammern drohte; ſo oft er mit einiger Kühnheit ſich hervorwagte,
erklang durchs deutſche Land der Jammerruf über „den immer tiefer ins
Reich dringenden brandenburgiſchen Dominat“. Als der große Kurfürſt
die Schweden aus Düppel und Alſen verjagte, ſchloſſen die Fürſten des
Weſtens mit der Krone Frankreich jenen erſten Rheinbund zum Schutze
des Reichsſtandes Schweden. Da das Kaiſerhaus noch durch den Breisgau
und die oberſchwäbiſchen Lande ganz Süddeutſchland militäriſch beherrſchte,
ſo war an den oberländiſchen Höfen die Furcht vor Oeſterreichs Länder-
gier zuweilen ſtärker als die Angſt vor dem entlegenen Brandenburg;
zuletzt überwog doch bei allen Kleinfürſten die Erkenntniß, daß der kaiſer-
liche Hof eine Macht des Beharrens, jener nordiſche Emporkömmling aber
durch einen tiefen, unverſöhnlichen Gegenſatz von der alten Ordnung der
deutſchen Dinge getrennt ſei.


Auch die Nation ſah mit Abſcheu und Beſorgniß auf den Staat
der Hohenzollern, wie einſt die italiſchen Stämme auf das empor-
ſteigende Rom. Die freien Köpfe der Zeit begannen bereits ſich den
Ideen des modernen Abſolutismus zuzuwenden; die Maſſe des Volks
hing noch an den althergebrachten ſtändiſchen Formen, die in dem Hauſe
Brandenburg ihren Bändiger fanden. Einzelne Kriegsthaten Friedrich
Wilhelms erweckten wohl die Bewunderung der Zeitgenoſſen; nach ſeinem
kühnen Zuge vom Rhein zum Rhyn begrüßte ihn das Elſaſſer Volkslied
zuerſt mit dem Namen des Großen. Doch ſolche Stimmungen erregter
Augenblicke hielten nicht vor. Zorn und Neid trafen das trotzige Glied,
das ſich neben das Reich ſtellte und noch nicht vermochte der Nation
einen Erſatz zu bieten für die zerſtörte alte Ordnung; Leibnitz, der be-
geiſterte Reichspatriot, erwies in beredter Denkſchrift, wie der Branden-
burger von ſeinen Mitſtänden gezüchtigt werden müſſe, weil er eigen-
mächtig ſein Heer zur Rettung Hollands gegen die Franzoſen geführt
habe. Noch ahnte Niemand in dieſem ſtaatloſen Geſchlechte, daß die
Führung zerſplitterter Völker nothwendig dem Theile zufällt, welcher die
Pflichten des Ganzen auf ſich nimmt. Um ſo lebhafter regte ſich die
dunkle Sorge, dieſe thatenluſtige Macht müſſe wachſen oder untergehen;
und wie ſchon im Mittelalter der Volkswitz immer den deutſchen Stamm
heimſuchte, der den Gedanken der nationalen Einheit trug, ſo ergoſſen jetzt
particulariſtiſche Seelenangſt und Selbſtgefälligkeit ihren Hohn auf die
Marken.


Das Volk ſpottete über die Armuth der Streuſandbüchſe des heiligen
Reichs, über die brandenburgiſche Knechtſchaft; wie Verzweifelte fochten
die Bürger Stettins auf ihren Wällen um ihre gute Stadt bei der ſchwe-
diſchen Freiheit zu erhalten und vor dem Joche des märkiſchen Blut-
[35]Brandenburg und die deutſche Libertät.
menſchen zu bewahren. Der Partieularismus aller Stände und aller Land-
ſchaften vernahm mit Entſetzen, wie der große Kurfürſt ſeine Unterthanen
zwang als „eines Hauptes Glieder“ zu leben, wie er die Vielherrſchaft der
Landtage den Befehlen der Landeshoheit unterwarf und ſeine Krone
ſtützte auf die beiden Säulen monarchiſcher Vollgewalt, den miles per-
petuus
und die ſtehende Steuer. In der Anſchauung des Volkes galten
Truppen und Steuern noch als eine außerordentliche Staatslaſt für
Tage der Noth. Friedrich Wilhelm aber erhob das Heer zu einer
dauernden Inſtitution und ſchwächte die Macht der Landſtände, indem er in
allen ſeinen Gebieten zwei allgemeine Steuern einführte: auf dem flachen
Lande den Generalhufenſchoß, in den Städten die Acciſe, ein mannich-
faltiges Syſtem von niedrigen directen und indirecten Abgaben, das auf
die Geldarmuth der erſchöpften Volkswirthſchaft berechnet war und die
Steuerkraft an möglichſt vielen Stellen anfaßte. Im Reiche war nur
eine Stimme der Verwünſchung wider dieſe erſten Anfänge des modernen
Heer- und Finanzweſens. Preußen blieb vom Beginne ſeiner ſelbſtändigen
Geſchichte der beſtgehaßte der deutſchen Staaten; die Reichslande, welche
dieſem Fürſtenhauſe zufielen, ſind faſt alle unter lauten Klagen und
heftigem Widerſtande in die neue Staatsgemeinſchaft eingetreten, um
ſämmtlich bald nachher ihr Schickſal zu ſegnen.


Das ungeheure, hoffnungsloſe Wirrſal der deutſchen Zuſtände, die
erbliche Ehrfurcht der Hohenzollern vor dem Kaiſerhauſe und die Be-
drängniß ihres zwiſchen übermächtigen Feinden eingepreßten Staates ver-
hinderten noch durch viele Jahrzehnte, daß das alte und das neue
Deutſchland in offenem Kampfe auf einander ſtießen. Friedrich Wilhelm
lebte und webte in den Hoffnungen der Reichsreform; mit dem ganzen
feurigen Ungeſtüm ſeines heldenhaften Weſens betrieb er auf dem erſten
Reichstage nach dem Weſtphäliſchen Frieden die zu Osnabrück verheißene
Neugeſtaltung der Reichsverfaſſung. Da dieſer Verſuch ſcheiterte, faßte
Georg Friedrich von Waldeck den verwegenen Gedanken, daß der Hohen-
zoller ſelber dem Reiche eine neue Ordnung geben ſolle; er entwarf den
Anſchlag zu einem deutſchen Fürſtenbunde unter der Führung des ver-
größerten brandenburgiſchen Staates. Noch waren die Zeiten nicht
erfüllt. Der Kurfürſt ließ ſeinen kühnen Rathgeber fallen, um der
nächſten Noth zu begegnen und mit dem Kaiſer verbündet gegen die
Schweden auszuziehen; er hat nachher ſogar den lang erwogenen Plan
der Eroberung Schleſiens aufgegeben, weil er Oeſterreichs bedurfte im
Kampfe wider Frankreich. Doch der Weg war gewieſen; jede neue große
Erſchütterung des deutſchen Lebens hat den preußiſchen Staat wieder
zurückgeführt zu dem zweifachen Gedanken der Gebietserweiterung und
der bündiſchen Hegemonie.


Friedrich Wilhelms Nachfolger brachte mit der Königskrone ſeinem
Hauſe einen würdigen Platz in der Geſellſchaft der europäiſchen Mächte,
3*
[36]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſeinem Volke den gemeinſamen Namen der Preußen. Nur die Noth,
nur die Hoffnung auf Preußens Waffenhilfe bewog den kaiſerlichen Hof,
dem Nebenbuhler die neue Würde zuzugeſtehen. Ein Schrecken ging durch
die theokratiſche Welt: Kurmainz proteſtirte, der deutſche Orden forderte
nochmals ſeinen alten Beſitz zurück, der jetzt dem ketzeriſchen Königthum
den Namen gab, und der Staatskalender des Papſtes kannte noch an
hundert Jahre lang nur einen brandenburgiſchen Markgrafen. Die
anſpruchsvolle königliche Krone erſchien dem Enkel Friedrichs I. als eine
ernſte Mahnung, die Macht und Selbſtändigkeit des Staates zu befeſtigen.
Von ſolchem Stolze wußte die ſchwache Seele des erſten Königs wenig.
Er diente, ein getreuer Reichsfürſt, dem Kaiſerhauſe, kämpfte ritterlich am
Rheine, in der argloſen Hoffnung, der Kaiſer werde die Feſte Straßburg
dem Reiche zurückbringen; er half den Habsburgern die Türken zu
ſchlagen, ließ ſein Heer als karg belohnte Hilfsmacht Oeſterreichs und der
Seemächte an den Schlachten des ſpaniſchen Erbfolgekrieges theilnehmen.
Damals zuerſt lernten die Franzoſen das preußiſche Fußvolk als die
Kerntruppe des deutſchen Heeres fürchten; doch an der politiſchen Leitung
des Krieges hatte der Berliner Hof keinen Antheil. Während ſeine tapferen
Truppen in Ungarn und den Niederlanden, in Oberdeutſchland und Italien
unfruchtbaren Kriegsruhm ernteten, führte Schweden den Verzweiflungs-
kampf gegen die Mächte des Nordens; Preußen aber verſäumte die Gunſt
ſeiner centralen Lage auszubeuten und durch eine kühne Schwenkung vom
Rhein zur Oder dem nordiſchen Kriege die Entſcheidung zu geben. Mit
Mühe hat nachher Friedrich Wilhelm I. die Fehler des Vaters geſühnt und
aus dem Schiffbruch der ſchwediſchen Großmacht mindeſtens die Oder-
mündungen für Deutſchland gerettet.


Von Altersher waren die Hohenzollern, nach gutem deutſchem Fürſten-
brauche, für die idealen Aufgaben des Staatslebens treu beſorgt geweſen; ſie
hatten die Hochſchulen von Frankfurt und Königsberg gegründet, die Duis-
burger wiederhergeſtellt. Und jetzt, unter dem duldſamen Regimente des
freigebigen Friedrich und ſeiner philoſophiſchen Königin, gewann es den An-
ſchein, als ſollte Deutſchlands wiedererwachende Kunſt und Wiſſenſchaft in
dem rauhen Brandenburg ihre Heimath finden. Die vier reformatoriſchen
Denker des Zeitalters, Leibnitz, Pufendorf, Thomaſius, Spener wandten
ſich dem preußiſchen Staate zu. Die neue Friedrichs-Univerſität zu
Halle ward die Zufluchtſtätte freier Forſchung, übernahm für einige
Jahrzehnte die Führung der proteſtantiſchen Wiſſenſchaft, trat in die
Lücke ein, welche die Zerſtörung der alten Heidelberger Hochſchule ge-
ſchlagen hatte. Die dürftige Hauptſtadt ſchmückte ſich mit den Pracht-
bauten Schlüters; der ſchwelgeriſche Hof ſtrebte den Glanz und den
Mäcenatenruhm des gehaßten Bourbonen zu überbieten. Zwar die
frivole Selbſtvergötterung des höfiſchen Despotismus blieb dem Hauſe
der Hohenzollern immer fremd; die üppige Pracht Friedrichs I. reichte an
[37]Das Königreich Preußen.
die ruchloſe Unzucht der ſächſiſchen Auguſte nicht von fern heran. Den
ſchweren niederdeutſchen Naturen fehlte die Anmuth der Sünde; immer
wieder, oft in hochkomiſchem Contraſte, brach das ernſthaft nüchterne
nordiſche Weſen durch die erkünſtelten Verſailler Formen hindurch. Doch
die Verſchwendung des Hofes drohte die Mittel des armen Landes zu
verzehren; für ein Gemeinweſen, das ſich alſo durch die Macht des Willens
emporgehoben über das Maß ſeiner natürlichen Kräfte, war nichts
ſchwerer zu ertragen, als die ſchlaffe Mittelmäßigkeit. Ein Glück für
Deutſchland, daß die derben Fäuſte König Friedrich Wilhelms I. der Luſt
und Herrlichkeit jener erſten königlichen Tage ein jähes Ende bereiteten.


Der unfertige Staat enthielt in ſich die Keime vielſeitigen Lebens
und vermochte doch mit ſeiner geringen Macht faſt niemals, allen ſeinen
Aufgaben zugleich zu genügen; ſeine Fürſten haben das Werk ihrer Väter
ſelten in gerader Linie weitergeführt, ſondern der Nachfolger trat immer
in die Breſche ein, welche der Vorgänger offen gelaſſen, wendete ſeine
beſte Kraft den Zweigen des Staatslebens zu, welche Jener vernachläſſigt
hatte. Der große Kurfürſt hatte ſein Lebtag zu ringen mit dem Andrang
feindlicher Nachbarn. Seine ſtarke Natur verlor über den großen Ent-
würfen der europäiſchen Politik nicht jenen ſorgſam haushälteriſchen Sinn,
der den Meiſten ſeiner Vorfahren eigen war und ſchon in den Anfängen
des Hauſes an dem häufig wiederkehrenden Beinamen Oeconomus ſich
erkennen läßt; er that das Mögliche den zerſtörten Wohlſtand des Landes
zu heben, erzog den Stamm eines monarchiſchen Beamtenthums, begann
den Staatshaushalt nach den Bedürfniſſen moderner Geldwirthſchaft
umzugeſtalten. Doch eine durchgreifende Reform der Verwaltung kam
in den Stürmen dieſer kampferfüllten Regierung nicht zu Stande; des
Fürſten perſönliches Anſehen und die ſchwerfällige alte Centralbehörde,
der Geheime Rath, hielten das ungeſtalte Bündel ſtändiſcher Territorien
nothdürftig zuſammen. Erſt ſein Enkel zerſtörte den alten ſtändiſchen
Staat.


König Friedrich Wilhelm I. ſtellte die Grundgedanken der inneren
Ordnung des preußiſchen Staates ſo unverrückbar feſt, daß ſelbſt die
Geſetze Steins und Scharnhorſts und die Reformen unſerer Tage das
Werk des harten Mannes nur fortbilden, nicht zerſtören konnten. Er
iſt der Schöpfer der neuen deutſchen Verwaltung, unſeres Beamtenthums
und Offizierſtandes; ſein glanzlos arbeitſames Wirken ward nicht minder
fruchtbar für das deutſche Leben als die Waffenthaten ſeines Großvaters,
denn er führte eine neue Staatsform, die geſchloſſene Staatseinheit der
modernen Monarchie, in unſere Geſchichte ein. Er gab dem neuen
Namen der Preußen Sinn und Inhalt, vereinte ſein Volk zur Gemein-
ſchaft politiſcher Pflichterfüllung, prägte den Gedanken der Pflicht für
alle Zukunft dieſem Staate ein. Nur wer den knorrigen Wuchs, die
harten Ecken und Kanten des niederdeutſchen Volkscharakters kennt, wird
[38]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
dieſen gewaltigen Zuchtmeiſter verſtehen, wie er ſo athemlos durchs Leben
ſtürmte, der Spott und Schrecken ſeiner Zeitgenoſſen, rauh und roh,
ſcheltend und fuchtelnd, immer im Dienſt, ſein Volk und ſich ſelber zu
heißer Arbeit zwingend, ein Mann von altem deutſchen Schrot und Korn,
kerndeutſch in ſeiner kindlichen Offenheit, ſeiner Herzensgüte, ſeinem tiefen
Pflichtgefühl, wie in ſeinem furchtbaren Jähzorn und ſeiner formlos
ungeſchlachten Derbheit. Der alte Haß des norddeutſchen Volkes wider die
alamodiſche Feinheit der wälſchen Sitten, wie er aus Laurenbergs nieder-
deutſchen Spottgedichten ſprach, gewann Fleiſch und Blut in dieſem
königlichen Bürgersmanne; auch ſeine Härte gegen Weib und Kind zeigt
ihn als den echten Sohn jenes claſſiſchen Zeitalters der deutſchen Haus-
tyrannen, das alle Leidenſchaft des Mannes aus dem unfreien öffentlichen
Leben in die Enge des Hauſes zurückdrängte. Streng und freudlos,
abſchreckend kahl und dürftig ward das Leben unter dem banauſiſchen
Regimente des geſtrengen Herrſchers. Die harte Einſeitigkeit ſeines
Geiſtes ſchätzte nur die einfachen ſittlichen und wirthſchaftlichen Kräfte,
welche den Staat im Innerſten zuſammenhalten; er warf ſich mit der
ganzen Wucht ſeines herriſchen Willens auf das Gebiet der Verwaltung
und bewährte hier die urſprüngliche Kraft eines ſchöpferiſchen Geiſtes.
So feſt und folgerecht, wie einſt Wilhelm der Eroberer in dem unter-
worfenen England, richtete Friedrich Wilhelm I. den Bau des Einheits-
ſtaates über der Trümmerwelt ſeiner Territorien auf. Doch nicht als
ein Landgut ſeines Hauſes erſchien ihm der geeinte Staat, wie jenem
Normannen; vielmehr lebte in dem Kopfe des ungelehrten Fürſten merk-
würdig klar und bewußt der Staatsgedanke der neuen Naturrechtslehre:
daß der Staat beſtehe zum Beſten Aller, und der König berufen ſei in
unparteiiſcher Gerechtigkeit über allen Ständen zu walten, das öffentliche
Wohl zu vertreten gegen Sonderrecht und Sondervortheil. Dieſem
Gedanken hat er ſein raſtloſes Schaffen gewidmet; und wenn ſein Fuß
mit den lockeren Unſitten des väterlichen Hofes auch alle die Keime
reicherer Bildung gewaltſam zertrat, die unter Friedrich I. ſich zu ent-
falten begannen, ſo that er doch das Nothwendige. Die feſte Manns-
zucht eines wehrhaften, arbeitſamen Volkes war für Preußens große
Zukunft wichtiger als jene vorzeitige Blüthe der Kunſt und Wiſſenſchaft.


Eine ſanftere Hand als die ſeine war hätte die Zuchtloſigkeit altſtän-
diſcher Libertät niemals unter die Majeſtät des gemeinen Rechts gebeugt;
zartere Naturen als dieſe niederdeutſchen Kerneichen Friedrich Wilhelm
und ſein Wildling Leopold von Deſſau hätten dem Sturmwinde wälſchen
Weſens, der damals über die deutſchen Höfe dahinfegte, nie widerſtanden.
Als Organiſatoren der Verwaltung ſind dieſem Soldatenkönige unter allen
Staatsmännern der neuen Geſchichte nur zwei ebenbürtig: der erſte
Conſul Bonaparte und der Freiherr vom Stein. Er verband mit der
Kühnheit des Neuerers den peinlich genauen Ordnungsſinn des ſparſamen
[39]Friedrich Wilhelm I. und die Staatseinheit.
Hausvaters, dem weder die ſchwarzundweißen Heftfäden der Aktenbündel
noch die Kamaſchenknöpfe der Grenadiere entgingen; er faßte verwegene
Pläne, die erſt das neunzehnte Jahrhundert zu vollführen vermocht hat,
und hielt doch im Handeln mit ſicherem Blicke die Grenzen des Möglichen
ein. Sein proſaiſcher, auf das handgreiflich Nützliche gerichteter Sinn
ging andere Wege als die ſchwungvolle Heldengröße des Großvaters,
doch mitten im Sorgen für das Kleinſte und Nächſte bewahrte er ſtets
das Bewußtſein von der ſtolzen Beſtimmung ſeines Staates; er wußte,
daß er die Kräfte des Volkes ſammle und bilde für die Entſcheidungs-
ſtunden einer größeren Zukunft, und ſagte oft: „Ich weiß wohl, in Wien
und Dresden nennen ſie mich einen Pfennigklauber und Pedanten, aber
meinen Enkeln wird es zu gute kommen!“


Durch das Heer wurde Preußen zur europäiſchen Macht erhoben,
und durch das Heer ward auch in das alte Verwaltungsſyſtem des Staates
die erſte Breſche geſchlagen. Der große Kurfürſt hatte für die Verwaltung
der neuen Steuern, die er zur Erhaltung ſeiner Kriegsmacht verwendete,
eine Reihe von Mittelbehörden, die Kriegscommiſſariate eingeſetzt; und ſo
ſtand denn durch einige Jahrzehnte die Steuerwirthſchaft des werdenden
modernen Staates unvermittelt neben der Verwaltung der Kammer-
güter, dem letzten Trümmerſtücke der Naturalwirthſchaft des Mittelalters.
Friedrich Wilhelm I. hob dieſen Dualismus auf. Er ſchuf in dem Gene-
raldirectorium eine Oberbehörde, in den Kriegs- und Domänenkammern
Mittelſtellen für die geſammte Verwaltung und gab dieſen Collegien zugleich
die Gerichtsbarkeit für die Streitfragen des öffentlichen Rechts. Die
bunte Mannichfaltigkeit des Staatsgebietes zwang den König freilich, eine
zwiſchen dem Provinzial- und dem Realſyſteme vermittelnde Einrichtung
zu treffen; er ſtellte an die Spitze der Abtheilungen des Generaldirec-
toriums Provinzialminiſter, die zugleich einige Zweige der Verwaltung
für den geſammten Staat zu leiten hatten. Doch im Weſentlichen wurde
die Centraliſation der Verwaltung begründet, früher als irgendwo ſonſt
auf dem Feſtlande. Was noch übrig geblieben von altſtändiſchen Behörden
ward beſeitigt oder dem Befehle des monarchiſchen Beamtenthums unter-
worfen; eine ſchonungsloſe Reform brach über die tief verderbte ſtädtiſche
Verwaltung herein, beſeitigte den Nepotismus der Magiſtrate, erzwang ein
neues gerechteres Steuerſyſtem, warf die drei Städte Königsbergs, die zwei
Communen der Havelſtadt Brandenburg zu einer Gemeinde zuſammen,
ſtellte das geſammte Städteweſen unter die ſcharfe Aufſicht königlicher
Kriegsräthe.


Ueberall trat der Particularismus der Stände, der Landſchaften,
der Gemeinden der neuen gleichmäßigen Ordnung feindlich entgegen.
Murrend fügte ſich der adliche Landſtand den Geboten der bürger-
lichen Beamten. Die ſtolzen Oſtpreußen klagten über Verletzung alter
Freiheitsbriefe, da nun Pommern und Rheinländer in die Aemter des
[40]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Herzogthums eindrangen. Auch die Gerichte lebten noch in dem Ge-
dankenkreiſe des altſtändiſchen Staates und nahmen, gleich den franzö-
ſiſchen Parlamenten, faſt immer Partei für das verfallene Recht der
Theile gegen das lebendige Recht des Ganzen. Alſo, im ſiegreichen
Kampfe für Staatseinheit und Rechtsgleichheit, hat ſich Preußens neue
regierende Klaſſe, das königliche Beamtenthum geſchult. Aus jenem
heimathloſen Dienergeſchlechte, das im ſiebzehnten Jahrhundert von Hof
zu Hof umherzog, ward nach und nach ein preußiſcher Stand, der
ſein Leben dem Dienſte der Krone hingab und in ihrer Ehre die
ſeine fand, ſtreng, thätig und gewiſſenhaft wie ſein König. Er ver-
kümmerte nicht, wie die Herren Stände der alten Zeit, in dem engen
Geſichtskreiſe der Landſchaft und der Vetterſchaft; er gehörte dem Staate
an, lernte ſich heimiſch fühlen in Königsberg wie in Cleve und wahrte
in den Klaſſenkämpfen der Geſellſchaft gegen Hoch und Niedrig das
Geſetz des Landes. Der König aber gab ſeinen Beamten durch eine
feſte Rangordnung und geſicherten Gehalt eine geachtete Stellung im
bürgerlichen Leben, forderte von jedem Eintretenden den Nachweis wiſſen-
ſchaftlicher Kenntniſſe und begründete alſo eine Ariſtokratie der Bildung
neben der alten Gliederung der Geburtsſtände. Die Folge lehrte, wie
richtig er die lebendigen Kräfte der deutſchen Geſellſchaft geſchätzt hatte;
die beſten Köpfe des Adels und des Bürgerthums ſtrömten der neuen
regierenden Klaſſe zu. Das preußiſche Beamtenthum wurde für lange
Jahre die feſte Stütze des deutſchen Staatsgedankens, wie einſt die
Legiſten Philipps des Schönen die Pioniere der franzöſiſchen Staatsein-
heit waren.


Zu der Steuerpflicht, welche der große Kurfürſt ſeinen Unterthanen
auferlegt, fügte Friedrich Wilhelm I. die Wehrpflicht und die Schulpflicht
hinzu; er ſtellte alſo die Dreizahl jener allgemeinen Bürgerpflichten feſt,
welche Preußens Volk zur lebendigen Vaterlandsliebe erzogen haben.
Ahnungslos brach ſein in der Beſchränktheit gewaltiger Geiſt die Bahn
für eine ſtrenge, dem Bürgerſinne des Alterthums verwandte Staatsge-
ſinnung. Der altgermaniſche Gedanke des Waffendienſtes aller wehrbaren
Männer war in den kampfgewohnten deutſchen Oſtmarken ſelbſt während
der Zeiten der Söldnerheere niemals gänzlich ausgeſtorben. In Oſtpreußen
beſtanden noch bis ins achtzehnte Jahrhundert die Trümmer der alten
Landwehr der Wybranzen, und Friedrich I. unternahm eine Landmiliz
für den geſammten Staat zu bilden. Vor dem Soldatenauge ſeines
Sohnes fanden ſolche Verſuche ungeregelter Volksbewaffnung keine Gnade.
König Friedrich Wilhelm kannte die Ueberlegenheit wohlgeſchulter ſtehender
Heere; er ſah, daß ſein Staat nur durch die Anſpannung aller Kräfte
beſtehen und doch die Koſten der Werbungen auf die Dauer nicht er-
ſchwingen konnte. Wie ihm überall hinter dem Gebote der politiſchen
Pflicht jede andere Rückſicht zurücktrat, ſo gelangte er zu dem kühnen
[41]Verwaltung und Heer.
Schluſſe, daß alle Preußen durch die Schule des ſtehenden Heeres gehen
müßten. Von den politiſchen Denkern der jüngſten Jahrhunderte hatten
allein Machiavelli und Spinoza den einfach großen Gedanken der allge-
meinen Wehrpflicht zu vertheidigen gewagt; Beide ſchöpften ihn aus der
Geſchichte des Alterthums, Beide blieben unverſtanden von den Zeit-
genoſſen. Die Noth des Staatshaushalts und eine inſtinctive Erkennt-
niß der Natur ſeines Staates führten dann den derben Praktiker auf
Preußens Throne zu derſelben Anſicht, obgleich er von der ſittlichen Kraft
eines nationalen Heeres nur wenig ahnte. Er zuerſt unter den Staats-
männern des neuen Europas ſprach den Grundſatz aus: „jeder Unterthan
wird für die Waffen geboren“ und arbeitete ſein Lebenlang ſich dieſem
Ideale anzunähern, ein Heer von Landeskindern zu bilden. Das Canton-
reglement von 1733 verkündete die Regel der allgemeinen Dienſtpflicht.


Freilich nur die Regel. Der Gedanke war noch unreif, da die lange
Dienſtzeit jener Epoche ihm ſchnurſtracks zuwiderlief. Die Armuth des
Landes und die Macht der ſtändiſchen Vorurtheile zwangen den König
zahlreiche Ausnahmen zuzulaſſen, ſo daß die Laſt des erzwungenen
Waffendienſtes thatſächlich allein auf den Schultern des Landvolkes lag;
und ſelbſt die alſo beſchränkte Wehrpflicht konnte nicht vollſtändig durch-
geführt werden. Unbeſiegbar blieb der ſtille Widerſtand gegen die uner-
hörte Neuerung, der Abſcheu des Volkes vor dem langen und harten
Dienſte. Selten gelang es, mehr als die Hälfte des Heeres mit einhei-
miſchen Cantoniſten zu füllen; der Reſt ward durch Werbungen gedeckt.
Viele der meiſterloſen deutſchen Landsknechte, die bisher in Venedig und den
Niederlanden, in Frankreich und Schweden ihre Haut zu Markte getragen,
fanden jetzt eine Heimath unter den Fahnen der norddeutſchen Großmacht;
der Süden und Weſten des Reichs wurde das ergiebigſte Werbegebiet
der preußiſchen Regimenter. Auf ſo wunderlichen Umwegen iſt unſere
Nation zur Macht und Einheit aufgeſtiegen. Jenes waffenloſe Drittel
des deutſchen Volkes, deſſen Staatsgewalten zum Schutze des Reichs
kaum einen Finger regten, zahlte den Blutzoll an das Vaterland durch
die tauſende ſeiner verlorenen Söhne, die als Söldner in Preußens
Heeren fochten; jene Kleinfürſten in Schwaben und am Rhein, die in
Preußen ihren furchtbaren Gegner ſahen, halfen ſelber die Kriegsmacht
ihres Feindes zu verſtärken. Seit das preußiſche Heer entſtand, hörte
das Reich allmählich auf der offene Werbeplatz aller Völker zu ſein,
und als dies Heer erſtarkte war Deutſchland nicht mehr das Schlachtfeld
aller Völker.


Das Heer bot dem Könige die Mittel den aufſäſſigen Adel mit der
monarchiſchen Ordnung zu verſöhnen. Wohl war das Anſehen des
Kriegsherrn ſchon erheblich geſtiegen ſeit jenen argen Tagen, da der
große Kurfürſt ſeine eigenen Kriegsoberſten gleich Raubthieren auf der
Jagd umſtellen ließ und ſie zwang ihm allein den Eid der Treue zu
[42]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſchwören; aber erſt dem Enkel glückte, was der Großvater vergeblich er-
ſtrebte, die Ernennung aller Offiziere in ſeine Hand zu bringen, das
erſte rein monarchiſche Offizierskorps der neuen Geſchichte zu bilden.
Sein organiſatoriſcher Sinn, der überall die politiſche Reform den gege-
benen Zuſtänden der Geſellſchaft anzupaſſen verſtand, fühlte raſch heraus,
daß die abgehärteten Söhne der zahlreichen armen Landadelsgeſchlechter
des Oſtens die natürlichen Führer der cantonpflichtigen Bauerburſchen
waren. Er ſtellte das Offizierscorps als eine geſchloſſene Ariſtokratie über
die Mannſchaft, ſchuf in dem Cadettenhauſe die Pflanzſchule für den
Sponton, eröffnete Jedem, der den geſtickten Rock trug, die Ausſicht auf
die höchſten Aemter des Heeres, wachte ſtreng über der Standesehre, ſuchte
in jeder Weiſe den Adel für dieſen ritterlichen Stand zu gewinnen,
während er die gelehrte Bildung des Bürgerthums lieber im Verwaltungs-
dienſte verwendete. Wie oft hat er bittend und drohend die trotzigen
Edelleute von Oſtpreußen ermahnt, ihre rohen Söhne in die Zucht des
Cadettenhauſes zu geben; er ſelber ging mit ſeinem Beiſpiele voran, ließ
alle ſeine Prinzen im Heere dienen. Verwundert pries Karl Friedrich
Moſer dieſe „Erbmaxime des preußiſchen Hauſes, die den Adel an das
Militär- und Finanzſyſtem der Krone gewöhnen ſolle“. Und es gelang,
aus verwilderten Junkern einen treuen und tapferen monarchiſchen Adel
zu erziehen, der für das Vaterland zu ſiegen und zu ſterben lernte und
ſo feſt wie Englands parlamentariſcher Adel mit dem Leben des Staates
verwuchs. Ueberall ſonſt in der hochariſtokratiſchen Welt der Oſtſeelande
blühte die ſtändiſche Anarchie: in Schweden und Schwediſch-Pommern, in
Mecklenburg, Polniſch-Preußen und Livland; nur in Preußen wurde der
Adel den Pflichten des modernen Staates gewonnen. Die Armee erſchien
wie ein Staat im Staate, mit eigenen Gerichten, Kirchen und Schulen;
der Bürger ſah mit Entſetzen die eiſerne Strenge der unmenſchlichen
Kriegszucht, welche die rohen Maſſen der Mannſchaft gewaltſam zuſammen-
hielt, ertrug unwillig den polternden Hochmuth der Leutnants und jenen
Centaurenhaß gegen die Gelehrſamkeit der Federfuchſer, der ſeit den Tagen
des feurigen Prinzen Karl Aemil in den Offizierskreiſen zur Schau
getragen wurde und in der Berſerkerroheit des alten Deſſauers ſich ver-
körperte. Und doch war dies Heer nicht blos die beſtgeſchulte und beſt-
bewaffnete Kriegsmacht der Zeit, ſondern auch das bürgerlichſte unter
allen großen Heeren der modernen Völker, das einzige, das ſeinem Kriegs-
herrn nie die Treue brach, das nie verſuchte dem Geſetze des Landes mit
Prätorianertrotz entgegenzutreten.


Ebenſo unheimlich wie dieſe Heeresorganiſation erſchien den Deutſchen
der preußiſche Schulzwang; die Unwiſſenheit des großen Haufens galt
den herrſchenden Ständen noch für die ſichere Bürgſchaft ſtaatlicher
Ordnung. König Friedrich Wilhelm aber bewunderte, wie ſein Großvater,
die proteſtantiſchen Niederlande als das gelobte Land bürgerlicher Wohl-
[43]Die Krone und die Stände.
fahrt; er hatte dort den ſittlichen und wirthſchaftlichen Segen einer weit
verbreiteten Schulbildung kennen gelernt und fühlte dunkel, daß die
Lebenskraft der proteſtantiſchen Cultur in der Volksſchule liegt. Da er
einſah, daß die gedrückten und verdumpften Volksmaſſen des Nordoſtens
nur durch die Zwangsgewalt des Staates ihrer Roheit entriſſen werden
konnten, ſo ſchritt er auch hier der Geſetzgebung aller anderen Großmächte
entſchloſſen voraus und legte durch das Schulgeſetz von 1717 jedem
Hausvater kurzab die Pflicht auf ſeine Kinder in die Schule zu ſchicken.
Sehr langſam hat ſich auf dem Boden dieſes Geſetzes das preußiſche
Volksſchulweſen ausgebildet. Die Entwicklung ward erſchwert nicht blos
durch die Armuth und Trägheit des Volks, ſondern auch durch die
Schuld des Königs ſelber; denn alle Volksbildung ruht auf dem Gedeihen
ſelbſtändiger Forſchung und ſchöpferiſcher Kunſt, und für dies ideale
Schaffen hatte Friedrich Wilhelm nur den Spott des Barbaren.


So, durch die Gemeinſchaft ſchwerer Bürgerpflichten, durch die Ein-
heit des Beamtenthums und des Heerweſens wurden die Magdeburger
und Pommern, die Märker und Weſtphalen zu einem preußiſchen Volke,
und Friedrich II. gab nur dem Werke ſeines Vaters den rechtlichen Ab-
ſchluß, als er allen ſeinen Unterthanen das preußiſche Indigenat verlieh.
Aber wie ſchroff und herriſch auch dies Königthum ſeine Souveränität
als einen rocher von bronze jedem Ungehorſam entgegenſtellte, das Werk
der Einigung ſchritt doch weit ſchonender vorwärts als im Nachbarlande
die gewaltſame „Einebnung des franzöſiſchen Bodens“. Der Staat
konnte ſeine germaniſche Natur nicht verleugnen; ein Zug hiſtoriſcher
Pietät lag tief in ſeinem Weſen. Wie er die kirchlichen Gegenſätze zu
verſöhnen ſuchte, ſo mußte er auch in der Politik eine mittlere Richtung
einhalten um die Ueberfülle der centrifugalen Kräfte zu beſchwichtigen.
Geduldige Achtung ward den alten Erinnerungen der Landſchaften überall
erwieſen; noch heute prangt der Doppeladler Oeſterreichs faſt auf jedem
Ring der ſchleſiſchen Städte, und der Schutzheilige Böhmens blickt noch
von der Glatzer Citadelle auf die ſchöne Grafſchaft hernieder. Jene
übermüthigen Herren Stände, die dem großen Kurfürſten noch verbieten
wollten ſeinen Vater nach calviniſchem Brauche zu beerdigen, waren
endlich nach gewaltigem Ringen in die Reihen der gemeinen Unterthanen
herabgedrückt. Die Landtage verloren ihre alten Regierungsrechte ſowie
jeden Einfluß auf Staatshaushalt und Heerweſen; doch nachdem dieſer
Kampf ſiegreich beendigt war, ließ man ihnen den Schein des Lebens.


Preußens Krone hat bis zum Untergange des heiligen Reiches in allen
den Landſchaften, die ſie nach und nach erwarb, nur dreimal eine land-
ſtändiſche Verfaſſung förmlich aufgehoben: in Schleſien, in Weſtpreußen
und im Münſterlande, da dort die Stände den Heerd einer ſtaatsfeind-
lichen Partei bildeten, die dem Eroberer bedrohlich ſchien. Ueberall ſonſt
kamen die Landtage in die neueren Tage hinüber, ein ſeltſames Getrümmer
[44]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
aus jenen alten Zeiten, da der deutſche Norden noch in kleine Territorien
zerfiel. Sie waren die Eierſchale, die der junge Aar noch auf ſeinem
Kopfe trug; ſie vertraten die Vergangenheit des Staates, Krone, Beamten-
thum und Heer ſeine Gegenwart. Sie vertraten den Particularismus
und das ſtändiſche Privilegium gegen die Staatseinheit und das gemeine
Recht; ihre Macht reichte noch aus um den großen Gang der monarchiſchen
Geſetzgebung zuweilen zu erſchweren, nicht mehr um ihn gänzlich aufzu-
halten. Den Landtagsausſchüſſen blieb die Vertheilung einiger Steuern
und die Verwaltung des landſchaftlichen Schuldenweſens; auf dieſem engen
Gebiete beſtanden der Nepotismus, der Schlendrian und das leere Formel-
weſen des altſtändiſchen Staates noch ungebrochen, und der märkiſche
Edelmann nannte ſein Brandenburg noch gern einen ſelbſtändigen Staat
unter der Krone Preußen. Auch das altſtändiſche Landrathsamt ward nicht
aufgehoben, ſondern behutſam in die Ordnung des monarchiſchen Beamten-
thums eingefügt; der Landrath, auf Vorſchlag der Stände durch die Krone
ernannt, war zugleich Vertreter der Ritterſchaft und königlicher Beamter,
der Kriegs- und Domänenkammer untergeben. Der König hegte ein
gut bürgerliches Mißtrauen gegen den gewaltthätigen Uebermuth ſeiner
Junker, doch er bedurfte der Hingebung des Adels um die neue Heeres-
verfaſſung aufrecht zu halten, ſuchte die Murrenden durch Ehren und
Würden zu beſchwichtigen, ließ den Grundherren einen Theil der alten
Steuerprivilegien und die gutsherrliche Polizei, freilich unter der Aufſicht
der königlichen Beamten.


Nur dieſe kluge Schonung hat dem Könige die Durchführung ſeiner
großen wirthſchaftlichen Reformen ermöglicht. Er begründete jenes eigen-
thümliche Syſtem monarchiſcher Organiſation der Arbeit, das während
zweier Menſchenalter die altüberlieferte Gliederung der Stände mit den
neuen Aufgaben des Staates in Einklang gehalten hat. Jeder Provinz
und jedem Stande wies die Krone gewiſſe Zweige volkswirthſchaftlicher
und politiſcher Arbeit zu. Außer dem Landbau, dem Hauptgewerbe der
geſammten Monarchie, ſollten in der Kurmark und den weſtphäliſchen
Provinzen die Manufacturen, in den Küſtenländern der Handel, im
Magdeburgiſchen der Bergbau betrieben werden. Dem Adel gebührte
allein der große Grundbeſitz und ein nahezu ausſchließlicher Anſpruch auf
die Offiziersſtellen, dem Bauernſtande die ländliche Kleinwirthſchaft und
der Soldatendienſt, den Stadtbürgern Handel und Gewerbe und, dem
entſprechend, hohe Steuerlaſt.


Dieſe Rechte der Stände und Landſchaften vor jedem Eingriff zu
ſichern galt als die Pflicht königlicher Gerechtigkeit und ſie war nirgends
ſo ſchwer zu erfüllen, wie hier auf dem alten Coloniſtenboden, wo die
Uebermacht der Grundherren zugleich der Krone und dem bürgerlichen
Frieden bedrohlich wurde. Die menſchlichſte der Königspflichten, die
Beſchützung der Armen und Bedrängten, war für die Hohenzollern ein
[45]Der König der Bettler.
Gebot der Selbſterhaltung; ſie führten mit Stolz den Namen „Könige
der Bettler“, den ihnen Frankreichs Hohn erſann. Die Krone verbot
das Auskaufen der Bauerngüter, das in Mecklenburg und Schwediſch-
Pommern dem Adel die Alleinherrſchaft auf dem flachen Lande ver-
ſchaffte; ſie rettete den ländlichen Mittelſtand vom Untergange, und ſeit
Friedrich Wilhelm I. arbeitete eine durchdachte Agrargeſetzgebung an der
Entfeſſelung des Landvolkes. Der König wünſchte die Erbunterthänigkeit
aufzuheben, allen bäuerlichen Beſitz in freies Grundeigenthum zu ver-
wandeln; ſchon im Jahre 1719 ſprach er aus, „was es denn für eine
edle Sache ſei, wenn die Unterthanen ſtatt der Leibeigenſchaft ſich der
Freiheit rühmen, das Ihrige deſto beſſer genießen, ihr Gewerbe und
Weſen mit um ſo mehr Begierde und Eifer als ihr eigenes treiben“.
Dieſen Herzenswunſch der Krone zu erfüllen blieb freilich noch auf lange
hinaus unmöglich; zu leidenſchaftlich war der Widerſpruch des mächtigen
Adels, der ſchon die Aufhebung des Lehensweſens als eine Kränkung
empfand, zu zähe das ſtille Widerſtreben der rohen Bauern ſelber, die
jede Aenderung des Hergebrachten mit Argwohn betrachteten. Aber ſtetig
und unaufhaltſam hat ſich der König ſeinem Ziele angenähert. Sein
Prügelmandat ſchützte den Gutsunterthan vor Mißhandlung; die bäuer-
lichen Dienſte und Abgaben wurden erleichtert, die Auftheilung der Ge-
meinheiten und die Zuſammenlegung der Grundſtücke begonnen, überall
die Bahn gebrochen für die Befreiung der Scholle und der Arbeitskraft.
Die Reformen Steins und Hardenbergs konnten nur darum einen ſo
durchſchlagenden Erfolg erringen, weil ſie vorbereitet waren durch die
Geſetzgebung dreier Menſchenalter. Bei dem Beamtenthum der Krone
fand der kleine Mann Schutz gegen adlichen Uebermuth, ſachkundigen
Rath und unerbittlich ſtrenge Aufſicht; kein Opfer ſchien dem ſparſamen
Könige zu ſchwer für das Beſte ſeiner Bauern; die geſammte Staatsein-
nahme eines vollen Jahres hat er aufgewendet um ſein Schmerzenskind,
das von Peſt und Krieg verheerte Oſtpreußen der Geſittung zurückzu-
geben, die weite Wüſte am Memel und Pregel mit fleißigen Arbeitern zu
bevölkern.


Der treuen Sorgfalt für das Wohl der Maſſen, nicht dem Glanze
des Kriegsruhms dankten die Hohenzollern das in aller Noth und Ver-
ſuchung unerſchütterliche Vertrauen des Volkes zu der Krone. Zeiten der
Erſtarrung und Ermattung blieben dem preußiſchen Staate ſo wenig
erſpart wie andern Völkern; ſie erſcheinen ſogar in ſeiner Geſchichte
auffälliger, häßlicher als irgendwo ſonſt, weil immer tauſend feindſelige
Augen nach ſeinen Schwächen ſpähten und der vielumkämpfte zu verſinken
drohte ohne die Spannkraft des Willens. Wer längere Zeiträume ruhig
überblickt, kann gleichwohl das ſtetige Fortſchreiten der Monarchie zur
Staatseinheit und Rechtsgleichheit nicht verkennen. Wie die Bilder der
Hohenzollern zwar nicht die geiſtlos eintönige Gleichheit habsburgiſcher
[46]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Fürſtenköpfe, doch einen unverkennbaren Familienzug zeigen, ſo auch ihr
politiſcher Charakter. Alle, die großen wie die ſchwachen, die geiſtreichen
wie die beſchränkten, bekunden mit ſeltenen Ausnahmen einen nüchtern
verſtändigen Sinn für die harten Wirklichkeiten des Lebens, der nicht
verſchmäht im Kleinen groß zu ſein, und alle denken hoch von ihrer
Fürſtenpflicht.


Die Geſinnung des erſten märkiſchen Hohenzollern, der ſich „Gottes
ſchlichten Amtmann an dem Fürſtenthum“ nannte, waltet in allen Enkeln;
ſie kehrt wieder in dem Wahlſpruche des großen Kurfürſten „Für Gott
und das Volk“; ſie ſpricht aus dem fieberiſchen Dienſteifer des Soldaten-
königs, der ſich immer bewußt blieb mit ſeiner Seelen Seligkeit dereinſt ein-
ſtehen zu müſſen für das Wohl ſeines Volkes; ſie findet endlich einen tieferen
und freieren Ausdruck in dem fridericianiſchen Worte: Der König iſt der
erſte Diener des Staates. Viele der Hohenzollern haben gefehlt durch
allzu gewiſſenhafte Scheu vor dem Würfelſpiele des Krieges, Wenige
durch unſtete Kampfluſt; die überlieferte Politik des Hauſes ſuchte den
Herrſcherruhm in der Wahrung des Rechts und der Pflege der Werke
des Friedens, richtete nur zuweilen, in großen Augenblicken, die wohlge-
ſchonten Kräfte des Staates nach außen — auch hierin wie überall das
ſchroffe Gegenbild der gänzlich den europäiſchen Fragen zugewendeten
Staatskunſt der Habsburger. Die Dynaſtie hatte längſt gleich den alt-
franzöſiſchen Königen ihr Hausgut an den Staat abgetreten; ſie lebte
allein dem Ganzen. Während faſt alle anderen Territorien des Reichs
den Namen und das Wappenſchild ihres Fürſtenhauſes annahmen, trugen
die Fahnen der Hohenzollern den alten Reichsadler der Stauferzeit, den
ſich die ferne Oſtmark durch die Jahrhunderte bewahrt hatte, und die
Deutſch-Ordensfarben des Landes Preußen. Dies hart politiſche König-
thum erzog ein mißhandeltes und verwildertes Volk zu den Rechten und
Pflichten des Staatsbürgerthums. Wo immer man die Zuſtände deutſcher
Landſchaften vor und nach ihrem Eintritt in den preußiſchen Staat
vergleichen mochte, in Pommern, in Oſtpreußen, in Cleve und der Graf-
ſchaft Mark, überall hatte der Klang der preußiſchen Trommeln den
Deutſchen die Freiheit gebracht: die Befreiung von der Gewalt des Aus-
lands und von der Tyrannei ſtändiſcher Vielherrſchaft. Auf dem Boden
des gemeinen Rechtes iſt dann unter ſchweren Kämpfen, doch in natür-
licher, nothwendiger Entwicklung eine neue reifere Form der politiſchen
Freiheit erwachſen, die geordnete Theilnahme der Bürger an der Leitung
des Staates. Nicht das Genie, ſondern der Charakter und die feſte
Mannszucht gab dieſem Staate ſittliche Größe; nicht der Reichthum,
ſondern die Ordnung und die raſche Schlagfertigkeit ſeiner Mittel gab
ihm Macht.


Doch jetzt am wenigſten konnte die deutſche Nation ein Verſtändniß
gewinnen für die ſeltſame Erſcheinung dieſes waffenſtarken Staates, wie
[47]Haß der Deutſchen gegen Preußen.
er ſo daſtand, eine jugendlich unreife Geſtalt, knochig und ſehnig, Kraft
und Trotz im Blicke, aber unſchön, ohne die Fülle der Formen, aller
Anmuth, alles Adels baar. Die alte Abneigung der Deutſchen gegen das
vordringliche Brandenburg wurde durch die böotiſche Rauheit Friedrich
Wilhelms I. bis zu leidenſchaftlichem Widerwillen geſteigert. Dem Hiſto-
riker ziemt es nicht, die erſchreckend grellen Farben unſerer neuen Geſchichte
mit weichem Pinſel zu verwiſchen; es iſt nicht wahr, daß dieſer tiefe Haß
der Nation nur verhaltene Liebe geweſen ſei. Damals bildete ſich in der
öffentlichen Meinung jene aus Wahrem und Falſchem ſeltſam gemiſchte
Anſicht vom Weſen des preußiſchen Staates, die in den Kreiſen der
deutſchen Halbbildung an hundert Jahre lang geherrſcht hat und noch
heutzutage in der Geſchichtſchreibung des Auslands die Oberhand be-
hauptet. Dies Land der Waffen erſchien den Deutſchen wie eine weite
Kaſerne. Nur der dröhnende Gleichtritt der Potsdamer Rieſengarde,
der barſche Commandoruf der Offiziere und das Jammergeſchrei der
durch die Gaſſe gejagten Deſerteure klang aus der dumpfen Stille des
großen Kerkers ins Reich hinüber; von den Segenswünſchen, welche der
dankbare litthauiſche Bauer für ſeinen geſtrengen König zum Himmel
ſchickte, hörte Deutſchland nichts. Der Adel im Reich ſah eben jetzt
goldene Tage. In Hannover waltete das Regiment der Herren Stände
ſchrankenlos, ſeit der Kurfürſt im fernen England weilte; das ſächſiſche
Junkerthum benutzte den Uebertritt ſeines Polenkönigs zur römiſchen Kirche
um ſich neue ſtändiſche Privilegien zu erringen und tummelte ſich in
Saus und Braus an dem ſchamloſen Hofe der albertiniſchen Landver-
derber; zornig zugleich und geringſchätzig ſchauten die ſtolzen Geſchlechter
der Nachbarlande auf den bürgerlich-ſoldatiſchen Despotismus der Hohen-
zollern, der die fröhliche Zeit der Adelsherrſchaft ſo gewaltſam ſtörte.


Auch der Bürgersmann wollte ſich zu dem preußiſchen Weſen kein
Herz faſſen. Er betrachtete bald mit ironiſchem Mitleid bald mit ſcheuer
Furcht den eiſernen Fleiß und die unbeſtechliche Strenge der preußiſchen
Beamten; er meinte alle Heiligkeit des Rechtes bedroht, wenn er die neue
Verwaltung, in beſtändigem Kampfe mit den Gerichten, über die alten
Freiheitsbriefe der Landſchaften und Communen rückſichtslos hinweg-
ſchreiten ſah, und ahnte nicht, daß dies alte Leben, das hier zertreten
ward, nur das wimmelnde Leben der Verweſung war. Mit beſſerem
Rechte zürnten die Gelehrten. Die geſammte akademiſche Welt fühlte ſich
ſchmählich beleidigt, als der rohe König mit dem ehrwürdigen J. J. Moſer
und den Frankfurter Profeſſoren ſeine höhniſchen Poſſen trieb. Wie der
Anblick der ſteifen trocknen ſoldatiſchen Ordnung auf reiche Künſtler-
ſeelen wirkte, das bekundet uns noch der überſtrömende Haß, welchen der
größte Preuße jener Tage ſeinem Vaterlande widmete. Mit glühender
Sehnſucht ſtrebte Winkelmann hinaus aus der ſchweren und erſtickenden
Luft des vermaledeiten Landes, und als er endlich den Staub der alt-
[48]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
märkiſchen Schulſtube von ſeinen Füßen geſchüttelt und an den Gemälden
der Dresdner Galerie mit trunkenen Blicken ſchwelgte, da ſandte er noch,
unbefangen wie ein großer Heide, ſeine Flüche der Heimath zu: „Ich
gedenke mit Schaudern an dieſes Land; auf ihm drückt der größte Des-
potismus, der je gedacht iſt. Beſſer ein beſchnittener Türke werden als
ein Preuße. In einem Lande wie Sparta (eine ſehr ideale Bezeichnung
des Regiments des Corporalſtocks!) können die Künſte nicht gedeihen und
müſſen gepflanzt ausarten.“ So weit ſtrebten jene ſchöpferiſchen Kräfte
noch auseinander, die in unbewußtem Bunde das neue Deutſchland
gebaut haben! Die kleinen Leute im Reiche verwünſchten den König
von Preußen wegen der Landplage ſeiner Werbungen. Wachſe nicht,
dich fangen die Werber! rief die ſchwäbiſche Mutter ängſtlich ihrem
Sohne zu; Jedermann am Rhein wußte hundert unheimliche Geſchichten
aus dem Wirthshauſe zu Frankfurt, wo die preußiſchen Werboffiziere ihr
Standquartier hatten; keine Teufelei, die man den wilden Geſellen nicht
zutraute.


Und all dieſe Liſt und Gewalt, alle die ungeheuren Heereskoſten,
welche volle vier Fünftel der preußiſchen Staatseinnahmen verſchlangen,
dienten, ſo meinte man im Reiche, doch nur der zweckloſen Soldaten-
ſpielerei eines närriſchen Tyrannen. Ein Menſchenalter war verfloſſen
ſeit jenem Heldenkampfe von Caſſano, da das Blut der märkiſchen Gre-
nadiere die Wellen des Ritorto röthete und die dankbaren Lombarden
die tapferen Prussiani zum erſten male mit den rauſchenden Klängen
des Deſſauer Marſches begrüßten; wenn die wilde herausfordernde Weiſe
jetzt auf friedlichen Exercirplätzen erklang, ſo lachten die Deutſchen über
den „preußiſchen Wind“. Friedrich Wilhelms Regierung fiel in die
armſelig ideenloſe Zeit des Utrechter Friedens; die kleinen Künſte der
Fleury, Alberoni, Walpole beherrſchten die europäiſche Politik. Rathlos
ſtand der gradſinnige Fürſt in dem durchtriebenen Ränkeſpiel der
Diplomatie. Er hielt in altdeutſcher Treue zu ſeinem Kaiſer, wollte
ſeinen Kindern Säbel und Piſtolen in die Wiege legen um die fremden
Nationen vom Reichsboden zu ſchmeißen; wie oft hat er mit dem vater-
ländiſchen Bierkrug in der Hand ſein ſchallendes Vivat Germania
teutſcher Nation! gerufen. Nun mußte der Argloſe erleben, wie die
Wiener Hofburg mit ſeinen beiden ehrgeizigen Nachbarn Hannover und
Sachſen insgeheim die Zerſtückelung Preußens verabredete, wie ſie dann
den Albertinern zur polniſchen Krone verhalf, Lothringen den Franzoſen
preisgab und in ſeinem eigenen Hauſe den Unfrieden ſchürte zwiſchen
Vater und Sohn, wie ſie ihm endlich ſein gutes Erbrecht auf Berg und
Oſtfriesland treulos zu entwinden ſuchte. So ward er ſein Leben lang
hin und her geſtoßen zwiſchen Gegnern und falſchen Freunden; erſt am
Ende ſeiner Tage hat er Oeſterreichs Argliſt durchſchaut und ſeinen Sohn
ermahnt, den betrogenen Vater zu rächen. An den fremden Höfen aber ging
[49]Friedrich II.
die Rede, der König ſtehe beſtändig mit geſpanntem Hahn auf der Wacht
ohne jemals abzudrücken; und wenn den deutſchen Mann im Reiche
zuweilen eine ſtille Angſt vor der Potsdamer Wachparade überkam, dann
tröſtete ihn das Spottwort: So ſchnell ſchießen die Preußen nicht! —


Der Spott verſtummte, als Preußen einen Herrſcher fand, der mit
dem Sinne für das Mögliche, mit der glücklichen Nüchternheit der Hohen-
zollern die Kühnheit und den freien Blick des Genius vereinte. Der helle
Sonnenſchein der Jugend ſtrahlt über den Anfängen der fridericianiſchen
Zeit, da endlich nach langem Stocken und Zagen die zähe Maſſe der er-
ſtarrten deutſchen Welt wieder in Fluß gerieth und die mächtigen Gegenſätze,
welche ſie barg, in nothwendigem Kampfe ſich maßen. Seit den Tagen
jenes Löwen aus Mitternacht hatte Deutſchland nicht mehr das Bild eines
Helden geſehen, zu dem die geſammte Nation bewundernd emporblickte; der
aber jetzt in ſtolzer Freiheit, wie einſt Guſtav Adolf, mitten durch die großen
Mächte ſeines Weges ſchritt und die Deutſchen zwang wieder an die
Wunder des Heldenthums zu glauben, er war ein Deutſcher.


Der ſpringende Punkt in dieſer mächtigen Natur bleibt doch die
erbarmungslos grauſame deutſche Wahrhaftigkeit. Friedrich giebt ſich
wie er iſt und ſieht die Dinge wie ſie ſind. Wie in der langen Bändereihe
ſeiner Briefe und Schriften keine Zeile ſteht, darin er verſuchte ſeine Thaten
zu beſchönigen, ſein eignes Bild für die Nachwelt auszuſchmücken, ſo trägt
auch ſeine Staatskunſt, wenngleich ſie die kleinen Künſte und Liſten des
Zeitalters als Mittel zum Zwecke nicht verſchmäht, das Gepräge ſeines
königlichen Freimuths: ſo oft er zum Schwerte greift, verkündet er mit
unumwundener Beſtimmtheit, was er von dem Gegner fordert, und legt
die Waffen erſt nieder am erreichten Ziele. Seit er zum Denken er-
wacht fühlt er ſich froh und ſtolz als den Sohn eines freien Jahr-
hunderts, das mit der Fackel der Vernunft in die ſtaubigen Winkel einer
Welt alter Vorurtheile und entgeiſteter Ueberlieferungen hineinleuchtet;
er läßt ſich das Bild des Sonnengottes, der ſiegreich durch die Morgen-
wolken aufſteigt, an die Decke ſeines heiteren Rheinsberger Saales
malen. Mit der dreiſten Zuverſicht des Jüngers der Aufklärung tritt er
an die Erſcheinungen des hiſtoriſchen Lebens heran und prüft eine jede,
wie ſie beſtehe vor dem Urtheil des ſcharfen Verſtandes. In den ſchweren
Machtkämpfen der Staaten achtet er nur das Lebendige, nur die von
raſcher Thatkraft klug benutzte Macht. „Unterhandlungen ohne Waffen
ſind wie Noten ohne Inſtrumente“, ſagt er unbefangen, und auf die
Nachricht von dem Tode des letzten Habsburgers fragt er ſeine Räthe:
„Ich gebe Euch ein Problem zu löſen; wenn man im Vortheil iſt, ſoll
man ſich deſſen zu nutze machen oder nicht?“ Die prahleriſche Ohn-
macht, die ſich als Macht gebärdet, das unſittliche Vorrecht, das mit der
Heiligkeit des hiſtoriſchen Rechtes prunkt, die Thatenſcheu, die ihre Rath-
loſigkeit hinter leeren Formbedenken verbirgt, fanden niemals einen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. 4
[50]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſtolzeren Verächter; und nirgends konnte dieſer unerbittliche Realismus ſo
reinigend und zerſtörend, ſo revolutionär wirken wie in der großen Fabel-
welt des römiſchen Reichs. Nichts ſchonungsloſer als Friedrichs Hohn
wider die heilige Majeſtät des Kaiſers Franz, der am Schürzenbande
ſeiner Gemahlin gegängelt wird und, ein würdiger König von Jeruſalem,
für die Heere der Königin von Ungarn einträgliche Lieferungsgeſchäfte be-
ſorgt; nichts grauſamer als ſein Spott über „das Phantom“ der Reichs-
armee, über die dünkelhafte Nichtigkeit der kleinen Höfe, über die Formel-
krämerei „dieſer verfluchten Perrücken von Hannover,“ über den leeren
Hochmuth des ſtaatloſen Junkerthums in Sachſen und Mecklenburg,
über „dieſe ganze Raſſe von Prinzen und Leuten Oeſterreichs“: — wer
vor den Großen dieſer Welt die Kniee beugt, „der kennt ſie nicht!“


Im vollen Bewußtſein der Ueberlegenheit hält er den Schattenbildern
des Reichsrechtes die geſunde Wirklichkeit ſeines modernen Staates ent-
gegen; eine ingrimmige Schadenfreude ſpricht aus ſeinen Briefen, wenn
er „die Pedanten von Regensburg“ des Krieges eherne Nothwendigkeit
empfinden läßt. Friedrich vollzog durch die That was die ſtreitbaren
Publiciſten des vergangenen Jahrhunderts, Hippolithus und Severinus,
nur mit Worten verſucht hatten: er hielt dem „unheimlich leichenhaften
Angeſicht Germaniens“ den Spiegel vor, erwies vor aller Welt die
rettungsloſe Fäulniß des heiligen Reichs. Mochten wohlmeinende Zeit-
genoſſen ihn ſchelten, weil er das altehrwürdige Gemeinweſen dem Gelächter
preisgegeben: die Nachwelt dankt ihm, denn er hat die Wahrheit wieder
zu Ehren gebracht in der deutſchen Politik, wie Martin Luther einſt im
deutſchen Denken und Glauben.


Friedrich hatte jene ſtreng proteſtantiſche Anſicht von deutſcher Ge-
ſchichte und Reichspolitik, die ſeit Pufendorf und Thomaſius unter den
freieren Köpfen Preußens vorherrſchte, frühe in ſich aufgenommen und
ſie dann, unter den erbitternden Erfahrungen ſeiner mißhandelten Jugend,
ſcharf und ſelbſtändig weiter gebildet. Er ſieht in der Erhebung der
Schmalkaldener, im dreißigjährigen Kriege, in allen Wirren der jüngſten
zwei Jahrhunderte nichts als den unabläſſigen Kampf der deutſchen
Freiheit wider den Despotismus des Hauſes Oeſterreich, das die ſchwachen
Fürſten des Reichs „mit eiſernem Scepter“ als Sklaven beherrſche und
nur die ſtarken frei gewähren laſſe. Nicht ohne Willkür legt er ſich die
Thatſachen der Geſchichte nach dieſer einſeitigen Auffaſſung zurecht; die
dem Lichte und dem Leben zugewandte Einſeitigkeit bleibt ja das Vorrecht
des ſchaffenden Helden. Jenen alten Kampf ſiegreich hinauszuführen
ſcheint ihm die Aufgabe des preußiſchen Staates. In ſeinen jungen
Jahren ſteht er noch treu zur evangeliſchen Sache; er preiſt die rühm-
liche Pflicht des Hauſes Brandenburg „die proteſtantiſche Religion überall
im deutſchen Reiche und in Europa zu fördern“ und bemerkt in Heidel-
berg voll Unmuth, wie hier in der alten Herrſcherſtätte unſerer Kirche
[51]Friedrichs Jugendpläne.
die Mönche und Prieſter Roms wieder ihr Weſen treiben. Aber auch
als er ſpäterhin dem Kirchenglauben ſich entfremdet und von der Höhe
ſeiner ſelbſtgewiſſen philoſophiſchen Aufklärung herunter wegwerfend ab-
urtheilt über die mittelmäßigen Pfaffennaturen Luther und Calvin,
bleibt ihm doch das Bewußtſein lebendig, daß ſein Staat mit allen
Wurzeln ſeines Weſens der proteſtantiſchen Welt angehört. Er weiß,
wie alle Helfershelfer des römiſchen Stuhles insgeheim an der Vernichtung
der neuen proteſtantiſchen Großmacht arbeiten; er weiß, daß ſein menſch-
liches Ideal der Glaubensfreiheit, das Recht eines Jeden nach eigener
Façon ſelig zu werden, vorderhand nur möglich iſt auf dem Boden des
Proteſtantismus; er weiß, daß er in neuen, weltlichen Formen die Kämpfe
des ſechszehnten Jahrhunderts weiterführt, und ſetzt noch über ſein letztes
Werk, den Plan des deutſchen Fürſtenbundes, die vielſagende Ueber-
ſchrift: „entworfen nach dem Muſter des Bundes von Schmalkalden.“


Das früheſte der uns erhaltenen politiſchen Schriftſtücke Friedrichs
zeigt uns die Blicke des Achtzehnjährigen ſchon jenem Gebiete des Staats-
lebens zugewendet, auf dem er die höchſten und eigenſten Kräfte ſeiner
Begabung entfalten ſollte: den Fragen der großen Politik. Der Kron-
prinz betrachtet die Weltſtellung ſeines Staates, findet die Lage des zer-
ſtückelten Gebietes ſchwer gefährdet und entwirft dann, noch halb ſcherzend,
im übermüthigen Spiele, verwegene Anſchläge, wie die entlegenen Provinzen
abzurunden ſeien, damit ſie ſich nicht mehr gar ſo einſam, ohne Geſell-
ſchaft befinden. Nur kurze Zeit, und die unreifen jugendlichen Einfälle kehren
wieder als tiefe und mächtige Gedanken; drei Jahre vor ſeiner Thron-
beſteigung ſieht er bereits ahnungsvoll, in wunderbarer Klarheit, den
großen Weg ſeines Lebens offen vor ſich liegen: „Es ſcheint, ſo ſchreibt
er, der Himmel hat den König beſtimmt, alle Vorbereitungen zu treffen,
welche die weiſe Umſicht vor Beginn eines Krieges erheiſcht. Wer weiß,
ob nicht die Vorſehung mir vorbehalten hat, dereinſt einen glorreichen
Gebrauch zu machen von dieſen Kriegsmitteln und ſie zu verwenden zur Ver-
wirklichung der Pläne, wofür die Vorausſicht meines Vaters ſie beſtimmte!“
Er bemerkt, wie ſein Staat in unhaltbarer Mittelſtellung zwiſchen den
Kleinſtaaten und den Großmächten daherſchwankt, und zeigt ſich entſchloſſen
dieſem Zwitterweſen einen feſten Charakter zu geben (décider cet être):
die Vergrößerung des Staatsgebietes, das corriger la figure de la Prusse
iſt zur Nothwendigkeit geworden, wenn anders Preußen auf eignen Füßen
ſtehen, den großen königlichen Namen mit Ehren führen will.


Von Geſchlecht zu Geſchlecht hatten ſeine Ahnen dem Hauſe Oeſter-
reich treue Heeresfolge geleiſtet, jederzeit gewiſſenhaft verſchmähend die Ver-
legenheit des Nachbarn zum eignen Vortheil auszubeuten; Undank, Betrug
und Verachtung war ihr Lohn geweſen. Auch Friedrich ſelber hatte „den
Uebermuth, die Anmaßung, den wegwerfenden Hochmuth dieſes hochtraben-
den Wiener Hofes“ in den Schmerzensſtunden ſeiner mißhandelten Jugend
4*
[52]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſchwer empfunden; ſein Herz war geſchworen von Haß „gegen die kaiſerliche
Bande“, die mit ihren Schlichen und Lügen ihm das Herz ſeines Vaters
verfeindet hatte. Sein unzähmbarer Stolz bäumte ſich auf, wenn man
an dem väterlichen Hofe den vornehmen Ton kalter Abweiſung gegen die
Zumuthungen Oeſterreichs gar nicht finden wollte; dann ſchrieb er zornig,
ein König von Preußen ſolle dem edlen Palmbaum gleichen, von dem
der Dichter ſage: „wenn du ihn fällen willſt, ſo hebt er ſeinen ſtolzen
Wipfel.“ Zugleich war er mit wachſamen Augen der Verſchiebung der
Machtverhältniſſe im Staatenſyſteme gefolgt und zu der Einſicht gelangt,
daß die alte Politik des europäiſchen Gleichgewichts ſich gänzlich überlebt
hatte: ſeit den Siegen des ſpaniſchen Erbfolgekrieges war es nicht mehr
an der Zeit, im Bunde mit Oeſterreich und England die Bourbonen zu
bekämpfen; jetzt galt es, den neuen deutſchen Staat „durch den Schrecken
ſeiner Waffen“ auf eine ſolche Stufe der Macht emporzuheben, daß er
gegen jede Nachbarmacht, auch gegen das Kaiſerhaus ſeinen freien Willen
behaupten durfte.


So erhält denn der viel mißbrauchte Ausdruck „deutſche Freiheit“
in Friedrichs Munde einen neuen, edleren Sinn. Er bedeutet nicht mehr
jene ehrloſe Kleinfürſtenpolitik, welche das Ausland gegen den Kaiſer zu
Hilfe rief und die Marken des Reichs an die Fremden verrieth; er bedeu-
tet die Aufrichtung einer großen deutſchen Macht, die das Vaterland im
Oſten und im Weſten mit ſtarker Hand vertheidigt, aber nach ihrem
eigenen Willen, unabhängig von der Reichsgewalt. Seit hundert Jahren
galt die Regel, daß wer nicht gut öſterreichiſch war gut ſchwediſch ſein
mußte, wie Hippolithus a Lapide, oder gut franzöſiſch, wie die Fürſten des
Rheinbundes, oder gut engliſch, wie die Sippe des Welfenhauſes; ſelbſt
der große Kurfürſt konnte, in der furchtbaren Preſſung zwiſchen über-
legenen Nachbarn, nur von Zeit zu Zeit eine ſelbſtändige Haltung be-
haupten. Es iſt Friedrichs Werk, daß neben jenen beiden gleich verderb-
lichen Tendenzen der verhüllten und der unverhüllten Fremdherrſchaft
eine dritte Richtung ſich erhob, eine Politik, die nur preußiſch war und
nichts weiter; ihr gehörte Deutſchlands Zukunft.


Vom Vaterlande viel zu reden war nicht die Weiſe dieſes Haſſers der
Phraſe; und doch lebte in ſeiner Seele ein reizbarer, ſchroff abweiſender
Nationalſtolz, unzertrennlich verwachſen mit ſeinem gewaltigen Selbſtgefühle
und ſeinem Fürſtenſtolze. Daß fremde Nationen auf deutſchem Boden die
Herren ſpielen ſollten, erſchien ihm wie eine Beleidigung ſeiner perſönlichen
Ehre und des erlauchten Blutes in ſeinen Adern, das der philoſophiſche
König, naiv wie der Genius iſt, immer ſehr hoch hielt. Wenn das wunderliche
Wirrſal der deutſchen Dinge ihn zuweilen zum Bunde mit dem Auslande
zwang, niemals hat er fremden Mächten eine Scholle deutſchen Landes ver-
heißen, niemals ſeinen Staat für ihre Zwecke mißbrauchen laſſen. Sein
Leben lang ward er der treuloſen Argliſt geziehen, weil kein Vertrag
[53]Friedrichs deutſche Politik.
und kein Bündniß ihn je vermochte auf das Recht der freien Selbſtbe-
ſtimmung zu verzichten. Alle Höfe Europas ſprachen grollend vom
travailler pour le roi de Prusse; von Altersher gewohnt das deutſche
Leben zu beherrſchen vermochten ſie kaum zu faſſen, daß ſich endlich
wieder die entſchloſſene Selbſtſucht eines unabhängigen deutſchen Staates
ihrem Willen entgegenſtemmte. Der königliche Schüler Voltaires hat für
den deutſchen Staat daſſelbe Werk der Befreiung begonnen, das Voltaires
Gegner, Leſſing, für unſere Dichtung vollführte. Schon in ſeinen
Jugendſchriften verdammt er in ſcharfen Worten die Schwäche des heiligen
Reichs, das ſeine Thermopylen, das Elſaß, dem Fremdling geöffnet habe;
er zürnt auf den Wiener Hof, der Lothringen an Frankreich preisgegeben;
er will es der Königin von Ungarn nie verzeihen, daß ſie die wilde
Meute jener Grazien des Oſtens, Jazygen, Croaten und Tolpatſchen auf
das deutſche Reich losgelaſſen und die moskowitiſchen Barbaren zum
erſten male in Deutſchlands innere Händel herbeigerufen hat. Dann
während der ſieben Jahre entladet ſich ſein deutſcher Stolz und Haß oft
in Worten grimmigen Hohnes. Den Ruſſen, die ihm ſeine neumärkiſchen
Bauern ausplündern, ſendet er den Segenswunſch: „O könnten ſie ins
Schwarze Meer mit Einem Sprunge ſich verſenken, köpflings, den Hintern
hinterher, ſich ſelber und ihr Angedenken.“ Und als die Franzoſen das
Rheinland überfluthen, da ſingt er, freilich in franzöſiſcher Sprache,
jene Ode, die an die Klänge des Befreiungskrieges gemahnt:


Bis in ſeine tiefſte Quelle

Schäumt der alte Rhein vor Groll,

Flucht der Schmach, daß ſeine Welle

Fremdes Joch ertragen ſoll!

„Die Klugheit iſt ſehr geeignet zu bewahren was man beſitzt, doch
allein die Kühnheit verſteht zu erwerben“ — mit dieſem Selbſtgeſtändniß
hat Friedrich in ſeinen Rheinsberger Tagen verrathen, wie ihn ſein
innerſtes Weſen zu raſcher Entſchließung, zu ſtürmiſcher Verwegenheit
drängte. Nichts halb zu thun gilt ihm als die oberſte Pflicht des
Staatsmannes, und unter allen denkbaren Entſchlüſſen ſcheint ihm der
ſchlimmſte — keinen zu faſſen. Doch er zeigt auch darin ſein deutſches
Blut, daß er die feurige Thatenluſt von frühauf zu bändigen weiß durch
kalte, nüchterne Berechnung. Der die Heldenkraft eines Alexander in
ſich fühlte, beſchied ſich, das Dauernde zu ſchaffen in dem engen Kreiſe,
darein ihn das Schickſal geſtellt. Im Kriege läßt er dann und wann
ſeinem Feuergeiſte die Zügel ſchießen, fordert das Unmögliche von ſeinen
Truppen und fehlt durch die ſtolze Geringſchätzung des Feindes; als
Staatsmann bewährt er immer eine vollendete Mäßigung, eine weiſe
Selbſtbeſchränkung, die jeden abenteuerlichen Plan ſogleich an der Schwelle
abweiſt. Keinen Augenblick bethört ihn der Gedanke ſeinen Staat los-
zureißen von dem verfallenen deutſchen Gemeinweſen; die Reichsſtandſchaft
[54]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
beengt ihn nicht in der Freiheit ſeiner europäiſchen Politik, ſie gewährt
ihm das Recht einzugreifen in die Geſchicke des Reichs, darum will er
den Fuß im Bügel des deutſchen Roſſes behalten. Noch weniger kommt
ihm bei, ſelber nach der Kaiſerkrone zu greifen. Seit den Weiſſagungen der
Hofaſtrologen des großen Kurfürſten blieb in der Umgebung der Hohen-
zollern immer die dunkle Ahnung lebendig, daß dieſem Hauſe beſtimmt
ſei dereinſt noch Scepter und Schwert vom heiligen Reiche zu tragen;
die Heißſporne Leopold von Deſſau und Winterfeldt vermaßen ſich zu-
weilen ihren königlichen Helden als den deutſchen Auguſtus zu begrüßen.
Der aber wußte, daß ſein weltlicher Staat die römiſche Krone nicht
tragen konnte, daß ſie den Emporkömmling unter den Mächten in ausſichts-
loſe Händel verwickeln mußte, und meinte trocken: „für uns wäre ſie
nur eine Feſſel.“


Als er kaum den Thron beſtiegen, trat jene große Wendung der
deutſchen Geſchicke ein, welche ſchon Pufendorfs Seherblick als die ein-
zig mögliche Gelegenheit zu einer durchgreifenden Reichsreform bezeichnet
hatte. Das alte Kaiſerhaus ſtarb aus, und vor den flammenden Blicken
des jungen Königs, der die einzige feſt geordnete Kriegsmacht Deutſch-
lands in ſeinen Händen hielt, erſchloß ſich eine Welt von lockenden Aus-
ſichten, die einen minder tiefen, minder geſammelten Geiſt zu über-
ſchwänglichen Träumen begeiſtern mußte. Friedrich fühlte lebhaft den
ſchweren Ernſt der Stunde; „Tag und Nacht, ſo geſtand er, liegt mir
das Schickſal des Reichs auf dem Herzen, ich allein kann und ſoll es
jetzt aufrecht halten.“ Das ſtand ihm feſt, daß dieſer große Augenblick
nicht verfliegen durfte, ohne dem preußiſchen Staate die volle Freiheit
der Bewegung, einen Platz im Rathe der großen Mächte zu ſchenken;
doch er ahnte auch, wie unberechenbar, bei der Begehrlichkeit der aus-
ländiſchen Nachbarn, bei der rathloſen Zwietracht des Reichs, die Lage
Deutſchlands ſich verwirren mußte, ſobald die Monarchie der Habsburger
in Trümmer fiel. Darum will er Oeſterreich ſchonen und begnügt ſich
aus der Maſſe der längſt bedachtſam erwogenen alten Anſprüche ſeines
Hauſes den einen wichtigſten hervorzuholen. Allein, ohne die lauernden
fremden Mächte nur eines Wortes zu würdigen, in überwältigendem
Anſturm bricht er in Schleſien ein. Das an die feierlichen Bedenken
und Gegenbedenken ſeiner Reichsjuriſten gewöhnte Deutſchland empfängt
mit Erſtaunen und Entrüſtung die Lehre, daß die Rechte der Staaten
nur durch die lebendige Macht behauptet werden. Dann erbietet ſich der
Eroberer, dem Gemahl Maria Thereſias die Kaiſerkrone zu verſchaffen
und für den Beſtand Oeſterreichs gegen Frankreich zu fechten. Erſt der
Widerſtand der Hofburg treibt ihn weiter, zu umfaſſenden Plänen der
Reichsreform, die an Waldecks verwegene Träume erinnern.


Nicht Friedrich hat den deutſchen Dualismus geſchaffen, wie Mit-
und Nachwelt ihm vorwarf; der Dualismus beſtand ſeit Karl V., und
[55]Die beiden erſten ſchleſiſchen Kriege.
Friedrich war der Erſte, der ernſtlich ihn zu vernichten verſuchte. Sobald
die Verſtändigung mit dem Wiener Hofe ſich als unmöglich erwies, faßte
der König den kühnen Gedanken, die Kaiſerkrone für immer dem Hauſe
Oeſterreich zu entwinden und alſo das letzte Band zu zerreißen, das dieſe
Dynaſtie noch an Deutſchland kettete. Er näherte ſich den bairiſchen
Wittelsbachern, dem einzigen unter den mächtigeren deutſchen Fürſtenge-
ſchlechtern, das gleich den Hohenzollern nur deutſche Lande beherrſchte
und gleich ihnen in Oeſterreich ſeinen natürlichen Gegner ſah; er begrün-
dete zuerſt jenes Bündniß zwiſchen den beiden größten rein deutſchen
Staaten, das ſich ſeitdem ſo oft, und immer zum Heile für das Vater-
land erneuert hat. Der Kurfürſt von Baiern empfing die kaiſerliche
Würde, und Friedrich hoffte dieſem neuen Kaiſerthume, das er ſelber
„mein Werk“ nannte, an der Krone Böhmen einen feſten Rückhalt zu
ſichern.


Und alsbald erwachte in Berlin wie in München wieder jener
rettende Gedanke der Seculariſation, der ſich allezeit unabwendbar auf-
drängte ſobald man die heilende Hand legte an den ſiechen Körper des
Reichs. Es war im Werke, die Macht der größeren weltlichen Reichsſtände,
welche Friedrich als die allein lebensfähigen Glieder des Reichs erkannte,
auf Koſten der theokratiſchen und republikaniſchen Territorien zu verſtärken;
eine rein weltliche Staatskunſt ſchickte ſich an die politiſchen Ideen der
Reformation zu verwirklichen. Einige geiſtliche Gebiete Oberdeutſchlands
ſollten ſeculariſirt, auch mehrere Reichsſtädte den benachbarten fürſtlichen
Gebieten zugeſchlagen werden. Mit gutem Grunde klagte Oeſterreich,
wie ſchwer dies von Preußen geleitete bairiſche Kaiſerthum den Adel und
die Kirche zu ſchädigen drohe. Traten jene unfertigen Gedanken ins
Leben, ſo war der deutſche Dualismus nahezu beſeitigt, die Reichsver-
faſſung, ſelbſt wenn ihre Formen blieben, in ihrem Weſen umgeſtaltet;
Deutſchland wurde ein Bund weltlicher Fürſten unter Preußens beherr-
ſchendem Einfluß; die geiſtlichen Staaten, die Reichsſtädte, der Schwarm
der kleinen Grafen und Herren, des habsburgiſchen Rückhalts beraubt,
verfielen dem Untergange, und das Trutzdeutſchland im Herzen des
Reichs, die Krone Böhmen, ward für die germaniſche Geſittung erobert.
So konnte Deutſchland aus eigener Kraft jene nothwendige Revolution
vollziehen, die ihm zwei Menſchenalter ſpäter der Machtſpruch des Aus-
landes ſchimpflich auferlegt hat. Aber das Haus Wittelsbach, ohnehin
dem deutſchen Leben entfremdet durch die erbliche Verbindung mit Frank-
reich wie durch die Härte katholiſcher Glaubenseinheit, erwies in großer
Zeit eine klägliche Unfähigkeit; der Nation fehlte jedes Verſtändniß für
die verheißungsvolle Gunſt des Augenblicks. Auf einer Rundreiſe durch
das Reich gewann der König einen ſo troſtloſen Einblick in die Zwietracht,
die Habgier, die ſklaviſche Angſt der kleinen Höfe, daß er für immer ſeine
deutſchen Hoffnungen herabzuſtimmen lernte; auch ſeine eigene Macht
[56]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
reichte noch nicht aus, den tapferen Widerſtand der Königin von Ungarn
gänzlich zu brechen. Der zweite ſchleſiſche Krieg endete trotz der Triumphe
von Hohenfriedberg und Keſſelsdorf mit der Wiederherſtellung des öſter-
reichiſchen Kaiſerthums. Das Reich verblieb in ſeiner verfaſſungsloſen
Zerrüttung, Franz von Lothringen beſtieg den Kaiſerthron nach dem Tode
Karls VII., und von Neuem ſchloß ſich der alte Bund zwiſchen Oeſterreich
und der katholiſchen Reichstagsmehrheit.


Die Löſung des deutſchen Dualismus war mißlungen; ſchroffer,
feindſeliger denn je zuvor gingen die Parteien im Reiche auseinander.
Gleichwohl blieb dem Könige ein dauernder Gewinn geſichert: die Groß-
machtſtellung Preußens. Er hatte Baiern vom Untergange gerettet, die
Macht ſeines eigenen Landes um mehr als ein Drittel verſtärkt, die lange
Kette habsburgiſch-wettiniſcher Gebiete, welche den preußiſchen Staat im
Süden und Oſten umſchloß, mit einem kühnen Stoße zerſprengt, das ſtolze
Kaiſerhaus zum erſten male vor einem Reichsfürſten tief gedemüthigt. Er
dankte alle ſeine Siege allein der eigenen Kraft und trat den alten Mächten
mit ſo feſtem Stolze entgegen, daß ſelbſt Horatio Walpole geſtehen mußte,
dieſer Preußenkönig halte jetzt die Wage des europäiſchen Gleichgewichts
in ſeinen Händen. Sachſen, Baiern, Hannover, alle die Mittelſtaaten,
welche ſoeben noch mit der Krone Preußen gewetteifert, wurden durch die
ſchleſiſchen Kriege für immer in die zweite Reihe zurückgeworfen, und
hoch über den zahlloſen kleinen Gegenſätzen, die das Reich zerklüfteten,
erhob ſich die eine Frage: Preußen oder Oeſterreich? Die Frage der
deutſchen Zukunft war geſtellt. Der König blickte jetzt aus freier Höhe auf
das Gewimmel der deutſchen Reichsſtände hernieder, gab auf beleidigende
Zumuthungen gern die ſpöttiſche Antwort, ob man ihn etwa für einen
Herzog von Gotha oder für einen rheiniſchen Fürſten halte; er ſpielte
bereits, den kleinen Nachbarn gegenüber, die Rolle des wohlmeinenden
Gönners und Beſchützers, die er in ſeinem Anti-Machiavell als die
ſchöne Pflicht des Starken bezeichnet hatte, und ſchon ſammelte ſich am
Reichstage eine kleine preußiſche Partei, die norddeutſchen Höfe begannen
ihre Prinzen im Heere des Königs dienen zu laſſen.


Unterdeſſen verwuchs die neue Erwerbung überraſchend ſchnell mit
der Monarchie; der Staat erprobte zum erſten male auf einem weiten
Gebiete jene ſtarke Anziehungs- und Anbildungskraft, die er ſeitdem in
deutſchen und halbdeutſchen Landen überall bewährt hat. Die friſchen
Kräfte der modernen Welt hielten ihren Einzug in die verwahrloſte,
unter ſtändiſchem und geiſtlichem Drucke darniedergehaltene Provinz; das
monarchiſche Beamtenthum verdrängte die Adelsherrſchaft, das ſtrenge
Recht den Nepotismus, die Glaubensfreiheit den Gewiſſenszwang, das
deutſche Schulweſen den tiefen Seelenſchlaf pfäffiſcher Bildung; der träge
knechtiſche Bauer lernte wieder auf ein Morgen zu hoffen, und ſein König
erbot ihm dem Beamten knieend den Rock zu küſſen.


[57]Befreiung Schleſiens.

Noch kein anderer Staat hatte in jenem Jahrhundert der Machtkämpfe
ſeinem Wirken ſo vielſeitige, ſo menſchliche Aufgaben geſtellt. Erſt die fried-
liche Arbeit der Verwaltung gab der Eroberung Schleſiens die ſittliche Recht-
fertigung und führte den Beweis, daß jenes vielgeſcholtene Wagniß eine
deutſche That geweſen. Das von unheimiſchen Gewalten ſchon halb über-
fluthete herrliche Grenzland wurde durch das preußiſche Regiment dem
deutſchen Volksthum zurückgegeben. Schleſien war das einzige der deutſch-
öſterreichiſchen Erblande, wo die Politik der Glaubenseinheit eines vollen
Sieges ſich nicht rühmen konnte. Mit unüberwindlicher Zähigkeit hatte
der leichtlebig heitere deutſche Stamm in den Thälern des Rieſengebirges
den Blutthaten der Lichtenſteinſchen Dragoner wie den Ueberredungs-
künſten der Jeſuiten widerſtanden. Die Mehrzahl der Deutſchen blieb
dem proteſtantiſchen Bekenntniß treu; gedrückt und mißachtet, aller Güter
beraubt, friſtete die evangeliſche Kirche ein ärmliches Leben; nur die
Drohungen der Krone Schweden verſchafften ihr zu den wenigen Gottes-
häuſern, die ihr geblieben, noch den Beſitz einiger Gnadenkirchen. Die
katholiſchen Polen Oberſchleſiens und jene czechiſchen Coloniſten, die der
Kaiſerhof zum Kampfe gegen die deutſchen Ketzer ins Land gerufen, waren
die Stützen der kaiſerlichen Herrſchaft. Beim Einmarſch des preußiſchen
Heeres erhob das Deutſchthum wieder froh ſein Haupt; jubelnd erklang
in den Gnadenkirchen das Lob des Herrn, der ſeinem Volke ein Hartes
erzeigt hat und ihm jetzund endlich ein Panier aufſteckt. Der Proteſtan-
tismus gewann unter dem Schutze der preußiſchen Glaubensfreiheit bald
das Bewußtſein ſeiner geiſtigen Ueberlegenheit wieder, das Polenthum
verlor zuſehends an Boden, und nach wenigen Jahrzehnten ſtanden die
preußiſchen Schleſier in Gedanken und Sitten ihren norddeutſchen Nach-
barn näher als den Schleſiern jenſeits der Grenze. Die römiſche Kirche
aber beließ der proteſtantiſche Sieger im Beſitze faſt des geſammten
evangeliſchen Kirchenguts, und während England ſeine iriſchen Katholiken
zwang die anglikaniſche Staatskirche durch ihre Abgaben zu unterhalten,
mußte in Schleſien der Proteſtant nach wie vor Steuern zahlen für
die katholiſche Kirche. Erſt die landesverrätheriſchen Umtriebe des römiſchen
Clerus während des ſiebenjährigen Krieges nöthigten den König zurückzu-
kommen von dieſem Uebermaße der Schonung, das zur Ungerechtigkeit
gegen die Evangeliſchen führte; doch auch dann noch blieb die katholiſche
Kirche günſtiger geſtellt als in irgend einem anderen proteſtantiſchen
Staate.


Das Aufblühen des ſchleſiſchen Landes unter dem preußiſchen Scepter
zeigte genugſam, daß die neue Provinz ihren natürlichen Herrn ge-
funden hatte, daß die Entſcheidung im deutſchen Oſten unabänderlich
gefallen war. Doch unbeirrt hielt der Wiener Hof die Hoffnung feſt,
die erlittene Schmach zu rächen und den Eroberer Schleſiens wieder in
den bunten Haufen der deutſchen Reichsſtände hinabzuſtoßen, gleich allen
[58]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
den anderen Vorwitzigen, die ſich früherhin der Empörung gegen die alte
Kaiſermacht erdreiſtet hatten. Auch König Friedrich wußte, daß der letzte
entſcheidende Waffengang noch bevorſtand. Er verſuchte einmal während der
kurzen Friedensjahre, den Sohn Maria Thereſias von der Kaiſerwürde
auszuſchließen, für die Zukunft mindeſtens das Reich von dem Hauſe
Oeſterreich zu trennen; der Plan ſcheiterte an dem Widerſpruche der
katholiſchen Höfe. Der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden führenden
Mächte Deutſchlands beſtimmte auf lange hinaus den Gang der euro-
päiſchen Politik, entzog dem heiligen Reiche die letzte Lebenskraft. Die
Nation ſah in banger Ahnung einen neuen dreißigjährigen Krieg herauf-
ziehen. Was in der ſtillen Arbeit ſchwerer Jahrzehnte langſam gereift
war erſchien dem nächſten Menſchenalter nur als ein wunderſamer Zu-
fall, als das glückliche Abenteuer eines genialen Kopfes. Ganz einſam
ſteht in dem diplomatiſchen Briefwechſel des Zeitraums jenes Seherwort
des Dänen Bernſtorff, der im Jahre 1759 traurig an Choiſeul ſchrieb:
„Alles was Sie heute unternehmen um zu verhindern, daß ſich in der
Mitte Deutſchlands eine ganz kriegeriſche Monarchie erhebe, deren eiſerner
Arm bald die kleinen Fürſten zermalmen wird — das Alles iſt verlorene
Arbeit!“ Alle Nachbarmächte im Oſten und im Weſten grollten dem
Glücklichen, der aus den Wirren des öſterreichiſchen Erbfolgekrieges allein
den Siegespreis davongetragen, und wahrlich nicht nur der perſönliche
Haß mächtiger Frauen wob an dem Netze der großen Verſchwörung, das
ſich über Friedrichs Haupte zuſammenzuziehen drohte. Europa fühlte,
daß die altüberlieferte Geſtalt der Staatengeſellſchaft ins Wanken kam,
ſobald die ſieghafte Großmacht in der Mitte des Feſtlands ſich befeſtigte.
Der römiſche Stuhl ſah mit Sorgen, wie die verhaßte Heimath der
Ketzerei ihren eigenen Willen wiederfand; nur durch Roms Mithilfe iſt es
gelungen, daß die alten Feinde, die beiden katholiſchen Großmächte
Oeſterreich und Frankreich zum Kampfe gegen Preußen ſich vereinten.
Es galt, die Ohnmacht Deutſchlands zu verewigen.


Durch einen verwegenen Angriff rettete der König ſeine Krone vor
dem ſicheren Verderben, und als er nun durch ſieben entſetzliche Jahre
ſeinen deutſchen Staat am Rhein und Pregel, an der Peene und den
Rieſenbergen gegen fremde und halbfremde Heere vertheidigt hatte und im
Frieden den Beſtand ſeiner Macht bis auf das letzte Dorf behauptete, da
ſchien Preußen wieder an derſelben Stelle zu ſtehen wie beim Beginn des
mörderiſchen Kampfes. Kein Fußbreit deutſcher Erde war ihm gewonnen,
das halbe Land lag verwüſtet, die reiche Friedensarbeit dreier Geſchlechter
war nahezu vernichtet, die unglückliche Neumark begann die Arbeit der
Cultur zum vierten male von vorn. Der König ſelber konnte niemals ohne
Bitterkeit jener ſchrecklichen Tage gedenken, da das Unglück alle Pein, die ein
Mann ertragen mag, bis über das Maß des Menſchlichen hinaus, auf
ſeine Schultern häufte; was er damals gelitten erſchien ihm wie die ſinnlos
[59]Der ſiebenjährige Krieg.
boshafte Laune eines tückiſchen Schickſals, wie ein Trauerſpiel ohne
Gerechtigkeit und Abſchluß. Dennoch lag ein ungeheurer Erfolg in dem
Ergebniß des ſcheinbar ſo unfruchtbaren Kampfes: die neue Ordnung der
deutſchen Dinge, die mit der Begründung der preußiſchen Macht begonnen,
hatte ſich in der denkbar ſchwerſten Prüfung als eine unwiderrufliche
Nothwendigkeit erwieſen. Hundert Jahre zuvor vermochte Deutſchland
nur durch die Kämpfe eines vollen Menſchenalters ſich der habsburgiſchen
Herrſchaft zu erwehren und mußte dann ausländiſchen Bundesgenoſſen
ſchmählichen Helferlohn zahlen; jetzt genügten den ärmſten Gebieten des
Reichs ſieben Jahre um den Anſturm einer Welt in Waffen abzuſchlagen,
und deutſche Kraft allein entſchied den Sieg, denn die einzige fremde
Macht, die dem Könige zur Seite ſtand, gab ihn treulos preis. Deutſch-
lands Stern war wieder im Aufſteigen; es galt den Deutſchen was in
allen Kirchen Preußens frohlockend gebetet ward: „Sie haben mich oft be-
dränget von meiner Jugend auf, aber ſie haben mich nicht übermocht.“


Beim Beginne des zweiten Feldzugs hat Friedrich die ſtolze Hoffnung
gehegt, die Schlacht von Pharſalus gegen das Haus Oeſterreich zu ſchlagen
und vor den Mauern Wiens den Frieden zu dictiren, wie denn dieſe
reiche Zeit überall die erſten Keime der großen Neubildungen einer fernen
Zukunft erkennen läßt und auch ein Bund Preußens mit Oeſterreichs
anderem Nebenbuhler, mit Piemont, ſchon verſucht wurde. Dann warf
die Schlacht von Kollin den König in die Vertheidigung zurück, er kämpfte
nur noch für das Daſein ſeines Staates. Was er verſuchte um einen
Gegen-Reichstag zu berufen, eine norddeutſche Union der kaiſerlichen Liga
entgegenzuſtellen, ward zu nichte an der unbeſieglichen Eiferſucht der
kleinen Höfe und vornehmlich an dem hochmüthigen Widerwillen des
welfiſchen Bundesgenoſſen. Für die Beſeitigung des deutſchen Dualismus,
für einen Neubau des Reichs war die Stunde noch immer nicht gekommen;
aber durch die furchtbare Wahrhaftigkeit dieſes Krieges wurden die ver-
lebten alten Formen des deutſchen Gemeinweſens ſittlich vernichtet, der
letzte Schleier hinweggeriſſen von der großen Lüge des heiligen Reichs.
So hirnlos hatte noch nie ein Kaiſer an dem Vaterlande gefrevelt, wie
dieſer lothringiſche Mehrer des Reichs, der alle Thore Deutſchlands den
fremden Plünderern aufthat, die Niederlande den Bourbonen, die Oſt-
marken den Moskowitern preisgab. Und derweil der Kaiſer ſeinen Eid
mit Füßen trat, ſeinem Hauſe jedes Anrecht auf die deutſche Krone ver-
wirkte, ſpielte zu Regensburg die freche Poſſe des reichsrechtlichen Straf-
verfahrens. Der Reichstag rief dem Eroberer Schleſiens ſein „darnach hat
Er, Kurfürſt, Sich zu richten“ zu, der brandenburgiſche Geſandte warf den
Boten der erlauchten Verſammlung die Treppe hinunter, die eilende
Reichsarmee ſammelte ſich unter den Fahnen des bourboniſchen Reichs-
feindes um ſofort vor Seydlitz’s Reitergeſchwadern wie Spreu im Winde zu
zerſtieben. Die deutſche Nation aber feierte mit hellem Jubel den Sieger
[60]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
von Roßbach, den Rebellen gegen Kaiſer und Reich. Mit dieſem wüſten
Satyrſpiele ging die große Tragödie der Reichsgeſchichte in Wahrheit zu
Ende; was noch übrig blieb von dem alten deutſchen Gemeinweſen bewahrte
kaum noch den Schein des Lebens.


Der Sieger aber, der im Donner der Schlachten die alten theokra-
tiſchen Formen über den Haufen warf, war der Schirmherr des Proteſtantis-
mus. Wie verblaßt auch die kirchlichen Gegenſätze dem Zeitalter der Aufklä-
rung erſchienen, Friedrich erkannte doch, daß der Beſtand des weſtphäliſchen
Friedens, die Parität der Glaubensbekenntniſſe im Reiche unhaltbar wurde
ſobald die beiden katholiſchen Großmächte triumphirten; die gemeinſame
proteſtantiſche Sache bot ihm die einzige Handhabe um die zagenden
kleinen Fürſten in den Kampf gegen Oeſterreich zu drängen. Wachſam
folgte ſein Auge den geheimen Umtrieben der „prêtraille“ an den proteſtan-
tiſchen Höfen; ſein Machtwort ſchützte die Freiheit der evangeliſchen Kirche
in Württemberg und Heſſen, als dort die Thronfolger zum römiſchen
Bekenntniß übertraten. Und noch klarer als er ſelber erkannten ſeine
kleinen norddeutſchen Bundesgenoſſen die religiöſe Bedeutung des Krieges:
in den Briefen des heſſiſchen Miniſters F. A. v. Hardenberg heißen die
Verbündeten Preußens ſtets kurzweg „die evangeliſchen Stände“, und das
treue Feſthalten an der preußiſchen Partei wird als das natürliche Syſtem
aller proteſtantiſchen Staaten des Reichs geprieſen. Unter den Klängen
lutheriſcher Kirchenlieder zog der preußiſche Grenadier zur Schlacht, die
evangeliſchen Soldaten des ſchwäbiſchen Kreiſes liefen fluchend ausein-
ander, weil ſie nicht gegen ihre Glaubensgenoſſen fechten wollten; in
den Conventikeln der engliſchen Diſſenters beteten gottſelige Prediger
für den Maccabäer des Evangeliums, den Freigeiſt Friedrich. Der Papſt
aber beſchenkte den Feldmarſchall der Kaiſerin mit geweihtem Hut und
Degen, und jede neue Siegesbotſchaft aus dem preußiſchen Lager rief
im Vatican einen Sturm des Unwillens und der Angſt hervor. Wie
zerfahren und zerfallen hatte hundert und zwanzig Jahre zuvor die
proteſtantiſche Welt zu den Füßen Roms gelegen, als die Fahnen der
Wallenſteiner am Oſtſeeſtrande wehten und die Stuarts das Parlament
ihrer römiſchen Königskunſt zu unterwerfen trachteten. Jetzt gab eine
proteſtantiſche Großmacht dem heiligen Reiche den Gnadenſtoß, und
durch die Schlachten am Ohio und am Ganges wurde für alle Zukunft
entſchieden, daß die Herrſchaft über das Weltmeer und die Colonien den
proteſtantiſchen Germanen gehörte.


Der Kampf um Preußens Daſein war der erſte europäiſche Krieg;
er ſchuf die Einheit der neuen Staatengeſellſchaft und gab ihr die ariſto-
kratiſche Form der Pentarchie. Als die neue mitteleuropäiſche Großmacht
ſich die Anerkennung der Nachbarmächte erzwang, da verſchmolzen die
beiden alten Staatenſyſteme des Oſtens und des Weſtens zu einer einzigen
unzertrennlichen Gemeinſchaft, und zugleich ſank das Anſehen der min-
[61]Die neue Staatengeſellſchaft.
dermächtigen Staaten, welche früherhin zuweilen durch ihren Zutritt zu
einer Coalition den Ausſchlag in einem großen Kriege gegeben hatten,
doch jetzt den ſchweren Anforderungen der neuen großartigen Kriegsweiſe
nicht mehr genügen konnten; die Staaten zweiten Ranges beſchieden ſich
fortan, die Leitung der europäiſchen Dinge den großen Kriegs- und See-
mächten zu überlaſſen. Unter dieſen fünf führenden Mächten aber
waren zwei proteſtantiſch, eine ſchismatiſch; die Rückkehr Europas unter
die Herrſchaft des gekrönten Prieſters blieb nunmehr undenkbar. Die Be-
feſtigung der proteſtantiſch-deutſchen Großmacht war die ſchwerſte Nieder-
lage, welche der römiſche Stuhl ſeit dem Auftreten Martin Luthers er-
litten; König Friedrich hat wirklich, wie der engliſche Geſandte Mitchell
von ihm ſagte, für die Freiheit des Menſchengeſchlechts gefochten.


In der Schule der Leiden und der Kämpfe erwuchs dem Volke
Preußens eine lebendige Staatsgeſinnung; ſie berechtigte den König von
ſeiner nation prussienne zu reden. Ein Preuße zu ſein war vordem
eine ſchwere Pflicht, jetzt ward es eine Ehre. Der Gedanke des Staates,
des Vaterlandes drang erregend und ſtärkend in Millionen Herzen; auch
die gedrückte Seele des kleinen Mannes ſpürte einen Hauch von dem
antiken Bürgerſinne, der aus den ſchlichten Worten des Königs ſprach:
„Es iſt nicht nöthig, daß ich lebe, wohl aber, daß ich meine Pflicht thue
und für mein Vaterland kämpfe.“ Ueberall in Preußen regten ſich unter
den ſteifen Formen des abſoluten Königthums der Opfermuth und die
große Leidenſchaft des Volkskrieges. Das Heer, das Friedrichs letzte
Schlachten ſchlug, war national; die Werbungen im Auslande verboten
ſich von ſelber in der Noth der Zeit. Die Stände der Marken rüſteten
freiwillig jene Regimenter aus, welche die Feſtungen Magdeburg, Stettin
und Küſtrin dem Staate retteten; die pommerſchen Seeleute traten
zuſammen um mit ihrer kleinen Flotte die Odermündungen gegen die
Schweden zu halten. Sechs Jahre lang empfingen die blutarmen Be-
amten kein Gehalt und verſahen ruhig ihren Dienſt, als verſtünde
ſichs von ſelber. Wetteifernd thaten alle Provinzen ihre verfluchte
Pflicht und Schuldigkeit, wie die neue Redensart der Preußen lautete:
von den tapferen Bauern der rheiniſchen Grafſchaft Mörs bis hinüber
zu den unglücklichen Oſtpreußen, die dem ruſſiſchen Eroberer ihren zähen
ſtillen Widerſtand entgegenſtemmten und ſich in ihrer feſten Treue gar
nicht ſtören ließen, als der unerbittliche König ſie des Abfalls zieh und
mit Beweiſen der Ungnade überhäufte.


Die völkerbildende Macht des Krieges erweckte in dieſen norddeutſchen
Stämmen zuerſt wieder jenen ſchroffen Stolz, der einſt die Romfahrer
und die Slavenbeſieger unſeres Mittelalters beſeelte; das kecke Selbſtge-
fühl der Preußen ſtach ſeltſam ab von der harmlos gemüthlichen Beſchei-
denheit der anderen Deutſchen. Voll Zuverſicht widerlegt Graf Hertz-
berg die Lehre Montesquieus von der republikaniſchen Tugend: wo ſei
[62]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
denn je in Republiken eine feſtere Bürgertugend gediehen, als hier unter
dem ſtählenden nordiſchen Himmel, bei den Nachkommen jener heroiſchen
Nationen, der Gothen und Vandalen, die einſt das Römerreich in
Trümmer ſchlugen? Derſelbe Sinn lebt in den Maſſen des Volks;
er verräth ſich bald in dreiſter Prahlerei, in den tauſend landläufigen
Spottgeſchichten von kaiſerlicher Dummheit und preußiſcher Huſarenliſt,
bald in rührenden Zügen gewiſſenhafter Treue. Der junge Seemann
Joachim Nettelbeck kommt noch Danzig und wird gedungen, den König
von Polen über den Hafen zu rudern; man ſetzt ihm einen Hut auf mit
dem Namenszuge König Auguſts; er ſträubt ſich lange, denn das fremde
Hoheitszeichen zu tragen ſcheint ihm ein Verrath an ſeinem Preußen-
könig; endlich muß er ſich fügen, doch der verdiente Ducaten brennt ihm
in der Hand, und ſobald er nach Pommern heimkehrt ſchenkt er das
Sündengeld dem erſten preußiſchen Invaliden, der ihm in den Weg
kommt. So reizbar ward jetzt der politiſche Stolz in dieſem Volke,
das vor wenigen Jahrzehnten noch in der Armſeligkeit ſeiner häuslichen
Sorgen verkam.


Es ließ ſich doch nicht vergeſſen, daß zu den zwei großen Kriegsfürſten
der Geſchichte, zu Caeſar und Alexander, ſich nunmehr ein Preuße als
Dritter geſellte. Im Gemüthe des norddeutſchen Volks liegt dicht neben
der feſten Ausdauer ein Zug übermüthigen Leichtſinns, der mit der
Gefahr vermeſſen zu ſpielen liebt, und dies ihr eigenes Weſen fanden
die Preußen in dem Feldherrn Friedrich zu genialer Mächtigkeit geſteigert
wieder: wie er, nach harter Lehrzeit raſch zum Meiſter gereift, die behut-
ſamen Regeln der ſchwerfälligen alten Kriegskunſt zur Seite warf und
ſelber dem Feinde „das Geſetz des Krieges dictirte“, ſtets bereit die
Entſcheidung in freier Feldſchlacht zu ſuchen; wie er die kühnſte der
Waffen, die Reiterei, wieder zu der Stellung erhob, die ihr im großen
Kriege gebührt; wie er nach jedem Siege und nach jeder ſeiner drei
Niederlagen immer von Neuem „das ſtolze Vorrecht der Initiative“
behauptete. Der Erfolg lehrte, wie glücklich der König und ſein Volk
einander verſtanden; ein dichter Kreis von Helden ſchaarte ſich um den
Feldherrn und verbreitete bis in die unterſten Schichten des Heeres die
frohe Wageluſt, jenen Geiſt der Offenſive, der in allen ihren großen
Zeiten die Stärke der preußiſchen Armee geblieben iſt; aus märkiſchen
Junkern und pommerſchen Bauerburſchen erzog ſich Friedrich die ge-
fürchteten Regimenter Ansbach-Baireuth-Dragoner und Zieten-Huſaren,
die im tollen Dahinjagen und ſchneidigen Einhauen bald die wilden
Reitervölker Ungarns übertrafen. Mit Stolz ſprach der König aus, für
ſolche Soldaten gebe es kein Wagniß: „ein General, der in anderen
Heeren für tollkühn gelten würde, thut bei uns nur ſeine Pflicht.“ Die
zwölf Feldzüge der fridericianiſchen Zeit haben dem kriegeriſchen Geiſte
des preußiſchen Volkes und Heeres für immer ſeine Eigenart gegeben;
[63]Die deutſche Nation und Friedrich.
noch heute verfällt der Norddeutſche, wenn auf den Krieg die Rede kommt,
unwillkürlich in die Ausdrucksweiſe jener heroiſchen Tage und ſpricht
wie Friedrich von brillanten Campagnen und fulminanten Attaken.


Die gutherzige Gemüthlichkeit der Deutſchen außerhalb Preußens
bedurfte langer Zeit um das Grauen zu überwinden vor dem harten
Realismus dieſer fridericianiſchen Politik, die ihre Gegner ſo ungroß-
müthig immer angriff, wenn es ihnen am wenigſten willkommen war.
Aber als das große Jahr 1757 über das deutſche Land dahinbrauſte,
ſiegreicher Angriff und ſchwere Niederlage, neue verwegene Erhebung und
neue ſtrahlende Siege in ſinnverwirrender Haſt ſich drängten und aus
der wilden Flucht der Ereigniſſe immer gleich groß und beherrſchend das
Bild des Königs heraustrat, da fühlte ſich das Volk in Herz und Nieren
gepackt und erſchüttert von dem Anblick echter Menſchengröße. Die
verwitterte und verknöcherte Geſtalt des alten Fritz, wie der Hammerſchlag
des unerbittlichen Schickſals ſie zurecht geſchmiedet, übte ihren dämoniſchen
Zauber auf unzählige treue Gemüther, die zu der glänzenden Erſcheinung
des jugendlichen Helden von Hohenfriedberg nur mit befangener Scheu
emporgeblickt hatten. Die Deutſchen waren, wie Goethe von ſeinen
Frankfurtern ſagt, fritziſch geſinnt — „denn was ging uns Preußen
an?“ — und lauſchten mit verhaltenem Athem, wie der unzähmbare
Mann jahraus jahrein ſich des Verderbens erwehrte. Jener überwäl-
tigende Einmuth ungetheilter Liebe und Freude, der die Geſchichte glück-
licherer Völker zuweilen mit goldenem Lichte verklärt, blieb freilich dem
zerriſſenen Deutſchland auch jetzt noch verſagt. Wie Luther und Guſtav
Adolf, die beiden einzigen Helden vordem, deren Bild ſich den Maſſen
unſeres Volkes unvergeßlich ins Herz prägte, ſo ward auch Friedrich in
den Krummſtabslanden am Rhein und Main als der große Feind ge-
fürchtet. Doch die ungeheure Mehrheit des proteſtantiſchen, auch weite
Kreiſe des katholiſchen Volks, und vor Allem ſämmtliche Wortführer der
jungen Wiſſenſchaft und Dichtung folgten ihm mit warmer Theilnahme;
man haſchte nach ſeinen Witzworten, erzählte Wunder über Wunder von
ſeinen Grenadieren und Huſaren. Dem verſchüchterten Geſchlechte ward
die Seele weit bei dem Gedanken, daß der erſte Mann des Jahrhun-
derts unſer war, daß der Ruhm des großen Königs bis nach Marokko
und Amerika drang.


Noch wußten Wenige, daß in dem preußiſchen Schlachtenruhme
nur die uralte Waffenherrlichkeit der deutſchen Nation wieder zu Tage
kam; ſelbſt Leſſing ſpricht von den Preußen zuweilen wie von einem
halbfremden Volke und meint verwundert, denen ſei der Heldenmuth ſo
angeboren wie den Spartanern. Nach und nach begannen doch ſelbſt
die Maſſen zu fühlen, daß Friedrich für Deutſchland focht. Die Schlacht
von Roßbach, die bataille en douceur, wie er ſie ſpottend nennt, ward der
folgenreichſte ſeiner Siege für unſer nationales Leben. Wenn in dieſem
[64]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Volke von Privatmenſchen noch irgend eine politiſche Leidenſchaft lebte,
ſo war es die ſtille Erbitterung gegen den franzöſiſchen Hochmuth, der,
ſo oft vom deutſchen Schwerte gezüchtigt, zuletzt doch immer das Feld
behauptet hatte und jetzt wieder die rheiniſchen Lande mit Blut und
Trümmern bedeckte. Nun traf ihn Friedrichs guter Degen und ſtürzte
ihn in einen Pfuhl der Schande; ein lautes Frohlocken ging durch alle
deutſchen Gauen, und der Schwabe Schubart rief: „Da griff ich ungeſtüm
die goldne Harfe, darein zu ſtürmen Friedrichs Lob.“ Damals zuerſt
überkam die Deutſchen im Reiche wieder ein Gefühl, das dem National-
ſtolze ähnlich ſah, und ſie ſangen mit dem alten Gleim: „Laßt uns
Deutſche ſein und bleiben!“ Die von den deutſchen Schlachtfeldern
heimkehrenden franzöſiſchen Offiziere verkündeten in Paris ſelber unbefangen
das Lob des Siegers von Roßbach, da ihr Stolz noch gar nicht für
möglich hielt, daß dies kleine Preußen die Macht Frankreichs jemals
ernſtlich bedrohen könnte; im deutſchen Luſtſpiel aber erhielt der einſt
gefürchtete Franzoſe jetzt zuweilen die Rollen der komiſchen Perſon und
des windigen Abenteurers.


Ein politiſches Verſtändniß für das Weſen des preußiſchen Staates
ging der Nation freilich auch jetzt noch nicht auf; dies gelehrte
Volk lebte in einer wunderbaren Unwiſſenheit über die entſcheidenden
Thatſachen ſeiner neuen Geſchichte wie über die Inſtitutionen ſeiner
mächtigſten Staatsbildung. Wenn die Siege Friedrichs den alten Haß
gegen Preußen etwas beſchwichtigt hatten, ſo pries ſich doch ſelbſt in den
proteſtantiſchen Reichslanden jeder Bürgersmann glücklich, daß er kein
Preuße war. Die geſchäftigen Erdichtungen der öſterreichiſchen Partei
fanden überall willige Hörer; „dieſe freien Leute, ſchrieb Friedrich Nicolai
um das Jahr 1780 aus Schwaben, ſehen auf uns arme Brandenburger
wie auf Sklaven herab.“ Nur auf ſtarke und hochſtrebende Naturen
wirkte die Anziehungskraft des mächtigen Staates. Seit den fridericia-
niſchen Tagen begann eine ſtattliche Schaar junger Talente aus dem
Reiche in preußiſche Dienſte einzutreten; die Einen trieb die Bewunderung
für den König, Andere die Sehnſucht nach reicher Thätigkeit, Mancher
ahnte auch dunkel die Beſtimmung dieſer Krone. Die Monarchie war
jetzt der Engherzigkeit des territorialen Lebens völlig entwachſen, nahm
alle geſunden Kräfte aus dem Reiche willig auf und fand in den Kreiſen
der Einwanderer viele ihrer treueſten und fähigſten Diener, auch ihren
Retter, den Freiherrn Karl vom Stein.


Mit den Hubertusburger Verträgen brachen für den deutſchen Norden
vier Jahrzehnte tiefer Ruhe an: jene reich geſegnete Friedenszeit, deren
der alte Goethe ſpäterhin ſo oft mit dankbarer Rührung gedachte. Da-
mals begann die alte Ueberlieferung von Preußens Armuth zur Fabel zu
werden. Das ſociale Leben, vornehmlich in der Hauptſtadt, gewann
reichere und freiere Formen, der Volkswohlſtand nahm einen über-
[65]Befreiung Weſtpreußens.
raſchenden Aufſchwung, die deutſche Dichtung trat in ihre großen Jahre.
Der Krieg hatte die Lage des Reiches zugleich vereinfacht und erſchwert.
Von der alten Ordnung war nichts mehr lebendig als der ungelöſte
Gegenſatz der beiden Großmächte. Das Vorgefühl einer ſchweren Ent-
ſcheidung ging durch die deutſche Welt; die kleinen Höfe beriethen in ge-
ſchäftigen Verhandlungen, wie ſie durch einen Bund der Mindermächtigen
ſich decken ſollten, falls ein neuer Zuſammenſtoß „der beiden Koloſſe
Deutſchlands“ ſie zu zermalmen drohe. König Friedrich aber, gründlich
belehrt über die unendliche Macht der Trägheit in dieſem alten Reiche,
beſchied ſich die erſchöpften Kräfte ſeines eigenen Staates von Neuem zu
ſammeln; ſeine deutſche Politik zielte fortan nur dahin, jedes Einwirken
fremder Mächte vom Reiche fern und dem Einfluß Oeſterreichs das Gleich-
gewicht zu halten.


Eine ſchwere Gefahr, die vom Oſten her der deutſchen Macht drohte,
riß ihn aus ſeinen friedlichen Plänen. Die polniſche Republik war ſeit
dem Kriege dem Willen der Czarin unterthänig, die förmliche Vereinigung
des zerrütteten Staates mit dem ruſſiſchen Reiche ſchien nur noch eine
Frage der Zeit. Da entſprang aus Friedrichs Haupte der Gedanke der
Theilung Polens, der die Abſichten der Ruſſen durchkreuzte, ihrem Ehrgeiz
Schranken ſetzte. Es war ein Sieg der deutſchen Politik, zugleich über
Rußlands ausgreifende Ländergier und über die Weſtmächte, die von den
dreiſt vorgehenden Mächten des Oſtens rückſichtslos zur Seite geſchoben
wurden. Die nothwendige That eröffnete freilich die Ausſicht auf unab-
ſehbare Verwicklungen, da das verfaulte Reich des ſarmatiſchen Adels
nunmehr rettungslos dem Untergange entgegentrieb; doch ſie war noth-
wendig, ſie rettete das treue Oſtpreußen vor der Wiederkehr der mosko-
witiſchen Herrſchaft und ſicherte dem Staate die Brücke zwiſchen dem
Pregel- und dem Oderlande, welche ſchon der Kronprinz Friedrich als un-
entbehrlich erkannt hatte. Der König erſchien zum zweiten male als der
Mehrer des Reichs, er ſchenkte das Kernland der Deutſchordens-Macht,
das ſchöne Weichſelthal, das einſt der deutſche Ritter den Barbaren,
der deutſche Bauer der Wuth der Elemente abgerungen, dem großen
Vaterlande wieder. Als die Stände von Weſtpreußen im Remter des
Hochmeiſterſchloſſes zu Marienburg „der wiederhergeſtellten Herrſchaft
Treue ſchwuren“ — wie die Denkmünze des Huldigungsfeſtes bezeichnend
ſagt — da ward geſühnt, was drei Jahrhunderte zuvor der Ueber-
muth der Polen und der Landesverrath der ſtändiſchen Libertät an dieſem
deutſchen Lande gefrevelt hatten. Der halbtauſendjährige Kampf der
Deutſchen und der Polen um den Beſitz der Oſtſeeküſte war zu Deutſch-
lands Gunſten entſchieden.


Alsdann begann der Staat, der ſelber noch aus den Wunden
des letzten Krieges blutete, die ſchwere Arbeit der friedlichen Wieder-
eroberung. Entſetzlich hatte der ſarmatiſche Adel im Weichſellande
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 5
[66]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
gehauſt, mit jener hoffärtigen Mißachtung fremden Rechtes und fremden
Volksthums, welche die Polen vor allen Nationen Europas auszeichnet.
Noch rühriger als vordem in Schleſien mußte hier der neue Herrſcher
ſchalten, um in den alten ehrenreichen Stätten deutſchen Kriegsruhms
und Bürgerfleißes, in Thorn, Culm und Marienburg deutſches Weſen
wieder zu Ehren zu bringen, die erſten Anfänge wirthſchaftlichen Verkehrs
wieder über das gänzlich verödete flache Land zu leiten. Und wie einſt
die erſten deutſchen Eroberer die Kornkammer der Werder den Strömen
entriſſen, ſo ſtieg jetzt aus den Sümpfen neben dem aufblühenden Bromberg
der fleißige Netzegau empor, die Schöpfung des zweiten Eroberers.
Friedrich ſelber ahnte nur dunkel, was die Wiedererwerbung des Ordens-
landes in dem großen Zuſammenhange der deutſchen Geſchichte bedeutete;
der Nation aber war ihr eigenes Alterthum fremd geworden, ſie wußte
kaum noch, daß dieſe Gauen jemals deutſch geweſen. Die Einen ver-
dammten mit dem herben Dünkel des Sittenrichters das zweideutige
diplomatiſche Spiel, das den Heimfall des Landes vorbereitet hatte; Andere
wiederholten gläubig, was Polens alte Bundesgenoſſen, die Franzoſen
erdichteten um die Theilungsmächte zu brandmarken; die Meiſten blieben
kalt und befeſtigten ſich nur von Neuem in der landläufigen Meinung,
daß der alte Fritz den Teufel im Leibe habe. Für die neue Wohlthat,
die er unſerem Volke erwieſen, dankte ihm Niemand im Reiche.


Der unruhige Ehrgeiz Kaiſer Joſephs II. führte den König am Abend
ſeines Lebens zu den Ideen der Reichspolitik zurück, welche ſeine Jugend
beſchäftigt hatten. Der Wiener Hof gab die conſervative Haltung auf,
welche dem Kaiſerhauſe allein noch Anſehen im Reiche ſichern konnte, und
unternahm ſich in Baiern für den Verluſt von Schleſien zu entſchädigen;
der ganze Verlauf der öſterreichiſchen Geſchichte ſeit zweihundert Jahren,
das ſtetige Hinauswachſen des Kaiſerſtaates aus dem Reiche ſollte durch
einen abenteuerlichen Einfall urplötzlich zum Rücklaufe gebracht werden.
Da ſchloß König Friedrich zum zweiten male ſeinen Bund mit den
Wittelsbachern und verbot dem Hauſe Oeſterreich mit dem Schwerte, ſeine
Macht auf deutſchem Boden zu erweitern; ſcharf und klar wie niemals
früher trat der Gegenſatz der beiden Nebenbuhler an den Tag. Der bairiſche
Erbfolgekrieg zeigt in ſeinem Feldzugsplane wie in ſeinen politiſchen Zielen
manche überraſchende Aehnlichkeit mit dem Entſcheidungskriege von 1866,
doch nicht um Deutſchland von Oeſterreichs Herrſchaft zu befreien zog
Preußen das Schwert, wie drei Menſchenalter ſpäter, ſondern lediglich
zur Abwehr öſterreichiſcher Uebergriffe, zur Wahrung des Beſitzſtandes.
Obſchon der alternde Held nicht mehr die Verwegenheit beſaß, ſeinen
Kriegsplan ſo groß wie er gedacht war durchzuführen, ſo erwies ſich doch
Preußens Macht ſtark genug den Wiener Hof auch ohne glänzende Kriegs-
erfolge zum Nachgeben zu zwingen. Baiern ward zum zweiten male
gerettet, der ſtolze Kaiſerhof mußte ſich herbeilaſſen „vor dem Berliner
[67]Bairiſcher Erbfolgekrieg.
Tribunale zu plaidiren“, und der erbitterte Fürſt Kaunitz ſprach jene
Weiſſagung, die auf dem Felde von Königgrätz wider den Sinn des
Propheten ſich erfüllen ſollte: wenn je die Schwerter Oeſterreichs und
Preußens nochmals auf einander ſchlügen, dann würden ſie nicht eher
wieder in die Scheide fahren, „als bis die Entſcheidung offenbar, voll-
kommen, unwiderruflich gefallen ſei.“ Noch werthvoller faſt als der
augenblickliche Erfolg war der mächtige Umſchwung der Meinung im
Reiche. Der gefürchtete Störenfried, der Rebell gegen Kaiſer und Reich
erſchien der Nation jetzt als der weiſe Beſchirmer des Rechtes; die kleinen
Höfe, die ſo oft vor dem preußiſchen Degen gezittert, blickten nunmehr,
aufgeſcheucht durch Kaiſer Joſephs raſtloſe Pläne, hilfeſuchend nach dem
Schiedsrichter in Sansſouci. An den Bauernhäuſern im bairiſchen
Hochgebirge hing das Bild des Alten mit dem dreiſpitzigen Hute neben
dem Volksheiligen Corbinian. In den Chor der ſchwäbiſchen und nord-
deutſchen Poeten, die von dem Ruhme des Königs erzählten, miſchten ſich
bereits einzelne Stimmen aus dem tief verfeindeten Kurſachſen; der Barde
Ringulph beſang in verzückten Oden, wie „aus der Allmacht Schooße,
König Friedrich, deine große ſchlachtenfrohe Seele ging“. Vor Kurzem
noch hatte K. F. Moſer ausgeſprochen, der Blick des gewöhnlichen
Menſchen vermöge dieſem Adler nicht in ſeine Höhen zu folgen, vielleicht
erſcheine dereinſt ein Newton der Staatswiſſenſchaft, der die Bahnen der
fridericianiſchen Politik ermeſſe. Jetzt aber begannen die Deutſchen zu fühlen,
daß dieſe räthſelhafte Politik im Grunde wunderbar einfach war, daß der
Staatsmann Friedrich, jedes Haſſes, jeder Liebe baar, gleichſam unper-
ſönlich, immer nur wollte was die klar erkannte Lage ſeines Staates gebot.


Als die Empörung in Nordamerika ausbrach und die aufgeklärte
Welt der neuen Sonne, die im Weſten aufging, zujubelte, da hat auch
Friedrich ſeine Freude nicht verhehlt. Seiner jungen Großmacht war
ein neuer Staat, der ſich in den Kreis der alten Mächte eindrängte,
willkommen; es that ihm wohl, dies England, das ihn im letzten Kriege
ſo ſchmählich verrathen und ihn dann während der polniſchen Händel
an der Erwerbung von Danzig gehindert hatte, jetzt in peinlicher Ver-
legenheit zu ſehen. Er erklärte offen, daß er nicht zum zweiten male
Hannover für das undankbare England vertheidigen werde; er hat einmal
ſogar den Durchmarſch der in Deutſchland erkauften engliſchen Hilfs-
völker verboten, weil ihn dieſer ſchmutzige Menſchenhandel empörte und
mehr noch weil er der jungen Männer aus dem Reiche für ſein eignes
Heer bedurfte. Er benutzte die Noth der Meereskönigin um durch den
Bund der bewaffneten Neutralität die Rechte der Marinen zweiten Ranges
zu wahren; er ſchloß nach dem Frieden, der Erſte unter den europäiſchen
Fürſten, einen Handelsvertrag mit der jungen Republik und bekannte ſich
darin zu jener freien, menſchlichen Auffaſſung des Völkerrechts, welche
ſeitdem eine treu bewahrte Ueberlieferung des preußiſchen Staates ge-
5*
[68]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
blieben iſt. Doch weder ſein Haß gegen „die Goddam-Regierung“, noch
die überſchwängliche Volksgunſt, die ihm aus den Colonien entgegenklang,
bewog ihn jemals nur einen Schritt über das Intereſſe ſeines Staates
hinauszugehen. Sein alter Feind Kaunitz konnte ſich noch immer den
ſtolzen Gang der fridericianiſchen Politik nur aus der unberechenbaren
Argliſt einer dämoniſchen Natur erklären. Im Reiche aber ſchwand das
alte Mißtrauen nach und nach; die Nation merkte, daß nirgendwo ihre
Angelegenheiten ſo ſachlich und maßvoll, ſo wachſam und ſo kalt er-
wogen wurden, wie in der Einſiedelei von Sansſouci.


So konnte denn das Unerhörte geſchehen, daß der hohe Adel des
Reichs ſich von freien Stücken um Friedrichs Fahnen ſchaarte. Kaiſer
Joſeph nahm ſeine bairiſchen Pläne wieder auf — um Preußens Macht
zu erſchüttern, wie er ſelber eingeſtand; er bedrohte zugleich durch
haſtige Seculariſationsgedanken den Beſtand ſeiner geiſtlichen Nachbarn.
Ein jäher Schrecken ergriff die kleinen Staaten, da ſie alſo ihren natür-
lichen Beſchützer zum Feinde werden ſahen; man berieth über einen Bund
der Mittelmächte, über eine Liga der geiſtlichen Fürſten, bis ſich endlich
die Erkenntniß aufdrängte, daß man ohne Preußens Hilfe nichts vermöge.
Mit jugendlichem Feuer griff der alte König in den Streit ein. Alle
die lockenden Anträge, die ihm vorſchlugen ſich mit dem Kaiſer in den
Beſitz von Deutſchland zu theilen, wies er weit von ſich als Köder für „die
gemeine Habgier“; er bezwang ſeine Verachtung gegen die Kleinfürſten und
begriff, daß er ces gens là nur durch ſtrenge Gerechtigkeit an ſich feſſeln
konnte. Es gelang ihm, die große Mehrheit des Kurfürſtenrathes und die
meiſten der mächtigeren Fürſten für ſeinen deutſchen Fürſtenbund zu ge-
winnen, die alte Reichsverfaſſung und den Beſitzſtand der Reichsſtände gegen
den Kaiſer zu behaupten. „Allein die Liebe zu meinem Vaterlande und
die Pflicht des guten Bürgers, ſo ſchrieb er, treibt mich in meinem Alter
noch zu dieſem Unternehmen.“ Was er in ſeiner Jugend geträumt, ging
dem Greiſe glänzender in Erfüllung: nicht mehr verſteckt hinter einem
bairiſchen Schattenkaiſer, wie einſt in den ſchleſiſchen Kriegen, ſondern
mit offenem Viſier trat die Krone Preußen jetzt auf den Plan, als der
Protector von Deutſchland. Alle die Nachbarmächte, die auf Deutſchlands
Schwäche zählten, ſahen die unerwartete Wendung der Reichspolitik mit
ernſter Beſorgniß; Frankreich und Rußland näherten ſich dem Wiener
Hofe, die Allianz von 1756 drohte ſich von Neuem zu ſchließen. Das
Turiner Cabinet dagegen begrüßte den Fürſtenbund mit Freuden als
„den Schutzgott der italieniſchen Staaten“.


Die Politik des Foederalismus war im Reiche ſeit zweihundert Jahren
nicht über halbe Anläufe hinausgekommen; nun da ſie ſich auf die Macht
des preußiſchen Staates ſtützte errang ſie plötzlich einen großen Erfolg. Die
Erinnerung an die Zeiten Maximilians I. und die Reformverſuche Kurfürſt
Bertholds tauchte wieder auf. Der Fürſtenbund war geſchloſſen um
[69]Deutſcher Fürſtenbund.
das alte reichsſtändiſch-theokratiſche Deutſchland aufrecht zu halten. Doch
wenn er dauerte, wenn Preußen ſeine Führerſtellung an der Spitze der
großen Reichsſtände behauptete, ſo mußten die alten Formen des
Reichsrechtes ihren Sinn verlieren; es eröffnete ſich die Ausſicht, das
öſterreichiſche Syſtem in ſeinen Grundlagen zu erſchüttern, wie Graf
Hertzberg freudig ausrief, die Erzherzöge von den großen deutſchen Stiftern
auszuſchließen, bei der nächſten Wahl die Kaiſerkrone auf ein anderes Haus
zu übertragen und die Leitung des Reichs in die Hände der mächtigſten
Stände zu legen. Der junge Karl Auguſt von Weimar ſchlug bereits
vor, jene alten Privilegien, welche dem Hauſe Oeſterreich ſeine Sonder-
ſtellung ſicherten, einer Prüfung von Reichswegen zu unterwerfen. Faſt
ſchien es, als ſollte das große Räthſel der deutſchen Zukunft im Frieden
gelöſt werden. Aber der Fürſtenbund konnte nicht dauern; und am
wenigſten der nüchterne Sinn des alten Königs hat ſich dieſe bittere
Wahrheit verborgen. Nur eine Verkettung zufälliger Umſtände, nur der
Abfall Kaiſer Joſephs von den altbewährten Ueberlieferungen der öſter-
reichiſchen Staatskunſt hatte die kleinen Fürſten in Friedrichs Arme
hinübergeſcheucht; ihr Vertrauen zu Preußen reichte nicht weiter als
ihre Angſt vor Oeſterreich. Mit äußerſtem Widerſtreben fügte ſich Kur-
ſachſen der Führung des jüngeren und minder vornehmen Hauſes Bran-
denburg, kaum weniger mißtrauiſch zeigte ſich Hannover; ſelbſt die er-
gebenſten und ſchwächſten der verbündeten Stände, Weimar und Deſſau
beriethen insgeheim, ſo erzählt uns Goethe, wie man ſich decken könne
gegen die Herrſchſucht des preußiſchen Beſchützers. Sobald die Hofburg ihre
begehrlichen Pläne fallen ließ, mußte ſich auch die alte natürliche Partei-
bildung wiederherſtellen; die geiſtlichen Fürſten, die jetzt in Berlin Hilfe
ſuchten, konnten in dem proteſtantiſchen Preußen nur den geſchworenen
Feind ihrer Herrſchaft ſehen. Weil Friedrich dies wußte, weil er mit
ſeinem durchbohrenden Blicke den getreuen Bundesgenoſſen bis in Mark
und Nieren ſchaute, darum ließ er auch durch den Erfolg des Tages ſich
nicht darüber täuſchen, daß dieſer neue ſchmalkaldiſche Bund nur ein Noth-
behelf war, nur ein Mittel zur Wahrung des augenblicklichen Gleichge-
wichts. Karl Auguſt entwarf in großherziger Schwärmerei kühne Pläne
für den Ausbau der neuen Reichsaſſociation, er dachte an einen Zoll-
verband, an Militär-Conventionen, an ein deutſches Geſetzbuch; Johannes
Müller verherrlichte den Fürſtenbund in ſchwülſtigen Pamphleten, Schubart
in ſchwungvollen lyriſchen Ergüſſen, und Dohm gelangte in einer geiſt-
reichen Flugſchrift zu dem Schluſſe: „Deutſches und preußiſches Intereſſe
können ſich nie im Wege ſtehen.“ Den überlegenen Verſtand des greiſen
Königs berührten ſolche Träume nicht; er wußte, daß nur ein ungeheurer
Krieg die Herrſchaft Oeſterreichs im Reiche brechen konnte; ihm genügte,
ſie in den Schranken des Rechts zu halten, da er des Friedens für ſein
Land bedurfte.


[70]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.

Für eine ernſtliche Reform des Reichs fehlten noch immer alle Vor-
bedingungen, es fehlte vor Allem der Wille der Nation. Ueber das alte
Wahngebilde der deutſchen Freiheit kamen auch die reichspatriotiſchen Ver-
theidiger des Fürſtenbundes nicht hinaus. Die joſephiniſche Politik, ſo
verſichert Hertzberg beweglich, drohe die Kräfte Deutſchlands zu einer
Maſſe zuſammenzuballen, das freie Europa einer Univerſalmonarchie
zu unterwerfen; und in Dohms Augen erſcheint es als eine preiswürdige
Aufgabe des neuen Bundes, die Weſtgrenzen Oeſterreichs offen zu halten,
damit Frankreich jederzeit zu Gunſten deutſcher Freiheit einſchreiten könne.
Das Volk empfand dunkel, daß das Beſtehende nicht werth ſei zu beſtehen;
in Schubarts Schriften werden die kleinen ſchwäbiſchen Territorien oft
geſchildert als ein offener Taubenſchlag, der dem fürſtlichen Marder dicht
vor den Klauen liege. Doch alle ſolche Einfälle und Ahnungen wurden
darniedergehalten von einem Gefühle hoffnungsloſer Entſagung, das die
kräftigere Gegenwart kaum noch verſteht; den Deutſchen war zu Muthe,
als ob eine unerforſchlich geheimnißvolle Schickſalsmacht dies Volk ver-
dammt hätte, für alle Ewigkeit in einem widerſinnigen Zuſtande zu ver-
harren, der jedes Recht des Daſeins längſt verloren. Als der große
König ſchied, da hinterließ er zwar ein Geſchlecht, das froher und ſtolzer
in die Welt blickte denn die Väter, und gewaltig hatte ſich die Macht
des Staates gehoben, der vielleicht dereinſt einen neuen Tag über
Deutſchland heraufführen konnte. Doch die Frage: durch welche Mittel
und Wege eine lebensfähige Ordnung für das deutſche Gemeinweſen zu
ſchaffen ſei? — erſchien bei Friedrichs Tode faſt noch ebenſo räthſelhaft wie
bei ſeiner Thronbeſteigung; ja ſie wurde von der ungeheuren Mehrzahl
der Deutſchen nicht einmal ernſtlich aufgeworfen. Noch beſtanden kaum die
erſten Anfänge einer Parteibildung in der Nation; nur ein Wunder des
Himmels ſchien der rathloſen Hilfe bringen zu können. Die entſetzliche
Verſchrobenheit aller Verhältniſſe erhellt mit unheimlicher Klarheit aus
der einen Thatſache, daß der Held, der einſt mit ſeinem guten Schwerte
die Nichtigkeit der Inſtitutionen des Reichs erwieſen hatte, nun damit
enden mußte, dieſe entgeiſteten Formen ſelber gegen das Reichsoberhaupt
zu vertheidigen.


Wenn Friedrich die Entſcheidung der deutſchen Verfaſſungsfrage nur
vorbereiten, nicht vollenden konnte, ſo hat er dagegen auf die innere
Politik der deutſchen Territorien tief und nachhaltig eingewirkt und unſer
Volk zu einer edleren Staatsgeſinnung, einer würdigeren Anſicht vom
Weſen des Staates erzogen. Er ſtand am Ende der großen Tage der
unbeſchränkten Monarchie und erſchien gleichwohl den Zeitgenoſſen als
der Vertreter eines neuen Staatsgedankens, des aufgeklärten Despotismus.
Nur der Genius beſitzt die Kraft der Propaganda, vermag die wider-
ſtrebende Welt um das Banner neuer Gedanken zu ſchaaren. Wie die
Ideen der Revolution erſt durch Napoleon wirkſam verbreitet wurden, ſo
[71]Höchſte Ausbildung der abſoluten Monarchie.
iſt auch jene ernſte Auffaſſung der Pflichten des Königthums, die ſeit dem
großen Kurfürſten auf dem preußiſchen Throne herrſchte, erſt durch
Friedrich in das Bewußtſein der Menſchen übergegangen. Erſt ſeit den
blendenden Erfolgen der ſchleſiſchen Kriege wendeten ſich die Blicke der
Welt, die bisher an der Hofpracht von Verſailles bewundernd gehangen,
nachdenklich auf die prunkloſe Krone der Hohenzollern. Im Kriege und in
der auswärtigen Politik zeigte der König die unvergleichliche ſchöpferiſche
Macht ſeines Geiſtes; in der inneren Verwaltung war er der Sohn
ſeines Vaters. Er hat die überlieferten Formen des Staates durch die
Kraft des Genius belebt, das Unfertige in freiem und großem Sinne
weitergebildet; einen Neubau unternahm er nicht. Doch er wußte den
Gedanken des politiſchen Königthums, den ſein Vater als ein handfeſter
Praktiker verwirklicht hatte, mit der Bildung des Jahrhunderts in Ein-
klang zu bringen; unabläſſig gab er ſich und Andern Rechenſchaft von
ſeinem Thun. Schon als Kronprinz errang er ſich einen Platz unter den
politiſchen Denkern des Zeitalters; ſein Anti-Machiavell bleibt, bei allen
Schwächen jugendlicher Unreife, doch das Beſte und Tiefſte, was jemals
über die Pflichten des fürſtlichen Amts in der abſoluten Monarchie geſagt
wurde. Nachher, in den erſten Jahren des Siegerglückes, ſchrieb er den
Fürſtenſpiegel für den jungen Herzog von Württemberg; doch mächtiger
denn alle Lehren ſprachen ſeine Thaten, da er in den Tagen der Prüfung
ſeine Worte bewährte und der Welt zeigte was es heiße „als König
denken, leben, ſterben“. Zuletzt ward ihm noch jene Schickſalsgunſt, deren
auch der Genius bedarf, wenn er einem ganzen Zeitalter den Stempel
ſeines Geiſtes aufprägen ſoll: das Glück, in einem reichen Alter ſich völlig
auszuleben. Er war jetzt der Neſtor, der anerkannt erſte Mann des euro-
päiſchen Fürſtenſtandes; ſein Ruhm hob den Glanz aller Throne, aus
ſeinen Worten und Werken lernten die Könige groß zu denken von ihrem
Berufe.


Die althergebrachte Vorſtellung des Kleinfürſtenthums, daß Land
und Leute dem durchlauchtigen Fürſtenhauſe zu eigen gehörten, verlor
an Boden, ſeit dieſer König trocken ausſprach: „Der Fürſt hat keinen
nähern Verwandten als ſeinen Staat, deſſen Intereſſen immer den
Banden des Blutes voranſtehen müſſen.“ Die dynaſtiſche Selbſtüberhebung
der Bourbonen erſchien in ihrer Nichtigkeit, ſeit er bei ſeiner Thronbe-
ſteigung den leichten Genüſſen des Lebens den Rücken wandte mit den
Worten „mein einziger Gott iſt meine Pflicht“ und nun durch ein halbes
Jahrhundert mit allen Kräften ſeiner Seele dieſem einen Gotte diente
und auf jeden Dank ſeines Volkes immer nur die gelaſſene Antwort gab:
„Dafür bin ich da.“ So weltlich unbefangen hatte noch nie ein gekröntes
Haupt von der fürſtlichen Würde geredet, wie dieſer Selbſtherrſcher, der
unbedenklich die Berechtigung der Republik wie des parlamentariſchen
Königthums anerkannte und die Größe der abſoluten Monarchie allein
[72]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
in der Schwere ihrer Pflichten ſuchte: „Der Fürſt ſoll Kopf und Herz
des Staates ſein, er iſt das Oberhaupt der bürgerlichen Religion ſeines
Landes.“


An Friedrichs Beiſpiel und an den menſchenfreundlichen Gedan-
ken der neuen Aufklärung bildete ſich das heranwachſende Geſchlecht
des hohen Adels. Auf die kleinen Sultane, die zur Zeit Friedrich
Wilhelms I. gehauſt, folgte jetzt eine lange Reihe wohlmeinender pflicht-
getreuer Landesväter, wie Karl Friedrich von Baden, Friedrich Chriſtian
von Sachſen. Schon geſchah es häufiger, daß die Prinzen nach preußiſcher
Weiſe eine militäriſche Erziehung erhielten; kirchliche Duldſamkeit, För-
derung des Wohlſtandes und der Schulen galten als Fürſtenpflicht;
einzelne Kleinſtaaten, wie Braunſchweig, gewährten der Preſſe noch größere
Freiheit als Preußen ſelber. Selbſt in einigen geiſtlichen Gebieten trat
eine Wendung zum Beſſeren ein, das Münſterland pries die milde und
ſorgſame Verwaltung ſeines Fürſtenberg. Nicht überall freilich und nicht
mit einem Schlage konnten die tief eingewurzelten Sünden des kleinfürſt-
lichen Despotismus verſchwinden; die alte Unſitte des Soldatenhandels
erreichte eben jetzt, während des amerikaniſchen Krieges, den Gipfelpunkt
ihrer Ruchloſigkeit und zeigte, weſſen das deutſche Kleinfürſtenthum fähig
war. Das fridericianiſche Syſtem der Völkerbeglückung von Oben führte
in der Enge der Kleinſtaaten oft zu leerer Spielerei oder zu erdrückender
Bevormundung. Der badiſche Markgraf nannte ſeine Hofkammer kurzweg
„die natürliche Vormünderin unſerer Unterthanen“; mancher wohldenkende
kleine Herr mißhandelte ſein Ländchen durch das neumodiſche phyſio-
kratiſche Steuerſyſtem, durch allerhand unreife philanthropiſche Experi-
mente, und das fürſtlich Oettingen-Oettingen’ſche Landesdirectorium
mußte dem wißbegierigen Landesherrn über „Namen, Gattung, Gebrauch
und äußerliche Geſtalt“ ſämmtlicher in fürſtlichen Landen befindlichen
Hunde genauen Bericht erſtatten nebſt beigefügtem ohnmaßgeblichen aller-
unterthänigſten Gutachten. Doch im Ganzen war die Fürſtengeneration
der achtziger Jahre die ehrenwertheſte, die ſeit Langem auf den deutſchen
Thronen geſeſſen. Wo er nur konnte trat der König den Ausſchreitungen
ſeiner Standesgenoſſen entgegen, befreite den alten Moſer aus dem
Kerker, ſicherte den Württembergern den Beſtand ihrer Verfaſſung. Das
Reich als Ganzes lag hoffnungslos darnieder, aber in vielen ſeiner
Glieder pulſte wieder ein neues hoffnungsvolles Leben.


Und weit hinaus über Deutſchlands Grenzen wirkte das Vorbild
Friedrichs. Maria Thereſia wurde ſeine gelehrigſte Schülerin, ſie hat
den Gedanken der fridericianiſchen Monarchie in der katholiſchen Welt
verbreitet. Von ſchwachen Nachbarn umgeben hatte das alte Oeſter-
reich bisher ſorglos und ſchläfrig dahingelebt; erſt das Erſtarken des
ehrgeizigen Nebenbuhlers im Norden zwang den Kaiſerſtaat ſeine Kräfte
tapfer anzuſpannen. Der Norddeutſche Haugwitz geſtaltete die Ver-
[73]Heerweſen.
waltung Oeſterreichs, ſoweit es anging, nach preußiſchem Muſter um,
und von dieſen öſterreichiſchen Reformen wiederum lernte der aufge-
klärte Despotismus, der nunmehr in allen romaniſchen Landen, in
Neapel und Toscana, in Spanien und Portugal ſeine raſtlos gewalt-
ſame Völkerbeglückung begann. Am Längſten ſträubte ſich der Stolz
der franzöſiſchen Bourbonen wider die neue Auffaſſung der Mo-
narchie; mit ſpöttiſchem Lächeln erzählte man ſich zu Verſailles, daß
am Potsdamer Hofe der Oberkammerherr noch niemals dem Könige das
Hemd gereicht habe. Erſt da es zu ſpät war, da die Mächte der Revo-
lution ſchon an die Thore klopften, begann man etwas zu ahnen von
den Pflichten des Königthums. Die Krone der Bourbonen iſt aus dem
trüben Dunſtkreiſe höfiſcher Selbſtvergötterung und Menſchenverachtung
niemals gänzlich hinausgekommen, darum ging ſie ſchimpflich zu Grunde.
Den Deutſchen aber wurde die monarchiſche Geſinnung, die unſerem Volke
im Blute lag und ſelbſt in den Jahrhunderten der ſtändiſchen Vielherr-
ſchaft nicht völlig verloren ging, durch König Friedrich aufs Neue ge-
kräftigt. In keiner andern Nation der neuen Geſchichte hat das König-
thum ſeine Aufgaben ſo groß und hochſinnig verſtanden; darum blieb
das deutſche Volk, ſelbſt als die Zeit der parlamentariſchen Kämpfe kam,
das am treueſten monarchiſch geſinnte unter den großen Culturvölkern.


Die Friedensliebe des hohenzollernſchen Hauſes blieb auch in ſeinem
größten Kriegsfürſten lebendig. Friedrich ſchätzte die Macht, doch nur als
ein Mittel für den Wohlſtand und die Geſittung der Völker; daß ſie jemals
Selbſtzweck ſein, daß der Kampf um die Macht als ſolche ſchon hiſtoriſchen
Ruhm verleihen ſollte, erſchien ihm als eine Beleidigung der fürſtlichen
Ehre. Darum ſchrieb er ſeine leidenſchaftliche Streitſchrift gegen Machiavelli.
Darum kam er in ſeinen Schriften immer wieder auf das abſchreckende
Beiſpiel Karls XII. von Schweden zurück. Er mochte insgeheim fühlen,
daß in ſeiner eigenen Bruſt dämoniſche Kräfte arbeiteten, die ihn zu
ähnlichen Verirrungen mißleiten konnten, und ward nicht müde die
Hohlheit des zweckloſen Kriegsruhms zu ſchildern, ließ im runden Saale
zu Sansſouci die Büſte des Schwedenkönigs verächtlich unter den Füßen
der Muſe aufſtellen. Schon in ſeinen brauſenden Jünglingsjahren war
er mit ſich im Reinen über die ſittlichen Zwecke der Macht: dieſer Staat
muß ſtark werden, ſo ſchrieb er damals, „damit er die ſchöne Rolle ſpielen
kann den Frieden zu erhalten allein aus Liebe zur Gerechtigkeit, nicht
aus Furcht. Wenn aber jemals in Preußen Unrecht, Parteilichkeit und
Laſter überhand nähmen, dann wünſche ich dem Hauſe Brandenburg
ſchleunigen Untergang. Das ſagt Alles.“ Als er nach dem ſiebenjährigen
Kriege ſich ſtark genug fühlte aus Gerechtigkeit den Frieden zu wahren,
da wendete er ſeine Sorge mit ſolchem Eifer der Wiederherſtellung des
Volkswohlſtandes zu, daß die Armee geradezu geſchädigt wurde.


Es iſt nicht anders: der Feldherr, der die Fahnen Preußens mit
[74]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Lorbeeren überſchüttet hatte, hinterließ die Armee in ſchlechterem Zuſtande
als er ſie bei ſeiner Thronbeſteigung vorgefunden, reichte als militäriſcher
Organiſator an ſeinen rauhen Vater nicht heran. Er bedurfte der fleißigen
Hände um ſein verwüſtetes Land zu heben und begünſtigte darum grund-
ſätzlich die Anwerbung von Ausländern für das Heer. Die Regiments-
commandeure ſollten ihre Kantonsliſten im Einverſtändniß mit den Land-
und Steuerräthen aufſtellen; ſeitdem ſpielte alljährlich in jedem Kreiſe
jener Streit zwiſchen den militäriſchen Anforderungen und den bürger-
lichen Intereſſen, der nachher unter wechſelnden Formen in der Geſchichte
Preußens immer wiederkehrte. Für diesmal ward der Kampf zu Gunſten
der Volkswirthſchaft entſchieden. Die bürgerlichen Behörden ſuchten jeden
irgend fähigen oder vermögenden jungen Mann vor der rothen Kanto-
niſten-Halsbinde zu bewahren. Der König ſelbſt griff helfend ein, befreite
zahlreiche Klaſſen der Bevölkerung, die Neueingewanderten, die Familien aller
Gewerbtreibenden, die Hausdienerſchaft der Grundherren von der Dienſt-
pflicht; viele Städte, ja ganze Provinzen, wie Oſtfriesland, erhielten Pri-
vilegien. Das Heer beſtand bald nach dem Frieden ſchon zur größeren
Hälfte aus Ausländern. Friedrich dachte hoch von der Armee, nannte ſie
gern den Atlas, der dieſen Staat auf ſeinen ſtarken Schultern trage; der
Kriegsruhm der ſieben Jahre wirkte noch nach, der Dienſt des gemeinen
Soldaten galt in Preußen zwar, wie überall ſonſt in der Welt, als ein Un-
glück, doch nicht als eine Schande, wie draußen im Reiche. Der König
brachte die großen Sommerübungen auf der Mockerauer Heide zu einer
techniſchen Vollendung, welche die Kunſt des Manövrirens ſeitdem wohl nie
wieder erreicht hat, ſchärfte ſeinen Offizieren unermüdlich ein, „das Detail
zu lieben, das auch ſeinen Ruhm hat,“ ſchrieb zu ihrer Belehrung ſeine
militäriſchen Abhandlungen, die reifſten ſeiner Werke. Seinen Blicken
entging kein Fortſchritt des Kriegsweſens; noch im hohen Alter bildete
er die neue Waffe der leichten Infanterie, die grünen Füſiliere, nach dem
Vorbilde der amerikaniſchen Riflemen. Der Ruhm des Potsdamer Exer-
cierplatzes zog Zuſchauer aus allen Landen herbei; in Turin ahmte Victor
Amadeus mit ſeinen Generalen jede Bewegung des großen preußiſchen
Drillmeiſters bis auf die gebeugte Haltung des Kopfes andächtig nach;
und wenn der junge Leutnant Gneiſenau die ſpitzen Blechmützen der
Grenadiere beim Parademarſche in der Sonne funkeln ſah, dann rief er
begeiſtert: „Sagt, welches unter allen Völkern ahmet wohl ganz dies
wunderbare Schauſpiel nach?“


Und dennoch iſt das Heer in Friedrichs letzten Jahren unzweifelhaft
geſunken. Die Blüthe des alten Offizierscorps lag auf den Schlachtfel-
dern; während der ſieben Jahre waren — ein beiſpielloſer Fall in der Kriegs-
geſchichte — ſämmtliche namhafte Generale bis auf ſpärliche Ausnahmen
geblieben oder kampfunfähig geworden. Die jetzt emporkamen hatten den
Krieg nur in ſubalternen Stellungen kennen gelernt, ſuchten das Ge-
[75]Ständiſche Gliederung.
heimniß der fridericianiſchen Siege allein in den Handgriffen des Parade-
platzes. Unter den ausländiſchen Offizieren war mancher zweideutige
Abenteurer; man jagte nach Gunſt und Gnade, für den ſtolzen Freimuth
eines York oder Blücher war kein Raum. Der König, minder bürger-
freundlich als ſein Vater, glaubte, daß nur der Edelmann Ehre im Leibe
habe, entfernte die bürgerlichen Offiziere aus den meiſten Truppentheilen.
In den adlichen Offizierscorps entſtand ein Junkerſinn, der dem
Volke bald noch unleidlicher wurde als die ungeſchlachte Roheit früherer
Zeiten. Die geworbenen alten Soldaten endlich lebten bequem mit Weib
und Kind, in bürgerlicher Hantirung, und verabſcheuten den Krieg für
ein Land, das ihnen fremd blieb. Schon im bairiſchen Erbfolgekriege
bemerkte Friedrich mit Befremden, wie wenig dies Heer leiſte; den Grund
des Verfalls durchſchaute er nicht. Der Eudämonismus ſeines Zeitalters
ließ ihn die ſittlichen Kräfte des Heerweſens verkennen. Er hatte einſt,
nach dem Brauche der Zeit, preußiſche Regimenter aus öſterreichiſchen
und ſächſiſchen Kriegsgefangenen gebildet und ſelbſt durch die maſſenhaften
Deſertionen der Unglücklichen ſich nicht belehren laſſen; er hatte in den
letzten Jahren des Krieges genugſam erfahren, was ein Heer von Landes-
kindern vermochte, doch ein ſo gewaltſames Aufgebot der geſammten
Volkskraft blieb ihm ſtets nur ein Nothbehelf für verzweifelte Tage, „da
es auf den Schutz des Vaterlandes und eine preſente Gefahr ankommt“.
Unter ſeinen Staatsmännern hat allein Hertzberg die kühnen Ideen
Friedrich Wilhelms I. heilig gehalten; der wollte das Heer nach und nach
von allen Ausländern ſäubern: „dann werden wir unüberwindlich ſein
wie die Griechen und Römer.“ Der alte König aber ſah mit Genug-
thuung, wie ſein unglückliches Land wirthſchaftlich erſtarkte, und bezeich-
nete jetzt das Ideal des Heerweſens mit den wunderlichen Worten: „Der
friedliche Bürger ſoll es gar nicht merken, wenn die Nation ſich ſchlägt.“
So gerieth eine der Säulen, welche dieſen Staatsbau trugen, der Ge-
danke der allgemeinen Wehrpflicht, langſam ins Wanken.


Die überlieferte Gliederung der Stände und die hierauf beruhende
Organiſation der Arbeit hielt der König noch ſtrenger aufrecht als ſein
Vater; er half durch Belehrung und rückſichtsloſen Zwang, durch Ge-
ſchenke und Darlehen nach, ſo oft der Bauer, der Bürger, der Edelmann
der Rolle, die ihm im Haushalte der Nation vorgeſchrieben war, nicht
mehr zu genügen ſchien. Der Adel ſollte der erſte Stand im Staate
bleiben, denn „ich brauche ihn für meine Armee und meine Staatsver-
waltung“. Durch die Pfandbriefsanſtalten und durch erhebliche Unter-
ſtützungen mit baarem Gelde erreichte Friedrich die „Conſervirung“ des
adlichen Großgrundbeſitzes nach den Verwüſtungen der Kriegsjahre. Darum
wagte er auch ſo wenig wie ſein Vater, die Unfreiheit des Landvolks, die
ſeinen großen Sinn empörte, gänzlich aufzuheben. Durch das Allge-
meine Landrecht wurde zwar die rohe Form der Leibeigenſchaft beſeitigt,
[76]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
doch die um ein Geringes leichtere Erbunterthänigkeit überall aufrecht
erhalten. Die Verwaltung begnügte ſich, im Einzelnen die Härten der be-
ſtehenden Klaſſenherrſchaft zu mildern. Von dem alternden Fürſten nicht
bemerkt und nicht gewollt, begann unterdeſſen eine folgenreiche Ver-
ſchiebung der ſocialen Machtverhältniſſe. Die neue Literatur erzog ein
aus allen Ständen gemiſchtes gebildetes Publicum; die Kaufleute und
Gewerbtreibenden der größeren Städte, die bürgerlichen Pächter des
ausgedehnten Domaniums der Monarchie gelangten nach und nach zu
geſichertem Wohlſtande und zu einem kräftigen Selbſtbewußtſein, das die
Vorrechte des Adels auf die Dauer nicht mehr ertragen konnte. Der
Adel verlor allmählich die ſittlichen wie die wirthſchaftlichen Grundlagen
ſeiner Herrenſtellung. Der Bau der alten ſtändiſchen Gliederung ward
unmerklich untergraben.


Auch die Verwaltungsorganiſation des Vaters blieb unter dem Sohne
unverändert, nur daß er den Provinzialdepartements des Generaldirec-
toriums vier neue, den ganzen Staat umfaſſende, für Kriegsverwaltung,
Handelspolitik, Berg- und Forſtweſen, hinzufügte und alſo einen Schritt
weiter that auf dem Wege zum Einheitsſtaate. Die Krone ſtand noch
immer hoch über ihrem Volke. Landdragoner mußten den Bauern an-
halten die vom Könige geſchenkten Saatkartoffeln zu verwenden; der
Befehl des Landraths und der Kammer erzwang, gegen den zähen
paſſiven Widerſtand der Betheiligten, die Gemeinheitstheilungen und
Entwäſſerungen, alle Fortſchritte der landwirthſchaftlichen Technik. Der
völlig ermattete Unternehmungsgeiſt der bürgerlichen Gewerbe konnte
nur durch die gewaltſamen Mittel des Prohibitivſyſtems geweckt werden.
Die Gebrechen der fridericianiſchen Volkswirthſchaftspolitik lagen nicht in
dem Alles meiſternden Beglückungseifer der Staatsgewalt, dem die Zeit
noch keineswegs entwachſen war, ſondern in den fiscaliſchen Künſten, wozu
der König durch die Bedrängniß ſeines Haushalts genöthigt wurde: er mußte
volle drei Viertel ſeiner ordentlichen Ausgaben für das Heer verwenden
und ſuchte was am Nothwendigen fehlte durch die Monopolien und in-
directen Steuern ſeiner Regie einzubringen. Das Finanzweſen glich in
ſeiner Schwerfälligkeit noch einem großen Privathaushalte. Faſt die
Hälfte der regelmäßigen Einnahmen kam aus den Domänen und Forſten;
nur dieſer reiche Grundbeſitz des Staates ermöglichte ihm ſeine hohen
Ausgaben, er diente zugleich zur techniſchen Erziehung des Landvolks.
Die Summe der Hauptſteuern ſtand geſetzlich feſt; für die außerordent-
lichen Ausgaben der Coloniſationen und Urbarmachungen mußte der beweg-
liche Ertrag der Regie herangezogen werden. Der ſorgſam vermehrte Schatz
genügte für einige kurze Feldzüge; doch einen langen ſchweren Krieg konnte
das alte Preußen ohne fremde Hilfsgelder nicht führen, da die Rechte der
Landtage, die überlieferten Anſchauungen des Beamtenthums und die
Unreife der Volkswirthſchaft jede Anleihe verboten. Wie kräftig auch der
[77]Das Allgemeine Landrecht.
bürgerliche Wohlſtand anwuchs, der weite Vorſprung der glücklicheren
Nachbarvölker ließ ſich ſo ſchnell nicht einholen. Der preußiſche Staat
blieb noch immer die ärmſte der Großmächte des Weſtens, im Weſentlichen
ein Ackerbauland, ſpielte im Welthandel eine beſcheidene Rolle, auch nach-
dem ihm Friedrich durch die Erwerbung Oſtfrieslands den Zugang zur
Nordſee eröffnet hatte; den Häfen der Ems wie der Oder fehlte ein
reiches gewerbfleißiges Hinterland.


Als ein Reformator wirkte Friedrich nur in jenem Bereiche des inne-
ren Staatslebens, das ſein Vorgänger nicht verſtand: er ſchuf den
neuen preußiſchen Richterſtand, wie ſein Vater das moderne deutſche
Verwaltungsbeamtenthum gebildet hatte. Er wußte, daß die Rechts-
ſprechung ein politiſches Amt iſt, unzertrennlich mit dem Staate ver-
wachſen; er erwirkte ſich für alle ſeine Lande die Unabhängigkeit von den
Reichsgerichten, verbot Gutachten der Juriſtenfacultäten einzuholen, ſtellte
ein Juſtizminiſterium neben das Generaldirectorium, gab die geſammte
Rechtspflege in die Hände eines hierarchiſch gegliederten Staatsbeamten-
thums, das ſich ſeinen jungen Nachwuchs ſelbſt erzog und die in der
unterſten Inſtanz noch fortbeſtehende Privatgerichtsbarkeit unter ſtrenge
Aufſicht nahm. Die unbedingte Selbſtändigkeit der Gerichte gegenüber
der Verwaltung ward feierlich verheißen und, bis auf wenige Fälle einer
wohlmeinend willkürlichen Cabinetsjuſtiz, unverbrüchlich gehalten. Der
neue Richterſtand bewahrte ſich in beſcheidener wirthſchaftlicher Lage eine
ehrenhafte Standesgeſinnung, und während an den Gerichten des Reichs
Beſtechlichkeit und parteiiſche Gunſt ihr Weſen trieben, galt in Preußen
auch gegen den Willen des Königs das ſtolze Wort: il y a des juges à
Berlin.
Dem Jünger der Aufklärung, dem der Staat das Werk des
zweckbewußten Menſchenwillens war, drängte ſich von ſelber das Verlangen
auf, daß im Staate nicht ein gegebenes und überliefertes, ſondern ein
gewußtes und gewolltes Recht herrſchen müſſe; ſein Leben lang trug ſich
Friedrich mit dem Gedanken, die erſte umfaſſende Codification des Rechts,
die ſeit den Zeiten Juſtinians gewagt worden, durchzuführen. Erſt nach
ſeinem Tode kam das Allgemeine Landrecht zu Stande, das deutlich, wie
kein anderes Werk der Epoche, den Januskopf der fridericianiſchen Staats-
anſicht erkennen läßt. Das Geſetzbuch wahrt einerſeits die überlieferten
ſocialen Unterſchiede ſo ſorgſam, daß das geſammte Rechtsſyſtem ſich der
ſtändiſchen Gliederung einfügen muß, dem Adel ſogar — zuwider dem
gemeinen Rechte — ein ſtändiſches Eherecht gewährt wird, und führt
andererſeits den Gedanken der Souveränität des Staates mit ſolcher
Kühnheit bis in ſeine letzten Folgerungen, daß mancher Satz ſchon die
Ideen der franzöſiſchen Revolution vorausnimmt, und Mirabeau meinen
konnte, mit dieſem Werke eile Preußen dem übrigen Europa um ein
Jahrhundert voraus. Zweck des Staates iſt das gemeine Wohl, nur um
dieſes Zweckes willen darf der Staat die natürliche Freiheit ſeiner Bürger
[78]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
beſchränken, aber auch — alle beſtehenden Privilegien aufheben. Der König
iſt nur das Oberhaupt des Staates, hat nur als ſolches Rechte und
Pflichten — und dies in Tagen, da Biener und andere namhafte Juriſten
das Privateigenthumsrecht der deutſchen Fürſten an Land und Leuten
noch als einen unbeſtreitbaren Rechtsſatz verfochten. Die alſo über das
Bereich des Privatrechts hinausgehobene Staatsgewalt greift ordnend
und lehrend in alle Privatverhältniſſe ein, ſchreibt Eltern und Kindern,
Grundherren und Dienſtboten ihre ſittlichen Pflichten vor, ſie vermißt ſich
durch ihre Alles vorausbedenkende geſetzgeberiſche Weisheit jeden möglichen
Rechtsſtreit der Zukunft von vornherein zu erledigen.


Mit dieſem Geſetzbuche ſprach der alte Abſolutismus ſein letztes Wort:
er umgab ſeine Gewalt mit feſten Schranken, erhob das Gemeinweſen zum
Rechtsſtaate; er betrat zugleich, indem er die Herrſchaft des römiſchen Rechts
zerſtörte, ahnungslos den Weg, der zu einer neuen Rechtseinheit des
deutſchen Volkes führen mußte. Der mechaniſche Staatsbegriff der fride-
ricianiſchen Tage iſt bald nachher durch eine tiefer eindringende Philo-
ſophie, die unfertige juriſtiſche Bildung der Carmer und Suarez durch
die Arbeiten der hiſtoriſchen Rechtswiſſenſchaft überwunden worden; und
gleichwohl blieb das Allgemeine Landrecht noch auf Jahrzehnte hinaus
der kräftige Boden, dem alle weiteren Reformen des preußiſchen Staates
entwuchſen. Der Glaube an die Herrſchaft des Geſetzes, die Vorbedingung
aller politiſchen Freiheit, ward eine lebendige Macht im Beamtenthum
wie im Volke. Wenn der Staat beſtand um des gemeinen Wohles
willen, ſo führte eine unaufhaltſame Nothwendigkeit, von der Friedrich
nichts ahnte, zu dem Verlangen: Aufhebung der Privilegien der höheren
Stände und Theilnahme der Nation an der Staatsleitung. Und dieſe
Schlüſſe mußten früher oder ſpäter gezogen werden, da ſchon jetzt in dem
vergrößerten Staatsgebiete nur eine geniale Manneskraft den ſchweren
Aufgaben, welche dies Königthum ſich ſtellte, genügen konnte.


Bei Weitem nicht in gleichem Maße hat Friedrich das geiſtige Leben
ſeines Volkes gefördert. Wohl wiſſen wir aus Goethes Bekenntniſſen, wie
das Heldenthum der ſieben Jahre befruchtend und befreiend auf die deutſche
Bildung wirkte, wie in jenen Jahren des Waffenruhmes zuerſt wieder
ein nationaler Gehalt, ein ſchwellendes Gefühl der Lebenskraft in die
ermattete Dichtung drang, wie die verarmte Sprache, die längſt ſchon
ſtammelnd nach dem Ausdruck mächtigen Gefühles ſuchte, jetzt endlich aus
der Plattheit und Leere ſich emporrang und das große Wort fand für
die große Empfindung: recht eigentlich unter dem Trommelſchlag des
preußiſchen Kriegslagers ward das erſte deutſche Luſtſpiel, Minna von
Barnhelm, geſchaffen. Preußens Volk nahm an dem wunderbaren Er-
wachen der Geiſter ſeinen reichen Antheil, ſchenkte der literariſchen Be-
wegung mehrere ihrer bahnbrechenden Talente, von Winkelmann bis
herab auf Hamann und Herder. Und ganz und gar von preußiſchem
[79]Kirche und Schule.
Geiſte erfüllt war jene neue reifere Form des deutſchen Proteſtantismus,
welche endlich aus den Gedankenkämpfen der gährenden Zeit ſiegreich
hervorging und ein Gemeingut des norddeutſchen Volkes wurde: die
Ethik Kants. Der kategoriſche Imperativ konnte nur auf dieſem Boden
der evangeliſchen Freiheit und der entſagenden pflichtgetreuen Arbeit er-
dacht werden. Wo vordem rauhe Befehle die ſchweigende Unterwerfung
erzwangen, da ſah ſich jetzt jedes freimüthige Urtheil herausgefordert durch
das Vorbild des Königs, der furchtlos auf die Kraft des forſchenden
Verſtandes baute und gern bekannte: wer zum Beſten räſonnirt, bringt
es am Weiteſten. Friedrich führte die altpreußiſche Politik der kirchlichen
Duldung in freiem Sinne fort, verkündete in ſeinem Geſetzbuche den
Grundſatz: „die Begriffe der Einwohner von Gott und göttlichen Dingen
können kein Gegenſtand von Zwangsgeſetzen ſein.“ Auch die Unionsbe-
ſtrebungen ſeiner Ahnen hat der Freigeiſt nicht aufgegeben, ſondern ſtreng
darauf gehalten, daß die beiden evangeliſchen Kirchen einander im Noth-
fall die Sacramentsgemeinſchaft nicht verſagten. Die oberſtbiſchöfliche
Gewalt, die er für ſeine Krone in Anſpruch nahm, ſicherte ihn gegen
ſtaatsfeindliche Umtriebe der Geiſtlichkeit, erlaubte ihm ſogar die vom
Papſte aufgehobene Geſellſchaft Jeſu in ſeinem Staate zu dulden. Er ge-
währte der Preſſe eine ſelten beſchränkte Freiheit, denn „Gazetten, wenn
ſie intereſſant ſein ſollen, dürfen nicht genirt werden“. Er erklärte alle
Schulen für „Veranſtaltungen des Staates“, ſprach gern und geiſtvoll
von der Pflicht des Staates, das junge Geſchlecht zu ſelbſtändigem Denken
und aufopfernder Vaterlandsliebe zu erziehen. Wie oft hat er den Glanz
der Gelehrſamkeit und Dichtung als den ſchönſten Schmuck der Kronen
geprieſen; auch darin zeigte er ſich als ein Deutſcher und ein Friedens-
fürſt, daß er den claſſiſchen Unterricht für den [Quell] aller höheren Bil-
dung anſah, nicht die exacten Wiſſenſchaften, wie der Soldat Napoleon.
Trotz Alledem hat der König für die Pflege der Volksbildung unmittelbar
nur wenig geleiſtet.


Die Knappheit der Geldmittel, der Mangel an brauchbaren Volksſchul-
lehrern und die unabläſſigen Kämpfe bald mit auswärtigen Feinden bald mit
der wirthſchaftlichen Noth daheim erſchwerten ihm die Ausführung ſeiner
Pläne; und ſchließlich brach auch bei dem Sohne der trockene Nützlich-
keitsſinn des Vaters immer wieder durch. Für alles Andere wußte der
Sparſame leichter Rath zu ſchaffen als für die Zwecke des Unterrichts.
Wenn die Deutſchen im Reiche ſpotteten, dies Preußen habe ſich groß
gehungert, ſo dachten ſie dabei zunächſt an die preußiſchen Gelehrten.
Für die Volksſchulen geſchah nur das Nothdürftige; die wiederholt einge-
ſchärfte Regel der allgemeinen Schulpflicht blieb für weite Striche des
platten Landes noch ein todter Buchſtabe. Keine der preußiſchen Uni-
verſitäten reichte an den Ruhm der neuen Georgia Auguſta heran. Erſt
gegen das Ende der fridericianiſchen Zeit, als Zedlitz, der Freund Kants,
[80]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
die Leitung der Bildungsanſtalten übernahm, kam ein etwas freierer Zug
in das Unterrichtsweſen. Damals verbeſſerte der treffliche Abt Felbiger
die katholiſche Volksſchule und fand draußen im Reich eifrige Anhänger,
alſo daß endlich auch das katholiſche Deutſchland des beſten Segens der
Reformation theilhaftig wurde.


Es ſchien ein Leichtes, in Berlin einen glänzenden Kreis der beſten
Köpfe Deutſchlands zu reicher Thätigkeit zu verſammeln. Jedes junge
Talent im Reiche ſuchte nach dem Auge des Helden der Nation. Selbſt
jener Winkelmann, der einſt in heißem Haſſe den Marken entflohen war,
empfand jetzt, mit wie ſtarken Banden dieſer Staat die Herzen ſeiner
Söhne feſthält. „Es läſſet ſich, ſo ſchrieb er, zum erſten male die Stimme
des Vaterlandes in mir hören, die mir vorher unbekannt war.“ Er
brannte vor Begier, dem Ariſtoteles der Kriegskunſt zu zeigen, daß ein
geborener Unterthan etwas Würdiges hervorbringen könne, unterhandelte
jahrelang über eine Anſtellung in Berlin. Aber an Friedrichs franzö-
ſiſcher Akademie war kein Platz für deutſche Denker. Die mediceiſchen
Tage, die man einſt von dem kunſtbegeiſterten Prinzen des Rheinsberger
Muſenhofes erhoffte, kamen nur für die ausländiſchen Schöngeiſter der
Tafelrunde von Sansſouci; das junge Leben, das in den tiefen ſeines
eigenen Volkes ſich unbändig regte, wollte und konnte der Zögling franzö-
ſiſcher Bildung nicht mehr verſtehen. Während die Berliner Geſellſchaft
an den Gedanken der neuen Literatur ſich bis zur Ueberbildung berauſchte,
ſpöttiſche Freigeiſterei und verfeinerte Genußſucht bereits die alte ſtrenge
Sitteneinfalt verdrängten, behielt die preußiſche Verwaltung auch jetzt
die einſeitige Richtung auf das handgreiflich Nützliche. Jener unausſteh-
lich ſteife, hausbacken proſaiſche Geiſt, den der alte Soldatenkönig ſeinem
Staate eingeflößt, wurde durch Friedrich etwas gemildert, nicht gebrochen;
nur die barocke Pracht des Neuen Palais und die mächtigen Kuppeln der
Gensdarmenkirchen ließen erkennen, daß mindeſtens der barbariſche Bil-
dungshaß der dreißiger Jahre allmählich zu entweichen begann.


Der preußiſche Staat vertrat noch immer nur die eine Seite unſeres
nationalen Lebens; die Zartheit und die Sehnſucht, der Tiefſinn und die
Schwärmerei des deutſchen Weſens gelangten in dieſer Welt der Nüchtern-
heit nicht zu ihrem Rechte. Der Mittelpunkt der deutſchen Politik wurde
nicht die Heimath der geiſtigen Arbeit der Nation; das claſſiſche Zeitalter
unſerer Dichtung fand ſeine Bühne in den Kleinſtaaten. In dieſer
folgenſchweren Thatſache liegt der Schlüſſel zu manchem Räthſel der neuen
deutſchen Geſchichte. Der kühl ablehnenden Haltung König Friedrichs
dankt unſere Literatur das Köſtlichſte was ſie beſitzt, ihre unvergleichliche
Freiheit; aber dieſe Gleichgiltigkeit der Krone Preußen während der Tage,
welche den Charakter der modernen deutſchen Bildung beſtimmten, hat
auch verſchuldet, daß es den Helden des deutſchen Gedankens noch lange
ſchwer fiel, den einzigen lebenskräftigen Staat unſeres Volkes zu verſtehen.
[81]Friedrichs franzöſiſche Bildung.
Nach Friedrichs Tode vergingen noch zwei volle Jahrzehnte bis Preußen
den geiſtigen Mächten des neuen Deutſchlands eine gaſtliche Stätte be-
reitete; und dann ſind nochmals lange Jahrzehnte verfloſſen, bis die
deutſche Wiſſenſchaft erkannte, daß ſie eines Blutes ſei mit dem preußiſchen
Staate, daß die ſtaatenbildende Kraft unſeres Volkes in demſelben ſtarken
Idealismus wurzelte, der deutſchen Forſchermuth und Künſtlerfleiß zu
kühnem Wagen begeiſterte.


Friedrichs Kaltſinn gegen die deutſche Bildung iſt wohl die traurigſte,
die unnatürlichſte Erſcheinung in der langen Leidensgeſchichte des neuen
Deutſchlands. Der erſte Mann der Nation, der den Deutſchen wieder
den Muth erweckt hatte an ſich ſelber zu glauben, ſtand den ſchönſten
und eigenſten Werken ſeines Volkes wie ein Fremdling gegenüber; an-
ſchaulicher, erſchütternder läßt ſich’s nicht ausſprechen, wie ſchwer und
langſam dies Volk die arge Erbſchaft der dreißig Jahre, die Uebermacht
unheimiſcher Gewalten, wieder abgeworfen hat. Friedrich war nicht, wie
Heinrich IV. von Frankreich, ein getreuer Vertreter der nationalen Art
und Unart, dem Volksgemüthe verſtändlich in jeder Wallung ſeiner Laune.
In ſeiner Seele ſtritten zwei Naturen: der philoſophiſche Schöngeiſt, der
in den Klängen der Muſik, in dem Wohllaut franzöſiſcher Verſe ſchwelgte,
der den Dichterruhm für das höchſte Glück der Erde hielt, der ſeinem
Voltaire in ehrlicher Bewunderung zurief: „Mir ſchenkte das Geſchick des
Ranges leeren Schein, dir jegliches Talent; das beßre Theil iſt dein“ —
und der kernhafte norddeutſche Mann, der ſeine brandenburgiſchen Kerls
mit grobem märkiſchen Jod anwetterte, dem harten Volke ein Vorbild
kriegeriſchen Muthes, raſtloſer Arbeit, eiſerner Strenge. Die franzöſiſche
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts krankt an einer tiefen Unwahr-
heit, ſie beſitzt weder die Luſt noch die Kraft, das Leben in Einklang
zu bringen mit der Idee: man ſchwärmt für die heilige Einfalt der
Natur und gefällt ſich doch unſäglich in den unnatürlichſten Sitten und
Trachten, welche jemals die europäiſche Welt beherrſchten; man ſpottet
über den albernen Zufall der Geburt, träumt von der urſprünglichen
Freiheit und Gleichheit und lebt doch luſtig drauf los in der frechen
Menſchenverachtung und allen den ſüßen Sünden der alten höfiſchen
Geſellſchaft, befriedigt mit der Hoffnung, daß irgend einmal in einer
fernen Zukunft über den Trümmern alles Beſtehenden die Vernunft ihren
Herrſcherthron aufſchlagen werde. Am preußiſchen Hofe war der geiſt-
reich boshafte Prinz Heinrich ein getreuer Vertreter dieſer neuen Bildung:
theoretiſch ein Verächter jenes leeren Rauches, der beim Pöbel Ruhm
und Größe heißt, praktiſch ein Mann der harten Staatsräſon, ſkrupellos,
aller Liſten und Ränke kundig. Auch Friedrich hat in ſeiner Weiſe
dies Doppelleben der Männer der franzöſiſchen Aufklärung geführt. Ihm
ward das tragiſche Schickſal, in zwei Sprachen zu denken und zu reden,
von denen er keine ganz beherrſchte. Das rohe Kauderwälſch, das
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 6
[82]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
in dem Tabakscollegium ſeines Vaters gepoltert wurde, erſchien dem
ſchönheitstrunkenen Jüngling ebenſo widerwärtig wie das ſchwerfällige
Schriftdeutſch der gelahrten Pedanterei, das er aus den Werken hart-
gläubiger Theologen kennen lernte; wohl oder übel behalf er ſich mit
dieſer ungeſchlachten Sprache, erledigte die laufenden Geſchäfte bald im
rauhen Dialekt, bald im ſteifen Kanzleiſtile. Für die Welt der Ideen,
die in ſeinem Kopfe gährte, fand er den würdigen Ausdruck allein in der
Sprache der weltbürgerlichen Bildung. Er wußte wohl, daß ſeine bizarre
und tudeske Muſe ein barbariſches Franzöſiſch rede, und ſchlug im Be-
wußtſein dieſer Schwäche den Kunſtwerth ſeiner Verſe noch niedriger an
als ſie es verdienten. Das Eine mindeſtens was den Dichter macht,
die proteiſche Begabung, war ihm keineswegs verſagt. Seine Muſe
gebot über die ganze Tonleiter der Stimmungen; ſie konnte bald in wür-
digem Ernſt das Große und Erhabene ausſprechen, bald in ſatiriſcher
Laune mit der Bosheit eines Kobolds — oder, die Wahrheit zu ſagen:
mit dem Muthwillen eines Berliner Gaſſenjungen — ihre Opfer necken
und zauſen. Und doch ſagte ihm ein richtiges Gefühl, daß in ſeinen
Verſen der Reichthum ſeiner Seele nicht ſo voll und rein ausſtrömte
wie in den Klängen ſeiner Flöte; die höchſte Fülle des Wohllauts, die
letzte Tiefe der Empfindung blieb dem Deutſchen unerreichbar in der
fremden Sprache.


Der Philoſoph von Sansſouci wurde nie ganz heimiſch in der frem-
den Bildung, die er ſo lebhaft bewunderte. Vor Allem trennte ihn von
den franzöſiſchen Genoſſen die Strenge ſeiner ſittlichen Weltanſchauung.
Es iſt die Größe des Proteſtantismus, daß er die Einheit des Denkens
und des Wollens, des religiöſen und des ſittlichen Lebens gebieteriſch
fordert. Friedrichs ſittliche Bildung wurzelte zu tief im deutſchen pro-
teſtantiſchen Leben, als daß er die geheime Schwäche der franzöſiſchen
Philoſophie nicht empfunden hätte. Er ſtand der Kirche mit freierem
Gemüthe gegenüber als der Katholik Voltaire, der in ſeiner Henriade,
dem Evangelium der neuen Toleranz, endlich doch zu dem Schluſſe ge-
langte, daß alle anſtändigen Menſchen der römiſchen Kirche angehören
ſollen; er hat niemals wie dieſer ſeinen Nacken gebeugt unter religiöſe
Formen, die ſein Gewiſſen verwarf, und konnte mit der gelaſſenen
Heiterkeit des geborenen Ketzers ertragen, daß die römiſche Curie ſeine
Werke auf den Index der verbotenen Bücher ſetzte. Mag er die Philo-
ſophie zuweilen herablaſſend als ſeine Paſſion bezeichnen, das Nachdenken
über die großen Probleme des Daſeins iſt ihm doch weit mehr als ein geiſt-
reicher Zeitvertreib; nach der Weiſe der Alten ſucht und findet er in der
Gedankenarbeit die Ruhe des mit ſich ſelber einigen Geiſtes, die über allen
Wechſelfällen des Geſchicks erhabene Sicherheit der Seele. Nach den
Verirrungen leidenſchaftlicher Jugend lernt er früh, den Zug künſtleriſcher
Weichheit und Sinnlichkeit, der ihn zu beſchaulichem Genuſſe treibt,
[83]Der Philoſoph von Sansſouci.
gewaltſam zu bändigen. So kühn und frech der Zweifel und der Spott
in ſeinem Kopfe ſich regen, die ſittliche Weltordnung, der Gedanke der
Pflicht ſteht ihm unantaſtbar feſt. Die furchtbare Ernſthaftigkeit ſeines
ganz der Pflicht geweihten Lebens iſt wie durch eines Himmels Weite
getrennt von der lockeren und weichlichen Moral der Pariſer Aufklärung.
Wie ſeine Schriften — in jenem klaren und ſcharfen Stile, der zu-
weilen trivial, doch nie verſchwommen wird — immer mit unaufhalt-
ſamer Willenskraft auf einen ſicheren, beſtimmten, greifbaren Schluß los-
drängen, ſo will er auch das Leben nach der erkannten Wahrheit geſtalten;
ſoweit es der Widerſtand einer barbariſchen Welt erlaubt, ſucht er der
Humanität, die er die Cardinaltugend jedes denkenden Weſens nennt,
die Herrſchaft in Staat und Geſellſchaft zu ſichern und geht dem Tode
entgegen mit dem ruhigen Bewußtſein „die Welt überhäuft mit meinen
Wohlthaten zurückzulaſſen“.


Gleichwohl gelingt ihm niemals den Zwieſpalt ſeiner Seele völlig zu
überwinden. Der innere Widerſpruch verräth ſich ſchon in Friedrichs beißen-
dem Witze, er tritt darum ſo grell heraus, weil der Held in ſeiner ſtolzen
Wahrhaftigkeit nie daran denkt ihn zu verſtecken. Das Leben des Genius
iſt immer geheimnißvoll, ſelten erſcheint es ſo ſchwer verſtändlich wie in dem
Reichthum dieſes zwiegetheilten Geiſtes. Der König ſieht mit überlegener
Ironie auf die plumpe Unwiſſenheit ſeiner märkiſchen Edelleute herunter,
er athmet auf, wenn er von der Langeweile dieſer geiſtloſen Geſellſchaft
ſich erholen kann bei dem einzigen Manne, zu dem er bewundernd empor-
ſchaut, dem Meiſter der galliſchen Muſenſprache; dabei fühlt er doch, was
er der guten Klinge jenes rauhen Geſchlechtes verdankt, er findet nicht
Worte genug, den Muth, die Treue, den ehrenhaften Sinn ſeines Adels zu
preiſen, er zügelt ſeinen Spott vor dem handfeſten Bibelglauben des alten
Zieten. Die Franzoſen ſind ihm willkommene Gäſte für die heiteren
Stunden des Nachtiſches; ſeine Achtung gehört den Deutſchen. Niemand
von den ausländiſchen Genoſſen iſt dem Herzen Friedrichs ſo nahe ge-
treten wie jener „Seelenmenſch“ Winterfeldt, der ſeine deutſche Art auch
gegen den königlichen Freund tapfer behauptete. Oftmals ſehnt ſich
Friedrich in ſeinen Briefen hinüber nach dem neuen Athen an der Seine
und beklagt den Neid mißgünſtiger Götter, der den Sohn der Muſen
verdammt hat im kimmeriſchen Winterlande über Sklaven zu herrſchen;
und dennoch theilt er unverdroſſen wie ſein Vater die Sorgen und Mühen
dieſes armen Volkes, von Herzen froh des neuen Lebens, das unter den
harten Fäuſten ſeiner Bauern aufſprießt, und ruft ſtolz: „Ich ziehe unſere
Einfachheit, ſelbſt unſere Armuth jenen verdammten Reichthümern vor,
welche die Würde unſeres Geſchlechts verderben.“ Wehe den fremden
Poeten, wenn ſie ſich unterſtehen dem Könige einen politiſchen Rathſchlag
zu geben; hart und höhniſch weiſt er ſie dann in die Schranken ihrer
Kunſt zurück.


6*
[84]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.

Wie lebhaft ihn auch die Ideen des neuen Frankreichs beſchäftigen, ein
großer Schriftſteller iſt er nur wenn er deutſche Gedanken mit franzöſi-
ſchen Worten ausſpricht, wenn er in ſeinen politiſchen, militäriſchen
und hiſtoriſchen Schriften als ein deutſcher Fürſt und Feldherr redet.
Nicht in der Schule der Fremden, ſondern durch eigene Kraft und eine
unvergleichliche Erfahrung wurde Friedrich der erſte Publiciſt unſeres
achtzehnten Jahrhunderts, der einzige Deutſche, der mit ſchöpferiſcher
Kritik an den Staat herantrat und in großem Stile von den Pflichten
des Bürgers ſprach: ſo warm und tief wie der Verfaſſer der Briefe des
Philopatros wußte noch Niemand aus jenem ſtaatloſen Geſchlechte über
die Vaterlandsliebe zu reden. Der greiſe König hielt es nicht mehr
der Mühe werth, von der Höhe ſeines franzöſiſchen Parnaſſes hinabzu-
ſteigen in die Niederungen deutſcher Kunſt und mit eigenen Augen zu
prüfen, ob die Dichterkraft ſeines Volkes nicht endlich erwacht ſei. In
dem Aufſatze über die deutſche Literatur, ſechs Jahre vor ſeinem Tode,
wiederholt er noch die alten Anklagen der regelrechten Pariſer Kritik
wider die zuchtloſe Verwilderung der deutſchen Sprache, fertigt die ab-
ſcheulichen Plattheiten des Götz von Berlichingen, den er ſchwerlich je
geleſen, mit ſchnöden Worten ab. Und doch giebt gerade dieſe berüchtigte
Abhandlung ein beredtes Zeugniß von dem leidenſchaftlichen Nationalſtolze
des Helden. Er weiſſagt der Zukunft Deutſchlands eine Zeit geiſtigen
Ruhmes, die den Ahnungsloſen ſchon mit ihrem Morgenſcheine beſtrahlte.
Wie Moſes ſieht er das gelobte Land in der Ferne liegen und ſchließt
hoffnungsvoll: „Vielleicht werden die zuletzt kommen alle ihre Vorgänger
übertreffen!“ So nah und ſo fern, ſo fremd und ſo vertraut ſtand
Deutſchlands großer König zu ſeinem Volke.


Die große Zeit der alten Monarchie ging zur Rüſte. Um den König
ward es ſtill und ſtiller; die Helden, die ſeine Schlachten geſchlagen, die
Freunde, die mit ihm gelacht und geſchwärmt, ſanken Einer nach dem
Andern ins Grab; der Fluch der Größe, die Einſamkeit kam über ihn.
Er war gewohnt kein menſchliches Gefühl zu ſchonen; waren ihm doch
ſelber einſt alle wonnigen Träume der Jugend durch den unbarmherzigen
Vater zertreten worden. Im Alter ward die rückſichtsloſe Strenge zur
unerbittlichen Härte. Der ernſte Greis, der in ſpärlichen Mußeſtunden
einſam mit ſeinen Windſpielen an den Gemälden der Galerie von Sans-
ſouci entlang ſchritt oder im runden Tempel des Parkes ſchwermüthig
der verſtorbenen Schweſter gedachte, ſah tief unter ſeinen Füßen ein neues
Geſchlecht kleiner Menſchenkinder dahin ziehen; ſie ſollten ihn fürchten und
ihm gehorchen, an ihrer Liebe lag ihm nichts. Die Uebermacht des einen
Mannes laſtete drückend auf den Gemüthern. Wenn er zuweilen noch
in das Opernhaus kam, dann ſchienen Oper und Sänger vor den Zu-
ſchauern zu verſinken, Alles blickte hinüber nach der Stelle im Parterre,
wo der verfallene Alte mit den großen harten Augen ſaß. Als die Nach-
[85]Friedrichs Tod.
richt ſeines Todes kam, rief ein ſchwäbiſches Bäuerlein, unzähligen
Deutſchen aus der Seele: wer ſoll nun die Welt regieren? Bis zu ſeinem
letzten Athemzuge ſtrömte alle Willenskraft der preußiſchen Monarchie
von dieſem einen Manne aus; der Tag ſeines Todes war der erſte
Raſttag ſeines Lebens. Sein Teſtament erzählte der Nation noch einmal,
wie anders als die Hauspolitik der kleinen Höfe das politiſche Königthum
der Hohenzollern ſeinen Beruf verſtanden hatte: „Meine letzten Wünſche
im Augenblicke meines Todes werden dem Glücke dieſes Staates gelten;
möge er der glücklichſte der Staaten ſein durch die Milde ſeiner Geſetze,
der am gerechteſten verwaltete in ſeinem Haushalt, der am tapferſten
vertheidigte durch ein Heer, das nur Ehre und edlen Ruhm athmet, und
möge er blühend dauern bis an das Ende der Zeiten!“


Anderthalb Jahrhunderte waren vergangen, ſeit jener Friedrich Wilhelm
unter den Trümmern des alten Reichs die erſten Werkſtücke zuſammenſuchte
für das Gebäude der neuen Großmacht. Hunderttauſende preußiſcher
Männer hatten den Heldentod gefunden, eine ungeheure Arbeit war aufge-
wendet um das neue deutſche Königthum zu ſichern, und mindeſtens ein
reicher Segen dieſer furchtbaren Kämpfe ward im Reiche lebhaft empfunden:
die Nation fühlte ſich wieder daheim, als Herrin auf eigenem Boden. Ein
lang entbehrtes Bewußtſein der Sicherheit verſchönte den Deutſchen im
Reiche das Leben; ihnen war, als ſei dies Preußen von der Natur be-
ſtimmt die Friedenswerke der Nation gegen alle fremden Störer mit
ſeinem Schilde zu decken; ohne dies kräftige Gefühl bürgerlichen Behagens
hätte unſere deutſche Dichtung den frohen Muth zu großem Schaffen nicht
gefunden. Die öffentliche Meinung begann ſich nach und nach mit dem
Staate zu verſöhnen, der wider ihren Willen emporgewachſen war; man
nahm ihn hin als eine Nothwendigkeit des deutſchen Lebens, ohne viel
um ſeine Zukunft zu ſorgen. Die ſchwere Frage: wie eine ſo verwegene
Staatsbildung ohne die belebende Kraft des Genie’s ſich behaupten ſolle?
ward in vollem Ernſt nur von einem Zeitgenoſſen aufgeworfen, von
Mirabeau. Die alte und die neue Zeit begrüßten einander noch einmal
freundlich, als der Tribun der nahenden Revolution kurz vor dem Tode des
Königs am Tiſche von Sansſouci weilte. Mit der glühenden Farbenpracht
ſeiner Rhetorik hat Mirabeau dann den größten Menſchen, der ſeinen
Blicken begegnet war, geſchildert; er nannte den Staat Friedrichs ein
wahrhaft ſchönes Kunſtwerk, den einzigen Staat der Gegenwart, der
einen geiſtreichen Kopf ernſtlich beſchäftigen könne, doch ihm entging nicht,
daß dieſer kühne Bau leider auf allzuſchwachem Grunde ruhe. Von
den Preußen jener Tage wurden ſolche Zweifel nicht verſtanden; die
Glorie der fridericianiſchen Zeit erſchien ſo wunderbar, daß ſelbſt dies
tadelſüchtigſte aller europäiſchen Völker davon geblendet wurde. Für die
nächſte Generation ward der Ruhm Friedrichs zum Verderben; man
lebte dahin in trügeriſcher Sicherheit und vergaß, daß nur neue ſchwere
[86]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Arbeit das Werk unſäglicher Mühen aufrechthalten konnte. Als aber
die Tage der Schande und der Prüfung kamen, da hat Preußen wieder
die langnachwirkende ſegenſpendende Macht des Genius erfahren; die
Erinnerung an Roßbach und Leuthen war die letzte ſittliche Kraft, welche
das lecke Schiff der deutſchen Monarchie noch über dem Waſſer hielt; und
als der Staat dann nochmals die Waffen zum Verzweiflungskampfe hob,
da ſah ein ſüddeutſcher Dichter die Geſtalt des großen Königs aus den
Wolken niederſteigen und dem Volke zurufen: „Auf, meine Preußen, unter
meine Fahnen! und ihr ſollt größer ſein als eure Ahnen!“ —


Unterdeſſen hatte das deutſche Volk mit einer jugendlichen Schnell-
kraft, die in der langſamen Geſchichte alter Völker einzig daſteht, eine
Revolution ſeines geiſtigen Lebens vollendet: kaum vier Menſchenalter
nach der troſtloſen Barbarei des dreißigjährigen Kriegs erſchienen die
ſchönſten Tage deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft. Aus den ſtarken Wurzeln
der Glaubensfreiheit erwuchs eine neue weltlich freie Bildung, die den
verknöcherten Formen der deutſchen Geſellſchaft ebenſo feindlich gegenüber-
ſtand wie der preußiſche Staat dem heiligen römiſchen Reiche. Bei allen
anderen Völkern war die claſſiſche Literatur ein Kind der Macht und
des Reichthums, die reife Frucht einer alten durchgebildeten nationalen
Cultur; Deutſchlands claſſiſche Dichtung hat ihr Volk erſt wieder einge-
führt in den Kreis der Culturvölker, ihm erſt die Bahn gebrochen zu
reinerer Geſittung. Niemals in aller Geſchichte hat eine mächtige Literatur
ſo gänzlich jeder Gunſt der äußeren Lebensverhältniſſe entbehrt. Hier
beſtand kein Hof, der die Kunſt als eine Zierde ſeiner Krone hegte, kein
großſtädtiſches Publikum, das den Dichter zugleich ermuthigen und in
den Schranken einer überlieferten Kunſtform halten konnte, kein ſchwung-
hafter Handel und Gewerbfleiß, der dem Naturforſcher fruchtbare Auf-
gaben ſtellte, kein freies Staatsleben, das dem Hiſtoriker die Schule der
Erfahrung bot; ſelbſt die große Empfindung, die aus großen Erlebniſſen
ſtammt, kam den Deutſchen erſt durch Friedrichs Thaten. Recht eigentlich
aus dem Herzen dieſer Nation des Idealismus ward ihre neue Dichtung
geboren, wie einſt die Reformation aus dem guten deutſchen Gewiſſen
hervorging. Die Mittelklaſſen lebten dahin, faſt gänzlich ausgeſchloſſen von
der Leitung des Staates, eingepfercht in die Langeweile, den Zwang und
die Armuth kleinſtädtiſchen Treibens, und doch in ſo leidlich geſicherten
wirthſchaftlichen Verhältniſſen, daß der Kampf um das Leben noch nicht
das Leben ſelber dahinnahm und die wilde Jagd nach Erwerb und Genuß
dem befriedeten Daſein noch völlig fremd blieb. Unter dieſen unbegreiflich
genügſamen Menſchen erwacht nun die leidenſchaftliche Sehnſucht nach
dem Wahren und dem Schönen. Ihre guten Köpfe fühlen ſich als freie
[87]Die neue Literatur.
Kinder Gottes und flüchten aus der jämmerlichen Wirklichkeit in die reine
Welt der Ideale. Große Talente geben den Ton an, hundert begeiſterte
Stimmen fallen ein in vollem Chore. Ein Jeder redet wie es ihm um’s
Herz iſt, und befolgt getroſten Muthes die frohe Botſchaft des jungen
Goethe: „denn es iſt Drang, und ſo iſt’s Pflicht!“ und ſetzt ſeine volle
Kraft ein, als ob das Schaffen des Denkers und des Dichters allein auf
der weiten Welt des freien Mannes würdig wäre, und lebt ſich fröhlich
aus, wenig bekümmert um den Lohn der Arbeit, ganz verloren im Dichten,
Schauen und Forſchen, beglückt durch den überſtrömenden Beifall warm-
herziger Freude, glücklicher noch durch das Bewußtſein das Göttliche
geſchaut zu haben.


So haben ſeit dem Jahre 1750 etwa drei Generationen deutſcher
Männer, neben und nach einander wirkend und oft in leidenſchaft-
lichem Kampfe mit einander ringend, die jüngſte der großen Litera-
turen Europas geſchaffen, die, ſelber vom Auslande lange kaum be-
merkt, unendlich empfänglich den dauernden Gehalt der claſſiſchen
Dichtung Englands und Frankreichs, Spaniens und Italiens in ſich zu-
ſammenfaßte und ſchöpferiſch neu geſtaltete um ſchließlich in dem viel-
ſeitigſten aller Dichter, in Goethe, ihre Vollendung zu finden. Es war
eine Bewegung ſo völlig frei, ſo ganz aus dem innerſten Drange des
übervollen Herzens heraus, daß ſie zuletzt bei dem verwegenen Idealis-
mus Fichtes anlangen mußte, der den ſittlichen Willen als das einzig
Wirkliche, die geſammte Außenwelt nur als eine Schöpfung des denkenden
Ich anſah; und doch ein nothwendiges natürliches Werden. Die ſchöpfe-
riſche Kraft des deutſchen Geiſtes hatte lange gleich einer Puppe ſchlummernd
in zarter Schale gelegen, und ihr geſchah, wie der Dichter ſagte: „Es
kommt die Zeit, ſie drängt ſich ſelber los, und eilt auf Fittichen der Roſe
in den Schooß.“ Ein lauterer Ehrgeiz, der das Wahre ſuchte um der
Wahrheit, das Schöne um der Schönheit willen, ward in den hellen
Köpfen der deutſchen Jugend lebendig. Keine der modernen Nationen
hat jemals ſo in vollem Ernſt, mit ſo ungetheilter Hingebung in die
Welt der Ideen ſich verſenkt, keine zählt unter den Talenten ihrer claſſiſchen
Literatur ſo viele reine, menſchlich liebenswerthe Charaktere; darum wird
das Gedächtniß der Tage von Weimar unſerem Volke in allen Zeiten,
da ſein Geſtirn ſich zu verdunkeln ſcheint, ein unerſchöpflicher Quell des
Troſtes und der Hoffnung bleiben. Die Kunſt und Wiſſenſchaft ward
den Deutſchen zur Herzensſache, ſie iſt hier niemals, wie einſt bei den
Romanen, ein elegantes Spiel, ein Zeitvertreib für die müßigen Stunden
der vornehmen Welt geworden. Nicht die Höfe erzogen unſere Literatur,
ſondern die aus dem freien Schaffen der Nation entſtandene neue Bildung
unterwarf ſich die Höfe, befreite ſie von der Unnatur ausländiſcher Sitten,
gewann ſie nach und nach für eine mildere, menſchlichere Geſittung.


Und dieſe neue Bildung war deutſch von Grund aus. Während das
[88]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
politiſche Leben in unzählige Ströme zertheilt dahinfloß, waltete auf dem
Gebiete der geiſtigen Arbeit die Naturgewalt der nationalen Einheit ſo über-
mächtig, daß eine landſchaftliche Sonderbildung niemals auch nur ver-
ſucht wurde. Alle Helden unſerer claſſiſchen Literatur, mit der einzigen
Ausnahme Kants, ſind gewandert und haben ihre reichſte Wirkſamkeit
nicht auf dem Boden ihrer Heimath gefunden. In ihnen allen lebte das
Bewußtſein der Einheit und Urſprünglichkeit des deutſchen Weſens und
das leidenſchaftliche Verlangen, die Eigenart dieſes Volksthums wieder in
der Welt zu Ehren zu bringen; ſie alle wußten, daß das ganze große
Deutſchland ihren Worten lauſchte, und empfanden es als ein ſtolzes
Vorrecht, daß allein der Dichter und der Denker zu der Nation reden, für
ſie ſchaffen durfte. Alſo wurde die neue Dichtung und Wiſſenſchaft auf
lange Jahrzehnte hinaus das mächtigſte Band der Einheit für dies zer-
ſplitterte Volk, und ſie entſchied zugleich den Sieg des Proteſtantismus
im deutſchen Leben. Die geiſtige Bewegung hatte ihre Heimath im evan-
geliſchen Deutſchland, riß erſt nach und nach die katholiſchen Gebiete des
Reichs mit in ihre Bahnen hinein. Aus der Gedankenarbeit der Philo-
ſophen ging eine neue ſittliche Weltanſchauung, die Lehre der Humanität,
hervor, die, aller confeſſionellen Härte baar, gleichwohl feſt im Boden
des Proteſtantismus wurzelte und ſchließlich allen denkenden Deutſchen,
den Katholiken wie den Proteſtanten, ein Gemeingut wurde; wer ſie nicht
kannte, lebte nicht mehr mit dem neuen Deutſchland.


Jene mittleren Schichten der Geſellſchaft aber, welche die neue Bildung
trugen, rückten dermaßen in den Vordergrund des nationalen Lebens, daß
Deutſchland vor allen anderen Völkern ein Land des Mittelſtandes wurde;
ihr ſittliches Urtheil und ihr Kunſtgeſchmack beſtimmten die öffentliche Mei-
nung. Der claſſiſche Unterricht, vordem nur ein Mittel für die Fachbildung
der Juriſten und Theologen, wurde die Grundlage der geſammten Volks-
bildung; aus den zerfallenden alten Ständen erhob ſich die neue Ariſto-
kratie der ſtudirten Leute, die an hundert Jahre lang der führende Stand
unſeres Volkes geblieben iſt. Nach allen Seiten hin wirkte die litera-
riſche Bewegung erweckend und befruchtend: ſie veredelte die rohen Sitten,
gab der Frau das gute Recht der Herrin im geſelligen Verkehre zurück;
ſie ſchenkte einem gedrückten und verſchüchterten Geſchlechte wieder die
helle Luſt am Leben. Sie ſchuf, indem ſie die Schriftſprache Martin
Luthers ausbaute, eine gemeinſame Umgangsſprache für alle deutſchen
Stämme; erſt im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts begannen
die gebildeten Klaſſen das reine Hochdeutſch auch im täglichen Leben in
Ehren zu halten. Unberührt von dem Lärm und der Haſt der großen
Welt konnte ſich die deutſche Dichtung wunderbar lange den unſchuldigen
Frohmuth, die geſammelte Andacht und die friſche Werdeluſt der Jugend
bewahren; das war es, was Frau von Staël noch in den Glanztagen
der Weimariſchen Kunſt ſo mächtig bezauberte, ſie meinte an der Ilm
[89]Charakter der neuen Bildung.
inmitten der Höchſtgebildeten des deutſchen Volkes die reine Waldluft
eines urſprünglichen Menſchenlebens zu trinken und athmete wieder auf
von dem Dunſt und dem Staube ihrer heimiſchen Weltſtadt. Und wie
es das Recht des Jünglings iſt Unendliches zu verſprechen, nach allen
Kränzen des Ruhmes zugleich die Hände auszuſtrecken, ſo zeigte auch die
deutſche Nation in jenem zweiten Jugendalter ihrer Dichtung ein wunder-
bar vielſeitiges Streben, ſie war unermüdlich im Aufwerfen neuer Pro-
bleme, im Erfinden neuer Kunſtformen, verſuchte ihre Kraft an allen
Wiſſenſchaften zugleich, mit einziger Ausnahme der Politik.


Freilich waren mit dieſer eigenthümlichen Entſtehung unſerer neuen
Literatur auch ihre Schwächen gegeben. Da der Dichter hier nicht unmittel-
bar aus den großen Leidenſchaften eines bewegten öffentlichen Lebens ſeine
Stoffe ſchöpfen konnte, ſo gewann die Kritik ein Uebergewicht, das der
unbefangenen künſtleriſchen Schöpferkraft oft gefährlich wurde; die meiſten
dramatiſchen Helden unſerer claſſiſchen Kunſt zeigen einen kränklichen Zug
der Entſagung, der Thatenſcheu. Die regelloſe Freiheit des Schaffens ver-
führte die Poeten leicht zu willkürlichen Einfällen, zu geſuchter Künſtelei,
zu vielverheißenden Anläufen, die keinen Fortgang fanden, und es iſt
kein Zufall, daß der erſte unſerer Dichter unter allen großen Künſtlern der
Geſchichte die meiſten Fragmente hinterlaſſen hat. Die eigenartige Bega-
bung durfte ſich noch ungeſtört ausleben in urſprünglicher Kraft, ward noch
nicht durch das politiſche Parteileben über einen Kamm geſchoren; ſtürmiſch
war die Liebe, zärtlich die Freundſchaft, überſchwänglich der Ausdruck jeder
Empfindung; eine beneidenswerth gedankenreiche Geſelligkeit erzog einzelne
Männer von allſeitiger Bildung, wie ſie ſeit den Tagen des Cinquecento
der europäiſchen Welt nicht wieder erſchienen waren. Doch mit der Eigenart
entfaltete ſich auch die Unart der freien Perſönlichkeit in der Stille dieſes
rein privaten Lebens. „Lieben, haſſen, fürchten, zittern, hoffen, zagen bis
ins Mark“ — ſo hieß das Loſungswort der neuen Stürmer und Dränger;
ein unbändiges Selbſtgefühl, ein himmelſtürmender Trotz ward in dem
jungen Geſchlechte rege, wunderlich abſtechend von der Unfreiheit der
öffentlichen Zuſtände. Unberechenbare Launen, perſönlicher Haß und per-
ſönliche Neigung traten anmaßend auf den Markt hinaus; viele Werke
jener Epoche ſind ſchon heute nur dem verſtändlich, der die Briefe und Tage-
bücher ihrer Dichter kennt.


Eine Literatur von ſolchem Urſprung und Charakter konnte nicht im
vollen Sinne volksthümlich werden, konnte nur langſam und mittelbar auf
die Maſſen wirken. Während die Gebildeten an den reinen Formen der
Antike ſich begeiſterten, blieb das Schönheitsgefühl der Volksmaſſen, obgleich
ſie beſſere Schulbildung genoſſen als ihre romaniſchen Nachbarn, weit ſtum-
pfer als in Frankreich und Italien. Eine leidliche Durchbildung des Formen-
ſinnes iſt dieſem nordiſchen Volke nur einmal beſchieden geweſen: in den
Tagen der Staufer, da die Pfalzen und Dome des ſpätromaniſchen Stils
[90]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
ſich erhoben und die herrlichen Lieder unſerer älteren claſſiſchen Dichtung
in jedem Dorfe am Rhein und Main von den Bauern und Mägden
verſtanden wurden. Seitdem iſt noch auf jeder Entwicklungsſtufe der
deutſchen Cultur ein häßlicher Bodenſatz ungebrochener Barbarei an den
Tag getreten. Als die prächtige Renaiſſance-Façade des Otto-Heinrichs-
baus zu Heidelberg entſtand, lag die deutſche Dichtkunſt tief darnieder,
und das edle Bauwerk ward durch klägliche Knittelverſe verunziert. Und
wieder, als die frohe Zeit unſerer zweiten claſſiſchen Dichtung anhob,
wurden die bildenden Künſte, die nur in der weichen Luft behäbigen
Wohlſtands gedeihen, von dem friſchen Hauche der neuen Zeit kaum be-
rührt, und Goethe verſchwendete die Pracht ſeiner Verſe an lächerliche
Bauten, wie jenes römiſche Haus zu Weimar, das mit ſeinen antiki-
ſirenden Formen dem Volke fremd bleibt, den gebildeten Sinn durch
kahle Nüchternheit beleidigt. Wohl iſt es ein rührender Anblick, dies
Heroengeſchlecht des Idealismus, das inmitten der ſchmuckloſen Arm-
ſeligkeit kleinfürſtlicher Reſidenzdörfer um die höchſten Güter der Menſch-
heit warb: unnatürlich weit blieb doch der Abſtand zwiſchen dem Reichthum
der Ideen und der Armuth des Lebens, zwiſchen den verwegenen Ge-
dankenflügen der Gebildeten und dem grundproſaiſchen Treiben der hart
arbeitenden Maſſen. Der Adel einer harmoniſch durchgebildeten Geſittung,
wie ſie die Italiener in den Tagen Leonardos beglückte, blieb den
Deutſchen noch immer verſagt.


Aber wie ſie nun war mit allen ihren Mängeln und Gebrechen, dieſe
literariſche Revolution hat den Charakter der neuen deutſchen Cultur
beſtimmt. Sie erhob dies Land wieder zum Kernlande der Ketzerei, indem
ſie den Grundgedanken der Reformation bis zu dem Rechte der voraus-
ſetzungslos freien Forſchung weiterbildete. Sie erweckte mit den Idealen
reiner Menſchenbildung auch den vaterländiſchen Stolz in unſerem Volke;
denn wie unreif auch die politiſche Bildung der Zeit erſcheint, wie ver-
ſchwommen ihre weltbürgerlichen Träume, in allen ihren Führern lebte
doch der edle Ehrgeiz, der Welt zu zeigen, daß, wie Herder ſagt, „der
deutſche Name in ſich ſelbſt ſtark, feſt und groß ſei“. Nicht im Kampfe
mit den Ideen der Humanität, ſondern recht eigentlich auf ihrem Boden
iſt die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungskriege erwachſen. Als
grauſame Schickſalsſchläge den in den Wolken fliegenden deutſchen Genius
wieder an die endlichen Bedingungen des Daſeins erinnert hatten, da
gelangte die Nation durch einen nothwendigen letzten Schritt zu der Er-
kenntniß, daß ihre neue geiſtige Freiheit nur dauern konnte in einem
geachteten, unabhängigen Staate; der Idealismus, der aus Kants Ge-
danken und Schillers Dramen ſprach, gewann eine neue Geſtalt in dem
Heldenzorne des Jahres 1813. Alſo hat unſere claſſiſche Literatur von
ganz verſchiedenen Ausgangspunkten her dem nämlichen Ziele zugeſtrebt
wie die politiſche Arbeit der preußiſchen Monarchie. Dieſen beiden bildenden
[91]Verweltlichung der Wiſſenſchaft.
Mächten dankt unſer Volk ſeine Stellung unter den Nationen, den beſten
Inhalt ſeiner neueſten Geſchichte; und merkwürdig, wie ſie beide in ihrer
Entwicklung an hundert Jahre lang mit einander Schritt gehalten haben:
ein innerer Zuſammenhang, der ebendarum nicht zufällig ſein kann, weil
eine unmittelbare Wechſelwirkung ſelten ſtattfand. In derſelben Zeit, da
der große Kurfürſt den neuen weltlichen Staat der Deutſchen ſchuf,
geſchah auch in der Literatur die entſcheidende That, die Befreiung der
Wiſſenſchaft von dem Joche der Theologie. Als darauf der preußiſche
Staat unter Friedrich Wilhelm I. in ſtiller Arbeit ſeine Kräfte ſammelte,
trat auch das geiſtige Leben der Nation in einen Zuſtand der Selbſtbe-
ſinnung: die dürre Proſa der Wolffiſchen Philoſophie lehrte die Mittel-
klaſſen wieder logiſch zu denken und zu ſchreiben. Um das Jahr 1750
endlich, gleichzeitig mit dem Heldenruhme König Friedrichs, begann das
Erwachen der ſchöpferiſchen Kraft in der Literatur, und die erſten dauern-
den Werke der neuen Dichtung erſchienen.


Dem Mittelalter erſchien die ſittliche Welt als eine geſchloſſene
ſichtbare Einheit; Staat und Kirche, Kunſt und Wiſſenſchaft empfingen
die ſittlichen Geſetze ihres Lebens aus der Hand des Papſtes. Es war
die Abſicht der Reformation, dieſe Herrſchaft der geiſtlichen Gewalt zu
zerſtören, dem Staate wie der Wiſſenſchaft das Recht auf ein ſelbſtän-
diges ſittliches Daſein zurückzugewinnen. Doch ſie hielt ein bei einem
halben Erfolge. Wie die Theokratie des heiligen Reichs aufrecht blieb
und alle weltlichen Staaten dem Glaubenseifer der Kirchen ihren ſtreit-
baren Arm liehen, ſo fiel auch die Wiſſenſchaft wieder zurück in die
theologiſche Verbildung; die alte Königin der Wiſſenſchaften behauptete ihren
Herrſcherthron, alle Lehrer der Univerſitäten wurden auf ein kirchliches
Bekenntniß verpflichtet. Da hob, zunächſt in Deutſchlands höher ge-
ſitteten Nachbarländern, die große Arbeit des mathematiſchen Jahrhun-
derts an: eine ſtrenge und klare, weltlich freie Forſchung erklärte die
Geheimniſſe der Natur, und gegen das Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts,
als Newton die Geſetze der Mechanik des Himmels fand, war nach und
nach eine grundtiefe Veränderung in der Weltanſchauung der Menſch-
heit vorgegangen. Das kirchliche Bekenntniß hatte bisher als der einzige
feſte Maßſtab für das unſichere Denken gegolten, jetzt erſchien das Wiſſen
ſicherer als der Glaube. Es wird nun immer eine ſtolze Erinnerung
unſeres Volkes bleiben, wie kühn und frei das getretene Geſchlecht des
dreißigjährigen Krieges an dieſer mächtigen Bewegung ſich betheiligte:
zuerſt empfangend und lernend — denn dahin war es mit uns gekommen,
daß Leibnitz ſagen mußte, der deutſchen Nation ſei als einzige Begabung
der Fleiß geblieben — nachher ſelbſtändig und ſelbſtthätig. Nach langem
erbitterten Kampfe vertrieb Pufendorf die Theologen aus der Staats-
wiſſenſchaft und begründete für Deutſchland eine weltliche Lehre vom
Staate. Andere Wiſſenſchaften folgten und ſtellten ſich auf ihre eignen
[92]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Füße; die Heidelberger Hochſchule gab zuerſt den Grundſatz der Glaubens-
einheit auf. In Leibnitz erſtand ein Denker, deſſen behutſam vermitteln-
der Geiſt innerlich ſchon ganz frei war von dem Banne des Dogmas und
der vorausſetzungsloſen Forſchung der deutſchen Philoſophie die Bahnen
brach; und bald durfte Thomaſius frohlockend rufen: „Ungebundene
Freiheit allein giebt dem Geiſte das wahre Leben.“ Durch die Verwelt-
lichung der Wiſſenſchaften wurde die politiſche Macht der Kirchen all-
mählich von innen heraus zerſtört. Von der Herrſchaft, welche die
Oberhofprediger und Conſiſtorien einſt in den lutheriſchen Reichslanden
beſaßen, war um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wenig mehr
übrig; das neue Beamtenthum ſtand feſt zu der Souveränität des
Staates. Zugleich wagte Thomaſius die deutſche Sprache in den aka-
demiſchen Unterricht einzuführen, und ſeit alle proteſtantiſchen Hochſchulen
ſeinem Beiſpiele folgten, ſah ſich die lateiniſche Gelehrſamkeit der Jeſuiten
außer Stande, den Wettkampf mit der proteſtantiſchen Wiſſenſchaft auf-
zunehmen; wer im katholiſchen Deutſchland nach lebendiger Bildung ver-
langte, eilte den proteſtantiſchen Univerſitäten zu. Wenngleich der Zunft-
ſtolz der Gelehrten, die Roheit der akademiſchen Jugend noch nicht gänz-
lich überwunden wurde, die erſte Brücke zwiſchen der Wiſſenſchaft und
dem Leben der Nation war doch geſchlagen.


Zugleich brach für die evangeliſche Kirche ein neues Leben an,
das in der jungen Halliſchen Hochſchule ſeinen Heerd fand und mit
der duldſamen Kirchenpolitik des preußiſchen Staates feſt zuſammen-
hing. Die Nation war verekelt an dem wüthenden Dogmenſtreite des
Zeitalters der Religionskriege. Die Unionsbeſtrebungen der Calixtiner,
die fromme Glaubensinnigkeit der Pietiſten und die rationaliſtiſche Kritik
des Thomaſius fanden ſich zuſammen im gemeinſamen Kampfe gegen die
Herrſchſucht des theologiſchen Buchſtabenglaubens. Der über dem Gezänk
der Glaubenseiferer faſt vergeſſene ſittliche Gehalt des Chriſtenthums trat
wieder in ſein Recht, ſeit Franke und Spener ihre Gemeinden mahnten das
Evangelium zu leben in gemeiner, brüderlicher Liebe; der werkthätige Sinn
chriſtlicher Frömmigkeit bekundete ſich in der großartigen Stiftung des Halli-
ſchen Waiſenhauſes und anderen Werken der Barmherzigkeit; die Predigt
des Pietismus ſprach zum Herzen und erlaubte den Frauen, ſich wieder
als lebendige Glieder der Gemeinde zu fühlen. Die Neubelebung des
deutſchen Proteſtantismus führte nicht wie die Beſtrebungen der hollän-
diſchen Arminianer und der engliſchen Latitudinarier, zur Bildung neuer
Sekten; ſie ging vielmehr darauf aus den ganzen evangeliſchen Namen
zu vereinigen, die Kirche wieder mit dem Geiſte des urſprünglichen Chriſten-
thums zu durchdringen und das Wort zu erfüllen: „in meines Vaters
Hauſe ſind viele Wohnungen.“ Nach manchen Kämpfen und Ver-
irrungen blieb doch das dauernde Ergebniß, daß der deutſche Proteſtan-
tismus die mildeſte, freieſte und weitherzigſte aller chriſtlichen Glaubens-
[93]Deutſche und franzöſiſche Aufklärung.
genoſſenſchaften wurde und auch für die kühnſten Wagniſſe der Philoſophie
noch einen Raum bot, daß die religiöſe Duldung allmählich in alle
Lebensgewohnheiten der Deutſchen drang, zahlreiche gemiſchte Ehen und
bald auch gemiſchte Schulen den kirchlichen Frieden dieſes paritätiſchen
Volkes ſicherten.


Nur dieſe Wiedererhebung des deutſchen Proteſtantismus erklärt
jene eigenthümlichſten Charakterzüge der neuen deutſchen Cultur, welche
den meiſten Nicht-Germanen und ſelbſt den Engländern räthſelhaft
bleiben; nur ſie hat es ermöglicht, daß der Deutſche zugleich fromm und
frei ſein konnte, daß ſeine Literatur proteſtantiſch wurde und doch nicht
confeſſionell. Der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung ſteht es auf der
Stirn geſchrieben, daß ſie emporkam im Kampfe mit der Herrſchſucht
unfreier Kirchen und der finſteren Hartgläubigkeit dumpfer Volksmaſſen;
ſelbſt der Deismus der Briten iſt irreligiös, denn ſein Gott redet nicht
zum Gewiſſen, verſieht nur das Amt des großen Maſchinenmeiſters der
Welt. Die deutſche Aufklärung dagegen wurzelte feſt im Proteſtantismus;
ſie ging der kirchlichen Ueberlieferung mit noch ſchärferen Waffen zu Leibe
als die Philoſophie der Nachbarvölker, doch die Kühnheit ihrer Kritik ward
ermäßigt durch eine tiefe Ehrfurcht vor der Religion. Sie weckte die
Gewiſſen, welche der engliſch-franzöſiſche Materialismus einſchläferte; ſie
bewahrte ſich den Glauben an den perſönlichen Gott und an den letzten
Zweck der vollkommenen Welt, die unſterbliche Seele des Menſchen.
Der fanatiſche Kirchenhaß und die mechaniſche Weltanſchauung der fran-
zöſiſchen Philoſophen erſchienen den Deutſchen als ein Zeichen der Un-
freiheit; mit Widerwillen wendete ſich Leſſing von Voltaires Spöttereien,
und der Student Goethe lachte mit der Selbſtgewißheit der zukunftsfrohen
Jugend über die greiſenhafte Langeweile des Système de la nature.
Das evangeliſche Pfarrhaus behauptete das achtzehnte Jahrhundert hin-
durch noch ſeinen alten wohlthätigen Einfluß auf das deutſche Leben,
nahm an dem Schaffen der neuen Literatur warmen Antheil. Wenn
unſere Kunſt nicht zum Beſitzthume des ganzen Volkes zu werden vermochte,
ſo danken wir doch der Verjüngung des deutſchen Proteſtantismus den
großen Segen, daß die ſittlichen Anſchauungen der Höchſtgebildeten
Fühlung behielten mit dem Gewiſſen der Maſſe, daß endlich Kants Ethik
auf die evangeliſchen Kanzeln und bis in die niedrigſten Schichten des
norddeutſchen Volkes drang. Die ſittliche Kluft zwiſchen den Höhen und
den Tiefen der Geſellſchaft war in Deutſchland ſchmäler als in den Län-
dern des Weſtens.


Dieſe erſte Epoche der modernen deutſchen Literatur trägt noch einen
hart proſaiſchen Zug. Gelehrte ſtehen an der Spitze der Bewegung; die
Dichtung wird von dem Geiſte der neuen Tage noch kaum berührt: nur
in Schlüters Bauten und Bildſäulen, in den Tonwerken von Bach und
Händel tritt der heldenhafte Charakter des Zeitalters groß und frei hervor.
[94]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Und doch erſcheinen uns heute jene gewaltigen Kämpfe gegen den Jeſuitis-
mus und das erſtarrte Lutherthum ebenſo bahnbrechend, ebenſo radical wie
die politiſchen Thaten des Großen Kurfürſten. Sie haben den feſten Grund
gelegt für Alles was wir heute deutſche Geiſtesfreiheit nennen. Aus
den reiferen Werken von Leibnitz und Thomaſius, aus Pufendorfs Schrift
über das Verhältniß von Staat und Kirche ſpricht ſchon der freie Geiſt
einer unbedingten Duldung, welcher im Auslande weder Locke noch Bayle
ganz zu folgen vermochte.


Dem nächſten Menſchenalter gebrach die ſchöpferiſche Kraft faſt völlig;
es waren die öden Tage, da Kronprinz Friedrich die beſtimmenden Eindrücke
ſeiner Jugend empfing. Eine unfruchtbare Vielwiſſerei beherrſchte den
Markt der Gelehrſamkeit, und ihren weitſchweifigen Werken fehlte, was der
Rheinsberger Muſenhof vor Allem ſchätzte, Maß, Schärfe, Beſtimmtheit
des Ausdrucks. Gottſcheds Dichtung folgte ſklaviſch den ſteifen Regeln der
franzöſiſchen Poetik, ohne ſich jemals aus breitſpuriger Plattheit zu dem
redneriſchen Pathos der Romanen zu erheben. Kurſachſen war das einzige
deutſche Land, das ſich geſchmackvoller Bildung und einer fruchtbaren künſtle-
riſchen Thätigkeit rühmen konnte; aber die prächtigen Opern und die reichen
Barock-Bauten des Dresdener Hofes bezeichnen nur eine phantaſtiſche
Nachblüthe der wälſchen Kunſt, nicht einen Fortſchritt unſeres nationalen
Lebens. Gleichwohl ſtand das Wachsthum des deutſchen Geiſtes auch jetzt
nicht ſtill. Die gemeinfaßlichen Ergebniſſe der Gedankenarbeit der hoch-
begabten letzten Generation wurden allmählich dem Volke geläufig. Die
Philoſophie Chriſtian Wolffs vollzog eine Verſöhnung zwiſchen Glauben und
Wiſſen, welche den Bedürfniſſen des Zeitalters genügte, gab dem heran-
wachſenden Geſchlechte eine feſte, in ſich übereinſtimmende Weltanſchauung.
Die Durchſchnittsbildung der Mittelklaſſen fand ihren Frieden in dem
Glauben, daß Gott nach den Naturgeſetzen wirke. Wolff ging mit Abſicht
über die Schranken der gelehrten Welt hinaus, weckte in weiten Kreiſen
die Luſt zu denken und zu ſchreiben, gewöhnte die Gebildeten ihr Scherf-
lein beizutragen zu dem Werke der allgemeinen Aufklärung. Zugleich wirkte
der Pietismus in der Geſellſchaft fort. Der rauhe Ton tyranniſcher
Härte verſchwand aus dem Familienleben. In den gefühlsſeligen Con-
ventikeln der ſchönen Seelen begann der Cultus der Perſönlichkeit. Das
Leben jedes Einzelnen erhielt einen ungeahnten neuen Werth und Inhalt;
die Deutſchen erkannten wieder, wie reich die Welt des Herzens iſt, und
wurden fähig, tief empfundene Werke der Kunſt zu verſtehen.


Und nun, urplötzlich wie die Macht des fridericianiſchen Staates
und überraſchend ſtark wie ſie, traten die in langen Jahren der Samm-
lung ſtill gereiften Kräfte des deutſchen Genius in den Kampf hinaus.
Im Jahre 1747 erſchienen die erſten Geſänge von Klopſtocks Meſſias.
Die Wärme und Innigkeit des Gefühls, die in den Gebeten und Tage-
büchern der Erweckten nur einen unreifen, oft lächerlichen Ausdruck ge-
[95]Klopſtock. Winkelmann.
funden, ſchuf ſich hier endlich eine würdige poetiſche Form; die ernüch-
terte Sprache gewann Schwung, Adel, Kühnheit; die ganze Welt des
Erhabenen wurde der deutſchen Phantaſie von Neuem aufgethan. Merk-
würdig ſchnell begriff die Nation, ein neues Zeitalter ihrer Bildung ſei
angebrochen. Ein Schwarm von jungen Talenten drängte ſich um den
Sänger, der auch in ſeiner perſönlichen Haltung die Hoheit der neuen
Kunſt ſtattlich vertrat, und erging ſich in der naiven Selbſtüberhebung,
die allen kräftig aufſteigenden Epochen eigenthümlich iſt, ſtellte das Epos
des deutſchen Meiſters über Homer, ſeine Oden über Pindar. Eine
phantaſtiſche Schwärmerei für das Vaterland berauſchte dieſe Dichterkreiſe
und iſt von da, langſam aber mächtig fortwirkend, bis in die unterſten
Schichten des deutſchen Mittelſtandes hinabgedrungen. Wie jede Nation,
wenn ſie in einen Wendepunkt ihres Daſeins eintritt, aus den großen
Erinnerungen der heimiſchen Vorzeit friſchen Muth zu ſchöpfen pflegt,
ſo wendete ſich die Sehnſucht jener Tage der einfältigen Größe der
germaniſchen Urzeit zu: nur im Schatten deutſcher Eichenhaine, nur
in dem Lande Hermanns und der Barden ſollten Wahrheit und Treue,
Kraft und Gluth urſprünglicher Empfindung heimiſch ſein. Wie jubelte
das neue Deutſchland, als der Sänger des Meſſias die junge bebende
Streiterin, die deutſche Muſe aufrief, den Wettlauf zu wagen mit
der Dichtung Englands.


Unterdeſſen erſchloß Winkelmann unſerem Volke die Erkenntniß der
antiken Kunſt und fand die einfältig tiefe Wahrheit wieder, daß die
Kunſt die Darſtellung des Schönen iſt. Er ſchuf zugleich die erſten
formvollendeten Werke der neuen deutſchen Proſa. Klar, tief und
weihevoll erklang die Rede dieſes Prieſters der Schönheit, mächtige
Leidenſchaft und große Gedanken zuſammengedrängt in maßvoll knapper
Form; durch „die erleuchtete Kürze“ ſeines Stiles wurde die formlos
breite Redſeligkeit der gelehrten Pedanterei zuerſt überwunden. Seine
Schriften gaben der jungen Literatur die Richtung auf das claſſiſche
Ideal. Wetteifernd, in leidenſchaftlichem Entzücken, ſtrebten Dich-
tung und Wiſſenſchaft ſich zu erfüllen mit dem Geiſte des Alter-
thums; und da der Menſch nur ſchätzt was er überſchätzt, ſo wollte dies
ſchönheitsfrohe Geſchlecht, berauſcht von der Freude der erſten Entdeckung,
in der antiken Geſittung nichts ſehen als reine Menſchlichkeit, Geſundheit,
Natur. Den Romanen war eigentlich nur die altrömiſche Welt wahr-
haft vertraut geworden; die Deutſchen zog ein Gefühl der Wahlver-
wandtſchaft zu dem helleniſchen Genius. Ihnen zuerſt unter den modernen
Völkern ging das volle Verſtändniß des griechiſchen Lebens auf, und als
ihre neue Bildung gereift war, durfte ihr Dichter frohlockend rufen:
aber die Sonne Homers, ſiehe, ſie lächelt auch uns! Durch die Einkehr
in die Formenwelt des Alterthums erlangte die ſo oft arm und hart ge-
ſcholtene deutſche Sprache nicht nur einen guten Theil ihres alten
[96]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Reichthums wieder; ſie zeigte auch eine ungeahnte bildſame Weichheit und
Schmiegſamkeit. Sie allein unter den neuen Culturſprachen erwies ſich
fähig, alle Versmaße der Hellenen treu und lebendig nachzubilden; ſie
wurde allmählich, ſeit der Voſſiſche Homer den Weg gewieſen, die erſte
Ueberſetzerſprache der Welt, bot den Geſtalten der Dichtung aller Völker
und Zeiten gaſtfreundlich eine zweite Heimath. Und dieſe reizbare
Empfänglichkeit war doch nicht unſelbſtändige Schwäche: die deutſchen
Jünger des Alterthums ſtanden dem claſſiſchen Ideale innerlich frei
gegenüber, ſie ließen ſich nicht, wie einſt die Humaniſten am Ausgang
des fünfzehnten Jahrhunderts, durch die ſittlichen Anſchauungen der an-
tiken Welt in der feſten Führung des eigenen Lebens beirren. Winkel-
mann ſelber freilich erinnert in manchem Zuge an die unbefangenen
Heiden des Cinquecento; aber die Mehrzahl der Dichter und Denker, die
ſeinen Spuren folgten, blieb deutſch, nahm von helleniſcher Bildung nur
an was deutſchem Weſen zuſagte, und das Gedicht, das unter allen
Werken der modernen Kunſt dem Geiſte des Alterthums am nächſten
kam, Goethes Iphigenie, ward doch durchweht von einem Sinne liebevoller
Milde, den die Herzenshärtigkeit der Heiden nie verſtanden hätte.


Unabhängig von dieſen beiden Richtungen, aber einig mit ihnen
in dem Kampfe für das Recht des freien Künſtlergeiſtes, ging Leſſing
ſeinen Weg; der productivſte Kritiker aller Zeiten, ſtand er zu Klopſtocks
pathetiſcher Ueberſchwänglichkeit, wie einſt Pufendorf und Thomaſius zu
dem Pietismus geſtanden hatten, ablehnend zugleich und ergänzend.
Seiner ſchöpferiſchen Kritik gelang, was der Enthuſiasmus der neuen
Lyrik allein nie vermocht hätte, die geſpreizte Unnatur der Gottſchediſchen
Verskunſt für immer zu vernichten, die Zwittergattung der Lehrgedichte
vom deutſchen Parnaß zu vertreiben, die Nation zu befreien von dem
Joche der Kunſtregeln Boileaus; und ſo wenig wir dem Manne, der
den Patriotismus für eine heroiſche Schwachheit erklärte, das bewußte
vaterländiſche Gefühl unſerer Tage andichten dürfen, durch jene mächtigen
Streitſchriften, welche die Dramen Voltaires dem Gelächter der Deutſchen
preisgaben, geht doch derſelbe große Zug erſtarkenden nationalen Lebens
wie durch Friedrichs Heldenlaufbahn. Leſſings Kritik wies die deutſchen
Poeten von der höfiſchen Dichtung der Bourbonen hinweg zu dem recht
verſtandenen Ariſtoteles, zu den einfachen Vorbildern der antiken Kunſt
und lehrte ſie die naturgetreue Wahrheit über alle erklügelten Regeln
zu ſtellen. Sie zeigte ihnen in Shakeſpeares Dramatik einen Quell
urſprünglichen germaniſchen Lebens, der ein Jungbrunnen wurde für
die deutſche Kunſt; der Dichter des fröhlichen alten Englands fand bei
dem weltlich freien Sinne der Deutſchen bald ein tieferes Verſtändniß,
als in ſeinem eigenen, durch das Puritanerthum ernüchterten Vaterlande.
Leſſing vor Allen hat das neue Publicum erzogen; er wurde der erſte
deutſche Literat, der Erſte, der durch ſeine perſönliche Würde den Beruf des
[97]Leſſing. Herder.
freien Schriftſtellers zu Ehren brachte und zu allen Gebildeten der Nation
wirkſam zu reden verſtand. Die dunkelſten Probleme der Theologie, der
Aeſthetik, der Archäologie erſchienen durchſichtig klar, wenn er ſie behandelte
in dem leichten Tone des lebhaften oberſächſiſchen Geſprächs, in jener kunſt-
voll einfachen Proſa, die überall ſein innerſtes Weſen, die Heiterkeit im
Verſtande, widerſpiegelte.


Und hier, ſchon in den Jugendjahren der claſſiſchen deutſchen Proſa,
zeigte ſichs, daß unſere freie Sprache jeden individuellen Stil ertrug,
jeden ſchöpferiſchen Kopf nach ſeiner Weiſe gewähren ließ: der offenbar an
franzöſiſchen Muſtern gebildete Stil Leſſings war ebenſo deutſch wie die
majeſtätiſchen Perioden Winkelmanns, denn Beide ſchrieben wie ſie mußten.
Die rechte Sicherheit des literariſchen Selbſtgefühles kam den Deutſchen
aber erſt da der große Kritiker ſich auch als ein Künſtler zeigte und
unſerer Bühne die erſten Werke ſchenkte, die nicht beſchämt wurden durch
die reiche Wirklichkeit des fridericianiſchen Zeitalters und mit der Dramatik
des Auslandes in die Schranken treten durften — Werke des ſchärfſten
Kunſtverſtandes und doch voll leidenſchaftlicher dramatiſcher Bewegung,
bühnengerecht und doch in voller Freiheit erfunden, Geſtalten von unver-
gänglichem menſchlichen Gehalt, und doch mit kecker Hand aus dem be-
wegten Leben der nächſten Gegenwart herausgegriffen. So ſtieg er hoch
und höher, nach allen Seiten hin den Samen einer freien Bildung
ſtreuend: durch ſeine Emilia weckte er der jungen Literatur den Muth,
ihre Stimme zu erheben gegen die Unfreiheit in Staat und Geſellſchaft;
ſeine theologiſchen Streitſchriften legten den Grund für eine neue Epoche
unſerer theologiſchen Wiſſenſchaft, für die Evangelienkritik des neunzehnten
Jahrhunderts; ſeine letzte Dichtung ſchuf die Form für das Drama hohen
Stils, das nachher durch Schiller ſeine Ausbildung erhalten ſollte, und
verkündete zugleich jenes Glaubensbekenntniß deutſcher Aufklärung, deſſen
heitere Milde anderen Völkern erſt nach den Stürmen der Revolution
verſtändlich wurde.


In den ſiebziger Jahren trat eine neue, noch reichere Generation
auf den Plan. Herders univerſaler Geiſt vereinte in ſich die Verſtandes-
kühnheit Leſſings und die Gemüthsfülle Klopſtocks. Er fand die in langen
Jahrhunderten barbariſcher Ueberbildung verlorene Wahrheit wieder, daß
die Dichtung nicht das Beſitzthum Einzelner, ſondern eine gemeine Gabe
aller Völker und Zeiten iſt, und führte die deutſche Lyrik zu unſeren
alten volksthümlichen Formen und Stoffen zurück: der ſeelenvolle Klang
des deutſchen Reims trat von Neuem in ſein Recht, in Liedern und
Balladen gewann das erregte Gefühl einen warmen, tiefen und natür-
lichen Ausdruck. Einem durchaus unhiſtoriſchen Zeitalter, das im Zer-
ſtören einer verrotteten Welt hiſtoriſcher Trümmer ſeinen Ruhm fand,
erweckte Herder das Verſtändniß des geſchichtlichen Lebens. Sein freier
Sinn verachtete die Armſeligkeit jenes ſelbſtzufriedenen Wahnes, der
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 7
[98]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
alle Menſchenkinder nur „für das was wir Cultur nennen“ geſchaffen
glaubte; er erkannte, daß jedes Volk ſein eigenes Maß der Glückſelig-
keit, ſein eigenes goldenes Zeitalter hat, und mit wunderbarem Ahnungs-
vermögen fand er das Eigenſte aus dem Seelenleben der Völker heraus:
der Gegenſatz der naiven Cultur des Alterthums und der ſentimentalen
Bildung der modernen Welt iſt ihm zuerſt klar geworden. Seinem
prophetiſchen Blicke enthüllte ſich ſchon der Zuſammenhang von Natur
und Geſchichte; er faßte den grandioſen Gedanken „dem Schöpfer nach-
zugehen, nachzuſinnen“, die Offenbarung Gottes in den weltbauenden
Kräften des Alls wie in den Wandlungen der Menſchengeſchichte aufzu-
ſuchen; er vertiefte die Idee der Humanität, indem er den Menſchen ver-
ſtand als einen „Ton im Chorgeſang der Schöpfung, ein lebend Rad im
Werke der Natur“. Schärfer als Herder hat kein Mann des achtzehnten
Jahrhunderts über die endlichen Erſcheinungsformen des Chriſtenthums
geurtheilt, und doch iſt Keiner in das Verſtändniß des Glaubens tiefer
eingedrungen als dieſer von Grund aus religiöſe Geiſt. Die Religion
zu reinigen von allem geiſtloſen und unfreien Weſen blieb das höchſte
Ziel ſeines Strebens. Durch jede ſeiner Schriften weht der Hauch einer
tiefen Frömmigkeit, ein inniges, glückſeliges Zutrauen zu der Weisheit
und Güte Gottes, das alle Launen einer ſelbſtquäleriſchen, leicht verſtimm-
ten Natur ſchließlich niederzwingt; darum konnte der ſchonungsloſe Be-
kämpfer der Verirrungen der Kirche ohne Heuchelei ein hoher Geiſtlicher
und Kirchenbeamter bleiben — ein glänzendes Zeugniß für die maßvolle
Freiheit des Zeitalters.


Die neue univerſale Bildung, welcher Herders kühne Ahnungen und
Andeutungen nur den Weg wieſen, empfing nun endlich ihre reine künſt-
leriſche Form durch den ſprachgewaltigen Dichter, dem ein Gott gab zu
ſagen was er litt. Dieſe geheimnißvolle Macht der unmittelbaren Ein-
gebung war es, was die Zeitgenoſſen zuerſt an dem jungen Goethe be-
wunderten. Bald fühlten ſie auch die Kraft ſeiner unendlichen Liebe, ſeiner
unerſchöpflichen Empfänglichkeit für alles Menſchliche. Es klang wie ein
Selbſtgeſtändniß, wenn er ſeinen Gottesſohn ſagen ließ: „O mein Ge-
ſchlecht, wie ſehn’ ich mich nach dir! und du mit Herz- und Liebesarmen
flehſt du aus tiefem Drang zu mir.“ Er dichtete nur Erlebtes gleich den
Sängern der Zeitalter naiver Kunſt; doch dieſer Geiſt war ſo reich und
vielgeſtaltig, daß ſeine Dichtung nach und nach den weiten Umkreis des
deutſchen Lebens umſpannte, und während langer Jahrzehnte faſt jeder neue
Gedanke, den die raſtlos ſchaffende Zeit emporwarf, in Goethes Werken
ſeinen tiefſten und mächtigſten Ausdruck fand, bis endlich die ganze Welt
der Natur und des Menſchenlebens in dem ruhigen Auge des Greiſes ſich
widerſpiegelte; und ſo iſt ihm geworden was er ſich wünſchte, daß heute
noch da Enkel um ihn trauern, zu ihrer Luſt noch ſeine Liebe dauert. Im
ſicheren Bewußtſein einer ungeheuren Begabung trat er ſeine Laufbahn
[99]Goethes Anfänge.
an und hieß den Schwager Kronos ins Horn ſtoßen, „daß der Orkus
vernehme: ein Fürſt kommt! — drunten von ihren Sitzen ſich die Ge-
waltigen lüften.“ Wohl war es Fürſtenwerk, wie er ſchon durch ſeine
Jugendgedichte der deutſchen Lyrik das neue Leben brachte, das Herder
nur ahnte. Alle die holden und zarten, die ſüßen und ſehnſüchtigen
Gefühle des deutſchen Herzens, die von Klopſtocks pathetiſchem Oden-
ſtile übertäubt wurden, gewannen jetzt auf einmal Sprache; die uralten
Lieder vom Röslein auf der Haide entzückten wieder die gebildete Jugend,
ſeit Goethe ſie den Hirten und den Jägern ablauſchte, ihre Einfalt adelte
durch den Zauber ſeiner Kunſt; an ſeinen geſelligen Liedern lernten die
Deutſchen wieder, ſo recht aus Herzensgrunde froh zu ſein, unbefangen
aufzugehen im himmliſchen Behagen des Augenblicks. Dann führte der
Götz die derbe unverſtümmelte Kraft und Großheit des alten deutſchen
Lebens der Nation wieder vor die Augen; dann fanden Werthers Leiden das
erlöſende Wort für den Sturm und Drang ſchwärmeriſcher Leidenſchaft,
der die Herzen des jungen Geſchlechts erfüllte, und es ward auch politiſch
bedeutſam, daß einmal doch in dieſem zerriſſenen Volke ein Dichter einen
unwiderſtehlichen, allgemeinen Erfolg errang, wie einſt Cervantes, und
Alles was jung war in ſchöner Begeiſterung ſich zuſammenfand. Als das
fridericianiſche Zeitalter zu Ende ging, riß der Dichter ſich los aus jenen
Herzenskämpfen, denen wir die ſchönſten Liebesgedichte deutſcher Sprache
verdanken, um nach zehn Jahren höfiſchen Lebens voll Arbeit und Zer-
ſtreuung wieder ein Künſtler zu werden; er eilte in „jenes Land, wo für
jeden Empfänglichen die eigenſte Bildungsepoche beginnt“, dort im Süden
lernte er nordiſche Leidenſchaft und Gemüthstiefe mit antiker Formen-
reinheit zu verſöhnen.


So groß er war und ſo gewaltig ſein Einfluß, die Herrſchaft über
unſere Dichtung hat er nie beanſprucht, und deutſche Freiheit hätte ſie
Keinem geſtattet. Nach wie vor, auch nachdem jener übermächtige Genius
erſtanden war, fluthete die literariſche Bewegung in fröhlicher Unge-
bundenheit dahin: hunderte ſelbſtändiger Köpfe nach eigenem Willen thätig;
überall in den Dichterbünden und Freimaurerlogen ein begeiſtertes Suchen
nach reiner Menſchlichkeit, nach der Erkenntniß des Ewigen; und überall
in dem bewegten Treiben die frohe Ahnung einer wundervollen Zukunft.
Dies Geſchlecht fühlte ſich wie emporgehoben über die gemeine Wirklichkeit
der Dinge, wie auf Windesflügeln dahingetragen dem Tage des Lichts, der
Vollendung der Menſchheit entgegen. Die gedankenloſe Maſſe freilich
verlangte auch damals, wie zu allen Zeiten, nur nach behaglicher Unter-
haltung; Wielands ſchalkhafte Munterkeit war ihr bequemer als Klop-
ſtocks Pathos, wie ſpäterhin Kotzebue populärer wurde als Schiller und
Goethe. Aber in den beſten Kreiſen der Geſellſchaft herrſchte ein freudiger
Idealismus; er gab der Bildung des Zeitalters das Gepräge.


Indeſſen entdeckte die Nation, daß ſie neben dem größten Dichter auch
7*
[100]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
den größten wiſſenſchaftlichen Kopf des Zeitalters beſaß. Den Gegen-
ſatz der deutſchen und der franzöſiſch-engliſchen Weltanſchauung bezeichnet
Goethe mit den einfachen Worten: „Die Franzoſen begreifen nicht, daß
etwas im Menſchen ſei, wenn es nicht von außen in ihn hineingekommen
iſt.“ Dem deutſchen Idealismus erſchien umgekehrt gerade dies räthſel-
haft: wie etwas von außen in die Seele hineingelangen könne. Der
Aufklärung des Weſtens galt die Welt der ſinnlichen Erfahrung als die
ſchlechthin unbeſtreitbare Wirklichkeit; da unternahm Kant die Thatſachen
der menſchlichen Erkenntniß zu erklären und ſtellte die tiefe Frage: wie
iſt ein wiſſenſchaftliches Erkennen der Natur überhaupt möglich? Es war
der große Wendepunkt der neuen Philoſophie. Mit dem gleichen könig-
lichen Selbſtgefühle wie Goethe hatte Kant die Arbeit ſeines Lebens be-
gonnen: „nichts ſoll mich hindern meinen Lauf fortzuſetzen“; er war aus-
gegangen von den Ideen des mathematiſchen Jahrhunderts und darauf
jeder Bewegung der neueren Jahrzehnte ſelbſtändig gefolgt. Gegen das
Ende des fridericianiſchen Zeitalters trat er dann mit jenen Werken her-
vor, welche die ſittlichen Grundgedanken des gereiften Proteſtantismus
auf lange hinaus feſtſtellten. Verwegner als irgend einer der Gottes-
leugner der Encyclopädie bekämpfte er den Wahn, als ob es je eine
Wiſſenſchaft vom Ueberſinnlichen geben könne; doch auf dem Gebiete der
praktiſchen Vernunft fand er die Idee der Freiheit wieder. Aus der
Nothwendigkeit des ſittlichen Handelns ergab ſich ihm, nicht geſtützt auf
theologiſche Krücken und ebendarum unwiderſtehlich ſiegreich, die große
Erkenntniß, daß das Unbegreiflichſte das Allergewiſſeſte iſt: das empiriſche
Ich unterliegt den Geſetzen der Cauſalität, das intelligible Ich handelt
mit Freiheit. Und dem freien Handeln ſtellte er jenen Imperativ, bei
dem die Einfalt wie die höchſte Bildung ihren Frieden finden konnte:
handle ſo, als ob die Maxime deines Handelns Naturgeſetz werden müßte.
Auch Kants Gedanken, wie Alles was dieſe lebenſprühende Zeit geſchrieben
hat, empfingen ihre volle Wirkung erſt durch die Macht der Perſönlich-
keit. Die heitere Weisheit des Königsberger Denkers, der von dem
Menſchen forderte, daß er ſelbſt in guter Laune ſterben müſſe, die ſchlichte
Größe dieſes ganz von der Idee erfüllten Lebens packte die Gewiſſen. Kant
wurde der Bildner ſeiner altpreußiſchen Heimath, er hat die entlegene
Oſtmark wieder als ein thätiges Glied in die Werkſtatt deutſcher Geiſtes-
arbeit zurückgeführt; und die Erhebung von 1813 bewährte, wie tief dem
tapferen Volke das Wort zu Herzen gedrungen war, daß überall nichts
in der Welt für gut dürfe gehalten werden, als allein ein guter Wille.


Und ſchon erhob ſich der junge Dichter, dem beſtimmt war dereinſt
die Ideen der Kantiſchen Ethik in den weiteſten Kreiſen der Nation zu
verbreiten. Roh und formlos erſchienen Schillers Jugendwerke, wie ſie
eine unbändige Willenskraft dem Zwange kleinlich unfreier Verhältniſſe
abgetrotzt hatte; doch der kühne Wurf der Fabel, das mächtige Pathos,
[101]Kant. Schillers Jugend.
der volle langanhaltende Athemzug der Leidenſchaft und der gewaltig
aufſteigende Gang der Handlung ließen ſchon ahnen, daß Deutſchland
ſeinen größten Dramatiker gefunden hatte — einen dictatoriſchen, zum
Herrſchen und Siegen geborenen Geiſt, der jetzt in den Tagen jugend-
licher Gährung ſeinen Hörern das Wilde und Gräßliche unwiderſtehlich
aufzwang und nachher, gereift und geläutert, die Tauſende mit ſich empor-
riß über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Aus der lärmenden Rhetorik
dieſer Tragödien ſprach eine Welt von neuen Gedanken, glühende Sehn-
ſucht nach Freiheit und der Haß einer großen Seele wider die ſtarren
Formen der alten Geſellſchaft; Rouſſeaus Schriften und die politiſche Be-
wegung der Nachbarlande warfen bereits ihre erſten Funken nach Deutſch-
land hinüber. Ein Verächter alles Platten, Engen, Alltäglichen, ſtrebte
dieſer Sohn des kleinbürgerlichen Schwabenländchens hinaus in die großen
Kämpfe der hiſtoriſchen Welt; er zuerſt band unſerer dramatiſchen Muſe
den Kothurn an die Sohlen, führte ſie unter Könige und Helden, auf
die Höhen der Menſchheit.


Neben ſolchem Reichthum der Kunſt und der Wiſſenſchaft erſcheint
die eigentlich politiſche Literatur unheimlich klein und dürftig. Wie noch
jede große Umgeſtaltung unſeres geiſtigen Lebens in den Schickſalen einer
deutſchen Univerſität ſich widergeſpiegelt hat, ſo läßt ſich auch wohl ein
Zuſammenhang nachweiſen zwiſchen den Anfängen unſerer claſſiſchen
Literatur und der erſten Blüthe der Georgia Auguſta. Die eifrige Pflege
der Rechts- und Staatswiſſenſchaften, die von Göttingen ausging, ſtand
in Wechſelwirkung mit der großen Gedankenſtrömung des Jahrhunderts,
die ſich überall den exacten Wiſſenſchaften ab- und der Freiheit der
hiſtoriſchen Welt zuwandte. Und es war lebendiges Recht was die Göt-
tinger Publiciſten lehrten; die Rechte des Proteſtantismus und der welt-
lichen Reichsſtände gegen die ſchattenhaften Anſprüche des Kaiſerthums
zu vertheidigen galt als Ehrenpflicht der welfiſchen Profeſſoren. Doch
weder Schlözers derber Freimuth noch Pütters Sammlerfleiß, weder die
Gelehrſamkeit der beiden Moſer noch irgend eine andere unter den vielen
ſtattlichen publiciſtiſchen Erſcheinungen der Zeit trägt den Stempel des
Genies. Keine Spur von Pufendorfs kühnem Weitblick, keine Spur von
jener ſchöpferiſchen Kritik, welche die Dichter mit feurigem Odem be-
rührte; nichts von der köſtlichen Prägnanz des Ausdruckes, die uns an
der ſchönen Literatur der Zeit entzückt: neben dem Silbertone Leſſingſcher
und Goetheſcher Proſa giebt die Sprache Pütters einen blechernen Klang.


Während die deutſche Dichtkunſt und Philoſophie die Werke der Nach-
barvölker überflügelte, behielten in der Staatswiſſenſchaft Engländer und
Franzoſen die Führung. An der großen politiſchen Gedankenbewegung
des Jahrhunderts nahm Deutſchland einen wirkſamen Antheil allein
durch die Thaten und die Schriften des großen Königs, den der literariſche
Aufſchwung ſeines Volkes nicht berührte. Wie ſchwach ſind ſelbſt in
[102]I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Herders „Ideen“ die politiſchen Abſchnitte neben der Fülle der cultur-
hiſtoriſchen. Der einzige ſtark und eigenthümlich angelegte politiſche
Denker, der Deutſchlands jungem literariſchen Leben angehörte, Juſtus
Möſer, hat auf die Zeitgenoſſen eigentlich nur äſthetiſch gewirkt durch
ſeine geiſtvolle Schilderung des deutſchen Alterthums; ſeine tiefſinnige
geſchichtliche Auffaſſung vom Staate ward erſt weit ſpäter, in den Tagen
der hiſtoriſchen Rechtsſchule, von der Nation verſtanden. Die deutſchen
Leſer brachten dem Publiciſten ein reicheres Maß von Geſchichtskennt-
niſſen entgegen als die Briten und Franzoſen, aber keinen Schimmer
von politiſcher Leidenſchaft und politiſchem Verſtändniß. Die durch und
durch unpolitiſche Zeit verſtand die Kunſt ſich wohl zu befinden unter
Zuſtänden, deren vollendeten Widerſinn Jedermann fühlte. Derweil der
Forſchermuth deutſcher Denker kühnlich an die dunkelſten Räthſel des
Kosmos herantrat, erſchien ſelbſt nach den furchtbaren Lehren der ſieben
Jahre kein einziger Mann, der den Finger in die Wunden des deutſchen
Staates legte und der Nation mit ſchonungsloſem Freimuth die ent-
ſcheidende Frage vorhielt: was dies Aufſteigen einer neuen deutſchen Groß-
macht für unſere Zukunft bedeute?


Weder in dem Gedankenreichthum der Literatur noch in der That-
kraft des preußiſchen Staates fand das deutſche Leben einen erſchöpfenden
Ausdruck. Wohl kamen Augenblicke, da die beiden ſchöpferiſchen Mächte
unſerer neuen Geſchichte einander zu berühren und zu verſtehen ſchienen.
Wir Nachlebenden vernehmen mit Rührung, wie die bärbeißigen Offiziere
des fridericianiſchen Heeres in Leipzig bei dem frommen Gellert Herzens-
rath und Erbauung ſuchten; der Dichter des Frühlings, Ewald Kleiſt,
der preußiſche Werbeoffizier, der ſich in Zürich von den Strapazen der
Menſchenjagd im Kreiſe Klopſtockiſcher Schöngeiſter erholte und dann bei
Kunnersdorf den Soldatentod fand, erſcheint uns heute bedeutender als
mancher begabtere Poet, weil er den Heldenſinn und die Dichterſehnſucht
dieſer reichen Zeit in ſich vereinigte. Im Ganzen bleibt doch ſicher, daß
das alte Preußen ebenſo unäſthetiſch war wie die deutſche Literatur un-
politiſch. Die preußiſche Hauptſtadt war zu Leſſings Zeiten einige Jahre
lang die Hochburg der deutſchen Kritik; ſeit den ſiebziger Jahren beſaß
ſie wohl das kunſtſinnigſte Publicum Deutſchlands, eine verfeinerte, geiſt-
reiche Geſelligkeit; ſchöpferiſches Vermögen zeigte ſie noch wenig. Vielmehr
führte gerade an der Spree der ſeichte Eudämonismus das große Wort.
Dem platten Menſchenverſtande Nicolais ging der Flug der jungen Dich-
tung zu hoch; unter den Jammerrufen der Berliner Kritik wurden draußen
im Reich die großen Schlachten der neuen deutſchen Cultur geſchlagen.
Unſerer claſſiſchen Literatur fehlte der feſte Boden der nationalen Macht.
Sie hat für alle Zukunft erwieſen, daß die ſtolze Freiheit der Poeſie der
Sonne des Glücks entrathen kann, daß eine neue Gedankenwelt, ſobald
ſie ſich in der Seele eines Volkes angeſammelt hat, auch unfehlbar
[103]Ausgang des fridericianiſchen Zeitalters.
Form und Ausdruck finden muß. Aber die Nation lief Gefahr einer
krankhaften Ueberſchätzung der geiſtigen Güter zu verfallen, da ihr litera-
riſches Leben ſo viel herrlicher war als das politiſche. Der Patriotismus
ihrer Dichter blieb zu innerlich um unmittelbar auf das Volksgefühl zu
wirken. Der edle weltbürgerliche Zug, der die geſammte Literatur des
achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, fand hier nicht wie in Frankreich ein
Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalſtolze, er drohte die Deut-
ſchen ihrem eigenen Staate zu entfremden.


So glänzend hatte Deutſchland ſeit Luthers Tagen nicht mehr in
der europäiſchen Welt dageſtanden wie jetzt, da die erſten Helden und
die erſten Dichter eines reichen Jahrhunderts unſerem Volke angehörten.
Und ſolche Fülle des Lebens nur hundert Jahre nach der Schande
der Schwedennoth! Wer damals die Lande der größeren weltlichen
Reichsſtände in Mittel- und Norddeutſchland durchreiſte, gewann den
Eindruck, als ob hier ein edles Volk in friedlicher Entwicklung einer
ſchönen Zukunft entgegenreifte. Die humane Bildung der Zeit bethätigte
ſich in zahlreichen gemeinnützigen Anſtalten; die alte Landplage der Bettler
verſchwand von den Landſtraßen, die größeren Städte ſorgten freigebig für
ihre Armen- und Krankenhäuſer; eifrige Paedagogen bemühten ſich nach
neu erfundenen Syſtemen die Jugend wiſſenſchaftlich zu bilden ohne ihr
die Unſchuld des Rouſſeau’ſchen Naturmenſchen zu rauben. Ueberall
rüttelte die aufgeklärte Welt an den trennenden Schranken der alten
ſtändiſchen Ordnung; ſchon fanden ſich einzelne Edelleute, die freiwillig
ihren Gutsunterthanen die Freiheit ſchenkten; die Philoſophen vernahmen
mit Befriedigung, daß eines Schinders Sohn in Leipzig Arzt geworden,
ein junger Frankfurter Doctor im adelſtolzen Weimar über die Schultern
der eingeborenen Edelleute hinweg zum Miniſterpoſten aufgeſtiegen war.
Eine heitere Naturſchwärmerei verdrängte die alte Angſt vor den Unbilden
der freien Luft, die philiſterhaften Gewohnheiten des Stubenlebens; die
Gelehrten fingen an ſich wieder heimiſch zu fühlen auf Gottes Erde. Und
doch war dies Volk im Innerſten krank. Unbewegt und unverſöhnt ſtand
die große Lüge des Reichsrechts neben der neuen Bildung und dem neuen
Staate der Deutſchen; alle Fäulniß, alle Niedertracht des deutſchen
Lebens lag wie ein ungeheurer Scheiterhaufen angeſammelt in den
Kleinſtaaten des Südens und Weſtens, dicht neben dem ruheloſen Nach-
barvolke, das den Feuerbrand über die Grenze ſchleudern ſollte. Der
Ruhm des fridericianiſchen Zeitalters war kaum verblichen, als das
heilige römiſche Reich ſchmachvoll zuſammenſtürzte.


[[104]]

Zweiter Abſchnitt.
Revolution und Fremdherrſchaft.


Nur ein königlicher Feldherr oder ein reformatoriſcher Geſetzgeber
konnte das Erbe Friedrichs ungeſchmälert behaupten. Die alte Form
der fridericianiſchen Monarchie ſtand auf zwei Augen. Wenn es nicht
gelang die kriegeriſchen Kräfte dieſes Volkes noch einmal zu kühnem
Wagen zuſammenzuraffen und dem heiligen Reiche durch Preußens
Waffen eine neue Verfaſſung zu ſchaffen, ſo ließ ſich die gewaltſame
Vereinigung der geſammten Staatsgewalt in einer Hand nicht mehr für
die Dauer aufrechterhalten. Der erweiterte Umfang des Staatsgebietes,
die geſteigerten Anſprüche an die Leiſtungen des Staates und das mächtig
erſtarkte Selbſtgefühl der wohlhabenden Klaſſen geboten eine umfaſſende
Reform, welche den Staatshaushalt beweglicher geſtaltete, die unhaltbar
gewordene alte Gliederung der Stände beſeitigte und dem Unterthan er-
laubte, bei der Verwaltung von Kreis und Gemeinde ſelber Hand anzu-
legen. Unterblieb der Neubau, ſo drohte der Monarchie Siechthum und
Erſtarrung; jener Geiſt der Kritik, der von Friedrich ſelber geweckt aber
durch die Scheu vor ſeinem Genius in Schranken gehalten worden war,
konnte leicht den ſittlichen Halt des Staates, die alte preußiſche Treue
und Mannszucht, zerſtören.


Es ward Deutſchlands Verhängniß, daß Friedrichs Nachfolger weder
die eine noch die andre Aufgabe zu löſen vermochte. Friedrich Wilhelm II.
beſaß die ritterliche Tapferkeit ſeiner Ahnen und ein lebendiges Gefühl
für ſeine königliche Würde, für die Großmachtſtellung ſeines Staates, doch
weder die Sachkenntniß und den ausdauernden Fleiß, noch die Sicherheit
des Urtheils und die feſte Willenskraft, welche ſein ſchweres Amt erheiſchte.
Ebenſo mild und wohlwollend, wie ſein alternder Oheim menſchenfeindlich
geweſen, leicht erregbar, reich an guten Einfällen, empfänglich für hoch-
gehende Entwürfe, ließ er das raſch und feurig Ergriffene wieder fallen, wenn
zäher Widerſtand ihn ermüdete oder ſchlaue Gegner ſeiner Großmuth zu
ſchmeicheln wußten. Die Kleinheit der Menſchen athmete erleichtert auf, als
[105]Friedrich Wilhelm II.
die erdrückende Größe des alten Helden von hinnen ging; aufrichtiger Jubel
begrüßte den Vielgeliebten, der ſo traulich und warmherzig mit ſeinem Volke
verkehrte. Wieder wie in den Tagen Friedrichs I. rühmte man die inepui-
ſablen Hände des Königs, und noch lange ging im Lande die Rede von
den Geſchenken und Adelsbriefen des großen Gnadenjahres 1786. Manche
Härten des fridericianiſchen Regiments wurden beſeitigt: die verhaßte
Regie fiel, die Werbeoffiziere empfingen „zum Beſten der Menſchheit“
die Weiſung, ihr hartes Handwerk mit Mäßigung zu betreiben. Doch im
Weſentlichen blieb die alte Verwaltung unverändert, nur daß jetzt der
Herrſchergeiſt fehlte, der ſie zu beſeelen verſtanden. Das Heerweſen ſank
unter greiſenhaften Führern; den Veteranen, die noch die Kränze der
ſieben Jahre um die Stirn trugen, wagte der König nicht den Abſchied zu
geben. Die philanthropiſchen Ideen des Zeitalters und eine wohlmeinend
ſchwächliche Nachgiebigkeit gegen die bürgerlichen Intereſſen entfremdeten
den Staat der ſpartaniſchen Strenge Friedrich Wilhelms I.: durch das
Cantonreglement von 1792 wurde zwar der altpreußiſche Grundſatz der
allgemeinen Wehrpflicht nochmals als Regel verkündigt, aber zugleich die
Ueberzahl der früherhin zugeſtandenen Ausnahmen geſetzlich anerkannt und
erweitert, alſo daß der Waffendienſt faſt ausſchließlich die Bauernſöhne
belaſtete.


Der lebensluſtige Hof blieb von wüſter Verſchwendung weit ent-
fernt: die Hofſtaats-Kaſſe, die jetzt auch an Künſtler und Gelehrte er-
hebliche Unterſtützungen gab, brauchte im jährlichen Durchſchnitt blos
580,000 Thaler — nicht mehr als unter Friedrich Wilhelms ſparſamem
Nachfolger. Der unwirthſchaftliche Sinn des Königs zeigte ſich nur in
dem leichtſinnigen Verſchenken der Staatsgüter; und noch verderblicher
wurde, daß ſeine Gutmüthigkeit ſich nicht entſchließen konnte, anſtatt der
aufgehobenen drückenden Abgaben rechtzeitig neue, gerechter vertheilte
Steuern aufzulegen. Die Ueberſchüſſe, deren dieſer Staatshaushalt nicht
entbehren konnte, geriethen bald ins Stocken. Es fehlte der Muth, die
ſchweren Hinderniſſe zu überwinden, welche die ſtändiſche Verfaſſung jeder
Erhöhung der Steuerlaſt entgegenſtellte; der König rühmte ſich gern
der Erleichterungen, die er ſeinem geliebten Volke gebracht habe. Als
eine Mobilmachung und zwei Feldzüge den fridericianiſchen Kriegsſchatz
faſt geleert hatten, ſah ſich die Monarchie bald in der demüthigenden
Lage ihre Machtſtellung durch ausländiſche Hilfsgelder behaupten zu
müſſen. Die Sittenloſigkeit in der Hauptſtadt nahm furchtbar überhand,
ſeit ſie an dem Vorbilde des Hofes eine willkommene Entſchuldigung
fand; ſie ſchoß noch üppiger ins Kraut, ſeit der nothwendige Rückſchlag
gegen die flache Freigeiſterei der fridericianiſchen Tage eintrat und eine
krankhaft myſtiſche Frömmigkeit in den Hofkreiſen modiſch wurde. Es
bezeichnet die ungeheure Macht des neuen literariſchen Idealismus, daß
die öffentliche Meinung fortan jedes preußiſche Regierungsſyſtem nach
[106]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dem Geiſte beurtheilt hat, der in der Leitung des Kirchen- und Unter-
richtsweſens vorherrſchte. Ganz Deutſchland hallte wider von zornigem
Tadel, als der hochverdiente Zedlitz den Abſchied erhielt und der geiſtloſe
Heuchler Wöllner mit ſeinen Religions- und Cenſuredicten die freien
Gedanken des Jahrhunderts niederzuhalten verſuchte. Mit Mühe gelang
es die Verkündigung des Allgemeinen Landrechts gegen den Widerſtand
der höfiſchen Frömmler durchzuſetzen. Der geſunde Kern des Beamten-
thums blieb freilich unzerſtörbar, aber der ſchwerfällige Gang der Ver-
waltung konnte dem raſcheren Zuge des bürgerlichen Verkehrs nicht mehr
folgen; die erſchlaffte Zucht verrieth ſich in manchen Unterſchleifen und
Beſtechungen, die unter den beiden letzten Königen unerhört geweſen.


Und nun, in ruhmloſen Tagen, zeigte ſich doch, auf wie ſchwachen
Füßen noch jene Staatsgeſinnung ſtand, welche Friedrich in ſeinem Volke
erweckt hatte. Der Nationalſtolz der Preußen war weſentlich Verehrung
für den großen König, er ermattete mit dem Tode des Helden. Berlin
lag für die Maſſe der Oſtpreußen und Schleſier ganz aus der Welt; in
Königsberg, Breslau, Magdeburg fand der ſtillvergnügte Particularismus
der Landſchaften den Mittelpunkt ſeiner Intereſſen. Tiefe, verſtändniß-
volle Theilnahme an den Geſchicken des Staates war nur in engen
Kreiſen lebendig. Um ſo lauter lärmte die anmaßende Tadelſucht. Der
politiſche Trieb, der in dem Beamtenſtaate keine Bühne für gemein-
nütziges Wirken fand, warf ſich auf die Literatur. Eine Fluth von
Schmähſchriften überſchwemmte das Land, erzählte den urtheilslos gläu-
bigen Leſern ungeheuerliche Märchen von der aſiatiſchen Schwelgerei
Sauls des Zweiten, Königs von Kanonenland: ein unſauberes Treiben,
hochgefährlich, weil in der abſoluten Monarchie jeder Tadel ſeine Pfeile
gradeswegs gegen die Perſon des Königs richten mußte, gefährlicher noch
weil aus dieſem Schwalle gehäſſiger Vorwürfe nirgends ein furchtbarer
Gedanke auftauchte, nirgends eine Ahnung von den wirklichen Gebrechen
des Gemeinweſens. Trauriger Wandel der Zeiten: noch erzählte die
Welt von den geiſtſprühenden Geſprächen der Tafelrunde von Sansſouci,
und jetzt trieb nahebei im Marmorpalais am Heiligen See der Kammer-
diener Rietz mit der Gräfin Lichtenau ſein plattes Weſen, und der
Nachfolger Friedrichs beſtaunte andachtsvoll die Geiſtererſcheinungen im
Zauberſpiegel des Oberſten Biſchoffswerder.


Friedrichs letztes Werk, der deutſche Fürſtenbund, zerbrach dem
Erben unter den Händen. Der alte König war freilich über die Herzens-
geſinnungen ſeiner kleinen Bundesgenoſſen, über die Unzuverläſſigkeit
der Freundſchaft von Hannover und Sachſen nie im Zweifel geweſen,
man kannte ſeinen verächtlichen Ausſpruch „mit dieſen Herren iſt nichts
zu machen“; aber nicht umſonſt hatte er den Fürſtenbund als ein Ver-
mächtniß an ſeine Nachkommen bezeichnet. So lange die außerordentliche
Gunſt der Lage währte, ſo lange die Angſt vor Oeſterreichs Uebergriffen
[107]Zerfall des Fürſtenbundes.
den hohen Adel Deutſchlands unter Preußens Fahnen bannte, mußte
ein ſtarker Wille die glänzende Stellung an der Spitze des deutſchen
Fürſtenſtandes als ein Mittel zu bleibender Machterweiterung zu ver-
werthen wiſſen. Die Erledigung des Kaiſerthrones ſtand nahe bevor, da
Kaiſer Joſeph kränkelte; ein geheimer Artikel des Bundesvertrages ver-
pflichtete die Genoſſen des Fürſtenbundes, das Ob und Wie (an und
quomodo) der neuen Kaiſerwahl nur nach gemeinſamem Einverſtändniß
zu entſcheiden. Preußen gebot über die Mehrheit im Kurfürſtenrathe;
ſoeben wurde die Coadjutorwahl in dem wichtigſten der geiſtlichen Staaten,
in Kurmainz, zu Preußens Gunſten entſchieden. Mindeſtens der Verſuch
mußte gewagt werden, die Politik des zweiten ſchleſiſchen Krieges unter
ungleich glücklicheren Umſtänden zu erneuern, die todte Maſſe der deutſchen
Mittelſtaaten unter Preußens Führung zu einer lebendigen Macht zu er-
heben. Noch einmal ſchien es möglich, die deutſche Krone auf ein deutſches
Haus zu übertragen oder auch das Kaiſerthum ganz zu beſeitigen und
die erlauchte Republik deutſcher Fürſten in bündiſchen Formen neu zu
geſtalten; einem ſiegreichen Preußen mußten die kleinen Genoſſen, wie
ungern immer, gehorchen. Der leichtblütigen vertrauensvollen Natur des
neuen Königs lagen die ſkeptiſchen Anſichten ſeines welterfahrenen Vor-
gängers fern. Schon als Prinz hatte er auf den Gedanken des Fürſten-
bundes glänzende Hoffnungen gebaut; jetzt überließ er die Leitung ſeiner
deutſchen Politik eine Zeit lang den Händen Karl Auguſts von Weimar.


Kühne, großartige Reformpläne gährten in dem Kopfe dieſes hoch-
herzigen Patrioten; unermüdlich bereiſte er die Höfe als der Curier des
Fürſtenbundes. Er ſah in dieſem Vertheidigungsbündniß eine dauernde
Inſtitution, den feſten Kern einer neuen Reichsverfaſſung, dachte dem
Bunde ein ſtehendes Heer und in Mainz einen großen Waffenplatz zu
ſchaffen: ein Bundestag, nach Mainz berufen, ſollte das Werk der Reichs-
reform in Angriff nehmen, den Unwahrheiten des beſtehenden Rechtes
herzhaft zu Leibe gehen. Die Ausſichten ſchienen günſtig. Alle Klein-
ſtaaten Europas fühlten ſich bedroht durch die abenteuerlichen Eroberungs-
pläne der Hofburg und hofften auf Preußen als den Schirmer des Gleich-
gewichts. In Piemont und der Schweiz wurde ſchon die Frage erwogen,
ob man nicht dem Fürſtenbunde beitreten und ſich alſo gegen Oeſterreich
decken ſolle; als Belgien wider die Neuerungen Kaiſer Joſephs die Waffen
erhob, tauchte der Vorſchlag auf, auch dies kaiſerliche Kronland als einen
ſelbſtändigen Staat in die Reichsaſſociation aufzunehmen.


Underdeſſen war Preußen noch einmal ſelbſtbewußt als die Vormacht
Mitteleuropas aufgetreten; der König hatte den glücklichen Gedanken ge-
faßt, die von inneren Kämpfen erſchütterte Republik der Niederlande der
Herrſchaft der Patriotenpartei — das will ſagen: dem Einfluß Frank-
reichs — zu entreißen. Seine Truppen rückten in Holland ein, trieben
in leichtem Siegeszuge die Schaaren der Patrioten auseinander, ſtellten
[108]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
das Anſehen des Hauſes Oranien wieder her. Jetzt galt es den Sieg
auszubeuten, dies blutsverwandte, durch Preußens Waffen wieder ein-
geſetzte Herrſcherhaus feſt an das preußiſche Syſtem anzuſchließen. Karl
Auguſt rieth, die Republik ſolle dem Fürſtenbunde beitreten und durch
regelmäßige Soldzahlungen den Kleinfürſten den Unterhalt eines ſtehen-
den Heeres ermöglichen. Doch hier zuerſt zeigte ſich die verhängnißvolle
Unbeſtändigkeit des Königs, der keinen ſeiner guten Gedanken bis zum
Ende verfolgen mochte. Der Eifer für den Fürſtenbund war längſt im
Erkalten; Friedrich Wilhelms weiches Gemüth verehrte die altheiligen
Formen der deutſchen Verfaſſung mit reichsfürſtlicher Devotion, eine Re-
form an Haupt und Gliedern widerſtrebte ſeiner Pietät. Die Berliner
Staatsmänner verhehlten kaum ihre Geringſchätzung gegen den Bund der
deutſchen Kleinfürſten, Graf Hertzberg nannte ihn oft das Kreuz der
großen Politik. Die Berufung des Bundestags nach Mainz unterblieb,
da Sachſen und Hannover böſen Willen zeigten; von den Entwürfen Karl
Auguſts kam keiner zur Reife, und ſchon zwei Jahre nach Friedrichs Tode
war von der Ausbildung und Befeſtigung des Fürſtenbundes kaum noch
die Rede. Die preußiſche Armee räumte die Niederlande, und die leicht-
ſinnige Großmuth des Königs erließ dem reichen Nachbarvolke den Erſatz
der Kriegskoſten. Das ſo glänzend begonnene Unternehmen ſchloß mit
einer diplomatiſchen Niederlage. Nicht Preußen, ſondern England gewann
im Haag die Oberhand, das alte Bündniß der beiden Seemächte ſtellte
ſich wieder her. Mehr als ſechs Millionen Thaler waren zwecklos ver-
ſchleudert; ſeitdem begannen die verderblichen Geldverlegenheiten dieſer
Regierung. Im Heere aber nahm nach den unblutigen holländiſchen
Triumphen ein gefährlicher Dünkel überhand; mit grenzenloſer Verachtung
ſah der Berufsſoldat auf jede Volksbewaffnung herab.


Noch war die wunderbare Gunſt des Glückes nicht erſchöpft. Aber-
mals bot ſich dem Könige die Gelegenheit, ſeine Machtſtellung in Deutſch-
land und Europa zugleich zu verſtärken. Kaiſer Joſeph konnte die Nieder-
lagen der ſchleſiſchen und bairiſchen Kriege nicht verwinden. Beherrſcht
von dem leidenſchaftlichen Verlangen die Ehre ſeines Hauſes an dem
preußiſchen Gegner zu rächen, ſeine Uebermacht im Reiche wiederherzu-
ſtellen, gab er die Intereſſen Oeſterreichs im Oriente preis; er verſtän-
digte ſich mit Rußland und ging auf die byzantiniſchen Pläne Katharinas
ein, gegen die Zuſage großer Gebietserweiterungen in Baiern, in Italien,
in den türkiſchen Grenzlanden. Während nun die Heere der beiden Kaiſer-
mächte an der Donau einen mühſeligen Feldzug gegen die Osmanen be-
gannen, erwachte in den öſterreichiſchen Erblanden überall der Widerſtand
gegen die haſtigen Reformen, die gewaltſamen Centraliſationsverſuche des
Kaiſers: Belgien war in offenem Aufſtande, die Magyaren ſo tief ver-
ſtimmt, daß bereits Sendboten des unzufriedenen Adels den König von
Preußen baten ihnen einen neuen Ungarnkönig vorzuſchlagen. Alle Cabi-
[109]Die Kriſis von 1790.
nette geriethen in Aufruhr, da die ungeheuerlichen Vergrößerungspläne
der Kaiſerhöfe an den Tag kamen. König Friedrich Wilhelm ſchloß
mit den Seemächten einen Dreibund zur Wahrung des Beſitzſtandes im
Oriente; Schweden hatte ſchon den Krieg gegen Rußland eröffnet; auch
die Polen dachten an eine Schilderhebung wider die Czarin, traten mit
Preußen in Bündniß. Frankreich, das noch von den Zeiten Choiſeuls
her mit Oeſterreich verbündet war, ſah ſich durch den Ausbruch der Re-
volution an jeder kühnen auswärtigen Politik verhindert; der Berliner
Hof begrüßte die Anfänge der großen Umwälzung mit Freuden, weil ſie
den Beſtand der öſterreichiſch-franzöſiſchen Allianz gefährdete; ſeine Diplo-
maten ſorgten dafür, Pétion und andere Wortführer der Nationalverſamm-
lung bei friedlicher Stimmung zu halten. Noch nie war die Lage der
Welt ſo verlockend geweſen für einen Waffengang wider Oeſterreich; wenn
das preußiſche Heer, das ſich an der ſchleſiſchen Grenze verſammelte, den
Stoß ins Herz der öſterreichiſchen Macht wagte, ſo ſtand ihm auf der
Straße nach Wien nirgends eine ebenbürtige Truppenmaſſe gegenüber,
faſt die geſammte Streitkraft des Kaiſers weilte ferne im Türkenkriege.
Jetzt oder niemals war der Augenblick, den deutſchen Dualismus mit
dem Schwerte zu löſen und, wie einſt Friedrich, in ſtolzer Freiheit, mitten
hindurch zwiſchen Feinden und halben Freunden, die Schickſalsfrage zu
ſtellen: Preußen oder Oeſterreich?


Aber weder der König noch ſein Miniſter Hertzberg erkannte ganz,
was der große Augenblick für Deutſchlands Zukunft bedeutete. Dieſer
geiſtreiche Mann, ein ſtolzer Preuße voll glühender Vaterlandsliebe, ganz
erfüllt von der Ueberzeugung, daß der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden
deutſchen Großmächte in einer geographiſchen Nothwendigkeit begründet ſei,
war dem alten Könige ein unſchätzbar treuer und geſchickter Helfer ge-
weſen, gleich thätig als Publiciſt wie als Unterhändler bei allen diplo-
matiſchen Verhandlungen vom Beginne des ſiebenjährigen Krieges bis
herab zur Stiftung des Fürſtenbundes; die fridericianiſche Politik in
ihrer einfachen Großheit ſelbſtändig weiter zu führen vermochte er nicht.
Er fühlte ſich ſelbſtgefällig als den rechten Erben des großen Königs und
„des alten kraftvollen brandenburgiſchen Syſtems“, als den gewiegteſten
Kenner aller Machtverhältniſſe des Welttheils; ſo lange er das Ruder
führte, ſollte kein Fehler möglich ſein und Preußen immerdar die erſte
Rolle in Europa ſpielen. Statt der einfachen Pläne, welche der alte Held
mit rückſichtsloſer Offenheit verfolgte, liebte ſein Schüler geſuchte, künſt-
liche Combinationen zur Wahrung des europäiſchen Gleichgewichts auszu-
klügeln; während Friedrich allezeit der nüchternen Meinung blieb, daß
Preußen auf der weiten Welt nur offene und verſteckte Feinde habe, baute
Hertzberg mit unbeirrtem Dünkel auf die ſiegreiche Macht ſeiner Beweis-
gründe. Jetzt wähnte er den unfehlbaren Weg zur Beilegung der orien-
taliſchen Händel gefunden zu haben: die Abtretung der nördlichen Pro-
[110]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
vinzen der Türkei ſollte die Mittel gewähren für eine weitumfaſſende
Ländervertauſchung in Oſteuropa, welche ſämmtliche Mächte des Oſtens
mit Freuden ergreifen würden; dem preußiſchen Vermittler war die Er-
werbung von Schwediſch-Pommern, Danzig und Thorn, Kaliſch und
Poſen zugedacht, kurz die Ausfüllung der Lücken in ſeiner Nord- und
Oſtgrenze, und dies Alles ohne daß er das Schwert zu ziehen brauchte,
allein durch die Zauberkraft der diplomatiſchen Federn!


Der überfeine Plan ſtieß ſofort auf den Widerſpruch der preußiſchen
Bundesgenoſſen ſelber: der König erfuhr wie einſt ſein Oheim die Un-
treue der engliſchen Freundſchaft. Die Seemächte ſcheuten den offenen
Bruch mit den Kaiſerhöfen weil ſie den ergiebigen ruſſiſchen Handel zu
verlieren fürchteten; darum hatte England im ſiebenjährigen Kriege die
einzige für Preußen werthvolle Bundeshilfe, die Abſendung einer ſtarken
Flotte in die Oſtſee, verweigert, und noch weit weniger mochte der eng-
liſche Handelsneid jetzt eine Politik unterſtützen, die dem preußiſchen Staate
die Einverleibung des Danziger Hafens bringen ſollte. Auch der Hoch-
muth der Polen widerſtrebte dieſer Abtretung, welche vielleicht den Fort-
beſtand der polniſchen Republik noch hätte retten können. Die Pforte
endlich wollte von einer Verkleinerung ihres Gebietes nichts hören. In
ſolcher Verlegenheit ſetzte Preußen ſeine Forderungen herab und ver-
langte nur die Wiederherſtellung des Beſitzſtandes im Oriente. Auch jetzt
noch konnten die Verhandlungen die entſcheidende Abrechnung mit Oeſter-
reich herbeiführen, wenn man ſie alſo verſchärfte, daß die Hofburg den
Krieg annehmen mußte. Eben dies verſäumte Hertzberg, während der
König mit richtigem Gefühle eine Entſcheidung durch die Waffen ver-
langte. Inmitten dieſer gewaltigen Verwicklung ſtarb Kaiſer Joſeph, und
nun rächte ſich die hochmüthige Geringſchätzung, welche Hertzberg dem
Fürſtenbunde erwieſen. Der Bund war bereits dermaßen geſchwächt, die
Geſinnung der kleinen Höfe ſo unſicher, daß die große Frage der Kaiſer-
wahl kaum noch als eine Frage erſchien. König Friedrich Wilhelm be-
ruhigte ſich bei der Erwägung, daß ſein Oheim ſelber die Erwerbung der
Kaiſerwürde für ſein Haus nicht gewünſcht hatte, und bot unbedenk-
lich dem Nachfolger Joſephs, Leopold II. die Kaiſerwürde an, als dieſer
ihm mit nachgiebigen Erklärungen entgegenkam. Er war zufrieden mit
einem halben Siege und ſchloß am 26. Juli 1790 den unſeligen Reichen-
bacher Vertrag, der einfach den Beſitzſtand vor dem orientaliſchen Kriege
wiederherſtellte.


Wohl war es ein Erfolg, daß Preußens Drohungen das Haus Loth-
ringen zwangen das eroberte Belgrad wieder herauszugeben, den mit aus-
ſchweifenden Hoffnungen und großem Aufwande unternommenen Türken-
krieg ruhmlos zu beendigen. Und doch wußte Leopold wohl, warum er
froh aufathmend ſchrieb: „Es iſt der am wenigſten ſchlechte Friede, den
wir ſchließen konnten.“ Der Tod Joſephs II. wurde für Preußens deutſche
[111]Vertrag von Reichenbach.
Politik ebenſo unheilvoll wie einſt der Tod Karls VII. Joſephs kluger
Nachfolger rettete die Machtſtellung Oeſterreichs im Reiche, indem er die
orientaliſchen Pläne ſeines Bruders aufgab; er empfing — ſo geſtand
er ſelber — die Kaiſerkrone ohne jede Bedingung als ein großmüthiges
Geſchenk aus der Hand des Königs von Preußen. Oeſterreichs diplo-
matiſche Niederlage gereichte allein der Türkei und den Seemächten zum
Vortheil; die Pforte wurde durch Preußens Dazwiſchentreten von einem
gefährlichen Gegner befreit, die hartconſervative orientaliſche Politik Eng-
lands verdankte der Ueberklugheit Hertzbergs einen leichten Triumph. Der
Berliner Hof aber ſah binnen Kurzem die Lage der Welt zu ſeinem Nach-
theil verändert. Die aufſäſſigen Kronlande wurden durch Leopolds ge-
wandte Nachgiebigkeit zum Gehorſam zurückgeführt, durch ſeine floren-
tiniſche Geheimpolizei in Ruhe gehalten; in Polen errang Oeſterreich bald
beherrſchenden Einfluß; Schweden ſchloß einen nachtheiligen Frieden mit
Rußland; England verſagte offen ſeine Mitwirkung zu Hertzbergs polni-
ſchen Plänen. Und vor Allem, der Reichenbacher Vertrag war der Tod
des Fürſtenbundes, war das Ende der deutſchen Politik des großen Königs.
Die kleinen Fürſten traten jetzt, da ſie in Berlin den ſtolzen, gebieteriſchen
Willen vermißten und von Leopolds Mäßigung nichts mehr zu fürchten
hatten, einer nach dem andern in ihre natürliche Parteiſtellung zurück;
ſie verſöhnten ſich mit Oeſterreich, der Fürſtenbund verſchwand ſpurlos,
nicht einmal eine ernſtliche Reform der Wahlcapitulation ließ ſich erreichen.


Die letzte günſtige Stunde, da Preußen die heilloſe Wirrniß der
Reichspolitik vielleicht noch lichten konnte, war unwiederbringlich verloren;
führerlos ſchwankte das unförmliche deutſche Gemeinweſen der Vernich-
tung durch fremde Gewalt entgegen. Karl Auguſt klagte bitter über den
Schlummergeiſt der Deutſchen, der dies Chaos für das unantaſtbare Ideal
einer guten Verfaſſung halte; und derweil im Weſten ſchon das Unwetter
heraufzog, das die geſammten alten Formen der europäiſchen Welt zu
zerſtören drohte, faßte der wohlmeinende Kurfürſt von Köln die Herzens-
wünſche des deutſchen hohen Adels für die Zukunft des Vaterlandes in
den Worten zuſammen: „Wir brauchen einen friedlichen Kaiſer, der das
deutſche Weſen nothdürftig zuſammenhält; aber den Kleinen muß man
die Illuſion laſſen, als ob ſie auch an der Maſchine mitzögen.“ Auch
dem Volke fehlte jedes Verſtändniß für den Ernſt der Zeit. Einzelne
geiſtreiche Publiciſten, wie Georg Forſter, prieſen den Triumph der preu-
ßiſchen Staatskunſt, ihre Unterlaſſungsſünden bemerkte Niemand. Die
Maſſe der Nation freute ſich harmlos des wiederhergeſtellten Friedens;
als der König während der Reichenbacher Verhandlungen einmal der
modiſchen Naturſchwärmerei ſeinen Zoll zahlte und den Gipfel der Heu-
ſcheuer erkletterte, da errichteten ihm die treuen Schleſier droben auf dem
Grenzgebirge ein Denkmal voll warmer Dankesworte: „Den Frieden wahrt
ſein ſichrer Schild!“


[112]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Es war die nothwendige Folge dieſer kleinmüthigen Friedenswahrung,
daß Hertzberg ſchon im nächſten Jahre entlaſſen wurde; wenig glücklich in
der Wahl der Mittel, hatte er doch den Grundgedanken der fridericianiſchen
Staatskunſt niemals aufgegeben, die ſtolze Unabhängigkeit der preußiſchen
Politik von den Befehlen der Hofburg immer zu behaupten geſucht. Mit
Biſchoffswerder, der nunmehr das Ohr des Königs gewann, kam eine völlig
neue Richtung ans Regiment: die Politik des friedlichen Dualismus. Sie
hoffte, in ſchroffem Gegenſatze zu den Anſchauungen der jüngſten glorreichen
fünfzig Jahre, durch ein öſterreichiſches Bündniß den Beſtand des Staates,
vornehmlich gegen Rußland, zu ſichern; ſie verzichtete auf jeden Gedanken
der Reichsreform und dachte in treuem Einvernehmen mit dem Kaiſer-
hauſe die deutſchen Dinge zu leiten. Im Frühjahr 1791 begann Biſchoffs-
werder die Verhandlungen über das öſterreichiſch-preußiſche Bündniß.
Unklarer, unglücklicher konnten ſich Deutſchlands Geſchicke nicht geſtalten.
Der Bund der beiden unverſöhnten Feinde war von Haus aus eine Un-
wahrheit; es fehlte hüben wie drüben das rückhaltloſe Vertrauen. Die
große Mehrzahl der preußiſchen Staatsmänner hing noch feſt an den
fridericianiſchen Ueberlieferungen, verfolgte mit wachem Argwohn jeden
Schritt des Wiener Cabinets; in der Hofburg hatte man weder die Er-
oberung Schleſiens noch die Reichenbacher Demüthigung verziehen und
war keineswegs geſonnen, den nordiſchen Emporkömmling als einen gleich-
berechtigten Genoſſen zu behandeln. Von allen den großen Machtfragen,
welche ſich trennend zwiſchen die beiden Nebenbuhler ſtellten, war keine
einzige gelöſt. Das Bündniß zwiſchen Oeſterreich und Rußland blieb
vorderhand noch aufrecht, zum Trotz den Reichenbacher Zuſagen. Die
reichsfürſtliche Ergebenheit des Königs beirrte den Kaiſer nicht in der alten
Ueberzeugung, daß jede Erweiterung der preußiſchen Macht im Reiche ein
Unheil für Oeſterreich ſei; der Wiener Hof ſah mit ſchwerer Beſorgniß,
wie Preußen die alten Stammlande Ansbach-Baireuth mit der Monarchie
vereinigte und alſo zum erſten male im Süden Deutſchlands feſten Fuß
faßte, die gefährliche Poſition in der Flanke Böhmens gewann. Noch
greller zeigte ſich der Gegenſatz der Intereſſen der beiden Bundesgenoſſen
in der polniſchen Frage.


Beide Mächte wünſchten die polniſche Adelsrepublik aufrecht zu halten
als ein Bollwerk gegen Katharinas raſtlos ausgreifende Eroberungspolitik.
Die mechaniſche Staatsauffaſſung der Zeit gefiel ſich in Künſteleien; durch
ein erklügeltes Syſtem des Gleichgewichts, durch willkürlich gebildete Klein-
ſtaaten, die man als Polſterkiſſen zwiſchen die großen Mächte einſchob,
meinte ſie den Frieden zu ſichern, den nur die innere Geſundheit lebens-
kräftiger nationaler Staaten verbürgen konnte. Weder in Wien noch in
Berlin war man zu der Erkenntniß gelangt, daß dieſer Staat des zucht-
loſen Junkerthums nicht mehr leben konnte, daß die polniſche Freiheit
nichts anderes war als die Fremdherrſchaft ſarmatiſcher Magnaten und
[113]Die polniſche Verfaſſung von 1791.
Slachtizen über Millionen ſlaviſcher, litthauiſcher, deutſcher, jüdiſcher,
wallachiſcher Unterthanen, die mit ihren grauſamen Herren kein Recht
und kein Gefühl gemein hatten. Oeſterreich, dem katholiſchen Adelsſtaate
innerlich verwandt und ſeit Jahrhunderten beſtändig mit ihm verbündet,
konnte von einer neuen Theilung keinen weſentlichen Gewinn mehr er-
warten und hoffte vielmehr in einem erſtarkten polniſchen Reiche eine
Deckung zugleich gegen Rußland und gegen Preußen zu finden. Der
preußiſche Staat dagegen war im Kampfe wider den ſarmatiſchen Nachbarn
aufgewachſen und hatte von dem Wiederaufleben der polniſchen Macht
eine ſchwere Gefährdung ſeiner deutſchen Weichſellande zu befürchten. Er
durfte ſich bei dem Ergebniß der erſten Theilung nur dann beruhigen,
wenn Polen eine unſchädliche Mittelmacht blieb und mindeſtens Thorn
und Danzig mit Weſtpreußen vereinigt wurden; es war unmöglich, die
beiden wichtigſten Plätze des deutſchen Weichſelthales jetzt, da ſie rings
von preußiſchem Gebiete umſchloſſen waren, noch auf die Dauer in den
Händen eines fremden Eroberers zu laſſen, der ſeinen alten Raub nicht
mehr zu behaupten vermochte. Alle Erwägungen der Klugheit drängten
die polniſchen Großen, die Freundſchaft Preußens durch nachgiebiges Ent-
gegenkommen zu gewinnen. Aber ſelbſt die furchtbare Erfahrung des
Jahres 1772 hatte den kopfloſen Uebermuth dieſes Adels nicht zur Be-
ſinnung gebracht. Nach wie vor zerfleiſchte ſich das unſelige Volk in
wüthenden Parteikämpfen; in Warſchau blieb die Hoffnung unverloren
den weißen Adler dereinſt noch auf der Grünen Brücke von Königsberg
aufzurichten.


Nach einem kurzen Verſuche der Annäherung zeigte ſich die pol-
niſche Politik dem weſtlichen Nachbarn wieder entſchieden feindſelig; der
alte Todhaß gegen die Deutſchen, die Proteſtanten, die Eroberer der
Weichſelmündung brach wieder aus. Der Staatsſtreich einer ſiegreichen
Partei legte dem Lande am 3. Mai 1791 eine neue Verfaſſung auf, die in
Preußen als eine Kriegserklärung gelten mußte: die polniſche Krone wurde
mit verſtärkter Macht ausgeſtattet und dem albertiniſchen Hauſe erblich
übertragen. Jene unnatürliche Verbindung zwiſchen Sachſen und Polen,
die ſchon einmal lange Jahrzehnte hindurch, wie Friedrich Wilhelm I. zu
ſagen pflegte, den preußiſchen Staat in einen „Käficht“ geſperrt hatte,
ſollte alſo für alle Zukunft ſich erneuern; eine ſlaviſch-katholiſche Macht,
zweimal ſo volkreich als Preußen ſelber, dem deutſchen Norden verfeindet
durch Volksthum, Glauben und uralte Erinnerungen, beherrſcht von
einem Fürſtenhauſe, das unfehlbar dem Einfluß des römiſchen Nuntius
und des öſterreichiſchen Geſandten verfallen mußte, drohte bis in die Mitte
Deutſchlands vorzudringen, den preußiſchen Staat im Süden wie im
Oſten zu umklammern. Und dieſer Plan, der das Daſein der preußiſchen
Großmacht, die geſammte Arbeit der Hohenzollern ſeit dem großen Kur-
fürſten wieder in Frage ſtellte, fand eifrige Förderung bei Kaiſer Leopold,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 8
[114]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dem Verbündeten des Königs von Preußen. Wenn der König in einer
Wallung großmüthiger Laune die neue polniſche Verfaſſung gebilligt hatte,
ſo mußte doch bald der Augenblick kommen da er ſeinen Irrthum einſah
und erkannte, daß die Politik der Hofburg dem preußiſchen Intereſſe in
Polen ebenſo feindlich war wie in Deutſchland.


So ſtand es: die Verfaſſung des heiligen Reichs unheilbar zerrüttet,
jede Möglichkeit einer Reform von innen heraus verloren, die beiden
führenden Mächte ſcheinbar verbündet, aber durch alten Groll und ſtreitige
Intereſſen ſchärfer denn jemals geſchieden. In ſolcher Lage wurde Deutſch-
land von jener elementariſchen Bewegung berührt, die das alte Frankreich
in ſeinen Tiefen erſchütterte. Goethe hat uns geſchildert, wie dies un-
ſchuldige, für jede Großthat des Auslands neidlos empfängliche Geſchlecht
aufjubelte „als ſich der erſte Glanz der neuen Sonne heranhob, als man
hörte vom Rechte des Menſchen, das Allen gemein ſei“. Der frohe Glaube
an den unendlichen Fortſchritt der Menſchheit, dieſer Lieblingsgedanke des
philoſophiſchen Jahrhunderts, ſchien jetzt Recht zu behalten, da „das
Höchſte, was der Menſch ſich denkt, als nah und erreichbar ſich zeigte“.
Der äſthetiſche Freiheitsdrang der jungen Dichter berauſchte ſich ſchon
längſt an dem Ideale der freien Perſönlichkeit, die alles Zwanges ledig
allein der Stimme des eigenen Herzens folgen ſollte. Genialiſches Belieben
rüttelte an jeder überlieferten Sitte, ſelbſt an dem Bande der häuslichen
Treue; Ehebruch und leichtfertige Scheidung nahmen in den Kreiſen der
Schöngeiſter bedenklich überhand, durften auf die lächelnde Nachſicht aller
freien Köpfe zählen. Und nun, ſeit der Nacht des vierten Auguſt, erſchien
auch die verhaßte Zwangsanſtalt des Staates nur noch wie ein Gebilde
menſchlicher Willkür, wie weicher Thon, den der Wille freier Männer
jederzeit in neue Formen kneten konnte. Die Künſtlerſehnſucht nach Frei-
heit vom Staate ſah ihre liebſten Träume überſchwänglich erfüllt durch
die Erklärung der Menſchenrechte; nach der Freiheit im Staate zu ſuchen,
nach den Pflichten zu fragen, welche den Bürger an das Gemeinweſen
binden, lag der äſthetiſchen Weltanſchauung dieſes Geſchlechtes fern. Die
einzige der beſtehenden politiſchen Einrichtungen, welche in den literariſchen
Kreiſen leidenſchaftlichen Unwillen erregte, war die rechtliche Ungleichheit
der Stände; ſie ward um ſo bitterer empfunden, da ſie in dem freien
geſelligen Verkehre der gebildeten Klaſſen thatſächlich längſt überwunden
war. Welches Entzücken nun, da Frankreich die Gleichheit Alles deſſen
was Menſchenangeſicht trägt verkündigte, da die Weiſſagungen Rouſſeaus,
der wie kein anderer Franzoſe dem ſchwärmeriſchen Idealismus der deutſchen
Jugend zum Herzen ſprach, ſich zu verwirklichen ſchienen. Alle Herzens-
neigungen der Zeit, der edle Drang nach Anerkennung der Menſchen-
würde und der himmelſtürmende Trotz des ſouveränen Ich, fanden ſich be-
friedigt durch den vermeſſenen Trugſchluß des Genfer Philoſophen, daß im
Zuſtande der vollkommenen Gleichheit jeder Menſch nur ſich ſelber gehorche.


[115]Eindruck der Revolution in Deutſchland.

Die Sünden der Revolution erſchienen den harmloſen deutſchen Zu-
ſchauern kaum minder verführeriſch als ihre Größe. Der an Plutarchs
Heldengeſchichten geſchulte Geſchmack begeiſterte ſich treuherzig für das
geſpreizte Catonenthum der neuen Freiheitsapoſtel, die unhiſtoriſchen Ab-
ſtractionen ihrer Staatslehre entſprachen der philoſophiſchen Selbſtgefällig-
keit des Zeitalters. Die ſchwärmeriſche Jugend, der noch die Kraftworte
des Räubers Moor im Ohre klangen, fühlte ſich hingeriſſen von dem
rhetoriſchen Pathos der Franzoſen, bewunderte arglos die republikaniſche
Tugend der Girondiſten — zur ſelben Zeit, da dieſe Partei in frevel-
haftem Leichtſinn den Krieg gegen Deutſchland anſtiftete. Die romantiſche
Verherrlichung des alten Kaiſerthums, die während der letzten Jahre
unter den ſchwäbiſchen Poeten in Schwung gekommen war, verſtummte
jetzt gänzlich. Der alte Barde Klopſtock ſelber wendete ſeine Blicke von
den cheruskiſchen Eichenhainen hinweg nach der neuen Hauptſtadt der
Welt, beſang den hundertarmigen, hundertäugigen Rieſen und rief:
„Hätt’ ich hundert Stimmen, ich feierte Galliens Freiheit nicht mit er-
reichendem Ton, ſänge die göttliche ſchwach.“ Weltbürgerliche Freiheits-
begeiſterung träumte von der Verbrüderung aller Völker, lärmte in Vers
und Proſa gegen Tyrannen und Sklaven: „Ketten raſſeln ihnen Silber-
ton!“ In Hamburg und mehreren anderen Städten wurde am Jahres-
tage des Baſtilleſturmes das Feſt der Brüderlichkeit gefeiert und der
Freiheitsbaum aufgerichtet; der ganze Kreis, der ſich um Klopſtock ſchaarte
— Hennings, der Herausgeber des Genius der Zeit, Frau Reimarus
und die Stolberge — ſchwelgten im Rauſche des ſeligen Völkerglücks.
Campe und die anderen Anhänger der neuen humanen Erziehungslehren
ſahen mit Freude, wie die überbildete Welt wieder zurückzukehren ſchien
zu der Unſchuld urſprünglicher Menſchheit. Für Oberdeutſchland wurde
Straßburg der Heerd der revolutionären Ideen; dorthin wallfahrteten die
jungen Brauſeköpfe aus Schwaben um das neufränkiſche Evangelium
kennen zu lernen. Bei den herkömmlichen Straßenaufläufen der Stu-
denten ließen ſich in Tübingen, Mainz und Jena zuweilen politiſche Rufe
vernehmen; da und dort kam es zu wilden Raufhändeln mit den Emi-
granten, der Hochmuth und die Unzucht dieſer Landesverräther ſchienen
jede Gewaltthat der Revolution zu rechtfertigen. Selbſt in Berlin ſah
man vornehme Frauen mit dreifarbigen Bändern geſchmückt, und der
Rector des Joachimsthaler Gymnaſiums pries am Geburtstage des Königs
in feierlicher Amtsrede die Herrlichkeit der Revolution, unter lebhaftem
Beifall des Miniſters Hertzberg.


Unter den Führern der Nation wurde Keiner von der großen Be-
wegung des Nachbarlandes tiefer ergriffen als der alte Kant. Der war
in ſeiner ſtillen Weiſe auch der politiſchen Gedankenarbeit des Zeitalters
wachſam nachgegangen, namentlich mit Rouſſeau und Adam Smith tief
vertraut geworden und brachte nun den metaphyſiſchen Freiheitskämpfen
8*
[116]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
des Jahrhunderts den wiſſenſchaftlichen Abſchluß durch die großen Sätze:
in jedem Menſchen ſei die Würde des ganzen Geſchlechts zu ehren, kein
Menſch dürfe blos als ein Mittel benutzt werden. Was er alſo in ein-
ſamen Nachdenken gefunden, ſah er jetzt verwirklicht durch die Thaten
der Franzoſen, und da er in ſeinem heiteren Stillleben von den dämo-
niſchen Kräften des keltiſchen Volksthums gar nichts ahnte, ſo ließ er ſich
in der Bewunderung der Revolution auch durch die Gräuel der Schreckens-
herrſchaft nicht ſtören, denn ſelbſt die Blutmenſchen der Guillotine be-
riefen ſich auf das Recht der Idee. In Kants Schule iſt der echte und
wahre Gehalt der Gedanken des Revolutionszeitalters am treueſten be-
wahrt worden.


Doch dieſe Begeiſterung der deutſchen gebildeten Welt für das re-
volutionäre Frankreich war und blieb rein theoretiſch. Wie die Staats-
rechtslehrer von Göttingen und Halle in dem allgemeinen Theile ihrer
Vorleſungen aus der Idee heraus ein Syſtem des Vernunftrechts auf-
bauten um dann im beſonderen Theile gleichmüthig das genaue Gegen-
theil des Vernunftſtaats, das Labyrinth der deutſchen Reichsverfaſſung
darzuſtellen, ſo legten ſich auch die deutſchen Bewunderer der Revolution
niemals die Frage vor, wie ihre Gedanken Fleiſch und Blut gewinnen
ſollten. Der Weiſe von Königsberg verwarf hart und unbedingt jedes
Recht des Widerſtandes. Selbſt Fichte, der radicalſte ſeiner Schüler, der
noch in den Tagen Robespierres die franzöſiſche Freiheit zu vertheidigen
wagte, warnte eindringlich vor der Ausführung ſeiner eigenen Gedanken;
er ſah keine Brücke zwiſchen „der ebenen Heerſtraße des Naturrechts“
und „den finſtern Hohlwegen einer halbbarbariſchen Politik“ und ſchloß
entſagend: „Würdigkeit zur Freiheit kann nur von unten herauf kommen,
die Befreiung kann ohne Unordnung nur von oben herunter kommen.“
So lange die Schläge der Revolution nur den Adel und die alte Kirche
trafen, hielt die theoretiſche Begeiſterung der Deutſchen Stand; man
glaubte arglos, daß die Jacobiner lediglich in gerechter Nothwehr eine Rotte
gefährlicher Verſchwörer bekämpften, und „wer fiel hatte unrecht“. Aber
als der Parteikampf immer wüſter und roher dahinraſte, als die fanatiſche
Gleichheitswuth ſich vermaß ſelbſt die letzte Ariſtokratie, die des Lebens,
zu vernichten, da vermochte der treue und ſchwere deutſche Sinn den
launiſchen Zuckungen der galliſchen Leidenſchaft nicht mehr zu folgen.
Der deutſche Schwärmer kehrte ſich weinend ab von den Barbaren, die
ihm ſein Heiligthum geſchändet. Klopſtock klagte: „Ach des goldenen Traums
Wonn’ iſt dahin.“ Man war erſchreckt und entrüſtet. Das Gefühl kalter
Verachtung, das die Gräuel der Schreckenszeit in einer politiſch reifen
Nation erregen mußten, kam bei der deutſchen Gutherzigkeit nicht auf;
ſie bemerkte nicht, daß die Maſſenmorde des Wohlfahrtsausſchuſſes von
einer winzigen Minderheit einem ſklaviſch gehorchenden Volke auferlegt
wurden. Die Enttäuſchten ſanken zurück in die alte politiſche Gleich-
[117]F. Gentz.
giltigkeit und wandten ihre ganze Thatkraft wieder auf die Arbeit der
Kunſt und Wiſſenſchaft. Es war der großen Mehrzahl der Gebildeten
aus der Seele geſprochen, wenn Goethe das Franzthum anklagte, das
heute, wie einſt das Lutherthum, die ruhige Bildung ſtöre, wenn Schiller
ſeine Horen mit den Worten ankündigte: der Dichter und Philoſoph ge-
höre dem Leibe nach ſeiner Zeit an, weil er es müſſe, dem Geiſte nach
ſei er der Zeitgenoſſe aller Zeiten.


Das bedeutendſte literariſche Werk, das in Deutſchland durch die
Revolution veranlaßt wurde, kam aus dem gegneriſchen Lager. Es konnte
nicht fehlen, daß die conſervativen Kräfte zur Abwehr der revolutionären
Ideen ſich zuſammenſchaarten. Unter den preußiſchen Offizieren erregte
vor Allem der Eidbruch der franzöſiſchen Truppen tiefe Entrüſtung; es
bildete ſich ein royaliſtiſcher Verein, der ſeinen Genoſſen die Heiligkeit
des Fahneneides einſchärfte. Brandes und Rehberg ſchrieben im Sinne
der alten Geſellſchaft, wohlmeinend und ſachkundig, doch ohne Kraft und
Tiefſinn; Spittler beurtheilte Segen und Unſegen der gewaltigen Bewegung
mit der unparteiiſchen Sicherheit des Hiſtorikers. Der Scharfblick des
Hauptmanns Gneiſenau fand ſchon im Jahre 1790 die Franzoſen reif
zur Knechtſchaft und ſah voraus, daß eine Umwälzung ohne gleichen die
Grenzen aller Länder bedrohe. Länger währte es, bis Friedrich Gentz
über die Zeichen der Zeit ins Reine kam. Noch im April 1791 wollte
er Burkes Anklagen wider die Revolution nicht gelten laſſen; anderthalb
Jahre ſpäter überſetzte er ſelber das Buch des Briten und fügte jene
köſtlichen Abhandlungen hinzu, die einen Wendepunkt in der Geſchichte
unſerer politiſchen Bildung bezeichnen. Hier zuerſt ward erkennbar, daß
die große Zeit unſerer Literatur auch das politiſche Denken der Nation
zu verjüngen und zu läutern beſtimmt war. Ein Jünger der neuen
Bildung, ausgerüſtet mit dem Gedankenreichthum der Kantiſchen Philo-
ſophie und dem reinen Formenſinne der claſſiſchen Dichtung, bewährte
zum erſten male jene Kraft der productiven Kritik, welcher die Kunſt
und Wiſſenſchaft ein neues Leben dankten, nicht in abſtracten naturrecht-
lichen Speculationen, ſondern in der Beurtheilung der lebendigen That-
ſachen der Zeitgeſchichte; er verſtand das Wirkliche zu ſehen, in den un-
fertigen Gebilden des Augenblicks ſchon die Umriſſe zukünftiger Geſtaltung
zu erkennen. Mit einer Macht und Fülle der Sprache, wie ſie Deutſch-
land bisher nur an ſeinen Dichtern kannte, geißelte er die Thorheit, die
in Horden geht, und weiſſagte: „Frankreich wird von Fall zu Fall, von
Kataſtrophe zu Kataſtrophe ſchreiten.“ Wohl ließ ſich bereits errathen,
daß die Charakterſtärke dieſes erſten Publiciſten der Epoche ſeinem Talente
nicht entſprach; ſein Haß gegen die Revolution war nicht frei von nervöſer
Aengſtlichkeit, er zitterte vor dem Uebermaße des Wiſſens, vor dieſem
wilden Jahrhundert, das „anfängt des Zügels zu bedürfen“. Dennoch
hoben ſich aus ſeiner Schrift ſcharf und klar die Grundgedanken einer
[118]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
neuen, lebensvollen Staatsanſchauung heraus, die mit dem erwachenden
hiſtoriſchen Sinne der deutſchen Wiſſenſchaft feſt zuſammenhing. Dem
weltbürgerlichen Radicalismus der Revolution trat eine hiſtoriſche Staats-
lehre entgegen; ſie bekämpfte den ſelbſtgefälligen Wahn ſeichter Köpfe,
welche die überwundene Grille einer alleinſeligmachenden Kirche in die
Politik einzuführen, die reiche Mannichfaltigkeit nationaler Staats- und
Rechtsbildung durch einen Katechismus naturrechtlicher Gemeinplätze zu
verdrängen gedächten; ſie widerlegte den Aberglauben an die Vernunft
der Mehrheit durch den ſchneidigen Satz: nicht die Mehrheitsherrſchaft,
ſondern das liberum veto ſei natürlichen Rechtens; ſie vertheidigte die
Macht des Staates wider den zügelloſen Individualismus des Zeitalters
und hielt der Begehrlichkeit des ſouveränen Ich die tiefe Wahrheit ent-
gegen: „politiſche Freiheit iſt politiſch beſchränkte Freiheit.“


Lange Jahre voll ſchwerer Erfahrungen ſollten noch vergehen, bis
die Gebildeten der Nation dieſe Sprache verſtehen lernten. Vorläufig
ließ man ſich in ſeiner Ruheſeligkeit nicht ſtören, und noch weniger war
in den niederen Schichten des Volks irgendwelche gefährliche politiſche
Aufregung zu bemerken. Deutſchlands Unheil lag in der Kleinſtaaterei und
der Fäulniß der Reichsverfaſſung; und wie hätte der ſtillvergnügte Par-
ticularismus der Maſſen dieſe Grundſchäden des deutſchen Lebens erkennen
ſollen? Die inneren Zuſtände der größeren weltlichen Staaten, ſoweit
ſie der Geiſt des fridericianiſchen Zeitalters berührt hatte, boten zu leiden-
ſchaftlichem Unwillen keinen Anlaß. Viele der politiſchen Gedanken, welche
die Halbbildung heutzutage als „Ideen von 89“ zu feiern pflegt, waren
in Preußen längſt durchgeführt oder der Verwirklichung nahe: die Ge-
wiſſensfreiheit beſtand von Altersher, desgleichen eine wenig beſchränkte
Freiheit der Preſſe, die Kirchen waren im evangeliſchen Norden faſt überall
der Hoheit des Staates untergeordnet und ihre Güter ſeculariſirt; eine
wohlmeinende landesherrliche Verwaltung ſetzte den Herrenrechten des
Adels enge Schranken, und was noch aufrecht ſtand von den Ueberreſten
einer überlebten Geſellſchaftsordnung konnte durch einen feſten reforma-
toriſchen Willen friedlich beſeitigt werden. Nur in den Kleinſtaaten, die
der Gerechtigkeit der Monarchie entbehrten, fanden die Sünden der alt-
franzöſiſchen Adelsherrſchaft ein Gegenbild. Dort im ſtiftiſchen Deutſch-
land blühte noch die katholiſche Glaubenseinheit und die Hoffart adlicher
Domcapitel, in den Reichsſtädten waltete die Trägheit und die Corruption
altbürgerlicher Vetterſchaft, in den Territorien der Fürſten, Grafen und
Reichsritter die Willkür kleiner Winkeltyrannen; das ganze Daſein dieſer
verderbten und verknöcherten Staatsgewalten war ein Hohn auf die Ideen
des Jahrhunderts.


Faſt allein in dieſen winzigſten Gebieten des Reichs ließ ſich, da
aus Frankreich die frohe Kunde der großen Bauernbefreiung kam, eine
leiſe Gährung im Volke verſpüren. Es geſchah, daß die Aebtiſſin von
[119]Drohende Verwicklung mit Frankreich.
Herrenalb durch ihre Unterthanen aus dem Lande gejagt, ihrer Genoſſin
in Elten der Eid verweigert wurde. Kleine Bauernunruhen brachen
aus im Trierſchen, in den Herrſchaften einiger Reichsritter und vor
Allem in Speyer, dem verrufenſten der deutſchen Bisthümer, wo ſeit den
Zeiten des Bauernkrieges eine harte Pfaffenherrſchaft ſchaltete und die
Geſetztafel für die weltliche Dienerſchaft den Beamten „die Erfüllung des
Willens des Herrn, ſomit das gemeine Beſte“ als höchſtes Ziel vorhielt.
In Mecklenburg rotteten ſich mißhandelte Fröhner zuſammen und drohten:
„den Edelmann wille wi dodſlagen.“ Die armſeligen örtlichen Zänkereien,
welche den meiſten Reichsſtädten die Würze des Lebens bildeten, zeigten
neuerdings einen ungewohnt gehäſſigen Ton; die Sprache gegen die Obrig-
keit ward etwas lauter und ſchärfer; die geiſtlichen Fürſten den Rhein
entlang erließen ſchon in ihrer Herzensangſt geſtrenge Strafmandate wider
die Aufſäſſigkeit der Unterthanen.


Das Alles bedeutete wenig; der politiſche Schlummer war in Wahr-
heit nirgends im Reiche ſo tief wie hier, auch die literariſche Bewegung
des evangeliſchen Deutſchlands hatte das verkommene Völkchen der Krumm-
ſtabslande noch kaum berührt. Aber wenn ein Umſturz von unten her
nicht drohte, wenn ſelbſt Forſter in den Tagen ſeiner radicalen Schwärmerei
geſtehen mußte, dies Deutſchland ſei für eine Revolution nicht reif, ſo
fehlte doch dem halt- und waffenloſen Kleinſtaatenthum auch jede Kraft
des Widerſtands gegen fremde Gewalt. Die erſtorbenen Glieder des Reichs
waren Frankreichs Nachbarn, ſeit zwei Jahrhunderten gewohnt den Macht-
geboten des Verſailler Hofes ſich zu beugen; ſie lagen im Gemenge mit
den Gebieten der lebenskräftigeren weltlichen Staaten. Verſuchte das
revolutionäre Frankreich die alte Herrſcherſtellung der Bourbonen am
deutſchen Rhein in neuen Formen gewaltſam herzuſtellen, ſo konnte das
ſtiftiſche Deutſchland leicht mit einem Schlage zuſammenbrechen, die letzten
Trümmer des heiligen Reichs im Sturze mit ſich niederreißen.


Und ſolche Gefahr drohte ſchon ſeit den erſten, den ſogenannten un-
ſchuldigen Tagen der Revolution. Es war die Größe und der Fluch dieſer
Bewegung, daß ſie über Frankreichs Grenzen hinausfluthen mußte. Der
gräßliche Bauernkrieg des Sommers 1789 und die neuen Geſetze, welche
das Ergebniß dieſer Maſſenbewegung anerkannten, verwirklichten nur eine
Welt von Wünſchen und Gedanken, welche das ganze Jahrhundert hin-
durch über alle Völker des Weſtens ſich verbreitet hatten; was Wunder,
daß die franzöſiſche Nation ſich jetzt als das Meſſias-Volk der Freiheit
fühlte. Sie ſchrieb den furchtbar plötzlichen Zuſammenbruch des bourbo-
niſchen Staates nicht der Thatſache zu, daß die alte Ordnung in Frank-
reich noch ungleich verfaulter war als in den Nachbarlanden, ſondern der
Ueberlegenheit des franzöſiſchen Genies. Der Unwille über die tief ge-
ſunkene europäiſche Machtſtellung des Staates war unter den Urſachen
der Revolution nicht die ſchwächſte geweſen; nun, da die Kraft dieſes
[120]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Volkes ſich ſo herrlich zu bewähren ſchien und das Ausland bewundernd
nach der Hauptſtadt der Welt blickte, meinte man ſich berufen der weiten
Erde Geſetze zu geben. Die Nation war gewöhnt jedes fremde Recht zu
mißachten, ſie wähnte, daß ihre Bildung noch immer der ganzen Welt
zum Muſter diene, wie einſt in dem Zeitalter Ludwigs XIV.; von der
neuen eigenartigen Cultur, die in Deutſchland erwacht war, wußte ſie
nichts. Schon die Erklärung der Menſchenrechte erhob den anmaßenden
Anſpruch allen Völkern als Richtſchnur zu gelten, und Lafayette begrüßte
die neue Tricolore mit der Weiſſagung, ſie werde die Runde um den
Erdkreis machen. Seitdem wuchs die Macht der revolutionären Propa-
ganda; die innere Zerrüttung aller Nachbarlande, Italiens und Spaniens,
Hollands und Belgiens, der Schweiz und der deutſchen Kleinſtaaten ver-
ſprach ihr leichte Beute. Ein Weltkampf, wie ihn Europa ſeit den Tagen
der Religionskriege nicht mehr geſehen, war im Anzuge, wenn alle die
gräßliche Fäulniß, die ſich unter der Bourbonenherrſchaft in Frankreich
angeſammelt, die Sittenloſigkeit der höheren, die rohe Unwiſſenheit der
niederen Stände, und mit ihr zugleich die dämoniſche Macht der Gedanken
eines neuen Zeitalters über dieſe wehrloſe Staatenwelt verheerend herein-
flutheten.


Bereits war der erſte Schlag gegen die Rechte des deutſchen Reichs
gefallen: die Reichsſtände im Elſaß wurden ihrer grundherrlichen Rechte,
die Kirchenfürſten ihrer geiſtlichen Güter beraubt, offenkundigen Verträgen
zuwider, des Reiches ungefragt. So trat die alte große Machtfrage, die
zwiſchen den beiden Nachbarvölkern ſchwebte, der niemals völlig ausge-
tragene Kampf um die rheiniſchen Lande in wunderlich verzerrter Geſtalt
abermals an Deutſchland heran. Die Nothwendigkeit des Gewaltſtreiches
ließ ſich nicht ſchlechthin beſtreiten; Jedermann kannte die troſtloſe Lage jener
unglücklichen Elſaſſer Bauern, die zugleich der Krone Frankreich Steuern
und den kleinen deutſchen Herren Lehensabgaben zu leiſten hatten; erſt
durch dieſe befreiende That der Revolution wurden die Herzen des Land-
volks in dem deutſchen Lande ganz für Frankreich gewonnen. Sollte
Preußen, ſollten die verſtändigen weltlichen Reichsfürſten, die ſelber mit
dem Kirchengute längſt aufgeräumt hatten und bedachtſam an der Be-
freiung ihrer Bauern arbeiteten, jetzt mit den Waffen eintreten für die
Zehnten der Biſchöfe von Trier und Speyer, für die Herrengerichte der
Wurmſer und Leiningen, für dies Gewimmel kleiner Fürſten und Herren,
das am Reichstage gehorſam in omnibus sicut Austria ſtimmte und im
Norden nur mit Achſelzucken angeſehen wurde? Der Kampf gegen Frank-
reich konnte leicht zu einem Principienkriege gegen die Revolution werden,
denn der Radicalismus des Krieges duldet keine Mittelſtellung. Die Emi-
granten ſchürten und drängten an allen Höfen; fuhr das Schwert aus
der Scheide, ſo lag die Gefahr nahe, daß dieſe geſchworenen Feinde der
Revolution die Oberhand gewannen und die deutſchen Mächte fortriſſen
[121]Pläne Katharinas II.
zu dem thörichten Unternehmen einer Wiederherſtellung der altbourbo-
niſchen Zuſtände. Aber die Privilegien der Elſaſſer Reichsſtände bildeten
zugleich das einzige ſtaatsrechtliche Band, das die avulsa imperii noch
mit dem heiligen Reiche verkettete; ſie bedingungslos der Souveränität der
Pariſer Nationalverſammlung unterordnen hieß die letzten Anſprüche des
Reichs auf das Elſaß preisgeben; und ſo tief war der deutſche Staat noch
nicht geſunken, daß er das Werk Ludwigs XIV. freiwillig hätte zum Abſchluß
bringen ſollen — eben jetzt da Frankreich zwar in lärmenden Drohungen
ſich erging, doch weder Geldmittel noch ein ſchlagfertiges Heer beſaß.


Alſo zogen im Weſten wie im Oſten drohende Wolken herauf, und
längſt ſtand eine große Feindin Deutſchlands auf der Lauer und berechnete
die Stunde, da beide Unwetter zugleich über unſerem Vaterlande ſich
entladen, da der Untergang Polens und der franzöſiſche Krieg, gleichzeitig
hereinbrechend, die deutſchen Großmächte völlig lähmen würden. Kaiſerin
Katharina trug es dem preußiſchen Hofe in gekränkter Seele nach, daß
König Friedrich ihre polniſchen Pläne, ſein Nachfolger ihre byzantiniſchen
Kaiſerträume durchkreuzt hatte. Sie ſah das Einverſtändniß Preußens
und Oeſterreichs mit Beſorgniß, fand aber raſch das Mittel dieſen Bund
für Rußland unſchädlich zu machen: wenn ihr gelang die deutſchen Mächte
in den unabſehbaren Krieg mit Frankreich zu verwickeln, ſo war ſie Herrin
in Polen und konnte die unausbleibliche Vernichtung des Adelsſtaates
nach ihrem Sinne durchführen. Sie bemühte ſich kaum ihre Hoffnungen
zu verbergen, erklärte ihren Räthen offen: „Ich will die Ellenbogen frei
haben“ und die deutſchen Höfe mit den franzöſiſchen Händeln beſchäftigen.
Darum eilte ſie, den Türkenkrieg zu beendigen, darum redete die Freundin
Diderots jetzt als fanatiſche Gegnerin der Revolution; ſie beſchützte die
Emigranten, mahnte die Nachbarn unabläſſig an die gemeinſame Pflicht
aller Souveräne, an die Wiederaufrichtung der alten Krone Frankreichs;
ſie wünſchte eine Gegenrevolution durch die Brüder König Ludwigs, ſtellte
auch mit unbeſtimmten Worten die Waffenhilfe Rußlands für den großen
Kreuzzug des Royalismus in Ausſicht, da es doch in ihrer Hand lag ſich
nach Belieben zurückzuhalten. Dies Verfahren des Petersburger Hofes
ergab ſich ſo nothwendig aus Rußlands wohlgeſicherter geographiſcher
Stellung, daß der preußiſche Miniſter Alvensleben, ein Mann von keines-
wegs ungewöhnlichen Gaben, die Hintergedanken der Czarin ſofort durch-
ſchaute und dem Könige die Politik ſeiner raſtloſen Nachbarin genau
vorausſagte.


Weder der Kaiſer noch die preußiſchen Staatsmänner verkannten
völlig die unberechenbaren Gefahren eines Krieges in ſo verworrener Lage.
Leopolds nüchterner Kaltſinn blieb lange ganz unempfindlich gegen die
hilfeflehenden Briefe ſeiner unglücklichen Schweſter Marie Antoinette, die
ſich von weiblicher Leidenſchaft und gekränktem Fürſtenſtolze bis dicht an
die Grenzen des Landesverraths fortreißen ließ. Das preußiſche Cabinet
[122]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
war Anfangs von dem Auftreten der conſtitutionellen Parteien ſehr be-
friedigt, ſein Geſandter v. d. Goltz erkannte die Berechtigung der Re-
volution unbefangen an, zeigte ein offenes Auge für die gehäuften Thor-
heiten des verblendeten Hofes. Das wüſte Treiben der Emigranten wurde
in Wien und Berlin mit der gleichen Strenge verurtheilt. Erſt ſeit dem
Frühjahr 1791, ſeit König Ludwig ſeinen mißlungenen Fluchtverſuch durch
unerhörte perſönliche Demüthigungen büßen mußte, begannen die beiden
Höfe ernſtlich an eine Abwehr der revolutionären Gewaltthaten zu denken.
Die aufregende Nachricht fiel grade in den verhängnißvollen Zeitpunkt,
da Biſchoffswerder ſoeben die erſten Fäden angeknüpft hatte zur dauernden
Verbindung der beiden Mächte. Friedrich Wilhelms ritterlicher Sinn
flammte auf bei dem Gedanken die beleidigte Majeſtät in Frankreich mit
ſeinem königlichen Degen zu rächen. Einzelne gewandte Köpfe der Emi-
granten gewannen doch nach und nach geheimen Einfluß am Hofe; es
war kein Zufall, daß eben jetzt das neue unpreußiſche Weſen in der Ver-
waltung aufkam, die Abwendung von dem ſtolzen Freiſinn des großen
Königs, die kleinen Nadelſtiche gegen die Aufklärer; der mächtige Günſt-
ling führte Buch über die Demagogen und Verſchwörer in Preußen. Als
der unheilvolle Mann im Sommer 1791 zum zweiten male nach Oeſter-
reich hinüberging um die im Frühjahr eingeleitete Verſtändigung zu be-
feſtigen, fand er den Kaiſer zu Mailand in erregter Stimmung; drohende
Worte fielen: es werde Zeit das Uebel der Revolution mit der Wurzel
auszurotten, den Unruheſtiftern überall, auch in Deutſchland entgegenzu-
treten. Gleich nachher forderte Leopold durch das Rundſchreiben von
Padua die europäiſchen Mächte auf, ſich ſeines mißhandelten Schwagers
anzunehmen, jede Beleidigung der Ehre des Königs durch kräftige Maß-
regeln zu rächen, keine Verfaſſung Frankreichs anzunehmen, die nicht von
der Krone frei genehmigt ſei. Dann unterzeichnete Biſchoffswerder eigen-
mächtig, gegen ſeine Inſtructionen, den Wiener Vertrag vom 25. Juli,
wodurch beide Mächte ſich gegenſeitig ihren Beſitzſtand verbürgten und
einander Hilfe verſprachen für den Fall innerer Unruhen.


Damit war die abſchüſſige Bahn, die man in Reichenbach betreten,
bis zum Ende durchlaufen. Leopolds Klugheit hatte den Günſtling des
Königs völlig überliſtet. Preußen gab die ſtolze Selbſtändigkeit der frideri-
cianiſchen Politik auf, verpflichtete ſich, ohne jeden Entgelt dem kaiſerlichen
Hofe in ſeiner Bedrängniß Dienſte zu leiſten; denn nur Oeſterreich, nicht
Preußen war in ſeinem Beſitzſtande bedroht, in Belgien ſchwelte der
Brand des inneren Unfriedens noch fort und mochte leicht durch einen
Einfall der Franzoſen zu hellen Flammen angefacht werden. Der eigen-
mächtige Unterhändler wurde in Berlin mit Vorwürfen überhäuft; mehrere
Miniſter verwahrten ſich feierlich gegen dieſe verhängnißvolle Aenderung
des politiſchen Syſtems: die Kräfte des Staates ſorgſam zu Rathe zu
halten ſei die wirkſamſte Bekämpfung der Revolution, der Wiener Ver-
[123]Padua und Pillnitz.
trag lege dem Staate unberechenbare Verbindlichkeiten auf, die dem Heere
und dem Haushalt zum Verderben gereichen könnten. Auch die öffentliche
Meinung in Preußen begrüßte die öſterreichiſche Freundſchaft mit tiefem
Mißtrauen. Die Erinnerungen der ſieben Jahre waren noch unvergeſſen;
die Rechte der Reichsſtände im Elſaß und das Schickſal des linken Rhein-
ufers lagen dem Geſichtskreiſe der Norddeutſchen ſo fern, daß ſpäter noch,
als der Reichskrieg am Rheine ſchon durch anderthalb Jahre währte, einer
der erſten politiſchen Köpfe der Zeit, Spittler, ganz unbefangen ſchreiben
konnte: „wir Deutſchen im Genuſſe unſerer glücklichen Ruhe!“ König
Friedrich Wilhelm aber billigte die willkürlichen Schritte ſeines Freundes;
er traf bald darauf mit Leopold in Pillnitz zuſammen, fühlte ſich hin-
geriſſen von der würdigen perſönlichen Haltung des ſchlauen Florentiners
und jubelte: der Bund der beiden deutſchen Großmächte werde zum Segen
kommender Geſchlechter für ewige Zeiten dauern.


Eine unmittelbare Bedrohung Frankreichs lag freilich in allen dieſen
Mißgriffen nicht. Wenn Friedrich Wilhelm ſelber einen Kreuzzug gegen
die franzöſiſchen Rebellen lebhaft wünſchte, ſeine Miniſter wieſen den Ge-
danken eines Angriffskrieges ebenſo entſchieden von ſich wie der durchaus
friedfertige Kaiſer. In Pillnitz wurden die zum Kriege drängenden Emi-
granten hart zur Seite geſchoben, und es kam nur die inhaltloſe Er-
klärung vom 27. Auguſt zu Stande: die beiden Mächte ſprachen aus,
daß ſie die Sache König Ludwigs für eine gemeinſame Angelegenheit aller
Souveräne hielten; eine Einmiſchung in Frankreichs innere Händel ſolle
erfolgen, falls alle europäiſchen Mächte zuſtimmten. Das ſagte gar nichts,
da Jedermann wußte, daß England an einer bewaffneten Intervention
niemals theilnehmen wollte. Und ſogar dieſe unklaren Andeutungen ließ
man in Wien wieder fallen als König Ludwig im Herbſt in ſeine Würde
wieder eingeſetzt wurde und die neue Verfaſſung freiwillig beſchwor. Die
Revolution ſchien zum Stillſtande gelangt, der Kaiſer war völlig beruhigt,
und ſelbſt der alte Fürſt Kaunitz, der ernſtlich an einen europäiſchen Krieg
gegen „die wüthigen Narren“ Frankreichs gedacht hatte, geſtand: nunmehr
ſei jede Kriegsgefahr vorüber. Die Verhandlungen über die Rechte des
Reichs im Elſaß führte Leopold nach altem Reichsbrauch mit einer Mäßi-
gung, die der Schwäche gleich kam; er unterließ alle militäriſchen Sicher-
heitsmaßregeln und forderte nur Entſchädigung, nicht Wiederherſtellung
der Beraubten. Oeſterreich und Preußen bewogen auf Frankreichs Wunſch
den Kurfürſten von Trier, daß er die Rüſtungen des Emigrantenheeres
zu Coblenz unterſagte — dieſes winzigen Heeres, das ohnehin, bei dem
Todhaſſe der Franzoſen wider die adlichen Verräther, dem neuen Frank-
reich nie gefährlich werden konnte; und wenn Leopold hinzufügte, er wolle
durch ſeine belgiſchen Truppen den Trierer gegen den Ueberfall fran-
zöſiſcher Freiſchaaren decken, ſo that er nur was die unabweisbare Pflicht
des Reichsoberhauptes gebot.


[124]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Frankreich war es, Frankreich allein, das Angeſichts dieſer fried-
fertigen Haltung der deutſchen Mächte den Krieg erzwang. Das Grund-
geſetz der conſtitutionellen Monarchie war kaum vereinbart, ſo arbeiteten
die Doctrinäre der Gironde bereits an ſeiner Vernichtung; ſie wollten die
Republik und erkannten raſch, daß eine Kriegserklärung gegen den Schwager
des Königs das Anſehen des Thrones unrettbar erſchüttern, daß die letzten
armſeligen Ueberreſte des alten Königthums zuſammenbrechen mußten,
ſobald die Sturmfluth der revolutionären Propaganda über den Welt-
theil dahin fegte. Der Widerwille der ungeheuren Mehrheit der Nation
gegen die Republik ſollte durch den Glanz kriegeriſcher Erfolge, durch das
alte theuere Traumgebilde der natürlichen Grenzen beſchwichtigt, die Geld-
noth des Staates durch einen großen Beutezug geheilt werden. Bei dem
reizbaren Stolze der tief erregten Nation und ihrer gründlichen Unkennt-
niß ausländiſcher Zuſtände fiel es der wilden Rhetorik der Briſſot, Guadet
und Genſonné nicht ſchwer, aus Wahrem und Falſchem ein kunſtvolles
Trugbild zu weben, die thörichten Briefe des unglücklichen Hofes, den
offenen Verrath der Emigranten in Zuſammenhang zu bringen mit den
unvorſichtigen Worten der Erklärungen von Padua und Pillnitz. Das
Volk begann zu glauben, daß ſeine neue Freiheit durch eine finſtere Ver-
ſchwörung aller alten Mächte gefährdet ſei, daß man das Schwert ziehen
müſſe um das Recht der nationalen Selbſtbeſtimmung gegen die Vor-
mundſchaft Europas zu wahren. Derweil die kriegeriſche Stimmung in
der Geſetzgebenden Verſammlung von Tag zu Tage wuchs, zeigte man in
den Verhandlungen mit dem Kaiſer ſchnöden Uebermuth, bot den Reichs-
ſtänden im Elſaß nicht einmal eine beſtimmte Entſchädigung. Dann
forderte das Haus, hingeriſſen von den flammenden Reden der Gironde,
die feierliche Erklärung des Kaiſers, daß er den Plan einer europäiſchen
Vereinigung aufgebe und, gemäß den alten Bundesverträgen der Bour-
bonen, Frankreich zu unterſtützen bereit ſei — bei Strafe ſofortigen Krieges.
Da Leopold eine würdige maßvolle Antwort gab, wurde am 20. April
1792 der Krieg gegen Oeſterreich erklärt. Frevelhafter waren ſelbſt die
Raubzüge Ludwigs XIV. nicht begonnen worden als dieſer Kampf, der
nach allem menſchlichen Ermeſſen das ungerüſtete Frankreich in ſchimpf-
liche Niederlagen ſtürzen mußte. Eine doctrinäre Rede Condorcets ver-
kündete ſodann der Welt, wie das Princip der republikaniſchen Freiheit ſich
gegen den Despotismus erhebe. Dem geſammten alten Europa ward der
Handſchuh hingeworfen; für Preußen aber trat der Wiener Vertrag in
Kraft, der unterdeſſen durch ein förmliches Vertheidigungsbündniß ergänzt
worden war.


Der Krieg wurde den deutſchen Mächten aufgedrungen. Faſt im
ſelben Augenblicke rückten die ruſſiſchen Truppen jeden Widerſtand nieder-
ſchmetternd in Polen ein, der Wille der Czarin gebot an der Weichſel.
Wieder wie ſo oft ſchon befand ſich die centrale Macht des Feſtlandes
[125]Frankreich erklärt den Krieg.
zwiſchen zwei Feuern. Preußens Staatsmänner ſtanden vor der Wahl:
ob ſie entweder das zerrüttete, zum Angriff kaum fähige Heer der Re-
volution durch eine zähe Vertheidigung hinhalten und unterdeſſen mit der
geſammelten Kraft des Staates die deutſchen Intereſſen im Oſten wahren
oder umgekehrt die polniſche Entſcheidung vorläufig hinausſchieben ſollten
um zunächſt den franzöſiſchen Krieg mit raſchen, wuchtigen Schlägen zu
beenden. Da Frankreich ſelber durch ſeine Kriegserklärung die alten Ver-
träge zerriſſen hatte, ſo durfte ein heldenhafter Sinn jetzt wohl die Hoff-
nung faſſen, die von König Friedrich ſo oft beklagten deutſchen Thermo-
pylen, die Vogeſen, dem Reiche zurückzubringen. Was man auch wählen
mochte, die Stunde drängte; es galt die ganze Macht Preußens ſofort
einzuſetzen, mit überwältigender Schnelligkeit im Oſten oder im Weſten
einen durchſchlagenden Erfolg zu erringen. Aber das Adlerauge des großen
Königs wachte nicht mehr über ſeinem Staate; die kleinen Leute, welche
ſeinen Nachfolger umgaben, riethen zu dem Verkehrteſten, was geſchehen
konnte: ſie begannen einen Angriffskrieg gegen das Innere Frankreichs
und verwendeten für dies gewagte Unternehmen kaum die Hälfte des
preußiſchen Heeres.


Der Krieg der erſten Coalition ging verloren durch diplomatiſche
Fehler, nicht durch Niederlagen auf dem Schlachtfelde. Es ward ent-
ſcheidend für ſeinen Verlauf, daß grade jetzt in Wien und Berlin alle
Sünden und Lügen jener gierigen ideenloſen Cabinetspolitik des acht-
zehnten Jahrhunderts wieder emporkamen, welche der Gradſinn Friedrich
Wilhelms I. nicht verſtanden, der Heldenſtolz ſeines Sohnes verachtet
hatte. Kaiſer Leopold ſtarb ſchon zu Anfang des Krieges. Sein junger
Nachfolger Franz II. glaubte an das althabsburgiſche AEJDU mit der
ganzen Starrheit eines gedankenleeren Kopfes, blieb allezeit der einfachen
Anſicht, daß ſein Erzhaus niemals genug Land beſitzen könne; er nahm
die joſephiniſchen Eroberungspläne wieder auf, hoffte durch den fran-
zöſiſchen Krieg den Austauſch von Belgien gegen Baiern zu erreichen.
Auch die preußiſche Staatskunſt zeigte nicht mehr den alten Charakter
nüchterner Selbſtbeſchränkung; ſeit dem Abſchluß des öſterreichiſchen Bünd-
niſſes ward auch ſie von der unſteten Begehrlichkeit der habsburg-loth-
ringiſchen Hauspolitik ergriffen und ſchweifte unſicher ins Schrankenloſe
ſtatt nach guter Hohenzollernweiſe ein feſt begrenztes Ziel mit eiſerner
Ausdauer zu verfolgen. Den größten Gewinn an Land und Leuten, wo
es auch ſei, mit den kleinſten Opfern herauszuſchlagen, das war die Weis-
heit der pfiffigen Ränkeſchmiede Haugwitz und Lucheſini. Sie ſahen ein,
daß der Wiener Vertrag, welcher dem Kaiſer den Beiſtand Preußens un-
bedingt zur Verfügung ſtellte, eine ſträfliche Thorheit geweſen, und ver-
langten nun, noch ehe Oeſterreich ſeine bairiſchen Pläne kundgab, zur
Belohnung für die Kriegshilfe ein Stück von Polen und die pfälziſchen
Lande am Niederrhein; Pfalzbaiern mochte dafür im Elſaß entſchädigt
[126]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
werden. Sie faßten alſo die Wiedereroberung der deutſchen Weſtmark
ins Auge und gedachten zugleich den alten jülich-cleviſchen Erbfolgeſtreit
gänzlich zum Vortheil Preußens zu beendigen. Der geſunde Kern dieſer
Gedanken war unverkennbar, doch wie durfte man hoffen, einen ſo glän-
zenden Gewinn, die Erwerbung von Poſen und der Rheinprovinz zugleich,
anders zu erreichen als durch das Aufgebot aller Kräfte der Monarchie?
Ein häßlicher Anblick, wie nun die begehrlichen Wünſche der beiden Höfe
einander wechſelſeitig überboten und ſteigerten. Um nur der polniſchen
Entſchädigung ſicher zu ſein, geſtattete Preußen, daß Oeſterreich ſich durch
Baiern vergrößere. Der oberſte Grundſatz der fridericianiſchen Politik,
der ſo oft mit dem Schwert und der Feder behauptete Entſchluß des
großen Königs, dem Hauſe Oeſterreich unter keinen Umſtänden eine Macht-
erweiterung im Reiche zu geſtatten, wurde in kläglicher Schwäche auf-
gegeben — „aus feiger Habgier“, wie Friedrich einſt auf ähnliche Vor-
ſchläge geantwortet hatte. Und dabei war man doch der treuen Freundſchaft
des neuen Bundesgenoſſen keineswegs verſichert.


Im Juli 1792 verſammelte ſich der hohe Adel deutſcher Nation zu
Mainz um ſeinen neuen Kaiſer Franz. Es war das Henkermahl des
heiligen Reichs. Noch einmal prunkten durch die engen Gaſſen des goldenen
Mainz die Karoſſen der geiſtlichen Kurfürſten, das glänzende Diener-
gefolge von hunderten reichsfreier Fürſten, Grafen und Herren, die ganze
Herrlichkeit der guten alten Zeit — zum letzten male bevor das neue
Jahrhundert den Urväterhausrath der rheiniſchen Biſchofsmützen und
Fürſtenkronen mit ehernen Sohlen zermalmte. Während dieſer rauſchen-
den Feſte verhandelten die beiden Großmächte insgeheim über den Sieges-
preis. Das Schickſal Baierns ſchien entſchieden; Preußen gab ſeinen
alten Schützling, das Haus Wittelsbach völlig preis, und bei der mili-
täriſchen Schwäche der ſüddeutſchen Staaten unterlag es keinem Zweifel,
daß Oeſterreich den bairiſch-belgiſchen Tauſch ſogleich erzwingen konnte.
Da traten die kaiſerlichen Unterhändler mit der Erklärung hervor, ihr
Herr verlange nicht blos Baiern, ſondern auch das ſoeben durch Preußen
rechtmäßig erworbene Ansbach-Baireuth; kein Zweifel mehr, die Hofburg
trachtete nach der Theilung Deutſchlands, nach der Unterwerfung des
ganzen Südens. Die Miniſter in Berlin fühlten ſich „wahrhaft empört“,
der König empfand den Anſchlag wider ſeine fränkiſchen Stammlande als
eine perſönliche Beleidigung. Auch über die polniſche Frage kam eine
klare Verſtändigung nicht zu Stande. Obgleich Oeſterreich einer Gebiets-
erweiterung Preußens im Oſten nicht gradezu widerſprach, ſo fühlten
doch beide Theile, daß ihre Anſichten über Polens Zukunft weit aus-
einander gingen; der Berliner Hof hatte ſich endlich überzeugt, daß die
von Wien her begünſtigte polniſche Maiverfaſſung dem preußiſchen Intereſſe
ſchnurſtracks zuwiderlief.


Verſtimmt, grollend, ohne jede feſte Verabredung über das Ziel des
[127]Der Krieg von 1792.
Kampfes, zogen die Verbündeten in den Krieg hinaus. Der kaiſerliche
Hof führte den Feldzug ungern als einen aufgezwungenen Vertheidigungs-
krieg; die preußiſchen Staatsmänner leiſteten ebenſo widerwillig eine Hilfe,
die nach den Verträgen nicht verweigert werden konnte; beide Mächte
tröſteten ſich mit der unbeſtimmten Hoffnung, das widerwärtige Unter-
nehmen werde doch irgend einen Landgewinn abwerfen. Nur König Friedrich
Wilhelm ſchwelgte in ritterlichen Hochgedanken; er ſah ſich jetzt als den
Vorkämpfer des rechtmäßigen Königthums, auch die Geſtalten des Arminius
und anderer Retter des deutſchen Vaterlandes erſchienen ihm in ſeinen
Träumen. Welche Ordnung er dem beſiegten Frankreich auferlegen ſollte
blieb ihm freilich ſelber unklar.


Noch bevor die Heere aufeinander trafen enthüllte ſich, außer der
Zwietracht der Verbündeten, auch die andere heilloſe Unwahrheit, daran
die Coalition krankte. Da die Redner der Gironde den Principienkrieg
für die republikaniſche Freiheit predigten, ſo konnten ihre Feinde ſich dem
Einfluß der contrerevolutionären Partei nicht ganz entziehen. Oeſterreich
galt in Paris als der Schirm und Träger aller jener alten Staats-
gedanken, die man dort mit dem geduldigen Geſammtnamen Feudalismus
bezeichnete; gegen dieſe Macht der Finſterniß fochten die Wortführer der
Revolution mit freudigem Eifer. Daß aber der Staat des Philoſophen
von Sansſouci, der Rebell gegen Kaiſer und Reich, jetzt das alte Europa
mit ſeinen Waffen ſchützte, erſchien ihnen ganz ungeheuerlich; ſie gaben
die Hoffnung nicht auf, dieſen Staat der Aufklärung noch zu ſich hinüber-
zuziehen. Gleichwohl vermochte das preußiſche Hauptquartier nicht, die
immer lauter und zuverſichtlicher auftretenden Emigranten von ſich fern
zu halten. Der Oberbefehlshaber, der Herzog von Braunſchweig, unter-
ſchrieb in einem Augenblicke kopfloſer Schwäche ein fanatiſches Kriegs-
manifeſt, das durch einen Heißſporn des emigrirten Adels ſeine Färbung
erhalten hatte und im preußiſchen Cabinet Entſetzen erregte: der geiſt-
reiche Schüler der franzöſiſchen Philoſophie, dem der Pariſer Kriegsminiſter
vor Kurzem erſt die Führung des Revolutionsheeres angeboten hatte, be-
drohte in grimmigen Worten das revolutionäre Frankreich mit Verderben
und Zerſtörung. Die Gironde frohlockte; die contrerevolutionären Pläne
der verbündeten Despoten ſchienen erwieſen, über allen Zweifel hinaus.


Unſelig wie die Politik, welche den Kampf begann, war auch die
Weiſe der Kriegführung. Wohl blieben die wohlgedrillten Regimenter
Oeſterreichs und Preußens den zerlumpten und verwilderten Haufen des
Revolutionsheeres noch lange militäriſch überlegen. Wo es zum Schlagen
kam wurden die Franzoſen von den fridericianiſchen Truppen regelmäßig
geworfen; den preußiſchen Reitern und namentlich dem gefürchteten rothen
König, dem Oberſt Blücher von den rothen Huſaren, wagten ſie ſelten
Stand zu halten. Der märkiſche Bauer ſpottete noch nach Jahren über
die franzöſiſchen Katzköppe, wie er die Chaſſeurs nannte. Blücher gab
[128]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
nach Abſchluß der drei Rheinfeldzüge ſein Campagne-Journal heraus und
ſchilderte beſcheiden doch mit herzhaftem Selbſtgefühl, wie oft er die Feinde
„geſchmiſſen“ habe; die Offiziere zogen aus dem Kampfe heim mit dem
Bewußtſein rühmlicher Pflichterfüllung. Und doch führten dieſe drei Feld-
züge, die den preußiſchen Fahnen ſo viele ſtattliche Einzel-Erfolge brachten,
zu einem ſchmachvollen Frieden. Der Charakter der Kriegführung wird
überall und zu allermeiſt in Coalitionskriegen bedingt durch die Ziele der
Staatskunſt, welcher ſie dient; eine Politik, die ſich vor dem Siege fürchtet,
kann große Feldherren nicht ertragen. Die ſchwankende Rathloſigkeit der
preußiſchen Politik fand in der Willensſchwäche, in dem bedachtſamen
Zaudern des Herzogs von Braunſchweig ihren getreuen Ausdruck. König
Friedrich war in den letzten Zeiten des ſiebenjährigen Krieges durch die
erdrückende Uebermacht der Feinde zu einer Behutſamkeit gezwungen
worden, die ſeinen Neigungen und Grundſätzen widerſprach. Was ihm
allein die Noth auferlegte, erſchien den Generalen der Friedensjahre als
die Blüthe militäriſcher Weisheit. Sie hielten für die Aufgabe des Feld-
herrn, die Truppen in einen weiten Cordon auseinanderzuziehen, jeden
irgend bedrohten Punkt zu decken, den Berg durch das Bataillon und
das Bataillon durch den Berg zu ſichern; jener Geiſt der Initiative, den
Friedrich ſo oft für den Nerv des Kriegshandwerks erklärt hatte, ging
dem friedensfrohen Geſchlechte verloren. Die Künſtelei dieſer bedacht-
ſamen Kriegsmethode entſprach zugleich dem Temperament des Braun-
ſchweigers und ſeinen politiſchen Anſichten; denn er allein unter den
Generalen des verbündeten Heeres fürchtete die dämoniſchen Kräfte der
Revolution, er ſcheute das Wagniß der offenen Feldſchlacht.


Nach altöſterreichiſchem Brauche kam von den zugeſagten kaiſerlichen
Hilfsvölkern nur der kleinſte Theil zur Stelle. Der Oberfeldherr eroberte
zunächſt die Feſtungen der Maaslinie und rückte dann, widerwillig dem
Befehle des Königs gehorchend, weſtwärts gegen Paris vor, obgleich ſein
Heer viel zu ſchwach war um die Eroberung der feindlichen Hauptſtadt
verſuchen zu können. Schon am 20. September fiel die Entſcheidung des
Feldzugs. Der Herzog wagte nicht, die Franzoſen auf den Höhen von
Valmy anzugreifen, ſondern gab den ſicheren Sieg aus der Hand und räumte
darauf den franzöſiſchen Boden vor den anrückenden Verſtärkungen des
Feindes. Mit dem Seherblick des Dichters durchſchaute Goethe die Folgen
dieſer großen Wendung; er ſagte zu den preußiſchen Offizieren: „Am
heutigen Tage beginnt eine neue Epoche der Weltgeſchichte.“ Inzwiſchen
war die Krone der Capetinger durch den Aufſtand des zehnten Auguſt
zerbrochen worden; aus dem gräßlichen Blutbade der Septembermorde
ſtieg die franzöſiſche Republik empor, und triumphirend konnten die Gewalt-
haber des neuen Frankreichs dem Convente als Brautgabe die große Kunde
bringen, daß die fridericianiſche Armee den Heerſchaaren der Freiheit un-
rühmlich den Rücken gekehrt habe.


[129]Erſte Erfolge der Franzoſen.

Und noch waren die Ueberraſchungen dieſes wilden Jahres 92 nicht
zu Ende; es ſchien, als wollte das unerforſchliche Schickſal die Thorheit
aller menſchlichen Vorausſicht erweiſen. Ein franzöſiſches Freicorps unter
unfähigem Führer drang in einem tollen Abenteurerzuge an der Flanke
des preußiſchen Heeres vorbei bis gegen Mainz; die erſte Feſtung Deutſch-
lands öffnete ohne Widerſtand ihre Thore. Die Herrlichkeit der rheiniſchen
Kleinſtaaterei brach wie ein Kartenhaus zuſammen; Fürſten und Biſchöfe
ſtoben in wilder Flucht auseinander. Pfalzbaiern erklärte ſich neutral,
nach der alten landesverrätheriſchen Gewohnheit des Hauſes Wittelsbach;
das heilige Reich ſpürte den Anfang des Endes. Das willenloſe Volk
der geiſtlichen Lande ließ ſich von einer Handvoll lärmender Feuerköpfe
das Poſſenſpiel einer rheiniſchen Republik vorführen, ſprach in ehrfürchtiger
Scheu alle Kraftworte der Pariſer Völkerbeglücker nach, obgleich „das
Phlegma, das uns die Natur auferlegt hat, uns nur erlaubt die Fran-
zoſen zu bewundern“; an dem Anblick dieſes Zerrbildes der Freiheit iſt
dem edelſten der rheiniſchen Enthuſiaſten, Georg Forſter, das Herz ge-
brochen. Währenddem fielen auch Savoyen und Belgien, ſchlecht ver-
theidigt, den ſchlechten Truppen der Republik in die Hände. Wunderbare,
ſtrahlende Erfolge, die ſelbſt ein nüchternes Volk berauſchen konnten! Ein
maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den Führern der neuen Republik die Seele;
ſie boten allen Völkern, die ſich für die Freiheit erheben wollten, den Bei-
ſtand Frankreichs an. Der Kampf der revolutionären Propaganda ward
feierlich verkündigt: Krieg den Paläſten, Friede den Hütten! In dieſer
fanatiſchen Siegeszuverſicht lag eine unermeßliche ſittliche Kraft. Auch
die militäriſche Macht der Republik war im Erſtarken, obgleich noch Alles
in ihrem Heerweſen wüſt und wirr durcheinander gährte. Den unge-
heuren Maſſen, welche der Convent ins Feld führte, konnte die methodiſche
Kriegführung der fridericianiſchen Generale wohl auf dem Schlachtfelde
den Sieg entreißen, doch eine ſolche Volkserhebung völlig niederzuwerfen
war für die kleinen Heere der alten Zeit unmöglich. Unter den Frei-
willigen von 1792 fand ſich eine Fülle junger Talente, ein großer Theil
der Marſchälle und Generale des Kaiſerreichs; die neue Gleichheit bot
allen aufſtrebenden Köpfen freie Bahn, der Schrecken der Guillotine ſpornte
Jeden das Höchſte zu wagen.


Alſo kündigte ſich hier eine neue Kriegsweiſe an und eine neue Staats-
kunſt, welche die Ländergier der alten Cabinetspolitik mit einer unerhörten
Mißachtung aller überlieferten Formen des Völkerrechts verband. Sollte
das Reich dem Angriff dieſer unberechenbaren jugendlichen Macht wider-
ſtehen, ſo mußten vor Allem die Rheinlande eine neue kräftigere politiſche
Ordnung erhalten und zum Widerſtande befähigt werden. Durch die
Schuld der kleinen Höfe war das feſte Mainz in die Hände Cuſtines
gefallen, und auch nach der Niederlage wußten ſie dem bedrängten Vater-
lande nichts zu bieten als jammernde Klagen und Rechtsverwahrungen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 9
[130]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
und einige leidenſchaftliche Flugſchriften, die den getreuen Unterthan gegen
„das Bürgerchen Cuſtine“ aufregen ſollten. Durfte man dieſe verlebten
politiſchen Gewalten, die vor den erſten Schlägen des Feindes zuſammen-
gebrochen waren, wieder aufrichten? Der Gedanke der Seculariſation
drängte ſich nochmals unabweisbar auf; rechtzeitig und durch die deutſchen
Mächte allein ausgeführt, bot er das letzte Mittel den Beſtand des Reichs-
gebietes zu retten. In Berlin wie in Paris wurde die Beſeitigung der
geiſtlichen Staaten damals ſchon ernſtlich erwogen. Indeß auf Oeſterreichs
Widerſpruch ließen die preußiſchen Staatsmänner den Plan fallen, und
wieder begann das traurige geiſtloſe Feilſchen um „ein billiges Super-
plus“. Man beſchloß endlich, nachdem die Preußen bereits Frankfurt und
das rechte Rheinufer von den Franzoſen geſäubert hatten, im nächſten
Jahre Belgien und Mainz zurückzuerobern; dafür ſollte der Kaiſer an
bairiſchen, Preußen an polniſchen Landſtrichen ſich ſchadlos halten. Beide
Mächte führten den leidigen Krieg nur noch weiter um ſich eine Gebiets-
abrundung zu ſichern. Der Plan einer royaliſtiſchen Gegenbewegung, der
den ehrlichen Sinn des Königs von Preußen noch immer beſchäftigte,
verlor jeden Boden, ſeit die Republik begründet war und bald nachher
der Kopf König Ludwigs fiel.


Währenddem befeſtigten ſich die Ruſſen in ihrer Machtſtellung an
der Weichſel. Katharina war durch den Frieden von Jaſſy des Türken-
krieges entledigt, und da ſie nun mit geſammelter Kraft ſich auf die
polniſche Beute ſtürzte, fand ſie abermals einen Bundesgenoſſen an der
Parteiwuth des ſarmatiſchen Adels. Mit Hilfe der Tarnowicer Con-
foederation warf ſie die Neuerungen von 1791 über den Haufen und ſtellte
die alte Landesverfaſſung wieder her, das will ſagen: ihre eigene Herr-
ſchaft über die Krone Polen. Seit dreißig Jahren arbeitete ſie unab-
läſſig an dem Plane, das Czarenreich durch die Eroberung Polens in
unmittelbaren Verkehr mit der Cultur des Weſtens zu bringen; jetzt ſchien
ſie am Ziele ihrer Wünſche, ſie gebot über die Weichſellande und konnte
nach Belieben entſcheiden, wann und in welchen Formen die völlige Ein-
verleibung des eroberten Gebietes erfolgen ſollte. Wer durfte ihr wider-
ſtehen? Die Macht Rußlands war durch die Zwietracht der deutſchen
Nachbarn, durch den Zerfall der weſteuropäiſchen Staatengeſellſchaft gewaltig
angewachſen und wurde überdies von allen Zeitgenoſſen überſchätzt; Nie-
mand bemerkte, daß das menſchenarme Land durch die Kriege ſeiner ruhe-
loſen Czarin eine Million Menſchen verloren hatte und zu einem An-
griffskriege nur mäßige Mittel beſaß. Eine Parteinahme der deutſchen
Höfe für die polniſchen Patrioten war durch Katharinas diplomatiſche
Kunſt von Haus aus verhindert. Da der Petersburger Hof die jaco-
biniſchen Königsmörder mit Worten leidenſchaftlicher Entrüſtung bekämpfte,
ſo warb die Warſchauer Patriotenpartei um die Hilfe der Franzoſen; wer
Frankreichs Feind war konnte nicht der Bundesgenoſſe Polens ſein.


[131]Zweite Theilung Polens.

Dergeſtalt durch die überlegene, ſkrupelloſe Politik der Czarin von
allen Seiten her umſtellt fand ſich König Friedrich Wilhelm wieder in
ähnlicher Lage wie ſein Vorgänger zwanzig Jahre früher. Er mußte ſich
entſcheiden, ob er die Alleinherrſchaft der Ruſſen in Polen dulden oder
durch eine neue Theilung das Anſchwellen der moskowitiſchen Macht be-
ſchränken ſollte. Die Wahl konnte nicht zweifelhaft ſein. Das preußiſch-
polniſche Bündniß war durch die Polen ſelber zerriſſen, als ſie dem Hauſe
Wettin die erbliche Krone anboten. Der Berliner Hof that jetzt endlich
was die Intereſſen Preußens längſt geboten: er erklärte ſich offen gegen
die Maiverfaſſung von 1791, freilich mit Worten erkünſtelter Entrüſtung,
welche von ſeiner bisherigen Haltung häßlich abſtachen. Er verſammelte
die Hälfte ſeines Heeres an der Oſtgrenze, und da Katharina bei der
unheimlichen Gährung, die das polniſche Land erfüllte, ſich nicht ſicher
fühlte, ſo willigte ſie im Januar 1793 widerſtrebend in die zweite Theilung
Polens. Dann ſah die Welt den Selbſtmord eines weiland mächtigen
Volkes. Alle Gräuel der Pariſer Conventsherrſchaft erſchienen unſchuldig
neben dem entſetzlichen Schauſpiele der ſtummen Sitzung des Reichstags
von Grodno: durch ein verabredetes Gaukelſpiel, durch den Schein des
Zwanges ließen ſich die beſtochenen Landboten und Magnaten die Ge-
nehmigung der Theilung ihres Vaterlandes abtrotzen. Preußen erwarb,
außer Thorn und Danzig, jene großpolniſchen Lande um Poſen und
Gneſen, welche Friedrich im ſiebenjährigen Kriege ſo ſchmerzlich vermißt
hatte. Sie bildeten die natürliche Verbindung zwiſchen Schleſien und
Altpreußen und konnten, da ſie bereits einen ſtarken Bruchtheil deutſcher
Bewohner enthielten und mit dem Reiche lebhaften Verkehr unterhielten,
im Laufe der Jahre vielleicht ganz für die germaniſche Geſittung gewonnen
werden. Die weite Lücke in unſerer Oſtgrenze war endlich geſchloſſen; all
das Unrecht, das der polniſche Adel ſeit Jahrhunderten den deutſchen
Culturbringern angethan, fand nunmehr ſeine Sühne. Aber wenn die
Theilung ſelber eine That gerechter Nothwehr war, ſo zeigte doch die
Wahl der Mittel den ſittlichen Verfall des preußiſchen Staates. Durch
Wortbruch und Lüge, durch Beſtechung und Ränke jeder Art erreichte er
ſein Ziel; nicht befriedigt mit der Sicherung ſeiner Grenzen griff er ſchon
weit über das Maß des Nothwendigen hinaus, bis zur Bzura, tief in
reinpolniſches Land hinein. Das alſo verſtümmelte Polen konnte nicht
mehr beſtehen; die zweite Theilung führte unaufhaltſam zu einem letzten
Umſturz, der für Deutſchland verderblich werden mußte.


Die nächſte Folge des Theilungsvertrages war der Zerfall der preu-
ßiſch-öſterreichiſchen Allianz. Kaiſer Franz hatte zwar der Vergrößerung
Preußens im Voraus zugeſtimmt, weil er ohne den Beiſtand der nord-
deutſchen Macht Belgien nicht wiedererobern konnte; dennoch vernahm er
mit Unmuth, wie ſein Bundesgenoſſe eigenmächtig, früher als er ſelber,
ſich den Siegespreis geſichert hatte; es klang ihm wie Hohn, als Katharina
9*
[132]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
ſchrieb, er möge ſein eigenes Werk krönen durch die Genehmigung der
neuen polniſchen Theilung. Erzürnt entließ er ſeine Räthe und vertraute
die Leitung der auswärtigen Geſchäfte dem Miniſter Thugut. Dieſer ge-
häſſigſte aller Feinde Preußens, durch rührige Schlauheit und gewiſſen-
loſe Thatkraft den Berliner Staatsmännern weit überlegen, dachte nach
dem Vorbilde Katharinas die ungeheure Verwirrung der europäiſchen Lage
für eine Eroberungspolitik im großen Stile auszubeuten; überallhin
ſchweiften ſeine begehrlichen Wünſche, nach Flandern und dem Elſaß, nach
Baiern, nach Italien, nach den Donaulanden, nach Polen. Sein Haß
gegen den norddeutſchen Verbündeten ſtieg noch, ſeit der Erbe von Pfalz-
baiern, der Herzog von Zweibrücken ſich wider den bairiſch-belgiſchen
Tauſchplan verwahrte, und Preußen, den begangenen Fehler endlich er-
kennend, rundweg erklärte, ohne die freie Zuſtimmung des Hauſes Wittels-
bach dürfe der Tauſch nicht ſtattfinden. Zunächſt ging der öſterreichiſche
Staatsmann darauf aus, die Macht Preußens in Polen niederzuhalten.
Nichts konnte der Czarin willkommener ſein; ſie empfand es bitter, daß
ihr die polniſche Beute zum zweiten male durch Preußens Dazwiſchen-
treten geſchmälert wurde, und benutzte geſchickt den gegenſeitigen Haß der
deutſchen Mächte um den einen Nachbarn durch den anderen zu ſchwächen.
Schon im Sommer 1793 traten die Höfe von Wien und Petersburg
einander näher; über die feindſeligen Abſichten dieſes neuen Kaiſerbundes
konnte man ſich in Berlin nicht täuſchen.


Der Zerfall der Coalition zeigte ſich ſofort in den Kriegsereigniſſen.
Die Preußen überſchritten den Rhein nahe der alten Pfalz bei Caub, an
derſelben Stelle, wo ſie zwei Jahrzehnte ſpäter den Kampf um den
deutſchen Strom von Neuem begonnen haben; ſie vertrieben den Feind
vom linken Ufer, belagerten und eroberten Mainz. Unter dem Schutze
ihrer Waffen kehrte der entflohene hohe Adel zurück und ſtellte unbeläſtigt
allen Unfug der Kleinſtaaterei wieder her, deren rettungsloſe Verderbniß
man doch in Berlin wohl kannte. Dann ſtand die preußiſche Armee
lange im pfälziſchen Gebirge, mit der Front ſüdwärts gegen das Elſaß,
überall ſiegreich wo der Feind einen Angriff verſuchte; doch ſie wagte keinen
Vorſtoß, denn das Berliner Cabinet mißtraute den Abſichten ſeines Ver-
bündeten. Der kaiſerliche General Wurmſer, der den linken Flügel des
Heeres vor den Weißenburger Linien befehligte, verlangte den Einmarſch
ins Elſaß, um auch dort wie am Mittelrhein die Herrſchaft ſeiner Standes-
genoſſen vom Reichsadel wiederherzuſtellen, und trotzte dem preußiſchen
Oberbefehlshaber in offenem Ungehorſam. Da trat gegen das Ende des
Jahres General Hoche an die Spitze der franzöſiſchen Truppen, der
reinſte Menſch unter den jungen militäriſchen Talenten der Republik.
Von den Preußen bei Kaiſerslautern zurückgeſchlagen, wendete er ſich mit
dem Ungeſtüm des genialen Naturaliſten gegen Wurmſers Corps, ſchlug
die Kaiſerlichen auf dem Gaisberge, bei Wörth, bei Fröſchweiler, auf jenen
[133]Feldzug von 1793.
Vorhöhen des Gebirges, wo dereinſt die erſten Schläge des großen Ver-
geltungskrieges fallen ſollten, befreite das von den Verbündeten belagerte
Landau und zwang Wurmſer zum Rückzuge. Das preußiſche Heer konnte
nach den Niederlagen der Oeſterreicher das Gebirge nicht mehr halten
und räumte die Pfalz. Das unglückliche Land lernte in den Schrecken
des „Plünderwinters“ die Wohlthaten der franzöſiſchen Freiheit kennen.


Schwere Niederlagen wecken die ſittliche Kraft in einem tüchtigen Heere;
dieſer durch fremde Schuld verlorene Feldzug zerrüttete die Mannszucht
unter den preußiſchen Offizieren. Man ſchalt und klagte laut, forderte
die Heimkehr aus dem unnützen Kriege. Das unpreußiſche Weſen, das
die Verwaltung lähmte, drang auch in das Heer; die Armee glich einer
militäriſchen Republik; der Groll gegen die Oeſterreicher entlud ſich in
hundert gehäſſigen Händeln. Auch auf dem niederländiſchen Kriegstheater
war die jetzt durch England verſtärkte Coalition wenig glücklich. Sie hatte
Belgien zurückgewonnen, und im Sommer, nach der Einnahme von
Valenciennes und Mainz, lag die Straße nach Paris offen vor den ver-
bündeten Heeren, wenn man den Entſchluß fand die Armeen zu einem
gemeinſamen Vorſtoße zu vereinigen. Aber die engliſche Handelspolitik
verlangte nach dem Beſitze von Dünkirchen, Thugut forderte die Eroberung
der Picardie; über dem Gezänk der Diplomaten ging der günſtige Zeit-
punkt verloren, und zu Ausgang des Feldzugs ſtand man wieder in der
Defenſive an der belgiſchen Südgrenze. Unterdeſſen war die Kriegsmacht
der Republik in beſtändigem Wachſen. Die Schreckensherrſchaft der Jaco-
biner unterwarf das geſammte Land der Dictatur der Hauptſtadt; ſie
bedurfte des Krieges, weil ſie jedes wirthſchaftliche Gedeihen zerſtörte.
Der Gedanke der revolutionären Propaganda ward zur furchtbaren Wahr-
heit; eine ruheloſe Verſchwörung ſpannte ihre Netze über den halben Welt-
theil, bis nach Warſchau und Turin, nach Amſterdam und Irland, ver-
ſuchte die Grenzen aller Länder ins Wanken zu bringen. Das Volk brachte
zitternd die ungeheuren Opfer, welche das Gebot der Pariſer Gewalt-
haber ihm auferlegte. Wenngleich der Terrorismus der Conventscom-
miſſäre die deutſchen Provinzen Frankreichs erbitterte und im katholiſchen
Elſaß da und dort ſogar altöſterreichiſche Erinnerungen wachrief, die Maſſe
der Bauerſchaft im Oſten hielt doch treu zu der Tricolore, weil ſie von
dem Siege der Coalition die Rückkehr der Zehnten und Frohnden fürchtete.
In Straßburg wurde das hohe Lied der Revolution gedichtet. Carnots
Genie gab dem Heere eine neue Organiſation, fügte Linientruppen und
Nationalgarden in der taktiſchen Einheit der Halbbrigaden zuſammen,
beſeitigte die unbrauchbaren gewählten Führer, bildete aus den friſcheſten
Kräften der altbourboniſchen Offiziere und der neuen Freiwilligen ein
fähiges Offizierscorps. Die wilde Verwegenheit der ungeſchulten republi-
kaniſchen Generale, die mit rückſichtsloſer Vergeudung von Menſchenleben
und Kriegsmaterial auf den Gegner losſtürmten, wurde den bedachtſamen
[134]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Schülern der alten Kriegskunſt ſehr läſtig; auch die Haltung der fran-
zöſiſchen Mannſchaften beſſerte ſich etwas durch die lange Kriegsübung.


So erſtarkte der Gegner; Preußen dagegen fand ſich zu Anfang des
dritten Feldzugs völlig gelähmt durch die Erſchöpfung der Geldmittel.
Sein Staatsſchatz war nahezu geleert. Der König hatte ſchon im
zweiten Kriegsjahre engliſcher Hilfsgelder nicht entbehren können. Ihm
und ſeinem Heere allein verdankte das Reich die Wiedereroberung der
rheiniſchen Hauptfeſtung. Er erbot ſich nun den Reichskrieg auch im
nächſten Jahre fortzuführen, wenn die übrigen Reichsſtände, die bisher
für die Vertheidigung der Weſtgrenze kaum 20,000 Mann ins Feld ge-
ſtellt, ihm in ſeiner Geldnoth aushülfen und den Unterhalt ſeines Heeres
am Rheine übernähmen. Aber der Scharfblick des kleinfürſtlichen Par-
ticularismus ſah in dem preußiſchen Vorſchlage das Wiederaufleben der
Ideen des Fürſtenbundes. Zagheit und Selbſtſucht überall; an manchen
Höfen ſchon offener Verrath, da Frankreich längſt darauf hinarbeitete die
kleinen Herren unter ſeinen Einfluß zu bringen. Auch Oeſterreich war
der Neuerung nicht günſtig, die den König von Preußen als Reichsfeld-
herrn, ſeine Truppen als Reichsheer hätte erſcheinen laſſen. Selbſt eine
Anleihe, welche Hardenberg von den kleinen Höfen des Weſtens zu er-
langen hoffte, brachte nur einen kaum nennenswerthen Ertrag. Von ſeinen
Mitſtänden verlaſſen entſchloß ſich Friedrich Wilhelm endlich, ſein geſammtes
rheiniſches Heer in den Sold der Seemächte zu geben. Dieſes ohnehin
für eine Großmacht kaum erträgliche Verhältniß führte zu den ärgſten
Zwiſtigkeiten, da der Subſidienvertrag unklare, vieldeutige Sätze enthielt.
Die Seemächte meinten über die Truppen ihres Verbündeten willkürlich
verfügen zu können und wollten im Intereſſe ihrer Handelspolitik die
ſämmtlichen Heere der Coalition in den Niederlanden verſammeln. Preußen
aber behielt ſich ſelber die Wahl des Kriegsſchauplatzes vor und verſuchte
nochmals die Reichsgrenze am Mittelrhein zu vertheidigen. Oeſterreich
wiederum hoffte auf Eroberungen in Flandern und Lothringen. Feld-
marſchall Möllendorf eröffnete den Feldzug durch einen zweiten Sieg bei
Kaiſerslautern; nachdem er im Sommer aus dem Gebirge hatte zurück-
gehen müſſen, drang er im Herbſt wieder vor und die preußiſchen Regi-
menter behaupteten zum dritten male ſiegreich die blutgetränkten Höhen
an der Lauter. Auch in den Niederlanden fehlte es nicht an glänzenden
Kriegsthaten der norddeutſchen Hilfsvölker; der heldenkühne Ausfall des
hannoverſchen Hauptmanns Scharnhorſt aus Menin bewies, daß die alte
deutſche Waffentüchtigkeit noch nicht erſtorben war. Jedoch der Muth der
Einzelnen konnte nicht ſühnen was die Schwäche der Heerführung und die
Zweideutigkeit der kaiſerlichen Politik verdarben. Im October ging das
öſterreichiſche Heer aus Belgien über den Rhein zurück. Der Feind rückte
nach, beſetzte das Rheinland bis nach Coblenz hinauf, und alſo im Rücken
bedroht mußten die Preußen jetzt ebenfalls das linke Ufer räumen.


[135]Feldzug von 1794.

Zur ſelben Zeit erprobte der König abermals die Zuverläſſigkeit
britiſcher Freundſchaft; England, erbittert über die ſelbſtändige Haltung
der preußiſchen Generale, verweigerte ihm die Zahlung der Hilfsgelder,
machte ihm die Fortſetzung des Kampfes unmöglich. So ging das beſte
Heer der Coalition durch Englands eigenſinnigen Hochmuth dem euro-
päiſchen Kriege verloren. Gegen Weihnachten drang dann Pichegru über
das Eis der großen Ströme in Holland ein, die Flotte des weiland ſee-
beherrſchenden Staates ſtrich ihre Flagge vor einer franzöſiſchen Reiter-
ſchaar. Die bataviſche Republik ward ausgerufen, der große Freiſtaat
des Weſtens begann ſich mit einem Walle von Tochterrepubliken zu um-
geben. Auch der dritte rheiniſche Feldzug war vergeblich geführt, und für
den nächſten Sommer mußten die weſtphäliſchen Lande einen Angriff der
Franzoſen von Holland her erwarten. Preußen ſtand völlig vereinſamt;
man vernahm bald, daß die britiſche Treuloſigkeit in Petersburg und
Wien mit lauter Schadenfreude begrüßt wurde. Im preußiſchen Volke
aber ahnte Niemand, wie tief die Macht des Staates durch eine Politik
der Halbheit und Unklarheit geſchädigt war. Die Hauptſtadt jubelte über
die drei Siege von Kaiſerslautern; ein Rauſch patriotiſchen Stolzes und
royaliſtiſcher Hingebung erfüllte die Gemüther. Damals zuerſt, in den
Jahren 93 und 94, erklang zu Berlin das „Heil dir im Siegerkranz“,
der neue preußiſche Text zu der alten Händelſchen Melodie. Das prächtige
Siegesdenkmal der alten Monarchie, das Brandenburger Thor ward ein-
geweiht; frohlockend drängte ſich das Volk herbei, als die liebliche Braut
des jungen Kronprinzen durch dies Triumphthor einzog. Preußiſche
Schriftſteller verglichen in ehrlicher Verblendung das ungetrübte Glück
ihrer treuen und ſiegreichen Nation mit der Zerrüttung und der Ohn-
macht des Staates der galliſchen Königsmörder.


Inzwiſchen wurde die wankende Eintracht der Coalition gänzlich zerſtört
durch die polniſchen Händel. In der Oſterwoche 1794 brach zu Warſchau
ein blutiger Aufſtand aus, die Ruſſen wurden aus dem Lande vertrieben.
Von Paris her unterſtützt griff der Aufruhr unaufhaltſam um ſich, bis
tief in das preußiſche Polen. Auch diesmal, im letzten Verzweiflungs-
kampfe, ließ der polniſche Adel nicht von den alten Sünden der Zwie-
tracht und Zuchtloſigkeit. Immerhin zeigte die unſelige Nation mehr
Widerſtandskraft als die Theilungsmächte ihr zugetraut, und ein gnädiges
Schickſal ſchenkte ihr das Glück ſich noch einmal das Herz zu erheben an
dem Anblick eines wahrhaftigen Helden. Kosciuszko beſaß weder das
Genie des großen Feldherrn noch den Weitblick des Staatsmannes, doch
ſeine reine Seele barg neben allen ritterlichen Tugenden ſeines Volkes
eine unerſchütterliche Rechtſchaffenheit, eine treue Hingebung an das Vater-
land, wie ſie Polen ſeit Jahrhunderten nicht mehr kannte; gleich einem
Schutzengel erſchien Vater Thaddäus den polniſchen Bauern, wenn der
ſchwermüthige Held im weißen Bauernflausrock auf ſeinem Klepper durch
[136]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
die Reihen der Senſenmänner ritt. In Rußland dagegen flammte der
alte Haß der Byzantiner gegen die Lateiner, der Weſtſlaven gegen die
Oſtſlaven drohend auf; wie ein Mann forderte das weite Czarenreich die
Vernichtung Polens zur Sühne für die erlittene Schmach. Nie war ein
Krieg dem ruſſiſchen Volke heiliger. Es lag am Tage, in der blutigen
Woche von Warſchau hatte Polens letzte Stunde geſchlagen. Da war
es Preußens Pflicht, ſogleich, ehe noch die ruſſiſchen Heerſäulen aus dem
entlegenen Innern des Reichs heranrücken konnten, ſelber den Aufſtand
niederzuwerfen um nachher bei der unvermeidlichen letzten Theilung in
unangreifbarer Stellung das entſcheidende Wort zu ſprechen.


Der König erkannte was auf dem Spiele ſtand. Er ließ ſein Heer
einrücken, ſchlug die Polen bei Rawka, eroberte Krakau und wendete ſich
dann gegen Warſchau, das mangelhaft gerüſtet, von Parteikämpfen erfüllt,
einem Sturmangriffe der Preußen nicht gewachſen war. Aber jene un-
glückliche Bedachtſamkeit und Ueberfeinheit, welche den rheiniſchen Krieg
verdorben hatte, betrog den König auch um die Früchte ſeiner polniſchen
Siege. Der ritterliche Fürſt wollte Praga mit Sturm nehmen und dann,
wie ſein Ahnherr der große Kurfürſt, als Sieger in der polniſchen Haupt-
ſtadt einziehen. Da mahnte ihn Biſchoffswerder ſeine Kräfte zu ſchonen
für die Abrechnung mit Rußland; ein Agent Katharinas, der Prinz von
Naſſau-Siegen, ſtimmte dem kleinmüthigen Rathe eifrig zu; man begann
eine regelmäßige Belagerung, die ſchon nach wenigen Tagen abgebrochen
wurde. Während das preußiſche Heer verſtimmt und erbittert von War-
ſchau abzog, rückte Suworow mit der Hauptmacht Katharinas heran, der
geniale Barbar, in dem die wilde nationale Leidenſchaft der Moskowiter
Fleiſch und Blut gewann: dem weißen Czaren und der orthodoxen Kirche
blind ergeben wie ein großruſſiſcher Bauer, und doch ein Meiſter in der
Kriegskunſt der Abendländer, ein großer Feldherr, zum Befehlen geboren,
gewohnt das Ungeheure von dem Todesmuthe ſeiner Soldaten zu fordern,
gewohnt zu handeln nach ſeinem Lieblingsworte: die Kugel iſt eine Närrin,
das Bajonett ein ganzer Mann. Er vollführte was die preußiſchen Feld-
herren verſäumt, ſchlug das Heer Kosciuszkos aufs Haupt, erſtürmte
Praga nach mörderiſchem Kampfe. Warſchau lag zu den Füßen Katha-
rinas, ihre Truppen behaupteten die beherrſchende Stellung zwiſchen Bug
und Weichſel. Nicht Preußen, ſondern Rußland hatte den Aufſtand ge-
bändigt, und prahlend verkündete der Petersburger Hof: „Polen iſt gänz-
lich unterworfen und erobert durch die Waffen der Kaiſerin.“


Die Unterlaſſungsſünden der preußiſchen Heeresleitung beſtraften ſich
ſofort, als die drei Oſtmächte zu Petersburg über die letzte Theilung ver-
handelten. Preußen verlangte die Weichſellinie mit Warſchau, Sandomierz
und Krakau. Da Oeſterreich, das zur Dämpfung des Aufſtandes ſehr
wenig gethan, dieſe letzteren zwei Bezirke für ſich begehrte, gab General
Tauentzien eine Antwort, die ſchon den gänzlichen Zerfall der Coalition
[137]Bund der Kaiſerhöfe gegen Preußen.
ankündigte; er ſagte: „dieſe zwei Provinzen in Eurer Hand würden uns
mehr Noth machen als alle Demokratien der Welt.“ Rußland aber ſtand
auf Oeſterreichs Seite; mit glücklichem Erfolg hatte Thugut ſeit andert-
halb Jahren um Katharinas Gunſt geworben. Die beiden Kaiſerhöfe
waren einig den preußiſchen Ehrgeiz mit jedem Mittel zu bändigen und
ſchloſſen, da Preußen nicht nachgab, am 3. Januar 1795 ein geheimes
Kriegsbündniß gegen ihren Bundesgenoſſen. Der Vertrag beſtimmte:
Theilung Polens dergeſtalt, daß Rußland und Oeſterreich die Hauptmaſſe
erhalten, Preußen mit Warſchau und einem ſchmalen Striche an der oſt-
preußiſchen Grenze abgefunden wird. Außerdem ward ein umfaſſender
Eroberungsplan verabredet: Rußland ſoll in den Donauprovinzen eine
Secundogenitur gründen, Oeſterreich erhält freie Hand zur Erwerbung
von Baiern, Bosnien und Serbien, ſowie der venetianiſchen Republik;
ja die Kaiſerin giebt im Voraus ihre Zuſtimmung zu allen anderen
Eroberungen, welche ihr Bundesgenoſſe noch für nöthig halten ſollte;
widerſpricht Preußen, ſo wird es mit Aufbietung aller Kraft durch die
Waffen gezwungen. Alle die vermeſſenen Wünſche Kaiſer Joſephs lebten
alſo wieder auf; an der unteren Donau, im Herzen Süddeutſchlands und
vor Allem an der Adria dachte Thugut die Macht ſeines Staates zu er-
weitern, und Katharina ließ ihn gern gewähren, weil ſie in dem allge-
meinen Umſturz das zweite große Ziel ihrer Staatskunſt, die Herrſchaft
über Byzanz zu erreichen hoffte.


Dahin alſo war der preußiſche Staat in den fünf Jahren ſeit dem
Reichenbacher Tage gelangt: die Seemächte und das deutſche Reich weigerten
ihm die Mittel zur Kriegführung, Rußland und Oeſterreich bedrohten
ihn mit einem Angriff. Der Vertrag vom 3. Januar blieb in Berlin
noch mehrere Monate lang unbekannt, doch über die Geſinnungen der
Kaiſerhöfe beſtand kein Zweifel. Längſt hatte Thugut in Böhmen Truppen
angeſammelt um wider den preußiſchen Alliirten vorzubrechen. Konnte
Preußen, ohne Geldmittel wie man war, mit ſolchen Bundesgenoſſen den
franzöſiſchen Krieg fortſetzen, deſſen letzte Ziele in dem verworrenen Ränke-
ſpiele der Diplomatie immer dunkler und räthſelhafter wurden? Sämmt-
liche Räthe des Königs verlangten ſchon längſt Frieden oder Bündniß
mit Frankreich: auch der geiſtreiche Miniſter Hardenberg, der die fränkiſchen
Markgrafſchaften durch eine treffliche Verwaltung für die Monarchie ge-
wonnen hatte und jetzt zuerſt auf die auswärtige Politik einzuwirken an-
fing. Der Armee, ſelbſt dem tapferen Blücher, war der Krieg an der
Seite der Oeſterreicher gänzlich verleidet, nicht minder dem Volke, das
der Lorbeeren genug zu haben glaubte. Der junge Vincke ſprach allen
aufgeklärten Preußen aus der Seele, wenn er bitter fragte: wie lange
wollen wir noch ein freiwilliges Opfer öſterreichiſcher Falſchheit bleiben?
Hans von Held, die böſeſte Zunge der literariſchen Oppoſition, mahnte
beweglich: „Friedrich Wilhelm, ruf’ es wieder, ruf’ dein tapfres Heer
[138]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
zurück! Laß uns ſein der Franken Brüder, ſo gebeut es das Geſchick.“
Auch im Reiche rief Alles nach Frieden; ſo allgemein war die Ermattung,
daß ſogar Karl Auguſt von Weimar lebhaft zur Beendigung des Krieges
rieth. Thugut andrerſeits drohte in leidenſchaftlicher Erbitterung, er
werde ſich mit Frankreich vertragen, wenn man ihm Krakau vorenthalte;
der übereilte Abzug der Oeſterreicher aus den Niederlanden und manche
bedenkliche Nachrichten, die über das Treiben des toscaniſchen Geſandten
Carletti in Paris umliefen, beſtärkten den preußiſchen Hof in ſeinem Ver-
dachte gegen die Hofburg.


Kaum minder dringend war das Friedensbedürfniß in dem tief er-
ſchöpften Frankreich; man wünſchte ſehnlich, mindeſtens mit Preußen ins
Reine zu kommen. Da die Schreckensherrſchaft geſtürzt, die gemäßigten
Parteien in Paris zur Herrſchaft gelangt waren, ſo ſchmeichelten ſich die
Berliner Staatsmänner mit der Erwartung, ein preußiſcher Sonderfriede
werde den allgemeinen Frieden einleiten, den alten Beſitzſtand des Reiches
wiederherſtellen. Widerſtrebend ließ ſich der König endlich die Erlaub-
niß zur Eröffnung der Friedensverhandlungen abdringen; im Stillen
wünſchte er noch immer als getreuer Reichsfürſt einen neuen Rheinkrieg
zu führen. Die Baſeler Unterhandlungen verliefen unglücklich, trotz
Hardenbergs diplomatiſcher Gewandtheit, weil die Miniſter in Berlin
nicht den Muth hatten den Gegnern mit der Wiederaufnahme der Feind-
ſeligkeiten zu drohen. Auch dem Gedanken der Seculariſation, der von
den Franzoſen wieder aufgegriffen wurde und vielleicht noch einen leid-
lichen Ausweg eröffnen konnte, wagten die preußiſchen Diplomaten nicht
ernſthaft ins Geſicht zu ſehen. Sie begnügten ſich mit einer armſeligen
Halbheit und ſchloſſen am 5. April 1795 den Frieden von Baſel, kraft
deſſen Preußen einfach aus dem Coalitionskriege ausſchied; gelang den
Franzoſen ſich auf dem linken Ufer zu behaupten, ſo ſollte der König
für ſeinen überrheiniſchen Beſitz entſchädigt werden — durch ſeculariſirtes
geiſtliches Land, wie beide Theile ſtillſchweigend vorausſetzten.


Der Friedensſchluß war, wie die Menſchen und die Dinge in Preußen
augenblicklich ſtanden, das letzte verzweifelte Mittel um den Staat aus
einer unhaltbaren Lage zu retten. Er war die nothwendige Folge viel-
jähriger Fehler und Mißgeſchicke, eines unwahren Bündniſſes, das den
Keim des Verrathes in ſich trug, einer kraftloſen Politik, die ſich zwiſchen
Polen und dem Rheine unſtet hin und her warf ohne jemals einen ent-
ſcheidenden Schlag zu führen. Er war die Schuld nicht einzelner Männer,
ſondern des geſammten Volkes, das, einmal durch einen großen Mann
aus ſeinem politiſchen Schlummer aufgerüttelt, ſich wieder in ein waches
Traumleben verlor und wieder lernte mit gelaſſenem Wohlgefallen an
ſeiner politiſchen Zukunft zu verzweifeln. Er war, trotz aller zwingenden
Gründe, die ihn entſchuldigten oder erklärten, der ſchwerſte politiſche Fehler
unſerer neuen Geſchichte, eine Untreue des preußiſchen Staates gegen ſich
[139]Baſeler Friede.
ſelber, die durch zwei Jahrzehnte der Entehrung und der Noth, durch
beiſpielloſe Opfer und Kämpfe gebüßt worden iſt.


Als der Mehrer des Reichs war dies Preußen über die Nichtigkeit
des Kleinſtaatenthums hinausgewachſen; keine Niederlage in freier Feld-
ſchlacht konnte dieſen Staat je tiefer beugen als er ſich ſelber demüthigte,
da er ungeſchlagen ſeine Hand abzog von der deutſchen Weſtmark und
das ſoeben erſt durch Preußens Heer dem Reiche wiedergeſchenkte Mainz
einem ungewiſſen Schickſale preisgab. Durch die Kraft des Willens hatte
Preußen ſich allezeit unter übermächtigen Nachbarn behauptet; unziem-
licher ſogar als ein offener Bund mit dem Reichsfeinde war für dieſe
Macht der träge Kleinmuth, der gemächlich abwarten wollte, ob vielleicht
Oeſterreich noch die Franzoſen aus dem Reiche hinausſchlüge. Ein ehren-
haftes Gefühl reichsfürſtlichen Stolzes bewog den König dem Baſeler
Friedenswerke bis zum letzten Augenblicke zu widerſprechen: er war der
Erbe jenes großen Kurfürſten, der, nicht minder ſchnöde von Oeſterreich
betrogen, doch immer wieder den Kampf um die rheiniſchen Lande gewagt
hatte; zudem empfand er dunkel, wie der wackere alte Miniſter Finken-
ſtein, daß die Behauptung der Weſtgrenze des Reichs für die Macht-
ſtellung Preußens weit wichtiger war als der Beſitz von Sandomierz und
Krakau. Verrathen von ſeinen Verbündeten war er unzweifelhaft berech-
tigt von der Coalition zurückzutreten ſobald Frankreich einen ehrenvollen
Frieden bot und die alten Grenzen des Reichs anerkannte; doch ein ſolcher
Friedeließ ſich nur erreichen wenn man den Willen hatte einen vierten
rheiniſchen Feldzug zu wagen. Noch hatte der Krieg die Kernlande der
Monarchie nicht berührt; der Wohlſtand zeigte überall ein nachhaltiges
Gedeihen, obgleich der Mißwachs des Jahres 1794 augenblickliche Ver-
legenheiten bereitete. Von einer Ueberbürdung des Volkes war keine Rede;
das um tauſende von Geviertmeilen vergrößerte Staatsgebiet brachte ſeinem
gutherzigen Fürſten kaum eine Million Thaler mehr an jährlichen Ein-
künften als einſt der kleine Staat Friedrichs II. Ein großer Staatsmann
mußte in ſolcher Lage die Mittel zu finden wiſſen für einen neuen Feld-
zug, trotz der ſchwerfälligen Formen des Finanzweſens, trotz der üblen
Erfahrungen, die man ſoeben mit einer ausländiſchen Anleihe gemacht
hatte. Aber im Rathe des Königs fehlte ein ſchöpferiſcher Kopf; der un-
glückliche Fürſt ſah keinen Ausweg mehr und beſchwichtigte ſein Gewiſſen
mit dem trübſeligen Troſte, daß der Friede mindeſtens keine förmliche Ab-
tretung deutſchen Landes ausſpreche.


Alle Berechnungen und Erwartungen ſeiner ſchlauen Rathgeber er-
wieſen ſich ſofort als ein großer Irrthum. Sie dachten den Reichskrieg
zu beendigen; Hardenberg glaubte, Frankreich werde freiwillig auf die
Rheingrenze verzichten um nur mit dem Reiche ſich abzufinden, und hoffte
arglos auf ein dauerndes Freundſchaftsverhältniß zwiſchen Preußen und
der Republik. Wie ahnten ſie doch ſo gar nichts von dem Charakter des
[140]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
revolutionären Frankreichs! In Paris kam bald nach den Baſeler Ver-
trägen die Kriegspartei wieder ans Ruder, die von Preußen Waffenhilfe
erwartete und, getäuſcht in ihrer Hoffnung, den ruheſeligen neutralen
Nachbarn mit unverhohlener Geringſchätzung behandelte. Immer deutlicher
zeigte ſich, daß ein Friede mit dem Staate der revolutionären Propa-
ganda erſt möglich war wenn die alte Staatenwelt in Trümmern lag.
Die Haugwitz und Alvensleben wähnten durch den Friedensſchluß freie
Hand zu erhalten für die polniſchen Händel und mußten ſchließlich doch
den Theilungsplan der beiden Kaiſerhöfe mit geringen Aenderungen an-
nehmen; denn nur als Frankreichs Bundesgenoſſe konnte Preußen dem
herriſchen Willen Thuguts und Katharinas entgegentreten, und wider ein
offenes Bündniß mit der Revolution ſträubte ſich das Ehrgefühl des Königs
wie die Thatenſcheu der Mehrzahl ſeiner Räthe. Gleichwohl war Preußen
bereits durch den Baſeler Vertrag ein Mitſchuldiger, ein geheimer Ver-
bündeter der franzöſiſchen Eroberungspolitik geworden; man wußte in
Berlin, daß die Republik das linke Rheinufer behaupten wollte, man er-
wartete von ihrer Freundſchaft Entſchädigungen für die cleviſchen Lande
und war alſo, wie lebhaft man ſich auch gegen den Verdacht verwahrte,
an Frankreichs Siegeswagen angekettet.


Der erſte Schritt führte weiter. Am 5. Auguſt wurde ein Ergänzungs-
vertrag abgeſchloſſen, der ſchon beſtimmte Erwerbungen in Ausſicht ſtellte:
ging das linke Ufer dem Reiche verloren, ſo ſollte der König das Bis-
thum Münſter erhalten und ſein oraniſcher Schwager ebenfalls mit geiſt-
lichen Gebieten im Reiche ſchadlos gehalten werden. So verlor der große
Gedanke der Seculariſation ſeinen reinen Sinn; König Friedrich hatte
ihn verſtanden als ein Mittel zur Reform des Reichs, jetzt diente er nur
noch zur Beraubung Deutſchlands. Preußen gewann durch den Frieden
ſcheinbar eine großartige Erweiterung ſeiner Macht. Die norddeutſchen
Kleinſtaaten folgten raſch dem Beiſpiele ihres mächtigen Mitſtandes. Eine
Demarcationslinie wurde den Rhein entlang und dann quer durch Mittel-
deutſchland gezogen; hinter ihr lag der neutrale Norden, durch Preußens
Waffen vor den Schrecken des Krieges behütet. Die klugen Leute in
Berlin jubelten: ſo ſei die Herrſchaft des ſchwarzen Adlers über das ge-
ſammte Norddeutſchland durch die friedlichen Künſte der Diplomatie be-
gründet. Und doch war dieſe glänzende Stellung nur ein nichtiger Schein.
Der Rhein bildete keine haltbare Grenze, die Republik vermochte das linke
Ufer nur zu behaupten wenn ſie auch das rechte mittelbar oder unmittelbar
beherrſchte; unaufhaltſam fluthete der Krieg tief nach Oberdeutſchland
hinein, mehrere der ſüddeutſchen Staaten ſchloſſen bereits Unterwerfungs-
verträge mit Frankreich, es waren die Vorboten des Rheinbundes. Im
Süden wie im Weſten durch Frankreich und ſeine Vaſallen umklammert,
konnte Norddeutſchland ſeine Unabhängigkeit nur ſo lange bewahren, als
Frankreich ſich im eigenen Intereſſe genöthigt fand ſie zu ſchonen. Die
[141]Neutralität Norddeutſchlands.
friedensſelige Thatenſcheu allein hielt das nordiſche Neutralitätsbündniß
zuſammen; wurde der Schirmherr Norddeutſchlands in einen neuen Krieg
mit Frankreich verwickelt, ſo mußte dieſer Bund, der jedes ſittlichen In-
haltes, jedes poſitiven Zweckes entbehrte, augenblicklich zuſammenbrechen,
der Abfall der kleinen Genoſſen von dem beſiegten Preußen ſtand dann un-
vermeidlich bevor. Nicht einmal die dauernde Unterordnung der kleinen
norddeutſchen Contingente unter Preußens Oberbefehl war von der Selbſt-
ſucht dieſer Höfe zu erlangen. Die Gedankenarmuth der Berliner Politik
verſuchte kaum ernſtlich, die thatſächliche Herrſchaft, welche der Staat im
Norden beſaß, zu einer ſtaatsrechtlichen Hegemonie auszubilden; und doch
ließ ſich der Friedensſchluß nur dann entſchuldigen, wenn man ihn benutzte
um in Norddeutſchland die Politik des Fürſtenbundes wieder aufzunehmen.


Die Trennung des Nordens von dem Süden hatte der alte König
immer unerbittlich zurückgewieſen ſo oft Kaiſer Joſeph ſie zu Oeſterreichs
Vortheil durchſetzen wollte; jetzt wurde die Theilung Deutſchlands ver-
wirklicht zu Frankreichs Vortheil. Sobald Preußen ſich in das Stillleben
der norddeutſchen Neutralität zurückzog, ging der beſte politiſche Gewinn,
welchen die Wiedererwerbung der fränkiſchen Stammlande den Hohen-
zollern verhieß, unrettbar verloren; der kräftige Schritt mittenhinein in
das oberdeutſche Leben war umſonſt gethan. Unter den Süddeutſchen
beſtanden fortan nur noch zwei Parteien: eine franzöſiſche und eine öſter-
reichiſche — ſoweit dies ermüdete Geſchlecht überhaupt noch politiſche Ge-
ſinnung beſaß. Das Volk wußte nichts von den Hintergedanken der Hof-
burg, ſah die kaiſerlichen Truppen noch jahrelang gegen den Reichsfeind
fechten, während Preußen thatlos zur Seite ſtand, und ehrte ſie als die
letzten treuen Beſchützer des heimiſchen Bodens. Im Herbſt 1795 focht
der Landſturm der Bauern auf dem Taunus und dem Weſterwalde mit
den Oeſterreichern vereinigt gegen die plündernde Löffelgarde der Sans-
culotten. Als Oeſterreich dann in dem jungen Erzherzog Karl wieder
einen Helden fand, da gewann der ſeit Langem faſt verſchollene Name
des Kaiſerhauſes bei den Oberdeutſchen wieder einen hellen Klang; noch
heute erinnern alte Holzſchnitte in den Bauernhäuſern des Schwarzwalds
an die Schlachten des kaiſerlichen Oberfeldherrn. In jenen Jahren bildete
ſich grade unter den beſten Deutſchen des Oberlandes eine öſterreichiſche
Geſchichtsüberlieferung, die noch durch Jahrzehnte mächtig fortgewirkt hat;
damals, da die Szekler und Kroaten im Neckarthale ſtanden, empfing
der junge Ludwig Uhland die beſtimmenden politiſchen Eindrücke ſeines
Lebens. Preußen aber, das den Oberdeutſchen niemals recht vertraut
geweſen, verfiel jetzt auf lange hinaus der allgemeinen Mißachtung. Alſo
wirkten die Baſeler Verträge nach allen Seiten hin verderblich; und wenn
Hardenberg erwartete, der Friede werde ſeinem Staate eine lange Reihe
innerer Reformen, die Einführung der berechtigten Gedanken der Re-
volution ermöglichen, ſo ſollte auch dieſe Hoffnung trügen. Der neu-
[142]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
gewonnene polniſche Beſitz verhinderte vielmehr jahrelang jede Fortbildung
der Verwaltung.


Der Baſeler Vertrag, der dem Könige die angeſehene Stellung
eines europäiſchen Friedensvermittlers hatte bringen ſollen, bewirkte nur,
daß die geſammte Staatengeſellſchaft ſich von Preußen abwendete. An
den beiden Kaiſerhöfen erregte die Botſchaft aus Baſel leidenſchaftliche
Entrüſtung; ſie hielten für ſchwarzen Verrath was rathloſe Schwäche
war — ein ſehr begreiflicher Irrthum, da Preußen nur noch von den
Siegen der Republik Vortheil ziehen konnte. Beide Höfe blieben feſt
davon überzeugt, daß Preußen mit Frankreich unter einer Decke ſpiele;
ſie trauten den Rathgebern des Königs das Aergſte zu, ſie glaubten im
Ernſte, daß Preußen auf einen Angriffskriegs ſinne, insgeheim die Türken
und Schweden gegen Katharina aufzuſtacheln ſuche. Thugut verſammelte
bereits ein Heer an der ſchleſiſchen Grenze, mahnte das ruſſiſche Cabinet
in ungeſtümen Depeſchen zum Vernichtungskriege gegen den „natürlichen
Feind“, entwarf einen abenteuerlichen Plan: wie man Preußen aller ſeiner
polniſchen Provinzen, auch Weſtpreußens, berauben wolle; Suworow ſollte
die Ruſſen gegen die preußiſche Hauptſtadt führen. Die Kriegsrüſtungen
gegen die norddeutſche Macht brachten den rheiniſchen Krieg während des
ganzen Sommers zum Stillſtande. Erſt im Herbſt überzeugte man ſich,
daß von Preußens Schwäche nichts zu fürchten ſei, und zugleich erkannte
Thugut die Unmöglichkeit einer Verſtändigung mit der Republik. Die
Erhaltung der Reichsgrenzen lag dem Gedankengange ſeiner harten Inter-
eſſenpolitik fern; er war bereit das linke Rheinufer zu opfern, wenn
Oeſterreich die bairiſchen Erblande erhielte. Der Pflichten des Kaiſer-
thums gedachte in der Hofburg Niemand; ſtellte man doch dem Peters-
burger Hofe ausdrücklich frei, die ruſſiſchen Truppen möchten in Deutſch-
land nach Gutdünken hauſen und die von Oeſterreich abgefallenen
Reichsſtände züchtigen. Nur über die italieniſchen Dinge konnte man ſich
nicht einigen: Thugut hoffte das Gebiet der neutralen Republik Venedig
zu der Lombardei hinzu zu gewinnen, während Frankreich den Schlüſſel
Italiens, Mailand, nicht in Oeſterreichs Händen laſſen wollte. Deshalb
fuhren die Schwerter im Herbſt 1795 abermals aus der Scheide; der
Wiener Hof dachte am Rhein Venetien zu erobern. Und wie der Krieg
um Italiens willen erneuert wurde, ſo ſollte er auch in Italien ſeine
Entſcheidung finden. Mit Rußland und England durch eine neue Tripel-
Allianz feſter denn je verbündet, von Pitt mit reichlichen Hilfsgeldern unter-
ſtützt, ſtürzte ſich Thugut in den unabſehbaren Kampf. Hüben und drüben
herrſchte die rohe Begierde, die Verhöhnung jedes Rechtes; ob Frankreich,
ob Oeſterreich ſiegte, der Untergang des alten Völkerrechtes war gewiß.
Und während dieſes unheimlichen Ringens blieb der Staat neutral, dem
einſt Freund und Feind nachſagten, daß er die Wage des europäiſchen
Gleichgewichts in ſeinen Händen halte!


[143]Dritte Theilung Polens.

Erſtaunlich nun, wie man in Norddeutſchland ſich gar nichts träumen
ließ von der ungeheuren Einbuße, welche Preußens Ruf und Anſehen
durch den kleinmüthigen Friedensſchluß erlitten, von der völligen Ver-
wüſtung jeder Pietät und jedes Rechtsgefühls, die über Deutſchland herein-
brechen mußte ſeit der einzige lebendige deutſche Staat das Reich verlaſſen
hatte. Alle Welt im Norden rief den weiſen Friedensſtiftern Beifall zu.
Handel und Wandel blühten; Preußens Rhederei und Getreideausfuhr
genoſſen der Vortheile der neutralen Flagge, nahmen durch den allge-
meinen Seekrieg einen ungeahnten Aufſchwung. In ungeſtörter Sicher-
heit entfalteten ſich alle Kräfte der neuen Literatur; eben jetzt ſah Weimar
ſeine goldenen Tage. Halb verächtlich, halb gleichgiltig blickte der bildungs-
ſtolze Norddeutſche aus der Fülle geiſtigen Lebens, die ihn umfing, hinüber
nach dem wüſten Kriegsgetümmel jenſeits der Demarcationslinie. Der
alte Kant wurde durch die frohe Nachricht aus Baſel angeregt ſeine
Abhandlung vom ewigen Frieden niederzuſchreiben und träumte von dem
nahen Untergange der Barbarei des Krieges — zur ſelben Stunde, da
ein neues eiſernes Zeitalter über das aufgeklärte Europa heraufzog. Auch
der König, der ſo lange dem Frieden widerſtrebt, beruhigte ſich bald beim
Anblick der allgemeinen Zufriedenheit, er lernte aus der Noth eine Tugend
zu machen, ſchrieb voll Selbſtgefühls an Katharina: er glaube nur dem
Beiſpiele ſeines Vorgängers zu folgen, der ebenfalls zuerſt die Grenzen
ſeiner Staaten erweitert und ſich’s dann zum Syſteme gemacht habe das
neu Erworbene im Frieden zu regieren und zu behaupten.


In der That hatte außer Johann Sigismund und Friedrich II. noch
kein Hohenzoller der Monarchie eine ſo unverhältnißmäßige Vergrößerung
gebracht; das Gebiet wuchs in den zehn Jahren dieſer Regierung von
3500 auf nahezu 5600 Geviertmeilen. Mit den fränkiſchen Markgraf-
ſchaften trat wieder ein geſegnetes Land alter Cultur zu den dürftigen
überelbiſchen Coloniallanden hinzu. Unter Hardenbergs Leitung bildete
ſich eine fränkiſche Schule preußiſcher Beamten; Alexander Humboldt war
für den Bergbau im Fichtelgebirge thätig, Altenſtein, Kircheiſen, Nagler
lernten dort die ſtrengen Grundſätze der altpreußiſchen Verwaltung den
behäbigen Lebensverhältniſſen freier Bauern und wohlhabender Kleinbürger
anzupaſſen. Dieſe Franken und die philoſophiſchen Oſtpreußen, welche, wie
der junge Schoen, in Königsberg zu Kants Füßen geſeſſen und durch den
trefflichen Kraus die Ideen Adam Smiths kennen gelernt hatten, wurden
nachher der Stamm der Reformpartei des Beamtenthums. Die neue
Grenze am Bug und der Pilica war militäriſch und wirthſchaftlich ſehr
günſtig, ſie eröffnete den Häfen der Provinz Preußen freien Verkehr mit
dem Holz- und Getreidereichthum des inneren Polens, gab dem Staate
die vielbewunderte uneinnehmbare Poſition zwiſchen Weichſel, Bug und
Narew. Das unglückliche Volk in Großpolen und Maſovien lernte zum
erſten male ſeit Jahrhunderten den Segen einer gerechten und fürſorgen-
[144]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
den Verwaltung kennen. Man ehrte das Unglück durch milde Behand-
lung der Aufſtändiſchen, während über das ruſſiſche Polen ein grauſames
Strafgericht erging. Der Edelmann ward endlich zum Unterthan, mußte
ſich dem Anſehen des Geſetzes unterwerfen; der Bauer und der Jude
durften wieder für die Zukunft ſchaffen, der friedlichen Arbeit nachgehen
ohne vor der Karbatſche des Slachtizen zu zittern. Die dem alten Polen
völlig unbekannte Sicherheit der Rechtspflege lockte zahlreiche Anſiedler
und Capitalien aus den deutſchen Provinzen auf dieſen reichen jung-
fräulichen Boden; der Landbau hob ſich zuſehends, die Hypothekenordnung
ermöglichte eine intenſivere Wirthſchaft, neue Straßen und Waſſerwege
entſtanden, Warſchau nahm überraſchend ſchnell den Charakter einer
deutſchen Stadt an. Das Aufblühen der Volkswirthſchaft war überall
unverkennbar.


Aber man erfuhr bald, daß Macht und Glück der Staaten nicht
allein von militäriſchen und handelspolitiſchen Bedingungen abhängen.
Die hohe Gerechtigkeit des hiſtoriſchen Schickſals bleibt darum ewig un-
erforſchlich und nur der ahnenden Andacht erkennbar, weil ſie die Ein-
zelnen wie die Völker nicht mit gleichem Maße mißt. Unter den Staaten
wie unter den Menſchen giebt es Glückskinder, denen jeder leichte Er-
werb gedeiht, und wieder Andere von härterem Metall, denen nur das
ſchwer Erkämpfte zum Heile gereicht. Was der preußiſche Staat beſaß
war der Lohn ernſter Arbeit; dieſe neue gewaltige Gebietserweiterung aber
fiel ihm in den Schooß nach ſchwächlichen Feldzügen und ruhmloſen Unter-
handlungen, ſie wirkte wie Spielgewinn auf einen geordneten Haushalt.
Wie oft hatten die Hohenzollern verlockenden Rufen aus dem Auslande
widerſtanden; diesmal waren ſie der Verſuchung unterlegen. Preußen beſaß
jetzt unter zehntehalb Millionen Einwohnern an vier Millionen Slaven
und lief Gefahr ſeiner großen deutſchen Zukunft entfremdet zu werden.
Die Erwerbung von Warſchau und Pultusk war freilich ein nothwendiger
Schritt, unbedingt geboten nach den Anſchauungen der Zeit, da Preußen
den Schlüſſel zu ſeiner Oſtgrenze weder an Oeſterreich noch an Ruß-
land überlaſſen durfte; den König trifft kein perſönlicher Vorwurf, weil
er über die Gleichgewichtslehre der Epoche nicht hinausſah und von der
Macht der nationalen Gegenſätze ebenſo wenig ahnte wie alle ſeine Zeit-
genoſſen. Doch es blieb unmöglich, dieſe Tauſende feindſeliger Slachtizen,
dieſe verdummten, den Kaplänen blind gehorchenden Bauern mit dem
proteſtantiſchen deutſchen Staate zu verſöhnen; während der rheiniſchen
Kriege ſah man polniſche Rekruten in Ketten geſchloſſen nach dem Weſten
marſchiren, und es geſchah zuweilen, daß die Hälfte unterwegs entſprang.
Die polniſchen Provinzen ſchwächten die ſittliche Kraft des Staates, der
ohne die willige Hingebung ſeiner Bürger nicht beſtehen konnte, und
brachten ſeine innere Entwicklung zum Stillſtande. Die Theilung Polens
ſteht obenan unter den mannichfaltigen Urſachen jener unheimlichen Er-
[145]Ausgang Friedrich Wilhelms II.
ſtarrung, welche während des folgenden Jahrzehntes Verwaltung und
Heerweſen lähmte. Die Kräfte des deutſchen Beamtenthums genügten
kaum, um dieſen halbbarbariſchen Landen, die für die altpreußiſche Ver-
waltung noch nicht reif waren, die Anfänge geſitteten Menſchenlebens zu
ſichern. Wie durfte man vollends an Reformen denken? an die Ein-
führung der Selbſtverwaltung, die in zwei Fünfteln der Monarchie nur
der Tyrannei des polniſchen Junkerthums zu gute gekommen wäre? oder
an die Bildung eines rein nationalen Heeres, das unter zehn Soldaten
je vier Polen gezählt hätte?


Während der Staat früherhin mit heilſamer Strenge alle ſeine In-
ſtitutionen und namentlich die Steuerverfaſſung ſofort in ſeinen neu-
erworbenen Provinzen eingeführt hatte, waltete jetzt am Hofe eine nach-
ſichtige Milde, die nur allzugeneigt war jeden Herzenswunſch der neuen
Landeskinder zu erhören, jede berechtigte und unberechtigte Eigenthümlich-
keit zu ſchonen. Man gab den neuen Provinzen, ſtatt ſie in die Organi-
ſation der alten Behörden einfach einzufügen, eine proviſoriſche Verwal-
tung; in Franken regierte Hardenberg, in Südpreußen Graf Hoym mit
der Machtvollkommenheit eines Vicekönigs. Die alten Abgaben blieben
erhalten, ſelbſt an dem verworrenen und verderbten polniſchen Steuerweſen
wurden nur einzelne ſchreiende Mißſtände beſeitigt, und ſo geſchah das
Unerhörte, daß die weiten polniſchen Gebiete zu den Ausgaben des Ge-
ſammtſtaates nur eine winzige Summe, kaum 200,000 Thaler, bei-
ſteuerten, während das reiche Franken ſogar einen jährlichen Zuſchuß
beanſpruchte. Es war, als ob der erſchlaffte Staat ſich’s nicht mehr zu-
traute ſeine neuen Erwerbungen mit ſeinem Geiſte zu erfüllen; der alte
mannhafte Grundſatz der rückſichtsloſen Anſpannung aller Kräfte erſchien
der weichlichen Philanthropie des Zeitalters grauſam. Zudem bot die
Einziehung der Staroſten- und Kirchengüter in Polen der Großmuth des
Königs eine unwiderſtehliche Verſuchung; er verſchenkte einen großen Theil
dieſer Latifundien nach Gunſt und Laune, ſtatt ſie zu zerſchlagen und
unter deutſche Einwanderer zu vertheilen. Der gierige Wettbewerb um
die ſüdpreußiſchen Krongüter ſchädigte die ohnehin gelockerte Zucht des
Beamtenthums ſchwer; der polniſche Bauer vergaß den Dank für die
Wohlthaten der preußiſchen Verwaltung, wenn er die vielen ſchimpflich
erworbenen Vermögen der neuen Herren betrachtete.


Von allen Unterlaſſungsſünden dieſer müden Jahre ward keine ſo
verderblich wie die Vernachläſſigung des Heerweſens. Die Gutmüthigkeit
des Königs, die falſche Sparſamkeit einer ſchlaffen Friedenspolitik und
das ſtille Mißtrauen gegen die Treue der polniſchen Soldaten bewirkten,
daß die nothwendige Verſtärkung der Armee unterblieb. Während die
Bevölkerung ſich faſt verdoppelte, wurden die Truppen nur um etwa
35,000 Mann vermehrt, die Ausgaben für das Heerweſen ſtiegen ſeit
Friedrichs Tode von 11—12 auf etwa 14 Millionen Thaler. Indeſſen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 10
[146]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
ſchwollen die Heere aller Nachbarreiche zu ungeheuren Maſſen an, die
Weltſtellung des Staates ward durch die Verſchiebung der Grenzen im
Oſten und im Weſten ſchwieriger denn je.


Als der zweite Friedrich Wilhelm die Augen ſchloß, war Preußens
Macht im Innern wie nach Außen ſchwächer denn beim Tode ſeines
Oheims. Aus dem feſtgefügten deutſchen Staate, dem ein genialer Wille
das Ungeheure zumuthen konnte, war ein ſchwerfälliges deutſch-ſlaviſches
Miſchreich geworden, das weder die Heeresmacht noch die Geldmittel beſaß
um ſein weites Gebiet zu vertheidigen und langen Friedens bedurfte um
nur wieder zu innerer Einheit zu gelangen. Die großen Strafgerichte
der Geſchichte ſind ſchwachen Gemüthern unheimlich, denn der Vollſtrecker
des gerechten Urtheils iſt faſt immer ſelbſt Partei, ſelbſt ſchuldbelaſtet.
So ward die durch gehäufte Frevel verdiente Zerſtörung des polniſchen
Staates jetzt von unreinen Händen vollzogen. Die Schuld, die an der
nothwendigen That haftete, wurde an Rußland beſtraft durch eine lange
Reihe ſchwerer innerer Kämpfe, an Oeſterreich durch die Mißerfolge der
franzöſiſchen Kriege, doch von keiner der drei Theilungsmächte iſt ſie
ſo ſchwer gebüßt worden wie von Preußen; denn keine von ihnen war
durch die Eroberung reinpolniſchen Landes ſoweit abgeirrt von den Bahnen
ihrer natürlichen Politik, wie dieſer deutſche Staat. Durch den Klein-
muth von Baſel wie durch das Ränkeſpiel von Grodno hatte Preußen
an ſeinem Theile dazu geholfen, daß nunmehr jene ruchloſe Ländergier
in Europa zur Alleinherrſchaft gelangte, die kein Recht anerkannte als
das Recht des Starken und in Napoleon ihren größten Vertreter fand.
Deutſchland aber war, da alle ſeine Staaten ſich dem unabweisbaren
Werke der Reform verſagten, wieder in der gleichen Lage wie zur Zeit
Guſtav Adolfs: wie damals die Parität der Kirchen, ſo konnte jetzt die
Verweltlichung des heiligen Reichs, die Vernichtung der Theokratie nur
noch durch das Eingreifen ausländiſcher Gewalten erreicht werden. —


So lagen die Dinge, als König Friedrich Wilhelm III. den Thron
beſtieg. Ernſt und pflichtgetreu, fromm und rechtſchaffen, gerecht und
wahrhaft, in Art und Unart ein deutſcher Mann, beſaß er alle Tugenden,
die den guten und reinen Menſchen bilden, und ſchien wie geſchaffen,
einen wohlgeordneten Mittelſtaat in Ehren durch eine ruhige Zeit hin-
durchzuführen; dieſem tiefen Gemüthe war es ein Bedürfniß von ſeinen
Unterthanen geliebt zu werden. Sein Geiſt umſpannte nur ein enges
Gebiet; doch über alle Fragen, die in ſeinen Geſichtskreis fielen, urtheilte
er klar und richtig, nach tiefer, gründlicher Erwägung, und bewährte
immer ein angeborenes glückliches Verſtändniß für die Mächte der Wirklich-
keit. Seine Erziehung hatte Alles verabſäumt, was dieſe edle, aber
ſchwungloſe und im Grunde unpolitiſche Natur zu der Freiheit königlicher
[147]Friedrich Wilhelm III.
Weltanſchauung emporheben konnte. Erſt wurde die unbefangene Heiter-
keit des Knaben durch die gallige Laune eines pedantiſchen Lehrers, des
Theologen Behniſch, gewaltſam niedergedrückt; dann mußte der ſitten-
ſtrenge Prinz das leichtfertige Treiben des väterlichen Hofes mit anſehen
und den tiefen Ekel, den ſein ſchamhafter Sinn empfand, ſcheu ver-
bergen. So lernte er, in ſich einzukehren und die Welt zu meiden. Eine
unbezwingliche Schüchternheit lähmte ihm die Thatkraft; es ward ſein
Verhängniß, daß er nie vermochte leicht zu leben und mit heiterem Selbſt-
gefühle unter ſeine Menſchen zu blicken. Jedes Hinaustreten in die
Oeffentlichkeit, ſelbſt das Reden in größerem Kreiſe fiel ihm läſtig; in
barſchen, abgeriſſenen Sätzen ſprach er dann ſein verſtändiges Urtheil,
ſeine zarte Empfindung aus; das gedrückte, verlegene Weſen ließ die hohe
ritterliche Geſtalt mit den ſchönen treuen blauen Augen nicht zur rechten
Geltung kommen. Von Jugend auf an den Umgang mit mittelmäßigen
Köpfen gewöhnt, hat er den Widerwillen gegen das Geniale, Kühne,
Außerordentliche ſelten überwunden. Ihn erſchreckte jener laute rückſichts-
loſe Freimuth, der den großen Germanen eignet. Von allen den hoch-
begabten Männern, die ihm dienten, iſt ihm nur Einer wahrhaft lieb
und theuer geworden: Scharnhorſts einfältig anſpruchsloſe Größe.


Es iſt die Stärke und die Schuld treuer Gemüther, daß ſie ſchwer
vergeſſen. Friedrich Wilhelm verzieh leicht, doch er vergaß nicht. Wie
er jedes Verdienſt und jede unſcheinbare Gefälligkeit dankbar im Gedächt-
niß bewahrte und die Trennung von treuen Unterthanen als ein tiefes
Herzeleid empfand, ſo konnte er auch den Zorn jahrelang in ſich ver-
ſchließen, bis er ſich einmal das Herz faßte „auf gut deutſch ſeine Mei-
nung zu ſagen“; dann wurde der gütige Fürſt in polternder Heftigkeit
auf gut deutſch ungerecht und kleinlich. Am Wenigſten vergaß er eigen-
mächtiges Handeln ſeiner Diener. Denn er wollte der König ſein, und
er war es. Niemand hat ihn je beherrſcht. Unſäglich ſchwer fiel ihm
jeder große Entſchluß; er zauderte und überlegte, ließ die Dinge gehen,
duldete lange was ihm mißfiel, weil er ſich mit ſeinem Urtheil nicht
heraustraute; doch wenn entſchieden ſein mußte, dann folgte er immer
und überall nur ſeinem Gewiſſen. Er hat aus Unentſchloſſenheit Vieles
unterlaſſen, wozu ſein gerader Verſtand ihn drängte, aber nie etwas ge-
than, was nicht aus eigener wohlerwogener Ueberzeugung kam. Sein
langſamer, doch zäher und feſter Geiſt nahm von den Gedanken größerer
Köpfe nur auf was ſeinem Weſen zuſagte; keine Macht der Ueberredung
hätte ihn je beſtimmt, die ſittlichen und politiſchen Grundſätze, die ihm
heilig waren, aufzugeben. Von der Schuld wie von dem Ruhme ſeiner
langen Regierung gebührt ihm ſelber weit mehr als die Zeitgenoſſen an-
nahmen, die den ſchlichten Fürſten neben den glänzenden Geſtalten ſeiner
Generale und Staatsmänner zuweilen faſt aus den Augen verloren. Er
trägt die Hauptſchuld an jener ſchlaffen Friedenspolitik, welche dem alten
10*
[148]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Staate den Untergang bereitete; aber er hat auch, als er nach zehn Jahren
des Zauderns und nach grauſamen Schickſalsſchlägen endlich wagte ganz
er ſelber zu ſein, aus freiem Entſchluſſe den Neubau des Staates in
Angriff genommen, die Reformgedanken ſeiner Räthe genau ſo weit durch-
geführt, wie es ihm richtig ſchien, und den lang vorbereiteten Befreiungs-
krieg nicht eher geſtattet, als bis er ſelber einſah, der rechte Augenblick
ſei gekommen. Er hat in der zweiten Hälfte ſeiner Regierung den An-
ſchluß der preußiſchen Politik an Oeſterreich, die Sünden der Demagogen-
jagd und das Ausbleiben der verheißenen Verfaſſung verſchuldet, aber
auch die Neugründung des preußiſchen Einheitsſtaates mit zäher Geduld
geleitet und mit richtigem Blicke die gute Stunde erkannt, da die orien-
taliſchen Wirren und die Kämpfe der deutſchen Handelspolitik dem Staate
erlaubten wieder ſelbſtändig ſeines Weges zu gehen. Ohne ihn und das
allgemeine Zutrauen zu ſeiner Rechtſchaffenheit war die Verſöhnung der
zahlloſen landſchaftlichen Gegenſätze in dem neuen Preußen ebenſo un-
möglich wie die friedliche Entſtehung jenes Zollvereins, der das nicht-
öſterreichiſche Deutſchland unauflöslich mit dem preußiſchen Staate ver-
kettete und die Grenzpfähle aufrichtete für das neue deutſche Reich.


Dieſer König konnte nicht, wie der erſte Friedrich Wilhelm und ſein
Sohn, den Stempel ſeines eigenen Weſens dem Staate aufprägen, ſon-
dern mußte die ſchöpferiſchen Gedanken von anderen, reicheren Geiſtern
entlehnen. Und doch iſt er der Herr geblieben; der monarchiſche Charakter
des preußiſchen Staates hat ſich, im Guten wie im Böſen, auch unter
ſeiner Regierung nie verleugnet. In Noth und Schande, unter De-
müthigungen, die einen freieren und kühneren Geiſt zur Verzweiflung
bringen konnten, hat er unentwegt ausgehalten bei ſeiner Pflicht. So iſt
ſein Name unzertrennlich verbunden mit den dunkelſten und den reinſten
Erinnerungen unſerer neuen Geſchichte. Seine Pflichttreue und ein natür-
liches Gefühl für die Ehre des Königthums gaben ihm die Kraft, allmäh-
lich hineinzuwachſen in das Verſtändniß ſeiner Stellung. Nach und nach
lernte er ſelbſt ſolche Gebiete des nationalen Lebens ſchätzen, die ſeinem
nüchternen hausbackenen Weſen urſprünglich fremd waren. Er lernte ſich
zurechtfinden in der auswärtigen Politik; und dieſer proſaiſche Menſch, der
in ſeinen jungen Jahren an der weinerlichen Plattheit Lafontaine’ſcher
Romane Gefallen fand, iſt ſchließlich der Mäcenas ſeines Hauſes gewor-
den, ein Beſchützer der Künſte und Wiſſenſchaften wie kein Anderer unter
den Hohenzollern. Wer ihn in ſeiner menſchlichen Liebenswürdigkeit ſehen
wollte, der mußte ihn aufſuchen im einſamen Schlößchen zu Paretz. Dort
unter den alten Bäumen am blauen Havelſee verlebte der junge Fürſt
ſeine glücklichſten Tage, an der Seite ſeiner lieblichen Gemahlin Luiſe, in
dem munteren Kreiſe der ſchönen kleinen Flachsköpfe, die ihm heran-
wuchſen; dort thaute er auf und brachte durch drollige Einfälle ſelbſt die
geſtrenge Wächterin der Etikette, die Gräfin Voß zu reſpectwidrigem Lachen.
[149]Abſichten des jungen Königs.
Wohl war es ein Segen für ſeine ſchwere, zum Trübſinn geneigte Natur,
daß er in den Armen eines heiteren und hochherzigen Weibes einmal
erwarmen und die ganze Luſt des Lebens empfinden durfte; dennoch hat
das Glück der Ehe ihn, wie ſo viele germaniſche Gemüthsmenſchen, eine
Zeit lang mehr gedrückt als gehoben. Er fand als junger Gatte an den
unſchuldigen Freuden ſeines Hauſes volles Genügen und widmete dem
Staate nur ehrlichen Fleiß, doch nicht jene Hingebung des ganzen Denkens,
die das Fürſtenamt fordert; befangen in der unbewußten Selbſtſucht der
Glücklichen, trat er ungern aus der reinen Luft ſeines Heimweſens hinaus
und begnügte ſich, die Fäulniß, welche den Staat und die Geſellſchaft
zerfraß, von ſeiner perſönlichen Umgebung fern zu halten, ſtatt ſie nach
Königspflicht unbarmherzig zu bekämpfen.


Der Kronprinz wurde von ſeinem freimüthigen Lehrer Sack früh auf
den althohenzollernſchen Gedanken der evangeliſchen Union hingewieſen,
an eine innige und doch freie Auffaſſung des chriſtlichen Glaubens ge-
wöhnt. Er lernte durch Engel die philanthropiſchen Ideen des Zeitalters
der Aufklärung, durch Suarez die Staatslehren der Juriſten des All-
gemeinen Landrechts kennen, bewährte ſich in den Feldzügen am Rhein
und in Polen wie in den Friedensübungen als ein tapferer ſachkundiger
Offizier. Aber — wie oft hat er es ſelbſt beklagt — allen Staatsgeſchäften
hielt man ihn fern. Als der Siebenundzwanzigjährige die Herrſchaft an-
trat, ſtand er in einer fremden Welt, ſelber voll tiefer Ehrfurcht vor den
Werken ſeines Großoheims, umgeben von alten eigenrichtigen Herren, die
dem Schüchternen mit dem ganzen Dünkel fridericianiſcher Allwiſſenheit
begegneten. Nichts lag ihm ferner als eine phantaſtiſche Ueberſchätzung
der königlichen Würde; wie der Name Staat aus den Geſetzen Friedrichs II.
allmählich in den Sprachgebrauch des Volks hinübergedrungen war, ſo
verſtand es ſich auch längſt von ſelbſt, daß jeder König von Preußen ſein
hohes Amt als eine ſchwere politiſche Pflicht auffaßte. Der junge König
hatte ein warmes Herz für den geringen Mann, ſchlicht bürgerliche Nei-
gungen wie ſein Urgroßvater, gar keine Vorliebe für den Adel; ſein Wunſch
war, die von ſeinen Vorfahren ſeit hundert Jahren ſchrittweis vorbereitete
Befreiung des Landvolks zu vollenden. In demſelben Sinne wie der
erſte Friedrich Wilhelm konnte er ſagen: „ich denke wie ein Republikaner.“
Nicht als ob ihn die Ideen der franzöſiſchen Revolution bezaubert hätten;
das blutige Schauſpiel der gewaltſamen Volkserhebung blieb ſeiner Fried-
fertigkeit und ſeinem Rechtsſinne gleich widerwärtig. Doch ſein natür-
liches Billigkeitsgefühl, die Ueberlieferungen ſeines Hauſes und die in
Suarez’s Schule aufgenommenen politiſchen Gedanken drängten ihn auf
die Bahn der ſocialen Reformen. Menſchenfreundlicher Sinn machte ihn
zum Freihändler, zum Gegner jener Geſetze, welche den kleinen Leuten
die Lebensbedürfniſſe vertheuerten oder die Verwerthung der Arbeitskraft
erſchwerten. Sein geſunder Verſtand entdeckte bald faſt alle die einzelnen
[150]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Gebrechen, daran der erſtarrte Staat krankte; als die Zerſtörung über
das alte Preußen hereinbrach, da ſprach ſich der König mit einer Klar-
heit, die ſeiner Umgebung ſchier unheimlich erſchien, über die Urſachen
des tiefen Sturzes aus. Auch über die Mittel und Wege zur Beſſerung
dachte er oft, und mit eindringendem Verſtändniß nach; es war die volle
Wahrheit, wenn er ſpäterhin auf die meiſten Reformvorſchläge Steins
und Scharnhorſts zu antworten pflegte: „dieſe Idee habe ich ſchon längſt
gehabt.“ Nur das Eine, worauf Alles ankam, erkannte er nicht: die Un-
möglichkeit, durch Einzelreformen an dem fridericianiſchen Staate etwas
Weſentliches zu ändern.


Jenes harte Syſtem monarchiſcher Arbeitsvertheilung, das der erſte
Friedrich Wilhelm und ſein Sohn aufgerichtet, war das Werk eines plan-
vollen bewußten Willens; darin lag die einſeitige Größe, der Charakter des
alten Preußens. Das ganze Werk war aus einem Guſſe, wie von eiſernen
Klammern gehalten; ein Pfeiler ſtützte den andern, die Gliederung der
Stände und die Ordnung der Verwaltung hingen untrennbar zuſammen;
fiel ein Stein heraus, ſo ſtürzte das ganze Gebäude. Wollte man die
Vorrechte des Adels im Heere beſeitigen, ſo mußte dem Edelmann erlaubt
werden bürgerliche Gewerbe zu treiben und Bauernhufen zu kaufen. Wollte
man den Bauern der Dienſte und Frohnden entlaſten, ſo konnte auch die
Trennung von Stadt und Land, das Zunftweſen und die Acciſe nicht
mehr aufrecht bleiben. Die Monarchie bedurfte einer Reform an Haupt
und Gliedern, ſobald man einmal erkannte, daß die alten Formen der
Geſellſchaft ſich überlebt hatten. Aber zu ſolcher Einſicht war in Preußen
noch Niemand gelangt, auch nicht der Freiherr vom Stein.


Das erſte Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III., die beſtverleumdete
und unbekannteſte Epoche der preußiſchen Geſchichte, war eine Zeit wohl-
gemeinter, aber völlig unfruchtbarer Reformverſuche. Vor wenigen Jahren
noch war dieſer Staat mit Recht als der beſtregierte des Feſtlandes ge-
prieſen worden; er hatte ſoeben erſt — ſo wähnte der geſammte Norden —
im Kampfe gegen die Revolution ſeine Lebenskraft bewährt. Und ſo ge-
ſchah, daß ſelbſt der tadelſüchtige Freimuth der Norddeutſchen kaum be-
merkte, wie Alles morſch ward in dem Gemeinweſen. Daß das neue
Jahrhundert auf Windesflügeln dahineilte, daß jetzt in kurzen Jahren
gewaltige Neubildungen der Geſchichte ſich vollzogen, welche vordem kaum
in Jahrzehnten gereift waren, daß in ſolchen Tagen zurückging wer nicht
vorwärts ſchritt, — von dieſem großen Wandel der Zeiten ahnte man
nichts in dem friedlichen Volke, das hinter dem Walle ſeiner Demar-
cationslinie mit philoſophiſcher Ruhe beobachtete, wie „zwo gewalt’ge Na-
tionen ringen um der Welt alleinigen Beſitz“.


Die deutſche Gutherzigkeit iſt immer geneigt von einem Thronfolger
das Höchſte zu erwarten, doch ſelten hat ſie in ſo überſchwänglichen Hoff-
nungen geſchwelgt wie bei dem Regierungsantritt dieſes anſpruchsloſen
[151]Erwartungen im Volke.
Fürſten. Schon durch ſeine ſchlichten Sitten gewann er das Herz der
Mittelklaſſen, und dieſe Schichten der Geſellſchaft wurden mehr und mehr
die Träger unſerer öffentlichen Meinung. Die aufgeklärte Zeit fühlte ſich
praktiſch wohl in einer ungebundenen Geſelligkeit voll heiterer ſinnlicher
Luſt, doch ſie hegte eine lebhafte theoretiſche Begeiſterung für die abſtracte
„Tugend“; der Ausdruck hatte noch nicht, wie heutzutage, den Nebenſinn
der philiſterhaften Leere. Das preußiſche Volk hatte ſeit den Zeiten des
großen Kurfürſten das Schauſpiel ehelichen Glückes auf dem Throne nicht
mehr geſehen; welcher Jubel nun unter dieſen deutſchen Familienmenſchen,
als der Thron ſich in ein Heiligthum, der Hof ſich in eine Familie ver-
wandelte — ſo ſang Novalis in ehrlicher Begeiſterung. Die unbarm-
herzige Strenge der beiden gewaltigen Könige des achtzehnten Jahrhunderts
hatte die Maſſen in ſcheuer Ehrerbietung dem Throne ferngehalten; erſt
durch die heitere Herzensgüte der Königin Luiſe gewann das Verhältniß
zwiſchen den Hohenzollern und ihrem treuen Volke jenen gemüthlichen
Zug der Vertraulichkeit, der ſich ſonſt nur in dem Stillleben der Klein-
ſtaaten zeigt.


Die Preußen fühlten ſich ſtolz als Royaliſten, als Gegner der Re-
volution. Nicht blos der Heißſporn des märkiſchen Junkerthums, der
junge v. d. Marwitz, auch Andere vom Adel und Offizierscorps maßen
den Geſandten der Republik, den Königsmörder Sieyes mit zornigen
Blicken, als er mit ungepudertem Haar und der dreifarbigen Schärpe
bei dem altväteriſchen Gepränge des Huldigungsfeſtes erſchien. Die auf-
geklärte Berliner Geſellſchaft ſtand aber zugleich in bewußtem Gegenſatze
zu Oeſterreich und dem heiligen Reiche. Man gab den Franzoſen zu
verſtehen, der König ſei Demokrat auf ſeine Weiſe, werde mit Maß und
Ordnung thun was jene im Sturm vollendet, und bald wollte man
wiſſen, daß ein Jacobiner geklagt habe: „dieſer Fürſt verdirbt uns die
Revolution.“ Als der junge König nun unter der zweideutigen Um-
gebung ſeines Vaters mit Strenge aufräumte und in einigen wortreichen
Cabinetsordres eine Fülle guter Vorſätze und menſchenfreundlicher An-
ſichten ausſprach, da rief Marcus Hertz frohlockend: „die reine Vernunft
iſt vom Himmel niedergekommen und hat ſich auf unſerem Throne nieder-
gelaſſen.“ Ein Verein von Berliner Schriftſtellern veröffentlichte „Jahr-
bücher der preußiſchen Monarchie“, welche das Walten des königlichen
Reformators auf jedem Schritte begleiten ſollten. Die hoffnungsvolle
Stimmung währte noch lange. Als Hufeland im Jahre 1800 nach
Berlin berufen wurde, ſchrieb er befriedigt: ich gehe in „einen liberalen,
unter einer neuen Regierung neu aufblühenden Staat“. Auch Schiller
und Johannes Müller ſprachen mit warmer Anerkennung von dem Ge-
nuſſe grundſatzmäßiger Freiheit in Preußen und lobten, wie raſch Berlin
zu einer Freiſtätte deutſcher Art und Bildung werde.


Der König mußte bald erfahren, wie beſchränkt in Wahrheit ſeine
[152]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
abſolute Gewalt war, beſchränkt durch die Schwerfälligkeit der Verwaltung
und durch den ſtillen Widerſtand der öffentlichen Meinung, der ſtändiſchen
Vorurtheile, des militäriſch-bureaukratiſchen Kaſtengeiſtes. In der ver-
größerten Monarchie hätte ſelbſt ein Friedrich kaum noch die unmittelbare
Leitung aller Staatsgeſchäfte in der Hand behalten können. Die perſönliche
Regierung wurde zur Unmöglichkeit, doch ihre Formen blieben aufrecht
mit verändertem Sinne. Die Cabinetsräthe waren unter Friedrich nur
willenloſe Secretäre geweſen, verpflichtet die Befehle des Königs den Be-
hörden zu übermitteln; unter ſeinen beiden Nachfolgern erlangten ſie eine
gefährliche Macht. Aus Schreibern wurden Rathgeber, da der Fürſt die
Unmaſſe der Berichte nicht mehr überſehen konnte. Man wählte die
Räthe des Cabinets meiſt aus den Reihen der bürgerlichen Richter; ſie
allein hielten dem Monarchen regelmäßigen Vortrag und fühlten ſich bald
als Volkstribunen, als Vertreter des friedlichen Bürgerthums gegenüber
dem Adel und dem Heere. Ein unberechenbarer ſubalterner Einfluß
drängte ſich zwiſchen die Krone und ihre Miniſter. Unter dieſen ver-
trauten Räthen war Keiner, der den jungen Fürſten aus dem lauen Ele-
mente der guten Vorſätze in die friſche Luft der kräftigen Entſchließung
emporheben konnte. Der bedeutendſte unter ihnen, Cabinetsrath Mencken
wurde dem Königspaare werth durch die Milde ſeiner aufgeklärten moral-
philoſophiſchen Anſichten und bemühte ſich redlich für allerhand Verbeſſe-
rungen im Einzelnen; der umfaſſende Blick des Staatsmannes war auch
ihm nicht gegeben. Nachher hatte Beyme den Vortrag über die wichtig-
ſten inneren Angelegenheiten, Lombard über das Auswärtige — Jener
ein tüchtiger Juriſt von humanen Anſchauungen, aber nur im Kleinen
groß, Dieſer ein leerer, frivoler Wüſtling. Auch die Perſönlichkeit der
Generaladjutanten ſtimmte zu dem Geiſte trivialer Mittelmäßigkeit, der
in dieſem Kreiſe vorherrſchte. Oberſt Zaſtrow war ein dünkelhafter Gegner
jeder Reform; Oberſt Köckeritz eine enge Philiſterſeele, ſeinem jungen Herrn
bequem durch phlegmatiſche Gutmüthigkeit, glückſelig wenn er ſich bei der
Pfeife und einem ruhigen Spielchen von den Geſchäften des Tages er-
holte, aber ſehr unwirſch, wenn ein junger Edelmann ſichs beikommen
ließ „Verſche zu machen“, wie der arme Heinrich von Kleiſt. Obgleich
der König dieſe kümmerlichen Menſchen weit überſah, ſo ließ er ſich doch
unmerklich zu ihrer Zagheit und Kleinheit hinabziehen.


Wie die Neubildung des Staates einſt von dem Heere ausgegangen
war, ſo wurde auch jetzt zuerſt im Heerweſen fühlbar, daß die neue Zeit
neue Formen forderte. Das beſte Werbegebiet der alten Monarchie ging
verloren, als das linke Rheinufer an Frankreich kam und bald nachher
die neuen Mittelſtaaten des Südweſtens ſich ihre eigenen kleinen Armeen
bildeten. Daher befahl der König ſchon zu Beginn ſeiner Regierung eine
ſtärkere Aushebung der cantonpflichtigen Inländer „wegen Abnahme der
Reichswerbung“. Dieſem erſten Schlage mußten andere folgen. Die
[153]Unfruchtbare Reformverſuche.
Armee war fortan allein auf preußiſche Kräfte angewieſen; ſollte ſie die
dringend gebotene Verſtärkung erhalten, ſo mußte mindeſtens ein Theil
der privilegirten Klaſſen zum Waffendienſte herangezogen werden, und
dies war unmöglich, ſo lange das Offizierscorps wie eine geſchloſſene
Kaſte in unnahbarer Höhe über der Mannſchaft thronte, ſo lange jene
grauſame alte Kriegszucht beſtand, welche den philanthropiſchen, bis zur
Weichlichkeit milden Anſchauungen des Zeitalters ins Geſicht ſchlug. So-
bald der alte Stamm der geworbenen Ausländer ausſtarb, war ein radi-
kaler Umbau der Heeresverfaſſung unvermeidlich, das will ſagen: eine
völlige Verſchiebung aller gewohnten ſtändiſchen Verhältniſſe, vor Allem
der Stellung des Adels in Staat und Geſellſchaft.


Mannichfache Reformvorſchläge tauchten auf. Einige freie Köpfe unter
den jüngeren Beamten, wie Hippel und Vincke, verlangten ſchon die voll-
ſtändige Durchführung des altpreußiſchen Gedankens der allgemeinen Wehr-
pflicht; Kneſebeck, Rüchel und andere Offiziere empfahlen die Bildung einer
Landmiliz. Aber einerſeits ſträubte ſich der Dünkel der alten Generale
gegen alle Aenderungen. Jedermann glaubte noch an die Unübertrefflich-
keit des fridericianiſchen Heeres. Sogar Friedrich Gentz, der zum Aergerniß
der zahmen Zeit ſich unterſtand ein ermahnendes Sendſchreiben an den
neuen Monarchen zu richten, ſagte über das Heer kurzweg: „von dieſer
Seite bleibt uns nichts zu wünſchen übrig“; und Blücher, der Mann
ohne Menſchenfurcht, ſprach noch im Frühjahr 1806 unbedenklich von
unſerer unbeſiegbaren Armee. Wenn nun der hochmüthige alte Feld-
marſchall Möllendorff jeden Neuerungsvorſchlag mit ſeinem ſchnarrenden
„das iſt vor mir zu hoch“ begrüßte, dann wollte der König — er hat
es ſpäter bitter bereut — nicht klüger ſein als die Grauköpfe von be-
währtem Ruhme. Auf der anderen Seite regte ſich in der aufgeklärten
Welt eine doctrinäre Friedensſeligkeit, die zu der blutigen Staatspraxis
des neuen Jahrhunderts einen lächerlichen Gegenſatz bildete und gleich-
wohl bei der deutſchen Gemüthlichkeit lebhaften Anklang fand. Salbungs-
volle Flugſchriften erörterten ſchon die Frage: „ſind ſtehende Heere in
Friedenszeiten nöthig?“ Es bezeichnet den inneren Zerfall des geſtrengen
Abſolutismus, daß ſolche Stimmen aus dem Publikum jetzt einigen Ein-
druck machten, daß man anfing mit der öffentlichen Meinung zu rechnen.
Am Hofe vertrat Mencken mit Eifer die alte Anſicht des Beamtenthums,
daß die Laſt der Heereskoſten zu ſchwer ſei; auch der König wollte nur
das Unerläßliche thun, da er vor Allem die unter ſeinem Vater ange-
ſammelte Schuldenlaſt abzutragen wünſchte. Dazu endlich die verzweifelte
Frage: wie aus den widerſpänſtigen Polen zuverläſſige Regimenter gebildet
werden ſollten?


So zwiſchen entgegengeſetzten Erwägungen hin und her geſchleudert
gelangte man nach unzähligen Bedenken und Vorſchlägen zu keiner weſent-
lichen Reform. Das Heer wurde nur um ein Geringes, auf 250,000 Mann
[154]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
vermehrt; die Ausgaben freilich ſtiegen beträchtlich, auf 16—17 Millionen
Thaler, da der König Koſt und Bekleidung der Mannſchaft endlich etwas
reichlicher, aber noch immer viel zu ſparſam, bemeſſen ließ. Zur Ver-
ſtärkung dieſes ungenügenden Truppenbeſtandes ſollte eine Land-Reſerve
von 50,000 Mann, vornehmlich aus den eximirten Klaſſen, gebildet wer-
den; ihre Einrichtung war eben im Gange, als die Kriegswirren von 1805
der Politik der halben Reformen ein jähes Ende bereiteten. Selbſt die
Verminderung des ſchwerfälligen Troſſes und ähnliche techniſche Verbeſſe-
rungen, die dem klaren Soldatenblicke des Königs nothwendig ſchienen,
ſtießen auf den zähen Widerſtand der gravitätiſchen alten Herren mit den
langen Weſtenſchößen. Der leutſelige Fürſt war empört über den Hoch-
muth ſeiner Offiziere, ſchärfte ihnen ein, ſie ſollten ſich nicht unterſtehen,
„den geringſten meiner Bürger zu brüskiren: die Bürger ſind es, nicht ich,
die die Armee unterhalten“. Doch er ſah nicht, daß ſolche Mahnungen nichts
fruchten konnten, ſo lange die alten Formen der Heeresverfaſſung beſtanden
und das Offizierscorps den anerkannt erſten Stand im Staate bildete.


Wie ſonderbar hatte ſich doch das in ſeiner Härte und Rauheit ſo
harmoniſche Heer der ſchleſiſchen Kriege verwandelt. Bereits wuchs eine
neue, an Talenten überreiche Generation heran; alle die Helden des
Befreiungskriegs gehörten längſt der Armee an, die meiſten ſchon als
Stabsoffiziere. In manchen Kreiſen des Offizierscorps rührte ſich ein
friſcher wiſſenſchaftlicher Sinn, ein lebendiges Verſtändniß für die Gegen-
wart. An der neuen Militär-Akademie hielt Oberſt Scharnhorſt ſeine
Vorleſungen — der niederſächſiſche Bauernſohn, der im adlichen Hannover-
lande kein Feld für ſeine Kraft gefunden hatte und endlich dem Rufe
des Königs nach Berlin gefolgt war; er lehrte ſchon die der alten be-
dachtſamen Kriegsweisheit unfaßbare Ketzerei, daß man „nie concentrirt
ſtehen, aber ſich immer concentrirt ſchlagen“ müſſe; er erläuterte ſeine
Sätze an den Kriegen Friedrichs und jenes jungen Bonaparte, den die
fridericianiſchen Veteranen kaum als einen Bürgergeneral gelten ließen.
Und vergeſſen in ſeiner kleinen ſchleſiſchen Garniſon ſaß der ewige Haupt-
mann Gneiſenau über ſeinen Karten, verfolgte mit geſpannten Blicken
jeden Schritt des Corſen ſeit dem erſten italieniſchen Feldzuge, lebte ſich
ein in die Eigenart des dämoniſchen Mannes, als ob er ahnte, daß er der-
einſt dem Unüberwindlichen entgegentreten ſollte. Das neue geiſtige Leben
der Nation begann endlich auch auf dieſe militäriſchen Kreiſe, die ihm
bisher ganz verſchloſſen geweſen, einzuwirken. Jede Richtung der Literatur
fand unter den jüngeren Offizieren einzelne Vertreter, ſogar der friedliche
Weltbürgergeiſt der Kantiſchen Philoſophie; beweglich klagte der Leutnant
Heinrich Kleiſt, wie er in den Rheinfeldzügen ſeine Zeit ſo unmoraliſch
töden müſſe.


Der herrſchende Ton blieb gleichwohl noch ſehr geiſtlos. Die meiſten
alten Offiziere trugen gefliſſentlich ihren Bildungshaß zur Schau, ver-
[155]Heerweſen und Verwaltung.
hehlten nicht ihre Verachtung gegen den Schulmeiſter Scharnhorſt. Da
nur vier oder fünf Rekruten jährlich in die Compagnie eingeſtellt wurden,
ſo war die ſchwere und dankbare Aufgabe der militäriſchen Volkserziehung,
die für die Linienoffiziere der modernen Volksheere den beſten Lebens-
inhalt bildet, für jene Zeit noch gar nicht vorhanden; die ewige Wieder-
holung derſelben Paradekünſte mit denſelben alten Berufsſoldaten wurde
für feurige Naturen unerträglich. Die ſchüchternen Berliner Bürger
entſetzten ſich, und der König griff mit ſtrengen Strafen ein, da die
jungen Offiziere des verrufenen Regiments der Gensdarmes in lärmen-
dem Maskenzuge die Straßen durchraſten und der baumlange Karl Noſtitz,
als Katharina von Bora verkleidet, hinter dem Doctor Luther die Hetz-
peitſche ſchwenkte; in ſolchen rohen Späßen tobte ſich das heiße jugend-
liche Blut aus, das in der Langeweile des Kamaſchendienſtes nichts mit
ſich anzufangen wußte. Der ganze Jammer dieſes Friedensheeres ver-
körpert ſich in dem tragiſchen Schickſale des Prinzen Louis Ferdinand;
ein trauriger Anblick, wie der freie und kühne, zu allem Herrlichen ge-
borene junge Held in wildem Genuß und tollen Abenteuern ſeine Kraft
vergeudete, weil er ein leeres Daſein nicht zu tragen vermochte. Mehr
und mehr gerieth der eigentliche Zweck des Heerweſens in Vergeſſenheit.
Der Orden pour le mérite, vordem nur auf dem Schlachtfelde verliehen,
wurde jetzt ſchon zum Lohne für die Heldenthaten des friedlichen Manöver-
feldes. Pedantiſche Kleinmeiſterei überwachte die Länge der Zöpfe, die
Form der Heubündel, das Geklirr der präſentirten Musketen; aber die
Geſchütze waren der Erſparniß halber ohne Beſpannung. Eine majeſtätiſche
Langſamkeit ſchien der fridericianiſchen Armee allein noch würdig zu ſein;
es kam vor, daß ein Artillerieregiment für den Marſch von Berlin nach
Breslau vier Wochen brauchte. Der gemeine Soldat, der nebenbei mit
Weib und Kind ein bürgerliches Gewerbe trieb, dachte ebenſo friedfertig
wie die Mehrzahl der ergrauten Capitäne, denen die Beurlaubungen der
Friedensjahre einträgliche Erſparniſſe für den eigenen Beutel brachten.
Es ſchien, als ſollte der preußiſche Degen nie mehr aus der Scheide
fahren. Wörtlich erfüllte ſich die Weiſſagung Friedrichs, der einſt „die
Lieblingskinder des Mars“ gewarnt hatte, ſie möchten ihre männlichen
Sitten nicht verderben laſſen durch Trägheit, Hochmuth, Weichlichkeit.


Ebenſo wenig gelang eine durchgreifende Reform der Verwaltung.
Der König getraute ſich nicht, nach der Weiſe ſeines Großoheims Alles
ſelber zu entſcheiden, ſchon weil ſein Billigkeitsgefühl zurückſchrak vor dem
harten, von ſolcher Allmacht unzertrennlichen fridericianiſchen Grundſatze,
daß der Monarch niemals einen Irrthum eingeſtehen dürfe. Er wies
daher alle Bittſchriften wo irgend thunlich an die zuſtändigen Behörden.
Dadurch wuchs die ohnedies erdrückende Geſchäftslaſt der Beamten. Seit
die neuen Provinzen in Polen und Franken endlich dem Generaldirectorium
unterſtellt wurden, zeigte ſich die einſt in einfacheren Verhältniſſen ſo
[156]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
ſchlagfertige Centralbehörde als völlig unzulänglich; jedes Departement
ging ſelbſtändig ſeines Wegs, es fehlte die Einheit der Leitung. Noch
immer war dies Beamtenthum der Bureaukratie der deutſchen Nachbar-
ſtaaten weit überlegen, thätig, voll patriotiſchen Stolzes, hochgebildet, ob-
gleich da und dort einzelne Präſidenten mit dem Bildungshaſſe der Generale
zu wetteifern ſtrebten. Aber die veraltete, zwiſchen dem Provinzial- und
dem Realſyſtem mitteninne ſtehende Organiſation der Behörden bewirkte,
daß Niemand in Wahrheit Miniſter war und den Gang der Verwaltung
überſah. Jedes einfache Geſchäft führte zu peinlichen Streitigkeiten über
die Competenz; die Vermehrung der Miniſterſtellen verſtärkte nur das
Uebel. In den alten Beamtenfamilien, die nun ſeit vielen Jahrzehnten
dem Staatsdienſte angehörten, vererbte ſich zwar ein lebendiges Gefühl
der Standesehre vom Vater auf den Sohn, aber auch der Dünkel des
grünen Tiſches; Neulinge, welche aus der naturfriſchen Thätigkeit des Land-
baus in dieſe Welt des Bureaus hinübertraten, wie der Freiherr vom Stein,
bemerkten mit Unwillen, wie das Actenſchreiben hier zum Selbſtzweck zu
werden drohte. Eine formenſelige Papierthätigkeit nahm überhand und
konnte durch die ſalbungsvollen Ermahnungen der königlichen Cabinets-
ordres nicht überwunden werden, weil ſich der ſtaatsmänniſche Kopf nicht
fand, der dem Beamtenthum neue poſitive Aufgaben geſtellt hätte. Und
dazu wieder das leidige Bleigewicht der polniſchen Provinzen: es blieb
doch ein unerträglicher Zuſtand, daß die regierende Klaſſe aus den weiten
Slavenlanden faſt gar keinen jungen Nachwuchs erhielt. Die Spottrede
der Gegner, dies Preußen ſei ein künſtlicher Staat, ſchien jetzt doch Recht
zu behalten.


Bald nach ſeiner Thronbeſteigung ſprach der König gegen den Finanz-
miniſter Struenſee ſeine Mißbilligung aus über das unhaltbare Prohibitiv-
ſyſtem, das beſtändig übertreten werde. Erſt ſieben Jahre nachher gelang
ihm, die erſte Breſche in dieſe alte Ordnung zu ſchlagen und durch
Struenſees Nachfolger Stein die Binnenzölle größtentheils aufzuheben.
Noch galt die Einrichtung gleichmäßig geordneter Grenzzölle überall in
der Welt als ein vermeſſenes Wagniß. Wie hoffnungslos ſprach Necker
in ſeinem Rechenſchaftsberichte von 1781 über die Frage, ob es wohl
möglich ſei die constitution barbare der Provinzialzölle zu beſeitigen. Erſt
die Revolution begründete die Zolleinheit Frankreichs. Als man ſich jetzt
in Preußen an die Aufhebung der Binnenzölle heranwagte, erfuhr man
ſofort, daß dieſe Reform eine halbe Maßregel blieb. Denn noch beſtand
die Acciſe mit ihren 67 verſchiedenen Tarifen; vergeblich mahnte eine
Cabinetsordre des Königs, in dies Durcheinander endlich Klarheit zu
bringen. Noch beſtand der Gewerbezwang, der die Städte von dem flachen
Lande ſchied; nur in der Grafſchaft Mark hatte Stein ſchon gewagt dieſe
trennende Schranke zu beſeitigen. Mit den Provinzialzöllen fiel zugleich
die Zollfreiheit der eximirten Klaſſen, und dieſer erſte leiſe Stoß gegen die
[157]Widerſtand der alten Stände.
Steuerprivilegien des Adels regte ſogleich die Frage an, ob die weit ſchwerer
drückende Ungleichheit der directen Beſteuerung noch fortdauern dürfe. Im
Jahre 1806 zahlten in der Kurmark die Städte faſt 2½ Millionen, die
Bauern 644,000, die ſämmtlichen Rittergutsbeſitzer nur 21,000 Thaler an
Staatsſteuern. Aber die Zeit für eine radikale Umgeſtaltung der Staats-
wirthſchaft war noch nicht gekommen. Die nationalökonomiſchen Anſichten
gährten wirr durcheinander; die meiſten guten Köpfe unter den jüngeren
Beamten ſchwärmten mit Vincke für „den göttlichen Smith“, die Grund-
beſitzer neigten zur phyſiokratiſchen Lehre.


Das ſtärkſte Hinderniß jeder Reform lag jedoch in der Oppoſition
der Landtage. Der zähe paſſive Widerſtand der alten Stände hatte ſchon
den agrariſchen Geſetzen des achtzehnten Jahrhunderts immer wieder die
Spitze abgebrochen; jetzt, unter einer nur allzu milden Regierung, zeigte
er eine ganz unerwartete Stärke. Es war einer der erſten Schritte des
Königs, daß er einem Theile des Bauernſtandes, den Köllmern, das Recht
der Vertretung unter den oſtpreußiſchen Ständen gewährte. Alſo verjüngt
wurde der Königsberger Landtag die einzige leidlich geſunde unter den
verfallenen ſtändiſchen Körperſchaften der Monarchie; er nannte ſich mit
einigem Rechte die „Vertretung der Nation“. Als aber der König nun-
mehr die Beſeitigung der Patrimonialgerichte vorſchlug, da widerſprach
ſelbſt der oſtpreußiſche Landtag wiederholt und nachdrücklich. Auch ein
anderer Lieblingsplan des bauernfreundlichen Fürſten, die Aufhebung der
bäuerlichen Dienſte und die Verwandlung aller unterthänigen Bauern-
güter in freies Eigenthum, ſtieß auf den Widerſtand des Adels. Der
Gedanke war keineswegs durch die franzöſiſche Revolution angeregt, ſon-
dern ergab ſich nothwendig aus der alten Geſetzgebung der Hohenzollern,
die ſeit hundert Jahren auf die Befreiung des Landvolks losſteuerte;
gleichzeitig und ganz unabhängig von einander empfahlen Beamte wie
Stein und Hippel, Schriftſteller wie Leopold Krug die Aufhebung der Erb-
unterthänigkeit. Auf den Domänen in Weſt- und Oſtpreußen gelang dem
wackeren Präſidenten Auerswald die Beſeitigung des Scharwerks, und wo
ein Edelmann freiwillig zu der gleichen Reform bereit war, da ermunterte
ihn der König in jeder Weiſe; doch ein umfaſſendes Geſetz für die ganze
Monarchie wagte man nicht zu erlaſſen. Der Widerſpruch ging nicht blos
von den Grundherren aus, ſondern auch von den rohen Bauern, welche
jede Aenderung des Beſtehenden mit zähem Mißtrauen anſahen; ſogar
die Baumpflanzungen an den neuen Landſtraßen waren vor den Fäuſten
dieſer Barbaren nicht ſicher.


Derſelbe unbelehrbare Trotz zeigte ſich auch, als der König, ganz aus
dem freien Antriebe ſeines guten Herzens, die Verbeſſerung der Elementar-
ſchulen in Angriff nahm und die allgemeine Schulpflicht in vollem Ernſt
zu verwirklichen ſuchte. Die Regierung ſtand noch immer ſehr hoch über
ihrem Volke. Während die gehäſſigen Schmähſchriften der Oppoſition ſich
[158]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
nach wie vor durch eine klägliche Gedankenarmuth auszeichneten, fanden
in den Kreiſen des Beamtenthums alle die großen ſocialen Reformen
des folgenden Jahrzehnts ſchon jetzt eine gründliche Beſprechung; ſelbſt
die Aufhebung des Zunftweſens wurde bereits von J. G. Hoffmann
empfohlen. Doch es fehlte die Kraft, dieſe guten Gedanken dem wider-
ſtrebenden Volke aufzuzwingen. Aus Rückſicht auf die „Opinion“ wurde
das Tabaksmonopol aufgehoben, das doch, richtig gehandhabt, eine ſehr
ergiebige und für den Verkehr wenig beſchwerliche Einnahmequelle werden
konnte. Als der wackere Struenſee im Jahre 1798 die Ausgabe einer
mäßigen Summe Papiergeld vorſchlug, da genügte eine leiſe Regung der
Unzufriedenheit im Berliner Handelsſtande, und alle Miniſter erklärten
wie aus einem Munde, ſie fühlten ſich außer Stande eine ſo gehäſſige
Maßregel zu vertreten. Die Ohnmacht der Krone offenbarte ſich nament-
lich an den ſittlichen Zuſtänden der Hauptſtadt. Während am Hofe an-
ſpruchsloſe Einfachheit und altväteriſcher Anſtand mit peinlicher Strenge
gehütet wurden, lebte die Berliner vornehme Welt, als ſei dies Muſter-
bild ſchlichter Familienſitte gar nicht vorhanden. Die Stadt zählte nun
ſchon 182,000 Einwohner; der Verkehr der höheren Stände zeigte bereits
die Freiheit großſtädtiſchen Lebens, während in den Mittelklaſſen noch ein
ſchwerfälliges Pfahlbürgerthum vorherrſchte. Die Geſelligkeit wurde zu
einer verfeinerten Kunſt, wie ſeitdem nie wieder in Deutſchland. Zügellos
entfalteten ſich Witz und Kritik; die Liederlichkeit und ein grauſamer
geiſtiger Hochmuth traten ſo keck heraus, daß ſelbſt Goethe mit einiger
Scheu von dieſem gefährlichen Völkchen ſprach. In ſolcher Luft erwuchſen
Naturen von der unendlichen Empfänglichkeit und Reizbarkeit Schleier-
machers, Virtuoſen des Genuſſes und des Denkens wie Wilhelm Hum-
boldt und Friedrich Gentz, aber auch die eitlen Anempfinder und Geiſt-
verkäufer des Varnhagenſchen Kreiſes, und Virtuoſen des Verbrechens wie
die Giftmörderin Urſinus.


Im Einzelnen iſt während dieſes Jahrzehntes der halben Anläufe
und der wohlgemeinten Verſuche manches Gute geſchehen. Die Land-
wirthſchaft erlebte eine Zeit großartiger Fortſchritte; der Getreidepreis ſtieg
in den zwanzig Jahren ſeit Friedrichs Tode auf das Doppelte, die Preiſe
der Landgüter noch ſchneller, faſt ſchwindelhaft hoch. Thaer lenkte die
Augen der Norddeutſchen zuerſt auf das Vorbild des engliſchen Landbaues,
und ſeit der beredte Vertheidiger der freien Arbeit in Möglin ſeine Lehr-
anſtalt eröffnet hatte, wuchs unter den jüngeren Landwirthen die techniſche
Einſicht und die volkswirthſchaftliche Bildung. Ohne Thaers Wirken wäre
die Durchführung der Stein-Hardenbergſchen Geſetze kaum möglich ge-
weſen. Die noch überall im Reiche traurig verwahrloſten Land- und
Waſſerwege fanden jetzt endlich ernſte Beachtung. Durch Stein wurde die
Ruhr der Schifffahrt eröffnet; der König ſelber nahm ſich mit Eifer des
Weichſelthales an, wo die mächtigen Deichbauten des deutſchen Ordens
[159]Geiſtiges Leben in Berlin.
unter der polniſchen Herrſchaft ganz verfallen waren. Der Bergbau, der
ſchon durch Heynitz, den Lehrer Steins, erheblich gewonnen hatte, nahm
einen neuen Aufſchwung als Graf Redern die großen Grubenwerke in
Oberſchleſien einrichtete. In dem neugegründeten ſtatiſtiſchen Bureau
waren Krug und Hoffmann thätig, für die Leitung der Bank ward Nie-
buhr aus Dänemark berufen.


In der öffentlichen Meinung wurde der neuen Regierung nichts ſo
hoch angerechnet wie die Entlaſſung des verhaßten Wöllner und die that-
ſächliche Beſeitigung ſeines harten Religions-Edictes. Die Verſicherung
des jungen Fürſten, Vernunft und Philoſophie ſeien die unzertrennlichen
Begleiter der Religion, war der aufgeklärten Welt recht aus dem Herzen
geſprochen, weil ſich Jeder etwas Anderes dabei denken konnte. Als der
König aber den von ſeinem Lehrer Sack entworfenen Vorſchlag zu einer
gemeinſamen evangeliſchen Agende den Kirchenbehörden empfahl, da zeigte
ſich wieder, daß die Krone ihrem Volke um eine gute Strecke voraus war.
Er mußte ſeine Unionspläne auf beſſere Zeiten vertagen, denn in den zarten
kirchlichen Fragen wollte er noch bedachtſamer und rückſichtsvoller vorgehen
als in der Politik. Dieſelbe Bedächtigkeit verſchuldete auch, daß die in
unzähligen Denkſchriften und Abhandlungen erwogene Reform des Schul-
weſens vorläufig unterblieb; man wurde nicht ſchlüſſig zwiſchen all den
verſchiedenen Erziehungsmethoden, welche das Zeitalter Peſtalozzis uner-
müdlich zu Tage förderte. Für die Gelehrſamkeit wurde mit einem in
Preußen unerhörten Eifer geſorgt; die Scheidewand, welche den alten
Staat ſo lange von der deutſchen Wiſſenſchaft getrennt hatte, brach end-
lich zuſammen. Alexander Humboldt, Johannes Müller, Hufeland und
eine lange Reihe namhafter Gelehrten wurden nach Berlin gerufen; auch
Fichte, durch den Glaubenseifer der kurſächſiſchen Lutheraner aus Jena
vertrieben, fand eine Zuflucht an der Spree. Das wiſſenſchaftliche Leben
der Hauptſtadt fing an in einem großen Zuge ſich zu bewegen. Schon
im Winter 1786 wurden dort einundzwanzig Curſe öffentlicher Vorleſungen
angekündigt, ſeitdem gewannen ſie noch an Zahl und Bedeutung; in
Berlin hielt A. W. Schlegel jene literarhiſtoriſchen Vorträge, welche das
wiſſenſchaftliche Programm der romantiſchen Schule ausſprachen. Die
Sammlungen des königlichen Hauſes, die der junge König zuerſt dem Publi-
cum öffnete, und vor Allem das Theater, damals unter Ifflands Leitung
noch eine große nationale Bildungsanſtalt, beförderten einen bewegten
Gedankenaustauſch; und ſo wurde ganz von ſelber die Frage laut, ob
dieſer Reichthum geiſtigen Lebens nicht in einer Hochſchule einen wiſſen-
ſchaftlichen Mittelpunkt finden ſolle. Keine der deutſchen Univerſitäten
iſt ſo naturgemäß entſtanden wie die Berliner; ſie war im Grunde ſchon
vorhanden bevor ſie förmlich eingerichtet wurde. Doch auch dieſer Plan
gelangte für jetzt nicht über Berathungen im Cabinet hinaus. Die ganze
Zeit ſchien wie verwunſchen, nichts Weſentliches wollte zu Ende kommen.


[160]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Die banauſiſche Gleichgiltigkeit des Staates gegen die bildende Kunſt
war endlich überwunden. Er veranſtaltete jetzt öffentliche Gemäldeaus-
ſtellungen und beſaß in Berlin bereits eine Schule aufſtrebender Künſtler
von ſelbſtändiger Eigenart. Neben Langhans, dem ſtreng antikiſirenden Er-
bauer des Brandenburger Thores, kam Schadows derber Realismus empor;
und wenn der Wagen der ſchönen Königin vorfuhr, dann ſtand am Schlage
mit dem Hute in der Hand der junge Lakai Chriſtian Rauch, der einſt
die Andern alle überflügeln ſollte als ſeine gütige Herrin ihm den Weg
zu großem Schaffen geebnet hatte. Aber auch hier wieder die gleiche un-
heimliche Erſcheinung: köſtliche Kräfte, die nicht benutzt, vielverheißende
Entwürfe, die nicht vollendet wurden. Nachdem man eine Menge ver-
ſchiedener Pläne berathen und wieder fallen gelaſſen, kam nur ein ein-
ziges größeres öffentliches Bauwerk zu Stande: die Neue Münze, von
Schadow mit lebenswahren, trefflichen Reliefs geſchmückt, doch das Ge-
bäude ſelber abſchreckend kahl und nüchtern, ein getreues Sinnbild dieſer
ſchwungloſen Zeit.


Dergeſtalt war auf allen Gebieten des politiſchen Lebens das Alte
noch nicht zerſtört, das Neue noch nicht entwickelt. Der Staat hatte an
Charakter verloren was er an humaner Milde gewonnen, er erſchien wie
ein noch im Verfalle mächtiger gothiſcher Bau, dem zaghafte Hände da
und dort ein niedliches zopfiges Thürmchen aufgeſetzt hatten. Und in
dieſen unhaltbaren Zuſtänden fühlte ſich das treue Volk unzweifelhaft
glücklich; die kindlichen Aeußerungen der Freude, welche auf den Reiſen
des Landesvaters und der Landesmutter überall, am Lauteſten unter
den warmblütigen Franken, erklangen, kamen ebenſo gewiß aus ehrlichem
Herzen, wie nachher die traurigen Abſchiedsbriefe der verlorenen Pro-
vinzen.


Die Reformgedanken des Königs gingen über ſociale Verbeſſerungen
nicht hinaus; auch Hardenberg wünſchte damals nur die Durchführung
der bürgerlichen Rechtsgleichheit nach dem Vorbilde Frankreichs. Eigentlich
politiſche Reformpläne hegte nur ein einziger Mann, der Freiherr vom
Stein. Der hatte als Kammerpräſident in Weſtphalen die alte Gemeinde-
freiheit der Grafſchaft Mark kennen gelernt, aus ſolchen Erfahrungen und
aus dem Studium der engliſchen Geſchichte ſich die Anſicht gebildet, daß
eine geſunde politiſche Ordnung nur da beſtehe, wo das Volk ſelber hand-
anlegend das Regieren lerne. Als die altſtändiſche Verfaſſung in dem
neu erworbenen Münſterlande aufgehoben wurde, ſchrieb er dem Könige*):
dieſe Landtage, die bisher bei dem Beamtenthum nur als die Feinde jeder
Reform verrufen geweſen, könnten, zweckmäßig eingerichtet, vielmehr die
Stützen der Rechtsordnung werden: „Sie verhindern die willkürlichen Ab-
weichungen von Verfaſſung und geſetzlicher Ordnung, die ſich die Landes-
[161]Auswärtige Politik Friedrich Wilhelms III.
collegien bei dem Drange der Geſchäfte nicht ſelten zu Schulden kommen
laſſen, und ſie ſind durch Eigenthum und Anhänglichkeit an das Vater-
land feſt an das Intereſſe eines Landes gekettet, das den fremden öffent-
lichen Beamten gewöhnlich unbekannt, oft gleichgiltig und bisweilen ſelbſt
verächtlich und verhaßt wird. Die Regenten haben von Ständen, die aus
Eigenthümern beſtehen, nichts zu fürchten, mehr von der Neuerungsſucht
jüngerer, der Lauigkeit und dem Miethlingsgeiſte älterer öffentlicher Be-
amten und von der alle Sittlichkeit verſchlingenden Weichlichkeit und dem
Egoismus, der alle Stände ergreift.“ Dem Könige blieben ſolche Ge-
danken noch ganz unverſtändlich. Er ließ ſich zwar nicht zu ſo gehäſſigen
Urtheilen über die Revolution hinreißen, wie die übereifrigen Royaliſten an
ſeinem Hofe, ſondern erkannte die Berechtigung der franzöſiſchen Bauern-
befreiung unbefangen an; aber was irgend an die conſtitutionelle Monarchie
erinnerte war ihm durch die Blutthaten der Franzoſen verdächtig und un-
heimlich geworden. Wie ſollte er auch bei der allgemeinen Zufriedenheit
des Volkes auf die Frage kommen, ob dieſer pflichtgetreue Abſolutismus,
der den Staat gebildet hatte, ſich ſchon überlebt habe? Auch Stein ſelber
wußte noch keineswegs, wie morſch die alte Ordnung ſei und wie dringend
geboten der Neubau. Es ſteht nicht anders, Hoch und Niedrig lebte be-
fangen in einer ungeheuren Selbſttäuſchung. Das hiſtoriſche Urtheil ver-
mag nicht abzuſehen, wie die Demüthigung von 1806 der alten Monarchie
hätte erſpart werden ſollen. Nur die durchſchlagende Beweiskraft des
Krieges konnte dem verblendeten Geſchlechte den inneren Verfall jener
fridericianiſchen Formen zeigen, welche durch den Zauber alten Ruhmes
alle Thatkraft lähmten. Nur eine Niederlage konnte die unnatürliche Epi-
ſode der deutſchen Herrſchaft in Warſchau beendigen, den Staat ſich ſelber
und ſeinem deutſchen Weſen zurückgeben. —


Für keine ſeiner königlichen Pflichten war Friedrich Wilhelm von
Haus aus ſo wenig vorbereitet wie für die Leitung der auswärtigen Politik;
langſam, bedächtig wie er war hat er einer ſehr ſchweren Schule bedurft
bis ſein weiches Gemüth ſich an die Härte der großen politiſchen Macht-
fragen gewöhnte. Neigung und Pflichtgefühl ſtimmten ihn friedlich. Er
hätte es für einen Frevel gehalten, dies emſig arbeitende Norddeutſchland,
deſſen ruhiges Glück von Jedermann, ſelbſt von Friedrich Gentz, geprieſen
wurde, ohne dringende Noth den Wechſelfällen des Krieges, den verſchul-
deten Staatshaushalt neuen Verwirrungen preiszugeben; nur zur Ab-
wehr eines unmittelbaren Angriffs wollte er ſein Schwert ziehen. Die
allgemeine Friedensſeligkeit der Norddeutſchen fand nirgends eifrigere Ver-
treter als am preußiſchen Hofe; ſie hatte ſich hier ſogar eine eigene ſtaats-
rechtliche Doctrin erklügelt. „Ein König“, ſagte Oberſt Köckeritz zu ſeinem
fürſtlichen Freunde, „hat gar nicht das Recht das Daſein ſeines Staates
aufs Spiel zu ſetzen, das darf nur eine Republik.“ Ueber Frankreichs
gefährliche Abſichten täuſchte ſich der geſunde Sinn des Königs nicht.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 11
[162]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Sein Vater war dem alten Widerwillen gegen die Republik immer treu
geblieben, hatte noch als ſterbender Mann das Anerbieten eines fran-
zöſiſchen Bündniſſes zurückgewieſen und ſich nicht beirren laſſen, als
Caillard ihm die Erwerbung der deutſchen Kaiſerkrone in Ausſicht ſtellte.
Auch Graf Haugwitz war jetzt voll Mißtrauens gegen die Pariſer Macht-
haber. So blieb das Verhältniß zwiſchen den beiden Mächten ſehr kühl,
und der junge König geſtand zuweilen: er wolle die Kräfte ſeines Staates
ſammeln und aufſparen für den Augenblick, da vielleicht einmal ein ent-
ſcheidender Kampf mit dieſer räuberiſchen Macht nothwendig würde. Ver-
muthlich wußte er ſelbſt nicht recht, ob er ſolche Aeußerungen ernſtlich
meinte oder nur nach einem Vorwande für ſeine Friedfertigkeit ſuchte. Als
guter Deutſcher wünſchte er die Befriedung des geſammten Reichs und die
Wiederherſtellung der alten Grenzen; den Franzoſen gönnte er weder das
durch ſeine Truppen eroberte Mainz noch ſeine niederrheiniſchen Erblande.


Der Fürſt, unter deſſen Herrſchaft die größten Gebietsveränderungen
der preußiſchen Geſchichte erfolgen ſollten, verabſcheute von jeher das Ver-
handeln von Land und Leuten; ſelbſt kleine Grenzberichtigungen waren
ſeiner Gewiſſenhaftigkeit widerwärtig. Zu der Abtretung von Cleve und
Geldern hat er ſich ſchließlich nur darum verſtanden, weil dieſe vorläufig
von den Franzoſen beſetzten Lande ihm perſönlich noch nicht gehuldigt
hatten. Denn noch wurde das Verhältniß zwiſchen Fürſt und Unterthan
überall in Deutſchland als eine perſönliche Verpflichtung angeſehen; ſobald
ein Herrſcher ſtarb, ſchloß man eiligſt die Thore der Städte und ver-
eidigte die Truppen ſofort für den neuen Herrn. Die romantiſche Ver-
ehrung, welche ſein Vater für die altehrwürdigen Formen der Reichs-
verfaſſung gehegt, beirrte den nüchternen Kopf des Sohnes nicht; er
erkannte den unaufhaltſamen Zerfall des Reichs und empfand als ein
treuer Proteſtant wenig Mitleid mit dem Jammer der geiſtlichen Staaten.
Aber da er über die Möglichkeit einer Reichsreform noch nicht ernſtlich
nachgedacht hatte, ſo wäre die einfache Wiederherſtellung der alten Beſitz-
verhältniſſe in Deutſchland ſeinem Rechtsgefühle und ſeiner Friedensliebe
das Willkommenſte geweſen. Gelang dies nicht, ſo wollte er mindeſtens
das Gleichgewicht zwiſchen Oeſterreich und Preußen wahren, jede Er-
weiterung der öſterreichiſchen Macht durch eine Vergrößerung ſeines eigenen
Staates ausgleichen. Ohne Groll gegen die Hofburg, nahm er doch die
bairiſche Politik ſeines Großoheims wieder auf und trat für die Rechte
der Wittelsbacher gegen die kaiſerlichen Eroberungspläne ein. Der leitende
Gedanke ſeiner deutſchen Politik blieb freilich die Erhaltung des Friedens
für den Norden: nur diplomatiſche Mittel ſollten die Machtſtellung der
Monarchie gegen Frankreich wie gegen Oeſterreich ſichern.


So, mit der Geſinnung eines rechtſchaffenen Hausvaters trat der
unerfahrene junge Fürſt jenen dämoniſchen Mächten entgegen, welche wäh-
rend der jüngſten Monate das Anſehen der Welt verwandelt hatten. Die
[163]Krieg von 1796.
Helden der Schreckensherrſchaft hatten ſich einſt vermeſſen, die Revolution
ſolle tiefe Furchen ziehen; und ſo war es geſchehen, über alle Beſchreibung
gräßlich. In den neun Jahren ſeit dem Baſtilleſturme waren zweiund-
zwanzigtauſend dreihundert und einunddreißig neue Geſetze über das un-
glückliche Frankreich dahin geſtürmt, jede Brücke zwiſchen der Vergangen-
heit und der Gegenwart zerſtört, von allen Inſtitutionen des bourboniſchen
Staates keine einzige mehr übrig außer der Pariſer Akademie. Ein volles
Drittel des franzöſiſchen Bodens war ſeinen alten Eigenthümern gewalt-
ſam entriſſen. Dazu mehr als 47000 Millionen Franken entwertheten
Papiergeldes, dazu die völlige Verwirrung aller Beſitzverhältniſſe und die
langjährige Ausbeutung des Landes durch den praktiſchen Communismus
des Pariſer Pöbels. Aller Wohlſtand, alle Sicherheit des Rechtes war
dahin, und dahin auch aller Adel feiner Bildung. Auf den Altären der
geſchändeten Kirchen thronte die Göttin der Vernunft; das geſchmackvollſte
Volk Europas verehrte die rothe Mütze der Züchtlinge des Bagnos als
das Sinnbild ſeiner neuen Freiheit und taufte die Tage des Kalenders
auf die Namen des Schweines, des Eſels und der Kartoffel. Wohl hatte
die Guillotine endlich ihre entſetzliche Arbeit eingeſtellt, doch die grauſamen
Strafgeſetze gegen Prieſter und Emigranten wurden mit unverſöhnlicher
Rachſucht aufrecht erhalten. Noch immer blieb die Habe und das bürger-
liche Daſein von Tauſenden der unberechenbaren Willkür der herrſchenden
Partei preisgegeben. Neun Jahre voll unerhörten Elends hatten den
letzten Funken des politiſchen Idealismus zertreten, den Kämpfen des
öffentlichen Lebens jeden Inhalt genommen; der Streit der Parteien war,
wie ſeitdem immer in Frankreich, nur noch ein Ringen um den Beſitz
der Macht ſchlechthin.


Die franzöſiſche Nation verlangte nach Frieden, nach rechtlicher
Sicherheit für die neue Vertheilung des Volksvermögens, nach Wiederher-
ſtellung der alten Kirche. Ließ man ſie frei gewähren, ſo ſchien die Zurück-
berufung des alten Königshauſes unausbleiblich, nicht weil das ermüdete
Volk noch irgend ein Gefühl dynaſtiſcher Treue gehegt hätte, ſondern weil
die monarchiſche Ordnung ein Zeitalter friedlichen Wohlſtandes zu ver-
ſprechen ſchien. Das Heer allein bewahrte in der allgemeinen Zerrüttung
noch einige Mannszucht, in der allgemeinen Ermattung noch einigen ſitt-
lichen Schwung; ſo viele verdiente und unverdiente Erfolge hatten den
kriegeriſchen Ehrgeiz, den Stolz auf die unbeſiegte Tricolore, vornehmlich
unter den jungen Generalen, wach gerufen. Durch dies Heer, die einzige
geordnete und begeiſterte Macht im neuen Frankreich, behaupteten die
radicalen Parteien des Convents ihre Herrſchaft gegen den Willen der
Nation. General Bonaparte warf am 13. Vendemiaire 1795 den Auf-
ſtand der Royaliſten nieder und erzwang, daß zwei Drittel der Mitglieder
des Convents in die Volksvertretung der neuen Directorialverfaſſung ein-
traten. Damit war die Fortdauer des Krieges abermals entſchieden, denn
11*
[164]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
nur im Kriege konnte die ſiegreiche Minderheit hoffen ſich im Beſitze der
Gewalt zu befeſtigen.


Mit dem italieniſchen Feldzuge des Jahres 1796 begann die zweite,
die für den Welttheil fruchtbarere Epoche des Zeitalters der Revolution.
Die revolutionäre Propaganda wurde jetzt erſt wahrhaft wirkſam; eine
neue Ordnung der Dinge verdrängte die alte Ländervertheilung, die über-
lieferten Formen von Staat und Geſellſchaft in Mitteleuropa. Erſt durch
Bonapartes Siege erlangten Frankreichs Waffen ein unbeſtreitbares Ueber-
gewicht. Als der junge Held, die Alpen umgehend, vom Süden her in
Oberitalien einbrach, erwies er ſich ſofort als Meiſter einer neuen,
kühneren Kriegsweiſe, die ohne Magazine den Krieg durch den Krieg, durch
die Hilfsquellen des eroberten Landes zu ernähren verſtand und ſich nicht
ſcheute, auf die Gefahr der Vernichtung hin, mit verwandter Front dem
Feinde den Kampf anzubieten. Die Schlachten waren nicht mehr, wie
zur Zeit der alten Lineartaktik, ein einfaches Ringen zweier feſtgeſchloſſenen
Linien, die einander zu durchbrechen verſuchten. Bonaparte gab ihrem
Verlaufe dramatiſche Bewegung und Steigerung; durch die überwältigen-
den Maſſenſchläge ſeiner aufgeſparten Reſervetruppen erzwang er die Ent-
ſcheidung, wenn die Kraft der vorderen Treffen vernutzt war, und Keiner
wußte wie er, die Gunſt des Glückes bis zum Letzten auszubeuten. Nicht
die Schonung der eigenen Truppen galt ihm als die erſte Aufgabe des
Heerführers, wie einſt den Feldherren der koſtbaren alten Söldnerheere
— denn jeden Verluſt konnte die Conſcription leicht erſetzen: — ſondern
die Zertrümmerung der feindlichen Macht. In raſchem Zuge durch die
Länder dahinfegend ſtrebte er dem Gegner ins Herz zu ſtoßen, ihm ſeine
Hauptſtadt zu entreißen. Begeiſtert für ſich ſelber und den Glanz ſeiner
Fahnen, ganz durchglüht von der finſteren, majeſtätiſchen Poeſie des
Krieges, erzog er ſeine Truppen zu blinder Zuverſicht auf ſeinen Stern,
wies ihnen „Ehre, Ruhm und Reichthümer“ als des Krieges höchſte Ziele
und erfüllte ſie bis ins Mark mit einer raſtloſen, abenteuerlichen Lands-
knechtsgeſinnung, die alles Reden von Völkerglück und Völkerfreiheit als
hohles Geſchwätz verachtete. Er taufte die Franzoſen mit dem klug er-
fundenen Namen der großen Nation und riß das an den Parteikämpfen
verekelte Volk in einen Rauſch der Selbſtüberhebung und der Kriegsluſt
hinein, der ſich ſtärker und nachhaltiger zeigte als die Freiheitsbegeiſterung
der erſten Tage der Revolution.


Wie die Kriegsweiſe ſo erhielt auch die europäiſche Politik Frankreichs
durch den Sieger von Montenotte und Rivoli einen veränderten Charakter.
Die Pläne der Republik waren, trotz der kosmopolitiſchen Schlagworte,
womit ſie zu prunken liebte, doch nicht weſentlich hinausgegangen über die
alten Ziele, welche das bourboniſche Haus der nationalen Politik gewieſen
hatte: ſie wollte ihre Grenzen gegen Oſten erweitern, durch die Schwächung
Deutſchlands dem franzöſiſchen Staate das Uebergewicht im Rathe Europas
[165]Friede von Campo Formio.
und die Führerſtellung unter den romaniſchen Völkern ſichern; nach un-
mittelbarer Beherrſchung des Welttheils ſtrebte ſie nicht. Jener Uner-
ſättliche aber, der jetzt in Italien ſeinen byzantiniſchen Hof hielt, die er-
oberten Gebiete nach Gefallen zu Vaſallenſtaaten zuſammenballte, jeden
Widerſpruch des Directoriums bald durch Drohungen bald durch reiche
Beuteſendungen beſchwichtigte, war ein Mann ohne Vaterland. Als
Jüngling hatte er einſt für die Befreiung ſeiner italieniſchen Heimath
geſchwärmt, doch ſeine frühreife Weltklugheit überwand die jugendlichen
Träume ſchnell; unbedenklich trat er bei den Eroberern Corſicas in Dienſt,
weil er einſah, daß die Auflöſung aller alten Ordnung in dem revolutio-
nären Frankreich hier der höchſten Begabung die höchſten Erfolge verhieß.
Nun fühlte er ſich als den geborenen Herrſcher, in der Kraft des Wollens
und Vollbringens allen anderen Sterblichen überlegen. Er ſchwelgte in
dem Hochgefühle der einzigen Größe dieſer Zeit, die das Unmögliche zu
ermöglichen ſchien, und in dem ſtolzen Bewußtſein, daß ihm, ihm allein
auferlegt ſei, den Rathſchluß eines fürchterlichen Schickſals zu vollziehen.
Er ſah vor ſich das alte Europa, zertheilt durch ſtreitige Intereſſen, ge-
lähmt durch ein ſchwerfälliges Heerweſen und durch veraltete Verfaſſungen
— eine erſtarrte Staatenwelt, die das Recht ihres Daſeins nur noch auf
den hiſtoriſchen Beſtand zu ſtützen wußte; hinter ſich die gewaltigen kriege-
riſchen Kräfte des franzöſiſchen Volkes, das mit ſeiner Vergangenheit ge-
brochen hatte und ſich vermaß der weiten Erde Geſetze zu geben.


So iſt in dem Kopfe des großen Heimathloſen, dem das Seelenleben
der Völker, die Welt der Ideen immer unverſtändlich blieb, jetzt ſchon der
entſetzliche Gedanke eines neuen Weltreichs entſtanden. Die Bilder der
Caeſaren und der Karolinger ſtanden leuchtend vor ſeinem Geiſte; die reiche
Geſchichte eines Jahrtauſends ſollte durch ein gigantiſches Abenteuer ver-
nichtet werden, die vielgeſtaltige Culturwelt des Abendlandes dem Macht-
gebote eines ungeheuren Menſchen gehorchen. Mit einer wunderbaren
Sicherheit und Gewiſſensfreiheit ſtürmte dieſe neue, durchaus unfranzöſiſche
Politik der Welteroberung ihren Zielen entgegen. Bonapartes Scharfblick
erkannte ſofort, durch welche Mittel das in Deutſchland ſiegreiche, in Italien
beſiegte Oeſterreich zu einem vorläufigen Frieden zu zwingen ſei; er durch-
ſchaute Thuguts adriatiſche Pläne, verſchaffte ſich durch unerhörten Ver-
rath den Vorwand die neutrale Republik Venedig zu bekriegen, warf die
waffenloſe nieder und bot dann für Mailand, Belgien und das linke
Rheinufer dem kaiſerlichen Hofe den Beſitz Venetiens an — eine Ab-
rundung, die für Oeſterreich faſt willkommener war als die verlorenen
unhaltbaren Außenpoſten. Außerdem wurde dem Kaiſer das ſeculariſirte
Hochſtift Salzburg und Baiern bis zum Inn, ſeinem aus Modena ver-
triebenen Vetter der Breisgau verſprochen. Auf ſolche Bedingungen hin
wurde am 17. October 1797 der Friede von Campo Formio geſchloſſen.


Wieder einmal ſollte das heilige Reich die Buße zahlen für Oeſter-
[166]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
reichs Niederlagen, und wieder, heuchleriſcher denn je zuvor, erklangen
am Reichstage jene weihevollen reichsväterlichen Phraſen, womit die un-
deutſche Kaiſermacht ihre Hauspolitik zu bemänteln pflegte. Während in
den geheimen Artikeln von Campo Formio die Verſtümmelung der deut-
ſchen Weſtgrenze, die Seculariſation geiſtlichen Gebietes, die Entſchädigung
ausländiſcher Fürſten auf Koſten des Reiches ausbedungen war, ſprach
der veröffentlichte Wortlaut des Friedensſchluſſes von der unangetaſteten
Integrität des Reichs. Ein kaiſerliches Hofdecret lud die Reichsſtände zu
einem Congreſſe nach Raſtatt, damit dort „auf der Baſis der Integrität
Deutſchlands Verfaſſung und Wohlfahrt zur bleibenden Wonne der fried-
liebenden Menſchheit auf Jahrhunderte befeſtigt werde“. Auf dem Raſtatter
Congreſſe traten die Geſandten der Republik als die herriſchen Schieds-
richter der deutſchen Händel auf. An dreihundert deutſche Diplomaten
waren verſammelt; viele Gelehrte darunter, begierig, die große Räthſel-
ſammlung des Reichsrechts durch einige neue Ungeheuerlichkeiten zu be-
reichern. Man warb wetteifernd durch Schmeichelei und Beſtechung um
die Gnade der hochmüthigen Fremden. Franzöſiſche Sprache und Sitte
herrſchten vor; allabendlich rief das amtliche Deutſchland den franzöſiſchen
Schauſpielern Beifall, wenn ſie ihre Witze über die bêtes allemandes
zum Beſten gaben. Den öſterreichiſchen Staatsmännern fiel die Aufgabe
zu, die Verabredungen von Campo Formio vor den Geſandten der Reichs-
ſtände geheim zu halten. Das unwahre Spiel glückte eine Zeit lang, da
der Kaiſer durch drei Geſandtſchaften, als Kaiſer, als Erzherzog von
Oeſterreich, als König von Ungarn, vertreten war und immer der eine
ſeiner Geſandten ſich gemächlich hinter den beiden anderen verſtecken konnte.


Endlich mußte das unſelige Geheimniß doch kund werden. Auf Weih-
nachten 1797 wurde Mainz von den kaiſerlichen Truppen geräumt. Die
ganze hoffnungslos verworrene Lage der beiden ſchickſalsverwandten Na-
tionen Mitteleuropas kam an den Tag, da zur nämlichen Zeit die Franzoſen
das unbeſiegte Bollwerk des Rheinlandes beſetzten und die beſiegten Oeſter-
reicher in der Stadt des heiligen Marcus einrückten. Bald darauf traten
Frankreichs Bevollmächtigte in Raſtatt offen mit der Forderung des linken
Rheinufers heraus. Es war die erſte amtliche Ankündigung der Vernich-
tung des heiligen Reichs. Denn nach der patrimonialen Staatsauffaſſung
des Reichsrechts verſtand es ſich von ſelbſt, daß die Häuſer der weltlichen
Erbfürſten für ihre linksrheiniſchen Verluſte entſchädigt werden mußten,
während man die geiſtlichen Wahlfürſten — in den franzöſiſchen Staats-
ſchriften erhielten ſie den bezeichnenden Namen: princes usufruitiers
für ihre Nutznießungsrechte durch Penſionen abfinden konnte. Der Ge-
danke einer allgemeinen Seculariſation, der ſich ſeit Jahren immer un-
abwendbarer aufgedrängt hatte, erſchien jetzt als das letzte Mittel die
dynaſtiſchen Wünſche des deutſchen Fürſtenſtandes zu befriedigen. Der
große Beutezug des hohen Adels gegen das Kirchengut begann. Der Kaiſer
[167]Raſtatter Congreß.
ſelber hatte der Bewegung die Schleußen geöffnet durch die geplante Ein-
verleibung des Salzburger Hochſtiftes. In wilder Gier drängten ſich die
reichsfürſtlichen Geſandten an die Bevollmächtigten des Directoriums heran
um durch die Gunſt des Reichsfeindes ein reiches Stück aus den Gebieten
ihrer geiſtlichen Mitſtände zu gewinnen.


Nach Thuguts Abſicht ſollte Preußen bei dieſer Beraubung der geiſt-
lichen Fürſten leer ausgehen. In den geheimen Artikeln von Campo
Formio war ausdrücklich nur die Abtretung des linken Rheinufers von
Baſel bis zur Nette bewilligt worden, damit Preußen ſeine niederrheiniſchen
Beſitzungen behielte und keinen Anſpruch auf Entſchädigung erheben könne.
Die Verabredung ſtand in offenbarem Widerſpruche mit jenem Auguſt-
vertrage von 1796, der dem Berliner Hofe für den Fall der Abtretung
des linken Rheinufers eine vortheilhafte Abrundung verſprochen hatte. So
hatte denn Frankreich durch zwei widerſprechende geheime Verträge die
beiden verfeindeten deutſchen Großmächte an ſich gekettet, von denen die
eine aus ihren Niederlagen, die andere aus ihrer Unthätigkeit Vortheil
zu ziehen dachte. Unvermeidlich mußte jene dritte Macht, die ihre An-
ſprüche auf ihr ſiegreiches Schwert ſtützte, in ſolchem widerwärtigen Streite
die Oberhand behaupten.


Für eine entſchloſſene preußiſche Politik war der Weg, nach Allem
was geſchehen, klar vorgezeichnet. Preußens niederrheiniſcher Beſitz wurde
unhaltbar, ſeit der Kaiſer Belgien, Mainz und die Moſellande an Frank-
reich abgetreten. Das geſammte linke Ufer war durch die Verträge von
Campo Formio für Deutſchland verloren. Man mußte ſich dieſe That-
ſache eingeſtehen und verſuchen, mindeſtens dem rechtsrheiniſchen Deutſch-
land eine haltbare weltliche Verfaſſung zu geben. Es war an Preußen,
dem natürlichen Gegner der geiſtlichen Staaten, das nunmehr unver-
meidliche Werk der allgemeinen Seculariſation, der Verweltlichung des
heiligen Reichs, ſelber in die Hand zu nehmen, die Macht der Hofburg
in Deutſchland durch die Vernichtung ihres geiſtlichen Anhangs zu brechen,
das Reich in einen Fürſtenbund unter Preußens Führung zu verwandeln.
Nicht aus Frankreichs, ſondern aus Preußens Händen mußten die kleinen
weltlichen Fürſten ihre Entſchädigung empfangen; es galt, ſie durch das
einzige Band, das ihnen heilig war, durch das dynaſtiſche Intereſſe für
die preußiſche Sache zu gewinnen. In der That hat Dohm, der Geſandte
in Raſtatt, ſeinem Könige gerathen, die Seculariſation alſo in großem
Stile zu betreiben, als ein Mittel zu einer umfaſſenden Reichsreform
nicht zur Befriedigung kleinlicher Habgier. Aber der rathloſen Gedanken-
armuth des Berliner Hofes blieb jede kühne Entſchließung unfaßbar. Die
preußiſche Politik war während des Krieges wohlmeinend bemüht geweſen,
auf der Grundlage der Reichsintegrität den Frieden zwiſchen Oeſterreich
und Frankreich herbeizuführen; man hatte ſie ſchroff zurückgewieſen, weil
Thugut ſein finſteres Mißtrauen gegen Preußen nicht überwinden konnte,
[168]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
und weil ein Staat, der unter keinen Umſtänden ſchlagen wollte, auch
nicht fähig war in einem Weltkriege zu vermitteln. Als darauf die Ab-
tretung der Rheinlande gegen den Wunſch des Königs entſchieden war,
wirkten ſeine Diplomaten in Raſtatt, wie es Preußens natürliche Politik
gebot, für eine möglichſt reiche Entſchädigung der weltlichen Fürſten, wäh-
rend der Wiener Hof den Umfang der Seculariſationen zu beſchränken
und namentlich die bewährten Stützen des habsburgiſchen Kaiſerthums,
die drei geiſtlichen Kurfürſten, zu ſchonen wünſchte. Auch den bairiſchen
Eroberungsplänen der Hofburg wurde von Berlin her ſcharf widerſprochen.


Preußen und Baiern erſchienen wieder, wie einſt in Friedrichs Tagen,
als die Führer der anti-öſterreichiſchen Partei; doch dieſe Oppoſition wurde
nicht, wie vormals, gehoben durch das ſtolze Bewußtſein der eigenen Kraft.
Es zeigte ſich bald, wie hinfällig jene ſcheinbar ſo glänzende Machtſtellung
war, die ſich der preußiſche Staat durch die norddeutſche Neutralität er-
rungen hatte. Seine kleinen Schützlinge fühlten ſchnell heraus, daß die
Erfüllung ihrer begehrlichen Wünſche nur von der gewiſſenloſen Thatkraft
der jungen Republik, nicht von der Berliner Friedensſeligkeit zu erwarten
ſei. Frankreichs Geſandte beherrſchten den Congreß; Preußen ſpielte in
Wahrheit nur die traurige Rolle des Erſten unter den beuteluſtigen Klein-
ſtaaten, wagte nicht einmal den Vorſchlag zu einer durchgreifenden Neu-
ordnung der deutſchen Verfaſſung. So tief war das Reich geſunken, als
der gefürchtete „Italiker“ bei einem flüchtigen Beſuche in Raſtatt zum
erſten male einen Blick in das deutſche Leben warf. An dem durchtriebenen
Ränkeſpiele dieſes unfruchtbaren Congreſſes hat ſich Bonaparte ſein Ur-
theil über unſer Vaterland gebildet. Er durchſchaute die vollendete Nichtig-
keit des Reichsrechts und meinte befriedigt: wenn dieſe Verfaſſung nicht
beſtünde, ſo müßte ſie zu Frankreichs Vortheil erfunden werden. Er
beobachtete mit der verächtlichen Schadenfreude des Plebejers die knechtiſche
Demüthigung des deutſchen Fürſtenſtandes. Doch ihm entging auch nicht,
daß dies Land in Folge der Haltloſigkeit ſeiner Territorialgewalten nur
zu reif ſei für die nationale Einheit; es ſchien ihm hohe Zeit, die kleinen
Dynaſten durch Befriedigung ihrer Ländergier ganz für Frankreich zu
gewinnen und alſo das zertheilte Deutſchland ſeines Volksthums zu be-
rauben (dépayser l’Allemagne).


Der Raſtatter Congreß wurde durch den Wiederausbruch des Krieges
auseinander getrieben. Thugut hatte die Verträge von Campo Formio
nur widerwillig angenommen, da er außer Venetien auch die päpſtlichen
Legationen zu erwerben hoffte. Als Frankreich ſich dieſem Wunſche ver-
ſagte und, der Abrede zuwider, auf die allgemeine Seculariſation in
Deutſchland, das will ſagen: auf die Vernichtung des alten Kaiſerthums,
hinarbeitete, fühlte ſich die Hofburg in den Grundfeſten ihrer Macht be-
droht; denn — ſo ſchrieb der Miniſter nach Petersburg — „Teutſchland
beſtehet nicht durch Italien, ſondern Italien beſtehet durch Teutſchland“.
[169]Coalition von 1799.
Währenddem erfolgten neue Gewaltthaten der franzöſiſchen Staatskunſt:
mitten im Frieden wurde der Kirchenſtaat zu einer römiſchen Republik
umgeſtaltet und der ſchweizeriſche Einheitsſtaat aufgerichtet. Den alten
Mächten drängte ſich die Einſicht auf, daß mit dieſer raſtloſen Politik der
Welteroberung kein friedliches Zuſammenleben möglich ſei. Schon im
Sommer 1798 verhandelten Oeſterreich, England und der neue Czar Paul
über die Bildung der zweiten Coalition. Die Verbündeten ſchritten in
vollem Ernſt, mit dem Aufgebot ihrer beſten Kraft ans Werk. Auf der
weiten Linie vom Texel bis nach Calabrien, an allen ſeinen Grenzen zu-
gleich dachten ſie den Staat der Revolution zuſammt ſeinen Tochter-
republiken anzugreifen, und ſie durften um ſo ſicherer auf den Erfolg
ihrer furchtbaren Rüſtungen hoffen, da von den beiden namhafteſten Feld-
herren der Republik der Eine, Hoche, ſoeben geſtorben war, Bonaparte
aber fern in Aegypten weilte. Der junge Held hatte den grandioſen Ge-
danken gefaßt, die Macht Englands, das er als den gefährlichſten Feind
ſeiner Weltmachtspläne haßte, an ihrer verwundbarſten Stelle, im Oriente
zu ſchlagen.


Für Preußen war der Anſchluß an die neue Coalition keineswegs
unbedenklich; denn jede der verbündeten Mächte verfolgte Ziele, welche der
deutſchen Politik fremd oder geradezu bedrohlich waren. Rußland dachte
den Beſitzſtand im Oſten aufrechtzuhalten um dereinſt die orientaliſche
Frage nach ſeinem Sinne zu löſen. Im engliſchen Parlamente enthüllten
ſich immer dreiſter und übermüthiger die Pläne einer gewaltthätigen Han-
delspolitik, die, nach dem Worte des deutſchen Dichters, das Reich der
freien Amphitrite ſchließen wollte wie ihr eigenes Haus; den Seemächten
zweiten Ranges konnte weder Englands Alleinherrſchaft im Mittelmeere
noch die gänzliche Vernichtung des franzöſiſch-holländiſchen Colonialbeſitzes
willkommen ſein. Der Wiener Hof endlich hoffte auf große Eroberungen
in Italien und auf die Herſtellung der alten kaiſerlichen Vollgewalt im
Reiche. Seine Lohnſchreiber ſchlugen wieder den herausfordernden Ton
ferdinandeiſchen Hochmuths an, mahnten den deutſchen hohen Adel, die
Pflicht der Lehensfolge gegen die kaiſerliche Majeſtät zu erfüllen. Ueber-
haupt trug die zweite Coalition einen ausgeſprochen reactionären Charakter,
der mit den gemäßigten Anſichten des preußiſchen Hofes wenig gemein hatte.
Czar Paul ſprach in ſeiner ungeſtüm phantaſtiſchen Weiſe von der Zurück-
führung des altfranzöſiſchen Königthums. Fanatiſche Flugſchriften predig-
ten den Vernichtungskrieg gegen die gottloſen Neufränkler: „alle Rottirer
Europas blicken nach Paris.“ Schon der Raſtatter Geſandtenmord am
Beginne des Krieges ließ die blinde Erbitterung der Vorkämpfer des
hiſtoriſchen Rechts errathen, obſchon die blutige That nicht unmittelbar
von der Hofburg anbefohlen war. Noch deutlicher bekundete nachher die
gräuelvolle Wiederherſtellung der bourboniſchen Tyrannei, welche unheim-
lichen Leidenſchaften die Raſerei der Jacobiner erweckt hatte, und welchen
[170]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Wirren Europa entgegenging, wenn dies mächtigſte von allen Kriegsbünd-
niſſen der Gegenrevolution den Sieg errang.


Gleichwohl ſprachen überwiegende Gründe für den Zutritt Preußens
zu dem Dreibunde. In der Abſicht, den Fluthen der Welteroberung endlich
Schranken zu ſetzen, ſtimmten die Berliner Staatsmänner mit den drei
Mächten überein; Graf Haugwitz war über den Charakter der franzöſiſchen
Politik endlich ins Klare gekommen. Und wenn jede der verbündeten
Mächte ihre Hintergedanken verfolgte, ſo konnte Preußen um ſo gewiſſer
durch entſchloſſenes Handeln ſeine deutſche Machtſtellung befeſtigen. Eng-
land bereitete eine Landung an der holländiſchen Küſte vor, Oeſterreich
verſammelte ſeine Heere in Oberdeutſchland und Italien. Warf Preußen,
diesmal an ſeinen Oſtgrenzen unbedroht, ſeine geſammten Streitkräfte in
die weite Lücke zwiſchen dieſen beiden Kriegsſchauplätzen, ſo ging nach
menſchlichem Ermeſſen der ehrliche Herzenswunſch des jungen Königs, die
Wiedereroberung der Rheinlande, in Erfüllung, und der ſiegreiche Staat
erwarb ſich durch deutſche Thaten die nordiſche Hegemonie, die er bisher
nur ſcheinbar beſaß. Es war die Schuld des Königs und ſeiner alters-
ſchwachen Generale, daß die große Stunde unbenutzt blieb. Der zaudernde
Fürſt hielt den Augenblick zur Niederwerfung der Revolution noch nicht
gekommen, er wollte die Ereigniſſe abwarten, ſeine Kräfte aufſparen für
eine mögliche letzte Entſcheidung. Das ruheſelige Norddeutſchland ſtimmte
dem kleinmüthigen Entſchluſſe freudig zu; ſeine Fürſten und Stämme
ſegneten die Wiederkehr der Baſeler Neutralitätspolitik.


So begann denn ohne Preußens Zuthun der ungeheure Kampf.
Die Schlacht von Abukir begründete die mediterraniſche Herrſchaft der
Briten, vereitelte Bonapartes orientaliſche Pläne; Suworows Siege ent-
riſſen Italien den Franzoſen; Erzherzog Karl drang in Oberdeutſchland
ſiegreich vorwärts, und abermals ſchloß ſich die Bauerſchaft des deutſchen
Südens den kaiſerlichen Truppen an. Das Gebiet der Republik lag offen
vor den Heeren der Coalition, aber nochmals wurde die Zwietracht der
Verbündeten die Rettung Frankreichs. Der Hochmuth der ruſſiſchen Heer-
führer erſchien der Hofburg ebenſo unleidlich wie die ehrlich-fanatiſchen
Reſtaurationsgedanken des Czaren. Nicht auf die Herſtellung der alten
Regierungen, ſondern auf die Unterwerfung der Halbinſel war Thuguts
Sinn gerichtet; um für dieſe Pläne freie Hand zu behalten, ſendete er
Suworow von der offenen Siegesſtraße hinweg nach der Schweiz. Wäh-
rend der große Ruſſe ſeinen heroiſchen und doch militäriſch unfruchtbaren
Zug über die Alpen wagte, verlangte England den Abmarſch der Oeſter-
reicher nach dem Mittelrheine. Als das mit ſo glänzenden Hoffnungen
begonnene Jahr 1799 ſich zum Ende neigte, ging der gewaltige Dreibund
in bitterem Unfrieden auseinander; der Czar rief ſeine Truppen heim,
von einer Bedrohung des Gebietes der Republik war keine Rede mehr.


Aber ſo tief waren die Gedanken der Welteroberung bereits in das
[171]Der Bonapartismus.
Leben des neuen Frankreichs eingedrungen: die franzöſiſche Nation empfand
den Verluſt ihrer italieniſchen Machtſtellung als eine unerträgliche Schmach,
begrüßte den heimkehrenden ägyptiſchen Helden mit aufrichtigem Jubel als
ihren Erretter. Der Staatsſtreich vom 18. Brumaire brachte kraft einer
inneren Nothwendigkeit die Staatsgewalt in die Hände des Heerführers,
der ſchon ſeit drei Jahren durch den Schrecken ſeiner Waffen die radicale
Kriegspartei am Ruder erhalten hatte, und ſchenkte dem neuen Frankreich
jene Verfaſſung, die mit unweſentlichen Aenderungen fortbeſteht bis zum
heutigen Tage. Die beiden einzigen neuen politiſchen Ideen, welche in
der Nation feſte Wurzeln geſchlagen hatten, die Gedanken der Staatseinheit
und der ſocialen Gleichheit, wurden bis in ihre letzten Folgen durchgeführt,
die veränderte Vertheilung des Eigenthums anerkannt und durch eine ſtrenge
Rechtspflege geſichert. Ueber der ungegliederten Maſſe dieſes Volkes der
Gleichen erhob ſich der homme-peuple, der demokratiſche Selbſtherrſcher,
in deſſen ſchrankenloſer Macht die eine und untheilbare Nation mit Genug-
thuung ihre eigene Größe genoß. Ihm gehorchte die feſtgefügte Hierarchie
des ſchlagfertigen neuen Beamtenthums, das jedem Ehrgeiz, wenn er ſich
nur dem Herrſcher unterwarf, Befriedigung verſprach und den Regierten
alle Sorge und Arbeit für das gemeine Wohl abnahm. Ihm diente blind-
lings das Heer der Conſcribirten aus den niederen Ständen; eine den
Zwecken der Eroberungspolitik glücklich angepaßte Heeresorganiſation ſtellte
dem erſten Conſul zugleich die Maſſen eines Volksaufgebotes und die
techniſche Tüchtigkeit einer langgedienten Söldnertruppe zur Verfügung.
Die beſitzenden Klaſſen aber ſahen, befreit von der Laſt der Wehrpflicht,
in bequemer Sicherheit den Triumphen der dreifarbigen Fahnen zu und
lernten die aufregenden Nachrichten von Krieg und Sieg als einen un-
entbehrlichen Zeitvertreib ſchätzen.


Es war zugleich der höchſte Triumph und die Selbſtvernichtung der
Volksſouveränität. Es war der ſtolzeſte, der geſcheidteſte, der beſtgeordnete
Despotismus der neuen Geſchichte, der nothwendige Abſchluß des Entwick-
lungsganges, welchen der franzöſiſche Staat ſeit der Thronbeſteigung der
Bourbonen eingeſchlagen hatte. Auch der altüberlieferte katholiſche Charakter
der franzöſiſchen Bildung wurde jetzt durch das Concordat wiederhergeſtellt.
Alle die fruchtbaren neuen Gedanken, welche die Geſetzgebung der National-
verſammlung und des Convents verwirklicht oder vorbereitet hatte, fanden
in dem Präfectenſyſteme, den Rechtsbüchern, dem Finanz- und Heerweſen
der neuen Selbſtherrſchaft ſachkundige Verwerthung, ſoweit ſie den beiden
Zwecken der Demokratiſirung der Geſellſchaft und der Centraliſation des
Staates entſprachen. Hingegen von den Freiheitswünſchen der Revolution,
von der Theilnahme der Nation an der Staatsleitung blieb nichts übrig
als ein leeres Schaugepränge werthloſer parlamentariſcher Formen. Die
Verfaſſung des napoleoniſchen Frankreichs war, wie die des altbourbo-
niſchen, in Wahrheit nur eine Verwaltungsordnung. Der in den Partei-
[172]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
kämpfen des jüngſten Jahrzehntes völlig zerrüttete Handel und Wandel
erholte ſich raſch, Dank der Rechtsſicherheit und der freien Bewegung,
welche die neuen Geſetze den wirthſchaftlichen Kräften gewährten. Doch
an dem anderen traurigen Vermächtniß der Revolution, an der geiſtigen
Verödung des franzöſiſchen Lebens wollte und konnte der neue Herrſcher
nichts ändern. Er rechnete nur mit dem gemeinen Ehrgeiz der Menſchen;
alle Freiheit des Gedankens, alles ſelbſtändige Schaffen der Kunſt und
Wiſſenſchaft war ihm hohle Ideologie, halb lächerlich, halb furchtbar.


Alſo trat das ſeltſam zweiſchneidige Syſtem des Bonapartismus auf
die Bühne, an Selbſtgefühl, Schlagfertigkeit und organiſatoriſcher Kraft
vorderhand den verknöcherten Staaten der Nachbarlande noch weit über-
legen: ein Gebilde der Revolution, demokratiſch von Grund aus, der
natürliche Gegner der hiſtoriſchen Staatsgewalten und Geſellſchaftsformen
im alten Europa; aber auch despotiſch von Grund aus, der geſchworene
Feind aller Freiheit und nationalen Eigenart des Völkerlebens. Zunächſt
mußte der Sieger des 18. Brumaire die Verluſte des letzten Jahres
einbringen, den Beſitzſtand von Campo Formio wiederherſtellen. Sein
genialer Verſuch, die Seeherrſchaft Englands durch einen Bund aller See-
mächte des Nordens und des Südens zu erſchüttern, ſcheiterte gänzlich;
doch im Feſtlandskriege war ihm das Glück hold. Der theatraliſche Zug
über den St. Bernhard zeigte dem befriedigten Frankreich, daß Suworows
Lorbeeren für franzöſiſche Soldaten nicht unerreichbar ſeien. Der Sieg
von Marengo brachte die Herrſchaft über Italien wieder in Bonapartes
Hand; die Entlaſſung Thuguts ließ erkennen, daß die zähe Ausdauer des
Wiener Hofes zu erlahmen begann. Aber noch bedurfte es eines letzten
Schlages, der Schlacht von Hohenlinden, um das erſchöpfte Oeſterreich
zum Frieden zu bewegen. Am 9. Februar 1801 verkündete der Friede
von Luneville öffentlich und unzweideutig, was der Vertrag von Campo
Formio nur insgeheim und unklar beſtimmt hatte: daß der Rhein fortan
Deutſchlands Grenze ſei. —


Ein Gebiet von 1150 Geviertmeilen und faſt vier Millionen Ein-
wohnern war für Deutſchland verloren, beinah ein Siebentel von der
Bevölkerung des alten Reichs, das ohne Schleſien auf 28 Millionen
Köpfe geſchätzt wurde. Mit unheimlichem Kaltſinn ließ die deutſche Nation
den furchtbaren Schlag über ſich ergehen. Kaum ein Laut vaterländiſchen
Zornes ward vernommen, als Mainz und Köln, Aachen und Trier, die
weiten ſchönen Heimathlande unſerer älteſten Geſchichte, an den Fremden
kamen; und wie viele bittere Thränen hatte einſt das verkümmerte Ge-
ſchlecht des dreißigjährigen Kriegs um das eine Straßburg vergoſſen!


Es war die Schuld der Krummſtabsregierung, daß die linksrheiniſchen
Lande ihrem Volke ſo fremd geworden. An Friedrichs Siegen und Goethes
Gedichten, an Allem, was dem neuen Deutſchland das Leben erfüllte,
hatten die geiſtlichen Gebiete keinen Antheil genommen. Jetzt ertrugen
[173]Friede von Luneville.
ſie ihr Schickſal mit ſtummer Ergebung; nur die niederrheiniſchen Pro-
vinzen Preußens bekundeten laut ihren Schmerz über die Trennung von
einem ehrenwerthen Staate. Natürlich hatte die rührige Propaganda der
Revolution während der langen Jahre der franzöſiſchen Occupation nicht
ganz umſonſt gearbeitet: man erlebte da und dort ein beſcheidenes Nach-
ſpiel des Mainzer Clubiſtentreibens. Die Jugend berauſchte ſich eine
Zeit lang an der Hoffnung, ihre Heimath würde eine ſelbſtändige Tochter-
republik unter Frankreichs Schutze bilden. In Koblenz tanzten die Foede-
rirten der cisrheiniſchen Republik um den grünweißrothen Freiheitsbaum.
Der Kölniſche Brutus Biergans bemühte ſich mit treuem Fleiße, die
wüthenden Kraftworte der Marat und Desmoulins nachzuahmen; doch
die Nachbildung gerieth kaum beſſer als die deutſche Marſeillaiſe, das
ſpießbürgerlich zahme Bundeslied der rheiniſchen Republikaner: „Auf, jubelt
ihr Brüder, Vernunft hat geſiegt.“ Nur der junge Joſeph Görres ver-
ſtand die dem deutſchen Weſen fremde Sprache des Fanatismus zu reden.
Mit dem ganzen Ungeſtüm ſeines phantaſtiſchen Kopfes und mit der ganzen
Unreife jener Halbbildung, die in den geiſtlichen Schulen der Biſchofs-
lande gedieh, warf ſich der ehrlich begeiſterte Jüngling in den Strudel der
revolutionären Bewegung, pries in Reden und Flugſchriften die Wunder
der galliſchen Freiheit. Als die Räumung von Mainz über das Schickſal
der Rheinlande entſchieden hatte, da hielt er dem heiligen Reiche die
Leichenrede — dem friedfertigen leidſamen Kindlein, das einſt unter dem
Zeichen eines unglückſchwangeren Perrückenkometen geboren wurde, jetzt
aber den General Bonaparte zum Teſtamentsvollzieher einſetzt — und
rief drohend: „Die Natur ſchuf den Rhein zur Grenze von Frankreich;
wehe dem ohnmächtigen Sterblichen, der ihre Grenzſteine verrücken und
Koth und Steinhaufen ihren ſcharf gezogenen Umriſſen vorziehen will!“
Mit ſolchem Hohne nahm der begabteſte Sohn des Rheinlandes von ſeinem
Vaterlande Abſchied; ſolche Empfindungen hatte der Anblick des geiſtlichen
Regiments in dem heißen Herzen des Mannes hervorgerufen, der bald
nachher der begeiſterte Apoſtel des Deutſchthums am Rheine werden ſollte!


Bei den Maſſen des rheiniſchen Volks fand das jacobiniſche Treiben
keinen Boden. Sie lebten dahin ſeufzend über die hohen Kriegslaſten und
die Unſicherheit der endloſen proviſoriſchen Zuſtände; ſie ſahen mit Un-
muth, wie die fremden Beamten das Land ausplünderten, die Denkmäler
ſeines Alterthums roh zerſtörten, die Gebirge entwaldeten, die alten Säulen
vom Grabe Karls des Großen nach Paris entführten. Erſt nach der end-
giltig vollzogenen Einverleibung lernten ſie auch die Wohlthaten der neuen
Regierung ſchätzen. Die franzöſiſche Herrſchaft wurde für die geiſtlichen
Gebiete des Rheinlandes, wie für Italien, die Bahnbrecherin des modernen
Staatslebens; ſie ſchenkte ihnen die Anfänge bürgerlicher Rechtsgleichheit,
welche in Preußen und vielen ſeiner weltlichen Nachbarſtaaten längſt be-
ſtanden, und dazu manche andere politiſche Reformen, deren das übrige
[174]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Deutſchland noch entbehrte. Durch ſie lernte das ſtaat- und waffenloſe
Volk der Krummſtabslande zum erſten male den Kriegsruhm und das
Selbſtgefühl eines großen Gemeinweſens kennen.


Die durcheinander gewürfelten Gebiete von 97 Biſchöfen, Aebten,
Fürſten, Grafen und Reichsſtädten und einer ungezählten Schaar Reichs-
ritter wurden zu vier wohlabgerundeten Departements zuſammengeſchlagen.
Eine ſtrenge Polizei jagte die Banden des Schinderhannes auseinander,
brachte den Gebirgslanden der Eifel und des Hunsrückens einen Zuſtand
friedlicher Sicherheit, den die Zeiten kleinſtaatlicher Ohnmacht nie gekannt.
Die Aufhebung der Leibeigenſchaft wollte hier in den Landen alter Bauern-
freiheit wenig bedeuten. Um ſo tiefer und heilſamer wirkte die Beſeitigung
der feudalen Laſten und der hohen Kirchenzehnten, vornehmlich aber der
Verkauf der Nationalgüter; auf den Trümmern der alten geiſtlichen Lati-
fundien entſtand ein neuer wohlhäbiger Kleingrundbeſitz. Die Thore des
Bonner Ghettos thaten ſich auf, die Proteſtanten von Köln und Aachen
erbauten ſich ihre erſten Kirchen. Die öffentliche Rechtspflege der Schwur-
gerichtshöfe verdrängte jene ungeheuerlichen Proceßformen, welche vordem
von den dreizehn Gerichten der guten Stadt Köln, von den zahlloſen Tribu-
nalen geiſtlicher und weltlicher Gerichtsherren gehandhabt wurden. Statt
der verſchwiegerten und verſchwägerten Herren vom Rathe, denen das Volk
den Spottnamen des Kölniſchen Klüngels anhing, ſtatt der hochedlen und
hochweiſen Patricier, die einſt „das Reich von Aachen“ beherrſchten, ge-
boten jetzt überall die Präfecten und die Maires, des erſten Conſuls
unterthänige Diener. Jede Selbſtändigkeit der Gemeinden war dahin; doch
die neue Beamtenregierung zeigte ſich nicht nur rühriger, ſondern auch
ehrlicher und gerechter als die alte Vetternherrſchaft.


Wohl vertheidigten die Rheinländer ihre deutſche Sprache und Sitte
mit zähem Widerſtande gegen alle Verſuche gewaltſamer Verwälſchung.
Die willkürliche Unnatur der neuen Flußgrenze wurde ſchwer empfunden;
überall den Strom entlang führte das Volk den kleinen Krieg gegen die
verhaßten Zollwächter und ließ ſich den nachbarlichen Umgang mit den
rechtsrheiniſchen Landsleuten nicht verbieten. Man ſpürte jedoch bald, mit
wie feſten Banden ein kräftiger Staat ſeine Glieder zuſammenhält. Der
freie Handel mit dem weiten weſtlichen Hinterlande, die Vernichtung der
alten Zunft- und Bannrechte rief neue gewerbliche Unternehmungen, neue
Verkehrsverhältniſſe hervor; das gute Frankengeld, das ſeit Bonapartes
Beutezügen und Finanzreformen in Frankreich umlief, ſah ſich doch anders
an als die Petermännchen und Kaſtemännchen und das andere bunte
Münzengewirr der biſchöflichen Tage. Die Stämme am Mittel- und
Niederrhein ſind niemals ſo mit ganzem Herzen franzöſiſch geworden wie
das Soldatenvolk des Elſaſſes; der wachſende Steuerdruck und die furcht-
baren Menſchenopfer der napoleoniſchen Kriege ließen, trotz der Befreiung
des Ackerbaus und der Gewerbe, nicht einmal das Gefühl wirthſchaftlichen
[175]Abtretung des linken Rheinufers.
Behagens recht aufkommen. Aber allgemein war die Meinung, daß man für
immer zu Frankreich gehöre. Die Rheinländer hatten mit ihrer Geſchichte
gebrochen und von ihren alten Ueberlieferungen in die neue Zeit nichts
mit hinübergenommen als den katholiſchen Glauben; daher das Gefühl
innerer Verwandtſchaft, das ſie noch auf lange hinaus mit der neufran-
zöſiſchen Bildung verband. Die alte Ordnung war ſpurlos vernichtet,
jede Möglichkeit einer Wiederherſtellung verloren; bald ſchwand ſelbſt die
Erinnerung an die Zeiten der Kleinſtaaterei. Die Geſchichte, die in den
Herzen des aufwachſenden rheiniſchen Geſchlechtes wirklich lebte, begann
erſt mit dem Einzuge der Franzoſen. Nur vereinzelte tiefere Naturen,
wie Görres und die Gebrüder Boiſſeree, erkannten nach und nach den
Fluch aller Fremdherrſchaft, die Verdumpfung und Verwüſtung des geiſtigen
Lebens; ſie wendeten ihre ſehnſüchtigen Blicke den Jahrhunderten des
Mittelalters zu, da das Rheinland noch ein lebendiges Glied des deutſchen
Reichs geweſen, fanden in Schmerz und Reue ihr verlorenes Vaterland
wieder. Die große Mehrzahl nahm das Geſchehene hin wie eine unab-
änderliche Nothwendigkeit, zumal da die Zuſtände im Reiche ſo wenig
Grund zur Sehnſucht boten. Auch drüben auf dem rechten Ufer glaubte
Jedermann, die neue Weſtgrenze Deutſchlands ſei für alle Zukunft feſt-
geſtellt.


Den Reichsgewalten lag nun die Aufgabe ob, das große Entſchädi-
gungswerk durchzuführen, das ſich aus der Verkleinerung des Reichs er-
gab. Der ſiebente Artikel des Luneviller Friedens verpflichtete das Reich,
die Erbfürſten des linken Rheinufers im Innern Deutſchlands (dans le
sein de l’Empire
) zu entſchädigen; die Raſtatter Verabredungen ſollten
dabei zur Richtſchnur dienen. Alſo wurde die Verweltlichung des heiligen
Reichs, die Vernichtung der geiſtlichen Staaten dem Reichstage auferlegt
durch das Schwert des fremden Siegers. Was in den Zeiten der ſchle-
ſiſchen Kriege die Rettung und Verjüngung des deutſchen Staates geweſen
wäre, das war jetzt Deutſchlands Theilung. Während der verwickelten
Unterhandlungen, die nunmehr zwei Jahre lang zwiſchen Paris und
Regensburg, Berlin, Petersburg und Wien hin und her ſpielten, trat
ganz von ſelber wieder jene Gruppirung der deutſchen Parteien hervor,
die ſich ſchon auf dem Raſtatter Congreſſe angekündigt hatte. Der Wiener
Hof blieb noch lange in dem wunderlichen Wahne, Bonaparte werde ſich
um die Neugeſtaltung Deutſchlands nicht kümmern, und ſtrebte möglichſt
viele von den theokratiſchen Gewalten des alten Reichs, vor Allen die
geiſtlichen Kurfürſten zu retten: „nicht das Maß ihres Einkommens, ſon-
dern ihr Daſein iſt für die deutſche Verfaſſung werthvoll“ — hieß es in
einer öſterreichiſchen Staatsſchrift. Preußen und Baiern dagegen, die
mächtigſten der weltlichen Stände, verfochten das gemeinſame Intereſſe der
Erbfürſten, die allgemeine Seculariſation, und galten daher bei aller Welt
als die Bundesgenoſſen Frankreichs.


[176]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Trotzdem hat ein rückhaltloſes Einvernehmen zwiſchen dem erſten
Conſul und der Krone Preußen auch damals nie beſtanden. Einen Bundes-
genoſſen, der die Selbſtändigkeit einer Großmacht beanſpruchte, konnte
Bonaparte nicht ertragen; das neue „Foederativſyſtem“, das er an die
Stelle der alten Staatengeſellſchaft zu ſetzen dachte, bot nur Raum für
ein herrſchendes Frankreich und ohnmächtige Vaſallen. Er war der Feind
jeder unabhängigen Macht, und auch für Preußen empfand er niemals
aufrichtiges Wohlwollen. Dem Leben Bonapartes fehlt jede Entwicklung;
er hat nicht, wie die echten Helden der Geſchichte, gelernt von dem Wandel
der Zeiten, ſondern ungerührt und unbelehrt bis zum Ende gearbeitet an
der Verwirklichung eines weltumſpannenden Planes, der ihm von Haus
aus feſt ſtand. Darum erſcheint er am größten in der Zeit des Con-
ſulats, als dieſe mächtigen Gedanken ſich zum erſten male enthüllten. In
vier Nachbarlanden zugleich trat er jetzt als Friedensvermittler und Or-
ganiſator auf. In der Schweiz warf er das willkürliche Gebilde des Ein-
heitsſtaates über den Haufen und gab den Eidgenoſſen eine verſtändige
Bundesverfaſſung, denn „die Natur ſelbſt hat Euch zum Staatenbunde
beſtimmt, die Natur zu bezwingen verſucht kein vernünftiger Mann“. Mit
demſelben durchdringenden Scharfblick erkannte er, daß in Holland die bün-
diſchen Staatsformen ſich überlebt hatten; er ließ den bataviſchen Einheits-
ſtaat beſtehen und legte ihm eine Verfaſſung auf, welche den Uebergang
zur Monarchie erleichterte. Den Italienern erweckte er eine Welt glän-
zender Erinnerungen und Erwartungen indem er den alten Namen des
Landes wieder zu Ehren brachte und den Vaſallenſtaat am Po zur italie-
niſchen Republik erhob; auch hier wurde die Monarchie und die verhüllte
Fremdherrſchaft umſichtig vorbereitet. Für ſeine deutſche Politik endlich
hatte er ſich längſt den Weg vorgezeichnet, der zur Vernichtung des deutſchen
Namens führen ſollte. Nie ward ein unmöglicher Plan mit ſchlauerer
Berechnung erſonnen, mit heißerer Thatkraft ins Werk geſetzt.


Wenn der erſte Conſul in Reden und Staatsſchriften das deutſche
Reich als unentbehrlich für das europäiſche Gleichgewicht bezeichnete, ſo
meinte er damit nur die Anarchie der deutſchen Kleinſtaaterei, keineswegs
die theokratiſchen Formen der Reichsverfaſſung. Die karolingiſchen Tra-
ditionen des heiligen Reichs ſtanden den Weltherrſchaftsplänen des Corſen
ebenſo feindlich im Wege, wie die mittelalterlichen Inſtitutionen des alten
Deutſchlands dem demokratiſch-modernen Charakter der neuen Tyrannis
widerſprachen. Die deutſche Verfaſſung war, wie der Moniteur ſich aus-
drückte, „der Mittelpunkt aller feudalen Vorurtheile Europas“ und zu-
gleich eine Stütze der öſterreichiſchen Macht. Der Wiener Hof aber galt
in Paris nächſt England als der bitterſte Feind der Revolution; die Zer-
trümmerung ſeiner deutſchen Machtſtellung war dort längſt beſchloſſene
Sache. Schon im Sommer 1800 mußten Talleyrands Lohnſchreiber den
„Brief eines deutſchen Patrioten“ ausarbeiten, ein erſtes Probſtück jener
[177]Bonaparte der Beſchützer der Mittelſtaaten.
diaboliſchen Halbwahrheiten, wodurch der Bonapartismus ſo verführeriſch
auf unſer Volk gewirkt hat: das Libell zählte mit beredten Worten auf,
was Oeſterreich am heiligen Reiche geſündigt hatte, und empfahl den auf-
geklärten Deutſchen die Beſeitigung der habsburgiſchen Herrſchaft. Um
die wehrloſen Kleinſtaaten von Mittel- und Weſtdeutſchland ganz in ſeine
Gewalt zu bringen wollte Bonaparte vorerſt Oeſterreich und Preußen ſo
weit als möglich in den Oſten zurückſchieben. Darum wurde der Breis-
gau dem Herzog von Modena gegeben; darum erhob Frankreich, diesmal
mit dem Wiener Hofe einverſtanden, entſchiedenen Widerſpruch, als Harden-
berg den Vorſchlag wagte, Preußen ſolle ſeine Entſchädigung in Franken
ſuchen. Darum fanden die Wünſche Baierns, das jetzt ſchon begehrliche
Blicke auf Ansbach-Baireuth warf, in Paris gnädige Aufnahme; darum
endlich ließ der erſte Conſul in Berlin anfragen, ob nicht Mecklenburg
eine bequeme Abrundung für Preußen bieten würde, das alte Herzogs-
haus mochte dann in den preußiſchen Rheinlanden entſchädigt werden.
Es blieb für diesmal bei einem halben Erfolge, da König Friedrich Wilhelm
ſich ſtandhaft weigerte, Mecklenburg wider den Willen der Herzöge zu be-
ſetzen; doch das Eine wurde erreicht, daß Preußen ſeinen fränkiſchen Beſitz
nicht vergrößern durfte und im Süden allen Einfluß verlor.


Für die Beherrſchung dieſer ſüd- und weſtdeutſchen Gebiete nun er-
ſann ſich der große Menſchenverächter ein unfehlbares Mittel. Nicht
umſonſt hatte er auf dem Raſtatter Congreſſe dem deutſchen hohen Adel
bis in die innerſten Falten des Herzens geblickt. Er wurde der Schöpfer
unſerer neuen Mittelſtaaten um durch ſie Deutſchlands Zerſplitterung für
immer zu ſichern. Das kleine Volk der Fürſten, Grafen und Reichsritter
war ihm läſtig, weil ſie zumeiſt zur öſterreichiſchen Partei gehörten und
im Kriege nichts leiſten konnten. Unter den Kurfürſten und Herzögen
dagegen fand ſich des brauchbaren Stoffs genug zur Bildung einer fran-
zöſiſchen Vaſallenſchaar. Sie waren zu ſchwach um auf eigenen Füßen zu
ſtehen, zu dünkelhaft um ſich einer nationalen Staatsgewalt zu beugen,
grade mächtig genug um einige kleine Contingente zu ſtellen, die unter
der Führung des Welteroberers die alte deutſche Waffentüchtigkeit wieder
bewähren konnten; ſie hatten faſt alleſammt während der jüngſten Kriege
Sonderverträge mit dem Reichsfeinde geſchloſſen, als Rebellen gegen Kaiſer
und Reich den Rechtsboden verlaſſen und die Brücken hinter ſich abge-
brochen. Wenn der Gewaltige dieſe politiſchen Zwitterweſen, die nicht
leben noch ſterben konnten, unter ſeinen Schutz nahm, wenn er ihrer
Habgier einige Brocken aus den Gütern der kleineren Mitſtände zuwarf,
ihre Eitelkeit durch anſpruchsvolle Titel und den Schein der Unabhängig-
keit kirrte; wenn er alſo die hunderte winziger Territorien zu einigen
Dutzend neuer Zufallsſtaaten zuſammenballte, die mit einer Geſchichte von
geſtern, jedes Rechtstitels entbehrend, allein von Frankreichs Gnaden leb-
ten; wenn er die Satrapen dann zu frechen Kriegen gegen das Vaterland,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 12
[178]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
von einer Felonie zur andern führte und neuen Schergendienſt durch neue
Beute belohnte, ſo hatten ſie ihm ihre Seele verſchrieben, und er durfte
darauf rechnen, daß ſie lieber dem Fremden die Schuhe küſſen als jemals
freiwillig einem deutſchen Gemeinweſen ſich unterordnen würden. Er war
nicht der Mann ſeinen Schützlingen die Schuld der Dankbarkeit zu er-
laſſen. „Frankreich“, ſo ſchrieb er dem Kurfürſten von Baiern, „und
Frankreich allein kann Sie auf der Höhe Ihrer Macht erhalten;“ und
nochmals: „von uns allein hat Baiern ſeine Vergrößerung, und nur bei
uns kann es Schutz finden.“


Inſoweit erſcheint Bonapartes deutſche Politik nur als eine groß-
artige Weiterbildung der altfranzöſiſchen Staatskunſt, die ſeit dem zweiten
und dem vierten Heinrich beſtändig nach der Schirmherrſchaft über die
deutſchen Kleinſtaaten getrachtet hatte; das verführeriſche Wort Souverä-
nität, das die Diplomaten Frankreichs einſt beim Weſtphäliſchen Friedens-
ſchluſſe zuerſt auf die deutſche Landeshoheit angewendet hatten, tauchte
jetzt in den Staatsſchriften des erſten Conſuls wieder auf. Aber die Ge-
danken des Raſtloſen ſchweiften ſchon weit über dieſe Ziele hinaus: war
erſt Weſtdeutſchland unterworfen, ſo ſollten auch Oeſterreich und Preußen
gebändigt werden. Bonapartes Freundſchaft für Preußen war niemals
mehr als ein verſchlagenes diplomatiſches Spiel. Obgleich er gegen die
ängſtliche Politik des Berliner Hofes eine tiefe und wohlberechtigte Ver-
achtung hegte, ſo theilte er doch in jenen Jahren den Irrthum aller Welt
und überſchätzte die Macht Preußens; für die unerſchöpflichen ſittlichen
Kräfte, welche in dem erſtarrten Staate ſchlummerten, hatte der Verächter
der Ideologen freilich kein Auge, er wußte aber ſehr wohl, was der preu-
ßiſche Soldat in den Rheinfeldzügen geleiſtet hatte, und war über den
fortſchreitenden Verfall des fridericianiſchen Heeres nicht genugſam unter-
richtet. Den Kampf mit einem ſolchen Gegner wollte er nur unter gün-
ſtigen Umſtänden und mit der Hilfe des geſammten übrigen Deutſchlands
aufnehmen. Für jetzt konnte er Preußens Mitwirkung noch nicht miſſen.
Während des Krieges hatte er mehrmals gehofft, durch die Vermittlung
der friedfertigſten der Großmächte zum allgemeinen Frieden zu gelangen,
und nachher das erwachende Mißtrauen des Berliner Hofes durch un-
beſtimmte Zuſagen hingehalten. Nach dem Frieden betrachtete er die
Zertrümmerung der öſterreichiſchen Partei im Reiche als ſeine nächſte
Aufgabe; dazu war die Hilfe des alten Nebenbuhlers der Lothringer un-
entbehrlich. Die Briefe des erſten Conſuls an den jungen König floſſen
über von zärtlichen Betheuerungen: wie jeder Wunſch des königlichen
Freundes für das franzöſiſche Cabinet ein Befehl ſei, und wie ſie Beide,
der Nachfolger und der Bewunderer Friedrichs, ſelbander in den Fuß-
tapfen des großen Königs weiter wandeln wollten. Eine reichliche Ent-
ſchädigung ließ ſich dem mächtigſten der weltlichen Reichsſtände nicht ab-
ſchlagen; nur jede Verſtärkung der preußiſchen Partei im Reiche mußte
[179]Begründung der preußiſch-ruſſiſchen Allianz.
vermieden werden. Daher erhielt Talleyrand die Weiſung, das preußiſch
geſinnte Haus Mecklenburg von dem neuen Kurfürſtenrathe auszuſchließen,
er dürfe aber nicht davon ſprechen.


Der Berliner Hof ſeinerſeits war von der Ehrlichkeit der franzöſiſchen
Freundſchaft durchaus nicht überzeugt. Man hatte dort, wie faſt an allen
Höfen, den Staatsſtreich des 18. Brumaire willkommen geheißen, weil
eine geordnete Regierung in Frankreich den Weltfrieden zu verbürgen
ſchien; man war wieder, wie ſo oft ſchon, bemüht geweſen durch diplo-
matiſche Vermittlung die Integrität des Reichs zu retten. Aber wie ſollte
ein deutſcher Staat, der ſelbſt nach der Erklärung des Reichskriegs im
Jahre 1799 ſein Schwert in der Scheide hielt, ſo hohe Ziele erreichen?
Die Losreißung der Rheinlande wurde vollzogen, und Preußen hatte nichts
Ernſtliches gewagt um den Schlag abzuwenden. Noch einmal ermannte
man ſich dann zu einem tapferen Schritte, als Frankreich und Rußland
im Jahre 1801 Hannover zu beſetzen, die Schließung der deutſchen Häfen
zu erzwingen drohten; da kam Preußen den Fremden zuvor und nahm
ſelber das deutſche Land in Beſchlag — ein entſchloſſenes Auftreten, das
in England richtig gewürdigt, von Bonaparte nie verziehen wurde. Unter-
deſſen bemerkte der König mit Beſorgniß, wie vereinzelt ſein Staat ſtand.
Er mißtraute den unberechenbaren Abſichten Bonapartes und wies deſſen
Anfragen, ob Preußen ſeine Entſchädigung nicht in Hannover ſuchen wolle,
wiederholt zurück, nicht blos aus Rechtlichkeit, ſondern weil er die Hinter-
gedanken der franzöſiſchen Politik errieth. Auf der anderen Seite ſah er
die Intereſſen der preußiſchen Schifffahrt durch die engliſche Handelspolitik
ſchwer beeinträchtigt. Von dem Wiener Hofe endlich war er durch das
alte unbelehrbare gegenſeitige Mißtrauen geſchieden: hatte doch Oeſterreich
noch im Kriege von 1799 abermals einen großen Theil ſeines Heeres in
Böhmen aufgeſtellt um Preußen in Schach zu halten.


So kam der König zu dem Entſchluſſe eine Verſtändigung mit Ruß-
land zu ſuchen; dieſen Staat hielt er, nach ſeiner geographiſchen Lage,
für eine weſentlich defenſive Macht. Es geſchah zum erſten male, daß
der junge Fürſt in der auswärtigen Politik ſich mit einem ſelbſtändigen
Gedanken herauswagte; er fing jetzt an auch in dieſen Fragen nach ſeiner
erwägſamen Art ſich zurechtzufinden. Da am Petersburger Hofe jederzeit
eine ſtarke preußiſche Partei beſtand, ſo ward ein gutes Einvernehmen mit
dem Czaren Paul bald erreicht; Preußen war es, das im Jahre 1800
den Frieden zwiſchen Frankreich und Rußland herbeizuführen ſuchte. Die
Annäherung wurde zur Freundſchaft, als der junge Czar Alexander über
die Leiche ſeines Vaters hinweg den Thron beſtieg. Am 10. Juni 1802
hielten die beiden Nachbarfürſten in Memel jene denkwürdige Zuſammen-
kunft, die für Friedrich Wilhelms ganze Regierung folgenſchwer werden
ſollte. Beide jung, Beide erfüllt von den philanthropiſchen Ideen der
völkerbeglückenden Aufklärung, fanden ſie ſich raſch zuſammen, beſprachen
12*
[180]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
die gemeinſame Gefahr, die von der Weltmacht im Weſten drohe, und
gelobten einander feſte Treue. Auf den noch knabenhaft unreifen Czaren
machte die ritterliche ernſthafte Haltung des Königs und die bezaubernde
Anmuth der Königin lebhaften Eindruck, ſoweit ſein aus Schwärmerei,
Selbſtbetrug und Schlauheit ſeltſam gemiſchter Charakter tiefer Empfin-
dungen fähig war; und immer wieder klagte ſein polniſcher Freund Czar-
toryski, der unverſöhnliche Gegner Preußens: dieſer Tag von Memel ſei
der Anfang alles Unheils. Friedrich Wilhelm aber hing an dem neuen
Freunde mit der unwandelbaren Treue ſeines ehrlichen Herzens. Perſön-
liche Neigung beſtärkte ihn in dem Entſchluſſe, den ſein gerader Verſtand
gefunden hatte: nur im Bunde mit Rußland wollte er einen Krieg gegen
Frankreich wagen. Er drängte den ruſſiſchen Hof, an den Verhandlungen
über die deutſchen Entſchädigungsfragen theilzunehmen, damit Frankreich
nicht der alleinige Schiedsrichter im Reiche ſei.


Wie der König alſo ſich insgeheim den Rücken zu decken ſuchte für
einen möglichen Krieg gegen Frankreich, ſo verfolgte auch ſeine deutſche
Politik Gedanken, welche den Plänen des erſten Conſuls ſchnurſtracks
zuwiderliefen; es war nur die Folge der verworrenen Parteiungen des
Augenblicks, daß der preußiſche Hof eine Zeit lang mit dem franzöſiſchen
Cabinette Hand in Hand zu gehen ſchien. Die allgemeine Seculariſation
konnte dem preußiſchen Staate nur willkommen ſein ſobald einmal die
Abtretung der Rheinlande entſchieden war. Alle ſeine proteſtantiſchen
Ueberlieferungen wieſen ihn auf dies Ziel hin. Zudem herrſchte damals
in der aufgeklärten Welt die Lehre von der Allmacht des Staates, die
alle Kirchengüter von Rechtswegen der Nation zuwies; Stephani’s Buch
über „die abſolute Einheit von Staat und Kirche“ machte die Runde im
deutſchen Norden. Der König von Preußen war ſelber von dieſen An-
ſchauungen durchdrungen, ließ eben jetzt in ſeinem Cabinet einen um-
faſſenden Plan für die Einziehung des geſammten preußiſchen Kirchenguts
ausarbeiten. Desgleichen glaubte er ganz im Sinne ſeines Großoheims
zu handeln, wenn er ſich auf die Seite Baierns und der neuen Mittel-
ſtaaten ſtellte; auch Friedrich hatte ja bei ſeinen Reichsreformplänen die
Verſtärkung der größeren weltlichen Reichsſtände immer im Auge gehabt.
Bonaparte begünſtigte die Mittelſtaaten, weil er ſich aus ihnen den Stamm
einer franzöſiſchen Partei bilden wollte; der preußiſche Hof unterſtützte
dieſe Politik, weil er umgekehrt hoffte durch die Vernichtung der aller-
unbrauchbarſten Kleinſtaaten die Widerſtandskraft des Reiches gegen Frank-
reich zu erhöhen. Unumwunden erklärte Haugwitz dem öſterreichiſchen
Geſandten Stadion, dies ſei ſchon ſeit Jahren die feſtſtehende Anſicht
ſeines Hofes. Im gleichen Sinne ließ Rußland dem Wiener Hofe aus-
ſprechen, man habe aus den preußiſchen Staatsſchriften die Ueberzeugung
gewonnen, daß die allgemeine Seculariſation zur Kräftigung des deutſchen
Weſtens nothwendig ſei. Und wieder mit den nämlichen Gründen recht-
[181]Preußen und die Mittelſtaaten.
fertigte der König, dem Czaren gegenüber, Preußens eigene Entſchädi-
gungsforderungen: er müſſe ſich ſtärken für den Fall, daß einſt ein großer
deutſcher Krieg wider Bonaparte unvermeidlich würde.


Im Hintergrunde aller dieſer Pläne und Wünſche ſtand die ſchüch-
terne, unbeſtimmte Hoffnung, es werde gelingen, das verweltlichte Reich
oder mindeſtens den Norden in bündiſchen Formen neu zu ordnen. Die
Erkenntniß der Unhaltbarkeit des alten Kaiſerthums brach ſich allmählich
in immer weiteren Kreiſen Bahn. Schon ein Jahr nach Friedrichs Tode
hatte eine Flugſchrift kurzab die Frage aufgeworfen: „warum ſoll Deutſch-
land einen Kaiſer haben?“ Während des Krieges der zweiten Coalition
ſodann erſchienen die „Winke über Deutſchlands Staatsverfaſſung“ und
mahnten: „o ihr Deutſchen, ſchließet einen feſten deutſchen Bund!“ Aehn-
liche foederaliſtiſche Gedanken wurden auch unter den preußiſchen Staats-
männern beſprochen. Der unermüdliche Dohm führte im Jahre 1800,
nach einer Unterredung mit dem Herzoge von Braunſchweig, ſeine ſchon
in Raſtatt geäußerten Vorſchläge weiter aus und entwarf den Plan für
einen norddeutſchen Bund. Es gelte, der Uebermacht Frankreichs, die alle
Nachbarn zugleich bedrohe, einen Damm entgegenzuſtellen; darum müſſe
der Baſeler Neutralitätsbund zu einer thatkräftigen, dauernden Foederation
umgeſtaltet werden; vier Sectionen unter der Leitung der mächtigeren
Mittelſtaaten und der Oberleitung Preußens; ein Bundestag und ſtehende
Bundesgerichte; das Heer von Preußen befehligt und nach preußiſchem
Reglement geſchult. Mit ſolchen Entwürfen unterhielt man ſich wohl am
Berliner Hofe, ſie durchzuführen wagte man nicht. Und auch Dohm
ſelber kam nicht los von jenem verhängnißvollen Irrthum, der alle Be-
rechnungen der preußiſchen Politik zu Schanden machte; auch er wähnte,
die Neubefeſtigung der deutſchen Macht laſſe ſich durch friedliche Mittel
erreichen, der erſte Conſul werde nicht widerſprechen wenn man ihm nur
die Idee der „nationalen Unabhängigkeit“ nachdrücklich vorhalte!


Die Berliner Staatsklugheit bemerkte nicht, wie von Grund aus die
Machtverhältniſſe im Reiche ſeit Friedrichs Tagen ſich verſchoben hatten.
Nicht Preußen, ſondern Frankreich hielt jetzt die Wage des deutſchen Gleich-
gewichts in ſeinen Händen. Frankreich vertheilte nach Gunſt und Laune
die Trümmer der geiſtlichen Staaten. Die Mitwirkung Rußlands bei den
Verhandlungen konnte, wie die Dinge ſtanden, nur eine ſcheinbare ſein;
ſie bewirkte lediglich, daß einige mit dem Petersburger Hofe verwandte
Fürſtenhäuſer bei der Ländervertheilung bevorzugt wurden. Wenn der
preußiſche Staat unter ſolchen Umſtänden die Bildung der neuen Mittel-
ſtaaten beförderte, ſo ſtärkte er nur die franzöſiſche Partei im Reiche ohne
ſich ſelber einen treuen Anhang zu gewinnen; er wurde Bonapartes Mit-
ſchuldiger ohne ſich die Bundesgenoſſenſchaft des Uebermächtigen auf die
Dauer zu ſichern.


Wie viel geſchickter als dieſe wohlmeinende Politik der Halbheit und
[182]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
der Selbſttäuſchung wußte die dreiſte Gewiſſenloſigkeit des neuen Münchener
Hofes ihren Vortheil wahrzunehmen. Dort war ſoeben das Haus Pfalz-
Zweibrücken auf den Thron gelangt, den ihm Oeſterreichs Habgier ſo oft
beſtritten hatte. Der leitende Miniſter Graf Montgelas verkannte keinen
Augenblick, daß die junge Dynaſtie von der Hofburg Alles zu fürchten,
von Bonaparte Alles zu hoffen habe. Raſch entſchloſſen trat er bald nach
dem Frieden an die Spitze der franzöſiſchen Partei in Deutſchland und
empfing dafür die herablaſſende Zuſicherung des erſten Conſuls: Frank-
reichs Größe und Edelmuth wolle die früheren Schwankungen des bairiſchen
Hofes vergeſſen. Der ſcrupelloſe Realiſt ſah in Baierns Vorzeit nur eine
Geſchichte der verſäumten Gelegenheiten; jetzt endlich da die Welt aus den
Fugen ging galt es das Glück an der Locke zu faſſen, dem Siegeszuge
des Welteroberers ſich anzuſchließen, durch treuen Vaſallendienſt und un-
abläſſiges Feilſchen ſo viel Beute zu erhaſchen als des Herrſchers Gnade
bewilligen mochte. Was irgend an das Reich, an den tauſendjährigen
Verband der deutſchen Nation erinnerte, erſchien dieſer Politik des folge-
rechten Particularismus lächerlich; alle Scham, alle Pietät, alles Rechts-
gefühl war ihr fremd. Begierig griff ſie den Gedanken einer deutſchen
Trias auf, der einſt nach dem Hubertusburger Frieden zuerſt hervor-
getreten und neuerdings wieder in Schwang gekommen war, als Preußen
die ſüddeutſchen Kleinſtaaten verließ, Oeſterreich ſie bedrohte. Der naſſauiſche
Miniſter Gagern, ein wohlmeinender Reichspatriot, nach der dilettantiſchen
Weiſe der kleinſtaatlichen Diplomaten immer raſch bei der Hand mit
leichtfertigen, unklaren Projecten, hatte ſchon zur Zeit des Vertrags von
Campo Formio dem kaiſerlichen Hofe arglos die Bildung eines Bundes
der kleinen Höfe unter ruſſiſcher Garantie angerathen; in gleichem Sinne
ſchrieb der ehrliche ſchwäbiſche Publiciſt Pahl eine Appellation an den
Luneviller Friedenscongreß. Wenn aber jetzt die Federn des pfalzbairiſchen
Lagers einen Sonderbund aller Mindermächtigen ohne Oeſterreich und
Preußen empfahlen, ſo wollten ſie nicht, wie jene redlichen Phantaſten,
dem deutſchen Süden die nationale Unabhängigkeit retten. Ihre Abſicht
war: die Unterwerfung der Mittelſtaaten unter Frankreichs Willkür, die
Vernichtung Deutſchlands. Vorläufig, ſo lange man noch die öſterreichiſche
Partei zu bekämpfen hatte, blieb die Dynaſtie Zweibrücken mit ihrem alten
Beſchützer Preußen in gutem Vernehmen. Bonaparte ließ ſie gewähren;
er wußte, wie leicht dieſe Freundſchaft zu trennen ſei, lagen doch die
fränkiſchen Markgrafſchaften des Königs von Preußen der bairiſchen Be-
gehrlichkeit dicht vor der Thür.


Während der ſchwerſten Kriſis, welche je den alten deutſchen Staat
erſchüttert hat, verſcherzte ſich Oeſterreich jeden Einfluß durch eine ſtarr-
ſinnige Politik, die einen unhaltbaren Zuſtand zu retten ſuchte; der preu-
ßiſche Hof verkannte nicht die Nothwendigkeit des Umſturzes, doch er hatte
für den Neubau des Reichs nur unbeſtimmte, ſchwächliche Wünſche und
[183]Oeſterreichs Widerſtand.
Hoffnungen. So fiel die Entſcheidung über Deutſchlands Zukunft un-
ausbleiblich dem fremden Sieger zu, der von ſich rühmte: „ich allein, ich
weiß, was ich zu thun habe.“ Der Regensburger Reichstag war den
ſchläfrigen Gewohnheiten ſeines geſpenſtiſchen Daſeins auch während dieſer
argen Jahre ſo treu geblieben, daß ein warmherziger Reichspatriot mitten
im Reichskriege alles Ernſtes über die Frage ſchreiben konnte: womit die
hohe Reichsverſammlung ſich in der nächſten Zeit beſchäftigen ſolle? Das
Reich genehmigte den Luneviller Frieden, und die geiſtlichen Stände fanden
nicht den Muth ihrem eigenen Todesurtheile zu widerſprechen. Dann
verging faſt das ganze Jahr 1801, bis Oeſterreich und Preußen endlich die
Bildung einer Reichsdeputation durchſetzten; nach abermals acht Monaten
waren die Berathungen dieſes Ausſchuſſes noch nicht eröffnet. Der zer-
rüttete Körper des heiligen Reichs beſaß nicht mehr die Kraft, mit eigenen
Händen ſeinen letzten Willen aufzuſetzen; der Kampf Aller gegen Alle und
die Verblendung des öſterreichiſchen Hofes verhinderten jeden Beſchluß.


Die Hofburg wollte noch immer nicht begreifen, daß ſie ſelber in
Luneville die geiſtlichen Stände preisgegeben hatte; ſie verſuchte Alles, die
unausbleiblichen Folgen des Geſchehenen rückgängig zu machen, ließ ſogar
eben jetzt durch ihre Anhänger einen Erzherzog auf die erledigten fürſt-
lichen Biſchofſtühle von Köln und Münſter erwählen. Zugleich bewahrte
ſie ihren alten Widerwillen gegen jede Vergrößerung Preußens: man
könne leichter, hieß es in Wien, auf drei reiche türkiſche Provinzen ver-
zichten, als Münſter und Hildesheim an die proteſtantiſche Großmacht
überlaſſen. Und währenddem wurde der bairiſche Nachbar beſtändig durch
öſterreichiſche Tauſch- und Vergrößerungspläne geängſtigt. Dieſer Kaiſer,
der nicht Worte genug finden konnte um ſeine Entrüſtung über die Ver-
gewaltigung der geiſtlichen Stände zu bekunden, ſtellte dem Münchener
Hofe frei, ſich im Südweſten die Gebiete der benachbarten Reichsſtädte,
Grafen und Herren anzueignen, wenn nur Oeſterreich dafür das öſtliche
Baiern erhielte; er zuerſt ſprach das verhängnißvolle Wort: „Vernichtung
der kleinen weltlichen Stände“ aus, während bisher amtlich nur von der
Seculariſation der geiſtlichen Staaten die Rede geweſen. Es war die
Folge dieſer zugleich ſtarr conſervativen und rückſichtslos begehrlichen Hal-
tung des kaiſerlichen Hofes, daß Preußen und Baiern ſich genöthigt ſahen,
ihre eigenen Entſchädigungen durch Sonderverträge mit Frankreich ſicher
zu ſtellen. Der preußiſch-franzöſiſche Vertrag enthielt den vielſagenden
Satz, die Krone Preußen erwerbe ihre Entſchädigungslande „mit der un-
beſchränkten Landeshoheit und Souveränität auf den nämlichen Fuß, wie
Se. Maj. ihre übrigen deutſchen Staaten beſitzen“ — während doch das
Reichsrecht eine Souveränität der Reichsſtände nicht kannte. Man hielt
es nicht mehr der Mühe werth, auch nur den Schein der kaiſerlichen
Oberhoheit zu wahren. Des Reiches ungefragt nahm Preußen ſodann am
3. Auguſt 1802 die ihm von Bonaparte zugeſtandenen Erwerbungen in Beſitz.


[184]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Inzwiſchen weidete ſich der Spott der Pariſer an dem Anblicke der
Fürſten und Staatsmänner des heiligen Reichs, die in Schaaren zu dem
Herrſcherſitze des erſten Conſuls eilten. Die leichtlebige Stadt hatte nach
den Schreckensjahren der Revolution ihre alte keltiſche Munterkeit raſch
wiedergefunden; Bonaparte kannte ihre unerſättliche Luſt an nervöſer
Aufregung und verſtand, ihr durch die glänzenden Spektakelſtücke ſeiner
Triumph- und Beutezüge zu genügen. Unterhaltſamer als alle dieſe Feſte
war doch das unerhörte Schauſpiel der freiwilligen Selbſtentwürdigung
des deutſchen hohen Adels. Wie oft, alle dieſe ſchweren Jahre hindurch,
war die bange Ahnung, daß es zu Ende gehe mit der alten Herrlichkeit,
den armen Seelen der deutſchen Kleinfürſten nahe getreten; ſie waren
geflohen und nochmals geflohen vor den Heeren der Revolution und hatten
zu Gelde gemacht was ſich irgend zuſammenraffen ließ von den Gütern
ihres Staates. Nun ſchlug die Stunde der Entſcheidung; es ſchien noch
möglich dem theuren Hauſe den angeſtammten Thron zu retten. In der
Raſerei der Angſt ging aller Stolz und alle Scham verloren. Jene
edlere Auffaſſung der Fürſtenpflichten, die in Friedrichs Tagen an den
deutſchen Höfen Fuß gefaßt hatte, wurde durch Bonapartes Gewaltherr-
ſchaft zerſtört; die Geſinnungen der fürſtlichen Soldatenverkäufer der guten
alten Zeit gewannen wieder die Oberhand. Aus den Erfahrungen dieſer
Tage der Fürſtenflucht und der Fürſtenſünden ſchöpfte der deutſche Dichter
den ernſten Spruch: „Man ſteigt vom Throne nieder wie ins Grab.“


Wie das Geſchmeiß hungriger Fliegen ſtürzte ſich Deutſchlands hoher
Adel auf die blutigen Wunden ſeines Vaterlandes. Talleyrand aber er-
öffnete mit cyniſchem Behagen das große Börſenſpiel um Deutſchlands Land
und Leute und ſagte gleichmüthig, wenn ein deutſcher Edelmann noch eine
Regung der Scham empfand: il faut étouffer les regrets. Die hoch-
gebornen Bekämpfer der Revolution bettelten um ſeine Gnade, machten
ſeiner Maitreſſe den Hof, trugen ſeinen Schooßhund zärtlich auf den
Händen, ſtiegen dienſtfertig zu dem kleinen Dachſtübchen hinauf, wo ſein
Gehilfe Matthieu hauſte — der Schlaueſte aus jener langen Reihe be-
gabter Elſaſſer, deren Arbeitskraft und Sachkenntniß Bonaparte gern bei
ſeinen deutſchen Geſchäften benutzte. Das Gold der kleinen Höfe, das ſie
niemals finden konnten wenn das Reich ſie zur Vertheidigung des Vater-
landes aufrief, floß jetzt in Strömen; Jedermann in der diplomatiſchen
Welt kannte den Tarif der franzöſiſchen Unterhändler und wußte, wie
hoch der Curswerth einer Stimme im Fürſtenrathe des Reichstags ſich
ſtellte. Ein Fürſt von Löwenſtein, ein Nachkomme des ſiegreichen Friedrich
von der Pfalz, ſpielte den Makler bei dem ſchmutzigen Handel. Auch die
Pariſer Gaunerſchaft nahm die gute Gelegenheit wahr; mancher der gie-
rigen deutſchen Fürſten lief in ſeiner kleinſtädtiſchen Plumpheit einem
falſchen Agenten Talleyrands ins Garn, bis Bonaparte ſelber gegen den
Unfug einſchritt.


[185]Der Länderhandel in Paris.

Alle, die Guten wie die Böſen, wurden in das wüſte Treiben hinein-
geriſſen; denn von den Regensburger Verhandlungen ſtand doch nichts
zu erwarten, und wer hier in Paris nicht mit dreiſten Händen zugriff,
ward von den Nachdrängenden unerbittlich unter die Füße getreten. Selbſt
der Wackerſte der deutſchen Kleinfürſten, der alte Karl Friedrich von Baden,
mußte ſeine feilſchenden Unterhändler gewähren laſſen. Mitten im Ge-
tümmel der bittenden und bietenden Kleinen ſtand mit ſelbſtgewiſſer Gönner-
miene der vielumworbene preußiſche Geſandte Luccheſini; der pfiffige Luc-
cheſe traute ſichs zu den Meiſter aller Liſten ſelber zu überliſten und
bemerkte nicht, wie ſchwer Preußen ſein eigenes Anſehen ſchädigte durch
die Begünſtigung eines unſauberen Schachers, der an den Reichstag von
Grodno, an die ſchmachvolle Selbſtvernichtung des polniſchen Adels er-
innerte. Dieſer Wettkampf der dynaſtiſchen Habgier vernichtete was im
Reiche noch übrig war von Treu und Glauben, von Pflicht und Ehre.
Bonaparte frohlockte: kein ſittliches Band hielt den alten deutſchen Staat
mehr zuſammen. Jeder Hof forderte ungeſcheut was ihm bequem und
gelegen ſchien; die Entſchädigung für wirklich erlittene Verluſte diente kaum
noch als Vorwand. Bald ergab ſich, daß die rechtsrheiniſchen geiſtlichen
Gebiete zur Befriedigung aller dieſer begehrlichen Wünſche nicht aus-
reichten, und man ward einig, auch den Reichsſtädten den Garaus zu
machen, da ja die Reichsſtädte des linken Ufers ebenfalls ohne Ent-
ſchädigung vernichtet waren. Endlich wurde die große Länder-Verſteigerung
geſchloſſen; der Zuſchlag erfolgte theils an die Meiſtbietenden, theils an
die Günſtlinge Preußens und Rußlands, vornehmlich aber an jene Höfe,
welche ſich Bonaparte zu Stützen ſeiner deutſchen Politik auserleſen hatte.
Unumwunden ſchrieb er nach vollzogenem Geſchäfte dem mit dem Czaren
nahe verwandten Markgrafen Karl Friedrich: das badiſche Haus habe nun-
mehr den Rang erlangt, „welchen ſeine vornehme Verwandtſchaft und das
wahre Intereſſe Frankreichs erheiſchen“.


Nachdem in Paris das Weſentliche geordnet war, ſchritten Frankreich
und Rußland in Regensburg als Vermittler ein; Bonaparte ließ dem
Czaren eine ſcheinbare Mitwirkung um deſſen Eiferſucht zu beſchwichtigen
und einen Wunſch Preußens zu erfüllen. Die Mediatoren erklärten mit
gutem Grunde, die Eiferſucht und der Gegenſatz der Intereſſen am Reichs-
tage mache ihre Vermittlung nothwendig; ſie legten ihren Entſchädigungs-
plan vor und ſchloſſen herriſch: es ſei ihr Wille, daß nichts daran ge-
ändert werde. Der Kaiſer widerſtrebte noch immer und gab erſt nach,
als Preußen und Baiern mit Frankreich ein förmliches Bündniß ſchloſſen
und eine drohende Note aus Petersburg eintraf; dann aber trug der
uneigennützige Beſchützer der geiſtlichen Staaten kein Bedenken, ſeine Erb-
lande durch die Bisthümer Trient und Brixen abzurunden. In der
Reichsdeputation währte der landesübliche Hader noch eine Weile fort. Die
ruſſiſchen Staatsmänner klagten voll Ekels, wie langweilig und ermüdend
[186]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dies deutſche Gezänk werde; um jedes kleinen Länderfetzens willen müſſe
man einen eigenen Curier ſchicken. Aber die Würfel waren geworfen, die
mächtigeren Fürſten hatten ihre Beute bereits in Sicherheit gebracht.


Am 25. Februar 1803 kam der Reichsdeputationshauptſchluß zu
Stande, am 27. April wurde durch den Jüngſten Reichsſchluß die Ver-
nichtung von hundert und zwölf deutſchen Staaten ausgeſprochen. Von den
geiſtlichen Ständen blieben nur drei übrig: die beiden Ritterorden — weil
man dem ſo ſchwer geſchädigten katholiſchen Adel noch einen letzten Unter-
ſchlupf für ſeine Söhne gönnen wollte — und der Reichskanzler in Ger-
manien, weil Bonaparte in der fahrigen Eitelkeit des Mainzer Coadjutors
Dalberg ein brauchbares Werkzeug für Frankreichs Pläne erkannte. Die
Reichsſtädte verſchwanden bis auf die ſechs größten. Mehr als zweitauſend
Geviertmeilen mit über drei Millionen Einwohnern wurden unter die welt-
lichen Fürſten ausgetheilt. Preußen erhielt fünffachen Erſatz für ſeine
linksrheiniſchen Verluſte, Baiern gewann an 300,000 Köpfe, Darmſtadt
ward achtfach, Baden faſt zehnfach entſchädigt. Auch einige fremdländiſche
Fürſtenhäuſer nahmen ihr Theil aus dem großen Raube, ſo Toscana
und Modena, die Vettern Oeſterreichs, ſo Naſſau-Oranien, der Schütz-
ling Preußens. Vergeſſen war der fridericianiſche Grundſatz, daß Deutſch-
land ſich ſelber angehöre. Die Mitte Europas erſchien den Fremden
wieder, wie im ſiebzehnten Jahrhundert, als eine herrenloſe Maſſe, eine
Verſorgungsſtelle für die Prinzen aus allerlei Volk. Das heilige Reich
war vernichtet; nur ſein geſchändeter Name lebte noch fort durch drei
klägliche Jahre.


Wenige unter den großen Staatsumwälzungen der neuen Geſchichte
erſcheinen ſo häßlich, ſo gemein und niedrig wie dieſe Fürſtenrevolution
von 1803. Die harte, ideenloſe Selbſtſucht triumphirte; kein Schimmer
eines kühnen Gedankens, kein Funken einer edlen Leidenſchaft verklärte
den ungeheuren Rechtsbruch. Und doch war der Umſturz eine große
Nothwendigkeit; er begrub nur was todt war, er zerſtörte nur was die
Geſchichte dreier Jahrhunderte gerichtet hatte. Die alten Staatsformen
verſchwanden augenblicklich, wie von der Erde eingeſchluckt, und niemals
iſt an ihre Wiederaufrichtung ernſtlich gedacht worden. Die fratzenhafte
Lüge der Theokratie war endlich beſeitigt. Mit den geiſtlichen Fürſten
ſtürzten auch das heilige Reich und die Weltherrſchaftsanſprüche des römi-
ſchen Kaiſerthums zuſammen. Selbſt der alte Bundesgenoſſe der Habs-
burgiſchen Kaiſer, der römiſche Stuhl, wollte jetzt nur noch von einem
imperium Germanicum wiſſen; das feine Machtgefühl der Italiener er-
kannte, daß die Schirmherrſchaft über die römiſche Kirche nunmehr auf
Frankreich übergegangen war, und der Papſt ſchrieb ſeinem geliebteſten
Sohne Bonaparte: an ihn wolle er fortan ſich wenden ſo oft er Hilfe
brauche. Das heilige Reich verwandelte ſich in einen Fürſtenbund, und
nicht mit Unrecht ſprach Talleyrand jetzt ſchon amtlich von der fédération
[187]Der Reichsdeputationshauptſchluß.
Germanique. Dies lockere Nebeneinander weltlicher Fürſtenthümer wurde
vorderhand faſt allein durch den Namen Deutſchland zuſammengehalten,
und in der nächſten Zukunft ließ ſich eher die Auflöſung des deutſchen
Gemeinweſens als ſeine foederative Neugeſtaltung erwarten. Aber mit
den theokratiſchen Formen war auch jener Geiſt der ſtarren Unbeweglich-
keit entſchwunden, der bisher die politiſchen Kräfte der Nation gebunden
hielt. Das neue weltliche Deutſchland war der Bewegung, der Entwicklung
fähig; und gelang dereinſt die Befreiung von der Vormundſchaft des Aus-
lands, ſo konnte ſich auf dem Boden des weltlichen Territorialismus
vielleicht ein nationaler Geſammtſtaat bilden, der minder verlogen war
als das heilige Reich.


Durch die Seculariſationen wurde auch jene künſtliche Stimmen-
vertheilung beſeitigt, welche dem Katholicismus bisher ein unbilliges Ueber-
gewicht in der Reichsverſammlung verſchafft hatte. Die Mehrheit des
Reichstags war nunmehr evangeliſch, wie die Mehrheit der deutſchen
Nation außerhalb Oeſterreichs. In den Kurfürſtenrath traten für Köln
und Trier die neuen Kurfürſten von Salzburg, Württemberg, Baden und
Heſſen ein; er zählte ſechs proteſtantiſche Stimmen unter zehn. Die noch
übrigen Mitglieder des Collegiums der Reichsſtädte waren, bis auf das
paritätiſche Augsburg, alleſammt proteſtantiſch. Im Fürſtenrathe ver-
blieben noch dreiundfünfzig evangeliſche neben neunundzwanzig katholiſchen
Ständen. Als die neuen Herren der ſeculariſirten Lande, dem Reichs-
rechte gemäß, auch die Stimmen der entthronten Stände für ſich be-
anſpruchten, da entſpann ſich der letzte große Streit im Schooße der
Regensburger Verſammlung. Sein Verlauf bekundete den ſtarken Um-
ſchwung der Meinungen wie die radikale Veränderung der alten Macht-
verhältniſſe im Reiche. Einſt hatten die Proteſtanten durch den Sonder-
bund des Corpus Evangelicorum ſich decken müſſen gegen die Uebergriffe
der katholiſchen Mehrheit; jetzt berief ſich der Kaiſer im Namen der Katho-
liken auf den Grundſatz der Parität und forderte für ſeine Glaubens-
genoſſen ſo viele neue Stimmen, bis die Gleichheit hergeſtellt ſei. Doch
die Zeitgenoſſen Kants waren der Gehäſſigkeit der Religionskriege ent-
wachſen. Die große Mehrheit des Reichstags, Preußen und Baiern voran,
wollte nicht zugeben, daß das Weſen der Parität in der Gleichheit der
Kopfzahl zu ſuchen ſei; ja man ſprach es offen aus, der alte Unterſchied
von katholiſchen und proteſtantiſchen Stimmen habe ſeinen Sinn ver-
loren, wenn nur erſt in jedem deutſchen Staate „ein vernünftiges Tole-
ranzſyſtem“ beſtünde. Kaiſer Franz hingegen dachte die Macht der öſter-
reichiſchen Partei um jeden Preis wiederherzuſtellen; er gebrauchte, der
Verfaſſung zuwider, zum letzten male das höchſte Recht der kaiſerlichen
Majeſtät, er legte ſein Veto ein, und der Streit blieb ungeſchlichtet bis
das Reich ſich förmlich auflöſte. Ein parteiiſcher Mißbrauch der Rechte
der Krone zum Beſten des Hauſes Oeſterreich und der katholiſchen Partei
[188]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
— das war die letzte That des deutſchen Kaiſerthums der Habsburg-
Lothringer, der würdige Abſchluß für die lange Sündengeſchichte der Ferdi-
nande und der Leopolde.


Im römiſchen Lager war der Klagen kein Ende, da mit einem male
die letzten Theokratien, welche die chriſtliche Welt außer dem Kirchenſtaate
noch beſaß, zerſchmettert wurden, und mit der politiſchen Macht auch der
ungeheure Reichthum des deutſchen Clerus dahinſank; denn nicht blos
die Güter der reichsunmittelbaren geiſtlichen Herren verfielen der Seculari-
ſation, ſondern auch die mittelbaren Stifter und Klöſter wurden durch
den Reichsdeputationshauptſchluß der freien Verfügung der Landesherren
preisgegeben. Alle Welt glaubte, es ſei zu Ende mit dem römiſchen Weſen
im Reiche; Niemand ahnte, daß die Seculariſationen der Macht des
römiſchen Stuhls zuletzt faſt ebenſo viel Gewinn als Schaden bringen
ſollten. Die hochadlichen Kirchenfürſten des achtzehnten Jahrhunderts
waren zumeiſt verwöhnte Weltkinder, läſſig in ihrem kirchlichen Berufe,
aber durch ihr ariſtokratiſches Standesgefühl wie durch die Pflichten der
Landesherrſchaft feſt mit dem nationalen Staate verbunden; ſie konnten,
ſchon um des nachbarlichen Zuſammenlebens willen, dem Geiſte der
Duldung, der dies paritätiſche Volk erfüllte, ſich nicht gänzlich entziehen,
ſie befolgten den Weſtphäliſchen Frieden, den der Papſt verdammte, und
beugten ihren ſtolzen Nacken nur ungern unter den Fuß des wälſchen
Prieſters. Der Gedanke einer deutſchen Nationalkirche fand unter ihnen
jederzeit einige Anhänger und zuletzt in Hontheim-Febronius einen geiſt-
reichen Wortführer. Durch die Seculariſationen wurde der Kirchendienſt
dem Adel verleidet; während der napoleoniſchen Epoche iſt, ſo viel bekannt
wurde, kein einziger junger Edelmann aus altem Hauſe in ein Pfarramt
eingetreten. Der neue plebejiſche Clerus, der nun heranwuchs, ſtand der
bürgerlichen Geſellſchaft fern; er grollte dem neuen Deutſchland wegen
des großen Kirchenraubes, er kannte keine Heimath als die Kirche und
fügte ſich, als ſpäterhin die römiſchen Weltherrſchaftspläne wieder er-
wachten, den Geboten des Papſtes mit einem blinden Dienſteifer, der für
die Curie kaum weniger werthvoll war als vordem die landesfürſtliche
Macht der ſelbſtbewußten alten Prälatur.


Noch weit ſchwerer wurde der katholiſche Adel getroffen. Er verlor
durch die Einziehung von 720 Domherrenpfründen nicht blos einen guten
Theil ſeines Reichthums, ſondern ſeine geſammte politiſche Machtſtellung.
Die letzten Trümmer einer ſelbſtändigen Ariſtokratie verſchwanden aus
dem Reiche; die Zeit war dahin, da man die Macht der weſtphäliſchen
Grafen zweien Kurfürſten gleich ſchätzte. Es war der Fluch dieſer alten
Geſchlechter, daß ihnen das Bewußtſein der politiſchen Pflicht fehlte. Gleich
dem bourboniſchen Hofadel, hatten ſie den Vorzug ihres Standes immer
nur in trägem Wohlleben geſucht und lernten niemals, nach dem Vor-
bilde des altpreußiſchen Junkerthums, ſich einzuleben in die modernen
[189]Folgen der Seculariſationen.
monarchiſchen Formen, ſondern zogen ſich verdroſſen, grollend zurück von
dem Leben der Nation; nur dem Erzhauſe Oeſterreich gaben ſie noch nach
altem Brauche ihre Söhne in den Dienſt. Aus den Kreiſen dieſes katho-
liſchen Adels erwuchs dem neuen weltlichen Deutſchland eine tief verbitterte
Oppoſition, die, im Stillen einflußreich, bis zum heutigen Tage den inneren
Frieden oft geſtört, doch am letzten Ende durch unfruchtbares Verneinen
nur den demokratiſchen Zug unſerer jüngſten Geſchichte gefördert hat.


Am Leichteſten fügten ſich die mediatiſirten Reichsſtädte in die neue
Ordnung der Dinge. Wohl ſtieß da und dort der ſchwerfällige Stolz
der ehrenfeſten Patricier mit der durchfahrenden Willkür der mittelſtaat-
lichen Bureaukratie hart zuſammen, und Mancher ſelbſt aus dem jüngeren
Geſchlechte bewahrte ſich, wie Friedrich Liſt, ſein Leben lang das trotzige
Selbſtgefühl des alten Reichsbürgers; indeß das Bewußtſein hilfloſer Ohn-
macht ließ nirgends einen ernſten Widerſtand aufkommen. Am Reichs-
tage bemerkte man kaum die Zerſtörung des dritten Collegiums, das vor
Zeiten ſo mächtig geweſen war wie die beiden oberen zuſammen. Die
wenigen Reichsſtädte, welche der Vernichtung vorläufig noch entgangen
waren, bedeuteten nichts mehr neben der Uebermacht der Fürſten, ja ſie
wurden durch den Reichsdeputationshauptſchluß von der großen Politik
geradezu ausgeſchloſſen: an den Berathungen über Krieg und Frieden ſollten
ſie nicht theilnehmen und im Reichskriege einer unbedingten Neutralität
genießen. Das friedensſelige Geſchlecht fand an dieſer ungeheuerlichen
Beſtimmung kein Arg. Den Hamburger Rhedern ging ein alter Herzens-
wunſch in Erfüllung, den der wackere Büſch oftmals unbefangen ausge-
ſprochen hatte; auch die Preſſe im Binnenlande rief Beifall: ſolche weiſe
Begünſtigung des Handels gereiche der Aufklärung unſerer Tage zur Ehre.


So ging denn aus den vielhundertjährigen Kämpfen der politiſchen
Kräfte im Reiche die fürſtliche Gewalt als die einzige Siegerin hervor.
Die hierarchiſchen, die communalen, die ariſtokratiſchen Staatsbildungen
des alten Deutſchlands waren bis auf wenige Trümmer vernichtet. Was
nicht fürſtlichen Blutes war ſank in die Maſſe der Unterthanen hinab;
der Abſtand zwiſchen den Fürſten und dem Volke, der in dem Zeitalter
der abſoluten Monarchie immer größer geworden, erweiterte ſich jetzt noch
mehr. Und wie ungeheuer ſtark zeigte ſich wieder die Einwirkung des
Fürſtenſtandes auf unſer nationales Leben! Wie einſt die kirchliche Re-
formation bei den Landesherren ihren Schutz und ihre Rettung gefunden
hatte, ſo wurde nun die politiſche Revolution von oben her einem gelaſſen
ſchweigenden Volke auferlegt. Nicht die Propaganda der überrheiniſchen
Republikaner, ſondern die dynaſtiſche Politik der deutſchen Höfe hat die
Grundſätze des revolutionären Frankreichs auf unſerem Boden eingebürgert;
und ſie ſchritt vorwärts mit derſelben durchgreifenden Rückſichtsloſigkeit
wie die Parteien des Convents, im Namen des salut public zerſtörte ſie
achtlos das hiſtoriſche Recht.


[190]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Für Oeſterreich war die Fürſtenrevolution eine ſchwere Niederlage.
Die alte kaiſerliche Partei wurde zerſprengt, die Kaiſerwürde zu einem
leeren Namen, und ſelbſt dieſen Namen aufzugeben ſchien jetzt räthlich,
da der neue Kurfürſtenrath ſchwerlich geneigt war im Falle der Neuwahl
abermals einen Erzherzog zu küren. Durch die Preisgabe ihrer weſt-
lichen Provinzen erlangte die Monarchie zwar eine treffliche Abrundung
im Südoſten, und die Diplomaten der Hofburg wünſchten ſich Glück, daß
man endlich aus einem gefährlichen und gewaltſamen Zuſtande befreit
ſei. Die Höfe von München und Stuttgart hatten jetzt wenig Grund
mehr vor der Wiener Eroberungsluſt zu zittern, und es ſchien möglich
dereinſt wieder ein freundnachbarliches Verhältniß mit ihnen anzuknüpfen.
Aber die militäriſche Herrſchaft im deutſchen Südweſten war verloren, ja
Oeſterreich ſchied in Wahrheit aus dem Reiche aus. Seine Politik mußte
ganz neue Wege einſchlagen, wenn ſie noch irgend einen Einfluß auf
Deutſchland ausüben wollte; denn die Machtmittel des alten Kaiſerthums
waren vernutzt.


Auch Preußens Macht hatte durch den Reichsdeputationshauptſchluß
nicht gewonnen. Wohl war es ein Vortheil, daß die öſterreichiſche Partei ver-
ſchwand und im Reichstage ein leidliches Gleichgewicht zwiſchen dem Norden
und dem Süden ſich herſtellte; vormals hatten die Staaten des Südens
und Weſtens durch ihre Ueberzahl den Ausſchlag gegeben, jetzt konnten
auch die Stimmen Norddeutſchlands zu ihrem Rechte kommen. Trotzdem
war Preußens Anſehen im Reiche tief geſunken. Seine kraftloſe Politik
hatte überall das Gegentheil ihrer guten Abſichten erreicht: ſtatt der Ver-
ſtärkung der deutſchen Widerſtandskraft vielmehr die Befeſtigung der fran-
zöſiſchen Uebermacht, ſtatt des Neubaues der Reichsverfaſſung vielmehr
eine wüſte Anarchie, die der völligen Auflöſung entgegentrieb. Selbſt der
neue Ländergewinn ſchien glänzender als er war. Preußen verlor die
getreuen, für ſeine Macht wie für ſeine Cultur gleich werthvollen nieder-
rheiniſchen Gebiete und erwarb dafür, außer Hildesheim, Erfurt und
einigen kleineren Reichsſtädten und Stiftslanden, die feſte Burg des un-
zufriedenen katholiſchen Adels, das Münſterland. Hier zum erſten male
auf deutſchem Boden begegnete dem preußiſchen Eroberer nicht blos eine
flüchtige particulariſtiſche Verſtimmung, ſondern ein tiefer nachhaltiger Haß,
wie in den ſlaviſchen Provinzen. Die ſchwerfällige neue Verwaltung ge-
wann wenig Anſehen in dem widerhaarigen Lande, ſie brauchte drei Jahre
bis ſie ſich nur entſchloß den Heerd aller ſtaatsfeindlichen Umtriebe, das
Domcapitel zu beſeitigen. Das Einkommen des Staates wurde durch die
Gebietserweiterung nicht vermehrt, da er wieder, wie früher in Franken
und in Polen, die Steuerkraft der neuen Unterthanen allzu ängſtlich ſchonte;
auch die Armee erhielt nur eine geringe Verſtärkung, um etwa drei Regi-
menter. Zudem hatte man durch die neuen Verträge nicht einmal eine
haltbare Grenze erlangt, ſondern lediglich den preußiſchen Archipel im
[191]Das neue Süddeutſchland.
Weſten durch einige neue Inſeln bereichert, wie die Berliner ſpotteten.
Der König fühlte es wohl, ohne Hannover ließen ſich in ſo ſchwüler Zeit
die weſtphäliſchen Provinzen nicht behaupten. Die Beſetzung der welfiſchen
Stammlande konnte bald zu einer unumgänglichen Nothwendigkeit werden,
und doch geſchah nichts, den Staat zu rüſten für dieſe ernſte Zukunft.
Das ſchlaffe Syſtem der landesväterlichen Milde und Sparſamkeit lebte
ſo dahin, als ſei die Zeit des ewigen Friedens gekommen.


Währenddem holte der deutſche Süden mit einem gewaltſamen Schlage
nach was Preußen durch die Arbeit zweier Jahrhunderte langſam erreicht
hatte. In Norddeutſchland war die Mehrzahl der geiſtlichen Gebiete ſchon
während des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts mit den weltlichen
Nachbarſtaaten vereinigt worden; der Reichsdeputationshauptſchluß brachte
dieſen Staaten nur eine mäßige Vergrößerung ohne ihren hiſtoriſchen
Charakter zu verändern. Im Südweſten dagegen brach der geſammte
überkommene Länderbeſtand jählings zuſammen; ſelbſt das ruhmvollſte der
alten oberdeutſchen Territorien, Kurpfalz, wurde zwiſchen den Nachbarn
aufgetheilt. Hier führte die Fürſtenrevolution nicht blos eine Gebiets-
veränderung, ſondern eine neue Staatengründung herbei. Den willkürlich
zuſammengeworfenen Ländertrümmern, welche man jetzt Baden, Naſſau,
Heſſen-Darmſtadt nannte, fehlte jede Gemeinſchaft geſchichtlicher Erinne-
rungen; auch in Baiern und Württemberg war das alte Stammland der
Dynaſtie bei Weitem nicht ſtark genug um die neuerworbenen Landſchaften
mit ſeinem Geiſte zu erfüllen. So ward unſer vielgeſtaltiges Staatsleben
um einen neuen Gegenſatz reicher, der ſich bis zum heutigen Tage nicht
völlig verwiſcht hat. Das neue Deutſchland zerfiel in drei ſcharf ge-
ſchiedene Gruppen. Auf der einen Seite ſtanden die kleinen norddeutſchen
Staaten mit ihrem alten Ständeweſen und ihren angeſtammten Fürſten-
häuſern, auf der anderen die geſchichtsloſen, modern-bureaukratiſchen
Staatsbildungen Oberdeutſchlands, die Geſchöpfe des Bonapartismus,
mitteninne endlich Preußen, das in ſtetiger Entwicklung den altſtändiſchen
Staat überwunden hatte ohne ſeine Formen gänzlich zu zerſtören. Ueber
den Süden brach nun urplötzlich und mit der Roheit einer revolutionären
Macht der moderne Staat herein. Eine übermüthige, dreiſte, vielgeſchäftige
Bureaukratie, die ſich Bonapartes Präfecten zum Muſter nahm, riß die
Doppeladler von den Rathhäuſern der Reichsſtädte, die alten Wappen-
ſchilder von den Thoren der Biſchofsſchlöſſer, warf die Verfaſſungen der
Städte und der Länder über den Haufen, ſchuf aus dem Chaos bunt-
ſcheckiger Territorien gleichförmige, ſtreng centraliſirte Verwaltungsbezirke;
ſie bildete in dieſen waffenloſen Landſchaften eine unverächtliche junge
Militärmacht, die für Preußen leicht läſtig werden konnte, ſie ſtrebte mit
jedem Mittel ein neues bairiſches, württembergiſches, naſſauiſches National-
gefühl großzuziehen.


Dennoch iſt der große Umſturz in ſeinen letzten Nachwirkungen nicht
[192]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dem Particularismus zu gute gekommen, ſondern der nationalen Einheit.
Er war nur ein mächtiger Schritt weiter auf dem Wege, welchen unſere
Geſchichte ſeit drei Jahrhunderten eingeſchlagen. Immer wieder hatte
ſeitdem eine unerbittliche Nothwendigkeit verlebte Kleinſtaaten zerſtört und
zu größeren Maſſen zuſammengeballt; jetzt brachen ihrer abermals mehr
denn hundert zuſammen. Aus ſolchen Erfahrungen mußte das deutſche
Volk früher oder ſpäter die Erkenntniß ſchöpfen, daß auch die neue Länder-
vertheilung nur eine vorläufige war, daß ſein Geſchick unaufhaltſam der
Vernichtung der Kleinſtaaterei, dem nationalen Staate zuſtrebte. Die
Fürſtenrevolution vernichtete für immer jenen Zauber hiſtoriſcher Ehr-
würdigkeit, der das heilige Reich ſo unantaſtbar erſcheinen ließ. Das alte
Recht war gebrochen; die neuen Verhältniſſe erweckten nirgends Ehrfurcht,
machten die willkürliche Unnatur der deutſchen Zerſplitterung jedem ge-
ſunden Sinne fühlbar. Es war ein Widerſinn, daß die Franken in Bam-
berg, die Schwaben in Memmingen ſich nunmehr als Baiern, die Pfälzer
im Neckarthale ſich als Badener fühlen ſollten. Die tiefe Unwahrheit dieſes
neuen künſtlichen Particularismus hat nachher, als die Nation endlich
zu politiſchem Selbſtgefühle erwachte, ihre freieſten und edelſten Männer
mit leidenſchaftlichem Haſſe erfüllt und ſie dem Einheitsgedanken zugeführt.
Auch der gedankenloſen Maſſe ging manches gehäſſige particulariſtiſche
Vorurtheil verloren, ſeit ſie ſich gewaltſam aus dem alten Stillleben auf-
geſtört ſah. Wie Lombarden und Romagnolen in den neuen italieniſchen
Zufallsſtaaten ſich zuſammenfanden, ſo wurden in den deutſchen Mittel-
ſtaaten Reichsſtädter, Kurfürſtliche und Biſchöfliche gewaltſam durcheinander
gerüttelt und lernten den gehaßten und verhöhnten Nachbarn als treuen
Landsmann ſchätzen. In Italien wie in Deutſchland hat die Willkür der
Fremdherrſchaft den alten naiven Glauben an die Ewigkeit des Beſtehen-
den mit den Wurzeln ausgerottet und alſo den Boden geebnet für neue
Kataſtrophen, deren Ziele Bonaparte nicht ahnte.


Mit der Revolution von 1803 begann für Deutſchland das neue
Jahrhundert, das in Frankreich ſchon vierzehn Jahre früher angebrochen
war. Das große neunzehnte Jahrhundert ſtieg herauf, das reichſte der
neuen Geſchichte; ihm war beſchieden, die Ernte einzuheimſen von den
Saaten des Zeitalters der Reformation, die kühnen Ideen und Ahnungen
jener gedankenſchweren Epoche zu geſtalten und im Völkerleben zu ver-
wirklichen. Erſt in dieſem neuen Jahrhundert ſollten die letzten Spuren
mittelalterlicher Geſittung verſchwinden und der Charakter der modernen
Cultur ſich ausbilden; es ſollte die Freiheit des Glaubens, des Denkens
und der wirthſchaftlichen Arbeit, wovon Luthers Tage nur redeten, ein
geſichertes Beſitzthum Weſteuropas werden; es ſollte das Werk des Colum-
bus ſich vollenden und die transatlantiſche Welt mit den alten Cultur-
völkern zu der lebendigen Gemeinſchaft welthiſtoriſcher Arbeit ſich ver-
binden; und auch das Traumbild der Hutten und Machiavelli, die Einheit
[193]Volksſtimmung während der Fürſtenrevolution.
der beiden großen Nationen Mitteleuropas, ſollte noch Fleiſch und Blut
gewinnen. In dieſe Zeiten der Erfüllung trat Deutſchland ein, als der
theokratiſche Staatsbau ſeines Mittelalters zuſammenſtürzte und alſo das
politiſche Teſtament des ſechzehnten Jahrhunderts endlich vollſtreckt wurde.


Aber wie viele Kämpfe und Stürme noch, bevor alle die großen
Wandlungen des neuen Zeitalters vollbracht waren! Vorderhand bot das
deutſche Reich den troſtloſen Anblik der Zerſtörung; kein Seher ahnte,
welches junge Leben dereinſt aus dieſen Trümmern erblühen ſollte. Nur
das Eine war unverkennbar, daß eine zweite Umwälzung nahe bevorſtand.
Die Revolution hatte ihr Werk nur halb gethan, da Bonaparte von
vornherein beabſichtigte die deutſchen Dinge im Fluß zu halten. Seit
dem glücklichen Beutezuge durchbrach die alte Ländergier des deutſchen
Fürſtenſtandes alle Schranken; ſie ergriff die Glückskinder des Bona-
partismus wie ein epidemiſcher Wahnſinn und beſtimmte während des
nächſten Jahrzehntes die geſammte Politik der neuen Mittelſtaaten. Die
Reichsritter, Grafen und Herren konnten in dieſer unruhigen monarchiſchen
Welt ſich nicht mehr behaupten; durch den Untergang ihrer Standes-
genoſſen am linken Rheinufer ſowie durch die Aufhebung der Domcapitel
hatten ſie den Boden unter den Füßen verloren und waren ſelber nur
darum vorläufig verſchont geblieben, weil die franzöſiſche Politik ſich noch
nicht in der Lage befand alle ihre Pläne durchzuſetzen. Der Reichsdepu-
tationshauptſchluß war kaum unterzeichnet, da begannen bereits mehrere
Fürſten die benachbarte Reichsritterſchaft gewaltſam zu mediatiſiren, wie
der modiſche Ausdruck lautete. Der Kaiſer nahm ſich in Regensburg
ſeiner verfolgten Getreuen an, aber Preußen ergriff wieder die Partei
der Fürſten, und unterdeſſen ward ein Reichsritter nach dem andern von
den gierigen Nachbarn gebändigt.


Die Haltung des neuen Reichstags unterſchied ſich in nichts von dem
alten; Jean Paul verglich ihn witzig mit einem großen Polypen, der ſeine
formloſe Geſtalt nicht ändere und wenn er noch ſo viel heruntergeſchlungen
habe. Mit dem altgewohnten unfruchtbaren Gezänk kam auch die her-
gebrachte reichspatriotiſche Phraſe in die neue Zeit mit hinüber. Der
Geſandte des Erzkanzlers Dalberg bewillkommnete die Vertreter der neuen
Kurfürſten mit dem pomphaften Gruße: „das alte ehrwürdige Reichs-
gebäude, das ſeinem gänzlichen Untergange ſo nahe ſchien, wird heute
durch vier neue Hauptpfeiler unterſtützt.“ Aber Niemand theilte die Zu-
verſicht des ewig begeiſterten flachen Leichtſinns. Dumpf, leer und träge
ſchleppten ſich die Verhandlungen dahin; keiner der Geſandten wagte auch
nur die Frage aufzuwerfen, ob das in ſeinen Grundlagen veränderte Reich
noch die alte Verfaſſung behalten könne. Jedermann fühlte, daß in Wahr-
heit ſchon Alles vorüber war, und ſah mit verſchränkten Armen die Stunde
nahen, die den Regensburger Jammer für immer beendete.


Im Volke blieb Alles ſtill. Keine Hand erhob ſich zum Widerſtande
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 13
[194]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
gegen die neuen Gewalthaber, ſogar die Klage um den Verluſt der viel-
belobten alten Libertät erklang matt und ſchüchtern. Der reichspatriotiſche
Juriſt Gaspari fand in ſeinem Herzeleide doch ein Wort gutmüthig deutſcher
Dankbarkeit für die Reichsdeputation, weil ſie durch ihre Penſionen „die
Unglücklichen wenigſtens getröſtet habe“; und ſelbſt der conſervative Bar-
thold Niebuhr wollte dieſe Todten nicht beweinen, die Nothwendigkeit dieſes
Rechtsbruchs nicht beſtreiten. Die Wenigen unter den gebildeten Welt-
bürgern Norddeutſchlands, die ſich noch zuweilen aus dem Himmel der
Ideen in die Niederungen der Politik hinabließen, begrüßten den Triumph
des Fürſtenthums als eine Sieg der modernen Cultur; ſie hofften, wie
Harl in ſeiner Schrift über Deutſchlands neueſte Staatsveränderungen
ſich ausdrückte, das ſchöne Morgenroth der Aufklärung werde jetzt endlich
die Finſterniß aus den geiſtlichen Landen verdrängen. Richtiger als die
meiſten der Zeitgenoſſen urtheilte der junge Hegel über die Lage des
Reichs. Er ſah in dieſem Chaos „den geſetzten Widerſpruch, daß ein
Staat ſein ſoll und doch nicht iſt“, und fand den letzten Grund des Elends
in der geprieſenen deutſchen Freiheit. Aber ſein Scharfſinn erſcheint wie die
unheimliche Hellſichtigkeit eines hoffnungslos Erkrankten, kein Hauch der
Leidenſchaft weht durch ſeine klugen Worte; darum ließ er auch, nachdem
das Problem wiſſenſchaftlich erörtert war, ſeine Abhandlung ungedruckt
im Pulte liegen. Dem Uebermuthe der Berliner, der mit der Schwäche
ihres Staates zu wachſen ſchien, hatte die Fürſtenrevolution noch nicht
genug gethan. In den kritikluſtigen hauptſtädtiſchen Kreiſen, wo die Held
und Buchholz das große Wort führten, ſchalt man auf den König, weil
er nicht dreiſt genug zugegriffen habe; warum, ſo fragte der „Patrioten-
ſpiegel für die Deutſchen“, hat Preußen nicht alles norddeutſche Land ver-
ſchlungen „ohne viel Complimente und ohne ſich an Schulmoral und ſo-
genannte Rechtsbegriffe zu kehren“? Die große Mehrheit der Nation
kümmerte ſich weder um ſolche frivole Prahlereien noch um den ſtillen
Jammer der Entthronten, ſie verharrte in unverwüſtlicher Gleichgiltigkeit.


Nur ein Mann wagte mit ſittlichem Ernſt und ſtaatsmänniſcher
Einſicht über die Schmach des Vaterlandes öffentlich zu reden. Als der
Fürſt von Naſſau das alte reichsritterliche Haus vom Stein ſeiner Landes-
hoheit zu unterwerfen verſuchte, da richtete Freiherr Karl vom Stein einen
offenen Brief an den kleinen Despoten, mahnte ihn in markigen Worten
an das richtende Gewiſſen und die ſtrafende Gottheit und ſchloß: „ſollen
die wohlthätigen großen Zwecke der Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit
Deutſchlands erreicht werden, ſo müſſen die kleinen Staaten mit den
beiden großen Monarchien, von deren Exiſtenz die Fortdauer des deutſchen
Namens abhängt, vereinigt werden, und die Vorſehung gebe, daß ich
dieſes glückliche Ereigniß erlebe.“ Durch dieſen Brief wurde der Name
des weſtphäliſchen Kammerpräſidenten zuerſt über Preußens Grenzen hinaus
bekannt; man verwunderte ſich über ſeinen ſtolzen Freimuth, aber noch
[195]Die goldenen Tage von Weimar.
war die Nation nicht fähig den Gedanken ihres tapferſten Sohnes zu
folgen. —


Und doch war dies Land kein Polen, und doch lebte in dieſem Volke,
das ſo gleichmüthig die Nackenſchläge der Fremden dahin nahm, das freu-
dige Bewußtſein einer großen Beſtimmung. Daſſelbe Jahrzehnt, das den
alten deutſchen Staat ins Grab führte, brachte der neuen Dichtung ihre
reinſten Erfolge. Wie weit zurück ſchien jetzt ſchon die Zeit zu liegen, da
Klopſtock einſt pochenden Herzens die deutſche Muſe in den ungewiſſen
Streitlauf ſtürmen ſah; nun ſang Schiller mit ruhigem Stolze: wir dürfen
muthig einen Lorbeer zeigen, der auf dem deutſchen Pindus ſelbſt gegrünt!
Die Deutſchen wußten längſt, daß ſie den Schatz der überlieferten euro-
päiſchen Bildung mit neuen, ſelbſtändigen Idealen bereichert hatten und
in der großen Gemeinſchaft der Culturvölker einen Platz einnahmen, den
Niemand ſonſt auf der Welt ausfüllen konnte. Begeiſtert ſprach die Jugend
von deutſcher Tiefe, deutſchem Idealismus, deutſcher Univerſalität. Frei
hinwegzuſchauen über alle die trennenden Schranken des endlichen Da-
ſeins, nichts Menſchliches von ſich fern zu halten, in lebendiger Gemein-
ſchaft mit den Beſten aller Völker und Zeiten das Reich der Ideen zu
durchmeſſen — das galt für deutſch, das ward als Vorrecht deutſcher Art
und Bildung geprieſen. Der Nationalſtolz dieſes idealiſtiſchen Geſchlechtes
fand ſich befriedigt in dem Gedanken, daß kein anderes Volk den ver-
meſſenen Flügen des deutſchen Genius ganz zu folgen, zu der Freiheit
unſeres Weltbürgerſinnes ſich emporzuſchwingen vermöge.


In der That trug unſere claſſiſche Literatur das ſcharfe Gepräge
nationaler Eigenart, und Frau von Staël ſelbſt geſtand: wer nicht, wie
ſie, halbdeutſches Blut in den Adern habe werde ſich kaum verſucht fühlen
der wunderſamen Eigenthümlichkeit des deutſchen Denkens nachzuſpüren.
Alle Thatkraft, alle Leidenſchaft unſerer Jugend ging in dieſen literariſchen
Kämpfen auf, die nun bereits die dritte Generation deutſcher Männer in
ihren Zauberkreis zogen. Eine unüberſehbare Menge neuer Ideen war
im Umlauf; ein argloſer Fremder — auch dies iſt ein Geſtändniß der
geiſtreichen Franzöſin — konnte einen gewandten deutſchen Schwätzer, der
nur Anderer Gedanken nachſprach, leicht für ein Genie halten. Jener
unerſättliche Drang nach Mittheilung, der allen geiſtig productiven Zeit-
altern gemein iſt, machte ſich Luft durch einen maſſenhaften gehaltreichen
Briefwechſel. Wie einſt Hutten jede neue Offenbarung, die ihm aufging,
alsbald frohlockend ſeinen humaniſtiſchen Freunden verkündigte, ſo ſchaarte
ſich jetzt die unſichtbare Kirche der deutſchen Gebildeten zu gemeinſamer
freudiger Andacht zuſammen. Im Gerichtsſaale hinter den Aktenſtößen
verſchlang der Vater Theodor Körners begierig die Werke der Weimariſchen
Freunde; und wie oft iſt Prinz Louis Ferdinand früh morgens nach durch-
ſchwelgter Nacht aus ſeiner weſtphäliſchen Garniſon nach Detmold hinüber-
geritten um mit einem alten Lehrer den Sophokles zu leſen. Jedes Ge-
13*
[196]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
dicht war ein Ereigniß, ward in ausführlichen Briefen und Kritiken be-
trachtet, zergliedert, bewundert. Alle die unvermeidlichen Unarten litera-
riſcher Epochen, Klatſch und Parteigeiſt, Gefühlsſchwelgerei, Paradoxie und
eitler Selbſtbetrug hatten freies Spiel; doch ſelbſt aus den Schwächen der
Zeit ſprach die Lebenskraft und Lebensluſt eines hochbegabten und hoch-
ſinnigen Geſchlechtes, dem die Welt der Ideen die allein wirkliche war.
Ganz unbefangen lobte Wilhelm Humboldt die göttliche Anarchie des päpſt-
lichen Roms, weil ſie den Denker im Sinnen und Schauen nicht ſtöre:
— was galten ihm die Römer von Fleiſch und Blut neben den Geiſter-
ſtimmen, die aus den Marmorbildern des Vaticans redeten? Im ſelben
Sinne beklagte Schiller die Leere ſeines revolutionären Zeitalters, das
den Geiſt aufrege ohne ihm einen Gegenſtand — das will ſagen: ein
äſthetiſches Bild — zu bieten.


Wer den tiefen heiligen Ernſt dieſes Idealismus und die Fülle geiſtiger
Kräfte, welche er zu ſeiner Durchbildung aufbrauchte, gerecht würdigt, der
wird die politiſche Unfähigkeit des Zeitalters nicht mehr räthſelhaft finden.
Die Kargheit der Natur ſetzt der Schöpferkraft der Völker wie der Einzelnen
ein feſtes Maß, verhängt über jedes große menſchliche Wirken den Fluch
der Einſeitigkeit. Es war unmöglich, daß ein Geſchlecht von ſolcher Energie
des geiſtigen Schaffens zugleich die kalte Berechnung, den liſtigen Welt-
ſinn, den entſchloſſenen Einmuth und den harten Nationalhaß hätte be-
ſitzen ſollen, welche den unerhörten Gefahren der politiſchen Lage allein
Trotz bieten konnten. Wie Luther ſeines Gottes voll für die Bilderpracht
des leoniniſchen Roms kaum einen Blick übrig hatte, ſo wendeten die Helden
der neuen deutſchen Bildung abſichtlich ihre Augen hinweg von der Ver-
heerung, die über den deutſchen Südweſten dahinfluthete, und dankten mit
Goethe dem Schickſal, „weil wir in der unbeweglichen nordiſchen Maſſe
ſtecken, gegen die man ſich ſo leicht nicht wenden wird“.


In der Freundſchaft Schillers und Goethes fand die menſchliche
Liebenswürdigkeit und die ſchöpferiſche Macht der neuen Bildung ihren
vollendeten Ausdruck. Die Deutſchen rühmten ſich von Altersher, kein
anderes Volk habe die Blüthe der Männerfreundſchaft, das neidloſe treue
Zuſammenwirken großer Menſchen zu großem Zwecke ſo oft geſehen; und
unter den vielen ſchönen Freundſchaftsbünden ihrer Geſchichte war dieſer
der herrlichſte. Zehn reiche Jahre hindurch überſchütteten die beiden Freunde
ihr Volk unabläſſig mit neuen Geſchenken und bewährten ſelbander den
Goethiſchen Spruch: Genie iſt diejenige Kraft des Menſchen, welche durch
Handeln und Thun Geſetz und Regel giebt. Und in ſolcher Fülle des
Schaffens gaben ſie doch nur einen Theil ihres Weſens aus; ſie wußten,
daß dauernder Nachruhm Keinem gebührt, der nicht größer war als ſeine
Werke.


Unvergeßlich prägte ſich in die Herzen der Jugend dies einzige Bild
künſtleriſcher und menſchlicher Größe: wie dieſe beiden durch Schickſal,
[197]Schiller und Goethe.
Bildungsgang und Begabung ſo weit Geſchiedenen nach langer Ver-
kennung ſich endlich fanden und dann auf der Höhe des Lebens in
ſchlichter Germanentreue feſt zuſammenſtanden, ſo einig in ihrem Wirken,
daß ſie ſelber nicht mehr wußten, wer die einzelnen Diſtichen des Xenien-
kampfes alle geſchrieben hatte, und doch ein Jeder des eigenen Werthes
klar bewußt, in voller Freiheit gebend und empfangend, nicht im Mindeſten
gemeint des Freundes Eigenart zu ſtören. Dort der verwöhnte Lieblings-
ſohn des Glücks, mit Rang und Reichthum, Schönheit und Geſundheit
verſchwenderiſch ausgeſtattet; hier der Hartgeprüfte, der jahrelang mit
Krankheit und Entbehrung kämpfte und dabei in ſeinem Gemüthe ſo ſtolz
und frei blieb, daß keine Zeile ſeiner Werke die gemeinen Nöthe ſeines
Lebens errathen ließ. Der Eine verweilte gelaſſen in ſich ſelber, ganz
unbekümmert um den Erfolg des Augenblicks; er ließ die goldenen Früchte
ſeiner Dichtung ruhig reifen, bis er ſie zur guten Stunde mit einem
Drucke der Hand vom Aſte brach; die deutſche Sprache offenbarte ihm
ihre holdeſten Geheimniſſe, folgte gelehrig jedem Winke des Meiſters; aus
den Tiefen einer ewig friſchen und lauteren Phantaſie, aus den Weiten
eines unermeßlichen Wiſſens ſtrömten ihm die Bilder und Gedanken un-
geſucht von ſelber zu. Den Anderen durchglühte ein edler Ehrgeiz: er
wollte ſiegen, jetzt und hier, er wollte die lichten Gedanken, die ihm das
Herz bewegten, groß und prächtig ausgeſtalten, die träge Welt hinreißen,
daß ſie daran glaube und „allen Unrath der Wirklichkeit“ von ſich ſchüttle;
er nutzte jede Stunde, wie im Vorgefühle des nahen Todes, wußte die
Lücken ſeiner minder vielſeitigen Bildung durch raſtloſen Fleiß immer zur
rechten Zeit auszufüllen und als ein umſichtiger königlicher Haushalter
jedes Wort aus ſeinem minder reichen Sprachſchatze ſicher und wirkſam
zu verwerthen; den letzten Hauch ſeines feurigen Willens ſetzte er ein,
bis ein erhebender und erſchütternder Schluß gefunden war, während
Goethe gemächlich ſo manchen herrlichen Torſo halb behauen liegen ließ.


Dem weſentlich lyriſchen Genius Goethes wurde jede Dichtung zum
Bekenntniß, doch mitten in der Erregung des ſubjectiven Gefühls erhielt er
ſich immer jene „gutmüthige ins Reale verliebte Beſchränktheit“, die er ſo
gern als den unſchuldigen productiven Zuſtand des naiven Dichters pries.
Wenn er mit ſeinen inneren Erfahrungen abſchloß, ſo blieben die Leſer
ſtets in dem holden Wahne, als ob er ganz verſchwände hinter den Ge-
ſtalten, die von dem Blute ſeines Herzens getrunken hatten. Schillers
dramatiſches Genie ſchritt kühner in die objective Welt hinaus. Suchend
und wählend griff er oft nach Stoffen, die mit ſeinem inneren Leben ur-
ſprünglich nichts gemein hatten; aber wenn dieſe fremden Geſtalten erſt
unter ſeinen bildenden Händen erwarmten, dann blies er ſie an mit dem
Odem ſeines eigenen heldenhaften Weſens und ließ ſie das hohe Pathos
ſeiner eigenen feurigen Empfindung ſo mächtig, ſo unmittelbar ausſprechen,
daß die Hörer immer nur ſeine Stimme zu vernehmen glaubten und ihn
[198]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
für einen ſubjectiven Dichter hielten. Beide Dichter verbanden mit der
traumgängeriſchen Sicherheit des Genius die dem geſammten Zeitalter
eigenthümliche klare Bewußtheit des Denkens, ſie liebten, ſich und Anderen
Rechenſchaft zu geben von den Geſetzen ihrer Kunſt. Beide ſuchten die
große Aufgabe der Zeit nicht in der äſthetiſchen Cultur allein; als Staats-
mann, Naturforſcher und Pſycholog wirkte der Eine, als Hiſtoriker und
Philoſoph der Andere für die Vertiefung und Läuterung einer allſeitigen
Bildung. Beide fühlten ſich eins mit ihrem Volke; ſie ahnten es wohl,
daß ihre Werke dereinſt noch auf fremdem Boden Frucht bringen ſollten,
doch ſie wußten auch, daß ſie dem deutſchen Leben ihre eigenſte Kraft ver-
dankten und das volle, innige, unwillkürliche Verſtändniß nur da finden
konnten wo deutſche Herzen ſchlugen: „Im Vaterlande ſchreibe was dir
gefällt! Da ſind Liebesbande, da iſt deine Welt!“


Es gereicht aber der deutſchen Rechtſchaffenheit zur Ehre, daß ſelbſt
in dieſem Zeitalter der äſthetiſchen Weltanſchauung Schiller in der Gunſt
des Volkes höher ſtieg als ſein größerer Freund. Der Durchſchnitt der
Menſchen erhebt ſich nicht über den ſtofflichen Reiz der Dichtung, darum
darf er auch die einſeitig moraliſche Schätzung der Kunſt nicht ganz auf-
geben. Einem geſunden Volke mußte Poſas edle Schwärmerei und die
Hochherzigkeit Max Piccolominis theurer ſein als das loſe Treiben der
Philinen und Mariannen. Nur reiche Gemüther blickten dem tiefen
Strome der ſpäteren Goethiſchen Dichtung bis auf den Grund, nur den
Lebenskundigen ging das geheimnißvolle Leben ſeiner Geſtalten auf, nur
ſinnige Naturen erkannten in ſeinen proteiſchen Wandlungen den immer
ſich ſelbſt getreuen Genius wieder. Ueber dieſe Höchſtgebildeten der Nation
gewannen Goethes Leben und Werke nach und nach eine ſtille unwider-
ſtehliche Gewalt, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt nur immer mächtiger
wurde; es iſt ſein Verdienſt, daß Wilhelm Humboldt ſagen konnte, nirgendwo
ſonſt werde das eigentliche Weſen der Poeſie ſo tief verſtanden wie in
Deutſchland. Aus Luthers Tiſchreden hatten die Deutſchen einſt erfahren,
was es heiße ganz in Gott zu leben, in jeder einfachen Schickung der
vierundzwanzig Tagesſtunden die Allmacht und Liebe des Schöpfers zu
empfinden. Jetzt verkörperte ſich die neue Humanität in einem gleich
mächtigen und urſprünglichen Menſchendaſein; aus Goethes Leben lernte
der frohe Kreis der dankbar Verſtehenden, wie dem Künſtlergeiſte jede Er-
fahrung zum Bilde wird, wie die freieſte Bildung zur Natur zurückkehrt,
wie vornehmer Stolz mit Herzenseinfalt und demokratiſcher Menſchenliebe
ſich verträgt. Schillers Wirkſamkeit ging, wie es das Recht des Drama-
tikers iſt, mehr in die Breite; ihm gehörte das Herz der ſchwärmeriſchen
Jugend; ſein ſittlicher Ernſt packte die Gewiſſen; ſein freudiger Glaube an
den Adel der Menſchheit war Allen ebenſo verſtändlich wie die funkelnde
Pracht ſeiner nichts verhüllenden Sprache. Es iſt ſein Verdienſt, daß
die Freude an der neuen Bildung ſich in weiten Kreiſen verbreitete — ſo
[199]Goethe nach der italieniſchen Reiſe.
weit dieſe Literatur volksthümlich ſein konnte; durch die mächtige Rhetorik
ſeiner Jungfrau von Orleans wurden ſogar die Höfe von Berlin und
Dresden aus ihrer gründlichen Proſa aufgeſchüttelt. Goethe hatte ſchon
als Jüngling an dem Bilde des Straßburger Münſters ſich begeiſtert
und damals ſchon, zuerſt unter den Zeitgenoſſen, einen Einblick gewonnen
in das Leben unſeres Mittelalters; er liebte, das Alterthümliche in den
Reichthum ſeiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller
dagegen war ein durchaus moderner Menſch, modern in Empfindung und
Rede, ohne Sinn für das deutſche Alterthum und ebendeßhalb populärer;
denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergeſſen hatte, verlangte nach dem
Neuen und Blanken.


In Italien verbrachte Goethe ſeine zweite Jugendzeit, er lebte ſich
ein in die claſſiſche Formenwelt und ward im Alterthume heimiſch wie
Niemand ſeit Winkelmann. Nach den neuen Anſchauungen, die ihm dort
zuſtrömten, formte er nun die in den letzten zehn Jahren ſtill empfangenen
Werke und überraſchte die Nation durch eine Reihe von Dichtungen, welche
mit der Anſchaulichkeit und der Lebenswärme ſeiner Jugendſchriften eine
den Deutſchen noch ganz unbekannte ſtilvolle Hoheit und getragene Würde
verbanden. Doch er mußte erfahren, daß die Maſſe der Leſer ſeinem
neuen Stile noch nicht folgen konnte und weder die zarte ſinnvolle Schön-
heit der Iphigenia noch die verhaltene tiefe Leidenſchaft des Taſſo recht
verſtehen wollte. Die Deutſchen verloren den Dichter ganz aus den
Augen, da er jetzt „in ſeiner Dachshöhle“ ſich vergrub und durch jahre-
lange Forſchung und Betrachtung ein Vertrauter der Natur wurde. Er
wagte ſich an das titaniſche Unternehmen, ſchrittweis aufſteigend von der
einfachſten zu der höchſten Organiſation die ganze Natur zu verſtehen
und verſtehend mit ihr zu leben. Und dies wiſſenſchaftliche Erkennen,
„nie geſchloſſen, oft geründet“, war zugleich künſtleriſche Anſchauung; er
gab ſich der Natur hin mit allen Kräften ſeiner Seele, ſo innig, ſo liebe-
voll, daß er ſeine geologiſchen Studien mit Recht „meine Erdfreundſchaft“
nennen durfte. Die Forſchung beirrte ihn nicht, ſie beſtärkte ihn in der
naiven Weltanſchauung des Dichters, der immer den Schwerpunkt der
Welt im Herzen des Menſchen ſucht. Das All belebte ſich vor ſeinen
ahnenden Blicken, und indem er erkannte, wie das Ewige ſich in allen
Weſen fort regt, hielt er nur um ſo freudiger den Glauben feſt an das
ſelbſtändige Gewiſſen, die Sonne unſeres Sittentages. Seit er den Gott
ahnte, der die Welt im Innerſten bewegt, erſchien die heitere Weltfreudig-
keit ſeines Dichtergeiſtes verklärt durch die Weihe einer frommen, heiligen
Andacht: „ſtrömt Lebensluſt aus allen Dingen, dem kleinſten wie dem
größten Stern, und alles Drängen, alles Ringen iſt ew’ge Ruh’ in Gott
dem Herrn!“


Unterdeſſen hatte Schiller, wie er ſelbſt geſteht, im Poetiſchen einen
völlig neuen Menſchen angezogen und durch ernſte philoſophiſche Forſchung
[200]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
die Erkenntniß gewonnen, daß unſer Geſchlecht nur durch die Kunſt zur
harmoniſchen Vollendung erzogen werde; nur in der Kunſt ſei der Menſch
zugleich thätig und frei, nach außen wirkſam und ganz bei ſich ſelber.
Damit war das innerſte Herzensgeheimniß des Zeitalters kühnlich aus-
geſprochen. Tauſend jubelnde Stimmen antworteten dem weckenden Rufe:
„fliehet aus dem engen dumpfen Leben in des Ideales Reich!“ und ver-
kündeten die frohe Botſchaft, daß der Künſtler der vollkommene Menſch,
daß alles Schöne gut und gut nur das Schöne ſei. Zugleich ging der
Dichter mit der Formloſigkeit ſeiner eigenen Jugendwerke ſtreng, ja grau-
ſam ins Gericht und eroberte ſich die lebendige Anſchauung der antiken
Formenreinheit. Erſt durch Schiller ward Winkelmanns Werk vollendet;
erſt ſeit er in den Göttern Griechenlands die an der Freude leichtem
Gängelbande regierten ſeligen Geſchlechter des Alterthums in brennender
Farbenpracht verherrlicht hatte, wurde die Sehnſucht nach der erhabenen
Einfalt der Antike, der Cultus des claſſiſchen Ideals zum Gemeingute
der gebildeten Deutſchen. Wunderbar ſchnell lebte Schiller ſich ein in
dieſe Welt, die ſeiner Jugend ſo fremd geweſen, und fand mit genialer
Sicherheit die treibende Kraft der alten Geſchichte heraus, den letzten und
höchſten Gedanken des Hellenenthums: „iſt der Leib in Staub zerfallen,
lebt der große Name noch!“


Als die beiden großen Dichter ſich verbündeten, da galt es zunächſt,
dieſen neuen Idealismus in der Welt durchzuſetzen und zu behaupten,
die Afterweisheit der hausbackenen Moral, der platten Nützlichkeitslehren,
der phantaſtiſchen Unklarheit hinauszufegen aus dem Tempel der deutſchen
Muſe, freie Bahn zu ſchaffen für das wahrhaft Bedeutende und Schöpfe-
riſche, der Mittelmäßigkeit zu zeigen, daß die Kunſt für ſie keinen Raum
bietet. Dieſem Zwecke diente der Xenienſtreit, ein Parteikampf großen
Stiles, der mit aller ſeiner Grobheit und Gehäſſigkeit doch nothwendig
war für die Entwicklung unſeres nationalen Lebens; die Deutſchen wußten
wohl, daß hier um eine Lebensfrage ihrer Cultur gefochten wurde. Von
dem thatenluſtigen Freunde zu friſchem Schaffen angeregt zeigte ſich nun
Goethe in immer neuen Wandlungen. Schönheitstrunken, heidniſch un-
befangen wie ein roſenbekränzter Poet des Alterthums beſang er in den
Römiſchen Elegien die Freuden des lieberwärmeten Lagers, und nur zu-
weilen, wenn er den majeſtätiſchen Ausblick auf das ewige Rom eröffnete,
ließ er die Leſer errathen, daß der Gedankenreichthum eines die Jahr-
hunderte überſchauenden Geiſtes ſich hinter der herzhaften Sinnlichkeit
dieſer lieblichen Verſe verbarg. Bald darauf ſtand er wieder mitten in
der deutſchen Gegenwart und ſchilderte mit homeriſcher Einfalt die geſunde
Kraft unſerer Mittelſtände, die ſchlichte Größe, die in der Kleinheit des
befriedeten Hauſes wohnt, und mahnte ſein Volk, ſich ſelber treu zu
bleiben, in ſchwankender Zeit das Seine zu behaupten. Die warme treue
Liebe zum Vaterlande, die aus Hermann und Dorothea ſprach, machte
[201]Schillers Dramen.
auf die bildungsſtolzen Zeitgenoſſen geringen Eindruck. Aber mit Ent-
zücken erkannten ſie ſich ſelber wieder in den Geſtalten des Wilhelm
Meiſter: in dieſen ſtaatloſen Menſchen ohne Vaterland, ohne Familie,
ohne Beruf, die von aller Gebundenheit des hiſtoriſchen Daſeins frei, nur
einen Lebensinhalt kennen: den leidenſchaftlichen Drang nach menſchlicher
Bildung. In dieſer Odyſſee der Bildung hielt Goethe ſeinem Zeitalter
einen Spiegel vor, der alle Züge jener literariſchen Epoche, ihre Schwächen
wie ihre Lebensfülle, in wunderbarer Klarheit wiedergab, und löſte zu-
gleich, was noch keinem Poeten ganz gelungen war, die höchſte Aufgabe
des Romandichters: er zeigte, wie das Leben den ſtrebenden und irrenden
Menſchen erzieht.


Minder vielſeitig, aber raſtlos mit ſeinem Pfunde wuchernd errang
ſich Schiller indeſſen die Herrſchaft auf der deutſchen Bühne. Die ge-
waltſame dramatiſche Aufregung, welche Goethe gern von ſich fern hielt,
war ihm Bedürfniß; glänzende Bilder von Kampf und Sieg ſchritten
durch ſeine Träume, das Schmettern der Trompeten, das Rauſchen der
Fahnen und der Klang der Schwerter verfolgten ihn noch bis auf ſein
Todesbette. Die Leidenſchaften des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um
der Menſchheit große Gegenſtände, um Herrſchaft und um Freiheit, jene
mächtigen Schickſalswandlungen, die über Völkerleid und Völkergröße ent-
ſcheiden, boten ſeinem dramatiſchen Genius den natürlichen Boden. Auch
ſeine kleineren Gedichte verweilten mit Vorliebe bei den Anfängen des
Staatslebens, veranſchaulichten in mannichfachen geiſtvollen Wendungen,
wie der heilige Zwang des Rechts die friedloſen Menſchen menſchlich an-
einander bindet, wie die rohen Seelen zerfließen in der Menſchlichkeit
erſtem Gefühl. Schöner als in dem Liede von der Glocke iſt die Ver-
kettung des einfachen Menſchenlebens mit den großen völkererhaltenden
Mächten des Staates und der Geſellſchaft niemals geſchildert worden.


Wie tief er auch ſeine „proſaiſche“ Zeit verachtete, wie ſtolz er auch jeden
Verſuch tendenziöſer Dichtung von ſich wies, dieſer ganz auf die hiſtoriſche
Welt gerichtete Geiſt war doch erfüllt von einem hohen politiſchen Pathos,
das erſt die Nachlebenden völlig begreifen ſollten. Es war kein Zufall,
daß er ſich ſo lange mit dem Gedanken trug, die Thaten Friedrichs in
einem Epos zu beſingen. Als die Deutſchen ſelbſt zur Befreiung ihres
Landes ſich rüſteten, da ward ihnen erſt das farbenglühende Bild der
Volkserhebung in der Jungfrau von Orleans recht verſtändlich; als ſie
unter dem Drucke der Fremdherrſchaft ſich wieder auf ſich ſelber be-
ſannen, da würdigten ſie erſt ganz die Größe des Dichters, der ihnen in
ſeinen beiden ſchönſten Dramen die vaterländiſche Geſchichte ſo menſchlich
nahe gebracht hatte. Die entſetzlichſte Zeit unſerer Vergangenheit gewann
durch ſeine Dichtung ein ſo friſches, freudiges Leben, daß der Deutſche
ſich noch heute im Lager Wallenſteins faſt heimiſcher fühlt als unter
fridericianiſchen Soldaten; aus den Kämpfen der handfeſten deutſchen
[202]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Bauern des Hochgebirges geſtaltete er das verklärte Bild eines großen
Freiheitskrieges und legte Alles darin nieder was nur ein hoher Sinn
über die ewigen Rechte des Menſchen, über den Muth und Einmuth
freier Völker zu ſagen vermag. Der Tell ſollte bald für unſer politiſches
Leben noch folgenreicher werden als einſt Klopſtocks Bardengeſänge. An
dieſem Gedichte vornehmlich nährte das heranwachſende Geſchlecht ſeine
Begeiſterung für Freiheit und Vaterland; die ganz dramatiſch gedachte
Mahnung: „ſeid einig, einig, einig!“ erſchien den jungen Schwärmern
wie ein heiliges Vermächtniß des Dichters an ſein eignes Volk.


Die nationale Bühne freilich, worauf ſeit Leſſing alle unſere Drama-
tiker hofften, iſt auch durch Schiller den Deutſchen nicht geſchenkt worden,
weil kein einzelner Mann ſie zu ſchaffen vermochte. Schiller ſtrebte nach
einem nationalen Stile, der das Echte und Große der älteren Dramatik,
den Geſtaltenreichthum, die bewegte Handlung und die tiefe Charakteriſtik
Shakeſpeares, den lyriſchen Schwung der antiken, und die ſtrenge Com-
poſition der franzöſiſchen Tragödie bewußt und ſelbſtändig in ſich ver-
einigen und darum dem Charakter unſerer neuen Bildung entſprechen
ſollte. Aber es fehlte dem Dichter der lebendige Verkehr mit dem Volke.
Nur der brauſende Jubelruf einer großſtädtiſchen Hörerſchaft zeigt dem
Dramatiker, wann er das Allen Gemeine, das wahrhaft Volksthümliche
gefunden hat. Die Handvoll trübſeliger Kleinbürger im Parterre des
Weimariſchen Theaterſchuppens waren kein Volk, und die vornehmen
Schöngeiſter in den Logen des Hofes zollten den Experimenten geiſtreich
ſpielender Willkür den gleichen, ja vielleicht noch lebhafteren Beifall wie
dem einfach Großen. Es fehlte den Deutſchen überhaupt, wie Goethe
klagte, „eine Nationalcultur, die den Dichter zwingt die Eigenheiten ſeines
Genies ihr zu unterwerfen“. Faſt nur gebend, wenig empfangend ſtanden
die Dioskuren von Weimar ihrem Volke gegenüber, das ſie erſt empor-
hoben zu reinerer Bildung. Darum ſind Beide nach mannichfachen Ver-
ſuchen mit Trilogien und Einzeldramen, mit Jamben und Reimpaaren,
mit Chorgeſängen und melodramatiſchen Einlagen doch nicht dahin gelangt
für unſer Drama eine Kunſtform zu ſchaffen, die als die nationale an-
erkannt wurde. Wie die feierliche, übertrieben pathetiſche Declamation der
Weimariſchen Schauſpieler im übrigen Deutſchland nicht zur Herrſchaft
gelangte, ſo trieben auch die dramatiſchen Dichter nach Willkür und Laune
ihr Weſen, Jeder von vorn beginnend, Jeder bemüht durch neue Künſte
und Künſteleien alle Anderen zu übertreffen. Unſere Bühne bot ein
Bild der Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei-
heit zeigte. Nicmand hat die kleinliche Zerſplitterung des deutſchen Lebens
und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kunſt ſchmerzlicher empfunden
als Goethe. Ueber ſeinen Wilhelm Meiſter ſagte er geradezu: da habe
er nun „den allerelendeſten Stoff, Komödianten und Landedelleute“ wählen
müſſen, weil die deutſche Geſellſchaft dem Dichter keinen beſſeren biete;
[203]Komiſche Dichtung.
und im Taſſo ſchilderte er die trotz aller Feinheit der Bildung doch
drückende Enge des Lebens an kleinen Höfen mit einer Bitterkeit, welche
nur aus ſelbſterlebter Pein ſtammen konnte.


Nicht blos die natürliche Anlage des deutſchen Geiſtes, der am Ge-
ſtalten der Charaktere mehr Freude findet als am Erfinden ſpannender
Situationen, ſondern vor Allem die Verkümmerung unſeres öffentlichen
Lebens hat es verſchuldet, daß der Humor, der noch in unſerem lebensfrohen
ſechzehnten Jahrhundert ſo prächtige Funken ſchlug, in dieſer Blüthezeit
deutſcher Dichtung ſich ſo ſelten zeigte. Das Luſtſpiel konnte dem kühnen
Aufſchwunge der Tragödie nicht folgen. Die Komödie wurzelt immer in
der Gegenwart und blüht nur in Völkern, die unbefangen an ſich ſelber
glauben, ſich herzhaft wohl fühlen in der eigenen Haut; ſie bedarf feſter
nationaler Sitten und Anſtandsbegriffe, wenn ſie nicht willkürlich, gemein-
verſtändlicher ſocialer Kämpfe und Intereſſen, wenn ſie nicht platt werden
ſoll. Von Alledem waren in der langſam wieder auflebenden deutſchen
Nation erſt ſchwache Anfänge vorhanden. Der beliebteſte Luſtſpieldichter
der Zeit, Kotzebue, ein Talent von unverächtlicher komiſcher Kraft, widerte
edlere Naturen an nicht blos durch die angeborene Gemeinheit eines
durchaus flachen Geiſtes, ſondern mehr noch durch die Erbärmlichkeit der
Verhältniſſe, die er ſchilderte, und durch die Unſicherheit ſeines ſittlichen
Gefühls, das zwiſchen weinerlicher Schwäche und ſchmunzelnder Frechheit
haltlos ſchwankte. Auch Jean Paul, der Einzige, der damals mit hohen
künſtleriſchen Abſichten ſich dem Dienſte der komiſchen Muſe widmete, ward
durch die zerfahrene Unfertigkeit des deutſchen geſelligen Lebens zu Grunde
gerichtet. Seine Geſtalten bewegen ſich bald in der ſchweren Stickluft
unfreier, armſeliger Kleinſtädterei, bald in dem dünnen Aether idealer
Bedürfnißloſigkeit, wo die Menſchenbruſt nicht mehr athmen kann. Die
Schwärmerei ſeiner warmherzigen Menſchenliebe giebt ihm doch keinen
feſten ſittlichen Halt; nach Luſt und Laune rüttelt er in frivolem Spiele
an den ewigen Geſetzen der ſittlichen Welt um nachher wieder in ver-
himmelten Gefühlen zu ſchwelgen und ſeine Liebenden „im kurzen ſeligen
Elyſium des erſten Kuſſes wohnen“ zu laſſen. Das unſichere Stilgefühl
der Leſer geſtattet ſeinem Humor jede Willkür; ungeſcheut läßt er der
natürlichen Formloſigkeit des deutſchen Geiſtes die Zügel ſchießen, ver-
renkt die Sprache und überladet ſie mit ſchwülſtiger Künſtelei.


Goethes klaren Blicken entgingen die ſittlichen Gefahren der äſthe-
tiſchen Weltanſchauung nicht; warnend hat er der Jugend zugerufen:
„daß die Muſe zu begleiten, doch zu leiten nicht verſteht!“ Aber ein
reiches Geſchlecht war es doch, das ſo zügellos dem Drange ſeines Herzens
nachging. Alle Schleußen des deutſchen Genius ſchienen aufgezogen: unſere
Muſik erlebte ihr claſſiſches Zeitalter, in der Philologie ſchlug F. A. Wolf,
in den bildenden Künſten Asmus Carſtens neue kühne Bahnen ein. Selbſt
die geſellige Anmuth, die ſonſt deutſcher Wahrhaftigkeit wenig zuſagt, kam
[204]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
in den Kreiſen der Auserwählten zu reizender Entfaltung; geiſtreicher,
verführeriſcher als in Caroline Schellings Briefen hat Weiberliebe und
Weiberbosheit ſelten geredet. Und wie mochte man ohne Freude den edlen
Fürſten betrachten, der alle dieſe großen Menſchen frei gewähren ließ, der
ſie alle verſtand und dabei ſo feſt und ſtattlich ſich ſelbſt behauptete?
Ganz unbekümmert ſtürmte Karl Auguſt ins junge Leben, bis eigene Er-
kenntniß, nicht fremder Rath ihn lehrte „nach und nach die freie Seele
einzuſchränken“.


Wenn die altfranzöſiſchen Edelleute, die Talleyrand, Segur, Ligne,
damals zu behaupten pflegten, wer nicht die letzten Zeiten des alten
Königthums vor dem Jahre 89 mit erlebt, der wiſſe nicht was leben
heißt, ſo konnten Deutſchlands Dichter und Denker mit beſſerem Rechte
das Gleiche von ihrem goldenen Zeitalter ſagen. Eine wunderbare Dich-
tigkeit des geiſtigen Daſeins geſtattete Jedem ſeine Gaben in Genuß und
That nach allen Seiten hin harmoniſch zu entfalten; und es entſprach
nur den wirklichen Zuſtänden, wenn die ſchöne Geſelligkeit ſich beſſer
dünkte als der geiſtloſe Staat, wenn die Briefe Schillers und Goethes
immer wieder die Sorge ausſprachen, daß nur der Staat ja nicht „die
Freiheit der Particuliers“ antaſte. Wie dieſe Künſtlerwelt ſich zum Staate
ſtellte, das zeigte Wilhelm Humboldt vornehm und geiſtvoll in ſeiner
Abhandlung über die Grenzen der Wirkſamkeit des Staates: der höchſte
Zweck des Lebens, die Erziehung des Menſchen zur Eigenthümlichkeit der
Kraft und Bildung, wird nur erreicht, wenn der Einzelne in Freiheit
und in mannichfaltigen Situationen ſich bewegt; darum muß die Zwangs-
anſtalt des Staates auf die Sicherung von Hab’ und Leben ſich be-
ſchränken, in Allem ſonſt den königlichen Menſchen frei ſchalten laſſen;
der Staat ſteht um ſo höher, je reicher und ſelbſtändiger ſich die Eigen-
art der Perſonen in ihm geſtalten darf. So wurde die Kantiſche Lehre
vom Rechtsſtaate im äſthetiſchen Sinne weiter gebildet; die dürre Doctrin
des naturrechtlichen Individualismus gewann Reiz und Leben ſeit ſie mit
dem Cultus der freien Perſönlichkeit ſich vermählte. Die Bewunderer
des claſſiſchen Alterthums predigten die Flucht vor dem Staate, das ge-
naue Gegentheil helleniſcher Tugend.


Bald genug ſollte ein furchtbares Erwachen dem ſeligen Traume
folgen; bald genug ſollte der Bildungsſtolz erfahren, daß für edle Völker
Eines noch ſchrecklicher iſt als das Banauſenthum: — die Schande. Den-
noch trifft die Heroen der deutſchen Dichtung in keiner Weiſe der Vor-
wurf, als ob ſie irgend eine Mitſchuld trügen an der Demüthigung ihres
Vaterlandes. Der Zerfall des alten deutſchen Staates war entſchieden;
die Theilnahme unſerer Dichter an den politiſchen Ereigniſſen der Zeit
konnte das Verhängniß nicht wenden, konnte nur ſie ſelber dem Ewigen
entfremden. Sie hüteten das Eigenſte unſeres Volkes, das heilige Feuer
des Idealismus, und ihnen vornehmlich danken wir, daß es noch immer
[205]Anfänge der Romantik.
ein Deutſchland gab als das deutſche Reich verſchwunden war, daß die
Deutſchen mitten in Noth und Knechtſchaft noch an ſich ſelber, an die
Unvergänglichkeit deutſchen Weſens glauben durften. Aus der Durch-
bildung der freien Perſönlichkeit ging unſere politiſche Freiheit, ging die
Unabhängigkeit des deutſchen Staats hervor.


In dem Gedichte, das ſtolz und ſpröde wie kein zweites die Verachtung
der Idealiſten gegen die ſchlechte Wirklichkeit ausſprach, in Schillers Reich
der Schatten ſtanden die Worte:


Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,

Und ſie ſteigt von ihrem Weltenthron!

Der Dichter ließ ſie unverändert, obgleich Humboldt ihm treffend bemerkte,
ſie gäben den äſthetiſchen Grundgedanken des Gedichtes nicht rein wieder.
Und er wußte was er that. Denn die Bildung, welche er mit ſeinen Freun-
den verkündigte, war nicht beſchaulicher Genuß, ſondern freudiges Handeln,
Hingabe des ganzen Menſchen in den Dienſt der Idee; ſie ſchwächte nicht,
ſie ſtählte ihren Jüngern die Kraft des Willens, erfüllte ſie mit jener
Sicherheit der Seele, die „ſchlechterdings Alles was Schickſal heißt als
ganz gleichgiltig“ anſah, wie Gentz von ſeinem Humboldt rühmte. Dieſer
active Humanismus war weder weichmüthig noch ſtaatsfeindlich, er hatte
nur das Weſen des Staates noch nicht verſtanden und bedurfte nur der
Schule der Erfahrung um alle Tugenden des Bürgers und des Helden aus
ſich heraus zu bilden. Wenn derſelbe Humboldt, der jetzt die Flucht vor
dem Staate predigte, ſpäterhin in feſter Treue ſeinem Staate diente, ſo
widerſprach er ſich nicht ſelber, ſondern ſchritt nur weiter auf dem einge-
ſchlagenen Wege: er hatte gelernt, daß der Adel freier Menſchenbildung
in einem unterdrückten und entehrten Volke nicht beſtehen kann.


Unterdeſſen begann bereits in der Literatur ſelbſt eine neue Strö-
mung, welche die Deutſchen zu einem tieferen Verſtändniß von Staat
und Vaterland führen ſollte. Das erſte Auftreten der jungen roman-
tiſchen Schule erſchien zunächſt als ein ſittlicher und künſtleriſcher Verfall.
Waren die beiden letzten literariſchen Generationen an edlen, liebens-
werthen Menſchen überreich geweſen, ſo nahm jetzt die Zahl der Eitlen,
der Lüſternen, der Ueberbildeten bedenklich zu. Der Sturm und Drang,
deſſen das aufſteigende Dichtergeſchlecht ſich rühmte, war nicht mehr naive
jugendliche Leidenſchaft, ſondern zeigte bereits den Charakter des Epigonen-
thums. Statt der einfältigen Luſt am Schönen herrſchte ein krankhafter
Ehrgeiz, der um jeden Preis das Niedageweſene leiſten wollte, und treffend
ſagte Goethe von ſeinen Nachfolgern: „ſie kommen mir vor wie Ritter,
die, um ihre Vorgänger zu überbieten, den Dank außerhalb der Schranken
ſuchen.“


Die dichteriſche Kraft der Romantiker blieb weit hinter ihren großen
Abſichten zurück; ſchon den Zeitgenoſſen fiel es auf, daß ihre Phantaſie
immer laut rauſchend mit den Flügeln ſchlug ohne je in rechten Schwung
[206]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
zu kommen. Ihre Führer waren, obgleich ſie hochmüthig lärmend auf
das Recht des Genies zu trotzen liebten, mehr feingebildete Kenner als
ſchöpferiſche Dichter, ihre Kunſt mehr ein abſichtliches Experimentiren als
unbewußtes Schaffen; ſtatt jener Goethiſchen „Verliebtheit ins Reale“
ſollte die Ironie, die Todfeindin aller Naivität, jetzt die echte poetiſche
Stimmung ſein. Der ſchöne Ausſpruch: edle Naturen zahlen mit dem
was ſie ſind — diente der anmaßlichen Unfruchtbarkeit zum Lotterbette.
Spielende Willkür verwiſchte die Grenzen aller Kunſtformen, verdarb die
Keuſchheit der Tragödie durch Operngeſänge, führte die Zuſchauer als
Mitredende in die dramatiſche Handlung ein, brachte die unverſtänd-
lichen Empfindungen entlegener Völker und Zeiten auf die Bühne, die
doch ſtets im edlen Sinne zeitgemäß bleiben und nur darſtellen ſoll was
die Hörer mitfühlen. Die Sprache war nunmehr, nach Schillers Worten,
durch große Meiſter ſo weit gebildet, daß ſie für den Schriftſteller dichtete
und dachte; das junge Geſchlecht muthete ihr das Unmögliche zu, ſang
von klingenden Farben und duftenden Tönen. Die Schranken zwiſchen
Poeſie und Proſa ſtürzten ein, die Dichtung erging ſich in Betrachtungen
über die Kunſt, die Kritik in phantaſtiſchen Bildern. Die Kunſt war
Wiſſenſchaft, die Wiſſenſchaft Kunſt; alle Offenbarungen des Seelenlebens
der Menſchheit, Glauben und Wiſſen, Sage und Dichtung, Muſik und
bildende Künſte entſtrömten dem einen Ocean der Poeſie um wieder in
ihn zurückzufließen.


So gelangten die Romantiker, während ſie beſtändig von volksthüm-
licher Dichtung ſprachen, zu einer phantaſtiſchen und überbildeten Welt-
anſchauung, die nur wenigen Eingeweihten, und auch dieſen kaum, ver-
ſtändlich war. Von ihrer Zuchtloſigkeit und zugleich von ihrem Unver-
mögen gab Friedrich Schlegels Lucinde ein trauriges Zeugniß: da ſchwelgte
eine künſtlich erhitzte Phantaſie in „Dithyramben über die ſchönſte Situa-
tion“, ohne jemals ſinnlich warm und anſchaulich zu werden, es war wie
das Irrcreden eines trunkenen Pedanten. Auch die Philoſophie wurde
von dem Uebermuthe und der Unklarheit der Romantik angekränkelt. Sie
war bisher von den weltbürgerlichen Einwirkungen, welche die übrige
Literatur ergriffen, gar nicht berührt worden, ſondern hatte ſich eine ſelb-
ſtändige Ideenwelt geſchaffen, die dem Auslande ebenſo unfaßbar blieb wie
die Terminologie der deutſchen Philoſophen. Der Genius unſerer Sprache,
der zu geiſtvoller, vielſagender Unbeſtimmtheit neigt, kam den myſtiſchen
Neigungen der deutſchen Natur nur zu bereitwillig entgegen; die roman-
tiſche Schwärmerei mußte ihnen vollends verhängnißvoll werden. Wenn
der junge Schelling, durch Goethes Ideen angeregt, ſich vermaß, die
Natur zu verfolgen, wie ſie ſich in allem Lebendigen auseinanderſetzt, ſo er-
öffnete er allerdings mit erſtaunlicher Kühnheit dem philoſophiſchen Denken
ein völlig neues Gebiet; doch ihm fehlte gänzlich jene tiefe Beſcheidenheit,
welche Kant in ſeinen verwegenſten Speculationen nie verleugnet hatte.
[207]Romantiſche Weltanſchauung.
Die Inſpiration der „intellectuellen Anſchauung“, die im Bereiche der
Erfahrungswiſſenſchaften ſchlechterdings nur zu genialen Hypotheſen an-
regen kann und ſich immer erſt durch empiriſche Beweiſe rechtfertigen
muß, ſollte ihm die Beobachtung und Vergleichung erſetzen. Durch will-
kürliches Conſtruiren, aus der Phantaſie heraus, wähnte er der Natur
die Geheimniſſe zu entreißen, welche ſie allein dem liebevollen, entſagenden
Fleiße enthüllt. Das nüchterne Forſchen überließ man verächtlich den
geiſtloſen Handwerkern; die gute Geſellſchaft ſchwärmte für die Natur-
philoſophie oder lernte befriedigt aus Galls Schädellehre, wie leicht und
ſpielend der geniale Menſch die dunkelſten Probleme der Pſychologie und
Naturwiſſenſchaft bewältigen könne. Alle Schäden der Ueberbildung be-
gannen ſich zu zeigen: der geiſtige Hochmuth ſtellte launiſch die welterhal-
tenden Geſetze des ſittlichen Lebens in Frage, ſchaute mit geringſchätzigem
Lächeln auf den moraliſchen Pedanten Schiller herunter. Schwächere
Naturen verfielen einer übergeiſtreichen Mattherzigkeit, lernten alle Dinge
von allen Seiten zu betrachten und verloren inmitten der entgegengeſetzten
Geſichtspunkte, welche der Gedankenreichthum der Zeit einem Jeden dar-
bot, die Kraft zu ſelbſtändigem Denken und Wollen; wer eine hiſtoriſche
Erſcheinung theoretiſch erklärt und verſtanden hatte, wähnte ſie auch ge-
rechtfertigt zu haben.


Gleichwohl iſt die romantiſche Dichtung für unſer Leben überaus
fruchtbar geworden, weniger durch ihre eigenen Kunſtwerke, als durch die
Anregung, die ſie der Wiſſenſchaft gab, durch den neuen weiten Geſichts-
kreis, den ſie dem geſammten Fühlen und Denken der Nation erſchloß.
Sie verfeinerte und vertiefte das Naturgefühl, weckte das Verſtändniß
für die Seele der Landſchaft, für den ahnungsvollen Zauber der Wald-
einſamkeit, der Felſenwildniß, der moosbedeckten Brunnen. Das acht-
zehnte Jahrhundert hatte ſich, gleich den Alten, in der reichangebauten
fruchtbaren Ebene wohl gefühlt, die neue Zeit ſuchte nach den roman-
tiſchen Reizen der Natur; die Jugend lernte die unſchuldigen Freuden
der friſchen, freien Wanderluſt wieder ſchätzen, das Volk bis tief in die
Mittelſtände herab ward nach und nach um eine Fülle neuer Anſchauungen
reicher. Die Welt des Märchenhaften, Geheimnißvollen, Dunkelklaren
wurde jetzt erſt der deutſchen Dichtung ganz erſchloſſen. Ihre Traum-
geſtalten traten nicht ſo rund, klar und fertig heraus wie die Gebilde der
claſſiſchen Kunſt; doch ſie hoben ſich ab von einem tiefen Hintergrunde
und ſchienen ins Unendliche hinauszudeuten, und über ihnen lag der
Dämmerſchein der „mondbeglänzten Zaubernacht, die den Sinn gefangen
hält“. Uralte, längſt verſchollene Empfindungen des germaniſchen Volks-
gemüths wurden wieder lebendig.


Die Romantiker fühlten, daß die claſſiſchen Ideale das innerſte Leben
unſeres Volkes nicht vollſtändig wiedergaben; ſie ſuchten nach neuen Stoffen,
durchſtreiften als wageluſtige Conquiſtadoren die weite Welt, bis zu der
[208]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Wiege der Menſchheit in Indien, bis zu den ſtillen Naturvölkern in den
vergeſſenen Winkeln der Erde. Ueberall wo nur die Allerzeugerin Poeſie
in Sprache, Kunſt und Religion ſich entfaltet hatte, ſuchte man ſie auf
und ſtrebte ihre Offenbarungen dem deutſchen Genius zu vermählen:
wie einſt die Römer die Götterbilder der Unterworfenen in ihrem Pan-
theon aufſtellten, ſo ſollte das neue Herrſchervolk im Reiche des Geiſtes,
das alle anderen Nationen zu durchſchauen und zu überſchauen meinte,
die Dichtungen aller Länder in getreuen Nachbildungen ſich zu eigen
machen. Der feine Formenſinn und die ſinnige weibliche Empfänglichkeit
A. W. Schlegels brachten die deutſche Ueberſetzerkunſt zur Blüthe. Raſch
nach einander erſchienen Shakeſpeare, Cervantes, Calderon, eine Menge
anderer glücklicher Ueberſetzungen. Die deutſche Poeſie zeigte ſich jeder
noch ſo fremdartigen Aufgabe gewachſen, ja ſie lief ſchon Gefahr einer
virtuoſen Formenſpielerei zu verfallen, die ihrem innerſten Weſen wider-
ſprach; denn in allen ihren großen Zeiten hatten die Germanen den In-
halt höher geſchätzt als die Form. Aber einen unſchätzbaren, bleibenden
Gewinn brachten die kühnen Entdeckerfahrten der Romantiker: in ihrem
Kreiſe zuerſt erwachte der hiſtoriſche Sinn, der dem philoſophiſchen Jahr-
hundert immer fremd geblieben. In ſeinen literarhiſtoriſchen Vorleſungen
führte A. W. Schlegel, an Herders Ahnungen anknüpfend, den großen
Gedanken durch, daß die Kunſt im nationalen Boden wurzele, daß jedes
Volkes Sprache, Religion und Dichtung als ein nothwendiges Werden,
als die Entfaltung des Volksgeiſtes zu verſtehen ſei. So ward der Grund
gelegt, auf dem ſich dereinſt der ſtolze Bau der vergleichenden Sprach-
forſchung, der Literatur- und Kunſtgeſchichte erheben ſollte.


Und eben dies Schweifen in die Ferne führte die Romantiker wieder
zur Heimath zurück. Da ſie überall in der Geſchichte nach dem Volks-
thümlichen und Urſprünglichen ſuchten, ſo gelangten ſie endlich auf ſelt-
ſamen Umwegen zu der Frage: wie ſich denn dies neue deutſche Volk
gebildet habe? Sie faßten ſich das Herz dem vaterländiſchen Alterthume
wieder ins Geſicht zu ſchauen, und es erſchien dem neuen Geſchlechte zuerſt
ſo fremd, wie dem Manne ſein eigenes Knabenbildniß. Die Deutſchen
entdeckten mit freudiger Beſchämung, wie lächerlich wenig ſie doch von dem
Reichthum des eigenen Landes gekannt hatten. Die verrufene finſtere Nacht
des Mittelalters leuchtete wieder in freudigem Glanze. Ein farbenreiches
Gewimmel fremdartiger Geſtalten, Mönche und Minneſänger, heilige
Frauen und Gottesſtreiter, bewegte ſich vor den entzückten Blicken; die
Stauferkaiſer, deren Name kaum noch in Schwaben dem Volke bekannt
war, erſchienen wieder als die ritterlichen Helden der Nation. Der Händler
auf den Jahrmärkten, der die Löſchpapierausgaben alter Volksbücher für
den kleinen Mann feil bot, ſetzte ſeine Waare jetzt zuweilen auch an gelehrte
Herren ab. Die vornehmen Leute horchten auf, wenn die Magd den Kin-
dern Märchen erzählte, und unter den Eingeweihten ging die Rede, daß
[209]Einkehr in das deutſche Leben.
in den Mythen des altgermaniſchen Heidenthums noch ein unerſchöpf-
licher Schatz gemüthvollen Tiefſinns verborgen liege. Johannes Müller
gab in ſeiner Schweizergeſchichte zum erſten male eine ausführliche Schilde-
rung mittelalterlichen Lebens, die trotz ihrer geſchraubten und geſuchten
Rhetorik doch tief und lebendig war und eine Menge neuer Geſichtspunkte
aufſtellte; er war es auch, der zuerſt auf die heldenhafte Großheit des
Nibelungenliedes hinwies. Im Jahre 1803 erſchien Tiecks Sammlung
der deutſchen Minnelieder. Drei Jahre darauf ließ Schenkendorf ſeinen
Hilferuf erſchallen gegen die Nützlichkeitsbarbaren, die ſich an dem alt-
ehrwürdigen Hochmeiſterſchloſſe zu Marienburg vergreifen wollten; die viel-
verſpottete Gothik wurde jetzt unter dem Namen der altdeutſchen Baukunſt
geprieſen.


So begann von allen Seiten her die Einkehr in das deutſche Leben;
ein großer Umſchwung kündigte ſich an, der bald nachher durch den Druck
des fremden Joches, durch das Erwachen des Nationalhaſſes beſchleunigt
wurde. Die äſthetiſche Freude am Alten und Volksthümlichen machte die
Romantiker zu Gegnern der Revolution; ſie haßten „den glattgewalzten
Raſen“ der modernen Rechtsgleichheit, ſie haßten das Naturrecht, das die
ſchöne Mannichfaltigkeit der hiſtoriſchen Erſcheinungen unter die Scheere
ſeiner kahlen Regeln nahm, ſie verabſcheuten das neue Weltreich, das den
Reichthum nationaler Staats- und Rechtsbildungen zu zerſtören drohte.
Es geſchah zum erſten male in aller Geſchichte und konnte nur in einem
ſo durchaus idealiſtiſchen Volke geſchehen, daß eine urſprünglich rein äſthe-
tiſche Bewegung die politiſchen Anſchauungen verjüngte und umgeſtaltete.
Für dies Geſchlecht war die Poeſie wirklich der Ocean, dem Alles ent-
ſtrömte. Wenn Wiſſenſchaft, Glauben und Kunſt als die nothwendigen
Gebilde des Volksgeiſtes verſtanden werden ſollten, ſo doch ſicherlich auch
Recht und Staat; früher oder ſpäter mußte dieſer nothwendige Schluß
gezogen und der Gedanke des nationalen Staates für die deutſche Wiſſen-
ſchaft erobert werden. Die Verbindung zwiſchen Friedrich Gentz und
der romantiſchen Schule beruhte auf dem Gefühle einer tiefen inneren
Verwandtſchaft, und gradeswegs aus den geſchichtsphiloſophiſchen Ideen
und Ahnungen der Romantiker iſt nachher die hiſtoriſche Staatslehre Nie-
buhrs und Savignys hervorgegangen.


Ebenſo folgenreich wurde die Wiederbelebung des religiöſen Gefühls,
die ſich in dem jungen Geſchlechte vorbereitete. Die claſſiſche Dichtung
hielt ſich dem kirchlichen Leben fern; ſie wollte „aus Religion“ keine der
beſtehenden Religionen bekennen, obgleich ſie mit den ſittlichen Grund-
gedanken des Proteſtantismus innig verwachſen war. Kant ſah in der
Religion die Erkenntniß unſerer Pflichten als göttlicher Gebote, die Auf-
nahme des Göttlichen in den Willen; ſeine erhabene Strenge wurde den
Gefühlen des gläubigen Herzens, dem Drange der Erhebung und Er-
gebung nicht völlig gerecht. Eben dieſe wunderbare Welt des Gefühles,
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 14
[210]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
der ahnenden Sehnſucht zog die Blicke der Romantiker unwiderſtehlich an.
Während ihre Schwarmgeiſter an der ſinnlichen Schönheit des katholiſchen
Cultus ſich berauſchten oder nach einer neuen äſthetiſchen Weltreligion
ſuchten, ſtand der junge Schleiermacher feſt auf dem Boden des Pro-
teſtantismus. Sein Geiſt war zu ſehr auf die Welt des Handelns ge-
richtet um, gleich den Weimariſchen Poeten, die Wirklichkeit über dem
heiteren Spiele der Kunſt zu vergeſſen, und doch zu künſtleriſch um bei
der unerbittlichen allgemeinen Regel des kategoriſchen Imperativs ſich zu
beruhigen. Die Perſönlichkeit, die ihre Eigenart frei entfaltet und zugleich
den großen objectiven Ordnungen des Staates und der Geſellſchaft ſich
mit Bewußtſein einfügt, war ihm die individuelle Form des allgemeinen
Sittengeſetzes. In ſeinen Reden über die Religion hielt er ihren ge-
bildeten Verächtern die Mahnung entgegen: „die Religion haßt die Ein-
ſamkeit“ und zeigte, wie ſie ihre Wurzeln im Gefühle habe, wie ſie ein
urſprüngliches, allem Handeln und aller Lehre vorangehendes Leben ſei,
eine ſittliche Macht, wirkſam in allen Menſchen; nur durch ſie könne der
Menſch mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und
ewig ſein in jedem Augenblicke. Und mit einem patriotiſchen Stolze, der
ſchon die Stimmungen ſpäterer Jahre voraus nahm, wies er auf die
unbezwingliche Macht der Heimath des Proteſtantismus: „denn Deutſch-
land iſt immer noch da, und ſeine unſichtbare Kraft iſt ungeſchwächt.“
Wie er die philoſophiſche Selbſtgenügſamkeit zum religiöſen Gemeinleben
heranrief, ſo wollte er ſie auch die Würde des Staates erkennen lehren:
der Staat iſt das ſchönſte Kunſtwerk der Menſchheit, giebt dem Einzelnen
erſt den höchſten Grad des Lebens, ſein Zwang darf alſo nicht als läſtige
Beſchränkung empfunden werden.


Zu verwandten Anſchauungen gelangte auch jener geſtrenge ſteif-
nackige Denker, dem Schleiermachers Gemüthsreichthum als weibiſche
Schwäche erſchien; denn nur unter beſtändigen Kämpfen trotziger, eigen-
richtiger Perſönlichkeiten vollendete ſich die literariſche Bewegung, die uns
Rückſchauenden heute ſo einfach, ſo nothwendig erſcheint. Mit Fichtes
Philoſophie ſprach der transcendentale Idealismus ſein letztes Wort. Er
beſtritt der Welt der Erfahrung kurzweg jede Realität: nur weil das ſitt-
liche Handeln eine Bühne fordere, nur deßhalb ſei der Geiſt gezwungen
eine Außenwelt aus ſich herauszuſchauen und als wirklich anzunehmen.
Auch in ſeinen politiſchen Schriften ſchien der verwegene Mann alle
Schranken der hiſtoriſchen Wirklichkeit zu mißachten. Das Ideal des Zeit-
alters, den ewigen Frieden, wollte er verwirklichen durch die völlige Auf-
hebung des Welthandels, dergeſtalt daß die „geſchloſſenen Handelsſtaaten“
nur noch durch den Austauſch wiſſenſchaftlicher Gedanken mit einander
verkehrten; und in ſeinen Reden über die Grundzüge des gegenwärtigen
Zeitalters rühmte er geradezu als das Vorrecht des ſonnenverwandten
Geiſtes, daß er ſich von der Scholle löſe und als ein Weltbürger ſein
[211]Literariſcher Nationalſtolz.
Vaterland da finde „wo Licht iſt und Recht“. Und doch redete ſchon
aus dieſen Vorträgen ein thatenfroher Sinn, der über die Welt der
Theorie hinausſtrebte. Jeder Satz predigte den ſtrengen Dienſt der Pflicht;
es giebt nur eine Tugend: ſich ſelbſt als Perſon zu vergeſſen, und nur
ein Laſter: an ſich ſelbſt zu denken. Der alſo ſprach, wußte ſelber noch
nicht recht, daß er in ſeinen herben Mahnungen an die ſchlaffe Zeit die
mannhaften Tugenden des alten Preußens verherrlichte. Nur als eine
kühne Ahnung warf er den Gedanken hin, der mit ſeinen weltbürgerlichen
Träumen in ſchneidendem Widerſpruche ſtand: am letzten Ende ſei doch
der Staat der Träger aller Cultur und darum berechtigt jede Kraft des
Einzelnen für ſich in Anſpruch zu nehmen.


Alſo bereitete ſich im Schooße der Literatur ſelber eine neue politiſche
Bildung vor. Wer die unheimlichen Widerſprüche der deutſchen Zuſtände
nur flüchtig betrachtete — ſolche Blüthe des geiſtigen und ſolchen Jammer
des politiſchen Lebens dicht neben einander — der mochte ſich wohl an
jene Zeiten des makedoniſchen Philippos gemahnt fühlen, da die Thebaner
auf dem Grabe griechiſcher Freiheit, auf dem Schlachtfelde von Chaironeia
das herrliche Löwendenkmal errichteten und Lykurgos das beſiegte Athen
mit ſeinen Prachtbauten ſchmückte: ganz ſo unſicher wie einſt Hellas zwiſchen
Perſien und Makedonien ſtand das gedankenſchwere Deutſchland zwiſchen
Oeſterreich und Frankreich. In Wahrheit lagen die deutſchen Dinge
keineswegs ſo hoffnungslos. Der trübſelige Spruch, daß die Eule der
Minerva erſt in der Dämmerung ihren Flug beginne, gilt für Hellas,
nicht für Deutſchland. Unſere claſſiſche Literatur war nicht das Aus-
klingen einer alten Geſittung, ſondern der vielverheißende Anfang einer
neuen Entwicklung. Hier faßte kein Ariſtoteles die letzten Ergebniſſe einer
Cultur, die zu Grabe ging, in einem großen Gedankenſyſteme zuſammen,
ſondern ein junges, in allen ſeinen Verirrungen lebensfrohes und zukunfts-
ſicheres Geſchlecht überraſchte die Welt mit immer neuen Entdeckungen.
Keinen Augenblick iſt den geiſtigen Führern der Nation der Glaube an
Deutſchlands große Beſtimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden
Verfaſſung, ſagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen bleiben die
Deutſchen doch die Rettung Europas. Im ſelben Sinne ſchrieb Novalis:
während andere Völker in Parteikämpfen oder in der Jagd nach dem
Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde ſich der Deutſche mit allem Fleiße
zum Zeitgenoſſen einer höheren Epoche der Cultur und werde im Laufe
der Zeit ein großes Uebergewicht über die anderen erlangen. Selbſt der
ſchwermüthige Hölderlin, dem die Ohnmacht der „thatenarmen und ge-
dankenvollen“ Deutſchen am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung:


Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt,

Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald?

Die Geſinnung der Knechte iſt dieſem Geſchlechte von Dichtern und
Denkern immer fremd geblieben. Wohl ſendete auch Deutſchland ſeine
14*
[212]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Pilger zu dem großen Fremdenzuge, der während des Conſulats und der
erſten Jahre des Kaiſerreichs von allen Enden Europas nach Paris
ſtrömte. Die erſten Kunſtſchätze der Erde lagen dort aufgeſpeichert wie
einſt im kaiſerlichen Rom, und wieder wie in den Tagen des Auguſtus
verſammelte ſich ein weltbürgerliches Publikum, das mit feinem Urtheil
aus dem Schönen das Schönſte herausfand; erſt in der Weltgalerie des
Louvre iſt die überwältigende Größe Rafaels erkannt worden. Den deut-
ſchen Schöngeiſtern ward es in den heimiſchen Kleinſtädten zu eng, ſie
eilten nach der Seine und berauſchten ſich an den edlen wie an den ge-
meinen Freuden der Hauptſtadt der Welt. Aber mitten in dem ſinn-
berückenden Glanze blieb ihnen das Gefühl der eigenen Ueberlegenheit;
ſie vergaßen es nicht, daß die Franzoſen an dieſer zuſammengeraubten
Herrlichkeit gar kein Verdienſt hatten, ſondern ſoeben erſt, durch die Werke
Laplaces, langſam begannen aus der Barbarei wieder zur Cultur emporzu-
ſteigen. Während Friedrich Schlegel die Schildkrötenſuppen und die nackten
Actricen der neuen Babylon bewundert, ſchreibt er zugleich: „Paris hat den
einzigen Fehler, daß ziemlich viel Franzoſen dort ſind“, und ſeine Dorothea
fügt hinzu: „wie dumm die Franzoſen ſind, das iſt ganz unglaublich.“
Schöner als dieſe ſpottluſtigen Weltkinder hat Schiller den Nationalſtolz
ſeines Denkervolkes ausgeſprochen. Er wußte, daß die Siege Kants und
Goethes ſchwerer wogen als die Lorbeeren von Marengo, daß die Deutſchen
noch immer ein Recht hatten ihre prahleriſchen Nachbarn an die ewigen
Güter der Menſchheit zu erinnern, und ſagte über das Pantheon der
Pariſer Plünderer ſtolz und groß:


Der allein beſitzt die Muſen,

Der ſie hegt im warmen Buſen;

Dem Vandalen ſind ſie Stein!

Dahin war es nun ſchon gekommen, daß nur noch ein Bund der
vier großen Mächte das übermächtige Frankreich in ſeine Schranken zurück-
weiſen konnte. Aber Oeſterreich hatte die Schläge der letzten Kriege noch
nicht verwunden. Der junge Czar begann zwar ſeit dem Frühjahr 1803
ernſtlich beſorgt zu werden über die Unerſättlichkeit der napoleoniſchen
Politik, die er in den deutſchen Entſchädigungshändeln genugſam kennen
gelernt, doch ſeine knabenhafte Unſicherheit fand noch keinen feſten Ent-
ſchluß. Preußen bemühte ſich ängſtlich das Gleichgewicht zu behaupten
zwiſchen den gefürchteten beiden Koloſſen des Oſtens und des Weſtens,
Rußlands Freundſchaft zu bewahren ohne Frankreich zu verletzen. Nur
in der glücklichen Sicherheit des britiſchen Inſelreichs fühlte man ſich ſtark
genug den Dingen ins Geſicht zu ſehen. Der Friede von Amiens, der
den Krieg zwiſchen den beiden Todfeinden abgeſchloſſen hatte, erwies ſich
ſofort als ein unſicherer Waffenſtillſtand: in Italien, in Holland, in der
[213]Wiederausbruch des engliſch-franzöſiſchen Krieges.
Schweiz, in Deutſchland, überall drang der erſte Conſul herriſch vor, ohne
jede Rückſicht auf die Verträge. Schwerer als all dies wog in den Augen
des Handelsvolks die Verletzung der wirthſchaftlichen Intereſſen der Inſel:
die Nation fühlte ſich in den Grundfeſten ihrer Macht bedroht, als
Frankreich, Spanien, Italien und Holland durch Bonaparte den engliſchen
Waaren verſchloſſen wurden. In voller Uebereinſtimmung mit ſeinem
Volke weigerte ſich der Hof von St. James, Malta zu räumen ſo lange
Holland und die Schweiz von franzöſiſchen Truppen beſetzt ſeien. Bona-
parte hatte unterdeſſen längſt beſchloſſen den Krieg mit dem unangreif-
baren Feinde wieder aufzunehmen. Schon im März 1803, lange bevor
der Bruch zwiſchen den beiden Weſtmächten erfolgte, ſendete er ſeinen
Vertrauten Duroc nach Berlin mit der Anzeige, daß er ſich genöthigt
ſehe Hannover in Beſchlag zu nehmen. Da er Englands Seemacht nicht
bewältigen konnte, dachte er durch die Beſetzung von Tarent und Hannover
dem britiſchen Handel die Abſatzwege nach Italien und dem deutſchen
Norden zu ſperren.


So war der letzte und einzige Stolz der preußiſchen Politik, die
Neutralität Norddeutſchlands in Frage geſtellt. Um den gleichen Schlag
vom deutſchen Reiche abzuwenden hatte einſt Friedrich den Weſtminſter-
Vertrag geſchloſſen, die Gefahren des ſiebenjährigen Krieges auf ſich ge-
nommen, und dies in Zeiten, da das linke Rheinufer noch deutſch, die
Macht Frankreichs bei Weitem weniger furchtbar war. Selbſt Graf
Haugwitz rieth dringend durch einen entſchloſſenen Einmarſch dem erſten
Conſul zuvorzukommen. Die Lage war freilich keineswegs einfach. In
Wien ſah man die Verlegenheiten Preußens mit offenbarer Genugthuung,
ein Hilfegeſuch der hannoverſchen Regierung wurde kurz abgewieſen, von
den Pflichten des Reichsoberhauptes war keine Rede mehr. England that
gar nichts um das Stammland ſeiner Könige, die Pflanzſchule ſeiner
beſten Soldaten vor einem Ueberfalle zu ſichern. In Hannover ſelbſt
war die Occupation, welche Preußen vor zwei Jahren zum Beſten des
Landes gewagt, ſehr übel aufgenommen worden; ſtatt der freundnachbar-
lichen Geſinnung der fridericianiſchen Zeiten herrſchten Verſtimmung und
Mißtrauen. Doch was wogen dieſe Bedenken gegenüber dem drängenden
Gebote der Ehre und der Selbſtbehauptung? Der letzte Reſt des preu-
ßiſchen Anſehens fiel dahin, wenn franzöſiſche Truppen ungehindert mitten-
hinein zwiſchen die öſtlichen und die weſtlichen Provinzen, bis dicht vor
die Wälle der Hauptfeſtung Magdeburg drangen. Aus Bonapartes ſpäteren
Aeußerungen geht mit Sicherheit hervor, daß ein rechtzeitiger kräftiger Ent-
ſchluß des Berliner Hofes in jenem Augenblicke den Krieg mit Frankreich
nicht herbeigeführt hätte. Der erſte Conſul lebte und webte damals in
den grandioſen Plänen der Eroberung Englands. Er verſammelte ſein
Heer an der Küſte von Boulogne, und dort in der ſtrengen militäriſchen
Schule eines zweijährigen Uebungslagers brachte er die techniſche Aus-
[214]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
bildung ſeiner großen Armee zur Vollendung. Im Volke wallte der
Nationalhaß des fünfzehnten Jahrhunderts wieder auf; eine Transport-
flotte, durch freiwillige Beiträge der Nation erheblich verſtärkt, lag bereit
das Heer an die feindliche Küſte zu führen. Wenn es nur gelang zwölf
Stunden lang den Canal zu beherrſchen, dann mußte die Landung gewagt
werden, und — „dann wird England nicht mehr ſein“, ſagen Bonapartes
Briefe; die Unabhängigkeit Irlands und die Zerſtörung des britiſchen
Reichthums ſollten die Macht des Inſelreichs für immer vernichten. In
ſolchen Träumen verloren konnte Bonaparte für jetzt einen Bruch mit
Preußen nicht wünſchen.


König Friedrich Wilhelm wollte, getreu dem leitenden Gedanken ſeiner
auswärtigen Politik, das Wagniß nur unternehmen, wenn er ſich im
Rücken durch Rußland gedeckt wußte. Er ließ, nachdem er in Paris und
London ſchüchtern zur Erhaltung des Friedens gemahnt hatte, bei dem
Czaren anfragen, ob Preußen auf Rußlands Hilfe rechnen könne. In
Petersburg aber gab die blinde Preußenfeindſchaft des hannoverſchen
Junkerthums den Ausſchlag. Der engliſch-hannoverſche Geſandte am
ruſſiſchen Hofe, Graf Münſter theilte den unauslöſchlichen Haß der eng-
liſchen Hochtorys gegen den Erben der Revolution, aber auch den tiefen
Widerwillen des hannoverſchen Adels gegen die Rechtsgleichheit und das
ſchlichte, bürgerlich ſoldatiſche Weſen des preußiſchen Staates: in Preu-
ßens Anerbieten ſah er nur eine Falle, nur einen feindſeligen Anſchlag
gegen die Unabhängigkeit Hannovers. Auf Münſters Rath ertheilte Czar
Alexander ſeinem königlichen Freunde eine ablehnende Antwort. Und da
überdies England ſich weigerte, zu Gunſten der preußiſchen Flagge ſeine
harten Schifffahrtsgeſetze zu mildern, ſo wurde die hannoverſche Regierung,
als ſie endlich eigenmächtig in der elften Stunde um Preußens Hilfe bat,
abſchlägig beſchieden.


Mitten im Frieden des Reichs rückte das Armeecorps Mortiers un-
geſtört in das Reichsland Hannover ein, das nach Völkerrecht mit dem
engliſch-franzöſiſchen Kriege nichts gemein hatte. Die Unfähigkeit der
alten Staatsgewalten bereitete den bonapartiſchen Heerſchaaren abermals
ein leichtes Spiel. Das treue Volk haßte den Franzoſen als den Erb-
feind, noch von den Siegen Ferdinands von Braunſchweig her, und war
gern bereit den alten niederſächſiſchen Schlachtenmuth wieder an dem
Franzmann zu erproben, „wenn hei nich ruhig ſin kann“. Aber das
feige Adelsregiment in Hannover gab den Truppen den Befehl, „keine
Ombrage zu erregen“, und überlieferte, ohne jeden Verſuch ernſten Wider-
ſtandes, durch den Vertrag von Suhlingen das ganze Land dem feind-
lichen Heerführer. Zum zweiten male binnen fünfzig Jahren ward die
tapfere hannoverſche Armee durch eine ehrloſe Politik zur Capitulation
gezwungen. Und diesmal folgte nicht, wie einſt auf den Tag von Kloſter
Zeven, ein rettendes Eingreifen der britiſchen Regierung: England ließ die
[215]Beſetzung von Hannover.
Franzoſen gewähren. Am 4. Juni 1803 zogen die franzöſiſchen Truppen,
zur Feier des Geburtstages Georgs III., in die Stadt Hannover ein.
Mortier ſperrte die Elbe und Weſer, erhob Contributionen im Gebiete der
Hanſeſtädte. Zwei Jahre lang währte die Beſetzung und Ausſaugung des
hannoverſchen Landes; Bonaparte gab eigenhändig Anweiſungen, wie der
königliche Marſtall nach Paris geſchafft, die Forſten zum Beſten der fran-
zöſiſchen Flotte verwüſtet werden ſollten. Eine zweite noch ſchimpflichere
Capitulation führte ſodann zur Entwaffnung der kleinen Armee. Den Tod
im Herzen, fluchend auf die Hundsvötter von der Regierung und den Land-
ſtänden, ließen die verrathenen Soldaten die Schande über ſich ergehen.
Hunderte entkamen einzeln an Bord engliſcher Schiffe und traten in die
deutſche Legion des Königs von Großbritannien. Jedermann im Lande
unterſtützte die Flüchtigen und half ihnen weiter; das Volk hielt zuſammen
wie in einer großen Verſchwörung. Die unglücklichen Capitulanten von
Suhlingen bildeten den Kern jener glorreichen Regimenter, welche nachher
in Spanien den Kampf gegen Frankreich wieder aufnahmen und das
ſtolze Peninsula auf ihre Fahnen ſchrieben. So unverwüſtlich dauerte
die alte Treue im deutſchen Volke; nur der große Wille fehlte, der ſolche
herrliche Kräfte würdig zu benutzen verſtand.


Als es zu ſpät war erkannte Czar Alexander den begangenen Fehler.
Das Berliner Cabinet aber bemühte ſich in vergeblichen Unterhandlungen
den erſten Conſul zur Räumung des hannoverſchen Landes zu bewegen. Die
holden Täuſchungen, welche der leichtgläubige Lombard von einer Unter-
redung mit Bonaparte aus Brüſſel heimbrachte, verflogen ſchnell. Bald
erfuhr man, daß Frankreich die preußiſche Allianz verlangte, ohne irgend
eine ernſte Gegenleiſtung zu verſprechen. Der König fühlte, daß er einen
ſolchen Schritt vor ſeinem Lande nicht verantworten könne, und wendete
ſich wieder an Rußland um ſeinen Staat aus einer unerträglichen Preſſung
zu befreien. Es war ſein Verdienſt, daß am 4. Mai 1804 Preußen und
Rußland ſich zu gegenſeitiger Hilfe verpflichteten, falls Bonaparte noch in
andere deutſche Reichslande übergreifen ſollte. Aber zugleich unterhandelte
man mit Frankreich, erhielt die unbeſtimmte Zuſage, daß die franzöſiſchen
Truppen nicht über die hannoverſchen Grenzen hinausſchreiten würden,
und verbürgte ſich für die Neutralität Norddeutſchlands. Noch immer
fehlte es in Berlin nicht an guten Einfällen und Abſichten. Man ließ
in Weimar wegen einer Erneuerung des Fürſtenbundes anfragen, und
Hardenberg, der ſeit April 1804 dem Miniſterium angehörte, ſprach bereits
die Idee aus, welche nachher in der zweiten Hälfte ſeines öffentlichen Lebens
den Grundgedanken ſeiner deutſchen Politik gebildet hat: den Plan, ganz
Deutſchland zu einem Staatenbunde unter der gemeinſamen Führung
Oeſterreichs und Preußens zu vereinigen. Doch jedem guten Einfall
brach die friedensſelige Aengſtlichkeit des Cabinets die Spitze ab. Alle
preußiſchen Staatsmänner ſchmeichelten ſich mit dem Wahne, der durch
[216]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
die Erfahrungen der jüngſten fünfzehn Jahre beſtätigt zu werden ſchien:
als ob der Staat durch friedliche Verhandlungen einen Gewinn, eine
Verſtärkung ſeines unhaltbaren Beſitzſtandes erlangen könne. Auch der
gewandte neue Miniſter des Auswärtigen war noch weit entfernt von der
Einſicht, daß allein ein europäiſcher Bund gegen Frankreich die Rettung
bringen konnte, ſondern erhoffte von Frankreichs Freundſchaft eine Ver-
größerung des preußiſchen Gebiets.


Indeſſen mußte das heilige Reich den Becher der Schande bis zur
Hefe leeren. Als Bonaparte den Herzog von Enghien auf badiſchem Ge-
biete aufheben und zum Tode führen ließ, da wagten in Regensburg nur
die fremden Mächte Rußland, Schweden und England Genugthuung zu
fordern für die frevelhafte Verletzung des Reichsfriedens. Baden dagegen
erſuchte, auf Napoleons Befehl, inſtändig, die peinliche Angelegenheit nicht
zu verfolgen, die übrigen Geſandten aber traten vor der Zeit ihre Ferien
an, ſchnitten durch die Flucht jede weitere Verhandlung ab. Im Mai 1804
wurde das napoleoniſche Kaiſerthum gegründet; und es lag vor Augen:
die Krone, womit dieſer Uſurpator unter dem Segen des Papſtes ſeinen
Scheitel ſchmückte, war das Diadem der Caeſaren und der Karolinger.
Das römiſche Kaiſerthum ging von den Habsburg-Lothringern auf die
Napoleons über. Unverhohlen ſprach der Gewaltige ſchon von dem Kaiſer-
thum des Abendlandes; alle die altrömiſchen Erinnerungen, die in der
galliſchen Miſchcultur ſich erhalten hatten, rief er wach; die Adler des
kaiſerlichen Roms prangten auf den Feldzeichen ſeiner Legionen. Und ſchon
fragte er drohend in ſeinen Briefen: ob wohl Oeſterreich oder Rußland
die Narrheit begehen würden die Fahne der Empörung zu erheben?


Vergeblich beſchwor Gentz den Wiener Hof: die Anerkennung dieſer
angemaßten Krone werde den Unerſättlichen, der nur groß ſei durch die
Kleinheit ſeiner Knechte, zu neuen Uebergriffen ermuthigen. Der geiſtvolle
Anwalt der alten Staatengeſellſchaft erfand bereits die vieldeutige Formel,
welche nachher den Höfen bei der Bekämpfung des Bonapartismus zur
Richtſchnur gedient hat; es gelte, ſo ſchrieb er, das hiſtoriſche Recht zu
behaupten gegen das Recht der Empörung, gegen die Idee der Volks-
ſouveränität. Die ermüdete öſterreichiſche Politik blieb für ſolche Ideen
vorderhand noch ganz unempfänglich. Die Krone Karls des Großen war
ihrem rechtmäßigen Träger längſt verleidet, zumal da das Haus Lothringen
auf die Stimmen der Kurfürſten nicht mehr ſicher rechnen konnte. Kaiſer
Franz benutzte alſo die Aufrichtung der napoleoniſchen Monarchie um
den hohen Rang ſeines Hauſes für alle Zukunft ſicher zu ſtellen. Mit
Zuſtimmung Napoleons nahm er den Namen eines Kaiſers von Oeſter-
reich an, und zum Danke erhielt der Uſurpator die Anerkennung des
alten Kaiſerhauſes. So wurde das Kaiſerthum Oeſterreich, das in Wahr-
heit ſchon ſeit Leopold I. beſtand, förmlich begründet; die Hauspolitik der
Habsburg-Lothringer, die ſeit drei Jahrhunderten allein auf die Wahrung
[217]Napoleoniſches Kaiſerthum.
ihrer Erblande bedacht geweſen, erreichte ihr natürliches Ziel. Die Titel
des römiſchen Kaiſers behielt der Wiener Hof vorläufig noch bei, doch
unmöglich konnte er ſein bizarres Doppelkaiſerthum, wie Talleyrand es
ſpottend nannte, auf die Dauer behaupten. Ueber lang oder kurz mußte
der jedes Sinnes entkleidete altheilige Name verſchwinden; die Macht der
karolingiſchen Kaiſerkrone lag in Napoleons Händen.


In Berlin begrüßte man das bonapartiſche Kaiſerthum als eine neue
Bürgſchaft für die bürgerliche Ordnung Frankreichs und ſäumte nicht die
Anerkennung auszuſprechen; aber von der norddeutſchen Kaiſerkrone, welche
Napoleons Diplomaten in unbeſtimmten Andeutungen darboten, wollte
Friedrich Wilhelms beſcheidener Sinn nichts hören. Die kleinen Reichs-
ſtände, die guten wie die ſchlechten, Baden und Heſſen-Rothenburg, Fürſten-
berg und Leiningen, Bremen und Augsburg ſendeten dem gekrönten Plebejer
unterwürfige Glückwunſchſchreiben, deren byzantiniſche Niedertracht ſelbſt
die Schmeicheleien der Franzoſen in Schatten ſtellte. Sie unterzeichneten
ſich als Seiner Majeſtät allerunterthänigſte und allergehorſamſte Diener,
feierten den Hort und Beſchützer der deutſchen Verfaſſung, den Helden
und Friedensbringer, zu deſſen glänzendem und wohlthätigem Genie der
Welttheil in ſtummer Bewunderung aufblicke, ſchilderten beweglich, mit
welcher Freude alle deutſchen Herzen dieſen neuen Caeſar empfingen, der
ihrem erſten Kaiſer Karl ſo ähnlich ſei, dankten inbrünſtig für die bei den
deutſchen Entſchädigungshändeln empfangenen Wohlthaten und empfahlen
ſich ſchließlich zu huldvoller Berückſichtigung für den Fall einer neuen
Ländervertheilung.


Um das Maß der deutſchen Entwürdigung zu füllen hielt Napoleon
im Herbſt 1804 eine Rundreiſe durch die neugewonnenen rheiniſchen
Lande. In der alten Kaiſerſtadt Aachen übergab ihm der Geſandte des
Kaiſers Franz ſein neues Beglaubigungsſchreiben; aufrichtiger Jubel des
Volks empfing den Friedensfürſten in allen rheiniſchen Städten. Dann
hielt er in Mainz ſeinen prunkenden Hoftag, in denſelben Räumen, wo
zwölf Jahre zuvor das alte Reich ſeine letzten Feſte gefeiert hatte. Die
Fürſten des Südens und des Weſtens eilten herbei dem Nachfolger Karls
des Großen ihre Huldigungen darzubringen. Alles ſchwelgte in karo-
lingiſchen Erinnerungen; ſchon beſprach man die Pläne für einen zweiten
rheiniſchen Bund. Aber im einſamen Zimmer fiel der redliche alte Karl
Friedrich von Baden dem Erzkanzler Dalberg ſchluchzend in die Arme
und bejammerte den Untergang ſeines Vaterlandes. Was hatte dieſer
Fremdling gemein mit dem alten königlichen Bauersmanne der Germanen,
der Nachts die Reben des rheiniſchen Winzers ſegnet? was wußte er
von jenem Zauberringe der Faſtrade, der einſt den deutſchen Karl zum
deutſchen Strome zog? Eine harte, mißtrauiſche Fremdherrſchaft laſtete
auf Deutſchland noch bevor ſeine Fürſten ſich dem Imperator förmlich
unterworfen hatten. Ueberall im Reiche hielt Napoleon ſeine Späher;
[218]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
zehn Spione, ſo ſchrieb er, genügen kaum für eine Stadt wie Hamburg.
Niemand war ſicher vor den Griffen ſeiner Polizei. Der in Hamburg
von den Franzoſen aufgegriffene engliſche Agent Rumbold wurde zwar
auf die Verwendung des Königs von Preußen wieder freigegeben; doch
Napoleons Vertraute wußten, ihr Herr würde dem Hohenzollern dieſe
Auflehnung gedenken.


Während die deutſchen Mächte die neue Kaiſerkrone anerkannten,
herrſchte am Petersburger Hofe eine erregte kriegeriſche Stimmung. Der
junge Czar hatte ſeit der Ermordung des Herzogs von Enghien gänzlich mit
Frankreich gebrochen; er erſah dann aus Napoleons herausfordernden Er-
widerungen, daß dieſer einen neuen Feſtlandskrieg wünſchte, begann Ver-
handlungen in Wien und London und erging ſich bereits in dem ſchwärme-
riſchen Traume einer großen Völkerbefreiung, den er acht Jahre ſpäter
wieder aufnahm. Er wollte ſich ſchlagen für die Freiheit Europas, nicht
Frankreich bekämpfen, ſondern die Perſon des Uſurpators, die wiederher-
geſtellten alten Staaten durch freiſinnige Verfaſſungen beglücken, das
befriedete Europa zu einem dauernden heiligen Völkerbunde vereinen.
Nach langem Zaudern kam Oeſterreich dem Drängen Alexanders um
einen Schritt entgegen und ſchloß im December 1804 ein Vertheidigungs-
bündniß mit Rußland für den Fall, daß Napoleon in Italien weiter um
ſich griffe.


Wenn die preußiſche Politik die Zeichen der Zeit verſtand, ſo mußte
ſie den kriegeriſchen Eifer Alexanders zugleich zu benutzen und zu zügeln
ſuchen. Nicht ein unzeitiger Krieg konnte die Freiheit des Welttheils
retten, ſondern allein eine wohlvorbereitete, im rechten Augenblicke gleich-
zeitig gewagte Schilderhebung der drei Oſtmächte. Napoleons Gedanken
verweilten noch immer bei ſeiner armée navale und dem Plane der
Landung in England. Er brannte vor Begier „ſechs Jahrhunderte der
Schmach und der Beleidigung zu rächen: iſt dies größte aller Ziele
erreicht, ſo fällt alles Uebrige von ſelbſt!“ Mit Abſicht reiſte er im
Sommer 1805 lange in Italien, um die Augen der Welt von den Küſten
des Canals hinwegzulenken und dann urplötzlich in Boulogne zu erſcheinen,
„das große Ereigniß, dem ganz Europa entgegenzittert“, zu vollenden.


Die Klugheit gebot, den wahrſcheinlichen Mißerfolg dieſer abenteuer-
lichen Pläne abzuwarten und unterdeſſen in der Stille für den Feſtlandskrieg
zu rüſten; waren doch Oeſterreichs Heer und Haushalt in ſo kläglichem Zu-
ſtande, daß der bedeutendſte Mann der kaiſerlichen Armee, Erzherzog Karl
dringend zum Frieden mahnte. Eine Verſöhnung zwiſchen den Höfen von
Berlin und Wien ſchien jetzt nicht mehr unmöglich. Erzherzog Johann und
der patriotiſche Kreis, der ſich um ihn ſchaarte, vertraten längſt die Anſicht,
daß man ohne Preußen nichts ausrichten könne; auch Gentz, der ſich in
ſeinem Haſſe gegen die Revolution mehr und mehr verbitterte und bereits
alle Sünden der neuen Geſchichte auf den Proteſtantismus zurückführte,
[219]Dritte Coalition.
blieb doch Staatsmann genug um die Verſtändigung mit Preußen zu
fordern. Wie tief ſich auch das Mißtrauen gegen den nordiſchen Neben-
buhler eingefreſſen hatte, die Unentbehrlichkeit der preußiſchen Waffenhilfe
konnte man in der Hofburg nicht ganz verkennen; im Verlaufe der ge-
heimen Verhandlungen von 1805 ließ Oeſterreich einmal alles Ernſtes
in Berlin eine Neugeſtaltung der deutſchen Verfaſſung vorſchlagen alſo
daß der Norden unter Preußens, der Süden unter Oeſterreichs Ober-
hoheit käme. Aber am preußiſchen Hofe überwog noch immer der landes-
väterliche Wunſch nach geſicherter Ruhe; man hoffte den Frieden auf dem
Feſtlande zu erhalten, wo nicht, die Neutralität Norddeutſchlands zu be-
haupten. Selbſt Hardenberg erging ſich noch in optimiſtiſchen Träumen;
er fand, die Macht Frankreichs werde allgemein überſchätzt, und wollte die
Hände frei behalten um nöthigenfalls ſelbſt durch ein franzöſiſches Bünd-
niß die nothwendige Verſtärkung der Monarchie, vor Allem die Einver-
leibung Hannovers, zu erreichen. Es war ſein Werk, daß Preußen auf
die Anfragen der beiden Kaiſerhöfe gar keine beruhigende Zuſage gab.


So überließ ſich denn der junge Czar, durch keinen überlegenen Willen
gebändigt, haltlos den Einfällen ſeines unruhigen Kopfes. Dem großen
Staatsmanne, der ſeit zehn Jahren faſt ununterbrochen den zähen Kampf
Englands gegen Frankreich leitete, fehlte, wie allen britiſchen Diplomaten,
die gründliche Kenntniß feſtländiſcher Verhältniſſe. Unbedacht ging William
Pitt auf die verworrenen Pläne Alexanders ein; ſchon im April 1805
wurde das geheime Kriegsbündniß zwiſchen Rußland und England ab-
geſchloſſen. Unterdeſſen ſetzte ſich Napoleon die italieniſche Königskrone
auf das Haupt und ſchrieb dem Czaren wie zum Hohne: nur der Wunſch
der italieniſchen Nation nöthige ihn dies Opfer ſeiner Größe zu bringen.
Dann wurde die liguriſche Republik dem Kaiſerreiche einverleibt und da-
durch auch das zaudernde Oeſterreich in das Lager der dritten Coalition
hinübergedrängt. Gewaltige, weitausſehende Entwürfe beſchäftigten die
verbündeten Höfe: man wollte Frankreichs Grenzen bis zum Rhein und
zur Moſel zurückſchieben, für Deutſchland, Holland und die Schweiz die
volle Unabhängigkeit wiedergewinnen, die Kronen von Frankreich und
Italien für immer trennen; man hoffte, ganz im Sinne der alten engliſch-
niederländiſchen Barrierenpolitik, die ausgreifende Macht des franzöſiſchen
Staats durch die Verſtärkung von Holland, Piemont und der Schweiz
zu bändigen. Für Preußen war, wenn es noch beitrat, das oraniſche
Fulda und das niederrheiniſche Land von der Moſel bis zur niederländiſchen
Grenze in Ausſicht genommen. Ein allgemeiner Congreß ſollte nach dem
Siege die neue Ländervertheilung ordnen; ſelbſt die Entthronung des
Corſen hielt man nicht für unerreichbar. Aber zu ſo kühnen Abſichten
ſtanden die langſamen, ſchwächlichen Rüſtungen in einem ſchreienden Miß-
verhältniß. So gefährlich die zweite Coalition von 1799 für Frankreich
geweſen, ebenſo leichtſinnig und ausſichtslos war die dritte.


[220]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Unter den zahlreichen Mißgriffen der ungeduldig dahinſtürmenden
ruſſiſchen Politik rächte ſich keine ſo ſchwer, wie die übermüthige Gering-
ſchätzung gegen Preußen. Der zu Memel geſchloſſene Freundſchaftsbund
wurde jetzt zum erſten male geſtört durch die polniſchen Pläne des Czaren,
die ſeitdem für das gute Einvernehmen der beiden Nachbarmächte noch
auf lange hinaus bedrohlich blieben. Erzogen in den Anſchauungen der
modiſchen Aufklärung hatte Alexander von früh auf, wie ſein Lehrer
Laharpe, die Theilung Polens mit dem Blicke des franzöſiſchen Philo-
ſophen betrachtet. Er ſah in der furchtbaren Kataſtrophe nicht eine un-
erbittliche hiſtoriſche Nothwendigkeit, ſondern eine ſchlechthin bejammerns-
werthe Gewaltthat, die Rechtfertigung aller Gräuel der Revolution. Der
Gedanke, dieſe blutbefleckte Erbſchaft aus den Händen ſeiner Großmutter
empfangen zu müſſen, laſtete ſchwer auf ſeinem ſchwachen Gemüthe. In
ſolcher Stimmung lernte er noch als Großfürſt den Prinzen Adam Czar-
toryski kennen, den Sohn jenes alten Fürſten, den eine polniſche Adels-
partei als ihren König Adam I. feierte. Unwiderſtehlich trat der gewandte
Pole dem Czarenſohne entgegen, geiſtreich, hochgebildet, an Jahren und
Welterfahrung dem Großfürſten überlegen, ein Meiſter in den Künſten
ſarmatiſcher Schmeichelei und Schmiegſamkeit; den Fremden erſchien er
gleich einem irrenden Ritter, der ſein verlorenes Vaterland ſucht, verklärt
und geadelt durch einen Hauch patriotiſcher Schwermuth. Viele Jahre
lang haben die beiden Freunde nunmehr ſelbander tief geheime Entwürfe
geſchmiedet, wie die Unthat Katharinas zu ſühnen und Polen wieder her-
zuſtellen ſei. In Alexanders Geiſte lag die Berechnung dicht neben der
Gefühlsſeligkeit, ſeine menſchenfreundlichen Abſichten ſtimmten ſtets genau
mit ſeinem perſönlichen Vortheil überein; wenn er von der Befreiung
Polens träumte, ſo ſah er bereits die Krone der Jagiellonen auf ſeinem
eigenen Haupte glänzen.


Czartoryski verfolgte ſeine ſarmatiſchen Pläne mit einer Dreiſtigkeit,
die jedem Ruſſen als Landesverrath erſcheinen mußte, und mißbrauchte
ſein Amt als Curator der Univerſität Wilna um die polniſch-katholiſche
Bildung, den Todhaß wider die Ruſſen zu pflegen. Jetzt, da ihm die
Leitung der auswärtigen Angelegenheiten anvertraut wurde, begrüßte er
den Krieg der Coalition als ein willkommenes Mittel um Preußen auf
Napoleons Seite hinüberzudrängen und dann den gehaßten Nachbarſtaat
ſeiner polniſchen Provinzen zu berauben. Man wußte, daß die polniſchen
Patrioten noch immer hoffnungsvoll auf ihren alten Bundesgenoſſen
Frankreich blickten. Jahrelang hatte eine polniſche Legion unter dem
Banner der Tricolore gefochten; Napoleon überlegte bereits, wie ſich dies
unglückliche Volk als eine Waffe gegen die Oſtmächte gebrauchen ließe.
Darum rieth Czartoryski, der Czar möge den Franzoſen zuvorkommen und
ſelber die Freiheit Polens ausrufen. Der polniſche Leichtſinn traute ſichs
zu den Krieg gegen Preußen nebenbei mit abzuthun; Oeſterreich mochte
[221]Alexander und Czartoryski.
dann in Schleſien und Baiern die Entſchädigung finden für ſeinen gali-
zianiſchen Beſitz. Noch war der Czar nicht gänzlich für dieſe luftigen
Entwürfe gewonnen; aber ſo viel hatte der gewandte Pole doch erreicht,
daß ſein kaiſerlicher Freund völlig rückſichtslos gegen Preußen auftrat.
Die brünſtigen Freundſchaftsbetheuerungen von Memel ſchienen vergeſſen;
die Verhandlungen in Berlin wurden ruſſiſcherſeits mit einem beleidigen-
den Uebermuthe geführt als ob man beabſichtigte den preußiſchen Hof von
der Coalition hinweg zu ſcheuchen. Als König Friedrich Wilhelm unbeirrt
bei ſeiner Neutralität beharrte, war Alexander entſchloſſen, das ruſſiſche
Heer ſelbſt gegen den Willen des Königs durch preußiſches Gebiet nach
Oeſterreich zu führen.


Währenddem wurde der Erfolg der napoleoniſchen Anſchläge gegen
England immer fraglicher; den großartigen Plan, die Flotte Nelſons nach
Weſtindien zu locken und unterdeſſen den Canal zu ſäubern, vereitelte die
Wachſamkeit des britiſchen Seehelden. Napoleon erwog ſchon die Frage,
ob es nicht räthlich ſei das gewagte Unternehmen zwar nicht gänzlich auf-
zugeben — denn noch fünf Jahre ſpäter hielt Arthur Wellesley aus
guten Gründen einen neuen Landungsverſuch für wahrſcheinlich — doch
auf eine günſtigere Gelegenheit zu vertagen. Nichts konnte dem Impe-
rator in ſolcher Lage willkommener ſein als die Nachricht von den Rüſtungen
der Coalition. Begierig ergriff er den Vorwand, den ihm ſeine Gegner
boten, und frohlockte bei der Ausſicht „dies Skelett Franz den Zweiten,
den das Verdienſt ſeiner Vorfahren auf den Thron gebracht hat“, gänzlich
aus dem deutſchen Reiche verdrängen; „Deutſchland wird mehr Soldaten
ſehen als je zuvor!“ Indeß die große Armee unbemerkt in wunderbarer
Ordnung von Boulogne zum Rheine eilte, wurde der Kriegsſchauplatz an
der oberen Donau von franzöſiſchen Spähern ſorgfältig ausgekundſchaftet
und zugleich der glänzendſte der napoleoniſchen Feldzüge durch eine kluge
diplomatiſche Action umſichtig vorbereitet.


Vom heiligen Reiche ſtand kein Widerſtand zu befürchten. Der
Regensburger Reichstag vertiefte ſich ſoeben in die wichtigen Verhand-
lungen über die Eutiner Gemeinweiden und füllte mit dieſer Berathung
die Galgenfriſt, die ihm noch vergönnt war, würdig aus. Zu ſeinen
alten Schützlingen, den Höfen der ſüddeutſchen Mittelſtaaten, ſprach
der Imperator jetzt offen als Schirmherr des dynaſtiſchen Particularis-
mus: er komme Deutſchlands Freiheit zu retten, nimmermehr dürften
deutſche Fürſten als Unterthanen des deutſchen Kaiſers behandelt wer-
den. Auf Napoleons Befehl hielt Kurfürſt Max Joſeph von Baiern
die öſterreichiſchen Unterhändler, die ihn herriſch und drohend zum An-
ſchluß an die Coalition drängten, durch erheuchelte friedliche Betheue-
rungen hin. Der deutſche Fürſt gab ſein heiliges Ehrenwort, daß ſeine
Truppen keinen Schwertſtreich führen ſollten, bat in der fürchterlichen
Verzweiflung ſeines geängſteten Vaterherzens nur um einige Geduld, da
[222]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
ſein in Frankreich reiſender Sohn der Rache des Corſen preisgegeben ſei,
und eilte dann mit ſeinem Heere von den betrogenen Oeſterreichern hin-
über zu den Franzoſen. Im bairiſchen Volke hatte Niemand ein Auge
für die Niedertracht des Hofes. Der alte Stammeshaß gegen die kaiſer-
lichen Koſtbeutel, das alte nur allzuſehr gerechtfertigte Mißtrauen gegen
die Begehrlichkeit der Hofburg erwachten von Neuem; jubelnd vernahm
die tapfere kleine Armee den Aufruf des Imperators: Ihr kämpft für die
erſten Güter der Nationen, für Unabhängigkeit und politiſches Daſein! Baden
und Darmſtadt ſchloſſen ſich an, nach einigem Zaudern auch Würtem-
berg; alle die vier Mittelſtaaten, welche Napoleon bereits als die Stützen
„meines künftigen deutſchen Bundes“ bezeichnete, ſtanden in ſeinem Lager.


Auch Preußen dachte er durch einen plumpen Betrug zu gewinnen.
Er ließ in Berlin den Erwerb von Hannover anbieten, wenn Preußen
dafür das rechtsrheiniſche Cleve mit Weſel abträte und an dem Kriege
gegen die Coalition theilnähme. Die preußiſche Monarchie ſollte alſo mit
Oeſterreich und Rußland brechen, ſie ſollte ihre letzte Poſition am Rheine
räumen und ſich freiwillig in den Oſten zurückſchieben laſſen, ſie ſollte
Italien, die Schweiz und Holland dem Welteroberer preisgeben: — denn
ausdrücklich behielt ſich Napoleon die freie Verfügung über dieſe Länder
vor; er ſah die Zeit ſchon kommen, da die Holländer ihrer Einſamkeit
müde werden und die Vereinigung mit Frankreich fordern würden. Und
für alle dieſe Opfer bot man dem Könige nichts als jenes Hannover,
das, unter ſolchen Umſtänden erworben, nur durch einen langen Krieg
gegen England behauptet werden konnte! Mit unverantwortlichem Leicht-
ſinn ging Hardenberg auf dieſe Zumuthungen ein; dringend rieth er zum
Anſchluß an Frankreich. Nur der gebotene Preis genügte ihm nicht, viel-
mehr hoffte er durch Napoleons Hilfe außer Hannover auch Böhmen
und Sachſen zu gewinnen. Allein die Nüchternheit des Königs bewahrte
den Staat vor einem verderblichen Schritte, der jede Verſtändigung mit
den Oſtmächten, jede gemeinſame Erhebung gegen das napoleoniſche Welt-
reich für immer zu verhindern drohte. Friedrich Wilhelm wies das fran-
zöſiſche Bündniß zurück, doch er erfuhr alsbald die Wahrheit der Worte
des großen Kurfürſten, daß Neutralität für dieſen Staat das undankbarſte
aller politiſchen Syſteme ſei. Denn während Napoleon durch neue Ver-
handlungen eine für Frankreich vortheihafte Neutralität zu erwirken ſuchte,
ſah man ſich zugleich von Oſten her bedrängt. Czar Alexander kündigte
in unverblümten Drohungen den Durchmarſch ſeiner Ruſſen an; der
König that was die Ehre gebot, ſetzte einen großen Theil ſeines Heeres
auf den Kriegsfuß und verſammelte die Truppen an der Wartha. Er-
ſchreckt ſtand der Czar von dem Friedensbruche ab, zur Verzweiflung
Czartoryskis, und ſein thörichtes Vorhaben hatte nur die Folge, daß die
Vereinigung ſeiner Armee mit den öſterreichiſchen Bundesgenoſſen ſich
noch mehr verſpätete.


[223]Ulm und Ansbach.

In dieſer unhaltbaren Stellung, mit Frankreich nicht im Reinen,
mit Rußland geſpannt und faſt verfeindet, von allen Seiten beargwohnt
und mißachtet, ſah der preußiſche Hof dem Ausbruche des Titanenkrieges
zu, wie der Feigling Lombard in ſeiner Seelenangſt zu ſagen pflegte.
Mit zermalmenden Schlägen traf Napoleon das öſterreichiſche Heer an
der oberen Donau, noch bevor die Ruſſen herankamen; die Welt erfuhr
zum erſten male, was es bedeutete, daß die franzöſiſche Militärmacht jetzt
durch die kriegeriſche Kraft der rheiniſchen Lande und des deutſchen Südens
verſtärkt war. Die Glorie des großen Tages von Trafalgar, der die
Flotte Napoleons vernichtete, verſchwand faſt neben den Schreckensnach-
richten, die aus Oberdeutſchland kamen: wie die einzelnen Corps der
öſterreichiſchen Armee in einer Reihe glänzender Gefechte geſchlagen, das
Hauptheer unter Mack bei Ulm zu ſchimpflicher Capitulation gezwungen
wurde, wie die Raſerei der verzweifelnden Angſt durch die Reihen der
Kaiſerlichen flog, überall im Heer und Beamtenthum Kopfloſigkeit, Schwäche
und Feigheit, alle Sünden eines tiefverderbten Staatsweſens heraustraten,
wie die große Armee endlich in unaufhaltſamem Vormarſch bis zur Haupt-
ſtadt Oeſterreichs vordrang.


Aber zum Glücke für die Verbündeten hatte der Sieger ſchon bei
Beginn des Feldzugs eine That des Uebermuths ſich erlaubt, welche,
recht benutzt, dem ausſichtsloſen Kriege der Coalition eine andere Wen-
dung geben, der unhaltbaren Neutralität Preußens ein Ende bereiten
mußte. Um das Corps Bernadottes bei Ulm rechtzeitig zur Stelle zu
bringen, that Napoleon unbedenklich was der Czar nur angedroht hatte,
ließ die Truppen durch das neutrale preußiſche Gebiet in Franken mar-
ſchiren. Dieſem Staate glaubte er Alles bieten zu dürfen, denn Preu-
ßen — ſo ſchrieb er ſchon früher — „Preußen iſt, was es auch ſagen
mag, in die Reihe der Mächte zweiten Ranges hinabgeſunken“. Auf dieſe
Nachricht flammte der König auf, ſein hohenzollernſches Blut gerieth in
Wallung. Er verwahrte ſein Recht durch eine muthige Erklärung, ſagte
ſich los von allen Verbindlichkeiten gegen Napoleon, geſtattete den Ruſſen
den Durchzug durch Schleſien, befahl die Mobilmachung der geſammten
Armee; ſein gerader Sinn hielt für ſelbſtverſtändlich, daß der diplomatiſche
Verkehr mit Frankreich ſofort aufzuhören habe. Auch das Volk empfand
die erlittene Beleidigung lebhaft. Die Berliner ſtimmten im Theater
jubelnd mit ein in die kriegeriſchen Klänge des Reiterliedes der Wallen-
ſteiner, lärmten übermüthig vor den Fenſtern des Geſandten Laforeſt; die
märkiſchen Stände erklärten ſich bereit zu unentgeltlichen Lieferungen für
die Armee; die jungen Offiziere zogen mit der Zuverſicht fridericianiſcher Un-
beſiegbarkeit den Grenzen zu. Lombard und die franzöſiſche Partei wagten
den gewohnten Verkehr mit Laforeſt nur noch insgeheim fortzuführen.


Auch Hardenberg erkannte jetzt die Nothwendigkeit entſchloſſener Ab-
wehr, doch die ganze drängende Gefahr des Augenblicks ermaß er nicht.
[224]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Er ſah weder, daß die jüngſten Schritte des Königs jede ehrliche Ver-
ſtändigung mit dem rachſüchtigen Corſen abſchnitten, noch daß dieſer Held
nicht gewohnt war ſich durch Unterhandlungen in der Verfolgung ſeiner
Siege aufhalten zu laſſen. Der Hoffnungsvolle glaubte noch immer an
die Möglichkeit eines friedlichen Ausgangs und rieth daher, während nur
das raſche Eintreten in den Krieg noch Heil verſprach, vielmehr zu einer
bewaffneten Vermittlung, welche leicht durch neue Kriegserfolge der Fran-
zoſen überholt werden konnte. Unterdeſſen kam der Czar ſelbſt nach Berlin,
und am 3. November wurde der Potsdamer Vertrag unterzeichnet. Preußen
verpflichtete ſich, Napoleon durch diplomatiſche Verhandlungen zur Aner-
kennung des Beſitzſtandes von Luneville zu bewegen. Lehnte er ab, wie
vorauszuſehen, ſo trat die vermittelnde Macht der Coalition bei und
empfing als Siegespreis eine Gebietsvergrößerung; Rußland verhieß durch
ſeine guten Dienſte die Abtretung von Hannover in London durchzuſetzen,
während die engliſchen Staatsmänner lieber Holland an Preußen geben
wollten. Genug, der große europäiſche Kriegsbund ſchien geſchloſſen. Der
Czar verzichtete auf ſeine polniſchen Hintergedanken, ſagte reumüthig: „man
wird mich nicht wieder darüber ertappen.“ Eine zärtliche Umarmung
über dem Sarge des großen Friedrich — einer jener rührenden Auftritte,
wie ſie Alexanders Schauſpielernatur liebte — beſiegelte das Bündniß
zwiſchen den beiden wiederverſöhnten Freunden.


Die preußiſche Armee konnte, nach der Rechnung des Herzogs von
Braunſchweig, nicht vor dem 15. December in den Kampf eingreifen; denn
die an der Oſtgrenze verſammelten Truppen wurden nicht geradeswegs
nach Mähren geführt zur Vereinigung mit dem ruſſiſch-öſterreichiſchen
Heere, ſondern auf weitem Umwege nach Thüringen um von dort aus
den Franzoſen in den Rücken zu fallen. Dieſe weitläuftige Bewegung
entſprach den Wünſchen Oeſterreichs und der Vorliebe des Braunſchweigers
für künſtliche Evolutionen; ſicherlich hat dem bedachtſamen alten Herrn
auch der Gedanke vorgeſchwebt, vielleicht könne der Krieg doch noch ver-
mieden werden. Der König aber hielt den einmal gefaßten ſchweren Ent-
ſchluß mit zäher Treue feſt. Er hatte den Einmarſch in Hannover be-
fohlen, Heſſen und Sachſen für die Coalition gewonnen. Ein Heer von
200,000 Mann verſammelte ſich an den Südgrenzen der Monarchie um
die Unabhängigkeit des deutſchen Nordens zu vertheidigen; dazu die eng-
liſchen und ruſſiſchen Truppen, die in Hannover landeten, dazu die
Schweden König Guſtavs IV., des Todfeindes der Revolution. Gleich-
zeitig zog die ruſſiſche Reſervearmee durch Schleſien gegen Mähren, aus
Ungarn führte Erzherzog Karl das öſterreichiſche Südheer herbei.


Das Schickſal der Welt hing an der klugen Verzögerung des Kampfes.
Wurde Napoleon von den Alliirten in Mähren durch eine behutſame Defen-
ſive hingehalten, bis alle jene Zuzüge herankamen, bis mit dem verhängniß-
vollen 15. December auch die preußiſche Armee in die Action eintrat, ſo ſchien
[225]Schlacht von Auſterlitz.
ſeine Niederlage unausbleiblich: er ſtand über hundert Meilen von Frank-
reichs Grenzen entfernt, konnte keine Verſtärkungen erwarten, und ſein Heer
war ſchon jetzt kaum ſo ſtark wie der Feind gegenüber. Aber auch dies-
mal ſollten ihn die Fehler ſeiner Gegner retten. Bei den Unterhand-
lungen, die er angeknüpft hatte, ſtellte er ſich nachgiebig und friedfertig
um den Glauben zu erwecken, als ob er ſich fürchte. Alexander durch-
ſchaute das Spiel, betheuerte wiederholt, keine Liſt des Feindes ſolle ihn
zu vorzeitigem Losſchlagen verlocken; alle kriegserfahrenen Offiziere riethen
ihm zur Vorſicht. Da brachte eine glänzende Heerſchau den Czaren um
alle ſeine guten Vorſätze; ſein Uebermuth erwachte bei dem Anblick dieſer
ſchönen Regimenter, die noch die Lorbeeren der Suworowſchen Feldzüge
an den Fahnen trugen. Den jungen Heißſporn durchzuckte der Gedanke,
die Welt durch einen entſcheidenden Sieg zu überraſchen noch bevor Preußen
am Kriege theilnahm; jene eleganten jungen Generale vom Hofe, die ſo
oft in der ruſſiſchen Geſchichte leichtfertige Entſchließungen verſchuldet
haben, ſtimmten dem unbeſonnenen Einfall lärmend zu. Man beſchloß
zum Angriff auf Napoleons wohlgeſicherte Stellung vorzugehen, in der
Richtung von Oſten nach Weſten, dergeſtalt daß die Armee, wenn ſie ge-
ſchlagen wurde, nach Ungarn zurückweichen mußte und die Verbindung
mit Schleſien verlor, wo 40,000 Preußen bei Neiße zur Aufnahme bereit
ſtanden. Am Jahrestage der napoleoniſchen Kaiſerkrönung empfing Alexander
durch die Schlacht von Auſterlitz den Lohn für die größte Thorheit ſeines
Lebens. Und nun verlor auch Kaiſer Franz die Beſinnung, bat den
Sieger um einen Waffenſtillſtand. Napoleon gewährte die Bitte unter
der Bedingung, daß die Hofburg das Bündniß mit dem Czaren aufgab,
die ruſſiſchen Truppen durch Ungarn heimzogen und kein fremdes Heer
den Boden Oeſterreichs betreten durfte.


So wurde der große europäiſche Kriegsbund durch die Mißgriffe
der beiden Kaiſer ſchon im Entſtehen zerſprengt. Preußens militäriſche
Lage blieb indeß noch immer vortheilhaft. Der Czar gab den Krieg noch
nicht gänzlich auf, ſondern ſtellte ſeine Armeecorps, die in Schleſien und
Preußiſch-Polen ſtanden, unter die Befehle des Königs. Friedrich Wilhelm
gebot mithin über 300,000 Mann kriegsbereiter friſcher Truppen; mit
einer ſolchen Macht durfte er wohl hoffen die Freiheit Norddeutſchlands
zu ſchützen und dem bedrängten Oeſterreich zu einem leidlichen Frieden
zu verhelfen. Daß auch dieſe Hoffnung trog, war die Schuld des preu-
ßiſchen Unterhändlers, des Grafen Haugwitz. Der charakterloſe Mann
hatte während der jüngſten Jahre manchen Beweis diplomatiſchen Scharf-
ſinns gegeben und die feindſeligen Abſichten Napoleons mehrmals richtiger
beurtheilt als ſein Amtsgenoſſe Hardenberg, doch in der gegenwärtigen
Verwicklung ſchien ihm die Neutralität allein geboten. Als er nun in
das franzöſiſche Hauptquartier geſendet wurde um im Namen ſeines
Königs ein kurzes Entweder — Oder auszuſprechen, um dem Eroberer
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 15
[226]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
entweder die preußiſchen Friedensbedingungen aufzuerlegen oder ihm den
Krieg zu erklären, da erdreiſtete er ſich zu einer eigenmächtigen Pflicht-
verletzung, die in dieſem Staate der ſtrengen Mannszucht ohne Vorgang
war. Er reiſte langſam, wie befohlen, damit der verabredete Termin des
15. Decembers herankäme; endlich bei Napoleon eingetroffen ſagte er in
einer mehrſtündigen Unterredung kein Wort von den Friedensbedingungen
des Königs, kein Wort von bewaffneter Vermittlung und kriegeriſchen
Drohungen, ſondern ließ ſich mit leeren Worten vertröſten und ging dann
nach Wien den Gang der Ereigniſſe abzuwarten. Dort traf ihn die
Nachricht von der Auſterlitzer Schlacht, und ſofort war er entſchloſſen,
um jeden Preis die Verſöhnung mit dem Uebermächtigen zu Stande zu
bringen; in ſeiner Seelenangſt redete er ſich ein, Oeſterreich ſtehe bereits
im Begriff, mit Napoleon vereint gegen Preußen zu kämpfen. Abermals
eigenmächtig, ohne jede Vollmacht, unterzeichnete er am 15. December zu
Schönbrunn ein Schutz- und Trutzbündniß mit Frankreich: Preußen er-
kannte alle die Abtretungen, welche Napoleon vom Kaiſer Franz zu er-
zwingen hoffte, ſchon im Voraus an, übergab das rechtsrheiniſche Cleve
an Frankreich, das treue Ansbach an Baiern und erhielt dafür Hannover.


Der Sieger jubelte: „bin ich Preußens ſicher, ſo muß auch Oeſter-
reich gehen wohin ich will!“ Mit dem Schönbrunner Vertrage in der
Hand nöthigte er den rathloſen Wiener Hof ſchon am 26. December die
drückenden Bedingungen des Preßburger Friedens anzunehmen. Das
Haus Oeſterreich verlor Venetien, Tyrol und den Reſt ſeiner ſchwä-
biſchen Beſitzungen; die abgetretenen deutſchen Provinzen wurden den
ſüddeutſchen Satrapen Frankreichs zugetheilt. Baiern und Württem-
berg erlangten durch Napoleons Gnade die Königskrone und dazu das
höchſte aller Güter, das letzte Ziel zweier Jahrhunderte des Verrathes
und der Felonie — die volle und unbeſchränkte Souveränität. Kaiſer
Franz mußte zum Voraus alle aus dieſem neuen Rechte ſich ergebenden
Folgerungen genehmigen. Damit ſchwand der letzte Schatten der alten
nationalen Monarchie; über ſouveränen Königskronen konnte das deutſche
Königthum nicht mehr beſtehen. In der Friedensurkunde wurde das
Reich bereits mit dem Namen des deutſchen Bundes bezeichnet. Schon
ſeit längerer Zeit berieth der Imperator mit den ſüddeutſchen Höfen, was
wohl an die Stelle der „elenden Aefferei“ des Regensburger Reichstages
treten könne. Nunmehr kündigte er in herablaſſenden Briefen den Ge-
treuen ihre neue Herrlichkeit an: Baden ſei alſo in den Kreis der großen
Mächte emporgehoben, Baiern ſolle bei nächſter Gelegenheit noch weitere
Vergrößerungen empfangen. Er ſtand jetzt auf der Höhe ſeiner Erfolge;
noch hatte kein Mißgeſchick die wundervollen Triumphe ſeiner glückhaften
Fahnen getrübt. Staunend blickte Frankreich zu dem Unüberwindlichen
empor; das deutſche Straßburg fühlte ſich ſtolz, dem neuen Kaiſerreiche
als Ausfallspforte gegen ſein altes Vaterland zu dienen und taufte ſein
[227]Friede von Preßburg.
Metzgerthor auf den Namen der Dreikaiſerſchlacht; in Paris ſollte eine
Trajansſäule den Ruhm des Imperators verherrlichen.


Auf der Rückreiſe in München empfing Napoleon die unterthänige
Dankſagung des neuen Baiernkönigs, feierte die Vermählung ſeines Stief-
ſohnes mit einer Tochter des Wittelsbachers und vernahm befriedigt, wie
Max Joſeph dem jubelnden Volke die angebliche Wiederherſtellung der
angeſtammten, urſprünglichen bairiſchen Königswürde ankündigte: alle
Baiern ſollten fortan die blauweiße Kokarde tragen „um ſich gleichſam
als Brüder zu erkennen und im Auslande die ihnen gebührende Aus-
zeichnung zu erhalten“. Der Erzkanzler Dalberg eilte herbei zur Ein-
ſegnung der Neuvermählten. Der Vielgewandte hatte während des Krieges
in einer Aufwallung patriotiſcher Gefühle ein verworrenes Manifeſt an
den deutſchen Adel gerichtet und wehmüthig gefragt: „ſollte der Name
Deutſchland, der Name deutſche Nation, der Name eines Volksſtamms
erlöſchen, der ehemals den römiſchen Koloß beſiegte?“ Er mußte jetzt harte
Scheltworte hören weil er ſich unterſtanden „den deutſchen Geiſt aufzu-
wecken“. Um den Gewaltigen ganz zu verſöhnen ernannte er bald darauf
den Oheim Napoleons, Cardinal Feſch, zu ſeinem Coadjutor; die komiſche
Perſon des Hauſes Bonaparte, ein Corſe, der kein Wort deutſch verſtand,
ſollte alſo demnächſt den vornehmſten Fürſtenſtuhl Deutſchlands beſteigen.
Um dieſelbe Zeit vermählte ſich der badiſche Thronfolger mit Stephanie
Beauharnais. Seinem Schwager Murat aber hatte Napoleon das preu-
ßiſche Cleve und das Herzogthum Berg zugedacht, das, einem alten
Münchener Plane gemäß, jetzt von Baiern gegen Ansbach ausgetauſcht
wurde. Alſo hielt die Familie Bonaparte ihren fröhlichen Einzug in die
Reihen des hohen Adels deutſcher Nation; der deutſche Fürſtenſtand erkannte
die Gleichberechtigung der „vierten Dynaſtie Frankreichs“ förmlich an.


Unterdeſſen traf Napoleon alle Anſtalten um die Krone Preußen zur
Annahme des Schönbrunner Vertrags zu zwingen. Die große Armee
und die ſüddeutſchen Truppen rückten gegen den Main vor, andere Corps
wurden in Raſſau und Holland bis dicht an Preußens Grenzen vor-
geſchoben. Als der Imperator nach Frankreich ging, ließ er Berthier in
München, ſeine Pferde in Straßburg zurück; „ſchnell wie der Blitz“ wollte
er jederzeit zurückkehren um zugleich vom Weſten und Süden her ſeine
Schaaren in Preußen einbrechen zu laſſen. So ſtanden die Dinge als
Haugwitz nach langſamer Reiſe heimkehrte; er ſchmeichelte ſich, durch ſeinen
Schönbrunner Vertrag den Staat gerettet zu haben. Sollte der König
den pflichtvergeſſenen Unterhändler für ſeine unerhörte Eigenmacht durch
ſchimpfliche Entlaſſung ſtrafen und mit dem Schwerte in der Fauſt die
Herrſchaft über Norddeutſchland, zuſammt Hannover, das thatſächlich in
Preußens Händen war, behaupten — oder dies Hannover als ein Geſchenk
aus Napoleons Händen entgegennehmen und dafür Cleve und Ansbach
abtreten, ein Schutz- und Trutzbündniß mit Frankreich ſchließen und ſich
15*
[228]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
in den Krieg gegen England verwickeln laſſen? Die Frage durfte für
einen ehrenhaften Staat keine Frage ſein. Und dennoch rieth Harden-
berg zu einem Mittelwege: er rieth den Schönbrunner Vertrag anzu-
nehmen, aber unter Vorbehalten, welche dem Zerwürfniß mit England
vorbeugen ſollten; denn obgleich er das Verfahren ſeines Gegners Haugwitz
ſcharf verdammte, ſo hoffte er doch noch jetzt durch neue Verhandlungen mit
Napoleon vielleicht neuen Landgewinn zu erreichen. Dergeſtalt lieferte man
dem liſtigen Gegner ſelber den willkommenen Vorwand, ſich auch ſeiner-
ſeits nicht mehr an den Schönbrunner Vertrag zu binden. Dem ſchweren
Fehler folgte ſogleich ein zweiter, noch gröberer. Während Napoleon ſich
in verdächtiges Schweigen hüllte und ſeine Heerſäulen von allen Seiten
her gegen Preußens Grenzen heranrückten, wurde die Abrüſtung des
preußiſchen Heeres beſchloſſen. Getäuſcht durch Laforeſts zweideutige Zu-
ſagen, hielt man Frankreichs Zuſtimmung für ſicher und wollte den
Staatshaushalt nicht noch mehr belaſten; war doch bereits zur Beſtreitung
der Koſten der Mobilmachung eine Anleihe aufgenommen und die Aus-
gabe von fünf Millionen Thalern Treſorſcheinen angeordnet worden. Die
ängſtliche Sparſamkeit ſollte dem Staate theuer zu ſtehen kommen. Rapo-
leon hatte nur auf den Heimzug der preußiſchen Armee gewartet um
„einen noch weiteren Vertrag“ zu erzwingen; nun Preußen waffenlos vor
ihm lag, ließ er alsbald die Maske fallen. Hardenberg hoffte noch arg-
los, ſich mit dem Imperator über die Neugeſtaltung Deutſchlands freund-
ſchaftlich zu verſtändigen; er dachte an eine deutſche Trias, alſo daß
Oeſterreich für ſich bliebe, Preußen im Norden, Frankreich im Süden den
beherrſchenden Einfluß erlangte, und hielt in ſolchen ungeheuerlichen Formen
noch eine gewiſſe politiſche Gemeinſchaft der deutſchen Nation für möglich.


Da ſendete Haugwitz, der in Paris die Verhandlungen abſchließen
ſollte, die niederſchmetternde Nachricht, daß Napoleon den Schönbrunner
Vertrag nicht mehr anerkenne. Am 15. Februar 1806 unterzeichnete der
geängſtete Unterhändler den Pariſer Vertrag, der die harten Schönbrunner
Bedingungen noch verſchärfte: Preußen verſprach die hannoverſchen Flüſſe
zu ſperren, mithin ſofort einen Krieg gegen England zu beginnen, der
den preußiſchen Handel völlig lähmen mußte, und von der in Schönbrunn
verheißenen Entſchädigung für Ansbach war nun keine Rede mehr. Welch
eine Lage! Die Regimenter ſtanden längſt auf Friedensfuß, zerſtreut in
ihren Garniſonen; vom Main und Rhein her zugleich einbrechend konnten
die franzöſiſchen Heerſäulen den Staat in wenigen Wochen überrennen.
Oeſterreich hatte ſeinen Frieden geſchloſſen; der Czar hielt ſich zurück,
ſtellte ſeinem Freunde anheim ſich wohl oder übel mit der Uebermacht
abzufinden. Auch von England ſtand raſche Hilfe nicht zu erwarten;
dem großen Pitt war das Herz gebrochen nach dem Tage von Auſterlitz,
nach ſeinem Tode ſchwankte die britiſche Politik eine Zeit lang unſicher
umher. Alle Generale, ſelbſt der grimmige Franzoſenfeind Rüchel, er-
[229]Verträge von Schönbrunn und Paris.
klärten den Widerſtand für unmöglich; Hardenberg aber, in tiefſter Seele
erſchüttert und empört, überließ die Entſcheidung dem Könige, da ja die
Miniſter noch keine ſelbſtändige Verantwortlichkeit trugen. Friedrich Wil-
helm entſchied wie er mußte; er genehmigte den Pariſer Vertrag.


So jammervoll verlief der erſte Verſuch die bequeme Baſeler Neu-
tralitätspolitik zu verlaſſen. Die Coalition war durch den Vorwitz des
Czaren und den Kleinmuth des Kaiſers Franz zerſtört, das iſolirte Preußen
durch Napoleon aus einer falſchen Stellung in die andere gelockt und
endlich zu Gnaden und Ungnaden unterworfen worden. Unter den Ver-
wünſchungen der Hannoveraner wurden die ſchwarzen Adler an die Thore
der alten Welfenſtädte angeſchlagen; ungehört verhallten die Klagen der
getreuen Ansbacher, die in verzweifelten Adreſſen den König baten, er
möge ſie nicht verſtoßen. Aber mitten in dieſer Demüthigung zeigten ſich
ſchon die erſten Spuren einer ſittlichen Widerſtandskraft, die in den trägen
Jahren des friedlichen Behagens ganz verſchwunden ſchien. Während des
Winters war die alte unbelehrbare Selbſtgefälligkeit oft ſehr prahleriſch
hervorgetreten; noch im Januar konnte ein begabter, thatenluſtiger Offizier
wie der junge Bardeleben triumphirend ſchreiben: „wir haben das Glück
des Friedens mit großem, wahrem Ruhme herbeigeführt!“ Nach dem
Pariſer Vertrage ſchlug die Stimmung um. Unter den aufgeklärten
Publiciſten der Hauptſtadt fanden ſich zwar einige pfiffige Köpfe, die den
König lobten, weil er ohne Schwertſtreich eine ſchöne Provinz gewonnen
habe. Der Adel dagegen und das Heer empfanden mit Unmuth, daß die
Glorie der fridericianiſchen Zeiten dahin war; tiefere Naturen wie Gneiſenau
ſahen den Entſcheidungskampf mit ſchnellen Schritten heranrücken und
ſetzten ihre Hoffnung auf ein Bündniß der zwei deutſchen Großmächte.
Niemand fühlte den Schimpf ſchwerer als die ehrliche Natur des Königs.
Er erklärte ſeinen Vertrauten rund heraus: der Pariſer Vertrag ſei nicht
bindend, ſei durch Lug und Trug erſchlichen, die Pflicht gebiete bei dem
nächſten Uebergriffe Frankreichs das Schwert zu ziehen.


Während der Schützling Napoleons Haugwitz die amtliche Leitung der
auswärtigen Angelegenheiten übernahm und den Staat im Fahrwaſſer der
franzöſiſchen Allianz ſteuerte, blieb Hardenberg der vertraute Rathgeber des
Königs und knüpfte, in der Vorausſicht des nahen Krieges, insgeheim die
Verbindung mit Rußland wieder an. Auch dieſem Hoffnungsvollen waren
jetzt die Augen aufgegangen. Er hatte an den politiſchen Sünden der
letzten zwei Jahre ſeinen reichen Antheil und galt gleichwohl in Paris
als der Führer der antifranzöſiſchen Partei, weil er ein Gegner von
Haugwitz war und den König wiederholt beſchworen hatte, ſich von
dieſem homme sans foi et sans loi*) zu trennen. Napoleon witterte
in Hardenberg mit feiner Spürkraft den tapferen und hochherzigen
[230]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Staatsmann, wollte ſich rächen für die Verlegenheiten des vergangenen
Herbſtes, überhäufte den Miniſter mit öffentlichen Schmähungen, die der
Angegriffene freimüthig beantwortete, und forderte endlich die Entlaſſung
des Verhaßten. Dieſen Angriffen Napoleons verdankte Hardenberg einen
Ruf, den ſeine Thaten noch nicht verdienten; alle Guten blickten hoffend
zu ihm auf, der tapfere Patriot v. d. Marwitz, der ſtolze Führer des
märkiſchen Adels, verehrte ihn „ſeit dem Herbſt 1805 wie das Ideal des
Mannes, der den Staat retten ſollte“ *). Doch erſt in dieſen furcht-
baren Frühlingswochen von 1806 wurde Hardenberg wirklich wofür die
Welt ihn hielt. Mit Entſetzen ſah er, an welchem Abgrunde Preußen
dahinſchwankte; Alles was edel und hochherzig war in dieſer reichbegabten
Natur, wurde lebendig, und fortan iſt er bis zum Ende der unermüdliche
Feind des napoleoniſchen Weltreichs geblieben.


Der letzte Troſt des Grafen Haugwitz beim Abſchluſſe des Pariſer
Vertrages war die Hoffnung auf die baldige Heimkehr der franzöſiſchen
Truppen. Aber auch dieſe Erwartung erwies ſich eitel. Die große Armee
blieb in Deutſchland, bedrohte vom Inn her Oeſterreichs, vom Rhein und
Main her Preußens Grenzen. Sie ſollte die Hofburg zwingen, die förm-
liche Aufhebung des heiligen Reichs, welche der Imperator plante, gut zu
heißen; und zugleich war Napoleon entſchloſſen, den Frieden mit England
nöthigenfalls durch die Preisgabe des ſoeben erſt an Preußen abgetretenen
hannoverſchen Landes herbeizuführen. Widerſetzte ſich der preußiſche Hof
dieſer neuen Beleidigung, ſo ſtand das franzöſiſche Heer zum Einbruch
bereit. Indeſſen wurden die feſten Plätze Kehl, Kaſtel, Weſel von Frank-
reich in Beſitz genommen; die niederrheiniſche Feſtung war beſtimmt einem
Angriffskriege gegen Preußen als Stützpunkt zu dienen.


Alſo gerüſtet ſchritt Napoleon daran, den Gedanken der deutſchen
Trias, womit Hardenberg ſoeben noch geſpielt hatte, nach ſeiner Weiſe zu
verwirklichen. Nicht im Bunde mit Oeſterreich und Preußen, ſondern
unabhängig von beiden und im Gegenſatze zu ihnen ſollte Frankreichs
alter Schützling, la troisième Allemagne ſich politiſch geſtalten. Eine
phantaſtiſche Denkſchrift Dalbergs, die von der Wiederherſtellung des
Karolingerreichs, von der Verjüngung der ehrenwerthen deutſchen Nation
redete, und eine kurze ergebnißloſe Vorverhandlung mit den größeren
ſüddeutſchen Staaten in München überzeugten den Imperator, wie ſchwer
es hielt dieſe deutſchen Köpfe unter einen Hut zu bringen; darum be-
ſchloß er ihnen die neue Ordnung kurzerhand aufzuerlegen, wie einſt
Karl V. die Fürſten Italiens durch halb erzwungene Verträge an ſich ge-
kettet hatte. Er wußte, daß er den Höfen der Mittelſtaaten Alles zumuthen
durfte, wenn er ihnen einen neuen Beutezug gegen ihre kleinen Mitſtände
geſtattete. An Unterwürfigkeit hatten es dieſe kleinen Herren des Südens
[231]Der Rheinbund.
freilich nicht fehlen laſſen. Die Mehrzahl war zu einer Frankfurter
Union zuſammengetreten und hielt ſich in Paris einen gemeinſchaft-
lichen Geſandten. Fort und fort wurde der Gewaltige von den geäng-
ſteten Kleinfürſten mit Bitten und Anliegen behelligt; wenn er bei guter
Stimmung war, ſo ließ er ſich auch wohl durch ſeinen Talleyrand be-
richten ce que c’est que ce prince-là und gab eine gnädige Antwort.
Doch mit waffenloſen Vaſallen wußte der Eroberer nichts anzufangen;
auch beargwöhnte er die Freundſchaft, welche einige dieſer kleinen Herren
mit Preußen, die Meiſten mit Oeſterreich verband. Sein Entſchluß war
gefaßt: „es liegt in der Natur der gegenwärtigen Verhältniſſe, daß die
kleinen Fürſten vernichtet werden.“ Schon erhob ſich über den Trümmern
der alten Staatengeſellſchaft das neue Foederativſyſtem: die „Sonnen-
Nation“ Frankreich umgeben von Trabantenſtaaten. Zwei Brüder des
Imperators beſtiegen die Throne von Holland und Neapel; das übrige
Italien und die Schweiz hielt er unter ſeiner Botmäßigkeit. Für den
Deutſchen Bund, der die Reihe dieſer Trabantenvölker zu verſtärken be-
ſtimmt war, rechnete er zunächſt auf die vier ſüddeutſchen Mittelſtaaten
und auf das neue niederrheiniſche Großherzogthum Joachim Murats; von
den kleineren dachte er nur wenige zu verſchonen, die ſich durch Unter-
thänigkeit oder hohe Verwandtſchaft empfahlen.


Im Frühjahr 1806 verbreitete ſich an den deutſchen Höfen das Ge-
rücht, eine neue umfaſſende Mediatiſirung ſei im Anzuge. Abermals wie
vier Jahre zuvor eilten die Geſandten unſeres hohen Adels nach Paris
um durch Schmeichelei und Beſtechung ihren Herren den Beutetheil zu
ſichern. Wieder wie damals mußte ein Elſaſſer das Geſchäft der deutſchen
Ländervertheilung beſorgen: der alte Reichspubliciſt Pfeffel unter der
Leitung Talleyrands und Labesnardieres. Währenddem gelangte die Ver-
faſſung des Rheinbundes in Napoleons Cabinet zum Abſchluß; mit keinem
der deutſchen Höfe wurden Unterhandlungen geführt, ſelbſt von den Ge-
ſandten in Paris erhielten nur vier die Urkunde zum Leſen, bevor Talley-
rand am 12. Juli die Getreuen zur Sitzung berief. Hier hielt er ihnen-ihre
hilfloſe Lage vor, wie ſie als Rebellen gegen das Reich nicht mehr auf
halbem Wege ſtehen bleiben dürften; dann wurde die Urkunde ohne jede
Berathung angenommen. Der rheiniſche Bund Ludwigs XIV. lebte wieder
auf, in ungleich ſtärkeren Formen. Sechzehn deutſche Fürſten ſagten ſich
vom Reiche los, erklärten ſich ſelbſt für ſouverän, jedes Geſetz des altehr-
würdigen nationalen Gemeinweſens für nichtig und wirkungslos; ſie er-
kannten Napoleon als ihren Protector an, ſtellten ihm für jeden Feſtlands-
krieg Frankreichs ein Heer von 63,000 Mann zur Verfügung. Unbedingte
Unterwerfung in Sachen der europäiſchen Politik und ebenſo unbeſchränkte
Souveränität im Innern — das waren die beiden aus gründlicher Kennt-
niß des deutſchen Fürſtenſtandes geſchöpften leitenden Gedanken der Rhein-
bundsverfaſſung. Die Höfe ertrugen die Unterwerfung, weil ſie eingepreßt
[232]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
zwiſchen Oeſterreich und Frankreich eines Schutzes bedurften und auf neue
Geſchenke napoleoniſcher Gnade hofften; einige tröſteten ſich wohl ins-
geheim mit dem Gedanken, die franzöſiſche Uebermacht werde nicht ewig
dauern; die Souveränität aber hielten ſie ſämmtlich feſt als einen Schatz für
alle Zeiten. Der deutſche Particularismus trat in ſeiner Sünden Blüthe.


Napoleon verſagte ſichs nicht, in einem Briefe an Dalberg an den
uralten Landesverrath der deutſchen Kleinfürſten höhniſch zu erinnern; er
nannte die Politik des Rheinbundes conſervativ, denn ſie ſtelle nur von
Rechtswegen ein Schutzverhältniß her, das in der That ſchon ſeit mehreren
Jahrhunderten beſtanden habe. Doch zugleich ſchmeichelte er klug dem
dynaſtiſchen Dünkel: kein Oberlehnsherr ſtehe mehr über den deutſchen
Fürſten, kein fremdes Gericht dürfe ſich in ihre Landesangelegenheiten
miſchen; er ſelber übe nur die einfache Pflicht des Schutzes, die keinen
höheren Zweck habe als den Verbündeten die volle Souveränität zu gewähr-
leiſten. Das verheißene Fundamentalſtatut des Rheinbundes iſt nie er-
ſchienen, der Bundestag mit ſeinen zwei Räthen nie zuſammengetreten;
dieſem Werke der rohen Gewalt fehlte von Haus aus die Fähigkeit recht-
licher Weiterbildung. Dem Protector, der ſchon ſeinem zahmen Geſetz-
gebenden Körper in Paris ein unwilliges vous chicanez le pouvoir!
zurief, lag wenig daran, auch noch durch die ſchwerfälligen Berathungen
eines rheiniſchen Bundestags beläſtigt zu werden; ihm genügte, daß er
jetzt mit den deutſchen Regimentern vom linken Rheinufer an 150,000
deutſche Soldaten unter ſeinem Befehle hielt. Die beiden Könige des
Rheinbundes aber verhehlten nicht ihren Widerwillen gegen jede bündiſche
Unterordnung und verwarfen kurzweg alle die Pläne für den Ausbau des
Bundes, welche der neue Fürſtprimas Dalberg mit unerſchöpflicher Be-
geiſterung entwarf.


Das Bundesgebiet erſtreckte ſich vom Inn bis zum Rhein über den
ganzen Südweſten, reichte dann nordwärts bis tief nach Weſtphalen hinein,
den preußiſchen Staat und ſeine kleinen Verbündeten in weitem Bogen
umklammernd; und der Artikel 39 der Rheinbundsakte kündete bereits
drohend an, daß auch anderen deutſchen Staaten der Eintritt vorbehalten
bleibe. Was im Süden und Weſten noch übrig war von kleinen Reichs-
ſtänden wurde der Landeshoheit der ſechzehn Verbündeten unterworfen:
alle Fürſten und Grafen, alle Reichsritter, ſo viele ſich in den Stürmen
der jüngſten Jahre noch behauptet hatten, die beiden Ritterorden, die
Reichsſtädte Nürnberg und Frankfurt, zuſammen ein Gebiet von 550 Ge-
viertmeilen und faſt fünfviertel Millionen Einwohnern. Aller Schmutz,
der an dem Reichsdeputationshauptſchluſſe haftete, verſchwand neben der
entſetzlichen Roheit dieſer neuen Gewaltthat; denn nicht durch das Reich
ſelber und nicht unter dem Vorwande der Entſchädigung, ſondern durch
die nackte Willkür einer Handvoll eidbrüchiger Fürſten und unter dem
Schutze des napoleoniſchen Heeres wurde jetzt die Vernichtung verhängt über
[233]Neue Mediatiſirungen.
die Lobkowitz und Schwarzenberg, über alle jene öſterreichiſchen Standes-
herren, welche ſo lange den Stamm der kaiſerlichen Partei unter den
weltlichen Fürſten gebildet hatten. Mit ihnen fielen auch die alten ruhm-
vollen Geſchlechter der Fürſtenberg und Hohenlohe, die vor wenigen Jahr-
zehnten noch faſt ebenſo mächtig geweſen wie ihre glücklichen Nachbarn in
Carlsruhe und Stuttgart; und Einer mindeſtens unter den Mediatiſirten
ließ mit Bewußtſein, um der Ehre willen das Verhängniß über ſich er-
gehen. Fürſt Friedrich Ludwig von Hohenlohe-Oehringen wies alle die
Lockungen, wodurch Napoleon den berühmten preußiſchen General für den
Rheinbund zu gewinnen ſuchte, ſtolz zurück; er wollte die Treue nicht
brechen, die ſein Haus ſeit Jahrhunderten mit den Hohenzollern vereinte,
er verlor ſeine Landeshoheit, weil er ſich muthig auf Preußens Seite
ſtellte. Noch unmittelbarer wurde der Berliner Hof verletzt durch die
Beraubung der Naſſau-Oranier; dies Haus, dem die Krone Preußen
auf deutſchem Boden eine Entſchädigung für den verlorenen niederländiſchen
Beſitz verſchafft hatte, ſah ſich jetzt aus einem Theile ſeiner deutſchen
Lande vertrieben, ohne daß man auch nur eine Anzeige in Berlin für
nöthig hielt. Zufall und Laune entſchieden über Beſtand und Untergang
der Kleinſtaaten; der kleine Graf von der Leyen wurde als ſouveräner
Fürſt in den Rheinbund aufgenommen weil er ein Neffe Dalbergs war.
Und doch waltete eine heilige Nothwendigkeit, den Frevlern unbewußt, auch
über dieſer Gewaltthat. Wieder verſchwand eine ganze Schaar jener un-
fruchtbaren Staatsbildungen, die ſich einſt mit den Spolien der alten
deutſchen Monarchie bereichert hatten; es ebnete ſich der Boden, auf dem
dereinſt ein neuer Bau der deutſchen Einheit emporſteigen ſollte.


Bis tief in den Sommer hinein blieb Napoleon darauf gefaßt, daß
der rechtmäßige Kaiſer der Vernichtung des alten Reiches widerſprechen
werde; beſtimmte doch der Preßburger Friede ausdrücklich, daß die neuen
Könige nicht aufhören ſollten dem Deutſchen Bunde anzugehören. Aber
Oeſterreich war tief erſchöpft von dem unglücklichen Kriege; Erzherzog Karl
und der neue Miniſter des Auswärtigen Graf Philipp Stadion hofften
in Frieden die Kräfte der Monarchie wiederherzuſtellen. Zudem waren
in jenem Preßburger Vertrage alle Folgen der bairiſch-württembergiſchen
Souveränität bereits gutgeheißen, alſo mittelbar die kaiſerlichen Majeſtäts-
rechte ſchon preisgegeben. Wollte und konnte man die Anſprüche des
alten Kaiſerthums nicht mit den Waffen behaupten, ſo erforderte die Würde
des kaiſerlichen Hauſes, daß man dem werthloſen Titel rechtzeitig, von
freien Stücken entſagte, bevor Napoleon den Verzicht erzwang. So lautete
auch Stadions Rath; doch die alte Begehrlichkeit der habsburgiſchen
Dynaſtenpolitik wollte ſelbſt in dieſen finſteren Tagen, da eine tauſend-
jährige Geſchichte ihren tragiſchen Abſchluß fand, nicht zur Ruhe gelangen.
Wie ſeine Ahnen den Beſitz des Kaiſerthrones immer nur als ein Mittel
zur Vermehrung ihrer Hausmacht angeſehen hatten, ſo dachte Kaiſer Franz
[234]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
auch die Niederlegung der Krone noch zu einem einträglichen Handels-
geſchäfte zu verwerthen. „Der Zeitpunkt zur Abtretung der Kaiſerwürde
— ſo ſchrieb er — iſt jener, wo die Vortheile, die aus ſolcher für meine
Monarchie entſpringen, durch die Nachtheile, die durch eine fernere Bei-
behaltung derſelben entſtehen könnten, überwogen werden.“ Darum ſolle
Graf Metternich nach Paris eilen um dort „die Kaiſerwürde recht hoch
anzurechnen und keine Abneigung zur Abtretung der gedachten Würde,
vielmehr eine Bereitwilligkeit hierzu, jedoch nur gegen große für meine
Monarchie zu erhaltende Vortheile merken zu laſſen“. Mit ſolchen Ge-
ſinnungen nahm der letzte römiſch-deutſche Kaiſer Abſchied von dem Purpur
der Salier und der Staufer. Der altgewohnte Phraſenſchwall von reichs-
väterlicher Treue und reichsoberhauptlicher Fürſorge verfing nicht mehr;
die Politik des Hauſes Oeſterreich bekannte endlich mit dürren Worten,
wie ſie zu Deutſchland ſtand. Aber das geplante Handelsgeſchäft miß-
lang. Als Metternich in Paris eintraf, war die Rheinbundsakte bereits
abgeſchloſſen. Der deutſche Kaiſer ſtand der vollendeten Thatſache gegen-
über und mußte noch erleben, daß in Regensburg Napoleon und ſeine
Vaſallen die förmliche Aufhebung des Reiches ausſprachen.


Dem Reichstage war inzwiſchen durch einen der treueſten Reichs-
ſtände noch die letzte Beſchimpfung geboten worden; der Heißſporn des
Royalismus, König Guſtav von Schweden, rief ſeinen Geſandten ab, denn
es ſei unter ſeiner Würde theilzunehmen an Beſchlüſſen, die unter dem
Einfluß der Uſurpation und des Egoismus ſtänden. Als in Paris die
Vorbereitungen zur Stiftung des Rheinbundes getroffen wurden, ließ
Dalberg vorſorglich die Regensburger Verſammlung in die Ferien reiſen.
Am 1. Auguſt erklärten dann acht Geſandte im Namen der rheinbündiſchen
Fürſten, daß ihre durchlauchtigen Herren es „ihrer Würde und der Rein-
heit ihrer Zwecke angemeſſen“ fänden, ſich feierlich loszuſagen von dem
heiligen Reiche, das in der That ſchon aufgelöſt ſei; ſie ſtellten ſich unter
„den mächtigen Schutz des Monarchen, deſſen Abſichten ſich ſtets mit dem
wahren Intereſſe Deutſchlands übereinſtimmend gezeigt haben“. Gleich-
zeitig verkündete der franzöſiſche Geſandte, Napoleon erkenne das Reich
nicht mehr an, das längſt ſchon nur ein Schatten ſeiner ſelbſt geweſen.


In den alten Jahrhunderten der Gewalt und der Roheit blieb ein letztes
Gefühl der Scham den Germanen immer unverloren; der Mörder mied
die Nähe ſeines Opfers, weil er fürchtete das rothe Blut wieder aus den
Wunden des Leichnams hervorbrechen zu ſehen. Anders empfand dies
neue vorurtheilsfreie Geſchlecht; als die Erklärung vom 1. Auguſt ver-
leſen wurde, da waren im Reichstage faſt allein die Geſandten der Rhein-
bundshöfe, die den alten deutſchen Staat vernichtet hatten, zugegen. Ohne
weitere Verhandlungen ging der Reichstag auseinander. Darauf legte
Kaiſer Franz durch ein kühl und farblos gehaltenes Manifeſt vom 6. Auguſt
die deutſche Krone nieder und erklärte zugleich, dem Rechte zuwider, „das
[235]Auflöſung des Reichs.
reichsoberhauptliche Amt und Würde“ für erloſchen, ſein Kaiſerthum Oeſter-
reich für ledig aller Reichspflichten. Die Verbindung zwiſchen Deutſch-
land und den kaiſerlichen Erblanden war aber ſeit Langem ſo locker, daß
die förmliche Trennung in den inneren Zuſtänden Oeſterreichs gar keine
Spuren zurückließ. Durch einen Staatsſtreich des letzten Habsburger-
kaiſers ging alſo jene Krone zu Grunde, die ſeit tauſend Jahren mit den
ſtolzeſten und den ſchmachvollſten Erinnerungen des deutſchen Volkes ver-
wachſen war; der Heldenruhm der Ottonen haftete an ihr, aber auch der
Fluch des dreißigjährigen Krieges und die lächerliche Schande von Roßbach.
Den ganzen Umkreis irdiſcher Schickſale hatte ſie durchmeſſen, aus einer
Zierde Deutſchlands war ſie zu einem widrigen Zerrbilde geworden, und
als ſie endlich zuſammenbrach, da ſchien es als ob ein Geſpenſt verſänke.
Die Nation blieb ſtumm und kalt; erſt als ſie die Schmach der kaiſer-
loſen Zeit von Grund aus gekoſtet hatte, iſt der Traum von Kaiſer und
Reich wieder lebendig geworden in deutſchen Herzen.


Im Lager des Bonapartismus lärmte die freche Schadenfreude. Die
Mainzer Zeitung ſchrieb: „Es iſt kein Deutſchland mehr. Was man für
Anſtrengungen einer gegen ihre Auflöſung kämpfenden Nation zu halten
verſucht werden könnte, ſind nur Klagen weniger Menſchen an dem Grabe
eines Volkes, das ſie überlebt haben. Deutſchland iſt nicht heute erſt
untergegangen. Was der Geſchichte der Völker Inhalt und Leben giebt,
iſt der Geiſt einiger größeren hervorragenden Menſchen“ — worauf dann
die übliche Kniebeugung vor dem Helden des Jahrhunderts folgte. Im
Oberlande und am Rhein war die Meinung weit verbreitet, daß nur
Englands Gold und Oeſterreichs Uebermuth den jüngſten Krieg und den
Untergang des Kaiſerthums verſchuldet habe; im Norden aber kannte die
Maſſe das Reich kaum dem Namen nach, den Ernſt der Zeit hatte ſie
noch gar nicht empfunden. Gedeckt durch die große Armee nahmen die
Fürſten des Rheinbundes ihre Beute in Beſitz, und wieder wie vor drei
Jahren ließ das Volk leiſe klagend Alles über ſich ergehen. Alle rhein-
bündiſchen Höfe meinten ſich kraft ihrer neuen Souveränität berechtigt,
die letzten Trümmer der alten ſtändiſchen Rechte zu zerſtören; das napo-
leoniſche Machtwort c’est commandé par les circonstances rechtfertigte
jede Gewaltthat. Friedrich von Württemberg ließ gleich nach der Er-
werbung der Königskrone dem Landtagsausſchuſſe die Schlüſſel zu der
ſtändiſchen Kaſſe abfordern und beſeitigte die alte von den tapferen Schwa-
ben in dreihundertjährigen Kämpfen vertheidigte Landesverfaſſung, die
einzige lebenskräftige im deutſchen Süden, als eine „nicht mehr in die
itzige Zeit paſſende Einrichtung“; ſeine Miniſter jubelten, jetzt endlich ſei
der Schlange des ſtändiſchen Trotzes der Kopf zertreten. Auch die Krone
Dänemark benutzte die Auflöſung des Reichs um Holſtein ihrem Geſammt-
ſtaate einzuverleiben; König Guſtav nahm ſeinen Pommern ihr altes
Landesrecht und führte die ſchwediſche Verfaſſung ein.


[236]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.

Die Anarchie eines neuen Interregnums brach über Deutſchland her-
ein; das Fauſtrecht herrſchte, nicht mehr von adlichen Wegelagerern, ſondern
von fürſtlichen Höfen gehandhabt. Mißtrauiſch verfolgte Napoleon jede
Regung des nationalen Gefühls in dem unterjochten Lande; Frankreichs
Intereſſe verlangt, ſo ſchrieb er ſeinem Talleyrand, daß die Meinung in
Deutſchland getheilt bleibe. Als nun ein Ansbacher Yelin eine anonyme
Flugſchrift „Deutſchland in ſeiner tiefen Erniedrigung“ herausgab — ein
treugemeintes, gefühlsſeliges Schriftchen, das in eiſerner Zeit nur den
friedlichen Rath fand: „weine laut auf, edler, biederer Deutſcher!“ — da
ſchien dem Imperator ſelbſt dieſer Stoßſeufzer des harmloſen Spießbürger-
thums bedenklich, und er ließ den Buchhändler Palm, der das Buch
verbreitet haben ſollte, ſtandrechtlich erſchießen. Es war der erſte Juſtiz-
mord des Bonapartismus auf deutſchem Boden; die klugen Leute in
Baiern fingen an zu zweifeln, ob der Rheinbund wirklich den Sieg der
Freiheit und der Aufklärung gebracht habe.


Wie anders als jener weinerliche Ansbacher wußte Friedrich Gentz
zu ſeinem Volke zu reden! Die ſchönſte ſeiner Schriften, die Fragmente
aus der neueſten Geſchichte des politiſchen Gleichgewichts verriethen freilich
ſchon, daß der geiſtvolle Mann jetzt im Solde Oeſterreichs ſchrieb; für das
ehrwürdige Erzhaus hatte er nur Worte des Lobes und die offenkundigen
Pläne der Hofburg gegen Baiern leugnete er kurzweg ab. Doch was
wollten ſolche Bemäntelungen bedeuten neben der großartigen Offenheit,
die hier mit flammenden Worten die letzten Gründe der deutſchen Schande
beleuchtete? Das alte Gleichgewicht der Mächte iſt durch eine neue Welt-
herrſchaft zerſtört; nicht Napoleons Genie, ſondern Deutſchlands ſelbſt-
verſchuldete Wehrloſigkeit hat das Verhängniß heraufgeführt, und die große
Frage der Zukunft lautet: ſoll Deutſchland in ſeinem ganzen Umfange
werden, was heute ſchon die Hälfte davon iſt, was Holland und die
Schweiz und Spanien und Italien wurde? Europa iſt durch Deutſch-
land gefallen; durch Deutſchland muß es wieder emporſteigen. Einen
Retter und Rächer ruft er auf, der uns einſetze in unſer ewiges Recht,
der Deutſchland und Europa wieder aufbaue; und mit der Wucht ſeines
Hohnes erdrückt er die Thoren, die von Frankreich das Heil der Welt
erwarten: „eben der rächende Dämon, der ſie zur Strafe ihrer hoch-
müthigen Plattheit durch den ganzen ermüdenden Kreis politiſcher Raſereien
gepeitſcht hat, ſchuf ſie endlich aus Enthuſiaſten der Freiheit, einer ſcheu-
ſeligen fieberhaften Freiheit, zu Lobrednern der vollkommenſten Sklaverei,
die jemals die Völker gebeugt hatte, um.“


Auch aus dem ſtillen Norden erklangen jetzt endlich wieder mächtige
Worte vaterländiſchen Zornes. Als ein ergebener Unterthan der drei
Kronen Schwedens hatte Ernſt Moritz Arndt, der tapfere Sohn der
Inſel Rügen, bisher dahin gelebt; erſt da die Schande den Deutſchen
in den Nacken ſchlug wallte das deutſche Blut in ihm auf und er
[237]Palm. Gentz. Arndt.
entſann ſich ſeines Vaterlandes. Während des Krieges von 1805 ſchrieb
er den erſten Theil des „Geiſtes der Zeit“, und ſeitdem blieb er ſeinem
unglücklichen Volke unerſchütterlich als ein getreuer Eckart, ein Wecker
der Gewiſſen zur Seite. Weder Gentzens umfaſſende Sachkenntniß, noch
die ſtahlharte Schärfe und die bewußte Berechnung des großen Publi-
ciſten ſtanden ihm zu Gebote; ein Kind der Natur wie er war brauchte
er langer Jahre um die landſchaftlichen Vorurtheile ſeiner ſchwediſch-
pommerſchen Heimath zu überwinden: die unklare Begeiſterung für das
Land der Wälder und der Freiheit, Skandinavien, und den Widerwillen
gegen dies ärmlich nüchterne Preußen, das mit ſeinem verſtandeskalten
Friedrich doch allein die Spaltung Deutſchlands verſchuldet habe. Aber
friſch und kräftig, wie die Wogen ſeines heimiſchen Meeres, mit einer ur-
ſprünglichen, unmittelbaren Macht der Empfindung, die ſo keinem anderen
politiſchen Schriftſteller jener Tage gegeben war, ſtrömte ihm die Rede aus
dem übervollen liebeglühenden Herzen; jedes Wort war treu, muthig, wahr-
haft wie die tiefen blauen Augen des ewig jugendlichen Mannes. Während
die hart politiſchen Gedanken des Wiener Publiciſten nur von Wenigen in
dieſem ſtaatloſen Geſchlechte verſtanden wurden, ſchloß Arndt ſein Buch
mit dem kindlichen Ausruf: „ich liebe die Menſchen“; er ergriff die Ge-
müther, weil er die Politik von der menſchlichen Seite nahm. Er zuerſt
erkannte und ſtrafte die ſittlichen Schäden der geiſtigen Ueberbildung und
rief dem klugen Jahrhundert zu: beſſer iſt Leben als vom Leben ſchwatzen.
„Ohne das Volk iſt keine Menſchheit und ohne den freien Bürger kein
freier Menſch. Ein Menſch iſt ſelten ſo erhaben, daß er äußere Knecht-
ſchaft und Verachtung dulden kann ohne ſchlechter zu werden; ein Volk
iſt es nie.“ Verwandte Stimmungen regten ſich auch in der Berliner
literariſchen Jugend; ſeit den unſeligen Ansbacher Händeln wollte das
alte behagliche Selbſtgefühl nicht wiederkehren. In den Kreiſen Schleier-
machers träumte man gern von einem nordiſchen Bunde, der durch Ver-
kehrsfreiheit und gemeinſames Heerweſen die Deutſchen des Nordens wieder
zu Brüdern machen ſollte.


Eben dieſen Gedanken, den einzigen der noch Rettung verhieß, hatte
die preußiſche Regierung ſelbſt ſoeben aufgenommen. Während das heilige
Reich unterging, der Süden und Weſten ſich der franzöſiſchen Herrſchaft
beugten, unternahm König Friedrich Wilhelm — ſo ſagte nachher ſein
Kriegsmanifeſt — die letzten Deutſchen unter Preußens Fahnen zu ver-
ſammeln. Vor zwei Jahren hatte er die norddeutſche Kaiſerkrone, die
ihm Napoleon anbieten ließ, rundweg zurückgewieſen weil er den Geſchenken
der Danaer mißtraute, und mit aufrichtigem Bedauern ſah er jetzt das
Reich zu Grunde gehen. Erſt als die alte Rechtsgemeinſchaft der deutſchen
Nation ſich völlig auflöſte, entſchloß ſich der gewiſſenhafte Fürſt, jene bün-
diſchen Reformpläne, die ſeit dem Fürſtenbunde am Berliner Hofe immer
wieder aufgetaucht waren, endlich durchzuführen, und der Schirmherrſchaft
[238]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Preußens über den Norden, die ſeit dem Baſeler Frieden thatſächlich beſtand,
eine feſte rechtliche Form zu geben. Er wollte, ſo ſchrieb er an Friedrich
Auguſt von Sachſen, dem Rheinbunde ein Foederativſyſtem entgegenſetzen,
welches das nördliche Deutſchland retten könnte. Preußen lenkte endlich
wieder ein in die Bahnen einer geſunden deutſchen Politik, und grade
dieſe Rückkehr zu ſeinen großen Ueberlieferungen ſollte dem Staate eine
ſchreckliche Demüthigung, die Strafe für vergangene Sünden bringen.
Der König glaubte kein Wort mehr von den glatten Schmeichelreden,
womit ihn Napoleon noch während des Winters überſchüttet hatte. Seit
dem Pariſer Vertrage war er auf das Aergſte gefaßt; er nannte die
Stiftung des Rheinbundes, die dem alliirten Berliner Hofe nicht ein-
mal im Voraus angezeigt wurde, eine Revolution und eine offenbare
Feindſeligkeit gegen Preußen; auch fühlte er ſich keineswegs ſicher im
Beſitze von Hannover, das er für das Bollwerk der Unabhängigkeit des
Nordens hielt. Die Vereinigung dieſes Landes mit der norddeutſchen
Großmacht entſprach ſo ſehr dem europäiſchen Intereſſe, daß ſogar in
England einzelne Einſichtige zu einer friedlichen Verſtändigung mit dem
Berliner Cabinet riethen; doch der Welfenſtolz Georgs III. widerſtand hart-
näckig. Während Preußen alſo um Hannovers willen mit England einen
unfruchtbaren Krieg führte, mußte der König zugleich fürchten, daß die
Tücke ſeines Alliirten ihm das ſo theuer erkaufte Land wieder entreißen
würde.


Es ward hohe Zeit die letzten Lande, die noch deutſch und frei
waren, in wehrhaften Stand zu ſetzen. Jene Dreitheilung Deutſchlands,
wovon Hardenberg im Frühjahr träumte, war jetzt nahezu vollzogen, ganz
anders freilich als der Vertrauensvolle gedacht hatte; dem preußiſchen
Hofe blieb nur noch übrig, ohne Rückſicht auf Oeſterreich und Frankreich
vorzugehen und das Drittel Deutſchlands, das in ſein Machtgebiet fiel,
ſelbſtändig zu geſtalten. Da auch Haugwitz längſt über Napoleons Ab-
ſichten ins Klare gekommen war, ſo begann Preußen ſchon im Juli, noch
bevor der Rheinbund abgeſchloſſen wurde, Verhandlungen mit dem Dresdner
und dem Caſſeler Hofe wegen der Errichtung eines Norddeutſchen Bundes.
Der preußiſche Plan lehnte ſich eng an die altgewohnten Inſtitutionen
des Reichs an, forderte von den kleinen Höfen nur die unerläßlichen
militäriſchen Leiſtungen. Man verlangte die Kaiſerwürde für Preußen,
für die beiden Kurfürſten die längſt erſehnten Königskronen; ferner einen
Geſandtencongreß unter dem Directorium dieſer drei Staaten und für
jeden von ihnen die Stellung eines Kreisoberſten in einem der drei
Kreiſe des Bundes; endlich ein Bundesgericht und ein Bundesheer von
240,000 Mann, das im Kriege unter Preußens Oberbefehl ſtehen ſollte.
Aengſtlich war Alles vermieden was den Dünkel der Bundesgenoſſen
erbittern konnte: Congreß und Tribunal erhielten ihren Sitz nicht in
Berlin, ſondern nach altem Reichsbrauch in zwei kleinen Städten. Um
[239]Der Norddeutſche Bund.
den Ehrgeiz Sachſens und Heſſens zu befriedigen ſchlug man auch die
Mediatiſirung der Reichsritterſchaft und einiger der allerkleinſten Grafen
und Herren vor, wobei den beiden Mittelſtaaten der Löwentheil zuge-
dacht war.


Aber man erfuhr nochmals, daß dieſem Staate ohne harte Arbeit
kein Erfolg gelang: nicht ſo als ein Nothbehelf der Verlegenheit und nicht
durch friedliche Unterhandlungen konnte die kühne Idee des preußiſchen
Kaiſerthums ins Leben treten. Die räthſelhaften Schwankungen der
Berliner Staatskunſt hatten an allen Höfen tiefes Mißtrauen erregt; ihre
zaudernde Verlegenheit erſchien der Welt als durchtriebene Berechnung.
Selbſt an dem befreundeten Petersburger Hofe bezweifelte man eine Zeit
lang, ob dieſer Norddeutſche Bund nicht ein napoleoniſches Ränkeſpiel ſei.
Oeſterreich vollends konnte eine Politik, die einen Bruchtheil der alten Kaiſer-
herrlichkeit auf Preußen zu übertragen ſuchte, nicht mit günſtigen Augen an-
ſehen. Kaiſer Franz blieb voll Argwohns, zumal da Preußen die Verhand-
lungen ſtreng geheim hielt; durch die Vermittlung des öſterreichiſchen Ge-
ſandten in Paris erhielt der Kurfürſt von Sachſen zuerſt die Nachricht,
daß Napoleon ihn vor dem Berliner Ehrgeiz warnen laſſe. Was ließ
ſich unter ſolchen Umſtänden von der guten Geſinnung jener Kleinſtaaten
erwarten, die von jeher gewohnt waren den Zweck zu wollen ohne die
Mittel, Preußens Schutz zu beanſpruchen ohne die geringſte Gegenleiſtung?


Der Kurfürſt von Heſſen hatte ſoeben erſt wegen des Zutritts zum
Rheinbunde geheime Verhandlungen geführt und war nur deßhalb mit
Frankreich nicht handelseins geworden, weil Napoleon dem Habgierigen
das Land der Darmſtädter Vettern nicht ſchenken wollte. Nun betrieb er,
immer in der Hoffnung auf Landgewinn, freudig den Plan des Nord-
deutſchen Bundes; doch ſein Eifer erkaltete gänzlich ſobald ſich heraus-
ſtellte, daß Friedrich Wilhelms Rechtlichkeit die Mediatiſirungen auf ein
ſehr beſcheidenes Maß beſchränken wollte. Das ſächſiſche Cabinet zeigte
wieder denſelben ſteifen Hochmuth, wie einſt bei den Berathungen über
Friedrichs Fürſtenbund. Von einer Unterordnung des Rautenkranzes unter
ein preußiſches Kaiſerthum durfte gar nicht die Rede ſein. Da Preußen
nachgiebig die Kaiſerwürde fallen ließ, forderte der Dresdner Hof ein
Bundesdirectorium, das zwiſchen Preußen, Sachſen und Heſſen reihum
gehen ſollte, und ſtatt des Bundesheeres und des Bundesgerichts viel-
mehr drei Kreisheere und drei Kreistribunale unter der Leitung der drei
Vormächte. Die alte Sehnſucht der Albertiner nach der Einverleibung
der erneſtiniſchen Lande wurde wieder lebendig und blieb ſeitdem durch
zwei Menſchenalter der Lieblingswunſch der Dresdner Staatskunſt. Auch
die Hanſeſtädte verhielten ſich ablehnend, obgleich ihnen der Norddeutſche
Bund ſchonend nur eine Geldzahlung ſtatt der Kriegsleiſtungen zumuthete;
ſie beriethen insgeheim über die Bildung eines hanſeatiſchen Sonderbundes.
Als ſodann die Kriegsgefahr näher rückte und Preußen von ſeinen kleinen
[240]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Schützlingen einen Beitrag zu den Verpflegungskoſten der Armee ver-
langte, da bekundete der Schweriner Hof die patriotiſchen Gefühle des
deutſchen Kleinfürſtenſtandes in der unvergeßlichen Erklärung: ſo dankbar
des Herzogs Durchlaucht den Allerhöchſten königlichen Schutz benutzen
würde, wenn Sie Sich in Gefahr glaubten, ſo dringend müßten Sie
unter den gegenwärtigen Umſtänden eine Beitragsleiſtung Sich verbitten.
Der aufrichtige Schweriner Herr gab freilich ſofort nach, als Preußen
ihn an „die National-Ehre des zertretenen Vaterlandes“ erinnerte und
mit dem Einmarſch ſeiner Truppen bedrohte. Indeß der ganze Verlauf
der ſchleppenden Unterhandlungen lehrte, daß ein feſter Bund mit dieſen
Höfen nicht anders als durch den Zwang der Waffen begründet werden
konnte.


Das Widerſtreben der kleinen Staaten fand ſeinen Rückhalt in Paris;
durch Napoleons Treuloſigkeit wurde der Norddeutſche Bund ſchon im
Werden zerſtört. Am 22. Juli hatte Talleyrand ſelbſt den Berliner Hof
aufgefordert, er möge Vortheil ziehen aus der Stiftung des Rheinbundes
und ſich ein norddeutſches Kaiſerthum gründen. Die freundliche Einladung
bezweckte ſelbſtverſtändlich nur, Preußens Zuſtimmung zu der Auflöſung
des alten Reichs zu gewinnen. War doch der Rheinbund von Haus
aus, wie der Schluß-Artikel ſeiner Verfaſſung deutlich ausſprach, auf den
Eintritt aller deutſchen Kleinſtaaten berechnet; kaum abgeſchloſſen ward er
ſchon erweitert durch die Aufnahme des neuen Großherzogs von Würz-
burg. Im nämlichen Augenblicke, da Napoleon ſeinem Verbündeten die
norddeutſche Kaiſerkrone antrug, warnte er die Höfe von Dresden und
Caſſel vor dem preußiſchen Bündniß und ermuthigte insgeheim die groß-
ſächſiſchen Pläne wie die Sonderbundsverſuche der Hanſeaten. Am 13. Auguſt
trat er noch weiter aus dem Dunkel heraus, ließ durch Dalberg den beiden
Kurfürſten ſeinen Schutz gegen Preußens Mißwollen zuſichern, falls ſie dem
Rheinbunde beitreten wollten; und vier Wochen darauf erklärte er dem Fürſten-
Primas rundweg: er habe die volle Souveränität aller deutſchen Fürſten an-
erkannt und werde keinen Oberherrn über ihnen dulden. Nirgends hinter-
ließen dieſe franzöſiſchen Umtriebe tieferen Eindruck als am Dresdner
Hofe; ſobald das Kriegswetter heraufzog, verſuchte der geängſtete Kurfürſt
ein ähnliches Doppelſpiel zwiſchen Preußen und Frankreich, wie es Baiern
ein Jahr zuvor zwiſchen Frankreich und Oeſterreich durchgeführt hatte.
Zu furchtſam und zu ehrlich um dem Nachbarn die Bundeshilfe zu ver-
ſagen, dachte er ſich doch für alle Fälle ſicherzuſtellen und bat um plötz-
lichen Einmarſch der preußiſchen Truppen, weil er vor Napoleon als ein
unfreiwilliger Bundesgenoſſe Preußens erſcheinen wollte.


Durfte Preußen nach allen den kläglichen Demüthigungen der jüngſten
Monate ſichs auch noch bieten laſſen, daß Napoleon ihm verbot die letzten
Trümmer Deutſchlands vor der Fremdherrſchaft zu bewahren? Sollte man
zuwarten bis der Treuloſe, der die Monarchie mit ſeinen Heeren umzingelt
[241]Scheitern des Norddeutſchen Bundes.
hielt und in ſeinen Rheinfeſtungen unabläſſig rüſtete, auf der Spitze ſeines
Degens dem Könige einen neuen noch ſchimpflicheren Unterwerfungsantrag
entgegenreichte? „Napoleon greift uns an das Herz“, ſo ſchrieb General
Rüchel, „er bedroht Sachſen und Heſſen wider die heiligſten ſeiner
Verſicherungen.“ Nur das Schwert bot noch einen Ausweg aus der
völlig unhaltbaren Lage. Schon ſeit dem Winter ahnten die einſichtigen
Patrioten am Hofe, daß der Entſcheidungskampf unaufhaltſam heran-
nahe. Im Vorgefühle der nahen Kataſtrophe verſuchte der Finanzminiſter
Stein während des Frühjahrs den König von dem Einfluß ſeiner ſub-
alternen Rathgeber zu befreien. Er entwarf eine Denkſchrift über die
Gebrechen der Staatsregierung, das erſte Programm ſeiner großen Re-
formpolitik: da Preußen keine Staatsverfaſſung hat und die oberſte Ge-
walt nicht zwiſchen dem Oberhaupt und den Stellvertretern der Nation
getheilt iſt, ſo ſcheint die Regierungsverfaſſung um ſo wichtiger; die Ge-
walt iſt der Raub einer untergeordneten Influenz geworden; darum Auf-
hebung der geheimen Cabinetsregierung, und ſtatt ihrer ein Staatsrath
und fünf Fachminiſter, in unmittelbarem Verkehre mit dem Könige; dazu
neue kräftige Männer, denn man muß die Perſonen ändern, wenn man
Maßregeln ändern will. Auch Blücher ſchalt mit ſeinem kühnen Frei-
muth laut wider die Rotte niederer Faulthiere, die den edlen König um-
lagere. Im September, kurz bevor die Würfel fielen, brachten dann
mehrere Prinzen des königlichen Hauſes, Stein, Blücher und Rüchel eine
gemeinſame Vorſtellung vor den Thron: ſie ſagten dem Könige „was ganz
Preußen, ganz Deutſchland und Europa weiß“, beſchworen ihn, Haugwitz,
Beyme und Lombard zu entlaſſen. Wie tief mußte das feſte Gefüge des
alten Abſolutismus erſchüttert ſein, wenn königliche Prinzen einen ſolchen
Schritt wagen durften! Friedrich Wilhelm aber war nicht geſonnen das
Anſehen ſeiner Krone gefährden zu laſſen, er nannte das Unterfangen
eine Meuterei, gab den Bittenden einen ungnädigen Beſcheid. So blieben
denn die alte und die neue Zeit in den entſcheidenden Aemtern unver-
mittelt neben einander: im Heere ſtand der Generalquartiermeiſter Scharn-
horſt neben dem Oberfeldherrn, dem Herzog von Braunſchweig, im Mini-
ſterium ſaß Stein neben Haugwitz, im Cabinet trieb Lombard ſein Weſen,
während Hardenberg dem Monarchen vertraulichen Rath ertheilte. Unter
ſolcher Leitung nahm die unförmliche alte Monarchie den Kampf auf wider
den Gewaltigen, von dem die Franzoſen mit ſcheuer Bewunderung ſagten:
er weiß Alles, er will Alles, er kann Alles!


Eine neue Verrätherei Napoleons führte endlich den Ausbruch des
unvermeidlichen Krieges herbei. Wie oft und feierlich hatte Frankreich
ſeinem preußiſchen Verbündeten den Beſitz von Hannover gewährleiſtet;
nun erfuhr man plötzlich in Berlin, daß der Imperator, der den Sommer
über eine große Friedensverhandlung mit England und Rußland führte,
ſich unbedenklich erboten habe den Welfen ihr Stammland wieder auszu-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 16
[242]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
liefern. Auf dieſe Nachricht ſchrieb Friedrich Wilhelm ſofort (9. Auguſt)
an den Czaren: „wenn Napoleon mit London über Hannover verhandelt,
ſo will er mich verderben.“ Der König ſah voraus, daß binnen Kurzem
der unwürdige Zuſtand vom Februar ſich erneuern mußte, daß Preußen nur
noch die Wahl hatte abermals eine ſchimpfliche Beraubung ſchweigend zu
ertragen oder den Einbruch der großen Armee mit den Waffen abzuweiſen.
Darum wurde das preußiſche Heer auf Kriegsfuß geſetzt und im Magde-
burgiſchen verſammelt. Mit dieſem Schritte berechtigter Nothwehr war
der Krieg entſchieden. Denn obwohl Frankreichs Verhandlungen mit Eng-
land ſich zerſchlugen und der geplante Handel mit Hannover vorläufig
nicht zu Stande kam, ſo ſtand doch, nach den geheimen Umtrieben der
franzöſiſchen Diplomatie in Dresden und Caſſel, mit voller Sicherheit zu
erwarten, daß Napoleon freudig den bequemen Anlaß benutzen werde,
um den einzigen Staat niederzuwerfen, der noch die Ausbreitung des
Rheinbundes über das geſammte Deutſchland verhinderte. Der König
mußte gewärtig ſein, daß in den nächſten Tagen ſchon Frankreich drohend
die Abrüſtung des preußiſchen Heeres und die Auflöſung des werdenden
Norddeutſchen Bundes forderte. Mit vollem Rechte ſchrieb er ſeinem
ruſſiſchen Freunde: der Friede ſei nur noch unter zwei Bedingungen mög-
lich, wenn Napoleon ſeine Truppen aus Deutſchland zurückziehe und ſich
verpflichte, dem Norddeutſchen Bunde nichts mehr in den Weg zu legen;
es bleibe nichts mehr übrig als der Krieg, denn wer könne dieſem Manne
Geſetze vorſchreiben?


Wenn der Imperator gleichwohl mit ſeinen letzten Forderungen nicht
ſofort heraustrat, ſo geſchah es nur, weil er vorerſt den Erfolg der
mit Rußland eingeleiteten Friedensverhandlungen abwarten wollte. Mit
vollendeter Umſicht, jeden Schritt berechnend, betrieb er ſeit Monaten die
diplomatiſchen und militäriſchen Vorbereitungen für den preußiſchen Krieg;
keinen andern ſeiner Eroberungszüge hatte er je ſo behutſam eingeleitet,
denn er dachte noch immer hoch von dem fridericianiſchen Heere. Es
gelang ihm, den Gegner von den anderen Großmächten faſt völlig zu
trennen, und er hielt ſein Spiel ſo wohl verdeckt, daß Mit- und Nach-
welt ihm die Lüge glaubte, dieſer dem preußiſchen Staate aufgezwungene
Vertheidigungskrieg ſei durch einen verzweifelten Entſchluß des Königs
muthwillig vom Zaune gebrochen worden. Das Märchen fand in Preußen
ſelbſt Anklang, da nach dem unheilvollen Verlaufe des Waffenganges
Jedermann die Politik von 1806 verwünſchte.


Durch die Abtretung Hannovers hatte Napoleon den preußiſchen Hof
mit England verfeindet; nun beredete er den ruſſiſchen Bevollmächtigten
Oubril zum Abſchluß eines Sonderfriedens. Verſagte der Czar dem
eigenmächtigen Schritte ſeines Geſandten die Genehmigung, ſo lag noch
eine andere Waffe bereit, die den Petersburger Hof von dem preußiſchen
Kriege fern halten ſollte. Schon im Auguſt ging der Corſe Sebaſtiani
[243]Vorbereitungen zum Kriege.
nach Konſtantinopel, um den Sultan Selim zum Kriege gegen Rußland
zu verlocken. Er fand den Divan in zorniger Aufregung, weil Czartoryskis
unſtäte plänereiche Politik die aufſtändiſchen Serben insgeheim ermuthigt,
die Hospodare der Donauprovinzen unter ruſſiſchen Einfluß gebracht und
Unruhen unter den Inſelgriechen angezettelt hatte. Es hielt nicht ſchwer
die Pforte vorwärts zu drängen. Als Czar Alexander den Oubril’ſchen
Sonderfrieden verwarf, wußte man in Paris bereits, daß Rußland jeden-
falls nur mit halber Kraft in den preußiſchen Krieg eingreifen konnte.
Bald nach den Schlachten in Thüringen brach der Kampf an der Donau
aus, und Napoleon mahnte den Sultan: „jetzt iſt es Zeit Deine Unab-
hängigkeit zu erobern!“ Durch dieſe orientaliſchen Händel ſicherte ſich Napo-
leon zugleich die Neutralität Oeſterreichs. Der Haß wider den Sieger von
Auſterlitz war in Wien ſtärker, als das Mißtrauen gegen Haugwitz, ſtärker
ſogar als die Befriedigung über die Noth des norddeutſchen Nebenbuhlers.
Aber die Macht Oeſterreichs war durch den letzten Krieg ſo tief erſchüttert,
daß ſie in der Verwicklung des Augenblicks kaum noch mitzählte, und jetzt
wurde ſie vollends gelähmt durch die unberechenbaren türkiſchen Wirren.
Sobald Alexanders Truppen in der Wallachei einrückten, rieth Erzherzog
Karl ſeinem kaiſerlichen Bruder zur Beſetzung von Belgrad; monatelang
blieb das Wiener Cabinet gefaßt auf einen Krieg gegen Rußland. Die
Hofburg nahm daher die preußiſchen Aufforderungen ebenſo kühl auf, wie
Napoleons Anfragen wegen einer Allianz zum Schutze der Unabhängig-
keit Sachſens; um ſich die Gunſt des Imperators zu ſichern verrieth
ſie ſogar dem Tuilerienhofe einige kriegeriſche Depeſchen des preußiſchen
Miniſters.


Alſo war Haugwitz durch die diplomatiſche Meiſterſchaft des Gegners
umgarnt und in Wahrheit ſchon geſchlagen; gleichwohl wiegte er ſich in glück-
ſeligen Hoffnungen. Er rechnete zuverſichtlich auf Oeſterreichs Beiſtand, wozu
gar kein Grund vorlag, und wähnte, das Volk des Rheinbundes werde frei-
willig den Fahnen des Königs zuſtrömen, während überall Mißtrauen und
Kaltſinn den Preußen begegneten. Nur Rußlands Hilfe hatte der König
durch geheime Verhandlungen in Petersburg ſeinem Staate geſichert; aber
auch der Czar ahnte nichts von der Größe der Gefahr, ſondern meinte durch
ein Hilfsheer von 70,000 Mann genug zu leiſten und ließ ſich in den
orientaliſchen Krieg hineinziehen, derweil der Kampf um Preußens Daſein
anbrach. Dazu quälte wieder die Sorge um die unzuverläſſigen polniſchen
Provinzen. Der wohlmeinende Fürſt Radziwill rieth, der König möge den
Namen eines Königs von Polen, der Czar den eines Königs von Litthauen
annehmen, „dieſe Titel würden jedes andere Gefühl verwiſchen“. Friedrich
Wilhelm hütete ſich wohl dem zweiſchneidigen Rathe zu folgen; doch unter-
deſſen entwarf man in Paris ein Manifeſt, das die Polen aufrief an der
Seite ihrer alten franzöſiſchen Bundesgenoſſen für die Freiheit zu kämpfen.
Für die Eröffnung des Feldzugs konnte Preußen allein auf Kurſachſens
16*
[244]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Mitwirkung rechnen, und dieſes einen Freundes Treue wankte ſchon
längſt. Mehrmals ließ Napoleon dem Dresdner Hofe erklären, er be-
trachte Sachſens Theilnahme an dem Kriege als erzwungen; der ängſt-
liche Kurfürſt wagte den offenbaren Verrath noch nicht, doch beließ er
ſeinen Geſandten in Paris und ſprach, ſchon bevor die Nachricht von der
Jenaer Schlacht eintraf, dem franzöſiſchen Kaiſer ſeinen Dank aus für die
freundſchaftliche Geſinnung. Mit Sicherheit durfte Napoleon auf Kur-
ſachſens Abfall rechnen; der heſſiſche Kurfürſt aber blieb neutral, da ſeine
Habgier von dieſem Kriege nichts erwarten konnte, und Haugwitz ließ ihn
gewähren.


In ſolcher Vereinſamung erhob Preußen die Waffen wider die Macht des
geſammten Weſteuropas. Nur eine vorſichtige Vertheidigung konnte dem un-
gleichen Kampfe einen leidlichen Ausgang ſichern; geſtützt auf jenes Feſtungs-
dreieck zwiſchen Elbe und Oder, das ſo oft ſchon die Rettung des bedrängten
Staates geweſen, durfte man vielleicht hoffen die Uebermacht des Feindes
ſo lange hinzuhalten, bis das Hilfsheer aus dem Innern Rußlands heran-
kam. Aber Haugwitz wollte der mißtrauiſchen Welt unzweideutig beweiſen,
daß es ihm Ernſt ſei mit dem Kriege; er rieth zum Angriff, auch die
fridericianiſchen Traditionen des Heeres ſprachen für die verwegene Offen-
ſive. So beſchloß man durch Thüringen gegen Süddeutſchland vorzu-
brechen und ſetzte für dies tollkühne Unternehmen nicht einmal die geſammte
Armee in Marſch. Alle oſtpreußiſchen und die Mehrzahl der ſüdpreußiſchen
Regimenter, an vierzigtauſend Mann, blieben in der Heimath zurück. Wie
anders wußte Napoleon für Krieg und Sieg zu rüſten. Noch im Auguſt
ſchob er die Truppen des Rheinbundes bis an die Grenzen Thüringens
heran; in den erſten Septembertagen erließ er ſodann ſeine Marſchbefehle
an die große Armee, jeden Tagemarſch mit peinlicher Genauigkeit be-
ſtimmend. Seine Spione bereiſten die Straßen von Bamberg bis Berlin;
eine Kriegskaſſe von 24,000 Fr. war ihm genug, alles Weitere ergab ſich
von ſelbſt nach dem ſicheren Siege.


Noch beſtimmter als im vorigen Jahre bezeichnete der Imperator
diesmal die Zertheilung Deutſchlands, die Unabhängigkeit aller deutſchen
Kronen als das Ziel des Krieges; für dieſen Zweck verlangte er in einem
Rundſchreiben die Heeresfolge der Rheinbundshöfe. Dem Senate erklärte
eine kaiſerliche Botſchaft, wie Napoleon ſich verpflichtet fühle das überfallene
Sachſen vor dem Ehrgeiz eines ungerechten Nachbars zu ſichern, und nach
Ausbruch des Krieges verkündete ein Manifeſt „den Völkern Sachſens“:
Frankreich komme ſie zu befreien. Die Franzoſen, ſo viele in dem abge-
ſtumpften Geſchlechte ſich noch um politiſche Fragen kümmerten, ſtimmten
ihrem Herrſcher freudig bei; galt doch die Beſchützung der deutſchen Klein-
ſtaaterei allgemein als die Aufgabe der nationalen Politik, ſeit Heinrich II.
ſich zuerſt zum ewigen Defenſor deutſcher Libertät aufgeworfen hatte. Ebenſo
bereitwillig folgten die Fürſten des Rheinbundes dem Schirmherrn des
[245]Krieg von 1806.
deutſchen Particularismus; Friedrich von Württemberg tobte im Zorne der
beleidigten Majeſtät, als der Herzog von Braunſchweig ihn an das gemein-
ſame Vaterland und an die Pflichten deutſcher Fürſten mahnte. Die ſüd-
deutſchen Offiziere frohlockten bei dem Gedanken endlich einmal dieſen
übermüthigen Preußen die Schande von Roßbach und von Leuthen zu
vergelten; die Lanzknechtsroheit der bairiſchen und württembergiſchen Sol-
daten hauſte in den preußiſchen Quartieren noch ärger als die Fran-
zoſen ſelbſt.


Wohl war es ein heiliger Krieg; erſt durch ihn und ſein ſchreckliches
Mißlingen wurde die alte Ordnung des deutſchen Lebens völlig vernichtet.
Was dort in Regensburg zuſammenſtürzte war ein leerer Schatten; was
aber auf den Schlachtfeldern Thüringens und Oſtpreußens zertrümmert
wurde, das war der lebendige deutſche Staat, der einzige, der dem poli-
tiſchen Daſein dieſes Volkes einen Inhalt und ein Ziel gegeben hatte.
Ihn traf das Verderben, als er nach langer Verirrung ſich wieder auf
ſich ſelbſt beſann, den Kampf aufnahm wider die Zwingherrſchaft der
Fremden und die Felonie der heimiſchen Fürſten. Nichts konnte ehrlicher
ſein als der ſchonungslos aufrichtige Abſagebrief des Königs an Napoleon;
nichts berechtigter als die drei Forderungen des preußiſchen Ultimatums
vom 1. October: Abzug der Franzoſen aus Deutſchland, Anerkennung des
Norddeutſchen Bundes, friedliche Verſtändigung über die andern zwiſchen
den beiden Mächten noch ſchwebenden Streitfragen. Selbſt aus dem weit-
läuftigen ungeſchickten Kriegsmanifeſte brach doch zuweilen ein Ton würdigen
nationalen Stolzes hervor: der König ergreift die Waffen „um das un-
glückliche Deutſchland von dem Joche, worunter es erliegt, zu befreien;
vor allen Tractaten haben die Nationen ihre Rechte!“


Im Volke wie im Heere regte ſich noch kaum eine Ahnung von dem
großen Sinne des Krieges. Wie ein Prediger in der Wüſte ſtand Schleier-
macher auf der Kanzel der Ulrichskirche zu Halle und deutete den Verblen-
deten die Zeichen der Zeit: „unſer Aller Leben iſt eingewurzelt in deutſcher
Freiheit und deutſcher Geſinnung; und dieſe gilt es!“ Auch Fichte blieb noch
einſam, von Wenigen verſtanden. Sobald der Ernſt des Kampfes an Preußen
herantrat, erwachte in dem tapferen Manne die lebendige Staatsgeſinnung;
alle ſeine weltbürgerlichen Träume warf er entſchloſſen hinter ſich, und
mit flammenden Worten pries er den Beruf des vaterländiſchen Kriegers:
„was iſt der Charakter des Kriegers? opfern muß er ſich können. In ihm
kann die wahre Geſinnung, die rechte Ehrliebe gar nicht ausgehen, die
Erhebung zu etwas, was über das Leben und ſeine Genüſſe hinausliegt.“
In den ſelbſtgenügſamen Kreiſen des Offizierscorps hatte man kaum ein
geringſchätziges Lächeln übrig für die begeiſterten Reden des ſonderbaren
Schwärmers; hier herrſchte noch der ſteife Dünkel der fridericianiſchen
Zeiten und daneben eine freche Tadelſucht, die an jedem Befehle der Vor-
geſetzten ihren Witz übte. Niemand überſah noch vollſtändig, wie ſchwer
[246]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
die Armee durch den tiefen Schlummer des jüngſten Jahrzehnts gelitten
hatte. Am Richtigſten vielleicht urtheilte der König ſelbſt; die Unordnung,
das Beſſerwiſſen, die Schwerfälligkeit in Allem und Jedem entgingen
ſeinem klaren Blicke nicht; doch wie hätte der Schüchterne gegen den welt-
berühmten alten Braunſchweiger ſein Anſehen brauchen ſollen? Der ge-
meine Soldat that mechaniſch ſeine Schuldigkeit. Die Maſſen des Volkes
blieben kalt und gleichgiltig; nur die Alten, die den großen König noch
gekannt, vertrauten feſt auf die ſcharfen Fänge des preußiſchen Adlers,
ſprachen prahlend von dem Zuge nach Paris.


So begann der einzige gänzlich verlorene Feldzug der glückhaften
preußiſchen Kriegsgeſchichte. Beiſpiellos wie das Aufſteigen dieſes Staates
geweſen, ſollten auch ſeine Niederlagen werden, allen kommenden Ge-
ſchlechtern unvergeßlich wie ſelbſterlebtes Leid, allen eine Mahnung zur
Wachſamkeit, zur Demuth und zur Treue. Napoleon flammte auf in
wilder Schadenfreude, als er die ruhmreichſte der alten Mächte ſo hilf-
los unter ſeinen Griffen ſah; die Schmähungen troffen ihm von den
Lippen; noch niemals war er ſo ganz Leidenſchaft, ſo ganz Haß und
Grimm geweſen. Er fühlte, daß in dieſem Staate Deutſchlands letzte Hoff-
nung lag; er ahnte mit dem Inſtinkte der Gemeinheit, daß dieſe Hohen-
zollern doch von anderem Metall waren als Kaiſer Franz und die Satrapen
des Rheinbundes. In ſeinen Anſprachen an die Armee überſchüttete er
vor Allen die edle Königin mit pöbelhaftem Schimpf; ſie, die an den ent-
ſcheidenden Berathungen des Auguſts gar keinen Antheil genommen, ſollte
die Schuld tragen an „dem Bürgerkriege“, der das argloſe Frankreich ſo
ganz unvermuthet überraſchte; ſie dürſtete nach Blut, ſie ſetzte, eine andere
Armida, im Wahnſinn ihr eigenes Schloß in Brand. Noch bevor die
Schwerter an einander ſchlugen war bereits entſchieden, daß zwiſchen Napo-
leon und den Hohenzollern nie wieder ein ehrlicher Friede beſtehen konnte.
Höhnend ſchloß der Imperator ſein Kriegsmanifeſt: möge Preußen lernen,
daß, wenn es leicht iſt durch die Freundſchaft der großen Nation Land
und Leute zu gewinnen, ihre Feindſchaft ſchrecklicher iſt als die Stürme
des Oceans!


Wie Haugwitz durch die Eigenmächtigkeiten des letzten Winters den
Staat in ſeine verzweifelte diplomatiſche Lage gebracht hatte, ſo verſchuldete
er auch die verfehlte Einleitung des Feldzugs. Trotz ihres ungeheuren
Troſſes hatte die preußiſche Armee ihren Aufmarſch in Thüringen früher
beendet als der Feind; aber der beabſichtigte Einfall in Franken unter-
blieb, weil Haugwitz erſt den Erfolg ſeines Ultimatums abwarten wollte.
Man verlor einige unſchätzbare Tage in zweckloſem Verweilen nördlich
des Thüringerwaldes. Da kam die Nachricht, daß der Feind durch das
öſtliche Thüringen auf der Nürnberg-Leipziger-Straße heraneile, die linke
Flanke der Preußen bedrohend. Der Herzog von Braunſchweig fürchtete
für ſeine Rückzugslinie und befahl den Abmarſch nach der Elbe. Auf
[247]Schlacht von Jena.
dieſem Rückzuge wurde die Armee zugleich vom Süden und vom Oſten her
angegriffen. Der Kaiſer ſelbſt rückte durch das Saalthal nordwärts. Die
Vorhut der Preußen ward bei Saalfeld geworfen; der Tod des hochher-
zigen Prinzen Louis Ferdinand ſchlug als ein unheilvolles Vorzeichen die
Zuverſicht der Truppen völlig nieder, und mit Entſetzen hörten die Offi-
ziere aus den zerſtreuten Haufen den in der preußiſchen Armee noch un-
bekannten Ruf: wir ſind Verſprengte!


Fürſt Hohenlohe aber verlor jetzt in einem Tage den einſt am
Rheine ritterlich erworbenen Soldatenruhm. Er ging mit ſeinem preu-
ßiſch-ſächſiſchen Corps auf die Hochebene des linken Saalufers über Jena
zurück, und da ihm verboten war ſich in ein ernſtes Gefecht einzulaſſen,
ſo verſäumte er nicht nur die Flußübergänge, ſondern auch die das Thal
und die Hochfläche überſchauenden Höhen zu beſetzen. Napoleon bemerkte
den Fehler ſofort, bemächtigte ſich alsbald der Höhenränder, führte ſelber
Nachts, mit der Fackel in der Fauſt, das Geſchütz die ſteilen Abhänge
hinauf; und als der nebelgraue Morgen des 14. Octobers anbrach,
hielt der Imperator ſchon den ſicheren Sieg in Händen. Wie ſollte dieſer
Bruchtheil der preußiſchen Armee die Poſition von Vierzehnheiligen be-
haupten gegen das franzöſiſche Hauptheer, das jetzt mit erdrückender Ueber-
macht von den beherrſchenden Höhen aus den Angriff begann? Der deutſche
Soldat focht tapfer, des alten Ruhmes würdig, die preußiſche Reiterei
zeigte ſich den Wälſchen wie immer überlegen; nur im zerſtreuten Gefechte
konnte das ſchwerfällige Fußvolk mit den flinken Tirailleurs Napoleons
ſich nicht meſſen. Die Franzoſen beflügelte das kriegeriſche Feuer junger
ſieggewohnter Führer, die Alliirten lähmte die Bedachtſamkeit ihrer hilf-
loſen alten Stabsoffiziere; voyez donc le pauvre papa saxon! rief der
franzöſiſche Soldat mit ſpöttiſcher Verwunderung einem gefangenen greiſen
Oberſten zu. Noch konnte General Rüchel mit ſeinen friſchen Truppen
der geſchlagenen Armee einen geordneten Rückzug ſichern, aber er führte
die Regimenter vereinzelt zu nutzloſem Kampfe vor. Alſo ward auch die
Reſerve mit in die Niederlage verwickelt, und als nun in der frühen
Herbſtnacht der Rückmarſch gegen Weimar angetreten wurde, da zerriſſen
die letzten ſittlichen Bande, welche dies Heer noch zuſammenhielten. Taub
gegen die Mahnungen ungeliebter Führer dachte der Soldat nur an
ſich ſelber. In einem unförmlichen Klumpen wälzten ſich die Trümmer
der Bataillone und der Batterien, dazwiſchen eingekeilt der unendliche
Troß, über die Hochebene dahin; jeder Hornruf des nachſetzenden Feindes
ſteigerte die Verwirrung, weckte die gemeine Angſt um das Leben. „Das
waren Gräuel,“ ſagte Gneiſenau, dieſer fürchterlichen Nacht gedenkend;
„tauſendmal lieber ſterben, als das noch einmal erleben!“ Vergeblich
ſammelte er einige Haufen der Flüchtigen am Rande des Webichtholzes
nahe vor Weimar um den Rückzug des Corps zu decken. Er ſollte lernen,
was die dämoniſche Macht des Schreckens über ein geſchlagenes Heer ver-
[248]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
mag; ein letzter Angriff der franzöſiſchen Reiter, aufs Gerathewohl in das
Dunkel der Nacht hineingeführt, warf Alles in wilder Flucht auseinander.
Unauslöſchlich haftete dies Bild des Entſetzens in der Seele des Helden,
ein Vermächtniß für die Tage der Vergeltung.


Gleichzeitig erfocht Davouſt einige Meilen weiter flußab einen un-
gleich ſchwereren Sieg über die preußiſche Hauptarmee. Er zog auf der
Straße von Naumburg weſtwärts um den Preußen den Weg zur Elbe
zu verlegen. Als ſeine Colonnen am Morgen des Vierzehnten ſoeben
aus dem Köſener Engpaſſe auf die wellige Hochfläche hinaufgerückt waren,
die zwiſchen Heſſenhauſen und Auerſtädt ſteil über dem linken Saalufer
emporſteigt, da ſtießen die beiden Heere plötzlich im dichten Nebel auf
einander, beide im Marſch, beide des Kampfes nicht gewärtig, die Preußen
hier dem Feinde an Zahl reichlich gewachſen. Schon während der erſten
Stunden der Schlacht wurde der Herzog von Braunſchweig tödlich ver-
wundet; das preußiſche Heer blieb in den entſcheidenden Augenblicken
ohne Oberbefehl. Wohl drang Scharnhorſt mit dem linken Flügel ſieg-
reich vor, doch die Reiterei des rechten Flügels ward ungeſchickt verwendet,
und das zweite Treffen nahm an dem Kampfe gar nicht theil, denn in
dieſem Friedensheer wagte kein General auf eigne Fauſt zu handeln. So
glückte es dem Feinde, freilich nur mit dem Aufgebote ſeiner letzten Re-
ſerven, den rechten Flügel der Preußen zu werfen, und nunmehr mußte
auch Scharnhorſt weichen. In leidlicher Ordnung ging das Heer zurück um
weiter weſtlich bei Buttſtedt gegen Norden abzubiegen und den Weg über
Sangerhauſen nach Magdeburg einzuſchlagen. Dieſelbe Rückzugsſtraße
hatte auch Hohenlohe von Weimar aus genommen, und jetzt erſt da die
beiden geſchlagenen Heere im Dunkel der Nacht auf einander trafen, ward
der Schrecken allgemein und die Hauptarmee in die Zerrüttung des Hohen-
lohiſchen Corps mit hineingeriſſen. Die Mannſchaft ſah ſtumpf und theil-
nahmlos den Untergang des alten Preußens, ſchaarenweiſe verließ ſie die
Fahnen; ſelbſt Gefangene, die ein beherzter Reitertrupp wieder befreit hatte,
weigerten ſich die Waffen wieder aufzunehmen. Als man der Heimath näher
kam, ſtahl ſich auch mancher treue Mann zu den Seinigen hinweg; die
Altgedienten ſagten: ich habe lang genug den Kuhfuß getragen, der König
hat der jungen Burſche genug, die mögen es ausfechten! Der Zauber
der fridericianiſchen Unbeſiegbarkeit war gebrochen, ein Kriegsruhm ohne
Gleichen war verloren.


Schon am 15. October legte Napoleon allen preußiſchen Provinzen
dieſſeits der Weichſel eine Contribution von 159 Mill. Fr. auf, denn das
Ergebniß der geſtrigen Schlacht ſei die Eroberung aller dieſer Lande.
Vermeſſener hatte der Glückliche noch nie geprahlt, und doch ſollte die
frevelhafteſte der Lügen durch ein wunderbares Geſchick zur buchſtäblichen
Wahrheit werden. Der Dresdner Hof vollzog ſogleich nach der Nieder-
lage den längſt geplanten Abfall und trat zu Napoleon über. Acht Tage
[249]Die Capitulationen.
nach der Schlacht wurden die preußiſchen Gebiete links der Elbe, ſowie
die Beſitzungen der Oranier und des heſſiſchen Kurhauſes vorläufig dem
franzöſiſchen Kaiſerreiche einverleibt. Das Syſtem zweideutiger Neutra-
lität, das der Kurfürſt von Heſſen mit Napoleons Zuſtimmung einge-
halten, fand jetzt ſeine Strafe: der Sieger wollte den geheimen Feind in
ſeinem Rücken nicht mehr dulden. In Münſter feierte die altſtändiſche
Libertät jubelnd die Erlöſung vom preußiſchen Joche; man riß die ſchwarz-
weißen Schlagbäume nieder, franzöſiſche und münſterländiſche Fahnen ver-
herrlichten den Einzug der napoleoniſchen Truppen. Auch in Hannover
wurden die ſchwarzen Adler eilfertig abgenommen und die Entfernung der
preußiſchen Beamten mit unverhohlener Schadenfreude begrüßt.


Während alſo die neuen Provinzen verloren gingen, erlitt die Reſerve-
armee bei Halle eine Niederlage, und da ſie nach Magdeburg zurückwich ſtatt
die Hauptſtadt zu ſichern, ſo konnte Napoleon ungehindert auf der Sehne
des weiten Bogens, den die Beſiegten beſchrieben, ſeinen Siegeszug nach
Berlin fortſetzen. Furchtbar rächte ſich nun der ſelbſtgefällige Hochmuth
der bequemen Friedenszeiten. Keiner der feſten Plätze war gerüſtet; denn
Niemand hatte das Vordringen des Feindes bis in das Herz der Mo-
narchie für denkbar gehalten; der ſchwerfällige Staatshaushalt, der nach
der Weiſe eines guten Hausvaters die Ausgaben nach den Einnahmen
bemaß, gebot auch gar nicht über die Mittel für außerordentliche Fälle.
Mancher der abgelebten alten Feſtungscommandanten war in jungen
Jahren ein wackerer Offizier geweſen, doch ihr Pflichtgefühl entſprang
nicht der Vaterlandsliebe, ſondern dem Standesſtolze; das Heer war
ihnen Alles, erfroren in ſteifem Dünkel erwarteten ſie gelaſſen den un-
fehlbaren Sieg der fridericianiſchen Regimenter. Als nun die ſinnver-
wirrende Kunde von der Niederlage durch das Land flog, als die elenden
Trümmer dieſes unüberwindlichen Heeres in Magdeburg anlangten, die
ganze Stadt mit Schrecken und Verwirrung füllend, da ward den alten
Herren zu Muthe, als ginge die Welt unter; jeder Widerſtand ſchien
ihnen nutzlos, was ihrem Leben Halt gegeben war zerbrochen. Nach dem
Falle von Erfurt, das ſogleich nach der Schlacht ſchimpflich capitulirte,
öffneten bald auch die Hauptfeſtungen des alten Staates, Magdeburg,
Küſtrin, Stettin, und mehrere kleinere Plätze ihre Thore.


Mit richtigem Gefühle warf das treue Volk ſeinen Zorn zumeiſt auf „die
Federbüſche“, die Generale; denn wie der Verluſt der Doppelſchlacht weſent-
lich durch die Führung verſchuldet war, ſo auch dieſe letzte Schmach. Ueberall
zeigte die Haltung der Beſatzungen, daß ſie eines beſſeren Looſes würdig waren.
Junge Offiziere zerbrachen in wilder Verzweiflung ihre Degen, gemeine
Soldaten ſetzten einander die Muskete auf die Bruſt und feuerten ab
um nur den Schimpf der Capitulation nicht zu erleben; in Küſtrin
meuterten mehrere Bataillone gegen den ehrloſen Commandanten. Aber
ſo machtlos war noch das öffentliche Urtheil: keiner dieſer pflichtvergeſſe-
[250]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
nen Alten hat nachher, als die ſchimpfliche Strafe ihn ereilte, ein be-
ſchmutztes Leben durch freiwilligen Tod geſühnt. Auch Fürſt Hohenlohe
ging mit Unehren zu Grunde: unter unſäglichen Entbehrungen hatte er
die Trümmer ſeines Corps auf weiten Umwegen bis in die Ukermark ge-
führt, da ereilten ihn die Franzoſen bei Prenzlau, in den Sümpfen am
Ukerſee. Erſchöpft an Leib und Seele, tief erſchüttert durch die Unglücks-
botſchaften, die ihm von allen Seiten zuſtrömten, ließ er ſich durch Murats
Lügen über die Stärke des Feindes gröblich täuſchen; der Schwager Napo-
leons verpfändete nach dem Brauche dieſer Abenteurer des Kaiſerreichs
unbedenklich ſein Ehrenwort für eine bewußte Unwahrheit. Ein letzter
verzweifelter Angriff des tapferen Prinzen Auguſt ſcheiterte; das Hohen-
lohiſche Corps capitulirte im freien Felde. So endete jener ritterliche
Fürſt, der einſt die Zierde des preußiſchen Heeres war, der in den Ver-
ſuchungen der rheinbündiſchen Tage allein unter den Fürſten des Südens
ehrenhaften Muth und deutſche Treue bewährt hatte.


Die Armee war vernichtet. Durch den Fall von Stettin und Küſtrin
ward auch die Oderlinie unhaltbar, und völlig ausſichtslos ſchien der Ge-
danke, mit den oſtpreußiſchen Regimentern jenſeits der Weichſel noch einen
letzten Widerſtand zu verſuchen. Napoleon ſchrieb dem Sultan befriedigt:
„Preußen iſt verſchwunden“; und ſelbſt Gentz meinte: „es wäre mehr
als lächerlich, an die Wiederauferſtehung Preußens auch nur zu denken!“
Wie viele Stürme waren über dieſen Staat dahin gegangen ſeit ſeine
Herrſcher ihm den ſteilen Weg zur Größe wieſen; ſchon oft hatte die
Hauptſtadt den Landesfeind in ihren Mauern geſehen; doch jetzt zum
erſten male in Preußens ehrenreicher Geſchichte geſellte ſich dem Unglück
die Schande. Scham und Reue brannten verzehrend in Aller Herzen,
und die rohe Schadenfreude des Eroberers unterließ nichts, was ſolche
Empfindungen ſtärken konnte. Gefliſſentlich trug er die Verachtung gegen
Alles was preußiſch hieß zur Schau; im Königsſchloſſe der Hohenzollern
ſchrieb er neue unfläthige Schmähungen gegen die Königin Luiſe. Rock
und Degen Friedrichs des Großen ſchenkte er den Invaliden in Paris
unter Hohnreden gegen dieſen Hof, der das Grab ſeines größten Mannes
ſo ſchmucklos laſſe; den Obelisken auf dem Roßbacher Schlachtfelde zer-
trümmerte die kaiſerliche Garde; die Victoria vom Brandenburger Thore
wurde herabgeriſſen um an der Seine in einem Schuppen zu verſchwinden.
Welch ein Anblick, als das glänzende Regiment der Gensdarmes, entwaffnet,
abgeriſſen und halbverhungert, in jammervollem Zuſtande wie eine Vieh-
heerde die Linden hinab getrieben wurde. Unter Trommelwirbel und
Trompetengeſchmetter, in feierlichem Aufzuge trug man die alten Fahnen
mit dem ſonnenwärts fliegenden Adler, ganze Körbe voll ſilberner Pauken
und Trompeten durch die Stadt, beredte Zeugen alten Ruhmes, neuer
Schande. Von den Truppen, die im Felde geſtanden, war die Garde du
Corps wohl das einzige Regiment, das alle ſeine alten Ehrenzeichen ge-
[251]Napoleon in Berlin.
rettet hatte. Bald wurde verboten, daß irgend eine preußiſche Uniform
ſich in Berlin blicken laſſe; auch die penſionirten alten Offiziere ſollten den
blauen Rock ausziehen. Dazu die unerſchwinglichen Contributionen, dazu
der Uebermuth, die Völlerei, die Erpreſſungen der Einquartierung. Am
21. November erließ Napoleon aus Berlin jenes unerhörte Decret, das
allen Handel mit England verbot, alle engliſchen Waaren zur Confis-
cation verurtheilte: das Syſtem der Continentalſperre ward begründet,
Deutſchlands Wohlſtand auf Jahre hinaus gewaltſam unterbunden.


Es fehlte nicht an Zügen ehrloſer Unterwürfigkeit; die Niedertracht,
die in keinem Volke mangelt, erſchien hier häßlicher als anderswo, denn
deutſche Formloſigkeit verſteht ſich nicht, wie die feinere Bildung der Ro-
manen, auf die zweifelhafte Kunſt den äußeren Anſtand mitten in der
Gemeinheit zu wahren. Mancher ſchlechte Geſell bot dem Eroberer kriechend
ſeine Dienſte an. Lange, Buchholz und andere Chorführer der Berliner Auf-
klärung verherrlichten den Sieg der Vernunft über das adliche Vorurtheil;
der Haß des Volkes gegen den Uebermuth der Offiziere bekundete ſich in
einigen empörenden Auftritten roher Spötterei. Auch die ſchwerfällige
Pedanterei und die gedankenloſe Pünktlichkeit des Beamtenthums lähmten
dem Staate die Widerſtandskraft; alle Behörden beſorgten in der wilden
Zeit ruhig ihr gewohntes Tagewerk, alſo daß die einrückenden Sieger
überall einen geordneten Verwaltungsapparat zu ihren Dienſten vorfanden
und mancher wohlmeinende alte Kriegsrath, ohne es ſelber recht zu merken,
ein Werkzeug des Feindes wurde. Unter den Fällen offenbaren Verrathes
erſchien keiner ſo ſchmählich wie der Abfall Johannes Müllers. Den pathe-
tiſchen Lobredner altdeutſcher und ſchweizeriſcher Freiheit riſſen die Triumphe
des Imperators zu knechtiſcher Bewunderung hin; er hielt es an der Zeit
ſich gänzlich umzudenken, feierte in ſchwülſtigen Perioden Napoleon und
Friedrich als die Heroen der modernen Welt. Da ſagte ihm ſein alter
Genoſſe Gentz empört die Freundſchaft auf und wünſchte ihm nur die
eine Strafe von allmächtigem Gewicht: daß er den Uſurpator geſtürzt und
Deutſchland wieder frei und glücklich ſehen möge! Minder unwürdig, doch
ebenſo krankhaft war die wiſſenſchaftliche Gelaſſenheit, womit Hegel ſich
den Untergang ſeines Vaterlandes zurechtlegte: der meinte die Weltſeele zu
ſehen, als Napoleon über das Feld von Jena ſprengte, und zog aus dem
Falle des alten Preußens die kluge Lehre, daß der Geiſt immer über geiſt-
loſen Verſtand und Klügelei den Sieg davontrage. Ueberhaupt wurde
dort in Thüringen der erſte betäubende Eindruck des Unglücks raſch ver-
wunden; erſt unter dem unbarmherzigen Drucke der folgenden Jahre lernte
das mitteldeutſche Volk, wie feſt ſein eigenes Leben mit dem Schickſale des
preußiſchen Staates verwachſen war.


In den alten preußiſchen Provinzen begann der Umſchwung der
Stimmungen ſchon früher, unmittelbar nach den erſten Niederlagen.
Napoleons zügelloſer, beſtändig wachſender Haß gegen Preußen nährte ſich
[252]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
an dem geheimen Argwohne, daß in dieſem Staate, trotz aller Schmach
und Thorheit der jüngſten Wochen, doch eine unzähmbare Willenskraft
ſchlummere, wie ſie dem Imperator auf dem Feſtlande noch nie begegnet
war. Was der preußiſche Soldat unter kräftiger Führung zu leiſten ver-
mochte, das lehrte der Rückzug des Blücherſchen Corps; in dieſen Kämpfen
wurden mehrere jener Helden, welche dereinſt eine neue beſſere Zeit über den
Staat heraufführen ſollten, zuerſt bei Freund und Feind bekannt. Blücher
ging mit den Ueberreſten der Reſervearmee und einigen anderen Truppen im
Magdeburgiſchen über die Elbe um das Hohenlohiſche Corps zu erreichen,
und Oberſt York mit ſeinen Jägern wehrte dem nachrückenden Feinde viele
Stunden lang den Uebergang über den Fluß in dem glänzenden Gefechte
von Altenzaun. Als die Vereinigung mit Hohenlohe durch die Nachricht
von der Prenzlauer Capitulation vereitelt wurde, faßte Scharnhorſt den
verwegenen Plan ſich gegen Flanke und Rücken der Franzoſen zu wenden,
damit ein Theil des feindlichen Heeres von den Marken hinweggezogen
würde. Die kleine Schaar warf ſich nach Mecklenburg, und es gelang
ihr wirklich, drei franzöſiſche Armeecorps hinter ſich herzulocken. Inmitten
der Sorgen und Nöthe dieſes harten Rückzugs ſtiegen in Scharnhorſts
freier Seele ſchon die erſten ſchöpferiſchen Gedanken der Heeresreform auf:
mit überzeugender Klarheit erörterte er in Gadebuſch, in einem Geſpräche
mit Müffling: wie die Theilnahmloſigkeit des gemeinen Soldaten unter
den niederſchlagenden Erfahrungen der letzten Wochen doch die ſchwerſte,
der letzte Grund alles Unglücks ſei, und wie es jetzt gelte die Armee alſo
umzugeſtalten, daß ſie ſich eins wiſſe mit dem Vaterlande. *) Dann
kämpfte das Corps noch mit verzweifeltem Muthe an den Thoren und in
den Straßen Lübecks gegen die Uebermacht des Feindes; erſt als alle
Munition und aller Proviant verloren, jeder Widerſtand unmöglich war,
legte Blücher bei Rattkau die Waffen nieder. Es waren Kämpfe voll
Heldenzornes, wie ſie der elende Feldzug von 1805 nie geſehen; und
ganz anders als die gedankenloſe Neugierde der Wiener erſchien auch die
würdige Haltung der großen Mehrheit des Berliner Volkes beim Einzuge
Napoleons. So hatte noch Niemand zu dem Imperator geredet wie jener
ehrwürdige Prediger Erman, der bei der Begrüßung am Thore rund her-
aus ſagte, ein Diener des Evangeliums dürfe nicht die Lüge ausſprechen,
daß er ſich freue über den Einzug des Feindes.


Die ſchonungsloſe Wahrhaftigkeit des Krieges vernichtete die Phraſen
der aufgeklärten Eitelkeit, zerſtörte jene Traumwelt des Verſtandes, worin
die großſtädtiſche Ueberbildung ſich zu verlieren pflegt, und zwang die er-
ſchlafften Gemüther wieder aus Herzensgrunde zu haſſen und zu lieben.
Mit dem Wohlleben der geiſtreichen Geſelligkeit ging auch die papierene
[253]Umſchlag der Volksſtimmung.
Zeit zu Ende. Nun da das Elend in jedem Hauſe wohnte, ſah auch der
Bildungsſtolz die gewaltige Hand des lebendigen Gottes; der Gelehrte
wie der Einfältige erkannte, was dies räthſelvolle Leben iſt ohne den
Glauben und was der armſelige Menſch ohne ſein Volk. Je länger die
Einquartierung währte, um ſo ernſter, geſammelter, preußiſcher wurde die
Stimmung, und bald war die Stadt der frivolen Kritik kaum mehr
wiederzuerkennen. Alles lauſchte in athemloſer Spannung auf die Nach-
richten vom oſtpreußiſchen Kriegsſchauplatze. Die Invaliden ſpielten auf
ihren Drehorgeln das Klagelied um Prinz Louis Ferdinand, das einzige
Volkslied, das in dem dumpfen Jammer dieſes Krieges entſtanden war,
und am Geburtstage der geliebten Königin flammten, dem Verbote des fran-
zöſiſchen Gouverneurs zum Trotz, in allen Berliner Häuſern die Lichter
hinter den verhängten Fenſtern. Auch auf dem Lande begann die Schlummer-
ſucht der Friedenszeiten zu ſchwinden; mancher wetterfeſte Bauersmann
blickte grimmig auf zu dem Bilde des großen Königs an der Wand.


So in Noth und Schmach lernte Barthold Niebuhr das preu-
ßiſche Volk zuerſt kennen und ſchloß ſich ihm an mit aller Leidenſchaft
ſeines großen Herzens, denn er ſah an ihm, daß edle Naturen im
Unglück größer erſcheinen als im Glücke. Unmittelbar vor der Jenaer
Schlacht war er aus Dänemark in den preußiſchen Staatsdienſt hinüber-
gekommen, und als er dann auf der Flucht nach Königsberg mit den
Pommern und Altpreußen verkehrte, da ſchrieb er zuverſichtlich: „ich habe
in dieſen Tagen nirgends mehr ſo viel Kraft, Ernſt, Treue und Gut-
müthigkeit vereinigt zu finden erwartet; mit einem großen Sinne geleitet
wäre dies Volk der ganzen Welt unbezwinglich geweſen!“ Doch die Menge
will immer erſt fühlen bevor ſie hört; früher und bewußter als in der
Maſſe, die erſt durch die anhaltende Noth der kommenden Jahre ganz
für den Gedanken der Befreiung gewonnen wurde, erwachte der vater-
ländiſche Zorn unter dem Kriegsadel und unter den Gelehrten. Der
militäriſche Stolz des alten Preußenthums und der kühne Idealismus
der jungen deutſchen Literatur begegneten ſich plötzlich in einem Ge-
danken. Mitten im Niedergange der alten Monarchie bereitete ſich ſchon
die große Wendung vor, welche den Gang unſerer Geſchichte im neun-
zehnten Jahrhundert beſtimmt hat: die Verſöhnung des preußiſchen Staates
mit der Freiheit deutſcher Bildung. Während in den alten Soldaten-
geſchlechtern ingrimmige Erbitterung gegen die Fremdherrſchaft vorherrſchte,
mancher tapfere Mann aus dieſen Kreiſen dem Könige freiwillig ſeine
Dienſte anbot, ging auch Fichte von freien Stücken nach Königsberg,
weil er ſein Haupt nicht unter das Joch des Treibers biegen wollte. Um
Schleiermacher aber ſammelte ſich ſchon in der Stille ein Kreis warm-
herziger Patrioten. Der treue Mann ſah aus dem tiefen Falle die „Re-
generation Deutſchlands“ emporſteigen; er wollte dabei ſein mit Wort und
Schrift und jetzt am wenigſten ſeinen König verlaſſen: „eine freie Rede
[254]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
iſt für Napoleon das ſchärfſte Gift“; keinen Augenblick glaubte er an die
Dauer der franzöſiſchen Triumphe, denn dieſer Sieger „hat zu wenig den
Sinn eines Königs“.


Völlig überwältigt von der unerwarteten Niederlage hatte König Fried-
rich Wilhelm ſogleich nach der Schlacht unter demüthigenden Bedingungen
den Frieden angeboten. Es waren die häßlichſten Tage ſeines Lebens;
einige ſeiner Räthe empfahlen ſchon den Eintritt Preußens in den Rhein-
bund. Erſt der Uebermuth des Siegers gab dem unglücklichen Fürſten
das Bewußtſein ſeiner königlichen Pflichten wieder. Napoleon ſteigerte
ſeine Forderungen im Verlaufe der Unterhandlungen, verlangte außer der
Abtretung aller Lande links der Elbe auch noch, daß Preußen von dem
ruſſiſchen Bündniß zurücktrete. Da erwachte der Stolz des Königs; ſein
Gewiſſen konnte ſich nicht entſchließen, daſſelbe zu thun, was Kaiſer Franz
vor einem Jahre in ungleich günſtigerer Lage unbedenklich gethan, und
den Bundesgenoſſen zu verlaſſen, den er ſoeben ſelbſt um Hilfe gebeten
hatte. Als am 21. November im Hauptquartier zu Oſterode Rath ge-
halten wurde über die Annahme des Waffenſtillſtandes, welchen Luccheſini
und Zaſtrow kleinmüthig unterſchrieben hatten, da kam der Augenblick,
der die Männer von den Buben und den Klüglingen ſchied. Nicht blos
Stein, der die Kaſſen des Staates, die Mittel zur Fortſetzung des Krieges,
nach Oſtpreußen gerettet hatte, ſtimmte für die Verwerfung des Vertrages,
ſondern auch ſein politiſcher Gegner, der hochconſervative Graf Voß, einer
der Führer des märkiſchen Adels. Der König entſchied in ihrem Sinne,
nahm die Waffen wieder auf hier in der entlegenen Oſtmark des Reichs,
dem letzten Bollwerk deutſcher Freiheit. Gleich darauf erhielt Haugwitz
ſeine Entlaſſung. Von jenem Tage an hat der vielverkannte Monarch,
wie oft er auch im Einzelnen irrte und ſchwankte, doch unverbrüchlich
durch ſechs entſetzliche Jahre den Gedanken feſtgehalten: kein ehrlicher
Friede mit Frankreich als nach der Wiederherſtellung des alten Preußens.
So begann der Feldzug in Oſtpreußen, der erſte, während deſſen die
Sonne des Glücks dem Imperator nicht ungetrübt leuchtete, der erſte,
der dem verzweifelnden Welttheil wieder die Ahnung erweckte, daß auch
dieſer Allgewaltige nicht unüberwindlich ſei.


Napoleons ſcharfes Auge erkannte raſch, daß er in Norddeutſchland
die Zügel ſeiner Herrſchaft ſtraffer anziehen mußte als in den Kernlanden
des Rheinbundes. Im Süden umgaben ihn Frankreichs erprobte Bundes-
genoſſen, die ihre neugebildeten Staaten gelehrig nach neufranzöſiſchen
Grundſätzen regierten; im Norden fand er ein zäheres, dem galliſchen
Weſen völlig unzugängliches Volksthum, eine ſtreng proteſtantiſche Cultur,
ſchwerfällige altſtändiſche Verfaſſungen, alte mit Preußen, England und
Rußland eng verbundene Fürſtengeſchlechter. Darum griff er hier von
Haus aus ſchärfer ein, behielt ſich die ganze Maſſe des Nordweſtens, die
Lande der Welfen, Heſſen und Oranier, zur Ausſtattung ſeiner eigenen
[255]Unterwerfung der norddeutſchen Fürſten.
Verwandten vor. Nur eine der eingeſeſſenen norddeutſchen Dynaſtien
war ihm als ein natürlicher Freund willkommen: die alten Nebenbuhler
der Hohenzollern, die Albertiner, für deren Souveränität er ja angeblich
die Waffen ergriffen hatte. Am 11. December wurde Kurſachſen durch
den Poſener Frieden in den Rheinbund aufgenommen und mit der Königs-
krone begnadigt. Um den neuen König für immer von Preußen zu trennen
ſchenkte ihm Napoleon die preußiſche Niederlauſitz, das treue Cottbuſer
Land, und befahl ihm, ſofort ein Hilfscorps gegen den verrathenen Bundes-
genoſſen ins Feld zu ſenden. Auch die perſönliche Dankbarkeit des bigotten
Friedrich Auguſt gewann ſich der Imperator, da er die Gleichberechtigung
der Katholiken und der Proteſtanten in Sachſen anordnete, eine Neuerung,
welche der Dresdner Hof bei ſeinen hartlutheriſchen Ständen niemals
hätte durchſetzen können. Dieſer letztere Schritt Napoleons war übrigens
mehr als ein diplomatiſcher Schachzug; denn immer deutlicher von Jahr
zu Jahr trat die innere Verwandtſchaft hervor, welche jedes moderne
Weltreich mit der römiſchen Weltkirche verbindet. Auch der Erbe der Re-
volution konnte den Beiſtand Roms nicht entbehren, ſo wenig wie einſt
Karl der Fünfte; ſeine Briefe an den heiligen Stuhl wie ſeine Botſchaften
an den Senat betonten nachdrücklich, wie er überall unſere heilige Religion
von ihren proteſtantiſchen Verfolgern befreit habe und den Todfeind der
römiſchen Kirche, England, unabläſſig bekämpfe.


In Kurſachſen aber feierte die deutſche Unterthänigkeit ihre Satur-
nalien, gemeiner noch als ein Jahr zuvor in Baiern. Wie fühlte man
ſich ſo glücklich, dem ſtolzen preußiſchen Nachbarn endlich wieder im Range
gleich zu ſtehen! Auf Neujahr 1807, während an der Weichſel um die
letzten Splitter deutſcher Freiheit gefochten wurde, veranſtaltete die Stadt
Leipzig ein prächtiges Freudenfeſt zu Ehren der neuen Rautenkrone. Die
Sonne Napoleons, das prahleriſche Sinnbild, das er von ſeinem Vor-
fahren Ludwig XIV. entlehnt hatte, leuchtete weithin durch die geſchmückten
Gaſſen. Auf dem Markte prangte der Altar des Vaterlandes; die Stu-
denten rückten in feierlichem Zuge heran und verbrannten dort ihre Fackeln
unter dem Jubelgeſange: „gerettet iſt das Vaterland!“ Auch die Cadaver
in der akademiſchen Anatomie ſchloſſen ſich dem kurſächſiſchen National-
vergnügen an; eine erleuchtete Inſchrift über der Eingangsthüre verkündete:
„Selbſt die Todten rufen: Lebe!“


Die übrigen kleinen Herren des Nordens waren in Napoleons
Augen nur preußiſche Vaſallen und Offiziere, gern hätte er ſie alle-
ſammt entfernt. Aber die zerſtreute Lage dieſer wunderſamen Staats-
gebilde erſchwerte die Einverleibung, auch ſtand ein zuverläſſiger Rhein-
bundskönig, dem man ſie ſchenken konnte, augenblicklich nicht zur Ver-
fügung. Den Imperator quälten ernſtere Sorgen, er legte auf die Frage
nicht mehr Werth als ſie verdiente und wünſchte vor Allem raſchen Abſchluß
des Handels, weil er die kleinen Contingente ſogleich in dem preußiſchen
[256]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Kriege verwenden wollte. So fanden denn die Kleinfürſten Thüringens
und Weſtphalens eine leidliche Aufnahme, als ſie, die Einen perſönlich,
die Andern durch ihre Miniſter, im Hauptquartiere zu Poſen die Gnade
des Siegers anflehten. Zum dritten male begann das ekelhafte Schau-
ſpiel des deutſchen Länderhandels, zum dritten male floß das Gold deutſcher
Fürſten in die unergründlichen Taſchen der napoleoniſchen Diplomatie,
und das Geſchäft verlief glücklich, da die bedrängten Kleinen in dem
naſſauiſchen Staatsmanne Hans von Gagern einen rührigen und un-
eigennützigen Makler fanden. Dieſer wunderliche Verehrer der altdeutſchen
Freiheit hatte aus ſeinen gelehrten reichsgeſchichtlichen Forſchungen den
Schluß gezogen, daß der reine Germanismus, die wahre Größe Deutſch-
lands in der buntſcheckigen Zerſplitterung ſeines Staatslebens beſtehe.
Als er nun von den Aengſten der kleinen Herren des Nordens erfuhr,
eilte er ſpornſtreichs herbei, nahm ſich der Bedrohten an und hielt durch
ſeine vielgeſchäftige Zudringlichkeit ſeinen alten Gönner Talleyrand der-
maßen in Athem, daß der Franzoſe, ohnehin ein ſtolzer Ariſtokrat und
dem deutſchen hohen Adel wohlgeſinnt, endlich auf alle Wünſche des
Unermüdlichen einging. Auch der Humor fehlte nicht, der eines ſolchen
Gegenſtandes würdig war. „Schenken Sie mir einige Ihrer kleinen
Fürſten“, rief einmal Talleyrands Gehilfe Labesnardiere. „Nicht einen“,
erwiderte der heitere Lebensretter der Kleinſtaaterei, „Sie müſſen ſie alle
hinunterſchlucken, und ſollten Sie daran erſticken!“


So geſchah es, daß die Erneſtiner und die Ascanier, die Reuß und
Schwarzburg, die Lippe und Waldeck als Souveräne in den Rheinbund
eintraten. Der Graf von Bückeburg erſchlich ſich nebenbei den Fürſtentitel,
da die Franzoſen das Geſchäft mit geringſchätziger Leichtfertigkeit betrieben
und in dem Vertrage kurzweg von den beiden Fürſten von Lippe ſprachen.
Napoleon aber klagte nachher ärgerlich, in dieſem Handel ſei er zum erſten
male betrogen worden; hätte er gewußt, wo die Reuß, Lippe und Waldeck
eigentlich ſäßen, ſo würden ſie ihre Throne nicht behalten haben. Er ver-
gaß auch niemals, daß dieſe Dynaſten des Nordens einſt den Kern der
preußiſchen Partei im Reiche gebildet hatten. Darum blieb er ihnen ſtets
ein geſtrenger Herr, gönnte ihnen keine Vergrößerung, nahm ſie nicht in
ſeine Verwandtſchaft auf, während er dem Dresdner und den ſüddeutſchen
Höfen nach ſeiner brutalen Art einiges Wohlwollen erwies. Darum blieb
auch das patriarchaliſche Völkchen der norddeutſchen Kleinſtaaten ganz un-
berührt von dem Napoleonscultus, der in Kurſachſen und Süddeutſchland
ſo viele Anhänger fand; der Bauersmann in Thüringen und Mecklenburg
fühlte ſich perſönlich gekränkt, wenn er ſeinen angeſtammten Herzog in
demüthiger Haltung neben den fremden Gewalthabern ſah. Genug, noch
während des Krieges wurde Preußen, wie im Sommer vorher Oeſterreich,
aus Deutſchland hinausgeſtoßen, die Geſammtheit der Mittel- und Klein-
ſtaaten dem Protector des Rheinbundes unterworfen.


[257]Abfall der Polen.

Derweil Preußens deutſche Bundesgenoſſen abfielen, ereilte den un-
glücklichen Staat zugleich die Vergeltung für die Theilung Polens. Dieſe
ſlaviſchen Gebiete, die während des letzten Jahrzehnts die innere Entwick-
lung der Monarchie ins Stocken gebracht hatten, erwieſen ſich im Augen-
blicke der Gefahr als ein unhaltbarer Beſitz. Vier Wochen nach der Jenaer
Schlacht erhob Dombrowsky in Poſen das Banner der Empörung, der
geſammte Adel eilte den Fahnen des weißen Adlers zu, und bald er-
griff der Aufruhr alle Lande, die durch die beiden letzten Theilungen an
Preußen gelangt waren. Dem Könige war es ein Herzensbedürfniß von
ſeinen Unterthanen geliebt zu werden; er ahnte, daß ſittliche Bande den
Staat zuſammenhalten. Der Anblick des großen Abfalls erfüllte ſein
Gemüth mit tiefer Erbitterung, doch erkannte er nüchtern, wie unhemm-
bar dieſe nationale Bewegung dahinfluthete, und ließ ſich nicht ein auf
die phantaſtiſchen Vorſchläge des Fürſten Radziwill, der von einer roya-
liſtiſchen Gegenbewegung träumte. Dem Imperator kam die Erhebung der
alten Bundesgenoſſen Frankreichs hochwillkommen; eifrig ermuthigte er den
Aufruhr, ließ Waffen an die Empörer vertheilen, die Polen in den preußi-
ſchen Regimentern zur Deſertion verleiten, rühmte in ſeinen Bulletins,
wie dies Volk ſich in wahrhaft intereſſanten Farben zeige. Dabei hütete
er ſich wohl den Polen eine feſte Zuſage zu geben; kalt und ſicher durch-
ſchaute er dieſe ſarmatiſchen Junker, ihre brauſende Tapferkeit, aber auch
ihren Leichtſinn, ihre Selbſtſucht, ihre politiſche Unfähigkeit. Das Land
war ihm werthvoll als ein Lager ſtreitbarer Hilfstruppen und als ein
Mittel um die längſt geplante Demüthigung Rußlands vorzubereiten; je
nach Umſtänden behielt er ſich vor, den Polen wieder den Schein politiſcher
Selbſtändigkeit zu gewähren.


Der polniſche Aufſtand nöthigte den Czaren, die Unterſtützung, die
er ſeinem preußiſchen Freunde zugeſagt, jetzt endlich zu leiſten. Aber nicht
als ein Hilfsheer, wie man im Herbſt angenommen, erſchien die ruſſiſche
Armee auf preußiſchem Boden; ſie hatte die Hauptlaſt des Kampfes zu
tragen, und ſchwer rächte ſich jetzt der leichtſinnig begonnene Türkenkrieg,
denn nur ein Theil der ruſſiſchen Streitkräfte war für Preußen verfügbar.
In dem unglücklichen Grenzlande erneuerten ſich die Schrecken des ſieben-
jährigen Krieges. Bald wurde die zuchtloſe Roheit der ruſſiſchen Freunde
dem ausgeplünderten preußiſchen Landmanne noch verhaßter als die Wuth
des Feindes; dazu die kopfloſe Heeresleitung der Ruſſen und der unerträg-
liche Uebermuth ihrer Offiziere gegen das tapfere kleine preußiſche Corps des
Generals Leſtocq. Trotzdem hat dieſer Feldzug, wie er ſich viele Monate
lang unentſchieden durch die verödeten Ebenen Polens und Preußens
fortſchleppte, zum erſten male die feſte Siegeszuverſicht des napoleoniſchen
Heeres ins Wanken gebracht. Der an raſche Erfolge und reiche Beute, an
das Wohlleben der Weinlande des Südens gewöhnte Soldat begann zu
murren und fragte, ob der Unerſättliche des Schlachtens gar kein Ende
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 17
[258]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
finde. Mehrere Wochen hindurch vertheidigte Leſtocq mit altpreußiſcher
Zähigkeit die Weichſelübergänge im Kulmerlande, und als er endlich zu der
ruſſiſchen Armee nach Oſten zurückgerufen wurde, da gaben dieſe armen
Trümmer des preußiſchen Heeres den Ausſchlag in der erſten Schlacht,
welche der Sieggewohnte nicht gewann. Am 7. und 8. Februar 1807
verſuchte Napoleon bei Eylau durch einen überwältigenden Angriff das
Heer der Verbündeten oſtwärts zu drängen. Schon war am zweiten
Schlachttage der rechte Flügel der Ruſſen nach mörderiſchem Kampfe ge-
worfen; da erkannte Scharnhorſts Feldherrnblick die entſcheidende Stunde.
Auf ſeinen Rath ſchwenkte Leſtocq, der nach anſtrengendem Marſche ſoeben
erſt auf dem äußerſten rechten Flügel der Verbündeten eingetroffen war,
gegen das Centrum ein, und endlich wieder ſchien über den Deutſchen
der Glücksſtern der fridericianiſchen Tage zu glänzen, als das kleine
preußiſche Corps mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen durch die
fliehenden Ruſſen hindurch gegen den Wald von Kutſchitten vorbrach und
dann weiter über Anklappen hinaus die Feinde vor ſich hertrieb.


Der Angriff der Franzoſen war geſcheitert. Allen ſeinen Gewohn-
heiten zuwider mußte der Imperator nach der unentſchiedenen Schlacht
die Winterquartiere beziehen, und ſo gewaltig war der Eindruck dieſes
erſten Mißerfolges, daß Napoleon alsbald nach dem Kampfe mit neuen
Friedensvorſchlägen ſich dem Könige näherte. Das ſei der ſchönſte Augen-
blick ſeines Lebens, ſchrieb er ſchmeichelnd und drohend; die preußiſche
Nation müſſe wiederhergeſtellt werden als ein Schutzwall zwiſchen Ruß-
land und Frankreich, ſei es unter dem Hauſe Brandenburg oder unter
irgend einem anderen Fürſtengeſchlechte; alle Länder dieſſeits der Elbe
wolle er zurückgeben, an die Polen denke er nicht mehr ſeit er ſie kenne.
Aber allzu unverkennbar war doch die Abſicht des Verſuchers, Preußen
von ſeinem Verbündeten zu trennen um dann nach der Niederwerfung
Rußlands den von aller Welt verlaſſenen König aufs Neue zu demüthigen.
Friedrich Wilhelm ſchwankte keinen Augenblick, wies die franzöſiſchen
Zumuthungen entſchieden zurück. Erſt im Unglück kamen die paſſiven
Tugenden der Treue und der Ausdauer, worin die Stärke ſeines Charakters
lag, zur rechten Wirkſamkeit. Das königliche Haus, das jetzt im letzten
Winkel deutſcher Erde, in Memel ſeinen ärmlichen Hofhalt aufſchlug,
wurde dem ganzen Lande ein Vorbild würdiger Faſſung, frommen Gott-
vertrauens. Herzlicher, inniger als in den Tagen des Glücks ſchloß ſich
das ſtolze Volk Oſtpreußens an das Herrſcherhaus an; Jedermann im
Lande erzählte bewundernd von der ſchönen Königin, wie ſie krank bei
wildem Schneeſturm über die Oede der kuriſchen Nehrung geflohen war
um lieber in Gottes Hand als in die Hände des Feindes zu fallen, und wie
ſie dann dem tiefgebeugten Gatten tröſtend und mahnend zur Seite ſtand.


Freilich fehlte noch viel daran, daß ſich ſofort in der Leitung des
Staates ein freier und kühner Sinn gezeigt hätte; ſo mit einem Schlage
[259]Schlacht von Eylau.
waren die Nachwirkungen eines Jahrzehntes der Schwäche und der Halb-
heit nicht zu überwinden. Wohl ergingen ſcharfe Mahnungen an die
Truppen, ſtrenge Strafen gegen die pflichtvergeſſenen Feſtungscomman-
danten. Die kleine Armee Leſtocqs zeigte eine muſterhafte Haltung, und
Scharnhorſt beſeitigte bereits in dieſem Winterfeldzuge thatſächlich die
ſchwerfällige alte Lineartaktik, leitete die Bewegungen des Heeres nach den
Grundſätzen der neuen kühneren Kriegsführung, welche der König ſelbſt in
einer eingehenden Inſtruction ſeinen Offizieren eingeſchärft hatte. Aber die
Ausrüſtung der neunzehn Reſervebataillone ging ſo langſam von ſtatten,
daß keines mehr im Felde zur Verwendung kam. Ein von dem Könige
bereits unterſchriebener Aufruf zur allgemeinen Volksbewaffnung blieb
liegen, weil die treuen Stände Oſtpreußens dringend vorſtellten: der Adel
könne nur in der königlichen Armee, nimmermehr in einem Landſturme
dienen. Auch die Civilverwaltung kam noch monatelang aus einem
unerquicklichen Uebergangszuſtande nicht heraus. Der Monarch wollte
noch nicht einſehen, daß die altgewohnte Cabinetsregierung mit der ſelb-
ſtändigen Verantwortlichkeit der Miniſter ſich nicht vertrug, und entließ
den Miniſter Stein mit harten und ungerechten Worten, als der ſtolze
Freiherr ſchroff und leidenſchaftlich auf der Beſeitigung des Cabinets
beſtand. Richtiger verſtand Hardenberg den König zu behandeln. Sein
Freimuth, der immer in liebevollen, ruhigen Formen blieb, drang endlich
durch, und am 26. April 1807 vollzog ſich in aller Stille eine Ver-
faſſungsveränderung, die folgenreichſte, welche der alte Abſolutismus ſeit
den Zeiten Friedrich Wilhelms I. erlebt hatte. Die Cabinetsregierung
wurde aufgehoben, Hardenberg als erſter Miniſter mit der Leitung der
auswärtigen Angelegenheiten ſowie aller mit dem Kriege zuſammenhängen-
den Geſchäfte beauftragt.


Die Lage der Verbündeten blieb auch nach dem halben Erfolge von
Eylau ſchwer bedrängt. So erfolgreich der zäheſte Gegner Napoleons
auf den Meeren kämpfte, in der Behandlung der feſtländiſchen Dinge
zeigte Englands Handelspolitik nach wie vor ein Ungeſchick, das bereits
anfing ſprichwörtlich zu werden. Während ſich drei Jahre früher in Lon-
don keine Hand gerührt hatte um Hannover gegen die Franzoſen zu ver-
theidigen, wurde Preußen für die Beſetzung des Kurfürſtenthums ſofort
durch eine Kriegserklärung beſtraft; und auch als der preußiſche Hof im
Januar 1807 mit England Frieden geſchloſſen, alle ſeine Anſprüche auf
Hannover aufgegeben hatte, that das Cabinet von St. James gar nichts
um den neuen Bundesgenoſſen gegen den gemeinſamen Feind zu unter-
ſtützen. Nicht einmal ein Subſidienvertrag kam zu Stande. Graf Münſter,
deſſen Rath in London bei allen deutſchen Angelegenheiten den Ausſchlag
gab, konnte das alte welfiſche Mißtrauen gegen Preußen nicht überwinden.
Oeſterreich wurde ſelbſt durch die erſchreckende Kunde von dem polniſchen
Aufruhr nicht aus ſeiner Neutralität aufgeſcheucht. Beide Theile warben
17*
[260]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
wetteifernd um die Hofburg. Napoleon bot ihr Schleſien zum Austauſche
gegen Galizien; der Czar ſendete den Todfeind des Hauſes Bonaparte,
Pozzo di Borgo, mit dringenden Mahnungen nach Wien; der König von
Preußen erklärte ſich in ſeiner Bedrängniß ſogar bereit, einem öſter-
reichiſchen Hilfsheere die vorläufige Beſetzung der ſchleſiſchen Feſtungen
zu geſtatten. Doch Erzherzog Karl blieb obenauf mit ſeiner friedfertigen
Politik; um die Unthätigkeit zu bemänteln erbot ſich Oeſterreich endlich zu
einer Friedensvermittlung, die in ſolcher Lage nichts fruchten konnte. Die
Freundſchaft des Czaren bot der wankenden preußiſchen Monarchie die
letzte Stütze, und an ſchönen Worten ließ es der ſchwärmeriſche junge
Herr nicht fehlen, als er im Frühjahr ſelber auf dem Kriegsſchauplatze
erſchien. Wie ſtrahlte er in zärtlicher Liebenswürdigkeit inmitten der könig-
lichen Familie: verzückte blaue Augen, und doch verſchwommen, ohne
Tiefe; edle und doch unreife, halb durchgearbeitete Züge. „Nicht wahr?
Keiner von uns Beiden fällt allein!“ ſagte er inbrünſtig zu ſeinem un-
glücklichen Freunde. Mancher ehrliche Preuße meinte nun erſt Alexanders
großes Herz ganz zu verſtehen.


Es bezeichnet Hardenbergs ganzes Weſen, ſeinen unerſchrockenen
Muth wie ſeine leichtlebige Beweglichkeit, daß er in ſolcher Zeit, während
Preußens Daſein noch in Frage ſtand, bereits einen großgedachten, weit-
umfaſſenden Plan für die Neuordnung Deutſchlands und des geſammten
Staatenſyſtems zu entwerfen wagte. Mehr als zehn Jahre lang hatte
er der Hoffnung gelebt, mit Frankreichs Beiſtand eine norddeutſche Groß-
macht, die dem Hauſe Oeſterreich die Stange hielte, zu bilden; ſobald er
die Hohlheit dieſer Träume erkannte, ergriff er ſofort ein neues Syſtem
deutſcher Politik, dem er dann bis zum Tode treu blieb: die Politik des
geregelten Dualismus. Gar zu vernehmlich hatte doch das Schickſal ge-
ſprochen: vereinzelt waren Oeſterreich und Preußen unterlegen, nur ihre
treue Eintracht konnte Deutſchland befreien. In dieſem Gedanken be-
gegnen ſich während der folgenden Jahre alle preußiſchen Patrioten
ohne Unterſchied der Partei; wie ein Naturlaut bricht er gleichzeitig aus
hunderten beſorgter Herzen hervor. In den Schriften von Gentz kehrt
er als ein ceterum censeo wieder; auf den kunſtvollen Zeichnungen,
worin Oberſt Kneſebeck die Zukunft des Welttheils darzuſtellen liebte, wird
die Wage Europas immer durch den Bund Oeſterreichs und Preußens
aufrecht erhalten. Arndt und Kleiſt beſchwören die beiden mächtigſten
Söhne Germaniens ſich zu vertragen; die Königin Luiſe erſehnt den Tag,
da die verſöhnten deutſchen Brüder gemeinſam in den heiligen Krieg ziehen
werden. Nur der König hielt in aller Stille ſeine alte Meinung feſt und
dachte, wenn er auf ein europäiſches Bündniß gegen Frankreich rechnete,
ſtets in erſter Linie an Rußland. Hardenberg dagegen betrachtete jetzt die
Nebenbuhlerſchaft der beiden deutſchen Mächte als ein überwundenes un-
glückſeliges Vorurtheil, ihre Intereſſen als ſchlechthin gleich. Arglos, groß-
[261]Vertrag von Bartenſtein.
herzig, ohne jeden Hintergedanken betrieb er dieſe Pläne; keine einzige
ſeiner geheimen Staatsſchriften verrieth noch irgendwelche verſteckte Feind-
ſeligkeit gegen Oeſterreich. Er glaubte durch den guten Vorſatz freund-
nachbarlicher Geſinnung einen uralten Gegenſatz der Intereſſen völlig be-
ſeitigen zu können, und unleugbar entſprach ſeine Politik dem Bedürfniß
der nächſten Zukunft.


In dieſem Sinne war auch der neue Bundesvertrag gehalten,
welchen Preußen und Rußland am 26. April in Bartenſtein unterzeich-
neten. Die zwei Mächte verpflichteten ſich die Waffen erſt niederzulegen,
wenn Deutſchland befreit und Frankreich über den Rhein zurückgeworfen
ſei; das deutſche Gebiet ſollte durch eine Feſtungsreihe auf dem linken
Rheinufer, Oeſterreich im Südweſten durch Tyrol und die Minciolinie ge-
ſichert werden; ſtatt des Rheinbundes ein deutſcher Bund von ſouveränen
Staaten unter der gemeinſamen Führung der beiden Großmächte, der-
geſtalt, daß Oeſterreich im Süden, Preußen im Norden den Oberbefehl
erhielte; Wiederherſtellung Preußens auf den Beſitzſtand von 1805, mit
Abrundungen und verſtärkten Grenzen; endlich Vergrößerung des welfiſchen
Hausbeſitzes auf deutſchem Boden und wo möglich Wiederaufrichtung der
Unabhängigkeit Hollands. Ein beſonderer Artikel behielt der Hofburg den
Zutritt zu dem Bündniß ausdrücklich vor; auch auf den Anſchluß Eng-
lands und Schwedens rechnete man ſicher. Mit erſtaunlicher Zuverſicht
wurden hier ſchon faſt alle die Gedanken verkündigt, welche das Jahr 1814
verwirklichen ſollte.


Doch eben die Kühnheit dieſer Politik erſchreckte den Wiener Hof.
Graf Stadion hörte befremdet, daß man ſo verwegene Pläne ohne das
Zuthun der Hofburg zu entwerfen wagte, und wollte behutſam nicht über
den Preßburger Frieden hinausgehen. Und wie wenig entſprach doch die
ruſſiſche Kriegführung dem ſtolzen Fluge der Hardenbergiſchen Entwürfe.
Allein die Laune des Glücks und die Tapferkeit der Soldaten hatten der
Mittelmäßigkeit des Generals Bennigſen die Lorbeeren von Eylau in den
Schooß geworfen; er hütete ſich ſorgſam ſeinen Ruhm wieder auf das
Spiel zu ſetzen, blieb vier Monate lang faſt unbeweglich. Währenddem
entfaltete Napoleon im Winterquartier zu Oſterode eine fieberhafte Thätig-
keit, verſtärkte ſein Heer, ließ die Conſcription von 1808 zum Voraus
ausheben, die Rheinbundfürſten eine Reſerve-Armee bilden, leitete aus
der Ferne die Vertheidigung von Konſtantinopel gegen die engliſche Flotte
und betrieb zugleich die Belagerung von Danzig. Da dieſer Platz ihm
als Stützpunkt für die Fortſetzung des Feldzugs dienen ſollte, ſo entſchloß
er ſich, zum zweiten und letzten male in ſeinem Feldherrnleben, zu der
langſamen Arbeit des Feſtungskrieges, die er ſeit den Kämpfen um Mantua
immer verſchmäht hatte. Die Feſtung wurde durch General Kalkreuth
tapfer vertheidigt; bei den Entſatzverſuchen that ſich ſchon ein großer
Name des neuen deutſchen Heeres, Oberſt Bülow, glänzend hervor. Aber
[262]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
da Bennigſen zur Befreiung des wichtigen Platzes nichts Entſcheidendes
wagte, ſo mußte Kalkreuth am 27. Mai ehrenvoll capituliren.


Glücklicher behauptete ſich der grimmige alte General Courbiere in
Graudenz. Doch alle anderen Thaten des verbündeten Heeres überſtrahlte
die heldenhafte Vertheidigung der kleinen hinterpommerſchen Feſte Colberg.
Hier in der treuen Stadt, die ſchon im ſiebenjährigen Kriege dreimal
dem überlegenen Feinde widerſtanden hatte, ſtand die Wiege des neuen
preußiſchen Waffenruhms; hier erwachte zuerſt jener heilige Völkerzorn,
der nach ſechs argen Jahren die Befreiung der Welt erzwingen ſollte;
hier trat jener Mann auf die Bühne der Geſchichte, der herrlich wie
kein Zweiter den echten preußiſchen Soldatengeiſt, ſchneidige Verwegen-
heit und helle Einſicht, in ſich verkörperte. Zwanzig Jahre der Lange-
weile im ſubalternen Garniſonleben hatten Gneiſenaus jugendliche Friſche
nicht gebrochen. Gütig und wahrhaftig, ganz frei von Selbſtſucht, im
Innerſten beſcheiden trotz des ſcharfen Spottes, womit er die Dumm-
heit und Gemeinheit zu treffen wußte, ſtand er auf den freien Höhen
der Bildung. Sein Blick umfaßte den ganzen Umkreis der Völkerge-
ſchicke einer ungeheuren Zeit, doch der Reichthum der Gedanken beirrte
ihn nicht in dem frohen Glauben, daß eines ſtarken Volkes Kräfte un-
erſchöpflich ſeien, ſtörte ihm nicht die tollkühne Luſt am Wagen und am
Schlagen. In dem Feuer ſeiner Blicke, in der heiteren Majeſtät ſeiner
Erſcheinung lag etwas von jenem Zauber, der einſt den jungen König
Friedrich umſtrahlte. Wie wurde in der bedrängten Feſtung plötzlich Alles
anders, als der unbekannte Major unter die Hoffnungsloſen trat, aus
dem buntſcheckigen Haufen von Verſprengten, den er als Garniſon vor-
fand, binnen Kurzem eine treffliche, ſiegesgewiſſe Truppe bildete und die
tapfere Bürgerſchaft, den wagehalſigen alten Seemann Nettelbeck voran,
zu den Arbeiten der Vertheidigung mit heranzog. „Ich nahm Alles auf
meine Hörner“, ſo erzählt er ſelbſt, „verfuhr als ein unabhängiger Fürſt,
manchmal etwas despotiſch, kaſſirte feigherzige Offiziere, lebte fröhlich mit
den Braven, kümmerte mich nicht um die Zukunft und ließ brav donnern.“
Die feindlichen Generale bemerkten mit Erſtaunen, wie hier ein genialer
Wille eine neue, der franzöſiſchen ebenbürtige Kriegsweiſe anwendete: der
Vertheidiger wechſelte die Rollen mit dem Angreifer, beunruhigte die Be-
lagerer durch überraſchende Ausfälle, warf Erdwerke im freien Felde auf,
die den Feind wochenlang von den Wällen der Feſtung fern hielten. Auch
die alte hochgemuthe Liederluſt des deutſchen Soldaten, die ſonſt in dieſem
düſteren Kriege gänzlich ſchwieg, regte ſich hier zuerſt wieder; neckend klang
es von den unbezwungnen Wällen: „wir haben Kanonen, wir haben kein
Bang; marſchirt nur nach Hauſe und wartet nicht lang!“


Zugleich führte der tapfere Huſar Schill in der Nähe von Colberg einen
abenteuerlichen Parteigängerkrieg, und Gneiſenau vernahm mit neidloſer
Freude, wie die Maſſe den wackeren beſchränkten Mann als den Helden des
[263]Gneiſenau. Schlacht von Friedland.
Vaterlandes pries: ihm war es recht, wenn nur die gedrückte Seele dieſes
Volkes ſich wieder hoffend emporhob, gleichviel an weſſen Bilde. In Vor-
pommern ſammelte Marwitz ein Freicorps, zur Befreiung des deutſchen
Vaterlandes, wie der tapfere Junker ſeinen Leuten ſagte; in Weſtphalen ver-
ſuchte der treue Vincke einen Aufſtand anzuzetteln. Blücher aber ſchickte
ſich an, mit einem kleinen preußiſchen Corps, mit ſchwediſchen Hilfstruppen
und einer engliſchen Landungsarmee, die auf Rügen erwartet wurde, eine
Diverſion im Rücken Napoleons zu unternehmen. Dem Imperator wurde
das zähe preußiſche Weſen täglich verhaßter. In überſtrömendem Zorne
nannte er Schill einen Räuber, ließ in ſeinen Zeitungen den König ver-
höhnen als einen Einfältigen, der neben Alexander kaum ſo viel gelte wie
ein Adjutant; er war entſchloſſen den unbequemen Staat, den er nie mehr
verſöhnen konnte, gänzlich zu vernichten.


Da fiel die Entſcheidung in Oſtpreußen. Der allgemeine Unwille
über den Fall von Danzig nöthigte den ruſſiſchen Oberbefehlshaber, im
Juni endlich wieder ſeine Armee in Bewegung zu ſetzen. Ein Angriff der
Franzoſen wurde bei Heilsberg glücklich zurückgewieſen. Als aber Napoleon
nunmehr die Alle abwärts zog um die Ruſſen zu umgehen, da unternahm
Bennigſen, ohne Kenntniß der Stärke des Feindes, einen unbedachten
Vorſtoß gegen die franzöſiſchen Marſchcolonnen und erlitt bei Friedland
am 14. Juni eine vollſtändige Niederlage. Am Jahrestage von Marengo
ging der preußiſche Krieg zu Ende, denn nach dieſem einen Schlage brach
Alexanders Muth ebenſo plötzlich zuſammen wie vordem nach der Auſter-
litzer Schlacht. Noch war ſein Land vom Feinde unberührt, aber er
fürchtete einen Aufſtand im ruſſiſchen Polen; ſein Bruder Konſtantin
und die große Mehrzahl der Generale verwünſchten laut dieſen Krieg für
fremde Zwecke, auch Stadion hatte ſchon früher den ruſſiſchen Geſandten
gefragt, warum ſich der Czar für Preußen opfern wolle. Der Unbeſtän-
dige meinte der Großmuth genug gethan zu haben; ohne den König, der
unerſchütterlich auf die Betheurungen ſeines Freundes vertraute, auch
nur zu benachrichtigen bot Alexander dem Sieger einen Waffenſtillſtand
an. Napoleon griff freudig zu; er war außer Stande jetzt ſchon den
Krieg bis in das Innere Rußlands zu tragen, und zudem ängſtigte ihn
die ſchwankende Haltung Oeſterreichs, das um die nämliche Zeit einen
Unterhändler zu den Verbündeten ſendete. In wenigen Tagen gelang es
ihm dann den Czaren für das franzöſiſche Bündniß zu gewinnen. Nicht
als ob Alexanders Schlauheit dieſem Bundesgenoſſen jemals getraut hätte.
Nur für einige Jahre mindeſtens hoffte er von der neuen Freundſchaft
Vortheil zu ziehen: waren erſt mit Frankreichs Hilfe zwei Lieblingswünſche
des thatenluſtigen jungen Kaiſers erfüllt, war erſt Finnland erobert und
auf der Balkanhalbinſel feſter Fuß gefaßt, ſo konnte das verſtärkte Ruß-
land vielleicht dereinſt mit beſſerem Erfolge das Werk der Weltbefreiung
wieder aufnehmen. Geblendet von ſolchen lockenden Ausſichten bemerkte
[264]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Alexander kaum, daß das napoleoniſche Weltreich und die Continental-
ſperre ohne die Unterwerfung Rußlands nicht beſtehen konnten, daß der
Imperator ſchon jetzt durch die Beſetzung Danzigs und die Wiederaufrich-
tung eines polniſchen Staates den Entſcheidungskrieg gegen ſeinen neuen
Freund von langer Hand her vorbereitete.


Nachdem die beiden Kaiſer über ein Schutz- und Trutzbündniß und
einen gemeinſamen Krieg gegen England ſich geeinigt, wurde auch der ver-
laſſene Bundesgenoſſe herbeigerufen. Der König hatte ritterlich ausge-
halten bis faſt der letzte Fußbreit ſeines Landes verloren war; jetzt mußte
er ſich beugen, denn was konnte ein Aufruf an die Deutſchen, wie ihn
Hardenberg wünſchte, in dieſer Stunde noch nützen? Als Friedrich Wil-
helm auf dem Floße im Memelſtrome dem Eroberer begegnete, vermochte
er nicht den tiefen Widerwillen ſeines ehrlichen Herzens zu verbergen, und
der Sieger hatte für den Geſchlagenen nur ſchnöde Geringſchätzung, grol-
lende Vorwürfe. Auch die Bitten der mißhandelten Königin, die ihrem
Lande ſelbſt den weiblichen Stolz opferte und dem rohen Peiniger perſön-
lich nahte, glitten von Napoleon ab — ſo ſchrieb er ſchadenfroh — wie
das Waſſer vom Wachstuch.


Am 7. und 9. Juli 1807 wurde der Friede von Tilſit unterzeichnet,
der grauſamſte aller franzöſiſchen Friedensſchlüſſe, unerhört nach Form
und Inhalt. Nicht der rechtmäßige König von Preußen trat dem Sieger
einige Landestheile ab, ſondern der Eroberer bewilligte aus Achtung für
den Kaiſer aller Reußen die Rückgabe der kleineren Hälfte des preu-
ßiſchen Staates an ihren Monarchen. Und dieſer empörende Satz, den
die Zeitgenoſſen nur für eine Ungezogenheit napoleoniſchen Uebermuths
anſahen, ſagte die nackte Wahrheit. Denn wirklich nur aus Rück-
ſicht auf den Czaren führte Napoleon die feſt beſchloſſene Vernichtung
Preußens vorläufig blos zur Hälfte aus. Er bedurfte der ruſſiſchen
Allianz um zunächſt ſeinen großen Anſchlag gegen Spanien ungeſtört ins
Werk zu ſetzen; Alexander aber wollte den letzten ſchmalen Damm, der
das ruſſiſche Reich noch von den franzöſiſchen Vaſallenlanden trennte,
nicht gänzlich niederreißen laſſen und verhehlte ſein Mißtrauen nicht, als
Napoleon vorſchlug, auch Schleſien und Oſtpreußen von der preußiſchen
Monarchie abzutrennen. Preußen behielt von den 5700 Geviertmeilen,
welche der Staat, Hannover ungerechnet, vor dem Kriege beſaß, nur
etwa 2800, von ſeinen dreiundzwanzig Kriegs- und Domänenkammern
nur die acht größten, von 9¾ Millionen Einwohnern nur 4½ Million.
Das Werk Friedrichs des Großen ſchien vernichtet. Der Staat war nur
noch wenig umfangreicher als im Jahre 1740 und weit ungünſtiger ge-
ſtellt; zurückgedrängt auf das rechte Elbufer, aller ſeiner Außenpoſten im
Weſten beraubt ſtand er unter der Spitze des franzöſiſchen Schwertes.
Seine geretteten Provinzen, Schleſien, das verkleinerte Altpreußen, die
noch übrigen Stücke von Brandenburg und Pommern, lagen wie die
[265]Friede von Tilſit.
drei Blätter eines Kleeblatts durch ſchmale Streifen verbunden; jeden
Augenblick konnten, auf einen Wink des Imperators, die Polen vom
Oſten, die Sachſen vom Süden her, die Weſtphalen aus Magdeburg,
die Franzoſen aus Mecklenburg und Hamburg gleichzeitig gegen Berlin
vorbrechen und das Netz über dem Haupte der Hohenzollern zuſammen-
ziehen.


Die geſammten polniſchen Provinzen der Monarchie wurden, mit
Ausnahme eines Theiles von Weſtpreußen, dem Könige von Sachſen zu-
getheilt, der den Namen eines Großherzogs von Warſchau annahm. Dieſe
vierte Theilung Polens ſtellte alſo die verderbliche ſächſiſch-polniſche Union
wieder her, und zugleich gewann das Haus Wettin eine Etappenſtraße
durch Schleſien, die von den polniſchen Auguſten ſo oft erſtrebte Via regia.
Das neue Herzogthum bildete ſich nach franzöſiſchem Muſter raſch eine
tüchtige Armee, wie ſie die alte Adelsrepublik nie gekannt. Der Deutſchen-
haß des ſarmatiſchen Adels ſchaltete zügellos unter der weichen Herrſchaft
des ängſtlichen Wettiners, der den ſtolzen Königswählern nichts wehren
mochte, und jagte ſofort alle deutſche Beamten aus dem Lande, gegen
die ausdrückliche Vorſchrift des Tilſiter Friedens aber mit der geheimen
Zuſtimmung des franzöſiſchen Schutzherrn. Um dem polniſchen Fanatis-
mus einen Rückhalt zu ſichern erhob Napoleon die Feſtung Danzig zu
einer freien Stadt mit ſtarker franzöſiſcher Beſatzung. Und um den
Czaren für immer mit ſeinen preußiſchen Freunden zu entzweien beredete er
ihn ſich auf Koſten ſeines unglücklichen Bundesgenoſſen zu bereichern und
den Bezirk von Bialyſtock mit dem ruſſiſchen Reiche zu vereinigen. Ge-
fügig wie Friedrich Auguſt von Sachſen ging Alexander auf die häßliche
Zumuthung ein; ſein Gewiſſen tröſtete ſich mit der Erwägung, ſonſt wäre
der Landſtrich doch mit Warſchau verbunden worden. Aus den preußiſchen
Landen rechts der Elbe, aus den welfiſchen und kurheſſiſchen Gebieten
wurde ein Königreich Weſtphalen gebildet und dem Bruder des Impera-
tors Hieronymus übergeben mit der ſtrengen Weiſung, daß er den Ge-
horſam gegen Frankreich als ſeine erſte Fürſtenpflicht zu betrachten habe;
eine „regelmäßige Verfaſſung“ ſollte hier alle „jene leeren und lächer-
lichen Unterſchiede“ der Stände und Landſchaften beſeitigen, welche der
bureaukratiſchen Centraliſation des Weltreichs gefährlich ſchienen.


An den Höfen des Rheinbundes herrſchte lauter Jubel, da der einzige
deutſche Staat, der eine Geſchichte, ein eigenes Leben beſaß, alſo wieder
hinabgeſtoßen wurde in das allgemeine deutſche Elend. Die Mittelſtaaten
ſtanden am Ziele ihrer Wünſche, ſie hatten keine deutſche Macht mehr zu
fürchten und zu beneiden. Ihre Offiziere prahlten gern, wie wacker ſie
ſelber mitgeholfen hätten bei der Demüthigung des norddeutſchen Ueber-
muths, wußten nicht genug zu erzählen von den Wundern der preu-
ßiſchen Dummheit. Hörte man auf die Stimmen der amtlichen Preſſe
in München und Stuttgart, ſo war die Schlacht von Jena die einzige
[266]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
denkwürdige Waffenthat der preußiſchen Kriegsgeſchichte. Dieſem ver-
kleinerten Preußen war der Rheinbund an Flächengehalt zweifach, an
Bevölkerung dreifach überlegen; ſchon Baiern allein durfte ſich jetzt dem
Staate Friedrichs ebenbürtig dünken, da dies Kernland des Rheinbundes
nur etwa eine Million Köpfe weniger zählte und unvergleichlich wohl-
habender war. Die Spaßvögel in Dresden und Leipzig beſchauten ergötzt
das engliſche Spottbild, das die Zuſammenkunft auf dem Floße zu Tilſit
darſtellte: wie der prahleriſche kleine „Bony“ den jungen Czaren ſo ſtürmiſch
umarmte, daß das Floß ins Wanken gerieth und der zuſchauende Fried-
rich Wilhelm jämmerlich ins Waſſer fiel.


Der neue König von Sachſen aber wurde der unterthänigſte aller Rhein-
bundsfürſten. Der ſchwerfällige, peinlich gewiſſenhafte Mann war grau ge-
worden in den Traditionen des alten Reichsrechts, in den ſteifen Formen
einer ſpaniſchen Etikette; er allein unter den größeren Reichsfürſten hatte
nicht theilgenommen an dem großen Beutezuge gegen die geiſtlichen Staaten
— was ihm freilich leicht fiel, da er keine Entſchädigungen zu fordern
hatte. Noch im vergangenen Herbſt entſchloß er ſich nur ſchwer dem ſieg-
reichen Plebejer ſeine Huldigung darzubringen; da er endlich in Berlin
eintraf, fand er den Imperator nicht mehr vor und fragte rathlos den
hilfsbereiten Gagern: wie lebt man eigentlich mit dieſen Menſchen? Doch
als nachher der Verrath an Preußen mit reichen Geſchenken belohnt wurde,
als Napoleon auf der Heimkehr ſelbſt in Dresden erſchien und gegen-
über der raſch durchſchauten Beſchränktheit die Miene des wohlwollenden
Gönners annahm, da wurde der ſchwache Fürſt durch die Caeſarengröße
des Protectors völlig geblendet, baute mit abergläubiſcher Zuverſicht auf
den Stern ſeines „großen Alliirten“. Ehrgeizige junge Männer traten an
die Spitze der Armee, wider allen Brauch dieſes langſamen Staatsweſens,
und erfüllten die tapfere Truppe, die nur widerwillig zu den Franzoſen
übergetreten war, bald mit der gewiſſenloſen Wageluſt rheinbündiſcher
Landsknechte; das rothe Band der Ehrenlegion wurde hier wie in Baiern
und Württemberg als das höchſte Ehrenzeichen des Soldaten verehrt. In
Allem und Jedem war Friedrich Auguſt ſeinem Herrn zu Willen; er be-
durfte kaum der Mahnung des Imperators: „was Ihr für Preußen thut,
das thut Ihr gegen Euch!“


So ging das alte Preußen unter dem Frohlocken der deutſchen Klein-
ſtaaterei zu Grunde. Anders dachten die Bewohner der alten preußiſchen
Provinzen, als ihr König ihnen mit würdigen Worten verkündete: „was Jahr-
hunderte und biedere Vorfahren, was Verträge, was Liebe und Vertrauen
verbunden hatten mußte getrennt werden.“ Stumpf und gelaſſen hatte das
Volk der hunderte von deutſchen Staaten, die in den Stürmen dieſer wilden
Zeit dahingeſunken, ſein Schickſal ertragen; die aber jetzt von Preußen los-
geriſſen wurden, empfanden bis in das Mark ihres Lebens, was ein ehren-
hafter Staat dem Menſchen bedeutet. Der unglückliche Monarch konnte kaum
[267]Preußens Verluſte.
ſeine Faſſung behaupten, da ihm aus Oſtfriesland und Magdeburg, aus
Thorn und Weſtphalen, aus allen ſeinen verlorenen deutſchen Landen
Briefe voll heißen Dankes, voll erſchütternder Klagen zukamen; die treuen
Bauern der Grafſchaft Mark ſchrieben in ihrem derben Platt: „das Herz
wollte uns brechen, als wir Deinen Abſchied laſen; ſo wahr wir leben, es
iſt nicht Deine Schuld!“ Auch die deutſchen Einwanderer in den polniſchen
Provinzen ſchieden ſchweren Herzens von der alten Monarchie; einer der
erſten Grundherren dort zu Lande, ein Keudell, erſchoß ſich weil er unter
ſlaviſcher Herrſchaft nicht leben wollte. Und wie furchtbar war das Land
verwüſtet, das dem Könige noch blieb; ein einziges Jahr hatte die reiche
Friedensarbeit dreier Jahrzehnte zerſtört. Erſt ſeit dieſem Kriege nahm das
häusliche Leben Norddeutſchlands durchweg den Charakter kahler Dürftig-
keit an. Vorher hatten doch einige Zweige des Kunſtgewerbes noch in
leidlicher Blüthe geſtanden; jetzt erſt kam die Zeit der allgemeinen Form-
und Geſchmackloſigkeit. Das Elend verrieth ſich überall: in den nüchternen
Bauten, dem häßlichen Geräth, der kargen Koſt; ängſtliche Sparſamkeit
beſtimmte alle Gewohnheiten des Lebens. In dem unglücklichen Oſt-
preußen lagen weite Landſtriche wie ausgeſtorben, ganze Dorfſchaften an
der Paſſarge waren verſchwunden; die Prediger mahnten von der Kanzel:
wer da wolle möge ernten, daß nur das Korn nicht auf dem Halme ver-
derbe. Der Sieger aber ſorgte auch nach dem Frieden mit peinlicher
Strenge für die Ausplünderung des verhaßten Landes. Alle Kranken aus
den Hoſpitälern in Warſchau und Weſtphalen ließ er ſofort nach Preußen
ſchaffen; wo eines ſeiner Regimenter abzog, wurden zuvor alle königlichen
Magazine und Vorräthe verkauft, bis herab zu den Beſtänden der Salz-
werke und der Porzellanfabrik. Keine Flinte, ſo befahl er, und kein
Pulverkorn darf im Lande verbleiben, auch nicht wenn die Preußen ſie
baar bezahlen wollen; ich habe keinen Grund mehr Preußen zu ſchonen.
Gegen den klaren Wortlaut des Tilſiter Vertrages wurde Neu-Schleſien
ſofort mit Warſchau vereinigt; die Beſchwerden des Königs, hieß es kurzab,
ſeien ſinnlos, keiner Widerlegung werth.


Das Entſetzlichſte blieb doch, daß mit allen dieſen Opfern die Ruhe
des Friedens noch immer nicht erkauft war. Der preußiſche Bevollmäch-
tigte, Feldmarſchall Kalkreuth, ein warmer Verehrer Napoleons, hatte die
Tilſiter Verhandlungen mit einem vertrauensvollen Leichtſinn geführt, der
alle militäriſchen Verdienſte des Vertheidigers von Danzig in Schatten
ſtellte und von dem Staate hart gebüßt werden mußte. Die Räumung
des Landes und der Feſtungen ſollte zwar bis zum 1. November erfolgen,
doch nur wenn zuvor die geſammte Kriegscontribution abgezahlt ſei; und
da über den Betrag dieſer Summe gar nichts Beſtimmtes ausbedungen
war, ſo blieb nach wie vor faſt das geſammte preußiſche Gebiet durch
Napoleons Heer beſetzt. Alſo gewann der Imperator freie Hand für ſeine
iberiſchen Pläne, da die große Armee in Preußen die beiden Kaiſermächte
[268]I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
des Oſtens in Ruhe hielt, und verſchaffte ſich zugleich durch die preu-
ßiſchen Contributionen die Geldmittel für den ſpaniſchen Krieg.


Entwaffnet, geknebelt, verſtümmelt lag die preußiſche Monarchie zu
Napoleons Füßen; mit vollendeter Schlauheit hatte er Alles vorbereitet
um ſie zur gelegenen Stunde gänzlich zu vernichten. Nur Eines entging
dem Scharfblick des Verächters der Ideen: daß dieſer Staat an innerer
Einheit und ſittlicher Spannkraft gewann was er an äußerer Macht ver-
lor. Der ungetreuen Polen war er ledig; die alten deutſchen Stamm-
lande, die ihm blieben, hielten zuſammen wie ein Mann. Von dieſen
Adlerlanden war einſt der Siegeszug des großen Kurfürſten, der ver-
wegene Verſuch der neuen deutſchen Staatenbildung ausgegangen; auf
ihnen lag jetzt wieder Deutſchlands ganze Zukunft. Sie allein unter
allen rein-deutſchen Landen blieben dem Rheinbunde fern. Vor der letzten
Schmach der freiwilligen Knechtſchaft hatte Friedrich Wilhelms ehrenhafter
Sinn ſeine Preußen bewahrt. Die ſchwere Schuld der letzten Jahre war
nicht nur gebüßt, ſie war auch erkannt; noch in Tilſit entſchloß ſich der
König, auf Hardenbergs Rath, den Freiherrn vom Stein mit der Neu-
bildung der Verwaltung zu beauftragen. Was nur ein ſtarkes Volk zu
verzweifelten Entſchlüſſen entflammen kann, Stolz und Haß, Schmerz
und Reue gährte in tauſend tapferen Gemüthern; jede neue Unbill der
fremden Peiniger ſteigerte die Erbitterung, bis endlich Alles was preu-
ßiſch war ſich vereinigte in dem leidenſchaftlichen Verlangen nach Ver-
geltung. Wenn es gelang, die ſchwere Kraft dieſes zornigen Volkes zu
ſammeln und zu ordnen, ſeinen Staat zu verjüngen durch den Idealis-
mus der neuen Bildung, ſo war Deutſchlands Rettung noch möglich.
Schon während des Krieges ſchrieb ein geiſtvoller Franzoſe, der in der
deutſchen Wiſſenſchaft eine neue Heimath gefunden hatte, Karl v. Villers,
ahnungsvoll: „Die franzöſiſchen Heere haben die deutſchen geſchlagen,
weil ſie ſtärker ſind; aus demſelben Grunde wird der deutſche Geiſt
ſchließlich den franzöſiſchen Geiſt beſiegen. Ich glaube ſchon einige An-
zeichen dieſes Ausganges zu ſehen. Die Vorſehung hat ihre eigenen
Wege.“ —


[[269]]

Dritter Abſchnitt.
Preußens Erhebung.


Schon mehrmals hatte Preußen durch das plötzliche Hervorbrechen
ſeiner verborgenen ſittlichen Kräfte die deutſche Welt in Erſtaunen geſetzt:
ſo einſt, da Kurfürſt Friedrich Wilhelm ſeinen kleinen Staat hineindrängte
in die Reihe der alten Mächte; ſo wieder, als König Friedrich den Kampf
um Schleſien wagte. Aber keine von den großen Ueberraſchungen der
preußiſchen Geſchichte kam den Deutſchen ſo unerwartet, wie die raſche
und ſtolze Erhebung der halbzertrümmerten Großmacht nach dem tiefen
Falle von Jena. Während die gefeierten Namen der alten Zeit ſammt
und ſonders verächtlich zu den Todten geworfen wurden und in Preußen
ſelbſt Jedermann den gänzlichen Mangel an fähigem jungem Nachwuchs
beklagte, ſchaarte ſich mit einem male ein neues Geſchlecht um den Thron:
mächtige Charaktere, begeiſterte Herzen, helle Köpfe in unabſehbarer Reihe,
eine dichte Schaar von Talenten des Rathes und des Lagers, die den litera-
riſchen Größen der Nation ebenbürtig an die Seite traten. Und wie einſt
Friedrich auf den Schlachtfeldern Böhmens nur erntete was ſein Vater
in mühereichen Friedenszeiten ſtill geſät hatte, ſo war auch dies ſchnelle
Wiedererſtarken der gebeugten Monarchie nur die reife Frucht der ſchweren
Arbeit langer Jahre. Indem der Staat ſich innerlich zuſammenraffte,
machte er ſich Alles zu eigen, was Deutſchlands Dichter und Denker
während der letzten Jahrzehnte über Menſchenwürde und Menſchenfreiheit,
über des Lebens ſittliche Zwecke gedacht hatten. Er vertraute auf die be-
freiende Macht des Geiſtes, ließ den vollen Strom der Ideen des neuen
Deutſchlands über ſich hereinfluthen.


Jetzt erſt wurde Preußen in Wahrheit der deutſche Staat; die
Beſten und Kühnſten aus allen Stämmen des Vaterlandes, die letzten
Deutſchen ſammelten ſich unter den ſchwarzundweißen Fahnen. Der ſchwung-
volle Idealismus einer lauteren Bildung wies der alten preußiſchen
Tapferkeit und Treue neue Pflichten und Ziele, erſtarkte ſelber in der
Zucht des politiſchen Lebens zu opferfreudiger Thatkraft. Der Staat gab
[270]I. 3. Preußens Erhebung.
die kleinliche Vorliebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wiſſenſchaft
erkannte, daß ſie des Vaterlandes bedurfte um menſchlich wahr zu ſein.
Das alte harte kriegeriſche Preußenthum und die Gedankenfülle der mo-
dernen deutſchen Bildung fanden ſich endlich zuſammen um nicht wieder
von einander zu laſſen. Dieſe Verſöhnung zwiſchen den beiden ſchöpferiſchen
Mächten unſerer neuen Geſchichte giebt den ſchweren Jahren, welche dem
Tilſiter Frieden folgten, ihre hiſtoriſche Größe. In dieſer Zeit des Leidens
und der Selbſtbeſinnung haben ſich alle die politiſchen Ideale zuerſt ge-
bildet, an deren Verwirklichung die deutſche Nation bis zum heutigen
Tage arbeitet.


Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grauſamer gehauſt als in
Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt
erſchütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenſchaftlicher empfunden als
unter den deutſchen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des napo-
leoniſchen Weltreichs erhob ſich der Gedanke der Staatenfreiheit, derſelbe
Gedanke, für den einſt der Neugründer des preußiſchen Staates gegen
den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitiſchen Lehren der
bewaffneten Revolution trat die nationale Geſinnung, die Begeiſterung
für Vaterland, Volksthum und heimiſche Eigenart entgegen. Im Kampfe
wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine
neue lebendige Anſchauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der
perſönlichen Kraft den ſittlichen Halt der Nationen ſah. Die großen
Gegenſätze, die hier auf einander ſtießen, ſpiegelten ſich getreulich wieder
in den Perſonen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der ſich
vermaß, er ſelber ſei das Schickſal, aus ihm rede und wirke die Natur
der Dinge — der Uebermächtige, der mit der Wucht ſeines herriſchen
Genius jeden anderen Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge
von tapferen Landsknechten und brauchbaren Geſchäftsmännern, aber faſt
kein einziger aufrechter Charakter, faſt Keiner, deſſen inneres Leben ſich
über das platt Alltägliche erhob. Hier eine lange Schaar ungewöhnlicher
Menſchen, ſcharf ausgeprägte, eigenſinnige Naturen, jeder eine kleine Welt
für ſich ſelber voll deutſchen Trotzes und deutſcher Tadelſucht, jeder eines
Biographen würdig, zu ſelbſtändig und gedankenreich um kurzweg zu ge-
horchen, doch alleſammt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit
und Ehre ihres geſchändeten Vaterlandes wiederaufzurichten.


Einer aber ſtand in dieſem Kreiſe nicht als Herrſcher, doch als der
Erſte unter Gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeit-
alters der Reformen. Das Schloß ſeiner Ahnen lag zu Naſſau, mitten
im bunteſten Ländergemenge der Kleinſtaaterei; von der Lahnbrücke im
nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutſchen Fürſten
und Herren zugleich hineinſchauen. Dort wuchs er auf, in der freien
Luft, unter der ſtrengen Zucht eines ſtolzen, frommen, ehrenfeſten alt-
ritterlichen Hauſes, das ſich allen Fürſten des Reiches gleich dünkte.
[271]Der Freiherr vom Stein.
Standen doch die Stammburgen der Häuſer Stein und Naſſau dicht bei
einander auf demſelben Felſen; warum ſollte das alte Wappenſchild mit
den Roſen und den Balken weniger gelten als der ſächſiſche Rautenkranz
oder die württembergiſchen Hirſchgeweihe? Der Gedanke der deutſchen
Einheit, zu dem die geborenen Unterthanen erſt auf den weiten Umwegen
der hiſtoriſchen Bildung gelangten, war dieſem ſtolzen reichsfreien Herrn
in die Wiege gebunden. Er wußte es gar nicht anders: „ich habe nur
ein Vaterland, das heißt Deutſchland, und da ich nach alter Verfaſſung
nur ihm und keinem beſonderen Theile deſſelben angehöre, ſo bin ich auch
nur ihm und nicht einem Theile deſſelben von ganzem Herzen ergeben.“
Wenig berührt von der äſthetiſchen Begeiſterung der Zeitgenoſſen verſenkte
ſich ſein thatkräftiger, auf das Wirkliche gerichteter Geiſt früh in die hiſto-
riſchen Dinge. Alle die Wunder der vaterländiſchen Geſchichte, von den
Cohortenſtürmern des Teutoburger Waldes bis herab zu Friedrichs Grena-
dieren, ſtanden lebendig vor ſeinen Blicken. Dem ganzen großen Deutſch-
land, ſo weit die deutſche Zunge klingt, galt ſeine feurige Liebe. Keinen,
der nur jemals von der Kraft und Großheit deutſchen Weſens Kunde ge-
geben, ſchloß er von ſeinem Herzen aus; als er im Alter in ſeinem Naſſau
einen Thurm erbaute zur Erinnerung an Deutſchlands ruhmvolle Thaten,
hing er die Bilder von Friedrich dem Großen und Maria Thereſia, von
Scharnhorſt und Wallenſtein friedlich neben einander. Sein Ideal war
das gewaltige deutſche Königthum der Sachſenkaiſer; die neuen Theil-
ſtaaten, die ſich ſeitdem über den Trümmern der Monarchie erhoben
hatten, erſchienen ihm ſammt und ſonders nur als Gebilde der Willkür,
heimiſchen Verrathes, ausländiſcher Ränke, reif zur Vernichtung ſobald
irgendwo und irgendwie die Majeſtät des alten rechtmäßigen Königthums
wieder erſtünde. Sein ſchonungsloſer Freimuth gegen die gekrönten
Häupter entſprang nicht blos der angeborenen Tapferkeit eines helden-
haften Gemüthes, ſondern auch dem Stolze des Reichsritters, der in
allen dieſen fürſtlichen Herren nur pflichtvergeſſene, auf Koſten des Kaiſer-
thums bereicherte Standesgenoſſen ſah und nicht begreifen wollte, warum
man mit ſolchen Zaunkönigen ſo viel Umſtände mache.


Er hatte die rheiniſchen Feldzüge in der Nähe beobachtet und die
Ueberzeugung gewonnen, die er einmal der Kaiſerin von Rußland vor
verſammeltem Hofe ausſprach: das Volk ſei treu und tüchtig, nur die
Erbärmlichkeit ſeiner Fürſten verſchulde Deutſchlands Verderben. Er haßte
die Fremdherrſchaft mit der ganzen dämoniſchen Macht ſeiner natur-
wüchſigen Leidenſchaft, die einmal ausbrechend unbändig wie ein Berg-
ſtrom daherbrauſte; doch nicht von der Wiederaufrichtung der verlebten
alten Staatsgewalten noch von den künſtlichen Gleichgewichtslehren der
alten Diplomatie erwartete er das Heil Europas. Sein freier großer
Sinn drang überall gradaus in den ſittlichen Kern der Dinge. Mit
dem Blicke des Sehers erkannte er jetzt ſchon, wie Gneiſenau, die Grund-
[272]I. 3. Preußens Erhebung.
züge eines dauerhaften Neubaues der Staatengeſellſchaft. Das unnatür-
liche Uebergewicht Frankreichs — ſo lautete ſein Urtheil — ſteht und fällt
mit der Schwäche Deutſchlands und Italiens; ein neues Gleichgewicht
der Mächte kann nur erſtehen, wenn jedes der beiden großen Völker
Mitteleuropas zu einem kräftigen Staate vereinigt wird. Stein war der
erſte Staatsmann, der die treibende Kraft des neuen Jahrhunderts, den
Drang nach nationaler Staatenbildung ahnend erkannte; erſt zwei Men-
ſchenalter ſpäter ſollte der Gang der Geſchichte die Weiſſagungen des
Genius rechtfertigen. Noch war ſein Traum vom einigen Deutſchland
mehr eine hochherzige Schwärmerei als ein klarer politiſcher Gedanke; er
wußte noch nicht, wie fremd Oeſterreich dem modernen Leben der Nation
geworden war, wollte in den Kämpfen um Schleſien nichts ſehen als
einen beklagenswerthen Bürgerkrieg.


Immerhin hatte er ſchon in jungen Jahren die lebendige Macht des
preußiſchen Staates erkannt und, weit abweichend von den Gewohnheiten
des Reichsadels, ſich in den Dienſt der proteſtantiſchen Großmacht begeben.
Wie ward ihm ſo wohl in der naturfriſchen, den Körper ſtählenden Thätig-
keit des Bergbaus, und nachher, da er als Kammerpräſident unter den
freien Bauern und dem ſtolzen alteingeſeſſenen Adel der weſtphäliſchen
Lande eine zweite Heimath fand, bei Wind und Wetter immer ſelbſt zur
Stelle um nach dem Rechten zu ſehen, herriſch durchgreifend, raſtlos an-
feuernd, aber auch gütig und treuherzig, durch und durch praktiſch, nicht
minder beſorgt um die Kühe der kleinen Kötter wie um die Waſſerwege
für die reichen Kohlenwerke — ein echter Edelmann, vornehm zugleich
und leutſelig, großartig in Allem, ein kleiner König in ſeiner Provinz.
Den Oſten der Monarchie kannte er wenig. Der Rheinfranke konnte das
landſchaftliche Vorurtheil gegen die dürftigen Coloniſtenlande jenſeits der
Elbe lange nicht überwinden; er meinte in den ernſthaften verwitterten
Zügen der brandenburgiſchen Bauern, die freilich die Spuren langer
Noth und Unfreiheit trugen, einen ſcheuen, böſen Wolfsblick zu erkennen,
und mit dem naiven Stolze des Reichsritters ſah er auf das arme an-
ſpruchsvolle Junkerthum der Marken herunter, das doch für Deutſchlands
neue Geſchichte unvergleichlich mehr geleiſtet hatte als der geſammte Reichs-
adel. Sold zu nehmen und ſeinen ſteifen Nacken in das Joch des Dienſtes
zu ſchmiegen fiel dem Reichsfreiherrn von Haus aus ſchwer. Als er dann
auf der rothen Erde die noch lebensfähigen Ueberreſte altgermaniſcher Ge-
meindefreiheit und altſtändiſcher Inſtitutionen kennen lernte, als er die
gemeinnützige Wirkſamkeit der Landſtände, der bäuerlichen Erbentage, der
Stadträthe und der Kirchenſynoden beobachtete und damit die formenſteife
Kleinmeiſterei, die allfürſorgende Zudringlichkeit des königlichen Beamten-
thums verglich, da überkam ihn eine tiefe Verachtung gegen das Nichtige
des todten Buchſtabens und der Papierthätigkeit. Mit harten und oftmals
ungerechten Worten ſchalt er auf die beſoldeten, buchgelehrten, intereſſe-
[273]Steins Anſicht vom Staate.
loſen, eigenthumsloſen Buraliſten, die, es regne oder es ſcheine die
Sonne, ihren Gehalt aus der Staatskaſſe erheben und ſchreiben, ſchrei-
ben, ſchreiben.


So in rüſtigem Handeln, in lebendigem Verkehre mit allen Ständen
des Volkes bildete er ſich nach und nach eine ſelbſtändige Anſicht vom
Weſen politiſcher Freiheit, die ſich zu den demokratiſchen Doctrinen der
Revolution verhielt wie die deutſche zur franzöſiſchen Staatsgeſinnung.
Adam Smiths Lehre von der freien Bewegung der wirthſchaftlichen Kräfte
hatte ſchon dem Jüngling einen tiefen Eindruck hinterlaſſen; nur lag dem
deutſchen Freiherrn nichts ferner als jene Ueberſchätzung der wirthſchaft-
lichen Güter, worein die blinden Anhänger des Schotten verfielen, viel-
mehr bekannte er ſich laut zu der fridericianiſchen Meinung, daß über-
mäßiger Reichthum das Verderben der Völker ſei. Juſtus Möſers
lebenswahre Erzählungen von der Bauernfreiheit der germaniſchen Urzeit
ergriffen ihn lebhaft, das Studium der deutſchen und der engliſchen Ver-
faſſungsgeſchichte kam ſeiner politiſchen Bildung zu ſtatten, und ſicher hat
die romantiſche Weltanſchauung des Zeitalters, die allgemeine Schwär-
merei für die ungebrochene Kraft jugendlichen Volkslebens unbewußt auch
auf ihn eingewirkt. Doch der eigentliche Quell ſeiner politiſchen Ueber-
zeugung war ein ſtarker ſittlicher Idealismus, der, mehr als der Freiherr
ſelbſt geſtehen wollte, durch die harte Schule des preußiſchen Beamten-
dienſtes geſtählt worden war.


Die Verwaltungsordnung des erſten Friedrich Wilhelm hatte einſt das
dem öffentlichen Leben ganz entfremdete Volk in den Dienſt des Staates
hineingezwungen. Stein erkannte, daß die alſo Erzogenen nunmehr fähig
waren unter der Aufſicht des Staates die Geſchäfte von Kreis und Ge-
meinde ſelbſt zu beſorgen. Er wollte an die Stelle der verlebten alten
Geburtsſtände die Rechtsgleichheit der modernen bürgerlichen Geſellſchaft
ſetzen, aber nicht die unterſchiedsloſe Maſſe ſouveräner Einzelmenſchen,
ſondern eine neue gerechtere Gliederung der Geſellſchaft, die „den Eigen-
thümern“, den Wohlhabenden und vornehmlich den Grundbeſitzern, die
Laſt des communalen Ehrendienſtes auferlegte und ihnen dadurch erhöhte
Macht gäbe — eine junge auf dem Gedanken der politiſchen Pflicht ruhende
Ariſtokratie. Er dachte die Revolution mit ihren eigenen Waffen zu be-
kämpfen, den Streit der Stände auszugleichen, die Idee des Einheits-
ſtaates in der Verwaltungsordnung vollſtändig zu verwirklichen; doch mit
der Thatkraft des Neuerers verband er eine tiefe Pietät für das hiſtoriſch
Gewordene, vor Allem für die Macht der Krone. Eine Verfaſſung bilden,
ſagte er oft, heißt das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickeln.
Er ſtrebte von jenen künſtlichen Zuſtänden der Bevormundung und des
Zwanges, die ſich einſt aus dem Elend des dreißigjährigen Krieges heraus-
gebildet hatten, wieder zurück zu den einfachen und freien Anſchauungen
der deutſchen Altvordern, denen der Waffendienſt als das Ehrenrecht jedes
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 18
[274]I. 3. Preußens Erhebung.
freien Mannes, die Sorge für den Haushalt der Gemeinde als die natür-
liche Aufgabe des Bürgers und des Bauern erſchien. Dem begehrlichen
revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Menſchenrechte
heiſchte, trat das ſtrenge altpreußiſche Pflichtgefühl entgegen, dem dreiſten
Dilettantismus der Staatsphiloſophen die Sach- und Menſchenkenntniß
eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens
die Einſicht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her
beginnen muß, daß conſtitutionelle Formen werthlos ſind wenn ihnen der
Unterbau der freien Verwaltung fehlt.


Dieſe Gedanken, wie neu und kühn ſie auch erſchienen, ergaben ſich
doch nothwendig aus der inneren Entwickelung, welche der preußiſche Staat
ſeit der Vernichtung der alten Ständeherrſchaft bis zum Erſcheinen des
Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; ſie berührten ſich zugleich ſo nahe
mit dem ſittlichen Ernſt der Kantiſchen Philoſophie und dem wieder er-
wachenden hiſtoriſchen Sinne der deutſchen Wiſſenſchaft, daß ſie uns Nach-
lebenden wie der politiſche Niederſchlag der claſſiſchen Zeit unſerer Litera-
tur erſcheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort, wurden
ſofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von
den beſten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von Keinem
freilich ſo umfaſſend und eigenthümlich wie von Stein. In den Briefen
und Denkſchriften von Scharnhorſt und Gneiſenau, von Vincke und Nie-
buhr kehrt überall derſelbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu
ſelbſtändiger, verantwortlicher politiſcher Arbeit aufzurufen und ihr da-
durch das Selbſtvertrauen, den Muth und Opfermuth der lebendigen
Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein geſchloſſenes Syſtem politiſcher Ideen
aufzubauen lag nicht in der Weiſe dieſer praktiſchen Staatsmänner; ſie
rühmten vielmehr als einen Vorzug des engliſchen Lebens, daß dort die
politiſche Doctrin ſo wenig gelte. Und ſo war auch das einzige literariſche
Werk, das unter Steins Augen entſtand, Vinckes Abhandlung über die
britiſche Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die
kleine Schrift gab zum erſten male ein getreues Bild von der Selbſt-
verwaltung der engliſchen Grafſchaften, die bisher neben der bewunderten
Gewaltentheilung des conſtitutionellen Muſterſtaates noch gar keine Be-
achtung gefunden hatte; ſie enthielt zugleich eine ſo unzweideutige Kriegs-
erklärung gegen die rheinbündiſch-franzöſiſche Bureaukratie, daß ſie erſt
nach dem Sturze der napoleoniſchen Herrſchaft gedruckt werden durfte.
Darum iſt den Zeitgenoſſen der ganze Tiefſinn der Staatsgedanken
Steins niemals recht zum Bewußtſein gekommen. Erſt die Gegenwart
erkennt, daß dieſer ſtolze Mann mit der Idee des nationalen Staates
auch den Gedanken der Selbſtverwaltung, eine edlere, aus uralten un-
vergeſſenen Ueberlieferungen der germaniſchen Geſchichte geſchöpfte Auf-
faſſung der Volksfreiheit für das Feſtland gerettet hat. Jeder Fortſchritt
unſeres politiſchen Lebens hat die Nation zu Steins Idealen zurückgeführt.


[275]Steins Charakter.

Es war der Schatten ſeiner Tugenden, daß er in den verſchlungenen
Wegen der auswärtigen Politik ſich nicht zurecht fand und die unentbehr-
lichen Künſte diplomatiſcher Verſchlagenheit als niederträchtiges Finaſſiren
verachtete. Ihm fehlte die Liſt, die Behutſamkeit, die Gabe des Zauderns
und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er ſich mit
vollendeter Sicherheit, jede ſeiner Verordnungen war ein Muſter geſchäft-
licher Klarheit und Beſtimmtheit. Wenn aber eine Ausſicht auf die Be-
freiung ſeines Vaterlandes ſich zu eröffnen ſchien, ſo verließ ihn die
beſonnene Ruhe, und fortgeriſſen von dem wilden Ungeſtüm ſeiner patrio-
tiſchen Begeiſterung rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen.


Den Staat bedachtſam zwiſchen den Klippen hindurchzuſteuern, bis der
rechte Augenblick der Erhebung erſchien, war dieſem Helden des heiligen
Zornes und der ſtürmiſchen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch Niemand
war wie er für die Aufgaben des politiſchen Reformators geboren. Der
zerrütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe ſittliche Ziele zu
geben, ihre ſchlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines
feurigen Willens zu beleben — das vermochte nur Stein, denn Keiner
beſaß wie er die fortreißende, überwältigende Macht der großen Perſön-
lichkeit. Jedes unedle Wort verſtummte, keine Beſchönigung der Schwäche
und der Selbſtſucht wagte ſich mehr heraus, wenn er ſeine ſchwerwiegen-
den Gedanken in markigem, altväteriſchem Deutſch ausſprach, ganz kunſt-
los, volksthümlich derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedanken-
reichthum, der verhaltenen Leidenſchaft des echten Germanen natürlich iſt.
Die Gemeinheit zitterte vor der Unbarmherzigkeit ſeines ſtachligen Spottes,
vor den zermalmenden Schlägen ſeines Zornes. Wer aber ein Mann
war ging immer leuchtenden Blicks und gehobenen Muthes von dem
Glaubensſtarken hinweg. Unauslöſchlich prägte ſich das Bild des Reichs-
freiherrn in die Herzen der beſten Männer Deutſchlands: die gedrungene
Geſtalt mit dem breiten Nacken, den ſtarken, wie für den Panzer ge-
ſchaffenen Schultern; tiefe, funkelnde braune Augen unter dem mächtigen
Gehäuſe der Stirn, eine Eulennaſe über den ſchmalen, ausdrucksvoll be-
lebten Lippen; jede Bewegung der großen Hände jäh, eckig, gebieteriſch:
ein Charakter wie aus dem hochgemuthen ſechzehnten Jahrhundert, der
unwillkürlich an Dürers Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte
— ſo geiſtvoll und ſo einfach, ſo tapfer unter den Menſchen und ſo
demüthig vor Gott — der ganze Mann eine wunderbare Verbindung von
Naturkraft und Bildung, Freiſinn und Gerechtigkeit, von glühender Leiden-
ſchaft und billiger Erwägung — eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu
jeder ſelbſtiſchen Berechnung für Napoleon und die Genoſſen ſeines Glücks
immer ein unbegreifliches Räthſel blieb. Er war der Mann der Lage;
ſelbſt ſeine Schwächen und einſeitigen Anſichten entſprachen dem Bedürf-
niß des Augenblicks. Wenn er das Beamtenthum und den kleinen Adel
ungebührlich hart beurtheilte, die Oeſterreicher ſchlechtweg als Preußens
18*
[276]I. 3. Preußens Erhebung.
deutſche Brüder anſah: um ſo beſſer für den Staat, der jetzt die adlichen
Privilegien, die Alleinherrſchaft der Bureaukratie zerſtören und Alles was
trennend zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten ſtand, hochherzig ver-
geſſen mußte.


Nach ſeinem vergeblichen Kampfe gegen die Cabinetsregierung und
ſeiner ſchnöden Entlaſſung hatte Stein ſtill in Naſſau gelebt und dort
ſchon in einer umfaſſenden Denkſchrift einige Umriſſe für die Neugeſtal-
tung des Staates aufgezeichnet. Da traf ihn die Kunde von dem un-
ſeligen Frieden und warf den Heißblütigen auf das Krankenbette. Bald
darauf kam die Aufforderung zur Rückkehr. Er nahm an; jede Kränkung
war vergeſſen; nach drei Tagen wurde ſein Wille des Fiebers Herr. Am
30. September 1807 traf er in Memel ein, und der König legte ver-
trauensvoll die Leitung des geſammten Staatsweſens in die Hände des
Miniſters. Welch eine Lage! An ſeinem letzten Geburtstage hatte Friedrich
Wilhelm, da die Räumung des Landes gar nicht beginnen wollte, in einem
eigenhändigen Briefe dem Imperator gradezu die Frage geſtellt, ob er
Preußen zu vernichten beabſichtige. Napoleon blieb ſtumm, die Thaten
gaben die Antwort. Mitten im Frieden ſtanden 160,000 Franzoſen in
den Feſtungen und in großen Lagern, über das ganze Staatsgebiet ver-
theilt, allein Oſtpreußen ausgenommen. Der Kern der alten preußiſchen
Armee, mehr als 15,000 Mann, lag noch kriegsgefangen bei Nancy, und
woher ſollte die ausgeplünderte Monarchie die Mittel nehmen für die
Bildung eines neuen Heeres? An verfügbarem jährlichem Einkommen ver-
blieben dem Staate noch 13½ Mill. Thlr., kaum zwei Drittel ſeiner
früheren Einnahmen. Ueberall wo Napoleons Truppen ſtanden wurden
die Staatseinkünfte, als ob der Krieg noch fortwährte, für Frankreich in
Beſchlag genommen, ſo daß der König nahezu nichts erhielt, hunderte
der auf halben Sold entlaſſenen Offiziere unbezahlt darben mußten. Die
einſt vielbeneidete Seehandlung hatte, wie die Bank, ihre Zahlungen ein-
geſtellt; ihre Obligationen ſanken im Curſe bis auf 25. Die Treſorſcheine
fielen bis auf 27, da an die Einlöſung nicht mehr zu denken war und die
franzöſiſchen Behörden das Papiergeld zu Wuchergeſchäften mißbrauchten.
Maſſen entwertheter Scheidemünzen ſtrömten aus den abgetretenen Pro-
vinzen in das Land zurück, und die Franzoſen ließen um das Unheil zu
vermehren in der Berliner Münze noch für 3 Mill. Thlr. neues Kleingeld
prägen. Der Staatscredit war ſo gänzlich vernichtet, daß eine Prämien-
anleihe von einer Million, in kleinen Scheinen zu 25 Thlr. ausgegeben,
nach drei Jahren noch immer nicht vergriffen war. Die franzöſiſche
Militärverwaltung unter Darus brutaler Leitung hauſte im Frieden
ärger als im Kriege; eine Contribution drängte die andere, und monate-
lang blieb es ein tiefes Geheimniß, wie viel der unerſättliche Feind noch
von dem erſchöpften Lande fordern wolle. In Oſt- und Weſtpreußen
wurde zur Abtragung der Kriegslaſten eine progreſſive Einkommenſteuer,
[277]Wirthſchaftliche Erſchöpfung des Staates.
die bis zu 20 vom Hundert ſtieg, ausgeſchrieben; ein keineswegs reicher
Stettiner Kaufmann mußte in dem Jahre nach dem Frieden für Contri-
bution und Einquartierung mehr als 15,000 Thlr. zahlen.


Handel und Wandel ſtockten. Der britiſche Kaufmannsneid hatte den
letzten Krieg rückſichtslos benutzt um die ſtärkſte Handelsmarine der Oſt-
ſeeküſten zu zerſtören. Als nachher der Krieg gegen Frankreich ausbrach,
der Friede mit England noch nicht geſchloſſen war, ſah ſich die preußiſche
Flagge gleichzeitig durch die britiſchen und die franzöſiſchen Kreuzer be-
droht. Dann kam der Jammer der Continentalſperre. Die Rhederei der
pommerſchen Häfen verringerte ſich in kurzer Zeit von 34,000 auf 20,000
Laſt. Die alten natürlichen Straßen des Welthandels lagen verödet; die
baltiſchen Provinzen verloren, da ihnen gute Landſtraßen noch faſt gänz-
lich fehlten, den Abſatzweg für ihren einzigen Exportartikel, das Getreide.
Ein heilloſer Schmuggelhandel führte von Gothenburg und Helgoland,
dem neuen Klein-London, die Waaren der Colonien in’s Land; andere
Waarenzüge kamen aus Malta und Corfu durch Bosnien und Ungarn.
Der preußiſche Mittelſtand konnte die Preiſe der gewohnten Genußmittel
nicht mehr erſchwingen; man trank Cichorienwaſſer, rauchte Huflattich
und Nußblätter. Bettelhaftes Elend in jedem Haushalt, jedem Gewerb:
die Königsberger Buchdrucker verlangten drei Wochen Friſt um ein ſechs
Bogen langes Geſetz zu drucken, weil ſie nur für einen Bogen Satz
hatten. Schoen, der gewiegte Finanzmann, der ſich gern ſeines altpreu-
ßiſchen Muthes rühmte, fand die Zuſtände ſo hoffnungslos, daß er ſchon
vier Monate nach dem Frieden in einer Denkſchrift ausführte: man müſſe
den Sieger durch die Abtretung des Magdeburgiſchen rechts der Elbe und
eines Theiles von Oberſchleſien befriedigen, ſonſt gehe das Land durch
den Steuerdruck zu Grunde.


Alles erinnerte an jene jammervollen Zeiten, da einſt die Wallen-
ſteiner in den Marken hauſten und Georg Wilhelm als ein Fürſt ohne
Land in Königsberg weilte. Aber welche Saat von Liebe und Treue war
während der ſechs Menſchenalter ſeitdem aufgegangen! Damals wider-
ſetzte ſich der Königsberger Landtag in ſtörriſchem Trotze ſeinem Kurfürſten;
jetzt ſtanden Fürſt und Volk zu einander wie eine große Familie. Das
ärmliche Landhaus bei Memel und die düſteren Räume des alten Ordens-
ſchloſſes in Königsberg wurden nicht leer von Beſuchern, die ihrem Könige
in ſeiner Noth eine Freude bereiten, ein gutes Wort ſagen wollten; zu
der Taufe der neugeborenen Königstochter erſchienen die Stände von Oſt-
preußen als Pathen; an allen Läden hing das neue Bild, das den König
in der häßlichen Uniform der Zeit inmitten ſeiner Kinder darſtellte. Und
wie viel königlicher als der Vater des großen Kurfürſten wußte Friedrich
Wilhelm ſein hartes Loos zu tragen. Eine tiefe Bitterkeit erfüllte ihm
die Seele, mehr als je bedurfte er des herzlichen Zuſpruchs ſeiner Ge-
mahlin; er hatte Stunden, wo ihm zu Muthe war, als ob nichts ihm
[278]I. 3. Preußens Erhebung.
gelänge, als ob er nur für das Unglück geboren ſei. Als er im Königs-
berger Dome die Inſchriften auf den Gräbern der preußiſchen Herzöge
las, wählte er ſich den Sinnſpruch für ſein hartes Leben: meine Zeit in
Unruhe, meine Hoffnung in Gott! Doch dieſe Hoffnung hielt ihn auf-
recht. Niemals wollte er ſich überzeugen, daß die gemeinen Seelen aus
der Familie Bonaparte, die jetzt Europas Kronen trugen, wirkliche Fürſten
ſeien, daß dies mit allem ſeinem Ruhm und Glanz ſo windige, ſo ſchwindel-
hafte Abenteuer des napoleoniſchen Weltreichs in der vernünftigen Gottes-
welt auf die Dauer beſtehen könne. Willig und ohne Vorbehalt ging er
auf die Vorſchläge ſeines großen Miniſters ein. An Steins Geſetzen hatte
er weit größeren Antheil als die Zeitgenoſſen wußten. Vieles was ſich
jetzt vollendete war ja nur die kühne Durchführung jener Reformgedanken,
worüber der unentſchloſſene Fürſt ein Jahrzehnt hindurch gebrütet hatte.
Nur ſo werden die raſchen, durchſchlagenden Erfolge des einen kurzen
Jahres der Steinſchen Verwaltung verſtändlich.


Auch unter den Beamten fand der neue Miniſter willige Helfer. Ein
Glück für ihn, daß er ſein Reformwerk grade auf oſtpreußiſchem Boden
beginnen mußte. Hier wurde die Unhaltbarkeit der alten ſtändiſchen Gliede-
rung beſonders lebhaft empfunden, da die Provinz in ihren Köllmern einen
freien nichtadlichen Grundbeſitzerſtand beſaß; hier waren die Gebildeten,
namentlich die Beamten, längſt vertraut mit den freien ſittlichen und poli-
tiſchen Anſchauungen, welche die beiden wirkſamſten Lehrer der Königs-
berger Hochſchule, Kant und der ſoeben verſtorbene Kraus, ſeit Jahren
verbreitet hatten. Ganz und gar von dieſen Ideen erfüllt war Schoen,
in mancher Hinſicht ein getreuer Vertreter des ſtolzen, freiſinnigen, ge-
dankenreichen oſtpreußiſchen Weſens, freilich auch ein Doctrinär der un-
bedingten Freihandelslehre, zudem maßlos eitel, unfähig fremdes Verdienſt
beſcheiden anzuerkennen und, ganz gegen die Art ſeines edlen Stammes,
unwahrhaftig. Neben ihm wirkte Staegemann, ein hochgebildeter, kundiger
Geſchäftsmann von ſeltenem Fleiße und ſeltener Beſcheidenheit, der ſeine
treue Liebe zum preußiſchen Staate zuweilen in tief empfundenen unge-
lenken Gedichten ausſprach; dann Niebuhr, der geniale Gelehrte, zu reiz-
bar, zu abhängig von der Stimmung des Augenblicks um ſich leicht in
die gleichmäßige Thätigkeit der Bureaus zu finden, aber Allen unſchätzbar
durch den unerſchöpflichen Reichthum eines lebendigen Wiſſens, durch die
Weite ſeines Blicks, durch den Adel einer hohen Leidenſchaft; dann Nico-
lovius, ein tiefes, von der religiöſen Strömung der Zeit im Innerſten
bewegtes Gemüth; dann Sack, Klewitz, Wilken und viele Andere, ein
ſchöner Verein ungewöhnlicher Kräfte. Unter Allen ſtand wohl der weſt-
phäliſche Freiherr v. Vincke den Anſchauungen Steins am nächſten. Auch
er hatte ſich ſeine Anſicht vom Staate unter dem Adel und den Bauern
der rothen Erde gebildet, nur daß der geborene Preuße die Verdienſte des
Soldbeamtenthums unbefangener anerkannte als der Reichsritter; er
[279]Hardenbergs Rigaer Denkſchrift.
rechnete ſich ſelber nicht zu den ſchöpferiſchen Köpfen, ſeine Stärke war
die Ausführung, die raſtloſe Thätigkeit des Verwaltungsbeamten.


Hardenberg, der auf Napoleons Befehl zum zweiten male das Mini-
ſterium hatte verlaſſen müſſen, ſendete aus Riga eine große Denkſchrift
über die Reorganiſation des preußiſchen Staats, die er dort im Verein
mit Altenſtein ausgearbeitet. Sie berührte ſich vielfach mit den Ideen
des neuen Miniſters, manche ihrer Vorſchläge waren ſeinen Aeußerungen
wörtlich entlehnt — ſo der Gedanke einer Ständeverſammlung für den
geſammten Staat. Doch verrieth ſich hier auch ſchon jener feine und tiefe
Gegenſatz, welcher den Jünger der Aufklärung von Steins hiſtoriſcher
Staatsanſchauung immer getrennt hat. Hardenberg war zuerſt Diplo-
mat, in Verwaltungsſachen bei weitem nicht ſo gründlich unterrichtet wie
Stein, und nahm daher unbedenklich in ſeine Denkſchrift einige allgemeine
theoretiſche Sätze auf, wie ſie Altenſtein, der Freund Fichtes, liebte. Sein
Reformplan war „nach der höchſten Idee des Staates“ bemeſſen; in der
Handelspolitik ſollte ohne Einſchränkung der Grundſatz des laisser faire
gelten. Während Stein die Revolution von frühauf mit dem Mißtrauen
des Ariſtokraten betrachtet hatte und nur einige ihrer probehaltigen Er-
gebniſſe auf deutſchen Boden verpflanzen wollte, war Hardenberg von
den franzöſiſchen Ideen ungleich ſtärker berührt worden. Er bezeichnete
gradezu als das Ziel der Reform: „demokratiſche Grundſätze in einer
monarchiſchen Regierung“, ſchloß ſich im Einzelnen eng an das Vorbild
Frankreichs an, verlangte für das Heer die Conſcription mit Stellver-
tretung, und die altpreußiſchen Ehrenämter der Landräthe hätte er gern
durch bureaukratiſche Kreisdirectoren verdrängt. Von der Selbſtverwal-
tung der Gemeinden ſprach er gar nicht. Gemeinſam war beiden Staats-
männern die ſittliche Hoheit der Staatsgeſinnung. Beide wollten, wie
Altenſteins Entwurf ſich ausdrückte, „eine Revolution im guten Sinne,
gradehin führend zu dem großen Zwecke der Veredlung der Menſchheit“;
Beide wußten, daß Frankreich nur „eine untergeordnete, auf bloße Kraft-
äußerung gerichtete Tendenz“ verfolge, und forderten von dem verjüngten
deutſchen Staate, daß er Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft, alle idealen
Beſtrebungen des Menſchengeſchlechts um ihrer ſelber willen beſchütze und
alſo durch ſittliche Kräfte ſich den Sieg über die feindliche Uebermacht ſichere.


Stein beſaß in hohem Maaße die dem Staatsmanne unentbehrliche
Kunſt die Gedanken Anderer zu benutzen. Alle die Vorſchläge, die ihm
aus den Kreiſen des Beamtenthums entgegengebracht wurden, ließ er auf
ſich wirken, doch ſeine letzten Entſchließungen faßte er ſtets nach eigenem
Ermeſſen. Als er in Memel eintraf, fand er bereits einen Entwurf vor
für die Aufhebung der Erbunterthänigkeit in Oſt- und Weſtpreußen. Schoen,
Staegemann und Klewitz hatten den Plan, auf Befehl des Königs, aus-
gearbeitet und ſich namentlich darauf berufen, daß in dem benachbarten
Großherzogthum Warſchau die Beſeitigung der Leibeigenſchaft bevorſtehe.
[280]I. 3. Preußens Erhebung.
Der Miniſter gab dem Geſetze ſofort einen größeren Sinn, verlangte die
Ausdehnung der Reform auf das geſammte Staatsgebiet. Seit er po-
litiſch zu denken vermochte hatte er die Unfreiheit des Landvolks als den
Fluch unſeres Nordoſtens betrachtet; jetzt ſchien es ihm an der Zeit, dies
uralte Leiden endlich zu heilen, mit einem kühnen Schritte das Ziel zu
erreichen, worauf die Geſetze der Hohenzollern ſeit Friedrich Wilhelm I.
immer mit halbem Erfolge hingearbeitet hatten. Der König ſtimmte freudig
zu; die tapfere Zuverſicht des Miniſters erweckte ihm den Muth ernſtlich
zu wollen was er ſein Lebelang nur gehofft und gewünſcht. So erſchien
denn am 9. October 1807 das Edict über den erleichterten Beſitz und
den freien Gebrauch des Grundeigenthums — die Habeas Corpus Acte
Preußens, wie Schoen ſagte. In anſpruchsloſen Formen ward eine tief-
greifende ſociale Revolution vollzogen: etwa zwei Drittel der Bevölkerung
des Staates gewannen die unbeſchränkte perſönliche Freiheit, am Martini-
tage 1810 ſollte es nur noch freie Leute in Preußen geben. Daſſelbe
Geſetz vernichtete mit einem Schlage die ſtändiſche Ordnung des frideri-
cianiſchen Staates. Der Edelmann erhielt das Recht, ein Bauer zu wer-
den und bürgerliche Gewerbe zu treiben — ein Recht, das zugleich als
Erſatz galt für die bisherige Bevorzugung des Adels in der Armee. Jede Art
von Grundbeſitz und Geſchäftsbetrieb war fortan jedem Preußen zugänglich.


Aber Stein war nicht gewillt, die alten volksfreundlichen Grundſätze
der Monarchie preiszugeben und unter dem Vorwande des freien Wett-
bewerbs die Vernichtung des kleinen Grundbeſitzes zu erlauben; ein freier
kräftiger Bauernſtand erſchien ihm als die feſteſte Stütze des Staates,
als der Kern der Wehrkraft. Darum wurde den Rittergutsbeſitzern das
Auskaufen der Bauergüter nur unter Beſchränkungen und mit Zuſtim-
mung der Staatsbehörden geſtattet. Und während Schoen, getreu den
Dogmen der engliſchen Freihandelsſchule, den Untergang der alten land-
ſäſſigen Geſchlechter als eine unabänderliche wirthſchaftliche Nothwendig-
keit hinnehmen wollte, griff Stein den verſchuldeten Großgrundbeſitzern
mit einem General-Indult unter die Arme. So gelang es, dem Landadel
über die nächſte ſchwere Zeit hinwegzuhelfen, die Mehrzahl der Rittergüter
ihren alten Beſitzern zu erhalten. Ebenſo maßvoll bei aller Kühnheit
war auch das neue Edict, das den Einſaſſen der Domänen in Oſt- und
Weſtpreußen, etwa 47,000 bäuerlichen Familien, das freie Eigenthum ver-
lieh: ſie ſollten befugt ſein, drei Viertel der auf ihren Gütern haftenden
Dienſte und Abgaben binnen vierundzwanzig Jahren durch Geldzahlun-
gen abzulöſen. Ein Viertel blieb als unablösliche Contribution fortbe-
ſtehen; Stein verwarf die vollſtändige Beſeitigung aller dinglichen Laſten
der Bauerngüter als eine allzu radikale Störung der gewohnten Beſitz-
verhältniſſe. Daran ſchloß ſich die Aufhebung des Mühlenzwanges, der
Zünfte und Verkaufsmonopolien für Bäcker, Schlächter und Höker. Ver-
wandlung aller Dienſte und Naturalabgaben in Geldzahlungen, Beſeitigung
[281]Befreiung des Landvolks.
der Zwangs- und Bannrechte, der Servituten, der Gemeinheiten war das
Ziel, dem der Geſetzgeber zuſtrebte; das freie Privateigenthum ſollte überall
zu ſeinem Rechte kommen. In ſcharfem Gegenſatze zu dem fridericianiſchen
Syſteme der monarchiſchen Arbeitsorganiſation wollten die neuen Geſetze
„Alles entfernen, was den Einzelnen bisher hinderte den Wohlſtand zu
erwerben, den er nach dem Maaße ſeiner Kräfte zu erreichen fähig war“.
Die nach Steins Abgang erlaſſene Inſtruction an die Verwaltungsbehörden
ſagte kurzab — in der Form vielleicht etwas abſtracter als Stein ſelbſt
geſchrieben hätte: — die Gewerbe ſollten ihrem natürlichen Gange über-
laſſen bleiben; es ſei nicht nothwendig den Handel zu begünſtigen, er müſſe
nur nicht erſchwert werden.


Im Auslande wurde der mächtige Umſchwung, der das alte Preußen
in ſeinen ſocialen Grundfeſten erſchütterte, kaum beachtet. Die bewegte
Zeit hatte der radikalen Neuerungen genug erlebt, und wie viele, die mit
größerem Lärm begannen, waren im Sande verlaufen. Die Franzoſen
ſpotteten, wie bedachtſam man in Königsberg den Spuren der großen
Revolution folge. In Preußen ſelbſt empfand man um ſo lebhafter, wie
tief die neue Geſetzgebung in alle Lebensverhältniſſe einſchnitt. Das ge-
bildete Bürgerthum begrüßte die Befreiung des Landvolks mit Freuden;
in Breslau wurden die Thaten des königlichen Reformators auf der
Bühne verherrlicht. Aber der kurmärkiſche Adel, der tapfere Marwitz
voran, zürnte auf den dreiſten Ausländer, der mit ſeiner fränkiſchen und
oſtpreußiſchen Beamtenſchule das alte gute brandenburgiſche Weſen zerſtöre.
Unerhört erſchien außer dem revolutionären Inhalt auch die jacobiniſche
Sprache der Stein’ſchen Geſetze, die ſich wiederholt auf das Wohl des
Staates, auf die Fortſchritte des Zeitgeiſtes beriefen. Und nun gar die
den märkiſchen Junkern ganz unbekannte Menſchenklaſſe der „Landbe-
wohner“, die man am grünen Tiſche erfunden hatte! In der Priegnitz
rotteten ſich ſelbſt die Bauern zuſammen, tobend gegen „die neue Frei-
heit“, und der König mußte ſeine gelben Reiter wider ſie ausſenden. Auf
der Junkergaſſe zu Königsberg tagte der Perponcher’ſche Club, würdige
Herren vom Hofe, vom Landadel, von der Armee, alleſammt tief entrüſtet
über „das Nattergezücht“ der Reformer. Niemand dort ſchalt grimmiger
als General York: der ſah die alte ſtrenge Zucht aus der Welt ver-
ſchwinden, ſah die Zeit gekommen, wo jeder Fähnrich an ſeinem Oberſten
zum Marquis Poſa werden wollte. Selbſt Gneiſenau konnte der Kühn-
heit des Miniſters nicht folgen, er meinte den Untergang des großen
Grundbeſitzes vor Augen zu ſehen bis ihn die Erfahrung eines Beſſeren
belehrte. Einige der wackerſten Männer aus den alten oſtpreußiſchen Ge-
ſchlechtern der Dohna, der Auerswald, der Finkenſtein beſchworen den
König in einer Eingabe, die Rechte des Adels zu ſchützen, ihm mindeſtens
die Befreiung vom Kriegsdienſte und die Patrimonialgerichte zu erhalten.
Aber das Anſehen des Königlichen Befehls ſtand ebenſo feſt wie das Ver-
[282]I. 3. Preußens Erhebung.
trauen zu der Rechtſchaffenheit Friedrich Wilhelms. Daß dieſer Fürſt ein
offenbares Unrecht gebieten könne, wollten doch ſelbſt die Unzufriedenen
nicht glauben. Die Reform ging ihren Gang. Wieder, wie ſo oft ſchon,
wurde eine That der Befreiung dem preußiſchen Volke durch den Willen
ſeiner Krone auferlegt.


Die zweite große Aufgabe, welche Stein ſich ſtellte, war die Vollendung
der Staatseinheit. Er hatte aus den Verhandlungen der Pariſer National-
verſammlung die Nothwendigkeit eines centraliſirten Kaſſenweſens, aus der
Verwaltungsorganiſation des erſten Conſuls die Vorzüge einer überſicht-
lichen Eintheilung der Staatsgeſchäfte kennen gelernt und ſchon vor dem
Kriege die Einſetzung von Fachminiſtern für den geſammten Staat em-
pfohlen. Das wunderliche Nebeneinander von Provinzial- und Fach-
miniſtern, die Vermiſchung des Realſyſtems mit dem Provinzialſyſteme
genügte nicht mehr für die Bedürfniſſe der ſchlagfertigen modernen Ver-
waltung. War doch die ängſtliche Schonung der landſchaftlichen Eigen-
thümlichkeiten während der letzten Jahrzehnte ſo weit getrieben worden,
daß die Beamten der alten Schule die preußiſche Monarchie gradezu einen
Föderativſtaat nennen konnten. Bei näherer Prüfung ergab ſich indeß,
wie geſund und lebensfähig die Verwaltungsordnung Friedrich Wilhelms I.
noch immer war. Nun man ſich anſchickte ſein Werk weiterzuführen lernte
man den ſicheren Blick des alten geſtrengen Organiſators erſt völlig wür-
digen; Schoen pries ihn gern als Preußens größten inneren König. Nicht
ein Umſturz, nur die Fortbildung und Vereinfachung der alten Inſtitu-
tionen wurde beſchloſſen. Das Geſetz vom 16. December 1808 über die
veränderte Verfaſſung der oberſten Staatsbehörden ſtellte fünf Fachminiſter,
für das Innere, die Finanzen, das Auswärtige, den Krieg und die Juſtiz,
an die Spitze der geſammten Staatsverwaltung, vereinigte die alten Ge-
neralkaſſen zu einer General-Staatskaſſe unter der Leitung des Finanz-
miniſters. Stein ſah voraus, wie gefährlich die ungeheure Macht jener
fünf Männer werden konnte; er beabſichtigte daher, als höchſte Behörde
der Monarchie einen Staatsrath zu bilden, der alle hervorragenden Kräfte
des Staatsdienſtes, auch die Miniſter ſelbſt, in ſich vereinigen, die Geſetz-
entwürfe berathen, die großen Streitfragen des öffentlichen Rechts ent-
ſcheiden ſollte. Aber dieſer Theil ſeiner Entwürfe blieb unter ſeinen Nach-
folgern unausgeführt.


Durch die Einſetzung der Fachminiſter war das Generaldirectorium
beſeitigt. Dagegen blieben die altbewährten Kriegs- und Domänenkammern
unter dem neuen Namen: Regierungen beſtehen. Man trennte Rechts-
pflege und Verwaltung vollſtändig, nahm den Regierungen die Gerichts-
geſchäfte der alten Kammern; man ſäuberte ſie von unbrauchbaren Mit-
gliedern, wie denn Stein überall die thatſächliche Unabſetzbarkeit des alten
Beamtenthums bekämpfte und der Krone das Recht vorbehielt, die Ver-
waltungsbeamten nach Belieben zu entlaſſen; man erleichterte den Ge-
[283]Der Einheitsſtaat in der Verwaltung.
ſchäftsgang, gab dem Präſidenten und den Decernenten für die einzelnen
Fächer größere Selbſtändigkeit. Jedoch die Vorzüge des deutſchen Collegial-
ſyſtems, Unparteilichkeit und ſorgſame Berückſichtigung aller Verhältniſſe
des einzelnen Falls, ſtanden in Steins Augen zu hoch, als daß er ſie
gegen die raſchere Beweglichkeit der bureaukratiſchen Präfecten-Verwaltung
hingegeben hätte. Die Mittelſtellen der preußiſchen Verwaltung blieben
Collegien und haben in dieſer Geſtalt noch durch zwei Menſchenalter er-
ſprießlich gewirkt. Statt des leeren Schaugepränges der Generalräthe,
die den napoleoniſchen Präfecten mit unmaßgeblichem Beirath zur Seite
ſtanden, verlangte der deutſche Staatsmann vielmehr eine thätige, regel-
mäßige Theilnahme der Nation an den Geſchäften der Verwaltung; dann
ſtröme den Männern am grünen Tiſche ein aus der Fülle der Natur
genommener Reichthum von Anſichten und Gefühlen zu, und im Volke
belebe ſich der Sinn für Vaterland, Selbſtändigkeit, Nationalehre.


Doch wie dieſe verwaltende Thätigkeit der Regierten einfügen in die
feſtgeordnete Hierarchie des Soldbeamtenthums? Einzelne Verwaltungs-
geſchäfte den Landtagen zu übertragen verbot ſich von ſelbſt; der Nepotis-
mus, die Schwerfälligkeit, die Händelſucht der alten landſtändiſchen Aus-
ſchüſſe ſtanden noch in allzu üblem Andenken. Daher kamen Stein und
Hardenberg Beide auf den ſonderbaren Einfall, in jede Regierung, immer
auf drei Jahre, neun von den Landſtänden vorgeſchlagene Repräſentanten
zu berufen, die mit vollem Stimmrecht an allen Arbeiten der Behörde ſich
betheiligen ſollten. Der Gedanke zeigt deutlich, wie gründlich man mit
den alten Anſchauungen bureaukratiſcher Selbſtgerechtigkeit gebrochen hatte;
doch er war verfehlt. Die neue Einrichtung trat nur in Oſtpreußen in’s
Leben; überall ſonſt zeigten die Landſtände geringe Neigung die Tage-
gelder für die Notabeln aufzubringen. Die oſtpreußiſchen Repräſentanten
fühlten ſich bald ſehr einſam unter der Ueberzahl ihrer bureaukratiſchen
Amtsgenoſſen, ſie ſtanden wie Dilettanten unter Fachmännern; die vom
Lande wollten nicht ſo lange im Bureau aushalten; die Tagegelder blieben
aus, der Eifer erkaltete raſch, und im Jahre 1812 wurde der verunglückte
Verſuch aufgegeben *). Ganz anders bewährte ſich das neue Amt der
Oberpräſidenten. Während das revolutionäre Frankreich ſeine alten Pro-
vinzen in ohnmächtige Departements zerſchlug, wollte Stein, in bewußtem
Gegenſatze, die ſchwachen Regierungsbezirke zu großen lebensfähigen Pro-
vinzen vereinigen. Drei Oberpräſidenten, für Schleſien, für die altpreu-
ßiſchen, für die märkiſch-pommerſchen Lande, erhielten die Oberaufſicht
über die Regierungen, nicht als eine Zwiſcheninſtanz, ſondern als ſtän-
dige Commiſſare des Miniſteriums und als Vertreter der gemeinſamen
Intereſſen ihrer Provinz.


Steins ſociale Reformen und die Befeſtigung der Staatseinheit gingen
[284]I. 3. Preußens Erhebung.
hervor aus der ſelbſtändigen, eigenthümlichen Durchbildung von Gedanken,
welche ſeit dem Ausbruche der Revolution in der Luft lagen und allen
hellen Köpfen des preußiſchen Beamtenthums als ein Gemeingut ange-
hörten. Eine durchaus ſchöpferiſche That, das freie Werk ſeines Genius,
war dagegen die Städte-Ordnung vom 19. November 1808. Als die
letzte und höchſte Aufgabe ſeines politiſchen Wirkens erſchien ihm die Er-
hebung der Nation aus der dumpfen Enge ihres häuslichen Lebens; er
ſah ſie in Gefahr, der Sinnlichkeit zu verfallen oder den ſpeculativen
Wiſſenſchaften einen übertriebenen Werth beizulegen, und wollte ſie erziehen
zu gemeinnütziger Thätigkeit, zu kräftigem Handeln. Ein glücklicher prak-
tiſcher Blick hieß ihn ſein Werk bei den Städten beginnen. Erſt wenn
unter der gebildeten ſtädtiſchen Bevölkerung wieder ein ſelbſtändiges Ge-
meindeleben erwacht war, konnten den rohen, ſoeben erſt der Erbunter-
thänigkeit entwachſenen Bauern, die ihren Grundherren noch voll Grolles
gegenüberſtanden, die Rechte und Pflichten der Selbſtverwaltung auferlegt
werden. Die Städte erhielten die ſelbſtändige Verwaltung ihres Haus-
halts, ihres Armen- und Schulweſens und ſollten auf Verlangen des
Staates in ſeinem Namen auch die Geſchäfte der Polizei beſorgen. Die
alten buntſcheckigen Abſtufungen des Bürgerrechts fielen hinweg, wie die
Vorrechte der Zünfte. Die Einwohner der Städte zerfielen nur noch in
zwei Klaſſen, Bürger und Schutzverwandte. Wer das leicht zu erwerbende
Bürgerrecht erlangt hatte, war verbunden zur Uebernahme aller Gemeinde-
ämter; denn war die Freiheit des Eigenthums ein leitender Gedanke der
Stein’ſchen Geſetze, ſo nicht minder der Grundſatz, daß der Eigenthümer
dem Gemeinweſen zum Dienſt verpflichtet ſei. Ein erwählter Magiſtrat,
aus unbeſoldeten und wenigen beſoldeten Mitgliedern zuſammengeſetzt,
und eine von der geſammten Bürgerſchaft nach Bezirken gewählte Stadt-
verordnetenverſammlung leiteten die ſtädtiſche Verwaltung. So ward end-
lich gebrochen mit der zweihundertjährigen Verkümmerung des deutſchen
Communallebens.


Die Reform erſcheint um ſo bewunderungswürdiger in ihrer ein-
fachen Klarheit und Zweckmäßigkeit, da Stein nirgends in Europa ein
Vorbild fand. Die verwahrloſten engliſchen Stadtverfaſſungen konnten
ihm ebenſo wenig zum Muſter dienen wie die Patricierherrſchaft in
ſeinen geliebten weſtphäliſchen Städten. Nun erſt gab es in Deutſchland
moderne Gemeinden — unabhängige Corporationen, die doch zugleich als
zuverläſſige Organe den Willen der Staatsgewalt vollſtreckten, der Auf-
ſicht der Regierungen unterworfen blieben. Bisher war ein Theil der
Städte jeder Selbſtändigkeit beraubt geweſen. Andere hatten, wie die
Grundherrſchaften des flachen Landes, kleine Staaten im Staate gebildet
mit patrimonialer Gerichtsbarkeit und Polizei, und wie oft waren die Ge-
bote des Königs an „Unſere Vaſallen, Amtleute, Magiſtrate und liebe
Getreue“ durch den paſſiven Widerſtand dieſer altſtändiſchen Communal-
[285]Die Städteordnung.
herrſchaften zu Schanden geworden. Jetzt endlich erhielt die Staatsver-
waltung in dem Städteweſen einen kräftigen Unterbau, der ihrem eigenen
ſtaatlichen Charakter entſprach.


Auch dieſe Reform mußte der Nation durch den Befehl des Königs
aufgezwungen werden. Der märkiſche Adel und die alte Schule des Be-
amtenthums klagten über die republikaniſchen Grundſätze der Städteordnung.
Welch ein Entſetzen in dieſen Kreiſen, als man erfuhr, daß einer der erſten
Staatsbeamten, der Präſident v. Gerlach die Wahl zum Oberbürgermeiſter
von Berlin angenommen habe! Der ermattete Gemeinſinn des Bürgerthums
zeigte anfangs geringe Neigung für den erzwungenen Ehrendienſt; auch ent-
deckte man bald, daß jede Selbſtverwaltung theuer iſt, während Stein und
ſeine Freunde vielmehr eine Verminderung der Koſten erwartet hatten. Die
von Friedrich Wilhelm I. regulirten, an ſtrenge Haushaltung gewöhnten
Städte fanden ſich meiſt williger in die neue Ordnung als die alten
Communen, die noch das Vetterſchaftsweſen ſelbſtherrlicher Magiſtrate ſich
bewahrt hatten. Das rechte Verſtändniß für den Segen ihrer Freiheit
erwachte den Bürgern jedoch erſt während der Befreiungskriege, als die
Staatsbehörden faſt überall ihre Arbeit einſtellten und jede Stadt ſich
ſelber helfen mußte. Seitdem erſt kam unſerem Städteweſen eine zweite
Blüthezeit, minder glänzend aber nicht weniger ehrenreich als die große
Epoche der Hanſa; das Schulweſen, die Armenpflege, die gemeinnützigen
Stiftungen des deutſchen Bürgerthums verſuchten wieder zu wetteifern
mit der älteren und reicheren ſtädtiſchen Cultur der Romanen. Wie der
erſte Friedrich Wilhelm das moderne deutſche Verwaltungsbeamtenthum
geſchaffen hatte, ſo wurde Steins Städteordnung der Ausgangspunkt für
die deutſche Selbſtverwaltung. Auf ihr fußten alle die neuen Gemeinde-
geſetze, welche durch zwei Menſchenalter, ſo lange der Parlamentarismus
noch unreif und unfertig daſtand, den bewährteſten, den beſtgeſicherten
Theil deutſcher Volksfreiheit gebildet haben. Durch Steins Reformen
wurde der lebendige Gemeinſinn, die Freude am verantwortlichen poli-
tiſchen Handeln wieder im deutſchen Bürgerthum erweckt. Ihnen danken
wir, daß der deutſche conſtitutionelle Staat heute auf feſtem Boden ſteht,
daß unſere Anſchauung vom Weſen der politiſchen Freiheit, ſo oft wir
auch irrten, doch nie ſo leer und ſchablonenhaft wurde wie die Doctrinen
der franzöſiſchen Revolution.


Durch die Verluſte des Tilſiter Friedens war Preußen wieder weſent-
lich ein Ackerbauland geworden. Darum dachte Stein der Städteordnung
ſo bald als möglich eine Landgemeinde-Ordnung folgen zu laſſen. Er
verlangte freie Landgemeinden mit Schulzen und Dorfgerichten. Die letzten
und ſtärkſten Stützen der altſtändiſchen Geſellſchaftsordnung, die gutsherr-
liche Polizei und die Patrimonialgerichtsbarkeit, mußten fallen, denn Re-
gierung könne nur von der höchſten Gewalt ausgehen. An dem alt-
hiſtoriſchen Charakter des Landrathsamtes änderten Steins Pläne nichts;
[286]I. 3. Preußens Erhebung.
der Landrath ſollte wie bisher ein Staatsdiener ſein, aber zugleich ein
gering beſoldeter Ehrenbeamter, ein Grundbeſitzer aus dem Kreiſe ſelbſt,
der Vertrauensmann der Kreiseingeſeſſenen. Nur der Umfang der Kreiſe
ſchien dem erfahrenen Auge des Miniſters zu groß für die Kräfte eines
Mannes, und er erwog bereits mit ſeinem Freunde Vincke die Anſtellung
mehrerer Landräthe in jedem Kreiſe; ſie ſollten wie die engliſchen Friedens-
richter von Zeit zu Zeit in Quarter-Seſſionen zuſammentreten. Neben
dem Landrathe ein Kreistag aus ſämmtlichen Rittergutsbeſitzern und einigen
Abgeordneten der Städte und Dörfer. Die ſtarke Vertretung des großen
Grundbeſitzes gebot ſich von ſelbſt in einem Augenblicke, da Jedermann
noch bezweifelte, ob der rohe „Ruſticalſtand“, die kaum erſt freigewordenen
Bauern überhaupt fähig ſeien den Kreistag zu beſchicken.


Den Oberpräſidenten wollte Stein Provinziallandtage an die Seite
ſtellen, damit die Eigenart und die Sonderintereſſen der großen Land-
ſchaften innerhalb der Staatseinheit zu ihrem Rechte kämen. Er rühmte
ſich gern, ſein Verfaſſungsplan ſei auf freies Eigenthum gegründet, gebe
das Wahlrecht allen „Eigenthümern“ — und dies bedeutete in ſeinem
Munde ausſchließlich oder doch überwiegend: die Grundbeſitzer in Stadt
und Land. Mit verwegener Hand hatte er die rechtlichen Schranken zwi-
ſchen den alten Ständen niedergeriſſen, es gab in Preußen keine Geburts-
ſtände mehr; jedoch über die thatſächlich noch vorhandenen, im Volksbewußt-
ſein noch lebendigen Unterſchiede der Berufsſtände und Intereſſengruppen
wollte er nicht leichtfertig hinweggehen. Darum forderte er ſtändiſche
Wahlen für die Provinziallandtage, dergeſtalt daß Ritterſchaft, Städte,
Bauerſchaft für ſich ihre Vertreter ernennen ſollten, und verwarf die
Vorſchläge ſeines ſchleſiſchen Freundes Rhediger, die von der alten ſtän-
diſchen Gliederung gänzlich abſahen. Ihm war es genug, wenn die Ge-
ſammtheit der Stadtbürger und der Bauern ſtändiſche Vertretung erhielt,
während an den altſtändiſchen Landtagen nur einige bevorrechtigte Im-
mediatſtädte und von den Bauern allein die oſtpreußiſchen Köllmer theil-
genommen hatten. Ein erſter Schritt nach dieſem Ziele hin geſchah noch
unter ſeiner Verwaltung. Oſtpreußen erhielt, damit „die Regierung durch
die allgemeine Intelligenz unterſtützt werde“, eine neue Landſchaftsordnung,
die den Köllmern gleiches Recht mit den Edelleuten und Zutritt zu den
landſtändiſchen Ausſchüſſen gewährte.


Aus dieſen neuen Provinzialſtänden ſollten endlich die preußiſchen
Reichsſtände gewählt werden, als eine Stütze für die Krone, als das un-
umgängliche Mittel den Nationalgeiſt zu erwecken und zu beleben. Der
alte Abſolutismus fühlte in dieſen wilden Zeiten überall ſeine eigene
Ohnmacht. Als die Bedrängniß des Staatshaushalts den Verkauf der
Domänen gebot, wollte der König die Verantwortung für einen ſo ge-
wagten Schritt nicht allein auf ſich nehmen; er ließ daher das neue
Hausgeſetz über die Veräußerung der Domänen den Ständen aller Pro-
[287]Steins Verfaſſungsplan.
vinzen — in Schleſien, das keine Stände hatte, den Vertretern der Pfand-
briefsinſtitute und einiger Städte — zur Mitunterzeichnung vorlegen, ob-
gleich er ausdrücklich erklärte, daß er dazu nicht verpflichtet ſei. Ein ſolcher
Zuſtand der Unſicherheit des öffentlichen Rechts durfte nicht dauern. Stein
trug ſich mit dem Plane einer großen Steuerreform, er wollte brechen
mit der ängſtlichen hausväterlichen Sparſamkeit, welche die Ausgaben nach
den Einnahmen bemaß, und auch in Preußen den kühnen Grundſatz ein-
führen, der für jede Finanzwirthſchaft großen Stiles gilt, daß die Ein-
nahmen ſich nach den Ausgaben richten ſollen. Für dieſe Reform und
für alle die anderen Opfer, die er ſonſt noch der wiedererſtehenden Nation
zudachte, ſchien ihm der Beiſtand einer reichsſtändiſchen Verſammlung
unentbehrlich; nur müſſe ſie vorläufig, wegen der Unreife des Volks, auf
das Recht der Berathung beſchränkt bleiben.


So im Weſentlichen Steins Entwürfe für eine Reform an Haupt
und Gliedern — das Größte und Kühnſte, was der politiſche Idealismus
der Deutſchen je gedacht hatte. Durch ähnliche Pläne hatte einſt Tur-
got die nahende Revolution abzuwenden gehofft, doch der Entwurf des
deutſchen Staatsmannes überbot die Gedanken des Franzoſen weitaus
in ſeiner beſcheidenen Größe, ſeiner folgerechten Beſtimmtheit, ſeiner
Schonung für den hiſtoriſchen Beſtand. Der König war mit Allem
einverſtanden, am wenigſten mit der Berufung der Reichsſtände. Nicht
als ob er die Beſchränkung ſeiner Macht gefürchtet hätte; doch der Lärm
der Debatte, die Leidenſchaft des parlamentariſchen Kampfes, die Noth-
wendigkeit, ſelber öffentlich aufzutreten, war ſeiner Schüchternheit pein-
lich. Aufgewachſen in den Ueberlieferungen eines milden Abſolutismus,
voll Widerwillens gegen die Sünden der Revolution, konnte er von der
Nothwendigkeit des Repräſentativſyſtems ſich noch nicht vollſtändig über-
zeugen. In der That ſchien es fraglich, ob die Reichsſtände, bei dem
kläglichen Zuſtande der politiſchen Bildung, nicht eher hemmend als
fördernd wirken würden. Von dem Adel, der doch nach Steins Ent-
würfen das mächtigſte Glied des Vereinigten Landtags bilden ſollte, ſtand
die freie Zuſtimmung zu einem gerechteren Steuerſyſteme und zu den
anderen Neuerungsplänen des Miniſters ſchwerlich zu erwarten. Auch
die Städter und die Bauern bewieſen nur zu oft, wie wenig ſie den
Reformgedanken der Krone zu folgen vermochten.


Wenn aber Steins gewaltiger Wille am Ruder blieb, wenn die
Reform, wie er plante, ſchrittweis vorging, wenn zunächſt durch die Auf-
hebung der gutsherrlichen Polizei die Herrenſtellung des Adels auf dem
flachen Lande zerſtört wurde und dann über den befreiten Gemeinden die
Kreistage und die Provinziallandtage ſich erhoben, ſo durfte er hoffen,
den König zu der Erkenntniß zu bringen, daß die Berufung einer reichs-
ſtändiſchen Verſammlung um der Staatseinheit willen geboten ſei als ein
Gegengewicht gegen die centrifugalen Kräfte der Provinzialſtände. Und ſo
[288]I. 3. Preußens Erhebung.
konnte durch den freien Entſchluß der Krone der Uebergang von der ab-
ſoluten Monarchie zum Repräſentativſyſtem vollzogen, dem preußiſchen
Staate vielleicht ein Menſchenalter taſtender Verſuche erſpart werden.
Stein baute auf die wachſende Einſicht in dem treuen, gutherzigen Volke.
Die tiefe Kluft, welche die überfeinerte, weltfremde Bildung der Gelehrten
von der gründlichen Roheit der Maſſen trennte, entging ſeinem Blicke
nicht; er dachte ſie zu überbrücken durch die Neugeſtaltung des Unter-
richtsweſens, und nur ſein plötzlicher Sturz ließ dieſe Pläne nicht zur
Reife kommen. Daß auch dieſer Zweig der inneren Verwaltung ſeinem
freien, umfaſſenden Geiſte nicht fremd war, hatte er ſchon vor Jahren
in Münſter bewieſen, als er dort den Jeſuitismus auf der Hochſchule be-
kämpfte und an der erſtarrten Univerſität ein neues Leben erweckte. —


Hand in Hand mit der Verwaltungsreform ging die Neugeſtaltung
des Heeres, ebenfalls unter Steins perſönlicher Theilnahme. Der König
ſelbſt gab den erſten Anſtoß. Auf dieſem ſeinem eigenſten Gebiete behielt
er immer die unmittelbare Leitung in der Hand, zeigte ſtets treffendes
Urtheil und eindringende Sachkenntniß. Schon im Juli 1807 berief er
Scharnhorſt zum Vorſitzenden einer Commiſſion für die Reorganiſation
der Armee und legte ihr eine eigenhändige Denkſchrift vor, worin er alle die
wunden Stellen des Heerweſens mit ſicherem Griffe heraushob, die Mittel
der Heilung richtig angab. Zu Scharnhorſt aber geſellte ſich eine Schaar
jüngerer Talente, die, wie er, der geſammten geiſtigen Arbeit der Zeit mit
lebendigem Verſtändniß folgten, ſtaatsmänniſche Köpfe, die das Heer als eine
Schule des Volks, die Kriegskunde als einen Zweig der Politik betrachteten.
Ihr ſtilles Wirken hat nicht nur die Waffen geſchliffen für den Kampf
der Befreiung, ſondern auch die preußiſche Armee wieder in Einklang ge-
bracht mit der neuen Cultur, dem deutſchen Heerweſen für alle Zukunft
den Charakter ernſter Bildung, geiſtiger Friſche und Rührigkeit aufgeprägt.


Eine merkwürdige, inſtinctive Uebereinſtimmung der ſittlichen und
politiſchen Ueberzeugungen verband dieſe Offiziere von Haus aus mit dem
leitenden Staatsmanne. Klang es doch wie ein Bekenntniß aus Steins
eignem Munde, wenn Gneiſenau, gegenüber den Menſchenrechten der
Franzoſen, die Mäßigung anrief: „begeiſt’re Du das menſchliche Geſchlecht
für ſeine Pflicht zuerſt, dann für ſein Recht!“ Wie der Schüler Adam
Smiths den Grundſatz der Arbeitstheilung nicht unbedingt auf die Staats-
verwaltung anwenden wollte, ſondern die Geſchäftsgewandtheit des Berufs-
beamtenthums geringer ſchätzte als die in der Selbſtverwaltung bewährte
Mündigkeit des Volks, ſo lebten auch dieſe militäriſchen Fachmänner des
Glaubens, daß im Kriege zuletzt die ſittlichen Mächte entſcheiden. Wie hoch
ſie den Werth der gründlichen techniſchen Ausbildung anſchlugen, höher
ſtand ihnen doch, nach Scharnhorſts Worten, die innige Verbindung der
Armee mit der Nation. Auch ihnen, wie dem Miniſter, galt als der
Eckſtein aller Freiheit das alte deutſche: ſelbſt iſt der Mann! „Man muß
[289]Scharnhorſt.
— ſo ſchrieb Scharnhorſt bald nach dem Frieden — der Nation das Ge-
fühl der Selbſtändigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß
ſie mit ſich ſelbſt bekannt wird, daß ſie ſich ihrer ſelbſt annimmt; nur
erſt dann wird ſie ſich ſelbſt achten und von Anderen Achtung zu er-
zwingen wiſſen. Darauf hinzuarbeiten, dies iſt Alles was wir können.
Die Bande des Vorurtheils löſen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und
in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen, weiter reicht unſer hoher
Wirkungskreis nicht.“


Scharnhorſt war längſt der anerkannt erſte Militärſchriftſteller, der
größte Gelehrte unter den deutſchen Offizieren; aber auch ein ſeltener
Reichthum praktiſcher Erfahrungen ſtand ihm nach einem wechſelreichen
Leben zu Gebote. Er hatte in allen Waffengattungen, im Generalſtabe
und in den Militärbildungsanſtalten gedient. Er lernte, als er auf der
Kriegsſchule des Wilhelmſteins ſeinen erſten militäriſchen Unterricht em-
pfing, jene berühmte kleine Muſtertruppe kennen, welche ſich der geiſtvolle
alte Kriegsheld Graf Wilhelm von Bückeburg aus der geſammten waffen-
fähigen Jugend ſeines Ländchens gebildet hatte; dann wurde er als han-
noverſcher Offizier auf dem niederländiſchen Kriegsſchauplatze genau ver-
traut mit der engliſchen Armee, die unter allen europäiſchen Heeren noch
am treueſten den Charakter des alten Söldnerweſens bewahrte; er zog zu
Felde gegen die lockeren Milizen der Republik wie gegen das wohlgeſchulte
Conſcriptionsheer Napoleons und ſtand im Kriege von 1806 der Heeres-
führung nahe genug um die Gebrechen der fridericianiſchen Armee, die
letzten Gründe ihres Unterganges ganz zu durchſchauen. Jene ſtramme
ſoldatiſche Haltung, wie ſie der König von ſeinen Offizieren verlangte,
war dem einfachen Niederſachſen fremd. In unſcheinbarer, faſt nach-
läſſiger Kleidung ging er daher, den Kopf geſenkt, die tiefen ſinnenden
Denkeraugen ganz in ſich hineingekehrt. Das Haar fiel ungeordnet über
die Stirn herab, die Sprache klang leiſe und langſam. In Hannover
ſah man ihn oft, wie er an dem Bäckerladen beim Thore ſelber anklopfte
und dann mit Weib und Kindern draußen unter den Bäumen der Ellen-
riede zufrieden ſein Vesperbrot verzehrte. So blieb er ſein Leben lang,
ſchlicht und ſchmucklos in Allem. Die Einfalt des Ausdrucks und der
Empfindung in ſeinen vertraulichen Briefen erinnert an die Menſchen des
Alterthums; auch in ſeinen Schriften iſt ihm die Sache Alles, die Form
nichts. Doch die Ueberlegenheit eines mächtigen, beſtändig productiven
und durchaus ſelbſtändigen Geiſtes, der Adel einer ſittlichen Geſinnung,
die gar nicht wußte was Selbſtſucht iſt, verbreiteten um den ſchlichten
Mann einen Zauber natürlicher Hoheit, der die Gemeinen abſtieß, hoch-
herzige Menſchen langſam und ſicher anzog. Seine Tochter, Gräfin Julie
Dohna, dankte dem frühverwittweten Vater Alles, man nannte ſie eine
königliche Frau und nahm ſie in der vornehmen Geſellſchaft auf als müßte
es ſo ſein.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 19
[290]I. 3. Preußens Erhebung.

Dem Könige war die gleichmäßige Ruhe des Generals behaglicher als
Steins aufregendes und aufgeregtes Weſen; Keiner unter ſeinen Räthen
ſtand ihm ſo nahe. Scharnhorſt erwiderte das Vertrauen ſeines könig-
lichen Freundes mit unbedingter Hingebung; er fand es niedrig, jetzt noch
vergangener Fehler zu gedenken, er bewunderte die Seelenſtärke des un-
glücklichen Monarchen und hat in ſeiner Treue nie geſchwankt, auch dann
nicht, als manche ſeiner Freunde in ihrer patriotiſchen Ungeduld an dem
bedachtſamen Fürſten irr wurden. Ein echter Niederdeutſcher, war er
ſchamhaften Gemüthes, ſtill und verſchloſſen von Natur; das Lob klang
ihm faſt wie eine Beleidigung, ein zärtliches Wort wie eine Entweihung
der Freundſchaft. Nun führte ihn das Leben einen rauhen Weg, immer
zwiſchen Feinden hindurch; in Hannover hatte der Plebejer mit der Miß-
gunſt des Adels, in Preußen der Neuerer mit dem Dünkel der alten
Generale zu kämpfen. Als ihn jetzt das Vertrauen des Königs, die all-
gemeine Stimme der Armee an die Spitze des Heerweſens ſtellten, da
mußte er fünf Jahre lang das finſtre Handwerk des Verſchwörers treiben,
unter den Augen des Feindes für die Befreiung rüſten. So lernte er
jedes Wort und jede Miene zu beherrſchen, und der einfache Mann, der
für ſich ſelber jeden Winkelzug verſchmähte, wurde um ſeines Landes
willen ein Meiſter in den Künſten der Verſtellung, ein unergründlicher
Schweiger, liſtig und menſchenkundig. Mit einem raſchen forſchenden
Blicke las er dem Eintretenden ſofort die Hintergedanken von den Augen
ab, und galt es ein Geheimniß des Königs zu verſtecken, dann wußte er mit
halben Worten Freund und Feind auf die falſche Fährte zu locken. Die
Offiziere ſagten wohl, ſeine Seele ſei ſo faltenreich wie ſein Geſicht; er
gemahnte ſie an jenen Wilhelm von Oranien, der einſt in ähnlicher Lage,
ſtill und verſchlagen, den Kampf gegen das ſpaniſche Weltreich vorbereitet
hatte. Und wie der Oranier, ſo barg auch Scharnhorſt in verſchloſſener
Bruſt die hohe Leidenſchaft, die Kampfluſt des Helden; ſie hatte ihm
während des jüngſten Krieges die Freundſchaft des thatenfrohen Blücher
erworben. Er kannte die Furcht nicht, er wollte nicht wiſſen, wie ſinn-
bethörend die Angſt nach einer Niederlage wirken kann; in den Kriegs-
gerichten war ſein Urtheilsſpruch immer der ſtrengſte, ſchonungslos hart
gegen Zagheit und Untreue. Niemand vielleicht hat die Bitterniß jener
Zeit in ſo verzehrenden Qualen empfunden wie dieſer Schweigſame; Tag
und Nacht folterte ihn der Gedanke an die Schande ſeines Landes. Alle
nahten ihm mit Ehrfurcht, denn ſie fühlten unwillkürlich, daß er die Zu-
kunft des Heeres in ſeinem Haupte trage.


Unter den Männern, die ihm bei der Reorganiſation des Heeres
zur Hand gingen, ſind Vier gleichſam die Erben ſeines Geiſtes geworden,
ſo daß Jeder einen Theil von der umfaſſenden Begabung des Meiſters
überkam: die Feldherrennaturen Gneiſenau und Grolmann, der Organi-
ſator Boyen, der Gelehrte Clauſewitz — alle Vier, wie Scharnhorſt ſelber,
[291]Scharnhorſts Freunde.
arm, genügſam, bedürfnißlos, ohne jede Selbſtſucht allein der Sache
dienend und bei allem Freimuth tief innerlich beſcheiden, wie es dem be-
gabten Soldaten natürlich iſt; denn das einſame Schaffen des Künſtlers
und des Gelehrten verführt leicht zur Eitelkeit, der Soldat wirkt nur als
ein Glied des großen Ganzen und kann nicht zeigen was er vermag,
wenn ihn das unerforſchliche Schickſal nicht zur rechten Zeit an die rechte
Stelle führt. Allzu beſcheiden nannte ſich Gneiſenau ſelber nur einen
Pygmäen neben dem Rieſen Scharnhorſt. Ihm fehlte die ſchwere Ge-
lehrſamkeit des Meiſters und er empfand, gleich ſo vielen Männern der
That, die Lücken ſeines Wiſſens wie ein Gebrechen der Begabung; dafür
beſaß er in weit höherem Maaße die begeiſternde Zuverſicht des Helden,
jenen freudigen Fatalismus, der den Feldherrn macht. Wie ſtolz und
ſicher ſpannte er jetzt ſeine Segel aus, da er endlich nach den Irrfahrten
einer leidenſchaftlichen Jugend und nach der langen traurigen Windſtille
des ſubalternen Dienſtes auf die hohe See des Lebens gelangt war. Jede
Aufgabe, die ihm das Schickſal bot, griff er mit glücklichem Leichtſinn an,
unbedenklich übernahm der Infanteriſt das Commando der Ingenieure
und die Aufſicht über die Feſtungen. Während Scharnhorſt bedächtig die
Gefahren des nächſten Tages erwog, dachte Gneiſenau immer mit glühen-
der Sehnſucht an die Stunde der Erhebung und hieß auch die Narren
freundlich willkommen, wenn ſie nur mithelfen wollten bei der großen
Verſchwörung.


Eine verwandte Natur war Grolmann, hochherzig, hell und freudig,
geſchaffen für das Schlachtgewühl, für das kühne Ergreifen der Gunſt
des Augenblicks; doch er ſollte die Grauſamkeit des Soldatenſchickſals
ſchwer erfahren und niemals im Kriege an erſter Stelle ſtehen. In
der Weiſe ſeines Auftretens ſchien Boyen dem General am Aehnlich-
ſten, ein ernſthafter, verſchloſſener Oſtpreuße, der zu den Füßen von
Kant und Kraus geſeſſen hatte, auch als Poet mit der neuen Literatur
in regem Verkehre ſtand. Nur die feurigen Augen unter den buſchigen
Brauen verriethen, welche ſtürmiſche Verwegenheit in dem einfachen, wort-
kargen Manne ſchlummerte. Er hat die organiſatoriſchen Ideen Scharn-
horſts nach ſeiner ſtillen Art in ſich verarbeitet und fortgebildet und nach
den Kriegen dem neuen Volksheere ſeine bleibende Verfaſſung gegeben.
Der Jüngſte endlich aus dieſem Freundeskreiſe, Carl von Clauſewitz, war
mehr als die Aelteren ein vertrauter Schüler Scharnhorſts, tief eingeweiht
in die neuen kriegswiſſenſchaftlichen Theorien, womit Jener ſich trug; nach-
her hat ſie er ſelbſtändig ausgeſtaltet und durch eine Reihe von Werken,
deren claſſiſche Form die Schriften des Meiſters weit übertraf, der Lehre
vom Kriege ihren Platz in der Reihe der Staatswiſſenſchaften geſichert.
Ein großer wiſſenſchaftlicher Kopf, ein Meiſter des hiſtoriſchen Urtheils
war er vielleicht zu kritiſch und nachdenklich um ſo beherzt wie Gneiſenau
das Glück der Schlachten bei der Locke zu faſſen, aber keineswegs blos
19*
[292]I. 3. Preußens Erhebung.
ein Mann der Bücher, ſondern ein praktiſcher, tapferer Soldat, der mit
offenem Auge in das Getümmel des Lebens ſchaute. Soeben kehrte er
mit dem Prinzen Auguſt aus der Kriegsgefangenſchaft zurück. Dort in
Frankreich hatte ſich ſeine Liebe für die jugendliche Wahrhaftigkeit und
Friſche der Germanen bis zum Enthuſiasmus geſteigert; er brachte die
Ueberzeugung mit heim: dieſe Franzoſen ſeien im Grunde noch immer
ein ebenſo unmilitäriſches Volk wie einſt in den Tagen der Hugenotten-
kriege, da ſie vor den deutſchen Lansquenets und Reitres zitterten; wie
könne der uralte Charakter der Nationen ſich in zehn Jahren verändern?
wie ſollten die hundertmal Beſiegten auf die Dauer das waffenmächtige
Deutſchland beherrſchen?


Mit ſolchen Kräften ſchritt der König an das Werk der Wiederher-
ſtellung. Die ganze Armee wurde neu formirt. Sechs Brigaden, zwei
ſchleſiſche, zwei altpreußiſche, je eine aus Pommern und den Marken, das
war Alles was von dem fridericianiſchen Heere noch übrig blieb, das war
der letzte Anker für Deutſchlands Hoffnungen. Der Zopf fiel hinweg,
die Truppen erhielten zweckmäßigere Waffen und Kleider, die Künſte des
Paradeplatzes traten zurück hinter der angeſtrengten Arbeit des Felddienſtes.
Alle Vorräthe mußten von Neuem angeſchafft werden; Napoleons Mar-
ſchälle hatten die Ausplünderung mit ſolcher Gründlichkeit beſorgt, daß
die ſchleſiſche Artillerie einmal monatelang, aus Mangel an Pulver, ihre
Schießübungen einſtellen mußte. Eine Unterſuchungscommiſſion prüfte
das Verhalten jedes einzelnen Offiziers im Kriege, entfernte unerbittlich
die Schuldigen und Verdächtigen. Gneiſenau forderte in der Zeitſchrift
„der Volksfreund“, die der wackere Bärſch herausgab, die Freiheit des
Rückens für die Armee, fragte bitter, ob der preußiſche Soldat den An-
trieb zum Wohlverhalten auch fernerhin im Holze ſuchen ſolle, ſtatt im
Ehrgefühle. Seine Meinung drang durch; die neuen Kriegsartikel be-
ſeitigten die alten grauſamen Körperſtrafen. Wie hatte ſich doch die Welt
verwandelt, daß jetzt preußiſche Offiziere in der Preſſe die Mängel des
Heerweſens beſprechen durften!


In einem anderen Zeitungsaufſatze ſchilderte Gneiſenau ſarkaſtiſch,
wie bequem es doch für die adlichen Eltern ſei, daß ihre Söhne ſchon
im Kindesalter als Junker die Soldaten des Königs befehligen dürften.
Er ſprach damit nur aus was alle verſtändigen Offiziere dachten. Die
Beſeitigung der Junkerſtellen ſowie aller anderen Vorrechte des Adels im
Heere ergab ſich von ſelbſt aus dem Geiſte der neuen Geſetzgebung, und
da man die Tüchtigkeit der jugendlichen Heerführer Napoleons kennen ge-
lernt, ſo verlangte mancher Heißſporn die Nachahmung des vielgerühmten
freien Avancements der Franzoſen. Scharnhorſt aber ging ſeines eigenen
Weges; er durchſchaute, welche ſittlichen Schäden der napoleoniſche Grund-
ſatz „junge Generale, alte Hauptleute“ hervorgerufen, wie viele rohe, un-
ſaubere Elemente ſich in die unteren Schichten des franzöſiſchen Offiziers-
[293]Reorganiſation der Armee.
corps eingedrängt, und wie bedenklich dort ein zügelloſer Ehrgeiz die
Bande der treuen Kameradſchaft gelockert hatte. Der deutſche Bauern-
ſohn wußte wohl, warum Waſhington den Amerikanern zugerufen: nehmt
nur Gentlemen zu Offizieren — warum König Friedrich Wilhelm I. ſeinen
Offizieren erlaubt hatte dann nicht zu gehorchen, wenn ihnen etwas gegen
die Ehre angeſonnen würde. Er wollte den alten ariſtokratiſchen Charakter
des preußiſchen Offizierscorps nicht zerſtören, ſondern nur die Ariſtokratie
der Bildung an die Stelle des adlichen Vorrechts ſetzen.


Das Reglement vom 6. Auguſt 1808 über die Beſetzung der Stellen
der Portepeefähnriche ſtellte den Grundſatz auf: im Frieden gewähren nur
Kenntniſſe und Bildung, im Kriege nur ausgezeichnete Tapferkeit und Um-
ſicht einen Anſpruch auf die Offiziersſtellen; keine Junker mehr, dafür Porte-
peefähnriche, die erſt im ſiebzehnten Jahre und nach einer wiſſenſchaftlichen
Prüfung zugelaſſen werden, erſt nach einer zweiten Prüfung und auf Vor-
ſchlag des Offizierscorps die Epauletten erlangen können. Den Offizieren
ſchärfte der König ein, ſie ſollten ſich ihre ehrenvolle Beſtimmung, die Er-
zieher und Lehrer eines achtbaren Theiles der Nation zu ſein, immer ver-
gegenwärtigen. In den unteren Graden bis zum Hauptmann erfolgte das
Aufrücken in der Regel nach dem Dienſtalter; bei der Auswahl der Stabs-
offiziere und bei der Beſetzung der höheren Commandos entſchied das
Verdienſt allein. Durch dieſe unſcheinbaren Vorſchriften erhielt der Offi-
ziersſtand eine neue Verfaſſung, die uns heute ſelbſtverſtändlich erſcheint,
während ſie doch einen unterſcheidenden nationalen Charakterzug des deut-
ſchen Heerweſens bildet. Jetzt erſt wurde das Offizierscorps dem Civil-
beamtenthum innerlich gleichartig, durch einen geiſtigen Cenſus über die
Mannſchaft erhoben. Dem Talente war die Ausſicht auf raſches Auf-
ſteigen eröffnet, doch die langſame Beförderung auf den niederen Stufen,
die Gleichheit der Bildung und der Lebensgewohnheiten bewirkten, daß
ſich Jeder ſchlechtweg als Offizier fühlte, ein ariſtokratiſches Standes-
bewußtſein alle Glieder des Corps durchdrang. Die ſociale Schranke,
welche in Frankreich den aus der Mannſchaft emporgeſtiegenen Capitän
von ſeinen gebildeten Kameraden trennte, konnte hier nicht entſtehen.


Für Niemand wurde die Umgeſtaltung des Heerweſens ſo folgen-
reich wie für die alten Geſchlechter vom Landadel, die noch immer
den Stamm des Offizierscorps bildeten. Es währte noch viele Jahre,
bis die thatſächliche Begünſtigung des Adels in der Armee aufhörte.
Aber der Grundſatz ſtand doch feſt, daß auch der Edelmann durch den
Nachweis wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe ſich das Offizierspatent erwerben
mußte, und den neuen ſchärferen Anforderungen des Dienſtes konnten
nur Männer von einiger Bildung genügen. Der Staatsdienſt bot dem
völlig Unwiſſenden nirgends mehr ein Unterkommen, die Reformer nannten
das neue Preußen zuweilen ſchon einen Staat der Intelligenz. Erſt durch
Scharnhorſt wurde die naturwüchſige Roheit des oſtdeutſchen Junkerthums
[294]I. 3. Preußens Erhebung.
völlig gebrochen, was dem Cadettenhauſe Friedrich Wilhelms I. nur halb
gelungen war. Das alte Geſchlecht, das die Federfuchſer verhöhnte, ſtarb
hinweg, der junge Nachwuchs kannte und achtete die Macht des Wiſſens.


Allen dieſen Reformen lag der Gedanke zu Grunde, daß die Armee
fortan das Volk in Waffen ſein ſolle, ein nationales Heer, dem jeder
Wehrfähige angehöre. Die Werbung wurde abgeſchafft, die Aufnahme
von Ausländern verboten, nur einzelne Freiwillige von deutſchem Blute
ließ man zu. Die neuen Kriegsartikel und die Verordnung über die
Militärſtrafen hoben ſogleich mit der Verheißung an, künftig würden alle
Unterthanen, auch junge Leute von guter Erziehung, als gemeine Sol-
daten dienen, und begründeten damit die Nothwendigkeit einer milderen
Behandlung der Mannſchaft. Ueber die Verwerflichkeit der alten Be-
freiungen vom Waffendienſte waren alle denkenden Offiziere einig. Der
Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht war ſchon vor dem Kriege von Boyen,
Loſſau und anderen Offizieren vertheidigt, von dem Könige ſelbſt reiflich
erwogen worden; während des unglücklichen Feldzugs hatte er dann in
der Stille ſeinen Weg gemacht, und jetzt war jedem einſichtigen Soldaten
klar, daß der ungleiche Kampf nur mit dem Aufgebote der geſammten
Volkskraft wieder aufgenommen werden konnte. Gleich nach dem Frieden
bat Blücher ſeinen lieben Scharnhorſt „vor einer National-Armee zu ſorgen,
Niemand auf der Welt muß eximirt ſein, es muß zur Schande gereichen
wer nicht gedient hat“. Prinz Auguſt ſendete noch aus der Kriegsge-
fangenſchaft einen Plan für die Neubildung des Heeres, worin die all-
gemeine Wehrpflicht als leitender Gedanke obenan ſtand. Scharnhorſt
aber wußte, was die meiſten der Zeitgenoſſen ganz vergeſſen hatten, daß
damit nur ein altpreußiſcher Grundſatz erneuert wurde. Er erinnerte
den König daran, ſein Ahnherr Friedrich Wilhelm I. habe zuerſt unter
allen Fürſten Europas die allgemeine Conſcription eingeführt; dieſer
Grundſatz habe Preußen einſt groß gemacht und ſei in Oeſterreich und
Frankreich nur nachgeahmt worden; jetzt erſcheine es geboten, zu dem alt-
preußiſchen Syſteme zurückzukehren und den Mißbrauch der Exemtionen
kurzerhand hinwegzufegen; nur ſo bilde ſich eine wahre ſtehende Armee,
eine ſolche, die man jederzeit in gleicher Größe erhalten könne. Faſt genau
mit den Worten des alten Soldatenkönigs begann Scharnhorſt ſeinen
Entwurf für die Bildung einer Reſerve-Armee alſo: §. 1. Alle Bewohner
des Staates ſind geborene Vertheidiger deſſelben.


Die preußiſchen Offiziere faßten den Gedanken der allgemeinen Dienſt-
pflicht von Haus aus in einem freieren und gerechteren Sinne auf als
vormals die Bourgeois der franzöſiſchen Directorialregierung. Die Be-
ſiegten dachten zu ſtolz um die Inſtitutionen des Siegers einfach nach-
zuahmen. Man hatte es ertragen, daß der Befehl des Königs einzelne
Volksklaſſen kraft ihrer Standesprivilegien oder aus volkswirthſchaftlichen
Rückſichten von der Cantonspflicht befreite. Aber die Vorſtellung, daß der
[295]Das Volk in Waffen.
Bemittelte ſich von der Dienſtpflicht loskaufen, ein Unterthan für den
anderen ſeine Haut zu Markte tragen ſolle, war ganz und gar unpreußiſch,
widerſprach allen Traditionen der Armee. Das franzöſiſche Syſtem der
Stellvertretung wurde wohl von einigen Civilbeamten, aber von keinem
einzigen namhaften Offizier empfohlen. Man dachte demokratiſcher als
die Erben der Revolution, verlangte kurz und gut die Wehrpflicht für
Alle — und nicht blos als ein Kriegsmittel für den Befreiungskampf,
ſondern als eine dauernde Inſtitution zur Erziehung des Volkes. Ein
Verächter aller müſſigen militäriſchen Künſtelei blieb Scharnhorſt doch ein
ſtreng geſchulter Fachmann; er wußte, wie wenig die Begeiſterung allein
die Ausdauer, die Kunſtfertigkeit, die Mannszucht des geübten Soldaten
erſetzen kann. Aus ſeiner reichen Geſchichtskenntniß hatte er die Ueber-
zeugung gewonnen: je weicher die Sitten würden, um ſo nöthiger ſei den
Nationen die militäriſche Erziehung, damit die männlichen Tugenden ein-
facher Zeiten der Culturwelt erhalten blieben, die rüſtige Kraft des Leibes
und des Willens den fein Gebildeten nicht verloren gehe. Mit hellem
Jubel ging Gneiſenau auf dieſe mannhafte Anſchauung des hiſtoriſchen
Lebens ein; er wollte die militäriſchen Uebungen ſchon in der Volksſchule
beginnen laſſen, dann ſei der Heldenruhm der Spartaner für die moderne
Menſchheit nicht mehr unerreichbar. Allen Freunden Scharnhorſts aus
der Seele ſchrieb Boyen die Verſe: wehrhaft ſei im ganzen Lande jeder
Mann mit ſeinem Schwert, denn es ziemet jedem Stande zu vertheidigen
Thron und Heerd!


Ueber den Grundſatz alſo beſtand kein Zweifel. Doch wie die un-
überwindlichen Schwierigkeiten, welche ſich der Ausführung entgegenſtellten,
beſiegen? Die Söhne der gebildeten Klaſſen in Friedenszeiten ohne Weiteres
in das ſtehende Heer einzureihen erſchien dieſer Zeit, die ſoeben erſt der
Barbarei der alten Kriegszucht entwuchs, als eine unerträgliche Härte;
und zudem erzwang Napoleon im September 1808 den Pariſer Vertrag,
kraft deſſen der mißhandelte Staat ſich verpflichten mußte, nicht mehr als
42,000 Mann Truppen zu halten.


So blieb nur übrig, den Eroberer zu überliſten, die Verträge zu
umgehen und neben dem ſtehenden Heere eine Reſerve-Armee, eine
Landwehr für Kriegsfälle zu ſchaffen. Aber auch zu dieſem Ziele war
der gerade Weg verſperrt. Scharnhorſt erkannte ſofort, das Einfachſte
ſei die Landwehr durch die Schule des ſtehenden Heeres gehen zu laſſen,
die Reſerve-Armee aus ausgedienten Soldaten zu bilden. Und doch
war dies für jetzt unmöglich. Die Einſtellung einer ſo großen Anzahl
von Rekruten hätte alsbald den Argwohn Napoleons erregt, und über-
dies konnte eine ſo gebildete Landwehr offenbar erſt nach Jahren eine
erhebliche Stärke erreichen, während man in jedem neuen Monat den
Wiederausbruch des Krieges erwartete. Darum mußte man ſich mit einer
Miliz begnügen, welche ohne ſichtbaren Zuſammenhang mit dem ſtehen-
[296]I. 3. Preußens Erhebung.
den Heere, ſcheinbar nur für den inneren Sicherheitsdienſt beſtimmt, aber
durch wiederholte Uebungen militäriſch geſchult und mit genügenden Waffen-
vorräthen verſehen ſofort beim Ausbruch des Krieges als Reſerve-Armee
auftreten ſollte. Viermal hat Scharnhorſt während der Jahr 1807—10
dieſe Landwehrpläne wiederaufgenommen und mit dem Monarchen be-
rathen. Seinen erſten Entwurf brachte er bereits am 31. Juli 1807 zu
Stande, ganz ſelbſtändig, lange bevor die öſterreichiſche Landwehr beſtand.


Die älteren Pläne verfolgten den Hauptzweck, die Söhne der wohlhaben-
den Klaſſen, die ſich ſelber bewaffnen und bekleiden konnten, für den Dienſt
im Kriege vorzubereiten; unter dem harmloſen Namen einer Bürgergarde
oder Nationalwache ſollten ſie im Frieden eingeübt werden. Im Sommer
1809 gab der Raſtloſe ſeinen Entwürfen eine großartigere Geſtalt, welche
bereits die Grundzüge der Organiſation von 1813 erkennen läßt. Er
dachte hoch von der Heldenkraft eines zornigen Volkes, doch er ſah auch
nüchtern voraus, wie viele Zeit vergehen muß bevor aus einem bewaffneten
Haufen eine kriegstüchtige Truppe wird. Sein Plan war: das ſtehende
Heer beginnt den Angriff; unterdeſſen bildet ſich die Reſerve-Armee aus
den ausgedienten und überzähligen Soldaten ſowie aus allen jüngeren
Cantonpflichtigen; die Wohlhabenden treten als freiwillige Jäger ein.
Dieſe Landwehr übernimmt den Feſtungsdienſt und die Belagerung der
vom Feinde beſetzten Plätze; ſobald ſie genügend ausgebildet iſt, zieht ſie
dem Heere nach und an ihre Stelle rückt die inzwiſchen verſammelte Miliz,
ein Landſturm, der alle noch übrigen Wehrhaften umfaßt. Scharnhorſt
wußte, wie ungern Napoleon ſich der Vendeeer Kämpfe erinnerte, wie
ſehr er den Volksaufſtand fürchtete; er hoffte den Befreiungskampf mit
einem kleinen Kriege zu eröffnen, der ſich auf einige Feſtungen oder ver-
ſchanzte Lager ſtützen ſollte, und ließ das für ſolchen Zweck ſo ungünſtige
Terrain der norddeutſchen Ebene ſorgſam auskundſchaften. Gneiſenau
dachte ſogar aus dem kleinen Spandau ein Torres Vedras der Ebene zu
machen, als er von Wellingtons portugieſiſchen Siegen erfuhr.


Aber alle dieſe Hoffnungen wurden zu Schanden. Sobald Napoleon
von einem neuen preußiſchen Landwehrplane hörte, griff er ſtets ſofort
mit herriſcher Drohung ein: nicht einen Schritt durfte ihm der verhaßte
Gegner über die Pariſer Verſprechungen hinausgehen, nur er ſelber be-
hielt ſich vor ſie mit Füßen zu treten. Man mußte endlich einſehen, daß
die Bildung einer Landwehr ſchlechterdings unmöglich blieb ſo lange
Preußen noch nicht in der Lage war an Frankreich den Krieg zu er-
klären. Das Einzige was bis dahin geſchehen konnte ohne das Miß-
trauen des Imperators aufzuſtacheln, war die raſchere Ausbildung der
Mannſchaften des ſtehenden Heeres. Die geſetzliche zwanzigjährige Dienſt-
zeit der Cantonspflichtigen blieb unverändert, doch man hob ihrer ſo viele
aus als irgend möglich und beurlaubte dann dieſe leidlich ausexercirten
Krümper nach einigen Monaten. Die vertragsmäßige Heeresziffer wurde
[297]Die Schmähſchriften.
dabei nicht allzu ſtreng eingehalten; das Leibregiment in Berlin ließ jahre-
lang, ſo oft die Truppe zum Felddienſt ausrückte, einen Theil der Mann-
ſchaft in der Kaſerne zurück, damit Napoleons Späher die Stärke der
Bataillone nicht bemerkten. Es konnte nicht fehlen, daß manche Wehr-
pflichtigen ſich der ſtrengeren Aushebung durch die Flucht entzogen, wie
umgekehrt viele Conſcribirte aus den Rheinbundslanden nach Preußen
hinüberflohen; es gab beſtändig kleine Unruhen an den Landesgrenzen,
der arme Mann wurde ganz irr an der wüſten Zeit. Im Ganzen
zeigte das Volk dem Könige hingebende Treue; geſchah es doch ein-
mal, daß Bauern aus der Umgegend Nachts eine Kanone von den
Wällen der weſtphäliſchen Feſtung Magdeburg ſtahlen und ſie zu Schiff
nach Spandau entführten: ihr angeſtammter Herr brauche Waffen
gegen den Franzmann. Durch dies Krümperſyſtem bildete Scharnhorſt
nach und nach 150,000 Soldaten nothdürftig aus. Ein tragiſches Schau-
ſpiel, wie der große Mann ſo jahraus jahrein mit tauſend Liſten und
Schlichen dem allwiſſenden Feinde zu entſchlüpfen ſuchte. Seine Seele
ſchmachtete nach der Freude der Schlacht; den letzten Hauch von Mann
und Roß, Alles was an die Wände piſſen konnte wollte er dahingeben
damit Deutſchland wieder ſei; und immer wieder vereitelte der wachſame
Gegner die Pläne der Rüſtung. Erſt als die Stunde des offenen Kampfes
ſchlug, trat mit einem Schlage ins Leben was in fünf Jahren voll auf-
reibender Arbeit, voll namenloſer Sorge ſtill bereitet war. Scharnhorſt
und Niemand ſonſt iſt der Vater der Landwehr von 1813. —


Unterdeſſen brachten Haß und Noth in den gebildeten Klaſſen Nord-
deutſchlands eine grundtiefe Umſtimmung der Geſinnungen zur Reife,
die durch die Gedankenarbeit der romantiſchen Literatur längſt vorbereitet
war. Nach den großen Heimſuchungen des Völkerlebens erhebt ſich ſtets
ein Sturm von Klagen und Anklagen, die gequälten Gewiſſen ſuchen die
Schuld Aller auf die Schultern Einzelner hinüberzuwälzen, Schmähreden
und Schmutzſchriften kriechen wie ekle Würmer aus dem Leichnam der
gefallenen alten Ordnung. So ſtürzte ſich auch auf den gedemüthigten
preußiſchen Staat ein Schwarm frecher Läſterer — zumeiſt dieſelben
Menſchen, die vor dem Kriege den Bund Norddeutſchlands mit Frank-
reich verherrlicht hatten. Cöllns Feuerbrände, Maſſenbachs Denkwürdig-
keiten, Buchholzs Gallerie preußiſcher Charaktere und ähnliche Schriften
trugen geſchäftig allen Unrath zuſammen, der ſich nur irgend in den
Winkeln der alten Monarchie aufwühlen ließ, bis herab zu den Domänen-
käufen der Zeiten Friedrich Wilhelms II. Jene dünkelhafte, unfruchtbare
Altklugheit, die ſeit Nicolais Tagen in den Kreiſen der Berliner Halb-
bildung nicht mehr ausſterben wollte, fand jetzt ihren politiſchen Ausdruck.
Wie jener ehrliche Alte einſt im Namen der Aufklärung alles Freie und
Lebendige der jungen Dichtung bekämpft hatte, ſo wurde jetzt im Namen
der Freiheit der Krieg gegen Napoleon getadelt und verhöhnt. Nur Eng-
[298]I. 3. Preußens Erhebung.
lands Kaufmannsſelbſtſucht und der Uebermuth der preußiſchen Offiziere
hatten das friedliebende Frankreich zum Kampfe gezwungen; und nichts
wollte Buchholz dem Staate Friedrichs weniger verzeihen als den un-
würdigen Bund mit der ruſſiſchen Uncultur gegen die franzöſiſche Cultur.


Die Verfaſſer dieſer Libelle wurden die geiſtigen Ahnherren einer neuen
politiſchen Richtung, welche ſeitdem unter mannichfachen Formen und Namen
auf dem Berliner Boden heimiſch und ein Krebsſchaden des preußiſchen
Staates blieb, einer gewerbmäßigen Tadelſucht, die unerſchöpflich im
Skandal, unendlich eingebildet und doch wehrlos gegen die Macht der
Phraſe, immer mit großen Worten von Freiheit und Fortſchritt prunkte
und ebenſo regelmäßig die Zeichen der Zeit verkannte. Gemeinſam war
dieſen Schriften auch ein echt deutſcher Charakterzug, eine nationale
Schwäche, wovon nur wenige unſerer Publiciſten ganz frei geblieben ſind:
die eigenthümliche Unfähigkeit die Dimenſionen der Menſchen und der
Dinge recht zu ſehen, das Große und Echte von dem Kleinen und Ver-
gänglichen zu unterſcheiden. Ganz in dem gleichen Tone wie Lombard
und Haugwitz wurden auch Hardenberg und Blücher von jenen Alles-
tadlern mißhandelt, und den Leſern blieb nur der troſtloſe Eindruck, daß
in dem faulen Holze dieſes Staates kein Nagel mehr haften wolle.


Indeß die Noth des Tages drückte allzuſchwer; das Volk dachte zu
ehrenhaft um ſich noch lange beim rückwärtsſchauenden Tadel aufzuhalten.
Wer ein Mann war blickte vorwärts, dem Tage der Freiheit entgegen.
Die Schmähſchriften fielen platt zu Boden; ſelbſt in Berlin fand die
Kritik der Läſterer geringen Anklang. Ein tiefer Ernſt lagerte auf den
Gemüthern; es war als ob alle Menſchen reiner und beſſer würden, als
ob der Zorn über den Untergang des Vaterlandes alle gemeinen und
niedrigen Regungen der Herzen ganz aufſöge. Niemals früher hatte ein
ſo lebendiges Gefühl der Gleichheit Hoch und Niedrig im deutſchen Nor-
den verbunden; man rückte traulich zuſammen wie die Hinterbliebenen im
verwaiſten Hauſe. Unzählige Vermögen waren zerſtört, der ganze Reich-
thum des preußiſchen Adels darauf gegangen; die willkürliche neue Länder-
vertheilung hatte den altgewohnten Verkehr ganzer Landestheile vernichtet;
tauſende treuer Diener konnte der verſtümmelte Staat nicht mehr be-
ſchäftigen. Wer jung ins Leben eintrat und dem Glücksſterne der rhein-
bündiſchen Untreue nicht folgen wollte, fand nirgends eine Stätte zu
fröhlichem Wirken; man wußte in dieſen napoleoniſchen Tagen nichts mit
ſich anzufangen, wie Dahlmann, ſeiner harten Jugendzeit gedenkend, ſagte.
Die Erbitterung wuchs und wuchs, und je weiter ſich die Entſcheidung
hinausſchob, um ſo mächtiger und leidenſchaftlicher ward der Glaube, dies
Eintagsgebilde der Fremdherrſchaft könne und dürfe nicht dauern, dieſe
Verwüſtung alles deutſchen Lebens ſei eine Sünde wider Gott und Ge-
ſchichte, ſei der Fiebertraum eines hirnwüthigen Frevlers.


Während dieſer Tage krampfhafter Aufregung erwachte in Nord-
[299]Die Idee der deutſchen Einheit.
deutſchland zuerſt die Idee der deutſchen Einheit — recht eigentlich ein
Kind des Schmerzes, der hiſtoriſchen Sehnſucht, einer ebenſo ſehr poetiſchen
als politiſchen Begeiſterung. Wie felſenfeſt hatte das achtzehnte Jahr-
hundert an die Ewigkeit ſeines römiſchen Reichs geglaubt. Wie zahm,
zufrieden und liebevoll hatte noch das Geſchlecht der neunziger Jahre an
ſeinen Fürſten gehangen, als Georg Forſter in dem Gedenkbuche des
Jahres 1790 mit beweglichen Worten die „menſchenfreundliche Handlung
eines deutſchen Fürſten“ ſchilderte und Chodowiecki in einem Kupferſtiche
dieſen großen Menſchenfreund verewigte — den Erzherzog Max nämlich,
wie er einer Marktfrau den Korb auf den Kopf zu nehmen half! Jetzt
war das Reich dahin, die Deutſchen waren kein Volk mehr, nur noch
Sprachgenoſſen. Wie bald konnte auch dies letzte Band zerreißen, da
das linke Rheinufer für immer der wälſchen Geſittung verfallen ſchien
und im Königreich Weſtphalen die franzöſiſche Amtsſprache bis zur Elbe
hin herrſchte; unſere Fürſten aber, die vielgeliebten, heißbewunderten,
trugen die Ketten des Fremdlings, ſie alle bis auf zwei! Und mitten im
Niedergange ihres alten Volksthums blieb den Deutſchen doch das ſtolze
Gefühl, daß die Welt ihrer nicht entbehren könne, daß ſie eben jetzt, durch
ihre Dichter und Denker, für die Menſchheit mehr gethan als jemals
ihre Beſieger. Aus dem Jammer der Gegenwart flüchtete die Sehnſucht
in die fernen Zeiten deutſcher Größe; das Kaiſerthum, vor Kurzem noch
ein Kinderſpott, erſchien jetzt wieder als ein Ruhm der Nation. In allen
den aufgeregten Briefen, Reden und Schriften dieſer bedrängten Tage
klingen die beiden bitteren Fragen wieder: warum ſind die Deutſchen als
Einzelne ſo groß, als Nation ſo gar nichts? warum ſind die einſt der
Welt Geſetze gaben jetzt den Fremden unter die Füße geworfen?


Die Dichter und Gelehrten waren gewohnt, vor einem idealen Deutſch-
land zu reden, über die Grenzen der Länder und Ländchen hinweg an alle
Söhne deutſchen Blutes ſich zu wenden. Nun da die Literatur mit politiſcher
Leidenſchaft ſich erfüllte, übertrug ſie dieſe Anſchauungen kurzerhand auf
den Staat. Fichte richtete ſeine politiſchen Ermahnungen als Deutſcher
ſchlechtweg an Deutſche ſchlechtweg, nicht anerkennend, ſondern durchaus
bei Seite ſetzend alle die trennenden Unterſcheidungen, welche unſelige
Ereigniſſe ſeit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben. Die
Deutſchheit, die echte alte unverſtümmelte deutſche Art ſollte wieder zu
Ehren kommen. Eine hochherzige Schwärmerei pries in überſchwänglicher
Begeiſterung den angeborenen Adel deutſchen Weſens, denn nur durch
die Ueberhebung konnte ein ſo unpolitiſches Geſchlecht wieder zur rechten
Schätzung des Heimathlichen, zum nationalen Selbſtgefühle gelangen. An
die Stelle der alten leidſamen Ergebung trat ein verwegener Radicalis-
mus, der alle die Gebilde unſerer neuen Geſchichte als Werke des Zu-
falls und des Frevels verachtete: was blieb denn noch ehrwürdig und der
Schonung werth in dieſem rheinbündiſchen Deutſchland? Waren nur erſt
[300]I. 3. Preußens Erhebung.
die fremden Tyrannen geſtürzt, ihre freiwilligen Sklaven gezüchtigt und
die widerwilligen befreit, ſo ſollte ein neues mächtiges Deutſchland, glänzend
im Schmucke heller Gedanken und ruhmreicher Waffen, ſich politiſch geſtalten
— gleichviel in welchen Formen, aber einig und aus dem ureigenen Geiſte
der Nation heraus — und dann mußten die Deutſchen, ließ man ſie nur
frei gewähren, auch in Kunſt und Wiſſenſchaft die reichſten Kränze, die
je ein helleniſches Haupt geſchmückt, ſich auf die Siegerſtirne drücken.
Von dem einen Gewaltigen, der unſerer Nation ſchon einmal den Weg
zur politiſchen Macht gewieſen, ſprach man ungern. Was dies neue Ge-
ſchlecht brauchte war ſcheinbar das Gegentheil der fridericianiſchen Gedanken;
Friedrichs Werk ſchien vernichtet, und Viele der jungen Schwärmer wollten
ihm nie verzeihen, daß er das Schwert gegen die geſalbte kaiſerliche Maje-
ſtät erhoben hatte. Großherziges Vergeſſen der alten Bruderkämpfe, treue
Eintracht aller deutſchen Stämme, das war es was man forderte für den
gemeinſamen Kampf; nicht von einem gegebenen politiſchen Mittelpunkte
aus, ſondern durch die Erhebung der geſammten Nation ſollte das Welt-
reich zerſchmettert werden, und alles Weitere fand ſich dann von ſelbſt.


Es wurde verhängnißvoll für unſer politiſches Leben und hängt uns
nach bis zum heutigen Tage, daß der Gedanke der nationalen Einheit bei
uns nicht wie in Frankreich langſam die Jahrhunderte hindurch heranreifte,
die natürliche Frucht einer ſtetigen, immer auf daſſelbe Ziel gerichteten
monarchiſchen Politik, ſondern ſo urplötzlich nach langem Schlummer wie-
der erwachte, unter zornigen Thränen, unter Träumen von Zeiten die
geweſen. Daher jener rührende Zug idealiſtiſcher Schwärmerei, treuher-
ziger Begeiſterung, der die deutſchen Patrioten der folgenden Generationen
ſo liebenswürdig erſcheinen läßt. Daher ihre krankhafte Verbitterung:
denn auch nachdem der rauhe Franzoſenhaß jener gequälten Zeit ver-
raucht war, blieb ein tiefer Groll gegen das Ausland in den Herzen der
begeiſterten Teutonen zurück; man konnte nicht träumen von Deutſchlands
künftiger Größe, ohne die fremden Völker zu ſchelten, die ſich ſo oft und
ſo ſchwer an der Mitte Europas verſündigt hatten. Daher auch die wunder-
bar verſchwommene Unklarheit der politiſchen Hoffnungen der Deutſchen.
Ein durch unbeſtimmte hiſtoriſche Bilder erhitzter Enthuſiasmus berauſchte
ſich für die Idee eines großen Vaterlandes in den Wolken, das irgend-
wie die Herrlichkeit der Ottonen und der Staufer erneuern ſollte, begrüßte
Jeden, der in die gleichen Klagen, in die gleiche Sehnſucht mit einſtimmte,
Männer der verſchiedenſten politiſchen Richtungen, willig als Parteigenoſſen
und bemerkte kaum die lebendigen Kräfte der wirklichen deutſchen Einheit,
die in dem preußiſchen Staate ſich regten. Daher endlich die haltloſe
Schwäche des deutſchen Nationalgefühls, das bis zur Stunde noch nicht
die untrügliche Sicherheit eines naiven volksthümlichen Inſtinktes erlangt
hat. Der Traum der deutſchen Einheit drang ſehr langſam aus den ge-
bildeten Ständen in die Maſſen des Volkes hinab, und auch dann noch
[301]Das neue Deutſchthum.
blieb der große Name des Vaterlandes dem geringen Manne lange nur
ein unbeſtimmtes Wort, eine wundervolle Verheißung, und die ehrliche
Liebe zum einigen Deutſchland vertrug ſich wohl mit einem engherzigen,
handfeſten Particularismus.


In Preußen ſtand die alte Königstreue zu feſt, als daß ſich die Hoff-
nungen der Patrioten ſo ganz ins Grenzenloſe hätten verlieren können.
Es iſt kein Zufall, daß Keiner unter den Publiciſten und Volksrednern
der Zeit ſo viel nüchterne realpolitiſche Einſicht zeigte, wie Schleiermacher,
der geborene Preuße: wenn er von Deutſchlands Befreiung ſprach, ſo blieb
ihm die Wiederherſtellung der alten preußiſchen Macht immer die ſelbſt-
verſtändliche Vorausſetzung. Wenn Schenkendorf in begeiſterten Verſen
vom Kaiſer und vom Reiche predigte, wenn Heinrich Kleiſt die Deutſchen
beſchwor, „voran den Kaiſer“ in den heiligen Krieg zu ziehen, ſo nahmen
auch ſie ſtillſchweigend an, daß Preußen unter dieſem neuen Kaiſerthum
eine würdige Stelle behaupten müſſe. Auf dem Turnplatze in der Haſen-
haide, in den Kreiſen von Jahn, Harniſch und Frieſen, vernahm man ſogar
ſchon die zuverſichtliche Weiſſagung: Preußen habe immerdar Deutſchlands
Schwert geführt und müſſe in dem neuen Reiche die Krone tragen. Fichte
dagegen wuchs erſt nach und nach in dieſe preußiſchen Anſchauungen hin-
ein, gelangte erſt im Frühjahr 1813 zu der Erkenntniß, daß allein der
König von Preußen „der Zwingherr zur Deutſchheit“ werden könne. Auch
Arndt lernte erſt durch Preußens Siege die Nothwendigkeit der frideri-
cianiſchen Staatsbildung verſtehen. Gemeinſam war aber allen jugend-
lichen Patrioten, auch den Preußen, der kindliche Glaube an ein unbe-
ſtimmtes wunderbares Glück, das da kommen müſſe wenn Deutſchland
nur erſt wieder ſich ſelber angehöre. Die ganze Macht überſchwänglicher
Gefühle, die ſich in dem claſſiſchen Zeitalter unſerer Dichtung ange-
ſammelt hatte, ergoß ſich jetzt in das politiſche Leben. Niemals hatte die
norddeutſche Jugend ſo ſtolz, ſo groß gedacht von ſich ſelber und von der
Zukunft ihres Volkes, wie jetzt da dies Land vernichtet ſchien; ihr war
kein Zweifel, das ganze große Deutſchland, das einträchtig wie eine an-
dächtige Gemeinde den Worten ſeiner Dichter gelauſcht hatte, mußte als
eine geſchloſſene Macht wieder eintreten in die Reihe der Völker. Doch
nirgends ein Verſuch zur Bildung einer politiſchen Partei mit klar be-
grenzten erreichbaren Zielen; nicht einmal ein Meinungskampf über die
Frage, in welchen Formen ſich das verjüngte Vaterland neu geſtalten
ſollte. Aus der Fülle von Ahnungen und Hoffnungen, welche die un-
geduldigen Gemüther bewegte, trat nur ein einziger greifbarer politiſcher
Gedanke hervor — und dieſer eine freilich ward mit grimmigem Ernſt er-
griffen — der Entſchluß zum Kampfe gegen die Herrſchaft der Fremden.


Noch anderthalb Jahre nach dem Frieden blieb der Feind im Lande,
und auch nachher, als die franzöſiſchen Truppen Preußen endlich ge-
räumt hatten, ſtand ganz Deutſchland unter der ſcharfen Aufſicht der
[302]I. 3. Preußens Erhebung.
napoleoniſchen Spione. Alle franzöſiſchen und rheinbündiſchen Diplo-
maten mußten Bericht erſtatten über die Stimmung im Volke. Bignon
in Stuttgart und der weſtphäliſche Geſandte Linden in Berlin trieben das
unſaubere Gewerbe mit beſonderem Eifer; Napoleons Geſandter in Caſſel,
der geiſtreiche Schwabe Reinhard, ein Freund Goethes, benutzte ſeine Ver-
bindungen mit der deutſchen literariſchen Welt um den Imperator über
jede Regung deutſcher Gedanken zu unterrichten. Darum mußten die
Patrioten, ganz wider die Neigung und Begabung der deutſchen Natur, zu
geheimen Vereinen zuſammentreten. Hardenberg ſelbſt ſagte in jener Rigaer
Denkſchrift dem Könige, in ſolcher Zeit ſeien Geheimbünde unentbehrlich,
und empfahl namentlich die Logen zur Verbreitung guter politiſcher Grund-
ſätze, da auch Napoleon den noch immer einflußreichen Freimaurerorden
für ſeine Zwecke zu benutzen ſuchte und ſeinen Schwager Murat zum Groß-
meiſter ernennen ließ.


Nur Wenige unter den deutſchgeſinnten Preußen ſind, ſo lange die
Feinde das Land beſetzt hielten, dieſem unterirdiſchen Treiben ganz fern
geblieben. Auch Stein traf, wie Schoen erzählt, in Königsberg zu-
weilen in tiefem Geheimniß mit Gneiſenau, Süvern und anderen Freun-
den zuſammen um die Lage des Vaterlandes, die Möglichkeit der Wieder-
erhebung zu beſprechen. Selbſt die hellen Köpfe — ſo gewaltig war die
Aufregung — wollten nicht ganz laſſen von der bodenloſen Hoffnung,
daß vielleicht ein glücklicher Handſtreich, eine plötzliche Erhebung des Volks
den franzöſiſchen Spuk verſcheuchen könnte. In den Geſellſchaften des
Berliner Adels thaten ſich Einige, zumal unter den Damen, durch die
urwüchſige Kraft ihres Franzoſenhaſſes, durch lautes Schelten gegen die
Halben und Schwächlinge hervor; man nannte ſie unter den Uneinge-
weihten den Tugendbund, und alle Welt wußte, wann ſie ſich insgeheim
verſammelten, da die deutſche Ehrlichkeit ſich auf die dunklen Künſte der
Verſchwörer ſchlecht verſtand. Ernſthaftere Pläne verfolgte eine Reihe
anderer formloſer patriotiſcher Vereine, denen Lützow und Chaſot, Reimer,
Eichhorn, Schleiermacher, wackere Männer des Heeres, des Bürgerthums
und der Wiſſenſchaft angehörten. Hier kaufte man Waffen auf, ſo weit
die ärmlichen Mittel reichten, ſuchte die Geſinnungsgenoſſen ringsum in
Deutſchland zu ſammeln, zu ermahnen, zu ermuthigen; wie oft iſt Leut-
nant Hüſer von Berlin nach Baruth hinübergeritten um Briefe an den
Mitverſchworenen Heinrich Kleiſt auf die ſächſiſche Poſt zu geben. Später
ſtiftete Jahn mit einigen ſeiner Turnfreunde einen Deutſchen Bund; wie
die Eidgenoſſen auf dem Rütli traten die Verſchworenen Nachts im Walde
bei Berlin zuſammen und weihten ſich zum Kampfe für das Vaterland.
Als der Ausbruch des Krieges ſich weiter und weiter hinausſchob, ging
unter den Heißſpornen zuweilen die Rede: wenn dieſer Zauderer Fried-
rich Wilhelm durchaus nicht wolle, ſo müſſe ſein Bruder, der ritterliche
Prinz Wilhelm den Thron beſteigen.


[303]Die Geheimbünde.

Die Zeit lag im Fieber. Es war ein ewiges geheimnißvolles Kommen
und Gehen unter den Patrioten; ſie zogen verkleidet umher, ſammelten
Nachrichten über die Stellungen des Feindes, über die Stärke der feſten
Plätze; auch der Offenherzige mußte lernen mit ſympathetiſcher Tinte zu
ſchreiben, unter falſchem Namen zu reiſen. Wie hatte ſich doch die ſtille
norddeutſche Welt verwandelt, welche Wildheit dämoniſcher Leidenſchaft
flammte jetzt in den vormals ſo friedlichen Herzen! Die ganze neue Ord-
nung der Dinge ſtand auf zwei Augen; unwillkürlich ward der Gedanke
laut, ob dieſe ſich denn niemals ſchließen ſollten? Die treue Gräfin Voß
flehte im ſtillen Kämmerlein zu ihrem Gott, er möge dieſen Mann des
Unheils von der Erde hinwegnehmen. Unter den jungen Leuten im Magde-
burgiſchen, den Freunden Immermanns, war die Frage, wie man wohl
den Corſen aus dem Wege räumen könne, ein gewöhnlicher Gegenſtand
des Geſprächs, und Keiner fand ein Arges daran. Schwerere Naturen
ergriffen den unheimlichen Gedanken mit grimmigem Ernſt; Heinrich Kleiſt
trug ihn monatelang mit ſich herum in ſeiner umnachteten Seele. Nach-
her lernte Napoleon mit Entſetzen aus dem Mordanfalle des unglücklichen
Staps, wie tief ſich der Haß ſelbſt in fromme, ſchlichte Gemüther einge-
freſſen. Natürlich daß ſich auch die akademiſche Jugend auf ihre Art an
den verbotenen Vereinen betheiligte. Schon vor der Kataſtrophe von Jena
bildeten Marburger Studenten, unter dem Eindrucke der Ermordung
Palms, einen geheimen Bund zur Wahrung deutſcher Art und Freiheit.
Der berühmteſte aber unter jenen Geheimbünden, mit deſſen Namen
die Franzoſen alle anderen zu bezeichnen pflegten, der Königsberger
Tugendbund, zählte nie mehr als etwa 350 Mitglieder, darunter nur
vier Berliner. Einige wohlmeinende, aber wenig einflußreiche Patrioten,
wie Bärſch, Lehmann, Mosqua und der junge Juriſt Bardeleben, hatten
ihn mit Erlaubniß des Königs geſtiftet um den ſittlichen und vaterlän-
diſchen Sinn zu beleben und löſten ihn ſofort gehorſam wieder auf als
nach dem Abzuge der Franzoſen die rechtmäßige Staatsgewalt zurückkehrte
und das alte Verbot der geheimen Geſellſchaften wieder einſchärfte. Weder
Stein noch Scharnhorſt gehörten ihm an, und von ihren nahen Freunden
nur zwei, Grolmann und Boyen.


Ueberhaupt blieb die Wirkſamkeit der Geheimbünde weit geringer als
die geängſteten Franzoſen annahmen, die ſich den Sturz der napoleoniſchen
Herrſchaft nur aus dem Walten geheimnißvoller Mächte erklären konnten.
Mancher wackere Mann wurde durch dies Vereinsleben für die vater-
ländiſche Sache gewonnen; einige der Beſten aus der jungen Generation,
die ſpäterhin an die Spitze der Verwaltung traten, Eichhorn, Merckel,
Ingersleben ſind durch dieſe Schule gegangen. Scharnhorſt, der Alles
ſah und Alles wußte, betraute dann und wann einzelne der Verſchworenen
mit gefährlichen Aufträgen, wenn es etwa galt einen Waffentransport
über die Grenze zu ſchaffen. Im Jahre 1812 nahm das ſtillgeſchäftige
[304]I. 3. Preußens Erhebung.
Treiben einen neuen Aufſchwung; man unterſtützte deutſche Offiziere, die
in ruſſiſchen Dienſt treten wollten, man verbreitete im Rücken der großen
Armee die Nachrichten von ihren Niederlagen, fing auch wohl einmal einen
franzöſiſchen Courier ab. Doch im Ganzen war der augenblickliche Erfolg
unerheblich; um ſo ſtärker, und keineswegs erfreulich, die Nachwirkung.
Jenes phantaſtiſche Weſen, das dem jungen Deutſchthum von Haus aus
eigen war, gewann durch die Geheimbünde neue Nahrung. Ein Theil der
Jugend gewöhnte ſich mit dem Unmöglichen zu ſpielen, die harten That-
ſachen der gegebenen Machtverhältniſſe zu mißachten, und ſetzte dann nach
dem glücklich erkämpften Frieden ein Treiben fort, das allein in dem
Drucke der Fremdherrſchaft ſeine Rechtfertigung gefunden hatte. Die Re-
gierungen andererſeits wurden, als ſpäterhin das Mißtrauen gegen die
befreiten Völker erwachte, durch die Erinnerung an jene Zeit der Gährung
in ihrer kleinlichen Angſt beſtärkt.


Genug, der preußiſche Staat blieb auch in dieſer Bedrängniß ſeinem
monarchiſchen Charakter treu. Was auch Einzelne auf eigene Fauſt für
die Befreiung des Vaterlandes planen mochten, ihre verwegenſten Hoff-
nungen gingen doch nur darauf, den Monarchen mit ſich fortzureißen,
ſie gedachten für den König, wenn auch ohne ſeinen Befehl zu kämpfen.
Das treue Volk aber konnte zu den Verſuchen eigenmächtiger Schilder-
hebung niemals Vertrauen faſſen; der Aufſtand gelang erſt als der König
ſelbſt die Seinen zu den Waffen rief. Die Unfreiheit, die im Weſen
jedes Geheimbundes liegt, ſagte dem trotzigen Selbſtgefühle der Deutſchen
nicht zu. Grade die Beſten und Stärkſten wollten ſich nicht alſo ſelber
die Hände binden, ſie ſagten wie Gneiſenau: „mein Bund iſt ein anderer,
ohne Zeichen, ohne Myſterien, Gleichgeſinntheit mit Allen, die ein fremdes
Joch nicht ertragen wollen.“ Ungleich mächtiger als die Thätigkeit der
geheimen Vereine war jene große Verſchwörung unter freiem Himmel,
die überall wo treue Preußen wohnten ihre Fäden ſchlang. Wer verzagen
wollte, fand überall einen Tröſter, der ihn mahnte zu harren auf die Er-
füllung der Zeiten. Niemand aber im ganzen Lande ſah dem Tage der
Entſcheidung mit ſo unerſchütterlicher, leuchtender Zuverſicht entgegen,
wie General Blücher. Der wußte großen Sinnes das Weſentliche aus der
Flucht der Erſcheinungen herauszufinden, die innere Schwäche und Un-
möglichkeit des napoleoniſchen Weltreichs ſtand ihm außer allem Zweifel.
Zaghafte Gemüther hielten ihn für toll, als er in ſeiner derben Weiſe
über den Herrſcher der Welt kurzab ſagte: „laßt ihn machen, er iſt doch
ein dummer Kerl!“


In der alten Zeit des geiſtigen Schwelgens konnte ein feingebildeter
Berliner nicht leicht auf den Gedanken kommen, daß es Pflicht ſei die
Genüſſe der reizvollen geiſtſprühenden Geſelligkeit dahinzugeben für die
Rettung des in langweiliger Steifheit erſtarrten Staates. Jetzt fühlten
Alle, daß der Reichthum der Bildung Keinem den Frieden der Seele
[305]Schleiermacher. Fichte.
ſicherte, daß die Schande des Vaterlandes einem Jeden die Ruhe und
Freude des Hauſes ſtörte, und in den beladenen Herzen fanden Schleier-
machers Predigten eine gute Stätte. Er vor allen Anderen wurde der
politiſche Lehrer der gebildeten Berliner Geſellſchaft. Dichte Schaaren An-
dächtiger drängten ſich in den engen Rundbau der dürftigen kleinen Drei-
faltigkeitskirche, wenn er in ſeinen breit dahinrauſchenden, echt redneriſchen
Perioden, in immer neuen Wendungen den ſittlichen Grundgedanken dieſer
neuen Zeit verkündigte: daß aller Werth des Menſchen in der Kraft und
Reinheit des Willens, in der freien Hingabe an das große Ganze liege:
mehr denn jemals gelte jetzt die Mahnung des Apoſtels, zu haben als
hätten wir nicht, Beſitz und Leben nur als anvertraute Güter zu be-
trachten, die dahinfahren müßten für höhere Zwecke, und die Feinde nicht
zu fürchten, die nur den Leib töden können; wie viel höher ſei doch die
ſittliche Würde deſſen, der in Liebe ſeinem Lande lebe, und wie ver-
komme in weichlicher Empfindſamkeit der Sinn, der nur an ſich ſelber
denke; wie viel Grund zur Liebe und Treue biete dieſer Staat, der einſt
den anderen Deutſchen ein Muſter geweſen und noch immer eine Frei-
ſtatt ſei für jeglichen Glauben, ein Staat der Rechtlichkeit und des ehr-
lichen Freimuths. Das Alles ſo einfach fromm, dem ſchlichteſten Sinne
verſtändlich, und doch ſo geiſtvoll, tief aus dem Borne der neuen Cultur
geſchöpft; ſo glaubensinnig und doch ſo klug auf die politiſchen Nöthe des
Augenblicks berechnet. Die praktiſche Theologie, die ſo lange ſeitab von
den geiſtigen Kämpfen der Zeit im Hintertreffen geſtanden, wagte ſich
wieder heraus auf die freien Höhen der deutſchen Bildung, und die ge-
tröſteten Hörer empfanden, daß das Chriſtenthum in jedem Wandel der
Geſchicke immer neu und lebendig, immer zeitgemäß zu wirken vermag.


Der ungeheure Umſchwung der Meinungen, die gewaltſame Umkehr
der Zeit von ſelbſtgenügſamer Bildung zum politiſchen Wollen zeigt ſich
wohl in keiner Schrift jener Tage ſo anſchaulich wie in Fichtes Abhand-
lung über Machiavelli. Der Icarus unter den deutſchen Idealiſten, der
Verächter des Wirklichen feierte jetzt den härteſten aller Realpolitiker, weil
er in dem willensſtarken Florentiner den Propheten ſeines Vaterlandes
erkannte. Während die Trommeln der franzöſiſchen Garniſon drunten
vor den Fenſtern der Akademie erklangen, hielt Fichte dann ſeine Reden
an die deutſche Nation. Zerknirſcht und erſchüttert, im Gewiſſen gepackt
lauſchte die Verſammlung, wenn der ſtolze Mann mit den ſtrafenden
Augen und dem aufgeworfenen Nacken ſchonungslos in’s Gericht ging mit
der tief geſunkenen Zeit, da die Selbſtſucht durch ihr Uebermaß ſich ſelbſt
vernichtet habe, und endlich den Hörern ſein radikales Entweder — Oder
auf die Bruſt ſetzte: ein Volk, das ſich nicht ſelbſt mehr regieren kann,
iſt ſchuldig ſeine Sprache aufzugeben. Darauf riß er die Gedemüthigten
wieder mit ſich empor und ſchilderte ihnen die unverwüſtliche Kraft und
Majeſtät des deutſchen Weſens ſo groß, ſo kühn, ſo ſelbſtbewußt, wie in
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 20
[306]I. 3. Preußens Erhebung.
dieſen zwei Jahrhunderten des Weltbürgerthums Niemand mehr zu unſerem
Volke geredet hatte, aber auch mit der ganzen unklaren Ueberſchwänglich-
keit des neuen literariſchen Nationalſtolzes: die Deutſchen allein ſind noch
urſprüngliche Menſchen, nicht in willkürlichen Satzungen erſtorben, das
Volk der Ideen, des Charakters; wenn ſie verſinken, ſo verſinkt das ganze
menſchliche Geſchlecht mit. Soll der Menſchheit noch eine Hoffnung bleiben,
ſo muß ein neues deutſches Geſchlecht erzogen werden, das in ſeinem
Vaterlande den Träger und das Unterpfand der irdiſchen Ewigkeit ver-
ehrt und dereinſt den Kampf aufnimmt gegen den vernunftloſen, haſſens-
würdigen Gedanken der Univerſalmonarchie.


Die Predigten Schleiermachers erregten den Argwohn der fran-
zöſiſchen Spione. Mit dem hochfliegenden Pathos dieſes Redners, der
die Erfüllung ſeiner Träume auf eine zukünftige Generation verſchob,
wußten die Fremden nichts anzufangen; ſie ahnten nicht, wie unwider-
ſtehlich grade der überſchwängliche Idealismus die Gemüther dieſes philo-
ſophiſchen Geſchlechts ergriff. Der Jugend ging das Herz auf bei der
Lehre: ſich der Gattung zu opfern ſei der Triumph der Bildung, ſei
die Seligkeit des Ich. Die Zeit erlebte, wie Fichte mit philoſophiſcher
Herablaſſung ſagte, „den ſeltenen Fall, wo Regierung und Wiſſenſchaft
übereinkommen“; ſie fühlte, daß die Wiederaufrichtung des deutſchen
Staates mehr noch eine ſittliche als eine politiſche Pflicht war; ſie
brauchte nichts dringender als jenen „feſten und gewiſſen Geiſt“, den
dieſer Redner ihr zu erwecken ſuchte. Unwillkürlich gedachten die Hörer
bei dem herriſchen Weſen und der zermalmenden ſittlichen Strenge des
Philoſophen an den Freiherrn vom Stein.


In gleichem Sinne ſchrieb Arndt während und nach dem Kriege
neue Bände ſeines Geiſtes der Zeit. Er zog zu Felde wider unſere Viel-
herrſchaft, die zur Allknechtſchaft geworden, wider die unpolitiſche Gerech-
tigkeit der Deutſchen, die das Veraltete gewiſſenhaft verſchonten bis die
Fremden damit aufräumten, und vor Allem wider die übergeiſtige, über-
zärtliche Bildung, die da wähne, daß Kriegsruhm wenig, daß Tapferkeit
zu kühn, daß Mannlichkeit trotzig und Feſtigkeit beſchwerlich ſei. Friſch-
auf zum Rhein — ſo lautete ſein Schluß — und dann gerufen: Frei-
heit und Oeſterreich! Franz unſer Kaiſer, nicht Bonaparte!


In dem polternden Treiben des wunderlichen Recken Jahn zeigten
ſich ſchon einige der fratzenhaften Züge, welche das neue Deutſchthum ver-
unzierten: rauher und hochmüthiger Fremdenhaß, vorlaute Prahlerei, Ver-
achtung aller Anmuth und feinen Sitte — ein formloſes Weſen, das für
unſere Jugend um ſo ſchädlicher werden mußte, da der Germane ohne-
hin geneigt iſt Grobheit und Wahrhaftigkeit zu verwechſeln. Es blieb ein
krankhafter Zuſtand, daß die Söhne eines geiſtreichen Volkes einen lärmen-
den Barbaren als ihren Lehrer verehrten. Indeß war die Wirkſamkeit des
Alten im Bart während dieſer erſten Jahre noch überwiegend heilſam.
[307]Arndt. Jahn.
Für den einen Gedanken, der damals noth that, für den Entſchluß zum
Kampfe, langte ſein derber Bauernverſtand aus; auch beſaß er eine ſeltene
Gabe die Jugend in Zucht zu nehmen, ihr einen ehrlichen Abſcheu gegen
alle Schlaffheit und Verzärtelung einzuflößen. Die neue Turnkunſt ſtählte
nicht nur die Kraft des Leibes dem verwöhnten Geſchlechte. Man bemerkte
auch bald, wie die Sitten der Berliner Jugend reiner und mannhafter
wurden ſeit im Jahre 1811 der Turnplatz auf der Haſenhaide eröffnet
war; und dies wog für jetzt ſchwerer, als die Verwirrung, die der
Turnvater in manchem jungen Kopfe anrichtete, wenn er mit dröhnender
Stimme in ſeinem neuerfundenen Wortſturmſchritt den Genoſſen ſon-
derbare Runenſprüche zurief. Sein Buch über das deutſche Volksthum
brachte mitten in einem krauſen Durcheinander ſchrullenhafter Einfälle
manche lebendige Schilderung von der Kraft und Geſundheit altgerma-
niſcher Sitten.


Entſetzlich freilich, wie der rohe Naturaliſt, immer dem wahren
Deutſchthum zu Ehren, die zarten Blätter und Blüthen unſerer Sprache
zwiſchen ſeinen harten Fäuſten knetete. Alles wollte er ihr wieder
rauben was ſie ſich redlich erworben hatte im Gedankenaustauſche mit
anderen Völkern. Dabei widerfuhr ihm zuweilen, daß er ein neues ur-
teutſches Wort aus romaniſcher Wurzel bildete — ſo ſein geliebtes Turnen
ſelbſt; aber da er wie Luther den Bauern und den Kindern auf das
Maul ſah, ſo gelang ihm auch mancher glückliche Griff: das gute Wort
Volksthum wurde von ihm erfunden. Und ſo übermächtig war noch der
idealiſtiſche Schwung der Zeit, daß ſelbſt dieſer Eulenſpiegel die eigent-
liche Größe ſeiner Nation in ihrem geiſtigen Schaffen ſuchte; er pries die
Griechen und die Deutſchen als der Menſchheit heilige Völker und nannte
Goethe den deutſcheſten der Dichter. In den gewaltigen Kämpfen zwiſchen
Oeſterreich und Preußen wollte er, ebenſo harmlos wie mancher Größere
unter den Zeitgenoſſen, nichts weiter ſehen als die Balgereien von zwei
kräftigen Jungen, die in ihrem Uebermuthe ſich raufen und endlich zur
Vernunft gekommen ſich vertragen. Doch behielt er Mutterwitz genug
um den tiefen Unterſchied zwiſchen den beiden Mächten zu erkennen: der
große Völkermang Oeſterreich könne niemals ganz verdeutſcht werden, von
Preußen ſei die Verjüngung des alten Reiches ausgegangen, und nur
dieſer Staat werde die Deutſchen wieder zu einem Großvolke erheben.
Hinweg mit dem deutſchen Staatskrebs, der kindiſchen Landsmannſchafts-
ſucht, der Völkleinerei; eine oberſte Gewalt im Reiche, eine Hauptſtadt,
Einheit der Zölle, der Münzen und Maße; dazu Reichstage und Land-
tage und eine mächtige Landwehr aus allen Waffenfähigen gebildet, denn
unter Germanen gilt der Grundſatz: wehrlos, ehrlos!


Solche Gedanken in die Welt hinausgerufen mit einer berſerkerhaften
Zuverſicht, als könne es gar nicht anders ſein, und von der Jugend mit
jubelnder Begeiſterung aufgegriffen — und dies in einem Augenblicke, da
20*
[308]I. 3. Preußens Erhebung.
Preußen wenig mehr als vier Millionen Köpfe zählte und Niemand auch
nur nachgedacht hatte über die Frage, wie man den öſterreichiſchen Völker-
mang mit dem reinen Deutſchland unter einen Hut bringen könne! Wie
ſchwer mußten dieſe ſtolzen Träume dereinſt zuſammenſtoßen mit der
harten Wirklichkeit der particulariſtiſchen Staatsgewalten! Gelang ſelbſt
die Befreiung von der Herrſchaft des Auslandes, eine grauſame Ent-
täuſchung, eine lange Zeit erbitterter bürgerlicher Kämpfe ſtand dieſem
hoffenden Geſchlechte unausbleiblich bevor.


Nicht allein die Publiciſtik, ſondern die geſammte Literatur wurde
jetzt von der nationalen Leidenſchaft ergriffen. Dem jungen Nachwuchs
der Romantiker ſtellte Achim v. Arnim die Aufgabe: die friſche Morgenluft
altdeutſchen Wandels zu athmen, ſich andächtig zu vertiefen in die Herr-
lichkeit der alten heimiſchen Sage und Geſchichte, damit wir erkennen wie
wir geworden und mit neuem Selbſtvertrauen in der Gegenwart kämpfen.
Im Bewußtſein eines hohen patriotiſchen Berufes und mit dem ganzen
überſpannten Selbſtgefühle, das der Literatur unſeres neunzehnten Jahr-
hunderts eigenthümlich blieb, ſchritten die jungen Dichter und Gelehrten
an’s Werk. Sie haben immer, ganz wie ſpäterhin die Redner des Liberalis-
mus und die Schriftſteller des jungen Deutſchlands, der feſten Ueber-
zeugung gelebt, die neue Ordnung der deutſchen Dinge ſei eigentlich von
ihnen geſchaffen, die Staatsmänner und Soldaten hätten nur ausgeführt
was ſie ſelber ſo viel ſchöner und größer erdacht. Noch einmal kam der
deutſchen Literatur eine Zeit der Jugend. Wie vormals das Geſchlecht
von 1750 die Welt des Herzens entdeckt und mit naiver Verwunde-
rung in ihren Schätzen gewühlt hatte, ſo begrüßte die neue Romantik mit
trunkenem Entzücken jeden glücklichen Fund, der eine Kunde brachte von
der alten Größe des Vaterlandes. Sie beſtaunte das deutſche Alterthum
mit großen verwunderten Kinderaugen; durch Alles was ſie dachte und
träumte geht ein Zug hiſtoriſcher Pietät, ein bewußter Gegenſatz zu der
Verſtandesbildung und der Pflege der exacten Wiſſenſchaften im napo-
leoniſchen Reiche. Aus der Gährung dieſer romantiſchen Tage ſtieg die
große Zeit der hiſtoriſch-philologiſchen Wiſſenſchaften hervor, welche nun-
mehr, die Dichtung überflügelnd, auf lange hinaus in den Vordergrund
unſeres geiſtigen Lebens traten.


Einige Jahre lang war Heidelberg der bevorzugte Sammelplatz der
jungen literariſchen Welt. Wie ſchmerzlich hatte der ehrwürdige Karl
Friedrich von Baden, alle dieſe böſen Jahre über, die ſchmähliche Lage
der deutſchen Kleinfürſten empfunden; nun konnte er doch auf ſeine alten
Tage noch einmal durch eine gute That dem Vaterlande ſeine Liebe be-
währen. Er ſtellte die unter bairiſcher Herrſchaft ganz verfallene Heidel-
berger Hochſchule wieder her, von vornherein mit der Abſicht, daß ſie
mehr ſein ſolle als eine Landesuniverſität, eröffnete am Neckar der jungen
Literatur eine Freiſtatt — die einzige faſt in dem verödeten rheinbündiſchen
[309]Die Heidelberger Romantiker.
Deutſchland — und erlebte noch die Freude, daß die alte Rupertina zum
dritten male, wie einſt in den Zeiten Otto Heinrichs und Karl Ludwigs,
mit neuen ſchöpferiſchen Gedanken in den Gang des deutſchen Lebens eingriff.


Hier in dem lieblichſten Winkel unſerer rheiniſchen Lande ſtand die
Wiege der neuen romantiſchen Schule. Das epheuumrankte, in den
Blüthen der Bäume wie verſchneite Schloß, die Thürme der alten Dome
drunten in der ſonnigen Ebene, die geborſtenen Ritterburgen, die wie
Schwalbenneſter an den Felſen hängen, Alles erinnerte hier an eine
hochgemuthe Vorzeit, die der Sehnſucht ſo viel tröſtlicher ſchien als die
nüchterne Gegenwart. Achim Arnim und Clemens Brentano fanden ſich
hier zuſammen, auch Görres, der phantaſtiſche Schweber, der es drüben
auf dem franzöſiſchen Ufer, ſo nahe dem Pariſer Höllenſchlunde nicht mehr
ausgehalten. Die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts hatten ſich auf
deutſcher Erde überall wohl gefühlt wo ſie warmherzige Freunde fanden
und ungeſtört ihren Idealen leben konnten; jetzt begannen die Nord-
deutſchen mit Sehnſucht nach den ſchönen Landen der Reben und der
Sagen hinüberzuſchauen. Wie frohlockte Heinrich Kleiſt als er aus ſeinem
armen Brandenburg in die Berge Süddeutſchlands hinaufzog. Erſt in
dieſen romantiſchen Kreiſen ſind Land und Leute unſeres Südens und
Weſtens wieder recht zu Ehren gekommen. Die Vorliebe für den Rhein,
die jedem Deutſchen im Blute liegt, wurde zu einem ſchwärmeriſchen
Cultus, nun da man ihn in fremden Händen ſah. Wie oft wenn die
vollen Römergläſer an einander klangen, wiederholte man die Klage
Friedrich Schlegels:


Du freundlich ernſte ſtarke Woge,

Vaterland am lieben Rheine,

ſieh, die Thränen muß ich weinen

weil das Alles nun verloren!

Der Rhein war jetzt Deutſchlands heiliger Strom, über jeder ſeiner
Kirchen ſchwebte ein Engel, um jedes verfallene Gemäuer ſpielten die Nixen
und Elfen oder die Heldengeſtalten einer großen Geſchichte. Eine Menge
von Liedern und Romanzen, wie ſie die Luſt des Weines und des Wanderns
eingab, verſuchte dieſe Bilder feſtzuhalten. Die Balladen der claſſiſchen
Dichtung hatten zumeiſt irgendwo in grauer Vorzeit, auf einem unbe-
ſtimmten idealen Schauplatze geſpielt; jetzt mußte der Dichter auch ſeinen
kurzen Erzählungen einen beſtimmten landſchaftlichen Hintergrund, ſeinen
Figuren ein hiſtoriſches Coſtüm geben. Man wollte die Wellen des Rheins
und des Neckars hinter den Sagenbildern des Dichters rauſchen hören,
die biderben Sitten der deutſchen Altvordern in ſeinen Helden wiederfinden.


Jener Theil der vaterländiſchen Geſchichte, der allein noch in der Er-
innerung des Volkes lebte, die letzten hundertundfünfzig Jahre waren den
Patrioten widerwärtig als die Zeit der deutſchen Zerriſſenheit, den Poeten
abſchreckend durch die Proſa ihrer Lebensformen. Nur im Mittelalter
[310]I. 3. Preußens Erhebung.
ſollte die ungebrochene Kraft des deutſchen Volksthums ſich zeigen, und
man verſtand darunter mit Vorliebe den Zeitraum vom vierzehnten bis
zum ſechzehnten Jahrhundert. Die fröhlichen Zunftbräuche der alten Hand-
werker, das geheimnißvolle Treiben der Bauhütten, die Wanderluſt der
fahrenden Schüler, die Abenteuer ritterlicher Wegelagerer — das war das
echte deutſche Leben, und ſein Schauplatz lag in den maleriſchen Gefilden
des Südweſtens, in dem eigentlichen alten Reiche. Bei Alledem war von
einer landſchaftlichen Sonderbildung nicht die Rede. Die Norddeutſchen
ſammt einigen proteſtantiſchen Schwaben und Franken gaben noch immer
den Ton an für das ganze Deutſchland; auch die geborenen Rheinländer
unter den Romantikern, Görres, Brentano, die Boiſſerees — die erſten
Katholiken, die in der Geſchichte unſerer neuen Literatur wieder mit-
zählten — verdankten ihres Lebens beſten Inhalt jener geſammtdeutſchen
Bildung, die aus dem Proteſtantismus erwachſen war. Wer noch deutſch
empfand und dachte wurde von der hiſtoriſchen Sehnſucht der Zeit er-
griffen; ſelbſt die unäſthetiſche Natur des Freiherrn vom Stein blieb da-
von nicht unberührt. An den Bildern der heimiſchen Vorzeit erbaute ſich
das nationale Selbſtgefühl und Vorurtheil. Nur unter den Germanen
— das ſtand dem jungen Geſchlechte feſt — gedieh die Urſprünglichkeit
perſönlicher Eigenart; in Frankreich hatte die Natur, wie A. W. Schlegel
ſpottete, freigebig von einem einzigen Originalmenſchen dreißig Millionen
Exemplare aufgelegt. Nur aus deutſcher Erde ſprang der Quell der
Wahrheit; unter den Wälſchen herrſchte der Lügengeiſt — ſo hieß jetzt
kurzerhand Alles was der romantiſchen Jugend unfrei, langweilig, un-
natürlich erſchien: die akademiſch geregelte Kunſt, die mechaniſche Ordnung
des Polizeiſtaates, die Nüchternheit der harten Verſtandesbildung.


Unter den Schriften jenes Heidelberger Kreiſes wurde keine ſo folgen-
reich wie des Knaben Wunderhorn, die Sammlung alter deutſcher Lieder
von Arnim und Brentano. Der friſche Junge auf dem Titelbilde, wie er
ſo dahinſprengte auf freiem ungeſatteltem Roſſe, das Liederhorn in der
erhobenen Hand ſchwingend, ſchien gleich einem Herold zum fröhlichen
Kampfe gegen den Lügengeiſt zu rufen. Nicht ohne Beſorgniß ſendeten
die Freunde dieſe übelangeſchriebenen Lieder in die bildungsſtolze Welt
hinaus und baten Goethe ſie mit dem Mantel ſeines großen Namens zu
decken. Ihnen lag daran, daß Deutſchland nicht ſo verwirthſchaftet werde
wie die abgeholzten Berge am Rhein; ſie hofften auf eine neue Zeit voll
Sang und Spiel und herzhafter Lebensfreude, wo die Waffenübung
wieder die allgemeine höchſte Luſt der Deutſchen wäre und Jedermann ſo
froh und frei durch die Welt zöge wie heutzutage nur „die herrlichen
Studenten“, die letzten Künſtler und Erfinder in dieſer proſaiſchen Zeit.


Die Sammlung erſchien zur rechten Stunde; denn eben jetzt begann
Schillers Tell auf weite Kreiſe zu wirken und weckte überall die Empfäng-
lichkeit für die einfältige Kraft der Altvordern. Man fand der freudigen
[311]Deutſche Sprach- und Sagenforſchung.
Verwunderung kein Ende, als die Glocken des Wunderhorns mit ſüßem
Schall erzählten, wie überſchwänglich reich dies alte Deutſchland mit der
Gottesgabe der Poeſie begnadet geweſen, welche Fülle von Liebe und Sehn-
ſucht, Muth und Schelmerei tauſende namenloſer Studenten und Lands-
knechte, Jäger und Bettelleute in ihren kunſtloſen Liedern niedergelegt
hatten. Herders große Offenbarung, daß die Dichtung ein Gemeingut
Aller ſei, fand nun erſt allgemeines Verſtändniß. Nachher gab v. d. Hagen
in Berlin die Nibelungen heraus, und ſo ſchülerhaft die Bearbeitung war,
die mächtigen Geſtalten des grimmen Hagen und der lancrächen Chriem-
hild erregten in der Seele der Leſer doch die frohe Ahnung, daß unſer
Volk ſechshundert Jahre vor Goethe ſchon einmal eine große Zeit der
Dichtung geſehen habe. Noch überwog der Dilettantismus. Mittelalter-
lich und deutſch galt faſt für gleichbedeutend; man warf die grundver-
ſchiedenen Epochen der mittelalterlichen Cultur kritiklos durch einander,
und die Begeiſterten ließen ſichs nicht träumen, daß die verhaßten Fran-
zoſen in der Blüthezeit des Ritterthums eigentlich die Tonangeber, die
Culturbringer geweſen waren. Der ſchwächlich phantaſtiſche Fouqué, dem
doch nur zuweilen ein ſtimmungsvolles, den Geheimniſſen des Waldes
und des Waſſers abgelauſchtes Märchenbild oder eine kräftige Schilde-
rung altnordiſcher Reckengröße gelang, wurde für einige Jahre der Mode-
dichter der vornehmen Welt. Die Berliner Damen ſchwärmten für ſeine
ſinnigen, ſittigen, minniglichen Jungfrauen, für die ausbündige Tugend
ſeiner Ritter, ſchmückten ihre Putztiſche mit eiſernen Crucifixen und ſilber-
beſchlagenen Andachtsbüchern.


Die germaniſtiſche Sprachforſchung war bisher bei anderen Wiſſen-
ſchaften zu Gaſte gegangen, nur nebenher von einzelnen Hiſtorikern, Juriſten
und Theologen gefördert worden. Nunmehr verſuchte ſie endlich ſich auf
eigne Füße zu ſtellen, Herders kühne Ahnungen und F. A. Wolfs An-
ſichten über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte für das deutſche Alter-
thum zu verwerthen. Die Gebrüder Grimm gaben ihr zuerſt den Charakter
einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. Man achtete der beiden Anſpruchsloſen
wenig, als ſie in der Einſiedlerzeitung der Heidelberger auftraten; doch
bald ſollten ſie ſich als die Reinſten und Stärkſten unter den Genoſſen
bewähren. Durch ſie vornehmlich iſt der echte, fruchtbare Kern der
romantiſchen Weltanſchauung nachher einer gänzlich verwandelten Welt
erhalten und in das geiſtige Vermögen der Nation aufgenommen worden.
Sie nahmen den alten Glaubensſatz der Romantiker, daß dem Oceane
der Poeſie Alles entſtröme, in vollem Ernſt, ſuchten auf jedem Gebiete
des Volkslebens, in Sprache, Recht und Sitte nachzuweiſen, wie ſich Bil-
dung und Abſtraction überall aus dem Sinnlichen, Natürlichen, Urſprüng-
lichen heraus geſtaltet habe. Wie vornehm herablaſſend hatten die Schrift-
ſteller des achtzehnten Jahrhunderts noch zum Volke geſprochen, wenn ſie
ſich ja einmal um den geringen Mann kümmerten; jetzt ging die zünftige
[312]I. 3. Preußens Erhebung.
Wiſſenſchaft bei den kleinen Leuten in die Schule, hörte andächtig auf das
Geplauder der Spinnſtuben und der Schützenhöfe. Eine alte Bauerfrau
half den Brüdern Grimm bei der Sammlung der deutſchen Volksmärchen,
und ſo entſtand ein Buch wie Luthers Bibel: ein edles Gemeingut der
europäiſchen Völker erhielt durch congeniale Nachdichtung ſein bleibendes
nationales Gepräge. Die altindiſchen Märchengeſtalten, der Däumling,
Hans im Glücke, Dornröschen und Schneeweißchen, zeigten ſo grundehr-
liche deutſche Geſichter, die einfältige Heiterkeit, die ihnen auf der weiten
Wanderung durch Deutſchlands Kinderſtuben angeflogen war, ſprach ſo
anheimelnd aus der ſchmucklos treuherzigen Erzählung, daß wir uns heute
die Lieblinge unſerer Kindheit nur noch in dieſer Geſtalt denken können,
wie wir auch die Bergpredigt nur mit Luthers Worten hören wollen.


Um die nämliche Zeit wurde ein anderer, noch ärger verwahrloſter
Schatz der Vorzeit der Nation wieder geſchenkt. Was hatten doch unſere
alten Dome Alles ausſtehen müſſen von der Selbſtverliebtheit des letzten
Jahrhunderts; die Bilderpracht ihrer Wände war mit Gips und Mörtel
überdeckt, an den gothiſchen Altären klebten Propfenzieherſäulen und Po-
ſaunenengel. Nun führten der Kirchenhaß und der harte Nützlichkeits-
ſinn der rheinbündiſch-franzöſiſchen Bureaukratie einen neuen Bilderſturm
über Baiern, Schwaben und die Rheinlande herauf. Eine Menge ehr-
würdiger Kirchen ward ausgeplündert und kam unter den Hammer; ein
jammervoller Anblick, wenn beim Abbrechen der Mauern der Mörtel her-
abfiel und die ſchönen alten Fresken auf wenige Augenblicke wieder im
Tageslichte glänzten um alsbald für immer zu verſchwinden. Da faßten
ſich die Brüder Boiſſeree das Herz, zu retten was noch zu retten war
aus der großen Zerſtörung; ihre ſtille treue Thätigkeit war das erſte
Lebenszeichen der wiedererwachenden deutſchen Geſinnung am linken Ufer.
Unermüdlich ſuchten ſie unter dem Gerümpel auf den Böden der rheiniſchen
Patricierhäuſer die vergeſſenen altdeutſchen Gemälde zuſammen. Ihre alte
Mutter begleitete das fromme Werk mit ihrem Segen, die romantiſchen
Freunde draußen im Reiche halfen treulich mit. Wie freuten ſich Görres und
Savigny, wenn ſie ein ſchönes Altarſchnitzwerk für wenige Kreuzer irgendwo
von einem Bauern oder Trödler erſtanden hatten und den Brüdern ſenden
konnten. Alles war willkommen und fand Bewunderung was nur die
echten Züge altdeutſchen Geiſtes trug: die idealiſtiſche Weichheit der Köl-
niſchen Malerſchule ſo gut wie Dürers Tiefſinn und der kräftige Realis-
mus der alten Niederländer. Dann fand Sulpiz Boiſſeree einige der alten
Riſſe des Kölner Domes wieder auf und entwarf nun frohen Muthes die
Zeichnungen für ſein großes Dom-Werk. Mitten in den argen Tagen, da
Napoleon einmal ſeine gute Stadt Köln beſuchte und das ſchönſte Gottes-
haus der Deutſchen nach wenigen Minuten eilig wieder verließ um ein
Küraſſierregiment zu inſpiciren, träumte jener treue Sohn des Rheinlandes
ſchon von dem Wiederauferſtehen der Kölner Bauhütte, die einſt durch
[313]Die hiſtoriſche Rechtslehre.
Jahrhunderte der lebendige Heerd der deutſchen Kunſt am Rheine geweſen.


Derſelbe feſte Glaube an die Unſterblichkeit des deutſchen Volkes be-
ſeelte auch den Schöpfer unſerer Staats- und Rechtsgeſchichte, K. F. Eich-
horn. Die alte Herrſchaft des gemeinen Rechts ſchien für immer ge-
brochen, das Gebiet des Code Napoleon erſtreckte ſich bis zu den Ufern
der Elbe, die Juriſten des Rheinbundes legten das deutſche Recht ſchon
zu den Todten. Da zeigte Eichhorn, wie der rechtsbildende Gemeingeiſt der
deutſchen Nation in allem Wandel der Staatsverfaſſungen doch immer
lebendig geblieben, wie allein aus dieſer bleibenden Naturkraft das Wer-
den und Wachſen des deutſchen Rechtes zu erklären ſei. Dieſe hiſtoriſche
Anſicht von dem Weſen des Rechts, die ſchon durch Herder und die
älteren Romantiker vorbereitet war, kam jetzt mit einem male zur Reife,
ſie entſprang ſo nothwendig aus der Weltanſchauung des neuen Zeit-
alters, daß ſie gleichzeitig von Männern der verſchiedenſten Anlage ver-
treten wurde: — ſo von Savigny, dem juriſtiſchen Lehrer der Brüder
Grimm, der in Landshut durch ſeine Lehre von der rechtserzeugenden
Kraft des Volksgeiſtes bereits den Argwohn der bonapartiſtiſchen bairiſchen
Bureaukratie erregte — ſo vor Allen von Niebuhr, deſſen Römiſche Ge-
ſchichte als die größte wiſſenſchaftliche That der Epoche raſch allgemeine
Bewunderung fand. Auch bei ihm erſchien der Geiſt des Römervolkes
— ein der pragmatiſchen Geſchichtſchreibung des achtzehnten Jahrhunderts
ganz unbekannter Begriff — als die treibende Kraft, die geſtaltende Noth-
wendigkeit der römiſchen Geſchichte; und zugleich wies er der hiſtoriſchen
Forſchung neue Bahnen durch eine ſcharfe Quellenkritik, die mit ſichern
Streichen die geſammte alte Ueberlieferung der römiſchen Königsgeſchichte
über den Haufen warf. Doch er ſagte auch: „der Hiſtoriker bedarf Poſi-
tives.“ Die todten Buchſtaben der Quellen gewannen Leben vor ſeinen
Augen, und durch ein wahrhaft ſchöpferiſches Vermögen geſtaltete er über
den Trümmern der zerſtörten Tradition ein Bild des wirklich Geſchehenen.
Und welche maßvolle Freiheit des politiſchen Urtheils, ganz in Steins
vornehmem Sinne; warmes Lob für die Mäßigung der Plebes, ſcharfer
Tadel gegen den Uebermuth der Patricier und dazu der echt preußiſche
Schluß: unter einer ſtarken Krone wäre eine ſolche Härte des Standes-
dünkels niemals möglich geweſen. So zeigte ſich die Wiſſenſchaft faſt in
allen Fächern noch lebendiger, noch productiver als die Mehrzahl der
jungen Poeten. Auch das war ein Zeichen der Zeit, daß Alexander
v. Humboldts „Anſichten der Natur“ — zum erſten male in Deutſchland
— die Ergebniſſe ſchwerer naturwiſſenſchaftlicher und geographiſcher For-
ſchung in einfacher claſſiſcher Darſtellung der ganzen Nation zu frohem
Genuſſe darboten.


Es war eine Zeit der Dämmerung. Friſcher Morgenwind verkündete
das Nahen eines ſchönen Tages, doch die Formen und Maſſen der jugend-
lichen Welt traten im unſicheren Zwielicht noch nicht ſcharf und klar aus
[314]I. 3. Preußens Erhebung.
einander. Grundverſchiedene Geſinnungen, die ſich bald leidenſchaftlich
bekämpfen ſollten, gingen noch harmlos Hand in Hand. Der Reactionär
Fouqué lebte mit dem Radikalen Fichte wie der Sohn mit dem Vater.
Von den romantiſchen Poeten dachten einige gläubigfromm, während
andere mit den mittelalterlichen Idealen nur ironiſch ſpielten. Auf dem
hiſtoriſchen Gebiete erſchienen neben Niebuhrs und Eichhorns ſtreng metho-
diſchen Forſchungen auch phantaſtiſche Werke, wie Creuzers Symbolik, der
erſte Verſuch, die geheimnißvolle Nachtſeite der antiken Cultur, die Re-
ligion und die Myſterien der Alten zu verſtehen — ein Buch voll geiſt-
reicher Ahnungen, aber auch voll ſpielender Willkür, dunkel wie die
Träumerei der Naturphiloſophie. Die wiſſenſchaftliche Beſchaulichkeit der
hiſtoriſchen Juriſtenſchule war nicht frei von Angſt und Thatenſcheu; ſie
hatte im Grunde wenig gemein mit Arndts hoffnungsvollem, unerſchrockenen
Freiſinn und berührte ſich vielfach mit den Anſichten von F. Gentz, der
jetzt, erſchöpft durch Ausſchweifungen, innerlich erkältet und blaſirt, in
dem verflachenden, gedankenloſen Wiener Leben mehr und mehr ein un-
bedingter Lobredner der guten alten Zeit wurde. Der unerſchöpfliche Ge-
ſtaltenreichthum der deutſchen Geſchichte erlaubte Jedem, wes Sinnes er
auch war, ſich für irgend ein Stück der vaterländiſchen Vorzeit zu er-
wärmen. Die Einen reizte der fremdartig phantaſtiſche Zauber, die Andern
der friſche biderbe Volkston des mittelalterlichen Lebens. Während Fichte
ſeine Hörer auf die Bürgerherrlichkeit der Hanſa und die Schmalkaldener
Glaubenskämpfer hinwies, verdammte F. Schlegel den „Erbfeind“ Fried-
rich den Großen, und der prahleriſche Phantaſt Adam Müller feierte das
heilige römiſche Reich als den Ausbau der Perſönlichkeit Chriſti.


Noch verworrener wogten die religiöſen Stimmungen durch ein-
ander. Zwar die proteſtantiſchen Kernmenſchen, Schleiermacher, Fichte,
die Gebrüder Grimm, ſchwankten niemals in ihrer evangeliſchen Ueber-
zeugung. Savigny aber wurde durch den trefflichen katholiſchen Theo-
logen Sailer den Anſchauungen der vorlutheriſchen Kirche näher geführt.
Schenkendorf ſang verzückte Lieder auf die ſüße Königin Maria und auf
den „feſten, treuen Max von Baiern“, den fanatiſchen Helden der katho-
liſchen Liga; der Uebertritt F. Schlegels und F. Stolbergs zur römiſchen
Kirche warf ein grelles Licht auf die ſittliche Schwäche der noch immer
überwiegend äſthetiſchen Weltanſchauung des Zeitalters. Ein finſterer
Judenhaß verdrängte die weitherzige Duldſamkeit der fridericianiſchen
Tage. Mancher unter den mittelalterlichen Schwarmgeiſtern meinte in
jedem Judengeſicht die Marterwerkzeuge Chriſti deutlich eingegraben zu
ſehen. Politiſcher Haß ſpielte mit hinein, da Napoleon geſchickt und nicht
ohne Erfolg das europäiſche Judenthum für die Sache ſeines Weltreichs
zu gewinnen ſuchte. Alle dieſe Beſtrebungen ſtanden für jetzt in leid-
lichem Einklang, und der alte Voß fand noch geringen Beifall, als er
mit geſundem Menſchenverſtande und ungeſchlachter Grobheit im Namen
[315]Heinrich von Kleiſt.
der proteſtantiſchen Gedankenfreiheit die Traumwelt der Romantik be-
kämpfte. Niemand befand ſich wohler in dem chaotiſchen Treiben als
der lärmende Görres, der ehrliche Jakobiner in der Mönchskutte, der
es verſtand zugleich ein Radikaler und ein Bewunderer des Mittelalters,
ein Deutſchthümler und ein Verehrer des römiſchen Papſtes zu ſein,
immer geiſtreich, anregend und angeregt, ſprudelnd von äſthetiſchen, hiſto-
riſchen, naturphiloſophiſchen Einfällen, aber auch immer befangen in einem
rhetoriſch-poetiſchen Rauſche. In einem Entſchluſſe waren Alle einig: ſie
wollten ihres deutſchen Weſens wieder ſo recht von Herzen froh werden,
dieſe heimiſche Eigenart behaupten und in voller Freiheit weiterbilden ohne
jede Rückſicht auf fremdländiſche Weltbeglückung und Weltbeherrſchung.


Die politiſche Leidenſchaft der Zeit fand ihren mächtigſten künſtle-
riſchen Ausdruck in den Werken Heinrich von Kleiſts, jenes tief unſeligen
Dichters, der alle die Poeten der jungen Generation überragte. Durch
die urſprüngliche Kraft dramatiſcher Leidenſchaft und leibhaftig wahrer
Charakteriſtik übertraf er ſelbſt Schiller; doch der Ideenreichthum und
die hohe Bildung, der weite Blick und die ſtolze Selbſtgewißheit unſeres
erſten Dramatikers blieben dem Unglücklichen verſagt; ein friedloſer Sinn
ſtörte ihm das Ebenmaß der Seele. Kaum beachtet von den Zeitgenoſſen,
durch ein räthſelhaft grauſames Schickſal um alle Freuden eines reichen
Schaffens betrogen, erſcheint er uns Rückſchauenden heute als der eigent-
lich zeitgemäße Dichter jener bedrückten Tage, als der Herold jenes dämo-
niſchen Haſſes, den fremde Unbill in die Adern unſeres gutherzigen Volkes
goß. Die Pentheſilea war die wildeſte, das Käthchen von Heilbronn die
zarteſte und holdeſte unter den dämmernden Traumgeſtalten der deutſchen
Romantik, die Hermansſchlacht aber ein hohes Lied der Rache, eine mäch-
tige Hymne auf die Wolluſt der Vergeltung — jeder Zug ebenſo ſinnlich
wahr, anſchaulich, lebensvoll wie einſt Klopſtocks Bardengeſänge unbe-
ſtimmt und verſchwommen geweſen, jedes Gefühl unmittelbar aus dem
Herzen der rachedürſtenden Gegenwart heraus empfunden. Kleiſt hatte ſich
nicht, wie die patriotiſchen Gelehrten, die Idee des Vaterlandes erſt durch
Nachdenken erwerben müſſen; er empfand den naiven, naturwüchſigen
Haß des preußiſchen Offiziers, er ſah die alten glorreichen Fahnen, die
ſein und ſeines Hauſes Stolz geweſen, zerriſſen im Staube liegen und
wollte den züchtigen, der ihm das gethan. Ueberall wohin der Unſtete
ſeinen Wanderſtab ſetzte verfolgte ihn wie der Ruf der Erinnyen die wilde
Frage: „ſtehſt du auf, Germania? iſt der Tag der Rache da?“ Stür-
miſch, furchtbar wie noch nie aus eines Deutſchen Munde erklang von
ſeinen Lippen die Poeſie des Haſſes:


Rettung von dem Joch der Knechte,

Das, aus Eiſenerz geprägt,

Eines Höllenſohnes Rechte

Ueber unſern Nacken legt!

[316]I. 3. Preußens Erhebung.

Es war dieſelbe unbändige Naturkraft der nationalen Leidenſchaft, wie
einſt in den wilden Klängen des Marſeillermarſches, nur ungleich poetiſcher,
wahrer, tiefer empfunden. Nachher ſchuf der unglückliche Dichter in dem
Prinzen von Homburg das einzige künſtleriſch vollendete unſerer hiſto-
riſchen Dramen, das ſeinen Stoff aus der neuen, noch wahrhaft leben-
digen deutſchen Geſchichte herausgriff, die ſchönſte poetiſche Verklärung
des preußiſchen Waffenruhms. Als auch dies Werk an den Zeitgenoſſen
ſpurlos vorüberging und die Lage des Vaterlandes ſich immer trauriger
geſtaltete, da ſtarb der Ungeduldige durch eigene Hand — ein Opfer
ſeiner angeborenen krankhaften Verſtimmung, aber auch ein Opfer ſeiner
finſteren hoffnungsloſen Zeit. Es bezeichnet den großen Umſchwung
des nationalen Lebens, daß jetzt ein Mann aus den alten brandenbur-
giſchen Soldatengeſchlechtern mit der ganzen Farbenpracht der neuen
Dichtung dies preußiſche Soldatenthum verherrlichte, das ſo lange, ver-
ſtändnißlos und unverſtanden, der modernen deutſchen Bildung fern ge-
blieben war. Wie lebhaft betheiligte ſich doch nunmehr das ſtarre trotzige
Junkerthum der Marken an dem geiſtigen Schaffen der Nation: eine
lange Reihe ſeiner Söhne, Kleiſt, Arnim und Fouqué, die Humboldts
und L. v. Buch ſtanden mit obenan unter Deutſchlands Dichtern und
Gelehrten. Das banauſiſche Weſen des alten Preußenthums war endlich
völlig überwunden.


Und ſeltſam, Niemand hat dieſe große Wandlung im deutſchen Volks-
gemüthe, das Erſtarken des freudigen nationalen Selbſtgefühls mächtiger
gefördert als Goethe. Er that es faſt wider ſeinen Willen, durch ein
Werk, das urſprünglich einem ganz anderen Zeitalter angehörte. Es blieb
ſein Schickſalsberuf immer das rechte Wort zu finden für die eigenſten
und geheimſten Empfindungen der Deutſchen. Im Jahre 1808 erſchien
der Fauſt, der erſte Theil ganz und einige Scenen des zweiten. Goethe
war jetzt an ſechzig Jahr alt, ſeit nahezu vier Jahrzehnten eine anerkannte
Macht im deutſchen Leben; eine Wallfahrt nach Weimar zu dem würde-
vollen, feierlich ernſthaften Altmeiſter gehörte längſt zu den Anſtandspflichten
der jungen Schriftſteller. Aber Niemand erwartete von dem alten Herrn
noch eine ſchöpferiſche That, eine Theilnahme an den Kämpfen des neuen
Deutſchlands; wußte man doch, wie kühl und vornehm er die Heißſporne
der Romantik von ſich abwies. Wohl nahm er die Widmung des Wunder-
horns freundlich auf und gab der Sammlung den Segenswunſch mit
auf den Weg, ſie möge in jedem deutſchen Hauſe ihren Platz unter dem
Spiegel finden. Er ſelber hatte einſt in ſeinen glücklichen Straßburger
Zeiten, von Wenigen verſtanden, das Lob der gothiſchen Baukunſt ver-
kündigt. Wenn er jetzt nach langen Jahren ſeine Saat aufgehen und
alle Welt für die alte deutſche Kunſt begeiſtert ſah, ſo meinte er befriedigt,
die Menſchheit zuſammen ſei erſt der wahre Menſch, und hatte ſeine
Freude an Sulpiz Boiſſerees liebenswürdigem Eifer. Doch das aufge-
[317]Fauſt.
regt phantaſtiſche Weſen und das trotzige nationale Pathos des jungen
Geſchlechts blieben ihm zuwider.


Seine Bildung wurzelte in dem weltbürgerlichen alten Jahrhundert.
Niemals wollte er vergeſſen, was er und alle ſeine Jugendgenoſſen den
Franzoſen verdankten. Kleiſts dämoniſche Unruhe erregte dem Beſchau-
lichen Grauen; in den Briefen an ſeinen Altersgenoſſen Reinhard ur-
theilte er ſehr ſcharf über Arnims und Brentanos fratzenhaftes Treiben
und vertheidigte den alten ehrlichen Rationalismus gegen die zweizün-
gelnde neue Naturphiloſophie; ja er hatte Stunden, wo er das Ro-
mantiſche kurzab das Krankhafte nannte, im Unterſchiede von dem Ge-
ſunden, dem Claſſiſchen. Am Wenigſten verzieh er den jungen Leuten,
daß ihre literariſche Bewegung zugleich politiſche Zwecke verfolgte; jedes
unmittelbare Hinüberwirken der Kunſt auf die Proſa des Staatslebens
war ihm eine Entweihung. Die große Zerſtörung, die über Deutſchland
hereingebrochen, nahm er hin als ein unentrinnbares Verhängniß; die
natürliche Wahlverwandtſchaft des Genius hieß ihn feſt an Napoleons
Glücksſtern glauben. Was wußte er auch von Preußen und dem tödtlich
beleidigten preußiſchen Stolze? Wie konnte der Sohn der guten alten
Zeit, der in Frankfurt, Straßburg, Leipzig, Weimar unter einem harmlos
friedſamen Völkchen gelebt, einen deutſchen Volkskrieg für möglich halten?
Schon die Mitlebenden empfanden es ſchmerzlich, und in alle Zukunft
wird es den Deutſchen eine traurige Erinnerung bleiben, daß unſer
größter Dichter in dem Feinde ſeines Vaterlandes nichts ſehen wollte als
den großen Mann, daß er zu alt war um die wunderbare, heilvolle
Wandlung, die über ſein Volk gekommen, ganz zu verſtehen. Wie fühlte
er ſich ſo einſam ſeit Schillers Tode. Wehmüthig der lieben Schatten
froher Tage gedenkend ließ er das Lieblingswerk ſeines Lebens in die un-
bekannte Menge hinausgehen. Als anderthalb Jahrzehnte früher einige
Bruchſtücke daraus erſchienen waren, hatte Niemand viel Aufhebens da-
von gemacht.


Und doch ſchlug das Gedicht jetzt ein, zündend, unwiderſtehlich wie
einſt der Werther — als wären dieſe Zeilen, über denen der Dichter alt
geworden, erſt heute und für den heutigen Tag erſonnen. Die bange
Frage, ob es denn wirklich aus ſei mit dem alten Deutſchland, lag auf
Aller Lippen; und nun, mitten im Niedergange der Nation, plötzlich dies
Werk — ohne jeden Vergleich die Krone der geſammten modernen Dich-
tung Europas — und die beglückende Gewißheit, daß nur ein Deutſcher
ſo ſchreiben konnte, daß dieſer Dichter unſer war und ſeine Geſtalten von
unſerem Fleiſch und Blut! Es war wie ein Wink des Schickſals, daß
die Geſittung der Welt unſer doch nicht entbehren könne, und Gott noch
Großes vorhabe mit dieſem Volke. Schon Schiller hatte dem Drama
höhere Aufgaben geſtellt als Shakeſpeare, obwohl er die grandioſe Ge-
ſtaltungskraft des Briten nicht erreichte; die Tragödie der Leidenſchaften
[318]I. 3. Preußens Erhebung.
genügte ihm nicht, er wollte verſinnlichen, daß die Weltgeſchichte das
Weltgericht iſt. Hier aber war noch mehr; hier wurde, zum erſten male
ſeit Dante, der Verſuch gewagt die ganze geiſtige Habe des Zeitalters
poetiſch zu geſtalten. Die Conception war dem Dichter, er ſelbſt geſtand
es, von vornherein klar; doch wie er nun die geliebten Geſtalten viele
Jahre hindurch mit ſich im Herzen trug, in allen guten Stunden immer
wieder zu ihnen heimkehrte, da wuchſen ſie mit ihm und er mit ihnen.
Das alte Puppenſpiel mit ſeiner Derbheit und ſeinem Tiefſinn, ſeinen
ſaftigen Späßen und ſeinen unheimlichen Schrecken erweiterte ſich zu
einem großen Weltgemälde, das freilich die Formen der dramatiſchen
Kunſt zerſprengte, zu einem Bilde des prometheiſchen Dranges der Menſch-
heit. Der Dichter legte den ganzen philoſophiſchen Inhalt ſeines Zeit-
alters darin nieder. Der moderne Poet konnte nicht wie jener Sohn des
dreizehnten Jahrhunderts von der Höhe einer zweifellos fertigen Welt-
anſchauung herunter ſeinen Richterſpruch fällen über die Welt. Er hatte
deſſen kein Hehl, daß er ein Strebender ſei, daß er mit dieſem Gedichte
eigentlich nie zu Ende kommen könne, und eben darum wirkte ſeine
Dichtung ſo gewaltig auf die gährende Zeit, weil ſie Jeden unwillkür-
lich zum Weiterdichten und Weiterſinnen einlud. Der Grundgedanke der
Goethiſchen Weltanſchauung ſtand gleichwohl feſt: die Menſchheit blieb
ihm die Mitte der Schöpfung, und nur um ihretwillen beſtand die Welt.
Die Erlöſung des Menſchen durch die That, durch die liebende Hingabe
des Ich an das Ganze, der Triumph des Göttlichen über den Geiſt der
Verneinung, der ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft — das
war der freudige Glaube dieſes größten aller Optimiſten, das war das
Thema der Dichtung ſeines Lebens.


Wenn je ein Gedicht erlebt war, ſo war es dieſes. Alles kehrte
hier wieder was je die proteiſche Natur des Dichters ergriffen und be-
wegt: die lockere Munterkeit der Leipziger, das Liebesglück der Straß-
burger Tage, Merck und Herder, Spinoza und Winkelmann, die Erd-
freundſchaft des Gelehrten und die Erfahrungen des Staatsmannes,
die Schönheitstrunkenheit der römiſchen Elegien und die reife Lebens-
weisheit des Greiſenalters. Die Deutſchen aber feſſelte der Fauſt noch
durch einen anheimelnden Zauber, den bis zum heutigen Tage kein
Ausländer ganz verſtanden hat. Das Gedicht erſchien wie ein ſym-
boliſches Bild der vaterländiſchen Geſchichte. Wer ſich darein vertiefte
überſah den ganzen weiten Weg, den die Germanen durchmeſſen hatten
ſeit den dunklen Tagen, da ſie noch mit den Göttern des Waldes und
des Feldes in traulicher Gemeinſchaft lebten, bis zu dem lebensfrohen
Volksgetümmel, das aus unſeren alten Städten, „aus dem Druck von
Giebeln und Dächern, aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht“ in’s Freie
drängte. Hier war des deutſchen Lebens Ueberſchwang: der wilde Teufels-
ſpuk unſeres Volksaberglaubens und die zarte Innigkeit deutſcher Frauen-
[319]Cornelius.
liebe, der Humor der Studenten, die Schlagluſt der Soldaten und die
Sonnenflüge des deutſchen Gedankens — faſt Alles was unſer Leben aus-
macht. In keinem ſeiner größeren Werke ſeit dem Götz hatte Goethe ſo
volksthümlich geſchrieben. Die einfachen Reimpaare der alten Faſtnachts-
ſchwänke gaben mit wunderbarer Kraft und Klarheit jeden Farbenwechſel
der Stimmung wieder; dem ſchlichten Leſer ſchien Alles verſtändlich, dem
geiſtvollen unergründlich.


Die jungen Poeten prieſen den Fauſt als die Vollendung der roman-
tiſchen Kunſt; ſie fühlten ſich beſtärkt und ermuthigt in ihrem eigenen
Thun, da nun auch der Fürſt der claſſiſchen Dichtung in die Nebel-
welt der Romantik ſich verlor und die Hexen um den Blocksberg tanzen
ließ. Der alte Herr zeigte freilich bald, wie hoch er über den literariſchen
Parteien des Tages ſtand. Kurz nach dem Fauſt gab er die Wahlver-
wandtſchaften heraus. Man bewunderte den pſychologiſchen Tiefſinn und
den hohen Kunſtverſtand des Meiſters — denn eine ſo vollendete, ſo feſt
geſchloſſene Compoſition war ihm noch nie gelungen — doch man fühlte
auch mit Befremden, daß dieſe Dichtung mit den Empfindungen der Zeit
gar nichts gemein hatte; ſie ſchien geſchrieben für ein Geſchlecht das nicht
mehr war. Was verſchlug es? — der Jugend blieb Goethe der ver-
götterte Dichter des Fauſt, und da auch Schillers Werke erſt jetzt die
volle Würdigung fanden, ſo wurde die gemeinſame Verehrung für die
Heroen von Weimar ein Band der Einheit für alle Gebildeten. Auch
dieſer Cultus kam dem Selbſtgefühle der unglücklichen Nation zu gute.


Selbſt in den bildenden Künſten erwachte endlich wieder fröhliche
Werdeluſt; die Anfänge unſerer neuen Malerei verknüpften ſich unmittel-
bar mit der Wiederentdeckung des deutſchen Alterthums. Wie einſam
war noch Asmus Carſtens geblieben mit ſeinem genialen Drange nach
der Einfalt der Natur und der Großheit der Antike — der Prophet einer
ſchöneren Zeit, die er nicht mehr ſehen ſollte. Jetzt aber fand ſich in
dem Kloſter von San Iſidoro zu Rom eine ganze Schaar deutſcher Maler
zuſammen, ein begeiſtertes, ſtreitbares junges Geſchlecht, das für Dürer,
Memling, van Eyck ſchwärmte und ſich berufen hielt, zu Ehren Gottes
und des deutſchen Vaterlandes die akademiſche Kunſt der Franzoſen durch
die Treue und den Tiefſinn des alten chriſtlich-germaniſchen Weſens zu
beſiegen. Die Katholiken waren unter den jungen Malern von Haus aus
ſtärker vertreten als unter den Dichtern und Gelehrten; ein Katholik war
auch der Größte unter ihnen, Peter Cornelius, nur daß auch er an dem
Borne der norddeutſchen Bildung getrunken hatte und ſein Bekenntniß in
einem weiten und großen Sinne auffaßte. Ein heiliger Ehrgeiz ſchwellte
ihm die Seele und er betete: „ſo ſchufſt Du dies Herz nach himmliſchen
Thaten ſich ſehnend, in der Demuth groß und in unendlicher Liebe zu
Dir.“ Glühend und ſtrenge, nach Düreriſcher Art, ſollte die deutſche
Malerei ſich zeigen, denn nur durch die Deutſchen könne die Kunſt eine
[320]I. 3. Preußens Erhebung.
neue Richtung erhalten, von dieſer Nation aus wolle Gott ein neues
Reich ſeiner Kraft und Herrlichkeit über die Welt verbreiten. Das Reiſe-
geld zur Romfahrt, das ihm der Fürſtprimas Dalberg anbot, wies der
junge Künſtler kurzerhand zurück, weil man ihm zumuthete franzö-
ſiſchen Muſtern zu folgen. Aus der vaterländiſchen Sagenwelt, aus Fauſt
und den Nibelungen entnahm er die Stoffe zu ſeinen erſten größeren
Werken — eine echt deutſche Natur, ernſt, tief und groß, unerſchöpflich
reich an Ideen, aber hart und ungelenk in der Form, faſt mehr ein
Dichter als ein Maler. Auch für ihn galt der Name poeta tacente,
womit man einſt treffend die Eigenart Dürers bezeichnet hatte.


Als Cornelius endlich nach Rom kam, wuchs er bald hinaus über
das einſeitige Nazarenerthum Overbecks und der Kloſterbrüder von San
Iſidoro, die nur in der nordiſchen und der älteren italieniſchen Kunſt
das wahre Chriſtenthum wiederfinden wollten. In ſeinem Geiſte fanden
neben Siegfried und Fauſt auch die Geſtalten der Ilias und der Aeneide
Raum; auch die heidniſche Schönheit der Werke des Cinquecento genoß er
mit tiefem Verſtändniß. So hat er, unerbittlich an ſich ſelber arbeitend und
mit jedem neuen Blatte des Nibelungencyclus wachſend und erſtarkend,
den Grund gelegt für den monumentalen Stil der deutſchen Malerei.
Und wie vormals die claſſiſche Dichtung, ſo entſprang auch dieſe Er-
neuerung unſerer bildenden Kunſt in köſtlicher Freiheit, ohne jedes Zu-
thun der Höfe, gradeswegs aus den Tiefen des Volksgeiſtes. Erſt als
die neue Richtung ſich ihres Weſens und ihrer Ziele ſchon klar bewußt
war, ſollte ſie den Mäcenas finden, der ihr die Mittel bot zu großem
Schaffen. —


Einige Monate lang that Stein ſeinem heißen Zorne Gewalt an.
Er gewann es über ſich, nachgiebig, faſt unterwürfig mit den Franzoſen
zu unterhandeln, da die verſprochene Räumung des Landes um jeden Preis
erlangt werden mußte. Napoleon dagegen wollte den Aufenthalt ſeiner
Truppen ins Unabſehbare verlängern, die zu Tilſit nur halb gelungene
Vernichtung des preußiſchen Staates jetzt im Frieden vollenden. Schon
im November 1807 erklärte er ſich bereit die Donauprovinzen an Ruß-
land zu überlaſſen, wenn er dafür Schleſien erhielte und dem Könige von
Preußen nur noch ein Gebiet von zwei Millionen Köpfen übrig bliebe.
Auf alle Bitten der Preußen hieß es kurzab: die gegenwärtige Lage ge-
fällt dem Kaiſer, nichts drängt ihn ſie zu ändern — und wieder: der
König hat Geld genug, er braucht keine Armee, da er ja mit Niemand
Krieg führt! Daru aber meinte trocken: dieſe Kriegskoſtenrechnung ſei eine
Frage der Politik, nicht der Arithmetik; im Uebrigen bleibe der Wille des
Kaiſers unabänderlich wie das Fatum, auch glaube man gar nicht was
ein Land Alles aushalten könne. Vergeblich ging Prinz Wilhelm nach
[321]Die preußiſche Contribution.
Paris, vergeblich erbot er ſich, ſammt ſeiner edlen Gemahlin als Geiſel
in franzöſiſcher Haft zu bleiben bis zur Abtragung der Kriegsſchuld. Der
Imperator ſagte dem Prinzen drohend: „ich weiß, daß alle Preußen mich
haſſen,“ und ließ ſeine Intendanten hauſen wie in Feindesland. Während
der zwei Jahre der Occupation wurden dem verarmten Lande an Con-
tributionen, Verpflegungen und Lieferungen eine Milliarde und 129 Mil-
lionen Franken abgepreßt, etwa der ſechzehnfache Jahresbetrag der ge-
ſammten Roh-Einnahme des Staats *); die Provinz Preußen allein zahlte
113 Mill. Thaler. Nie und nirgends ward ein geſittetes Volk grauſamer
mißhandelt.


Als die Sieger nach Monaten ſich endlich herbeiließen den Betrag
ihrer Forderungen anzugeben, berechneten ſie einen Reſt von 154½ Mill.
Fr., während die preußiſchen Behörden nachwieſen, daß nach Napoleons
ausdrücklichem Verſprechen die Lieferungen von der Contribution abzu-
rechnen ſeien und demnach nur noch eine Schuld von 19 Mill. Fr. verbleibe.
Was wollte es dieſer ungeheuren Zumuthung gegenüber bedeuten, daß
die Landſtände der Provinzen ſich für einen Theil der Kriegsſchuld ver-
bürgten? Die Forderung blieb unerſchwinglich. Dazu die unabläſſigen
Rüſtungen in Magdeburg, die franzöſiſchen Armeecorps in Schwediſch-
Pommern, in Warſchau, überall in den Landen dieſſeits der Weichſel;
und die wiederholte Verſicherung, der Imperator werde es als ein Zeichen
des Vertrauens betrachten, wenn der König bald aus dem ſicheren Königs-
berg nach Berlin überſiedle! Und endlich noch eine neue unerhörte Gau-
nerei: Napoleon confiscirte, abermals den Tilſiter Verträgen zuwider, die
von den preußiſchen Credit- und Wohlthätigkeitsanſtalten im Großherzog-
thum Warſchau ausgeliehenen Capitalien, desgleichen die Schuldforderungen
der preußiſchen Privatleute, und verkaufte dann ſeinen Raub, da geſtoh-
lenes Gut immer niedrig im Preiſe ſteht, etwas unter dem Nennwerthe
an den König von Sachſen, der für die Gnade dieſes Bayonner Vertrages
ſeinen unterthänigen Dank ausſprach. Das preußiſche Volksvermögen war
wieder um 30 Mill. Thlr. verringert, die Bank allein verlor an 10 Mill.


Unterdeſſen währte der Krieg zwiſchen dem Wolf und dem Fiſch mit
ſteigender Erbitterung fort. Der völkerrechtswidrige Einbruch der Briten
in Dänemark wurde von Napoleon gewandt benutzt um den öffentlichen
Unwillen aufzuregen gegen dieſe Macht, die Alles was den Menſchen heilig
unter die Füße trete. In der That fand das Märchen, daß das neue
Weltreich nur die Freiheit der Meere bezwecke, noch immer manche gläubige
Hörer. Die Cabinette des Oſtens zählten nicht zu ihnen. Keine der drei
Oſtmächte hat ſeit dem Tilſiter Frieden je wieder ein rückhaltloſes Ver-
trauen zu dem Weltherrſcher gefaßt, wie unſtet auch ihre Politik zuweilen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 21
[322]I. 3. Preußens Erhebung.
ſchwankte; die Erkenntniß, daß man dereinſt noch ſelbdritt gegen Frank-
reich werde kämpfen müſſen, machte in der Stille ihren Weg. Die Hof-
burg vernahm mit Beſtürzung von den weitausſehenden orientaliſchen
Plänen, womit der Imperator ſeinen Tilſiter Freund unterhielt. Stadion
wies den Gedanken nicht gradezu von ſich, ob man nicht äußerſten Falls
an der Zerſtörung des osmaniſchen Reichs theilnehmen und den Weſten
der Balkanhalbinſel, bis Saloniki, für Oeſterreich retten könne. Weit
näher lag ihm indeß die Erwägung, daß der Weg von Napoleons adria-
tiſchen Provinzen nach der Türkei durch das öſterreichiſche Iſtrien führte,
und mithin ein neuer Ueberfall zu befürchten ſtand. Der Staat erholte
ſich nachgerade von ſeinen Niederlagen; man rüſtete mit ungewohntem
Eifer, ſchritt im Frühjahr 1808 ſogar zur Bildung einer Landmiliz, und
Stadion meinte hoffnungsvoll: wir ſind wieder eine Nation.


Auch die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz ſtand auf ſchwachen Füßen. So
lebhaft die ruſſiſchen Generale vor Kurzem erſt den preußiſchen Krieg
verwünſcht hatten, ebenſo unwillig empfingen der Hof und das Volk die
Nachricht von dem unehrenhaften Friedensſchluſſe. Der nationale Inſtinkt
fühlte raſch heraus, was die Errichtung des Herzogthums Warſchau für
Rußlands Zukunft bedeutete. Der Haß gegen Frankreich nahm überhand
und ergriff ſelbſt das Heer; man murrte, der Czar laſſe ſich von dem
Corſen mißbrauchen. Alexanders erregbare Natur blieb nicht unempfind-
lich für dieſe Volksſtimmungen. Als er in Tilſit ſeinen Bundesgenoſſen
preisgab, war er keineswegs gemeint geweſen ſich von „der gerechten
Sache“ für immer zurückzuziehen; vielmehr verſicherte er noch jetzt im
vertrauten Kreiſe: müſſe es ſein, ſo denke er den Krieg ſelbſt in den
Wüſten Sibiriens wieder aufzunehmen. Doch zunächſt wollte er die
Früchte des Tilſiter Bündniſſes ernten, ſein Reich durch Finnland und
die Donauprovinzen verſtärken. Ein Meiſter in der Kunſt ſich ſelber zu
belügen fand er der Vorwände genug, die ihm den kläglichen Entſchluß
mundgerecht machten; zudem befürchtete er, ein vorzeitiger Krieg gegen
Frankreich könne die vollſtändige Wiederherſtellung von Polen herbeiführen.
So blieb er denn vorläufig im Fahrwaſſer der franzöſiſchen Allianz und
begann den Krieg gegen Schweden.


Napoleon ließ ihn gern gewähren, und benutzte den Einmarſch der
Ruſſen in Finnland um ſeinerſeits in Portugal einzurücken und dieſen
wichtigen Brückenkopf Englands in ſeine Gewalt zu bringen. Seine Briefe
an Alexander floſſen über von Schmeicheleien und unbeſtimmten Ver-
heißungen: die Welt ſei groß genug für ſie Beide, nichts liege ihm mehr
am Herzen als Rußlands Ruhm, Wohlfahrt und Vergrößerung; wenn
die beiden Freunde vereinigt zum Bosporus vordrängen, ſo werde dieſer
Schlag bis nach Indien widerhallen und England zur Unterwerfung
zwingen. Sobald aber der Czar ſeine Hoffnungen auf den Beſitz der
Donauprovinzen ſchärfer ausſprach, erhob Napoleon Bedenken und for-
[323]Die Erhebung Spaniens.
derte als Gegenleiſtung eine nochmalige Verſtümmelung des preußiſchen
Staates. Alexander konnte ſich nicht verbergen, daß dieſe unheimlichen
Pläne für Rußland ebenſo bedenklich waren wie für Deutſchland. Später
erhielt man in Petersburg auch Nachrichten über die Umtriebe der fran-
zöſiſchen Agenten im Oriente; in Teheran wie in Conſtantinopel ſuchte
Frankreich die Pläne ſeines nordiſchen Verbündeten insgeheim zu durch-
kreuzen. Der Tilſiter Bund war durch dieſelbe Kraft, die ihn begründet,
durch die frivole Ländergier bereits in ſeinen Fugen erſchüttert.


Da wurde der Imperator durch eine ſelbſtverſchuldete Bedrängniß
genöthigt, das wankende Bündniß nochmals zu befeſtigen. Die Welt hatte
ſich längſt darein gefunden, in jedem neuen Monat von neuen Gewalt-
ſtreichen zu vernehmen. So erfuhr ſie jetzt Schlag auf Schlag, daß Oſt-
friesland mit Holland vereinigt worden, daß Toscana dem franzöſiſchen
Kaiſerreiche, die adriatiſchen Provinzen des Kirchenſtaates dem Königreich
Italien einverleibt ſeien, daß Napoleons Truppen in Rom eingerückt, daß
ſie in Portugal eingebrochen waren und das Haus Braganza aufgehört
hatte zu regieren. Aber faſt unglaublich klangen ſelbſt dieſer des Grauens
gewohnten Zeit die entſetzlichen Nachrichten, die im Mai 1808 aus dem
Schloſſe Marrac bei Bayonne kamen: wie Napoleon die ſpaniſchen Bour-
bonen zu ſich gelockt, wie er dann den Vater und den Sohn gleich wüthen-
den Beſtien auf einander gehetzt, Beide zur Abdankung gezwungen und
ſeinen Bruder Joſeph auf den ſpaniſchen Thron erhoben hatte. Er
ſchwelgte in Banditenſtreichen; eben dort brachte er jenes ſchmutzige Han-
delsgeſchäft mit der Krone Sachſen-Warſchau zu Stande. In ſechs Wochen
dachte er der ſpaniſchen Wirren ledig zu ſein und das alte Wort: „es
giebt keine Pyrenäen mehr!“ zur Wahrheit zu machen. Aber die Strafe
folgte dem Frevel auf dem Fuße. Ganz Spanien erhob ſich wie ein
Mann für ſeine Unabhängigkeit, für die Rechte ſeines Königshauſes und
ſeiner alten Kirche. Die Halbinſel ſtarrte von Waffen. Die hochherzige
Nation hatte die beiden jüngſten Jahrhunderte in einem wachen Traum-
leben verbracht, kaum berührt von den Ideen des neuen Europas; ſie
ſtürmte in den ungleichen Kampf mit maßloſem Selbſtgefühl, ohne jede
Ahnung von der Stärke des Feindes, ſie wähnte noch immer das mäch-
tigſte und das höchſtgebildete Volk der Welt zu ſein: wer durfte dem
Reiche, in dem die Sonne nicht unterging, etwas anhaben? Niemand im
Lande glaubte an die Abdankung des Königs Ferdinand. Alle edlen und
alle finſteren Leidenſchaften der Spanier gährten in dem furchtbaren Auf-
ſtande dieſer Royaliſten ohne König wild durcheinander: ihr patriotiſcher
Stolz, ihre Treue, ihr Heldenmuth, aber auch ihr ſtarrer Fremdenhaß,
ihre bigotte Unduldſamkeit, ihre unmenſchliche Grauſamkeit; und zugleich
erwachten in dem unerfahrenen, ſich ſelber überlaſſenen Volke die unklaren
Träume des politiſchen Radicalismus.


Die engliſche Politik erkannte ſchnell, daß ſie jetzt den Feind an einer
21*
[324]I. 3. Preußens Erhebung.
ſchwachen Stelle treffen konnte, nachdem ſie bisher mit allen ihren feſt-
ländiſchen Unternehmungen nur Mißerfolge geerntet. Sie unterſtützte
den Aufſtand durch britiſche und deutſche Regimenter; die tapferen Han-
noveraner der deutſchen Legion durften nun endlich die Schande von
Suhlingen ſühnen. Wellingtons altväteriſch behutſame Kriegführung, die
noch, wie ſein Heer, an den Ueberlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts
feſthielt und auf einem anderen Kriegsſchauplatze der napoleoniſchen Feld-
herrnkunſt ſicher unterlegen wäre, bewährte ſich hier glänzend. Der be-
dächtige Brite wagte ſelten eine Schlacht, niemals eine durchſchlagende
Entſcheidung; immer wieder, nach jedem Kampfe im freien Felde, barg
er ſeine kleine Armee in einer wohlgeſchützten feſten Stellung um erſt
nach Wochen und Monaten wieder plötzlich aus ſeiner Höhle herauszu-
brechen. So gelang ihm was auf dieſer Nebenbühne des Weltkriegs allein
erreicht werden konnte: die Wunde an dem Leibe des Kaiſerreichs immer
offen, eine letzte Kraft des Widerſtands fünf Jahre lang immer aufgeſpart
zu halten; unterdeſſen ſchmolzen die franzöſiſchen Truppen dahin im Be-
lagerungskampfe und in dem aufreibenden kleinen Kriege gegen die
ſpaniſchen Guerillas. Schon das erſte Kriegsjahr brachte der napoleoni-
ſchen Armee zwei in ihren Annalen unerhörte Niederlagen: in Portugal
capitulirte Junot, bei Baylen ſtreckte Dupont mit ſeinem Corps die Waffen.


Durch dieſe ſpaniſchen Nachrichten wurde Oeſterreich zu raſcheren
Rüſtungen ermuthigt; Stein aber ſah jetzt die Erfüllung ſeiner theuerſten
Hoffnungen nahe gerückt und gab ſeine diplomatiſche Zurückhaltung auf.
Es ſtand zu erwarten, daß Napoleon ſich entweder ſogleich auf Oeſterreich
ſtürzen oder die große Armee aus Norddeutſchland abrufen würde um
zunächſt den ſpaniſchen Aufſtand zu bändigen. In beiden Fällen ſchien
dem kühnen Patrioten eine plötzliche Erhebung der deutſchen Mächte möglich.
Seine edle Leidenſchaft erhob ſich zu verwegenen, unmöglichen Flügen:
unter ſchwarzweißgelbem Bundesbanner, mit den Namen der Befreier der
Nation, Herman und Wilhelm von Oranien auf den Fahnen — ſollten
die Truppen ins Feld ziehen. Und dies in einem Augenblicke, da die
alte preußiſche Armee noch in der franzöſiſchen Kriegsgefangenſchaft weilte!
Stein zählte auf die geſunde Kraft der Bauern und des Mittelſtandes;
von „der Weichlichkeit der oberen Stände und dem Miethlingsgeiſte der
öffentlichen Beamten“ hoffte er wenig. Um den Ehrgeiz der Nation zu
entflammen wollte der ahnenſtolze Freiherr ſogar den alten Geburtsadel
abſchaffen und einen neuen Adel bilden aus Allen, die ſich in dieſem
heiligen Kriege hervorthäten. Was Wunder, daß der tapfere Mann ſelbſt
manchem ehrlichen Patrioten in Königsberg wie ein Verzweifelter erſchien,
der ſich mit dem Könige auf eine Pulvertonne ſetzen wollte! Die enge und
harte Despotenſeele des Kaiſers Franz hatte keinen Sinn für ſo über-
ſchwängliche Entwürfe, doch da Napoleons Sprache gegen das Haus Loth-
ringen von Tag zu Tag drohender und gereizter wurde, ſo ließ es die
[325]Kriegspläne von 1808.
Hofburg geſchehen, daß die preußiſche Kriegspartei unter der Hand mit öſter-
reichiſchen Diplomaten in Verbindung trat. In Teplitz fand ſich ein Kreis
öſterreichiſcher und norddeutſcher Patrioten zuſammen; Graf Goetzen in
Schleſien und die hannoverſchen Diplomaten Hardenberg und Ompteda
entfalteten eine emſige geheime Thätigkeit. So gering das augenblickliche
Ergebniß blieb, mit dieſen vertraulichen Verhandlungen des Sommers
1808 begann doch die Wiederverſöhnung der beiden Großmächte. Man
erkannte mindeſtens, daß eine Verſtändigung möglich ſei; die Gedanken
des Bartenſteiner Vertrags gewannen einigen Boden.


Der König ſtand mit ſeinem Herzen auf der Seite des Miniſters,
er nannte die Freunde Steins und Scharnhorſts kurzweg die gute Partei;
auch in ſeinen Augen war der Tilſiter Friede nur ein Waffenſtillſtand.
Doch er verhehlte der Kriegspartei nicht, daß er nur im Bunde mit
Rußland die Waffen wieder aufnehmen werde. Selbſt der Tilſiter Treu-
bruch beirrte ihn nicht in ſeinem Vertrauen zu dem Czaren, denn er
wußte, wie wenig Alexander gemeint war für immer bei dem franzöſiſchen
Bündniß zu verbleiben. Seine alte Anſicht, daß allein noch eine Coalition
des geſammten Europas der napoleoniſchen Uebermacht gewachſen ſei, war
durch die ſchrecklichen Erfahrungen der jüngſten Jahre nur befeſtigt wor-
den. Die ſittliche Größe der nationalen Monarchie, der Weitblick und
das Pflichtgefühl des echten Königthums hat ſich ſelten ſo ſchön bewährt,
wie damals, da Friedrich Wilhelm ſchweigend ertrug, daß ihn die Be-
ſten ſeines Volkes grauſam verkannten. Der Beſcheidene empfand nur
zu lebhaft, wie wenig er ſich mit dem Genie Steins oder Scharnhorſts
vergleichen konnte; gleichwohl beurtheilte er die europäiſche Lage klarer,
richtiger als ſie Alle — weil er der König war, weil er ſich eins fühlte
mit dem Staate, weil das Bewußtſein ſeiner Verantwortlichkeit vor Gott
und Menſchen ihm auf der Haut brannte. Die Stimmungen der Kriegs-
partei hat Heinrich Kleiſt mit der naiven Wahrhaftigkeit des Dichters aus-
geſprochen in den Verſen:


Nicht der Sieg iſts, den der Deutſche fodert,

hilflos wie er ſchon am Abgrund ſteht.

Wenn der Krieg nur fackelgleich entlodert,

werth der Leiche, die zu Grabe geht!

Unwillkürlich wendet ſich die Liebe der Nachwelt jenen Hochherzigen
zu, die alſo dachten, die mit kaum fünf Millionen Menſchen den Kampf
gegen das neue Karolingerreich wagen und, mußte es ſein, ſich unter
den Trümmern des Staates begraben wollten. Gleichwohl war was ſie
riethen eine Politik der Verzweiflung. Wenn der König den leidenſchaft-
lich Erregten immer wiederholte, er werde das Schickſal der ſpaniſchen
Bourbonen nicht über ſich ergehen laſſen, eine kleine politiſche Exiſtenz
ſei immer noch beſſer als gar keine, ſo wollte er damit keineswegs ſagen,
daß er ſich von dem Glanze des Thrones nicht zu trennen vermöge. Nach
[326]I. 3. Preußens Erhebung.
ſeinen anſpruchsloſen Neigungen war er vielmehr ganz einverſtanden mit
der Meinung ſeines Miniſters: die Ruhe des Privatlebens ſei ehrenvoller
als die Bürde dieſer Dornenkrone. Aber er fühlte, daß mit der Ent-
thronung der Hohenzollern, mit der Vernichtung des preußiſchen Staats
die letzte Hoffnung der Deutſchen dahin ſchwand, daß eine vorzeitige
Schilderhebung der ſichere Untergang des Vaterlandes war. Sein Trüb-
ſinn verwand die niederſchlagenden Eindrücke des Jahres 1806 ſo ſchnell
nicht. Er unterſchätzte zuweilen, wie er ſpäterhin ſelbſt geſtand, die Kräfte
des preußiſchen Volkes, würdigte nicht genugſam die mächtige Umſtimmung
der Gemüther, meinte bitter, ihm werde die Sonne des Glücks nie wieder
ſtrahlen. Dafür blieb er aber auch frei von jenen holden Täuſchungen,
denen die feurigen Herzen der Kriegspartei unterlagen. Eine einfache
Natur, wie alle tüchtigen Männer ſeines Hauſes, wollte er nicht glauben,
daß die Nation die uralten Gewöhnungen monarchiſcher Ordnung ſogleich
aufgeben würde. Von einem Aufſtande in den rheinbündiſchen Landen
hoffte er nichts; nur ein geordneter Krieg, von obenher geleitet, ſchien
ihm Rettung zu verheißen, und dies königliche Ich will! dachte er erſt
dann auszuſprechen, wenn er mindeſtens die Möglichkeit eines Sieges
erkannte und im Rücken durch Rußland gedeckt war. Der letzte Ausgang
hat die verſtändigen Erwägungen des Königs gerechtfertigt. Der heißen
Ungeduld der Zeitgenoſſen genügten ſie nicht, und auch die Nachwelt war
lange ungerecht gegen den gewiſſenhaften Fürſten, weil die Hiſtoriker ihr
Urtheil allein aus den vertrauten Briefen der „guten Partei“ ſchöpften
und kalten Blutes Alles wiederholten was einſt in der ſtürmiſchen Wal-
lung edlen Zornes niedergeſchrieben wurde. War doch die Aufregung
jener argen Tage ſo ungeheuer, daß ſelbſt der beſonnene Scharnhorſt
einmal die harte Anklage ausſprach, der König baue nur noch auf Ruß-
land, habe kein Vertrauen mehr zu ſeinem Volke.


Ein unvorſichtiger Schritt Steins durchkreuzte plötzlich die kriegeri-
ſchen Pläne. Ein Brief des Miniſters, der den Fürſten Wittgenſtein
aufforderte die Unzufriedenheit im Königreich Weſtphalen zu ſchüren, fiel
den Spähern Napoleons in die Hände und erſchien am 8. September
1808 im Moniteur. Damit war Steins Fall entſchieden. Der Impe-
rator verlangte ſofort die Entlaſſung des Verſchwörers — ſonſt werde
Friedrich Wilhelm ſein Schloß an der Spree nie wieder ſehen — und
benutzte zugleich den unglücklichen Brief um die preußiſchen Unterhändler,
die in Paris die Räumung des Landes durchſetzen ſollten, einzuſchüchtern
und ſeinem Machtgebote zu unterwerfen. Sein Plan war gefaßt: er wollte
zunächſt das ruſſiſche Bündniß von Neuem befeſtigen, damit er in Sicher-
heit die große Armee aus Deutſchland zurückziehen und gegen Spanien
verwenden könne. Darum zeigte er ſich jetzt bereit auf Alexanders orien-
taliſche Pläne einzugehen, verſicherte dem Czaren, die beabſichtigte Räu-
mung Deutſchlands ſei nur ein der ruſſiſchen Freundſchaft gebrachtes
[327]Erfurter Zuſammenkunft.
Opfer, und lud ihn zu einer feierlichen Zuſammenkunft ein: das furcht-
bare Bündniß der beiden Beherrſcher des Abendlandes und des Morgen-
landes ſollte in ſeiner ganzen Pracht und Größe vor den erſchreckten
Welttheil treten. In der That nahm Alexander die Einladung an; die
Hofburg aber wurde durch die kühne diplomatiſche Schwenkung des Im-
perators dermaßen eingeſchüchtert, daß ſie ihre Armee wieder auf Frie-
densfuß zu ſetzen verſprach, wenngleich die Rüſtungen in der Stille weiter
gingen.


Preußen ſtand wieder völlig vereinſamt, aller Mittel zum Wider-
ſtande beraubt. Am 8. September unterzeichnete Prinz Wilhelm die
drückenden Bedingungen des Pariſer Vertrags. Die rückſtändige Con-
tribution wurde auf 140 Mill. feſtgeſetzt, die franzöſiſche Armee zurückge-
rufen; der König ſollte endlich ſeine Staatseinkünfte wieder erhalten, doch
dafür mußte er bis zur Abtragung der Kriegsſchuld die Oderfeſtungen
Stettin, Cüſtrin und Glogau den Franzoſen einräumen und ſich ver-
pflichten, weder ſeine Armee über 42,000 Mann hinaus zu verſtärken
noch eine Landwehr zu bilden. Napoleon gewann alſo zu den feſten
Plätzen der Elbe und der Weichſel auch noch den Beſitz der Oderlinie,
dazu ſieben Etappenſtraßen quer durch das preußiſche Gebiet, dergeſtalt
daß ſeinen Polen und Rheinbündnern und den 70,000 Franzoſen, die er
zwiſchen Elbe und Rhein noch zurückhielt, jederzeit der Eintritt offen ſtand.
Er beherrſchte Preußen militäriſch ſo vollkommen wie bisher — auf un-
beſtimmte Zeit hinaus, da die pünktliche Abzahlung der unerſchwinglichen
Schuld ganz außer Frage ſtand; er unterbrach die Rüſtungen des ver-
dächtigen Bundesgenoſſen und gewann zudem die freie Verfügung über
ſeine große Armee ſowie das Verſprechen preußiſcher Hilfstruppen für den
Fall eines Krieges mit Oeſterreich!


Der König ſchwankte lange, ob er dieſe neue Mißhandlung hin-
nehmen dürfe. Er verlangte Herabſetzung der Contribution, wollte
weder die Oderfeſtungen preisgeben noch die Stärke ſeiner Armee ſich
vorſchreiben laſſen und am allerwenigſten ſich von ſeinem Miniſter tren-
nen. Noch blieb ihm eine letzte Hoffnung: die Vermittlung Rußlands.
Alexander aber hatte jetzt nur noch Augen für die Erwerbung der Moldau
und Walachei; erſt wenn dies Ziel ſeines Ehrgeizes erreicht war durfte
man ihm wieder von der Befreiung Europas ſprechen. Darum hielt er
feſt an dem franzöſiſchen Bündniß und blieb, als er auf der Durchreiſe
zu Napoleon den Königsberger Hof beſuchte, den Mahnungen ſeines preußi-
ſchen Freundes völlig unzugänglich: wohl oder übel müſſe man ſich mit
Frankreich vertragen, er wolle zuſehen, ob er von dem Imperator eine
Milderung des Pariſer Vertrages erlangen könne.


Im October 1808 trafen die beiden Kaiſer in Erfurt zuſammen.
Zum zweiten male, wie vier Jahre zuvor in Mainz, hielt der Protector
Deutſchlands einen glänzenden Hoftag unter ſeinen deutſchen Vaſallen.
[328]I. 3. Preußens Erhebung.
Talma ſpielte vor einem Parterre von Königen; in jeder Miene des Im-
perators, in jeder Förmlichkeit des Hofceremoniells verrieth ſich die Ver-
achtung des gekrönten Plebejers gegen ſeine hochgeborenen Bedienten.
Taisez-vous! Ce n’est qu’un roi! rief der Offizier der Leibwache ſeinem
Trommler zu, als dieſer vor einem Könige von Napoleons Gnaden das
Spiel rühren wollte. Die Anweſenheit der deutſchen Könige ſollte lediglich
dem Czaren die Macht ſeines Verbündeten greifbar vor die Augen ſtellen;
von den Verhandlungen blieb das Dienergefolge ausgeſchloſſen. In einem
geheimen Vertrage verpflichtete ſich Napoleon, der Eroberung von Finn-
land und den Donaufürſtenthümern nichts in den Weg zu legen, dafür
wurde Joſeph Bonaparte von Rußland als König von Spanien anerkannt.
Ein gemeinſamer Brief der beiden Kaiſer forderte den König von England
auf, ſeinerſeits dieſen Abmachungen beizutreten; wo nicht, ſo würden ſie
den Krieg mit ganzer Kraft weiter führen. Für Preußen erreichte der
Czar nur die Herabſetzung der Contribution um 20 Mill.; doch ſelbſt
dies einzige Zugeſtändniß mußte durch eine nochmalige ſchnöde Verletzung
des Tilſiter Friedens erkauft werden. In Tilſit war dem Könige ein
Gebiet von 400,000 Einwohnern zur Entſchädigung verſprochen, falls
Napoleon ſich das hannoverſche Land aneigne; dieſe Zuſage wurde jetzt
mit Alexanders Zuſtimmung zurückgenommen.


Napoleon ſchied befriedigt, er konnte jetzt unbedenklich an die Bändi-
gung des ſpaniſchen Aufſtandes gehen. Für die Ruhe in Deutſchland
ſorgten der ruſſiſche Freund und die wohlgerüſteten Rheinbundſtaaten.
Zum Abſchied erließ der Imperator noch ein drohendes Schreiben an
Kaiſer Franz: daß er ſich nicht unterſtehe Widerſetzlichkeit zu zeigen; „was
Eure Majeſtät ſind, das ſind Sie durch meinen Willen!“ Der Czar da-
gegen war tief verſtimmt und beunruhigt. Er hatte den pöbelhaften
Uebermuth des Glückberauſchten aus der Nähe beobachtet, er hatte mit
anſehen müſſen, wie Napoleon den Prinzen Wilhelm von Preußen zu
einer Haſenjagd auf dem Jenaer Schlachtfelde einlud und in Gegen-
wart ſeines ruſſiſchen Freundes die Soldaten, die ſich im Kriege gegen
Rußland hervorgethan, mit dem Kreuze der Ehrenlegion ſchmückte. Alexan-
der begann zu zweifeln, ob es denn nicht lächerlich ſei, mit dieſem Manne
irgend etwas, und nun gar die Weltherrſchaft theilen zu wollen; er fand
keine Antwort, wenn ihm der wackere preußiſche Geſandte Schladen vor-
ſtellte, die Beſetzung der Oderlinie ſolle doch offenbar einen Krieg gegen
Rußland vorbereiten. Sein Mißtrauen wuchs und wuchs. Doch erſt
mußten ſeine Adler in Bukareſt und Jaſſy Wache halten; bis dahin ſollte
das widerwärtige Bündniß noch aufrecht bleiben.


Dem Königsberger Hofe blieb jetzt keine Wahl mehr. Noch im Octo-
ber fragte Graf Goetzen vertraulich in Wien an, ob Oeſterreich ſogleich
die Waffen ergreifen wolle; es ſei die höchſte Zeit, daß Preußen ſich er-
kläre. Scharnhorſt und ſeine Freunde wünſchten eine Berufung der Land-
[329]Steins Fall.
ſtände, damit man noch einige Friſt gewinne. Aber die Hofburg verſagte
ſich, und was ſollte ein Aufſchub frommen, da die Franzoſen noch im
Lande ſtanden und jede feindſelige Regung ſofort niederwerfen konnten?
Der König that das Nothwendige, als er endlich ſchweren Herzens den
Vertrag genehmigte. Der zögernde, behutſame Abmarſch der franzöſiſchen
Truppen zeigte von Neuem, weſſen ſich Napoleon von dem verhaßten
Preußen verſah; ſeine Kriegsgefangenen gab er erſt zu Anfang 1809 frei.
Nun war auch Stein nicht mehr zu halten; am 24. November nahm er
ſeine Entlaſſung. Die kleine franzöſiſche Partei am Hofe, der ängſtliche
alte Köckeritz und die Hochconſervativen athmeten auf als der kühne Re-
former ſchied; doch nicht dieſen innern Feinden war er erlegen, ſondern
allein dem Machtworte Napoleons. Friedrich Wilhelm hatte das Aeußerſte
gewagt, als er den Miniſter noch ein Vierteljahr lang gegen die Drohungen
des Imperators beſchützte. Stein ſelber warf ſich ſpäterhin vor, daß er
nicht ſchon früher ſeinen unhaltbaren Poſten verlaſſen habe, und Harden-
berg ſchrieb bitter: welche Verblendung, daß ein Mann von Geiſt glau-
ben konnte, dieſer abſcheuliche Brief würde ihm je verziehen werden! *)


In einem von Schoen entworfenen Abſchiedsſchreiben erinnerte der
Entlaſſene ſeine Beamten noch einmal an alle die gewaltigen Neuerungen
dieſes reichen Jahres — „der unerſchütterliche Pfeiler jedes Thrones,
der Wille freier Menſchen iſt gegründet“ — und bezeichnete ſodann in
großen Zügen was Noth thue: vor Allem die Aufhebung der gutsherr-
lichen Gewalt und die Einführung der Reichsſtände — „jeder active
Staatsbürger habe ein Recht zur Repräſentation.“ Stein unterzeichnete
ungern, er liebte weder die großen Worte noch die unbeſtimmten Allge-
meinheiten. Doch gerade die doktrinäre Faſſung dieſes Aktenſtücks gefiel
nachher einem Zeitalter der liberalen Syſtemſucht; während die Welt die
eigenſten Ideen des großen Reformers, die Gedanken der Selbſtverwal-
tung, geringſchätzte und faſt vergaß, blieb dies ſein ſogenanntes politiſches
Teſtament hoch in Ehren als das Programm der conſtitutionellen Par-
teien. Der Scheidende nahm mit ſich den Dank ſeines Königs, daß er
„den erſten Grund, die erſten Impulſe zu einer erneuerten, beſſeren und
kräftigeren Organiſation des in Trümmern liegenden Staatsgebäudes ge-
legt habe“; er vertraute, die Hebung der niederen Klaſſen und die neuen
freieren Ideen würden bleiben und ſich entwickeln.


Steins Fall war ein ſchlechthin unerſetzlicher Verluſt für Preußens
inneres Leben, noch Jahrzehnte lang hat der Staat die Folgen dieſes
Schlages empfunden. Und doch lag eine tragiſche Nothwendigkeit in dem
tückiſchen Zufall, der jenen verhängnißvollen Brief in Napoleons Hände
ſpielte. Es war unter allen Heimſuchungen, womit Preußen vergangene
Sünden büßte, vielleicht die ſchwerſte, daß die Monarchie einen Staats-
[330]I. 3. Preußens Erhebung.
mann von ſo rückhaltloſem Freimuth jetzt nicht mehr zu ertragen ver-
mochte. Dieſer vulkaniſche Geiſt konnte ſeine vaterländiſchen Hoffnungen
nicht auf die Dauer ſchweigſam in ſich verſchließen — das war ſein
Charakter und alſo ſein Schickſal; er konnte das verdeckte diplomatiſche
Spiel, deſſen der Staat bedurfte, nicht mit behutſamer Liſt durchführen
und mußte früher oder ſpäter dem lauernden Gegner erliegen. Der
Sturz des Miniſters genügte der Rachſucht Napoleons noch nicht. Am
16. December wurde durch ein kaiſerliches Decret aus Madrid le nommé
Stein
als ein Feind Frankreichs und des Rheinbundes geächtet und ſeine
Güter eingezogen. „Sie gehören nun der Geſchichte an,“ rief Gneiſenau
dem Verbannten zu. Die Nation wußte jetzt, wen unter den Deutſchen
der Imperator am bitterſten haßte. Stein ertrug den Verluſt mit ge-
laſſener Hoheit; ich habe, meinte er nachher gleichmüthig, mehrmals im
Leben mein Gepäck verloren. Als er einſam in der Winternacht durch
das Rieſengebirge fuhr, den ſchützenden Grenzen Oeſterreichs entgegen,
da erhob er ſich die Seele an den Troſtworten der Schleiermacher’ſchen
Predigt: was der Menſch zu fürchten habe? Unwandelbar feſt ſtand
ihm der fromme Glaube, daß Gott dieſe Herrſchaft der Gewalt und der
Lüge nicht dulden könne.


In Oeſterreich aber wußte man mit einer ſolchen Kraft nichts an-
zufangen. Kaiſer Franz glaubte der franzöſiſchen Polizei willig alle die
finſteren Märchen von den Umſturzplänen der Tugendbündler, ließ den
gefährlichen Jacobiner insgeheim überwachen. Nur dann und wann durfte
Stein den kaiſerlichen Staatsmännern einen Rath ertheilen. In Troppau
verkehrte er viel mit Pozzo di Borgo: der perſönliche Feind des Hauſes
Bonaparte, den die Rachgier corſiſcher Vendetta ruhelos von Land zu
Lande peitſchte, und der erſte Mann der deutſchen Nation fanden ſich
zuſammen in gemeinſamem Haſſe. Drei Jahre lang blieb der Geächtete
ohne politiſchen Einfluß. Es war die Zeit, da Gneiſenau die entſetzlichen
Worte ſchrieb: „wir dürfen es uns nicht verhehlen, die Nation iſt ſo
ſchlecht wie ihr Regiment.“ Auch Stein unterlag während dieſer Jahre
des Harrens zuweilen der Verbitterung des Emigranten; er verlebte Augen-
blicke da er an dem unverbeſſerlichen Phlegma der nördlichen Deutſchen
verzweifelte und troſtlos ſchrieb: möge denn Preußen untergehen! So feſt
wie ſein König oder Hardenberg war dieſer Reichsritter doch nicht mit
dem Staate Friedrichs verwachſen, zur Noth konnte er ſich ſein verjüngtes
Deutſchland auch ohne Preußen denken. Jetzt ſah er in Europa nur noch
zwei große Heerlager: dort das Weltreich, hier die Freiheit der Völker;
mochten alle Theilfürſten und ſelbſt die Hohenzollern verſinken, wer immer
den Deutſchen die Befreiung brachte der ſollte des Reiches Krone tragen.
Erſt das Frühjahr 1813 hat den heißblütigen Franken wieder ausgeſöhnt
mit dem norddeutſchen Volke und ihn für immer der preußiſchen Sache
gewonnen. —


[331]Miniſterium Altenſtein-Dohna.

Alsbald nach Steins Abgang gerieth ſein Reformwerk ins Stocken.
Alle die bedeutenden Talente, die unter ihm gearbeitet, vermochten nichts
mehr ſeit ſein belebender mächtiger Wille fehlte. Der Staat bedurfte, ſo
lange die neue Organiſation nicht vollendet war, eines leitenden Staats-
mannes, dem die Miniſter ſich unterordneten. Da indeß Hardenberg
durch Napoleons Mißgunſt den Geſchäften noch immer fern gehalten
wurde und Niemand ſonſt den Ausſcheidenden erſetzen konnte, ſo behalf
man ſich mit einer collegialiſchen Miniſterregierung. Der neue Miniſter
des Innern, Graf Alexander Dohna war ein feingebildeter ehrenhafter
Patriot — wie alle Söhne jenes alten proteſtantiſchen Heldengeſchlechts,
von dem das oſtpreußiſche Sprichwort ſagte: gut wie ein Dohna — doch
weder ein ideenreicher Kopf noch ein Mann des durchgreifenden Entſchluſſes.
Der König verhehlte ſich nicht, daß die neue Organiſation nicht mehr auf
halbem Wege ſtehen bleiben durfte; er überwand jetzt ſogar ſeine Abnei-
gung gegen das Repräſentativſyſtem, befahl dem Miniſter des Innern,
die Neugeſtaltung der ſtändiſchen Verfaſſung ſowie der ländlichen Polizei-
verwaltung ſchleunig in Angriff zu nehmen.*) Sein geſunder Verſtand
erkannte, daß die Polizeigewalt der Gutsherrſchaften das feſte Bollwerk
der alten ſtändiſchen Vorrechte bildete.


Kaum wurden dieſe Abſichten des Monarchen ruchbar, ſo erhob ſich
wieder die Oppoſition der Landtage, und ſie trat jetzt dreiſter auf als
unter Steins kraftvollem Regimente. Die Stände der Kurmark verlang-
ten trotzig, daß man ſie zu der Berathung des Verfaſſungsentwurfes zu-
ziehe.**) Die pommerſche Ritterſchaft proteſtirte auf ihrem Stargarder
Landtage feierlich gegen jede Abänderung der alten Landſchafts-Verfaſſung,
desgleichen gegen den Plan einer allgemeinen Einkommenſteuer, während
die Städte des Landes umgekehrt den König beſchworen, bei ſeinen Plänen
auszuharren, denn nur die Aufhebung der Privilegien könne die heute
durch Mißmuth niedergeſchlagene thätige Vaterlandsliebe wieder erwecken.***)
Die geſammte feudale Welt gerieth in Unruhe. Der neue brandenbur-
giſche Oberpräſident Sack und die Mitglieder der Potsdamer Regierung,
Vincke, Maaſſen, Beuth, Baſſewitz, durchweg eifrige Anhänger der Re-
formpartei, lebten in beſtändiger Fehde mit den Ständen der Kurmark.
Alle dieſe trefflichen Männer, die ſich nachher ſämmtlich einen ehrenvollen
Platz in Preußens Annalen erworben haben, bezichtigte Marwitz der
revolutionären Geſinnung. Vornehmlich Sack galt bei den Landſtänden
als der Ausbund bureaukratiſchen Jacobinerthums. Und in der That
ſtand die altväteriſche Schulden- und Steuerverwaltung, welche den Land-
tagen noch verblieben war, ſchlechterdings nicht mehr im Einklang mit
[332]I. 3. Preußens Erhebung.
der neuen ſtrafferen Organiſation der Behörden; die Potsdamer Regie-
rung beantragte mit vollem Rechte eine gründliche Umgeſtaltung der Pro-
vinziallandtage und vor Allem „Ausſchließung der Stände von aller Ad-
miniſtration“.*) Der alte Kampf zwiſchen der monarchiſchen Staatseinheit
und dem altſtändiſchen Particularismus entbrannte von Neuem, und
Graf Dohna fühlte ſich durch das leidenſchaftliche Treiben der Privilegirten
ſo entmuthigt, daß er am Ende ſeiner Miniſterlaufbahn rundweg aus-
ſprach: eine Reichsſtändeverſammlung in ſolcher Lage wäre das Verderben
des königlichen Hauſes. In keinem Lande Europas, ſchloß er bitter, ſeien
Sinn und Bildung für höhere Staatsangelegenheiten, überhaupt alle
einem tüchtigen Repräſentanten nöthigen Eigenſchaften ſo unerhört ſelten
wie in Preußen; dagegen fänden ſich auch in keinem anderen Lande ſo
viele vortreffliche Kräfte für das Detail der Geſchäfte.**)


Allerdings war die Zeit für die Einführung conſtitutioneller Staats-
formen noch nicht gekommen. Ein preußiſcher Reichstag, jetzt berufen, drohte
Steins ganzes Werk wieder in Frage zu ſtellen, zumal da der Freiherr
ſelber nicht mehr mit der Wucht ſeiner Perſönlichkeit für die Reform ein-
treten konnte. Unvermeidlich mußten in einer ſolchen Ständeverſammlung
die unzufriedenen Großgrundbeſitzer den Ausſchlag geben, und auch das
Bürgerthum bot den reformatoriſchen Abſichten des Königs keinen ſichern
Rückhalt. Die Zünftler in den Städten fühlten ſchnell heraus, daß die
Krone der Einführung der Gewerbefreiheit zuſteuerte, und hielten um ſo
zäher ihre alten Vorrechte feſt; wiederholt mußte die kurmärkiſche Regierung
gegen die Magiſtrate von Berlin und Potsdam einſchreiten, wenn dieſe die
halb vergeſſenen alten Strafmandate gegen Pfuſcher und Auswärtige wieder
anzuwenden verſuchten. Aber der neue Miniſter verſtand auch nicht einmal
jenen Sinn für das Detail der Geſchäfte zu benutzen, den er ſelber ſeinen
Landsleuten nachrühmte. Vinckes Entwürfe für eine neue Landgemeinde-
ordnung blieben unbenutzt und für die Beſeitigung der gutsherrlichen
Polizei geſchah gar nichts. Auch der Juſtizminiſter Beyme, der neuerdings
ganz im Sinne der Reformpartei zu reden pflegte, brachte nichts weiter
zu Stande, als daß er den alten Unterſchied der adlichen und der ge-
lehrten Bank in den oberſten Gerichtshöfen endlich aufhob; an die Patri-
monialgerichte wagte er ſich nicht heran, trotz der Mahnungen des Königs.


Und wie konnte vollends der ängſtliche, ſtillfleißige Gelehrte Altenſtein
Ordnung bringen in das Chaos der Finanzen? Er ſollte außer den ordent-
lichen Staatsausgaben monatlich 4 Mill. Fr. von der Contribution ab-
zahlen, dazu die Schulden der letzten zwei Jahre, deren Höhe man noch
gar nicht recht überſah, verzinſen, endlich Napoleons Truppen in den
Oderfeſtungen verſorgen. Und der unverſöhnliche Feind fand der Miß-
[333]Verhandlungen über die allgemeine Wehrpflicht.
handlungen noch immer kein Ende: die Garniſonen in den Oderplätzen
waren weit ſtärker als im Vertrage ausbedungen worden und erzwangen
auf Befehl des Imperators eine Reihe völlig widerrechtlicher Leiſtungen
und Lieferungen, ſo daß dem Lande in den drei Jahren nach dem Abzuge
der großen Armee noch 10¾ Mill. Fr. vertragswidrig abgepreßt wurden.*)
Die Monarchie konnte, wie einſt Frankreich vor dem Ausbruche der Re-
volution, dem Bankrott nur entgehen, wenn eine radicale Umgeſtaltung
des geſammten Finanzweſens die Steuerkraft der höheren Stände zu den
Staatslaſten heranzog. Altenſtein aber befürchtete, daß neue Steuern
das verarmte Volk erdrücken würden. Er ſuchte zu helfen durch einige
Domänen-Verkäufe, durch eine freiwillige Zwangsanleihe, durch einen
hohen Stempel auf Juwelen, Gold- und Silbergeräthe. Alles umſonſt;
und ſo oft man im Auslande ein Anlehen abzuſchließen dachte, wurden
die Verſuche der preußiſchen Agenten durch die Diplomatie Napoleons
durchkreuzt. Der Finanzminiſter erklärte endlich verzweifelnd im Namen
ſeiner Amtsgenoſſen, ſo lange dieſe Bedrängniß des Staatshaushaltes
währe ſei an innere Reformen nicht zu denken. Die Regierung gerieth
allmählich wieder in denſelben Zuſtand wohlwollender Unthätigkeit, wie
vor der Jenaer Schlacht; und der Stillſtand war jetzt um Vieles gefähr-
licher, zumal da neuerdings eine verhängnißvolle Unſitte einriß, die nach-
her unter Hardenbergs Regimente noch zunahm. Während früherhin der
Geſetzgeber, wie ſeines Amtes iſt, einfach befohlen hatte, wurde es in den
neuen Geſetzen üblich, allerhand Reformen für die Zukunft in Ausſicht
zu ſtellen, Verſprechen zu geben, deren Tragweite Niemand überſah; um
ſo ſchlimmer nachher die Enttäuſchung, wenn man die Verheißungen
nicht halten konnte.


Nur in zwei Zweigen der Verwaltung blieb der große Sinn der
Stein’ſchen Tage noch lebendig: in der Armee und im Unterrichtsweſen.
Die Wiederherſtellung des Heeres ſchritt unter Scharnhorſts Leitung rüſtig
fort, und das Miniſterium ließ den unermüdlichen Organiſator gewähren.
Als er aber endlich mit ſeinen letzten und liebſten Gedanken heraustrat
und im Februar 1810 ein Conſcriptions-Geſetz vorlegte, das jeden vom
Looſe Getroffenen ohne Unterſchied zum perſönlichen Dienſte verpflichtete,
da entſpann ſich im Schooße der Regierung ein denkwürdiger Streit um
die Grundgedanken der modernen deutſchen Heeresverfaſſung. Dort der
alte ehrenwerthe Eifer des Civilbeamtenthums für die Schonung der volks-
wirthſchaftlichen Kräfte; hier ein großherziger politiſcher Idealismus, der die
ſittliche Bedeutung des Heerweſens höher anſchlug als nationalökonomiſche
Bedenken. Der Finanzminiſter fürchtete, die Einführung der allgemeinen
[334]I. 3. Preußens Erhebung.
Wehrpflicht werde eine maſſenhafte Auswanderung veranlaſſen, und wollte
nicht begreifen, was der Eintritt gebildeter junger Männer in die Reihen
der Mannſchaft nützen ſolle, da doch die kräftigen Leute aus den niederen
Klaſſen die beſten Soldaten abgäben. Die Offiziere hingegen, Scharn-
horſt, Boyen, Hake, Rauch, beriefen ſich auf den im Allgemeinen Land-
recht anerkannten Grundſatz der Gleichheit vor dem Geſetze; ſie fanden
es ungerecht, daß der Unbemittelte zugleich Steuern zahlen und doch
allein die Laſt des Waffendienſtes tragen ſolle; ſie erinnerten an die Ar-
muth jener beiden Klaſſen, welche für den preußiſchen Staat das Größte
leiſteten, des Adels und des Beamtenthums; ja ſie wagten zu behaupten
was damals noch als eine Ketzerei erſchien: die gebildete Jugend ſtelle
die brauchbarſten Soldaten, denn ſie bringe eine ſittliche Kraft, das Princip
der Ehre, in das Heer, während die ärmeren Klaſſen nur ſelten eine
dauernde Anhänglichkeit an das Vaterland haben könnten. In Frankreich,
erklärte Scharnhorſt, habe die Stellvertretung einen unſittlichen Seelen-
handel hervorgerufen; bei dem mannhaften Römervolke dagegen ſei der
Waffendienſt ein Ehrenrecht der höheren Stände geweſen. Weder das
Miniſterium Dohna-Altenſtein noch ſpäterhin Hardenberg vermochte ſich
zu dieſer ethiſchen Auffaſſung des Kriegsweſens, welche Steins vollen
Beifall fand, zu erheben, und überdies war die Einſtellung aller Wehr-
fähigen unmöglich ſo lange der Staat nur 42,000 Mann Truppen halten
durfte. Der große Plan blieb liegen bis zu der guten Stunde, da der
Krieg erklärt und die Feſſeln des September-Vertrags geſprengt wurden.


Unterdeſſen war Wilhelm von Humboldt an die Spitze des Unter-
richtsweſens getreten, jener perikleiſche Staatsmann, der zuerſt mit voller
Klarheit erkannte, Preußens Beruf ſei „durch wahre Aufklärung und
höhere Geiſtesbildung“ den erſten Rang in Deutſchland zu behaupten.
Keiner hatte ſo wie er in den Ideen und Geſtalten der claſſiſchen Dich-
tung geſchwelgt und den Becher der Schönheit ſo bis zur Hefe geleert.
Keiner unter allen Nordländern ſtand den Univerſalgenies des Cinque-
cento ſo nahe, wie dieſer allſeitige Geiſt, der, heimiſch in allen Freuden
der Sinnlichkeit und auf allen Gebieten des Denkens, zugänglich jedem
Eindruck und doch immer geſammelt und ganz bei ſich ſelber, „das wahr-
haft ſchöne, von Kälte und Schwärmerei gleich ferne Daſein“ des ganzen
Menſchen führte. Das Idealbild der freien Perſönlichkeit ward Fleiſch
und Blut in dieſem Ariſtokraten des Geiſtes. Sich ſelber auszuleben, die
reiche Fülle ſeiner Gaben in einem ſchönen Wechſel von Genuß und That
harmoniſch zu entfalten, in gelaſſener Sicherheit erhaben über allem
äußeren Zufall, das Leben ſelbſt zu einem Kunſtwerke zu geſtalten — das
war ihm die höchſte Weisheit:


nicht Schmerz iſt Unglück, Glück nicht immer Freude:

wer ſein Geſchick erfüllt, dem lächeln beide.

[335]W. v. Humboldt.

Niemals wollte er ſich trennen von dem Glauben, daß Schauen und
Erkennen, Bilden und Dichten den eigentlichen Inhalt der Menſchenge-
ſchichte bilde, daß in dieſem Scheine des Zeitlichen nur die Idee lebe,
nur „des Geiſtes Sein, das unverſtanden gefangen gehet in der Menſch-
heit Banden“. Ganz unbefangen, ohne jede Abſicht der Ueberhebung
ſchrieb er an Schiller, als Bonapartes Geſtirn ſoeben aufging: „Der
Maßſtab der Dinge in mir bleibt feſt und unerſchütterlich; das Höchſte
in der Welt bleiben und ſind die Ideen. Hätte ich einen Wirkungskreis
wie den, der jetzt eigentlich Europa beherrſcht, ſo würde ich ihn doch immer
nur als etwas jenem Höheren Untergeordnetes anſehen.“ Noch im Alter,
nach einer langen und reichen ſtaatsmänniſchen Thätigkeit, ſagte er ein-
mal zu Gottfried Herrmann, als er mit dem philologiſchen Freunde das
Leipziger Schlachtfeld durchwanderte: „ja ſehen Sie, Liebſter! Reiche gehen
zu Grunde, wie wir hier ſehen, aber ein guter Vers beſteht ewig.“*)
Ein großer Schriftſteller konnte und wollte er nicht werden. Die Kräfte
ſeines Geiſtes hielten einander ſo vollkommen das Gleichgewicht, daß keine
einzige als die beherrſchende heraustrat; darum fehlte ſeinem Stile, wie
Schiller beklagte, die Kunſt der Maſſen, die nothwendige Kühnheit des
Ausdrucks.


In jungen Jahren ſchon trat er mit den Dioskuren von Weimar
und mit F. A. Wolf in vertrauten Verkehr, von Allen ſogleich als ein
Ebenbürtiger begrüßt, und lebte ſich ein in das Schaffen der beiden Dichter.
Sein feinſinniges Verſtändniß drang bis in die verborgenen Falten ihres
Seelenlebens und ergründete, was noch kein Kritiker vermocht, das große
Räthſel des künſtleriſchen Genies, die geheimnißvolle Verbindung von
weiblicher Empfänglichkeit und ſchöpferiſcher Manneskraft. Dieſelbe Ge-
nialität des Verſtehens und Urtheilens machte ihn nachher zum Liebling
des römiſchen Volks, da er jahrelang als preußiſcher Geſandter, ein
Hellene unter Römern lebte und auf den Bergen von Albano den Aeſchy-
lus und Pindar überſetzte. Nach und nach ward er ſich auch der pro-
ductiven Kräfte ſeines Geiſtes bewußt und begann mit ſeinen baskiſchen
Forſchungen jene Studien der Sprachvergleichung, die ihm dienen ſollten
„das Höchſte und Tiefſte und die Mannichfaltigkeit der ganzen Welt zu
durchfahren“, den Schlüſſel zu finden zu dem Gemüthsleben der Völker.


Mit dieſem kühnen Idealismus verband Humboldt jedoch von früh
auf ein ſicheres Verſtändniß für die harten Thatſachen des hiſtoriſchen
Lebens. Die franzöſiſche Revolution widerte ihn an, weil er es für einen
Frevel hielt den Staat allein aus der Vernunft heraus aufzubauen; die
Friedensſeligkeit der Epoche bethörte ihn nicht, denn der Krieg ſei eines
der heilſamſten Mittel zur Erziehung des Menſchengeſchlechts. Dem Hiſto-
riker ſtellte er die Aufgabe, daß er ſich immer durch Ideen regieren laſſe
[336]I. 3. Preußens Erhebung.
und doch nicht in das Gebiet bloßer Ideen hinüberſchweife. Mitten in
der äſthetiſchen Schwelgerei ſeiner römiſchen Jahre packte ihn oft die
Sehnſucht nach den herzerhebenden Klängen der Mutterſprache; er liebte
das deutſche Volk als den gottbegnadeten Träger der neuen europäiſchen
Cultur und weiſſagte ihm eine vergeltende Zeit, „wo es dem Folgege-
ſchlecht zeichnet die leuchtende Bahn.“ So war es denn eine innere
Nothwendigkeit, daß auch ihn endlich die mächtige politiſche Strömung
jener Tage berührte. Das Pflichtgefühl des Patrioten und der Drang nach
allſeitiger Bethätigung ſeiner Kräfte bewogen ihn dem Staate zu dienen,
der ihm einſt nur als der läſtige Vormund der freien Geſelligkeit erſchie-
nen war.


Seine Natur war nicht für alle Aufgaben des praktiſchen Staats-
mannes geſchaffen. Ein tiefer politiſcher Denker wie Hugo Grotius,
wurde Humboldt wie dieſer im diplomatiſchen Kampfe von vielen kleineren
Köpfen übertroffen, weil ihm der grobe Ehrgeiz des Mannes der That und
die Freude an den tauſend nothwendigen Nichtigkeiten des Geſandtenberufes
fehlte. Er war zu groß für einen Diplomaten. Wo die Politik in die
Welt der Ideale hineinragte, da zeigte ſich die lautere Hoheit ſeines
Sinnes, die Thatkraft ſeines Humanismus. Von ganz anderen Aus-
gangspunkten her gelangte er zu derſelben Anſicht von der Selbſtverwal-
tung wie Stein; er verehrte den Schöpfer der Städteordnung, weil er
in der freien Bewegung der Gemeinden die Schule ſah zur Erziehung
ſittlicher, thatkräftiger Menſchen. Doch die dürre Proſa der internationa-
len Machtfragen ließ ihn völlig kalt. Seine diplomatiſchen Denkſchriften
ſind alleſammt zu breit und zu ſcharfſinnig. Sein reicher Geiſt ergeht
ſich oft zwecklos im Genuſſe ſeiner eigenen Klarheit, wendet den Gegen-
ſtand nach allen Seiten hin und her und findet kein Ende, ſieht den
Wald vor lauter Bäumen nicht; ihm gebricht jene Luſt am Handeln,
welche dem Leſer unwillkürlich einen beſtimmten Entſchluß abzwingt.
Nicht ohne Grund nannte ihn Talleyrand le sophisme incarné. Von
den ſchalen Freuden der vornehmen Welt genoß er nur was ſeinen
helleniſchen Schönheitsſinn reizte; die ſchwere Kunſt ſich mit Anſtand zu
langweilen, allerhand unbedeutende Menſchen über die Geheimniſſe des
Augenblicks auszuforſchen wollte er niemals lernen. Mit peinlicher Gewiſ-
ſenhaftigkeit, wie er Alles betrieb, hat er auch ſeine diplomatiſchen Pflichten
erfüllt; doch jene leidenſchaftliche Freude am Erfolge, die zu allem großen
menſchlichen Schaffen gehört, kannte er in dieſem Berufe nicht.


Dagegen war Niemand ſo wie er geeignet für die Leitung des Un-
terrichtsweſens, die ihm der König im Frühjahr 1809 übertrug. Durch
die kurze Wirkſamkeit von fünfviertel Jahren gab er der preußiſchen Un-
terrichtsverwaltung jenen humanen, idealiſtiſchen Zug, der auch unter
ſchwächeren Nachfolgern ſich nicht wieder ganz verlieren konnte. Sein
univerſaler Geiſt wußte jeden Zweig der Wiſſenſchaften und Künſte in
[337]Univerſität Berlin.
ſeinem Rechte und ſeiner Eigenart zu würdigen. Selbſt dem kirchlichen
Leben, das ſeiner äſthetiſchen Bildung am fernſten lag, brachte er ein ſo
unbefangenes humanes Wohlwollen entgegen, daß der ſtreng gläubige
Nicolovius einträchtig mit dieſem Heiden zuſammenwirken konnte; der
Gottesdienſt war ihm heilig, weil er alle Glieder der Geſellſchaft nur als
Menſchen vereinige. Mit Ehrfurcht trat er an die Fragen des Schul-
weſens heran; er verwarf die Errichtung von Realſchulen, denn die ganze
Zukunft der Nation ſchien ihm gefährdet, wenn auch nur ein Theil der
gebildeten Jugend ohne die methodiſche Zucht der claſſiſchen Studien auf-
wüchſe. Er kannte die Reizbarkeit der Gelehrten und verſöhnte ſie nicht
blos durch urbane Milde und geduldige Nachſicht, ſondern vornehmlich
durch ſeinen hochherzigen Freiſinn; denn er wußte, daß die harte Macht des
Staates auf dem Gebiete der eigentlichen Cultur nur fördern und leiten,
doch wenig ſchaffen kann, daß die ſchöpferiſche Kraft des freien Gedankens
hier ſchlechterdings Alles iſt. Das ganze Geheimniß ſeiner organiſatori-
ſchen Größe liegt in den einfachen Worten, die er über die Einrichtung
der Berliner Univerſität ſchrieb: „man beruft eben tüchtige Männer
und läßt das Ganze allmählich ſich ancandiren.“ Er kannte nur ein
Vaterland, das Land der deutſchen Bildung, und hielt es für eine Ehren-
pflicht ſeines neuen Amts, das Bewußtſein dieſer unzerſtörbaren geiſtigen
Einheit in der mißhandelten Nation zu beleben. Darum ſtellte er die
alte Freizügigkeit wieder her, die vor Zeiten der Stolz unſerer Univerſi-
täten geweſen und erſt im achtzehnten Jahrhundert durch die Scheelſucht
des Particularismus verkümmert war, und erlaubte der preußiſchen Jugend
den Beſuch aller deutſchen Hochſchulen. Allein durch ihre Leiſtungen, im
freien Wetteifer, ſollten Preußens hohe Schulen ihre Anziehungskraft er-
proben.


Während der erſten Jahre des neuen Jahrhunderts hatte die Uni-
verſität Halle einen vielverheißenden Aufſchwung genommen. Sie war
nochmals, wie einſt unter Friedrich I., in den Vordergrund des wiſſen-
ſchaftlichen Lebens der Nation getreten; der Realismus der alten Göt-
tinger fand ſich hier zuſammen mit der idealiſtiſchen Bildung von Jena
und Königsberg. Dies junge Leben ward plötzlich zerſtört, als der Tilſiter
Friede das Magdeburger Land dem Königreich Weſtphalen zutheilte. Gleich-
zeitig verlor Preußen das aufblühende Erlangen und dazu die drei ſo-
eben erſt neugewonnenen ſtiftiſchen Univerſitäten Erfurt, Münſter, Pa-
derborn ſowie das verfallene Duisburg. Gleich nach dem Frieden baten
die Hallenſer Profeſſoren den König, ihre Univerſität nach Berlin zu
verlegen; er aber erwiderte, daß er eine neue Hochſchule in der Haupt-
ſtadt ſtiften wolle, und fügte die ſchönen Worte hinzu: der Staat muß
durch geiſtige Kräfte erſetzen was er an phyſiſchen verloren hat. Jene
alten ſo oft erwogenen Berliner Pläne wurden alſo wieder aufgenommen,
doch erſt Humboldt brachte friſchen Willen und großen Sinn in die ſtocken-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 22
[338]I. 3. Preußens Erhebung.
den Berathungen. Zur ſelben Zeit, da der Fürſt-Primas in der alten
Heimath deutſcher zünftiger Rechtsgelahrtheit, in Wetzlar eine juriſtiſche
Fachſchule nach napoleoniſchem Modell eröffnete, traute der preußiſche
Idealiſt ſeinem erſchöpften Staate die Kraft zu, jetzt in Berlin zu vollenden
was in Halle zerſtört war und „der deutſchen Wiſſenſchaft eine vielleicht
kaum jetzt noch gehoffte Freiſtatt zu eröffnen“.


Die neue Stiftung ſollte „durchaus etwas Anderes ſein als eine bloße
Landesuniverſität“, nicht in der Vorbereitung für praktiſche Berufe, ſon-
dern in der Wiſſenſchaft ſelber den Zweck der wiſſenſchaftlichen Arbeit
ſuchen und daher, vornehmlich für ihre philoſophiſche Facultät, die beſten
Kräfte Deutſchlands an ſich ziehen. „Wir wollen Euch zu lernen lehren“
— ſagte Clemens Brentano bezeichnend in dem Feſtliede zur Eröffnungs-
feier. Für die Verfaſſung der Univerſität fand Humboldt, Altes und
Neues mit glücklichem Takte verbindend, jene einfachen und freien Formen,
die ſeitdem allen deutſchen Hochſchulen zum Vorbilde gedient haben. Er
gab ihr nicht die gefährliche Stellung eines Staates im Staate, ſondern
ſtellte ſie als eine Staatsanſtalt auf den Boden des gemeinen Rechts.
Dagegen blieben die alten Facultäten erhalten, desgleichen was Schleier-
macher ſoeben in einer köſtlichen Schrift als das eigentliche Weſen der
„Univerſitäten im deutſchen Sinne“ bezeichnet hatte: die unbeſchränkte
Freiheit des Lernens und des Lehrens. Die radicaleren Pläne Fichte’s
wurden verworfen; Humboldt fühlte heraus, daß der freie Sinn der
deutſchen Jugend den klöſterlichen Zwang einer neuen platoniſchen Aka-
demie, wie ſie der begeiſterte Philoſoph vorſchlug, nicht ertragen würde.
Es war die erſte königlich preußiſche Univerſität, und doch eine Stiftung
für das geſammte Vaterland, das Werk einer freien und großen natio-
nalen Geſinnung, welche die alten durch römiſch-kaiſerliche Privilegien ge-
ſtifteten Univerſitäten ſo nicht kannten. Als die neue Hochſchule in ihr
ſtattliches Prinzenſchloß, dem Palaſte des Königs gegenüber einzog, da
bekannte der preußiſche Staat, daß er fortan die deutſche Wiſſenſchaft in
ſein Herz ſchließen und ſich nicht mehr von ihr trennen wolle. Edler,
würdiger konnte er ſeine geiſtige Ueberlegenheit dem prahleriſchen Sieger
nicht zeigen. Wo war in der großen Wüſtenei des Imperatorenreichs ein
Verein von Denkern, wie er ſich hier um die Wiege der neuen Stiftung
ſchaarte: die Theologen Schleiermacher und Marheineke, die Juriſten
Savigny und Eichhorn, der Arzt Hufeland, der Landwirth Thaer, in
der philoſophiſchen Facultät Fichte, Böckh, Buttmann und vor allen An-
deren doch Niebuhr, der mit ſeinen Vorleſungen über römiſche Geſchichte
dem Berliner akademiſchen Leben ein für allemal das Gepräge ſittlichen
Ernſtes und wiſſenſchaftlicher Strenge gab.


Als Humboldt, erbittert über die Unfähigkeit des Miniſteriums, ſeine
Stellung aufgab und wieder in die diplomatiſche Laufbahn eintrat, die
ihm mehr Muße gewährte ſich ſelber zu leben, da blieben doch einige
[339]Friedrich Wilhelm in Petersburg.
Räthe zurück, die in ſeinem Sinne weiter wirkten, namentlich der milde
feinſinnige Süvern. Die großen Grundſätze für die Leitung des höheren
Unterrichts ſtanden feſt ſeit den Verhandlungen über die Berliner Uni-
verſität; man brauchte ſie nur anzuwenden als man jetzt daran ging
auch die katholiſchen Bildungsanſtalten zu verjüngen. Die alte Jeſuiten-
akademie zu Breslau wurde mit der ſtrengproteſtantiſchen Frankfurter
Viadrina vereinigt und aus beiden die neue Breslauer Univerſität ge-
bildet (1811). Auch dieſe Neugründung war ein Markſtein in der Ge-
ſchichte unſeres geiſtigen Lebens. Wie viele ſchwere Kämpfe hatte der
Gedanke der Parität an den deutſchen Hochſchulen beſtehen müſſen ſeit
Pfalzgraf Karl Ludwig in ſeinem Heidelberg zuerſt den alten ſtarren
Grundſatz der Glaubenseinheit beſeitigte. Jetzt war die Duldſamkeit der
neuen Philoſophie tief in die Anſchauungen der gebildeten Klaſſen einge-
drungen. Jedermann fand es in der Ordnung, daß allen Confeſſionen
der Zutritt zu den weltlichen Facultäten der Berliner Hochſchule freige-
ſtellt wurde. In Breslau ging der Staat ſchon einen Schritt weiter
und ſtiftete zwei theologiſche Facultäten, für die Katholiken und die Pro-
teſtanten. So entſtand die erſte paritätiſche Univerſität — eine charak-
teriſtiſche, dem Auslande kaum begreifliche Eigenthümlichkeit des deutſchen
Lebens. —


Welch ein Verhängniß nun, daß gerade in dieſer Zeit, da Preußen
ſeinen erſten Staatsmann verbannen mußte, ein neues Kriegswetter über
Oeſterreich heraufzog. Um Neujahr 1809 folgte das preußiſche Königs-
paar einer dringenden Einladung Alexanders nach Petersburg. Mit bei-
ſpielloſem Glanze empfing der Czar ſeine Gäſte, als ob er ſie entſchädigen
wollte für die Untreue von Tilſit; auch der Hofadel ſuchte durch über-
ſchwängliche Ehrenbezeigungen ſeinen Franzoſenhaß zu bekunden. Seit-
dem verband die beiden Höfe ein Verhältniß perſönlicher Vertraulichkeit,
wie es noch niemals zwiſchen Großmächten beſtanden hatte; der preußiſche
Geſandte wurde fortan in Petersburg ſtets wie ein Angehöriger der kaiſer-
lichen Familie behandelt. Das politiſche Ergebniß der Reiſe war gleich-
wohl nur ein großer Mißerfolg. Der Czar hatte den Krieg mit Schweden
noch nicht beendet, er war an der kaukaſiſchen Grenze mit Perſien in
Händel gerathen und ſtand im Begriff die Türkei mit Krieg zu über-
ziehen. So lange dieſe drei Kriege nicht abgewickelt, Finnland und die
Donauprovinzen noch nicht in ſeinen Händen waren, wollte er ſich von
Napoleon nicht trennen. Er geſtand ſeinem Freunde, daß er ſich ver-
pflichtet habe Frankreich in einem Kriege gegen Oeſterreich mit den Waffen
zu unterſtützen und rieth dem Könige dringend, die gleiche Politik zu er-
greifen, durch die Rückkehr nach Berlin dem Imperator einen Beweis
vertrauensvoller Freundſchaft zu geben. Friedrich Wilhelm kehrte heim,
tief niedergeſchlagen, doch keineswegs überzeugt; nimmermehr wollte er
an dem Feldzuge gegen Oeſterreich theilnehmen, vielmehr befahl er
22*
[340]I. 3. Preußens Erhebung.
insgeheim zu rüſten um nöthigenfalls dem Wiener Hofe Beiſtand zu
leiſten.


Napoleon war unterdeſſen nach Spanien geeilt und hatte in einem
raſchen Triumphzuge die zur Feldſchlacht unfähigen Heere der Spanier
geſchlagen, eine engliſche Armee bis an die Küſte zurückgeworfen. Kaum
war alſo der Waffenruhm ſeiner Adler wieder hergeſtellt, ſo nahm er
alsbald die im vorigen Herbſt nur vertagten Pläne gegen Oeſterreich
wieder auf und traf ſeine Anſtalten die Hofburg für ihre Rüſtungen zu
züchtigen. Noch im Januar 1809 befahl er, von Spanien aus, die
Armee des Rheinbunds marſchbereit zu halten, ließ die Corps von Da-
vouſt und Oudinot gegen die obere Donau marſchiren. Zu Ende des
Monats war er ſelbſt wieder in Paris. Er rechnete, mit 260,000 Fran-
zoſen, Polen und Rheinbündnern in Deutſchland, mit 150,000 Mann
in Italien den Krieg zu eröffnen, ſchrieb ſeinen Vaſallen höhniſch: ob
denn die Donau ein Letheſtrom geworden ſei, daß man in Wien alle
früheren Niederlagen vergeſſen habe? Seine Abſicht war jedoch den Aus-
bruch des Krieges bis zum Frühjahr hinauszuzögern; früher konnte ſeine
Rüſtung nicht beendet ſein, auch wollte er als der Angegriffene erſcheinen
weil Rußland nur für den Fall eines Vertheidigungskrieges zur Beihilfe
verpflichtet war. „Mein Streit mit Oeſterreich, ſagte er in einem Briefe
an Friedrich von Württemberg, iſt die Fabel von dem Wolfe und dem
Lamme; es wäre doch gar zu ergötzlich, wenn man uns dabei die Rolle
des Lammes ſpielen laſſen wollte!“


In dem alten Oeſterreich gährte eine ungeheure Aufregung; Jeder-
mann meinte den Augenblick einer großen Entſcheidung gekommen. Frei-
lich war in der liebenswürdigen, ritterlichen Natur des Grafen Stadion
keine Ader von reformatoriſcher Größe; an ſeinem Franzoſenhaſſe hatte
der Standesſtolz des mediatiſirten Reichsgrafen ſtarken Antheil. Immer-
hin kam unter ſeiner Leitung ein etwas freierer und milderer Geiſt in
die Verwaltung. Noch mehr hatte das Heer unter der Führung des Erz-
herzogs Karl gewonnen. Wohl gerüſtet, wie ſeit Jahren nicht, konnte
Oeſterreich die Waffen erheben. Mit hellem Jubel eilten die Landwehr-
männer zu den Fahnen. Ueberall, vornehmlich unter den deutſchen Stäm-
men, feſtes Vertrauen zu dem alten Kaiſerhauſe, freudige Bereitwilligkeit
zu jedem Opfer. Das Jahr 1809 wurde das ſchönſte der öſterreichiſchen
Geſchichte: die an Tapferkeit ſo reichen, an Genie und Begeiſterung ſo
armen Annalen des kaiſerlichen Heeres ſollten doch noch einmal einige
glänzende Züge echten Heldenthums aufweiſen. Wohl war es undenkbar,
daß dieſe durch die Unterdrückung alles Volksthums emporgewachſene
habsburgiſche Hausmacht den Kampf für die Freiheit der Völker ehrlich
durchfechten ſollte; es lag eine grauſame Ironie darin, daß Erzherzog
Karl in einem ſchwungvollen Aufrufe an die Deutſchen die fragwürdige
Behauptung aufſtellte: „mit Oeſterreich war Deutſchland ſelbſtändig und
[341]Krieg von 1809.
glücklich!“ — und gleichzeitig ſein Bruder Johann den Italienern ſagte,
ſie ſeien heute keine Italiener mehr, nur durch Oeſterreich könnten ſie
ihre Freiheit wieder erlangen. Der heilige Zorn der Patrioten im Reiche
hatte kein Auge für ſolche Widerſprüche. Die alte Kaiſertreue unſeres
Volkes erwachte von Neuem; man wollte vergeſſen, daß dieſer ſelbe Kaiſer
Franz vor drei Jahren erſt ſein hohes Amt kaltſinnig preisgegeben, daß
ſein neues Kriegsmanifeſt mit keiner Silbe von der Herſtellung des Reiches
ſprach. Genug, daß er das Schwert zog gegen „ein Syſtem, das kein
anderes Geſetz als das ſeine in Europa anerkennt“. An ſeine Fahnen
ſchien jetzt das Schickſal des ganzen Vaterlandes angekettet, ihm Heeres-
folge zu leiſten hieß jetzt deutſche Ehrenpflicht ſelbſt unter den Norddeut-
ſchen, die bisher von Kaiſer und Reich kaum geſprochen hatten.


Der Krieg war für Oeſterreich unvermeidlich, doch er wurde vor-
zeitig begonnen, mit leichtſinniger Selbſtüberhebung, ohne genügende diplo-
matiſche Vorbereitung. Getäuſcht durch die zuverſichtlichen Berichte des
Grafen Metternich aus Paris, meinte die Hofburg den Streitkräften
Napoleons weit überlegen zu ſein; ohne auf die Warnungen des Czaren
zu achten übernahm ſie die gefährliche Rolle des Angreifers und theilte
ihren Entſchluß in London und Berlin erſt ſo ſpät mit, daß England
und Preußen im Anfange des Feldzugs gar nicht mitwirken konnten.
War die kaiſerliche Diplomatie zu dreiſt vorgegangen, ſo fehlte Erzherzog
Karl durch bedachtſames Zaudern. Er konnte, da die Hauptmaſſe der
franzöſiſchen Armee noch nicht heran war und faſt nur Rheinbündner
ihm gegenüberſtanden, durch einen kühnen Vorſtoß den Kriegsſchauplatz
ſogleich nach Schwaben hinein verlegen, doch er verlor unſchätzbare Tage
indem er ſeine geſammelte Armee theilte. Indem kam Napoleon ſelbſt
herbei und nahm ſein Hauptquartier unter den bairiſchen Regimentern,
wie ſonſt inmitten ſeiner Garde. Die tapferen Truppen fühlten ſich hoch
geehrt; der alte Stammeshaß flammte wieder auf als der Imperator
ihnen in ſtolzer Rede verſprach, er werde ſie zum Siege gegen Baierns
ewigen Todfeind führen. Dienſtwilliger denn je folgten die Fürſten des
Rheinbundes dem Heerbann ihres Protectors; verſicherte er ihnen doch,
es gelte die Wiederaufrichtung des deutſchen Kaiſerthums der Habsburger
zu verhindern. Nun erſt zeigte ſich ganz, was der Rheinbund für Frank-
reichs militäriſche Macht bedeutete; nur der Beiſtand des deutſchen Sü-
dens ſicherte dem Imperator den Sieg in dieſem Feldzuge.


In einer Reihe glänzender Gefechte ſchlug er darauf die vereinzelten
Corps der Oeſterreicher auf der bairiſchen Ebene zwiſchen Iſar und Donau
und zwang den Erzherzog durch einen Feldzug von fünf Tagen, mit einem
Verluſte von 50,000 Mann nach Böhmen zurückzugehen. Die mit ſo
überſchwänglichen Hoffnungen unternommene Erhebung begann wieder ſo
kläglich wie der Krieg von 1805, und wieder wie vor vier Jahren zog der
Sieger unaufhaltſam die Donau abwärts, nahm die Hauptſtadt und be-
[342]I. 3. Preußens Erhebung.
fahl von dort aus die Vereinigung des Kirchenſtaates mit dem Kaiſer-
reiche. Aber als er jetzt verſuchte im Angeſichte der Armee des Erzher-
zogs die Donau zu überſchreiten, da bereitete ihm der Todesmuth der
kaiſerlichen Soldaten bei Aspern ſeine erſte Niederlage. Furchtbar war
der Eindruck dieſes erſten Mißerfolges auf die verwöhnten Kinder des
Glücks. Jedermann fühlte, dies Weltreich ſtand auf zwei Augen. Wäh-
rend Napoleon nach der Schlacht durch viele Stunden in ſtarrem Schlum-
mer lag, beriethen ſeine Generale bereits, ob es möglich ſei das geſchlagene
Heer nach Frankreich zurückzuführen, falls der Imperator nicht wieder
erwachte.


Die Siegeskunde von Aspern ſchlug wie ein Blitzſtrahl in das
deutſche Land; Alles jauchzte mit Heinrich Kleiſt dem „Ueberwinder des
Unüberwindlichen“ zu. Und dazu die herzerhebenden Nachrichten aus
Tyrol: wie die tapferen frommen Bauern der Berge viermal binnen
einem Jahre ſich gegen die verhaßten bairiſchen Herren erhoben um die
Herrſchaft des geliebten Kaiſerhauſes und die katholiſche Glaubenseinheit
wieder aufzurichten. Hier war Alles vereinigt was dies romantiſche Ge-
ſchlecht erheben und begeiſtern konnte: die wilde Schönheit des Hochge-
birges, die rauhe Heldenkraft treuherziger Naturmenſchen, der ehrliche
Kampf für Sitte, Recht und Glauben der Väter, das maleriſche Gewim-
mel einer freien Volkserhebung — Kapuziner und Bauern, Gebirgsſchützen
und Sennerinnen bunt durcheinander. „Vor und nach ſeiner war und
kommt auch Keiner in der Ehrlichkeit“ — ſo lautet die Inſchrift unter
dem Bilde Andreas Hofers in ſeinem Hauptquartiere, im Adler zu Inns-
bruck. Die kindliche Einfalt und Treue ſeines Stammes verkörperte ſich
in dem wackeren Sandwirth; und mit naiver Freude — ſo gänzlich hatte
der politiſche Zorn den alten Bildungsdünkel verdrängt — begrüßten
ihn die norddeutſchen Patrioten als einen Helden der Nation. Einſeitig-
keit iſt das gute Recht jeder großen Leidenſchaft; die Erbitterten wollten
und konnten nicht ſehen, daß die Mönche und die Bauern des Hochge-
birges ſich vom deutſchen Vaterlande gar nichts träumen ließen, daß ihr
Aufſtand ebenſo ſehr den wohlthätigen Reformen als der bureaukratiſchen
Härte der bairiſchen Regierung galt, daß die Macht der gedankenloſen
Gewohnheit, der finſtere Haß gegen die Ketzerei und die alte particula-
riſtiſche Abneigung wider den bairiſchen Nachbarſtamm an dem Helden-
muthe dieſes Bauernkrieges reichen Antheil hatten.


Bald da bald dort ſchlug der verhaltene Grimm in hellen Flammen
aus dem deutſchen Boden; der Eroberer erkannte dies geduldige Volk
nicht wieder, meinte ſich von tauſend Vendeen umgeben. Im Tauber-
grunde kämpften die vormaligen Unterthanen des deutſchen Ordens ver-
geblich gegen die Truppen ihres neuen württembergiſchen Herrn; ſie
wollten zurück zu dem ſtillen Glücke der guten alten deutſchnärriſchen Zeit.
Die treuen Preußen im Ansbachiſchen empfingen mit offenen Armen das
[343]Schill.
fliegende Corps, das der Heißſporn Karl von Noſtitz durch Franken gegen
die Flanke des Feindes führte; die Nürnberger Reichsſtädter riſſen jubelnd
die bairiſchen Wappen von den Thoren als die Freiſchaar nahte. Von
Böhmen aus begann der Sohn des unglücklichen Feldherrn von Auer-
ſtädt, Herzog Friedrich Wilhelm von Braunſchweig, den Parteigängerkrieg
gegen die ſächſiſchen Lande — ein echter Welf, tapfer, hart und herriſch;
Viele der Beſten aus der norddeutſchen Jugend drängten ſich zu den
Fahnen ſeiner ſchwarzen Schaar. Im Königreich Weſtphalen wurde zwei-
mal, von den kurheſſiſchen Offizieren Dörnberg und Emmerich, eine
Schilderhebung gewagt und blutig niedergeſchlagen; gegen das feſte Magde-
burg verſuchte der preußiſche Leutnant Katt vergeblich eine Ueberrum-
pelung.


Unter den Patrioten im preußiſchen Heere und Beamtenthum war
nur eine Stimme; Alle dachten wie der alte Blücher: warum die Preußen
es nicht den Tyrolern und den Spaniern gleich thun ſollten? — „trage
Feſſeln wer will, ich nicht.“ Manche der entlaſſenen Offiziere fochten
bereits in den Reihen der öſterreichiſchen Armee. Die Stimmung der
preußiſchen Truppen war ſo offenkundig, daß Napoleon gar nicht wagte
den König an die Stellung des verſprochenen Hilfscorps zu erinnern;
ihm graute vor ſolchen Bundesgenoſſen. So ſtürmiſch flammte die Unge-
duld, daß jetzt zum erſten male in der ehrenreichen Geſchichte des preußi-
ſchen Heeres ein Treubruch möglich wurde — ein Treubruch freilich, der
nur den edlen Zweck verfolgte „dem geliebten Könige ſein letztes Dorf
zurückzugeben“. Major Schill, der Held von Colberg, wie ihn der große
Haufe nannte, war von dem Könige für ſeine wackere Haltung während
des letzten Krieges dadurch belohnt worden, daß er zuerſt nach dem Ab-
zuge der Franzoſen in die befreite Hauptſtadt einrücken durfte. Seine
Soldaten hingen an ihm mit unbegrenztem Vertrauen; die Berliner Bür-
ger trugen ihn auf den Händen, und da die Maſſe an Ideen erſt glaubt
wenn ſie in einem Manne Fleiſch und Blut gewinnen, ſo galt der tapfere
Huſar bald als der leibhaftige Vertreter des alten kriegeriſchen Preußen-
thums. Unzählige hofften von ihm die Wiederkehr der alten Größe; man
rauchte Schill-Kanaſter, in jedem Bauernhauſe der Marken prangte das
Bild mit dem martialiſchen Schnurrbart und Fouqués Verſen darunter.
Die Volksgunſt ſtieg dem ehrlichen Haudegen zu Kopfe; der Beſcheidene
wähnte ſich jetzt auserkoren zu wunderbaren Dingen, und kaum war der
Krieg im Süden ausgebrochen, ſo führte er ſeine kleine Truppe, wenige
hundert Mann, von dem Berliner Exercirplatze hinweg zum Angriff gegen
das Königreich Weſtphalen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken
ohne Ende! — rief er den unglücklichen Verführten zu. Die treuen
Männer folgten ihm nur weil er im Auftrag der Krone zu handeln
vorgab und ſich vermaß, die alte Größe Preußens wiederherzuſtellen.
Bald nach dem Ausmarſch ereilte ihn die Nachricht von den Niederlagen
[344]I. 3. Preußens Erhebung.
der Oeſterreicher an der oberen Donau; das unſinnige Unternehmen
ſcheiterte ſchon im Beginne, von einem großen Volksaufſtande war jetzt
keine Rede mehr. Der König ließ nicht nur, wie ſeine Pflicht gebot, den
Ernſt des Geſetzes gegen die Deſerteure in Kraft treten, er ſprach auch in
ſcharfen Worten ſeine Entrüſtung aus über Schills „unglaubliche That“
— mit vollem Rechte, denn was ſtand noch feſt in dem unglücklichen
Staate, wenn der Gehorſam des Heeres ins Wanken kam? Die ver-
wegene Schaar fand nach planloſen Kreuz- und Querzügen einen ehren-
vollen Untergang in den Mauern von Stralſund, und Napoleon that das
Seine um das Andenken dieſer verlorenen Söhne des deutſchen Volkes
zu heiligen. Welch ein Eindruck, da man vernahm, daß der Leiche
Schills der Kopf abgeſchnitten, ſeine gefangenen Offiziere — allerdings
nach dem Buchſtaben des Völkerrechts — als Straßenräuber behandelt
und theils erſchoſſen, theils auf die Galeeren geſchleppt wurden! Tauſende
wiederholten tief empört die Strophen Schenkendorfs:


Stahl von Männerfauſt geſchwungen

rettet einzig dies Geſchlecht!

Auch den König drängte die Stimme des Herzens zur Theilnahme
an dem Kampfe. Er war entſchloſſen zu ſchlagen, doch er blieb nüchtern
inmitten des allgemeinen Fiebers, das Bewußtſein einer ungeheuren Ver-
antwortung laſtete ſchwer auf ſeiner Seele; denn zog er diesmal vergeb-
lich das Schwert, ſo war Preußen vernichtet — nach menſchlichem Er-
meſſen für immer. Die Tollkühnheit einer Kriegserklärung, während der
Feind wohlgerüſtet in Danzig und Magdeburg ſtand und durch die Garni-
ſonen der Oderlinie das Staatsgebiet mittendurch zerſchnitt — dies furcht-
bare Wagniß war ein Unrecht, wenn ſich nicht zum mindeſten eine
Möglichkeit des Erfolges zeigte. Friedrich Wilhelm wollte nicht zum
zweiten male, wie in den Tagen von Auſterlitz, durch Oeſterreichs Wan-
kelmuth der Rache des Siegers preisgegeben werden; er verlangte Bürg-
ſchaften, daß Kaiſer Franz den Krieg auch nach Mißerfolgen fortführe
bis Preußen im Stande ſei in den Kampf einzugreifen. Er forderte
ferner Geld und Waffen von England ſowie die Landung eines britiſchen
Corps in Deutſchland. Sein Staat war von allen Mitteln entblößt.
Um nur etwas für die Rüſtungen thun zu können hatte man ſchon, un-
vorſichtig genug, die vertragsmäßigen Contributionszahlungen an Frank-
reich eingeſtellt; und wie ſollte die kleine Armee, in Schach gehalten wie
ſie war durch die Feſtungen des Feindes, ſich im Felde behaupten, wenn
ſie nicht einen Rückhalt an der Küſte fand? Das Allerwichtigſte blieb
doch die Gefahr, die von Rußland, dem Verbündeten Frankreichs, drohte;
nur wenn er gegen den Oſten geſichert war, ſchien dem Könige das Unter-
nehmen nicht völlig ausſichtslos. Napoleon durchſchaute ſehr wohl die
verzweifelte Lage ſeines geheimen Gegners und meinte gleichmüthig:
[345]Alexander verhindert den allgemeinen Krieg.
„Preußen iſt heute ſehr wenig; ich habe der Mittel genug es zu unter-
werfen.“


Der König hatte mit richtigem Blicke die unerläßlichen Vorausſetzun-
gen bezeichnet, von denen Preußens Kriegserklärung abhing; bald genug
mußte er erfahren, daß keine einzige dieſer Bedingungen ſich erfüllte.
Noch vor Ausbruch des Krieges ſchrieb er inſtändig drängend an den
Czaren und bat um die beſtimmte Zuſage, daß Rußland ihn unterſtützen
oder doch nicht angreifen werde, wenn er ſich mit Oeſterreich verbinde.
Alexander antwortete: erfülle Preußen ſeine Verpflichtungen gegen Frank-
reich nicht, ſo könne er deßhalb ſich mit Napoleon nicht überwerfen. Am
12. Mai ſchrieb der König nochmals: eine unglückliche Schilderhebung
würde leicht zur Vernichtung Preußens führen, er müſſe mindeſtens die
Sicherheit haben, daß Rußland den Untergang dieſes Staates nicht
dulden werde. Auch diesmal lautete die Antwort des Czaren abſchlägig;
ſein Brief enthielt unter ſchwungvollen Worten und brünſtigen Freund-
ſchaftsbetheuerungen nur dieſen greifbaren Inhalt: Rußland könne ſich
für jetzt nicht rühren, auch wenn der preußiſche Staat von der Landkarte
verſchwände. Es ſtand nicht anders: der ruſſiſche Freund wollte das
preußiſche Schwert in der Scheide zurückhalten bis er ſich ſelbſt des Er-
werbes der heißerſehnten Donauprovinzen verſichert hatte. Und es war
ihm Ernſt damit. Die Hilfsarmee, welche der Czar ſeinem franzöſiſchen
Verbündeten zugeſagt, rückte wirklich durch Warſchau gegen Galizien
vor. Wenngleich ſie den Krieg mit äußerſter Schonung, faſt nur zum
Scheine führte und die aufſtändiſchen Polen in Galizien weit mehr zu
fürchten ſchien als die Oeſterreicher ſelber, ſo bewirkte ſie doch, daß ein
Theil des öſterreichiſchen Heeres von den Entſcheidungsſchlachten an der
Donau fern gehalten wurde. Ein ruſſiſches Armeecorps hielt dicht an
der oſtpreußiſchen Grenze, konnte in jeder Stunde einmarſchiren ſobald
Preußen Miene machte ſich zu regen. Dieſe Haltung Rußlands ward
entſcheidend für das Verfahren des Königs.


Aber auch von England geſchah monatelang gar nichts was dem
preußiſchen Hofe die Erhebung erleichtern konnte. Die Hofburg endlich
konnte von dem alten Hochmuth der Ferdinande nicht laſſen. Ihr Be-
vollmächtigter Steigenteſch trat in Preußen mit herausfordernder Keckheit
auf, er hatte Befehl den König „zu compromittiren“ wenn der ſich nicht
füge, und verrieth die vertraulichen Aeußerungen des Königsberger Hofes
an den weſtphäliſchen Geſandten Linden, der Alles getreulich dem Impe-
rator meldete. War doch in Preußen ſelbſt die Erbitterung gegen den
königlichen Zauderer ſo ſtark, daß einige Patrioten alles Ernſtes riethen,
die öſterreichiſchen Truppen in Polen ſollten durch Schleſien marſchiren,
damit der Hof gezwungen werde ſich zu erklären! Eine einfache Militär-
convention und allenfalls noch eine Bürgſchaft für den gegenwärtigen
Beſitzſtand, das war Alles was Kaiſer Franz dem preußiſchen Staate in
[346]I. 3. Preußens Erhebung.
Ausſicht ſtellte für einen Kampf der Verzweiflung! Friedrich Wilhelm
aber verlangte, wie billig, einen förmlichen Staatsvertrag, der ſeiner Mo-
narchie die Wiederherſtellung ihrer alten Macht mit haltbaren Grenzen
gewährleiſte. Auch in allen anderen Fragen der deutſchen Politik gingen
die Abſichten der beiden Mächte weit auseinander. Oeſterreich zeigte ſich
geneigt, im Falle des Sieges Warſchau wieder an die Krone Preußen zu-
rückzugeben. Der König dagegen war ſeit dem großen Treubruch von
1806 von der Werthloſigkeit dieſes Beſitzes überzeugt und wünſchte für
ſeinen Staat nur ſoviel polniſches Gebiet als unentbehrlich war um die
Verbindung zwiſchen Schleſien und Altpreußen zu ſichern; aus dem
übrigen Lande hätte er gern ein nationales polniſches Herzogthum unter
dem gemeinſamen Schutze der drei Oſtmächte gebildet, wenn Preußen
dafür in Deutſchland, etwa in Sachſen, entſchädigt würde. Doch Kaiſer
Franz war keineswegs geſonnen irgend eine Verſtärkung Preußens auf
deutſchem Boden zuzugeben; und als der preußiſche Unterhändler Kneſe-
beck im Spätſommer, nach Oeſterreichs Niederlagen, den alten Barten-
ſteiner Plan einer zweifachen Hegemonie in Deutſchland zur Sprache
brachte, da begegnete er kalter Abweiſung. Selbſt das Unglück hatte den
Dünkel des Hauſes Lothringen nicht gebrochen. Der warme Freund
Oeſterreichs ſchrieb traurig heim: man könne ſich nicht mehr darüber
täuſchen, die Hofburg wolle den preußiſchen Staat nicht als eine ebenbür-
tige Macht anerkennen.


Alſo thaten Oeſterreichs Hochmuth, die Unfähigkeit der engliſchen
Politik und die durchtriebene Berechnung des Czaren wetteifernd das Ihre
um der preußiſchen Krone den Eintritt in den Krieg unmöglich zu machen.
Des Königs ruhiger Soldatenblick beurtheilte auch den Gang der Kriegs-
ereigniſſe richtiger als ſeine aufgeregte Umgebung; er hielt die Schlacht
von Aspern nur für die rühmliche Abwehr eines Angriffs, nicht für einen
entſcheidenden Schlag, und der Erfolg gab ihm Recht. Erzherzog Karl
verſtand den Sieg ſeiner Soldaten nicht zu benutzen, blieb wochenlang
faſt unthätig auf dem Marchfelde ſtehen, während Napoleon raſtlos aus
allen Ecken ſeines weiten Reiches Verſtärkungen heranzog und ſelbſt die
Matroſen aus den Häfen des Canals herbeikommen ließ. Im Juli fühlte
ſich der Imperator ſtark genug zum zweiten male den Uebergang über
die Donau zu wagen; am 5. und 6. Juli wurde der Erzherzog bei
Wagram geſchlagen, weſentlich durch die Schuld ſeines Bruders Johann,
der mit den Truppen aus Ungarn nicht rechtzeitig zur Stelle kam. Und
wieder wie nach der Auſterlitzer Schlacht überwältigte der Kleinmuth den
kaiſerlichen Hof. Sechs Tage ſpäter ward der Waffenſtillſtand von
Znaym abgeſchloſſen, der Erzherzog legte mißmuthig das Commando
nieder.


Die Welt wußte längſt, daß Napoleon einen Waffenſtillſtand nur
dann bewilligte, wenn er des Friedens ſicher war. Gleichwohl hielt König
[347]Wiener Friede.
Friedrich Wilhelm noch immer ſeine kriegeriſchen Entwürfe feſt und ver-
ſammelte ſeine Armee in feſten Lagern; das Corps Blüchers ſtand in
Pommern bereit auf den erſten Wink gegen die Oderlinie vorzubrechen.
Noch einmal (24. Juli) ſchrieb der wackere Fürſt ſeinem ruſſiſchen Freunde:
der Tag von Wagram habe keine endgiltige Entſcheidung gebracht; er-
klärten Rußland und Preußen jetzt gleichzeitig den Krieg, ſo ſei die Be-
freiung Deutſchlands noch immer möglich. Sein Geſandter Schladen
bewies dem Czaren in einer eindringlichen Denkſchrift: wenn Oeſterreich
falle, ſo komme an Rußland die Reihe. Doch Alexander ſchwieg; erſt
als der Friede geſchloſſen war kam eine Antwort aus Petersburg. Wäh-
renddem ging Gneiſenau in geheimer Sendung nach London und beſchwor
das britiſche Cabinet, die bereits ausgerüſtete Landungsarmee an die
deutſche Küſte zu werfen, dann werde ſie dem preußiſchen Heere zur Stütze
dienen. George Canning ſtimmte dem feurigen Deutſchen zu; der geniale
junge Staatsmann fand damals ſchon die inſulariſche Politik Alt-Eng-
lands engherzig und kleinlich. Doch die Mittelmäßigkeit der anderen
Miniſter hatte nur Augen für das kaufmänniſche Intereſſe. Die Expe-
dition ging nach den Niederlanden, um für die britiſche Flotte einen
Brückenkopf auf dem Feſtlande zu gewinnen, und fand vor den Wällen
von Antwerpen und in den Sümpfen von Walcheren ein ſchmähliches
Ende. Auch auf Oeſterreichs Ausdauer war nicht mehr zu rechnen; man
hatte im Hauptquartier die ſtolzen Pläne vom Frühjahr längſt aufgegeben
und fühlte ſich dem Gegner, der inzwiſchen abermals an 80,000 Mann
Verſtärkungen herangezogen, nicht mehr gewachſen.


Napoleon aber vollzog jetzt eine meiſterhafte diplomatiſche Schwenkung.
Das alte Kaiſerhaus war vorderhand genugſam geſchwächt; wenn er mit
dem Beſiegten ſich verſöhnte, ſo konnte er den großen Anſchlag gegen
Rußland, der dem Unermüdlichen jetzt vor allem Anderen am Herzen
lag, ungeſtört reifen laſſen. Seine Haltung ward freundlicher; im Wiener
Frieden (14. Octbr.) gewährte er dem Hauſe Habsburg etwas mildere Be-
dingungen als kurz zuvor noch erwartet wurde. Oeſterreich mußte zwar
ſeine letzte Poſition an der Adria, den ganzen Küſtenſaum bis zur Sau dem
Imperator einräumen, im Weſten an Baiern, im Nordoſten an Warſchau
umfangreiche Gebiete abtreten, doch ihm blieb ſeine Großmachtſtellung
und der Kern ſeiner Wehrkraft, das Land der Stephanskrone. Baiern
erlangte zur Belohnung für treue Rheinbundsdienſte den Beſitz von Bai-
reuth und damit die vollſtändige Ausführung jenes ſeit Jahren in Mün-
chen emſig betriebenen Tauſchplanes: der Kernſtaat des Rheinbundes ge-
wann für die entlegenen rheiniſchen Provinzen, wo jetzt Murat hauſte,
das geſammte preußiſche Franken.


Der Krieg war zu Ende. Der tapfere Welf durcheilte in verwegenem
Zuge das Königreich Weſtphalen, genoß auf kurze Stunden die herzlichen
Begrüßungen des treuen Völkchens in der Stadt ſeiner Väter und fand
[348]I. 3. Preußens Erhebung.
endlich mit ſeinen Schwarzen eine Zuflucht an Bord engliſcher Schiffe.
Seine treuen Tyroler gab Kaiſer Franz ebenſo gleichmüthig preis, wie
er ſich einſt von den Pflichten des deutſchen Kaiſerthums losgeſagt hatte;
dieſe Volksbewegung war dem mißtrauiſchen Despoten immer verdächtig
geweſen. Die Verrathenen wollten nicht glauben, daß ihr Franz ſie ver-
laſſen könne; wie heilig hatte er doch betheuert, er werde keinen Frieden
unterzeichnen, der das Land des rothen Adlers von der Monarchie trenne!
Sie widerſtanden bis zum Aeußerſten; erſt mit der Hinrichtung Andreas
Hofers fand das unheimliche Trauerſpiel ſeinen Abſchluß. Die Erhebung
der Völker Oeſterreichs verſank in Blut und Koth. Betrogen in ſeinen
ſchönſten Hoffnungen, verekelt an allen Idealen wendete ſich das leicht-
lebige Volk wieder den Freuden des Sinnenlebens zu. Die Erbkrankheit
des modernen Wienerthums, die peſſimiſtiſche Verſtimmung nahm über-
hand; wer mochte noch von Ruhm und Ehre träumen, da die öſterreichi-
ſche Dummheit doch nur zum Unglück beſtimmt war? Nachher brachte
ein ſchmählicher Staatsbankrott Verwirrung und Unredlichkeit in jeden
Haushalt; bei Spiel und Tanz und Praterfahrten vergaß man die Noth
der ſchweren Zeit. Die enttäuſchten Sieger von Aspern erlabten ſich an
den Schmutzgeſchichten der Briefe Eipeldauers; von Fichte, Kleiſt und
Arndt wußten ſie nichts. Der Krieg von 1809 hatte das deutſche Blut
der Oeſterreicher noch einmal in Wallung gebracht; ein Jahr darauf ſtan-
den ſie dem Leben unſerer Nation unzugänglicher, fremder gegenüber als
je zuvor.


So war der Boden bereitet für die Selbſtherrſchaft des Kaiſers
Franz. Der verlogene Biedermann traute ſich jetzt endlich der Weisheit
genug zu um die Zügel des Staates in die eigene Hand zu nehmen;
war er doch immer klüger geweſen als alle die Ideologen, die ihm von
der Freiheit Europas geredet. Mit der Seelenruhe der ſelbſtgewiſſen
Beſchränktheit ſtellte er nun das althabsburgiſche Regierungsſyſtem wieder
her, wie es vor Maria Thereſia jahrhundertelang beſtanden hatte. In
den inneren Verhältniſſen wurde grundſätzlich nichts mehr geändert; eine
argwöhniſche Polizei hielt jeden Gedanken politiſcher Neuerung, wie vor-
mals die Lehren der Ketzer, ſorgfältig darnieder, verhinderte, daß die ge-
waltigen nationalen Gegenſätze dieſes vielſprachigen Völkergewimmels zum
Selbſtbewußtſein erwachten, ſicherte den Gehorſamen das Phäakenglück
eines wachen Traumlebens. Die Thätigkeit der Staatsgewalt war wieder
ganz auf die europäiſche Politik gerichtet, und vortrefflich paßte zu dieſem
Syſteme der unfruchtbaren Ruheſeligkeit der neue Miniſter des Auswär-
tigen, Graf Metternich, der Adonis der Salons, der vielgewandte Meiſter
aller kleinen Mittel und Schliche. Er ſelber hat am Ende ſeiner Lauf-
bahn die Summe ſeines Lebens gezogen in dem Geſtändniß: ich habe oft
Europa regiert, doch niemals Oeſterreich. Im diplomatiſchen Ränkeſpiele
ging all ſein Wiſſen und Können auf. Völlig unwiſſend in allen Fragen
[349]Kaiſer Franz und Metternich.
der Volkswirthſchaft und der inneren Verwaltung überließ er dieſe bür-
gerlichen Dinge nach altöſterreichiſchem Cavalierbrauche den Hofräthen
und den Schreibern. Er haßte und fürchtete, wie ſein Kaiſer, die dämo-
niſche Kraft des nationalen Gedankens, der ſich drüben in Deutſchland
regte; er fürchtete nicht minder den ruſſiſchen Nachbarn, deſſen Macht er
jederzeit überſchätzt hat. Er kannte die Welt zu gut und rechnete zu
nüchtern um an die Ewigkeit des napoleoniſchen Reiches zu glauben; bot
ſich die Gunſt der Stunde, ſo war er bereit dieſe drückende Uebermacht
abzuſchütteln. Doch ſo lange die Herrlichkeit der Weltmonarchie noch un-
erſchüttert währte, ſollte ihre Freundſchaft dem Hauſe Oeſterreich Vortheil
bringen. Mit ſchamloſer Herzenskälte warb Kaiſer Franz um die Gnade
des Siegers. Im Frühjahr 1810, noch vor der Hinrichtung Andreas
Hofers verlobte er die Erzherzogin Marie Luiſe mit Napoleon. Die
Tochter des letzten römiſchen Kaiſers wurde die Gemahlin des neuen
Weltbeherrſchers, und ſie ſchändete ihr altes Haus durch flachen Leichtſinn,
durch unwürdige Schmeichelei gegen die Franzoſen. Derſelbe Erzbiſchof
von Wien, der vor Kurzem die Fahnen der Landwehr geweiht, ſegnete
jetzt die nach katholiſchen Begriffen unzweifelhaft ehebrecheriſche Verbin-
dung der beiden Kaiſerhäuſer. Das Lieblingsblatt der Wiener ſchilderte
mit unterthäniger Dankbarkeit, wie Gott ſeinen eingeborenen Sohn für
die Erlöſung der Menſchheit dahin gegeben und der gute Kaiſer Franz
nach dieſem Vorbilde ſeine Tochter für die Rettung des Vaterlandes opfere.
So war Oeſterreich im Jahre 1810. Niemals iſt einer hochherzigen
Erhebung ein tieferer ſittlicher Fall gefolgt.


Der Krieg hatte überall die innere Hohlheit des rheinbündiſchen Re-
giments an den Tag gebracht. Wie viel Groll und Haß in dem Volke
Frankens und Weſtphalens; welche Schwäche der Staatsgewalt in Sachſen,
wo der König noch vor dem Einmarſch des Feindes mitſammt ſeinem
Grünen Gewölbe das Land verließ! Um ſo bitterer zürnten die preußi-
ſchen Patrioten, daß die große Stunde verſäumt ſei. Die Königin klagte
ſchmerzlich: „Oeſterreich ſingt ſein Schwanenlied, und dann ade Germa-
nia!“ Und doch hatte der König nur gethan was die klar erkannte Pflicht
gebot. Napoleon war im Rechte, wenn er nach dem Frieden den preußi-
ſchen Geſandten anherrſchte: „es iſt nicht Euer Verdienſt, daß Ihr ruhig
bliebt; es wäre der Gipfel des Wahnſinns geweſen, wenn Ihr mir den
Krieg erklärt hättet mit den Ruſſen im Rücken!“ Er wußte wohl, daß
es ihm nöthigenfalls ein Leichtes geweſen wäre zunächſt den Kaiſer Franz
durch eine neue Schlacht zu einem Sonderfrieden zu zwingen und dann
mit zermalmender Wucht den Todesſtoß gegen das vereinzelte Preußen
zu führen. Wir Nachlebenden wiſſen auch, was jene Zeit weder ſehen
konnte noch wollte: daß ſelbſt der unwahrſcheinliche Fall eines öſterreichi-
ſchen Sieges unſerem Vaterlande kein Heil bringen konnte. Dann wäre
ein neues Wallenſteiniſches Zeitalter über Deutſchland hereingebrochen,
[350]I. 3. Preußens Erhebung.
die habsburgiſche Fremdherrſchaft an die Stelle der napoleoniſchen ge-
treten.


Der Mann aber, der an der großen Enttäuſchung die Hauptſchuld
trug, wurde ſchnell irr an der Klugheit ſeiner feinen Berechnungen. Ale-
xander fürchtete nichts ſo ſehr wie die Wiederherſtellung Polens durch Na-
poleon. Wenn Ihr daran denkt, ſagte er zu Caulaincourt, dann iſt die
Welt nicht groß genug um einen Ausgleich zwiſchen uns zu erlauben;
und wiederholt gab er dem franzöſiſchen Geſandten zu vernehmen: Ga-
lizien dürfe ſchlechterdings nur an Rußland fallen, wenn es nicht bei
Oeſterreich verbleibe. Nun mußte er erleben, daß Napoleon im Wiener
Frieden eigenmächtig das ganze Neugalizien, an anderthalb Millionen
Einwohner mit den wichtigen Plätzen Zamosc, Lublin und Krakau dem
Herzogthum Warſchau ſchenkte — lauter Gebiete, welche Rußland ſo-
eben erobert hatte und noch beſetzt hielt. Dem Czaren ſelber wurde blos
ein Brocken aus der Beute, der Landſtrich um Tarnopol, zugeworfen —
nur der Schande halber, nur damit die Welt ſehe, der Czar ſei doch
Frankreichs Verbündeter geweſen; nebenbei ſollte dies Danaergeſchenk den
Petersburger Hof mit dem Wiener gründlich verfeinden. Die Wiederauf-
richtung der alten polniſchen Krone rückte bedrohlich nahe; das Verhältniß
zwiſchen den Tilſiter Alliirten ward täglich kühler ſeit Napoleon den neuen
Freundſchaftsbund mit Oeſterreich geſchloſſen hatte. Alexander fühlte, daß
ihm ſelber ein Kampf um das Daſein bevorſtehe.


Zunächſt wurde Preußen ſtrenge zur Rechenſchaft gezogen für die
kriegeriſchen Abſichten des vergangenen Jahres. Nun der Imperator des
Hauſes Oeſterreich ſicher war, nahm er gar keine Rückſicht mehr. Er
kannte die geheimſten Gedanken des königlichen Hofes, theils durch die
Verrätherei der öſterreichiſchen Diplomaten, theils aus den Berichten ſeiner
eigenen Spione, und er hatte Grund zur Beſchwerde, da Preußen durch die
Einſtellung der Contributionszahlungen ſich ſelber ins Unrecht geſetzt hatte.
Wenn der König jetzt die ſchleſiſchen Güter des geächteten Braunſchweigers
confiscirte, ſo wußte Napoleon genau, daß dieſer Dienſteifer nur den
Zweck verfolgte die Beſitzungen des Welfen vor der franzöſiſchen Raubgier
zu retten. Mit polternder Ungeduld verlangte er die Zahlung der Rück-
ſtände, berechnete Wucherzinſen für die Säumniß. Als der König die
völlige Erſchöpfung der Finanzen einwendete und erzählte, wie er bereits
ſeine Juwelen und ſein goldenes Tafelgeſchirr zur Deckung der Staats-
ſchulden dahingegeben, da hieß es höhniſch: „welche erbärmlichen Mittel,
wenn man unnütze Lager hält, Pferde ankauft und zweckloſe Ausgaben
für das Heer macht!“


Um den Grollenden durch einen Beweis des Vertrauens zu beſchwich-
tigen verlegte der König auf Weihnachten 1809 ſein Hoflager wieder nach
Berlin, mitten zwiſchen die Garniſonen der Franzoſen. Wie oft waren
einſt in den fridericianiſchen Zeiten die Victoria ſchmetternden Poſtillone
[351]Ausgang des Miniſteriums Altenſtein.
durch dieſe Thore eingeritten. Und nun der Einzug der Beſiegten durch
das neue Königsthor! Die ſchöne Königin ſaß weinend in dem Wagen,
den ihr die verarmte Stadt geſchenkt; darauf der König zu Roß; hinter
ihm Scharnhorſt, inmitten der Generale, bleich und finſter im Sattel
hängend, dann die jungen Prinzen im Zuge ihrer Regimenter. Mehrere
hundert Männer aus den verlorenen Provinzen waren herbeigeeilt um
ihren angeſtammten Herrn bei ſeiner Rückkehr zu begrüßen; auch Arndt
und Jahn ſtanden im Volksgewühle, erſchüttert von dem Uebermaß der
Liebe, das mit einem male aus tauſend Herzen brach. Kein Auge blieb
trocken. Es war, als ob Fürſt und Volk und Heer einander gelobten,
daß nunmehr alle alte Schuld vergeſſen und vergeben ſei. Kleiſt aber be-
grüßte den König als den Sieger, der größer ſei als jener triumphirende
Cäſar, und rief, auf die Thürme der Hauptſtadt weiſend:


ſie ſind gebaut, o Herr, wie hell ſie blinken,

für beſſ’re Güter in den Staub zu ſinken.

Dem weichen Gemüthe Friedrich Wilhelms war es eine Freude, nun
auch ſeinerſeits, nach der patriarchaliſchen Weiſe der Zeit, dem treuen
Volke eine Liebe zu erweiſen. Im nächſten Monat feierte er zum erſten
male das Ordensfeſt, das demokratiſche Feſt einer bürgerlich ſoldatiſchen
Monarchie, und lud bis zum Poſtboten herunter Alle, die ſich in ihrem
Berufe hervorgethan, auf ſein Schloß zu Gaſte. Und bezeichnend genug,
Wenige nahmen an der allgemeinen Freude, die dem heimgekehrten Fürſten
entgegenjubelte, aufrichtiger theil als der franzöſiſche Geſandte Graf
St. Marſan. Der ehrenhafte hochconſervative Savoyard mußte dem
Könige das Aergſte und Schnödeſte ſagen was je einem preußiſchen Herr-
ſcher geboten wurde; er that nach ſeiner Amtspflicht, doch er ſah mit
ſtiller Bewunderung die ſittliche Größe dieſes gebeugten Staates und
empfand bald tiefe Verehrung für den Charakter Friedrich Wilhelms.
Zwiſchen dem unglücklichen Monarchen und dem Geſandten ſeines Tod-
feindes entſtand ein feſtes Verhältniß gegenſeitiger Hochachtung; noch viele
Jahre ſpäter, als der Graf piemonteſiſcher Miniſter war, ließ ihn der
König wiederholt ſeines vollen Vertrauens verſichern.*)


Was wog das Wohlwollen des Geſandten, da ſein Herr unerbittlich
blieb? Immer drohender und ſtürmiſcher wurden Napoleons Mahnungen.
Zwar einen Krieg gegen Preußen beabſichtigte er jetzt nicht: — dann
wäre der Entſcheidungskampf mit Rußland zur Unzeit ausgebrochen. Doch
die Gelegenheit ſchien günſtig, dem verhaßten Staate im Frieden abermals
eine Provinz zu entreißen. Bald erfuhr man, der Imperator wolle auf
ſeine Geldforderungen verzichten — gegen die Abtretung von Schleſien!
[352]I. 3. Preußens Erhebung.
Auch die Miniſter ſahen keinen anderen Ausweg mehr, ſie kamen zurück
auf jenen verzweifelten Gedanken einer neuen Gebietsverkleinerung, wel-
chen Schoen bereits vor dritthalb Jahren ausgeſprochen hatte. Am 10.
März 1810 geſtand Altenſtein dem Fürſten Wittgenſtein, der Staat ſei
verloren, wenn man nicht auf einen Theil von Schleſien verzichte. Der alte
Fürſt war ein Hofmann des gemeinen Schlages, ängſtlich, glatt, ſchlau und
frivol, ein abgeſagter Gegner Steins. Die Ehrloſigkeit dieſes Vorſchlags
brachte ihn doch in Harniſch; entrüſtet berichtete er Alles ſeinem könig-
lichen Herrn und machte dringende Gegenvorſtellungen. Dem Könige,
der dies unfähige Miniſterium nie ſonderlich geachtet, riß die Geduld: er
war ſofort entſchloſſen ſeine Räthe zu entlaſſen. Seinem klugen Ober-
kammerherrn hat er dieſe patriotiſche That nie vergeſſen; ſeit jenen Tagen
beſaß Wittgenſtein einen mächtigen ſtillen Einfluß, der ſich noch oft, und
meiſt zum Schaden der Monarchie zeigen ſollte. Darauf verſtändigte ſich
Friedrich Wilhelm mit Hardenberg, und nach langen Verhandlungen in
Paris ließ ſich auch Napoleon herbei, den Wiedereintritt des verfehmten
Staatsmannes zu geſtatten. Er mußte einſehen, daß bei dem entſchiedenen
Widerwillen des Königs die friedliche Erwerbung von Schleſien unmöglich
war; genug vorderhand, wenn ein fähiger Mann die Leitung der preußi-
ſchen Finanzen übernahm und die pünktliche Abzahlung der Contribution
verbürgte. Zu Anfang Juni 1810 erhielt Altenſtein den Abſchied, und
Hardenberg trat in das Amt. Die zweite Epoche der preußiſchen Re-
formen begann. —


Während das preußiſche Volk mit zorniger Ungeduld der Stunde
der Befreiung entgegenſah, wurde im rheinbündiſchen Deutſchland die
Schande des Vaterlandes nur in einigen Landſtrichen und in vereinzelten
patriotiſchen Kreiſen tief und bitter empfunden, am lebhafteſten im prote-
ſtantiſchen Norden und vor Allem in den abgetretenen preußiſchen Pro-
vinzen. Wie ein Mann hielt das treue Volk der Grafſchaft Mark zu-
ſammen unter der Herrſchaft des Großherzogs von Berg; man that was
man nicht laſſen durfte, unterwürfige Schmeichelei kam den Fremden hier
nie entgegen. Ueberall in dieſen Landſchaften fanden ſich einzelne treue
Beamte der alten Zeit, die ſich im Grunde des Herzens noch als preu-
ßiſche Staatsdiener und die neue Ordnung der Dinge nur als eine flüch-
tige Epiſode betrachteten: ſo der treffliche Juriſt Sethe in Münſter und
der junge Motz auf dem Eichsfelde. Der alte Präſident Rumann in
Celle trat ſein weſtphäliſches Amt erſt an als ihm ſein König Georg III.
die förmliche Erlaubniß gegeben hatte. Nur ſehr Wenige von den preußi-
ſchen höheren Beamten gingen ohne zwingenden Grund in die Dienſte
rheinbündiſcher Fürſten, und ſie verfielen der allgemeinen Verachtung:
[353]Stimmungen im Rheinbunde.
ſo General Schlieffen und der Miniſter Schulenburg-Kehnert. Auch
Dohm, der geiſtreiche Publiciſt, der ſo oft für die Krone Preußen Für-
ſtenbundspläne geſchmiedet, büßte ſein altes Anſehen ein, da er jetzt plötz-
lich den Glauben an ſeinen Staat verlor und bei König Jerome Dienſte
nahm. Da und dort führte ein trotziger Edelmann von altem Schrot
und Korn auf ſeine Weiſe den kleinen Krieg gegen die Fremden. Der
Freiherr von Wylich in Cleve brachte das Archiv des alten ſtändiſchen
Landtags auf ſeinem Schloſſe unter, trat überall als der einzige recht-
mäßige Vertreter des cleviſchen Landes auf, da ſeine ritterbürtigen Ge-
noſſen unterdeſſen hinwegſtarben, und als die Preußen endlich wieder ein-
zogen, verlangte er getroſt, daß ſie den zweibeinigen Landtag ſofort in
ſeine alten Rechte einſetzen müßten. Wie lachte der magdeburgiſche Adel,
als der unbändige Heinrich Kroſigk einmal die Gensdarmen des Königs
Jerome in das Spritzenhaus ſperren ließ und dann befriedigt ſeine Feſtungs-
haft abſaß; ſo lange „die Franzoſenzeit“ währte hatte der wilde Junker
die geladenen Piſtolen immer auf dem Tiſche liegen, und ſobald ſein alter
König rief, eilte er ſpornſtreichs über die Elbe zu den geliebten Fahnen.


In Sachſen und in Süddeutſchland klagte man wohl über die tau-
ſendfache Noth der Zeit; doch die vielhundertjährige Entfremdung vom
öffentlichen Leben und die Verkümmerung der Kleinſtaaterei ließen einen
rechtſchaffenen Haß ſelten aufkommen. Die Preußen glaubten nicht an
die Dauer des Weltreichs; in den Kleinſtaaten gab man allmählich jede
Hoffnung auf. Die leidſame deutſche Geduld machte aus der Noth eine
Tugend, verehrte den Rheinbund als das letzte Band, das die Nation
noch zuſammenhalte. Nicht blos der Schwächling Dalberg pries begeiſtert,
wie durch den rheiniſchen Bund die Vaterlandsliebe in jeder reinen Seele
erweckt werde. Auch Hans Gagern hoffte ein neues, weſentlich deutſches
Karolingerreich aus den Staatenbildungen des Imperators hervorgehen
zu ſehen. Der Bremer Smidt, ein durchaus patriotiſcher und nüchterner
junger Staatsmann, beſchwor ſeine Hanſeſtädte ſich dem Rheinbunde an-
zuſchließen, der doch bald zum germaniſchen Bunde werden müſſe; nur
ſo könnten die Hanſeaten wieder Deutſche ſein!


Wer das Schalten des Allgewaltigen ſcharf beobachtete, mußte freilich
jetzt ſchon erkennen, daß dieſe Vaſallenlande alleſammt beſtimmt waren,
dereinſt unmittelbar in „die große Familie“ des Kaiſerreichs aufgenommen
zu werden. Kaum waren die alten Fürſten entthront, ſo begann der
Unerſättliche ſeine eignen Brüder zu berauben, die neu geſchaffenen Staa-
ten wieder zu zerſtören. Kein Jahr verging, das nicht den Staaten des
Rheinbundes neue Grenzverſchiebungen brachte. Der Erbe der Revolution
betrachtete, genau wie die Cabinetspolitik des alten Jahrhunderts, den
Beſitz von Land und Leuten nur als eine perſönliche Verſorgung für
ſeine Angehörigen und Getreuen; als er das Großherzogthum Berg ver-
größerte, ſagte er amtlich, das geſchehe um der Prinzeſſin Karoline einen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 23
[354]I. 3. Preußens Erhebung.
angenehmen und vortheilhaften Dienſt zu erweiſen. Was hinderte, ſolche
Eintagsgebilde politiſcher Laune wieder nach Laune zu zerſtören? Ein
Zufall war es doch nicht, daß Napoleon die wichtige Feſtung Erfurt im
Herzen Deutſchlands für ſich behielt und ſie niemals einem ſeiner Sa-
trapen anvertrauen wollte. In den Pariſer Salons war man über das
künftige Schickſal der Rheinbundſtaaten nicht im Zweifel und begrüßte
die Unterthanen des Königs Jerome, wenn ſie an die Seine kamen,
ſcherzend als Français futurs.


Die Stämme im Süden und Weſten Deutſchlands ließen ſich von
ſolchen Befürchtungen nicht anfechten. Es war in der Ordnung, daß
der Code Napoleon von tüchtigen deutſchen Juriſten, wie Daniels und
Strombeck wiſſenſchaftlich bearbeitet wurde; aber auch das Staatsrecht
des Rheinbundes, das immer ein todter Buchſtabe blieb, reizte den Scharf-
ſinn unterthäniger deutſcher Gelehrten, wie Winkopp und Karl Salomo
Zachariä. Während Napoleon ſelbſt alle die föderaliſtiſchen Pläne des
getreuen Dalberg zurückwies und trocken bemerkte: „ich lege keinen Werth
auf den Bund als ſolchen, nur auf ſeine einzelnen Fürſten und ihre
Unabhängigkeit“ — entſtand in Deutſchland eine ganze Literatur, die mit
liebevollem Fleiße jede Controverſe dieſes unfindbaren Bundesrechts er-
örterte.


Mit gutem Grunde wahrlich zürnte die patriotiſche Jugend des Nor-
dens über den Lügengeiſt der neuen Zeit, denn niemals früher war in
den deutſchen Kleinſtaaten eine ſolche Fülle gehäſſiger Lügen über „den
Boruſſismus“ verbreitet worden wie in den Tagen Steins und Scharn-
horſts. Der Preußenhaß nahm neue Formen an. In der alten Zeit
hatte der preußiſche Staat unter der katholiſch-kaiſerlichen Partei ſeine
leidenſchaftlichſten Feinde gefunden, und auch jetzt noch frohlockten die
Münſterländer über den Untergang des preußiſchen Ketzerregiments; doch
traten nunmehr, namentlich in den Kreiſen der bairiſchen Beamten, auch
modern gebildete Männer auf, die von der lichten Höhe franzöſiſcher Auf-
klärung herunter hochmüthig abſprachen über die finſtere Macht des ſlavi-
ſchen Junkerthums in Preußen und den Imperator ermahnten, das zu-
rückgebliebene Oeſterreich und Preußen mit einer Verfaſſung nach galliſchem
Muſter zu ſegnen. Die giftigen Libelle des Baiern Aretin waren die
Erſtlinge jener neuen napoleoniſch-particulariſtiſchen Literatur, die ſeitdem
durch viele Jahre eine Macht des Unheils im deutſchen Süden geblieben
iſt. Der Vielgewandte verſtand ſehr geſchickt, zugleich den altbairiſchen
Ketzerhaß und den Aufklärungsdünkel der neuen Bureaukratie gegen
Preußen aufzuregen: der Staat Friedrichs war das Land der Ketzerei
und der adlichen Privilegien, Napoleon der Held der Freiheit und der
römiſchen Kirche. Solche Märchen fanden Glauben, da die armſeligen
Zeitungen des Rheinbunds von den preußiſchen Reformen nichts erzählten
und die hirnverbrannten teutonomaniſchen Tugendbündler Stein und
[355]Literatur des Particularismus.
Scharnhorſt nur mit geringſchätzigem Spotte behandelten. Dann erſchie-
nen plötzlich zu gleicher Zeit deutſch und franzöſiſch in zwei Buchhand-
lungen des Rheinbundes die Memoiren der Markgräfin von Baireuth,
gewiß nicht ohne das Zuthun eines der kleinköniglichen Höfe. Welcher
Sturm der Schadenfreude im Lager des Particularismus! Der unver-
dächtigſte Zeuge, die Lieblingsſchweſter des großen Friedrich beſtätigte Alles
was man ſich im ſüddeutſchen Volke von der unerträglichen Härte des
preußiſchen Staates, von der ſoldatiſchen Steifheit ſeiner Regierung und
der herzloſen Grauſamkeit ſeines Königshauſes längſt erzählte! Wilhelmi-
nens gallige Herzensergießungen wurden dem guten Rufe Preußens ge-
fährlicher als irgend eine Schmähſchrift ſeiner Feinde, und es währte
lange bis die hiſtoriſche Kritik die Unwahrhaftigkeit der verbitterten geiſt-
reichen Fürſtin nachwies. Napoleon bemerkte zufrieden: „alle deutſchen
Höfe, namentlich der ſächſiſche, wünſchen die Theilung Preußens.“


Die Wittelsbacher hatten längſt vergeſſen, daß ſie den Hohenzollern
den Beſitz ihrer Erblande verdankten; Friedrich von Württemberg und
mehrere andere Fürſten des Rheinbundes wurden nicht müde, den Im-
perator vor Preußens gefährlichen Abſichten zu warnen; der ſächſiſche
Miniſter Graf Senfft entwarf mit der oberflächlichen Haſtigkeit kleinſtaat-
licher Ehrbegier Plan auf Plan, wie Preußen vernichtet und auf ſeinen
Trümmern ein großes ſächſiſch-polniſches Centralreich aufgebaut werden
ſolle. Der Geograph Mannert machte die Entdeckung, daß die Baiern
keine Deutſchen ſeien, ſondern ein keltiſches Volk, den Franzoſen blutsver-
wandt, wie man ſchon an ihrem nationalen Schnauzbarte erkenne. Ni-
colaus Vogt aber bewies in ſeinem Buche „die deutſche Nation und ihre
Schickſale“, wie die Deutſchen zweitauſend Jahre lang das Drama „die
feindlichen Brüder“ aufgeführt, bis endlich Napoleon die alte deutſche
Verfaſſung in neuen Formen wieder aufgerichtet habe; ſeit der Vermäh-
lung des Imperators mit Marie Luiſe hat „Schönheit gepaart mit Hel-
denkraft“ dauernden Frieden gegründet in dieſem zankenden Volke; drei
große Segnungen bringt uns der Rheinbund: den Untergang der feuda-
len Monarchie und der religiöſen Zwietracht, dazu die Gewißheit, daß
im Innern Deutſchlands nie wieder ein Krieg geführt werden kann, end-
lich die Herſtellung der nationalen Unabhängigkeit; „küßt darum die Hand,
welche Euch lehrt einig zu ſein, als Gotteshand!“ Die Völkchen dieſer
Kleinſtaaten hatten ſich längſt gewöhnt jede Laune ihrer angeſtammten
Herren ſich „unterthänigſt unterthänig wohlgefallen zu laſſen“, wie die
herkömmliche Redensart in den Landtagsacten lautete; doch ſo ſchamlos,
wie jetzt den fremden Gewalthabern gegenüber, war auf deutſchem Boden
noch nie geheuchelt und geſchmeichelt worden. Mit unwandelbarer Begeiſte-
rung feierte der Profeſſor der Beredſamkeit in Göttingen die Verdienſte
Napoleons und Jeromes — derſelbe Mann, der früher am Geburtstage
Georgs III. und Friedrich Wilhelms III. patriotiſche Prachtreden gehalten
23*
[356]I. 3. Preußens Erhebung.
hatte. Ueberall wo der Imperator erſchien mußten die Gemeinden und
Corporationen ihm ihre Huldigungen darbringen, und das rheinbündiſche
Beamtenthum verſtand vortrefflich „den freien Ausdruck der Freude und
öffentlichen Dankbarkeit anzufeuern“. Byzantiniſche Adreſſen prieſen Na-
poleons Unbeſiegbarkeit, ſeine weiſe Gerechtigkeit und vornehmlich ſeine
menſchenfreundliche Friedensliebe. „Jedesmal, ſagten ihm die Stände
des Großherzogthums Berg, jedesmal wenn Sie gezwungen waren die
Waffen zu ergreifen, ſchienen Sie grundſätzlich dem Kriege ſelbſt den Krieg
zu erklären!“


Wirkliche Geſinnung war im Rheinbunde wie im kaiſerlichen Frank-
reich faſt allein noch bei den Truppen zu finden. Es ging zu Ende mit
jenen philiſterhaften Friedensoffizieren der alten Reichsarmee, die ſich
aus dem Kampfgetümmel wehmüthig zu den Schweinchen und Hühnern
ihres heimiſchen Hofes zurückſehnten. Ein neues Geſchlecht wuchs heran,
voll prahleriſchen militäriſchen Selbſtgefühls, begeiſtert für die Glorie der
kaiſerlichen Adler; ein tüchtiger bairiſcher Offizier mußte zu jedem Früh-
ſtück ein Dutzend Oeſterreicher verſpeiſen, denn was hatte Baierns Kriegs-
geſchichte Herrlicheres aufzuweiſen als jene glänzenden Gefechte um Re-
gensburg? Napoleon unterließ nichts was den vaterlandsloſen Landsknechts-
geiſt dieſer Tapferen nähren konnte. Sie ſollten ihm ihre Seele ver-
ſchreiben; darum verwendete er ſie gern zur Beſetzung der preußiſchen
Feſtungen und ſchickte auch gegen die aufſtändiſchen Tyroler meiſtentheils
rheinbündiſche Truppen, Baiern und Sachſen, ins Feld.


Das Syſtem der napoleoniſchen Präfectenverwaltung fand nirgends
einen dankbareren Boden als in den geſchichtsloſen neuen Mittelſtaaten
des Südens. Hier nahm das Organiſiren und Reorganiſiren kein Ende
— in Baden wurden die Verwaltungsbezirke binnen ſieben Jahren drei-
mal völlig umgeſtaltet — bis es ſchließlich gelang den verworrenen Hau-
fen buntſcheckiger Staatentrümmer nach Flußläufen zu ordnen und in
regelrechte Departements zurechtzuſchneiden. Der Protector hütete ſich
weislich, den Dünkel ſeiner Getreuen durch unnützes Eingreifen in ihre
Landesverwaltung zu reizen. Von ſelbſt verſtand ſich, daß ſeine Geſandten
vor den Prinzen der Vaſallenſtaaten überall den Vortritt hatten. Brauchte
er neue Truppen, ſo ließ er ſich die Einnahmebudgets ſeiner Könige und
Großherzoge ohne Weiteres vorlegen und entſchied nach Gefallen. Auch
hielt er als Schirmvogt der römiſchen Kirche ſtreng darauf, daß die Katho-
liken im Staatsdienſte nicht zu kurz kamen, und befahl überall wachſame
Beaufſichtigung der Feinde Frankreichs, namentlich unter dem Adel. Im
Uebrigen durften die kleinen Despoten ziemlich ungeſtört ſchalten.


Am ſtärkſten und nachhaltigſten wirkte die bonapartiſtiſche Völkerbe-
glückung in Baiern; kein anderer Theil Deutſchlands hat während der
jüngſten drei Menſchenalter größere Wandlungen erlebt. Seit jenem Un-
heilsjahre 1524, da die alten Wittelsbacher ihre Erblande der evangeli-
[357]Baiern.
ſchen Lehre eigenmächtig verſchloſſen und dadurch die kirchlich-politiſche
Spaltung der deutſchen Nation begründeten, war der tapfere und treue,
an rüſtiger Kraft des Leibes und des Willens den beſten Deutſchen eben-
bürtige altbairiſche Stamm dem geiſtigen Leben dieſes paritätiſchen Volkes
faſt ſo fremd geworden wie die Oeſterreicher. Am Schluſſe des alten Jahr-
hunderts lebten in München drei Proteſtanten, die amtlich als Katholiken
galten und zum Abendmahl nach Augsburg hinüberfuhren.*) Auf Schritt
und Tritt begegnete der Wanderer den Erinnerungen des ſtreitbaren Katho-
licismus; zu den Füßen der Marienſäule auf dem Schrannenplatze ſtand
der Genius, der den Drachen der Ketzerei zerſchmettert. Das Volk glaubte
feſt, ein Proteſtant ſehe ganz anders aus als ehrliche Chriſtenmenſchen;
in den Faſtnachtszügen der Bauern erſchien der Luther mit ſeiner Kathi
neben dem bairiſchen Hieſel und dem Schinderhannes; noch während der
napoleoniſchen Feldzüge ließ ein altbairiſches Bataillon ein Bild des heiligen
Petrus Spießruthen laufen, weil der Heilige ſeiner Heerde das erbetene
gute Marſchwetter verſagt hatte. Die geſammte neue Literatur war „luthe-
riſch deutſch“, blieb dieſen Hinterwäldlern verpönt und unbekannt.


Welch ein Umſchwung nun, als plötzlich ein ganzes Bündel evange-
liſcher Territorien mit dem gelobten Lande der Klöſter und der geiſtlichen
Schulen zuſammengeſchweißt wurde und gleichzeitig die Dynaſtie Zwei-
brücken ihren Einzug hielt — jene Nebenlinie des Hauſes Wittelsbach,
die zwar wieder zur römiſchen Kirche zurückgekehrt, aber durch ihre ſchwe-
diſch-proteſtantiſchen Traditionen und durch langjährigen Familienzwiſt
mit der bigotten älteren Linie tief verfeindet war. Für große, ſchöpferiſche
politiſche Ideen freilich blieb die flache gedankenloſe Gutmüthigkeit des neuen
Königs Max Joſeph ebenſo unzugänglich wie die bureaukratiſche Härte
und Herrſchſucht ſeines Miniſters Montgelas. Niemand verfiel auf den ſo
naheliegenden Gedanken, den Schwerpunkt des jungen Königreichs in einen
paritätiſchen Landſtrich, nach Nürnberg oder Augsburg zu verlegen. Die
Reſidenz blieb in München, und die Hauptſtadt übte auf die Provinzen
einen ſchädlichen Einfluß. Das Bier, das den Altbaiern, nach dem Ge-
ſtändniß ihres Hiſtorikers Weſtenrieder, das fünfte Element des Lebens
bildete, hielt ſeinen Siegeszug durch das ganze Land; die rührigen Schwa-
ben und Franken nahmen bald Vieles an von der bequemen, läßlichen
Sinnlichkeit der Altbaiern. Dieſe reichbegabten Stämme kamen langſam
herab in ihrem geiſtigen Leben, ſie haben unter bairiſchem Scepter nie-
mals wieder ſo Großes für die deutſche Cultur geleiſtet wie einſt in den
Zeiten ihres reichsſtädtiſchen Glanzes. Für die altbairiſchen Lande dagegen
wurde das Zuſammenleben mit den geiſtreicheren, aufgeweckten Nachbarn
ein unermeßlicher Segen.


[358]I. 3. Preußens Erhebung.

Die Perſon des Landesherrn war in dieſem patriarchaliſchen Volke
von jeher eine lebendige Macht; ſo recht aus Herzensgrunde begrüßten
die Münchener Bürger den vergnüglich mit den Augen zwinkernden neuen
Herrſcher: ’s iſt nur gut, Max, daß wir Dich haben! Wie horchte das
Volk auf, als man vernahm, daß die Gemahlin des luſtigen Max, die
edle Prinzeſſin Karoline von Baden, eine Ketzerin ſei, als dann der
wackere Cabinetsprediger Schmitt, zuerſt beſcheiden im Nymphenburger
Schloſſe, nachher öffentlich in der Hauptſtadt evangeliſchen Gottesdienſt
hielt und Lutheranern wie Reformirten die Sacramentsgemeinſchaft ge-
währte. Das hatte man nicht mehr erlebt, ſeit der Eroberer Guſtav
Adolf in der Reſidenz der Wittelsbacher gehauſt. Dann kam eine Menge
proteſtantiſcher Beamten ins Land, darunter manche Heißſporne der Auf-
klärung wie Anſelm Feuerbach. Die Gleichberechtigung der Confeſſionen
wurde verkündigt, und was das Wichtigſte war, das Schulweſen der Auf-
ſicht des Staates unterworfen. Dem Feuereifer des Illuminaten Montgelas
war damit noch nicht genug geſchehen; er haßte „das Schamanenthum“
der römiſchen Kirche und die fromme Einfalt des altbairiſchen Volkes,
dem er immer ein Fremder blieb. Eine Menge von Klöſtern wurde ge-
ſchloſſen, hunderte von Kirchen ausgeräumt und ihr alter Schmuck unter
den Hammer gebracht. Es war ein radicaler Umſturz, herzloſe Frivolität
und brutaler Hochmuth führten das große Wort; doch mildere Hände
hätten den Bann der Glaubenseinheit, der über dieſem Lande lag, nicht ge-
brochen. Ein tief einſchneidendes Geſetz jagte das andere; die Leibeigenſchaft
fiel, die Ablöſung der bäuerlichen Laſten und Zehnten ward ausgeſprochen,
indeß blieben, Dank der fieberiſchen Haſt der Regierung, die meiſten dieſer
mit lärmender Prahlerei angekündigten Reformen unausgeführt. Auch
den neuen Landtag wagte der mißtrauiſche Miniſter niemals einzuberufen,
obgleich dieſem ſonderbaren Parlamente nur das Recht zuſtehen ſollte,
durch drei Commiſſäre ſeine Anſichten auszuſprechen und dann ſchweigſam
über die Vorlagen der Regierung abzuſtimmen. Von den neuen Inſti-
tutionen ſtand nichts feſt als das Conſcriptionsheer und die Allmacht des
Beamtenthums, das noch immer ebenſo nachläſſig, roh und beſtechlich
war wie in der guten alten Zeit.


Die junge Krone gefiel ſich in einem lächerlichen Dünkel; man ſprach
amtlich nur von dem Reiche Baiern, und es that dem königlichen Selbſt-
gefühle keinen Abbruch, daß der Protector ſeine Befehle an Max Joſeph
jetzt mit einem einfachen il faut, il faut zu beginnen und zu ſchließen
pflegte. Baiern ſollte der glückliche Erbe der preußiſchen Monarchie wer-
den, ihrer Macht, ihres Kriegsruhms, ihrer Aufklärung. Um den Glanz
von Berlin zu überbieten wurden die Münchener Akademie und die aus
der alten Jeſuitenburg Ingolſtadt nach Landshut verlegte Univerſität
reichlich ausgeſtattet; doch was konnten die tüchtigen aus dem Norden be-
rufenen Gelehrten hier leiſten in der ſtockigen Luft dieſes napoleoniſchen
[359]Württemberg.
Satrapenlandes, dem der ſittliche Schwung des preußiſchen Lebens völlig
fehlte? Wie ſchwer und langſam die zarte Pflanze der Bildung in dieſem
harten Boden Wurzeln ſchlug, das lehrte der Mordanfall eines bairiſchen
Studenten auf den Philologen Thierſch; der bigotte Bajuvare konnte den
Anblick des norddeutſchen Ketzers nicht länger ertragen. Alles alte Her-
kommen war zerſtört, Niemand fühlte ſich mehr ſicher im Beſitze wohler-
worbener Rechte; dabei wuchs die Noth der Finanzen von Jahr zu Jahr,
die gewiſſenloſe Verwaltung kannte den Betrag der Staatsſchulden ſelbſt
nicht mehr. Und doch hat das gewaltthätige Regiment des Halbfranzoſen
Montgelas eine glücklichere Zeit für Altbaiern vorbereitet; dieſer Verächter
alles deutſchen Weſens — ſo wenig überſieht der Menſch die letzten Wirk-
ungen ſeines Schaffens — führte ahnungslos den bairiſchen Stamm
aus einem dreihundertjährigen Sonderleben wieder zu der Gemeinſchaft
der modernen deutſchen Cultur zurück.


Jene alte Weiſſagung, die dem ehrgeizigen kleinen Hauſe Württem-
berg die Königskrone von Schwaben verhieß, war nun endlich in Erfül-
lung gegangen; aber auch ein anderes Sprichwort ſollte ſich bewähren,
das die Altwürttemberger mit naivem Selbſtgefühle zu wiederholen pfleg-
ten: „unſere Fürſten ſind immer böſe Kerle geweſen.“ Ein hochbegabter
Mann, neben Herzog Karl Auguſt vielleicht der beſte Kopf in jener Ge-
neration deutſcher Fürſten, hatte König Friedrich den Sinn für edlere
Bildung früh in ſich ertödet: alle Gelehrten waren ihm nur noch Schrei-
ber, Schulmeiſter und Barbierer. Als er dann den Befehl Napoleons
chassez les bougres! gelehrig befolgt und ſeine alten Landſtände aus-
einandergejagt hatte, da kannte der Hochmuth des Selbſtherrſchers keine
Schranken mehr, und er begann ein Sündenregiment, wie es der gedul-
dige deutſche Boden noch nie geſehen. Breit und frech wie die neue
Königskrone auf dem Dache des Stuttgarter Schloſſes prunkte die Willkür
daher; der König verbarg es nicht, daß er Tarquinius und Nero als die
Meiſter der Herrſcherkunſt bewunderte. Zweitauſend dreihundert Reſcripte
der Sacra Regia Majestas warfen den geſammten Beſtand des hiſtori-
ſchen Rechtes über den Haufen, verſchmolzen das bürgerlich-proteſtantiſche
Altwürttemberg mit den geiſtlichen, reichsſtädtiſchen und adlichen Territo-
rien Neuwürttembergs zu einer Maſſe. Der Wille des Königs und ſeiner
zwölf Landvögte gebot unumſchränkt in den nördlichen wie in den ſüdlichen
Provinzen des Reichs — ſo lautete der beſcheidene Ausdruck der Amts-
ſprache; ſämmtliche Gemeindebeamten ernannte der König. Alles zitterte,
wenn der ruchloſe dicke Herr in ſeinem Muſchelwagen heranfuhr; die Werk-
zeuge ſeiner unnatürlichen Lüſte ſowie einige habgierige mecklenburgiſche
Junker bildeten ſeine tägliche Umgebung. Durch Zwangsaushebung ver-
ſchaffte er ſich alle Arbeitskräfte, die er brauchte, ſogar ſeine Lakaien; in
einem einzigen Oberamte wurden mehr als 21,000 Mann zur königlichen
Jagdfrohne aufgeboten. Ein ſtrenges Verbot der Auswanderung raubte
[360]I. 3. Preußens Erhebung.
dem verzweifelnden Volke die letzte Hoffnung. Mit beſonderer Schadenfreude
gab der König den erlauchten Herren vom Reichsadel ſeine ſelbſtherrliche
Macht zu fühlen; er bedurfte kaum der Mahnungen des Protectors, der
ſeine Vaſallen beſtändig vor den Umtrieben der Mediatiſirten warnte.
Die alten Familiengeſetze der Fürſten, Grafen und Ritter wurden mit
einem Schlage beſeitigt; die neue Hofrangordnung gab den adlichen Grund-
herren ihren Platz hinter den Pagen und Stalljunkern, und wer nicht
bei Hofe erſchien verlor ein Viertel ſeines Einkommens.


Gewiß entſprang auch dieſer Sultanismus — wie Stein das Treiben
der rheinbündiſchen Despoten zu nennen pflegte — nicht allein der per-
ſönlichen Laune. Der König verfolgte und erreichte das Ziel der würt-
tembergiſchen Staatseinheit, und es bedurfte einer eiſernen Fauſt um
dieſe klaſſiſchen Lande der Kirchthurmspolitik in etwas größere Verhältniſſe
einzuführen. Ueberall wo die rheinbündiſche Bureaukratie die Erbſchaft
der kleinen Reichsfürſten antrat, ſtieß ſie auf völlig verrottete, lächerliche
Zuſtände. Als die Staaten der beiden Häuſer Leiningen-Weſterburg dem
Großherzogthum Berg einverleibt wurden, da fand ſich in der gemein-
ſchaftlichen Kreiskaſſe beider Lande als einziger Beſtand — ein Vorſchuß
von 45 Gulden, den der Rendant aus eigener Taſche vorgeſtreckt. Der
Untergang ſolcher Staatsgebilde konnte kein Verluſt für die Nation ſein.
In Württemberg aber wurde die unvermeidliche Revolution mit ſo grau-
ſamer Roheit, mit ſo cyniſchem Hohne durchgeführt, daß die Maſſen nur
die Härte, nicht die Nothwendigkeit des Umſturzes fühlen konnten. Wäh-
rend die geknebelte Preſſe ſchwieg, ſammelte ſich im Volke ein ſtiller dumpfer
Groll gegen den König an. Die Einwohner der Reichsſtädte, der hohen-
lohiſchen, der Stifts- und Ordenslande wollten ſich an das neue Weſen
ſchlechterdings nicht gewöhnen. Auch die Altwürttemberger vergaßen über
dem ſchwereren Drucke der Gegenwart Alles was einſt die Vettern und Vet-
tersvettern der „Ehrbarkeit“ in ihren Landtagsausſchüſſen geſündigt hatten
und ſehnten ſich zurück nach dem „alten guten Rechte“ der ſtändiſchen
Verfaſſung. Der Geſichtskreis dieſer kleinſtaatlichen Welt blieb freilich
ſo eng, daß ſelbſt der geiſtvollſte und leidenſchaftlichſte Stamm des Südens
von dem wilden Nationalhaſſe, der die preußiſchen Herzen bewegte, kaum
berührt wurde. Die Schwaben verwünſchten ihren heimiſchen Tyrannen;
an den letzten Grund ihrer Leiden, an die Schmach der Fremdherrſchaft
dachten ſie wenig. Nur einzelne hochſinnige Naturen, wie der junge
Ludwig Uhland, empfanden den ganzen Ernſt der Zeit.


So lange der milde und gerechte Karl Friedrich lebte wurde die
Härte des rheinbündiſchen Regiments in Baden nicht allzu ſchwer empfun-
den. Erſt unter ſeinem Nachfolger Großherzog Karl brach auch über dies
Land die wüſte Willkür des Bonapartismus herein. Die Elſaſſer und
Lothringer freuten ſich der Glorie des Kaiſerreichs, zählten mit Stolz die
lange Reihe der Helden auf, welche ihr Land unter die Fahnen des Un-
[361]Norddeutſche Rheinbundsſtaaten.
beſieglichen geſendet hatte: Kleber, Kellermann, Lefevre, Rapp und den
Tapferſten der Tapferen, Ney. Die übrigen Lande des linken Ufers ver-
harrten in tiefem Schlummer. Den Alten lag die gedankenloſe Genießlich-
keit der biſchöflichen Zeiten noch in den Gliedern, die Jungen wanderten
mit dem breiten Bonaparthut geſchmückt in die franzöſiſchen Lyceen.
Wagte ſich hier ja einmal ein deutſches Buch heraus, ſo begegnete ihm
das Mißtrauen der kaiſerlichen Cenſoren, die kein Deutſch verſtanden;
die Schrift des Naturforſchers Treviranus über die Organiſation der Blatt-
laus ward beanſtandet, weil die Organiſation den Cenſor an den Tugend-
bund erinnerte. Die letzten Spuren deutſcher Bildung ſchienen im Ver-
ſchwinden. Namentlich die leichtlebigen Pfälzer fügten ſich ſchnell dem
wälſchen Weſen; von den Beamten verlangte der gute Ton, daß ſie auch
im Hauſe franzöſiſch radebrechten. Selbſt unter den preußiſchen Patrioten
wurde vielfach bezweifelt, ob es noch möglich ſei dies Baſtardsvolk dem
deutſchen Geiſte wiederzugewinnen. In Darmſtadt, in Naſſau, überall
das gleiche Weſen: Kriecherei gegen den Protector, durchfahrende Strenge
gegen das eigene Volk. Selbſt der feurige Verehrer der Kleinſtaaterei,
Hans Gagern vermochte die tiefe Unſittlichkeit dieſes Treibens nicht mehr
zu ertragen; die patriotiſche Strömung der neuen Literatur ergriff auch
ihn, er verließ den naſſauiſchen Dienſt und ſchrieb in ſeiner verworrenen
Weiſe eine Nationalgeſchichte der Deutſchen.


Den ſchärfſten Gegenſatz zu der revolutionären Politik der Staaten
des Südens und Weſtens bildete das Stillleben der kleinen Territorien
des Nordens. Hier blieben die alten Inſtitutionen auch unter dem Rhein-
bunde ebenſo unverändert wie die Fürſtenhäuſer und die Landesgrenzen;
nur die Conſcription mußte überall eingeführt werden. Im Königreich
Sachſen war ſogar dieſe einzige Neuerung nicht durchzuſetzen; man be-
gnügte ſich, den nach alter Weiſe angeworbenen Truppen durch die Ein-
führung neufranzöſiſcher Reglements eine beſſere militäriſche Haltung zu
geben. Die alte Geſellſchaftsordnung bewahrte hier noch immer eine
überraſchend ſtarke Kraft des Widerſtandes. Napoleon verſchmähte die
kleinlichſten Mittel nicht um ſich den Gehorſam des ſächſiſchen Hofes zu
ſichern; jahrelang hielt er die albertiniſche Eitelkeit hin durch unbeſtimmte
Andeutungen, als würde er vielleicht die Tochter des Königs heirathen-
Friedrich Auguſt folgte den Befehlen des Protectors faſt noch unterwürfi-
ger als ſeine Genoſſen in München und Stuttgart, er ließ in Warſchau
den Code Napoleon und den ganzen Mechanismus der franzöſiſchen Prä-
fectenverwaltung einführen. Doch ſeinen ſächſiſchen Ständen gegenüber
wagte er nichts: weder die Aufhebung der Vorrechte des Adels noch die
ſtaatsrechtliche Vereinigung der Erblande mit der Lauſitz und den ſtifti-
ſchen Nebenlanden. Der unförmliche Bau des altſtändiſchen Staats-
weſens blieb unwandelbar aufrecht, desgleichen die weltberühmte ſteife
Etikette des Hofes, alſo daß der Emporkömmling Jerome ſeinem Geſandten
[362]I. 3. Preußens Erhebung.
Dohm die Weiſung gab, hier in Dresden an erſter Quelle die Geheim-
niſſe des Ceremoniells zu ſtudiren und ausführlich darüber zu berichten.
Unter den alteingeſeſſenen Herren des Nordens hat nur einer ſeinen
Staat in napoleoniſche Formen umgegoſſen: der närriſche Herzog von
Koethen. Der ruhte nicht bis ſein Reich in zwei Departements getheilt,
mit einem Staatsrathe, Präfecten, Unterpräfecten und dem „heilbringen-
den“ Code geſegnet war: alle dieſe Herrlichkeiten verkündete das neue
Bulletin des lois de l’Empire Anhaltin-Coethien.


Den beiden Napoleoniden, welche inmitten dieſer hochconſervativen
norddeutſchen Welt ihre Throne aufrichteten, war eine revolutionäre Po-
litik durch die Natur der Dinge geboten. Hier, in „Staaten ohne Ver-
gangenheit“ — wie der weſtphäliſche Miniſter Malchus ſich wohlgefällig
ausdrückte, lag kein Grund vor alte Ueberlieferungen zu ſchonen, hier
konnte Alles was beſtand kurzerhand nach der Schablone der napoleoni-
ſchen constitution régulière umgeformt werden. In Weſtphalen wie in
Berg begann die Neugeſtaltung unter der Oberaufſicht des Imperators
ſelber; beiden Vaſallen ſchärfte er ein, ſie ſollten durch die Zerſtörung
aller Privilegien dahin wirken, daß die norddeutſchen Nachbarn, nament-
lich die Preußen, ſich nach der napoleoniſchen Herrſchaft ſehnten. In
der That galt das Staatsrecht des Königreichs Weſtphalen nicht blos im
Rheinbunde, ſondern auch bei einem Theile der preußiſchen Patrioten als
eine Muſterverfaſſung. Wie ſtattlich erhob ſich hier die Krone mit ihrem
Scheinparlamente hoch über der eingeebneten, von allen Standesvorrechten
völlig befreiten Geſellſchaft; und zudem die Schlagfertigkeit der Präfecten,
die raſchere Rechtspflege, die ungewohnte Höflichkeit der meiſten Beamten,
die Beſeitigung der Binnenmauthen, die Aufhebung der Leibeigenſchaft,
der Patrimonialgerichte und der gutsherrlichen Gewalt! Die neue Herr-
ſchaft wußte ſich viel mit ihrer Bauernfreundlichkeit. Nicht einmal die
Namen der alten ſtändiſchen Gliederung des flachen Landes ließ ſie mehr
gelten; das altgermaniſche Kothſaſſe ſchien den aufgeklärten Räthen des
Königs ſchon darum anſtößig weil ſie das Wort von Koth ableiteten. Wer
auf dem Lande wohnte war paysan. Der vielgeplagte „Ruſticalſtand“
befand ſich in mancher Hinſicht wohler als vormals unter dem Regimente
der hannoverſchen Junker und der heſſiſchen Soldatenverkäufer. Noch
heute hat ſich unter den kleinen Leuten des Göttinger Landes der Name
Piſänger erhalten. Die Bauern fühlten ſich geehrt, wenn ihre Repräſen-
tanten im Schloſſe zu Caſſel unter den vornehmen Herren erſchienen
und von der Wache mit präſentirtem Gewehr begrüßt wurden. Nach
Jahren noch geſtanden die Pächter im Magdeburgiſchen dem preußiſchen
Miniſter Klewitz treuherzig, eine ſolche Verfaſſung möchten ſie wohl wie-
der haben.*)


[363]Weſtphalen. Berg.

Trotzdem war von Anhänglichkeit auch unter dem Landvolke nicht
die Rede. Die Treue zu den alten heimiſchen Herren wankte nicht, und
wie ſollte der Bauer Vertrauen faſſen zu Beamten, deren Sprache er
nicht verſtand? Wenngleich Einzelne abfielen und in Weſtphalen wie in
Berg mehrere ſtolze Adelsgeſchlechter durch Untreue ihre alten Namen
ſchändeten, ſo ſah doch die ungeheure Mehrheit des Volks mit ſteigendem
Abſcheu auf die Herrſchaft der Fremden. Die wüſten Orgien des flachen,
leichtfertigen Jerome, die Frechheit der franzöſiſchen Gauner und Abenteu-
rer, welche ſeine Verſchwendung mißbrauchten, die furchtbaren Menſchen-
opfer der unabläſſigen Kriege, die hündiſche Schmeichelei gegen „den, vor
dem die Welt ſchweigt“ — wie Johannes Müller in einer ſeiner parla-
mentariſchen Schaureden ſagte — die ſchlechten Künſte der geheimen
Polizei, die Verfolgung der Deutſchgeſinnten und die Verhöhnung der
Mutterſprache, „die Euch in Europa iſolirt“ — Alles, Alles an dieſem
ausländiſchen Weſen erſchien dem kerndeutſchen Volke gehäſſig und ver-
ächtlich, wie ein tolles Faſchingsſpiel, das binnen Kurzem ſpurlos ver-
ſchwinden müſſe. Jerome fühlte bald ſelbſt, wie der Boden unter ſeinen
Füßen ſchwankte; um ſo ſtraffer hieß ihn Napoleon die Zügel anziehen.
Der wohlmeinende Miniſter Bülow, ein Neffe Hardenbergs, mußte dem
Unwillen der franzöſiſchen Partei weichen; an ſeine Stelle trat Malchus,
ein geſcheidter und geſchäftskundiger, aber harter und gewiſſenloſer Mann,
dem Herrſcher ein gefügiges Werkzeug, in Allem das Ideal des rheinbün-
diſchen Beamten.


Dabei waren die Napoleoniden ſelber keinen Augenblick ſicher vor
den Gewaltſchlägen des unermüdlichen Kronenräubers und Kronenver-
ſchenkers. Murat hatte ſein rheiniſches Herzogthum von vornherein nur
als eine vorläufige Abfindung betrachtet und gab es bereitwillig wieder
auf, als ſein Schwager ihm nach einigen Jahren befahl, augenblicklich
zwiſchen den Kronen von Neapel und Portugal zu wählen: „das muß in
einem Tage abgethan werden!“ Das deutſche Ländchen wurde nunmehr
dem unmündigen Sohne Ludwigs von Holland — das will ſagen: dem
Imperator ſelber — zugetheilt. Der nördliche Theil von Hannover war
unterdeſſen ſeit dem preußiſchen Kriege vorläufig unter franzöſiſcher Ver-
waltung geblieben. Auch über das Schickſal der Hanſeſtädte hatte ſich
Napoleon noch nicht entſchieden. Er haßte ſie ingrimmig als Englands
getreue Kunden. Während der letzten drei Jahre hatte er aus Hamburg
allein 44 Mill. Fr. erpreßt; auf die Klage über den Untergang des Han-
dels hieß es höhniſch: „um ſo beſſer! dann könnt Ihr nicht mehr Eng-
lands Geſchäfte beſorgen!“ Im Herbſt 1809 verhandelte er mit den
drei Städten zu Hamburg durch ſeinen vielgewandten Reinhard: ſie ſollten
zuſammen einen halbſouveränen Staat des Rheinbundes bilden unter der
Aufſicht von drei kaiſerlichen Beamten. Die Hanſeaten jedoch erhoben
Bedenken, ſtatt raſch zuzugreifen, wie ihnen ihr kluger Landsmann Smidt
[364]I. 3. Preußens Erhebung.
gerathen hatte. Sie verlangten die volle Souveränität ſowie das Recht
freien diplomatiſchen Verkehres, ſie wollten ihr Rheinbunds-Contingent
durch Geldzahlungen abkaufen und hofften eine Zeit lang um ſo zuverſicht-
licher auf die Erfüllung ihrer Wünſche, da inzwiſchen (1. März 1810)
Nord-Hannover „für immer“ mit dem Königreich Weſtphalen vereinigt
wurde.


Bald aber wurde der Imperator wieder anderen Sinnes. Eine neue
Dünenbildung ſollte aus dem Flugſande dieſer zertrümmerten Staaten-
welt emporſteigen. Napoleon entthronte ſeinen Bruder Ludwig von Hol-
land, riß das Münſterland von dem bergiſchen Herzogthume ab, nahm
das ſoeben an Jerome verſchenkte nördliche Hannover wieder zurück und
vereinigte alle dieſe Lande, mitſammt Oldenburg und den Hanſeſtädten,
mit dem Kaiſerreiche (10. Dec. 1810). Das Alles war einfach „durch
die Umſtände geboten“. Zu den ſieben deutſchen Departements des linken
Rheinufers traten fünf niederdeutſche hinzu. Die Marken der unmittel-
baren Herrſchaft des Kaiſers erſtreckten ſich im Süden bis über Rom
hinaus, im Norden bei Lübeck bis an die Oſtſee. Durch den Beſitz der
geſammten Nordſeeküſte ſchien die Durchführung der Continentalſperre
endlich geſichert. Ein Kanal, binnen fünf Jahren zu vollenden, ſollte den
Strand der Oſtſee mit der Hauptſtadt der Welt verbinden. Blieb das
Glück dem Vermeſſenen hold, ſo war die Einverleibung noch anderer
deutſcher Lande nur noch eine Frage der Zeit; beſaß der Imperator doch
bereits tief im Innern der Rheinbundsſtaaten eine Menge von Domänen,
die er theils ſich ſelber vorbehielt, theils an ſeine Würdenträger als Do-
tationen vertheilte. Schon mehrmals hatte das Geſchick den Trunkenen
an die Schranken alles irdiſchen Wollens erinnert: bei Eylau, bei Aspern
und in Spanien. Er achtete es nicht. Sein Reich war jetzt größer denn
je, ſeine Träume flogen bis über die Grenzen des Menſchlichen hinaus.
Er beklagte bitter, daß er ſich nicht, wie einſt Alexander, für den Sohn
eines Gottes ausgeben könne: „jedes Fiſchweib würde mich auslachen;
die Welt iſt heute zu aufgeklärt, es giebt nichts Großes mehr zu thun!“
Die Einverleibung von Spanien und Italien war längſt beſchloſſene
Sache. Nur noch ein letzter ſiegreicher Vormarſch Maſſenas gegen Liſſa-
bon; dann ſollte ein kaiſerliches Decret, das bereits fertig vorlag, den
Völkern der iberiſchen Halbinſel verkünden, daß auch ſie jetzt dem großen
Reiche angehörten und ihr Kaiſer Herr ſei über alle Küſten vom Sunde
bis zu den Dardanellen: „Der Dreizack wird ſich mit dem Schwerte ver-
einen und Neptun ſich mit Mars verbinden zur Errichtung des römiſchen
Reiches unſerer Tage. Vom Rhein bis zum atlantiſchen Ocean, von
der Schelde bis zum adriatiſchen Meere wird es nur ein Volk, einen
Willen, eine Sprache geben!“ —


So war die Lage der Welt, als Hardenberg die Leitung der preußi-
ſchen Politik übernahm. Wenige Wochen nach ſeinem Eintritt traf den
[365]Einverleibung der Nordſeeküſte.
Monarchen ein erſchütternder Schlag: Königin Luiſe ſtarb gebrochenen
Herzens, ſie ſchwand dahin wie die Blume, die des Lichts entbehrt. Ihre
letzten Sorgen noch hatten dem Vaterlande gegolten, Hardenbergs Rück-
kehr war zum guten Theile ihr Werk. Dem Wittwer blieb eine namen-
loſe Wehmuth im Herzen zurück; niemals konnte er der Entſchlafenen
vergeſſen, niemals hat er das volle freudige Gefühl der Lebensluſt wiederge-
funden. Das treue Volk trauerte mit ihm. So viel Raub, Hohn und
Schmach hatte man ertragen; und nun war ſie auch noch hingegangen,
zu Tode gequält von dem rohen Sieger, die Holdeſte und Edelſte der
deutſchen Frauen! Die alte fromme Ehrfurcht der Germanen vor der
Würde des Weibes ward wieder rege; mit ſchwärmeriſcher Andacht ſchaute
dies romantiſche Geſchlecht zu dem Bilde der Verklärten empor, und zu
all den zornigen Gedanken, die der preußiſchen Jugend das Herz bewegten,
geſellte ſich jetzt noch der Entſchluß den Schatten dieſer hohen Frau zu
rächen. Auf Aller Lippen war das ſtolze Wort, das ſie einſt in den
Tagen der höchſten Noth geſprochen: „wir gehen unter mit Ehren, ge-
achtet von Nationen, und werden ewig Freunde haben weil wir ſie ver-
dienen!“


Hardenberg hatte das ſechzigſte Lebensjahr bereits vollendet; er brachte
freilich nicht die ungebrochene Lebenskraft, doch den zuverſichtlichen Muth
eines Jünglings mit in ſein ſchweres Amt. Ein vornehmer Herr aus
altem reichem Hauſe, wie Stein, war er von dieſem durch Charakter,
Lebensanſicht, Bildungsgang weit geſchieden. Die Schwächen des Einen
lagen genau da wo der Andere ſeine Stärke zeigte, und nicht zufällig
entſtand allmählich zwiſchen den beiden Reformern jene Abneigung, die
zuerſt von Stein mit leidenſchaftlicher Heftigkeit ausgeſprochen, nachher
von Hardenberg etwas gutmüthiger erwidert wurde. Weniger gründlich,
aber vielſeitiger gebildet als der Reichsritter hatte Hardenberg ſchon in
ſeinen lockeren Studenten- und Reiſejahren die Welt von allen Seiten
her kennen gelernt, mit Menſchen jeden Schlages, auch mit dem jungen
Goethe, munter und geiſtreich verkehrt. Die Aufklärungsphiloſophie des
alten Jahrhunderts ergriff ihn weit ſtärker als jenen gläubigen Urgerma-
nen; ſein religiöſes Gefühl blieb immer ſchwach, ſeine Duldſamkeit ehrlich
und ohne Grenzen. Er ſah das Leben an wie ein luſtiger, feingebildeter
Marquis der guten alten bourboniſchen Zeit. Das Geld wollte zwiſchen
ſeinen Fingern niemals haften; ein großes Vermögen war raſch durch-
gebracht. Bis in das höchſte Alter verfolgten ihn ärgerliche häusliche
Händel und frivole Abenteuer mit ſchlechten Weibern. In ſeinem Auf-
treten lag gar nichts von der überwältigenden Kraft und Großheit Steins;
doch er war noch immer ein ſchöner Mann mit hellen, gütigen blauen
Augen, mit einem herzgewinnenden Lächeln um den geiſtreichen Mund —
eine Erſcheinung verführeriſch für jede Frau, anmuthig und gewandt in
allen Bewegungen, dabei immer heiter und harmlos witzig, ein Meiſter
[366]I. 3. Preußens Erhebung.
in der Kunſt die Menſchen zu behandeln. Und dieſe beſtrickende Liebens-
würdigkeit kam wirklich aus einem guten, menſchenfreundlichen Herzen.
Durchaus wahr ſchildert er einmal ſich ſelber in ſeinem Tagebuche: „ich
ſeufze über meine Schwächen, aber wenn ſie Tadel verdienen, ſo tröſte
und erhebe ich mich an dem Gefühle des Wohlwollens, das den Grund
meines Charakters bildet.“*) Einen Jeden nahm er von der beſten Seite,
dem Könige trat er mit einer ehrfurchtsvollen Zartheit entgegen, die dem
gebeugten Monarchen in tiefſter Seele wohl that, und auch als mit den
Jahren ſeine unglückliche Taubheit zunahm blieb ſein freundliches Herz
ganz frei von dem natürlichen Fehler der Schwerhörigen, dem Mißtrauen.
Wirklichen Haß hat er vielleicht nur gegen einen Menſchen gehegt, gegen
Wilhelm Humboldt; der blieb ihm verdächtig, „falſch wie Galgenholz“,
und niemals wollte er dieſen ſonderbaren Argwohn aufgeben, der irgend-
welche bisher unbekannte perſönliche Gründe gehabt haben muß.


Die ariſtokratiſchen Vorurtheile ſeines hannoverſchen Heimathlandes
berührten ihn wenig. Seinen Platz auf den Höhen der Geſellſchaft nahm
er als ein ſelbſtverſtändliches Recht in Anſpruch, doch im täglichen Ver-
kehre liebte er eine plebejiſche Umgebung, worunter einzelne Talente, wie
Rother, aber noch mehr unwürdige Geſellen, die ſeine offene Hand miß-
brauchten; hier war er der Herr und konnte ſich gehen laſſen. Auch in
ſeinen politiſchen Ueberzeugungen verleugnete Hardenberg die Schule der
franzöſiſchen Aufklärung nicht. Eine Nacht des vierten Auguſt für Preußen,
nicht durch die ſtürmiſchen Leidenſchaften der Nation, ſondern von oben
her durch den beſonnenen Willen der Krone herbeigeführt — das war
von jeher ſein Herzenswunſch. In dem neuen Königreich Weſtphalen
fand er ſein Staatsideal nahezu verwirklicht, nur daß in Preußen Alles
gerechter und ehrlicher zugehen ſollte. Der echt deutſche Grundgedanke
des Stein’ſchen Reformwerkes, die Idee der Selbſtverwaltung ließ ihn
immer kalt; ja er faßte mit den Jahren faſt eine Abneigung dawider,
da er den erbitterten Gegnern ſeiner ſocialen Reformen, den märkiſchen
Junkern, die Fähigkeit zur Verwaltung des flachen Landes nicht zutraute.
Eine wohlgeordnete Bureaukratie, beſchränkt und berathen durch eine nicht
allzu mächtige reichsſtändiſche Verſammlung, ſollte das freie Spiel der
entfeſſelten ſocialen Kräfte in Ordnung halten.


Hardenberg hatte zuerſt im welfiſchen Staatsdienſte, nachher in Fran-
ken jahrelang eine ſchwierige Landesverwaltung geleitet; ſobald es ihm be-
hagte ſich um die Geſchäfte zu bekümmern, fand er ſich raſch auf den
entlegenſten Gebieten zurecht. Er arbeitete erſtaunlich leicht; ſeine Ent-
ſcheidungen, die er mit klaren, eleganten Schriftzügen, in gewandtem, durch-
aus modernem Deutſch an den Rand der Akten ſchrieb, trafen immer den
Nagel auf den Kopf. Doch jene liebevolle Freude am Detail, die den großen
[367]Hardenberg.
Verwaltungsbeamten macht, hat er ſich nie angeeignet; er gefiel ſich in einem
vornehmen Dilettantismus. Die laufenden Geſchäfte überließ er gern den
aufgeklärten jungen Beamten, die er ſich in Franken herangezogen; die
Finanzfragen behandelte er im häuslichen wie im öffentlichen Leben mit
der Gleichgiltigkeit des vornehmen Herrn. Seine Stärke war die diplo-
matiſche Thätigkeit. Wenige verſtanden wie er, mit ſicherem Blicke den
rechten Augenblick abzuwarten, in der peinlichſten Lage findig und hoff-
nungsvoll immer einen neuen Ausweg zu entdecken, in allen Windungen
und Wendungen einer finaſſirenden Politik unverrückt daſſelbe Ziel im
Auge zu behalten. Selbſt in dieſem ſeinem eigenſten Berufe beirrte ihn
freilich oft ein bequemer Leichtſinn, eine gutherzige Großmuth, die es
nicht der Mühe werth hielt mit pedantiſcher Genauigkeit unerläßliche
Forderungen feſtzuhalten. Schwer hatte er ſich einſt verſündigt durch
ſein Vertrauen auf Frankreichs Freundſchaft. Jetzt durch eine grauſame
Erfahrung von den alten Täuſchungen gründlich geheilt, richtete er all
ſein Dichten und Trachten auf den Kampf der Befreiung. Wie oft hat
er dem Grafen St. Marſan ins Geſicht geſagt, daß Preußen entſchloſ-
ſen ſei mit dem Degen in der Hand zu ſiegen oder zu fallen. Aber nur
im günſtigen Augenblicke, nach genügender diplomatiſcher Vorbereitung
durfte der verzweifelte Krieg gewagt werden. Hardenberg war hochherzig
genug, jahrelang „eine ungeheure Verkennung“ von Seiten der Beſten
der Nation ſchweigend zu ertragen; und, fügte er mit gerechtem Selbſt-
gefühle hinzu, „dazu gehört mehr Muth als um einer Batterie entgegen-
zugehen.“


Er war ein Preuße vom Wirbel bis zur Zehe; weit tiefer als Stein
hatte er ſich mit der Staatsgeſinnung ſeines ſelbſtgewählten Vaterlandes
erfüllt. Auch in den Tagen ſeiner napoleoniſchen Träume blieb Preußens
Größe ſein höchſtes Ziel, und ohne jedes Bedenken rieth er zur Einver-
leibung ſeiner welfiſchen Heimathlande, weil ſie für Preußen unentbehrlich
ſeien. So innig er auch ſein großes Vaterland liebte, mit der idealen
Größe des deutſchen Volksgeiſtes wollte er den Kampf gegen die harte
Wirklichkeit des napoleoniſchen Reichs nicht beginnen; alle phantaſtiſche
Deutſchthümelei lag ſeiner Beſonnenheit fern. Er rechnete, ruhiger als
Stein, immer nur mit dieſem gegebenen preußiſchen Staate; nur ein
Bund dieſer Monarchie mit Oeſterreich, das ſtand ihm feſt ſeit den Bar-
tenſteiner Tagen, konnte das Weltreich zerſchmettern.


In Braunſchweig, in Franken und nachher als Cabinetsminiſter
während des oſtpreußiſchen Feldzugs hatte er ein nahezu unumſchränktes
Regiment geführt. So war durch die Gewohnheit des Befehlens nach
und nach ein eigenrichtiger, herrſchſüchtiger Zug in ſeinen Charakter gekom-
men, der zu ſeiner heiteren Liebenswürdigkeit wenig ſtimmte, doch mit
den Jahren ſich verſchärfte. Menſchlich genug, daß er das Bedürfniß
fühlte ſich wegen der vergangenen Irrthümer vor der Nachwelt zu recht-
[368]I. 3. Preußens Erhebung.
fertigen und in ſeinen Denkwürdigkeiten, nicht immer ganz ehrlich, alle
Schuld der Kataſtrophe des alten Staates auf andere Schultern abzu-
wälzen ſuchte. Aber auch in den Tagebüchern, die nur für ſein eigenes
Auge beſtimmt waren, begegnet uns faſt niemals das Eingeſtändniß eines
Irrthums; wer ihm widerſpricht wird mit ſchnöden Worten abgefertigt,
auch den König ſelbſt trifft oft wegwerfender Tadel, und doch hatte Fried-
rich Wilhelms Nüchternheit bei ſolchen Streitigkeiten faſt immer recht!
Hardenberg blieb ſein Lebelang in dem völlig grundloſen Wahne, ſeine
Rigaer Denkſchrift vom Herbſte 1807 bilde eigentlich den Ausgangspunkt
für das preußiſche Reformwerk; er äußerte oft mit Bitterkeit, Andere hätten
ihm den wohlverdienten Ruhm hinweggenommen. Die Seelengröße Steins
hat an Fragen dieſer Art nie gedacht.


Als Hardenberg jetzt in die Geſchäfte zurückgerufen wurde, bedang
er ſich eine Machtvollkommenheit aus, die allerdings zum Theile durch
die Nothlage des Staates geboten war, aber weit über das Nothwendige
hinausging und allen Traditionen des preußiſchen Beamtenthums wider-
ſprach. Er wurde Staatskanzler, erhielt die oberſte Leitung des geſamm-
ten Staatsweſens, übernahm die Miniſterien des Innern und der Finan-
zen unmittelbar, und da auch der Miniſter des Auswärtigen, Graf Goltz
in Allem und Jedem den Befehlen des Kanzlers zu folgen hatte, ſo
blieben nur die Juſtiz und das Kriegsweſen in einiger Selbſtändigkeit.
Ein feſtes Gehalt nahm der Staatskanzler nicht an; die Generalſtaats-
kaſſe zahlte was er brauchte. Wie die Dinge lagen war es ein heilvolles
Geſchick für Preußen, daß dieſe in jedem Sinne leichtere Natur jetzt die
Erbſchaft des Freiherrn vom Stein antrat. Der Jünger der neufranzöſi-
ſchen Philoſophie konnte dreiſter, als es der Reichsritter vermocht hätte,
die nothwendigen Folgerungen ziehen aus den Geſetzen des Jahres 1808;
die Verſchlagenheit des Diplomaten konnte gewandter als Steins dämo-
niſche Leidenſchaft durch kluges Laviren die deutſchen Dinge hinhalten
bis der offene Kampf möglich wurde.


Die erſte Sorge des Staatskanzlers ging, wie natürlich, auf die
Abtragung der Contribution und die Wiederherſtellung des Finanzweſens,
und in dieſen techniſchen Fragen zeigte ſichs ſogleich, wie gänzlich ihm die
ſichere Sachkenntniß Steins abging. Nach der Weiſe geiſtreicher leicht-
blütiger Dilettanten war er ſehr empfänglich für weit ausſehende Pro-
jecte, wenn ſie mit dem Anſpruche theoretiſcher Unfehlbarkeit auftraten.
Da zu jener Zeit alle Welt für die wunderbaren Leiſtungen der Bank
von England ſchwärmte, ſo dachte er auch in dieſem unglücklichen Preu-
ßen, dem augenblicklich alle Vorbedingungen für eine große Creditan-
ſtalt fehlten, eine Nationalbank zu gründen und mit ihrer Hilfe die
geſammten Schulden des Staates und der Provinzen zu conſolidiren.
Außerdem ſollten zwei Anleihen, im Inlande und im Auslande, ſowie die
Ausgabe von 26 Mill. Thlr. Treſorſcheinen dem Staate die Baarmittel
[369]Hardenbergs Finanzpläne.
zur Abtragung der Kriegsſchuld verſchaffen; auch einige neue Steuern
waren beabſichtigt, nur nicht eine Einkommenſteuer, weil „die Opinion“
gar zu laut dawider ſpreche. Mit ſchlagenden Gründen wies Niebuhr
die Hohlheit dieſes Planes nach: es ſei ein Unglück, daß an die Vermeh-
rung der Treſorſcheine auch nur gedacht werde, den heiligen Verſprechun-
gen der Krone zuwider; und woher ſollten die fünfzehn Millionen kom-
men, welche der Staatskanzler von ſeinen Anlehen erwarte? Hatte Niebuhr
doch ſelbſt ſoeben nach langen peinlichen Verhandlungen unter ſehr demü-
thigenden Bedingungen eine kleine Anleihe in Holland zu Stande ge-
bracht — die einzige, welche das Ausland während dieſer ganzen Zeit
der creditloſen Monarchie gewährte! Der feinfühlige Gelehrte war in
ſeinem Gewiſſen verletzt durch die ſchwindelhafte Oberflächlichkeit der Har-
denbergiſchen Pläne; er wollte nicht ſehen, daß der leichtlebige Staats-
kanzler auf die Einzelheiten des Entwurfs gar keinen Werth legte, und
nahm zornig ſeinen Abſchied. Auch Schoen verweigerte ſeine Mitwirkung,
da er Niebuhrs techniſche Bedenken theilte und nur als ſelbſtändiger,
vom Staatskanzler unabhängiger Miniſter eintreten wollte; der conſequente
Kantianer dachte überdies ſogleich Steins politiſches Teſtament vollſtändig
zu verwirklichen und ſchalt auf den „hannoverſchen Junker“, als Harden-
berg behutſam einige Bedenken erhob.


So entſpannen ſich gleich beim Eintritt des Staatskanzlers jene
leidenſchaftlichen Kämpfe im Kreiſe des hohen Beamtenthums, welche ſeit-
dem bis zu Hardenbergs Tode den ſicheren Gang des Staates ſo oft ge-
fährdet haben. Schroff und hart platzten dieſe reichen Naturen auf ein-
ander, treffliche Männer, die im Grunde Alle daſſelbe wollten, aber jeder
auf ſeine Weiſe. Seit Steins Abgang fehlte der überlegene Charakter, der
die unbändigen bemeiſtern konnte. Die hervorragenden Talente zogen
ſich nach und nach von der Spitze der Regierung in die Provinzialbehör-
den zurück; der einzige Finanzmann der Monarchie, der den ungeheuren
Schwierigkeiten der Lage gewachſen war, Maaſſen, wurde noch nicht nach
ſeinem ganzen Werthe gewürdigt. Hardenberg fand es bald bequem, ſich mit
unbedeutenden Werkzeugen, wie Scharnweber und Jordan, zu behelfen,
erlaubte auch eine Zeit lang dem wackeren jungen Gelehrten F. v. Rau-
mer eine Rolle zu ſpielen, welche weit über das Maaß ſeines Talentes
und ſeiner praktiſchen Erfahrung hinausging. Inzwiſchen hatte er den
König auf einer Reiſe nach Schleſien begleitet, dort mit Stein, in einer
geheimen Zuſammenkunft an der böhmiſchen Grenze, ſeine Finanzpläne
beſprochen und aus der begeiſterten Freude, welche dem Monarchen überall
entgegen jubelte, neue Zuverſicht geſchöpft: „ein Wort von Ew. Majeſtät
wirkt mehr als Alles.“


Friſchen Muthes entfaltete er nach der Heimkehr eine erſtaunliche
Thätigkeit. Zunächſt wurde durch die Verordnung vom 27. October 1810
die Vollgewalt des Staatskanzlers geſetzlich feſtgeſtellt. Die fünf Miniſterien
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 24
[370]I. 3. Preußens Erhebung.
blieben beſtehen, doch als Untergebene des Kanzlers; der von Stein ge-
plante Staatsrath wurde endlich, auf dem Papiere mindeſtens, gebildet,
doch in ſo beſcheidener Geſtalt, daß er der Allmacht des Kanzlers nicht
bedrohlich werden konnte; das ſoeben erſt neu geſchaffene Amt der Ober-
präſidenten fiel hinweg, die Regierungen ſollten wie Napoleons Präfecten
unmittelbar unter der Centralverwaltung ſtehen. So verrieth ſich ſchon
hier ein ſcharf bureaukratiſcher Zug; an einem ſelbſtändigen Leben der
Provinzen lag dem Staatskanzler wenig. Am nämlichen Tage erſchien
das Edict über die Finanzen des Staates — ein Geſetz, deſſen gleichen
die preußiſche Monarchie noch nie geſehen, nach Form und Inhalt ein
denkwürdiges Zeugniß für die unternehmende Leichtfertigkeit des geiſtreichen
Cavaliers, der jetzt die Zügel hielt. Während Steins Geſetze immer nur
eine beſtimmte Frage ins Auge faßten und dieſe durch umſichtige, gründ-
liche Vorſchriften nach allen Seiten hin erledigten, überſchüttete das neue
Finanzedict die Nation mit einem Sturzbade herrlicher Verſprechungen.
Von der Nationalbank, den Treſorſcheinen und den anderen gleißenden
Projecten des vergangenen Sommers war der Staatskanzler freilich zu-
rückgekommen; dafür entrollte er das Programm einer großartigen Steuer-
reform „zur Rettung des Landes“. Er verſprach, daß fortan „alle Auf-
lagen nach gleichen Grundſätzen von Jedermann zu tragen“ ſeien, ver-
ſprach ein neues Kataſter und die Ausgleichung der in den einzelnen
Landestheilen grundverſchiedenen Grundſteuern, er verſprach die völlige
Gewerbefreiheit, die Seculariſation der geiſtlichen Güter, die Vereinigung
der geſammten Kriegsſchulden des Staates und der Provinzen, ebenſo
die Einführung allgemeiner Conſumtions- und Luxusſteuern und ließ
endlich nach allen dieſen Verſicherungen den König noch erklären: Seine
Majeſtät behalte ſich vor „der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Re-
präſentation ſowohl in den Provinzen als für das Ganze zu geben. So
wird ſich das Band der Liebe und des Vertrauens zwiſchen Uns und
Unſerem treuen Volke immer feſter knüpfen!“ Welch ein Leichtſinn: die
Krone alſo feierliche Verſprechungen geben zu laſſen, deren Sinn und
Umfang ſie, wie ſich bald genug herausſtellte, noch gar nicht beurtheilen
konnte! Als einzige Entſchuldigung für dieſe in Preußen unerhörte Leicht-
fertigkeit wußte Hardenberg nur vorzubringen, daß man dem gefährlichen
weſtphäliſchen Nachbar in der Gunſt der Opinion den Rang ablaufen
müſſe!


Einige jener Verſprechungen löſte der Staatskanzler in der That ſo-
fort ein. Schon am nächſten Tage wurde eine allgemeine Luxusſteuer für
Jedermann, von Dienſtboten, Pferden, Hunden und Wagen, angeordnet,
desgleichen eine Conſumtionsſteuer von etwa zehn der gangbarſten Verzeh-
rungsartikel, Fleiſch, Mehl, Bier u. ſ. f., für die Städte wie für das
flache Land. Man beabſichtigte dadurch die alte Acciſe, welche die Städte
von den Dörfern abſperrte, zu Falle zu bringen; doch namentlich die
[371]Die Reformen vom Herbſt 1810.
Mahlſteuer begegnete bei dem Landvolke einem unbezwinglichen Wider-
ſtande. Die Bauern in Altpreußen hatten, ſeit Stein den Mühlen-
zwang aufgehoben, viele neue Windmühlen erbaut und ſich an den Ge-
brauch der Handmühlen gewöhnt; ſie beharrten ſtörriſch bei ihrer neuen
Freiheit, es kam mehrfach zu Widerſetzlichkeit und Aufruhr; die armen
Leute in Litthauen und Weſtpreußen aßen Teig ſtatt des Brotes, um die
Mahlſteuer zu erſparen. Der Staatskanzler mußte bald einſehen, daß
er Unmögliches befohlen hatte. Am 30. October folgte die Seculariſation
aller geiſtlichen Güter — ein nothwendiger Gewaltſtreich, den der Geſetz-
geber rechtfertigte durch „den allgemeinen Zeitgeiſt“, durch das Beiſpiel
der Nachbarſtaaten und vornehmlich durch das Gebot der Gerechtigkeit,
da das Vermögen der getreuen Unterthanen nicht unbillig angeſpannt
werden dürfe. Die Maßregel wirkte wenig in den altproteſtantiſchen
Provinzen, deren Kirchengut bis auf geringe Reſte ſchon ſeit Jahrhunderten
eingezogen war. Um ſo tiefer griff ſie in Schleſien ein, wo das Bis-
thum Breslau, das Kloſter Grüſſau und andere Stifter ſich noch von
den öſterreichiſchen Zeiten her einen fürſtlichen Reichthum bewahrt hatten.
Einen Theil der ſeculariſirten Güter verwendete man für Unterrichts-
zwecke, namentlich für die Univerſität Breslau; was man verkaufte gab ge-
ringen Ertrag, da das vermehrte Angebot die Güterpreiſe drückte und in
dem erſchöpften Lande ſich wenig Käufer fanden. Am 2. November end-
lich wurde eine allgemeine Gewerbeſteuer nach franzöſiſch-weſtphäliſchem
Muſter eingeführt: jeder unbeſcholtene Volljährige durfte ſich gegen die
geſetzliche Gebühr einen Gewerbeſchein löſen, nur für vierunddreißig Ge-
werbszweige ſollte aus Rückſichten der öffentlichen Sicherheit noch ein Nach-
weis beſonderer Befähigung verlangt werden. Es war der erſte Anfang
der Gewerbefreiheit. Gleich darauf erſchien die neue Geſindeordnung, ein
humanes Geſetz, das noch heutzutage den gänzlich veränderten Verhält-
niſſen der dienenden Klaſſen im Weſentlichen entſpricht, damals aber,
nachdem der harte Geſindezwang kaum erſt aufgehoben war, als eine
radicale Neuerung von unerhörter Kühnheit erſchien.


Dergeſtalt hatte die Hardenbergiſche Geſetzgebung zum erſten male
ihr Füllhorn geöffnet und neben einzelnen tauben Früchten auch einige
Gaben von bleibendem Werthe ausgeſchüttet. So unſicher die Hand des
Staatskanzlers in den finanziellen Angelegenheiten erſchien, ebenſo feſt
ſtand ſein Entſchluß die bürgerliche Rechtsgleichheit und die Entfeſſelung
aller wirthſchaftlichen Kräfte bis in ihre letzten Folgerungen durchzuſetzen.
Steins ſchöpferiſche Ideen eilten der Zeit voraus, wurden nur von einem
kleinen Kreiſe ganz verſtanden. Hardenbergs Gedanken lagen näher an
der breiten Heerſtraße des Zeitalters der Revolution; darum fand er in
der Preſſe jederzeit eine lebhafte Unterſtützung, deren Stein immer ent-
behrte. Unter denen, die ſein Lob ſangen, ging die Rede, durch die Ge-
ſetze dieſer großen ſieben Tage ſei ein Kreis umſchrieben, den das revo-
24*
[372]I. 3. Preußens Erhebung.
lutionäre Frankreich erſt in zwei Jahren durchlaufen hätte — ein Lob,
das nachher in alle Geſchichtswerke der Schloſſer’ſchen Schule überge-
gangen iſt.


In Wahrheit war gerade die wichtigſte der in Ausſicht geſtellten Re-
formen, die gleichmäßige Beſteuerung aller Stände, vorläufig nur ver-
heißen, nicht erfüllt. Aber ſchon dieſe Verheißung genügte um die ganze
feudale Partei in Aufruhr zu bringen. Der kurmärkiſche Adel hatte die
Ernennung des Staatskanzlers Anfangs mit Freuden begrüßt, da man
von Hardenberg erwartete, er werde die Uebereilungen Steins rückgängig
machen. Sobald der neue Regent ſein wahres Geſicht zeigte, brauſte ein
Sturm der Entrüſtung durch die Kreiſe des Landadels, und Hardenberg
wurde bald noch leidenſchaftlicher angefeindet als vordem Stein. Eine
Fluth von Beſchwerden und Bitten wälzte ſich an den Thron; „es giebt
bei uns keine Hypotheken, es giebt bei uns kein Eigenthum mehr,“ klagte
der Oſtpreuße von Domhardt unter heftigen Verwünſchungen gegen die
neuen Nivelleurs und Jacobiner.*)


Das claſſiſche Land des alten Ständeweſens blieb Brandenburg.
Nirgends waren die ſtändiſchen Inſtitutionen verrotteter, nirgends den
Ständen theuerer. In den Augen dieſes ſtolzen tapferen Adels galt der
Pommer und der Schleſier noch als Ausländer. Noch einmal erhob ſich der
altſtändiſche Particularismus zu offener Fehde gegen die Rechtsgleichheit und
Staatseinheit der Monarchie. Als ſein Wortführer trat, ſo prall und patzig
wie einſt Konrad von Burgsdorff wider den großen Kurfürſten, der Freiherr
von der Marwitz auf den Plan — das Urbild des brandenburgiſchen
Junkers, einer der tapferſten Offiziere und der tollſte Reiter der Armee,
grob, ſchroff und knorrig, ein grunddeutſcher Mann von ſcharfem Ver-
ſtande und unbändigem Freimuth, voll feuriger Vaterlandsliebe aber auch
voll harter Vorurtheile, ſo naiv in ſeinem Standesſtolze, daß er an die
rechtliche Meinung eines Gegners kaum je zu glauben vermochte. Seit
Langem ſchon lag er in heftigem Streite mit der Potsdamer Regierung,
weil dieſe dem brandenburgiſchen Landtage einen Theil ſeiner ſtändiſchen
Verwaltung, namentlich das verwahrloſte Landarmenweſen abnehmen
wollte; man mußte endlich die Landarmenkaſſe gewaltſam aufbrechen und
nach Potsdam entführen, der trotzige Mann gab die Schlüſſel nicht heraus.
Die neuen Steuerpläne erſchienen ihm als ein frevelhafter Bruch des
alten Landesrechts, das in dem kurbrandenburgiſchen Landtags-Receß von
1653 verbrieft und verſiegelt war. Unabläſſig beſtürmten die Ritter den
Staatskanzler mit Proteſten und Rechtsverwahrungen, bald Einzelne allein,
bald ganze Landſchaften, doch Niemand häufiger und lauter als die Stände
der Lande Lebus, Beeskow und Storkow, wo Marwitz hauſte. Auch der
[373]Die Landesdeputirten-Verſammlung.
Romantiker Adam Müller ſtellte ſeine Feder den Vorkämpfern der ſtändi-
ſchen Libertät zur Verfügung. Als der Staatskanzler nach ſeiner bureau-
kratiſchen Weiſe fragte, woher dieſe Gutsbeſitzer das Recht nähmen ſich
Stände zu nennen, da antwortete Marwitz*): „die Qualität der Land-
ſtandſchaft iſt uns angeboren ſo gut wie unſere Familiennamen, und wir
können alſo eigentlich ebenſo wenig angeben, wodurch wir Stände ſind
als wodurch wir unſere angeborenen Namen führen!“ Die Ritterſchaft
der Priegnitz — voran die Herren v. Quitzow und Wartensleben — er-
klärte**): „die Kur- und Neumark Brandenburg, gleichſam der Kern der
geſammten preußiſchen Monarchie, hat von jeher einen beſonderen, von
den übrigen Provinzen abgeſonderten Staat gebildet, welcher ſeine ihm
eigenthümliche Verfaſſung hat;“ ſie verlangte demgemäß, daß kein Steuer-
geſetz ohne Genehmigung der Stände erlaſſen werde.


Der unerſchrockene Reformer ließ ſich nicht ſtören. Die allerdings
ſehr zweifelhafte Rechtsfrage bekümmerte ihn wenig; war doch die geſammte
Verfaſſung der neuen preußiſchen Monarchie aus der Bekämpfung der
altſtändiſchen Rechte hervorgegangen. Ihm genügte die Einſicht, daß die
Berufung der alten Provinziallandtage der ſichere Untergang der neuen
Geſetze war. Um die Nation von der Nothwendigkeit des Geſchehenen
zu überzeugen und ſie auf weitere Reformen vorzubereiten, wurde am
23. Febr. 1811 eine „Landesdeputirten-Verſammlung“ in Berlin er-
öffnet***): ein Beamter aus jeder der acht Provinzialregierungen, acht-
zehn Ritter, elf Städter, acht Bauern, ſie alleſammt von der Krone er-
nannt. Da die erbitterten Stände von Brandenburg und Pommern ſich
beſchwerten und unaufgefordert Abgeordnete aus ihrer Mitte ſendeten,
ließ der Staatskanzler auch noch einige dieſer „Nebendeputirten“ zu. Alſo
wurden zum erſten male ſeit dieſe Monarchie beſtand Vertreter aller Landes-
theile zuſammenberufen, allein nach dem Ermeſſen der Krone, ohne Rück-
ſicht auf die ſtändiſchen Rechte und Anſprüche der Territorien. Der Ein-
tritt der acht bäuerlichen Deputirten galt in den altſtändiſchen Kreiſen
als das erſte Signal einer furchtbaren Umwälzung. Mancher der Zeit-
genoſſen erinnerte ſich an die Verſammlung der Notabeln beim Aus-
bruche der franzöſiſchen Revolution; doch das Anſehen der preußiſchen
Krone ſtand ungleich feſter als die Macht der Bourbonen, und ſie ge-
währte ihren Notabeln von Haus aus ſehr beſcheidene Befugniſſe: nur
das Recht der Berathung, nicht die Mitentſcheidung. Steins Geſetzgebung
hatte die Grundlagen des großen Reformwerks längſt ſicher geſtellt, und
[374]I. 3. Preußens Erhebung.
auch die Geſetze, welche Hardenberg den Landesdeputirten vorlegte, waren
zum Theil ſchon vollendete Thatſachen.


Der Staatskanzler verſammelte die Deputirten in ſeiner Wohnung
und begrüßte ſie ſogleich in der väterlichen Weiſe des alten Abſolutismus:
wie ein guter Vater von ſeinen Kindern ſo verlange der König von ſeinem
geliebten Volke nicht blinden Gehorſam, ſondern freie Zuſtimmung zu
ſeinen wohlthätigen Befehlen. Darauf wurden vier Abtheilungen ge-
bildet, unter dem Vorſitze der vier anweſenden Regierungspräſidenten;
jede berieth für ſich, ſchickte ihre Protokolle an Hardenberg, der dann
nach Belieben noch einzelne Mitglieder zu ſich berief und endlich dem
Monarchen Bericht erſtattete. Die Verhandlungen erſchienen wie eine
vertrauliche Beſprechung mit der Perſon des höchſten Beamten, und doch
wurden ſie dem Staatskanzler bald ſehr unbequem. Eine ganze Welt
von bedrohten wirthſchaftlichen und örtlichen Intereſſen erhob ſich aufge-
ſcheucht; gerechte und ungerechte Klagen ſchwirrten hin und her; keine
Spur einer Parteibildung, nur ein krauſes Durcheinander von Lands-
mannſchaften und ſtändiſchen Gruppen. Ueber die Härte der neuen Mahl-
ſteuer waren die Vertreter des flachen Landes einig; die beabſichtigte Con-
ſolidation der Kriegsſchulden rief ſtürmiſchen Widerſpruch hervor, da die
Kurmark tief verſchuldet war, während Altpreußen einen großen Theil
ſeiner Kriegslaſten durch Steuern gedeckt hatte.


Am Lauteſten lärmten die Vertreter der Ritterſchaft; ſie waren ver-
traut mit der neuen engliſchen Theorie, wornach die Grundſteuer den
Charakter einer Rente trug, behaupteten ſteif und feſt, die geplante Aus-
gleichung der Grundſteuer ſei offenbarer Raub. Neben dem ehrlichen
Rechtsgefühle ſpielte auch die nackte Selbſtſucht mit; dieſelbe kurmärkiſche
Landſchaft, deren Redner ſo zäh an dem Rechtsboden ihrer alten Frei-
heitsbriefe feſthielten, ſtellte dem Staatskanzler unbedenklich die Zumu-
thung: es ſollten die Klagen ihrer Gläubiger durch einen königlichen
Machtbefehl vorläufig eingeſtellt werden!*) Währenddem rückten die un-
aufhaltſamen Stände von Lebus, Beeskow und Storkow mit einer neuen
Verwahrung ihrer „vertragsmäßigen Exemtionen und Freiheiten“ heran.
Mit groben, unziemlichen Worten betheuerten ſie, durch die neuen Ge-
ſetze werde das Grundgeſetz des Staates vernichtet, und fragten, ob man
das alte ehrliche brandenburgiſche Preußen in einen neumodiſchen Juden-
ſtaat verwandeln wolle. Unter den Unterzeichnern ſtand Marwitz natür-
lich obenan; neben ihm der alte Graf Finkenſtein, einer jener pflichtge-
treuen Richter, welche bei dem Proceſſe des Müllers Arnold die unverdiente
Ungnade König Friedrichs erfahren hatten. Dem Staatskanzler riß
jetzt die Geduld; er ließ die beiden erſten Unterzeichner ohne Urtheil und
Recht nach Spandau auf die Feſtung bringen. Am 16. September ſchloß
[375]Gewerbefreiheit. Agrargeſetze.
er dann die Verſammlung der Landesdeputirten und zählte noch einmal
die Grundgedanken des neuen Syſtems auf: ein Jeder ſolle frei ſeine
Kräfte benutzen, Niemand dürfe einſeitige Laſten tragen; Gleichheit Aller
vor dem Geſetze, freie Bahn für jedes Verdienſt; Einheit und Ordnung
in der Verwaltung; ſo werde in Allen ein Nationalgeiſt, ein Intereſſe
und ein Sinn geweckt werden. „Kehren Sie nun — ſo rief er endlich aus
— in Ihre Provinzen zurück und verbreiten Sie dort den guten Geiſt,
der Sie ſelbſt beſeelt. Stärken Sie das Vertrauen zu einer Regierung,
die es ſo redlich meint!“ Seine wirkliche Meinung entſprach dieſen freund-
lichen Worten keineswegs. Vielmehr zog er, und gleich ihm der König,
aus dem chaotiſchen Hin- und Herreden dieſer Notabelnverſammlung den
richtigen Schluß, daß ein allgemeiner Landtag, jetzt berufen, den Fortgang
der Reformen hemmen müſſe. So ſtand es: nur die Machtvollkommen-
heit der abſoluten Krone konnte dem preußiſchen Volke den Weg zur
Freiheit eröffnen.


Faſt gleichzeitig mit der Entlaſſung der Landesdeputirten erſchien die
zweite große Sturzwelle der Hardenbergiſchen Geſetzgebung. Das Edict
vom 7. Sept. 1811 über die Finanzen berückſichtigte einige Wünſche der
Landesdeputirten, hob das Verbot der Handmühlen ſowie die Conſum-
tionsſteuer auf dem flachen Lande größtentheils wieder auf und belegte
ſtatt deſſen das Landvolk mit einer Kopfſteuer. Dagegen widerſprach das
am ſelben Tage beſchloſſene Geſetz über die polizeilichen Verhältniſſe der
Gewerbe ſchnurſtracks den Anſichten der Notabelnverſammlung: die Krone
eilte wieder einmal den Anſchauungen des Volkes voraus, ſie gewährte
vollſtändige Gewerbefreiheit, dergeſtalt daß Jeder, der einen Gewerbeſchein
löſte, Lehrlinge und Geſellen halten, jeder Zünftler aus ſeiner Innung
austreten, jede Zunft durch Mehrheitsbeſchluß oder durch den Befehl der
Landespolizeibehörde aufgelöſt werden durfte. Es war ein Schritt von
radicaler Verwegenheit. Nicht ohne Grund klagten Stein und Vincke, man
hätte die Zünfte, ſtatt ſie aufzulöſen, vielmehr in einem freien Sinne
neugeſtalten ſollen. Weit überwiegend blieb gleichwohl der Segen dieſer
kühnen Neuerung. Der kleine Mann genoß fortan in Preußen einer
wirthſchaftlichen Freiheit, wie nirgendwo ſonſt in Deutſchland, und obgleich
die Verhältniſſe der Kleingewerbe, Dank der Zähigkeit unſerer Alltagsge-
wohnheiten, ſich weit weniger veränderten als man erwartete, ſo war es
doch weſentlich der Freiheit des gewerblichen Lebens zu verdanken, daß
die Bevölkerung der Hauptſtadt ſelbſt in dieſen Jahren der bitteren Noth
unaufhaltſam anwuchs.


Wie dies Geſetz der Städteordnung Steins erſt den Abſchluß brachte,
ſo wurden auch die agrariſchen Geſetze des Reichsritters erſt vollendet
durch die beiden Edicte vom 14. Sept. 1811 über die Regulirung der
bäuerlichen Verhältniſſe und über die Beförderung der Landescultur. Dabei
hatte Thaers kundige Hand die Feder mit angeſetzt. Die erblichen Beſitzer
[376]I. 3. Preußens Erhebung.
von bäuerlichen Gütern ohne Eigenthumsrecht ſollten das volle Eigenthum
an ihrem Gute erlangen gegen die Abtretung von einem Drittel ihres
Gutes oder gegen eine entſprechende Rente; wer nur die nichterbliche Nutz-
nießung an ſeinem Bauerngute hatte, konnte durch die Abtretung der
Hälfte ein freier Eigenthümer werden. Das Geſetz ſchnitt tief, ja grau-
ſam ein in die gewohnten Verhältniſſe; ſogar einige freie Köpfe des Be-
amtenthums, wie Hippel, fanden den Schritt allzu gewagt. Die Ritter-
ſchaft in Pommern beſaß etwa 260 Geviertmeilen, davon 100 □ M.
bäuerliches Land, jetzt wurden ihrer ſiebzig freies Eigenthum der Bauern.
Begreiflich, daß der Adel murrte, auch Stein ſelber ſchloß ſich ihm an.
Die Lage der Grundherren war ſchon längſt ſo troſtlos, daß ſich im
Jahre 1810 die reichſte Gutsbeſitzerin in Preußen erbot, ihre Güter gegen
eine jährliche Rente von 2000 Thlr. an den Staat abzutreten; ein ſchle-
ſiſcher Grundherr machte Bankrott, obgleich er noch einen Werth von
300,000 Thlr. in Grund und Boden beſaß. Aber auch die Bauern
lärmten. Mehrmals brachen Unruhen aus, namentlich in Schleſien,
da der kleine Mann wähnte, er ſei mit einem male aller Pflichten ledig;
die Ablöſung, die dem Adel unbillig niedrig ſchien, wurde von den
Pflichtigen viel zu hoch gefunden. Gleichwohl ging die ſegensreiche Reform
vorwärts. Sie ſtand, trotz aller äußeren Aehnlichkeit, in ſcharfem Gegen-
ſatze zu den Geſetzen der franzöſiſchen Revolution, da die Berechtigten
ehrlich entſchädigt wurden. Ihre Durchführung wurde weſentlich geför-
dert durch das Landesculturedict, das die freie Veräußerung und Theilung
der Landgüter geſtattete: dies bleibe „das beſte Mittel, die Grundbeſitzer
vor Verſchuldung zu bewahren, ihnen ein dauerndes Intereſſe für Ver-
beſſerung ihrer Güter zu geben und die Cultur aller Grundſtücke zu beför-
dern“. Aus vollem Herzen ſchloß der König, es ſei „für ſein Gefühl
höchſt erfreulich, daß wir endlich dahin gekommen ſind alle Theile un-
ſerer getreuen Nation in einen freien Zuſtand zu verſetzen und auch den
geringſten Klaſſen die Ausſicht auf Glück und Wohlſtand eröffnen zu
können“. Gegen dies Edict vornehmlich richtete ſich Steins Zorn. Er
ſchalt, nicht ohne die gallige Laune des Staatsmanns außer Dienſten,
wider dies bureaukratiſche Nivelliren und fürchtete, die freie Theilbarkeit
der Grundſtücke werde die Auskaufung, die Vernichtung ſeines geliebten
Bauernſtandes herbeiführen — eine Beſorgniß, die ſich doch als grundlos
gezeigt hat.


Hieran ſchloß ſich endlich die Emancipation der Juden, welche bisher
amtlich noch immer als „Judenknechte“ gegolten hatten (11. März 1812):
wenn ſie bleibende Familiennamen annahmen und ſich der Wehrpflicht
unterwarfen, ſo wurden ſie, wie in den Ländern des Code Napoleon,
vollberechtigte Staatsbürger, zu jedem Gewerbebetrieb in Stadt und
Land, auch zu den akademiſchen, den Schul- und Gemeindeämtern zuge-
laſſen. Unter den Jammerrufen der Feudalen geſchah nun die große
[377]Die Nationalrepräſentation.
Umtaufung der preußiſchen Judenſchaft. Die Levi, Cohn und Jacobſohn
behielten ihre ſemitiſchen Namen bei, die Wolf und Kuh begnügten ſich
mit den Spottnamen, welche ihnen der grauſame Volkshumor der Ger-
manen angehängt, die Zwickauer und Bamberger nannten ſich einfach
nach ihrer Heimath; jene ſinnigen Naturen aber, die der ſanfte Hauch
dieſer ſentimentalen Epoche angeweht hatte, wählten holdere Namen um
die Schönheit ihrer Seele getreulich auszudrücken, alſo daß die Thüren
unſerer Börſen noch heute von Blümchen, Veilchen, Nelken und Roſen-
zweigen dicht umrankt ſind.


In dieſen nothwendigen ſocialen Neuerungen lag die Größe der
Hardenbergiſchen Reformen. In ſeinen Finanzmaßregeln dagegen blieb
er nach wie vor unglücklich. Den Verkauf der Domänen betrieb er mit
lebhaftem Eifer, theils weil er baarer Mittel bedurfte, theils weil ihn
ſeine doctrinären Rathgeber von der Verwerflichkeit alles Staatsgrundbe-
ſitzes überzeugt hatten: in Abſicht der Domänen, ſchrieb F. v. Raumer
kurzab, iſt von den Briten nur zu lernen, daß man keine haben muß!
Doch woher ſollten die Käufer kommen in dem verarmten Lande? Nach
fünftehalb Jahren, bis zum Juni 1813 waren für verkaufte Staatsgüter
nur 786,000 Thlr. baar eingegangen, dazu über 6½ Mill. in werth-
loſen Papieren. Da auch die Conſumtionsſteuer wenig einbrachte und bald
zum Theil wieder zurückgenommen wurde, ſo konnte Hardenberg, der mit
ſo hoffnungsvollen Finanzplänen begonnen, von der franzöſiſchen Schuld
nicht mehr abtragen als ſein ſchwerfälliger Vorgänger Altenſtein: im April
1811 war noch faſt die Hälfte der Contribution, etwa 59 Mill. Fr.
ungetilgt. Die neuen ſchweren Kriegslaſten des Jahres 1812 nöthigten
den Staatskanzler endlich — gegen ſeine theoretiſchen Ueberzeugungen —
eine harte Vermögens- und Einkommenſteuer auszuſchreiben, die vom
Vermögen 3 Procent, vom Einkommen 1 bis 5 Procent in Anſpruch
nahm. Aber auch diesmal hatte er die troſtloſe wirthſchaftliche Erſchöp-
fung des Landes nicht richtig geſchätzt. Das Edict mußte ſchon nach
wenigen Wochen für Altpreußen außer Kraft geſetzt werden, da dieſe Provinz
durch den Marſch der großen Armee völlig ausgeſogen wurde, und ſtatt der
gehofften 25 Mill. Thlr. kamen nur 4½ Mill. ein, davon 4 Mill. baar.


Obgleich die ſocialen Reformen Hardenbergs nur durch den Willen
des abſoluten Königthums durchgeſetzt werden konnten, ſo war die Krone
doch nicht in der Lage, auf den Beiſtand popularer Kräfte ganz zu ver-
zichten. Sie hatte bereits im October 1810, in dem verheißungsreichen
Edict über die Finanzen, verſprochen, daß eine durch Repräſentanten der
Communen und Provinzen verſtärkte General-Commiſſion über die Re-
gulirung der Kriegsſchulden berathen ſolle. Die Landesdeputirten, nament-
lich die Vertreter des Bürger- und Bauernſtandes verlangten lebhaft die
Einlöſung dieſes Wortes. Darum erklärte der König *): „ſeine Abſicht
[378]I. 3. Preußens Erhebung.
gehe noch immer dahin, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Reprä-
ſentation zu geben; da die dazu erforderlichen Vorbereitungen indeſſen
noch Zeit erforderten, ſo ſollten die für jene General-Commiſſion beſtimm-
ten Abgeordneten auch vorerſt die Nationalrepräſentation conſtituiren.“
Unter dem hochtönenden Namen einer interimiſtiſchen Nationalrepräſen-
tation trat alſo am 10. April 1812 in Berlin eine zweite Notabelnver-
ſammlung von neununddreißig Mitgliedern zuſammen. Diesmal räumte
man der Nation ein Wahlrecht ein. Die achtzehn Ritter wurden unmit-
telbar von den Kreistagen, die zwölf Bürger und neun Bauern durch in-
directe Wahl von den Städten und dem Ruſticalſtande erwählt; die Re-
gierungspräſidenten ſollten aber die Gewählten prüfen, ob ſie einſichtsvolle,
patriotiſche und „vorurtheilsfreie“ Männer ſeien — ein deutlicher Wink
für die Feudalpartei!


Das Bedeutſamſte an dieſem überaus zahmen Repräſentationsver-
ſuche blieb, daß der neugeſchaffene Bauernſtand jetzt durch einige ſelbſt-
gewählte Vertreter an den Berathungen über Staatsangelegenheiten Theil
nahm. Die märkiſchen Stände murrten auch diesmal; ſie beriefen ſich
auf das „allgemeine Mißtrauen“ des Landes gegen die neuen Steuer-
pläne*) und ſetzten durch, daß wieder einige Nebendeputirte aus ihrer
Mitte zugelaſſen wurden. Hardenberg erſchien auch hier wieder als der
Verfechter der neuen Staatseinheit. Er faßte die Stände im modernen
Sinne als eine Intereſſenvertretung, er verlangte, der Repräſentant dürfe
„keinen anderen Richter als ſein Gewiſſen“ anerkennen: wer ſich nach
altſtändiſcher Weiſe an die Aufträge ſeiner Wähler gebunden glaube,
müſſe von den Berathungen ausgeſchloſſen werden.**) In den Provinzen
verſammelten ſich die „Wahldeputirten“, welche die Nationalrepräſentation
gewählt hatten, häufig aus eigenem Antriebe — ganz regelmäßig in Ober-
ſchleſien***) — um öffentliche Angelegenheiten zu beſprechen und mit
ihren Repräſentanten in Berlin einen regen Verkehr zu unterhalten.
Der Sinn für das politiſche Leben begann überall im Volke zu erwachen.
Die Wirkſamkeit der Nationalrepräſentation blieb gleichwohl ſogar noch
geringfügiger als die Thätigkeit der erſten Notabelnverſammlung. Ihre
häufig unterbrochenen Verhandlungen bewegten ſich weſentlich um die
Regulirung des Kriegsſchuldenweſens und brachten ſelbſt dieſe Angelegen-
heit nicht ins Reine. Kamen andere Fragen zur Beſprechung, ſo zeigte
ſich ſtets ein ſtreng conſervativer, den Reformen feindlicher Geiſt; der
Staatskanzler mußte ſich bald überzeugen, daß er die Ausgleichung der
Grundſteuer gegen den zähen paſſiven Widerſtand des Landadels für jetzt
noch nicht durchſetzen könne. Der Eifer der Repräſentanten und ihrer
[379]Das Gensdarmerie-Edict.
Wähler erlahmte ſchnell; es kam ſo weit, daß die Stände Vorpommerns
ſich weigerten ihren Vertretern fernerhin Tagegelder zu zahlen. Von der
Nation kaum noch bemerkt ſchleppte die Verſammlung ihr unfruchtbares
Daſein bis zum 15. Juli 1815 dahin; ihr letztes Werk war die Verord-
nung über die Vergütung der Kriegsleiſtungen v. 1. März 1815.


Je länger der Staatskanzler im Sattel ſaß, um ſo offenkundiger
wurden ſeine bureaukratiſchen Neigungen. Ohne feſte Grundſätze wie er
in Verwaltungsfragen immer war, fand er den aufreibenden Kampf mit
dem trotzigen Landadel bald unbequem und beſchloß den feſten Grund
der ritterſchaftlichen Macht, die Gutsherrſchaft zu zerſtören, aber nicht
durch die Begründung einer gerechten Selbſtverwaltung auf dem flachen
Lande, ſondern auf gut napoleoniſch-weſtphäliſche Art durch die Verſtärkung
der Macht des Beamtenthums. Am 30. Juni 1812 erſchien das Edict wegen
Errichtung der Gensdarmerie. Es war der ſchwerſte Mißgriff der Harden-
bergiſchen Verwaltung, ein vollſtändiger Abfall von den hochſinnigen Ge-
danken Steins. Das althiſtoriſche, mit dem Leben dieſes Staates feſt
verwachſene Landrathsamt wurde aufgehoben. An die Stelle des Land-
raths trat ein Kreisdirector, ein von der Krone nach freiem Ermeſſen
ernannter, auskömmlich beſoldeter Staatsbeamter, der ſeinen Sitz in der
Kreisſtadt angewieſen erhielt und lediglich ein Werkzeug der Staatsgewalt,
nicht mehr, wie vormals der Landrath, zugleich ein Vertrauensmann der
Kreisſtände war. Unter ihm ſollte ein Kreisbrigadier mit vier bis fünf
Gensdarmerie-Offizieren die Polizeigewalt im Kreiſe handhaben und zu-
gleich in den Geſchäften des Kreisdirectoriums thätig ſein, dergeſtalt daß
dieſe Behörde einen rein bureaukratiſchen Charakter erhielt. Die Kreis-
kaſſe wurde zur Staatskaſſe; nur als ein gerinfügiger Nebenfond ſollte
noch eine Kreis-Communalkaſſe beſtehen. Da der Schwerpunkt der Selbſt-
verwaltung überall im Finanzweſen liegt, ſo konnte demnach die aus zwei
Abgeordneten der Ritterſchaft, zwei ſtädtiſchen und zwei bäuerlichen De-
putirten gebildete Kreisverſammlung, welche der Kreisdirector von Zeit
zu Zeit einberief, nur wenig bedeuten. Die Rittergutsbeſitzer verloren
ihre Polizeigewalt, erhielten nur das Recht der Aufſicht über die Orts-
polizei der Dorfgerichte, wurden der Disciplinargewalt des Kreisdirectors
unbedingt unterworfen.


Hardenberg ging bei dem Gensdarmerie-Edicte von der berechtigten
Abſicht aus, die Ausführung des Staatswillens auf dem flachen Lande
beſſer als bisher zu ſichern und das Uebergewicht der Ritterſchaft in der
Kreisverwaltung, das „nach Einführung der Gewerbefreiheit und bei
gleichem Intereſſe aller Klaſſen“ keinen Sinn mehr habe, zu beſeitigen.
Doch ſein Heilmittel war ärger als die alten Uebel. Sein Kreisdirector
mitſammt der Kreisverſammlung war nichts anderes als der Unterpräfect
und der Arrondiſſementsrath des napoleoniſchen Frankreichs. Mit dieſem
Edicte, das unter ſo anſpruchsloſem Namen auftrat, that der Staats-
[380]I. 3. Preußens Erhebung.
kanzler den verhängnißvollen erſten Schritt zur Einführung des Präfec-
turſyſtems. Die Oberpräſidenten hatte er ſchon abgeſchafft, und nun
verſprach er bereits das Staatsgebiet in „neue Regierungs- und Militär-
departements“ einzutheilen. Er war jetzt ſo ganz durchdrungen von der
Herrlichkeit der ſchlagfertigen Präfectur, daß ſelbſt ſein ergebener F. v.
Raumer ſich bewogen fand ihm die Vorzüge des alten preußiſchen Col-
legialſyſtems in einem beweglichen Briefe vorzuhalten.


Zum Glück fehlte dem geiſtreichen Manne die Willenskraft zur
Durchführung der undeutſchen, verderblichen Neuerung, die er plante. Vor-
derhand ſollte nur ein Theil der Beſtimmungen des Gensdarmerie-Edicts
„proviſoriſch“ in Kraft treten. Dieſer Unfug der proviſoriſchen Geſetzge-
bung war dem geſtrengen alten Abſolutismus ganz unbekannt geweſen
und riß erſt jetzt ein, da der leitende Staatsmann zwiſchen Projecten
und Experimenten unſtät hin und her griff. Proviſoriſch alſo ſollten
die bisherigen Landräthe die Geſchäfte der neuen Kreisdirectorien über-
nehmen, nur daß man zuvor gründlich unter ihnen aufräumte und eine
große Zahl der Altſtändiſchgeſinnten entließ. Jedoch ſelbſt in dieſer pro-
viſoriſchen Geſtalt ſtieß die neue Ordnung auf einen ungeheuren, völlig
unbeſiegbaren Widerſtand. Der Landadel, in ſeinem Allerheiligſten bedroht,
lärmte lauter denn je, die Nationalrepräſentanten in Berlin verwahrten
ſich gegen die Verletzung der alten Gerechtſame. Mehrere der wärmſten
perſönlichen Anhänger des Staatskanzlers ſtimmten mit ein in die be-
rechtigten Vorwürfe, welche von Stein, Vincke und den anderen Vertre-
tern des Gedankens der Selbſtverwaltung erhoben wurden; der geiſtreiche
Hippel gerieth mit ſeinem alten Freunde Scharnweber, der bei dem Ge-
ſetze mitgeholfen, ganz aus einander. Das Edict konnte nur in wenigen
Regierungsbezirken, nirgends vollſtändig und in der Kurmark gar nicht,
ausgeführt werden; bald nachher ſchwemmte die Sturmfluth des Krieges
von 1813 auch dieſe ſchwachen Anfänge großentheils wieder hinweg. Die
einzige geſunde Frucht des unglücklichen Geſetzes waren die Kreisverſamm-
lungen. Erſt in der ſtillen Arbeit dieſer Verſammlungen lernte das
Landvolk die neue Zeit kennen und lieben. Wo immer ſie ins Leben
traten da war Jedermann des Lobes voll für das Verhalten der Bauern;
ſie lieferten den Beweis, daß Steins Werk, die Befreiung des Bauern-
ſtandes nicht zu früh erſchienen war. Alle Berichte der Behörden erzählten
mit naivem Erſtaunen, wie willig, brauchbar, beſonnen dieſer neue Stand
ſich zeige.*)


Welch ein Gegenſatz doch: die Geſetze Steins und die Experimente
Hardenbergs! Steins Thun und Denken gemahnt immer an den alten
Wappenſpruch ſeiner geliebten Grafſchaft Mark: vierecken Stein, wie er
[381]Stein und Hardenberg.
auch fällt, ſich immer auf ein Seiten ſtellt. In Hardenbergs Geiſte kom-
men und gehen die Gedanken und Einfälle wie die Nebelbilder in einem
Zauberſpiegel. Dort Alles planvoll, tief, gediegen und darum auch alsbald
in vollem Ernſte durchgeführt; hier ein unſicheres Schwanken zwiſchen
radicalen Doctrinen und despotiſchen Neigungen, eine Reihe verunglückter
Finanzgeſetze, große gefährliche Verſprechungen für die Zukunft, kühne
Anläufe, nach dem erſten Sprunge wieder aufgegeben, Alles planlos und
haſtig; und mitten in dieſem unfertigen dilettantiſchen Treiben doch einige
hochwichtige Reformen, des größten Staatsmannes würdig, eine Entfeſſe-
lung der wirthſchaftlichen Kräfte, die dem Staate nachher ermöglicht hat
die Wunden eines fürchterlichen Krieges auszuheilen. Jener Zug des
Leichtſinns, welcher Hardenbergs proteiſche Natur ſo oft in die Irre führte,
hing doch eng zuſammen mit der beſten Kraft ſeines Weſens, der unver-
wüſtlichen hoffnungsvollen Freudigkeit. Während Stein den preußiſchen
Staat ſchon faſt verloren gab und nur noch auf das Wunder einer allge-
meinen deutſchen Volkserhebung rechnete, fand dieſer Leichtlebige ſtets
neue Mittel und Behelfe für ſeinen wirklichen Staat und nach jedem
neuen Fehlſchlage ſtand er wieder ſchnellkräftig auf ſeinen Füßen. —


Inmitten der Aufregung dieſer inneren Parteikämpfe behielt Harden-
berg immer ſeine beſte Kraft frei für die auswärtige Politik. Er wollte
die wirthſchaftlichen und militäriſchen Kräfte des ausgeſogenen Landes
noch einige Jahre lang ſammeln und unterdeſſen in der Stille ein gutes
Einvernehmen mit den beiden anderen Oſtmächten herſtellen, bis nach
der völligen Räumung der Oderfeſtungen der rechte Augenblick für die
Schilderhebung herankäme. Bis dahin durfte man den Argwohn des
Imperators nicht reizen. Darum wurde Scharnhorſt ſcheinbar der Leitung
des Kriegsdepartements enthoben: in Wahrheit behielt er nach wie vor
die militäriſchen Dinge in ſeiner Hand. Graf Goltz, ein wohlmeinen-
der, ängſtlicher Mann, an dem die Franzoſen keinen Anſtoß nahmen,
blieb dem Namen nach an der Spitze der auswärtigen Geſchäfte, während
Hardenberg hinter ſeinem Rücken mit dem engliſchen Agenten Ompteda
verhandelte. Der Polizeidirector von Berlin, Juſtus Gruner, ein leiden-
ſchaftlicher, in die Pläne der geheimen Bünde tief eingeweihter Patriot,
verlor ſeine Stelle. Die aufgeregten Gelehrten und Schriftſteller erhiel-
ten freundſchaftliche Mahnungen ſich nicht bloßzuſtellen. Eine ſorgſame
Cenſur überwachte nos deux gazettes: ſo hießen in der Sprache der
preußiſchen Diplomatie die patriotiſche Spenerſche und die charakterloſe,
vom Grafen St. Marſan insgeheim unterſtützte Voſſiſche Zeitung. Der
Staatskanzler war unermüdlich im Beſchwichtigen und Entſchuldigen, ſo
oft St. Marſan in Berlin oder Davouſt in Magdeburg ſich über die
Umtriebe von Fichte, Schleiermacher und Schmalz beſchwerten.*) Indeß
[382]I. 3. Preußens Erhebung.
die Ereigniſſe gingen ſchneller als Hardenbergs verſtändige Wünſche. Bald
nach dem Wiener Frieden ließ ſich ſchon errathen, daß der Entſcheidungs-
kampf zwiſchen den Tilſiter Verbündeten nahte; nicht urplötzlich wie die
meiſten anderen Kriege dieſer athemloſen Zeit, ſondern ſchrittweiſe, zwei
Jahre zum Voraus erkennbar, rückte die neue Kriegsgefahr heran.


Der entſcheidende Grund lag wieder in dem unzähmbaren Charakter
des Weltherrſchers. Wie der Löwe nicht blos aus Hunger mordet, ſon-
dern weil er nicht anders kann, weil es ſeine Natur iſt zu rauben und
zu zerfleiſchen, ſo konnte dieſer Allgewaltige nicht einen Augenblick bei
einem erreichten Erfolge ſich beruhigen. Ins Grenzenloſe ſchweiften ſeine
begehrlichen Träume; noch war ihm nichts gelungen was der Märchen-
pracht des Alexanderzuges gleich kam. Kaum war mit Rußlands Hilfe
Oeſterreich unterworfen, ſo ſollte der Czar mit dem Beiſtande der Hof-
burg gedemüthigt werden. Doch nicht blos die verzehrende Gluth eines
raſenden Ehrgeizes trieb den Imperator vorwärts, ſondern auch eine un-
aufhaltſame politiſche Nothwendigkeit; ſein Weltreich konnte nicht beſtehen
wenn er nicht über alle Küſten Europas unbedingt gebot. Leidenſchaft-
licher denn je betrieb er jetzt den Handelskrieg gegen das unangreifbare
England; durch das Edict von Trianon hoffte er die Sperrung des Con-
tinents zu vollenden. Als er die Nordſeeküſte mit dem Kaiſerreiche ver-
einigte, erklärte er den Abgeordneten der Hanſeſtädte kurzab: die Edicte
über die Continentalſperre ſind die Grundgeſetze meines Reiches! Auf der
ſpaniſchen Halbinſel wogte der gräuelvolle Krieg ins Unabſehbare dahin;
aus den radicalen Beſchlüſſen der Cortes von Cadiz ſprach die verzwei-
felte Entſchloſſenheit eines heldenhaften Volkes. Zwingende politiſche
Gründe mahnten den Imperator zunächſt dieſe offene Wunde zu ſchließen;
er aber wollte und konnte die ungeheure Macht der nationalen Leiden-
ſchaft nicht würdigen. War erſt Rußland gebändigt und die engliſche
Flagge von allen Häfen des Feſtlands ausgeſchloſſen, ſtanden die franzö-
ſiſchen Zollwächter in Petersburg, dann mußte der ſpaniſche Aufſtand wie
Schnee zerſchmelzen vor der Sonne des Kaiſerthums. Und ſchon brütete
der Unerſättliche über noch kühneren, noch wunderbareren Plänen: nach
dem Falle von Moskau ſollte von den Ufern der Wolga aus ein neuer
Kriegszug, die Wunder Alexanders überbietend, beginnen, ein Zug zum
Ganges, der „dies Schaugerüſte der engliſchen Handelsgröße“ für immer
vernichten mußte.


Der Czar konnte ſich die Gefahren des Tilſiter Bündniſſes nicht
länger mehr verbergen. Ganz Rußland vernahm mit Unmuth, wie Na-
poleon das von den Ruſſen eroberte öſterreichiſche Polen großentheils an
Warſchau verſchenkte ohne den Verbündeten auch nur zu befragen. Man
kannte in Petersburg den geheimen Verkehr zwiſchen dem polniſchen Adel
und den Tuilerien, der durch Napoleons polniſche Flügeladjutanten ver-
mittelt wurde. Die Wiederherſtellung Polens durch Frankreichs Gnade,
[383]Auflöſung des Tilſiter Bündniſſes.
nach Alexanders Meinung die ſchwerſte aller Gefahren, rückte näher und
näher. Um ihr zu begegnen legte der Czar dem franzöſiſchen Geſandten
einen Vertrag vor, wornach die beiden Alliirten ſich verpflichteten den
polniſchen Staat niemals wieder aufzurichten, auch den Namen Polen
nie zu dulden. Der Imperator wich aus; ſein frommes Gemüth ſcheute
ſich „die Sprache der Gottheit zu reden“, ein Verſprechen für alle Zu-
kunft zu geben. Nicht als ob er den Gedanken der Wiederherſtellung des
polniſchen Reichs ſchon im vollen Ernſt ergriffen hätte. Die Bildung
nationaler Staaten widerſprach dem Weſen ſeines Weltreichs. Auch die
revolutionären Ideen, die in dem zweiſeitigen Weſen des Bonapartismus
lagen, traten mit den Jahren ganz zurück. Wie die unterjochten Völker
jetzt in Napoleon nur noch den Despoten ſahen, ſo fühlte er ſelber ſich
wieder ganz als der Bändiger der Revolution und prahlte wieder, wie
einſt nach dem achtzehnten Brumaire, auf ſeinen Schultern ruhe die
Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft. Der Radicalismus der Sarmaten
war ihm unheimlich; ihn beunruhigte der Gedanke, von einem halbre-
publikaniſchen Polen könne „eine teufliſche Propaganda“ ausgehen, die
ſich mit dem Huſſitenthum im nahen Böhmen verbände. Gleichwohl wollte
er ſich nicht die Hände binden, da die nationalen Hoffnungen der Polen
ihm vielleicht noch als eine willkommene Waffe gegen Rußland dienen
konnten; auch durfte der Uſurpator die Schwärmerei der Franzoſen für
die Wiederaufrichtung des altverbündeten Polenreichs nicht offen verletzen.
Genug, die Verhandlungen zwiſchen Paris und Petersburg zerſchlugen
ſich, und der erbitterte Czar erklärte dem franzöſiſchen Geſandten: ich
weiß jetzt, daß Ihr Polen wiederherſtellen wollt! Der Imperator aber
gab auf den Vorwurf hinterhaltiger Ränkeſucht die unzweideutige Ant-
wort: ich intrigire nicht, ſondern führe Krieg mit 400,000 Mann!


Nun drängten ſich Schlag auf Schlag die Beweiſe der Feindſeligkeit
Napoleons. Kurz bevor er die Erzherzogin heimführte, ließ er um die
Hand der Schweſter Alexanders anhalten; er rechnete, Kaiſer Franz
werde lieber ſein eigen Fleiſch und Blut dem gekrönten Plebejer opfern,
als eine Familienverbindung zwiſchen den Bonapartes und dem Hauſe
Gottorp dulden. Der Plan gelang vollſtändig, der Czar aber ſagte ver-
ſtimmt: Ihr habt ein doppeltes Spiel geſpielt! Es folgte die Einverleibung
der deutſchen Küſten. Das Weltreich ſtreckte ſeine Polypenarme, den
preußiſchen Staat umklammernd, bis zur Oſtſee, immer näher an Ruß-
land heran, und der Imperator erklärte ausdrücklich, dieſe Reunionen
ſeien nur die erſten! Dadurch wurde zugleich der Verbündete Frankreichs,
der Herzog von Oldenburg, Alexanders naher Verwandter ſeines Erb-
landes beraubt, ohne daß man den ruſſiſchen Alliirten auch nur zum
Voraus von der Gewaltthat unterrichtete. Dann ſtellte Napoleon dem
Czaren die Zumuthung, daß er alle neutralen Schiffe mit Beſchlag be-
legen ſolle; das hieß den Ruſſen jede Verzehrung von Colonialwaaren ver-
[384]I. 3. Preußens Erhebung.
bieten. Alexander antwortete durch einen Ukas, der die Einfuhr franzö-
ſiſcher Fabrikate hart traf. Ein gereizter Briefwechſel gab der Erbitterung
der beiden Kaiſer lebhaften Ausdruck. Ew. Majeſtät hat keine Freund-
ſchaft mehr für mich — ſo ſchrieb Napoleon im Februar 1811 —
unſere Allianz beſteht nicht mehr in den Augen Englands und Europas.


Unterdeſſen betrieb er mit gewohnter Umſicht die Rüſtungen für
einen Kampf ohne Gleichen. Schon ſeit dem Frühjahr 1810 ließ er un-
geheure Waffenvorräthe im Warſchauiſchen aufhäufen und die Feſtungen
des Herzogthums für den Krieg vorbereiten — das Alles „aus bloßer
Vorſicht“, wie er an Friedrich Auguſt von Sachſen ſchrieb. Im April
1811 erhielten die Fürſten des Rheinbundes den Befehl ihre Truppen
marſchbereit zu halten; Magdeburg war von den Franzoſen beſetzt, die
Garniſonen in Danzig und den Oderfeſtungen wurden verdoppelt, an
der unteren Elbe ſammelte ſich ein Heer von 200,000 Mann. Es lag
vor Augen: Preußen ſollte durch einen plötzlichen Einbruch vernichtet
oder durch Drohungen zum Anſchluß an Frankreich gezwungen werden;
dann begann der ruſſiſche Feldzug ſogleich von Warſchau aus. Am
15. Auguſt 1811 überſchüttete Napoleon in öffentlicher Verſammlung den
ruſſiſchen Geſandten Kurakin mit gehäſſigen Scheltworten, und die Welt
wußte bereits: durch ſolche Scenen pflegte der Imperator ſeine Kriege
einzuleiten.


Wollte Alexander den ungleichen Kampf beſtehen, ſo war unerläßlich,
daß er ſeine geſammte Macht bereit hielt und ſich mit den deutſchen
Großmächten verſtändigte. Von den beiden goldenen Früchten, die er ſich
von dem Tilſiter Bündniß verſprochen, war die eine bereits glücklich einge-
heimſt. Das beſiegte Schweden hatte Finnland den Ruſſen abgetreten,
und auch in den Donauprovinzen behaupteten ſich Alexanders Truppen.
Aber die Pforte widerſtand noch immer hartnäckig, und Napoleon er-
muthigte ſie insgeheim, denn er ſah voraus, daß der Kampf um die
Donaumündungen jede Verſöhnung zwiſchen Rußland und Oeſterreich
vereiteln mußte. Die Hofburg grollte dem Czaren, ſie ſchrieb ihm vor
Allen das Mißlingen des letzten Krieges zu. Trotzdem unternahm
Kaiſer Franz ſchon im December 1809 den Verſuch einer geheimen An-
näherung, da er der franzöſiſchen Freundſchaft wenig traute. Alexander
ſchlug freudig ein in die dargebotene Hand; er glaubte in jenem Augen-
blicke noch an die Fortdauer des Tilſiter Bündniſſes und ſpielte mit dem
Plane eines Dreikaiſerbundes, der die Theilung der Türkei herbeiführen
ſolle. Indeß die Wiener Nüchternheit blieb für ſolche Träume unempfäng-
lich. Erzherzog Karl vornehmlich zeigte wie immer ein offenes Verſtändniß
für die orientaliſchen Intereſſen der Monarchie, er verwarf jede Verſtän-
digung mit Rußland, ſo lange die untere Donau in der Hand des Czaren
ſei, und Metternich erklärte endlich dem ruſſiſchen Geſandten: „macht
ein Ende mit der Türkei, dann erſt können wir mit Euch verhandeln!“


[385]Alexanders polniſche Pläne.

Währenddem erkannte Alexander, daß der Bund von Tilſit zerriſſen
war, und alsbald ſtiegen in der Seele des Leichtbeweglichen neue phan-
taſtiſche Träume auf, Pläne ebenſo glückverheißend für die Freiheit der
Welt wie vortheilhaft für die Ländergier des Hauſes Gottorp. Er kehrte
zurück zu jenen polniſchen Projecten, die er vor Jahren mit Czartoryski
beſprochen, und ſchrieb im December 1810 dem polniſchen Freunde: ſeine
Abſicht ſei, dem Imperator den Rang abzulaufen und gleich beim Be-
ginne des Krieges die Freiheit Polens auszurufen — natürlich die Frei-
heit unter ruſſiſchem Scepter. Er wollte als Selbſtherrſcher aller Reuſſen
und König von Polen im Oſten despotiſch, im Weſten parlamentariſch
regieren, als der Herſteller Polens in dem Gedächtniß ferner Jahrhun-
derte leben und dem befreiten Nachbarlande eine muſterhafte Verfaſſung
ſchenken, denn „Sie wiſſen, die liberalen Formen habe ich immer vorge-
zogen.“ Folgten die Polen dem Rufe ihres Befreiers, ſo könne er „ohne
einen Schuß zu thun“ bis an die Oder vorgehen, Preußen ſchließe ſich
ſelbſtverſtändlich an, und mit entſchiedener Uebermacht, mit 230,000 Mann,
die bald noch um weitere hunderttauſend verſtärkt würden, beginne dann
der Kampf für die Befreiung Europas; mehr als 155,000 Mann habe
Napoleon nicht entgegenzuſtellen, und darunter nur 60,000 Franzoſen!
So tief unterſchätzten die alten Mächte noch immer die Macht des Welt-
reichs. Selbſt einſichtige Offiziere kamen von dem allgemeinen Irrthum
nicht los; berechnete doch Radetzky im Jahre 1810 ebenfalls, daß nur
60,000 Franzoſen gegen Rußland marſchiren könnten, und Gneiſenau
ſchätzte noch ein Jahr darauf die Geſammtmaſſe der gegen den Oſten
verfügbaren napoleoniſchen Streitkräfte auf 200,000 Mann.


Mit glückſeliger Zuverſicht baute der Czar auf ſeinen rettenden Ge-
danken. Er hielt es für ſo ſchwer nicht, ſelbſt Oeſterreichs Zuſtimmung zu
gewinnen und ſchrieb dem Kaiſer Franz: möge die Hofburg die Donau-
provinzen und ſelbſt Serbien für ſich nehmen, wenn ſie ſich nur der
großen Coalition anſchließe und die Wiederherſtellung Polens geſtatte.
Dem Wiener Hofe aber erſchienen dieſe polniſchen Pläne, begreiflich genug,
faſt noch unannehmbarer als vorher die Anſchläge gegen die Donaumün-
dungen. Er lehnte jede Verhandlung ab; ſeine Staatsmänner ſagten unver-
hohlen: die ruſſiſche Politik iſt wie ein Kind, ſie weiß nicht was ſie will.
In der That ſollten die ſarmatiſchen Projecte raſch im Sande verlaufen.
Czartoryski verſagte ſich den Mahnungen Alexanders; das polniſche Blut
war ſtärker als die Freundſchaft für den Czaren. Der kluge Pole er-
rieth ſofort, daß ſeine Landsleute, getreu den nationalen Ueberlieferungen,
im franzöſiſchen Lager bleiben würden, und hoffte die Herſtellung ſeines
Vaterlandes von Napoleons Siegen. Er wollte tout ce qui est Po-
logne,
alſo auch Danzig und Weſtpreußen wieder unter den Fahnen des
weißen Adlers vereinigen und verhielt ſich kühl, ſobald er bemerkte, wie weit
dieſe beſcheidenen Anſprüche über die Abſichten des Czaren hinausgingen.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 25
[386]I. 3. Preußens Erhebung.

Im Mai 1811 ſah Alexander endlich ein, daß er beim Vorbrechen
gegen Warſchau auf eine Schilderhebung der Polen nicht zählen könne,
und beſchloß nunmehr, gründlich ernüchtert, den Angriff des Feindes im
eigenen Lande zu erwarten. Er kannte ſeine Ruſſen; er wußte, daß ſie
einen Krieg im Auslande als einen Kampf für die Heiden immer nur
mit halbem Herzen führen, dagegen die bedrohte Erde des heiligen Ruß-
lands noch immer ebenſo tapfer und glaubensfreudig, wie einſt gegen die
Tartaren und Türken, vertheidigen würden. An Nachgiebigkeit dachte er
nicht mehr der Krieg ſchien ihm unvermeidlich, und die Bedrängniß der
Finanzen machte den bewaffneten Frieden auf die Dauer unerträglich.


Alſo drohten, wie die Zeitungen ſagten, die beiden Koloſſe des Oſtens
und des Weſtens auf einander zu ſtoßen und das unglückliche Preußen
beim erſten Anprall zu zermalmen. Neutralität war unmöglich, ſchon
weil Napoleon ſeinen Heereszug durch Preußen führen mußte; die preu-
ßiſchen Generale ſahen voraus, daß er dieſe Straße einſchlagen würde um
in das Herz des ruſſiſchen Landes zu ſtoßen, den Norden und den Sü-
den des weiten Reichs getrennt zu halten. Alle ſeine perſönlichen Ge-
fühle, der Haß wider den Unterdrücker und die Freundſchaft für den
Czaren, drängten den König ſich dem Staate anzuſchließen, den er von
jeher als ſeinen natürlichen Bundesgenoſſen betrachtet hatte. Unterlag
Rußland, ſo war ſicher, daß der ſiegreiche Imperator den verhaßten preu-
ßiſchen Staat vernichtete; ſein Groll gegen dieſe zähen Norddeutſchen
wuchs von Tag zu Tage, er nannte die Preußen nur noch die Jacobiner
des Nordens. Seine Hofblätter erzählten immer wieder von der großen
anarchiſchen Verſchwörung, die in Preußen ihren Heerd finde; ſie wieder-
holten gern die Weiſſagung des Clericalen Bonald, daß dieſer Staat, das
Werk des Gottesleugners Friedrich, dem Untergange entgegeneile.


Aber wie nun, wenn Alexander ſich über Preußen hinweg mit Frank-
reich verſtändigte? Schon dreimal, in Tilſit, in Erfurt und während
des öſterreichiſchen Krieges, hatte er ſeine deutſchen Freunde kaltſinnig
preisgegeben. Stand Preußen allein auf, ſo wurde das kleine Heer von
der ſiebenfachen Uebermacht, die überall dicht an den Grenzen und in
den Oderfeſtungen ſtand, höchſtwahrſcheinlich ſogleich überrannt. Wie
durfte man hoffen die Truppen rechtzeitig an der Küſte im Lager bei
Colberg zu verſammeln, da das nahe ſächſiſch-polniſche Heer die ſchleſi-
ſchen Truppen ſofort von der Hauptmaſſe der Monarchie abſchneiden
konnte? Ein Handſtreich der Danziger und der Stettiner Garniſon ge-
nügte um die Dirſchauer Brücke und die neue Oderbrücke von Schwedt,
die beiden einzigen noch offenen Verbindungswege zwiſchen Altpreußen,
Pommern und den Marken, alsbald zu ſperren. Ueber Napoleons Ab-
ſichten beſtand kein Zweifel mehr. Nachdem die Hälfte der Contribution
abgezahlt war, hatte er dem Vertrage gemäß Glogau wieder an den König
zurückzugeben; doch er verweigerte die Räumung trotz zweimaliger Mah-
[387]Die Kriſis von 1811.
nung. Der kluge Talleyrand, der noch zuweilen zur Mäßigung gerathen,
war längſt aus dem auswärtigen Amte zurückgetreten; ſeine Nachfolger,
Champagny und nachher Maret, folgten knechtiſch jeder Laune des Herr-
ſchers. Eine geheime Denkſchrift Champagnys vom December 1810 fiel
in Hardenbergs Hände; ſie entwickelte ausführlich den Plan der Vernich-
tung Preußens. Der Staatskanzler durchſchaute die hinterhaltigen Ab-
ſichten der napoleoniſchen Diplomaten, die jede Kriegsgefahr hartnäckig
in Abrede ſtellten; noch im April 1811 verſicherte ihm Lauriſton, der
ruſſiſch-franzöſiſche Streit ſei nur ein harmloſer Zwiſt zwiſchen Mann
und Frau.*) Es war klar, man wollte Preußens Wachſamkeit einſchlä-
fern; der Imperator ſchwankte nur noch, ob er den Hohenzollern vor
oder nach dem ruſſiſchen Kriege den Gnadenſtoß geben ſolle. Aber eine
Schilderhebung in ſo entſetzlicher Lage war ein Selbſtmord, wenn der
Czar ſich nicht entſchloß den Krieg auf preußiſchem Boden zu eröffnen.


In dieſem Sinne ſchrieb Friedrich Wilhelm ſeinem Freunde, wieder-
holt, nachdrücklich, in tiefſter Erregung. Alexander ſchwieg lange. Gegen
Ende Mai antwortete er ſchließlich: er habe kein Mittel die Ueberfluthung
Preußens durch die große Armee zu hindern und werde den Krieg nicht
anders als im Innern ſeines Landes beginnen. Zum vierten male über-
ließ er ſeinen Freund einem unheimlichen Schickſale. Unterdeſſen hatte
Hardenberg verſucht, ob in Paris ein Bündniß unter ehrenvollen Be-
dingungen zu erlangen ſei; er bot ein Hilfscorps, gegen die Rückgabe
von Glogau, gegen den Erlaß der Contribution und die Erlaubniß zur
Vermehrung des Heeres. Napoleon verwarf den Antrag: nicht als ein
gleichberechtigter Bundesgenoſſe, ſondern gebunden und gezwungen ſollte
ihm Preußen Heeresfolge leiſten. Unheil alſo und Verderben wohin man
ſich auch wenden mochte!


Da, im Augenblicke der höchſten Noth, brach die heiße Leidenſchaft
der Kriegspartei in hellen Flammen aus. Hardenberg ſelbſt trat auf die
Seite Scharnhorſts, Gneiſenau wurde in den Staatsrath berufen zur
Leitung der Rüſtungen, und ſo entſtanden im Sommer 1811 jene gran-
dioſen Pläne für eine Maſſenerhebung des preußiſchen Volkes — das
Tollkühnſte vielleicht, was moderne Staatsmänner je erdacht haben, ein
unvergängliches Denkmal für die Seelengröße Scharnhorſts und ſeiner
Freunde. Wie man ſo dalag, dicht unter den Feuerſchlünden der großen
Armee, die mit jedem Tage anwuchs, traute man ſich noch die Kraft zu,
durch einen plötzlichen Aufſtand dem übermächtigen Feinde zuvorzukommen;
in jedem Dorfe ſollte der Pfarrer den Landſturm aufbieten, wer nur
irgend die Waffen ſchwingen konnte mußte mit heran. Bereits waren
in aller Stille die Krümper einberufen, ſo viele man nur heranziehen
konnte ohne den Argwohn der Franzoſen zu wecken; gegen Ende Auguſt
25*
[388]I. 3. Preußens Erhebung.
ſtanden 75,000 Mann bereit. Die commandirenden Generale in den
Provinzen erhielten außerordentliche Vollmachten um auf ein gegebenes
Zeichen ſofort loszuſchlagen. Berlin war von Truppen faſt ganz ent-
blößt, von allen Seiten her zogen die Regimenter nach dem feſten Lager
bei Colberg, wo Blücher befehligte; dort und in Spandau ſollte der Volks-
krieg ſeinen Stützpunkt finden. Gneiſenau jubelte: die Welt ſoll erſtaunen
über unſere Kräfte! Wer den Hochherzigen in jenen Tagen ſah vergaß
ihn nie mehr: ein Lichtſtrom der Begeiſterung ſchien von ihm auszu-
ſtrahlen. Seine Freunde dachten ihm den Oberbefehl in Schleſien, wo
er jeden Buſch und jeden Weg kannte, anzuvertrauen, und Clauſewitz
begrüßte ihn bereits in prophetiſcher Ahnung als den Marſchall von
Schleſien. Alle Gluth und allen Adel ſeiner Seele hatte er in dieſen
Kriegsplänen niedergelegt; ſein ganzes Weſen war im Aufruhr, als er ſie
dem Könige übergab mit einer poetiſchen Mahnung:


Trau’ dem Glücke, trau’ den Göttern,

ſteig’ trotz Wogendrang und Wettern

kühn wie Caeſar in den Kahn!

Und doch waren dieſe heldenkühnen Pläne nichts als eine edle Ver-
irrung. Gneiſenau ſelber ſprach ſich ſein Urtheil, wenn er bekannte, er
habe nur noch den Muth des Curtius. Ein ruhmvoller Untergang, ein
Untergang ohne jede abſehbare Möglichkeit der Wiederauferſtehung war
Preußens ſicheres Loos, wenn man ſich alſo kopfüber in den Kampf ſtürzte.
Noch bevor der Volkskrieg recht in Zug kam, mußte Napoleon, der ſeine
Augen überall hatte, das Land ſchon mit ſeinen Heerſäulen überſchwemmt
haben, und wo bot dieſe offene, bebaute Ebene einen Anhalt für einen
ſpaniſchen Guerillaskrieg? Es wurde die Rettung der Monarchie, daß
Friedrich Wilhelm auch in dieſer ſchweren Verſuchung ſeine höchſte Königs-
pflicht nicht aus den Augen verlor und das Daſein des Staates nicht
einer Aufwallung heroiſcher Gefühle opfern wollte. Er prüfte die Pläne
nach ſeiner tiefen, gründlichen Weiſe und warf ſchon jetzt in ſeinen Rand-
bemerkungen einige gute Gedanken hin, welche zwei Jahre ſpäter ins Leben
treten ſollten: ſo den erſten Entwurf für den Orden des eiſernen Kreuzes.
Vieles ſah er allzu trübe; ſolchen Männern gegenüber fragte er klein-
müthig wo denn die Heerführer ſeien für einen Volkskrieg? Aber die Stärke
Napoleons, die Schwäche des ruſſiſchen Heeres ſchätzte er richtiger als
die Generale, und ſeine an den geordneten Heeresdienſt gewöhnten Mär-
ker kannte er zu gut um ſich viel von einer regelloſen Volksbewegung zu
verſprechen. „Als Poeſie gut“ hieß es in den Randgloſſen, und wieder:
„wenn ein Prediger erſchoſſen iſt, hat die Sache ein Ende.“ Der König
war längſt auf das Aergſte gefaßt; ſeine Wagen ſtanden wochenlang reiſe-
fertig im Schloßhofe um den Monarchen bei der erſten verdächtigen Be-
wegung der nahen Franzoſen nach Königsberg zu bringen. Wiederholt
[389]Die Kriegspartei.
ſchrieb er an Alexander, wie gern er bereit ſei ſein Heer bis zum Rheine
zu führen; aber die Befreiung Deutſchlands ſei nur möglich, wenn die
drei Oſtmächte vereinigt den Kampf auf dem deutſchen Kriegstheater er-
öffneten.


Im October erſchien Scharnhorſt in tiefem Geheimniß zu Petersburg
und verſuchte durch ſeine geiſtige Ueberlegenheit den Czaren zu überzeugen,
daß er den Kampf in Preußen eröffnen müſſe. Auch er brachte nur die
Antwort heim: man werde den Feind in Rußland ſelbſt erwarten und
könne für Preußen nichts thun, höchſtens ein Corps von zwölf Bataillonen
nach Oſtpreußen ſenden. Gleich darauf eilte Scharnhorſt nach Wien;
ſelbſt der Geſandte Humboldt — ſo ſtark war Hardenbergs Mißtrauen
— durfte nichts von ſeiner Ankunft erfahren. Metternich empfing den ver-
trauten Botſchafter nicht unfreundlich. Der öſterreichiſche Miniſter behielt
die Möglichkeit eines Bundes der drei Oſtmächte immer im Auge, obgleich
Kaiſer Franz die militäriſchen Jacobiner in Berlin nicht weniger verabſcheute
als ſein Schwiegerſohn; doch er meinte den Zeitpunkt für eine Verſchiebung
der Allianzen noch nicht gekommen und dachte ſehr niedrig von Alexanders
Willenskraft. Unmöglich, ihm eine feſte Zuſage zu entreißen; ſelbſt für
den Fall der Vernichtung Preußens verſprach er keinen Beiſtand. Auch
England verweigerte wirkſame Hilfe. Preußen forderte nur das Unerläß-
liche: Subſidien und eine Landung an der deutſchen Küſte. Die britiſche
Regierung aber wollte noch immer nicht einſehen, daß die Entſcheidung
des Weltkampfes allein in Deutſchland lag. Stolz auf ihre iberiſchen
Erfolge meinte ſie genug zu thun durch die rüſtige Fortführung des ſpani-
ſchen Krieges — wie ja bis zum heutigen Tage noch die Durchſchnitts-
meinung der Engländer dahin geht, daß Wellingtons ſpaniſche Siege das
napoleoniſche Reich zertrümmert hätten. Dem bedrängten Berliner Hofe
bot England nur eine Waffenlieferung, und trotzdem unterſtand ſich der
welfiſche Staatsmann Graf Münſter, bei Scharnhorſt, Blücher und Gnei-
ſenau anzufragen, ob ſie nicht gegen den Willen ihres Königs eine Schild-
erhebung wagen wollten! Die gedemüthigte fridericianiſche Monarchie hatte
alle Achtung in der Welt verloren; ſie ſchien nur noch ein willenloſer
Trümmerhaufen, zählte gar nicht mehr mit in der Reihe der Mächte.


So ſtand man denn abermals allein. Eine Kriegserklärung in ſolcher
Lage mußte den Staat vernichten bevor noch ein ruſſiſcher Säbel aus der
Scheide fuhr. Was Wunder, daß nach Alledem im Januar 1812 die
franzöſiſche Partei am preußiſchen Hofe ſich wieder hervorwagte. Ihr
Wortführer war Ancillon — der Hofpfaffe, wie Gneiſenau ihn nannte
— ein unterthäniger, ſeichter Schönredner, feigherzig von Natur, immer
zum kleinmüthigſten Entſchluſſe geneigt. Der führte mit ſeiner widerlichen
theologiſchen Salbung in breiter Denkſchrift aus, daß Napoleon freund-
liche Abſichten gegen die preußiſche Monarchie hege, denn ſonſt hätte er
ſie längſt zerſtört, und rieth dringend zum Anſchluß an Frankreich. Der
[390]I. 3. Preußens Erhebung.
König dachte anders. Nicht einen Augenblick glaubte er an die Groß-
muth des Imperators; hatte er doch aus dem Schickſal des Oldenburger
Herzogs ſoeben gelernt, daß ſelbſt ein Bündniß keine Sicherheit bot gegen
die Gewaltſchläge dieſes Freundes. Aber er ſah die Lage wie ſie war:
begann man den Krieg für Rußland und doch ohne ruſſiſche Hilfe, ſo
opferte man ſich unfehlbar und völlig nutzlos; ſchloß man ſich dem Ver-
haßten an, ſo wurde dem Staate freilich nur für ein Jahr das Daſein
gefriſtet, jedoch ein Jahr war viel in ſo wilder Zeit, und vielleicht zeigte
ſich dann noch irgend ein anderer Weg der Rettung. Erſchüttert, ver-
zweifelt ſtand der unglückliche Fürſt zwiſchen ſeinen theuerſten Neigungen
und dem Staatsintereſſe. Noch einmal verſuchte er einen Ausweg. Oberſt
Kneſebeck, ein erklärter Anhänger der Friedenspartei, wurde nach Peters-
burg geſchickt um den Czaren zu beſchwören, daß er einen Unterhändler
nach Paris ſende, dieſen für Preußen auf jeden Fall verderblichen Krieg
abzuwenden ſuche; komme es zum Schlagen, ſo ſei der König nicht in
der Lage ſich dem franzöſiſchen Bündniß zu entziehen. Auch dieſe Sen-
dung ſchlug fehl, und nun war die Allianz mit Napoleon unvermeidlich.


Der Imperator hatte unterdeſſen ſeinen Beſchluß gefaßt. Um den
ruſſiſchen Krieg ohne Aufenthalt ſogleich am Niemen eröffnen zu können
hielt er es doch für gerathen ſich vorläufig mit der friedlichen Unter-
werfung Preußens zu begnügen. Die preußiſchen Rüſtungen waren, auf
ſeine Drohung, ſchon im Herbſt theilweis eingeſtellt worden; jetzt hatte
er an 300,000 Mann dicht an den Grenzen des Staates ſtehen. Noch
bevor die Verhandlung zum Abſchluß kam ſtreiften franzöſiſche Truppen
von Magdeburg und Schwediſch-Pommern aus in das preußiſche Gebiet
hinüber; der Commandant der Artillerie der großen Armee erhielt ge-
heimen Befehl, die Belagerungsparks für Spandau, Kolberg und Grau-
denz bereit zu halten. Der König war verloren wenn er nicht unter-
ſchrieb. So kam der Bundesvertrag vom 24. Febr. 1812 zu Stande.
Preußen ſtellte ein Hilfscorps von 20,000 Mann, die Hälfte ſeines
Heeres verſchwand als ſiebenundzwanzigſte Diviſion in den Maſſen der
großen Armee; was übrig blieb genügte kaum die Feſtungen zu beſetzen,
da der König ſich ausdrücklich verpflichten mußte, den Beſtand ſeiner
Truppen nicht zu vermehren. Das ganze Land, außer Oberſchleſien und
Breslau, ſtand den Heerſäulen Napoleons zum Durchmarſch offen und
hatte für ihren Unterhalt zu ſorgen. Und für alle dieſe neuen Opfer
nur das Verſprechen, daß die Verpflegungskoſten ſpäterhin vergütet und der
rückſtändige Reſt der Contribution darauf angerechnet werden ſollte! Die
beſetzten Feſtungen blieben nach wie vor in Napoleons Händen; ſelbſt die
Hauptſtadt mußte den Franzoſen eingeräumt werden, da Napoleon einen
Aufſtand des Berliner Pöbels fürchtete. Nur Potsdam blieb frei; dort
hauſte jetzt der König, von wenigen hundert Mann ſeiner Garde umgeben,
doch ließ er ſich nicht abhalten zuweilen in Berlin mitten unter den
[391]Da preußiſch-franzöſiſche Bündniß.
Truppen Napoleons zu erſcheinen. Gleich darauf ſchloß ſich auch Oeſter-
reich den Franzoſen an, freiwillig und unter weit günſtigeren Bedingungen:
ihm wurde die Wiedererwerbung der illyriſchen Provinzen in Ausſicht ge-
ſtellt, falls Galizien mit dem wiederhergeſtellten Polen vereinigt werden ſollte.


Alſo war der geſammte Continent zum Kriege gegen das Czarenreich
verbunden, und verheerend ergoß ſich die große Armee über Preußens
Gefilde — an 650,000 Mann, das gewaltigſte Heer, das die Welt ſeit
den Tagen des Xerxes geſehen. Die beſte Kraft der europäiſchen Jugend
vom Ebro bis zur Elbe, von Tarent bis zur Nordſee ſtand in Waffen.
Keine Rede mehr von den Verträgen. Wider die Abrede wurden auch
Pillau und Spandau — die Citadelle Berlins, wie Napoleon ſagte —
von den Franzoſen beſetzt. Was man irgend noch im Jahre 1807 zu
rauben vergeſſen hatte oder was von Kriegsvorräthen neu angeſchafft
war in dieſen vier Jahren, fiel jetzt den durchziehenden Freunden in die
Hände. Preußen verlor durch den Marſch der großen Armee noch minde-
ſtens 146 Mill. Fr. über den ſchuldigen Reſt der Contribution hinaus*)
— eine Summe die niemals vergütet wurde. Es war Napoleons Ab-
ſicht, den gefährlichen Bundesgenoſſen in ſeinem Rücken gänzlich unſchädlich
zu machen; nöthigenfalls konnte ein Handſtreich auf Potsdam die Perſon
des Königs in ſeine Gewalt bringen.


Entſetzlich, niederſchmetternd war der Eindruck dieſer Ereigniſſe in
dem Kreiſe der preußiſchen Patrioten. Je höher im vorigen Sommer
ihre Hoffnungen ſich erhoben hatten, um ſo ſtürmiſcher wallte nun die
Entrüſtung auf. Die Urheber der Rüſtungen von 1811 konnten nach
dem vollzogenen Syſtemwechſel ſelbſtverſtändlich nicht mehr in ihren Stel-
len verbleiben. Blücher war ſchon im Herbſt, auf Napoleons dringendes
Verlangen, ſeines Commandos enthoben worden, von dem Monarchen
mit herzlichen Worten getröſtet. Jetzt wurde auch Scharnhorſt entlaſſen,
behielt aber das Vertrauen des Königs nach wie vor. Gneiſenau erhielt
ſcheinbar den Abſchied und reiſte mit geheimen Aufträgen nach Oeſterreich,
Rußland, Schweden und England. Boyen und Clauſewitz gingen nach
Rußland. Der Letztere richtete zum Abſchied noch eine feurige Mahnung
für die Zukunft an ſeinen Schüler, den jungen Kronprinzen und legte
das Programm der Kriegspartei nieder in ſeinen „Bekenntniſſen“ — einer
claſſiſchen Denkſchrift, die noch heute jedes deutſche Herz erzittern macht.
Noch einmal verſuchte er, ſtolz und groß, mit hinreißenden Worten, den
Nachweis zu führen: es müſſe möglich ſein in dieſem mißhandelten Lande
[392]I. 3. Preußens Erhebung.
750,000 Mann auf die Beine zu bringen, wenn man nur aller falſchen
Klugheit abſchwöre und die dumpfe Erwartung der ungewiſſen Zukunft
aufgebe. Niemals iſt ein hochherziger Irrthum ſchöner und würdiger
vertheidigt worden.


Von den anderen Offizieren waren Einzelne, wie der feurige hoch-
gemuthe Graf Chaſot, ſchon während der Wirren von 1809 ausge-
treten; ihnen bot jetzt der Czar in ſeiner neu gebildeten Deutſchen Legion
eine Freiſtatt. Andere Tapfere, wie Grolmann, Oppen, die Gebrüder
Hirſchfeld, fochten in Spanien; ſie dachten wie Gneiſenau: „die Welt
ſcheidet ſich in Feinde und Freunde Bonapartes, auf das Gebiet der
Länder kommt es dabei weniger an als auf das der Grundſätze.“ Die
ungeheure Mehrzahl des Offizierscorps aber gab ihrem Kriegsherrn einen
Beweis deutſcher Treue, der ſchwerer wog als manche glänzende That
des Kriegsmuthes. Kein Mann in dieſen Reihen, der den Krieg für
Napoleon nicht verwünſchte; und doch ſind nur einundzwanzig active
Offiziere, darunter nur drei Stabsoffiziere, in Folge der franzöſiſchen
Allianz freiwillig ausgeſchieden um zumeiſt in die deutſch-ruſſiſche Legion
einzutreten.*) Die Anderen bezwangen ihren heißen Haß, und ſie ſollten
dereinſt noch Größeres vollbringen als jene Ungeduldigen. Es ſtand doch
anders als Gneiſenau in ſeinem heiligen Eifer meinte. Der Krieg für
das Recht der Nationen verlangte nationale Heere; die Baſtardsbildung
der deutſch-ruſſiſchen Legion blieb ein Gemiſch aus edlen und gemeinen
Elementen, ſie hat weder im ruſſiſchen noch im deutſchen Kriege eine be-
deutende Rolle geſpielt. Der König nahm die Abſchiedsgeſuche ſehr un-
willig auf. Clauſewitz und noch Mehrere der Ausgeſchiedenen konnten
nachher nur mit Mühe den Wiedereintritt in die Armee erlangen; wie
oft haben noch in ſpäteren Jahren die Gegner der Reformpartei den
Monarchen gefliſſentlich daran erinnert, daß einige der nächſten Freunde
Scharnhorſts und Gneiſenaus nicht bei der Fahne geblieben waren.


Napoleon hatte noch immer keine Ahnung von der ungeheuren Um-
ſtimmung des deutſchen Volkes. Vergeblich warnten ihn Davouſt und
Rapp und ſelbſt ſein allezeit luſtiger Bruder Jerome. Er erwiderte ver-
ächtlich: „was ſoll denn zu fürchten ſein von einem ſo maßvollen, ſo ver-
nünftigen, ſo kalten, ſo duldſamen Volke, einem Volke, dem jede Aus-
ſchreitung ſo fern liegt, daß noch niemals einer meiner Soldaten während
des Krieges gemordet wurde?“ Graf Narbonne aber, der ſich mitten im
Gefolge des Imperators noch ein Gefühl für Recht und Scham bewahrt
hatte, ſagte voraus, dieſe erzwungene preußiſche Freundſchaft könne nicht
dauern; wie dürfe man Treue fordern von einem Bundesgenoſſen, den
man in ſeiner eigenen Hauptſtadt bewache? In der That blieb das herz-
liche Einvernehmen zwiſchen dem Könige und dem Czaren auch nach dem
[393]Zuſammenkunft in Dresden.
Februar-Vertrage ungeſtört. Alexander verſagte ſichs freilich nicht in einem
ſalbungsvollen Briefe das Betragen des preußiſchen Hofes, das doch von
ihm ſelber verſchuldet war, zu beklagen; indeß ließ er dem Staatskanzler
durch Graf Lieven vertraulich eröffnen, daß ſeine Freundſchaft unwandel-
bar dauere.*) Beide Theile hofften auf die Zeit, da ihr natürliches
Bündniß ſich wieder ſchließen würde. Auch die Hofburg gab dem Peters-
burger Hofe beruhigende Erklärungen, ſie ſtand jetzt im Kriege ſogar
freundlicher mit dem Czaren als vorher im Frieden, weil Alexander ſeine
polniſchen Pläne vorläufig aufgegeben hatte; die diplomatiſche Verbindung
zwiſchen Wien und Petersburg wurde niemals gänzlich abgebrochen. Die
beiden deutſchen Höfe aber traten unter ſich und mit England in lebhaf-
ten geheimen Verkehr.


Im Mai hielt der Nachfolger der Karolinger ſeinen dritten großen
Hoftag auf deutſchem Boden, glänzender noch als einſt in Mainz und
Erfurt. Während die Regimenter der großen Armee in unendlicher Reihe
über die Elbbrücke zogen, verſammelten ſich Deutſchlands Fürſten im
Dresdener Schloſſe um ihren Beherrſcher: unter ihnen der vormals
deutſche Kaiſer und der Nachfolger des großen Friedrich. Wie that es
dem Plebejer wohl, die Nacken ſeiner hochgeborenen Diener recht wund
zu reiben unter ſeinem Joche! Er ſpielte ſelber den Wirth im Hauſe
ſeines ſächſiſchen Vaſallen, lud ſeinen kaiſerlichen Schwiegervater täglich,
den Hausherrn und den König von Preußen als Perſonen niederen
Ranges nur einen Tag um den anderen zu Tiſch; derweil der Herrſcher
tafelte, mußten die Herzöge von Weimar und Coburg mit einem Schwarme
deutſcher Fürſten nebenan im Vorzimmer ſtehen. Ehrenhafte Franzoſen
nannten es ſelber eine muthwillige Beſchimpfung, daß man dem Könige
dieſe Reiſe zugemuthet habe; der Imperator aber verſagte ſeinem Gaſte
den üblichen Kanonenſalut und redete den Eintretenden mit der Frage
an: Sie ſind Wittwer?**) Friedrich Wilhelm war empört, er wußte nur
allzu wohl, wer ſeiner Gemahlin das Herz gebrochen hatte; ſeinem
Kronprinzen, der mit zugegen geweſen, blieb für das ganze Leben ein
tiefer Abſcheu gegen die Familie Bonaparte. Sogar die bedientenhafte
Bevölkerung der ſchönen Elbeſtadt fühlte ſich entrüſtet über die grauſame
Roheit des Corſen und ehrte die ſtille Größe des Unglücks wo immer
der König von Preußen ſich zeigte. Indeſſen ſaßen Hardenberg und
Metternich in tiefem Vertrauen beiſammen und ſchloſſen gute Freund-
ſchaft, wenngleich die Abſichten der beiden Mächte noch weit auseinander
gingen. Die Vernichtung Napoleons wünſchte Kaiſer Franz ſeit der Ver-
mählung ſeiner Tochter nicht mehr; nur zu einer Beſchränkung der un-
erträglichen franzöſiſchen Uebermacht war Metternich bereit. So viel
[394]I. 3. Preußens Erhebung.
hatte der öſterreichiſche Staatsmann aus den furchtbaren Lehren der jüng-
ſten Jahre doch gelernt, daß er eine mäßige Verſtärkung der preußiſchen
Macht, allerdings unter manchem ſtillen Vorbehalte, für nothwendig an-
ſah. Die beiden Miniſter enthüllten einander gegenſeitig ihre geheimen
Beziehungen zu England, ſie gelobten ſich, den vertraulichen Verkehr, den
ſie ſeit Jahren pflegten, noch lebhafter als bisher fortzuſetzen und in
gutem Einvernehmen die Stunde zu erwarten, die ihnen eine Verände-
rung der Allianzen erlaubte.


Wann dieſe erſehnte Stunde ſchlagen würde, das lag freilich noch
in tiefem Dunkel. Vorderhand konnte man nur auf irgend ein unvor-
hergeſehenes Ereigniß, etwa auf den Tod Napoleons hoffen. An den
Sieg Rußlands glaubten die Eingeweihten nicht. Es zeigte ſich bald,
wie leichtſinnig Alexander ſeine Kräfte überſchätzt hatte. Er ſtellte nur
etwa 175,000 Mann gegen die dreifache Uebermacht Napoleons ins Feld;
erſt beim Beginne des Feldzugs entſchloß er ſich den Türkenkrieg zu be-
endigen und im Bukareſter Frieden die Donauprovinzen größtentheils auf-
zugeben, dergeſtalt daß ſeine Südarmee erſt ſpät in den Krieg eingreifen
konnte. Bedeutende Generale hatte Rußland ſeit Suworows Tode kaum
noch aufzuweiſen, und wie man den wetterwendiſchen Czaren kannte,
mußten die Höfe für wahrſcheinlich halten, daß er nochmals, wie nach
Auſterlitz und Friedland, nach der erſten verlorenen Schlacht das Spiel
verloren geben würde.


Das Volk dachte anders. Während des heißen letzten Sommers, der
den edlen Elfer zeitigte, hatte ein prächtiger Komet mit ſeiner rothen
Flammenruthe allnächtlich den Himmel erleuchtet. Die Maſſen wußten
ſeitdem, daß Großes, Unerhörtes bevorſtehe. Als nun das wilde fremde
Kriegsvolk aus allerlei Landen durch die preußiſchen Dörfer ſtrömte —
die kleinen genügſamen braunen Spanier und die Hünengeſtalten der
unerſättlichen bairiſchen Trinker, die langſamen Holländer und die behen-
den Fanfarons aus der Gascogne — da ſchien dem kleinen Manne Alles
wie ein wüſter Spuk; er meinte, dies tolle Weſen nehme ein ſchlimmes
Ende, und er beſtärkte ſich in ſolchem Glauben, wenn er, Wuth im
Herzen, die zügelloſen Horden hauſen ſah, wie ſie in raſendem Uebermuthe
das friſche Weißbrod haufenweis in den Koth traten, die vollen Flaſchen
an der Wand zerſchmetterten. Die Politik der ideenloſen Eroberungsluſt
entſittlicht auf die Dauer ihre eigenen Heere; die alte Mannszucht der
napoleoniſchen Truppen war verſchwunden, ein frecher, meiſterloſer Lands-
knechtsſinn nahm überhand. Auch die alte fröhliche Siegeszuverſicht war
dahin. Der Soldat ſelbſt begann des ewigen Schlachtens endlich ſatt
zu werden, er fürchtete die Schneewüſten des Oſtens; in den italieniſchen
und deutſchen Regimentern zeigte ſich oft ein dumpfer Groll. Die Reiter
klagten: in den früheren Kriegen hätten ihre Roſſe beim Ausmarſch luſtig
gewiehert, heuer nicht.


[395]Der ruſſiſche Krieg.

Und ſeltſam, der naive Volksglaube urtheilte diesmal richtiger als
die Berechnung der Cabinette. Die Staatsmänner überſahen in ihren
ſchwarzſichtigen Erwartungen das Eine, worauf Alles ankam: daß Czar
Alexander in dieſem Kriege ausharren mußte. Die Nachrichten von dem
Zuge der Heiden gegen die heilige Moskau brachte das ganze ruſſiſche
Volk in Aufruhr, und wenn unter dem Despotismus die ſonſt ſchlum-
mernde öffentliche Meinung einmal erwacht, dann wirkt ſie mit unwider-
ſtehlicher Gewalt. Alexander durfte nicht nachgeben, bei Verluſt ſeines
Thrones. Er wußte es; in dieſen Tagen der Prüfung wurde der un-
ſtete Knabe zum Manne, ſoweit ſein Charakter männlicher Tugenden
fähig war. Wie der Epheu am Eichbaum klammerte er ſich feſt an dem
eiſernen Muthe des Freiherrn vom Stein. Der große Deutſche eilte mit
ſeinem getreuen Arndt nach Rußland und ſtand, eine Macht für ſich
ſelber, dem Czaren zur Seite, erfüllte ihn mit einem Hauche ſeiner
eigenen Leidenſchaft. Je näher die Gefahr ſich heranwälzte, um ſo freu-
diger und zuverſichtlicher hoben ſich alle ſchneidigen und heldenhaften
Kräfte ſeiner Seele: bis nach Kaſan, bis nach Sibirien hinein wollte er den
Kampf fortführen, denn dieſer Krieg entſchied über die Freiheit der Welt.


Eine tiefe Stille lagerte ſich über Europa, als die letzten Kolonnen
der großen Armee jenſeits der ruſſiſchen Grenze verſchwanden. In Nord-
deutſchland ſchwebte auf tauſend Lippen die bange Frage, ob das Geſchick
nicht endlich den Himmelsſtürmer ereilen werde. Wie ein fremder, greller
Mißton klang in das erwartungsvolle Schweigen ein höfiſches Gedicht
Goethes auf Marie Luiſe; der Alte konnte ſich in die verwandelte Zeit
nicht finden und feierte den Caeſar, der ſoeben die Blüthe der europäiſchen
Männerkraft zur Schlachtbank führte, mit dem Verſe: der Alles wollen
kann will auch den Frieden! Napoleon war faſt ohne Aufenthalt durch
Warſchau gezogen; denn „die grenzenloſe Zukunft vor mir geſtattet mir
nicht, in Polen auch nur eine Beiwacht zu halten“. Er hatte ſich bereits,
wie Hardenberg bei Maret erfuhr*), mit dem Plane beſchäftigt ſeinen
Bruder Jerome zum König von Polen zu erheben und ließ es ge-
ſchehen, daß eine General-Confoederation in Warſchau die Wiederher-
ſtellung des Polenreichs ausrief. Feſte Zuſagen gab er dem unglücklichen
Volke auch jetzt nicht, ſondern wies ſeinen Botſchafter in Warſchau an
„die nationalen Beſtrebungen zu ermuntern ohne die liberalen zu er-
wecken“. Er ſtürmte vorwärts, aber ſchon bevor der Feind in Sicht kam
begann ſich die Ordnung in dem Heere aufzulöſen. Vornehmlich an
ihrer Zuchtloſigkeit iſt dieſe glänzende Armee zu Grunde gegangen. Die
von obenher anbefohlene Ausplünderung der preußiſchen Lande hatte die
Truppen an den Raub gewöhnt. Der Soldat lebte in beſtändigem Kriege
mit den Feldgensdarmen, ein Gewölk von Marodeurs umſchwärmte Flan-
[396]I. 3. Preußens Erhebung.
ken und Rücken des Heeres; nur die deutſchen und die polniſchen Regi-
menter hielten gut zuſammen. Die früher ſo treffliche Armeeverwaltung
zeigte ſich durchweg unredlich und nachläſſig, der größte Theil der unge-
heuren Vorräthe ging ſchon auf dem Hinwege zu Grunde. Als Napoleon
in die altruſſiſchen Lande eindrang, da ließ er, wie einſt Karl XII. auf
dem Zuge nach Pultawa, das von Parteien zerriſſene Polen und das
gründlich verwüſtete Litthauen in ſeinem Rücken.


Scharnhorſt hatte dem Czaren gerathen, den Krieg nach Partherweiſe
zu führen, den unendlichen Raum als Waffe zu benutzen und den Feind
tief in das öde Innere des weiten Reiches zu locken. Der ruſſiſche
Stolz verſchmähte den weiſen Rath, dem auch Gneiſenau und alle be-
deutenden preußiſchen Offiziere beiſtimmten. Der Czar hoffte vielmehr,
der Feind werde ſich an dem feſten Lager von Driſſa die Hörner ein-
ſtoßen; das glänzende Beiſpiel von Torres Vedras blendete noch die
Augen aller Welt. Nur das Gefühl der eigenen Schwäche nöthigte die
ruſſiſche Heerführung, wider ihren Plan und Willen, zu beſtändigem Rück-
zuge. Indeſſen begannen die Bauern auf eigene Fauſt den Partherkrieg;
ſie erwarteten alles Gräßliche von dem heidniſchen Feinde, flüchteten ihre
Heerden und Vorräthe in die Wälder, gaben die werthloſen leeren Holz-
hütten preis, und wo ein Verſprengter in ihre Hände fiel ſchlugen ſie
ihn nieder wie einen tollen Hund. Der Grimm des gläubigen Volkes
wuchs noch als die heilige Stadt Smolensk mit ihren Kirchen und Gna-
denbildern nach blutigen Gefechten von den Feinden beſetzt wurde. Weiter
und weiter ging der Zug des Eroberers in das menſchenleere Land hinein;
mit jedem neuen Tage lichteten ſich die Reihen ſeines Heeres. Die Leiden-
ſchaft der Maſſen zwang endlich den ruſſiſchen Oberfeldherrn Kutuſow,
bei Borodino eine Schlacht um den Beſitz von Moskau zu wagen; die
Uebermacht und die Tapferkeit der Truppen, vor Allen der ſächſiſchen
Reiterei, ſchenkten dem Imperator den Sieg, den blutigſten, den er noch
erfochten. Nochmals hoffte er, wie ſo oft ſchon, in der eroberten Haupt-
ſtadt den Frieden zu diktiren und vergeudete, nachdem der Feldzug ohnehin
allzu ſpät im Jahre begonnen worden, noch fünf unſchätzbare Wochen
durch fruchtloſe Friedensverhandlungen. Währenddem that der altruſſiſche
Fanatismus ſein Aergſtes; der Brand von Moskau zeigte der Welt, weſſen
ein in ſeinen heiligſten Gefühlen beleidigtes halbbarbariſches Volk fähig
iſt. Bei der gräßlichen Plünderung der unglücklichen Stadt verlor das
Heer ſeinen letzten ſittlichen Halt. Der Eroberer ſollte an ſeinen eigenen
Truppen die Wahrheit ſeines oft wiederholten Ausſpruchs erfahren, daß
Tapferkeit nur die zweite, Mannszucht und Ausdauer die erſte Tugend
des Soldaten iſt.


Als der Rückzug aus der verödeten Stadt unvermeidlich wurde,
konnte ſich Napoleons Hochmuth — er ſelber nannte es ſeine Seelen-
größe — nicht entſchließen, die offene nördliche Straße einzuſchlagen; ſo
[397]Rückzug aus Moskau.
hätte er eingeſtanden, daß er vor dem ruſſiſchen Heere, das ſüdwärts von
Moskau ſtand, zurückwich. Er gedachte vielmehr den Feind zu ſchlagen
und ſich den Rückzug auf der ſüdlichen Straße zu erzwingen. Das über-
müthige Unternehmen mißlang; durch die Schlacht von Malo-Jaroslawetz
wurde die große Armee wieder auf die mittlere Straße abgedrängt, welche
ſie beim Einmarſch benutzt hatte. Damit war ihr Untergang entſchieden.
Der Heuſchreckenſchwarm mußte denſelben Weg zurück, den er ſchon bis
auf den letzten Halm abgegraſt. Die Witterung blieb noch eine Zeit
lang leidlich, und auch als der Froſt, ungewöhnlich ſpät, eintrat, ward
die Kälte kaum ärger als vor ſechs Jahren in dem polniſch-oſtpreußiſchen
Feldzuge. Aber vor dem unglücklichen Heere lag die unermeßliche Schnee-
wüſte. Kein Dorf, keine Feuerſtatt ſo weit das Auge reichte; alle Vor-
räthe verloren, alles Anſehen der Oberen vernichtet, dazu ringsum die
ſchwärmenden Koſaken und in den Wäldern die erbitterten Bauern. Alles
Elend, das nur irgend die Sterblichen heimſuchen kann, brach über die
Unſeligen herein; es war als ob die Reiter der Apokalypſe über die
Schneefelder daherraſten. Nach dem gräuelvollen Uebergange über die
Bereſina löſte ſich jede Ordnung; in regelloſen Haufen ſchleppten ſich die
armen Trümmer des ſtolzen Heeres, insgeſammt kaum 30,000 Mann,
dahin — wankende, hohlwangige Jammergeſtalten, viele blind und taub
vor Kälte, mit wölfiſchem Hunger an jedem Aaſe nagend, waffenlos, in
abenteuerliche Vermummung — eine gräßliche Maskerade, wie das Volk
in Deutſchland ſpottete, „Trommeln ohne Trommelſtock, Küraſſier’ im
Weiberrock, ſo hat ſie Gott geſchlagen mit Roß und Mann und Wagen.“
Aber auch der Sieger hatte durch Strapazen und Krankheiten den größten
Theil ſeines Heeres verloren; kaum 40,000 Ruſſen erreichten die Grenze,
alleſammt tief erſchöpft und über weite Entfernungen zerſtreut, völlig
unfähig zum Kampfe gegen die friſchen Truppen Napoleons, welche das
preußiſche Gebiet beſetzt hielten.


Die erſten unſicheren Nachrichten von der Kataſtrophe gelangten nach
Dänemark, von da durch Dahlmann und ſeine deutſchen Freunde ins
innere Deutſchland. Nachher erfuhr man, wie der Imperator, der allein
mit Caulaincourt dem Heere vorauseilte, am 12. December in Glogau
erſchienen war, wie er dann in Dresden, gleichmüthig einen Gaſſenhauer
trällernd, ſeinem beſtürzten Vaſallen die Unheilsbotſchaft mitgetheilt hatte.
Am 17. December brachte der Moniteur das neunundzwanzigſte Bulletin
mit der Nachricht: die große Armee ſei vernichtet, die Geſundheit Sr. Ma-
jeſtät ſei niemals beſſer geweſen. Tags darauf erſchien der Imperator
ſelbſt in den Tuilerien. Bald nachher überſchritten die Spitzen des
franzöſiſchen Heeres die preußiſche Grenze. Mit einem heiligen Entſetzen
betrachtete das Volk die lebendigen Zeugen des geſchlagenen Hochmuths,
und von Millionen Lippen klang wie aus einem Munde der Ausruf:
das ſind Gottes Gerichte!


[398]I. 3. Preußens Erhebung.

Die Stunde für Deutſchlands Befreiung hatte geſchlagen. Niemand
erkannte dies früher als Stein, der den ruſſiſchen Feldzug von Haus
aus nur als ein Vorſpiel der deutſchen Erhebung betrachtete. Er ſtand
während des Krieges an der Spitze des Deutſchen Comités in Peters-
burg, betrieb die Ausrüſtung der Deutſchen Legion, die nach ſeinen Plänen
den Kern des künftigen deutſchen Heeres bilden ſollte, und ſcheute ſich
nicht, unter den Rheinbundstruppen Aufrufe verbreiten zu laſſen, die ſie
zur Fahnenflucht verleiten ſollten. Was galten ihm auch die Eide, die
den Sklaven des Zwingherrn geſchworen waren? Zugleich ſchrieb der
tapfere Arndt ſeinen Katechismus für den deutſchen Kriegs- und Wehr-
mann, ein köſtliches Volksbuch, das in vielen tauſenden von Exemplaren
verbreitet, mit ſeiner einfältigen Wahrhaftigkeit, ſeiner frommen bibliſchen
Sprache das gläubige Geſchlecht im Innerſten erſchütterte: denn wer
Tyrannen bekämpft, iſt ein heiliger Mann, und wer Uebermuth ſteuert
thut Gottes Dienſt; das iſt der Krieg, welcher dem Herrn gefällt; das
iſt das Blut, deſſen Tropfen Gott im Himmel zählt! Bei Hofe kam man
dem deutſchen Freiherrn anfangs mit Mißtrauen entgegen; doch wie er
nun vom erſten Augenblicke an die Niederlage des Feindes unbeirrt
vorausſagte und in ſeiner Herzensfreude über die Treue, den Opfermuth,
die religiöſe Begeiſterung des ruſſiſchen Volkes immer froher und liebens-
würdiger wurde, da flogen ihm alle edlen Herzen zu und vor Allen die
Frauen empfanden die natürliche Verwandtſchaft, welche das ſichere Ge-
fühl des Weibes mit dem Genius verbindet.


Lange bevor der Untergang der großen Armee ſich entſchied, ſchon
im September entwarf er Pläne für Deutſchlands künftige Verfaſſung —
das Idealſte und Verwegenſte was je zuvor über deutſche Politik gedacht
worden. Und dies bildet, nächſt ſeiner Theilnahme an der Umgeſtaltung
Preußens und der Befreiung Europas, das dritte welthiſtoriſche Verdienſt
des Mannes: er hat früher und ſchärfer als irgend ein Staatsmann die
Einheit Deutſchlands, ohne Phraſen und Vorbehalte, als das höchſte Ziel
deutſcher Staatskunſt aufgeſtellt. Wer ihm von Schonung der althergebrach-
ten Zerſplitterung redete, dem erwiderte er: einen ſolchen Zuſtand wieder-
herſtellen iſt gerade ſo als wollte man darauf beſtehen, daß ein todter Mann
auf ſeinen Beinen ſtehen ſolle weil er es thun konnte ſo lange er noch
lebte. Jede Rückſicht auf die Dynaſtien ſchien ihm unwürdig: als ob es in
Deutſchland darauf ankäme, ob ein Mecklenburg oder Baiern exiſtire, und
nicht ob ein ſtarkes, feſtes kampffähiges deutſches Volk ruhmvoll im Krieg
und Frieden daſtehe; ſollte dieſer Krieg dahin führen, daß die alten Streitig-
keiten der deutſchen Montecchi und Capuletti wieder auflebten, dann wäre
der große Kampf mit einem Poſſenſpiele beendigt! Sein Ziel war „die
Einheit und, iſt ſie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Uebergang“.
Jetzt, da der geſammte Länderbeſtand Europas ins Wanken kam, meinte
er ſelbſt das Höchſte erreichbar: eine große Monarchie von der Weichſel
[399]Stein in Petersburg.
bis zur Maas, ebenſo Italien zu einer geſchloſſenen Maſſe verbunden —
ganz Mitteleuropa zurückgeführt in einen Zuſtand „der Kraft der Wider-
ſtandsfähigkeit“. Sei dies nicht möglich, ſo ſolle man Deutſchland nach
dem Laufe des Mains zwiſchen Oeſterreich und Preußen theilen, die
Rheinbundsfürſten als betitelte Sklaven und Untervögte des Eroberers
behandeln, auch die von Napoleon verjagten Fürſten nicht wieder einſetzen.
Könne man auch dies nicht erreichen, ſo bleibe als letzter Ausweg, daß
man jedem der beiden „verfaſſungsmäßigen Königreiche“ Oeſterreich und
Preußen einige Kleinſtaaten als Vaſallen unterordne, etwa Baiern, Würt-
temberg, Baden mit geſchmälertem Gebiete der ſüdlichen, Hannover, Heſ-
ſen, Oldenburg, Braunſchweig der nördlichen Macht.


Wohl oder übel ſuchte er alſo ſeine unitariſchen Wünſche mit den
Ideen des Bartenſteiner Vertrags in Einklang zu bringen. Auf jeden Fall
ſollte der Befreiungskrieg mit radicaler Kühnheit geführt, das eroberte
deutſche Land als herrenloſes Gut vorläufig von einem Verwaltungsrathe
der Verbündeten regiert werden. Unter den Verbündeten dachte er ſich zu-
nächſt Rußland, Oeſterreich und England; ihnen komme es zu das zaudernde
Preußen mit ſich fortzureißen. So tief war ſein Widerwille gegen die liſten-
reiche Politik Hardenbergs. Die zwingenden Gründe, welche das Verhalten
des Königs in den Jahren 1809 und 1811 beſtimmt hatten, wollte der Er-
zürnte niemals gelten laſſen, und obwohl die feurigen Patrioten, die ihn
in Petersburg umgaben, alleſammt Norddeutſche waren, ſo glaubte er
noch immer nicht recht an die kriegeriſche Leidenſchaft dieſer kalten und
langſamen Stämme.


Gleichviel welcher Theil des Vaterlandes ſich zuerſt erhöbe — daß
der Krieg wie ein reißender Strom über die deutſchen Grenzen hinein-
fluthen müſſe, verſtand ſich dem Reichsritter von ſelber. Für dieſen Ge-
danken ſuchte er den Czaren zu gewinnen, und er fand leichtes Spiel.
Alexander war in tiefſter Seele erſchüttert; in dem Rauſche des Sieges
traten alle edlen und alle phantaſtiſchen Züge ſeiner Natur zu Tage.
Vor Kurzem noch hatte er die ungeheure Laſt der Sorge kaum zu tragen
vermocht, die Nachricht von dem Brande von Moskau hatte ſein Haar
in einer Nacht gebleicht. Nun war Rußland befreit wie durch ein Wunder
des Himmels, nun fühlte er ſich auserwählt durch Gottes Gnade, als
ein Heiland der Welt die geknechtete Erde von ihrem Joche zu erlöſen;
nichts billiger darum als ein reicher Lohn für den Weltbefreier. Sofort
nahm er ſeine polniſchen Pläne wieder auf, doch in aller Stille; ſein
deutſcher Rathgeber erfuhr kein Wort davon. Die Befreiung Deutſch-
lands ſollte dem Czaren die Krone der Jagiellonen bringen; die Intereſſen
der Menſchheit ſtimmten wieder einmal ganz wunderſam mit den dynaſti-
ſchen Wünſchen des Hauſes Gottorp überein! Schon im November war
Alexander ſo gut wie entſchloſſen ſeine Waffen nach Deutſchland zu tragen.
Der Kanzler Rumänzow, der die Politik der freien Hand vertrat, verlor
[400]I. 3. Preußens Erhebung.
allen Einfluß; der deutſche Freiherr behauptete ſich in der Gunſt des
Czaren und zeigte bereits in einer Denkſchrift der ruſſiſchen Regierung
die Mittel, welche ihr nachher ermöglichten, vierzig Millionen Rubel Pa-
piergeld in Deutſchland umzuſetzen und alſo den Krieg fortzuführen.


Wunderbar doch, wie ſicher der große Patriot den ſpringenden Punkt
in der Lage der Welt — die Nothwendigkeit der deutſchen Schilderhebung
— herausfand, und wie gröblich er ſich in allem Einzelnen irrte. Er
kannte weder die Schwäche der ruſſiſchen Streitkräfte, noch die bedacht-
ſame Aengſtlichkeit des Wiener Hofes, weder die Unfähigkeit des engliſchen
Tory-Cabinets, noch den ſtumpfen Particularismus der Völkchen in den
deutſchen Kleinſtaaten, die nirgends daran dachten ſich wider den Willen
ihrer Dynaſtien zu erheben. Doch am allerwenigſten kannte er den
heiligen Zorn, der in den Herzen der Preußen kochte, und die ehrenhaften
Entſchlüſſe, womit ihr König ſich trug; eben dieſer Staat, den der Frei-
herr ſich nur im Schlepptau der anderen Mächte denken konnte, ſollte
den Anſtoß geben zu dem europäiſchen Kriege. Hardenberg hatte ſich
während des Sommers bemüht das Einverſtändniß mit Oeſterreich zu
befeſtigen und deßhalb im September den Flügeladjutanten v. Natzmer
nach Wien geſendet. Der Bevollmächtigte fand in Wien eine überaus
freundliche Aufnahme. In ſeinem Antwortſchreiben betheuerte Metternich
mit Wärme, er vermöge die Intereſſen der beiden Staaten nicht von ein-
ander zu trennen; greifbare Verſprechungen gab er jedoch nicht. Als
nun der Krieg ſich in die Länge zog, da begann der König zu hoffen,
daß ſein ruſſiſcher Freund diesmal endlich ausharren würde; ſchon am
29. October, noch ehe die Nachricht von dem Moskauer Brande einge-
troffen war, erklärte er ſich bereit zu einem Wechſel des politiſchen
Syſtems, aber nur im Bunde mit Oeſterreich. Neue vertrauliche An-
fragen in Wien hatten geringen Erfolg. Die Hofburg behauptete noch
die gleiche Haltung wie in der Kriſis von 1811: ſie hatte nichts dawider,
wenn Preußen ſein Glück verſuchte, wollte aber ſelber aus ihrer ſo viel
beſſer geſicherten Poſition nicht heraustreten. Gewaltigen Eindruck hin-
terließ in Berlin wie überall die unglaubliche Nachricht von der Verſchwö-
rung des Generals Mallet: wie dieſer Tollkopf durch das Märchen von
Napoleons Tode die höchſten Behörden überrumpelt und während einiger
Stunden Paris beherrſcht hatte. So morſch war ſchon der Grund,
worauf das Weltreich fußte! Dann kam die Kunde von Napoleons Rück-
kehr, bald darauf aus Dresden ein Schreiben des Flüchtlings an den
König, das unbefangen, als ſei gar kein Zweifel möglich, die Verſtär-
kung des preußiſchen Hilfscorps verlangte: kein Wort von Entſchädigung,
kein Wort über die Bezahlung der preußiſchen Lieferungen vom letzten
Frühjahr! Der Imperator meinte Preußen genugſam gefeſſelt und verſah
ſich keiner Weigerung. In der That überſchätzte Hardenberg die Bedeu-
tung der ruſſiſchen Kataſtrophe nicht. Er begriff, daß Napoleons unrit-
[401]Umſchwung der preußiſchen Politik.
terliche Flucht politiſch ebenſo wohl erwogen war wie einſt ſein heim-
licher Abzug aus Aegypten; er wußte, was dieſer eine Mann bedeutete
und ſah voraus, daß der Imperator in Kurzem mit einem gewaltigen Heere
zurückkehren würde.


Der ſofortige offene Abfall war unmöglich, nicht blos weil die Ge-
wiſſenhaftigkeit des Königs ſelbſt einen erzwungenen Bund nicht ohne
ſtichhaltige völkerrechtliche Gründe auflöſen wollte, ſondern auch weil die
franzöſiſchen Streitkräfte in den Marken vollauf genügten eine plötzliche
Erhebung im Keime zu erſticken. Dagegen war alle Welt am Hofe
darüber einig, daß die Gunſt des Glückes benutzt, der Anſchluß an Ruß-
land und Oeſterreich ſofort vorbereitet werden müſſe. Jeder Unterſchied
der Parteien verſchwand. Der bedächtige, conſervative Cabinetsrath Albrecht
und der Mann des Friedens Kneſebeck mahnten jetzt nicht minder eifrig
zum Kriege als vormals die Freunde Scharnhorſts; ſelbſt der ängſtliche
Ancillon ſchloß ſich an und der ſchroffe Junker Marwitz eilte ungeladen
zu ſeinem Todfeinde Hardenberg, ſtellte ſich ihm zur Verfügung. Am
zweiten Weihnachtstage legte der Staatskanzler ſein Programm vor: der
Augenblick der Befreiung ſei gekommen; man müſſe ſchlagen, nöthigenfalls
ſelbſt ohne Oeſterreichs Hilfe, da dieſe Macht zum Mindeſten nicht feind-
ſelig auftreten werde; den Feind im Lande, ſei man genöthigt die franzö-
ſiſche Allianz noch ſcheinbar aufrechtzuhalten und die Rüſtungen ſo dar-
zuſtellen als geſchähen ſie zu Frankreichs Gunſten. Sein Plan war, daß
Oeſterreich und Preußen als bewaffnete Mediatoren zwiſchen die krieg-
führenden Mächte treten ſollten; lehnte Napoleons Hochmuth, wie voraus-
zuſehen, die Bedingungen der Vermittler ab, ſo war der Rechtsgrund
zum Kriege gegeben. Mittlerweile ſolle ſich der König in das ſichere Schleſien
begeben und von dort aus zur rechten Zeit ſein Volk unter die Waffen
rufen. Der König genehmigte Alles und warnte nur beſonnen vor über-
ſpannten Erwartungen: nicht am Rheine, wie der Staatskanzler gemeint
hatte, ſondern im deutſchen Norden werde dieſer Krieg beginnen. Als
dies unheimliche Jahr im Sterben lag, rief man in Berlin bereits die
Beurlaubten ein, befahl die Bildung von Reſervebataillonen und entwarf
die Inſtruction für Kneſebeck, der als Unterhändler nach Wien gehen
ſollte. Das Eis war gebrochen, der große Entſchluß war gefaßt. Bange
Wochen vergingen noch bis man vor dem überliſteten Feinde das Viſier
aufſchlagen durfte; doch weder der König noch ſein Kanzler iſt dem einmal
ergriffenen rettenden Gedanken je wieder untreu geworden.


Den Maſſen des Volkes, die mit wachſender Ungeduld den Ruf des
Königs erharrten, blieb dieſer Umſchwung der preußiſchen Politik natür-
lich verborgen. Ein Glück daher, daß von anderer Seite her eine That
gewagt wurde, die dem Volke wie ein weithin leuchtendes Signal ver-
kündete, die Zeit des Harrens ſei zu Ende. Die Nothwendigkeit der
großen Wandlungen des hiſtoriſchen Lebens erſcheint dann am anſchau-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 26
[402]I. 3. Preußens Erhebung.
lichſten, wenn ſie durch widerwillige Werkzeuge vollſtreckt werden. Wer
hätte auch nur für denkbar gehalten, daß General York, der Befehlshaber
des preußiſchen Hilfscorps jemals an ſeinem Fahneneide deuteln könnte?
Vor langen Jahren war der Jüngling einſt wegen Ungehorſams aus der
fridericianiſchen Armee entlaſſen worden; als er dann nach langen aben-
teuerlichen Fahrten gereift und geſetzt wieder eintrat, erſchien er den
Soldaten wie der geſtrenge Geiſt der altpreußiſchen Manneszucht. Der
Mannſchaft klopfte das Herz, wenn die hagere ſtraffe Geſtalt des alten
Iſegrimm mit der drohenden Falte über der Adlernaſe auf dem Braunen
daherritt. Kein Fehler entging den harten ſtechenden grauen Augen;
jedes Schimpfwort ließ ſich leichter ertragen als der gemeſſene und doch
ſo furchtbare, ſo tief demüthigende Tadel von dieſen ſtolzen herriſchen
Lippen. Die Offiziere ſagten wohl, er ſei ſcharf wie gehacktes Eiſen; ſie
erriethen aus dem raſtlos wechſelnden Mienenſpiele der finſteren Züge,
wie viel Ehrgeiz, wie viel heiße Leidenſchaft, durch eiſerne Willenskraft
mühſam gebändigt, in dem wortkargen, unliebenswürdigen Manne arbei-
tete. Die Truppen vertrauten ihm unbedingt, denn ſie kannten ſeine
Tapferkeit und Umſicht aus den Kämpfen von Altenzaun und Lübeck und
ſie wußten, wie eifrig der durch und durch praktiſche Offizier für Kleidung,
Proviant und Quartiere ſeiner Leute ſorgte. Wie in Marwitz die Stan-
desgeſinnungen des Landadels, ſo verkörperte ſich in York der ſchroffe
Stolz des alten Offizierscorps; gegen die neumodiſchen Narrheiten der
Reformer war ihm kein Hohn zu giftig. Er haßte die Franzoſen, die
ihm ſeine Fahnen entehrt und den ſtolzen Bau der altpreußiſchen Ord-
nung über den Haufen geworfen hatten, mit dem ganzen Ingrimm ſeiner
vulkaniſchen Natur; doch für die Kameraden, die den Dienſt des Königs
verließen um nach Rußland zu gehen, hatte er nur Worte herber Ver-
achtung, ſie waren ihm Verräther und Deſerteure.


Die preußiſche Diviſion gehörte während des Kriegs zu dem Corps
Macdonalds und rückte auf dem äußerſten linken Flügel der großen
Armee in die Oſtſeeprovinzen ein. So widerwillig die Truppen dem
franzöſiſchen Oberbefehle folgten, ſie brannten vor Begier, jetzt unter den
Augen der Sieger von Jena zu zeigen, was preußiſche Tapferkeit ver-
möge. York durfte ſich rühmen, daß ſeine Schaar an kriegeriſcher Tüch-
tigkeit keinem anderen Corps der großen Armee nachſtand, in feſter Manns-
zucht alle übertraf; er hielt ſie geſchloſſen zuſammen, bewahrte ſie vor
jener Vermiſchung mit fremdem Kriegsvolk, die in den Heeren des Welt-
reichs grundſätzlich begünſtigt wurde, und zeigte den Franzoſen durch
ſchroff abweiſenden Stolz, daß ſie nicht rheinbündneriſche Vaſallen, ſon-
dern das Hilfscorps eines freien Königs vor ſich hätten. Die trübe, durch
die jammervollen Erlebniſſe dieſer ſechs Jahre verbitterte Stimmung der
Truppen wich einem kräftigen, trotzigen Selbſtgefühle, als ſie in dem
glänzenden Treffen von Bauske und in vielen anderen rühmlichen Ge-
[403]Convention von Tauroggen.
fechten die alte fridericianiſche Kühnheit und zugleich ihre Gewandtheit in
den Künſten der beweglichen neuen Taktik erprobt hatten. Die aus allen
Waffengattungen gemiſchten Brigadeverbände bewährten ſich ebenſo trefflich
wie die neuen Exercirreglements vom Januar 1812. York behauptete
den Herbſt über ſeine gefährliche Poſition in Kurland; erſt der Untergang
des Hauptheeres nöthigte auch den linken Flügel zum Rückzuge. Mac-
donalds Corps erhielt Befehl die Trümmer der großen Armee im Rücken
zu decken und den nachdrängenden Ruſſen den Einmarſch nach Oſtpreußen
zu verbieten.


Schon ſeit Wochen hatten der ſchlaue Italiener Paulucci und andere
ruſſiſche Befehlshaber den preußiſchen General zum Uebertritt zu bereden
verſucht. Immer vergeblich. Auch die patriotiſchen Aufrufe in dem Rigaer
Zuſchauer des wackeren Patrioten Garlieb Merkel ließen den Verächter
der Literaten kalt. Aber dem ſcharfen Soldatenblicke Yorks entging nicht,
daß ſein wohlgeordnetes kleines Corps — es mochte jetzt noch an 13,000
Mann zählen — nach der Kataſtrophe der Hauptarmee einen ganz un-
geahnten Werth erlangte. Folgte er den Befehlen Macdonalds, ſo konnten
die wenigen Ruſſen, die weiter ſüdlich ſchon in Oſtpreußen eingedrungen
waren, ſich dort nicht halten, die Franzoſen blieben ſtark genug dem
ruſſiſchen Corps des Fürſten Wittgenſtein die preußiſche Grenze zu ſper-
ren, und der ruſſiſche Krieg endete nach menſchlichem Ermeſſen mit einem
nutzloſen Koſakenſtreifzug am Niemen — freilich nur wenn das preußi-
ſche Corps mit übermenſchlicher Selbſtverleugnung ſich für ſeine gehaßten
Bundesgenoſſen aufopferte. Schieden die Preußen aus dem Kriege aus,
ſo drang das ruſſiſche Heer über die deutſche Grenze hinüber, und der
König — das ließ ſich vermuthen — ward fortgeriſſen zu dem rettenden
Entſchluſſe, welchen York ſeit Jahren erſehnte. Eine Welt von wider-
ſprechenden Gedanken ſtürmte auf den eiſernen Mann ein; während
der Schlacht kalt und ſicher, war er vor dem Kampfe immer aufgeregt
und ſchwarzſichtig. Sollte er ſeine treuen Truppen, den Kern des preu-
ßiſchen Heeres, preisgeben für die Rettung des Todfeindes der Deut-
ſchen oder durch einen eigenmächtigen Schritt Thron und Leben ſeines
Königs, der noch immer in der Gewalt der Fremden war, gefährden?
Sollte er jetzt, in Ehren grau geworden, nochmals dem eiſernen Geſetze
des Krieges den Gehorſam verſagen, wie einſt, da der vorwitzige Knabe
aus der Armee verjagt wurde, und ſein Leben ſchimpflich auf dem Sand-
haufen ſchließen — oder dieſe große Stunde des Gottesgerichts unbenützt
vorüberſtreichen laſſen? Auf wiederholte Anfragen in Berlin kam nur die
Erwiderung: er möge nach den Umſtänden handeln — eine Antwort, die
lediglich errathen ließ, daß der König ſich an das franzöſiſche Bündniß
nicht für immer binden wolle.


Den Ausſchlag gab ein Schreiben Alexanders vom 18. December,
das beſtimmt verſicherte, der Czar ſei bereit mit dem Könige ein Bündniß
26*
[404]I. 3. Preußens Erhebung.
abzuſchließen und die Waffen erſt niederzulegen wenn Preußen die Macht-
ſtellung vom Jahre 1805 wieder erreicht habe. Hier alſo des Königs
alter Freund und die Ausſicht auf Wiederherſtellung des alten Ruhmes,
dort der arge Feind, von dem York wußte, daß er nur auf Preußens
Vernichtung ſann. Bewegt wie ein Mann nur ſein kann kündete der
General ſeinen Offizieren die gefaßte Entſcheidung an: „ſo möge denn
unter göttlichem Beiſtand das Werk unſerer Befreiung beginnen und ſich
vollenden.“ Mit hellem Jubel ſtimmten ihm die Getreuen zu. Am
30. December traf York in der Poſcheruner Mühle bei Tauroggen mit
den ruſſiſchen Unterhändlern zuſammen — es waren durchweg geborene
Preußen, Diebitſch, Clauſewitz, Friedrich Dohna — und unterzeichnete
eine Convention, kraft deren ſein Corps in den Landſtrich zwiſchen Memel
und Tilſit zurückging, um dort die weiteren Befehle des Königs zu er-
warten. Mehr wollte der pflichtgetreue Soldat nicht wagen. An dem
Könige war es die Verbindung mit Rußland zu befehlen. Ihm legte
York in einem Briefe, den er mit ſeinem Herzblute ſchrieb, ſeinen alten
Kopf zu Füßen: „Jetzt oder nie iſt der Moment, Freiheit, Unabhängig-
keit und Größe wiederzuerlangen. In dem Ausſpruche Eurer Majeſtät
liegt das Schickſal der Welt!“


Die Convention von Tauroggen hat nicht, wie ihr kühner Urheber
hoffte, den König fortgeriſſen zum Anſchluß an Rußland; der Entſchluß
des Monarchen ſtand bereits feſt. Sie kam ſogar dem Staatskanzler
ſehr ungelegen, da ſie ihn leicht nöthigen konnte ſein fein berechnetes
Spiel allzufrüh aufzudecken. Aber ſie öffnete die deutſchen Grenzen den
Ruſſen, ſie ermöglichte den Oſtpreußen ſich für Deutſchlands Befreiung
zu erheben, ſie gab den Maſſen zuerſt die frohe Gewißheit, daß der
Würfel gefallen ſei. Als der Morgen des ſchlachtenreichſten Jahres dieſer
blutigen Zeit heraufgraute, erwachte überall wo Friedrichs Adler wehten
die alte Waffenfreude der Germanen, und weithin über das preußiſche
Land erklang der Weckruf des eiſernen York: Jetzt oder niemals!


[[405]]

Vierter Abſchnitt.
Der Befreiungskrieg.


Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das langſame Nach-
wirken der hiſtoriſchen Schuld. Wie viel ſchwere Arbeit war nun ſchon
aufgewendet von den beſten Männern des deutſchen Nordens um die
Unterlaſſungsſünden des unſeligen Jahrzehntes vor 1806 zu ſühnen.
Feſter denn je ſtand die alte Königstreue der Preußen, ein neuer freier
Geiſt belebte das Heer und die Verwaltung; was aber in Friedrichs
Tagen der ſchönſte und eigenthümlichſte Vorzug der preußiſchen Politik
geweſen, die ſtolze freimüthige Offenheit des Handelns blieb dem gedrückten
Staate verſagt. Als die Krone ſich endlich anſchickte Gewaltthat und
Treubruch mit dem Schwerte abzuwehren, den wagnißvollen Kampf für
die Herſtellung Deutſchlands und die Freiheit der Welt zu beginnen, da
fand ſie ſich außer Stande das Gerechte und Nothwendige mit Gradſinn
und Würde zu thun. Sie war gezwungen zu einem zweizüngigen Spiele,
das tauſende ehrlicher Gewiſſen beirrte und quälte, viele der Treueſten
zu einem eigenmächtigen, für den Beſtand der monarchiſchen Ordnung
hochgefährlichen Vorgehen nöthigte.


Zu Anfang des Jahres ſtanden etwa 40,000 Mann napoleoniſcher
Truppen in Oſtpreußen, 10,000 in Polen, 70,000 in den Feſtungen der
Weichſel- und Oderlinie; die Marken nebſt den Uebergängen über die
Oder hielt Augereau mit dem noch ganz unberührten elften Armeecorps,
mehr als 20,000 Mann, beſetzt, und täglich trafen friſche Zuzüge aus
dem Weſten ein alſo daß die Garniſon von Berlin allein bald auf
24,000 Mann ſtieg. Genug, übergenug um die ſchwache, an vier weit
entlegenen Stellen vertheilte preußiſche Armee in Schranken zu halten.
Das gelichtete Corps Yorks überſchritt ſoeben die litthauiſche Grenze, an
der Weichſel bildete Bülow ein Reſervecorps, um Kolberg befehligte General
Borſtell die pommerſchen Regimenter, während eine vierte Abtheilung, die
nachher unter Blüchers Befehle geſtellt wurde, ſich in Schleſien verſam-
melte. Als die jammervollen Trümmer der großen Armee ins Land
kamen, wurde der König von manchen Heißſpornen mit Bitten beſtürmt,
er möge geſtatten, daß man ſich nach Spanierart auf dieſe Flüchtlinge
[406]I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſtürze. Friedrich Wilhelm verſagte die Erlaubniß. Das Volk gehorchte
ſchweigend, obgleich die haſtigen Neuerungen des Staatskanzlers viel Un-
willen, gerechten und ungerechten, gegen die Regierung hervorgerufen hatten,
und ſo geſchah was der Barmherzigkeit und dem geſetzlichen Sinne jenes
tapferen Geſchlechts gleichmäßig zur Ehre gereicht: dieſe Schaaren wehr-
loſer, tödlich gehaßter Feinde zogen ſicher ihres Wegs durch das preußiſche
Land. Da und dort lärmte der Pöbel in wüſter Schadenfreude, die
Schuljugend ließ ſich’s nicht nehmen die Flüchtlinge durch den Schreckens-
ruf „Koſak“ aus der Raſt aufzuſcheuchen. Es geſchah wohl, daß rhein-
bündiſchen Offizieren das rothe Band von der Bruſt geriſſen wurde; dieſe
Landesverräther haßte das Volk noch grimmiger als die Franzoſen ſelber.
Die Maſſe der Unglücklichen blieb unbeläſtigt, fand in preußiſchen Häuſern
Obdach und Pflege. Der Anblick des grauenhaften Elends erſchütterte ſelbſt
rohe Gemüther; den kleinen Leuten ſchien es ſündlich ſich an denen zu ver-
greifen, die Gott ſelbſt geſchlagen. Unter den Tauſenden, die alſo entkamen,
war die große Mehrzahl der Generale und Oberſten des Imperators; die
deutſche Gutherzigkeit rettete ihm ſeine Heerführer. Was aber beſtimmte die
Haltung des Königs? Wahrlich nicht allein ſeine peinliche Gewiſſenhaftig-
keit, die ſelbſt den heiligen Kampf der Nothwehr nicht ohne unanfechtbaren
Rechtsgrund beginnen mochte, ſondern die richtige Erkenntniß der militäri-
ſchen Lage. Ein vorzeitiger Losbruch ungeordneter Maſſen war das ſichere
Verderben des Staates. Es galt, unter den Augen des Feindes das
Heer, das ihn ſchlagen ſollte, erſt zu ſchaffen, den Beſtand der Streit-
kräfte zu verſechsfachen und unterdeſſen die Allianz mit den beiden an-
deren Oſtmächten abzuſchließen. Alles dies ward nur möglich durch die
Mittel der Argliſt, welche der erfinderiſche Kopf des Staatskanzlers an-
gab. Er ſpielte den treuen Verbündeten Napoleons, verſicherte beharr-
lich, daß ſeine Rüſtungen für die Fortführung des ruſſiſchen Krieges be-
ſtimmt ſeien.


Aber ſelbſt wenn die geheimen Verhandlungen günſtigen Fortgang
nahmen und eine Coalition der ſämmtlichen alten Mächte zu Stande kam,
ſo blieb Preußens politiſche Lage noch immer ſehr nachtheilig, faſt ver-
zweifelt. Gewiß bedurfte Rußland der preußiſchen Hilfe. Denn hielt der
König bei dem franzöſiſchen Bunde aus, ſo wurde die ſchwache ſchlecht-
gerüſtete Armee des Czaren von dem zurückkehrenden Napoleon unzweifel-
haft mit zermalmender Uebermacht vernichtet bevor der Nachſchub aus
dem fernen Oſten herankommen konnte; der Eroberer, gewitzigt durch das
Unglück des vergangenen Winters, hätte ſicherlich nicht zum zweiten male
den abenteuerlichen Zug in das Innere des weiten Reiches gewagt, ſon-
dern ſich begnügt, die Oſtſeeprovinzen und die polniſch-litthauiſchen Lande
von dem Czarenreiche abzureißen. Trotzdem ſtanden die Ausſichten für
die alten Mächte ſehr ungleich. Rußland und England hatten während
der jüngſten Jahrzehnte ihre Macht erheblich vergrößert: jenes in Polen
[407]Preußens diplomatiſche Lage.
und Finnland, dieſes in den franzöſich-holländiſchen Colonien; auch Oeſter-
reich war trotz ſchwerer Verluſte doch noch im Beſitze ſeiner Großmacht-
ſtellung. Mißlang das Werk der Befreiung, ſo ſtand für England gar
nichts, für Rußland und Oeſterreich nur ein Gebietsverluſt zu befürchten.
Für den Fall des Sieges aber mußte England durch transatlantiſche Ge-
biete, Rußland durch polniſche Landſtriche, Oeſterreich durch die Wieder-
herſtellung und Vergrößerung ſeiner adriatiſchen Machtſtellung entſchädigt
werden. Das lag in der Natur der Dinge, die geſammte diplomatiſche
Welt war darüber einverſtanden, und alle drei Mächte durften, Dank ihrer
geographiſchen Stellung, darauf zählen, daß ihnen Niemand dieſen Sieges-
preis entriß falls das Weltreich unterging. Für Preußen dagegen war
dieſer Krieg ein Kampf um Sein oder Nichtſein. Siegte Napoleon, ſo
wurden die in Tilſit nur vertagten Vernichtungspläne unfehlbar durch-
geführt. Siegte der preußiſche Staat, ſo war er gezwungen einen unver-
hältnißmäßig größeren Lohn zu fordern als ſeine Verbündeten; er mußte
die verlorene Hälfte ſeines Gebietes und den Wiedereintritt in die Reihe
der großen Mächte verlangen. Der Kampf um die Befreiung der Welt
blieb doch in erſter Linie ein Kampf um die Wiederaufrichtung Preußens.
Seine entſcheidenden Schlachten, das ließ ſich vorausſehen, mußten auf
preußiſchem Boden geſchlagen werden oder in jenen norddeutſchen Landen,
die zu Preußens Entſchädigung dienen ſollten; jede Scholle deutſchen
Landes, die der König für ſich forderte, war erſt durch gemeinſame An-
ſtrengung zu erwerben, unterlag von Rechtswegen der Verfügung der Coa-
lition. Der preußiſche Staat ſtand mithin in der denkbar ungünſtigſten
diplomatiſchen Stellung, in einer Lage, deren Nachtheile weder der Muth
des Heeres noch die Gewandtheit der Staatsmänner ganz ausgleichen
konnte; er hatte den Preis ſeiner Anſtrengungen großentheils zu erwarten
von dem guten Willen jener Höfe, die nach ihren Intereſſen und Ueber-
lieferungen die Befeſtigung einer ſtarken mitteleuropäiſchen Macht nicht
wünſchen konnten.


Doch was wogen ſolche Bedenken in dieſem Augenblicke, da Deutſch-
lands Zukunft auf dem Spiele ſtand? Schritt für Schritt, mit bewun-
derungswürdiger Umſicht näherte ſich Hardenberg ſeinem zweifachen Ziele:
der Verſtärkung des Heeres und dem Abſchluß der großen Allianz. Schon
am 20. December war die Bildung von 52 Reſervebataillonen, das will
ſagen: die Verdoppelung der Infanterie, angeordnet worden. Auf allen
Landſtraßen ſah man die Schaaren der Krümper zu ihren Regimentern
ziehen; die treuen Männer ahnten dunkel wem die Rüſtung gelte. Den
franzöſiſchen Truppen ward beklommen zu Muthe wenn ſie dieſen ſonder-
baren Bundesgenoſſen auf dem Marſche begegneten; ſie bemerkten wohl
die grimmigen Blicke der Preußen und vernahmen die herausfordernden
Klänge der deutſchen Kriegslieder. Die Aufregung ſtieg von Tag zu
Tage. Im Schloßhofe zu Königsberg wurde ein anmaßender franzöſiſcher
[408]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Gensdarm unter den Augen des Königs von Neapel von preußiſchen
Rekruten todtgeſchlagen; zwei franzöſiſche Offiziere, die ſich einmiſchen
wollten, mußten mit zerbrochenen Degen vor den Preußen fliehen, und
Murat wagte nicht die Schuldigen zu beſtrafen.


Am 2. Januar erhielt Kneſebeck ſeine Inſtruction für die geheime
Sendung an den Wiener Hof. Friedrich Wilhelm erklärte ſich bereit
Frankreich zu bekämpfen, aber auch Rußlands Herrſchaft in Deutſchland
nicht zu dulden; darum ſolle Oeſterreich als bewaffneter Vermittler auf-
treten, die Unabhängigkeit Deutſchlands bis zum Rheine, die Vernichtung
des Rheinbundes fordern und im Falle der Weigerung die Waffen gegen
Napoleon ergreifen; der König ſelbſt denke demnächſt nach Schleſien zu
gehen, wo er in Freiheit ſeine Entſchlüſſe faſſen könne. Das befreite
Deutſchland müſſe die einſt in Bartenſtein verabredete Verfaſſung erhal-
ten: preußiſche Hegemonie im Norden, öſterreichiſche im Süden; ein Auf-
ruf an die Italiener und die Neuordnung der Verhältniſſe der Halbinſel
blieben dem freien Ermeſſen der Hofburg überlaſſen. Zugleich wurde
Scharnhorſt, der ſeit ſeiner Entlaſſung in Schleſien lebte, über Alles
was im Werke war unterrichtet. Am nämlichen Tage traf die Nachricht
von der Tauroggener Convention in Potsdam ein. Sie war willkommen,
weil man nunmehr das York’ſche Corps aus der Gewalt der Franzoſen
befreit wußte, doch ſetzte ſie zugleich den Staatskanzler in Verlegenheit,
da York allzufrüh „dem Faſſe den Boden ausgeſchlagen“ hatte. Der
König beſchloß den kühnen Schritt des Generals öffentlich zu mißbilligen,
insgeheim zu genehmigen.


Faſt noch wichtiger als die Nachricht von der Convention ſelber er-
ſchien jenes Schreiben des Czaren an Paulucci vom 18. December, wel-
ches York dem Könige mittheilen ließ. Man war in Potsdam bisher
über Alexanders Abſichten, über den Vormarſch der Ruſſen wie über
die polniſchen Verhältniſſe ganz im Unklaren geblieben. Jetzt endlich
erfuhr der König, daß ſein Freund in der That den Krieg auf deut-
ſchem Boden fortzuſetzen bereit ſei, und ſofort gab er der Inſtruction
für Kneſebeck den Zuſatz: er werde ſich für Rußland erklären, falls die
Ruſſen die Weichſel überſchritten. Dann wurde der Flügeladjutant
Major Natzmer zu Murat entſendet um die Abſetzung des eigenmächtigen
Generals anzuzeigen und von da insgeheim zum Czaren zu reiſen.
Währenddem lebte Hardenberg mit den franzöſiſchen Generalen und
Diplomaten auf dem freundlichſten Fuße, gab Diner auf Diner, betheuerte
inbrünſtig ſeine Entrüſtung über Yorks unerhörte That, wich mit ver-
bindlichen Worten aus als Graf Narbonne ihm eröffnete, der Impe-
rator werde ſich freuen, wenn der Kronprinz von Preußen mit einer
Murat oder Beauharnais ſich verheirathe.*) Der Geſandte Kruſemark
[409]Napoleons Pläne.
in Paris mußte dringend mahnen an die Rückzahlung der von Preußen
für den Durchmarſch der großen Armee geleiſteten Vorſchüſſe; die Regie-
rung berechnete die Summe, ſehr niedrig, auf 94 Mill. Fr. Um die
Täuſchung zu vollenden benutzte Hardenberg noch einen verbrauchten
Kunſtgriff der alten Cabinetspolitik: er ſendete den unfähigſten ſeiner
Diplomaten, den Fürſten Hatzfeld, einen erklärten Franzoſenfreund, der
von den Abſichten des Staatskanzlers nicht das Mindeſte ahnte, nach
Paris um die That Yorks zu entſchuldigen und nochmals an die Ab-
zahlung der Vorſchüſſe zu erinnern.


Bei einiger Kenntniß der preußiſchen Dinge konnte der Imperator
ſchon aus der Perſönlichkeit des Unterhändlers errathen, daß dieſe Sen-
dung beſtimmt war zu ſcheitern. Er aber hatte für das kleine Preußen
kein Auge, ſondern lebte und webte in den Entwürfen für einen zweiten
ruſſiſchen Feldzug. Während prunkende Feſte in Fontainebleau die Welt
über die wachſende Verſtimmung des franzöſiſchen Volkes täuſchen ſollten,
wurde eine neue Aushebung von 350,000 Mann, im März nochmals
eine Conſcription von 180,000 Mann angeordnet. Seit dem Jahre 1793
waren mehr denn drei Millionen Franzoſen unter die Fahnen gerufen und
die Mehrzahl davon im Kriege umgekommen; der Miniſter Montalivet aber
betheuerte in einer ſchwungvollen parlamentariſchen Prachtrede, die Con-
ſcription habe eine erfreuliche Vermehrung der Bevölkerung herbeigeführt.
Der Imperator rechnete, im Frühjahr von Magdeburg aus den zweiten
Krieg gegen Rußland zu eröffnen, die Sachſen auf dem rechten, die
Preußen auf dem linken Flügel; im Juni ſollte Danzig deblokirt, im
Auguſt der Niemen abermals überſchritten werden. Kein Gedanke an
Nachgiebigkeit. Ueberall, ſo verſicherte er ſeinem Schwiegervater, ſeien
die Ruſſen in offener Feldſchlacht geſchlagen worden; auch nicht ein Dorf
von Warſchau dürfe der Czar erhalten; nun gar die conſtitutionellen
Grenzen des Kaiſerreichs, das Rom, Amſterdam und Hamburg zu ſeinen
guten Städten zählte, blieben unantaſtbar für alle Zukunft! Seinen
deutſchen Vaſallen gab er nochmals zu wiſſen, daß er für die Herrlichkeit
des deutſchen Particularismus ſtreite: ſie hätten nicht blos den auswärti-
gen Gegner zu bekämpfen, ſondern einen gefährlicheren Feind — jenen
Geiſt der Anarchie, welchen die Umſturzmänner Stein und Genoſſen heg-
ten; die Dynaſtien des Rheinbundes zu entthronen und ein ſogenanntes
Deutſchland zu ſchaffen (créer ce qu’ils appellent une Allemagne), das
ſei das Ziel der deutſchen Aufrührer.


Der preußiſchen Monarchie meinte er ſicher zu ſein, wo nicht ihrer
Treue ſo doch ihrer Ohnmacht; noch im März ſchrieb er geringſchätzig an
Eugen Beauharnais, mehr als 40,000 Mann könnten die Preußen doch
nicht aufbringen, und davon nur 25,000 für das freie Feld. Er ſelber
hatte zu Anfang des letzten Feldzugs die treffliche militäriſche Haltung des
York’ſchen Corps bewundert; er war gewarnt, hundertmal gewarnt durch
[410]I. 4. Der Befreiungskrieg.
die rheinbündiſchen Diplomaten, er wußte, daß jene gefährlichen deutſchen
Aufrührer nirgends mächtiger waren als in Preußen, und doch wollte er
nicht eingeſtehen, daß dieſe verhaßte Macht ihm je bedrohlich werden könne.
Gefliſſentlich trug er ſeine Verachtung gegen Preußen zur Schau, als
wollte er ſeine geheimen Sorgen übertäuben: „die Preußen ſind keine
Nation, ſie haben keinen nationalen Stolz, ſie ſind die Gascogner von
Deutſchland!“ Die einfachſte Klugheit gebot ihm den Bundesvertrag von
1812 gewiſſenhaft zu halten, der Krone Preußen keinen Vorwand zum
Verlaſſen der erzwungenen Allianz zu bieten. Doch auf ſeiner einſamen
Höhe hielt er es nicht mehr der Mühe werth nach den Empfindungen
derer, die ſein Fuß zertrat, zu fragen. Auf alle Mahnungen der preu-
ßiſchen Unterhändler antwortete er mit leeren Reden, nicht einmal eine
Prüfung ihrer Rechnungen konnten ſie erreichen; und gleichzeitig erging
an die Befehlshaber der Oderfeſtungen der vertragswidrige Befehl, daß
ſie ſich Alles was ſie brauchten durch Requiſitionen verſchaffen ſollten.
Alſo that der Imperator genau was Friedrich Wilhelms Gewiſſenhaftigkeit
insgeheim wünſchte; er ſetzte ſich ins Unrecht, er ſelber zerriß das Bündniß,
und der König war nach Völkerrecht unzweifelhaft befugt ſich loszuſagen
von einem Vertrage, deſſen Satzungen ſammt und ſonders von dem an-
deren Theile mißachtet wurden.


Auf Kneſebecks Sendung baute Hardenberg ſtolze Hoffnungen. Wäh-
rend der König den Czaren für ſeinen nächſten und natürlichſten Freund
anſah, erſtrebte der Staatskanzler ſeit Jahren zunächſt ein Bündniß der
drei „deutſchen“ Großmächte — denn auch England wurde wegen Han-
nover noch zu den deutſchen Mächten gerechnet. Seine hochgeſpannten Er-
wartungen ſollten gründlich getäuſcht werden. Der ſofortige Eintritt des
Kaiſerſtaates in ein Kriegsbündniß war ſchon deßhalb ganz außer Frage,
weil Napoleon in ſolchem Falle ſicher wieder die wohlbekannte Sieges-
ſtraße der Donau entlang eingeſchlagen und, bei dem elenden Zuſtande
der Armee und der Finanzen Oeſterreichs, raſch ſeinen dritten Einzug
in die Kaiſerſtadt gehalten hätte. Eben dies wollte Kaiſer Franz um
jeden Preis verhindern. Von Natur friedfertig, ein Freund der ſanften
Mittel und der kleinen Ränke fand Graf Metternich die Lage der Welt
durchaus nicht reif für eine große Entſcheidung. Wie ſollte ein durch-
ſchlagender Erfolg erfochten werden — ſo äußerte ſich Gentz — da alle
Mächte des Feſtlandes tief ermattet ſeien und auch Englands Kräfte
durch die Subſidienzahlungen für einen europäiſchen Krieg leicht erſchöpft
werden könnten? Dazu die natürliche Angſt vor der nationalen Leiden-
ſchaft der norddeutſchen Patrioten. In Wien — dieſer Ruhm wird der
Nüchternheit der öſterreichiſchen Staatskunſt verbleiben — in Wien iſt
ſeit den Tagen des großen Kurfürſten bis zum Jahre 1866 nicht einen
Augenblick der gutmüthige Wahn gehegt worden, als ob die Verſtärkung
des norddeutſchen Nebenbuhlers im Intereſſe Oeſterreichs liege. Wenn
[411]Oeſterreichs Haltung.
man auch wünſchte, daß Preußen wieder einigermaßen zu Kräften käme,
eine ſelbſtändige, der Hofburg ebenbürtige Macht durfte ſich im Norden
nicht bilden — jetzt am Allerwenigſten, da jeder neue Tag von der ſtürmi-
ſchen Erregung des norddeutſchen Volkes Kunde brachte, da der preußiſche
Staat haltlos den dämoniſchen Mächten der Revolution verfallen, ſein
König nur „an der Seite“, nicht an der Spitze der Nation zu ſtehen
ſchien. Darüber war Kaiſer Franz mit ſeinem Schwiegerſohne durchaus
einverſtanden, daß nur Aufruhrſtifter ein ſogenanntes Deutſchland wollen
könnten. Willig glaubte er alle Märchen der napoleoniſchen Polizei über
das revolutionäre Treiben der preußiſchen Geheimbünde; noch im März
bat ſein Geſandter den König von Preußen, natürlich vergeblich, um Auf-
löſung der geheimen Vereine. Von der deutſchen Geſinnung ſeines eige-
nen Volkes hatte er freilich wenig zu fürchten; der edle Rauſch des Jahres
1809 kehrte niemals wieder, das Teutonenthum der norddeutſchen Dichter
und Volksredner erregte bei den ermüdeten Wienern nur Spott und
Hohn. Indeß ſelbſt die vereinzelten Spuren patriotiſchen Sinnes waren
dem Despoten unheimlich. Er vergaß es nicht, daß auch einige öſter-
reichiſche Offiziere in ruſſiſchen Dienſt getreten waren. Der gefährliche
preußiſche Verſchwörer Juſtus Gruner war längſt auf die Feſtung ge-
ſchafft worden, und als im Frühjahr Hans von Gagern mit einigen
Patrioten in Vorarlberg und Tyrol eine Volkserhebung vorzubereiten ver-
ſuchte, griff der Kaiſer ſofort mit Verhaftungen und Ausweiſungen ein.


Ein anderer leitender Gedanke der Hofburg war die Furcht vor
Rußland. In ſpäteren Jahren geſtand Metternich dem preußiſchen Staats-
kanzler: ſeit dem Augenblicke, da die napoleoniſche Macht ins Wanken
gekommen, habe ihn vorwiegend die eine Sorge beſchäftigt: „die Unmög-
lichkeit, zu verhindern, daß eine ungeheuere Machtvergrößerung Rußlands
das nothwendige Ergebniß der Zertrümmerung des franzöſiſchen Koloſſes
würde.“*) Und wie vortheilhaft war es doch andererſeits, einen ſo mäch-
tigen Schwiegerſohn zu beſitzen — einen ſo wohlgeſinnten Mann, der die
Revolution überwunden hatte und mit gleichem Abſcheu wie Metternich
von dem Jacobiner Stein redete! Auch perſönliche Rückſichten ſpielten
mit. Metternich war durch die franzöſiſche Allianz ans Ruder gelangt;
trat ein plötzlicher Wechſel des Syſtems ein, ſo mußte faſt unver-
meidlich ſein Gegner Stadion die Leitung der Geſchäfte übernehmen.
Zudem wichen die Abſichten der Hofburg für Deutſchlands Zukunft ſehr
weit ab von den Gedanken des preußiſchen Staatskanzlers. Harden-
berg nahm ſeine dualiſtiſchen Pläne in vollem Ernſt, wünſchte für Oeſter-
reich eine feſte Stellung am Oberrhein, für Preußen am Mittel- und
Niederrhein, damit alſo eine gemeinſame Vertheidigung des künftigen
Deutſchen Bundes möglich würde. Und gewiß, war der Deutſche Bund
[412]I. 4. Der Befreiungskrieg.
mit Oeſterreich, den jene Zeit erhoffte, überhaupt lebensfähig, ſo konnte
er nur durch ein treues Einvernehmen der beiden führenden Staaten
und durch eine ehrliche Abgrenzung ihrer Machtgebiete erhalten werden.
Darum ſind auch ſpäterhin die Gedanken des friedlichen Dualismus am
Berliner Hofe immer von Neuem wieder aufgetaucht ſo lange man noch
nicht gänzlich an dem Deutſchen Bunde verzweifelte. Der Staatskanzler
hatte dieſe Ideen während der letzten Jahre wiederholt ſeinem öſterreichi-
ſchen Freunde ausgeſprochen und ſchloß aus einigen hingeworfenen Worten
halber Zuſtimmung leichtſinnig auf Metternichs volles Einverſtändniß.
Die vertrauten Hannoveraner Ompteda und Hardenberg wußten jedoch
ſehr wohl, daß die Hofburg keineswegs geſonnen war ihrem Nebenbuhler
die Hegemonie in Norddeutſchland zuzugeſtehen.


Metternich erkannte, daß Oeſterreich die durch eine ehrloſe Politik
verſcherzte Kaiſerkrone nicht wieder verlangen durfte. Ein erbliches Kaiſer-
thum der Lothringer hätte alle Mittelſtaaten dem Hauſe Oeſterreich ver-
feindet; eine Wahlkrone konnte, da die alten getreuen geiſtlichen Kurfürſten
nicht mehr beſtanden, vielleicht dereinſt den Hohenzollern in die Hände
fallen. Es galt alſo, durch kluge Schonung der dynaſtiſchen Intereſſen
der Mittelſtaaten den herrſchenden Einfluß in Deutſchland zu gewinnen.
Darum verzichtete Metternich nicht nur auf Belgien, das in der Hofburg von
jeher als ein ſehr läſtiges Beſitzthum gegolten hatte, ſondern auch auf die
Wiedererwerbung der vorderöſterreichiſchen Lande. Durch dieſen vorgeſcho-
benen Poſten hatte das Kaiſerhaus einſt die ſüddeutſchen Höfe beſtändig
bedroht und die Geängſtigten bald in Preußens bald in Frankreichs Arme
geſcheucht. Als ein wohlwollender primus inter pares wollte Oeſterreich
fortan, wohl abgerundet an der Adria, mit den alten Feinden Baiern
und Württemberg ehrlich Frieden halten und ihnen vor Allem das köſt-
lichſte Gut, das ſie der Gnade Napoleons verdankten, die Souveränität
ſicher ſtellen. Einige Andeutungen dieſer politiſchen Grundſätze gab
Metternich ſchon in ſeinen Unterredungen mit Kneſebeck; noch beſtimmter
erklärte er etwas ſpäter in einer Depeſche an Lebzeltern (23. März), den
Staaten des Rheinbundes müſſe der Beſitzſtand, die Souveränität und
die Unabhängigkeit vollſtändig gewahrt bleiben.


Aus Alledem ergab ſich mit Nothwendigkeit, daß Metternich die
augenblickliche Kriſis benutzte um „den großen Plan einer allgemeinen
Pacification“ zu verwirklichen, wie Gentz in einem vertrauten Briefe an
den Hospodar Karadja ausſprach. Es gelang ihm während des Früh-
jahrs, durch geheime Verhandlungen mit Rußland, das öſterreichiſche Hilfs-
corps, das noch an der Seite der Franzoſen in Polen ſtand, in die
Heimath zurückzuführen und ſich von der franzöſiſchen Allianz thatſächlich
loszuſagen. So ſtand Oeſterreich frei, in beherrſchender Flankenſtellung,
den kriegführenden Mächten zur Seite und konnte hoffen durch ſeine Ver-
mittlung den Ausſchlag zu geben. Während Metternich in Paris dringend
[413]Verhandlungen mit Rußland.
zum Frieden mahnte, ſprach er, dem preußiſchen Unterhändler gegenüber,
ebenſo warm für den Anſchluß Preußens an Rußland; ja Kneſebeck er-
hielt ſogar ein eigenhändiges Schreiben des Kaiſers an den König mit
auf den Weg, worin beſtimmt erklärt war, der Uebertritt Preußens zu
den Ruſſen werde das Vertrauen der Hofburg in keiner Weiſe erſchüttern.
Die Abſicht war klar: wurde Rußland durch Preußens Zutritt verſtärkt,
ſo ſtanden die Ausſichten für den neuen Krieg annähernd gleich, und
Oeſterreich konnte mit ſeinen Friedensvorſchlägen um ſo leichter durch-
dringen.


Der ſchlaue Rechner überſah nur Eines: die ſittlichen Mächte, die
unverſöhnlichen Gegenſätze, welche über dieſem Kampfe walteten; er
würdigte weder Napoleons unbeugſamen Caeſarenſtolz noch die Naturge-
walt des nationalen Haſſes, die in Preußen erwacht war. Seine Frie-
densmahnungen in Paris waren durchaus ernſt gemeint, obgleich er ſie
dem Czaren gegenüber als eine Komödie darſtellte, und nichts konnte
ehrlicher ſein als die Verſicherung, welche Kaiſer Franz ſpäterhin dem
Könige von Baiern gab: „wenn Frankreich den Frieden gewollt hätte,
ſo hätte es ihn haben können.“ Metternich hoffte noch lange den Krieg
gänzlich zu verhindern und gab eine ausweichende Antwort, als Alexander
am 12. Februar verlangte, Oeſterreich ſolle ſeine Vermittlungsvorſchläge
nöthigenfalls mit den Waffen aufrechthalten. Indeß blieb der Behutſame
auch auf den unerwünſchten Fall, daß der ruſſiſch-franzöſiſche Krieg von
Neuem anhob, gefaßt; dann ſollte Oeſterreich ſeine wohlgeſchonte Kraft
aufſparen, bis die Kriegführenden durch ein ſchweres unentſchiedenes
Ringen erſchöpft und für die Vorſchläge des Vermittlers empfänglich
wären. So wurde das alte Kaiſerhaus vielleicht ohne alle Opfer, jeden-
falls ohne unmittelbare Gefahr, wieder das Zünglein in der Waage
Europas, der Friedensbringer und Mediator des Welttheils, die Macht
des kaiſerlichen Schwiegerſohns ward nicht vernichtet, ſondern nur in ge-
wiſſe Schranken zurückgewieſen, und die Führung in dem Bunde der
ſouveränen deutſchen Staaten fiel dem Hauſe Oeſterreich von ſelber zu.
Radetzky, der beſte Kopf des kaiſerlichen Generalſtabs, führte noch im
März in einer militäriſchen Denkſchrift aus, wie Oeſterreich eine große
Armee bereit halten müſſe um die Partei, welche ſich ſeinen Vorſchlägen
widerſetzte, niederzuſchlagen; ohne Liebe noch Haß ſtellte er ſich über die
Parteien und wagte nur die Vermuthung, daß Frankreich „der muthmaß-
liche Gegner“ ſein werde. — Genug, Kneſebecks Sendung brachte nur
einen halben Erfolg. Der begeiſterte Verehrer der kaiſerlichen Hochherzig-
keit trug aus der Hofburg nichts heim als die Zuſage, daß Oeſterreich
gegen einen preußiſch-ruſſiſchen Bund nicht feindlich auftreten werde.


Weit glücklicher verliefen die Verhandlungen mit Rußland. Major
Natzmer traf den Czaren am 13. Januar zu Bobersk in Litthauen und
bot ihm im Namen des Königs ein Schutz- und Trutzbündniß an, falls
[414]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Rußland die Weichſel und Oder überſchreiten, den Krieg mit ganzer
Kraft fortführen wolle. Der Czar ſtrahlte von Zuverſicht: der König
allein könne Europa retten oder für immer verderben. Er ging auf Alles
freudig ein, verſprach ſogleich 10 — 15,000 Mann gegen die Oder zu
ſenden und ſchätzte die Truppen, die bald nachkommen ſollten, auf
100,000 Mann. Erſt am 20. Januar langte Natzmer auf weiten Um-
wegen wieder bei dem Staatskanzler an, da Eugen Beauharnais Verdacht
geſchöpft und ſeinen Truppen befohlen hatte, den Adjutanten ſeines könig-
lichen Bundesgenoſſen gefangen zu nehmen.


Sofort nach der Rückkehr des Unterhändlers wurden die Vorbe-
reitungen getroffen für die Abreiſe des Königs nach Breslau und zu-
gleich befohlen, daß alle irgend kriegsfähigen Cadetten nach Schleſien
abgehen ſollten. Der alte Commandeur der Pflanzſchule des Offiziers-
corps wußte ſich gar nicht mehr zu helfen in der wilden Zeit. Die
ganzen Weihnachtsferien über hatten ſeine Jungen gezecht und gejubelt
in einem ununterbrochenen Siegesfeſte von wegen der Nachrichten aus
Rußland. Nun fuhren die Großen glückſelig in mächtigen Korbwagen
die hartgefrorenen Straßen dahin, den ſchleſiſchen Bergen zu; die Kleinen
aber, die traurig im Hauſe blieben, legten ihr Taſchengeld zuſammen für
den heiligen Krieg, denn Niemand zweifelte, wem es galt. Am 21. Ja-
nuar feierte das königliche Haus die Confirmation des Kronprinzen. Wie
viele herrliche, ach ſo bitter getäuſchte Hoffnungen hingen damals an dem
reichbegabten, geiſtſprühenden Jüngling! Kein Auge blieb thränenleer; Allen
war, als ob der Schatten der verklärten Königin unter ihren Kindern
erſchiene, während das bedeutungsvolle Bekenntniß des Thronfolgers ver-
leſen wurde: „Feſt und ruhig glaube ich an den, der zum Uebermuthe
ſpricht: hier ſollen ſich legen deine ſtolzen Wellen! Das Morgenroth
eines beſſeren Tages bricht an.“ Zwei Tage darauf reiſte der König
plötzlich nach Breslau ab, und hier, endlich wieder auf freiem preußiſchen
Boden, nicht mehr den Handſtreichen franzöſiſcher Truppen ausgeſetzt,
konnte er etwas offener auftreten.


Schlag auf Schlag folgten die Befehle zur Einleitung der kriege-
riſchen Action. In ſeinen finanziellen Maßregeln war der Staatskanzler
freilich auch jetzt wieder unglücklich; ein Verſuch den entwertheten Treſor-
ſcheinen durch den Zwangscurs aufzuhelfen mußte ſchon nach wenigen
Wochen zurückgenommen werden. Um ſo feſter und ſicherer ſchritten die
Rüſtungen vorwärts. Der König bildete ein „Comité zur Verſtärkung
der Armee“, berief dazu Hardenberg, den Kriegsminiſter Hacke und Scharn-
horſt, deſſen Name ſchon allen Kundigen ſagte, daß es nunmehr ganzer,
ſchwerer Ernſt war. Mit Feuereifer ging der geiſtreiche Hippel, dem der
Staatskanzler die Militärſachen übertrug, auf die Entwürfe des Generals
ein. Der Waffenſchmied der deutſchen Freiheit ſah nun endlich ſeine
Saaten aufgehen; ſeine Kräfte ſchienen verdoppelt, ſein ganzes Weſen
[415]Der König nach Breslau.
gehoben und durchleuchtet von ſtolzer Zuverſicht. Tag und Nacht war
er thätig, bald in Berathungen und Unterredungen mit dem Könige,
bald daheim in ſeinem weißen Mantel am Schreibtiſch kniend. Am
3. Februar unterzeichnete der König einen Aufruf, der die jungen Männer
der eximirten Klaſſen aufforderte, als freiwillige Jäger in das Heer ein-
zutreten. Schon Tags darauf legte Scharnhorſt den Operationsplan vor
für die preußiſch-ruſſiſche Armee. Am 9. folgte das Edict, das für die
Dauer dieſes Krieges alle Befreiungen von der Wehrpflicht aufhob.
Wenige Tage ſpäter übergab der General dem getreuen Hippel den eigen-
händig geſchriebenen Entwurf des Landwehrgeſetzes. Unterdeſſen wurde
Kneſebeck aus Wien zurückgerufen; er ſollte, da er über die Pläne der
Hofburg am Genaueſten unterrichtet war, in das ruſſiſche Hauptquartier
gehen und empfing am 8. ſeine neuen Inſtructionen. Am 13. ergingen
die Weiſungen nach Paris, die den offenen Bruch mit Frankreich herbei-
führen mußten: der König verlangte alsbaldige Zahlung der Hälfte ſeiner
Vorſchüſſe und Abzug der Franzoſen über die Elbe; dann ſei er bereit,
einen Waffenſtillſtand zwiſchen Rußland und Frankreich zu vermitteln.
Lehnte Napoleon ab, ſo war der Krieg erklärt.


So bereitete die Krone feſt und umſichtig den Kampf vor. Doch
über ihren letzten Abſichten lag ein unverbrüchliches Geheimniß. Selbſt
die Oberregierungscommiſſion, welche der König unter dem Vorſitze des
Grafen Goltz in Berlin zurückgelaſſen, erfuhr kein Wort von den diplo-
matiſchen Verhandlungen, ſie war angewieſen, mit den franzöſiſchen Mi-
litärbehörden auf freundlichem Fuße zu bleiben. Der ohnehin langſame
Verkehr wurde durch die Truppenzüge der Franzoſen faſt ganz unter-
brochen. In den Provinzen wußte man lange nur das Eine, daß der
König unfrei ſei, von franzöſiſchen Bajonetten umgeben. Wo ſollte das
hinaus? Ward es nicht hohe Zeit, daß die Nation ohne die Krone und
doch für ſie handelte, durch einen heroiſchen Entſchluß den König be-
freite und ſich ſelber zurückgab? Die verzweifelte Frage lag auf Aller
Lippen, nirgends aber ward die quälende Ungewißheit bitterer empfunden,
als in dem treuen Altpreußen. Hier dieſe alten tapferen Grenzenhüter
der Germanen, denen die rothen Mauern ihrer Ordensburgen von den
Wundern einer großen Geſchichte erzählten — ſollten ſie thatlos zu-
ſchauen, wie der Moskowiter den Franzmann verjagte um dann vielleicht
die ſchöne Provinz, die ſchon während des ſiebenjährigen Krieges fünf Jahre
lang unter ruſſiſcher Herrſchaft geſtanden hatte, für immer mit dem
Czarenreiche zu vereinigen? Jedermann fühlte, daß irgend etwas ge-
ſchehen, daß die Provinz ſich durch eigene Kraft die Freiheit verdienen
müſſe. Schon zu Anfang Januars erſchienen einige Mitglieder der
preußiſchen Stände bei dem General Wittgenſtein und erboten ſich, Truppen
auszuheben, die unter Yorks Führung an der Seite der Ruſſen kämpfen
ſollten.


[416]I. 4. Der Befreiungskrieg.

York ſelbſt war in der peinlichſten Lage. Er hatte gehofft, ſein
Abfall würde die Ruſſen zu raſtloſer Verfolgung des Feindes ermuthigen,
den König zu einem raſchen Entſchluſſe hinreißen, überall im deutſchen
Norden den Volkskrieg entzünden. Einige Tage lang gaben ſich ſeine
Truppen den froheſten Hoffnungen hin; in Tilſit, an der äußerſten Oſt-
mark deutſcher Erde, verſprach Oberſt Below ſeinen litthauiſchen Dra-
gonern, er werde ſeinen Säbel nicht niederlegen, bis ſie die Thürme von
Paris geſehen hätten. Aber Wittgenſtein betrieb die Verfolgung ſo ſaum-
ſelig, daß Macdonald ſich in Königsberg mit den übrigen Reſten der
großen Armee vereinigen und dann, wenig beläſtigt, über die Weichſel
zurückgehen konnte. Damit die Bewegung nicht ganz ins Stocken ge-
riethe mußte York ſich zu einem zweiten eigenmächtigen Schritte ent-
ſchließen: am 8. Januar kam er nach Königsberg, übernahm das Com-
mando der Provinz. Unbeſchreiblicher Jubel empfing ihn, aus dem Munde
des Studenten Hans von Auerswald nahm er die feierliche Verſicherung
entgegen, die preußiſche Jugend ſei bereit, für König und Vaterland in
den Tod zu gehen. Die Provinz war des beſten Sinnes voll, zu jedem
Opfer bereit, obgleich ſie furchtbar gelitten und ſoeben noch durch den
Marſch der großen Armee über 33 Millionen Thaler verloren hatte.


Doch was thun ohne die Krone? Dies Volk war monarchiſch bis
in das Mark der Knochen; wer durfte ihm gebieten anders als im
Namen des Königs? Rathlos ſchwirrten die Meinungen und Vorſchläge
durch einander. Einige ſtändiſche Deputirte richteten eine Eingabe an
den König, beſchworen ihn, ſich an Rußland anzuſchließen, den Untergang
des ruhmwürdigen deutſchen Namens zu verhüten; Andere forderten laut,
daß der Landtag ſich eigenmächtig verſammele und die Aushebung der
Landwehr anbefehle. Manchen treuen Beamten quälte die Sorge vor
der Ländergier der Ruſſen, die doch noch Feinde waren alſo nach Völker-
recht ſich des Landes bemächtigen durften. Noch traten ſie überall ſcho-
nend auf; der Ehrgeiz des Czaren war auf Warſchau gerichtet und nichts
lag ihm in jenen Tagen ferner, als ein argliſtiger Anſchlag gegen Alt-
preußen. Als der heißblütige Bärſch in Königsberg einen Aufruf zur Volks-
bewaffnung drucken wollte, verſagte der ruſſiſche Commandant gewiſſenhaft
das Imprimatur: ſolche Aufrufe dürften nur im Namen des Landesherrn
oder ſeiner Beauftragten erlaſſen werden. Aber wie lange konnte dieſe
Schonung währen, wenn Preußen ſich nicht offen für Rußland erklärte?


Präſident Wißmann eilte mit einigen anderen Beamten nach Berlin,
um den Staatskanzler anzuflehen, daß der König um Gotteswillen ein
entſcheidendes Wort ſpreche, ſonſt drohe der Aufruhr oder vielleicht die
ruſſiſche Eroberung. York ſchrieb an Bülow, verſuchte ihn zu bereden,
daß er mit ſeinem Corps gegen die Oder und Elbe aufbreche: „Die
Armee will den Krieg gegen Frankreich. Das Volk will ihn, der König
will ihn, aber der König hat keinen freien Willen. Die Armee muß ihm
[417]Stein in Oſtpreußen.
dieſen Willen frei machen. Erkämpfen, erwerben wollen wir unſere na-
tionale Freiheit. Dieſe Selbſtändigkeit als ein Geſchenk annehmen heißt
die Nation an den Schandpfahl der Erbärmlichkeit ſtellen!“ Indeß be-
gann der eiſerne Mann doch unſicher zu werden, als vom Hofe noch
immer keine Antwort kam und endlich die Berliner Zeitungen die nieder-
ſchmetternde Nachricht brachten, die Convention von Tauroggen ſei durch den
König verworfen, er ſelber des Commandos entſetzt. Der General wagte
gleichwohl den Oberbefehl fortzuführen, da ihm die Abſetzung nicht amtlich
mitgetheilt wurde. Aber die Unkenntniß der wirklichen Abſichten der
Krone quälte und verſtörte das Gemüth des ſtrengen Royaliſten; ſich
auflehnen gegen den Willen des Königs — das hatte er nie gewollt!
Wie ein Miſſethäter ging er umher, von finſteren Ahnungen gepeinigt;
er ſah ſein ehrenreiches Leben in unverdienter Schande ausgehen und
wollte zum Mindeſten nicht die Schuld eines neuen Ungehorſams auf ſich
laden. Darum begnügte er ſich, ſein Corps durch die Cantonpflichtigen
der Provinz zu verſtärken; an ein Maſſenaufgebot dachte er für jetzt nicht
mehr. Ein rührender Anblick — die Rathloſigkeit dieſer Monarchiſten
ohne Monarchen! Das treue Volk lief Gefahr, trotz aller Opfer- und
Thatenluſt eine köſtliche Zeit zu verlieren, wenn ſich der überlegene Wille
nicht fand, der durch einen rettenden Entſchluß vollbrachte und geſtaltete,
was die Tauſende erſehnten und hofften.


Und dieſer mächtige Wille kam mit dem Freiherrn vom Stein. Der
große Patriot hatte ſchon am 16. December aus Petersburg dem Prä-
ſidenten Schoen angekündigt, er hoffe bald mit ſeinem Arndt in Altpreußen
einzutreffen: „jetzt iſt es Zeit, daß ſich Deutſchland erhebe, daß es Frei-
heit und Ehre wieder erringe, daß es beweiſe, wie nicht das Volk, ſon-
dern ſeine Fürſten ſich freiwillig unter das Joch gebeugt haben.“ Nichts
war dem ſtolzen Deutſchen entſetzlicher, als die Vorſtellung, daß ſein
Vaterland durch die Ruſſen befreit werden ſollte. Obwohl er an den
guten Abſichten Alexanders ſelbſt nicht zweifelte, ſo hegte er doch ein
ſtarkes Mißtrauen gegen die Pläne der altruſſiſchen Partei; noch ſpäter-
hin hat er den Staatskanzler dringend gewarnt, ja keine preußiſche
Feſtung den Ruſſen zu öffnen. Als er nun bemerkte, wie das altpreu-
ßiſche Volk ſich in heißer Ungeduld verzehrte, da ließ er ſich von dem
Czaren die Vollmacht ertheilen, die Leitung der Provinzialbehörden zu
übernehmen und die Hilfsquellen des Landes zum Beſten der guten
Sache nutzbar zu machen — das Alles nur vorläufig, bis zum förm-
lichen Abſchluß des preußiſch-ruſſiſchen Bündniſſes. Ausdrücklich wurde
dem Könige mitgetheilt, nicht ein Ruſſe, ſondern einer der getreueſten
preußiſchen Unterthanen erhalte dieſe durch den Drang der Umſtände
gerechtfertigte Vollmacht. Am 21. Januar erſchien Stein in Königsberg,
und augenblicklich veränderte ſich die Lage. Alle tapferen Herzen genaſen
bei dem Anblick des gewaltigen Mannes. Er ſelber fühlte ſich wie in
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 27
[418]I. 4. Der Befreiungskrieg.
einem unbekannten Lande, da er überall nur Treue, Hingebung, Tapfer-
keit, nirgends mehr eine Spur der alten Schlaffheit fand, und ſein ehr-
liches Gemüth bat dem norddeutſchen Volke die ungerechten Vorwürfe
vergangener Tage ab. Er verſicherte beſtimmt, der Zweck der ruſſiſchen
Heere ſei nicht Eroberung, ſondern Wiederherſtellung der Selbſtändigkeit
Deutſchlands und Preußens, doch forderte er ſeine Landsleute auf, „in
Hinſicht der Größe des Zweckes und der Reinheit der Geſinnungen“ über
Formbedenken hinwegzuſehen. Das Land wurde ſofort als thatſächlich
mit Rußland verbündet behandelt, die Oeffnung der Häfen und die Auf-
hebung der Continentalſperre angeordnet, eine Anleihe bei der Kaufmann-
ſchaft der Hafenſtädte aufgenommen, die baare Bezahlung aller Lieferungen
mit ruſſiſchem Papiergelde befohlen.


Zugleich verhandelte Stein mit York, Schoen und den Provinzialbehör-
den über die Anſtalten zur Volksbewaffnung; Clauſewitz, der mit ſeinen
Ruſſen im Lande ſtand, erhielt Befehl, den Entwurf eines Landwehrgeſetzes
auszuarbeiten. Ein Landtag wurde ausgeſchrieben — oder vielmehr nur eine
formloſe „Verſammlung“ der ſtändiſchen Deputirten, da der gewiſſenhafte
Präſident Auerswald Bedenken trug, in die Rechte der Krone einzugreifen.
Schoen lehnte behutſam den Vorſitz ab. Am 5. Februar begannen jene an-
ſpruchsloſen und doch ſo folgenſchweren Verhandlungen des Königsberger
Landtags, mit denen die Colonie des deutſchen Mittelalters dem großen
Vaterlande die Schuld des Dankes hochherzig heimzahlte. Kurz und gut,
nach alter Preußenweiſe ohne Redeprunk und Lärm, ward das Nothwendige
beſchloſſen. Graf Alexander Dohna war der Führer des Adels: der würdige
Mann mochte jetzt an ſich ſelber und ſeiner Provinz lernen, wie ſchwer er
einſt geirrt, da er als Miniſter ſeinen Landsleuten die Fähigkeit zum conſti-
tutionellen Leben abſprach. An der Spitze der Bürgerlichen ſtand der Königs-
berger Bürgermeiſter Heidemann. York ſelbſt erſchien und legte einem
Ausſchuſſe der Stände das Landwehrgeſetz vor, das der Lieblingsſchüler
Scharnhorſts, ſelbſtverſtändlich ganz nach den Ideen des Meiſters, im
Weſentlichen übereinſtimmend mit den Plänen von 1811, entworfen hatte;
und ſo geſchah das Seltſame, daß die Oſtpreußen eigenmächtig die näm-
lichen Gedanken vorausnahmen, welche Scharnhorſt um dieſelbe Zeit in
Breslau für den König niederſchrieb. Nicht in Allem freilich konnten
dieſe wohlmeinenden Vertreter der bürgerlichen Intereſſen an die kühnen
Entwürfe des militäriſchen Organiſators hinanreichen. Auf den Wunſch
der Städte geſtattete der Landtag die Stellvertretung, während gleichzeitig
in Breslau die Aufhebung aller Befreiungen von der Wehrpflicht aus-
geſprochen wurde. Auch ſollte die oſtpreußiſche Landwehr nur eine Pro-
vinzialarmee ſein, ausſchließlich zur unmittelbaren Vertheidigung der Lande
dieſſeits der Weichſel verpflichtet; die Bataillonsführer mußten in der Pro-
vinz angeſeſſen ſein, eine ſtändiſche Generalcommiſſion übernahm die Lei-
tung der geſammten Rüſtungen.


[419]Der Königsberger Landtag.

Ueberhaupt war Scharnhorſts Anſicht, daß die Armee das Volk in
Waffen, eine regelmäßige Schule der Nation ſein ſolle, noch durchaus
nicht in die öffentliche Meinung eingedrungen. In dieſen Krieg, aber
auch nur in dieſen ſollten alle Wehrfähigen hinausziehen, denn er war
heilig, er galt allen höchſten Gütern des Lebens; nach dem Siege jedoch
— das war die natürliche Hoffnung jenes an endloſen Kriegen verekelten
Geſchlechtes — mußte die Nation durch eine weſentliche Verringerung
des Heeres für ihre Opfer belohnt werden. Selbſt Arndt, der ſoeben
im Auftrage Steins ſeine feurige Schrift: „Was bedeutet Landwehr und
Landſturm?“ herausgab, erhob ſich nicht über die allgemeine Anſicht.
Er ſchilderte zwar mit beredten Worten, wie in einer Zeit der Entartung
der Bauer wehrſcheu geworden ſei und nun endlich wieder der alte ger-
maniſche Glaube obenauf komme, „daß ein ganzes Volk waffengerüſtet
und waffengeübt ſein müſſe, wenn es nicht Freiheit, Ehre, Glück, Gut
und Muth verlieren wolle.“ Doch zugleich verwahrte er ſich dawider, daß
man die Landwehr als eine Art Conſcription anſehe: „es iſt blos eine
Einrichtung für den Krieg,“ und ſie wird ermöglichen, daß ſpäterhin viel-
leicht zwei Drittel der ſtehenden Heere aufgehoben werden.


Immerhin blieben die Opfer, welche das ausgeſogene, menſchenarme
Land brachte, ſtaunenswerth. Dieſe eine Provinz von einer Million Ein-
wohnern ſtellte außer 13,000 Mann Reſerve für das York’ſche Corps
noch 20,000 Mann Landwehr, ein trefflich berittenes National-Cavallerie-
regiment und 700 Freiwillige als Stamm für das Offizierscorps. Am
8. Februar, ſobald der Landtag die Landwehrordnung angenommen hatte,
eilte Stein zu dem Czaren zurück; er ſah, daß Alles in guten Händen
lag und wollte nicht einmal den Schein erregen, als ob dieſe preußiſche
Erhebung ein Werk der Ruſſen ſei.


Das alte Ordensland aber hallte wieder vom Klange der Waffen,
wie vor Zeiten, wenn das Kriegsgeſchrei der deutſchen Herren die Grenzer
zur Heidenjagd aufbot. Was nur den Säbel ſchwingen konnte, eilte
herbei; da galt kein Unterſchied des Standes noch des Alters. Alexander
Dohna war der Erſte, der als Gemeiner in die Landwehr eintrat. Die Uni-
verſität ſtand leer, die oberen Klaſſen der Gymnaſien wurden geſchloſſen.
Welch ein Eindruck, als der ehrwürdige Rector Delbrück in Königsberg ſeinen
Primanern, die zu Felde zogen, zum Abſchied Klopſtocks Ode von Herman
und Thusnelda vortrug. Wie oft hatte dies gefühlsſelige Geſchlecht mit
thränenden Augen die überſchwänglichen Verſe von der alten Schlachten-
größe der Germanen gehört; jetzt trat es leibhaftig vor Aller Augen, das
neue Deutſchland, hehrer und herrlicher als des Dichters Traumbild,
aber auch ſtreng und furchtbar, das Höchſte heiſchend von ſeinen Söhnen,
über tauſende junger Leiber ſollte ſein Siegeswagen dahingehen. Das
Alles aber geſchah unter ausdrücklichem Vorbehalt der Genehmigung des
Königs. Nach Abſchluß der Berathungen ſchrieben die Stände dem Mo-
27*
[420]I. 4. Der Befreiungskrieg.
narchen: „Nur was unſer allgeliebter Landesvater will, wollen wir, nur
unter ſeiner erhabenen Leitung Preußens und Deutſchlands Schmach
rächen, für die Selbſtändigkeit unſeres theuren Vaterlandes kriegend ſiegen
oder ſterben.“ Dann beſchworen ſie ihn nochmals, der Begeiſterung ſeines
treuen Volkes freien Lauf zu laſſen: „In dem großen Plane der Vor-
ſehung kann die Vernichtung des preußiſchen Staates nicht liegen. Dieſer
Staat iſt der Welt und der wahren Aufklärung nöthig.“ Mit dieſen
Beſchlüſſen der Altpreußen traf Graf Ludwig Dohna am 21. Februar
in Breslau ein. —


Dort harrte man unterdeſſen in höchſter Spannung auf günſtige Nach-
richten von Kneſebeck, der in Kaliſch mit dem Czaren über das Kriegs-
bündniß verhandelte. Die Abſicht Preußens ging, wie natürlich, auf die
Wiedererlangung ſeiner alten Machtſtellung, auf die Aufhebung des Rhein-
bundes und die Befreiung Deutſchlands bis zum Rheine. Da trat jene
unſelige polniſche Frage, die ſo oft ſchon das gemeinſame Handeln der
drei Oſtmächte verhindert hatte, trennend zwiſchen die Freunde. Der Czar
war zu Allem bereit, nur über das Schickſal des Warſchauer Landes
wollte er vor dem ſiegreichen Ende des Krieges ſich nicht ausſprechen; er
deutete an, ſein Verbündeter könne für den polniſchen Beſitz reiche Ent-
ſchädigung [finden] in den norddeutſchen Rheinbundsſtaaten, etwa in Sachſen,
wenn deſſen König dem franzöſiſchen Bunde treu bliebe.


Alexander ſtand längſt wieder in geheimem Verkehre mit Czartoryski.
Kaum waren die napoleoniſchen Träume des vielgewandten Polen in den
Flammen von Moskau zu nichte geworden, ſo drängte er ſich abermals
an ſeinen kaiſerlichen Freund heran, mit jener glücklichen Unbefangenheit,
die in der langen Schule jeſuitiſcher Erziehung den Helden ſarmatiſcher
Freiheit zur andern Natur geworden iſt, und einigte ſich endlich mit dem
Czaren über die Aufrichtung eines ſelbſtändigen conſtitutionellen Polen-
reichs unter dem Scepter des ruſſiſchen Selbſtherrſchers. Der Czar hoffte
eine Zeit lang, die Polen würden auf ſeinen Ruf ſich ihm freiwillig an-
ſchließen. Aber keine Hand im Lande rührte ſich. Die Maſſe des Volks
hatte in dem raſenden Schickſalswechſel der jüngſten Jahre jeden Willen,
jede Hoffnung verloren. Die deutſchen Einwanderer, die Juden und wer
von den Polen in ruhigem Gewerbfleiße thätig war ſehnten ſich zurück
nach der Ordnung und Rechtsſicherheit des preußiſchen Regiments. Der
größte Theil des Adels blieb im franzöſiſchen Lager, gleich ihm ſein Her-
zog, der König von Sachſen. Dem ruſſiſchen Erbfeinde traute Niemand,
ja man erfuhr bald, daß eine große Verſchwörung gegen die Moskowiter
im Werke ſei. So fiel denn das Herzogthum Warſchau, nach einem
kurzen Kampfe gegen die napoleoniſche Süd-Armee, als erobertes Feindes-
land in Alexanders Hände.


Die Ruſſen betrachteten die Beute bereits als eine neugewonnene
Provinz; Niemand unter ihnen hätte auch nur für möglich gehalten, daß
[421]Kneſebeck in Kaliſch.
die Beſiegten fortan größerer Freiheit genießen ſollten als die Sieger.
Jeder Widerſtand pflegt aber den politiſchen Schwärmer nur in ſeinen
Träumen zu beſtärken. Nach der Geſinnung ſeiner Ruſſen hatte der Czar
niemals viel gefragt; geiſtreiche Ausländer blieben ihm der liebſte Umgang.
Auch das Mißtrauen der Polen beirrte ihn nicht; das überſchwängliche
Glück, das er ihnen zudachte, mußte ihren Starrſinn brechen, wollte er
doch ſogar die längſt mit Rußland vereinigten litthauiſchen Provinzen von
dem Czarenreiche abtrennen und der conſtitutionellen Krone des weißen
Adlers unterwerfen. Grenzenlos erſchien ihm jetzt die Macht ſeines Reiches;
„ich weiß es wohl, ſagte er ſpäter zu ſeiner Rechtfertigung, Rußlands Ueber-
macht beginnt für Europa gefährlich zu werden; um dieſe Gefahr zu be-
ſeitigen will ich Polen zu einem ſelbſtändigen Staate erheben.“ Für jetzt
aber mußten die glänzenden Entwürfe vor aller Welt geheim gehalten
werden. Der polniſche Freund durfte nicht im kaiſerlichen Hauptquartier
erſcheinen; denn „die Kunde von unſeren Plänen“, ſchrieb der Czar, „würde
Oeſterreich und Preußen ſofort in Frankreichs Arme treiben.“


Noch mehrere Monate ſpäter, als die beiden Monarchen ſchon viele
Wochen lang zuſammen im Feldlager geweſen, klagte König Friedrich Wil-
helm, er habe trotz wiederholter Fragen von Alexander niemals etwas Be-
ſtimmtes über ſeine polniſchen Abſichten erfahren können; und der Hanno-
veraner Ompteda, ein ſcharfer Beobachter und gründlicher Kenner der
Höfe, ſchrieb noch zu Ende Juni völlig unbeſorgt: Fürſt Anton Radziwill
und die anderen polniſchen Patrioten, die den Czaren umlagerten, wür-
den ſicherlich eine ſchlechte Aufnahme finden. Das Geheimniß blieb ge-
wahrt. Der preußiſche Hof ahnte vorderhand noch gar nichts von der
drohenden Wiederherſtellung Polens; er konnte aus den Nachrichten über
den Gang der Kaliſcher Verhandlungen nur den Schluß ziehen, der Czar
wünſche einen Theil des Großherzogthums Warſchau dem ruſſiſchen Reiche
einzuverleiben. Er ſtand mithin vor der Frage: ob man den Krieg gegen
Napoleon wagen dürfe auf die Gefahr hin, beim Friedensſchluſſe das Vor-
rücken Rußlands gen Weſten und eine ſchlecht geſicherte deutſche Oſtgrenze
hinnehmen zu müſſen?


Für den ſchlichten Verſtand des Königs war dieſe Frage längſt keine
Frage mehr. Er kannte die polniſche Treue. Danke ſchön; ſchon genug
haben von dieſer Sorte — pflegte er ärgerlich zu ſagen. In dem Augen-
blicke, da man die Deutſchen zur Befreiung des Vaterlandes aufrufen
wollte, durfte eine verſtändige preußiſche Staatskunſt wahrhaftig nicht jenen
unheilvollen ſlaviſchen Beſitz vollſtändig zurück fordern. Jeder Strich nord-
deutſchen Landes, den man gegen Warſchau, Pultusk und Plock eintauſchte,
war ein offenbarer Gewinn für die nationale Politik, die man endlich
wieder aufgenommen. Nur die Landſtriche um Poſen und Gneſen, das
natürliche Verbindungsglied zwiſchen Schleſien und Weſtpreußen, blieben
für Preußen unentbehrlich. Verzichtete man aber auf die Poſition von
[422]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Warſchau, ſo hatte die Frage, wie weit das preußiſche Gebiet ſich oſtwärts
erſtrecken ſollte, nur noch geringe Bedeutung; denn weſtlich von Warſchau
bot weder die Prosna noch die Warthalinie eine geſicherte natürliche Grenze.
Eine Oſtgrenze, welche den preußiſchen Staat zugleich militäriſch geſichert
und vor einer allzu ſtarken Beimiſchung fremdartigen Volksthums be-
wahrt hätte, ließ ſich ſchlechterdings nicht finden. Man mußte den Muth
haben, ſich dieſe unbequeme Wahrheit einzugeſtehen, und man durfte die
militäriſchen Bedenken dann den Erwägungen der nationalen Politik opfern,
wenn die mittleren Weichſellande in Rußlands Hände kamen. Der ruſſiſche
Staat war für Preußen unzweifelhaft ein weniger läſtiger Nachbar als
weiland die polniſche Republik, er war nicht wie dieſe durch uralten Haß
dem preußiſchen Volke verfeindet, nicht wie dieſe durch das Gebot der
Selbſterhaltung gezwungen nach der Eroberung von Altpreußen zu trachten.
Das weite Reich, das ſchon ſo viele andere Häfen beſaß, konnte zur Roth
ohne den Beſitz der Weichſelmündungen beſtehen, wie Deutſchland ohne
das Rheindelta, Oeſterreich ohne die Donaumündung beſtehen kann. Kamen
Warſchau und Maſovien unter Rußlands Herrſchaft, ſo wurden voraus-
ſichtlich die Handelsintereſſen von Altpreußen wie von Ruſſiſch-Polen ſchwer
geſchädigt; dennoch konnte die neue Ländervertheilung dauern, ein leidliches
nachbarliches Verhältniß zwiſchen Preußen und Rußland war nicht un-
möglich. Alle Mißſtände an der Oſtgrenze wurden reichlich aufgewogen,
wenn Preußen auf deutſchem Boden eine wohlgeſicherte Abrundung erlangte.


In der That ſah Hardenberg ein, daß irgend ein Zugeſtändniß an
die ruſſiſchen Wünſche unvermeidlich war, und beauftragte ſeinen Unter-
händler nöthigenfalls das vormalige Neu-Oſtpreußen dem Czaren preis-
zugeben. Oberſt Kneſebeck aber dachte anders, ging eigenmächtig über ſeine
Inſtructionen hinaus. Der gelehrte, vielerfahrene Offizier hatte einſt die
Ideale der Revolution mit Frohlocken begrüßt und war auch in ſpäteren
Jahren keineswegs ſo hart reactionär geſinnt wie man ihm nachſagte; von
den Grundgedanken der alten diplomatiſch-militäriſchen Schule iſt er gleich-
wohl niemals losgekommen. Er ſah nach der Weiſe des achtzehnten Jahr-
hunderts in jeder Nachbarmacht ſchlechtweg den natürlichen Feind des
Nachbars. Wie er im Felde die Landkarte unabläſſig durchforſchte, von
dem Beſitze beherrſchender Plateaus und Bergrücken entſcheidende kriege-
riſche Erfolge erwartete, ſo hatte er ſich auch bei der Lampe ein Bild der
europäiſchen Waage, eine neue allen Forderungen des Gleichgewichts ent-
ſprechende Karte von Europa niedergezeichnet und hielt daran mit doctri-
närem Selbſtgefühle feſt. Ein Jahr darauf ſtellte er*) für die neue Ge-
bietsvertheilung drei leitende Geſichtspunkte auf: „daß der Weſt ſein Ueber-
gewicht verliere, daß das Centrum wieder Gewicht bekomme, und daß der
Oſt nicht in die Fehler des Weſt verfalle.“ Darum muß der preußiſche
[423]Vertrag von Kaliſch.
Staat die Grenzen von 1805 wieder erhalten, ſonſt wird er durch Ruß-
land flankirt und vom Oſt abhängig: „die Eigenſchaften und Verbindungen
der Perſonen können temporell dies etwas mäßigen, aber nie heben.“ Be-
harrlich kam Kneſebeck auf dieſen Lieblingsgedanken zurück; er überſchätzte,
wie faſt alle ſeine Zeitgenoſſen die Aggreſſivkraft des „ruſſiſchen Koloſſes“.
Mit überſchwänglichem Entzücken pries er „die Schriftzüge der Natur, die
auch hier mit mütterlicher Hand für den Schutz ihrer Kinder ſorgte“ und
dem preußiſchen Staate in den Moräſten des Narew ſeine natürliche
Grenze vorgezeichnet hat. Zudem hegte der Oberſt ein tiefes Mißtrauen
gegen Alexander. So hoffnungsvoll er in die geliebte Hofburg gezogen
war, ebenſo argwöhniſch trat er dem Czaren entgegen und hielt ſich ver-
pflichtet den diplomatiſchen Fehler vom Jahre 1806 zu vermeiden: nicht
zum zweiten male ſollte Preußen ein ruſſiſches Bündniß abſchließen ohne
den Freund bindend verpflichtet zu haben. Die Verhandlungen zwiſchen
dem Kaiſer und dem hypochondriſchen, peinlich bedachtſamen, maßlos eitlen
Manne rückten nicht von der Stelle. Während die freiwilligen Jäger
bereits zu den Fahnen ſtrömten und die oſtpreußiſche Landwehr ſich ver-
ſammelte, drohte das kühne Werk der Befreiung Deutſchlands noch vor
dem Beginne zu ſcheitern — weil Kneſebeck am Bug und Narew die
Schriftzüge der mütterlichen Natur entdeckt hatte.


Die Lage war um ſo ernſter, da im ruſſiſchen Hauptquartiere außer
dem Czaren faſt Niemand den deutſchen Krieg ernſtlich wollte. Die ruſſi-
ſchen Generale, vor Allen der beſchränkte alte Kutuſow, ſchwelgten in
übermüthigem Selbſtgefühl; ſie ſchrieben die großen Erfolge, die man zu-
meiſt den Fehlern Napoleons verdankte, allein der Ueberlegenheit der
ruſſiſchen Waffen zu und hielten den Krieg für beendigt. Vor einem
neuen Angriffe des gedemüthigten Frankreichs glaubte man ſicher zu ſein;
Warſchau und vielleicht auch Altpreußen mußten dem ruſſiſchen Sieger
von ſelbſt zufallen. Ging der preußiſche Hof dem Czaren nicht um einige
Schritte entgegen, ſo kam das Bündniß nicht zu Stande, und Deutſch-
lands Hoffnungen fielen nochmals zu Boden.


Endlich verlor Alexander die Geduld und ſendete den Elſaſſer
Freiherrn von Anſtett, einen ſeiner rührigſten Diplomaten, nach Breslau
um mit dem Könige ſelbſt zu verhandeln. Er rechnete auf das richtige
Gefühl ſeines Freundes, und die Hoffnung trog ihn nicht. Auch Har-
denberg fand es thöricht, über das Fell des noch nicht erlegten Bären
allzu heftig zu ſtreiten. Die Generale vollends verlangten raſchen Ab-
ſchluß; Scharnhorſt ſagte zu Hippel in ſeiner großen Weiſe: „unſere Auf-
gabe iſt den Sieg zu ſichern, über die Vertheilung der Beute wird der
Friedenscongreß entſcheiden.“ Der König nahm die Vorſchläge Alexanders
ohne jede Aenderung an; Scharnhorſt ging mit dem günſtigen Beſcheide
nach Kaliſch, und am 28. Februar kam der Bundesvertrag zu Stande.
Der Czar verpflichtete ſich die Waffen nicht niederzulegen bis Preußen
[424]I. 4. Der Befreiungskrieg.
die Macht, welche es vor dem Kriege von 1806 beſaß, wieder erlangt
habe; er verbürgte ſeinem Verbündeten den Beſitz Altpreußens ſowie der
polniſchen Landſtriche, welche die Verbindung zwiſchen Schleſien und Weſt-
preußen bildeten; er verſprach endlich, daß die in Norddeutſchland zu er-
wartenden Eroberungen, mit Ausnahme der Beſitzungen des Hauſes
Hannover, zur Entſchädigung Preußens, zur Bildung eines abgerundeten
und zuſammenhängenden preußiſchen Staatsgebietes verwendet werden
ſollten. In einem zärtlichen Briefe dankte Alexander ſeinem Freunde:
er habe, ſchrieb er, an dieſer ſchnellen und offenen Art das Herz des
Königs erkannt.


Der Kaliſcher Vertrag war durch die Lage der Dinge vollkommen
gerechtfertigt; um einen geringeren Preis ließ ſich Rußlands Hilfe nicht
erlangen. Wie Cavour das Nothwendige that als er Savoyen und Nizza
preisgab für die Befreiung Oberitaliens, ebenſo und mit weit beſſerem
Rechte opferte in ähnlicher Lage König Friedrich Wilhelm der Befreiung
Deutſchlands einen Theil ſeiner polniſchen Anſprüche, die er ſelbſt als
eine Laſt für Preußen anſah. Er gewann dafür jenes weſtliche Stück
Polens, deſſen ſein Staat nicht entbehren konnte, und eine feſte Zuſage
vollſtändiger Entſchädigung in Deutſchland — ein Verſprechen das Czar
Alexander ritterlich gehalten hat. Daß der Vertrag weder die künftige
Oſtgrenze noch die norddeutſchen Entſchädigungslande beſtimmt bezeichnete,
war für Preußen ſehr nachtheilig, aber ganz unvermeidlich; wer wußte
denn in jenem Augenblicke, welche Lande das gute Schwert der Verbün-
deten erobern würde? Um Preußen nicht allein mit unſicheren Hoffnun-
gen abzuſpeiſen, wurde nachher zwiſchen den beiden Verbündeten der
Grundſatz mündlich vereinbart und auch thatſächlich ausgeführt, daß alle
altpreußiſchen Gebiete in Deutſchland, die man zurück eroberte, ſofort
wieder unter preußiſche Verwaltung geſtellt werden ſollten.


Aus dem Kaliſcher Bunde erwuchs eine ſehr feſte Intereſſengemein-
ſchaft der beiden Höfe. Je weiter die Waffen der Verbündeten weſtwärts
drangen, je mehr deutſches Gebiet zur Entſchädigung Preußens frei ward,
um ſo gewiſſer mußte Rußland ſeine polniſchen Anſprüche ſteigern; das
ließ ſich nach den Ueberlieferungen der ruſſiſchen Politik nicht anders er-
warten und billigerweiſe auch nicht tadeln, nach einem Siegeszuge, der
die Fahnen Rußlands von der Moskwa bis zum Rheine führte. Nicht
allein die beredten Mahnungen des Freiherrn vom Stein — wie hoch
man auch ihren Einfluß auf Alexanders erregbaren Sinn anſchlagen
mag — auch nicht allein die ſtolzen Träume der Weltbefreiung, ſondern
zu allermeiſt ſeine polniſchen Pläne beſtimmten den Czaren, den deutſchen
Krieg mit Nachdruck zu führen: er kämpfte am Rhein für ſeine polniſche
Eroberung, wurde durch ſein eigenſtes Intereſſe ein treuer Verbündeter
der deutſchen Patrioten. Der faule Fleck des Kaliſcher Vertrages lag
allein in jenen Plänen der Wiederherſtellung Polens, welche der Czar
[425]Folgen des Kaliſcher Vertrags.
ſeinem preußiſchen Freunde beharrlich verſchwieg. Dieſe Hinterhaltigkeit
Alexanders erſcheint nicht nur ſehr häßlich neben der treuherzigen Offen-
heit Friedrich Wilhelms; ſie erwies ſich auch bald als ein politiſcher
Fehler, denn ſie erſchütterte, als das Geheimniß endlich an den Tag kam,
das Vertrauen zwiſchen den beiden Mächten, brachte das preußiſch-ruſſiſche
Bündniß eine Zeit lang ins Schwanken.


Die Lage Preußens blieb freilich nach wie vor dem Vertrage ſehr
unſicher. Der Czar eilte das Herzogthum Warſchau ganz in Beſitz zu
nehmen. Preußiſche Ingenieure und Batterien wirkten mit bei der Be-
lagerung von Thorn und Modlin; dieſer polniſche Feſtungskrieg ſchwächte
die für die Feldarmee verfügbaren Streitkräfte und hat, wie die preußi-
ſchen Offiziere zornig bemerkten, weſentlich dazu beigetragen, daß der
Frühjahrsfeldzug in Sachſen verloren ging. Alſo brachte Preußen harte
Opfer für die Eroberung Polens und ſah dann ruhig mit an, wie eine
von dem Czaren eingeſetzte proviſoriſche Regierung die Verwaltung des
geſammten Herzogthums leitete. Die Ruſſen waren ihrer Beute ſicher,
Preußen konnte nur auf die Zukunft hoffen. Ueber Deutſchlands künftige
Verfaſſung ging man vorläufig mit Stillſchweigen hinweg, da Alexander
bereits wußte, daß weder Oeſterreich noch England noch Schweden mit
Hardenbergs dualiſtiſchen Plänen einverſtanden war. Auch die Beſtim-
mungen des Vertrags über die militäriſchen Leiſtungen der Verbündeten
brachten dem preußiſchen Staate ſchweren Nachtheil. Die Regierung
konnte im Februar ſelbſt noch nicht überſehen, welche gewaltigen Streit-
kräfte der unvergleichliche Opfermuth der Nation entfalten würde; ſie war
hochherzig entſchloſſen das Größte zu thun, wollte aber nicht mehr ver-
ſprechen als was ſie ſicher leiſten könnte. Czar Alexander dagegen ſchätzte
ſeine Feldarmee faſt auf das Vierfache ihrer augenblicklichen Stärke, theils
weil er als die führende Macht der Coalition erſcheinen wollte, theils
weil er im Rauſche ſeines Caeſarenſtolzes ſich ſelber täuſchte; man weiß
bei ihm niemals recht, wo der Selbſtbetrug aufhört und der Betrug be-
ginnt. Freund und Feind glaubte noch ſeinen Uebertreibungen; zu An-
fang Februars, in einer Unterredung mit Kneſebeck, rechnete Metternich,
Preußen werde wohl die 150,000 Ruſſen durch 50 oder 60,000 Mann ver-
ſtärken können. Die Kaliſcher Vereinbarung verpflichtete Rußland 150,000
Mann, Preußen 80,000 Mann ins Feld zu ſtellen. Die wirklichen Streit-
kräfte der beiden Verbündeten aber ſtanden lange im umgekehrten Verhält-
niß; Preußen leiſtete von vornherein weit mehr als der Vertrag bedang, Ruß-
lands Feldarmee erreichte erſt gegen den Herbſt die vertragsmäßige Stärke.
Hardenberg legte beim Abſchluß der Verhandlung geringen Werth auf jene
Ziffern, doch ſie bildeten bei den ſpäteren Verträgen mit England den
Maßſtab für die Subſidien; ſie wurden alſo für die ohnedies zerrütteten
Finanzen Preußens ſehr ſchädlich und ſie erregten in der diplomatiſchen
Welt den Glauben, als ob Preußen nur die Hilfsmacht Rußlands ſei.


[426]I. 4. Der Befreiungskrieg.

Allerhand geringfügige Umſtände haben dieſen ſchlimmen Schein ge-
fördert. Das ruſſiſche Heer glänzte von jeher durch eine Ueberzahl mit
Orden beladener Generale; das verarmte Preußen ließ ſeine Brigaden
durch Oberſten, ſeine Regimenter durch Majore führen; daher fiel, wenn
ein Zuſammenwirken der Alliirten nöthig ward, der Oberbefehl faſt immer
in ruſſiſche Hände. Auch die ſchüchterne Zurückhaltung des Königs, der
ſo willig neben der glänzenden Erſcheinung des Czaren verſchwand, ja
ſelbſt ſeine edle ſoldatiſche Einfachheit war für Preußens diplomatiſche
Stellung nachtheilig. Welch ein Abſtand, wenn man den leichten Halb-
wagen des Königs mit kleinem Gefolge daherrollen ſah, und nachher den
ungeheuren Wagentroß des Czaren oder gar die vielen Tauſende von Maul-
eſeln, welche das Gepäck des Kaiſers Franz mitſammt dem berüchtigten
k. k. Leib-Grenadier-Streichquartett ſchleppten! Der Staat, in deſſen
Heere die ſittliche Kraft des großen Krieges lag, erſchien vor den Augen
der Diplomatie wie eine Macht zweiten Ranges neben den beiden Kaiſer-
höfen, und in den verwickelten Verhältniſſen eines Coalitionskrieges iſt
der Schein der Macht faſt ebenſo werthvoll wie die Macht ſelber. —


Es war die höchſte Zeit, daß die Ungewißheit ein Ende nahm. Wäh-
rend Kneſebeck in Kaliſch zauderte, geriethen die zwiſchen den kriegführen-
den Parteien eingeklemmten preußiſchen Generale aus einer falſchen Stel-
lung in die andere. Die Ruſſen drangen weſtwärts vor, ſehr langſam
freilich, da ſich die Unzulänglichkeit ihrer Streitkräfte mit jedem Tage
deutlicher herausſtellte. Erſt zu Anfang Februars erſchienen die erſten
Koſaken in der Neumark. Ueberall nahm das Volk die wildfremden
Bundesgenoſſen mit offenen Armen auf. Welcher Jubel, wenn der Baſch-
kire ſeinen Bogen und ſeine Pfeile betaſten ließ, wenn der bärtige Koſak,
den Mantel behangen mit Ehrenlegionskreuzen und den Fetzen franzöſi-
ſcher Uniformen, ſeine Reiterkünſte zeigte; glückſelig jeder deutſche Junge,
den die gutmüthigen Kinderfreunde auf ihren Kleppern aufſitzen ließen.
Alle Welt ſang das neue Lied „Schöne Minka, ich muß ſcheiden“, das
ein gefühlvoller Sohn der Steppe am Ufer des blauen Don gedichtet
haben ſollte. Beſorgte Mütter hielten es freilich für nöthig ihre Kleinen,
wenn ſie von den Fremden abgeküßt waren, in die Badewanne zu ſtecken,
und als man mit den diebiſchen Neigungen dieſes Kindervolkes näher
bekannt wurde, erkaltete die Begeiſterung ein wenig.


Mit Sorgen ſah York den Vormarſch der Ruſſen; er fühlte, daß
man die Befreiung der Marken nimmermehr den Fremden allein überlaſſen
durfte, und brach mit ſeinem Corps auf um die Weichſel zu überſchreiten.
Von ähnlichen Zweifeln wurde General Bülow gepeinigt; der hatte ſich
wochenlang geſchickt zwiſchen den Zumuthungen der Ruſſen und der Fran-
zoſen hindurchgewunden, mitten zwiſchen den Kriegführenden ſein Reſerve-
corps verſtärkt und völlig ſelbſtändig erhalten. Flehentlich bat er den
König, das von Allen erſehnte befreiende Wort zu ſprechen: „freiwillig
[427]Ungewißheit in Berlin.
werden die größten Opfer gebracht werden und Quellen werden ſich öffnen,
die man längſt verſiegt glaubte!“ Als immer noch keine beſtimmte Ant-
wort erfolgte, entſchloß er ſich endlich auf eigene Fauſt zu handeln, ver-
abredete mit York und Wittgenſtein (22. Febr.) das gemeinſame Vorrücken
gegen die Oder. Auch General Borſtell, ein geſtrenger Mann der alten
militäriſchen Schule und abgeſagter Feind der Scharnhorſtiſchen Refor-
men, begann am Ende einzuſehen, daß der blinde Gehorſam in ſolcher
Lage nicht mehr ausreichte; auch er beſchwor den König: „laſſen Sie uns
los,“ ſchrieb nach England um Geld und Waffen und zeigte ſchließlich
(27. Febr.) dem Monarchen an, er breche jetzt mit ſeinen Pommern in
die Neumark auf um mit York und Bülow vereinigt gegen die Haupt-
ſtadt vorzugehen. In denſelben Tagen kehrte Gneiſenau zur See aus
England heim, hielt ſeinen fröhlichen Einzug in Kolberg, der Wiege ſeines
Ruhms, feſt entſchloſſen die Truppen gradeswegs gegen den Feind zu
führen. Noch nie war die Mannszucht des Heeres auf ſchwerere Proben
geſtellt worden; Alle empfanden es wie eine Erlöſung, als endlich York
aus Breslau den Befehl erhielt ſich an Wittgenſtein anzuſchließen und
bald darauf öffentlich von aller Schuld freigeſprochen wurde. Am 2. März
überſchritt Wittgenſtein die Oder, am 10. folgten die Preußen. Das
Kriegsbündniß trat in Kraft.


Und welcher Wirrwarr unterdeſſen in der Hauptſtadt! Da ſaß noch
immer Goltz mit ſeiner unglücklichen Regierungscommiſſion, noch immer
ohne jede Kenntniß von den Plänen des Staatskanzlers, unabläſſig be-
müht durch ſtrenge Verbote die Zuſammenrottungen und Aufläufe in der
krampfhaft erregten Stadt niederzuhalten. Der ängſtliche Mann wußte
ſich kaum mehr zu helfen als der Aufruf an die freiwilligen Jäger er-
ſchien. Einzelne Vorwitzige fragten wohl: für und gegen wen? Die un-
geheure Mehrzahl durchſchaute ſofort was der König meinte, in dichten
Schaaren drängten ſich die Freiwilligen herbei; der Magiſtrat nahm die
Sammlungen für die unbemittelten Krieger in ſeine Hand; Tauſende
junger Männer gaben den letzten Linientruppen, die aus Berlin nach
Schleſien abzogen, unter kriegeriſchen Geſängen das Geleite. Am 20. Fe-
bruar ſprengte ein kleiner Trupp Koſaken durch die öſtlichen Thore herein.
Mehrere Deutſche hatten ſich angeſchloſſen; Einer davon, der junge Alexan-
der von Blomberg fiel hier als des deutſchen Krieges erſtes Opfer. Mit
Mühe wurden die Maſſen von einem unzeitigen Straßenkampf abgehalten.
Napoleon begann erſt ernſtlich beſorgt zu werden als er von der Bildung
der Jägerdetachements hörte; ſofort befahl er ſeinem Stiefſohne, der den
Oberbefehl im Nordoſten führte, keine weiteren Aushebungen in Preußen
mehr zu dulden: die Stellung in den Marken ſollte mit aller Kraft be-
hauptet, Berlin nöthigenfalls verbrannt werden. In der That war Eugen
Beauharnais noch ſtark genug um den Streitkräften Wittgenſteins und
der drei vereinigten preußiſchen Generale die Spitze zu bieten. Aber den
[428]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Soldaten brannte der Boden unter den Füßen, das dumpfe Getöſe dieſer
grollenden Volksbewegung ſchlug ſie mit Schrecken; ſie rechneten, bald
werde Berlin mehr bewaffnete Preußen zählen als Franzoſen. Am 4. März
räumte der Feind die Hauptſtadt, und die nachſetzenden Ruſſen lieferten
ihm noch am Thore ein Gefecht. Am 11. hielt Wittgenſtein ſeinen Ein-
zug, am 17. ritt der Mann von Tauroggen die Linden entlang, ſtreng
und finſter ſchweifte ſein Blick über die hoch aufjubelnden Maſſen. Am
nämlichen Tage nahm Leutnant Bärſch mit ſeinen Koſaken die Schlüſſel
von Hamburg in Empfang; gleich darauf beſetzte der luſtige Huſar Tet-
tenborn, der unterwegs die mecklenburgiſchen Fürſten zum Anſchluß an
die Coalition bewogen hatte, die alte Hanſeſtadt mit ſeinen leichten Trup-
pen, und das freudetrunkene Volk riß die verfluchten franzöſiſchen Aas-
vögel von den Mauern herunter. Einige Wochen lang blieben die Deut-
ſchen in dem frohen Glauben, die Lande bis zur Elbe ſeien ohne Schwert-
ſtreich befreit.


Den franzöſiſchen Geſandten hielt der Staatskanzler immer noch mit
freundlichen Worten hin; je länger der offene Bruch ſich hinausſchob,
um ſo ſicherer konnte die Ausrüſtung der Linien-Armee vollendet werden.
St. Marſan war dem Hoflager nach Breslau gefolgt und ließ ſich nach
einigen Verwahrungen ſogar über den Aufruf vom 3. Februar beruhigen,
da Hardenberg ihm nachwies, daß der mittelloſe Staat ohne die freiwilli-
gen Opfer ſeiner Bürger nicht beſtehen könne. Er ſah noch mit an, wie
die Schaaren der Freiwilligen aus allen Provinzen in der ſchleſiſchen
Hauptſtadt eintrafen, wie der König, „um der herzerhebenden allgemei-
nen Aeußerung treuer Vaterlandsliebe ein äußeres Kennzeichen“ zu
geben, das Tragen der Nationalkokarde anordnete und dann an Luiſens
Todestage ſeinen alten Plan, die Stiftung des eiſernen Kreuzes, aus-
führte. Der Wohlmeinende wollte nicht glauben, daß dies kleine Preußen
den lächerlich ungleichen Kampf wagen könne, und reiſte erſt ab als mit
dem Einzuge des Czaren in Breslau (15. März) jede Täuſchung unmög-
lich wurde. Noch beim Abſchied beſchwor er den Staatskanzler, dieſen
Fürſten und dies Land, die er lieb gewonnen, nicht ins Verderben zu
ſtürzen; alle dieſe Knaben und Jünglinge würden den König gegen die
Uebermacht ſeines Kaiſers nicht ſchützen. Am 16. März erfolgte die
Kriegserklärung.


Am folgenden Tage unterzeichnete Friedrich Wilhelm das Landwehrge-
ſetz und den „Aufruf an Mein Volk“. Es war die Rückkehr zur Wahrheit
und zum freien Handeln, wie Schleiermacher in einer freudevollen Predigt
ſagte. Das treue Volk athmete auf, da nun endlich jeder Zweifel ſchwand,
die allzu harte Prüfung der Geduld und des Gehorſams vorüber war.
So hatte noch nie ein unumſchränkter Herrſcher zu ſeinem Lande geredet.
Ein Hauch der Freiheit, wie er einſt die äſchyleiſchen Kriegslieder der
Hellenenſöhne erfüllte, wehte durch die ſchlichten, eindringlichen Worte,
[429]Der Aufruf an Mein Volk.
die der geiſtvolle Hippel in guter Stunde entworfen hatte. Mit herz-
lichem Vertrauen rief der König ſeine Brandenburger, Preußen, Schleſier,
Pommern und Litthauer bei ihren alten Stammesnamen an und entbot
ſie zum heiligen Kampfe: „Keinen anderen Ausweg giebt es, als einen
ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch dieſem würdet
Ihr getroſt entgegengehen, weil ehrlos der Preuße und der Deutſche nicht
zu leben vermag!“ Und nun ſtand es auf, das alte waffengewaltige
Preußen, das Volk der Slavenkämpfe, der Schwedenſchlachten und der
ſieben Jahre, und ihm geſchah wie jenem Helden der germaniſchen Sage,
der beim Anblick ſeiner Feſſeln ſo in heißem Zorn entbrannte, daß die
Ketten ſchmolzen. Kein Zweifel, kein Abwägen der Uebermacht des Feindes;
Alle dachten wie Fichte: „Nicht Siegen oder Sterben ſoll unſere Loſung
ſein, ſondern Siegen ſchlechtweg!“ „Mag Napoleon noch ſo oft Schlachten
gewinnen — ſchrieb Scharnhorſt — die ganze Anlage des Krieges iſt
ſo, daß im Verlaufe dieſes Feldzugs uns ſowohl die Ueberlegenheit als
der Sieg nicht entgehen kann.“ Schon der Aufruf vom 3. Februar hatte
Erfolge, welche Niemand außer Scharnhorſt für möglich gehalten. Es
war der ſtolzeſte Augenblick in Scharnhorſts Leben, als er den König
einſt in Breslau ans Fenſter führte und ihm die jubelnden Schaaren
der Freiwilligen zeigte, wie ſie in maleriſchem Gewimmel, zu Fuß, zu Roß,
zu Wagen, ein endloſer Zug, ſich an den alten Giebelhäuſern des Ringes
vorüberdrängten. Dem Könige ſtürzten die Thränen aus den Augen.
Treu und gewiſſenhaft hatte er ſeines ſchweren Amtes gewartet in dieſer
langen Zeit der Leiden und oftmals richtiger gerechnet als die Kriegspartei;
was ihm fehlte, war der frohe Glaube an die Hingebung ſeiner Preußen,
jetzt fand er ihn wieder.


Seit dem 17. März traten auch die breiten Maſſen des Volkes
in das Heer ein. Durch den Wetteifer aller Stände wurde die größte
kriegeriſche Leiſtung möglich, welche die Geſchichte von geſitteten Nationen
kennt. Dies verarmte kleine Volk verſtärkte die 46,000 Mann der alten
Linienarmee durch 95,000 Rekruten und ſtellte außerdem über 10,000 frei-
willige Jäger, ſowie 120,000 Mann Landwehr, zuſammen 271,000 Mann,
einen Soldaten auf ſiebzehn Einwohner, unvergleichlich mehr, als Frank-
reich einſt unter dem Drucke der Schreckensherrſchaft aufgeboten hatte —
das Alles noch im Verlaufe des Sommers, ungerechnet die ſtarken Nach-
ſchübe, welche ſpäterhin zum Heere abgingen. Natürlich, daß die ent-
laſſenen Offiziere ſich ſofort herbeidrängten, um die Ehre ihrer alten
Fahnen wiederherzuſtellen. Sobald General Oppen auf ſeinem mär-
kiſchen Landgute von dem Anrücken des vaterländiſchen Heeres hörte, nahm
er ſeinen alten Säbel von der Wand und ritt, wie ein Rittersmann in
den Tagen der Wendenkriege, mit einem Knechte ſpornſtreichs hinüber
zu ſeinem alten Waffengefährten Bülow. Der ſtellt den herculiſchen
Mann mit den blitzenden Augen lachend ſeinen Offizieren vor: „Das
[430]I. 4. Der Befreiungskrieg.
iſt Einer, der das Einhauen verſteht“ — überträgt ihm den Befehl über
die Reiterei, und einmal bei der Arbeit, bleibt der Wildfang fröhlich da-
bei, ein unerſättlicher Streiter, bis zum Einzuge in Paris.


Neben den alten Soldaten empfand die gebildete Jugend den Ernſt
der Zeit am Lebhafteſten; in ihr glühte die ſchwärmeriſche Sehnſucht
nach dem freien und einigen deutſchen Vaterlande. Kein Student, der
irgend die Waffen ſchwingen konnte, blieb daheim; vom Katheder hinweg
führte Profeſſor Steffens nach herzlicher Anſprache ſeine geſammte Hörer-
ſchaft zum Werbeplatze der freiwilligen Jäger. Der König rief auch ſeine
verlorenen alten Provinzen zu den Fahnen: „Auch Ihr ſeid von dem
Augenblicke, wo mein treues Volk die Waffen ergriff, nicht mehr an den
erzwungenen Eid gebunden.“ Da aber eine Maſſenerhebung in den un-
glücklichen Landen vorerſt noch ganz unmöglich war, ſo eilten mindeſtens
die Oſtfrieſen und Markaner von der Göttinger Univerſität zu den preu-
ßiſchen Regimentern, desgleichen die geſammte Studentenſchaft aus dem
treuen Halle, das unter weſtphäliſcher Herrſchaft die Erinnerungen an den
alten Deſſauer und die gute preußiſche Zeit nicht vergeſſen hatte. Derſelbe
Geiſt lebte in den Schulen. Aus Berlin allein ſtellten ſich 370 Gymna-
ſiaſten. Mancher ſchwächliche Junge irrte betrübt, immer wieder abgewieſen,
von einem Regimente zum andern, und glücklich wer, wie der junge Vogel
von Falkenſtein, zuletzt doch noch von einem nachſichtigen Commandeur
angenommen wurde. Die Beamten meldeten ſich ſo zahlreich zum Waffen-
dienſte, daß der König durch ein Verbot den Gerichten und Regierungen
die unentbehrlichen Arbeitskräfte ſichern mußte; in Pommern waren die
königlichen Behörden während des Sommers nahezu verſchwunden, jeder
Kreis und jedes Dorf regierte ſich ſelber, wohl oder übel.


Aber auch der geringe Mann hatte in Noth und Plagen die Liebe
zum Vaterlande wiedergefunden: ſtürmiſch, wie nie mehr ſeit den Zeiten
der Religionskriege, war die Seele des Volkes bewegt von den großen
Leidenſchaften des öffentlichen Lebens. Der Bauer verließ den Hof, der
Handwerker die Werkſtatt, raſch entſchloſſen, als verſtünde ſichs von ſelber:
die Zeit war erfüllet, es mußte ſein. War doch auch der König mit allen
ſeinen Prinzen ins Feldlager gegangen. In tauſend rührenden Zügen
bekundete ſich die Treue der kleinen Leute. Arme Bergknappen in
Schleſien arbeiteten wochenlang unentgeltlich, um mit dem Lohne einige
Kameraden für das Heer auszurüſten; ein pommerſcher Schäfer verkaufte
die kleine Heerde, ſeine einzige Habe, und ging dann wohlbewaffnet zu
ſeinem Regimente. Mit Verwunderung ſah das alte Geſchlecht alle jene
herzerſchütternden Auftritte, woran der Ernſt der allgemeinen Wehrpflicht
uns Nachlebende längſt gewöhnt hat: Hunderte von Brautpaaren traten
vor den Altar und ſchloſſen den Bund für das Leben, einen Augenblick
bevor der junge Gatte in Kampf und Tod hinauszog. Nur die Polen
in Weſtpreußen und Oberſchleſien theilten die Hingebung der Deutſchen
[431]Die Volkserhebung.
nicht; auch in einzelnen Städten, die bisher vom Heerdienſte frei geweſen,
ſtießen die neuen Geſetze auf Widerſtand. Das deutſche und litthauiſche
Landvolk der alten Provinzen dagegen war ſeit dem geſtrengen Friedrich
Wilhelm I. mit der Wehrpflicht vertraut. Zugleich wurden überall öffent-
liche Sammlungen veranſtaltet, wie ſie bisher nur für wohlthätige Zwecke
üblich waren: dies arme Viertel der deutſchen Nation brachte mit der
Blüthe ſeiner männlichen Jugend auch die letzten kargen Reſte ſeines
Wohlſtandes zum Opfer für die Wiederauferſtehung des Vaterlandes.
Von baarem Gelde war wenig vorhanden, aber was ſich noch auftreiben
ließ von altem Schmuck und Geſchmeide ging dahin. In manchen
Strichen der alten Provinzen galt es nach dem Kriege als eine Schande,
wenn ein Haushalt noch Silberzeug beſaß. Kleine Leute trugen ihre
Trauringe in die Münze, empfingen eiſerne zurück mit der Inſchrift:
„Gold für Eiſen;“ manches arme Mädchen gab ihr reiches Lockenhaar
als Opfer.


Eine wunderbare, andächtige Stille lag über dem in allen ſeinen
Tiefen aufgeregten Volke. Den Lärm der Preſſe und der Vereine kannte
die Zeit noch nicht; aber auch im vertrauten Kreiſe wurde ſelten eine
prahleriſche Rede laut. In den Tagen ihres häuslichen Stilllebens hatten
die Deutſchen gern überſchwänglichen Ausdruck an nichtigen Gegenſtand
verſchwendet; jetzt ward das Leben ſelber reich und ernſt, Jeder empfand
die Größe der That, die Armuth des Wortes. Jeder fühlte, wie Niebuhr
geſtand, ſtill „die Seligkeit, mit ſeinem ganzen Volke, den Gelehrten und
den Einfältigen, daſſelbe Gefühl zu theilen“, und Allen ward „liebend,
friedlich und ſtark zu Muthe“. Recht nach dem Herzen ſeines Volkes
hatte Friedrich Wilhelms frommer Sinn den Wahlſpruch „mit Gott für
König und Vaterland“ der Landwehr gegeben und angeordnet, daß die
ausgehobenen Wehrmänner vom Sammelplatze ſogleich zu einer kirch-
lichen Feier geführt wurden. In jeder Kirche des Landes ſollte eine
Gedächtnißtafel die Namen der ruhmvoll gefallenen Söhne der Gemeinde
bewahren. Schwer hatte die Hand des lebendigen Gottes auf den Bil-
dungsſtolzen gelaſtet; ergeben und erhoben blickte dies neue Geſchlecht
wieder mit feſtem Vertrauen zu „dem alten deutſchen Gott“ empor und
hoffte mit ſeinem Dichter:


Wer fällt, der kanns verſchmerzen,

Der hat das Himmelreich.

Als die erſten Freiwilligen nach Breslau zogen, ſangen ſie noch das
Reiterlied der Wallenſteiner. Bald aber ſchuf ſich das Heer ſeine eigenen
Geſänge. Unverſieglich wie einſt den frommen Landsknechten floß den
neuen Wehrmännern der Quell der Lieder. Beim Ausmarſch klang es:
„Die Preußen haben Alarm geſchlagen!“ und dann ſchlang ſich ein
dichter Kranz kunſtloſer Volksweiſen um jedes Erlebniß des langen Krieges,
[432]I. 4. Der Befreiungskrieg.
bis zuletzt der fröhliche Zapfenſtreich: „Die Preußen haben Paris genom-
men!“ noch einmal ein Zeugniß gab von der kriegsmuthigen und doch
zugleich tief innerlich friedfertigen Stimmung dieſes Volkes in Waffen.


Alsbald ward es auch auf den Höhen des deutſchen Parnaſſes le-
bendig. Nur der alte Goethe wollte ſich zu der neuen Zeit kein Herz
faſſen; verſtimmt und hoffnungslos zog er ſich von dem kriegeriſchen
Treiben zurück und meinte: „Schüttelt nur an Euren Ketten; der Mann
iſt Euch zu groß!“ Doch wer ſonſt im Norden dichteriſches Feuer in
den Adern fühlte, jauchzte auf „beim Anbruch ſeines Vaterlandes“, wie
Fichte ſagte. Was politiſch gereifte Völker in der Preſſe, in Reden und
publiciſtiſchen Abhandlungen ausſprechen, gewann in dieſem Geſchlechte,
dem die Dichtung noch immer die Krone des Lebens war, ſofort poetiſche
Geſtalt; und ſo entſtand die ſchönſte politiſche Poeſie, deren irgend ein
Volk ſich rühmen kann — eine Reihe von Gedichten, an denen wir
Nachkommen uns verſündigen würden, wenn wir dies Vermächtniß einer
Heldenzeit jemals blos mit äſthetiſchen Blicken betrachteten. An Kleiſts
mächtige Geſtaltungskraft reichten die Dichter des Befreiungskrieges nicht
heran; wer aber in der Poeſie den Herzenskündiger der Nationen ſieht,
wendet ſich gleichwohl von jenen dämoniſchen Klängen des Haſſes auf-
athmend hinweg zu den hellen und friſchen Liedern, welche die Freude
des offenen Kampfes gebar. Welch ein Segen doch für unſer Volk,
daß ſein gepreßtes Herz wieder froh aufjubeln durfte, daß nach langem,
dumpfem Harren und Grollen wieder der Eidſchwur freier Männer zum
Himmel ſtieg:


Und hebt die Herzen himmelan

Und himmelan die Hände,

Und ſchwöret Alle, Mann für Mann:

Die Knechtſchaft hat ein Ende!

Freudig wie die Signale der Flügelhörner tönten Fouqués Verſe:
„Friſchauf zum fröhlichen Jagen!“ — und in Arndts Liede: „Was blaſen
die Trompeten? Huſaren heraus!“ klang das ſchmetternde Marſch! Marſch!
der deutſchen Reiter wieder. Keiner hat den Sinn und Ton jener
ſchwärmeriſchen Jugend glücklicher getroffen als der ritterliche Jüngling
mit der Leier und dem Schwerte, Theodor Körner. Jetzt zeigte ſich erſt
ganz, was Schillers Muſe den Deutſchen war. Ihr hohes ſittliches
Pathos ſetzte ſich um in patriotiſche Leidenſchaft, ihre ſchwungvolle Rhe-
torik ward das natürliche Vorbild für die Jünglingspoeſie dieſes Krieges.
Der Sohn von Schillers Herzensfreunde erſchien dem jungen Geſchlechte
als der Erbe des großen Dichters — wie er ſo ſiegesfroh mit den
Lützower Jägern in den Kampf hinausritt, ganz durchglüht von deut-
ſchem Freiheitsmuthe, ganz unberührt von den kleinen Sorgen des Lebens,
wie er auf jeder Raſt und jeder Beiwacht ſeine feurigen Lieder von der
Herrlichkeit des Krieges dichtete und endlich, den Sang von der Eiſen-
[433]Die patriotiſche Dichtung.
braut noch auf den Lippen, durch einen tapferen Reitertod den heiligen
Ernſt ſeiner Reden bezeugte — in Wort und That ein rechter Vertreter
jener warmherzigen Männlichkeit, welche die begabten Oberſachſen aus-
zeichnet, wenn ſie ſich nur erſt losgeriſſen haben aus der zahmen Schüch-
ternheit ihres heimathlichen Lebens.


Friſchauf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!

Hell aus dem Norden bricht der Freiheit Licht —

mit dieſen Worten hat Körner ſelbſt den Urſprung und Charakter der
großen Bewegung geſchildert. Sie blieb durchaus auf den deutſchen
Norden beſchränkt. Wohl war die Lützow’ſche Freiſchaar ausdrücklich zur
Aufnahme von Nicht-Preußen beſtimmt, in ihr ſollte ſich der Gedanke
der Einheit Deutſchlands verkörpern. Mancher junge Mann aus den
Kleinſtaaten meldete ſich im „Scepter“ zu Breslau, wo die Lützower ihren
Werbeplatz aufgeſchlagen hatten; auch zwei ſüddeutſche Poeten, Rückert
und Uhland, ſtimmten mit ein in den lauten Chor der patriotiſchen Dich-
tung. Die Maſſe des Volkes jedoch außerhalb Preußens empfand von dem
Heldenzorne dieſes Krieges wenig. Steins Hoffnungen auf eine ein-
müthige Erhebung der Nation erwieſen ſich als irrig. Nur in den vor-
mals preußiſchen Provinzen und in einzelnen, unmittelbar von den Na-
poleoniden beherrſchten Strichen des Nordweſtens ſtand das Volk frei-
willig auf, ſobald die Heerſäulen der Befreier nahten; überall ſonſt
erwartete man geduldig den Befehl des Landesherrn und die Macht der
vollendeten Thatſachen. Die Mecklenburger Herzöge ſchloſſen ſich den
altbefreundeten preußiſchen Nachbarn an; ein weimariſches Bataillon ließ
ſich gleich beim Anbruche des Krieges von den Preußen gefangen nehmen,
um nachher, wie die tapferen Strelitzer Huſaren, in das York’ſche Corps
einzutreten. Alle anderen Rheinbündner folgten dem Befehle des Pro-
tectors, die meiſten noch mit dem ganzen Feuereifer napoleoniſcher Lands-
knechtsgeſinnung. Der deutſche Befreiungskrieg war in ſeiner erſten,
ſchwereren Hälfte ein Kampf Preußens gegen die von Frankreich beherrſchten
drei Viertel der deutſchen Nation.


Wie einſt der Beginn der modernen deutſchen Staatenbildung, ſo
ging auch die Wiederherſtellung der nationalen Unabhängigkeit allein vom
Norden aus. Die neuen politiſchen und ſittlichen Ideale der erregten
Jugend trugen das Gepräge norddeutſcher Bildung; der alte deutſche
Gott, zu dem ſie betete, war der Gott der Proteſtanten, all ihr Thun
und Denken ruhte, bewußt oder unbewußt, auf dem ſittlichen Grunde
der ſtrengen Kantiſchen Pflichtenlehre. Es wurde folgenreich für lange
Jahrzehnte der deutſchen Geſchichte, daß doch nur die norddeutſchen
Stämme wirklichen Antheil hatten an den ſchönſten Erinnerungen dieſes
neuen Deutſchlands, während der Süden erſt zwei Menſchenalter ſpäter
des Glückes theilhaftig ward, für das große Vaterland zu kämpfen und
zu ſiegen.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 28
[434]I. 4. Der Befreiungskrieg.

Bald genug zeigte ſich die prophetiſche Wahrheit, die in den harten
Worten Fichtes lag: „Auch im Kriege wird ein Volk zum Volke; wer
dieſen Krieg nicht mitführt, kann durch kein Decret dem deutſchen
Volke einverleibt werden.“ Das neue Preußen, ſein Staat und ſein
Heer, hatte ſich gebildet im bewußten Gegenſatze zu allem ausländiſchen
Weſen; die Staaten des Südens verdankten der Herrſchaft Frankreichs
ihr Daſein, ihre Inſtitutionen, ihre militäriſchen Erinnerungen; darum
war im Norden die Liebe zum Vaterlande ein ſtarkes, ſicheres nationales
Gefühl, während im Süden die franzöſiſchen Ideen noch lange vorherrſch-
ten und der Name Deutſchland nur ein leeres Wort blieb. Wohl ſchlug
ſich der kurmärkiſche Bauer und der ſchleſiſche Weber nur für Weib und
Kind und für ſeinen angeſtammten König; aber die Blücher, York und
Bülow, die er als ſeine Preußenhelden ehrte, waren doch wirklich die Helden
des neuen Deutſchlands. Der ſüddeutſche Landmann wußte nichts von ihnen.
Und etwas von den deutſch-patriotiſchen Gedanken, welche die bewaffnete
Jugend der gebildeten Stände erfüllten, drang doch allmählich bis in die
niederen Schichten des preußiſchen Volkes herab. Jener demokratiſche
Zug, der ſeit der Befeſtigung der abſoluten Monarchie im preußiſchen
Staate lebendig war, verſtärkte ſich mächtig während dieſes Krieges. Wie
vormals die gemeinſame Freude an den Werken der deutſchen Dichtung
die Unterſchiede der Stände etwas ausgeglichen hatte, ſo fanden ſich jetzt
alle Klaſſen zuſammen in der ungleich wirkſameren Gemeinſchaft poli-
tiſcher Pflichterfüllung. Die Geſchäfte der Landwehr-Ausſchüſſe, die Uebun-
gen des Landſturms, die öffentlichen Sammlungen und die Liebesarbeit
in den Hoſpitälern brachten auch die Daheimgebliebenen einander näher;
der ſchroffe Junker lernte mit den Bürgersleuten der Kreisſtadt freund-
nachbarlich zu verkehren; wer in dieſer Zeit ſich hervorgethan, blieb ſein
Leben lang ein geachteter Mann.


Vollends das Heer verwuchs zu einer großen Gemeinde, und nach
dem Frieden lebte die alte treue Waffenbrüderſchaft in den Vereinen und
Feſten der Kameraden fort. Das eigenthümliche ſcharfe und ſchneidige
Weſen der fridericianiſchen Armee blieb erhalten, desgleichen das ſtolze
Gefühl ariſtokratiſcher Standesehre unter den Offizieren. Aber die alten
Berufsſoldaten mußten ſich gewöhnen mit den gebildeten jungen Mann-
ſchaften ruhig und freundlich umzugehen. Grade die Beſten unter ihnen
erkannten willig an, wie viel geſunde Kraft dem Offizierscorps aus den
Reihen der freiwilligen Jäger zuſtrömte; mit herzlicher Freude lobte Gnei-
ſenau die jungen Freiwilligen: „es wird mir ſchwer mich der Thränen
zu enthalten, wenn ich dieſen Edelmuth, dieſen hohen deutſchen Sinn ge-
wahr werde.“ Da die Hauptmaſſe der Freiwilligen aus Studenten und
ſtudirten Leuten beſtand, ſo behauptete der jugendliche Ton akademiſcher
Fröhlichkeit auch im Feldlager ſein Recht, nur daß er ſich der ſtrengen
Mannszucht fügen mußte. Wie oft haben die Lützower Jäger den Landes-
[435]Norddeutſcher Charakter der Bewegung.
vater geſungen; das alte Lied war ihnen jetzt doppelt theuer, da ſie in
vollem, heiligem Ernſt ihr gutes Schwert zum Hüter weihten für das
Vaterland, das Land des Ruhmes. Die jungen Freiwilligen wurden
wirklich, wie Scharnhorſt vorausgeſagt, die beſten Soldaten; die Haltung
der geſammten Mannſchaft ward freier und geſitteter durch den Verkehr
mit den gebildeten jungen Männern. Auch der rohe Bauerburſch lernte
einige von den ſchwungvollen Liedern der Freiwilligen. Als dann die Zeit
der Siege kam und die Preußen immer wieder in befreite deutſche Städte
ihren jubelnden Einzug hielten, als endlich der deutſche Rhein zu den
Füßen der Sieger lag, da ahnte ſelbſt der geringe Mann, daß er nicht
blos für ſeine heimathliche Hofſtatt focht. Der Gedanke des Vaterlandes
ward lebendig in den tapferen Herzen, die Preußen fühlten ſich ſtolz
als die Vorkämpfer Deutſchlands. Seit Cromwells eiſernen Dragonern
hatte die Welt nicht mehr ein Heer geſehen, das ſo durchdrungen war
von heiligem ſittlichem Ernſt, und es war nicht wie jene eine fanatiſche
Partei, ſondern ein ganzes Volk. Alle die alten trennenden Gegenſätze
des politiſchen Lebens verſchwanden in dem Einmuth dieſes Kampfes:
Marwitz, der abgeſagte Gegner der Volksheere, übernahm willig den Be-
fehl über eine Landwehrbrigade, hatte ſeine Luſt an dem feſten Muthe
ſeiner märkiſchen Bauern.


Alle die heißen Leidenſchaften, die nur ein mannhaftes Volk zum
höchſten Wagen entflammen können, waren erwacht, und doch blieb die
ungeheure Bewegung in den Schranken der Geſittung. Nichts von jenem
finſteren kirchlich-nationalen Fanatismus, der die Erhebung der Ruſſen
und der Spanier ſo unheimlich erſcheinen ließ. Dies junge Deutſch-
land, das jetzt mit flammenden Augen ſeine Speere ſchütterte, trug die
Kränze der Kunſt und Wiſſenſchaft auf ſeinem Scheitel, und mit gerech-
tem Stolze durfte Boeckh am Ausgang dieſes ſchlachtenreichen Sommers
rufen: „ſiehe hier iſt Germanien mit Waffen ſo gut wie mit Gedanken
gerüſtet!“ Die dieſen Kampf mit Bewußtſein führten, fühlten ſich auser-
wählt durch Gottes Gnade, das Reich der Argliſt und der ideenloſen Ge-
walt zu zerſtören, einen dauerhaften Frieden zu begründen, der allen
Völkern wieder erlauben ſollte nach ihrer eigenen Art, in ſchönem Wett-
eifer ſich ſelber auszuleben. Der deutſche Krieg galt der Rettung der
alten nationalen Formen der abendländiſchen Cultur, und als er ſieg-
reich zu Ende ging, ſagte der Franzoſe Benjamin Conſtant: „die Preußen
haben das menſchliche Angeſicht wieder zu Ehren gebracht!“


Ueber die künftige Verfaſſung des befreiten Deutſchlands hatte dies
kindlich treuherzige Geſchlecht freilich noch nicht nachgedacht. War nur
erſt Alles was in deutſcher Zunge ſprach wieder beiſammen, ſo konnte es
ja gar nicht fehlen, daß ein ſtarkes, einiges, volksthümlich freies Reich
ſich wieder erhob. Nach den Mitteln und Wegen fragte Niemand, jeder
Zweifler wäre des Kleinmuths bezichtigt worden. Der Krieg, allein der
28*
[436]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Krieg nahm Aller Gedanken in Anſpruch. Außer jenen rohen Schmäh-
ſchriften wider den Feind, welche in keinem ſchweren Kriege fehlen, er-
ſchienen in jenem Frühjahr nur ſolche politiſche Schriften, die unmittel-
bar auf die Erregung der Kampfluſt berechnet waren: ſo Arndts köſtliche
Büchlein und Pfuels Erzählung von dem Rückzuge der Franzoſen aus
Rußland, die erſte getreue Darſtellung der großen Kataſtrophe, ein kleines
Buch von mächtiger Wirkung. Auch die einzige norddeutſche Zeitung, welche
eine beſtimmte politiſche Richtung verfolgte, Niebuhrs Preußiſcher Cor-
reſpondent, befaßte ſich nicht näher mit den großen Fragen der deutſchen
Zukunft.


Nur Fichte wollte und mußte ſich Klarheit verſchaffen. In der frohen
Erregung dieſer hoffnungsreichen Tage war dem Philoſophen die Majeſtät
des Staatsgedankens aufgegangen. Er erkannte dankbar, daß die Wieder-
geburt des alten Deutſchlands doch früher erfolgte, als er einſt in ſeinen
Reden angenommen, ſah mit Freuden ſeine Hörer alleſammt zum Kampfe
ziehen, trat ſelber mit Säbel und Pike in die Reihen des Berliner Land-
ſturms. Und da er nun mit Händen griff, welche Opfer eine geliebte
und geachtete Staatsgewalt ihrem Volke zumuthen darf, lernte er größer
denken von dem Weſen der politiſchen Gemeinſchaft und ſchilderte in ſeiner
Staatslehre den Staat als den Erzieher des Menſchengeſchlechts zur Frei-
heit: ihm ſei auferlegt die ſittliche Aufgabe auf Erden zu verwirklichen.
Dann verkündete er kurz vor ſeinem Tode, in dem „Fragmente einer
politiſchen Schrift“, zum erſten male mit voller Beſtimmtheit die Mei-
nung, daß allein dem preußiſchen Staate die Führung in Deutſchland
gebühre. Alle Kleinfürſten hätten immer nur ihrem lieben Hauſe gelebt,
auch Oeſterreich brauche die deutſche Kraft nur für ſeine perſönlichen
Zwecke. Nur Preußen iſt ein eigentlich deutſcher Staat, hat als ſolcher
durchaus kein Intereſſe, zu unterjochen oder ungerecht zu ſein; der preu-
ßiſche Staat iſt Deutſchlands natürlicher Herrſcher, er muß ſich erweitern
zum Reiche der Vernunft, ſonſt geht er zu Grunde. Das Fragment war
ein theueres Vermächtniß, das der tapferſte und einflußreichſte Lehrer der
norddeutſchen Jugend ſeinen Schülern hinterließ, zugleich ein bedeutungs-
volles Symptom der Ahnungen und Wünſche, welche in den Kreiſen der
Patrioten gährten. Jedoch die Abſicht einzugreifen in die Politik des Tages
lag dem Idealiſten fern. Er ſchrieb ſeine prophetiſchen Gedanken nur
nieder „damit ſie nicht untergehen in der Welt“, und erſt geraume Zeit
nach ſeinem Tode ſind ſie veröffentlicht worden. Für die harten Aufgaben
des politiſchen Parteilebens hatte die Zeit noch gar kein Verſtändniß. Nur
das eine Ziel der Vernichtung der Fremdherrſchaft ſtand den Patrioten
klar und ſicher vor Augen; was darüber hinaus lag waren hochſinnige
Träume, ſo unbeſtimmt, ſo geſtaltlos wie das in jenem Königsberger
Winter gedichtete Lied: Was iſt des Deutſchen Vaterland? —


Das ruſſiſche Hauptquartier und die Wiener Hofburg konnten ſich
[437]Die Landwehr.
nicht genug verwundern, wie unbegreiflich ſchnell das Werk der preußiſchen
Rüſtungen von ſtatten ging. In Scharnhorſts Händen liefen alle Fäden
des ungeheuren Netzes zuſammen, und er verfuhr nach einem feſten, ſeit
Jahren durchdachten Plane. Da man raſch mit einer zahlreichen Feld-
armee den Angriff beginnen wollte und überdies wünſchen mußte den bei-
den anderen Oſtmächten durch die baldige Aufſtellung ſtarker Streitkräfte
die Leiſtungsfähigkeit Preußens zu zeigen, ſo ergab ſich als erſte Aufgabe
die Vermehrung der Linientruppen. Darum wurde ſchon ſeit dem De-
cember die Bildung der Reſervebataillone betrieben und vollendet. Weſent-
lich demſelben Zwecke diente das Aufgebot der freiwilligen Jäger; ſie ſollten
den Stamm bilden für die Offiziere und Unteroffiziere der Armee, und
in der That iſt ein großer Theil der Generale und Stabsoffiziere, welche
ſpäterhin in müden Friedensjahren die Geſinnungen einer großen Zeit
dem Heere erhielten, aus der Schule jener Freiwilligen hervorgegangen.


Die Einberufung der Freiwilligen ließ ſich allenfalls noch vor den
Franzoſen beſchönigen ohne daß man die diplomatiſche Maske völlig ab-
nahm. Sie erfolgte unter kluger Schonung der tiefeingewurzelten Vorur-
theile, welche ſich der allgemeinen Dienſtpflicht noch entgegenſtemmten. Die
Söhne der höheren Stände kurzab als Gemeine einzuſtellen ging ſchlechter-
dings nicht an; deßhalb wurden die Freiwilligen, die ſich ſelber ausrüſte-
ten, in beſondere, den Regimentern aggregirte Jägerdetachements eingereiht
und durch die grüne Jägeruniform vor der Maſſe der Mannſchaft aus-
gezeichnet, ſie erfuhren eine ihren Standesgewohnheiten entſprechende Be-
handlung, erhielten eine beſonders ſorgfältige Ausbildung und das Recht,
nach einigen Monaten ihre Offiziere ſelbſt zu wählen. Darauf erfolgte
die Aufhebung aller Exemtionen und die Verordnung vom 22. Februar,
die jede Umgehung der Wehrpflicht mit ſtrengen Strafen belegte. Auch
dieſe Schritte konnten zur Noth noch vor dem franzöſiſchen Geſandten
entſchuldigt werden. Sie erregten viel Unwillen in dem treuen Volke —
denn wozu der Zwang, da doch freiwillig ſo viel mehr geleiſtet wurde als
der König verlangte? — und doch waren ſie unerläßlich. Der Staat
mußte für die Linie und die Landwehr mit Sicherheit auf alle Wehr-
fähigen zählen können, auch in den Bezirken, welche geringeren Eifer zeigten.


Dann erſt, als die diplomatiſchen Verhandlungen abgebrochen, die
Cadres der Linie ſchon formirt und nahezu gefüllt waren, erſchien das
Landwehrgeſetz, das einer offenen Kriegserklärung gleich kam. Scharn-
horſts Landwehrplan war von Haus aus in einem größeren Sinne ge-
dacht als die Entwürfe des Königsberger Landtags. Auch er rechnete,
wie die Oſtpreußen, zunächſt auf die Thätigkeit der Kreis- und Provinzial-
ſtände, wendete die Grundſätze der neuen Selbſtverwaltung auf das Heer-
weſen an. In jedem Kreiſe traten zwei ritterſchaftliche, ein ſtädtiſcher
und ein bäuerlicher Deputirter zu einem Ausſchuſſe zuſammen um aus
der Geſammtheit der Männer zwiſchen ſiebzehn und vierzig Jahren, die
[438]I. 4. Der Befreiungskrieg.
nicht in der Linie dienten, die Wehrmänner auszulooſen; zwei General-
commiſſare, ein königlicher und ein ſtändiſcher, leiteten die Aushebung und
Ausrüſtung in jeder Provinz. Die Mannſchaften trugen an Kragen und
Mütze die Farben ihrer Provinz, die Offiziere die Uniform der Landſtände.
Die Formation der Bataillone und Compagnien folgte ſo weit als mög-
lich den Grenzen der Kreiſe und Gemeinden, dergeſtalt daß der Nachbar
in der Regel mit dem Nachbarn in einem Gliede ſtand; die Offiziere bis
zum Hauptmann aufwärts wurden gewählt, die Stabsoffiziere, zum Theil
auf Vorſchlag der Stände, vom Könige ernannt. Gleichwohl war dieſe
armée bourgeoise, wie Napoleon ſie höhnend nannte, keineswegs blos
ein für die Vertheidigung der nächſten Heimath beſtimmtes Provinzial-
heer. Vielmehr wurde die Landwehr auf die Kriegsartikel vereidigt und
zu Allem verpflichtet, was dem ſtehenden Heere oblag; ſie war uniformirt —
freilich ſehr einfach, mit der Dienſtmütze und der Litewka, die ſich aus dem
blauen Sonntagsrocke der Bauern leicht zurechtſchneiden ließ — und der
König behielt ſich vor, die einzelnen Wehrmänner oder auch ganze Batail-
lone zur Feldarmee heranzurufen. Die geſammte männliche Bevölkerung
bis zum vierzigſten Jahre ſollte alſo, wenn es noth that, zur Verſtärkung
der offenſiven Streitkräfte des Staates dienen; die Oſtpreußen mußten
auf Befehl des Königs ihren enger gedachten Entwurf abändern, ihre
Landwehr ebenfalls zum Dienſte außerhalb der Provinz verpflichten. Die
Mehrzahl der Mannſchaften beſtand aus Bauern und kleinen Leuten,
zumal in Schleſien, wo faſt alle gebildeten jungen Leute bei den freiwil-
ligen Jägern eingetreten waren. Die Offiziere waren zumeiſt Gutsbeſitzer,
zum Theil auch Beamte oder junge Freiwillige, nur Wenige darunter mili-
täriſch geſchult. Für die Ausrüſtung konnte der erſchöpfte Staat nur küm-
merlich ſorgen; das erſte Glied des Fußvolks trug Piken, bewaffnete ſich
erſt im Verlaufe des Kriegs zum Theil mit erbeuteten feindlichen Gewehren.


Monate mußten vergehen bis eine ſolche Truppe in der Feldſchlacht
verwendet werden konnte. Während des Frühjahrsfeldzugs wurde die
Landwehr nur nothdürftig eingeübt oder zum Feſtungskriege benutzt; erſt
nach dem Waffenſtillſtande rückte ſie in größeren Maſſen ins Feld. Auch
dann noch bildete die Linie, der ja alle höheren Führer und die techniſchen
Truppen ausſchließlich angehörten, ſelbſtverſtändlich den feſten Kern des
Heeres. Kleiſt hatte unter den 41 Bataillonen ſeines Corps 16 Land-
wehrbataillone, Bülow unter der gleichen Zahl blos 12; nur in Yorks
Corps überwog die Landwehr — mit 24 Bataillonen unter 45. Die
Wehrmänner hatten noch eine Zeit lang mit den natürlichen Untugenden
ungeſchulter Truppen zu kämpfen: beim erſten Angriff hielten ſie nicht
leicht Stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer ſie in Schrecken
ſetzte; kam es zum Handgemenge, dann entlud ſich die lang verhaltene
Wuth der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren ſie
ſchwer wieder zu ſammeln, da ſie den geſchlagenen Feind immer bis an
[439]Der Landſturm.
das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre
Haltung ſicherer, und gegen den Herbſt hin begann Napoleons Spott über
„dies Gewölk ſchlechter Infanterie“ zu verſtummen. Die kampfgewohnten
Bataillone der Landwehr waren allmählich faſt ebenſo kriegstüchtig ge-
worden wie das ſtehende Heer, wenngleich ſie mit der Disciplin und der
ſtattlichen äußeren Haltung der Linientruppen nicht wetteifern konnten: —
eine in der Kriegsgeſchichte beiſpielloſe Thatſache, die nur möglich ward
durch den ſittlichen Schwung eines nationalen Daſeinskampfes. Schwerer,
natürlich, gelang die Ausbildung der Landwehrreiter; doch haben auch ſie
unter kundigen Führern manches Vortreffliche geleiſtet. Marwitz ließ ſeine
märkiſchen Bauernjungen ihre kleinen Klepper nur auf der Trenſe reiten,
ohne Kandare und Sporen, ſtörte ſie nicht in ihren ländlichen Reiterkünſten,
verlangte nur, daß ſie Pferd und Waffen mit Sicherheit zu brauchen lern-
ten, und brachte dieſe naturwüchſige Cavallerie nach kurzer Zeit ſo weit,
daß er von ihr im Felddienſte Alles fordern konnte.


Nach der Einberufung der Landwehr vergingen wieder fünf Wochen
bis am 21. April das Geſetz über den Landſturm unterzeichnet wurde.
Die Cadres der Landwehrbataillone mußten erſt formirt ſein bevor man
zum Aufgebote der letzten Kräfte des Volks ſchreiten konnte. Scharnhorſt
ſtand damals ſchon fern von Breslau im Feldlager. Schwerlich iſt der
General ganz einverſtanden geweſen mit Form und Inhalt dieſes von
einem Civilbeamten Bartholdi verfaßten Geſetzes, das einem geſitteten
Volke Unmögliches zumuthete und, vollſtändig durchgeführt, der Krieg-
führung beider Theile das Gepräge fanatiſcher Barbarei hätte geben
müſſen. Ausdrücklich war der furchtbare Grundſatz ausgeſprochen, daß
dieſer Krieg der Nothwehr jedes Mittel heilige. Sobald der Feind heran-
nahte, ſollten auf das Geläute der Sturmglocken alle Männer vom fünf-
zehnten bis zum ſechzigſten Jahre aufſtehen, ausgerüſtet mit Piken, Bei-
len, Senſen, Heugabeln, mit jeder Waffe, die nur ſtechen oder hauen
konnte; denn auf die Länge habe der Vertheidiger in jedem Terrain immer
das Uebergewicht. Der Landſturm wird verpflichtet zur Späherei und zum
kleinen Kriege: der Feind muß wiſſen, daß alle ſeine zerſtreuten Abthei-
lungen ſofort erſchlagen werden. Der Feigling, der Sklavenſinn zeigt,
iſt als Sklave zu behandeln und mit Prügeln zu beſtrafen. Auf Befehl
des Militärgouverneurs müſſen ganze Bezirke verwüſtet, Vieh und Ge-
räthe weggeſchafft, die Brunnen verſchüttet, das Getreide auf dem Halme
verbrannt werden. Wird eine Gegend überraſcht, ſo ſind alle Behörden
alsbald aufgelöſt — offenbar eine Erinnerung an die tragikomiſchen Er-
fahrungen von 1806. Wer genöthigt ward dem Feinde einen Eid zu
leiſten iſt an den erzwungenen Schwur nicht gebunden. Auch dieſen un-
geheuren Anforderungen kam das treue Volk mit Freuden nach ſo weit
es möglich war. In jedem Kreiſe trat eine Schutzdeputation zuſammen
zur Leitung des Landſturms. Die müden Alten und die unbärtigen
[440]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Jungen übten ſich eifrig im Gebrauche ihrer rohen Waffen ſowie in der
freien Kunſt des Pfeifens, die den Landſtürmern anempfohlen war. Mit
Vorliebe pflegte dies Volksheer unbeſetzte Höhen zu erſtürmen — ſo
machte man ſeinem Namen doch Ehre. In dem Berliner Landſturm
exercirten die Profeſſoren der Univerſität zuſammen in einer Compagnie
— einer reiſigen Schaar, die allerdings mehr durch wiſſenſchaftlichen
Ruhm als durch kriegeriſche Kunſtfertigkeit glänzte; ja es geſchah, daß
ſogar die Berliner Damen aufgeboten wurden zum Bau der Feldſchanzen
im Süden der Hauptſtadt. Die Errichtung des Landſturms brachte den
großen militäriſchen Vortheil, daß nach und nach faſt die geſammte Linie
und Landwehr für den Feld- und Feſtungskrieg verfügbar wurde. Von
der Oſtſee bis zu den Rieſenbergen ſtanden auf allen Höhen die Fanale,
von Landſtürmern behütet.


Das Volksaufgebot erwies ſich nützlich im Wach- und Botendienſte,
auch zum Wegfangen der Marodeure und Verſprengten. Im offenen
Kampfe dagegen iſt der Landſturm nur ganz ausnahmsweiſe verwendet
worden: ſo erklangen während der erſten Apriltage, noch bevor das Geſetz
erſchienen war, die Sturmglocken in allen Dörfern an der Havel und
bewaffnete Bauernhaufen ſchloſſen ſich freiwillig den Truppen an, die
gegen Magdeburg zogen. In den großen Städten rief die fanatiſche
Härte des Geſetzes begründete Beſchwerden hervor. Da überdies die Ge-
fahr anarchiſcher Zügelloſigkeit ſehr nahe lag, das bürgerliche Leben der
Arbeitskräfte nicht entbehren konnte und die Beamten der alten Schule
vor bewaffneten Volkshaufen ein inſtinctives Grauen empfanden, ſo wurden
ſchon im Laufe des Sommers die übertriebenen Anſprüche des Edicts
durch einige neue Erlaſſe gemildert. Der Landſturm ſtand fortan unter
den Kriegsartikeln und diente weſentlich zur Ausbildung der Reſerveba-
taillone für die Landwehr; in den großen Städten fiel er ganz hinweg,
aus dem brauchbarſten Drittel ſeiner Mannſchaft wurden Bürger-Com-
pagnien für den Sicherheitsdienſt gebildet. Gleichwohl war die Einrich-
tung des Landſturms ſehr folgenreich. Sie belebte in dem Volke das
Bewußtſein, daß dieſer heilige Krieg die gemeinſame Sache Aller ſei; wie
vielen wackeren Alten iſt es ein Troſt geblieben bis zum Grabe, daß ſie
doch auch die Waffen für das Vaterland getragen hatten. Noch ſtärker
war die Wirkung auf die Feinde, die nach ihren ſpaniſchen Erfahrungen
nichts ſo ſehr fürchteten als einen Krieg Aller gegen Alle. Schon der
glücklich gewählte Name dieſes Volksaufgebotes erregte Schrecken im Lager
der Rheinbündner; wie unheimlich klang das Landſturmlied:


Ha Windsbraut, ſei willkommen,

willkommen, Sturm des Herrn!

Die übereilte Räumung der Marken im Frühjahr und nachher die un-
ſicheren Operationen der Marſchälle auf ihren Zügen gegen Berlin er-
klären ſich nur aus der unbeſtimmten Angſt vor einer Maſſenerhebung.


[441]Scharnhorſts große Tage.

Ein wunderbarer Anblick, wie dieſer von allen Geldmitteln entblößte
Mittelſtaat ſo mit einem male wieder eintrat in die Reihe der großen
Militärmächte. Nur ein Meiſter konnte allen den ungeſtümen Kräften,
die ſo urplötzlich aus den Tiefen unſeres Volkslebens hervorbrachen, Form,
Maaß und Richtung geben. Unbeirrt durch Widerſpruch und Verkennung
führte Scharnhorſt ſeine militäriſch-politiſchen Pläne durch, und ihm ge-
lang was in der modernen Geſchichte für unmöglich gegolten hatte: ein
ganzes Volk zu einem kriegsfertigen Heer umzubilden. Ihm ward das
höchſte Glück das dem großen Menſchen beſchieden iſt: er durfte endlich
zeigen was er vermochte. Er wußte, daß die Geſchicke ſeines Landes
auf ſeinen Schultern lagen, und einmal doch kam ein Wort des Stolzes
über die Lippen des Anſpruchsloſen: „ich verfahre despotiſch, ſo ſchrieb
er ſeiner Tochter, und lade viel Verantwortung auf mich, aber ich glaube
dazu berufen zu ſein.“ —


Durch den Abfall Preußens wurden die Kriegspläne des Imperators
verändert. An einen Angriff auf das Czarenreich ließ ſich vorerſt nicht
mehr denken, die nächſte Aufgabe war die Vernichtung Preußens. Schon
am 27. März ließ Napoleon der Hofburg die Auftheilung des preußi-
ſchen Staates vorſchlagen, dergeſtalt, daß Schleſien an Oeſterreich zurück-
fiele, Sachſen und Weſtphalen durch je eine Million preußiſcher Unter-
thanen vergrößert würden und dem Hauſe Hohenzollern nur noch ein
Kleinſtaat mit einer Million Einwohnern an der Weichſel verbliebe.
Auf die preußiſche Kriegserklärung ward mit blutigen Beleidigungen er-
widert: wenn Preußen ſein Erbe zurückfordere, ſo wiſſe die Welt, daß
dieſer Staat alle ſeine Erwerbungen in Deutſchland nur der Verletzung
der Geſetze und Intereſſen des deutſchen Reichskörpers verdanke. Und
in einem veröffentlichten Berichte an den Kaiſer erhob Maret die An-
klage: der preußiſche Hof verſammle um ſich die Chorführer jener fanati-
ſchen Partei, welche den Umſturz der Throne und die Zerſtörung der
bürgerlichen Ordnung predige. Dieſe Kriegserklärung, ſo ſchloß er höhnend,
iſt der Dank „für den Tilſiter Vertrag, der den König wieder auf ſeinen
Thron erhob, und für den Pariſer Vertrag von 1812, der ihn zur
franzöſiſchen Allianz zuließ!“


In einem ſolchen Kampfe war jeder Ausgleich undenkbar. Und wie
unſicher ſtanden die Ausſichten für das große Wagniß! Mit Oeſterreich
kamen die Alliirten keinen Schritt weiter. Auf wiederholte dringende
Mahnungen ließ ſich Metternich endlich am 2. April dahin aus: von
einem ſofortigen Bruche mit Frankreich könne keine Rede ſein; dagegen
ſei Kaiſer Franz bereit mit den Verbündeten zuſammenzuwirken, falls
Napoleon die von Oeſterreich beabſichtigten Friedensvorſchläge zurückwieſe.
Selbſt der junge Graf Neſſelrode, der ſoeben anfing im Rathe des Czaren
eine Rolle zu ſpielen, allezeit ein warmer Freund Oeſterreichs, fand dieſe
Erklärung nichtsſagend und ungenügend.


[442]I. 4. Der Befreiungskrieg.

Auch Großbritanniens Hilfe blieb aus. Engliſche Subſidien waren
für den Krieg ebenſo unentbehrlich, wie der gute Wille Hannovers für
den Beſtand des künftigen deutſchen Bundes; deßhalb wurde die Wieder-
herſtellung der welfiſchen Beſitzungen in Deutſchland im Kaliſcher Ver-
trage ausdrücklich ausbedungen. Die glückliche Inſel, die allein unter
allen Staaten Europas dem Imperator ſtandhaft die Anerkennung ver-
weigert hatte, galt bei allen deutſchen Patrioten als die feſte Burg der
Freiheit, ihre ſchlaue und gewaltthätige Handelspolitik als ein heroiſches
Ringen um die höchſten Güter der Menſchheit. Mit glühender Begeiſte-
rung ward das hochſinnige Welfenhaus verherrlicht. Graf Münſter
träumte von einem freien Welfenreiche Auſtraſien, das alle deutſchen
Lande zwiſchen Elbe und Schelde umfaſſen ſollte, und fand mit dieſem
tollen Plane bei manchem deutſchen Patrioten Anklang. Wie oft hatte
England einſt, als Pitt noch lebte, dem preußiſchen Staate glänzende Er-
werbungen, vornehmlich den Beſitz der Niederlande verheißen, wenn er ſich
dem Bunde gegen Frankreich anſchlöſſe. Nun endlich ſtand Preußen in
Waffen, und nichts ſchien dem Staatskanzler ſicherer, als daß England jetzt
mit vollen Händen dem neuen Bundesgenoſſen entgegenkommen würde.


Das „Miniſterium der Mittelmäßigkeiten“ aber, das die Erbſchaft
Pitts angetreten, hatte von ſeinem großen Vorfahren nur den zähen Haß
gegen die Revolution überkommen, nicht den freien und weiten politiſchen
Blick. Dieſe Hochtorys bildeten den Heerd der europäiſchen Reaction, ſie
erwarteten, wie Lord Caſtlereagh einmal trocken ausſprach, von dem großen
Kampfe einfach „die Wiederherſtellung der alten Zuſtände“, verfolgten
mit ängſtlichem Mißtrauen jede junge Kraft, die im Welttheile ſich regte,
blickten mit grenzenloſem Hochmuth auf die zur Knechtſchaft beſtimmten
Völker des Feſtlands herab. „Die conſtitutionelle Verfaſſung, ſagte Caſtle-
reagh, iſt nicht geeignet für Länder, die ſich noch in einem Zuſtande ver-
hältnißmäßiger Unwiſſenheit befinden; das äußerſt gewagte Princip der
Freiheit muß man eher hemmen als befördern.“ Das Aufſteigen der
ruſſiſchen Macht war dem Cabinet von St. James ſchon längſt unheim-
lich, und kaum minder erſchrocken als Kaiſer Franz beobachtete der Prinz-
regent die ſtürmiſche Begeiſterung der norddeutſchen Jugend, den ſtolzen
Freimuth der preußiſchen Generale. Schwer beſorgt ſchrieb Wellington
über die fieberiſche Erhitzung des preußiſchen Heeres, das allerdings nicht,
wie die Peninſula-Regimenter des eiſernen Herzogs, durch den Idealismus
der neunſchwänzigen Katze in Zucht gehalten wurde.


Da die alte Schwäche der engliſchen Staatsmänner, die Unkenntniß
der feſtländiſchen Verhältniſſe, in dieſem Tory-Cabinet unglaublich reich
entwickelt war, ſo wurde Englands deutſche Politik in Wahrheit durch
den Grafen Münſter, den vertrauten hannoverſchen Rath des Prinzregenten
geleitet. Die Tage waren vorüber, da Graf Münſter durch ſeine aus-
dauernde Feindſchaft gegen das napoleoniſche Weltreich ſich die Achtung
[443]Welfiſcher Länderhandel.
des Freiherrn vom Stein verdient hatte; ſeit Preußen ſich erhob, traten
nur noch die kleinlichen Züge ſeines politiſchen Charakters hervor: der
Welfenneid gegen den ſtärkeren Nachbarn und die gehäſſigen alten Vor-
urtheile wider „den preußiſchen Prügel und Ladeſtock“. Hardenbergs duali-
ſtiſche Pläne erſchienen ihm faſt noch ſchrecklicher als Steins unitariſche
Träume; nun und nimmer durfte die Welfenkrone ſich einer höheren
Macht beugen. Da ſein alter Lieblingsplan, Preußen als eine Macht
dritten Ranges auf die Lande zwiſchen Elbe und Weichſel zu beſchränken,
durch die Macht der Ereigniſſe vereitelt und damit das Welfenkönigreich
Auſtraſien leider unmöglich geworden war, ſo ſollte der preußiſche Staat zum
Mindeſten die engliſchen Subſidien theuer bezahlen, er ſollte nicht nur
mit ſeinem guten Schwerte Hannover für die Welfen zurück erobern,
ſondern dies Land, das ſelbſt nach ſeiner Befreiung nicht das Mindeſte
für den deutſchen Krieg geleiſtet hat, auch noch durch altpreußiſche Pro-
vinzen vergrößern. Ohne ſolche Verſtärkung, erklärte der welfiſche Staats-
mann vertraulich, könne Hannover neben Preußen nicht in Sicherheit
und Ruhe leben. Der Prinzregent ging auf dieſe Gedanken um ſo
eifriger ein, da ſeiner Tochter Charlotte das Thronfolgerecht in England
zuſtand und mithin der welfiſche Mannsſtamm erwarten mußte bald
wieder auf ſeine deutſchen Erblande beſchränkt zu werden; in ſeinen Brie-
fen freilich verſicherte er ſalbungsvoll, daß er nicht aus perſönlichem In-
tereſſe handele, ſondern ſich lediglich verpflichtet fühle ſein Kurland für
die Leiden der Franzoſenherrſchaft zu belohnen. Sir Charles Stewart,
der zu Anfang April nach Deutſchland hinüberkam, war beauftragt, das
Hildesheimer Land, das die Welfen ſchon im Jahre 1802 nur ungern
den Hohenzollern gegönnt hatten, ſowie die altpreußiſchen Gebiete Minden
und Ravensberg für das Welfenreich zu verlangen.


Der alternde Staatskanzler war, trotz ſeiner raſchen Feder, der er-
drückenden Arbeitslaſt ſeines Amtes nicht mehr gewachſen und doch nicht
gewillt, ſeine Herrſcherſtellung über den Miniſtern aufzugeben. In dem
Strudel von Arbeiten und frivolen Zerſtreuungen ſah er ſeinen könig-
lichen Herrn allzu ſelten, der Geſchäftsgang in der Staatskanzlei begann
ſchleppend und nachläſſig zu werden. Leichtfertige Freigebigkeit den welfi-
ſchen Anſprüchen gegenüber ließ ſich ihm gleichwohl nicht vorwerfen. Faſt
ein Vierteljahr lang hat er dieſe widerwärtigen Verhandlungen geführt,
erſt durch Niebuhr, nachher perſönlich. Welch ein Anblick! Dies reiche
England, das ſich ſtolz den Vorkämpfer der Freiheit Europas nennt, läßt
ſeinen tapferſten Bundesgenoſſen, der zum Verzweiflungskampfe ſtürmt,
monatelang in unerträglicher Bedrängniß, feilſcht mit ihm um Seelen
und Schillinge — und dies wegen der dynaſtiſchen Laune eines unfähigen
Fürſten, die das Wohl des engliſchen Staates nicht im Entfernteſten be-
rührt! Genug, als der Feldzug begann war man noch immer nicht im
Reinen und der preußiſche Staat in erdrückender Geldnoth.


[444]I. 4. Der Befreiungskrieg.

Selbſt das mit Rußland bereits verbündete Schweden hatte mit Preu-
ßen noch keinen Vertrag abgeſchloſſen. Als die Schweden einſt den ſchlauen
Karl Johann Bernadotte zu ihrem Thronfolger wählten, erwarteten ſie
beſtimmt, der napoleoniſche Marſchall würde, getreu den alten Traditionen
ſchwediſcher Politik, ſich an Frankreich anſchließen und mit Napoleons
Hilfe das verlorene Finnland von den Ruſſen zurückgewinnen. Der
kluge Kronprinz ging jedoch andere Wege. Er ſah, daß ſein Ackerbauland
die Continentalſperre nicht ertragen konnte, desgleichen daß die Wieder-
eroberung von Finnland ſehr unwahrſcheinlich war. Darum beſchloß er,
durch die Erwerbung von Norwegen ſein neues Vaterland zu entſchädigen,
ſeine junge Dynaſtie im Volke zu befeſtigen. Schon ſeit dem Beginne
des ruſſiſchen Krieges ſtand er mit dem Czaren im Bündniß. Seitdem
wurde der Kopenhagener Hof von Rußland, England und Schweden
dringend aufgefordert, Norwegen aufzugeben und der großen Allianz bei-
zutreten; ſelbſtverſtändlich ſollten die Dänen ſich ſchadlos halten an jener
großen Entſchädigungsmaſſe, die man Deutſchland nannte. Der ruſſiſche
Geſandte in Stockholm verſprach dem däniſchen Geſchäftsträger, dem
jungen Grafen Wolf Baudiſſin, im Namen Englands: beide Mecklen-
burg, das ſchwediſche und vielleicht auch das preußiſche Pommern, „zwei
Dörfer in Deutſchland für eines in Norwegen.“ Bernadotte ſelbſt ging
noch weiter und verhieß: Mecklenburg, Oldenburg, Hamburg und Lübeck.
Zum Heile für Deutſchland vertraute Friedrich VI. von Dänemark auf
Napoleons Glück und fand monatelang keinen feſten Entſchluß. Dem Grad-
ſinne König Friedrich Wilhelms waren dieſe häßlichen nordiſchen Händel
von Haus aus widerwärtig. Er hoffte Dänemark durch ehrliche Mittel
für die Coalition zu gewinnen, wollte ſeine Hand nicht bieten zu der
Beraubung des kleinen Nachbarn und verweigerte die Genehmigung, als
ſein Geſandter in Stockholm einen Allianz-Vertrag abgeſchloſſen hatte,
der den Schweden die Erwerbung von Norwegen verbürgte. So geſchah
das Sonderbare, daß Bernadotte im Frühjahr mit einem kleinen ſchwediſchen
Heer in Stralſund landete, um Norwegen in Deutſchland zu erobern, und
doch mit Preußen noch nicht verbündet war. England gewährte dem
zweideutigen Bundesgenoſſen für ſeine ſchwache Schaar freigebig eine Mil-
lion Pfund Sterling Subſidien.


Was ließ ſich vollends von den Staaten des Rheinbundes erwarten!
Mit Baiern verhandelte der Staatskanzler insgeheim ſchon ſeit dem Ja-
nuar. Der Untergang der 30,000 Baiern, die in den Schneefeldern
Rußlands ihren Tod gefunden, hatte den Münchener Hof doch tief er-
ſchüttert; wie leidenſchaftlich Montgelas die norddeutſchen Patrioten haßte,
ſo begann er doch der Opfer für den Protector müde zu werden ſeit ſie
nichts mehr einbrachten. Die Königin, Kronprinz Ludwig, Anſelm Feuer-
bach und mehrere andere einflußreiche Männer warben rührig für die gute
Sache. Ein ſchweres Hinderniß der Verſtändigung räumte Hardenberg
[445]Die Kaliſcher Proclamation.
gewandt hinweg, indem er verſprach, die fränkiſchen Markgrafſchaften nicht
zurückzufordern; beide Theile ſetzten dabei voraus, daß Preußen durch die
vormals pfalzbairiſchen Provinzen am Niederrhein entſchädigt werden ſollte.
Schon war Montgelas bereit, einen Neutralitätsvertrag abzuſchließen, da
hörte er von Napoleons ungeheuren Rüſtungen und von Oeſterreichs zu-
wartender Haltung. Bei ſolcher Ungleichheit der Streitkräfte ſchien ihm
Preußens Niederlage ſicher. Er brach ab und erfüllte wieder mit gewohntem
Eifer ſeine Vaſallenpflichten gegen den Beherrſcher des Rheinbundes.


Während die Alliirten alſo vergeblich verſuchten, den mächtigſten
Staat des Südens durch freundſchaftliche Verhandlungen zu gewinnen,
kündigten ſie den norddeutſchen Staaten ſchärfere Maßregeln an. Der
Breslauer Vertrag vom 19. März bedrohte — ganz im Sinne jener
Petersburger Denkſchrift Steins — alle deutſchen Fürſten, die ſich nicht
in beſtimmter Friſt dem Kampfe für die Freiheit des Vaterlandes an-
ſchlöſſen, mit dem Verluſt ihrer Staaten: ein Centralverwaltungsrath
unter dem Vorſitze des Freiherrn ſollte in ſämmtlichen norddeutſchen
Landen — allein Hannover und die vormals preußiſchen Provinzen aus-
genommen — proviſoriſche Regierungen einrichten, die militäriſchen Rü-
ſtungen leiten und die Staatseinkünfte für die Verbündeten einziehen.
Den Süden ließ man ſtillſchweigend aus dem Spiele, da Hardenberg an
ſeinen dualiſtiſchen Plänen gewiſſenhaft feſthielt und demnach dem öſter-
reichiſchen Hofe in Süddeutſchland nicht vorgreifen wollte. In Wien,
in London und an allen Rheinbundshöfen erregte dieſer erſte Verſuch
praktiſcher deutſcher Einheitspolitik ſtürmiſchen Unwillen. Man fragte
zornig, ob dieſer Jacobiner Stein deutſcher Kaiſer werden ſolle. Metter-
nich und Münſter waren ſofort entſchloſſen, die Wirkſamkeit der unheim-
lichen unitariſchen Behörde zu beſchränken.


Noch ſchärfer redete die Kaliſcher Proclamation des ruſſiſchen Ober-
befehlshabers Kutuſow vom 25. März. Sie ſprach die Hoffnung aus,
kein deutſcher Fürſt werde der deutſchen Sache abtrünnig bleiben und
alſo „ſich reif zeigen der verdienten Vernichtung durch die Kraft der
öffentlichen Meinung und durch die Macht gerechter Waffen“. Ein junger
Oberſachſe, Karl Müller, hatte das pathetiſche Schriftſtück entworfen, ein
fanatiſcher Teutone, der den Generalſtab gern in ein Hildamt verwandeln,
die Generaladjutanten zu Hauptwernolden umtaufen wollte. Ganz ſo
haltlos und verſchwommen wie die vaterländiſchen Träume der begei-
ſterten Jugend waren auch die Verheißungen für Deutſchlands Verfaſſung,
welche der Feldmarſchall im Namen der verbündeten Monarchen gab. Er ver-
ſprach, daß die Wiedergeburt des ehrwürdigen Reichs allein den Fürſten und
Völkern Deutſchlands anheimgeſtellt bleiben, der Czar nur ſeine ſchützende
Hand darüber halten ſolle. „Je ſchärfer in ſeinen Grundlagen und Um-
riſſen das Werk heraustreten wird aus dem ureigenen Geiſte des deutſchen
Volkes, deſto verjüngter, lebenskräftiger und in Einheit gehaltener wird
[446]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Deutſchland wieder unter Europas Völkern erſcheinen können!“ — Hoch-
tönende, wohlgemeinte Worte, nur ſchade, daß ſie jedes klaren Sinnes
entbehrten. Sie ſollten nachher in einem Menſchenalter der Verbitterung
und Verſtimmung eine ganz ungeahnte Bedeutung gewinnen. Auf ſie
vornehmlich beriefen ſich ſpäterhin die enttäuſchten Patrioten, um zu be-
weiſen, daß die Nation von ihren Fürſten betrogen ſei — während doch
leider der ureigene Geiſt des deutſchen Volkes ſelber von den unerläß-
lichen Vorbedingungen der deutſchen Einheit damals noch eben ſo wenig
ahnte, wie ſeine Fürſten.


Die Drohungen der Verbündeten entſprangen der richtigen Erkennt-
niß, daß die Satrapen Napoleons nur noch für die Sprache der Gewalt
empfänglich waren. Aber ſollten die ſtarken Worte wirken, ſo mußte die
That der Drohung auf dem Fuße folgen. Und ſie folgte nicht. Seine
natürliche Gutmüthigkeit und die ſtille Rückſicht auf Oeſterreich verhin-
derten den König, durch die Entthronung ſeines ſächſiſchen Nachbars recht-
zeitig den deutſchen Fürſten ein warnendes Beiſpiel zu geben. Als die
Aufforderung an Friedrich Auguſt von Sachſen herantrat, daß er um
Deutſchlands willen den Treubruch wiederholen ſollte, den er im Herbſt
1806 um ſeines Hauſes willen begangen hatte, da war die Lage des
ſchwachen Fürſten allerdings ſchwierig: er mußte früher als die anderen
Rheinbundskönige einen Entſchluß faſſen, in einem Augenblicke, da der
Ausgang des Krieges noch unſicher war, und er konnte nicht hoffen, das
durch die Ruſſen eroberte Warſchau wiederzugewinnen. Es lag jedoch
in ſeiner Hand, durch rechtzeitigen Anſchluß ſich einen Erſatz für ſeinen
polniſchen Beſitz zu ſichern; der Czar hatte ſich dazu längſt bereit er-
klärt. Die Entſchädigung für eine ſo unſichere Krone konnte freilich nicht
bedeutend ſein: Warſchau war, wie Jedermann wußte, nur vorläufig in
Friedrich Auguſts Hände gegeben bis auf weitere Verfügung des Impe-
rators; niemals hatte der wettiniſche Herzog ſich unterſtanden, den vor-
nehmen polniſchen Königswählern und ihrem wilden Deutſchenhaſſe ent-
gegenzutreten, niemals gewagt, ſeinen polniſchen Truppen irgend einen
Befehl zu geben. Friedrich Auguſt wollte trotzdem von dieſer polniſchen
Krone, die ſchon ſo viel Unheil über Sachſen gebracht, nicht laſſen und
hielt zudem die Niederlage ſeines „Großen Alliirten“ für undenkbar. Er
that beim Heranrücken der Verbündeten, was er ſchon in der Kriegsgefahr
des Jahres 1809 gethan: er floh mit ſeinem Grünen Gewölbe aus dem
Lande. Auf die dringende Frage des Königs von Preußen, ob er „ein
Widerſacher der edelſten Sache“ bleiben wolle, gab er eine nichtsſagende
Antwort und verwies auf ſeine beſtehenden Verbindlichkeiten.


Sein Miniſter Graf Senfft — eine jener aufgeblaſenen Mittel-
mäßigkeiten, woran die diplomatiſche Geſchichte der Mittelſtaaten ſo reich
iſt — entwarf den kindiſchen Plan einer mitteleuropäiſchen Allianz, welche
Frankreich und Rußland zugleich demüthigen und Preußen auf der Stufe
[447]Sachſens Haltung.
einer Macht dritten Ranges darniederhalten ſollte; er fühlte jedoch, daß
man des Schutzes bedurfte und verſuchte daher ſich an die zuwartende
Neutralitätspolitik Oeſterreichs anzuſchließen. Dies Beginnen war nicht
nur unausführbar, da Sachſen unvermeidlich den Kriegsſchauplatz bilden
mußte, ſondern auch eine Verletzung des Völkerrechts. Sachſen befand ſich
noch im Zuſtande des Krieges gegen Rußland, alſo auch gegen Preußen;
ſoeben noch kämpften ſächſiſche Truppen in den Gaſſen von Lüneburg
mit Dörnbergs tapferen Schaaren. Nach einer ſelbſtverſtändlichen Regel
des Völkerrechts darf aber eine kriegführende Macht nicht ohne die Ge-
nehmigung des Feindes ſich für neutral erklären, weil ſonſt jeder Be-
ſiegte ſich den Folgen ſeiner Niederlage entziehen könnte. Dem öſter-
reichiſchen Hofe wurde dieſe Erlaubniß ertheilt, da Napoleon ſowohl wie
die Alliirten ihn ſchonen wollten und auf ſeinen Beitritt hofften; von
dem ſächſiſchen Könige verlangten beide Theile ſofortigen Anſchluß.


Faſt die geſammte ſächſiſche Armee ſtand in Torgau unter den Be-
fehlen Thielmanns, der beauftragt war den wichtigen Elbepaß keinem
der beiden kämpfenden Theile zu öffnen. Der General war ein tapferer
Soldat, aber eitel, großſprecheriſch, maßlos ehrgeizig; ein eifriger Diener
Napoleons hatte er ſich neuerdings urplötzlich der deutſchen Sache zuge-
wendet. Es ſtand in ſeiner Gewalt, durch einen eigenmächtigen verwegenen
Entſchluß, nach dem Vorbilde Yorks, ſeinem Könige Thron und Heer zu
retten, den Verbündeten den Beginn der Operationen weſentlich zu erleich-
tern. Er aber that zu viel für einen ſächſiſchen General, zu wenig für einen
deutſchen Patrioten. Insgeheim verhandelte er mit den Preußen und
ſpielte ihnen ſogar einige Fähren in die Hände, welche den Uebergang
der Alliirten über die Elbe ermöglichten; doch ſeine Truppen mit dem
deutſchen Heer zu vereinigen wagte er nicht. In ſolcher Lage waren die
Verbündeten unzweifelhaft berechtigt Sachſen als Feindesland zu behan-
deln; ſie traten jedoch mit übel angebrachter Milde auf, nahmen das Land
nur im Namen des landesflüchtigen Fürſten in Verwahrung. Scharnhorſt
vornehmlich hat dieſen Fehler verſchuldet; er beurtheilte die Geſinnung
des ſächſiſchen Hofes unrichtig, nach den Schilderungen ſeines Jugend-
freundes, des Generals Zeſchau, der zu den nächſten Vertrauten Friedrich
Auguſts zählte. Auch Stein hoffte noch auf die freiwillige Bekehrung
der Albertiner. Wohl ſchalt er grimmig auf die Mattherzigkeit „dieſer
weichen ſächſiſchen Wortkrämer“, die von der Begeiſterung des preußiſchen
Volkes kaum angeweht wurden, auf den Stumpfſinn der Dresdener Phi-
liſter, denen unter allen Schickungen einer ungeheuren Zeit nichts ſo
wichtig war wie die Zerſtörung ihrer Elbbrücke. Aber ſtatt das beſetzte
Land, dem Breslauer Vertrage gemäß, ſofort der Dictatur des Central-
verwaltungsrathes zu unterwerfen, ließ Stein die von dem flüchtigen
Könige eingeſetzte Regierungscommiſſion ruhig gewähren und verſchmähte
ſogar die Staatskaſſen mit Beſchlag zu belegen.


[448]I. 4. Der Befreiungskrieg.

Alſo trat die geplante deutſche Centralbehörde in ihrem urſprüng-
lichen radicalen Sinne niemals ins Leben; der erſte Verſuch unitariſcher
Politik gerieth nach halbem Anlauf ins Stocken. Noch ehe der große
Krieg begann, ward ſchon erkennbar, welche Macht der Particularismus
im Volke und in den Dynaſtien noch beſaß. Die Fremdherrſchaft war
reif zum Untergange; für den Staatsbau der deutſchen Einheit fehlte
noch der Boden.


Zeiten der Noth heben den rechten Mann raſch an die rechte Stelle.
Da der König in ſeiner Schüchternheit ſich nicht getraute nach dem
Brauche ſeiner Vorfahren das Heer ſelber zu führen, ſo durfte nur ein
Mann den Befehl über die preußiſche Hauptarmee übernehmen — der
erſte Feldſoldat der deutſchen Heere, General Blücher. Wohin waren ſie
doch, die Träume der gebildeten Menſchenfreunde vom ewigen Frieden?
Gereift und gekräftigt in harter Prüfung glaubten die Deutſchen wieder
an den Gott der Eiſen wachſen ließ, und jene einfachen Tugenden ur-
ſprünglicher Menſchheit, die bis an das Ende der Geſchichte der feſte
Grund aller Größe der Völker bleiben werden, gelangten wieder zu ver-
dienten Ehren: der kriegeriſche Muth, die friſche Kraft des begeiſterten
Willens, die Wahrhaftigkeit des Haſſes und der Liebe. In ihnen lag
Blüchers Stärke, und dieſe Nation, die ſich ſo gern das Volk der Dichter
und der Denker nannte, beugte ſich vor der Seelengröße des bildungs-
loſen Mannes; ſie fühlte, daß er werth war ſie zu führen, daß der
Heldenzorn und die Siegesfreude der Hunderttauſende ſich in ihm ver-
körperten. Was hatte der Alte nicht Alles durchgemacht in dem halben
Jahrhundert, ſeit die Belling-Huſaren einſt den ſchwediſchen Cornet ein-
fingen und der alte Belling ſelber den unbändigen Junker in Kunſt und
Brauch der fridericianiſchen Reiter unterrichtete. Er hatte an der Peene
gegen die Schweden, bei Freiberg gegen die Kaiſerlichen, in Polen gegen
die Confoederirten gefochten, war auf jenem unblutigen Siegeszuge durch
Holland dem Bürger und Bauern überall ein wohlwollender Beſchützer
geweſen und dann während der rheiniſchen Feldzüge von Freund und
Feind bewundert worden. Die ſchneidige Tollkühnheit, die behende Liſt,
die unermüdliche Ausdauer des alten Zieten lebten wieder auf in dem
neuen Könige der Huſaren. Sein Lebelang blieb er der Anſicht, für
das Fußvolk genüge zur Noth der nachhaltige Muth, der Reiterführer
aber bedürfe einer angeborenen Begeiſterung, um die ſeltenen und flüch-
tigen Augenblicke, die ſeiner Waffe eine große Wirkung erlaubten, immer
ſofort mit Ungeſtüm zu ergreifen.


Seit dem Jahre 1806 und dem kühnen Zuge auf Lübeck war er
die Hoffnung der Armee; Scharnhorſt lernte damals an Blüchers Seite,
daß man mit Muth und Willenskraft Alles auf der Welt überwinde und
ſagte zu ihm: „Sie ſind unſer Anführer und Held und müßten Sie uns
[449]Blücher.
in der Sänfte vor- und nachgetragen werden. Nur mit Ihnen iſt Ent-
ſchloſſenheit und Glück!“ Und es war unendlich mehr als die Tapfer-
keit des Haudegens, was die Treuen und Furchtloſen ſo unwiderſtehlich
anzog. Aus Blüchers ganzem Weſen ſprach die innere Freudigkeit des ge-
borenen Helden, jene unverwüſtliche Zuverſicht, welche das widerwillige
Schickſal zu bändigen ſcheint. Den Soldaten erſchien er herrlich wie der
Kriegsgott ſelber, wenn der ſchöne hochgewachſene Greis noch mit jugend-
licher Kraft und Anmuth ſeinen feurigen Schimmel tummelte; gebieteriſche
Hoheit lag auf der freien Stirn und in den großen tiefdunkeln flammenden
Augen, um die Lippen unter dem dicken Schnurrbart ſpielte der Schalk
der Huſarenliſt und die herzhafte Lebensluſt. Ging es zur Schlacht, ſo
ſchmückte er ſich gern mit allen ſeinen Orden wie für ein bräutliches Feſt,
und niemals in allen den Fährlichkeiten ſeines Kriegerlebens iſt ihm auch
nur der Einfall gekommen, daß eine Kugel ihn hinſtrecken könnte. Gewaltig
war der Eindruck, wenn er zu ſprechen anhob mit ſeiner ſchönen, mäch-
tigen Stimme, ein Redner von Gottes Gnaden, immer der höchſten Wir-
kung ſicher, mochte er nun in gemüthlichem Platt mit Wachtſtubenſpäßen
und heiligen Donnerwettern die ermüdeten Truppen aufmuntern oder
den Offizieren klar, bündig, nachdrücklich ſeine Befehle ertheilen oder end-
lich in feſtlicher Verſammlung mit ſchwungvollen Worten einen vater-
ländiſchen Ehrentag verherrlichen. Wer täglich mit ihm verkehrte wurde
ihm ganz zu eigen; ſeine geliebten rothen Huſaren hatte er ſo bis auf
den letzten Mann in ſeiner Gewalt, daß nach der unglücklichen Ratkauer
Capitulation kein einziger der Rothen nach Frankreich geführt werden
konnte: alle entkamen den Siegern, die meiſten ſchlichen ſich nach Oſt-
preußen zu ihrem Könige durch.


Blücher kannte Land und Leute des deutſchen Nordens wie Niemand
ſonſt unter den preußiſchen Generalen. Während eines langen wechſel-
reichen Dienſtlebens war er in jeder Landſchaft vom Rheine bis zur pol-
niſchen Grenze heimiſch, auch als Landwirth mit den Verhältniſſen des
bürgerlichen Lebens wohl vertraut geworden. Ueberall wohin er kam ge-
wann er die Herzen, wie er ſo fröhlich lebte und leben ließ, mit Hoch
und Niedrig zechte und ſpielte, immer aufgeknöpft und guter Dinge und
doch gewiß ſich niemals wegzuwerfen. So ſtärkte ihm die Schule des
Lebens den deutſch-vaterländiſchen Sinn, den einſt Klopſtocks Oden in der
Seele des Jünglings geweckt hatten. Wie feſt er auch an ſeinen preußi-
ſchen Fahnen hing, er fühlte ſich doch immer, gleich Stein, ſchlechtweg
als einen deutſchen Edelmann. Grenzenlos war ſein Zutrauen zu der un-
verwüſtlichen Kraft und Treue ſeines Volkes. Das Herz ging ihm auf wo
er die urſprüngliche Friſche und Freiheit germaniſchen Weſens fand; daher
ſeine Vorliebe für das freie Volk der Frieſen und das ſelbſtbewußte Bürger-
thum der Hanſeſtädte, ſein Abſcheu wider den Kaſtenſtolz und die vater-
landsloſe Geſinnung des münſterländiſchen Adels. Im Alter beklagte er
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 29
[450]I. 4. Der Befreiungskrieg.
oft, daß er über dem Saus und Braus des luſtigen Huſarenlebens ſeine
Bildung ſo ganz vernachläſſigt habe. Ein angeborener Freiſinn, der ſichere
Inſtinkt eines großmüthigen königlichen Herzens ließ ihn gleichwohl fort-
ſchreiten mit der wachſenden Zeit. Lange vor den Reformen von 1807
hatte er die Prügelſtrafe bei ſeinen Rothen thatſächlich abgeſchafft; der
pedantiſche Zwang unnützer Paradekünſte war ihm ein Gräuel, und
frühe ſchon ſprach er es aus, daß die Armee zu einem Volksheere werden
müſſe. Von dem junkerhaften Weſen ſeiner mecklenburgiſchen Standes-
genoſſen blieb er ganz frei. Wie er ſelber ſeine Erfolge allein der eigenen
Tüchtigkeit verdankte, ſo hieß er freudig Alles willkommen, was die per-
ſönliche Kraft, die freie Thätigkeit, das Selbſtvertrauen in der Nation er-
weckte. Steins Reformen und namentlich die Städteordnung fanden an
ihm einen beredten Vertheidiger. So wurzelte auch ſein grimmiger Haß
gegen die Fremdherrſchaft in dem ſtarken Selbſtgefühle einer freien Seele:
er empfand es wie eine perſönliche Entwürdigung, daß er auf deutſchem
Boden ſich nach dem Belieben franzöſiſcher Gewalthaber richten ſollte,
und wetterte: „ich bin frei geboren und muß auch ſo ſterben.“


Der alte Kriegsmann zählt zu jenen echten hiſtoriſchen Größen, die
bei jeder näheren Kenntniß gewinnen. Welche Schärfe des politiſchen
Blicks in dem barbariſchen Deutſch ſeiner vertrauten Briefe! In jeder
politiſchen Lage findet er ſich raſch zurecht, erkennt ſofort den ſpringenden
Punkt im Gewirr der Ereigniſſe, weiſſagt mit prophetiſcher Sicherheit
den letzten Ausgang. Niemals läßt er ſich täuſchen durch die Ueberklug-
heit der Haugwitz’ſchen Politik, niemals glaubt er an die Möglichkeit einer
ehrlichen Verſtändigung zwiſchen Preußen und Napoleon. Im Frühjahr
1807, nach einem einzigen Geſpräche mit Bennigſen, weiß er augenblicklich,
was ſein Staat von den Ruſſen zu erwarten hat, und ruft ingrimmig:
„wir ſind verrathen und verkoft!“ Und dann die langen Jahre der Knecht-
ſchaft: oft genug iſt er der Verzweiflung nahe, doch immer wieder er-
mannt er ſich zu dem frohen Glauben: er werde ſein Preußen wieder im
alten Glanze ſehen, dieſer Napoleon müſſe herunter und ihm ſelber ſei
beſtimmt dabei mitzuhelfen: „der deutſche Muth ſchläft nur, ſein Erwachen
wird fürchterlich ſein!“ Wohl hat auch Blücher in dieſer Zeit des Harrens
manche der holden Täuſchungen getheilt, welche die tapferen Herzen der
Kriegspartei in die Irre führten; er ſetzte gern bei allen Deutſchen den
Heldenſinn, der ihn ſelber beſeelte, voraus und traute ſich’s zu mit 16,000
Mann die weſtlichen Provinzen wieder zu erobern. Doch wie übereilt
auch manche der Erhebungspläne waren, die er damals mit ſeinem Lieb-
lingsſohne Franz unermüdlich entwarf: das Weſentliche, die innere Schwäche
des napoleoniſchen Weltreichs erkannte er richtig. Die Kleinmeiſter ent-
ſetzten ſich über den Jüngling im Greiſenhaar, der noch zuweilen auf den
Hofbällen mit den eleganten jungen Gardeoffizieren eine Quadrille tanzte;
tiefere Naturen fühlten bald, daß dies ausgelaſſene Treiben nur der natür-
[451]Blücher und die Nation.
liche Ausdruck einer unbändigen überſchäumenden Lebenskraft war. Die
Patriotenpartei verließ ſich auf ihn als auf ihre treueſte Stütze. Stein
hatte ſich ihm ſchon vor Jahren in herzlicher Freundſchaft angeſchloſſen;
er ſchätzte das treffende, immer aus der Fülle lebendiger Erfahrung ge-
ſchöpfte Urtheil des Generals und ahnte in ihm denſelben kühnen Schwung
der Seele, denſelben Muth der Wahrheit, der in ſeiner eigenen Bruſt
lebte.


Ganz frei von Menſchenfurcht, mit unumwundenem Freimuth ſagte
Blücher Jedem ſeine Meinung ins Geſicht; und doch lag ſelbſt in ſeinen
gröbſten Worten nichts von Steins verletzender Schärfe. Seine Zornreden
kamen ſo gutlaunig und treuherzig heraus, daß ſich ſelten Jemand gekränkt
fühlte und ſelbſt der König ſich von ihm Alles bieten ließ. Denn bei
allem Ungeſtüm war er von Grund aus klug, nicht blos im Kriege ſo
verſchlagen und aller Liſten kundig, daß ihn Napoleon ärgerlich le vieux
renard
nannte, ſondern auch ein gewiegter Menſchenkenner, der Jeden
an der rechten Stelle zu packen wußte. Die Kunſt des Befehlens ver-
ſtand er aus dem Grunde; von der Mannſchaft durfte er das Unmög-
liche verlangen, wenn ſein Vorwärts aus ſeinen Augen blitzte, und auch
von dem trotzigen Selbſtgefühle ſeiner Generale erzwang er ſich Gehor-
ſam, da er ſtets nur an die Sache dachte, nach jedem Mißerfolge Alles
hochherzig auf ſeine Kappe nahm und bei Streitigkeiten der Untergebenen
immer gutmüthig vermittelte. Die unverwüſtliche Kraft des Hoffens und
Vertrauens wurzelte bei ihm wie bei Stein in einer ſchlichten Frömmig-
keit. Obgleich er nach Huſarenart den Herrgott zuweilen einen guten
Mann ſein ließ und alles ſcheinheilige Weſen verabſcheute, ſo blieb er doch
in tiefſter Seele ſeines einfältigen Glaubens froh; in ſchweren Stunden
tröſtete ſich der Bibelfeſte gern an einem tapferen Worte der Apoſtel.
Und wie weitab lag doch die Schlagluſt dieſes gütigen, menſchenfreund-
lichen Mannes von der herzloſen Roheit des Landsknechtes! Für die
Kranken und Verwundeten zu ſorgen war ihm heilige Chriſtenpflicht. Der
junge Kronprinz vergaß es nie, wie ihn der alte Held einmal auf einem
Schlachtfelde tief ergriffen bei der Hand genommen und ihm all den
fürchterlichen Jammer ringsum gezeigt hatte: das ſei der Fluch des Krieges,
und wehe dem Fürſten, der aus Eitelkeit und Uebermuth ſolches Elend
über ſeine Brüder bringe!


Blücher wußte längſt, „daß er das Zutrauen der Nation und die
Liebe des Heeres für ſich hatte,“ daß ihm die Führung der Armee ge-
bührte. Als nun die heiß erſehnte Stunde ſchlug und das Reich der
tauſendmal verfluchten „Sicherheitscommiſſare und Faulthiere“ zu Ende
ging, da fühlte er ſich verjüngt trotz ſeiner ſiebzig Jahre und dachte froh
an die langlebige Heldenkraft des Derfflingers und des Deſſauers und
die vielen anderen glorreichen Grauköpfe der preußiſchen Kriegsgeſchichte.
Glückſelig wiegte er ſich auf den hohen Wogen dieſer brauſenden Volksbe-
29*
[452]I. 4. Der Befreiungskrieg.
wegung; wie that es ihm wohl, daß der friſche Luftzug der Wahrhaftig-
keit wieder durch das deutſche Leben ging und Jeder tapfer von der Leber
weg ſprach. „Dichten Sie man druf, ſagte er ſeelenvergnügt zu einem
patriotiſchen Poeten; in ſolchen Zeiten muß Jeder ſingen wie es ihm
ums Herz iſt, der Eine mit dem Schnabel, der Andere mit dem Sabel!“


So war der Held, den die Stimme der Nation zum Führer wählte
— ein echter Germane, nur germaniſchen Menſchen ganz verſtändlich in der
rauhen Größe, der formloſen Urſprünglichkeit ſeines Weſens. Die Franzoſen
haben ihm niemals auch nur jene bedingte Anerkennung geſchenkt, welche
der anhaltende Erfolg ſelbſt dem Beſiegten abzuzwingen pflegt. Er ſelber
konnte in die feine romaniſche Art ſich nicht finden und meinte noch als
die Wuth des Kampfes längſt verraucht war: „dies Volk iſt mich zu-
wider!“ — während ihm der laute Freimuth und der derbe Humor „des
närriſchen Volkes“ der Engländer von Herzen behagten. Sobald der Krieg
begann widmete er ſich mit ganzer Kraft ſeinem Berufe und legte ſogar
die geliebten Spielkarten aus der Hand um ſie nicht wieder zu berühren
vor dem Einzuge in Paris. Er kannte die Gebrechen ſeiner Bildung und
wußte, daß er eines methodiſch geſchulten Kopfes bedurfte, der ihm die
Gedanken für die Kriegführung angab. So hatte er im Feldzuge von
1806 die Ideen Scharnhorſts ausgeführt; neidlos, in aufrichtiger Be-
ſcheidenheit erkannte er die geiſtige Ueberlegenheit des Freundes an und
freute ſich ihn auch diesmal als Generalquartiermeiſter an ſeiner Seite
zu ſehen. Mit dieſem hellen Kopfe und ſeiner eigenen Verwegenheit dachte
er der ganzen Welt zu trotzen — denn einen vielköpfigen Kriegsrath hat
der Alte nie gehalten.


Doch vorläufig ſtand er ſelbſt noch unter ruſſiſchem Oberbefehle.
Nach dem Tode des unfähigen alten Feldmarſchalls Kutuſow übernahm
General Wittgenſtein die Führung des verbündeten Heeres, ein tapferer
wohlmeinender Soldat ohne die Gaben des Feldherrn. Das ruſſiſche
Hauptquartier war, ſtolz auf die Erfolge des jüngſten Jahres, wenig ge-
neigt auf die Rathſchläge der Preußen zu hören. Schon am Tage nach
dem Aufrufe des Königs brach Blücher aus Breslau auf, überſchritt die
Elbe bei Dresden, unterwarf faſt ganz Sachſen bis auf die Feſtungen
und rückte in den erſten Tagen des April bis in die Altenburger Gegend;
ſeine leichten Truppen ſchweiften weit nach Weſten, über Gotha hinaus.
Gleichzeitig näherten ſich im Norden York und Bülow der Elbe, ſchlugen
den Vicekönig Eugen in dem glänzenden Gefechte von Möckern — dem
erſten größeren Treffen, das den Franzoſen zeigte, daß ſie nicht mehr mit
dem Heere von 1806 zu thun hatten — und gingen im Anhaltiſchen auf
das linke Ufer des Stromes hinüber.


Wenn Scharnhorſt und ſeine Freunde anfangs hofften, es werde
gelingen vor Napoleons Ankunft einen großen Theil von Weſtdeutſchland
zu beſetzen und überall die Volksbewaffnung in Gang zu bringen, ſo
[453]Beginn des Frühjahrsfeldzugs.
mußten ſie bald erkennen, wie wenig die verfügbaren Streitkräfte vorder-
hand noch für ſo großartige Entwürfe ausreichten. Ein glücklicher An-
griff des kleinen Dörnberg’ſchen Corps auf Lüneburg gab zwar ein er-
hebendes Zeugniß von der Tapferkeit des jungen Heeres — die Soldaten
prieſen den erſten Ritter des eiſernen Kreuzes, Major Borcke, die Poe-
ten beſangen das Heldenmädchen Johanna Stegen, das den Kämpfern
im dichten Kugelregen Pulver und Blei zutrug — jedoch das vereinzelte
Unternehmen hatte keine bleibenden Folgen. Eine Schilderhebung der
Patrioten im Bremiſchen wurde durch Vandamme, den roheſten und
wüſteſten der napoleoniſchen Generale, raſch niedergeworfen und grauſam
beſtraft. Auch von den Feſtungen dieſſeits der Elbe waren bis zu Ende
April nur Thorn und Spandau den Franzoſen entriſſen. Eine kühne
Kriegführung, wie ſie Scharnhorſt verlangte, konnte gleichwohl die Armee
des Vicekönigs im Magdeburger Lande vernichten bevor Napoleons Haupt-
heer herankam. Aber das ruſſiſche Hauptquartier blieb wochenlang un-
beweglich in Polen. Der Czar bedurfte längerer Zeit um ſeine Armee,
deren Schwäche mit ſeinen eigenen prahleriſchen Angaben in lächerlichem
Widerſpruche ſtand, zu verſtärken; auch wollte er Polen nicht verlaſſen
bevor die Ruhe in dem aufgeregten Lande durch eine genügende Truppen-
macht geſichert war. Dazu die Unluſt ſeiner Generale und die peinlichen
Zweifel über die Abſichten Oeſterreichs, das aus ſeiner ſtarken Flanken-
ſtellung heraus den Verbündeten hochgefährlich werden konnte. Erſt am
24. April zog das ruſſiſche Hauptheer in Dresden ein um ſich dann nach
langſamen Märſchen ſüdlich von Leipzig mit Blücher zu vereinigen.


Mittlerweile hatte Napoleon ſeine Rüſtungen mächtig gefördert. Wohl
lagen tauſende der erprobten Veteranen im ruſſiſchen Schnee begraben.
Die jungen Conſcribirten ſtanden den alten Kameraden weit nach, viele
hatte man in Ketten zu den Regimentern ſchleppen müſſen; auch die
Marſchälle begannen der unendlichen Kriegsarbeit ſatt zu werden und
ſehnten ſich nach friedlichem Genuſſe der erbeuteten Schätze. Die Ueber-
legenheit der ſittlichen Spannkraft und des kriegeriſchen Feuers, die vor-
dem den napoleoniſchen Heeren eigen geweſen, war jetzt ganz und gar
auf die Preußen übergegangen. Immerhin blieb das Weltreich, das ſeit
Jahren von keinem Feinde betreten worden, durch ſeine unermeßlichen
Hilfsquellen den Verbündeten weitaus überlegen. Während Bertrand
aus Italien durch Baiern heranzog, verſammelten ſich die übrigen Corps
der Franzoſen und Rheinbündner am Niederrhein, bei Frankfurt und im
Würzburgiſchen. In den letzten Tagen des April rückte Napoleon ſelbſt
mit dem Hauptheere auf der Frankfurt-Leipziger Straße durch Thü-
ringen oſtwärts und vereinigte ſich am 29. bei Naumburg mit der
Armee des Vicekönigs. Er gebot über eine Feldarmee von mindeſtens
180,000 Mann, ungerechnet die Garniſonen der deutſchen Feſtungen,
und die Verbündeten konnten ihm zunächſt nur etwa 98,000 Mann
[454]I. 4. Der Befreiungskrieg.
entgegenſtellen. Scharnhorſt wünſchte anfangs die Schlacht in der freien
Ebene von Leipzig, wo die überlegene Reiterei der Verbündeten zur vol-
len Wirkſamkeit gelangen konnte. Das ruſſiſche Hauptquartier dagegen
beſchloß, ſüdlich von dem alten Lützener Schlachtfelde, in dem ſumpfigen,
von Gräben, Hecken und Hohlwegen durchſchnittenen Wieſenlande bei
Großgörſchen, das zur Entfaltung großer Reitermaſſen wenig Raum bot,
einen Vorſtoß gegen die rechte Flanke des nach Leipzig vorrückenden Fein-
des zu wagen. Höchſtwahrſcheinlich war es Scharnhorſt, der zuerſt den
einfach kühnen Rath gab: man ſolle die Uebermacht des Feindes ſchon
auf dem Anmarſch überraſchen, ſeine Marſchkolonnen durch einen Flanken-
angriff durchbrechen. Der verwegene Plan konnte nur durch Ueberraſchung,
durch die höchſte Schnelligkeit der Ausführung gelingen. General Die-
bitſch, der in Wittgenſteins Auftrag die Anordnungen traf, leitete jedoch
den Aufmarſch ſo unglücklich, daß die Corps von Blücher und York ein-
ander durchkreuzten.


Erſt um Mittag des 2. Mai konnten die Preußen den Angriff be-
ginnen auf die zwiſchen den Büſchen verſteckten vier Dörfer Groß- und
Klein-Görſchen, Rahna und Caja, welche Ney mit gewaltiger Uebermacht
hielt. Unter brauſendem Hurrahruf ſtürmten ihre Regimenter heran, noch
niemals waren die franzöſiſchen Legionen einem ſolchen Ungeſtüm kriegeriſcher
Begeiſterung begegnet. Nichts von der natürlichen Unſicherheit junger
Truppen; ein Sturm des Zornes ſchien Jeden fortzureißen; Niemand
konnte ſich auszeichnen, ſo groß war die Tapferkeit Aller! Nach zweiſtün-
digem mörderiſchem Kampfe wurden drei von den Dörfern den Franzoſen
entriſſen. Da eilte Napoleon ſelbſt von der Leipziger Straße herbei, ver-
ſuchte mit friſchen Truppen die Schlacht herzuſtellen. Er mußte mit an-
ſehen, wie die preußiſche Garde durch einen zweiten furchtbaren Angriff
die vier Dörfer ſämmtlich nahm; kam die Reſerve der Verbündeten
rechtzeitig heran, ſo war die Marſchlinie der Franzoſen durchbrochen,
ihrem Hauptheere eine ſchwere Niederlage bereitet. Auf einen Augenblick
wurde der Imperator unſicher. „Glaubt Ihr, daß mein Stern unter-
geht?“ fragte er zweifelnd ſeinen Berthier, und beim Anblick des Todes-
muthes der Preußen entfuhr ihm der Ausruf: „Dieſe Thiere haben
etwas gelernt.“ Doch Wittgenſteins Reſerven blieben aus; das Corps
von Miloradowitſch wurde durch ein unglückliches Mißverſtändniß dem
Schlachtfelde fern gehalten, und die ruſſiſchen Garden erſchienen erſt
auf der Wahlſtatt als mit dem Anbruch der Nacht der Kampf zu
Ende ging. Die Reiterei der Verbündeten gelangte nicht zu entſcheiden-
dem Eingreifen, da Wittgenſtein ſich völlig unfähig zeigte die Leitung des
Heeres in der Hand zu behalten und eigentlich Niemand den Oberbefehl
führte; ihr Fußvolk verbiß ſich in den blutigen Kampf um die Dörfer,
der bei der Ueberlegenheit der feindlichen Infanterie keinen günſtigen Aus-
gang verſprach. Währenddem zog Napoleon vom Norden her neue Ver-
[455]Schlacht bei Großgörſchen.
ſtärkungen heran, und gegen ſieben Uhr fühlte er ſich ſtark genug um,
nach ſeiner Gewohnheit, unter dem Schutze einer mächtigen Artilleriemaſſe
einen entſcheidenden Stoß zu wagen. Als die Finſterniß hereinbrach be-
haupteten ſich die Preußen nur noch in Großgörſchen, die drei anderen
Dörfer waren von den Franzoſen zurückgewonnen, der Feind hielt das
Heer der Alliirten in weitem Bogen umklammert. Ein letzter verzweifelter
Angriff der Reiterei, von Blücher auf gut Glück in das Dunkel der Nacht
hinein geführt, ſcheiterte an der Ungunſt des Terrains.


Noch war die Schlacht nicht gänzlich verloren; Jedermann im preu-
ßiſchen Lager erwartete die Wiederaufnahme des Gefechts für den folgen-
den Morgen; aber hatten die Verbündeten ſchon am Abend mit ihren
70,000 Mann gegen eine faſt zweifache Uebermacht gefochten, ſo mußten
ſie am nächſten Tage, wenn Napoleon alle ſeine Streitkräfte aus der
Leipziger Umgegend herangezogen hatte, einem noch ungleicheren Kampfe
entgegenſehen. Unverfolgt traten ſie den Rückzug nach der oberen Elbe
an. Mindeſtens 10,000 Mann von jedem Theile waren auf dem Schlacht-
felde geblieben. Die Truppen fühlten ſich unbeſiegt, ſie hatten ſelber
mehrere Trophäen erbeutet und keine einzige in den Händen des glückli-
chen Gegners zurückgelaſſen; überall wo ſie den Feind in gleicher Anzahl
getroffen, waren ſie ihm überlegen geweſen. Die Koſaken riefen auf dem
Rückzuge fröhlich ihr: Paſcholl! Franzos kaput! Im preußiſchen Heere
lebte das ſtolze Bewußtſein, daß man unter fremden und unfähigen Füh-
rern die Ehre der Fahnen wieder hergeſtellt, den Siegern von Jena ſich
ebenbürtig erwieſen habe. Hingeriſſen von dem Anblick der wieder erwachten
deutſchen Waffengröße ſang Arndt ſein Lied auf den Tag von Großgörſchen:


Tapfre Preußen, tapfre Preußen,

Heldenmänner, ſeid gegrüßt!

Beſte Deutſche ſollt Ihr heißen

Wenn der neue Bund ſich ſchließt!

Unter den Opfern des blutigen Tages war auch Scharnhorſt. Im
ſiebenjährigen Kriege hatte ein grauſames Geſchick faſt alle preußiſchen
Heerführer dahingerafft; während des Befreiungskrieges blieben ſie ſämmt-
lich verſchont. Nur dieſer Eine fiel — der mächtige Geiſt, aus deſſen
lichtem Haupte das deutſche Volksheer gepanzert aufſtieg wie Pallas aus
dem Haupte des Zeus. Er wollte die leichte Wunde, die er bei Groß-
görſchen empfangen, nicht ruhig heilen laſſen. Seit man die Schwäche
der ruſſiſchen Armee und die Lauheit ihrer Führer vor Augen ſah, ſtand
im preußiſchen Hauptquartiere die Ueberzeugung feſt, daß nur Oeſterreichs
Beiſtand den Sieg verbürge. Bald nach der Schlacht kündigte der König
in einem Parolebefehle ſeinen Truppen an: „in wenigen Tagen wird
uns eine neue mächtige Hilfe zur Seite ſtehen.“ Scharnhorſt wußte,
auf wie ſchwachen Füßen dieſe Hoffnung noch ſtand, und beſchloß daher,
[456]I. 4. Der Befreiungskrieg.
trotz der Warnungen der Aerzte, ſelber nach Wien zu gehen um durch
perſönliche Ueberredung den öſterreichiſchen Staatsmännern den entſchei-
denden Entſchluß zu entreißen. Unterwegs verſchlimmerte ſich die Wunde.
Während er in Böhmen einſam auf dem Krankenbette lag, ſchweiften
ſeine Gedanken hinüber zu dem vaterländiſchen Heere. So viel herrliche
Kraft war vergeudet durch die Fehler der ruſſiſchen Heeresleitung; er
hatte die Preußen gerüſtet und fühlte, daß er ſie zum Siege führen
würde wenn man ihn frei gewähren ließ an Blüchers Seite. Der ſter-
bende Mann konnte den großen Ehrgeiz, der ihn verzehrte, nicht länger
in ſeiner verſchloſſenen Bruſt verbergen und ſchrieb an ſeine Tochter —
nur für ſie, damit ſie wiſſe „wie Dein Vater dachte, wenn ich einſt nicht
mehr da ſein ſollte: An Diſtinctionen iſt mir nichts gelegen. Da ich die
nicht erhalte, welche ich verdiene, ſo iſt mir jede andere eine Beleidigung,
und ich würde mich verachten wenn ich anders dächte. Alle Orden und
mein Leben gäbe ich für das Commando eines Tages!“ Es ſollte nicht
ſein. Am 28. Juni erlag er ſeiner Wunde; ſeine letzten Worte weiſſagten
den Deutſchen die Freiheit. Tragiſcher hat Keiner geendet von den
ſchöpferiſchen Geiſtern unſerer Geſchichte. Ohne Scharnhorſt kein Leipzig,
kein Belle-Alliance, kein Sedan, und der die Saat ſo vieler Siege ſtreute
ſollte ſelber Preußens Fahnen niemals glücklich ſehen! Erſchütternd trat
das große Räthſel des Menſchenſchickſals den Ueberlebenden vor die Seele;
immer wieder, wenn ſie dieſes Todten gedachten, überkam ſie die Ahnung,
daß unſer Leben nicht abſchließt mit dem letzten Athemzuge. Wie oft hat
Blücher nach erfochtenem Siege in feuriger Rede den Schatten ſeines
Scharnhorſt angerufen, er ſolle niederſchauen auf die Vollendung ſeines
Werkes! Dem Dichter aber erſchien der Gefallene wie ein Siegesbote,
den die befreiten Germanen ihren Ahnen nach Walhalla ſendeten:


„Nur ein Held darf Helden Botſchaft tragen.

Darum muß Germaniens beſter Mann,

Scharnhorſt muß die Botſchaft tragen:

Unſer Joch das wollen wir zerſchlagen,

Und der Rache Tag bricht an!“

So viel Ehre die Schlacht von Großgörſchen den jungen preußiſchen
Truppen brachte, ſie war doch eine Niederlage, verhängnißvoll durch ihre
politiſchen Folgen. Der Ruf der napoleoniſchen Unüberwindlichkeit ſtand
nunmehr wieder aufrecht; kein Gedanke mehr an einen Abfall der rhein-
bündiſchen Höfe. Auf die Nachricht von Napoleons Siege kehrte Friedrich
Auguſt von Sachſen ſofort, noch bevor eine drohende Mahnung des Pro-
tectors ihn ereilte, wieder zu den Fahnen zurück, denen ſein Herz immer
angehangen; hatte er doch ſchon vor Wochen ſeinen Oberſten Odeleben
in das franzöſiſche Hauptquartier geſendet um dem Imperator als Führer
durch Thüringen zu dienen! Senfft, der Vertreter der Neutralitätspolitik,
ward entlaſſen, die Armee und das Land dem Großen Alliirten zur Ver-
[457]Scharnhorſts Tod.
fügung geſtellt. General Thielmann erhielt Befehl, Torgau den Franzo-
ſen zu öffnen und trat, da ſeine Truppen den Weiſungen ihres Königs
unbedingt gehorchten, allein zu den Verbündeten über, nur begleitet von
dem genialen Aſter, dem deutſchen Vauban. Der Beſitz der ſächſiſchen
Feſtungen erlaubte den Franzoſen den Krieg um Monate zu verlängern.
Ein hartes Strafgericht erging über die treuen Preußen in Cottbus, die
im März, als Blüchers Heer einzog, ſich ſofort jubelnd der deutſchen
Sache angeſchloſſen, zahlreiche Freiwillige unter die Fahnen ihres alten
Landesherrn geſtellt hatten. Sobald die ſächſiſche Herrſchaft zurückkam,
wurde das Cottbuſer Land von den Franzoſen in Belagerungszuſtand
erklärt, eine Anzahl der angeſehenſten Patrioten, der wackere Landrath
von Normann voran, auf die Anzeige der ſächſiſchen Beamten in das Ge-
fängniß geworfen und den Familien der Freiwilligen, bei Strafe der
Vermögenseinziehung, anbefohlen ihre Söhne zur Heimkehr aufzufordern.
Dieſe boshafte Verfolgung erfüllte die Bewohner des Landes mit ſo in-
grimmigem Haſſe, daß ſie nach der Wiederbefreiung den König baten, er
möge ſie der Kurmark, nicht der Provinz Sachſen zutheilen: „wir wün-
ſchen nie wieder mit den ſächſiſchen Behörden in ein näheres Verhältniß
zu treten, auch dann nicht wenn ſie den k. preußiſchen Unterthanen zu-
geſellt werden ſollten.“*)


Auf Befehl des Protectors eilte Friedrich Auguſt ſelbſt aus Prag
herbei um durch die Spaliere franzöſiſcher Truppen in der ſächſiſchen
Hauptſtadt einzuziehen, und das neutrale Oeſterreich ließ den Rheinbunds-
fürſten ungehindert in das napoleoniſche Feldlager zurückkehren. Der
Imperator empfing ihn um ſo freudiger, da er aus dem Hergange er-
rieth, daß Kaiſer Franz noch keineswegs entſchloſſen war zu den Verbün-
deten überzutreten. Fortan fuhr der ſächſiſche Hof wieder mit vollen
Segeln im Fahrwaſſer der franzöſiſchen Allianz: er hoffte abermals
auf Preußens Koſten ſich zu vergrößern und erbat ſich bei dem Protector
für den Fall des Friedens: Glogau und einen Strich von Schleſien,
dergeſtalt daß Kurſachſen mit Warſchau ein zuſammenhängendes Gebiet
bilden ſollte. König Friedrich Wilhelm aber ſagte ſchon im Mai einem
ſächſiſchen Edelmanne voraus: der Untergang der albertiniſchen Krone werde
die unvermeidliche Folge ſolcher Treuloſigkeit ſein.


Die Verbündeten waren mittlerweile über die Elbe bis in die Ober-
lauſitz zurückgewichen. Napoleon folgte; ſein Heer ſtand zerſtreut auf der
weiten Linie von Dresden bis Wittenberg. Er faßte jetzt zum erſten
male den Plan zu einem Angriff auf Berlin — einen Gedanken, der
ſeitdem in allen Berechnungen dieſes Feldzugs immer wiederkehrte: wäh-
rend er ſelbſt der Armee der Alliirten oſtwärts folgte, ſollte Ney durch
[458]I. 4. Der Befreiungskrieg.
einen raſchen Zug gen Norden den gehaßteſten und gefährlichſten der
Feinde in ſeiner Hauptſtadt bedrohen. Das preußiſche Hauptquartier
war auf das Aergſte gefaßt und traf bereits Anſtalten, Berlin nöthigen-
falls im Straßenkampfe durch den Landſturm zu vertheidigen. Die Armee
jedoch blieb mit den Ruſſen vereinigt; der König wollte die Stellung in
der Nähe der öſterreichiſchen Grenze behaupten, er hoffte durch einen
Sieg des vereinigten Heeres die zaudernde Hofburg zum Anſchluß zu be-
wegen. In der That war ein Erfolg möglich, wenn Wittgenſtein ſogleich
mit ſeinem geſammelten Heere einen Angriff auf Napoleon unternahm,
bevor dieſer ſeine Armee vereinigt hatte. Die ruſſiſche Führung aber,
die in jenen Tagen weſentlich durch die dilettantiſchen Einfälle des Czaren
ſelber beſtimmt wurde, beſchloß, dem Rathe der preußiſchen Generale zu-
wider, bei Bautzen eine Defenſivſchlacht anzunehmen und gewährte alſo
dem Imperator, der die Gedanken der Gegner alsbald durchſchaute, ge-
nügende Zeit um ſeine Streitkräfte zu verſammeln und auch Neys Armee
zurückzurufen. Während die Hauptarmee unthätig bei Bautzen ſtand,
ſollten die zwei ſchwachen Corps von York und Barclay de Tolly durch
ein Ausfallsgefecht die heranrückenden dreifach überlegenen Heerſäulen
Neys und Lauriſtons zurückwerfen. Mit höchſter Kühnheit verſuchte
York ſich des unmöglichen Auftrags zu entledigen; durch das blutige
Waldgefecht von Königswartha (19. Mai) hat er ſich zuerſt den Namen
des Schlachtengenerals, ſeinen altpreußiſchen Regimentern ein furchtbares
Anſehen bei Freund und Feind geſichert; wunderbar zäh und verwegen
hielt er aus in dem ungleichen Kampfe und brachte ſeine kleine Schaar
in guter Ordnung wieder zu dem Hauptheere zurück. Aber mit entſetz-
lichen Opfern hatten die Preußen die Thorheit des Czaren bezahlen müſ-
ſen; mehr als die Hälfte der Brigade Steinmetz lag auf dem Schlacht-
felde, und die Vereinigung Neys mit der franzöſiſchen Hauptarmee war
doch nicht verhindert.


So konnte denn Napoleon am 20. Mai ſeine geſammten 170,000
Mann gegen die 80,000 Alliirten zur Schlacht vorführen. Die Ver-
bündeten erwarteten den Angriff in weitgedehnter Stellung auf dem ſteilen
rechten Ufer des tiefen Spreethals, mit der Front nach Weſten; ihr linker
Flügel lehnte ſich an jene waldigen Höhen des Lauſitzer Gebirges, von
denen einſt Laudon gegen das Hochkircher Lager herniedergeſtürmt war,
der rechte ſtand ungedeckt in der freien Ebene. Napoleon griff am erſten
Schlachttage den linken Flügel der Gegner an, überſchritt den Fluß, be-
ſetzte Bautzen und verleitete alſo den Czaren zu dem Glauben, daß die
Franzoſen die Entſcheidung auf der Linken der Alliirten ſuchten, das ver-
bündete Heer vom Gebirge abſchneiden wollten. Die Abſicht des Impe-
rators ging aber vielmehr dahin, den bloßgeſtellten rechten Flügel der Ver-
bündeten zu werfen, dann ihr Centrum zu umklammern und die geſchlagene
Armee zu dem gefahrvollen Rückzuge ſüdwärts ins Gebirge hinein zu
[459]Schlacht von Bautzen.
zwingen. Während nun die Ruſſen ihre wohlgeſicherte Linke noch mehr
verſtärkten, warf ſich Napoleon am zweiten Schlachttage mit Macht auf
den ſchwachen rechten Flügel unter Barclay de Tolly, ſchlug ihn gänz-
lich und drang dann gegen die Kreckwitzer Höhen vor, welche Blücher mit
dem Centrum hielt. Nach langem mörderiſchen Kampfe war auch dieſe
Poſition faſt umgangen, die Linien der Verbündeten bildeten bereits einen
weit zurückgebogenen Haken. Da erkannte Kneſebeck die Gefahr einer
völligen Niederlage; er beſtand darauf, daß die Schlacht abgebrochen
wurde und rettete alſo das Heer. Gegen drei Uhr trat Blücher in muſter-
hafter Ordnung den Rückzug an, und als der Abend hereinbrach, hatte
der Sieger durch die blutige Arbeit zweier Tage nichts weiter gewonnen
als den Beſitz des Schlachtfeldes. „Was? — rief er grimmig — kein
Ergebniß, keine Trophäen, keine Gefangene nach einer ſolchen Schläch-
terei?“ 40,000 Mann waren gefallen, davon 25,000 Franzoſen; die
Flammen der brennenden Dörfer ringsum beleuchteten die gräßliche
Wahlſtatt.


Sofort nach dem unfruchtbaren Siege nahm Napoleon ſeine alten
Pläne wieder auf und entſendete Oudinots Corps gegen Berlin; der
aber wurde von Bülow und Oppen nach einem wüthenden Kampfe in
der brennenden Vorſtadt von Luckau zurückgeworfen (4. Juni). Es
war das erſte jener vier blutigen Treffen und Schlachten, wodurch
Preußen ſich in dieſem Sommer den Beſitz ſeiner Hauptſtadt ſicherte.
In denſelben Tagen jedoch ging das befreite Hamburg wieder an die
Franzoſen verloren. Die unkriegeriſchen Gewohnheiten der reichen Han-
delsſtadt rächten ſich in der Zeit der Noth. Der ſchwerfällig bedachtſame
Senat wußte nichts anzufangen mit dem tapferen Bürger Mettlerkamp
und den vielen anderen wackeren Patrioten, die ſich zur Vertheidigung
der Vaterſtadt erboten. Tettenborns Leichtſinn hatte für die Sicherung
des gefährdeten Platzes wenig gethan; Bernadotte wollte, da er in Pom-
mern das verſprochene ruſſiſche Hilfscorps nicht vorfand, ſeine kleine
ſchwediſche Armee nicht auf das Spiel ſetzen und unterließ jeden Entſatz-
verſuch. Schon am 30. Mai konnte Davouſt in die rebelliſche gute Stadt
des Kaiſerreichs wieder einziehen. Eine Schreckensherrſchaft brach herein,
wie der deutſche Boden ſie noch nie geſehen; Standgerichte und Brand-
ſchatzungen zeigten den deutſchen Bürgern was es heiße, dem Kaiſer der
Franzoſen den Gehorſam aufzuſagen. Der offene Platz wurde raſch mit
Feſtungswerken umgeben, wobei die unglücklichen Bewohner ſelber ſchanzen
mußten, und durch die Vertreibung von 25,000 armen Leuten für eine
lange Vertheidigung eingerichtet. Die feſte Elblinie von Dresden bis zur
See war wieder in Frankreichs Händen.


In einem Kriegsrathe der Monarchen zu Lauban vertrat Harden-
berg, unterſtützt von den preußiſchen Generalen, die Anſicht, daß die
alliirte Armee, ſtatt gradeswegs nach Oſten zurückzugehen, vielmehr ſüd-
[460]I. 4. Der Befreiungskrieg.
wärts nach Schweidnitz an die Abhänge des Rieſengebirges ausbiegen
ſolle.*) So gab man zwar, Alles auf eine Karte ſetzend, die Hauptmaſſe
der preußiſchen Monarchie rückſichtslos dem Feinde preis, doch man hielt
die Verbindung mit Oeſterreich feſt und damit die letzte Möglichkeit des
Sieges. Der Rath ward befolgt. Dann ließ Blücher in der Ebene
von Haynau ſeine ſchweren Reiter plötzlich aus einem Hinterhalte gegen
die Spitzen der nachdrängenden franzöſiſchen Armee vorbrechen (26. Mai)
und warf die Feinde ſo weit zurück, daß ſie die Fühlung mit den Alliirten
verloren und die veränderte Richtung des Rückzugs nicht bemerkten. Mit
Befremden entdeckte Napoleon nach einigen Tagen, daß die Verbündeten in
ſeiner rechten Flanke ſtanden. Wie gern hat der greiſe preußiſche Held
noch in ſpäteren Tagen dieſes erſten fröhlichen Empfanges gedacht, den
er dem Feinde auf preußiſchem Boden bereitet; zum erſten male in dieſem
Feldzuge lächelte ihm das Glück, und ſeiner Lieblingswaffe allein verdankte
er den ſchönen Erfolg. Zuverſichtlich wie er ſah das geſammte preußiſche
Heer neuen Schlachten entgegen; in allen den hartnäckigen Kämpfen dieſes
Rückzugs zeigte der deutſche Soldat eine unverwüſtliche Freudigkeit und
Friſche. Mehr als zwanzig Gefechte und zwei große Schlachten waren
geſchlagen, fünfzig Kanonen und viele Gefangene den Franzoſen abge-
nommen, Napoleon aber hatte keine einzige Trophäe in ſeinen Händen.
Anders war die Stimmung im ruſſiſchen Lager. Die von Haus aus
mäßige Kriegsluſt der Generale erlahmte gänzlich ſeit ſie ſich wieder in
die äußerſte Oſtecke Deutſchlands zurückgedrängt ſahen; abermals wie vor
ſechs Jahren vernahm man die unmuthige Frage: wozu uns opfern für
fremde Zwecke? Barclay de Tolly, der unterdeſſen den Oberbefehl über-
nommen, erklärte beſtimmt, ſein erſchöpftes Heer bedürfe der Ruhe, müſſe
in Polen wiederhergeſtellt und verſtärkt werden. Schon war der Ab-
marſch der Ruſſen über die Oder angeordnet, das Kaliſcher Bündniß
drohte auseinanderzugehen. Da brachte ein ſchwerer Mißgriff Napoleons
den Alliirten die Waffenruhe, die ihre Rettung werden ſollte.


Wie laut er auch in ſeinen Bulletins prahlte, ſo unterſchätzte Na-
poleon doch nicht die Gefahren ſeiner ſcheinbar ſo glänzenden Lage. Wohl
hielt er alle Lande des rechten Elbufers, dazu die Lauſitz und einen Theil
von Schleſien in ſeiner Gewalt, jedoch er ſah auch die zunehmende Ver-
wilderung ſeines Heeres und fürchtete die unberechenbaren Mächte eines
verzweifelten Volkskrieges. Wenn er jetzt, mit den Kränzen zweier neuer
Siege um die Stirn, die Hand zum Frieden bot, ſo ließ ſich vielleicht
ein Abkommen erreichen, das dem Kaiſerreiche ſeine conſtitutionellen Gren-
zen ſicherte, und der Vernichtungskampf gegen Preußen mochte nach einiger
Zeit unter günſtigeren Umſtänden wieder aufgenommen werden. Der ſo
oft erprobte beſte Bundesgenoſſe des kaiſerlichen Frankreichs, die Zwietracht
[461]Waffenſtillſtand von Poiſchwitz.
der Oſtmächte konnte wohl auch diesmal noch ſeine Dienſte thun. Von
den Vermittlungsverſuchen ſeines Schwiegervaters verſprach ſich der Im-
perator nichts Gutes; er vergaß es nicht, daß Schwarzenberg ihm vor
Kurzem ins Geſicht geſagt: die Politik hat dieſen Ehebund geſchloſſen, die
Politik kann ihn auch löſen! Dieſer heimtückiſchen Hofburg, die ohne den
Muth zu ſchlagen nach Ländergewinn trachte, gönnte er keinen Vortheil.
Vielmehr hoffte er eine Zeit lang auf den Wankelmuth Alexanders, den
er ſchon vor der Bautzener Schlacht vergeblich durch lockende Friedens-
vorſchläge zu gewinnen verſucht hatte. Der bewährte Caulaincourt ſollte
die Unterhandlungen mit Rußland führen: vielleicht wiederholten ſich die
Tilſiter Vorgänge, wenn man dem Czaren „eine goldene Brücke baute“,
wenn Warſchau zwiſchen Rußland und Preußen aufgetheilt, der preußiſche
Staat über die Oder zurückgeſchoben und alſo dem Czaren völlig unter-
worfen würde! Trog dieſe Hoffnung, ſo mußten freilich — Napoleon und
ſeine Marſchälle fühlten es wohl — die Verbündeten aus dem Waffen-
ſtillſtande größeren Gewinn ziehen als der Imperator ſelber. Aber auch für
den Fall der Fortſetzung des Krieges ſchien ihm die Waffenruhe unentbehr-
lich. Er brauchte Zeit um ſein Heer, namentlich die Reiterei zu verſtärken
und er wollte durch ſtarke Rüſtungen in Illyrien ſich gegen den Abfall
Oeſterreichs ſicherſtellen. Dieſe beiden Beweggründe gab er ſeinen Ge-
neralen als die entſcheidenden an. Am 4. Juni ſchloß er den Waffen-
ſtillſtand von Poiſchwitz. Wie ſcharf er auch rechnete, er täuſchte ſich
über die Kräfte des preußiſchen Staates und über das Weſen dieſes
Krieges, das jede halbe Löſung ausſchloß.


Graf Metternich ſtand am Ziele ſeiner Wünſche. Eine ſeltene Gunſt
des Glücks fügte Alles nach ſeinen Hoffnungen, warf dem Staate, der
für die Befreiung der Welt noch nichts gethan, die Entſcheidung in den
Schooß. Die kämpfenden Theile hielten einander durchaus das Gleich-
gewicht, wie man in Wien immer vorausgeſagt; ſie mußten, trotz Napo-
leons Widerwillen, die Mediation der Hofburg annehmen. Nun konnte
Oeſterreich ihnen nach ſeinem Ermeſſen den Frieden auferlegen oder, falls
wider Verhoffen die Waffen nochmals aufgenommen wurden, mit ſeiner
wohlgeſchonten Kraft als führende Macht in die Coalition eintreten. Stein
und Arndt, Blücher und die geſammte preußiſche Armee empfingen die
Nachricht von der Einſtellung der Feindſeligkeiten mit tiefem Unmuth:
nichts entſetzlicher als ein fauler Friede nach ſolchen Opfern! Der In-
grimm wuchs noch als man erfuhr, daß die Lützower Freiſchaar in den
erſten Tagen der Waffenruhe von Rheinbündnern verrätheriſch überfallen
und faſt vernichtet worden war. Der König hielt für nöthig ſein treues
Volk durch eine Proclamation zu beruhigen: der Waffenſtillſtand, ſagte
er ſtolz, ſei angenommen, damit die Nationalkraft ſich völlig entwickeln
könne; wir haben den alten Waffenruhm wieder gewonnen, bald werden
wir ſtark genug ſein auch unſere Unabhängigkeit zu erkämpfen. Zugleich
[462]I. 4. Der Befreiungskrieg.
befahl er bei Spandau ein verſchanztes Lager anzulegen, damit Preußen
im Nothfalle, nach den Plänen der Kriegspartei von 1811, den Ver-
zweiflungskampf allein fortſetzen könne. Auf Gneiſenaus Wunſch ver-
faßte Clauſewitz ſeine köſtliche Schrift über den Frühjahrsfeldzug und
führte darin den Nachweis, daß die Streitkräfte der Alliirten während
der Waffenruhe unverhältnißmäßig wachſen müßten. Ebenſo faßte Har-
denberg die Lage auf; ſein Tagebuch enthält hinter der Nachricht vom
Waffenſtillſtande die lakoniſche Bemerkung: „war doch gut.“ Wie er
Napoleons Stolz kannte, hielt er für ganz undenkbar, daß der noch un-
beſiegte Imperator auf Oeſterreichs Friedensvorſchläge eingehen würde;
ſeine Zuverſicht war um ſo feſter, da er die freundlichen Abſichten der
Hofburg weit überſchätzte.


Während Oeſterreich ſich anſchickte den Weltfrieden zu vermitteln,
führte der Staatskanzler die Verhandlungen mit England weiter und
ſchloß am 14. Juni den Vertrag von Reichenbach, kraft deſſen die beiden
Mächte ſich verpflichteten die Unabhängigkeit der von Frankreich unter-
drückten Staaten wieder herzuſtellen. Schritt für Schritt hatte er mit
der welfiſchen Habgier ringen müſſen, und wenn er ſchließlich zur Hälfte
nachgab, ſo befand er ſich in der Lage des Bedrängten, der in höchſter Geld-
noth einem Wucherer Wucherzinſen zahlt. Ohne die engliſchen Subſidien
war Preußen völlig außer Stande den Krieg fortzuführen, das hatte Har-
denberg ſchon im Februar dem britiſchen Cabinet erklärt. Als er ein-
mal dem General Stewart vorhielt, das Parlament und die engliſche
Nation würden ein ſo kleinliches Verfahren in großer Sache ſicherlich
nicht billigen, da erwiderte Jener mit unfreiwilligem Humor: „ich bin
weder von der Nation noch von dem Parlament hierhergeſchickt worden,
ſondern von S. K. Hoheit dem Prinzregenten!“ Stewart und ſein Amts-
genoſſe, der hölzerne, ſteif pedantiſche Lord Clancarty trugen die Ueber-
legenheit des Bezahlenden mit der ganzen ihrem Volke eigenthümlichen
Rückſichtsloſigkeit zur Schau; nach einer glaubwürdigen Ueberlieferung
iſt dem preußiſchen Staate ſogar die zollfreie Einfuhr aller engliſchen
Waaren zugemuthet worden. Dazu die bodenloſe Unwiſſenheit dieſer
Torys; aus Clancartys Briefen mußte Hardenberg erſehen, daß der Lord
den Kaliſcher Vertrag entweder nie geleſen oder gröblich mißverſtanden
hatte. Von ſelbſt verſtand ſich, daß Preußen nur halb ſo viel Subſidien
erhalten ſollte als Rußland, das überdies, Dank ſeiner geographiſchen
Lage, vor welfiſchen Landforderungen bewahrt blieb; die unglücklichen Zif-
fern des Kaliſcher Vertrags zeigten jetzt ihre praktiſche Bedeutung. Endlich
einigte man ſich über 666,666 Pfd. St., wofür Preußen 80,000 Mann
ins Feld ſtellen ſollte; und dieſe für einen ſolchen Krieg armſelige Summe,
um ein Drittel niedriger als die an Schweden bewilligten Subſidien,
ward nachher zum Theil in unbrauchbaren Uniformen bezahlt.


Gegen die Abtretung altpreußiſcher Gebiete ſträubte ſich das Pflicht-
[463]Bündniß mit England.
gefühl des Königs. Er wollte zur Noth Hildesheim, das nur vier Jahre
lang preußiſch geweſen, den Welfen überlaſſen, doch weder die getreuen
Ravensberger, noch das feſte Minden, das der Kriegskunſt jener Zeit als
der Schlüſſel der Weſerlinie galt. Auch als die welfiſchen Unterhändler
ſtatt deſſen die Abtretung von Oſtfriesland vorſchlugen, blieb der König
ſtandhaft; es kam zu einem heftigen Auftritt zwiſchen ihm und dem Staats-
kanzler. Die Welfen mußten ſich zuletzt begnügen mit dem Verſprechen,
daß Preußen ihrem Stammlande eine Abrundung von 250—300,000
Seelen, einſchließlich Hildesheim, verſchaffen werde. Die Ausſichten der
preußiſchen Diplomatie wurden von Tag zu Tag trüber; ſie hatte neue
drückende Verpflichtungen übernommen und zum Entgelt wieder nur die
allgemeine Zuſage erlangt, daß Preußen „zum Mindeſten“ ebenſo mächtig
werden ſolle wie vor dem Kriege von 1806. Einen Tag darauf ſchloß
Rußland ſein Kriegsbündniß mit England. Der Czar blieb für die Frie-
denswünſche ſeiner Generale wie für Napoleons Anerbietungen ganz un-
zugänglich: der Ruhm des Weltbefreiers und die polniſche Königskrone
ſtanden ſo glänzend vor ſeiner Seele, daß er der Ermahnungen Steins
jetzt kaum bedurfte, und der Kanzler Rumänzoff, der alte Gegner der
Coalition, entmuthigt um Entlaſſung bat. Die preußiſchen Patrioten
fanden ſich nach kurzer Verſtimmung raſch wieder zuſammen in der frohen
Gemeinſchaft der unſichtbaren Kirche, wie Niebuhr zu ſagen pflegte; ſie
bemerkten bald, wie ſehr die Waffenruhe der Ausbildung der Landwehr
zu gute kam. In Schleſien entfaltete Gneiſenau im Verein mit dem
wackeren Präſidenten Merkel eine gewaltige Thätigkeit, ſo daß bei Ablauf
des Stillſtands 68 Bataillone Landwehr formirt waren. Blücher ſchrieb
ihm zufrieden: „Landwehren Sie man druff, aber wenn die Fehde wieder
beginnt, dann geſellen Sie Sich wieder zu mich!“


Wie dieſe Rüſtungen, ſo bewieſen auch die Friedensvorſchläge des
Czaren und des Königs, daß die Verbündeten nicht geſonnen waren auf
halbem Wege ſtehen zu bleiben. Sie verlangten: Wiederherſtellung der
alten Macht von Preußen und Oeſterreich, Auflöſung des Rheinbundes
und des Herzogthums Warſchau, Rückgabe der Nordſeeküſte, endlich die
Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien. Es waren im We-
ſentlichen die Pläne von Bartenſtein; nur ein ungeheurer Krieg konnte
ſie verwirklichen. Ganz anders ſah Kaiſer Franz die Lage an. Ihm
graute vor dieſem Kriege, vor dem Enthuſiasmus der norddeutſchen Ju-
gend; aus tiefſter Seele hatte er ſeinem Schwiegerſohne zu der Groß-
görſchener Schlacht Glück gewünſcht und die Hoffnung ausgeſprochen, dies
erſte Treffen werde viele Leidenſchaften abgekühlt, viele Chimären zerſtört
haben. Furchtbar war ihm der Gedanke, daß er die unmilitäriſchen Ge-
wohnheiten ſeines ſchläfrigen Schreiberlebens aufgeben und, wie die beiden
verbündeten Monarchen, ins Feldlager gehen ſollte. Regungen der Zärt-
lichkeit für ſeine Tochter in Paris beirrten freilich den Hartherzigen nicht,
[464]I. 4. Der Befreiungskrieg.
dem die Diplomaten nachrühmten, er habe ganz politiſche Eingeweide.
Aber wozu ein wagnißvoller Krieg, wenn man im Frieden die Ueberlegen-
heit Frankreichs ein wenig einſchränken und eine glänzende Stellung an
der Seite des mächtigen Schwiegerſohns erlangen konnte? Auch ſeine
Staatsmänner waren von kriegeriſchen Entſchlüſſen noch weit entfernt.
Gentz ſchrieb noch am 24. Juni vertraulich an Karadja: die Hofburg
hege die Ueberzeugung, daß die Mittel zur Niederwerfung der franzöſiſchen
Uebermacht noch nicht reif ſeien; er fand es ſonderbar, daß die Alliirten,
während ſie Oeſterreich zur Friedensvermittlung aufforderten, gleichzeitig
mit England ein Kriegsbündniß ſchlöſſen.


Noch deutlicher ſprachen die Friedensvorſchläge ſelbſt, welche der
Mediator den Verbündeten vorlegte; ſie zeigten unzweideutig, daß die
Hofburg nichts dringender wünſchte als den Frieden, daß ihre bisherigen
Verhandlungen mit Napoleon keineswegs eine Komödie geweſen waren.
Oeſterreichs Wünſche beſchränkten ſich auf vier Punkte: Aufhebung des
Herzogthums Warſchau, das unter die Oſtmächte vertheilt werden ſollte;
Verſtärkung des preußiſchen Staates durch dieſe Theilung, durch die Rück-
gabe von Danzig und durch die Räumung der Feſtungen; Rückfall der
illyriſchen Provinzen an Oeſterreich; dazu die Wiederherſtellung von Ham-
burg und Lübeck und für den unwahrſcheinlichen Fall, daß England ſich
zu einem allgemeinen Frieden bereit fände, auch noch die Herausgabe der
deutſchen Nordſeeküſte. Alle Herzenswünſche der Hofburg kamen in dieſem
Programme an den Tag. Mit Illyrien erhielt Oeſterreich ſeine adriatiſche
Machtſtellung wieder; durch die Auflöſung von Warſchau verſchwand jener
Herd polniſcher Verſchwörungen, welchen Metternich immer als hochge-
fährlich für die drei Oſtmächte angeſehen hatte; Preußen aber empfing durch
die neue Theilung Polens grade jene Provinzen zurück, an denen dem
Könige wenig lag, wurde kaum wieder eine Macht zweiten Ranges; der
Rheinbund endlich blieb erhalten, nach Metternichs altem Grundſatze, daß
man die kleinen Höfe durch nachgiebige Güte gewinnen müſſe.


Welche Zumuthung für die Verbündeten! Sie ſchwankten lange, ver-
handelten ſeit dem 10. Juni mit Stadion im Hauptquartier zu Reichenbach
und gleichzeitig in wiederholten perſönlichen Zuſammenkünften mit dem
kaiſerlichen Hofe, der ſeine Reſidenz in die Schlöſſer an der böhmiſch-ſchleſi-
ſchen Grenze verlegt hatte. Trotz aller Bedenken blieb Hardenberg des zu-
verſichtlichen Glaubens, daß Napoleon niemals in dieſe beſcheidenen Bedin-
gungen willigen werde; forderten ſie doch von ihm was er noch in ſtarker
Hand feſthielt! Am 27. Juni unterzeichneten endlich Stadion, Neſſelrode
und Hardenberg den Reichenbacher Vertrag, welcher die öſterreichiſchen
Vorſchläge guthieß, aber zugleich der Hofburg zum erſten male eine halb-
wegs ſichere Verpflichtung auferlegte. Oeſterreich mußte verſprechen, falls
Napoleon die Friedensbedingungen bis zum 20. Juli nicht annähme, ſo-
fort die Waffen zu ergreifen, mit mindeſtens 150,000 Mann an dem
[465]Reichenbacher Vertrag v. 27. Juni.
Feldzuge theilzunehmen und einen gemeinſamen Kriegsplan mit den Ver-
bündeten zu vereinbaren; trat der Kriegsfall ein, ſo ſollte der von den
Alliirten urſprünglich vorgeſchlagene Plan einer gründlichen Neugeſtaltung
Europas als das Ziel des gemeinſamen Kampfes gelten, und man ver-
pflichtete ſich dieſen Plan im weiteſten Sinne auszulegen. Alſo eröffnete
ſich doch eine Ausſicht, die ſchwankende Hofburg in einen Krieg großen
Stiles hineinzureißen.


Aber auch nur eine Ausſicht. Denn unterdeſſen war Metternich
nach Dresden gegangen, in der feſten Abſicht Napoleon für den Frieden
zu gewinnen. Dort ging es hoch her, im Palaſte Marcolini: der ge-
ſammte kaiſerliche Hofſtaat war verſammelt, Talma und die Mars ſpielten
vor dem Imperator. Die franzöſiſche Nation ſollte glauben, daß ihr Be-
herrſcher den Frieden ernſtlich wolle und ſich auf die langen Verhand-
lungen eines großen europäiſchen Congreſſes einrichte. In Wahrheit war
all ſein Sinnen nur noch auf die Wiederaufnahme des Krieges gerichtet;
die Anwandlungen friedlicher Gedanken verflogen ſeit er den guten Fort-
gang ſeiner gewaltigen Rüſtungen ſah und die unbeirrte Feſtigkeit des
Czaren erkannte. Als er mit dem Abgeſandten des vermittelnden Hofes
in einer langen Unterredung unter vier Augen ſich beſprach, da brach
ſein beleidigter Stolz und der verhaltene Zorn über alle die getäuſchten
Hoffnungen, die er einſt an die öſterreichiſche Familienverbindung geknüpft,
in ſo leidenſchaftlichen und gehäſſigen Worten durch, daß Metternich jetzt
zum erſten male ernſtlich zu bezweifeln begann, ob eine Verſtändigung
mit dieſem Manne möglich ſei. Die Ueberhebung des Imperators, der
ſich längſt gewöhnt hatte die Habsburg-Lothringer als „ſtörriſche Vaſallen
der Krone Frankreich“ zu behandeln, erſchien dem weltkundigen öſter-
reichiſchen Diplomaten wie Raſerei; und dabei ſagte ſich der vollendete
Weltmann mit ſtillbefriedigtem Lächeln, dieſer unbändig polternde Allge-
waltige ſei doch nur ein Plebejer. Trotzdem trennte man ſich zuletzt
in leidlichem Einvernehmen — ſo ſtark waren noch immer Oeſterreichs
Friedenswünſche — und verabredete zugleich, daß ein förmlicher Frie-
denscongreß in Prag zuſammentreten, der Ablauf des Waffenſtillſtandes
aber vom 20. Juli auf den 10. Auguſt hinausgeſchoben werden ſolle.
Napoleon hatte ſeine Rüſtungen noch nicht beendet, und auch die Hofburg
hieß jede Vertagung willkommen, da ihr Heer ſich noch in unfertigem Zu-
ſtande befand.


Darauf neue peinliche Erwägungen im Hauptquartiere der Alliirten,
denen weder der Congreß noch die Verlängerung der Waffenruhe gelegen
kam. Am 4. Juli traf Hardenberg mit Neſſelrode, Metternich und Sta-
dion im Schloſſe Ratiborziz zuſammen. Es entſpann ſich eine lange
ſtürmiſche Verhandlung; Neſſelrode geſteht, daß er im ganzen Verlaufe
ſeiner langen diplomatiſchen Laufbahn kaum je einer bewegteren Sitzung
beigewohnt habe. Die Alliirten legten ſchließlich die Leitung der Prager
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 30
[466]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Verhandlungen vertrauensvoll in Oeſterreichs Hände, da Metternich drohte,
ſein Kaiſer werde ſonſt vielleicht in bewaffneter Neutralität verharren; aber
ſie erklärten zugleich ihren feſten Entſchluß den Krieg im äußerſten Falle
auch ohne Oeſterreich fortzuſetzen. Damit war Oeſterreichs Eintritt in den
Kampf nahezu entſchieden. Denn offenbar konnten Metternichs Pläne
nur gelingen, wenn er ſich von den Verbündeten nicht gänzlich trennte;
wurden die Waffen wieder aufgenommen und der öſterreichiſche Hof blieb
neutral, ſo mußte er fürchten von den Früchten der Siege der Coalition
ausgeſchloſſen, doch in die Folgen ihrer Niederlagen mit verwickelt zu
werden. Eine politiſche Nothwendigkeit, die ſtärker war als eines Men-
ſchen Wille, drängte den Wiener Hof aus ſeiner zuwartenden Haltung
heraus. Gleichwohl kehrten noch im Juli, ja bis zur Stunde der letzten
Entſcheidung bange Augenblicke des Zweifels wieder. Im preußiſchen
Hauptquartiere ſprach Ancillon nach ſeiner kleinmüthigen Weiſe für den
Frieden, und Kneſebeck führte in einer Denkſchrift*) aus: auf die Auf-
löſung des Rheinbundes ſei für jetzt nicht zu hoffen, der preußiſche Staat
könne aber zur Noth auch ohne Magdeburg beſtehen, wenn er nur auf
dem rechten Elbufer durch Mecklenburg und Schwediſch-Pommern wohl
abgerundet würde und eine feſte Poſition an der Weichſel erhielte! Der
König ſelbſt dachte muthiger, hielt dem Kaiſer Franz in einem eigen-
händigen Briefe vor: der preußiſche Staat müſſe in Deutſchland erheblich
vergrößert werden, wenn Oeſterreich an ihm einen ſtarken und zuver-
läſſigen Nachbar haben wolle.


Währenddem ward man auch mit Schweden endlich handelseinig.
Da Dänemark wieder förmlich zu dem franzöſiſchen Bündniß zurückkehrte,
ſo fielen Friedrich Wilhelms Bedenken hinweg, und er verbürgte durch
den Vertrag vom 22. Juli der Krone Schweden, die nunmehr dem Kali-
ſcher Bunde beitrat, die Erwerbung von Norwegen. Ein geheimer Artikel
verhieß den Dänen nöthigenfalls auf deutſchem Boden eine Entſchädigung
für Norwegen. Hardenbergs Leichtſinn fand daran kein Arg; er meinte,
dieſe Entſchädigung könne höchſtens in einem kleinen Fetzen Landes be-
ſtehen, da man ja Dänemark durch die Waffen bezwingen wollte, und
glaubte zu wiſſen, daß Schwediſch-Pommern auf keinen Fall den Kauf-
preis für Norwegen bilden werde. Hatte ihm doch Bernadotte mündlich
verſichert, Schweden ſei geneigt, den letzten Reſt ſeiner deutſchen Be-
ſitzungen an Preußen abzutreten **). Aber was war auf ſolche unbe-
ſtimmte Zuſagen des Treuloſen zu geben?


Mit jedem neuen Tage wuchſen die Hoffnungen auf Oeſterreichs
Beitritt; auch die Nachricht von Wellingtons ſtrahlendem Siege bei Vit-
[467]Prager Congreß.
toria und der gänzlichen Befreiung Spaniens wirkten ermuthigend auf die
Hofburg. Napoleon war unterdeſſen nach Mainz gegangen, auf Frank-
reichs claſſiſchen Boden, wie er das linke Rheinufer zu nennen pflegte.
Noch einmal hielt er dort großen Hoftag; Dalberg und die Fürſten von
Baden, Darmſtadt, Naſſau überbrachten perſönlich ihre unterthänigen
Glückwünſche zu den Siegen des Frühjahrs. Er freute ſich an dem An-
blick ſeiner herrlichen Truppen und kehrte dann nach Dresden zurück mit
dem ſtolzen Bewußtſein, daß er wieder ſtark genug ſei um der Welt Ge-
ſetze zu geben. Im Rauſche ſeines Stolzes that er gefliſſentlich Alles was
den vermittelnden Hof beleidigen und verletzen mußte, alſo daß Kaiſer
Franz zuletzt geradezu durch die gekränkte Fürſtenehre genöthigt ward mit
dem Schwiegerſohne zu brechen.


Die Geſandten der Alliirten in Prag, Anſtett und Humboldt, hatten
Beide ſehr beſchränkte Vollmacht und waren insgeheim Beide entſchloſſen
den Verhandlungen jedes mögliche Hinderniß in den Weg zu legen. Nie-
mand war für eine ſolche Aufgabe beſſer geeignet als Humboldt, der
Meiſter aller dialektiſchen Künſte; auch er fühlte ſich ergriffen von der
Begeiſterung der Zeit, ſo weit ſeine kühle Natur dazu fähig war, und
legte willig ſeine gelehrten Arbeiten zur Seite um einmal ganz der Politik
zu leben. Napoleons Hochmuth überhob ihn jedoch aller Anſtrengung.
Mehrere Tage lang mußte er mit Anſtett warten bevor ein franzöſiſcher
Bevollmächtigter eintraf; endlich erſchien Narbonne, aber ohne genügende
Beglaubigung. Wieder vergingen einige Tage bis Caulaincourt am
28. Juli ankam. Dann begann ein Austauſch von diplomatiſchen Noten
über die Form der Verhandlungen; die franzöſiſchen Bevollmächtigten
warfen dabei mit hämiſchen Bemerkungen nach allen Seiten hin um ſich
und ſetzten den leeren Formenſtreit hartnäckig fort bis zum letzten Tage
der Waffenruhe, dergeſtalt daß auf dieſem wunderlichſten aller Congreſſe
nicht einmal eine gemeinſame Sitzung der Bevollmächtigten ſtattfinden
konnte.


Der offenbare Hohn, der aus dem Auftreten der Franzoſen ſprach,
ſagte dem öſterreichiſchen Miniſter genug. Er fühlte, daß ſein Hof nicht
mehr zurück konnte und traf in der Stille ſeine Maßregeln um dem Kaiſer-
hauſe einen reichen Kriegslohn zu ſichern. Noch während des Congreſſes
wurde zu Prag am 27. Juli mit dem altbefreundeten England eine geheime
Vereinbarung geſchloſſen, wonach Oeſterreich das Königreich Italien und
Illyrien erhalten ſollte; der König von Sardinien erhielt ſein Erbe zurück,
Mittelitalien zuſammt Genua wurde unter den Erzherzögen der öſter-
reichiſchen Vetterſchaft aufgetheilt; Sicilien blieb dem von England be-
ſchützten Bourbonen. Ja England verſprach ſogar im Voraus Alles gut-
zuheißen was Oeſterreich auf der Halbinſel thun würde*). Die Abſicht
30*
[468]I. 4. Der Befreiungskrieg.
des britiſchen Cabinets war einfach die franzöſiſche Herrſchaft aus Italien
zu verdrängen; eine italieniſche Nation wollten die Torys nicht anerkennen,
auch über die Anſprüche des Papſtes ging man gleichmüthig hinweg. Das
Abkommen blieb tief geheim, da Rußland, der alte Gönner Piemonts,
unter Kaiſer Paul die italieniſchen Pläne Oeſterreichs lebhaft bekämpft
hatte. Von Preußen ſtand freilich kein Einſpruch zu erwarten. Daß die
Hofburg die alten Thugut’ſchen Projecte wieder aufnehmen würde, galt dem
Staatskanzler von vornherein als ſelbſtverſtändlich. Er hat ſogar Oeſter-
reich aufgefordert, die Italiener zum Freiheitskampfe aufzubieten; in Kne-
ſebecks Denkſchriften hieß es kurzab: „was Oeſterreich in Italien verlangt
liegt ja in der Natur der Dinge.“


Die Stellung des Mediators, der alſo bereits durch zwei geheime
Verträge ſeine Unparteilichkeit aufgegeben hatte, wurde täglich unhaltbarer;
das Poſſenſpiel des Congreſſes drängte zum Ende. Vier Tage vor Ab-
lauf der Waffenruhe wendete ſich Napoleon noch einmal mit einer ver-
traulichen Anfrage an Oeſterreich allein — offenbar nur um nachher der
friedensluſtigen franzöſiſchen Nation ſeine Verſöhnlichkeit beweiſen zu können.
Als Metternich darauf ein Ultimatum ſtellte, das die Reichenbacher Vor-
ſchläge in etwas ſchärferer Faſſung wiederholte, gab der Imperator eine
im Weſentlichen ablehnende Antwort und ließ dieſe abſichtlich zu ſpät von
Dresden abgehen, ſo daß ſie erſt am 11. Auguſt in Prag eintreffen konnte.
Der Waffenſtillſtand war abgelaufen ohne daß Frankreich die Friedens-
bedingungen angenommen hatte. Mit dem letzten Glockenſchlage des 10.
Auguſt erklärten Humboldt und Anſtett, ihre Vollmacht ſei erloſchen, der
Congreß beendigt. Die Verpflichtungen von Reichenbach traten nunmehr
in Kraft, der Trotz Napoleons hatte Oeſterreich in das Lager der Coali-
tion getrieben.


Jener große europäiſche Bund, woran die Staatsmänner ſeit acht-
zehn Jahren immer vergeblich gearbeitet, jetzt ſtand er endlich in Waffen:
alle die vier alten Großmächte, mit ihnen Schweden und demnächſt auch
die wiederbefreiten Staaten der iberiſchen Halbinſel. Und diesmal führte
nicht das Ungefähr diplomatiſcher Verwickelungen die Höfe zuſammen,
ſondern eine hohe Nothwendigkeit: es galt, die Freiheit der Welt, das
lebendige Nebeneinander der Nationen, worauf die Größe der abendlän-
diſchen Geſittung beruht, wiederherzuſtellen. Wohl traten mit England
und Oeſterreich zwei Mächte in das Bündniß ein, denen jedes Verſtänd-
niß abging für die Sehnſucht des norddeutſchen Volkes. Sonderbar genug
ſtach die gewundene Sprache des öſterreichiſchen Kriegsmanifeſtes von dem
herzerwärmenden ehrlichen Tone der preußiſchen Aufrufe ab. Wie war
*)
[469]Ende der Waffenruhe.
doch Gentzens reicher Geiſt in Wien verknöchert und verdorrt, daß er jetzt
mit byzantiniſchem Redeſchwall den kaiſerlichen Schwiegervater verherrlichte,
der über gewöhnliche Bedenklichkeiten weit erhaben, für das heiligſte Intereſſe
der Menſchheit hingegeben habe was ſeinem Herzen das Theuerſte war! Auch
die bitteren Bemerkungen des Manifeſtes über die dem regelmäßigen Gange
der Regierungen zuvoreilenden ungeduldigen Wünſche der Völker ließen
ahnen, daß der Krieg durch Oeſterreichs Theilnahme ſeinen Charakter ver-
ändern, manche Hoffnung der Patrioten in Enttäuſchung enden würde.
Doch es ſtand nicht anders, ohne Oeſterreichs Zutritt konnte die Coali-
tion ſich gegen das Weltreich nicht behaupten. Der Ausgang des Prager
Congreſſes war ein großer diplomatiſcher Erfolg; Friedrich Wilhelm wußte,
daß er ihn gutentheils der Gewandtheit ſeines Staatskanzlers verdankte.
Erleichterten Herzens eilte Humboldt in jener verhängnißvollen Mitternacht
des 10. Auguſt auf den Hradſchin um das verabredete Zeichen zu geben;
bald flammten die Fanale auf den Kuppen der Rieſenberge und trugen
noch in derſelben Nacht nach Schleſien hinüber zu dem aufjubelnden
preußiſchen Heere die frohe Kunde, daß in ſechs Tagen der Krieg von
Neuem beginne.


Durch den glücklichen Fortgang der preußiſch-ruſſiſchen Rüſtungen
und durch den Zutritt von 110,000 Mann Oeſterreichern wurde endlich
das Gleichgewicht der Kopfſtärke zwiſchen den beiden Parteien annähernd
hergeſtellt. Die Coalition verfügte über eine Feldarmee von über 480,000
Mann, worunter etwa 165,000 Preußen und nahezu ebenſo viel Ruſſen,
ſie war dem Feinde namentlich durch die Stärke ihrer Reiterei und Artil-
lerie überlegen. Napoleon hatte ſein Heer auf 440,000 Mann gebracht.
Die Fürſten des Rheinbundes leiſteten willig Heeresfolge, zumal da der
Protector wieder den Schirmherrn des Particularismus ſpielte und ihnen
die Gefahr der Wiederherſtellung des alten deutſchen Reichs, des Verluſtes
der Souveränität in finſteren Farben ſchilderte. Nur der Münchener Hof
zeigte eine verdächtige Saumſeligkeit; er nahm die Kriegserklärung Oeſter-
reichs zum Vorwande um die Hauptmaſſe ſeines Heeres im Lande zurück-
zuhalten, ſtellte nur eine ſchwache Diviſion auf den norddeutſchen Kriegs-
ſchauplatz. Verließ das Glück die franzöſiſchen Fahnen, ſo war Baiern zum
Abfall vorbereitet. Unter den unglücklichen Truppen des Rheinbundes
nahm der Unmuth überhand ſeit den theuer erkauften fruchtloſen Siegen
des Frühjahrs. Napoleon traute ihnen nicht, am wenigſten den Weſt-
phalen. Trotzdem ſah er dem Kriege mit Zuverſicht entgegen. Die ge-
ringe Ueberzahl der Feldarmee der Verbündeten wurde reichlich aufge-
wogen durch den Beſitz der Feſtungen des Nordoſtens, deren Einſchließung
faſt die Hälfte der preußiſchen Landwehr ſowie einen großen Theil des ruſſi-
ſchen Heeres in Anſpruch nahm, vornehmlich aber durch die günſtige centrale
Stellung an der Elblinie, die von Glückſtadt und Hamburg bis hinauf
[470]I. 4. Der Befreiungskrieg.
nach Dresden und Königſtein in Napoleons Händen war. Faſt auf der
nämlichen Stelle hatte einſt König Friedrich ſechs Jahre lang eine un-
gleich bedrohlichere Uebermacht in Schach gehalten; warum ſollte dem
Kriegsfürſten des neuen Jahrhunderts nicht auch gelingen, durch gewandte
Benutzung der kurzen inneren Operationslinien, die er beherrſchte, die
Gegner zu überraſchen, ihre weit von einander getrennten Heere vereinzelt
zu ſchlagen?


Den ſittlichen Kräften der Coalition erwuchs aus dem Beitritt Oeſter-
reichs kein Gewinn. Die kaiſerlichen Truppen ſchlugen ſich tapfer wie zu
allen Zeiten; von der ſtürmiſchen Begeiſterung des norddeutſchen Volkes
empfanden ſie wenig, weniger ſogar als die Ruſſen, die nicht nur ihren
alten Ruhm unerſchütterlicher paſſiver Todesverachtung wieder bewährten,
ſondern auch durch das lange Zuſammenleben mit den Preußen und durch
die Gunſt des Glücks nach und nach Freude gewannen an dem unwillig
begonnenen deutſchen Kriege. Der Geiſt von 1809 erwachte nicht wieder.
Die Völker Oeſterreichs ſahen ſich ungern aufgeſtört aus der bequemen
Ruhe der jüngſten vier Jahre, ſie ſprachen ihre Furcht vor einem neuen
Einbruche der franzöſiſchen Eroberer ſo lebhaft aus, daß Erzherzog Johann
ſeinen Grazern Muth einſprechen mußte; ſie bemitleideten die ausziehenden
Soldaten und behielten von den Thaten dieſes Krieges nichts im Gedächtniß,
während die Erinnerung an Aspern und Wagram in Aller Herzen fortlebte.
Die breite Kluft, welche das geiſtige Leben der Oeſterreicher von den übrigen
Deutſchen trennte, wurde durch den Befreiungskrieg nicht überbrückt. Nur
Anſtands halber, nur um nicht allzu weit hinter Preußen zurückzubleiben
ließ auch Kaiſer Franz eine Deutſche Legion für Freiwillige aus dem
Reiche bilden, ein Freicorps, das niemals irgend eine Bedeutung erlangte.
Die altgewohnte unbehilfliche Schwerfälligkeit der Führung und Verwal-
tung des öſterreichiſchen Heeres erregte wieder den Spott der franzöſiſchen
Soldaten über die Kaiſerlicks; glänzenden Kriegsruhm erwarb ſich, außer
einigen kühnen Reiteroffizieren, kein einziger der k. k. Generale.


Da die Hofburg den Krieg nur mit halbem Herzen führte, beſtändig
in Angſt vor der nationalen Begeiſterung der Preußen und den polniſchen
Plänen des Czaren, ſo konnte ſie auch ihren tüchtigſten Feldherrn nicht
verwenden; überdies war Erzherzog Karl ſeinem mißtrauiſchen kaiſerlichen
Bruder verdächtig und als alter Gegner der ruſſiſchen Allianz dem Peters-
burger Hofe unwillkommen. Fürſt Schwarzenberg erhielt den Oberbefehl,
ein tapferer Reiterführer und ehrenhafter Cavalier, der mit feinem diplo-
matiſchem Takte die mächtigen ſtreitenden Intereſſen im großen Haupt-
quartiere auszugleichen, unter den ſchwierigſten Verhältniſſen, trotz der
Anweſenheit von drei Monarchen die buntſcheckige Maſſe der verbün-
deten Heere leidlich zuſammenzuhalten verſtand; doch dem Genie Napo-
leons fühlte er ſich nicht gewachſen, der große Ehrgeiz des geborenen Feld-
herrn blieb ihm fremd. Sein trefflicher Generalſtabschef Radetzky beſaß
[471]Beginn des Herbſtfeldzugs.
geringen Einfluß; in der Regel gaben die Generale Duca und Langenau
den Ausſchlag im Kriegsrathe, zwei Theoretiker aus Lloyds behutſam
methodiſcher Kriegsſchule, denen nichts ſchrecklicher war als das Wagniß
der Feldſchlacht. Noch war der Zauber des napoleoniſchen Namens un-
gebrochen. Selbſt Czar Alexander begann zu glauben, daß die neufran-
zöſiſche Kriegskunſt allein durch ihre eigenen Schüler zu überwinden ſei;
er ſetzte ſein Vertrauen vornehmlich auf Bernadotte und zwei andere
franzöſiſche Ueberläufer, Moreau und Jomini, ja er erwartete ſogar, daß
dieſe Abtrünnigen Zwieſpalt und Parteikampf im napoleoniſchen Heere her-
vorrufen könnten — eine Hoffnung, die an dem ehrenwerthen Patriotis-
mus der Franzoſen zu Schanden wurde. Nur im preußiſchen Lager lebte
das leidenſchaftliche Verlangen nach großen durchſchlagenden Entſcheidungen
und das ſtolze Selbſtvertrauen, das den Sieg verbürgt; aber erſt im Ver-
laufe des Kriegs, nach errungenem Erfolge erlangten die preußiſchen Heer-
führer, die bedeutendſten militäriſchen Talente der Coalition, Macht und
Anſehen.


Die Abſicht Metternichs ſeinem Hofe die führende Stellung in der
Allianz zu verſchaffen, erfüllte ſich vollſtändig. Wie der Oberbefehl der
geſammten Streitkräfte dem Fürſten Schwarzenberg anvertraut wurde,
ſo berückſichtigte auch der Kriegsplan der Verbündeten in erſter Linie die
Intereſſen Oeſterreichs. General Toll, der fähigſte Generalſtabsoffizier
der ruſſiſchen Armee, vereinbarte am 12. Juli zu Trachenberg mit Kne-
ſebeck und dem ſchwediſchen Kronprinzen die Bildung dreier Heere, deren
jedes aus Truppen der verſchiedenen Nationen gemiſcht ſein ſollte, während
Blücher umgekehrt ſeine Preußen unter ſeinem eigenen Befehle zu ver-
einigen wünſchte. Die Hauptarmee von 235,000 Mann verſammelte ſich
an der Nordgrenze von Böhmen unter Schwarzenbergs unmittelbarer
Führung; dadurch wurde Kaiſer Franz ſeiner ſchwerſten Sorge ledig, eine
Verlegung des Kriegsſchauplatzes nach dem Innern Oeſterreichs war
kaum noch zu befürchten. In den Marken und an der Niederelbe ſtand
die Nordarmee unter Bernadotte, über 150,000 Mann, in Schleſien
Blücher mit 95,000 Mann. Alle drei Heere ſollten die Offenſive er-
greifen und ihren Sammelplatz im Lager des Feindes ſuchen; wendete
ſich Napoleon von ſeinem Stützpunkte Dresden aus mit überlegener Macht
gegen eine der drei Armeen, ſo wich dieſe aus und die beiden anderen
bedrohten ihn in Rücken und Flanke. So hatte das alte Europa doch
endlich etwas gelernt von der neuen großartigen Kriegsweiſe: nicht mehr
die Beſitznahme einzelner geographiſcher Punkte, ſondern die Beſiegung
des Feindes wurde als der Zweck der Operationen bezeichnet. Frei-
lich ſtimmten die überbehutſamen Vorſchriften für die Ausführung wenig
zu der Kühnheit des ſtrategiſchen Grundgedankens. Der ſchleſiſchen
Armee dachte das große Hauptquartier nur die beſcheidenen Aufgaben
eines großen Obſervationscorps zu, da ſie die ſchwächſte von allen war
[472]I. 4. Der Befreiungskrieg.
und der ſtärkſten Poſition des Feindes gegenüberſtand; mit Mühe erwirkte
ſich Blücher die Erlaubniß unter außerordentlich günſtigen Umſtänden eine
Schlacht anzunehmen. Seine Offiziere klagten über die beſcheidene Rolle,
die man ihnen zuwies, und beneideten ihre nach Böhmen zur Hauptarmee
abmarſchirenden Kameraden; der alte Held aber nahm ſich vor, ſeine Voll-
macht im allerweiteſten Sinne auszulegen. Ein Glück übrigens, daß man
im großen Hauptquartiere die feindlichen Streitkräfte um volle 100,000
Mann unterſchätzte; ſo gewannen die Bedachtſamen doch einigen Muth.


Auch Napoleon war über die Stärke und die Stellungen der Ver-
bündeten ſchlecht unterrichtet; er ſuchte ihre Hauptarmee in Schleſien
und ſchlug die Kopfzahl der Nordarmee viel zu niedrig an. Sein nächſtes
Ziel blieb noch immer die Vernichtung der preußiſchen Macht. Derweil
der Imperator ſelbſt die ſchwierige Aufgabe übernahm, von Dresden aus
zugleich die böhmiſche und die ſchleſiſche Armee zurückzuhalten, ſollte
Oudinot Berlin erobern, die Landwehr entwaffnen, die preußiſche Volkser-
hebung völlig niederwerfen. Glückte dieſer Schlag, ſo ſchien es möglich
Stettin und Küſtrin zu verſtärken, vielleicht ſelbſt Danzig zu entſetzen;
der Zauderer Bernadotte wich dann unzweifelhaft an die Küſte zurück,
Preußen und Rußland aber mußten ihre geſammten Streitkräfte in den
bedrohten Nordoſten werfen und ſich von Oeſterreich trennen. Alſo wurde
die Coalition gelockert, und vielleicht gelang es alsdann der diplomatiſchen
Kunſt Napoleons, ſie gänzlich zu zerſprengen. Da er an den vollen Ernſt
der Hofburg auch jetzt noch nicht glaubte, ſo vermied er abſichtlich einen
Zug gegen Böhmen; Kaiſer Franz durfte an der wohlwollenden Mäßigung
des liebevollen Schwiegerſohnes nicht zweifeln. Die Befürchtung, daß er
umgangen und vom Rheine abgeſchnitten werden könne, wies der Kriegs-
erfahrene lachend zurück: „ein Heer von 400,000 Mann umgeht man
nicht.“ Er wußte wohl, welchen Vortheil ihm die Einheit des Oberbefehls
und die concentrirte Stellung ſeines Heeres boten, und zog was irgend
verfügbar war nach Oberſachſen heran. Nur das Corps Davouſts wurde
aus politiſchen Gründen an der Niederelbe zurückgehalten, denn das feſte
Hamburg durfte um keinen Preis einer engliſchen Landungsarmee zum
Brückenkopfe dienen.


Während Oudinot den Marſch nach den Marken antrat, wendete
ſich Napoleon zunächſt gegen die ſchleſiſche Armee, in der Hoffnung den
thatenfrohen Blücher zu einer Schlacht zu verleiten. Der preußiſche
Feldherr wich der Uebermacht aus und ging erſt nach einigen Tagen
wieder zum Angriff vor, als Napoleon mit einem Theile ſeines Heeres
nach Dresden zurückeilte um die heranrückende böhmiſche Armee abzu-
wehren. Macdonald, der in Schleſien zurückgeblieben, wähnte die Ver-
bündeten noch im vollen Rückzuge und marſchirte am 26. Auguſt, keiner
Schlacht gewärtig, gegen Jauer; ſeine Truppen drängten die Vorhut der
Preußen zurück, überſchritten die vom Regen hoch angeſchwellten Ge-
[473]Schlacht an der Katzbach.
wäſſer der Katzbach und der wüthenden Neiße, ſtiegen dann ſorglos an
den ſteilen Thalrändern empor auf die Hochebene, die ſich über dem Zu-
ſammenfluß der beiden Gebirgsbäche erhebt. Droben aber ſtand York,
hinter ſanften Anhöhen verſteckt, mit dem Centrum des Blücher’ſchen
Heeres; er ließ einen Theil der Feinde auf die Hochebene heraufkommen
und brach alsdann urplötzlich mit zermalmendem Ungeſtüm aus dem
Hinterhalt hervor, auf ſeinem rechten Flügel von Sackens Ruſſen kräftig
unterſtützt. Ein furchtbares Blutbad begann. Der überraſchte Feind ſtand
eingepreßt in dem Winkel zwiſchen den beiden Gebirgswaſſern; Kolben
und Bajonett bildeten die einzigen Waffen des Fußvolks, da die Musketen
im Regen verſagten. Bei Anbruch der Nacht warf Katzelers Reiterei die
aufgelöſten Trümmer des feindlichen Heeres in das Thal der wüthenden
Neiße hinunter, Tauſende fanden den Tod in den wilden Wogen. Nur
die Saumſeligkeit Langerons, der mit ſeinem ruſſiſchen Corps auf dem
linken Flügel dem Kampfe fern blieb, rettete die Armee Macdonalds vor
gänzlichem Untergange. Gneiſenau aber gedachte jener Schreckensnacht nach
der Schlacht von Jena und befahl die letzte Kraft von Roß und Mann an
die Verfolgung zu ſetzen. Erſchöpft von der Schlacht und den Hin- und
Hermärſchen der jüngſten Tage lagerten die ſiegreichen Truppen während
der Nacht auf dem aufgeweichten Boden, ohne Feuer, hungernd und frierend,
in abgeriſſenen dünnen Kleidern, die Meiſten ohne Schuhe; ihrer Viele
erlagen der übermenſchlichen Anſtrengung. Dann brach man auf, den
Geſchlagenen nach. Am 29. wurde die Diviſion Puthod bei Plagwitz
von den Nachſetzenden erreicht und völlig zerſprengt noch bevor ſie das
Wildwaſſer des Bobers überſchreiten konnte; auch die iriſche Legion, die
unter franzöſiſchem Banner gegen den engliſchen Todfeind focht, fand
ihr Grab in den Wellen des deutſchen Fluſſes. So hielt die wilde Jagd
noch Tagelang an, immer bei ſtrömendem Regen, verluſtreich für die
Sieger, verderblich für die Fliehenden, bis endlich am 1. September
Blücher ſeinem Heere triumphirend verkünden konnte, das geſammte
ſchleſiſche Land ſei vom Feinde geſäubert.


Die Schlacht an der Katzbach war der erſte wahrhaft fruchtbare Sieg
dieſes Feldzugs. Sie befreite Schleſien, ſie hob die Zuverſicht im Heere
der Verbündeten und brachte dem Werke Scharnhorſts eine glänzende
Rechtfertigung, da die neue Landwehr ſich den beſten Linientruppen eben-
bürtig zeigte; ſie erweckte was jedem nationalen Kriege unentbehrlich iſt,
die Freude an einem volksthümlichen Helden, zu dem der kleine Mann
bewundernd aufſchauen konnte. Der Name Blüchers war in Aller Munde.


Wer den Dingen näher ſtand wußte freilich, daß die Kriegspläne des
alten Helden aus Gneiſenaus Kopfe ſtammten. So war der königliche Mann
nun doch der Marſchall von Schleſien geworden, wie ihm Clauſewitz geweiſ-
ſagt. Er hatte einſt in unheilvollen Tagen auf den Wällen Kolbergs die
geſchändeten preußiſchen Fahnen zuerſt wieder zu Ehren gebracht. Jetzt wußte
[474]I. 4. Der Befreiungskrieg.
er die ſchleſiſche Armee ſo ganz zu durchdringen mit der feurigen That-
kraft ſeines heldenhaften Geiſtes, daß dies kleinſte Heer der Coalition bald
der Schwerpunkt ihrer Streitkräfte wurde; denn das ſtand ihm außer
Zweifel, daß ein Muthiger Muthige ſchaffen könne. Bald hatte ſich zwi-
ſchen ihm und Blücher jenes menſchlich ſchöne Verhältniß unverbrüchlichen
Vertrauens gebildet, das für Deutſchlands Geſchicke ebenſo ſegensreich
werden ſollte wie vormals die Freundſchaft von Luther und Melanchthon,
von Schiller und Goethe. Willig ging der Alte auf die Ideen ſeines
Generalquartiermeiſters ein und fand ſich darin zurecht als wären ſie ſein
eignes Werk. Der Jüngere aber wahrte mit feinem Takte das Anſehen
des Commandirenden, befahl immer nur in Blüchers Namen, hielt ſich
ſo beſcheiden zurück, daß ſeine Frau ſelber lange nichts von der eigent-
lichen Wirkſamkeit ihres Gatten erfuhr, und ertrug es ohne Murren, daß
er der Mannſchaft faſt ebenſo unbekannt blieb wie einſt P. v. Weſtphalen
den Soldaten Ferdinands von Braunſchweig. Beim Ausbruch des Krieges
hatte er nur die Karten von Weſtdeutſchland und Frankreich mit ins Feld-
lager genommen — ſo beſtimmt rechnete er auf einen raſchen Siegeszug;
nun warf ihn das Geſchick wieder in dieſe Oſtmark Deutſchlands, wo er
einſt ſeine beſten Jahre im Einerlei ſubalternen Dienſtes verbracht hatte.
Die Langeweile jener öden Zeit kam ihm jetzt zu gute; er kannte Weg
und Steg im Lande, er wußte, daß die heimtückiſchen kleinen Bäche des
Rieſengebirges bei Unwetter raſch zu reißenden Strömen werden, und
baute darauf ſeinen Plan. Nichts ſchien ihm erbärmlicher als das Aus-
ruhen auf den errungenen Lorbeeren; kaum war Schleſien befreit, ſo
faßte er alsbald das Ziel der Vereinigung der drei Armeen ins Auge.
Nur ſo konnte eine große Entſcheidung erzwungen werden, und dieſes
letzten Erfolges fühlte ſich der Kühne ſo ſicher, daß er ſchon im September,
zu einer Zeit da die Meiſten kaum auf die Eroberung von Dresden zu
hoffen wagten, ſeinen Offizieren vorausſagte, ſie ſollten noch in dieſem
Herbſt Trauben am Rheine pflücken. Er nannte Napoleon gern ſeinen
Lehrer, denn von ihm hatte er gelernt die Künſtelei der alten militäriſchen
Schule zu verachten; erſt in der Hauptſtadt des Feindes hoffte er die Waffen
niederzulegen. So ſtand er unter den Heerführern der Verbündeten als der
Pfadfinder des Sieges, wie ihn der Meißel Chriſtian Rauchs dargeſtellt
hat, mit vorgeſtrecktem Arm hinweiſend auf des Krieges letztes Ziel, der
einzige Mann, der ſich der Feldherrngröße Napoleons gewachſen fühlte.
Fortiter, fideliter, feliciter! — ſo lautete der hochgemuthe Wahlſpruch
ſeines Wappens.


Die Begeiſterung der Jugend und die Gunſt der Frauen wendeten
ſich der heiteren Kraft und Friſche des genialen Mannes von ſelber zu;
vor den älteren Kameraden mußte er ſich erſt durch den Erfolg rechtfer-
tigen. Die drei Corpsführer der ſchleſiſchen Armee fügten ſich ungern
den Weiſungen des jungen Generalmajors; immerhin war Sackens
[475]Das ſchleſiſche Heer.
Eigenſinn und Langerons Ungehorſam noch erträglicher als das gallige
Tadeln und Klagen Yorks. Der Hochconſervative hatte den alten Groll
gegen die Reformpartei noch nicht überwunden, nannte Blücher einen rohen
Huſaren, Gneiſenau ein phantaſtiſches Kraftgenie, ſchalt über die Heer-
verderber, die den erſchöpften Truppen unmögliche Entbehrungen und
Gewaltmärſche zumutheten, forderte wiederholt ſeinen Abſchied. Blüchers
Hochherzigkeit ließ ſich von Alledem gar nicht anfechten; er meinte gleich-
müthig: „der York iſt ein giftiger Kerl, er thut nichts als räſonniren,
aber wenn es losgeht dann beißt er an wie Keiner.“


Unbeirrt von Blüchers vorwärtsdrängendem Ungeſtüm wie von den
beſorgten Warnungen der Generale ſchritt Gneiſenau ſeines Weges. Durch
den Sieg an der Katzbach entwaffnete er den Widerſtand. Der Tadel wagte
ſich nicht mehr ſo laut hervor, obſchon er nicht gänzlich verſtummte; und
als auch im weiteren Verlaufe des Krieges faſt immer die ſchönſten Kränze
dieſem kleinen Heere zufielen, da galt es bald als ein Ruhm der ſchleſiſchen
Armee anzugehören. Ein frohes Selbſtgefühl verband alle ihre Glieder;
ſie wußte, daß ſie wirklich, wie Clauſewitz ſagte, die ſtählerne Spitze war
an dem ſchwerfälligen eiſernen Keile der Coalition. Selbſt die Ruſſen ver-
ſpürten etwas von der eigenthümlichen Siegesfreudigkeit, die von Blüchers
Hauptquartier ausſtrahlte. Einige ihrer Führer, wie Sacken und der toll-
kühne Reitergeneral Waſſiltſchikow lebten mit den Preußen in vertrau-
licher Kameradſchaft; die Koſaken begrüßten den greiſen Feldherrn mit
endloſen Hurrahrufen wo er ſich zeigte und erzählten einander, der Alte
ſei eigentlich ein Koſakenkind, am blauen Don geboren.


Einem jungen Deutſchen mochte wohl das Herz aufgehen in dem
Heldenkreiſe, der ſich um Blücher verſammelte. Da ſtanden neben
York die Brigadeführer Steinmetz, jener Horn, dem die Franzoſen vor’m
Jahre den Namen des preußiſchen Bayard gegeben hatten, und der Bruder
der Königin Luiſe, Karl von Mecklenburg; die verwegenen Reiterführer Jür-
gaß und Sohr, der Liebling Blüchers Katzeler und der tolle Platen mit ſeiner
ewig brennenden Pfeife; unter den Jüngeren Schack und Graf Branden-
burg, der Miniſter von 1848, jene Beiden, die ſich York gern als Preußens
künftige Feldherren dachte; neben Gneiſenau der ſchwunglos nüchterne
Müffling, der Einzige faſt, der zu dem jugendlichen Tone dieſes Kreiſes
nicht paßte, dann Rühle von Lilienſtern, der Freund von Heinrich Kleiſt,
ein hochgebildeter, geiſtvoller Offizier, der immer zur Hand ſein mußte
wenn es galt durch perſönliche Ueberredung auf die beiden anderen Haupt-
quartiere einzuwirken, dann Fehrentheil, der nachher in der demagogiſchen
Phantaſterei des Teutonenthums unterging, während der junge Gerlach
ſpäterhin ein Führer der Hochconſervativen wurde; dazu die Schriftgelehr-
ten, wie Blücher ſie ſpottend nannte: der liebenswürdige, fromme Naturfor-
ſcher Karl v. Raumer, der philoſophiſche Schwärmer Steffens, endlich Eich-
horn, der die Erinnerungen dieſer reichen Monate wie ein heiliges Vermächt-
[476]I. 4. Der Befreiungskrieg.
niß im Herzen bewahrte und nachher durch den Ausbau des Zollvereins
das Werk des Befreiungskrieges zu vollenden ſtrebte. Es war wie ein Mikro-
kosmos des neuen Deutſchlands: faſt alle die Parteien der Politik und Lite-
ratur, welche in den folgenden Jahrzehnten das deutſche Leben erfüllten,
fanden hier ihre Vertreter. Keine Spur mehr von dem rohen Bildungshaſſe
der alten Armee; an müßigen Abenden laſen die Offiziere zuweilen Shake-
ſpeare’ſche Dramen mit vertheilten Rollen. Mit rückſichtsloſer Offenheit
ſagte Jeder ſeine Meinung grade heraus wie Blücher ſelber; nirgends
wurde die Felonie der deutſchen Fürſten ſchärfer verurtheilt, die Ver-
nichtung der rheinbündiſchen Souveränität und die Verſtärkung der preu-
ßiſchen Macht ſtürmiſcher gefordert als in der Umgebung des preußiſchen
Feldherrn. „Geht es nach mir, ſagte General Hünerbein zu dem Kur-
prinzen von Heſſen, ſo bekommt Ihr Vater nicht ſo viel Land zurück als
ich Schmutz unter meinen Nägeln habe!“


Welch ein Gegenſatz zu dem Hauptquartiere Napoleons! Wie war
es doch ſo unheimlich ſtill geworden um den neuen Caeſar ſeit das Glück
ihn mied; finſter brütend ſaß er am Wachefeuer, um ihn in weitem Kreiſe
ſcheu flüſternd das Gefolge, bis er dann plötzlich mit barſchem Ruf den
Befehl zum Aufbruch gab und unter einer Fluth grober Schimpfwörter,
die vom Marſchall bis zum Stallknechte herniederregnete, der Zug ſich
wieder in Bewegung ſetzte. Den Diplomaten und gelehrten Strategen
im Hauptquartiere der drei Monarchen erſchien die ſchleſiſche Armee wie
eine geſchloſſene politiſche Partei. Mit Entſetzen hörten Metternich und
Langenau von der freudigen Kampfluſt und dem lauten Freimuth, von
dem preußiſchen Stolze und der nationalen Leidenſchaft des Blücher’ſchen
Lagers. Auch in der Umgebung König Friedrich Wilhelms wurden ſchon
ängſtliche Stimmen laut, die vor den gefährlichen Plänen der ſchleſiſchen
Heißſporne warnten; in Flüſterworten und Zwiſchenträgereien kündigte
ſich bereits ein Parteikampf an, der auf Jahre hinaus für Preußen ver-
hängnißvoll werden ſollte. Nur Stein ſtand unentwegt auf Blüchers
Seite und legte bei dem Czaren ſein Fürwort ein für jeden Vorſchlag
des alten Helden. Von dem ſchleſiſchen Heere gingen alle großen Ent-
ſchließungen der Allianz aus, und mit vollem Rechte ſagte Gneiſenau,
die Nachwelt werde ſtaunen, wenn ſie dereinſt die geheime Geſchichte dieſes
Krieges erfahre.


Inzwiſchen war auch Napoleons dritte Unternehmung gegen Berlin
geſcheitert. Die natürliche Schwerfälligkeit und Zwietracht aller Coali-
tionsheere zeigte ſich nirgends ſo grell wie in der Nordarmee. Was hatte
auch dieſer napoleoniſche Marſchall Bernadotte gemein mit dem heiligen
Zorne des deutſchen Volkes? Sein Vaterland hatte er aufgegeben, doch
nicht das franzöſiſche Selbſtgefühl. Vor ſieben Jahren war er denſelben
preußiſchen Generalen, die ſich nun ſeinen Befehlen fügen ſollten, als
Sieger gegenübergetreten; er dachte klein von ihrer Begabung und fragte
[477]Die Nordarmee.
verächtlich, ob das die Männer ſeien, die den großen Napoleon ſchlagen
ſollten. Von den abgeriſſenen, elend verpflegten preußiſchen Truppen,
die ſich mit fünferlei verſchiedenen Gewehren und ſchlechten eiſernen Ka-
nonen behelfen mußten, erwartete er nichts; von ihren Geſinnungen wußte
er ſo wenig, daß er ihnen die Großthaten der Franzoſen von 1792 als
leuchtendes Beiſpiel vorhielt. Ein vorſichtiger Feldherr war er immer
geweſen und jetzt am Wenigſten wollte er Großes wagen, da eine Nieder-
lage ſeinem Hauſe leicht den noch ungeſicherten ſchwediſchen Thron rauben
konnte. Gewichtige politiſche Gründe geboten ihm ſeine Schweden ängſt-
lich zu ſchonen; der Krieg war in Schweden nicht beliebt, der feine Plan
Norwegen in Deutſchland zu erobern blieb dem Volke unverſtändlich, und
woher ſollte das menſchenarme Land Erſatz ſchaffen für ein verlorenes
Heer? An den Preußen war es — ſo ſagte er unverhohlen — ihre Haupt-
ſtadt mit ihrem Blute zu vertheidigen. Da er in ſeiner Eitelkeit ſich
ſelber für den gefährlichſten Gegner Napoleons hielt, ſo erwartete er ſicher,
der Imperator werde ſeine beſte Kraft gegen ihn wenden, und erklärte
einen Vormarſch gegen Oberſachſen hin für hochbedenklich; die Stellung
der Nordarmee ſüdlich von Berlin war allerdings ſchwierig, ſie konnte im
Rücken von Hamburg aus, von Magdeburg her in der Flanke bedroht
werden und hatte vor ſich die Feſtungen Wittenberg und Torgau. Noch
andere tiefgeheime politiſche Pläne nöthigten Karl Johann zur Vorſicht.
Der ſchlaue Bearner hatte ſchon in Frankreich die Rolle des freiſinnigen
Oppoſitionsmannes geſpielt und ſtand jetzt wieder in vertraulichem Ver-
kehre mit Lafayette und anderen franzöſiſchen Unzufriedenen; unmöglich
ſchien es ihm nicht, daß der Wille der Franzoſen und die Gunſt der
großen Mächte ihn ſelber auf den Thron Frankreichs beriefen wenn ſein
perſönlicher Feind Napoleon fiel. Wollte er aber den Stolz ſeiner ohne-
hin gegen den Abtrünnigen erbitterten alten Landsleute nicht tödlich ver-
letzen, ſo durfte er die entſcheidenden Schläge des Krieges nicht ſelber
führen.*)


Den preußiſchen Offizieren gefiel anfangs die gewinnende Liebens-
würdigkeit des geiſtreichen, redſeligen Südländers, doch bald wurden ſie
mit Befremden gewahr, daß ihr Feldherr auch jetzt noch, an der Spitze
einer großen Armee, ebenſo zaudernd und bedachtſam verfuhr wie im
Frühjahr, als er Hamburg in die Hände des Feindes fallen ließ. Ein
widerwärtiger Streit brach aus. Die Generale Bülow und Borſtell,
Beide unter den preußiſchen Kameraden bekannt als unbequeme Unter-
gebene von ſtarkem Eigenſinn, fühlten ſich in ihrem Gewiſſen gedrungen,
mit Rathſchlägen und Vorſtellungen dem Commandirenden entgegenzu-
[478]I. 4. Der Befreiungskrieg.
treten, und begreiflich genug, daß die tapferen Degen dem verdächtigen
Fremdling in der Hitze des Zornes zuweilen unrecht thaten.


Oudinots Armee rückte von Sachſen aus heran, 70,000 Mann ſtark,
Truppen aus allerlei Volk: Franzoſen, Italiener, Croaten, Polen, Illyrier,
dazu die übelberufene Diviſion Durutte mit ihren Schaaren begnadigter
Deſerteure und Verbrecher. Die Hauptmaſſe aber bildeten Deutſche aus
Sachſen, Weſtphalen, Baiern, Würzburg; ein glorreicher Einzug in Berlin
ſollte die Rheinbündner wieder feſter an die franzöſiſche Sache ketten.
Die halbkreisförmige ſtarke Vertheidigungslinie, welche die moraſtigen Ge-
wäſſer der Nuthe und der Notte ſechs Stunden ſüdlich von Berlin bilden,
wurde nach lebhaften Gefechten von den Franzoſen überſchritten, da Ber-
nadotte das ſumpfige Waldland mit ungenügenden Streitkräften beſetzt
hatte. Bereits drang ihre Vorhut durch die Waldungen bis nach Großbeeren
vor; gelang ihr ſich dort zu behaupten, ſo hatte das feindliche Heer nur
noch die freie Ebene des Teltower Landes zu durchſchreiten und konnte
ohne Aufenthalt in Berlin einziehen. Dem ſchwediſchen Kronprinzen lag
wenig an der Behauptung der preußiſchen Hauptſtadt, längſt hatte er ſchon
alle Vorbereitungen für die Räumung Berlins, für den Rückzug über die
Spree getroffen. In fieberiſcher Spannung lauſchten die Bürger auf
den Kanonendonner, der vom Süden herüber klang. Sie wußten was ihnen
drohte; Napoleon hatte befohlen die verhaßte Stadt in Brand zu ſchießen.


Da, am Nachmittage des 23. Auguſt, entſchloß ſich Bülow eigen-
mächtig das Corps Reyniers bei Großbeeren anzugreifen bevor Oudinot
und Bertrand zur Unterſtützung herankamen. Während Borſtell den Feind
in der rechten Flanke faßte, richtete Bülow ſelbſt ſeinen Angriff gegen
das Centrum in Großbeeren. Wieder wie faſt an allen Schlachttagen
dieſes Herbſtes lag ein dicker Wolkenſchleier über der Landſchaft. Triefend
von Regen ſtürmten die Truppen vor, viele Landwehren darunter, alle
voll Kampfluſt, doch Niemand ergrimmter als die Märker, die hier recht
eigentlich für Weib und Kind, für Haus und Heerd fochten; ſie drehten
die unbrauchbaren Flinten um und hieben unter dem Rufe „ſo flutſcht
et bäter“ mit ſchmetternden Kolbenſchlägen auf die Schädel der Feinde
ein. Gegen Abend war Großbeeren genommen, trotz des heldenhaften
Widerſtandes der Sachſen, und Reynier trat den verluſtreichen Rückzug
durch das Waldland an. Daß ſein Corps nicht gänzlich aufgerieben wurde,
verdankte er allein dem ſchwediſchen Kronprinzen, der, taub für alle Bitten
Bülows, nur eine einzige ſchwediſche Batterie und einen Theil der ruſſi-
ſchen Geſchütze am Kampfe theilnehmen ließ ſtatt durch einen rechtzeitigen
Angriff auf Reyniers linken Flügel dem geſchlagenen Feinde den Garaus
zu machen. Hier wie in Schleſien fiel den Preußen die ſchwerſte Arbeit
zu, und nicht durch einen Zufall, denn nur für ſie war dieſer Krieg ein
Kampf um das Daſein. Oudinot gab das Spiel verloren, ging mit
ſeiner geſammten Armee auf Wittenberg zurück.


[479]Großbeeren. Bülow.

Am folgenden Morgen eilten die Berliner in Schaaren auf das
Schlachtfeld hinaus ihre Befreier zu begrüßen; lange Züge hochbepackter
Wagen brachten Bettzeug für die Verwundeten, Wein und Speiſen für
die Ermatteten. Welche Ausbrüche des Jubels und der Klage unter allen
dieſen Eltern und Geſchwiſtern, die ihre Söhne, ihre Brüder ſuchten; es
war des Dankes und der Umarmungen kein Ende; in tauſend rührenden
Zügen bekundete ſich die heilige Macht der Liebe, die ein gerechter Krieg
in edlen Völkern erweckt. Auch mancher ältere Berliner Bürger hatte
mitgeholfen, ſo der reiche Buchhändler G. A. Reimer, der Freund Nie-
buhrs und Schleiermachers, der unermüdliche Patriot; der ſtand als
Hauptmann bei der kurmärkiſchen Landwehr, eilte nach der Schlacht auf
Urlaub heim ſein jüngſtes Töchterlein über die Taufe zu halten, dann
wieder hinaus zu ſeinem Bataillon.


Das Beſte blieb doch, daß die Preußen abermals einen vaterländiſchen
Helden lieben lernten, den allezeit glücklichen Bülow: — ſo hieß er jetzt ſeit
den Siegen von Luckau und Großbeeren; in dem Kriege von 1807 hatten die
Kameraden wohl ſeine Tüchtigkeit gelobt aber ſein ewiges Unglück bedauert.
Auch er zählte wie York zu den Soldaten der alten Schule und war den
Beſtrebungen der Reformpartei nicht hold, wenngleich er den Groll des alten
Iſegrimm nicht theilte. Doch die Schande ſeines Landes empfand er in tief-
ſter Seele und als der Kampf ausbrach führten ihn ſein gerader Soldaten-
verſtand und der angeborene feurige Muth von ſelber zu einer kühnen Kriegs-
weiſe, die den Theorien Scharnhorſts entſprach; zudem ſtand Boyen als Ge-
neralquartiermeiſter an ſeiner Seite. Geiſtreich und fein gebildet, in jungen
Jahren eine Zierde der Salons des Prinzen Louis Ferdinand, ein Kenner
der Künſte und begabter Componiſt, zeigte er in ſeinem äußeren Auftreten
gar nichts von jener fortreißenden begeiſternden Macht, die aus Blüchers
Flammenaugen blitzte. Wer hätte den unſcheinbaren kleinen Mann für
einen Feldherrn gehalten, wenn er ſo ſtill in Ueberrock und Feldmütze, einen
Kantſchu über der Schulter, auf ſeinem kleinen dauerhaften Rothſchimmel
dahertrabte? Aber die Offiziere wußten, was ſie an dem gerechten und
wohlwollenden, durchaus wahrhaftigen und gradſinnigen Führer hatten;
der Mannſchaft war er ein ſorgſamer Vater, ſie ſchwor auf ihn und glaubte
feſt, unter dem könne es nicht fehlgehen. Und auch die Furcht fehlte nicht,
die zur Beherrſchung eines Heeres nothwendig iſt; der ſtille Mann konnte
zuweilen in unbändigem Jähzorn aufflammen, wenn er etwa gefangenen
Rheinbundsoffizieren mit ſchonungsloſen Worten die Schande ihres Scher-
gendienſtes vorhielt oder durch einen Adjutanten Bernadottes einen Befehl
zum Rückzuge empfing. Seit dem Erfolge von Großbeeren trat er dem
Kronprinzen mit der ganzen Schroffheit ſeines Selbſtgefühls entgegen; er
wagte ſogar in den Zeitungen dem parteiiſch gefärbten Schlachtberichte
des Oberfeldherrn zu widerſprechen. Die preußiſchen Generale nahmen
ſich vor, dem hinterhaltigen Zauderer nicht zu gehorchen, falls er wieder
[480]I. 4. Der Befreiungskrieg.
einmal die günſtige Stunde zum Angriff verſäumen ſollte — ein gefähr-
licher Entſchluß, der allein durch die unnatürlichen Verhältniſſe in dieſem
Coalitionsheere entſchuldigt werden konnte.


Gleichzeitig mit Oudinot war Davouſt von Hamburg aus gegen Berlin
aufgebrochen, aber auf die Nachricht von Großbeeren wieder zurückgewichen.
Auch das Corps Girards, das von Magdeburg her der Nordarmee in
die Flanke fallen ſollte, trat nach Eintreffen der Unheilsbotſchaft den Rück-
marſch an; da wurden die Abziehenden am 27. Auguſt in ihrem Lager
auf den Sandhügeln der Zauche bei Hagelberg von den kurmärkiſchen Land-
wehrregimentern des Generals Hirſchfeld angegriffen. Der würdige alte
Herr, ein wieder eingetretener Veteran aus dem ſiebenjährigen Kriege, leitete
das Gefecht nach den Regeln der fridericianiſchen Lineartaktik; er erwartete
nicht allzu viel von ſeinen rohen, faſt ganz ungeſchulten Truppen, und
wie er dachte Marwitz, der Führer der Reſervebrigade. In der That hielt
die junge Mannſchaft dem unerwarteten Feuer der franzöſiſchen Batterien
anfangs nicht Stand; jedoch als der erſte Schrecken überwunden war,
ſtürmten die brandenburgiſchen Bauern unaufhaltſam vor, und dann brach
ſie los, die alte furia tedesca, jene Wildheit des nordiſchen Berſerker-
zornes, wovon die Sagen der Romanen ſeit den Zeiten des Varus ſo
viel Gräßliches zu erzählen wußten. Welch ein Anblick, wie die Bauern
auf ein dichtgedrängtes Viereck franzöſiſchen Fußvolks an der Hagelberger
Dorfmauer losſchlugen, ſchweigſam, unerbittlich, in namenloſer Wuth;
als das dumpfe Krachen der Gewehrkolben endlich verſtummte, da lag
ein ſcheußlicher Leichenhaufen hoch aufgeſchichtet bis zum Rande der Mauer,
das Hirn quoll den Todten aus den zerſchmetterten Schädeln. Von ſeinen
9000 Mann rettete Girard nur 1700 aus dem Entſetzen dieſer Land-
wehrſchlacht. Um ſolchen Preis ward die Befreiung der Mark erkauft.


Minder glücklich verlief der Zug der böhmiſchen Armee nach Dresden.
Ihre unbehilflichen Maſſen überſchritten langſam den Kamm des Erzge-
birges, zogen anfangs nordweſtwärts in der Richtung auf Leipzig um dann
erſt nach Oſten gegen Dresden abzubiegen. Ermüdet von den ſchwierigen
Märſchen im Gebirge langte etwa ein Drittel des Heeres, gegen 60,000
Mann, am Nachmittage des 25. Auguſt auf den Höhen an, welche die
Stadt auf dem linken Elbufer umſchließen. Faßte man ſich das Herz,
das ungleich ſchwächere Corps von St. Cyr, das zur Vertheidigung des
Platzes zurückgeblieben, ſofort anzugreifen, ſo wurde der wichtige Stütz-
punkt des napoleoniſchen Heeres durch einen Handſtreich genommen. Die
Bevölkerung, die nach dem großen Sinne dieſes Krieges wenig fragte, gab
bereits Alles verloren, der geängſtete König flüchtete in die Neuſtadt, auf
das ſichere rechte Ufer. Aber in dem vielköpfigen Kriegsrathe der drei
Monarchen regierte die bedachtſame Vorſicht; man beſchloß den Angriff
zu verſchieben bis die geſammte Armee verſammelt war. Unſelige Zöge-
rung. Denn unterdeſſen kam Napoleons Heer aus Schleſien in Eil-
[481]Schlacht von Dresden.
märſchen auf der Bautzener Straße heran. An dem grauen, trüben
Morgen des 26. erreichte der Imperator die Höhe am Mordgrunde dicht
über dem Strome, wo ſich der Ausblick öffnet auf den lieblichen Keſſel
des Elbthals, und betrachtete lange das majeſtätiſche Schauſpiel, wie jen-
ſeits auf dem linken Ufer die dunklen Maſſen des Heeres der Verbün-
deten, in weitem Halbkreiſe die Stadt umklammernd, mit beiden Flügeln
an den Fluß gelehnt, ſich langſam von den Hügeln niederſenkten.


Noch einmal, zum letzten male auf deutſchem Boden, umſtrahlte ihn
die Herrlichkeit des Sieges. Wohl war ſein Heer augenblicklich noch um die
Hälfte ſchwächer als die Verbündeten, aber mit jeder Stunde kamen neue
Zuzüge und bis ſie alle eintrafen mußte die nothdürftig befeſtigte Stadt ſich
halten. Er war des Erfolges gewiß, ſprengte mit verhängten Zügeln in
die Stadt, hielt dann ſtundenlang auf dem Schloßplatze jenſeits der Brücke,
mit kalter Ruhe ſeine Befehle ertheilend, während die Regimenter der
Garde im Laufſchritt an ihm vorüber nach den weſtlichen Thoren zogen.
Mit donnerndem Hochruf begrüßten die tapferen Bärenmützen ihren kleinen
Corporal, wo ſein Auge wachte da winkten Sieg und Beute. Ein ſächſiſcher
Offizier, der droben auf dem Kreuzthurme das weite Schlachtfeld wie
einen Teppich zu ſeinen Füßen liegen ſah, meldete pünktlich den Anmarſch
jedes Truppentheiles der Verbündeten. Im Kriegsrathe der Monarchen
erregte die Nachricht, daß der Unüberwindliche ſelber zur Stelle ſei, Klein-
muth und Schrecken; die gelehrten Kriegskünſtler des öſterreichiſchen Haupt-
quartiers dachten ſchon ohne Schlacht abzuziehen, nur der entſchiedene
Widerſpruch des Königs von Preußen zwang ſie den Angriff zu wagen.
Statt ſeine beſte Kraft auf dem linken Flügel zu verſammeln und mit
ihr in die unbefeſtigte Friedrichsſtadt einzubrechen ließ Schwarzen-
berg das Centrum und den rechten Flügel gegen die Vorſtädte der Alt-
ſtadt vorgehen, wo einige Feſtungswerke an den Thoren ſowie die hohen
Gartenmauern der Paläſte und Landhäuſer dem Vertheidiger die Arbeit
erleichterten. Nach blutigen aber völlig planloſen Kämpfen erſtürmten die
Oeſterreicher im Centrum die Lunette am Falkenſchlage, auf dem rechten
Flügel beſetzte Kleiſt mit ſeinen Preußen den Großen Garten dicht vor
den Stadtthoren und verſuchte von da in die Stadt ſelbſt einzudringen,
unſanft empfangen von den Geſchützen, die hinter den gefährlichen Mauer-
lücken der Rococo-Gärten, den Aha’s, verdeckt ſtanden. Der Abend kam.
Napoleon fühlte ſich jetzt ſtark genug ſelber zum Angriff zu ſchreiten, ließ
plötzlich aus allen Thoren zugleich gewaltige Maſſen friſcher Truppen vor-
brechen, entriß den Verbündeten die wenigen Stellen der Stadt, wo ſie
bereits Fuß gefaßt, und drängte ſie ſchließlich auf ihrer ganzen Linie bis
in die Dörfer an den Höhen zurück. Der Angriff war abgeſchlagen.


Verwirrung und Entmuthigung herrſchten im großen Hauptquartiere,
als während der Nacht noch die unheimliche Kunde eintraf, daß die große
Armee bereits im Rücken bedroht ſei. Tauſende ſächſiſcher Landleute hatten
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 31
[482]I. 4. Der Befreiungskrieg.
während der jüngſten Monate an einem breiten Kanonenwege arbeiten
müſſen, der auf dem linken Elbufer über den Ziegenrücken mitten durch die
Felſen der ſächſiſchen Schweiz führte, unter den Kanonen des Königſteins
den Fluß überbrückte und jenſeits in die große Teplitzer Straße ein-
mündete. Auf dieſem Wege eilte jetzt das Corps Vandammes, gegen
40,000 Mann, herbei den Verbündeten den Rückzug zu verlegen. In
ſolcher Lage ſchien dem Kriegsrathe ein Sieg unmöglich; man erneuerte
die Schlacht am Morgen des 27. nur um ſich einen geſicherten Abzug
zu erkämpfen. Selbſt dieſer beſcheidene Zweck ward verfehlt. Während
der rechte Flügel der Alliirten im Verlaufe des Tages langſam von dem
Fluſſe und der Teplitzer Straße abgedrängt wurde, erlitt der linke eine
ſchwere Niederlage. Die Oeſterreicher dort ſtanden auf den Höhen zwiſchen
der Elbe und dem Plauenſchen Grunde; ſie waren rechts durch den tiefen
Einſchnitt dieſes ſteil abfallenden Felſengrundes von der übrigen Armee
getrennt und hatten verſäumt ihre Poſten links bis dicht an den Fluß
heranzuſchieben. So konnte denn Murat, von ortskundigen ſächſiſchen
Offizieren geleitet, eine gewaltige Reitermaſſe durch die Hohlwege, die vom
Elbthale aufſteigen, unbemerkt auf die Hochebene führen. Mehrere Vier-
ecke des öſterreichiſchen Fußvolks wurden niedergehauen als er nun plötz-
lich in Rücken und Flanke der Ueberraſchten erſchien; eine ganze Diviſion
mußte, eingekeilt zwiſchen dem Feinde und dem tiefen Felſenthale, die
Waffen ſtrecken. Der Plauenſche Grund, und damit die Straße nach
Freiberg, war in den Händen der Franzoſen. Am Nachmittage trat die
geſchlagene Armee den Rückzug an. Zwanzigtauſend Gefangene lagerten
in den Kirchen Dresdens und im Hofe des Zwingers, dreißig erbeutete
Kanonen ſtanden im Schloßhofe zur Schau. Die unterthänige Reſidenz
frohlockte über die Befreiung von den ruſſiſchen Plünderern und erzählte
ſich ſtaunend die wunderſame Märe von dem großen ſächſiſchen Kanonier,
der durch einen wohlgezielten Schuß den Verräther Moreau an der Seite
Alexanders getödet haben ſollte.


War ſchon der Anmarſch der böhmiſchen Armee ſchwerfällig und
ohne Ordnung erfolgt, was ließ ſich jetzt von dem Rückzuge erwarten?
Ein geſchlagenes Heer von 200,000 Mann, und nur eine einzige Land-
ſtraße — die Straße, welche über Altenberg nach Dux in das Teplitzer Thal
hinüberführt. Was dort nicht Platz fand mußte wohl oder übel die Neben-
wege einſchlagen, die den Gebirgsbächen entlang in engen Felſenthälern
allmählich zum Kamme des Erzgebirges emporſteigen und nachher an dem
ſteilen ſüdlichen Abhange in unzähligen Windungen ſich herniederſchlängeln.
Bald waren die ſchmalen Felſengründe vollgeſtopft von den unbeweglichen
Maſſen des ungeheuren Wagentroſſes; der Regen ſtrömte vom Himmel;
Unordnung, Angſt und Hunger überall, kein Gedanke mehr an eine ge-
meinſame Leitung der in den Engpäſſen eingeklemmten Heerestheile. Dem
Oberfeldherrn fielen die Zügel aus den Händen; in ſeiner Angſt ließ er
[483]Schlacht von Kulm.
Blücher auffordern, der großen Armee aus Schleſien Hilfe zu bringen.
Die Diplomaten des Hauptquartiers begannen zu verzweifeln, und faſt
ſchien es als ſollte die Coalition nach einem erſten Mißerfolge ſich auf-
löſen. Wer ſtand dafür, daß Kaiſer Franz nicht wieder wie nach dem
Auſterlitzer Tage die Flinte ins Korn warf? War doch der definitive
Bundesvertrag mit Oeſterreich noch immer nicht abgeſchloſſen! Eine
kraftvolle Verfolgung verſprach dem Sieger glänzende Ergebniſſe. Zum
Glück erhielt Napoleon unterwegs die Nachricht von der Großbeerener
Schlacht und eilte mit dem Kerne ſeines Heeres nach Dresden zurück um
ſofort einen neuen Vernichtungszug gegen Berlin vorzubereiten; dies eine
Ziel ſtand ihm über allen anderen. Auch jetzt noch blieb die Lage der
böhmiſchen Armee ſchwer gefährdet. Wenn Vandamme auf ſeinem kürzeren
Wege früher als die Verbündeten im Teplitzer Thale anlangte, ſo konnte
er die vereinzelten Corps, die ſich aus den Engpäſſen des Gebirges müh-
ſam herauswanden, leicht mit Uebermacht ſchlagen.


Der junge Prinz Eugen von Württemberg, der mit einem ruſſiſchen
Corps nahe beim Königſtein den Truppen Vandammes gegenüber ſtand,
erkannte mit ſicherem Blicke was auf dem Spiele war. Er warf ſich auf
die große, öſtliche, Teplitzer Straße, von der die Maſſe der Verbündeten
abgedrängt war, ſprengte die Vortruppen Vandammes aus einander und
gelangte alſo noch vor den Franzoſen auf den Kamm des Gebirges bei
Peterswalde. Am Morgen des 29. Auguſt vom Feinde angegriffen ſtiegen
die Ruſſen am Südabhange des Gebirges langſam herab bis gegen Kulm.
Bereits hatten ihre Generale gegen die Meinung des Prinzen beſchloſſen
das Feld zu räumen und weiter ſüdwärts über die Eger auszuweichen.
Da kam von dem Könige von Preußen, der unterdeſſen der Armee vor-
aus in Teplitz angelangt war, der wiederholte Befehl, Stand zu halten
um jeden Preis: nur wenn dies Corps hier im Oſten dem Vordringen
Vandammes einen Riegel vorſchob, konnte die böhmiſche Armee weiter weſt-
lich ungefährdet das Teplitzer Thal erreichen. Friedrich Wilhelm zeigte
jetzt, daß er ein ganzer Soldat war ſobald er ſich nur das Herz faßte
zu befehlen. Er eilte zu den Ruſſen, ermuthigte die Generale zu verzwei-
feltem Widerſtande, ſendete nach allen Ausgängen des Gebirges ſeine
Boten aus um heranzurufen was ſich irgend loswinden konnte aus den
verſtopften Päſſen, befahl ſelber dem Oberſten des tapferen öſterreichiſchen
Dragonerregiments Erzherzog Johann ſogleich in die Gefechtslinie einzu-
rücken. Die Ruſſen nahmen die Schlacht an; der Stolz ihres Heeres,
die wohlgeſchonte Garde, war mit zur Stelle. Den ganzen Tag lang
behauptete ſich die tapfere Schaar, an 15,000 Mann, mit unerſchütter-
licher Standhaftigkeit gegen die ſtürmiſchen Angriffe einer zweifachen Ueber-
macht. Aber die Garden hatten furchtbar gelitten; was ſollte der nächſte
Tag bringen?


Am Abend ſchickte der König an General Kleiſt, der noch hoch in
31*
[484]I. 4. Der Befreiungskrieg.
den Bergen bei Zinnwald ſtand, die Weiſung: er ſolle verſuchen oſtwärts
quer über den Kamm des Gebirges die Teplitzer Landſtraße zu erreichen
und dann von den Nollendorfer Höhen her den Franzoſen in den Rücken
fallen. Als die Botſchaft eintraf, hatte Kleiſt ſchon von freien Stücken
den nämlichen glücklichen Entſchluß mit ſeinem Generalquartiermeiſter
Grolmann verabredet. Der General, ein ruhiger, beſonnener Mann
von feinen gemeſſenen Formen, konnte mit ſeinem Corps nicht mehr
vorwärts in den verrammelten Gebirgswegen und begriff, daß die höchſte
Kühnheit hier die einzige Rettung war. Während die Ruſſen drunten
im Thale, jetzt durch Oeſterreicher erheblich verſtärkt, am Morgen des
30. den Kampf von Neuem aufnahmen, hielt Czar Alexander auf einem
Hügel bei Kulm, die Wahlſtatt überſchauend: ſüdwärts die maleriſchen
Kegel des Mittelgebirges, im Norden meilenlang die ungeheure ſteile Wand
des Erzgebirges, dazwiſchen in der üppigen Ebene die wogende Schlacht.
Da bemerkte er mit Erſtaunen, wie droben bei Nollendorf Geſchütze auf-
fuhren, dichte Truppenmaſſen das Gebirge herab den Franzoſen nach-
zogen. Es waren Kleiſts Preußen, die hungernd und ermattet nach ſchwie-
rigem Nachtmarſch die Höhen im Rücken des Feindes erreicht hatten.
So von zwei Seiten her gepackt wurde Vandammes Corps nach langem
heißem Kampfe gänzlich zerſprengt. Ueber 9000 Mann fielen in Gefangen-
ſchaft, unter ihnen der rohe Führer ſelbſt, der Henker des Bremiſchen
Landes; mit Mühe rettete man ihn vor den Fäuſten der deutſchen Sol-
daten.


An dem Tage von Kulm verwelkten die Lorbeeren von Dresden. Die
wankende Coalition ſtand wieder aufrecht. Je bänger in den letzten Tagen
die Stimmung geweſen, um ſo lauter lärmte jetzt die Freude über den
ſchönen Bundesſieg. Die drei verbündeten Nationen hatten wetteifernd
ihr Beſtes gethan: Eugen mit der ruſſiſchen Garde, die tapferen öſter-
reichiſchen Reiter, Friedrich Wilhelm und die Helden von Nollendorf.
Und dazu die Siegesbotſchaften aus der Mark und aus Schleſien; ſelbſt
die an Alledem ganz unſchuldigen Strategen des großen Hauptquartiers
fingen an zu glauben, daß ein Erfolg doch möglich ſei. Napoleon hatte
binnen einer Woche eine ganze Armee, gegen 80,000 Mann, verloren und
fand ſich wieder auf derſelben Stelle wie beim Beginne des Herbſtfeldzugs.


Nach abermals acht Tagen traf ihn ein neuer ſchwerer Schlag. Die
Abſicht, ſelber auf die preußiſche Hauptſtadt vorzurücken hatte er aufgege-
ben ſobald er von Blüchers Erfolgen hörte. Während er ſelbſt nach der
Lauſitz der ſchleſiſchen Armee entgegenzog, übertrug er dem Marſchall
Ney die Leitung des vierten Zuges gegen Berlin. Der tapfere Marſchall,
der zu dem Unternehmen von Haus aus wenig Zutrauen hatte, verſam-
melte ſeine Armee bei Wittenberg, warf nach blutigem Gefechte eine ver-
einzelte preußiſche Abtheilung zurück und marſchirte am 6. September, ohne
die Nähe des Gegners zu ahnen, über die ſandige Ebene auf Jüterbog. Da
[485]Schlacht bei Dennewitz.
ſtieß Bertrand mit der Vorhut auf Tauentziens Preußen, und derweil hier
ein hitziger Kampf begann, brach Bülow der franzöſiſchen Marſchkolonne bei
Dennewitz in die linke Flanke. So entſpann ſich eine unerwartete, weit aus-
gedehnte Begegnungsſchlacht. Bülow wagte mit 40,000 Preußen den Kampf
gegen den um die Hälfte überlegenen Feind, weil er auf das Eingreifen
des Kronprinzen rechnete, der mit der Hauptmaſſe der Nordarmee im An-
marſch war. Die Franzoſen ſtanden in einem großen Bogen, mit der
Rechten nordwärts gegen Tauentzien gerichtet, mit der Linken weſtwärts
gegen Bülow. Der Marſchall hielt auf dem rechten Flügel, hatte nur
Augen für die Vorgänge in ſeiner Nähe. Sobald er hier die Seinen
weichen ſah, befahl er dem Corps Oudinots vom linken Flügel zur Un-
terſtützung herbeizueilen. So wurde die Linke entblößt, und es gelang
Bülow, die Sachſen aus Göhlsdorf herauszuſchlagen und bis Dennewitz
vorzudringen. Ueberall waren die Preußen im Vorgehen, da verkündeten
gewaltige Staubwolken das Nahen des Kronprinzen mit ſeinen ſiebzig
Bataillonen. Bei dem Anblick dieſer gewaltigen Maſſen ergriff die Ge-
ſchlagenen ein jäher Schrecken, Neys Armee ſtob in wilder Flucht aus
einander.


Der Lieblingsplan Napoleons war abermals zu nichte geworden.
Den Preußen allein gebührte die Ehre des Tages. Wieder hatte die
Landwehr mit den alten Kerntruppen gewetteifert, und wieder hatten
Deutſche mit Deutſchen in wüthendem Kampfe gerungen. In der würt-
tembergiſchen Armee, deren beſte Truppen auf Neys rechtem Flügel ge-
ſtanden, erzählten ſich die Soldaten noch im Jahre 1866 mit zähem
Groll, wie erbarmungslos die preußiſche Landwehr, vor Allen die hand-
feſten pommerſchen Reiter bei Jüterbog unter den Schwaben aufgeräumt
hatten. Die tapferen Sachſen fochten ihres alten Waffenruhmes würdig
und wurden zum Dank in den napoleoniſchen Bulletins der Feigheit be-
zichtigt. Die unglückliche kleine Armee begann die Schmach rheinbündi-
ſcher Dienſtbarkeit zu fühlen; nach der Dennewitzer Schlacht ging ein
Bataillon des Leibregiments zu den Preußen über. König Friedrich Auguſt
aber legte ſogleich die Uniform der entehrten Truppe ab, blieb dem Großen
Alliirten, der ihm ſein Heer beſchimpfte, unwandelbar ergeben. —


Nach den Anſtrengungen dieſer wilden Tage bedurfte die böhmiſche
Armee einiger Erholung. Während die Waffen ruhten arbeitete die
Diplomatie um ſo eifriger. Kaiſer Franz war ſeit dem Siege von Kulm
nicht mehr geneigt auf die zärtlichen Betheuerungen zu hören, die ihm
der Schwiegerſohn noch immer zuſendete. Am 9. September wurden zu
Teplitz drei faſt gleichlautende Bundesverträge, die an die Stelle der vor-
läufigen Reichenbacher Abrede traten, von den Alliirten unterzeichnet.
Sie ſetzten feſt was Preußen von vornherein verlangt hatte: Auflöſung
des Rheinbundes, gänzliche Beſeitigung der Herrſchaft Frankreichs und
der Napoleoniden auf dem rechten Rheinufer, Herſtellung des Beſitz-
[486]I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſtandes von 1805 für Oeſterreich und Preußen. Die Mächte verpflichteten
ſich in feierlichſter Form keinen Friedensvorſchlag Frankreichs auch nur
anzuhören, ohne ihn ſofort den Verbündeten mitzutheilen. Trotzdem
ward ein rückhaltloſes Einverſtändniß keineswegs erreicht. Der Czar
hüllte ſeine polniſchen Pläne noch immer in ein tiefes Dunkel. Er hatte
in Reichenbach zugeſtanden, das Herzogthum Warſchau ſolle unter den
drei Oſtmächten vertheilt werden. Dies Verſprechen ſchloß, buchſtäblich
verſtanden, ein Königreich Polen unter ruſſiſchem Scepter nicht aus, vor-
ausgeſetzt nur, daß Preußen und Oeſterreich einige Theile von Warſchau
erhielten. In dem Teplitzer Vertrage wurde die Zuſage ſogar noch ab-
geſchwächt; er beſtimmte einfach, daß eine freundſchaftliche Verſtändigung
zwiſchen den drei Höfen über das künftige Schickſal Warſchaus erfolgen
ſolle. Der glückliche Beſitzer von Warſchau hatte alſo gar keine beſtimmte
Verpflichtung übernommen.


Seitdem hing die polniſche Frage wie eine Wetterwolke über der
großen Allianz. Alle Eingeweihten wußten, wie Graf Münſter in ſeinen
Berichten dem Prinzregenten oft wiederholte, daß vornehmlich die Sorge
um die Zukunft Polens den zaudernden Gang der öſterreichiſchen Politik
während des Krieges verſchuldete. Wie die Dinge lagen, konnten nur
Preußen und Rußland von der gänzlichen Demüthigung Frankreichs einen
großen Gewinn für ſich ſelber erwarten, während England ſeine erbeuteten
Colonien wohlgeborgen wußte und Oeſterreich auch nach einem halben
Siege auf die Herrſcherſtellung in Italien hoffen durfte. Dazu die
Angſt der Welfen und der Lothringer vor dem ehrgeizigen Preußen, das
ihnen nach jedem neuen Siege widerwärtiger wurde. So ergab ſich eine
Parteiung im Lager der Alliirten, die von Tag zu Tag ſchärfer heraus-
trat. Oeſterreich und England zögerten, Preußen und Rußland drängten
vorwärts; dies blieb doch der feſte Kern in den diplomatiſchen Händeln
des großen Krieges, obgleich ſowohl der Czar als der König auf Augen-
blicke ſchwankten. In Schwarzenbergs ſchlaffer Bedachtſamkeit und Gnei-
ſenaus genialer Kühnheit fand der Gegenſatz der öſterreichiſch-engliſchen
und der preußiſch-ruſſiſchen Politik ſeinen getreuen Ausdruck. Laut und
heftig ſprachen die Preußen und die Ruſſen ihren Unmuth aus über die
kläglichen Leiſtungen des großen Hauptquartiers. Der König ſelbſt war
ſehr unzufrieden. Er hatte ſchon vor dem Zuge gen Dresden vergeblich
vorgeſchlagen, der Oberbefehl ſolle dem Czaren anvertraut werden, der
durch ſein kaiſerliches Anſehen und mit dem Beiſtande des geiſtreichen Toll
vielleicht etwas ausrichten konnte.*) Als darauf die Ereigniſſe ſein Miß-
trauen nur zu ſehr gerechtfertigt hatten, verbarg er ſeinen Unmuth nicht
und weigerte ſich zu Hardenbergs Kummer entſchieden, dem k. k. Oberfeld-
herrn auch nur die übliche Höflichkeit einer Ordensverleihung zu gewähren.


[487]Der Teplitzer Vertrag.

Die bedenklichſte Beſtimmung des Teplitzer Vertrags lag in dem
erſten geheimen Artikel, welcher den zwiſchen Oeſterreich, Preußen und dem
Rheine gelegenen Staaten „die volle und unbedingte Unabhängigkeit“ zu-
ſicherte. Damit war ſtreng genommen jede Unterordnung der Rhein-
bundsfürſten unter eine nationale Centralgewalt, jede irgend ernſthafte
Geſammtſtaatsverfaſſung für Deutſchland unmöglich gemacht, und dahin
ging auch Metternichs geheime Abſicht. Hardenberg hingegen verſtand
unter jenen verhängnißvollen Worten nur die Aufhebung des napoleoni-
ſchen Protectorats und unterzeichnete unbedenklich, arglos auf Oeſterreichs
patriotiſche Abſichten vertrauend. Nicht im Mindeſten war er geſonnen
den Rheinbundsfürſten die Souveränität zuzugeſtehen; vielmehr ſchien
ihm, und ſo auch den Freunden Stein und Humboldt, jetzt die rechte
Stunde gekommen um mit Oeſterreich die Grundzüge einer ſtarken Bun-
desverfaſſung zu vereinbaren.


Stein übergab den Monarchen eine Denkſchrift, die er zu Prag in
den letzten Auguſttagen entworfen hatte — eines der beredteſten und
mächtigſten Werke ſeiner Feder. Mit feierlichen Worten hielt er ſeinen
erlauchten Leſern vor, Mit- und Nachwelt würden ſie verdammen, wenn
ſie jetzt nicht mit ganzem Ernſt an die Neuordnung der deutſchen Nation
heranträten. „Es iſt von der höchſten irdiſchen Angelegenheit die Rede.
Fünfzehn Millionen gebildeter, ſittlicher, durch ihre Anlagen und den
Grad der erreichten Entwicklung achtbarer Menſchen, die durch Grenzen,
Sprache, Sitten und einen inneren unzerſtörbaren Charakter der Natio-
nalität mit zwei anderen großen Staaten verſchwiſtert ſind!“ Hierauf
ſchildert er in ſeinem markigen Lapidarſtile, wie im alten Reiche, Dank
den Reichsgerichten und den Landſtänden, Jedermann doch ſeiner Perſon
und ſeines Eigenthums ſicher geweſen ſei, und knüpft daran eine furcht-
bare Anklage gegen den Rheinbund, der dieſe fünfzehn Millionen der
Willkür von ſechsunddreißig kleinen Despoten preisgegeben habe. „Einer
Neuerungsluſt, einer tollen Aufgeblaſenheit und einer grenzenloſen Ver-
ſchwendung und thieriſchen Wolluſt iſt es gelungen jede Art des Glücks
den beklagenswerthen Bewohnern dieſer einſt blühenden Länder zu zer-
ſtören.“ Dauere dieſe Zerſtückelung fort, ſo werde der Deutſche fort-
ſchreitend ſchlechter, kriechender, unedler werden, die Entfremdung der
verſchiedenen Länder drohe mit jedem Jahre zu wachſen, der Einfluß
Frankreichs ſich immer feſter einzuniſten. Darum muß mit dem Rhein-
bunde auch „die Despotie der ſechsunddreißig Häuptlinge“ verſchwinden.
Dann kommt er auf ſeine Petersburger Pläne zurück und verlangt, da die
vollſtändige Einheit der alten großen Kaiſerzeiten unmöglich ſei, die Bil-
dung zweier großen Bundesſtaaten, alſo daß Preußen, durch Sachſen,
Mecklenburg und Holſtein bis auf elf Millionen Einwohner verſtärkt, den
Norden, Oeſterreich mit einem deutſchen Beſitze von zehn Millionen den
Süden beherrſche. In dieſem dualiſtiſchen Gemeinweſen ſollen alle noch
[488]I. 4. Der Befreiungskrieg.
brauchbaren Inſtitutionen des alten Reichs wieder aufleben. Daher Wie-
derherſtellung der Mediatiſirten von 1806 — die Opfer des Reichsdepu-
tationshauptſchluſſes gab der Freiherr verloren — und Verkleinerung der
Mittelſtaaten, die zum Unheile des Reichs durch Frankreich vergrößert
wurden und dem Vaterlande weit gefährlicher ſind als der ohnmächtige
Particularismus der Kleinen. Daher ferner Wiederaufrichtung des Kaiſer-
thums für Oeſterreich; dieſer halbfremde Staat muß durch ſein Intereſſe
an Deutſchland gebunden werden, während in Preußen das deutſche
Blut ſich von ſelbſt freier und reiner erhält. Heerweſen und auswärtige
Politik gebühren dem Reiche, dergeſtalt daß ein von dem öſterreichiſchen ver-
ſchiedenes deutſches diplomatiſches Corps gebildet wird; desgleichen Münze
und Zölle und die Reichsgerichte. Ein Reichstag in Regensburg, mit
drei Bänken wie vor Alters, jedoch ſeine Mitglieder ſind nicht Geſandte,
ſondern Repräſentanten; die Bank der Reichsſtädte wird verſtärkt durch
Abgeordnete der Landtage, die in allen deutſchen Staaten einzuberufen
ſind. Ein ſolcher Bund, meinte der Reichsritter, könne vielleicht dereinſt
den Franzoſen das Land zwiſchen Rhein und Schelde wieder entreißen;
auf die ſofortige Befreiung des linken Rheinufers wagte ſelbſt Stein in
jenem Augenblicke noch nicht zu hoffen.


Große, zukunftsreiche Gedanken waren in dieſer Denkſchrift nieder-
gelegt, ſo das zweifache Verlangen nach landſtändiſchen Rechten und einem
deutſchen Parlamente, doch Alles gährte noch roh und unfertig durchein-
ander. Der eigentliche Kern der deutſchen Frage blieb dem erſten Manne
der Nation noch völlig dunkel. In ſeiner hochherzigen Begeiſterung für
die Größe der Ottonen und der Staufer wollte er den dreihundertjährigen
Jammer jener Fremdherrſchaft wiederherſtellen, die den Verfall der alten
Kaiſerherrlichkeit herbeigeführt hatte. Wie Preußens norddeutſche Hege-
monie mit dem öſterreichiſchen Kaiſerthum und dem Regensburger Reichs-
tage ſich vertragen, ob auch Preußen zu Gunſten dieſer Kaiſerkrone auf
ſeine Militärhoheit und auf ſeine ſelbſtändige europäiſche Politik verzichten
ſollte — alle dieſe verhängnißvollen Machtfragen ließ der Reichsritter un-
erörtert.


Der Staatskanzler zeigte ſich mit mehreren Grundgedanken der Denk-
ſchrift einverſtanden. Gleich Stein hielt er die Mittelſtaaten für Deutſch-
lands ärgſte Feinde und dachte ihnen die ſchmählichen Erwerbungen der
letzten ſieben Jahre wieder abzunehmen: der Beſitzſtand von 1805 ſollte
wie für die Wiederherſtellung der beiden Großmächte ſo auch für die
übrigen deutſchen Staaten die Richtſchnur bilden. Aber Hardenberg wollte
das alſo gewonnene Land nicht den Mediatiſirten zurückgeben, ſondern
zur Verſtärkung von Oeſterreich und Preußen verwenden. Wie Stein
war auch er überzeugt von der Nothwendigkeit des Dualismus, und ſo
ernſthaft, ſo uneigennützig verfolgte er dieſe alten Bartenſteiner Pläne,
daß er die öſterreichiſchen Staatsmänner wiederholt und dringend bat die
[489]Steins und Hardenbergs deutſche Pläne.
vorderöſterreichiſchen Lande am Oberrhein wieder mit dem Kaiſerſtaate zu
vereinigen; nur ſo werde Oeſterreich in Wahrheit der Herr von Süd-
deutſchland und durch ſein eigenes Intereſſe genöthigt jeden Uebergriff
Frankreichs zurückzuweiſen. Die Sicherung des deutſchen Bodens gegen
neue Gewaltthaten des weſtlichen Nachbars blieb in Hardenbergs Augen
der wichtigſte Zweck des künftigen deutſchen Bundes. Dagegen verwarf
er entſchieden die Wiederherſtellung des Kaiſerthums; in dieſem Gedanken
fanden ſich Humboldt und, außer Stein, alle preußiſchen Staatsmänner
mit dem Staatskanzler zuſammen. So ſtark war das Selbſtgefühl der
norddeutſchen Macht doch angewachſen, daß ſie eine förmliche Unterord-
nung nicht mehr ertragen konnte; nur in voller Gleichberechtigung durften
die beiden Großmächte an die Spitze der kleinen Staaten treten. Unter
den norddeutſchen Patrioten vernahm man ſogar ſeit den Siegen der
jüngſten Wochen immer häufiger die Frage: warum denn dies Preußen,
das die Waffen Deutſchlands führe, nicht ſelber an Oeſterreichs Stelle
die Herrſchaft im Reiche übernehmen ſolle?


Wenn Metternichs Angſt vor den norddeutſchen Jacobinern überhaupt
noch wachſen konnte, ſo mußte ſie durch dieſe Denkſchrift geſteigert werden.
In jedem Satze fand er das genaue Gegentheil ſeiner eigenen Meinung.
Was war entſetzlicher: Steins ſchonungsloſe Sprache gegen den Rheinbund
oder das Verlangen nach der Einverleibung Sachſens oder die Forderung
eines deutſchen Parlaments? Der furchtſame Gentz, der alle die ſchönen
Erinnerungen ſeiner kräftigen Jahre längſt über Bord geworfen hatte,
klagte bereits beweglich: dieſer Befreiungskrieg beginne einem Freiheits-
kriege ähnlich zu ſehen, drohe mit einer Revolution zu enden, ſtatt mit
einer Reſtauration! Das Angebot der kaiſerlichen Würde reizte den öſter-
reichiſchen Staatsmann jetzt ſo wenig wie im Frühjahr. Auch England,
Rußland, Schweden hatten ihm in den jüngſten Wochen wiederholt von
der Erneuerung des Kaiſerthums geſprochen. Der conſervative Zug ward
an den Höfen immer ſtärker, ſeit das revolutionäre Weltreich ins Sinken
kam; unwillkürlich regte ſich überall der Wunſch nach einfacher Wieder-
herſtellung der alten Zuſtände. Der Oeſterreicher aber blieb bei ſeiner
Weigerung: nimmermehr ſollte ſich das Haus Lothringen mit dem leeren
Prunke einer Krone belaſten, welche ihm jetzt nur noch den Haß Frank-
reichs und der Mittelſtaaten zuziehen konnte.


Eben dieſe franzöſiſchen Vaſallen, denen alle Preußen Verachtung und
Groll entgegentrugen, wollte Metternich um jeden Preis ſchonen. Er
gedachte die deutſche Politik Napoleons mit ihren eigenen Waffen zu
ſchlagen, ſpielte den Gönner der rheinbündiſchen Höfe, erklärte ſich bereit
im Nothfalle ſogar einige der kleinſten Fürſten zum Beſten dieſer Könige
zu mediatiſiren. Da er den Haß der Mittelſtaaten gegen jede ſtarke
Bundesgewalt kannte, ſo durfte die deutſche Frage nur im freien Ein-
verſtändniß mit den Rheinbundsfürſten entſchieden werden. Die ver-
[490]I. 4. Der Befreiungskrieg.
trauten engliſch-hannoverſchen Staatsmänner überraſchte er ſogar durch
die Frage: wozu überhaupt eine deutſche Bundesverfaſſung, die doch nur
böſes Blut errege? wie viel einfacher doch, ſich zu begnügen mit „einem
ausgedehnten Syſteme von Verträgen und Allianzen“, das die ſouveränen
deutſchen Staaten für den Kriegsfall zu gegenſeitigem Beiſtande verbände!
Darum wies er jede nähere Verabredung mit Hardenberg von der Hand
und erreichte wirklich, daß zu Teplitz gar nichts über die deutſche Ver-
faſſung vereinbart wurde. Sein Vertrauter, Hofrath Binder, meinte
gemüthlich: wie einſt das Verfaſſungswerk des Weſtphäliſchen Friedens
unmittelbar aus dem Chaos des großen Krieges emporgeſtiegen ſei, ſo
werde auch die Verfaſſung des Deutſchen Bundes zur rechten Zeit ganz
von ſelber durch die Umſtände geſchaffen werden. Nebenbei wurde Hum-
boldt, der alte Freund von Gentz, der tägliche Genoſſe von Metternichs
Abenteuern und Vergnügungen, bei dem Staatskanzler verleumdet. Die
Oeſterreicher haßten ihn nächſt Stein als den Haupturheber der preußi-
ſchen Bundespläne, und es hielt nicht ſchwer, dem ohnehin voreingenom-
menen Staatskanzler zu beweiſen, daß der verdächtige Mann mit Hilfe
der „Exaltirten“ ſich des Staatsruders zu bemächtigen ſtrebe.


Die Haltung Metternichs ergab ſich nicht blos aus der natürlichen
Ruheſeligkeit und Gedankenarmuth ſeines Geiſtes, der bei aller Schlau-
heit völlig unfruchtbar die Idee eines großen ſchöpferiſchen Verfaſſungs-
planes niemals hätte faſſen können, ſondern auch aus einer richtigen
Würdigung der Leiſtungsfähigkeit ſeines Staates. Wie Preußen an ſeiner
Schwäche, ſo krankte Oeſterreich von jeher an ſeiner Stärke, an jener
Ueberfülle grundverſchiedener politiſcher Ziele, die ihm durch die bunte
Mannichfaltigkeit ſeines Ländergewirrs geſtellt wurden. Dieſer alte Fluch
des Kaiſerſtaates wurde jetzt erneuert durch die blinde Gier einer ſich
unendlich klug dünkenden Staatskunſt. Das neue Oeſterreich wollte zu-
gleich Italien beherrſchen, die Führung in Deutſchland behaupten und
das zwieträchtige Völkergewimmel an der Donau zuſammenhalten — drei
ſchwierige Aufgaben, denen kein Staat der Welt, und am Allerwenigſten
ein Staat von ſo geringen geiſtigen Kräften, auf die Dauer genügen
konnte. Die Zeit ſollte kommen, da die kurzſichtige Thorheit dieſer Politik
ſich grauſam beſtrafte; damals hatte noch Niemand die tiefe Unſittlichkeit,
die innere Unmöglichkeit der Pläne Metternichs durchſchaut. Die Cabinette
ſahen vielmehr nicht ohne Neid, wie glücklich und ſicher der gewandte
Mann ſich ſeinen Zielen näherte. Er erkannte richtig, daß ſein Oeſter-
reich eine Macht des Beharrens war und alle verwegenen Neuerungen
von ſich weiſen mußte; ein Staat in ſolcher Lage hatte keinen ärgeren
Feind als das Verlangen der Nationen nach Einheit und Freiheit, er
durfte dieſſeits wie jenſeits der Alpen ſich nur auf das dynaſtiſche Intereſſe
der Höfe ſtützen.


Der öſterreichiſche Staatsmann wollte ſich alſo behutſam mit der
[491]Metternichs deutſche Pläne.
mittelbaren Herrſchaft über das geſammte Deutſchland begnügen ohne die
Könige von Napoleons Gnaden durch die anſpruchsvollen Formen kaiſerlicher
Majeſtät zu verletzen. An eine Mitherrſchaft Preußens dachte er um ſo
weniger, da er wohl wußte, daß die Mittelſtaaten ſämmtlich die Hegemonie
der aufſtrebenden preußiſchen Macht im Norden noch weit mehr fürchteten
als das öſterreichiſche Kaiſerthum. Allen irgend unterrichteten Diplomaten
war dieſe Anſicht Metternichs wohl bekannt. Auch Hardenberg konnte ſie
leicht errathen, wenn er nur die Augen offen hielt; woher kam es denn,
daß Oeſterreich ſich ſo beharrlich weigerte, die Herrſchaft über die ober-
ſchwäbiſchen Lande von Neuem zu übernehmen? Hier aber begann die
lange Reihe der diplomatiſchen Fehler des Staatskanzlers. Seine Ver-
träge mit Rußland und England waren, einzelner Mißgriffe ungeachtet,
doch gerechtfertigt durch das Gebot der Noth. Sein Verhalten gegen
Oeſterreich entſprang einem folgenſchweren Irrthum. Er ſetzte leichtſinnig
eine freundnachbarliche Geſinnung voraus, wovon in der Hofburg keine
Spur vorhanden war; höchſtwahrſcheinlich iſt er in ſolcher Meinung ab-
ſichtlich beſtärkt worden durch ſeinen Vetter Graf Hardenberg, den hanno-
verſchen Agenten in Wien, einen anrüchigen, zweizüngigen Menſchen, der
lange den Vermittler zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten ſpielte,
doch in Wahrheit nur ein Werkzeug Metternichs war.


Geſchickt wußte die öſterreichiſche Politik dies ſorgloſe Vertrauen des
Bundesgenoſſen zu mißbrauchen. Metternich hat wohl in ſpäteren Jahren,
als er ernſter und arbeitſamer wurde, zuweilen ein kunſtvoll angelegtes, fein
durchdachtes Ränkeſpiel geführt; in jener Zeit war er noch ganz der leicht-
fertig frivole Lebemann, brachte den leidenſchaftlichen Gentz, der den Kampf
gegen Preußen und Rußland mit grimmigem Ernſte führte, durch ſeine träge
Sorgloſigkeit und ſeine faden Liebesabenteuer oft zur Verzweiflung. Gegen
Hardenbergs kindliche Argloſigkeit genügte aber ſchon ein gemächliches Zu-
warten und gelegentlich eine freundliche Lüge. Da der Oeſterreicher jeder
Erörterung der deutſchen Verfaſſungsfrage auswich, ſo blieb der preußiſche
Staatsmann hartnäckig in dem Glauben, die Hofburg werde ſich doch
noch bewegen laſſen das gefährliche Wächteramt am Oberrheine zu über-
nehmen. Noch mehr, er handelte, als ob ſeine dualiſtiſchen Pläne bereits
die Zuſtimmung des Wiener Hofes gefunden hätten, und bewilligte ver-
trauensvoll, daß Oeſterreich als die führende Macht Süddeutſchlands mit
den Südſtaaten über ihren Beitritt zur Coalition unterhandeln ſollte; das
ſchien ſich ohnehin von ſelbſt zu verſtehen, da die öſterreichiſchen Truppen
bereits an der bairiſchen Grenze ſtanden. So wurde das Schickſal der
deutſchen Verfaſſung in Oeſterreichs Hände gelegt; und dies in einem
Augenblicke, da der Abfall der Rheinbündler an dem Gange des Krieges
nichts mehr ändern konnte! Von den Verträgen mit den Königskronen
des Südens hing die Form des künftigen Deutſchen Bundes ausſchließlich
ab; in Norddeutſchland, dem Machtgebiete Preußens, war nichts zu unter-
[492]I. 4. Der Befreiungskrieg.
handeln, dort galt es zunächſt nur den König Jerome und die napoleoniſchen
Präfecten zu verjagen. Was die hoffenden Patrioten von der Hofburg zu er-
warten hatten, das lehrte im October ein cyniſcher Aufſatz von Gentz in der
Prager Zeitung: der Sieg ſei der Uebergang aus dem Zuſtande der Ent-
ſagung in den Zuſtand der Ruhe und des Genuſſes! Das lehrten noch
deutlicher die endloſen Verhandlungen über Steins Centralverwaltungsrath.


Ein Unſtern ſchwebte von Haus aus über dieſer Schöpfung des Frei-
herrn; monatelang fand ſie keine rechte Thätigkeit, da man noch wenig erobert
hatte. Alle die fremden Mächte, die noch zu Deutſchland gerechnet wurden,
England, Schweden, Oeſterreich äußerten wiederholt ihr Mißtrauen. Die ent-
thronten Kleinfürſten dagegen drängten ſich heran, und natürlich durfte der
unaufhaltſame Gagern nicht fehlen; der alterprobte Lebensretter der Klein-
ſtaaterei zeigte Vollmachten vor von dem Kurfürſten von Heſſen und dem
Fürſten von Oranien, forderte Sitz und Stimme für die beiden Herren
ohne Land. Sobald Oeſterreich der Allianz beigetreten war, verlangte
Metternich ſogleich gänzliche Umgeſtaltung der verdächtigen Behörde: ſie
dürfe nichts ſein als ein militäriſches Verpflegungsamt. Der ruſſiſche
Geſandte Alopeus, der bisher die proviſoriſche Verwaltung in Mecklen-
burg geführt, ein vertrauter Freund der preußiſchen Patrioten, mußte auf
den Wunſch der Hofburg abberufen werden. In Teplitz legte Humboldt
einen veränderten Entwurf vor, der aber zu Metternichs Entſetzen die
Vorſchrift enthielt, daß die Centralverwaltung in den eroberten Ländern
die Landſtände einberufen ſolle. Neue Bedenken, neue Verſchleppung.
Auch Neſſelrode, Alexanders neuer Rathgeber, der ſich immer gelehriger
in Metternichs Anſchauungen einlebte, zeigte lauen Willen. Die Sache
blieb liegen, und erſt nach der Leipziger Schlacht, am 21. October wurde
ein neuer Vertrag unterzeichnet, welcher die mit ſo ſtolzen Erwartungen
begründete Behörde jeder politiſchen Bedeutung beraubte. Stein und
ſein treuer Mitarbeiter Eichhorn wünſchten, daß den zur Coalition über-
tretenden Kleinfürſten nur die vorläufige Fortführung der Regierung unter
der Aufſicht der Centralverwaltung belaſſen würde; dann hätten ſie jedes
Hoheitsrecht, das ihnen die künftige Bundesacte zurückgab, als ein Ge-
ſchenk von Seiten des Deutſchen Bundes betrachten müſſen. Metternich
wollte umgekehrt die kleinen Fürſten dadurch gewinnen, daß er ihnen den
Fortbeſtand ihrer durch die Beraubung des alten Reichs geſchaffenen
Machtvollkommenheit verbürgte; die Centralverwaltung erſchien ihm um
ſo gefährlicher weil er fürchtete, daß ſie die Vereinigung Sachſens mit
dem preußiſchen Staate vorbereiten könnte. Seine Anſicht drang durch.
Die Wirkſamkeit der Centralverwaltung wurde beſchränkt auf die Leitung
der Rüſtungen und der Heeresverpflegung in den eroberten Gebieten;
Stein mit einem Rathe von Agenten der verbündeten Regierungen er-
hielt die oberſte Aufſicht; die von ihm angeſtellten Militärgouverneure
ſollten immer nur durch die beſtehenden Obrigkeiten ihre Befehle aus-
[493]Vertrag von Ried.
führen laſſen. Wer freiwillig der Coalition beitrat, durfte durch Vertrag
ſein Land vor der Einmiſchung der Centralverwaltung ſicherſtellen. In
ſeinem alſo beſchränkten Wirkungskreiſe hat der Centralverwaltungsrath
unter Steins kraftvollen Händen ſehr Tüchtiges geleiſtet, obgleich er be-
ſtändig mit dem böſen Willen der rheinbündiſchen Souveräne zu kämpfen
hatte; aber der urſprüngliche kühne Plan, die Gebiete der Kleinfürſten
als herrenloſes Gut zu behandeln, war durch Oeſterreich vereitelt.


Unterdeſſen hatte Metternich ſeine koſtbare Vollmacht benutzt und mit
Baiern abgeſchloſſen. Trotz der günſtigen militäriſchen Lage der Alliirten
hegte man in dem zaghaften Hauptquartiere drei Wochen vor der Ent-
ſcheidungsſchlacht noch ſo wenig feſte Siegeszuverſicht, daß ſelbſt der Czar
die kleine bairiſche Armee als eine ſehr werthvolle Verſtärkung anſah.
Noch höheren Werth legte Metternich auf den Zutritt Baierns; er hoffte
durch eine raſche Verſtändigung mit dem Münchener Hofe die in den letz-
ten acht Jahren verlorenen Weſtprovinzen ſofort zurückzugewinnen, Tyrol,
und damit die Pforte Italiens dem öſterreichiſchen Heere zu öffnen, endlich
allen Rheinbundskönigen durch die That zu beweiſen, daß ſie in der Hof-
burg einen nachſichtigen Gönner fänden. Im September war das Mün-
chener Cabinet endlich zu der Einſicht gelangt, daß es Zeit ſei das ſinkende
Schiff zu verlaſſen. Die beiden Kaiſer ermuthigten den König von Baiern
durch freundliche Briefe; Hofrath Hruby, einer der gewandteſten öſter-
reichiſchen Diplomaten, deſſen Wirkſamkeit der preußiſche Staat noch oft
ſchmerzlich empfinden ſollte, reiſte geſchäftig hin und her. Am 8. October
ſchloſſen Oeſterreich und Baiern den Rieder Vertrag. Beide Theile konnten
ſich eines großen diplomatiſchen Erfolges rühmen, des größern doch Oeſter-
reich. Die Hofburg gewann für ſich Tyrol, Salzburg, das Inn- und
Hausruckviertel und führte zugleich drei ſchwere Schläge gegen Preußen.
Der Kernſtaat des Rheinbundes trat als gleichberechtigte Macht in die
Coalition ein, wurde feierlich aller vergangenen Schuld entlaſtet; und jetzt
zeigte ſich, welchen Sinn Oeſterreich mit jenen verhängnißvollen Worten
des Teplitzer Vertrages verband: die verheißene ganze und unbedingte
Unabhängigkeit wurde kurzweg dahin erläutert, daß Baiern, von jedem
fremden Einfluß befreit, „ſeiner vollkommenen Souveränität genießen“ ſolle.
Damit war den Bundesplänen Preußens die Spitze abgebrochen. Baiern
erhielt ferner die Anerkennung ſeines Beſitzſtandes; das will ſagen: Har-
denbergs Plan den Rheinbundsſtaaten den Raub der jüngſten Jahre wieder
abzunehmen, fiel platt zu Boden, und Ansbach-Baireuth ging für Preußen
verloren. Der Münchener Hof empfing endlich für die an Oeſterreich
abgetretenen Provinzen die Lande Würzburg und Aſchaffenburg ſowie die
geheime Zuſage noch anderer deutſcher Landſtriche, die mit ſeinem Gebiete
in ununterbrochenem Zuſammenhange ſtehen ſollten; durch dieſe Ausſicht
ward das Haus Wittelsbach für die nächſte Zeit feſt an Oeſterreich gekettet.


Die geheimen Artikel des Rieder Vertrages wurden vor dem preußi-
[494]I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſchen Cabinet noch längere Zeit verborgen gehalten*) und erregten, als
ſie endlich ans Licht traten, lebhaften Unwillen. Hardenberg und Hum-
boldt hatten in Teplitz einen Artikel für den bairiſchen Vertrag vorge-
ſchlagen, worin Baierns Unterwerfung unter die deutſche Bundesgewalt
ausbedungen war; ſie waren damit weder bei dem Czaren noch bei Met-
ternich durchgedrungen, und nun mußten ſie erleben, daß Oeſterreich den
gefährlichſten und böswilligſten Staat des Rheinbundes von jeder Ver-
pflichtung gegen Deutſchland freiſprach! Montgelas hielt es nicht einmal
für nöthig ſeine bonapartiſtiſchen Neigungen zu verbergen; in der öffent-
lichen Erklärung, die den vollzogenen Fahnenwechſel verkündigte, ſprach er
unbefangen die Hoffnung aus auf baldige Wiederherſtellung der freund-
ſchaftlichen Beziehungen, denen der König nur im letzten Augenblicke und
in höchſter Bedrängniß entſagt habe. Und dieſem Staate hatte Oeſter-
reich die alten Stammlande der Hohenzollern preisgegeben!


Zu Anfang des Jahres, in einem Augenblicke da Baierns Abfall den
ganzen Verlauf des Krieges ändern konnte, war der Staatskanzler allerdings
bereit geweſen auf die fränkiſchen Markgrafſchaften zu verzichten. Jetzt in
völlig verwandelter Lage dachte man nicht mehr daran für geringen Gewinn
ein ſolches Opfer zu bringen; vielmehr hatte Friedrich Wilhelm eben jetzt
den Oberſten Krauſeneck beauftragt von Böhmen aus einen Streifzug gegen
Ansbach-Baireuth zu unternehmen und die Franken zur Erhebung für
ihren alten Fürſten aufzurufen. Da erfuhr man, daß Metternich die
preußiſche Vollmacht mißbraucht hatte um zu erreichen, was die Hofburg
ſchon ſeit dem Hubertusburger Frieden unabläſſig erſtrebte, um den nord-
deutſchen Staat aus dem Süden zu verdrängen und ihn der Poſition
in der Flanke Böhmens zu berauben. Der König war nicht minder er-
bittert als das Volk der Markgrafſchaften. Es bezeichnet die kindliche
politiſche Bildung der Zeit, daß ſobald die Feſſeln des Rheinbundes ſich
lockerten alle deutſchen Stämme ohne Ausnahme zu ihren altangeſtammten
Fürſtenhäuſern zurück verlangten. Nirgendwo äußerte ſich dieſe legitimiſtiſche
Geſinnung ſo lebhaft wie unter den Franken; ſie waren einſt durch Har-
denbergs Verwaltung aus tiefem wirthſchaftlichem Verfalle emporgehoben
worden und hatten dann unter der Willkürherrſchaft der Präfecten Mont-
gelas’ ſchwer gelitten. Sie beſtürmten den König ſie nicht aufzuopfern,
beſchworen nachher den Wiener Congreß in einer rührenden Adreſſe um
die Rückkehr des alten Fürſten, deſſen weiſe Verwaltung allein das Land
in den Stand geſetzt habe die Leiden der letzten acht Jahre zu überſtehen.
Durch viele Jahrzehnte blieb im Fichtelgebirge die Erinnerung lebendig
an die gute alte Zeit, da die Königin Luiſe mit ihrem jungen Gemahl
die Felsklüfte der Luxburg durchwandert hatte; die Kinder ſuchten im
Walde nach dem Adlerfarrenkraut, das im Querſchnitt den brandenburgi-
[495]Blüchers Zug über die Elbe.
ſchen Adler zeigt. Der König empfand es bitter ſo viel herzliche Treue
zurückweiſen zu müſſen; ſein Staatskanzler mußte ſobald die Rieder Ver-
abredungen bekannt wurden Preußens Anſprüche auf Ansbach-Baireuth
feierlich vorbehalten. Aber die Verwahrung kam zu ſpät. Um doch nicht
gänzlich leer auszugehen beſetzte Preußen bald nach der Leipziger Schlacht
das Herzogthum Berg und behielt dies Land, das in München von jeher
als das Aequivalent der fränkiſchen Markgrafſchaften angeſehen wurde, in
ſeiner Verwaltung. —


Dergeſtalt war bereits entſchieden, daß Oeſterreich die Geſtaltung der
deutſchen Zukunft in ſeiner Gewalt hielt. Indeſſen wuchs die Bedrängniß des
Imperators. Neue gewaltige Aushebungen wurden dem erſchöpften Frank-
reich zugemuthet: die Nation ſolle ſich ein Beiſpiel nehmen an den unge-
heuren Anſtrengungen des kleinen Preußens, ihr Alles einſetzen in dieſem
Kriege gegen England; denn nur darum dauere der Kampf fort weil der
unverſöhnliche engliſche Feind verlange, daß die Franzoſen wie die Hindus
allein für ihn arbeiteten. Das elende Weib, das in Napoleons Namen
die Regentſchaft führte, die Tochter des letzten deutſchen Kaiſers, hatte die
Stirn im Senate auszuſprechen: „ich weiß mehr als irgend Jemand,
was unſere Bevölkerung zu gewärtigen hätte, wenn ſie ſich jemals be-
ſiegen ließe!“ Umringt von den drei feindlichen Heeren verſuchte Napo-
leon noch mehrmals durch einen Angriff ſich Luft zu machen; zweimal
wendete er ſich gegen das ſchleſiſche Heer, das bis in die Lauſitz vorge-
drungen war, einmal gegen die böhmiſche Armee; aber Blücher wich ihm
gewandt aus, und als der Imperator am 10. September von der Höhe
des Geiersberges in das Teplitzer Thal hinabſchaute, da fand er doch
nicht den Entſchluß, dem böhmiſchen Heere die Schlacht anzubieten. Es
war ein ewiges va et vient, wie Napoleon ſagte. Das nutzloſe Spiel
drohte ſich ins Unendliche zu verlängern. Die große Armee rührte ſich
nicht vom Flecke. Karl Johann benutzte den Sieg von Dennewitz nicht,
wollte die Elbe nicht überſchreiten ſo lange Wittenberg noch in franzöſi-
ſchen Händen war. Wohl vereitelte das Corps Wallmodens durch das
Gefecht an der Göhrde einen Verſuch Davouſts die Beſatzung von Magde-
burg zu verſtärken; die Parteigänger Colomb und Thielmann errangen
manchen ſchönen Erfolg im Rücken des Feindes, ja den Koſaken Czer-
nitſcheffs glückte es ſogar für einige Tage Caſſel zu beſetzen und den
König Jerome aus ſeiner Hauptſtadt zu verjagen. Doch was bedeutete
das Alles für den Ausgang des großen Krieges? Clauſewitz ſpottete, die
beiden Theile ſtänden ſich gegenüber wie der Hund und die Feldhühner,
die einander ſtarr anſehen bis der Jäger ſein Faß an! ruft.


Von Blücher und Gneiſenau ward endlich dieſer fröhliche Jägerruf
angeſtimmt. Sie hatten den wiederholten Befehl zum Abmarſch nach
Böhmen unbefolgt gelaſſen, weil ſie der ſchleſiſchen Armee die Freiheit
der Bewegung erhalten wollten. Als der Krieg völlig ins Stocken kam
[496]I. 4. Der Befreiungskrieg.
entſchloſſen ſie ſich eigenmächtig, nordweſtwärts über die Elbe zu ziehen
und den Zauderer Bernadotte mit ſich fortzureißen; gelang dies, ſo mußte
das große Hauptquartier endlich den Muth finden das Erzgebirge zu über-
ſchreiten, und etwa in der Gegend von Leipzig konnten die drei Armeen
ſich vereinigen. Zog Napoleon mittlerweile nach Schleſien, um ſo beſſer für
die Verbündeten, dann verlegten ſie ihm mit geſammelter Kraft den Rück-
zug; nicht die Sicherung einer Provinz, ſondern das Lager des Feindes
war Gneiſenaus Ziel. Wir alſo, ſchrieb er ſtolz, wollen die Scene eröffnen
und die Hauptrolle übernehmen, da die Andren es nicht wollen. Der König
war mit dem kühnen Entſchluſſe einverſtanden, aber der ruſſiſche Bevoll-
mächtigte im Blücher’ſchen Hauptquartier legte förmlich Verwahrung ein.


Am 26. September traf Bennigſen mit der ruſſiſchen Reſervearmee
aus Polen im Teplitzer Thale ein; Schwarzenberg gebot fortan über eine
gewaltige Uebermacht, wenn er ſie nur zu vereinigen verſtand. Am ſelben
Tage brach Blücher aus der Lauſitz auf; es war die entſcheidende Wen-
dung des Feldzugs. Am 3. October überſchritt er die Elbe bei Warten-
burg, in jener ſumpfigen Niederung, wo die Schwarze Elſter ſich mit dem
Strome vereinigt. Drüben auf dem linken Ufer ſtand das Corps Bertrands,
Franzoſen, Italiener, Rheinbündner, zwiſchen Wartenburg und Bleddin,
den Augen der Preußen völlig entzogen, geſchützt durch hohe Dämme und
durch die ſumpfigen Altwaſſer der Elbe. Gegen dieſe faſt unangreifbare
Stellung ließ Blücher das York’ſche Corps vorgehen. York fluchte wieder
über die Tollheit der Pläne Gneiſenaus, doch er übernahm das Wag-
niß, und nach wiederholtem vergeblichem Sturme gelang es wirklich dem
unvergleichlichen Muthe ſeiner Truppen die Dämme zu erſteigen, den
Feind zum Abzuge zu nöthigen. Abermals war ein glänzender Sieg
allein durch die Preußen erfochten, und abermals bekamen die unglücklichen
Württemberger die Schärfe des preußiſchen Schwertes zu koſten. Der
Kampf ward mit ſolcher Wuth geführt, daß die ſchwarzen Huſaren einmal
gefangene italieniſche Kanoniere zwangen das Geſchütz auf ihre eigenen
Kameraden zu richten. Glückſelig focht General Oppen mitten im Ge-
tümmel; der war von der nahen Nordarmee herübergeritten und ließ ſichs
nicht nehmen als gemeiner Reiter mit ins Feuer zu gehen. Ein grauſiger
Anblick, wie die armen Leineweber von der ſchleſiſchen Landwehr ſchaaren-
weiſe mit durchſchoſſener Bruſt auf dem naſſen Boden lagen unter den
Obſtbäumen an den Elbdeichen; vor der Schlacht hatten ſie ſich noch ge-
mächlich Pflaumen geſchüttelt. Als Eichhorn dieſe kümmerlichen Leiber
betrachtete, in denen ſo viel Liebe und ſo viel Heldenmuth gewohnt, da
durchſchauerte ihn heilige Andacht und er erkannte was es heiße, daß der
Herr auch in den Schwachen mächtig iſt. Der höchſte Preis gebührte
doch dem Kolbergiſchen Leibregimente, jener tapferen Schaar, die ſchon an
Gneiſenaus Seite geſtanden als das Geſtirn des Helden zuerſt aufging;
vor dieſer Truppe entblößte der geſtrenge York ſein Haupt, wie einſt
[497]Schlacht von Wartenburg.
König Friedrich vor den Ansbach-Baireuth-Dragonern. Blücher aber
rief, als Abends im Wartenburger Schloſſe der Becher kreiſte, den Sohn
Scharnhorſts an ſeine Seite, gedachte des Vaters in bewegten Worten,
nannte ſich ſelber beſcheiden einen Handwerker, der nur ausführe was
jener Unvergeßliche geplant.


Die Elbe war überſchritten. In einer perſönlichen Unterredung be-
wog Blücher den ſchwediſchen Kronprinzen, ſeinem Zuge zu folgen; der-
weil Bernadotte in den ſüßeſten Artigkeiten ſich erging, rief der Alte ſeinem
Dolmetſcher zu: ſagen Sie dem Kerl, der Teufel ſoll ihn holen wenn er
nicht will! Schon am 8. October ſtand die ſchleſiſche Armee in der Nähe
von Düben, wenige Meilen nördlich von Leipzig, hinter ihr bei Deſſau
das Nordheer. Blüchers Vormarſch brachte Alles in Bewegung. Während
das böhmiſche Heer ſich endlich anſchickte auf Leipzig zu marſchiren, nahm
Napoleon ſeine Truppen vom rechten Elbufer zurück, mit dem Befehle vorher
Alles bis auf den letzten Obſtbaum zu zerſtören, ſicherte Dresden durch
eine ſtarke Garniſon und eilte ſelber nordweſtwärts, den beiden vereinigten
Armeen entgegen. Doch Blücher wich abermals aus, zog ſich weſtlich
über die Saale, ſo daß ihm der Weg nach Leipzig offen blieb, und der
diplomatiſchen Kunſt Rühle von Lilienſterns gelang es auch den Kron-
prinzen, der ſchon über die Elbe zurückweichen wollte, zu dem Marſche
über die Saale zu bewegen. Napoleon erkannte zu ſpät, daß er in die
Luft geſtoßen hatte. Jetzt, in der höchſten Bedrängniß, kam er nochmals
auf ſeinen Lieblingsplan zurück und dachte an einen fünften Zug gegen
Berlin: ſo leidenſchaftlich war ſein Verlangen den Heerd der deutſchen
Volksbewegung zu züchtigen. Seine Vortruppen drangen bereits über die
Elbe, Tauentzien trat mit ſeinem Corps einen übereilten Rückzug an, und
am 13. October befürchtete die preußiſche Hauptſtadt noch einmal einen
feindlichen Angriff. Doch inzwiſchen hatte der Imperator ſeinen Entſchluß
wieder geändert und wendete ſich nach Leipzig zurück. Sein Stolz ver-
ſchmähte die offene Rückzugsſtraße nach dem Rheine; er hoffte dicht vor
den Mauern Leipzigs der von Süden heranrückenden böhmiſchen Armee
die Schlacht anzubieten, bevor die beiden anderen Heere eintrafen. Das
edle Wild war geſtellt; das gewaltige Keſſeltreiben dieſes Herbſtes näherte
ſich dem Ende.


Gneiſenaus Augen leuchteten, als er am Morgen des 16. Octobers
das ungeheure Schlachtfeld überblickte, wie vom Nordweſten und Norden,
vom Südoſten und Süden her die Heerſäulen der Verbündeten im weiten
Halbkreiſe gegen Leipzig heranzogen. Er wußte, die Stunde der Erfül-
lung hatte geſchlagen, und wie er empfand das Volk. Wie oft hatten
ſich die Deutſchen erfreut an den Schilderungen der Kaufleute von dem
vielſprachigen Völkergewimmel, das von Zeit zu Zeit marktend und
ſchachernd die hochgiebligen Straßen der alten Meßſtadt erfüllte; jetzt
ſtrömten wieder alle Völker des Welttheils vom Ebro bis zur Wolga in
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 32
[498]I. 4. Der Befreiungskrieg.
den ſchlachtgewohnten Ebenen Oberſachſens zuſammen. Die große Zahl-
woche kam heran, die Abrechnung für zwei Jahrzehnte des Unheils und
der Zerſtörung. Nach der Schlacht erzählte ſich das Volk in der Pfalz,
wie die acht Kaiſer aus den Grüften des Speierer Domes ſich erhoben
hatten und Nächtens über den Rhein gefahren waren um bei Leipzig
mitzukämpfen; nach vollbrachter Arbeit ruhten ſie wieder ſtill im Grabe.
Die Verbündeten hatten für ſich den dreifachen Vortheil der Ueberzahl
an Mannſchaft und Geſchütz, des concentriſchen Angriffs und einer ſiche-
ren Flügelanlehnung. Napoleon ſtand im Halbkreiſe auf der Ebene öſtlich
von Leipzig; hinter ihm lagen die Stadt und die Auen — jene wild-
reichen dichten Laubwälder, die ſich meilenlang zwiſchen der Elſter, der
Pleiße und ihren zahlreichen ſumpfigen Armen ausdehnen, ein für
die Entfaltung großer Truppenmaſſen völlig unbrauchbares Wald- und
Sumpfland, das die beiden Flügel der Verbündeten gegen jede Umgehung
ſicherte. Gelang der Angriff, ſo konnte der Imperator vielleicht verſuchen
irgendwo den eiſernen Ring der alliirten Heere zu durchbrechen und ſich
oſtwärts nach Torgau durchzuſchlagen — ein tollkühnes Wagniß, das bei
einiger Wachſamkeit der Verbündeten ſicher ſcheitern mußte. Sonſt blieb
ihm nur noch der Rückzug nach Weſten offen, erſt durch die enge Stadt,
dann auf einer einzigen Brücke über die Elſter, endlich auf dem hohen
Damme der Frankfurter Landſtraße quer durch die naſſen Wieſen der
Auen — der denkbar ungünſtigſte Weg für ein geſchlagenes Heer.


Am 15. war Rühle von Lilienſtern mit einer Botſchaft des ſchle-
ſiſchen Hauptquartiers bei dem Oberfeldherrn in Pegau angelangt.
Gneiſenau ſchlug vor, am erſten Schlachttage das Gefecht hinzuhalten,
weil mindeſtens 80,000 Mann von der verbündeten Armee noch nicht zur
Stelle waren. Sobald dieſe Verſtärkungen eingetroffen, ſollte der Angriff
auf allen Stellen des Halbkreiſes mit entſchiedener Uebermacht wieder
aufgenommen und indeſſen durch ein in Napoleons Rücken entſendetes
Corps dem Feinde die einzige Rückzugsſtraße geſperrt werden; dann war
nicht nur ein Sieg, ſondern eine Vernichtungsſchlacht, eine in aller Ge-
ſchichte unerhörte Waffenſtreckung möglich. Zu ſo hohen Flügen ver-
mochte ſich freilich Schwarzenberg nicht aufzuſchwingen. Eine Zeit lang
hoffte er ſogar die Schlacht gänzlich zu vermeiden, ſchon durch das Er-
ſcheinen der drei vereinigten Armeen den Imperator zum Rückzuge zu
nöthigen. Auch als er ſich endlich überzeugen mußte, daß ein Napoleon
ſo leichten Kaufes nicht zu verdrängen ſei, entwarf er einen überaus un-
glücklichen Schlachtplan. Da die böhmiſche Armee vom Süden, die bei-
den anderen Heere vom Norden herankamen, ſo mußte der Oberfeldherr
— das war die Meinung des ſchleſiſchen Hauptquartiers — die Entſchei-
dung auf ſeiner rechten Flanke ſuchen, dort auf der Rechten ſich mit der
Nordarmee zu verbinden ſtreben um die Umklammerung des Feindes zu
vollenden. Statt deſſen ballte er eine Maſſe von 35,000 Mann, lauter
[499]Schlacht von Möckern.
Oeſterreicher, auf ſeinem äußerſten linken Flügel zuſammen und ließ ſie
durch das unwegſame Buſchland der Auen gegen Connewitz vorgehen, in
der ſonderbaren Hoffnung, dort auf ganz unzugänglichem Boden Napoleons
rechten Flügel von der Stadt abzudrängen. Sein General Langenau
hatte dieſen unſeligen Anſchlag eingegeben; der ehrgeizige Sachſe, der
erſt im Frühjahr zugleich mit dem Miniſter Senfft in öſterreichiſche
Dienſte übergetreten war, brannte vor Begier ſich in der Gnade ſeines
Kaiſers feſt zu ſetzen und wollte darum den Hauptſchlag durch die Oeſter-
reicher allein ausführen, den Preußen, die er mit dem ganzen Ingrimm
des Particulariſten haßte, eine untergeordnete Rolle zuweiſen. Der klein-
liche Gedanke ſollte ſich grauſam beſtrafen.


Napoleon ſammelte die Hauptmaſſe ſeiner Streitkräfte bei Wachau,
drei Stunden ſüdöſtlich der Stadt. Da er von dem Zauderer Bernadotte
nichts befürchtete und die ſchleſiſche Armee noch weitab im Nordweſten
bei Merſeburg wähnte, ſo gab er dem Marſchall Marmont, der im Nor-
den bei Möckern ſtand, den Befehl ſich mit der Hauptarmee zu vereinigen
um die Niederlage des böhmiſchen Heeres vollſtändig zu machen. In
der That entſprach Karl Johann den Erwartungen des Imperators. Die
Nordarmee erſchien am 16. gar nicht auf dem Schlachtfelde, dergeſtalt daß
die Alliirten nur eine geringfügige Ueberzahl, 192,000 gegen 177,000 Mann,
in das Gefecht führen konnten; eine weite Lücke blieb zwiſchen den beiden
Hälften der verbündeten Heere offen, die Kämpfe des erſten Tages zerfielen
in Wahrheit in zwei ſelbſtändige Schlachten, bei Möckern und bei Wachau.


Blücher dagegen kam nicht auf dem Umwege über Merſeburg, ſon-
dern gradeswegs von Halle auf der Landſtraße am Oſtrande der Auen
heran und zwang Marmont durch ſein unerwartetes Erſcheinen, bei
Möckern ſtehen zu bleiben. Wie lieblich war den tapferen Schleſiſchen
das Leben eingegangen die letzten Tage über, als ſie jubelnd in Halle
einzogen, von den Bürgern der endlich befreiten treuen Stadt auf den
Händen getragen, und dann bei Becherklang und vaterländiſchen Geſängen,
nach altem Burſchenbrauche die Nacht verbrachten. Dem Rauſche der
jugendlichen Luſt folgte die ernſte Arbeit, die blutigſte des ganzen Krieges,
denn wieder fiel dem York’ſchen Corps die ſchwerſte Aufgabe zu. Als
York am Morgen des 16. in Schkeuditz unter ſeinen Fenſtern die Huſaren
zum Aufſitzen blaſen hörte, da hob er ſein Glas und ſprach den Kern-
ſpruch ſeines lieben Paul Gerhard: den Anfang, Mitt’ und Ende, Herr
Gott, zum Beſten wende! Wohl mochte er ſich einer höheren Hand
empfehlen, denn unangreifbar wie bei Wartenburg ſchien wieder die Stel-
lung des Feindes. Marmont lehnte ſich mit ſeiner linken Flanke bei
Möckern an den ſteilen Thalrand der Elſter, hatte die Mauern des
Dorfes zur Vertheidigung eingerichtet, weiter rechts auf den flachen Höhen
eine Batterie von 80 Geſchützen aufgefahren. Gegen dieſe kleine Feſtung
ſtürmten die Preußen heran auf der ſanft anſteigenden baumloſen Ebene;
32*
[500]I. 4. Der Befreiungskrieg.
ſechsmal drangen ſie in das Dorf und verloren es wieder; das Gefühl
der einzigen Größe des Tages beſchwingte beiden Theilen die Kraft. End-
lich führt York ſelber ſeine Reiterei zum Angriff gegen die Höhen unter
dem Rufe: „marſch, marſch, es lebe der König;“ nach einem wüthenden
Häuſerkampfe ſchlägt das Fußvolk den Feind aus dem Dorfe heraus; am
Abend muß Marmont gegen die Stadt zurückweichen, 53 Kanonen in
den Händen der Preußen laſſen, und an den Wachtfeuern der Sieger
ertönt das Lied: Herr Gott Dich loben wir, wie in der Winternacht von
Leuthen. Aber welch ein Anblick am nächſten Morgen, als die Truppen
zum Sonntagsgottesdienſt zuſammentraten. Achtundzwanzig Comman-
deure und Stabsoffiziere lagen todt oder verwundet; von ſeinen 12,000
Mann Infanterie hatte York kaum 9000 mehr, ſeine Landwehr war im
Auguſt mit 13,000 Mann ins Feld gezogen und zählte jetzt noch 2000.
So waren an dieſer einen Stelle die Verbündeten bis auf eine kleine
Stunde an die Thore von Leipzig herangelangt.


Das Ausbleiben der Nordarmee hatte die üble Folge, daß Blücher
ſeine Armee nicht ſchwächen durfte und nicht, wie ſeine Abſicht war,
ein Corps weſtlich durch die Auen auf die Rückzugslinie Napoleons ent-
ſenden konnte. Dort im Weſten ſtand alſo Giulai mit ſeinen 22,000
Oeſterreichern den 15,000 Mann des Bertrand’ſchen Corps allein gegen-
über und er verſtand nicht ſeine Uebermacht zu verwerthen; die große
Frankfurter Straße blieb dem Imperator geſichert. Auch auf dem Haupt-
ſchauplatze des Kampfes, bei Wachau fochten die Verbündeten nicht glück-
lich. Hier hatte zwei Tage vorher ein großartiges Vorſpiel der Völker-
ſchlacht ſich abgeſpielt, ein gewaltiges Reitergefecht, wobei König Murat
nur mit Noth dem Säbel des Leutnants Guido v. d. Lippe von den
Neumärkiſchen Dragonern entgangen war. Heute hielt Napoleon ſelber
mit der Garde und dem Kerne ſeines Heeres die dritthalb Stunden lange
Linie von Dölitz bis Seifertshain beſetzt, durch Zahl und Stellung den
Verbündeten überlegen, 121,000 gegen 113,000 Mann. Auf dem linken
Flügel der Alliirten, zwiſchen den beiden Flüſſen, vergeudeten die unglück-
lichen Opfer der Feldherrnkunſt Langenaus ihre Kraft in einem tapferen,
aber ausſichtsloſen Kampfe; eingeklemmt in dem buſchigen Gelände ver-
mochten ſie ihre Macht nicht zu gebrauchen. General Merveldt ſelbſt
gerieth mit einem Theile ſeines Corps in Gefangenſchaft; mit Mühe
wurden die Reſerven dieſer Oeſterreicher aus den Auen über die Pleiße
rechtsab auf die offene Ebene hinauf gezogen. Es war die höchſte Zeit,
denn hier im Centrum konnten Kleiſts Preußen und die Ruſſen des
Prinzen Eugen ſich auf die Dauer nicht behaupten in dem verzweifelten
Ringen gegen die erdrückende Uebermacht, die unter dem Schutze von
300 Geſchützen ihre Schläge führte. Die volle Hälfte dieſer Helden von
Kulm lag auf dem Schlachtfelde. Schon glaubt Napoleon die Schlacht
gewonnen, befiehlt in der Stadt Victoria zu läuten, ſendet Siegesboten
[501]Schlacht bei Wachau.
an ſeinen Vaſallen König Friedrich Auguſt, der in Leipzig angſtvoll der
Entſcheidung harrt. „Noch dreht ſich die Welt um uns“ — ruft er froh-
lockend ſeinem Daru zu. Ein letzter zerſchmetternder Angriff der ge-
ſammten Reiterei ſoll das Centrum durchbrechen. Noch einmal dröhnt die
Erde von dem Feuer der 300 Geſchütze, dann raſen 9000 Reiter in ge-
ſchloſſener Maſſe über das Blachfeld dahin, ein undurchdringliches Dickicht
von Roſſen, Helmen, Lanzen und Schwertern. Da kommen die öſter-
reichiſchen Reſerven aus der Aue heran, und während die Reitermaſſen,
athemlos von dem tollen Ritt, allmählich zurückgedrängt werden, ſetzen
ſich die Verbündeten nochmals in den verlorenen Dörfern feſt und am
Abend behaupten ſie faſt wieder dieſelbe Stellung wie am Morgen.
Schwarzenbergs Angriff war geſcheitert, doch der Sieger hatte nicht ein-
mal den Beſitz des Schlachtfeldes gewonnen.


Trat Napoleon jetzt den Rückzug an, ſo konnte er ſein Heer in guter
Ordnung zum Rheine führen; denn die ſchleſiſche Armee, die einzige
Siegerin des erſten Schlachttags, ſtand von der Frankfurter Straße noch
weit entfernt und war überdies tief erſchöpft von dem verluſtreichen Kampfe.
Aber der Liebling des Glücks vermochte das Unglück nicht zu ertragen.
Nichts mehr von der gewohnten Kälte und Sicherheit der politiſchen Be-
rechnung; ſein Hochmuth wollte ſich den ganzen Ernſt der Lage nicht ein-
geſtehen, wollte nicht laſſen von unmöglichen Hoffnungen. Der Impe-
rator that das Verderblichſte was er wählen konnte, verſuchte durch den
gefangenen Merveldt Unterhandlungen mit ſeinem Schwiegervater anzu-
knüpfen und gewährte alſo den Verbündeten die Friſt ihre geſammten
Streitmaſſen heranzuziehen. Am 17. October ruhten die Waffen, nur
Blücher konnte ſich die Luſt des Kampfes nicht verſagen, drängte die
Franzoſen bis dicht an die Nordſeite der Stadt zurück.


Am 18. früh hatte Napoleon ſeine Armee näher an Leipzig heran-
genommen, ihr Halbkreis war nur noch etwa eine Stunde von den Thoren
der Stadt entfernt. Gegen dieſe 160,000 Mann rückten 255,000 Ver-
bündete heran. Mehr als einen geordneten Rückzug konnte der Impe-
rator nicht mehr erkämpfen; er aber hoffte noch auf Sieg, wies den Ge-
danken an eine Niederlage gewaltſam von ſich, verſäumte Alles was den
ſchwierigen Rückmarſch über die Elſter erleichtern konnte.


Die Natur der Dinge führte endlich den Ausgang herbei, welchen
Gneiſenaus Scharfblick von vornherein als den einzig möglichen angeſehen
hatte: die Entſcheidung fiel auf dem rechten Flügel der Verbündeten. Na-
poleon überſah von der Höhe des Thonbergs, wie die Oeſterreicher auf
dem linken Flügel der Alliirten abermals mit geringem Glück den Kampf
um die Dörfer an der Pleiße eröffneten, wie dann das Centrum der Ver-
bündeten über das Schlachtfeld von Wachau herankam. Es waren die
kampferprobten Schaaren Kleiſts und des Prinzen Eugen; über die un-
beſtatteten Leichen der zwei Tage zuvor gefallenen Kameraden ging der
[502]I. 4. Der Befreiungskrieg.
Heerzug hinweg, man hörte die Knochen der Todten unter den Hufen der
Roſſe und den Rädern der Kanonen knarren. Vor der Front der Angreifer
lagen langhingeſtreckt die hohen Lehmmauern von Probſthaida, auf beiden
Seiten durch Geſchütze gedeckt — der Schlüſſel des franzöſiſchen Centrums.
Unter dem Kreuzfeuer der Batterien begann der Angriff, ein ſechsmal
wiederholtes Stürmen über das offene Feld, doch zuletzt behauptete ſich
Napoleons Garde in dem Dorfe, und auch Stötteritz nebenan blieb nach
wiederholtem Sturm und mörderiſchem Häuſerkampfe in den Händen der
Franzoſen; man ſah nachher in den Gärten und Häuſern die Leichen von
Ruſſen und Franzoſen, die einander gegenſeitig das Bajonett durch den
Leib gerannt, angeſpießt auf dem Boden liegen. Unmittelbar unter den
Augen des Imperators ward auch heute den Verbündeten kein entſcheiden-
der Erfolg, obgleich ſie dicht an den Schlüſſelpunkt ſeiner Stellung heran-
gelangten. Indeſſen rückte auf ihrem rechten Flügel das Nordheer in die
Schlachtlinie ein, füllte die Lücke, welche die böhmiſche Armee von der
ſchleſiſchen trennte, ſchloß den großen Schlachtenring, der die Franzoſen
umfaßte. Es hatte der Mühe genug gekoſtet, bis Karl Johann, der am
17. endlich bei Breitenfeld auf der alten Stätte ſchwediſchen Waffenruhmes
angelangt war, zur thätigen Theilnahme beredet wurde; um den Bedacht-
ſamen nur in den Kampf hineinzureißen hatte Blücher ſeiner eignen That-
kraft das ſchwerſte Opfer zugemuthet, 30,000 Mann ſeines Heeres an die
Nordarmee abgetreten und damit ſelber auf den Ruhm eines neuen Sieges
verzichtet. Einmal entſchloſſen zeigte Bernadotte die Umſicht des bewährten
Feldherrn. Während Langerons Ruſſen auf der äußerſten Rechten der
Angriffslinie durch wiederholten Sturm den Feind aus Schönefeld zu
verdrängen ſuchten, traf die Hauptmaſſe der Nordarmee am Nachmittag
auf der Oſtſeite von Leipzig ein. Bülow führte das Vordertreffen und
ſchlug das Corps Reyniers aus Paunsdorf hinaus.


So ſtießen die alten Feinde von Großbeeren abermals auf einander,
doch wie war ſeitdem die Stimmung in den ſächſiſchen Regimentern um-
geſchlagen! Wunderbar lange hatte die ungeheure Macht des deutſchen
Fahneneides die Truppen des Rheinbundes bei ihrer Soldatenpflicht feſt-
gehalten; außer einigen vereinzelten Bataillonen waren bisher nur zwei
weſtphäliſche Reiterregimenter zu den Verbündeten übergegangen. Mit
dem Glücke ſchwand auch das Selbſtgefühl der napoleoniſchen Lands-
knechte; ſie begannen ſich des Krieges gegen Deutſchland zu ſchämen, ſie
empfanden nach was ihr Landsmann Rückert ihnen zurief:


Ein Adler kann vielleicht noch Ruhm erfechten,

Doch ſicher Ihr, ſein Raubgefolg, Ihr Raben

Erfechtet Schmach bei kommenden Geſchlechten!

Die Sachſen fühlten ſich zudem in ihrer militäriſchen Ehre gekränkt durch
die Lügen der napoleoniſchen Bulletins; ſie ſahen mit Unmuth wie ihre
Heimath ausgeplündert, ihr König von Ort zu Ort hinter dem Protector
[503]Der 18. Oktober.
her geſchleppt wurde; und ſollten ſie mit nach Frankreich entweichen, wenn
Napoleon die Schlacht verlor und Sachſen ganz in die Gewalt der Ver-
bündeten fiel? Selbſt die Franzoſen empfanden Mitleid mit der unnatür-
lichen Lage dieſer Bundesgenoſſen; Reynier hatte bereits den Abmarſch der
Sachſen nach Torgau angeordnet, als das Anrücken der Nordarmee die
Ausführung des wohlgemeinten Befehles verhinderte. Nur König Fried-
rich Auguſt zeigte kein Verſtändniß für die Bedrängniß ſeiner Armee noch
für ſeine eigene Schande. Unwandelbar blieb ſein Vertrauen auf den
Glücksſtern des Großen Alliirten; noch während der Schlacht verwies er
ſeine Generale trocken auf ihre Soldatenpflicht als ſie ihn baten die Tren-
nung des Contingents von dem franzöſiſchen Heere zu geſtatten. Die
deutſche Gutmüthigkeit wollte dem angeſtammten Herrn ſo viel Verblen-
dung nicht zutrauen. Die Offiziere glaubten feſt, ihr König ſei unfrei;
keineswegs in der Meinung ihren Fahneneid zu brechen, ſondern in der
Abſicht das kleine Heer dem Landesherrn zu erhalten beſchloſſen ſie das
Aergſte was der Soldat verſchulden kann, den Uebergang in offener Feld-
ſchlacht. In der Gegend von Paunsdorf und Sellerhauſen ſchloſſen ſich
etwa 3000 Mann der ſächſiſchen Truppen an die Nordarmee an; mit
ihnen eine Reiterſchaar aus Schwaben. Die Preußen und Ruſſen nahmen
die Flüchtigen mit Freuden auf; nur den württembergiſchen General Nor-
mann, der einſt bei Kitzen die Lützower verrätheriſch überfallen hatte, wies
Gneiſenau mit verächtlichen Worten zurück. Friedrich Wilhelms Ehrlich-
keit aber hielt den Vorwurf nicht zurück: wie viel edles Blut die Sachſen
dem Vaterlande erſparen konnten, wenn ſie ihren Entſchluß früher, vor
der Entſcheidung, faßten! Der traurige Zwiſchenfall blieb ohne jeden Ein-
fluß auf den Ausgang der Völkerſchlacht, doch warf er ein grelles Schlag-
licht auf die tiefe ſittliche Fäulniß des kleinſtaatlichen Lebens. Das Gewiſſen
des Volkes begann endlich irre zu werden an der Felonie des napoleo-
niſchen Kleinkönigthums; trotz aller Lügenkünſte particulariſtiſcher Volks-
verbildung erwachte wieder die Einſicht, daß auch nach dem Untergange
des alten Reiches die Deutſchen noch ein Vaterland beſaßen und ihm ver-
bunden waren durch heilige Pflichten.


Gegen 5 Uhr vereinigte Bülow ſein ganzes Corps zu einem gemein-
ſamen Angriff, erſtürmte Sellerhauſen und Stüntz, drang am Abend bis
in die Kohlgärten vor, dicht an die öſtlichen Thore der Stadt. Da während-
dem auch Langeron auf der Rechten das hart umkämpfte Schönefeld end-
lich genommen hatte und ebenfalls gegen die Kohlgärten herandrängte, ſo
war Ney mit dem linken Flügel der Franzoſen auf ſeiner ganzen Linie
geſchlagen. Durch dieſe Niederlage ward Napoleons Stellung im Centrum
unhaltbar. Noch am Abend befahl er den Rückzug des geſammten Heeres.
Nun wälzten ſich die dichten Maſſen der geſchlagenen Armee durch drei
Thore zugleich in die Stadt hinein um dann alleſammt in entſetzlicher
Verwirrung auf der Frankfurter Straße ſich zu vereinigen. Daß dieſer
[504]I. 4. Der Befreiungskrieg.
eine Weg noch offen blieb, war das Verdienſt des unglücklichen Giulai,
der auch am dritten Schlachttage auf der Weſtſeite nichts ausgerichtet
hatte; bis zur Saale hin hielt Bertrand den Franzoſen die Rückzugsſtraße
frei. Die Hunderttauſende, die beim Feuerſcheine von zwölf brennenden
Dörfern auf dem theuer erkauften Schlachtfelde lagerten, empfanden tief
erſchüttert den heiligen Ernſt des Tages; unwillkürlich ſtimmten die Ruſſen
eines ihrer frommen Lieder an, und bald klangen überall, in allen Zungen
der Völker Europas, die Dankgeſänge zum Himmel auf. Die Sieger
beugten ſich unter Gottes gewaltige Hand; recht aus dem Herzen der
fromm bewegten Zeit heraus ſang der deutſche Dichter:


O Tag des Sieges, Tag des Herrn,

wie feurig ſchien dein Morgenſtern!

Nur der Feldherr, der von Amtswegen als der Beſieger Napoleons
gefeiert wurde, vermochte die Größe des Erfolges nicht zu faſſen. Schwar-
zenberg weigerte ſich die noch ganz unberührten ruſſiſchen und preußiſchen
Garden zur Verfolgung auszuſenden — nicht aus Argliſt, wie manche
der grollenden Preußen annahmen, ſondern weil ſein Kleinmuth die Ge-
ſchlagenen nicht zur Verzweiflung treiben wollte. Blücher hatte den Tag
über, wegen des verſpäteten Eintreffens der Nordarmee, ſein kleines Heer
zuſammenhalten müſſen um einen Ausfall in der Richtung auf Torgau,
den man noch immer befürchtete, zurückweiſen zu können; darum ward
York erſt am Abend auf dem weiten Umwege über Merſeburg dem fliehen-
den Feinde nachgeſendet. Alſo konnte Napoleon noch 90,000 Mann, faſt
durchweg Franzoſen, aus der Schlacht retten. Die Deckung des Rück-
zugs, die Vertheidigung der Stadt überließ er ſeinen Vaſallen, den Rhein-
bündnern, Polen und Italienern; mochten ſie noch einmal für ihn bluten,
dem Kaiſerreiche waren ſie doch verloren.


So mußte denn am 19. der Kampf um den Beſitz der Stadt ſelber
von Neuem begonnen werden. Während Blücher im Norden ſeine Ruſſen
gegen das Gerberthor führt und dort zuerſt von den Koſaken mit dem
Ehrennamen Marſchall Vorwärts begrüßt wird, bricht Bülows Corps aus
den Kohlgärten gegen die Oſtſeite der Stadt auf. Borſtells Brigade dringt
in den Park der Milchinſel, Friccius mit der oſtpreußiſchen Landwehr er-
ſtürmt das Grimmaiſche Thor. Noch ſtehen die Regimenter des Rhein-
bundes dicht gedrängt auf dem alten Markte, da tönen ſchon die Flügel-
hörner der pommerſchen Füſiliere die Grimmaiſche Straße herunter, da-
zwiſchen hinein der donnernde Ruf: Hoch Friedrich Wilhelm! Bald blitzen
die Bajonette, lärmen die Trommeln und gellen die Querpfeifen auch in
den andern engen Gaſſen, die nahe bei dem alten Rathhauſe münden.
Alles ſtrömt zum Marktplatze; die Sieger von der Katzbach, von Kulm
und Dennewitz feiern hier in Gegenwart der gefangenen Feinde jubelnd
ihr Wiederſehen. Neue ſtürmiſche Freudenrufe, als der Czar und der
König ſelber einreiten; ſelbſt die Rheinbündner ſtimmen mit ein; Alle
[505]Der Sturm auf Leipzig.
fühlen, wie aus Schmach und Gräueln der junge Tag des neuen Deutſch-
lands leuchtend emporſteigt. Während den König von Preußen ſein tapferes
Heer frohlockend umdrängt, ſteht nahebei — ein klägliches Bild der alten
Zeit, die nun zu Grabe geht — Friedrich Auguſt von Sachſen entblößten
Hauptes, mitten im Gewühle an der Thüre des Königshauſes. Der hat
während der Stunden des Sturmes ängſtlich im Keller geſeſſen, betrogen
von den prahleriſchen Verheißungen des Protectors noch bis zum letzten
Augenblicke auf die ſiegreiche Rückkehr des Unüberwindlichen gehofft. Nun
würdigen ihn die Sieger keines Blickes, ſein eigenes Volk beachtet ihn nicht,
vor ſeinen Augen wird ſeine rothe Garde von Friedrich Wilhelms Adju-
tanten Natzmer zur Verfolgung der Franzoſen hinweggeführt. Mit naiver
Freude wie ein Held des Alterthums ſchreibt Gneiſenau die Siegesbotſchaft
den entfernten Freunden in allen Ecken des Vaterlandes: „Wir haben die
Nationalrache in langen Zügen genoſſen. Wir ſind arm geworden, aber reich
an kriegeriſchem Ruhme und ſtolz auf die wiedererrungene Unabhängigkeit.“


Dreißigtauſend Gefangene fielen den Siegern in die Hände. Die Um-
zingelung der Stadt von den Auen her war bereits nahezu vollendet, als
die Elſterbrücke an der Frankfurter Landſtraße in die Luft geſprengt und
damit den Wenigen, die ſich vielleicht noch retten konnten, der letzte Aus-
weg verſperrt wurde. Ein ganzes Heer, an hunderttauſend Mann, lag
todt oder verwundet. Was vermochte die Kunſt der Aerzte, was die
menſchenfreundliche Aufopferung des edlen Oſtfrieſen Reil gegen ſolches
Uebermaß des Jammers? Das Medicinalweſen der Heere war überall
noch nicht weit über die Weisheit der fridericianiſchen Feldſcheerer hinaus-
gekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bürgerſchaft lag
noch der Schlummergeiſt des alten kurſächſiſchen Lebens, ſie verſtand nicht
rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang blieben die Leichen der preußiſchen
Krieger im Hofe der Bürgerſchule am Wall unbeerdigt, von Raben und
Hunden benagt; in den Concertſälen des Gewandhauſes lagen Todte,
Wunde, Kranke auf faulem Stroh beiſammen, ein verpeſtender Brodem
erfüllte den ſcheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Koth ſickerte lang-
ſam die Treppen hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen
fuhren, dann geſchah es wohl, daß ein Todter der Kürze halber aus dem
dritten Stockwerke hinabgeworfen wurde, oder die begleitenden Soldaten
bemerkten unter den ſtarren Körpern auf dem Wagen einen, der ſich noch
regte, und machten mit einem Kolbenſchlage mitleidig dem Gräuel ein Ende.
Draußen auf dem Schlachtfelde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; es
währte lange bis die entflohenen Bauern in die verwüſteten Dörfer heim-
kehrten und die Leichen in großen Maſſengräbern verſcharrten. Unter
ſolchem Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutſchen Boden Ab-
ſchied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt ſagte: „dahin wollte es faſt
mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menſchenarten gab, Menſchen-
freſſer und Gefreſſene!“ Dem Geſchlechte, das Solches geſehen, blieb für
[506]I. 4. Der Befreiungskrieg.
immer ein unauslöſchlicher Abſcheu vor dem Kriege, ein tiefes, für minder
heimgeſuchte Zeiten faſt unverſtändliches Friedensbedürfniß.


Am 24. October beſuchte König Friedrich Wilhelm ſeine Hauptſtadt.
Es drängte ihn am Grabe ſeiner Gemahlin zu beten, denn überall auf
dieſer wilden Kriegsfahrt war ihr Bild ihm zur Seite geweſen, und auch
unter den Truppen hieß es immer wieder: warum durfte die Königin das
nicht mehr erleben? Dann erſchien er im Theater; das Heil Dir im
Siegerkranz brauſte durch den Saal, diesmal mit beſſerem Rechte als
einſt da das dünkelhafte Geſchlecht der neunziger Jahre ſich zuerſt an den
prächtigen Klängen weidete. Vor ſieben Jahren am nämlichen Tage war Na-
poleon durch das Brandenburger Thor eingeritten, und welch ein Wandel
ſeitdem! Wie hatte ſich doch dieſer verſtümmelte Staat mit ſeinen fünf
Millionen Menſchen wieder aufgeſchwungen auf die Höhen der Geſchichte!
Mochten die Männer der Kriegspartei von 1811 geirrt haben in der
Wahl des Augenblicks, zu groß hatten ſie nicht gedacht von ihrem Volke.
Jetzt galt er wieder, der alte Wahlſpruch Nec soli cedit! In jenen
Tagen ſchrieb eine engliſche Zeitung: „Wer gab Deutſchland das erſte Bei-
ſpiel des Abfalls von Napoleon? Die Preußen. Wer hielt die Schlachten
von Lützen und Bautzen? Die Preußen. Wer ſiegte bei Haynau? Die
Preußen. Wer bei Großbeeren, bei Katzbach und Dennewitz? Immer
die Preußen. Wer bei Culm, Wartenburg, Möckern und Leipzig? Die
Preußen, immer die Preußen.“ Wie eine Drohung klang dies ſtolze the
Prussians, ever the Prussians!
dem Kaiſer Franz und den Fürſten des
Rheinbundes. Welcher Zukunft ging Deutſchland entgegen, wenn dieſer
Staat ſeine alte Macht zurück erlangte?


Durch die Leipziger Schlacht war das urſprüngliche Ziel des Krieges
geſichert: die Auflöſung des Rheinbundes und die Befreiung Deutſchlands
bis zum Rheine. Aber mit dem Erfolge wuchs die Hoffnung. Am Tage
nach dem Sturme trafen ſich Stein und Gneiſenau auf dem Markte zu
Leipzig und gaben einander die Hand darauf, daß dieſer Kampf nicht
anders enden dürfe als mit dem Sturze Napoleons und der Wieder-
eroberung des linken Rheinufers. Was vor wenigen Wochen noch den
Kühnen ſelber unmöglich däuchte erſchien jetzt mit einem male nah und
erreichbar. Auf Steins Geheiß ging der getreue Arndt ſofort an die
Arbeit; er ſammelte aus dem reichen Schatze ſeines Wiſſens alle die hiſto-
riſchen Erinnerungen und romantiſchen Bilder, deren er bedurfte um auf
ſein gelehrtes Volk zu wirken, und lebte ſich ein in eine Anſchauung,
welche damals noch neu, bald eine treibende Kraft des Jahrhunderts wer-
den ſollte: in den Gedanken, daß am letzten Ende die Sprache und hiſto-
riſche Eigenart der Nationen die Grenzen der Staaten beſtimme. Und ſo,
noch unter dem friſchen Eindruck „der herrlichen Schlacht“, ſchrieb er das
wirkſamſte ſeiner Bücher, die fröhliche Loſung für die Kämpfe der nächſten
Monate: der Rhein Deutſchlands Strom, nicht Deutſchlands Grenze!


[[507]]

Fünfter Abſchnitt.
Ende der Kriegszeit.


Die Schlacht von Leipzig brachte allen deutſchen Landen bis zum
Rheine die Befreiung, trotz der matten Verfolgung des geſchlagenen
Heeres. Der öſterreichiſchen Politik erſchien der errungene Sieg faſt allzu
groß, ſobald ſich ſein voller Umfang überſehen ließ. Die Vernichtung
der napoleoniſchen Macht ſtand in ſicherer Ausſicht, ſie ward abgewendet
durch die Schuld des großen Hauptquartiers. Die Armee Bennigſens
ging an die Elbe zurück, das böhmiſche Heer rückte langſam durch Franken
und Thüringen weſtwärts, die Nordarmee wendete ſich nach Hannover
und Weſtphalen. Blücher aber, der auf der Frankfurter Straße dem
Feinde dicht auf den Hacken ſaß, nur einen Tagemarſch hinter dem Haupt-
quartiere des Kaiſers, erhielt plötzlich Befehl, vom geraden Wege ab nach
der Wetterau und dem Lahnthale auszubiegen. So im Rücken unbe-
läſtigt führte Napoleon ſeine Truppen durch die ſchwierigen Engpäſſe des
Rhöngebirges. Tauſende waren ausgetreten und trieben als Fricoteurs
ihr Unweſen, Mancher auch ward von den ergrimmten Bauern erſchlagen.
Der Kern des Heeres hielt noch zuſammen, erreichte glücklich die Main-
ebene bei Hanau und ſchlug dort, aus dem Lamboy-Walde vorbrechend,
die bairiſch-öſterreichiſche Armee des Generals Wrede, die den Flüchtigen
den Weg zu verlegen ſuchte (30. 31. October). Der bairiſche Heerführer,
der roheſte Prahler unter den Landsknechten des Rheinbundes, dachte durch
einen glänzenden Sieg ſeinem Staate die Gunſt der verbündeten Mächte
zu ſichern, jedoch er hatte koſtbare Tage vor den Wällen von Würzburg
verſäumt und gelangte nicht rechtzeitig in die vortheilhafte Stellung an
den Kinzigpäſſen, wo ſich den Franzoſen die Rückzugsſtraße leicht verſperren
ließ. Alſo ward dem Imperator die Genugthuung, daß er ſeine deutſchen
Heerfahrten mit der Demüthigung eines abtrünnigen Vaſallen beſchließen
konnte. An 70,000 Mann gelangten noch auf das linke Rheinufer.
Hier aber brach die letzte Kraft der Unglücklichen zuſammen; furchtbare
Krankheiten lichteten ihre Reihen, und während einiger Wochen war Frank-
reich ohne Heer, widerſtandslos gegen jeden Angriff. Die 190,000 Mann,
[508]I. 5. Ende der Kriegszeit.
die noch zerſtreut in den Feſtungen Norddeutſchlands und Polens ſtanden,
gab Napoleon ſelbſt verloren; er erbot ſich zur Räumung der Oder- und
Weichſellinie, wenn nur die Garniſonen freien Abzug erhielten, aber die
Verbündeten durchſchauten die Kriegsliſt und weigerten ſich dem Ver-
zweifelnden ein neues Heer zu ſchenken.


Dem Corps Bülows wurde die Freude, die verlorenen weſtlichen
Provinzen wieder in Beſitz zu nehmen. Sobald die Kunde von der Leip-
ziger Schlacht kam, holte der weſtphäliſche Steuerdirector von Motz ſofort
ſeine alte Uniform hervor und trat in Mühlhauſen als königlich preußi-
ſcher Landrath auf; das Volk gehorchte als verſtünde ſichs von ſelber.
Ueberall wurden die Befreier mit offenen Armen aufgenommen, nirgends
mit lauterem Jubel als in Oſtfriesland, dem Lieblingslande des großen
Königs. Die alten Fahnen und Embleme der fridericianiſchen Zeit, wohl
geborgen in dem ſchönen Waffenſaale des Rathhauſes zu Emden, kamen
als bald wieder zum Vorſchein, als die Blücher’ſchen Huſaren einzogen und
nach ihnen Friccius mit der oſtpreußiſchen Landwehr. Wie viel Zorn und
Kummer hatte der treue Vincke die letzten Jahre über hinuntergewürgt,
während er ſtill auf ſeinem Gute in der Grafſchaft Mark ſaß. Die
Franzoſen witterten wohl, daß ſeine ökonomiſche Leſegeſellſchaft in Hamm
ſich nicht blos mit der Landwirthſchaft beſchäftigen mochte; eine Zeit lang
verwieſen ſie ihn auf das linke Rheinufer, denn der Freund und Nachfolger
Steins dürfe nicht dieſſeits des Rheins bleiben, ſo lange die Ruſſen
dieſſeits der Oder ſtänden. Endlich wieder frei gelaſſen erwartete er ſtünd-
lich eine neue Verhaftung. Da kam ein Eilbote von den rothen Huſaren
aus Hamm; ſpornſtreichs eilte Vincke hinüber, befahl ſogleich in einem
Rundſchreiben allen Bürgermeiſtern bis zum Rheine ſich dem rechtmäßigen
alten Herrn wieder zu unterwerfen, übernahm die Leitung der Verwaltung
in allen altpreußiſchen Gebieten Weſtphalens und dehnte ſeine Gewalt
ohne Weiteres auch über einige Enclaven, Dortmund, Limburg, Corvey
aus. Ein Rauſch der Freude ging durch das befreite Land; man er-
kannte die ſtillen, ernſthaften Menſchen der rothen Erde kaum wieder.


Dieſelben herzerſchütternden Auftritte opferfreudiger Erhebung, welche
das Frühjahr in den öſtlichen Provinzen geſehen, wiederholten ſich jetzt
im Weſten. Zwei der angeſehenſten Grundherren erließen einen Aufruf,
natürlich mit dem preußiſchen Adler darüber, begrüßten die Befreier mit
überſchwänglichen Worten — „wer, biedere Landsleute, ward nicht von
einem heiligen Wonneſchauer durchdrungen, wie er die erſten Preußen
als ſeine Erretter in unſerer Mitte ſah?“ — und forderten die Markaner
auf, nach dem Vorbilde dieſer „wahren Hermansſöhne“ Freiwillige zu
ſtellen und eine Landwehr zu bilden. Auch in Cleve überall derſelbe
jubelnde Empfang. Es war ein großes häusliches Feſt, ein fröhliches
Wiederſehen lange getrennter Brüder, eine handgreifliche Widerlegung der
in den Kleinſtaaten landläufigen Anſicht, daß dieſes Preußen ein künſt-
[509]Befreiung von Weſtphalen und Oſtfriesland.
licher Staat ſei. Nur unter dem Adel des Münſterlandes zeigte ſich
wieder der alte pfäffiſche Haß gegen die preußiſchen Ketzer. Die Jugend
eilte frohlockend zu den Fahnen; am Eifrigſten in den altpreußiſchen
Gebieten — wie ja noch bis zum heutigen Tage jene Striche Deutſch-
lands, die durch die harte Schule König Friedrich Wilhelms I. gegangen
ſind, die größte Bereitwilligkeit zum Waffendienſte zeigen. In den meiſten
Kreiſen von Cleve und der Grafſchaft Mark war eine förmliche Aus-
hebung nicht nöthig, da die Zahl der Freiwilligen den Bedarf über-
reichlich deckte. Selbſt die Oſtfrieſen, denen König Friedrich die Befreiung
von der Cantonspflicht geſchenkt hatte, überwanden den Widerwillen des
Seemanns gegen den Landdienſt und ſtellten ſich zahlreich. Ein Theil
der alſo in höchſter Eile gebildeten Truppen konnte in der That noch
rechtzeitig zur Einſchließung der franzöſiſchen Feſtungen abgehen. Den
bibelfeſten Markanern predigten die Pfarrer von dem eifrigen Herrn
Zebaoth, der ſein Volk aufruft zum heiligen Kampfe; nach dem Kriege
ward auf den grauen Felſen über der Grüne ein Gedächtnißkreuz errichtet
mit der Inſchrift: Und im Namen unſeres Gottes warfen wir Panier auf!
Selbſt der Landſturm kam mehrmals, öfter als im Oſten, zur Verwen-
dung. Die oſtfrieſiſchen Landſtürmer nahmen theil an der Belagerung
von Delfzyl, die cleviſchen lagen wochenlang vor Weſel; in dem alt-
berühmten cleviſchen Dorfe Brünen, das ſchon im ſiebenjährigen Kriege
ſeine Treue erprobt hatte, trugen nach dem Frieden alle Männer die
Kriegsdenkmünze.


Merkwürdig aber, wie ſtreng conſervativ dies Volk ſich zeigte ſobald
es wieder ſich ſelber angehörte: man wollte zurück zu der guten alten
Zeit, zu allen ihren Segnungen, auch zu ihrem Ständeweſen. Ständiſche
Ausſchüſſe beſorgten hier wie im Oſten die Aushebung der Landwehr
unter der Oberleitung eines königlichen und eines ſtändiſchen Commiſſars.
Was Wunder, daß ſich die alten Landſtände ſofort wieder als die recht-
mäßigen Vertreter des Landes fühlten. Alsbald nach der Befreiung be-
rief der Landesdirector von Romberg den Landtag der Grafſchaft Mark
ein: „die wohlthätige ſtändiſche Verfaſſung tritt wieder in Wirkung*).“
Dann wurde der Führer der altſtändiſchen Partei, Freiherr von Bodel-
ſchwingh-Plettenberg, zum Könige nach Frankfurt geſchickt, um die Freude
der Grafſchaft über die Wiedervereinigung auszuſprechen, aber auch die
Bitte, daß keine Veränderung der alten Landesverfaſſung erfolge, es ſei
denn nach Anhörung des Landtags. In gleichem Sinne ſchrieb der Vor-
ſitzende von Ritterſchaft und Ständen Oſtfrieslands, Freiherr zu Inn-
und Knyphauſen zum nächſten Geburtstage des Königs, betheuerte mit
warmen Worten, wie ſehr das Land ſich freue „ſeinen alten herrlichen
[510]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Feſttag“ wieder feiern zu dürfen, wie tief man beklage, daß nur ein
Theil des Landſturms, nicht die Landwehr ins Feuer gekommen; zugleich
baten die Stände um gänzliche Aufhebung der franzöſiſchen Einrichtungen
und Herſtellung der alten Verfaſſung*). Hardenberg erwiderte behut-
ſam: der König werde gern das Glück einer ihrem rechtmäßigen Landes-
herrn und ihrer Verfaſſung ſo ergebenen Provinz dauerhaft begründen.
Ein feſtes Verſprechen gab er nicht, denn was ſollte aus den Reform-
plänen der jüngſten Jahre werden, wenn man alle dieſe von der Fremd-
herrſchaft längſt aufgehobenen kleinen Landtage wieder anerkannte? So
begann bereits im Augenblicke der Befreiung jene altſtändiſche Bewegung,
welche nachher, verbündet mit den verwandten Beſtrebungen des branden-
burgiſchen Adels, der Staatseinheit der wiederhergeſtellten Monarchie be-
drohlich werden ſollte.


Unter den nichtpreußiſchen Gebieten zeigte das Herzogthum Berg den
freudigſten patriotiſchen Eifer. Das Land ſtand von Altersher in freund-
lichem Verkehre mit den preußiſchen Nachbarn in der Grafſchaft Mark,
ſeine Proteſtanten hatten ſchon in der fridericianiſchen Zeit immer zur
preußiſchen Partei gehalten; jetzt war Alles erbittert gegen die napoleoni-
ſchen Präfecten, die ſchon zu Anfang des Jahres einen Aufſtandsverſuch
mit blutiger Strenge niedergeworfen hatten. Das ganze Land fiel der
deutſchen Sache zu, als der Generalgouverneur Juſtus Gruner einzog
und nach ſeiner leidenſchaftlichen Weiſe mit ſchwungvollen, enthuſiaſtiſchen
Worten das Volk zur Rüſtung aufforderte. Faſt ſo ſchnell wie in den
altpreußiſchen Gebieten verſammelte ſich die junge Mannſchaft. Der Land-
ſturm verſuchte ſogar am 3. Januar bei Müllheim und am Fuße des
Siebengebirges den Uebergang über den Rhein zu erzwingen, und lange
noch blieben die Namen der beiden Führer des verunglückten Unternehmens,
Boltenſtern und Genger, dem bergiſchen Volke im Gedächtniß. Es war
das erſte Wiedererwachen eines ernſten politiſchen Wollens in dieſen er-
matteten rheiniſchen Landen. Das erbitterte Volk wollte alle Inſtitutionen
der Fremdherrſchaft ſogleich beſeitigt ſehen. Fort mit dem wälſchen Rechte!
hieß es überall; am Jahrestage der Leipziger Schlacht wurde in Düſſel-
dorf die Guillotine als das Symbol der fremden Tyrannei feierlich ver-
brannt. Gruner aber begnügte ſich das Heerweſen neuzugeſtalten und —
bezeichnend genug für den idealiſtiſchen Zug der Zeit — das franzöſiſche
Weſen aus den Schulen auszutreiben: das altehrwürdige Düſſeldorfer
Gymnasium illustre wurde ſofort wieder auf deutſchen Fuß eingerichtet.
Auch die härteſten der napoleoniſchen Steuern, die berüchtigten droits
réunis
und die den rauchluſtigen Deutſchen beſonders verhaßte Tabaks-
regie fielen dahin. Sonſt blieb die Organiſation der Verwaltung und
der Gerichte vorläufig unverändert, nur daß den Kreisdirectoren, wie jetzt
[511]Das linke Rheinufer.
die Unterpräfecten hießen, nach deutſcher Weiſe größere Selbſtändigkeit ge-
währt wurde*). Im Ganzen war das Volk zufrieden und ertrug willig
die ſchweren Laſten dieſes proviſoriſchen Regimentes, das in anderthalb
Jahren dem ausgeſogenen Lande noch 6½ Mill. Franken an Kriegs-
ſteuern und Zwangsanlehen abfordern mußte.


Wie anders die Stimmungen und Zuſtände am linken Ufer. Als
die Verbündeten im December das Elſaß betraten, begegnete ihnen überall
ein finſterer fanatiſcher Haß; das tapfere Volk war völlig berauſcht von
dem Kriegsruhme der napoleoniſchen Adler, der Bauer glaubte jetzt noch
weit feſter als in den neunziger Jahren, daß der Sieg der Coalition ihm
den Jammer der Zehnten und der Herrendienſte wiederbringen werde.
Weiter abwärts am Rheine zeigte ſich zwar ſolche offene Feindſeligkeit
nur ſelten; jedoch nach zwei Jahrzehnten der Fremdherrſchaft baute alle
Welt auf Frankreichs Unüberwindlichkeit. Wenige hielten den Untergang
des napoleoniſchen Reiches ſchon für entſchieden, Niemand wünſchte die
alten Zuſtände zurück. Die unter dem Schutze des Continentalſyſtems
emporgekommene Induſtrie fürchtete den reichen franzöſiſchen Markt zu
verlieren; die Frauen der höheren Stände, die ja ſelbſt im Innern
Deutſchlands ſich nur zu oft ſchwach gezeigt hatten gegen die wälſche
Liebenswürdigkeit, verhehlten hier ſelten ihre Vorliebe für die leichte An-
muth der franzöſiſchen Sitten. Die Maſſen des Volkes waren des fremden
Weſens müde; man bereitete da und dort den deutſchen Truppen feſt-
lichen Empfang, ließ ſich die Aufhebung der verwünſchten droits réunis
und den wieder eröffneten Verkehr mit den überrheiniſchen Landsleuten
wohl gefallen, half auch wohl ſelber beim Niederreißen der verhaßten
Zollhäuſer.


In jenen Kreiſen der gebildeten Jugend, die von dem Hauche der
neuen chriſtlich-germaniſchen Romantik berührt waren, herrſchte fröh-
liche Begeiſterung; freudeſtrahlend zog der junge Ferdinand Walter mit
den Doniſchen Koſaken ins Feld, auch einzelne ältere Männer ſchloſſen
ſich freiwillig den preußiſchen Bataillonen an. Doch von einer allgemeinen
Volkserhebung war nicht die Rede. Die Sieger ſelbſt wagten kaum, dieſe
grunddeutſchen Menſchen ſchlechtweg als Deutſche zu behandeln. Der
Courrier d’Aix la Chapelle ſchrieb noch faſt ein Jahr lang franzöſiſch,
das Journal du Bas Rhin et du Rhin Moyen brachte ſeine amtlichen
Bekanntmachungen in beiden Sprachen. Der neue Generalgouverneur,
Oberpräſident Sack, ſelber ein geborener Rheinländer, verſtand mit den
Leuten umzugehen; war er doch wie ſie ein abgeſagter Feind aller ſtän-
diſchen Vorrechte und dem brandenburgiſchen Adel ſeit Jahren verdächtig.
So weit es anging ſuchte er das Volk ſelber zu den Verwaltungsgeſchäften
[512]I. 5. Ende der Kriegszeit.
heranzuziehen. Mehrmals wurden die alten Generalräthe — Landes-
deputirte hießen ſie jetzt — nach Aachen berufen um über die Vertheilung
der Kriegsſteuern und Lieferungen zu berathſchlagen; in jedem Canton
ward ein unbeſoldeter Commiſſär aus der Mitte der Eingeſeſſenen er-
nannt, der die Wünſche und Beſchwerden des Bezirks dem Gouvernement
vortragen ſollte*). Aber die Maſſe der neuen Beamten, die in die Stellen
der entflohenen Franzoſen einrückten, der unvermeidliche Druck der Kriegs-
ſteuern und die Unſicherheit der proviſoriſchen Zuſtände erweckten bald
Unwillen in dem leicht erregbaren Volke. Nicht lange, und der Ruf:
„da möchte man doch gleich proviſoriſch werden“ war eine beliebte rhein-
ländiſche Verwünſchung. Jetzt ſchon ließ ſich erkennen, wie viel ſchwere
Arbeit dereinſt noch nöthig ſein würde um dieſe halbverwälſchten Krumm-
ſtabslande wieder einzufügen in das neue deutſche Leben. Nur die alt-
preußiſchen Unterthanen im linksrheiniſchen Cleve, in Mörs und Geldern
ſchloſſen ſich mit ungemiſchter Freude der vaterländiſchen Sache an und
begannen bereits auf Bülows Aufforderung ihre Landwehr zu bilden. Da
fuhr plötzlich der Oberbefehlshaber Bernadotte, der noch immer auf
Frankreichs Krone hoffte, mit einem Verbote dazwiſchen und erklärte:
franzöſiſche Unterthanen dürften nicht gegen Frankreich fechten!


Wunderbarer Kreislauf der Geſchicke! Von dieſen ſchönen rheiniſchen
Landen war vor einem Jahrtauſend unſere Geſchichte ausgegangen; jetzt
fluthete der mächtige Strom des deutſchen Lebens aus den jungen Colo-
niſtenlanden des Nordoſtens wieder nach Weſten zurück in ſein verſchüt-
tetes altes Bette. Keiner unter den Söhnen des Rheinlandes grüßte den
neuen Morgen, der über der Weſtmark aufging, mit ſo ſchwärmeriſchem
Entzücken wie Joſeph Görres. Der Heißſporn trat jetzt in die glücklichſte
und fruchtbarſte Zeit ſeines wechſelreichen Lebens; er kehrte von ſeinen
wunderlichen wiſſenſchaftlichen Irrfahrten zurück zu der publiciſtiſchen
Thätigkeit ſeiner Jugend und begann in dem Rheiniſchen Mercur den
Federkrieg für das neue Deutſchthum — noch ganz ſo ſtürmiſch, un-
bändig, gewaltſam wie vor Jahren als er die Heilswahrheiten der Re-
volution verkündete, ein Redner großen Stiles, ſprachgewaltig, unerſchöpf-
lich in prächtigen, grandioſen Bildern, ein ehrlicher, freimüthiger Eiferer,
ein Wecker der Gewiſſen, und bei Alledem doch ein unpolitiſcher Kopf,
ohne eindringende Sachkenntniß, ohne Verſtändniß für die Machtverhält-
niſſe der Staatenwelt. Der Rheiniſche Mercur war nicht, wie er ſich
ſelber nannte, eine Stimme der Völker dieſſeits des Rheines, die nun-
mehr eine Vormauer für das Vaterland werden ſollten. Am Rheine
fand die überſchwängliche Sprache der patriotiſchen Leidenſchaft nur in
vereinzelten Kreiſen Anklang. Um ſo lauter war der Widerhall in Nord-
[513]Der Rheiniſche Mercur.
deutſchland. Das entlegene Coblenz wurde zwei Jahre lang die Hochburg
der deutſchen Preſſe: ſo nach Zufällen und Perſönlichkeiten wechſelte der
Mittelpunkt des politiſchen Lebens in dieſem Volke ohne Hauptſtadt. Die
erzürnten Franzoſen nannten Görres die fünfte unter den verbündeten
Großmächten, die Diplomaten der Hofburg zitterten vor ihm. Der Rhei-
niſche Mercur ward bald noch mehr geleſen als vordem Schlözers Staats-
anzeigen und gewann unter den gebildeten Klaſſen ein Anſehen wie ſeit-
dem kein anderes deutſches Blatt; bei ausgebildetem Parteileben iſt eine
ſolche Machtſtellung einer einzelnen Zeitſchrift unmöglich. Der Mercur
diente den Patrioten aller Farben zum parlamentariſchen Sprechſaale;
Jeder war willkommen, wenn er nur nicht franzöſiſch dachte, auch Stein
und Gneiſenau verſchmähten nicht Beiträge zu ſenden.


Eine beſtimmte politiſche Richtung gab ſich nur in der Polemik des
Blattes kund; Görres wußte in Wahrheit nur was er nicht wollte. Wenn
er die geheimen verrätheriſchen Umtriebe der rheinbündiſchen Fürſten geißelte
oder ſeine Donnerkeile ſchleuderte gegen die Lohnſchreiber Montgelas’ und
die ſeichte Aufklärung von Zſchokkes Aarauer Zeitung, dann war der alte
Kämpe in ſeinem Elemente. Schonungslos, mit packender Wahrheit ſchilderte
er die Sünden, die den Fall des alten Reiches herbeigeführt, und ließ
den geſtürzten Napoleon ſagen: „ein Volk ohne Vaterland, eine Ver-
faſſung ohne Einheit, Fürſten ohne Charakter und Geſinnung, ein Adel
ohne Stolz und Kraft, das Alles mußte leichte Beute mir verſprechen!“
Seine Pläne für Deutſchlands Zukunft aber waren um nichts klarer als
die hochtönenden Worte des Kaliſcher Aufrufs. Der Romantiker ſchwärmte
für die Wiederherſtellung der Karolingerkrone und ſuchte ſeine Kaiſer-
träume wohl oder über zu verſchmelzen mit den dualiſtiſchen Plänen, die
ihm aus der preußiſchen Staatskanzlei mitgetheilt wurden; doch ſelbſt
dieſen verſchrobenen Gedanken einer zweifachen Hegemonie unter habs-
burgiſcher Oberhoheit vermochte er nicht feſtzuhalten, ſondern legte in
ſeinem Blatte, zur Auswahl gleichſam, eine bunte Reihe grundverſchiede-
ner Verfaſſungspläne vor, wie ſie ihm gerade von warmherzigen Patrio-
ten eingeſendet wurden. Bei einigem guten Willen der Regierungen —
das ſchien Allen zweifellos — war die Neuordnung des befreiten Vater-
landes ein Kinderſpiel; wer die Wiederkehr der alten Machtkämpfe zwiſchen
Oeſterreich und Preußen auch nur für möglich gehalten hätte, wäre als
ein Läſterer verrufen worden. Die Dankbaren nahmen jeden Vorſchlag
für den Staatsbau der deutſchen Zukunft freundlich auf, wenn der Ver-
faſſer nur recht kräftig von deutſchem Weſen, von der Eintracht der beiden
Großmächte, von Einheit und von Freiheit ſprach und das ſtolze Selbſt-
gefühl zur Schau trug, das die Nation von ihren Tribunen verlangte.


Die hier redeten fühlten ſich als die Vertreter des Volks, und dies
Volk glaubte mitten in ſeinen verſchwommenen Träumen ſeines Zieles ſicher
und der Weisheit der Cabinette weit überlegen zu ſein. „Etwas Ganzes
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 33
[514]I. 5. Ende der Kriegszeit.
und Rechtes ſoll da werden, rief Görres den Diplomaten zu, und man
ſoll dabei die Stimme des Volkes hören, die vernehmlich und deutlich
aller Orten ſpricht!“ Gleichwohl war der Rheiniſche Mercur das Beſte
was eine Zeitſchrift ſein kann, ein treues Spiegelbild der Gegenwart,
ehrlich, geiſtvoll, jugendlich begeiſtert wie dies ganze Geſchlecht, noch ganz
unberührt von jenen unlauteren Nebenzwecken, welche die Preſſe in Zeiten
entwickelten Verkehres zu verfolgen pflegt. Die clericalen Neigungen des
phantaſtiſchen Herausgebers traten noch nicht verletzend hervor. Seine
Verehrung für das kaiſerliche Erzhaus hinderte ihn nicht das Lob der
preußiſchen Helden mit brauſendem Jubel zu ſingen; und wenn er die
Deutſchen aufforderte den Kölner Dom als ein Ehrendenkmal für das
wiedererſtandene Vaterland auszubauen, wenn er den Papſt Pius VII.,
den ſtandhaften Märtyrer der napoleoniſchen Tyrannei, für den erſten
Helden dieſes Weltbefreiungskampfes erklärte, ſo nahm die romantiſch er-
regte Zeit daran keinen Anſtoß. Eine verwandte Richtung verfolgten die
Teutſchen Blätter in Freiburg, eine vielgeleſene Zeitſchrift, welche die
Kriegsberichte des großen Hauptquartiers aus erſter Hand brachte.


Ebenſo freudig wie die Bewohner der altpreußiſchen Provinzen
empfingen die Hannoveraner, die Braunſchweiger, die Kurheſſen ihre
wiederkehrende alte Herrſchaft. Vor den Thoren von Braunſchweig prangte
ein feſtlich geſchmückter Tempel auf der Stelle, wo „Braunſchweigs Welfe“
Friedrich Wilhelm vier Jahre zuvor mit ſeiner ſchwarzen Schaar gelagert
hatte. Die Hannoveraner fühlten ſich wieder ſtolz als Großbritannier
und begeiſterten ſich für den geiſteskranken engliſchen König, der während
einer halbhundertjährigen Regierung ihr Land niemals eines Beſuches
gewürdigt hatte. In Caſſel zog der böſe Kurfürſt Wilhelm wieder ein,
nachdem König Jerome zum zweiten male geflohen war; die Bürger
ſpannten ihm die Pferde vom Wagen ab und fuhren den Landesvater
mit dem dicken Kropfe und dem langen Zopfe jauchzend vor das Schloß
ſeiner Ahnen. Ueber ſeine Fürſtentugenden täuſchte ſich freilich das ge-
treue Völkchen ſelber nicht; doch er war der angeſtammte Herr, und was
fragt die Liebe nach Gründen? Treffender als die unterthänigen Federn
der amtlichen Blätter drückte ein alter Bauer von der Schwelm die Fami-
liengefühle dieſer verkommenen kleinſtaatlichen Welt aus in den unwider-
leglichen Worten: „und ob er ſchon ein alter Eſel iſt, wir wollen ihn doch
wieder haben!“ Das große, mit dem Blute der verkauften heſſiſchen Solda-
ten erworbene Vermögen des kurfürſtlichen Hauſes war während der Jahre
des Exils in Frankfurt bei Amſchel Rothſchild verwahrt worden, der mit
dieſen Geldern die Weltmacht ſeiner Firma begründete, und der geizige Fürſt
hatte nicht das Mindeſte von ſeinen Schätzen aufgeopfert für die Befrei-
ung Deutſchlands. Trotzdem nahmen ihn die Verbündeten als einen
wiedergefundenen Freund auf; die Gutmüthigkeit König Friedrich Wilhelms
wollte dem treuloſen Nachbarn das zweideutige Spiel von 1806 nicht
[515]Reſtauration in den norddeutſchen Kleinſtaaten.
nachtragen, die Hofburg begünſtigte grundſätzlich die dynaſtiſchen In-
tereſſen.


Alsbald nach der Wiedereinſetzung begann in Heſſen das unſinnige
Regiment „der Siebenſchläfer“: die jüngſten ſieben Jahre mit Allem was
„mein Verwalter Jerome“ geſchaffen ſollten ſpurlos verſchwinden. Auch
über die welfiſchen Lande brach eine gehäſſige Reſtauration herein, die
alle Schöpfungen der Fremdherrſchaft unbeſehen hinwegfegte, während
Preußen in ſeinen wiedergewonnenen Provinzen mit verſtändiger Scho-
nung verfuhr. Den militäriſchen Anforderungen der Coalition kamen
die wiederhergeſtellten Kleinfürſten des Nordweſtens mit der höchſten Saum-
ſeligkeit nach. Aus Oldenburg und Hannover rückten gar keine Truppen
ins Feld; die Göttinger Studenten, die ſich als Freiwillige ſtellten, wurden
von der welfiſchen Adelsregierung barſch abgewieſen. Der heſſiſche Land-
verderber begann zwar ſogleich wieder ſeine altgewohnte Soldatenſpielerei
und beglückte die Heſſen durch den Kriegsorden vom eiſernen Helm, da
ja die Preußen ihr eiſernes Kreuz hatten; jedoch die Ausrüſtung der Land-
wehr ging ſehr langſam von ſtatten, unter fortwährendem gehäſſigem
Zanke mit der Centralverwaltung, alſo daß Stein zornig rief: geben Sie
mir Kanonen, mit Vernunftgründen iſt bei dem nichts anzufangen! Der
heſſiſche Landſturm ward erſt im April 1814 einberufen, als Paris bereits
erobert war.


Warmen Eifer für die deutſche Sache zeigten unter allen Fürſten
des Nordweſtens nur die kleinen mediatiſirten Herren — weil ſie hofften
ſich durch ihren Kriegsmuth ihre Kronen zurückzugewinnen. Im Schloſſe
zu Anholt ſtickten die zarten Hände der Prinzeſſinnen bereits an der
Fahne, welche der Kriegsmacht der Sayn-ſayniſchen Nation zu Kampf
und Sieg voranleuchten ſollte; da drohte General Bülow, er werde alle
weſtphäliſchen Kleinfürſten verhaften wenn ſie ſich unterſtünden wieder
als regierende Herren aufzutreten. Glücklicher als dieſe Mediatiſirten
waren die Hanſeſtädte. Schon am 5. November verſammelte ſich eigen-
mächtig der alte Bremiſche Senat, dann wurde die Wiederherſtellung der
alten Republik feierlich ausgerufen und der kluge Smidt in das Haupt-
quartier nach Frankfurt geſendet. Der gewandte Diplomat bewog ſofort
die Hamburger und Lübecker ebenfalls Abgeordnete an die Monarchen zu
ſenden und verſtand die öſterreichiſchen Staatsmänner ſo geſchickt zu be-
handeln, daß ſie ihr Mißtrauen gegen alles republikaniſche Weſen über-
wanden. Preußen hatte ſchon bei den Friedensverhandlungen in Prag
die Unabhängigkeit der Hanſeſtädte gefordert, und wie konnte man Ham-
burg als eine feindliche Stadt behandeln, da die Hamburgiſche Bürger-
garde, geführt von dem tapferen Mettlerkamp, ſchon ſeit Monaten in
den Reihen der Nordarmee kämpfte? Die drei Städte erhielten die Zuſage
der Wiederherſtellung, und durch Steins Schuld wurde noch eine vierte
Republik in das neue monarchiſche Deutſchland eingeführt, die alte Krö-
33*
[516]I. 5. Ende der Kriegszeit.
nungsſtadt Frankfurt. So verſchroben und hoffnungslos lagen bereits
die deutſchen Dinge, daß der tapfere Vorkämpfer der nationalen Einheit
ſich mit Eifer und Erfolg für die Wiederaufrichtung eines lebensunfähigen
Stadtſtaates verwendete. Der Reichsritter hegte von jeher eine Vorliebe
für das reichsſtädtiſche Leben und wollte um jeden Preis die ſchöne Main-
ſtadt erretten vor den benachbarten Rheinbundsfürſten, die ſchon alleſammt
ihre gierigen Hände nach der reichen Beute ausſtreckten. —


Dieſe Rheinbündner drängten ſich jetzt nach der Entſcheidung ge-
ſchäftig an die Verbündeten heran. Wieder wie einſt in Raſtatt, Paris,
Poſen bettelte Deutſchlands hoher Adel um die Gnade der Sieger und
diesmal brauchte er kein Gold zur Handſalbe zu geben. Als Kaiſer Franz
in Frankfurt einzog, begrüßte ihn das jauchzende Volk als den Herrſcher
Deutſchlands; der Name „unſer Kaiſer“ übte wieder ſeinen mächtigen
Zauber auf die deutſchen Herzen. Er aber wollte von „dieſem unbedeu-
tenden Titel“ nichts hören: „auf ſolche Weiſe — geſtand Metternich einem
franzöſiſchen Unterhändler — gehört uns Deutſchland noch mehr als früher.“
Die Beherrſchung des deutſchen Bundes durch eine dem Hauſe Oeſter-
reich ergebene Fürſtenmehrheit war das nächſte Ziel der deutſchen Politik
der Hofburg. Darum blieb Metternich unerbittlich gegen die Mediatiſir-
ten; er erkannte richtig, daß die Freundſchaft dieſer alten Parteigenoſſen
Oeſterreichs wenig mehr bedeutete ſeit die geiſtlichen Fürſtenthümer ver-
ſchwunden waren, und wendete ſein Wohlwollen ihren glücklichen Erben,
den rheinbündiſchen Fürſten zu. Ebenſo dachten alle fremden Höfe, denn
ſie alle wünſchten Deutſchlands Schwäche und waren zudem mit den
Kleinkönigen verſchwiegert und vervettert. Ueber dieſe durchlauchtigen
Familienverbindungen, die bis zum heutigen Tage die ſtärkſte Stütze der
deutſchen Kleinſtaaterei bilden, ſprach ſich der Czar in Frankfurt offenherzig
aus, als er einmal in einem unbewachten Augenblicke zu Stein ſagte:
„woher ſollte ich Gemahlinnen für meine Großfürſten bekommen, wenn
alle dieſe kleinen Fürſten entthront würden?“ Zornig fuhr der Freiherr
heraus: „das habe ich freilich nicht gewußt, daß Ew. Majeſtät Deutſch-
land als eine ruſſiſche Stuterei betrachten.“ Gleich ihm erwarteten alle
preußiſchen Generale eine kräftige Abſtrafung des Rheinbundsgeſindels,
wie Blücher ſich ausdrückte. York ließ nach dem Einmarſch in Wiesbaden
ſogleich die naſſauiſchen Wachpoſten abziehen und gab einem Kammerherrn,
der ihn fragte, ob er denn Seine Hoheit entthronen wolle — die barſche
Antwort: „noch habe ich keinen Befehl dazu.“


Im Frankfurter Hauptquartiere aber trug man die reumüthigen
Rheinbundsfürſten auf den Händen und feierte den Baiern Wrede, von
wegen der Hanauer Niederlage, wie einen ruhmgekrönten Feldherrn.
Unter den größeren Fürſten des Rheinbundes wurde, außer den beiden
Napoleoniden, allein der Fürſtprimas Dalberg entthront, keineswegs wegen
ſeines unwürdigen Verhaltens, ſondern weil er nicht fürſtlichen Blutes
[517]Verträge mit den ſüddeutſchen Höfen.
und Eugen Beauharnais zu ſeinem Nachfolger beſtimmt war. Mit ihm
fiel ſein Vetter, der Fürſt von der Leyen; auch den Fürſten von Iſen-
burg mußte Oeſterreich dem Zorne König Friedrich Wilhelms opfern, da
er aus preußiſchen Deſerteuren und Vagabunden ein franzöſiſches Regi-
ment gebildet hatte. Jene kleinen weſtphäliſchen Rheinbundsfürſten, welche
Napoleon erſt vor drei Jahren entthront hatte, erlangten ihre Kronen
nicht wieder, da Niemand ſich ihrer annahm. Man hielt ſich an das
bequeme beati possidentes, nahm Alle zu Gnaden auf, die im Augen-
blicke noch regierten. Zufall, Gunſt und Laune hatten zwei Dutzend von
den zahlloſen Staatsgewalten des heiligen Reichs durch die Stürme des
napoleoniſchen Zeitalters hindurch gerettet; dieſelbe Willkür entſchied jetzt
über ihren Fortbeſtand. Die Fürſtenberg und Hohenlohe blieben media-
tiſirt, die Reuß und Bückeburg behielten ihre Throne; den Verräthern
am Vaterlande aber ward die im Dienſte des Landesfeindes erworbene
ſchimpfliche Beute erhalten.


Schon auf dem Marſche nach Frankfurt hatte Metternich mit Würt-
temberg abgeſchloſſen. Der Vertrag von Fulda vom 2. November war
dem Rieder ähnlich, nur wurde, aus Rückſicht auf Preußen, ein Vorbe-
halt zu Gunſten des künftigen deutſchen Bundes eingeſchaltet. König
Friedrich trat in die Coalition ein und behielt ſeine Souveränität ſowie
ſeine Beſitzungen „unter der Garantie der politiſchen Beziehungen, welche
ſich ergeben werden aus den Anordnungen, die beim künftigen Frieden
zur Herſtellung und Sicherung der Unabhängigkeit und Freiheit Deutſch-
lands getroffen werden ſollen.“ Das einzig Klare in dieſen nichtsſagen-
den, gewundenen Sätzen war die Zuſage der Souveränität und des Be-
ſitzſtandes. Auf Steins Andringen wurde ſodann für die Acceſſionsver-
träge der übrigen Mittelſtaaten eine etwas beſtimmtere Clauſel, die freilich
noch immer unklar genug blieb, verabredet. Baden, Darmſtadt, Naſſau,
Kurheſſen mußten verſprechen ſich den Pflichten zu fügen, welche die für
die Unabhängigkeit Deutſchlands nothwendige Ordnung erfordern würde,
ſowie die für den obigen Zweck nothwendigen Gebietsabtretungen gegen
volle Entſchädigung zu ertragen. Doch was wog dies Verſprechen, da auch
ihnen Beſitzſtand und Souveränität verbürgt wurde? Hardenbergs duali-
ſtiſche Hoffnungen verloren damit jeden Boden, desgleichen ſein Plan das
befreundete Oeſterreich am Oberrheine anzuſiedeln; zugleich ward das
deutſche Gebiet, das für Preußens Entſchädigung verfügbar blieb, mit jedem
neuen Acceſſionsvertrage kleiner. Der Staatskanzler war voll Unmuths,
aber nachdem er einmal der Hofburg den Vortritt bei den ſüddeutſchen
Verträgen eingeräumt hatte konnte er dem Unheil nicht mehr wehren.
Und trotz ſo vieler bitterer Erfahrungen kam der Vertrauensvolle über
die Abſichten des Wiener Hofes noch immer nicht ins Klare. Er beklagte
lebhaft die „fehlerhafte, ganz thörichte, übereilte Art“ jener Verhandlungen*)
[518]I. 5. Ende der Kriegszeit.
und erkannte nicht, daß Metternich keineswegs aus leichtſinniger Gut-
müthigkeit fehlte, ſondern vielmehr geſchickt und folgerecht das bereits in
Teplitz ausgeſprochene Ziel der Selbſtändigkeit aller deutſchen Fürſten
verfolgte.


Sechs Wochen nach der Entſcheidungsſchlacht waren die Fürſten-
revolutionen von 1803 und 1806 durch eine große Amneſtie geſühnt,
Frankreichs deutſche Vaſallen alleſammt in die große Allianz aufgenommen.
Einzelne der kleinen norddeutſchen Fürſten freuten ſich ehrlich der Er-
löſung vom fremden Joche, keiner aufrichtiger als Herzog Karl Auguſt.
Der Weimariſche Hof war auch während dieſer argen Jahre eine Heim-
ſtätte deutſchen Geiſtes geblieben; Napoleon ſelbſt hatte die fürſtliche Hal-
tung der Herzogin-Mutter bewundert, als ſie ihm nach der Jenaer
Schlacht ſtolz und würdig entgegentrat. Ihr aber blieb ein tiefer Ab-
ſcheu gegen den Imperator; ſie errieth, wie Luiſe von Preußen und Ka-
roline von Baiern, mit dem ſicheren Inſtincte des edlen Weibes den Zug
der Gemeinheit in dem Weſen des großen Mannes. Wie ſie empfand
ihr Sohn; die Franzoſen wollten dem leichtlebigen, luſtigen Herrn nichts
Arges zutrauen und ahnten nicht, daß er jahrelang mit den preußiſchen
Patrioten in geheimem Verkehre ſtand. Sobald er die Hände wieder
frei hatte trat er als ruſſiſcher General in das Heer der Verbündeten
ein und ſagte traurig über ſeinen noch immer hoffnungslos verſtimmten
Freund Goethe: „Laßt ihn, er iſt alt geworden!“


Ganz anders war die Stimmung der ſüddeutſchen Höfe. Sie thaten
nur was ſie nicht laſſen und ließen nur was ſie nicht thun durften. Unver-
hohlen ſprach Montgelas ſeinen Groll aus wider „die fatale Deutſchheit“.
Der württembergiſche Despot verbot bei Feſtungsſtrafe alle politiſchen Ge-
ſpräche, entließ ſofort den bei Leipzig übergegangenen General und herrſchte
einen ſeiner Landvögte, der ſich im deutſchen Sinne ausgeſprochen hatte, mit
der Weiſung an: „Es iſt die Pflicht eines jeden guten Dieners, nur die
Sache, für welche ſein Souverän ſich erklärt hat, als die wahre gute
Sache anzuſehen.“ Von ſeinem Beſuche im Frankfurter Hauptquartier
kehrte er ſehr unwirſch heim. Keinen Fetzen nachbarlichen Landes hatten
ihm die Verbündeten zum Lohne für den Fahnenwechſel gewährt, wie
viel einträglicher war doch der Dienſt des Imperators geweſen! Sofort
trat er wieder in geheimen verrätheriſchen Verkehr mit dem freigebigen
Protector. Auch in Baden währte es eine geraume Weile, bis die
Carlsruher Staatszeitung ſtatt des gewohnten „Seine Majeſtät der Kaiſer“
erſt „Napoleon“ und endlich „der Feind“ ſchrieb; als der Uebertritt un-
vermeidlich wurde, ſprach Großherzog Karl dem Protector noch ſein leb-
haftes Bedauern aus. Napoleon aber verſtand ſeine Leute zu behandeln,
er ſchwor im Falle der Rückkehr ihre Länder zu verwüſten, wie einſt Lud-
wig XIV. die Pfalz. Mit geballter Fauſt und einem grimmigen: „Du
ſollſt mirs bezahlen, mein Fürſt!“ ſchied ſein Geſandter Vendeuil von
[519]Stimmung in Süddeutſchland.
dem Großherzog Ludwig von Darmſtadt, als dieſer das Bündniß auf-
kündigte.


Die Drohungen des Imperators verfehlten ihren Zweck nicht, ſie
lähmten die Thatkraft auch der beſſer geſinnten Rheinbundsfürſten. Eine
Volksbewaffnung nach preußiſcher Weiſe war in der Mehrzahl dieſer
Länder ohnehin unmöglich, da die Gewalthaber ihrem eigenen Volke nicht
trauten. In Baiern wurden die Freiwilligen von den Behörden mit
Hohn heimgeſchickt. In Württemberg wollte der König weder Freiwillige
noch eine Landwehr dulden; die Bildung des Landſturms benutzte er nur
als einen willkommenen Vorwand um ſeine Unterthanen zu entwaffnen
und bei Zuchthausſtrafe die Einlieferung aller Gewehre anzubefehlen.
Niemand war bei dieſen Höfen ſchlimmer verrufen als Stein; wußten
ſie doch, daß der Freiherr ſoeben in Frankfurt beantragt hatte, ihre Re-
gierungsgewalt vorläufig zu ſuspendiren. Auch die trefflichen Männer,
die er in ſeiner deutſchen Centralverwaltung anſtellte, hießen bald alle-
ſammt moskowitiſche Jacobiner: die Preußen Frieſen und Eichhorn, der
Ruſſe Turgeniew, der Leiter des Hospitalweſens Graf Solms-Laubach,
der Organiſator der Volksbewaffnung Rühle von Lilienſtern. Tagaus
tagein verſuchten der particulariſtiſche Dünkel und die Niedertracht der ſüd-
deutſchen Cabinette die Wirkſamkeit der Centralverwaltung zu durchkreuzen.
Montgelas bedrohte Steins Beamte mit Ausweiſung, als ſie ſich von dem
Zuſtande der bairiſchen Lazarethe überzeugen wollten. Friedrich von Würt-
temberg weigerte ſich „ausländiſche“ Verwundete in ſeine Hospitäler aufzu-
nehmen; als die Oeſterreicher ihre Kranken aus dem überfüllten Villingen
nach Rottweil hinüberbrachten, ließen die württembergiſchen Behörden die
Jammernden auf der Straße liegen, bis man mit Gewalt die Thüren des
Krankenhauſes öffnete. So erprobte ſich die bundesfreundliche Geſinnung
jener Höfe, denen Oeſterreich bedingungslos die Souveränität zurückgab.
Stein ſelber meinte jetzt traurig, man thue beſſer, die Verhandlungen
über Deutſchlands Verfaſſung bis zum Frieden zu vertagen, ſonſt könne
die lockere Coalition ſich leicht ganz auflöſen. Um aber die Nation über die
Denkweiſe ihrer Gewalthaber zu belehren, ließ er ſeinen treuen Eichhorn
eine Schrift über die Centralverwaltung veröffentlichen, welche ohne Um-
ſchweife die Sünden der Kleinkönige aufdeckte. Seitdem kannte der Haß
der rheinbündiſchen Höfe gegen das preußiſche Deutſchthum keine Grenzen
mehr.


Auch das Volk des Südens wurde von dem Sturme der Begeiſte-
rung, der über Norddeutſchland dahin brauſte, nur obenhin berührt, ob-
gleich ſich überall ehrlicher Wille zeigte und viele junge Männer aus den
gebildeten Ständen auf Arndts und Görres’ Worte ſchworen. So tief
wie in Preußen hatte der Haß gegen die Fremdherrſchaft hier niemals
Wurzeln ſchlagen können, denn hier war kein verlorener Ruhm zurück-
zugewinnen. Als die Stunde der Befreiung ſchlug, thaten zwar die
[520]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Meiſten ihre Schuldigkeit, doch ein ſtarker kriegeriſcher Thatendrang, der
die böswilligen Regierungen mit fortgeriſſen hätte, zeigte ſich nirgends.
Nichts bezeichnender als Rückerts Lied für die Coburger Landwehr: „Man
hat uns eh’ gerufen nicht, ſobald uns aber rief die Pflicht war’n wir
bereit zu gehn!“ Ruh’ und Frieden war nach dem Jammer dieſer end-
loſen Kriegszeit der allgemeine Wunſch. Im Mannheimer Theater wurde,
bei einer feſtlichen Aufführung zum Beſten der Volksbewaffnung, das
Schiller’ſche Reiterlied geſungen mit der von A. von Duſch verübten zeit-
gemäßen Verſchönerung:


Und ſetzet Ihr nicht die Ruhe ein,

Nie wird Euch die Ruhe gewonnen ſein.

Leider führte auch der weitere Verlauf des Krieges Nord- und Süd-
deutſche einander nicht näher. Das einzige ſüddeutſche Generalgouverne-
ment der Centralverwaltung, das Frankfurter, wurde, den dualiſtiſchen
Plänen Hardenbergs entſprechend, öſterreichiſchen Beamten und Offizieren
übergeben; im Elſaß riſſen die Baiern eigenmächtig die proviſoriſche Ver-
waltung an ſich ohne nach Stein zu fragen. Treue Waffenbrüderſchaft
verband die Ruſſen und die Preußen nach ſo vielen gemeinſamen Siegen.
Die ruſſiſchen Truppen vergötterten den König Friedrich Wilhelm, der ſie
in ihrer Mutterſprache anzureden wußte, und ihren Marſchall Vorwärts;
der preußiſche Soldat blickte zwar nur mit gemäßigter Hochachtung auf
den ruſſiſchen Leutnant, der von ſeinem Major vor der Front geohrfeigt
wurde, doch die Tapferkeit der Mannſchaften ſchätzte er hoch. Von den
bairiſchen und württembergiſchen Regimentern dagegen hörte er wenig,
da ſie, den Verträgen gemäß, der öſterreichiſchen Armee zugetheilt wurden;
nur die badiſche Garde focht mit der preußiſchen vereinigt. So konnte,
zum Unheil für Deutſchland, ein lebendiges Gefühl der Kameradſchaft
zwiſchen den Preußen und den Truppen der Kleinſtaaten ſich nicht bilden,
die gehäſſigen Erinnerungen aus den blutigen Schlachten des Sommer-
feldzugs blieben unvergeſſen. Ein eigener Unſtern wollte, daß die kleinen
Contingente an dem Kriegsruhme der Verbündeten geringen Antheil ge-
wannen. Ein großer Theil von ihnen wurde zur Einſchließung von Mainz
und in dem thatenarmen flandriſchen Feſtungskriege verwendet; die Frei-
willigen des ſächſiſchen Banners bekamen den Feind nie zu ſehen. Die
Baiern und Württemberger zogen zwar mit gen Paris und ſchlugen ſich
mit ihrer gewohnten Tapferkeit, jedoch einen glänzenden Sieg, der die
Triumphe von Regensburg, Wagram und Borodino verdunkelt hätte,
errangen ſie nicht. Darum behauptete der Stern der Ehrenlegion nach wie
vor ſein Anſehen unter den Veteranen der Mittelſtaaten. Die Bauern in
Franken und im Schwarzwalde, die noch immer viel vom Erzherzog Karl
und den Feldzügen der neunziger Jahre erzählten, wußten von dieſem
Kriege wenig. Der rückhaltloſe Einmuth einer allgemeinen Erhebung
[521]Verhandlungen über den Kriegsplan.
war den Deutſchen auch jetzt noch nicht beſchieden. Erſt in weit ſpäteren
Tagen erregten die hiſtoriſche Wiſſenſchaft und der endlich erwachte Ein-
heitsdrang unter den Süddeutſchen eine nachträgliche Begeiſterung für den
Befreiungskrieg, wie ſie die Zeitgenoſſen in ſolchem Maaße nicht gehegt
hatten.


Während die Mächte mit den ſüddeutſchen Höfen verhandelten, be-
riethen ſie zugleich unter ſich über die Fortführung des Krieges. Frank-
reich lag wehrlos vor der Spitze ihres Schwertes; es ſtand wirklich ſo,
wie Ney ſpäterhin ſpottete: „Die Herren Alliirten konnten Marſch für
Marſch ihre Nachtquartiere bis nach Paris im Voraus beſtimmen.“
Radetzky wies in einer lichtvollen Denkſchrift auf die entſcheidende That-
ſache hin, daß Napoleon kein Heer mehr beſitze und mithin der Winter-
feldzug ſeine Schrecken verliere. Selbſt Schwarzenberg war für den Ein-
marſch in Frankreich, ſchon weil er nicht abſah, wie er dieſe ungeheuren
Heeresmaſſen in den ausgeſogenen deutſchen Landen verpflegen ſollte;
„meine Baſis, meinte er zuverſichtlich, iſt Europa vom Eismeere bis
zum Hellespont, für dieſe wird doch Paris das Operationsobject ſein
dürfen?“ Noch weit nachdrücklicher mahnte Gneiſenau ſeinen König zu
raſchem Vorgehen, bevor die lockere Coalition ſich auflöſe; wenn man
ſogleich von den Niederlanden und dem Mittelrheine her das franzöſiſche
Land an ſeiner verwundbarſten Stelle packe, ſo ſei der gefürchtete drei-
fache Feſtungsgürtel der Oſtgrenze für Napoleon nicht ein Schutz, ſon-
dern ein Nachtheil, da dem Imperator die Truppen zur Beſetzung der
feſten Plätze fehlten. Blücher endlich war von Haus aus nicht darüber in
Zweifel geweſen, daß dieſer Krieg nur an der Seine enden dürfe: „der
Tyrann hat alle Hauptſtädte beſucht, geplündert und beſtohlen; wir wollen
uns ſo was nicht ſchuldig machen, aber unſere Ehre fordert das Vergel-
tungsrecht, ihn in ſeinem Neſte zu beſuchen.“


Dem ſchlichten Verſtande erſchien die Lage ſo einfach, daß ſogar
Erzherzog Johann, ein keineswegs heroiſcher Geiſt, die Einnahme von
Paris als ſicher anſah. Aber in der diplomatiſchen Welt herrſchte
ſeit Jahrhunderten unerſchütterlich wie ein Glaubensſatz die Meinung,
Frankreich ſei auf ſeinem eigenen Boden unbeſiegbar. Hatten doch ſelbſt
Karl V. und Prinz Eugen, die allezeit Glücklichen, nichts ausgerichtet,
als ſie in das Innere des Landes einzudringen wagten; und wie kläg-
lich war der Feldzug von 1792 verlaufen, obgleich Frankreich auch da-
mals kein ſchlagfertiges Heer beſaß. Die Franzoſen Bernadotte und
Jomini ſchilderten die Gefahren des vermeſſenen Unternehmens in den
dunkelſten Farben. Kneſebeck rieth beſorglich die Götter nicht zu ver-
ſuchen. York grollte über den elenden Zuſtand ſeines tapferen Corps
und verlangte mindeſtens eine kurze Ruhe für die erſchöpften Truppen.
Auch König Friedrich Wilhelm unterlag für einige Zeit einem Anfalle
ſeines Kleinmuths. Der Zweck, um deſſentwillen er im Frühjahr das
[522]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Schwert gezogen hatte, die Befreiung Deutſchlands bis zum Rheine, war
erreicht; ſeine langſame Natur bedurfte einer geraumen Weile, um ſich
in die gänzlich veränderte Lage zu finden und einzuſehen, daß alles bisher
Errungene nur durch die Vernichtung der franzöſiſchen Uebermacht ge-
ſichert werden konnte. Am Lebhafteſten aber wünſchte der Wiener Hof
die ſchleunige Beendigung des unbequemen Krieges.


Schon zu Anfang Novembers hatte Metternich, gegen Sinn und
Wortlaut des Teplitzer Vertrags, einſeitig Verhandlungen angeknüpft mit
dem gefangenen franzöſiſchen Diplomaten St. Aignan und ihm zuge-
ſichert, Niemand denke an Napoleons Entthronung; wenn der Imperator
die Unabhängigkeit von Spanien, Italien und Holland anerkenne, ſo
möge Frankreich innerhalb ſeiner natürlichen Grenzen, zwiſchen Rhein,
Alpen und Pyrenäen, ſeine alte Machtſtellung behaupten und über die
kleinen deutſchen Staaten, ohne förmliche Oberherrlichkeit, jenen Einfluß
ausüben, welcher jedem großen Staate den minder mächtigen gegenüber
nothwendig zuſtehe. Gelang dann noch eine Verſtändigung über die
Grenzen des öſterreichiſchen Machtgebietes in Italien, ſo war in der
That Alles erfüllt, was Metternich wünſchte. Die Befreiung des linken
Rheinufers lag gänzlich außerhalb ſeines Geſichtskreiſes; ſeine Anſchau-
ungen gingen über die mechaniſche Gleichgewichtslehre der alten Barrieren-
politik nicht hinaus. Ihm genügte vollauf, wenn eine Handvoll will-
kürlich gebildeter Kleinſtaaten zwiſchen das ſtreitluſtige Frankreich und
die Oſtmächte eingeſchoben und alſo die Reibung der großen politiſchen
Maſſen durch einige Polſterkiſſen abgeſchwächt wurde; war doch ſein Haus
Oeſterreich der natürliche Feind jeder kräftigen nationalen Staatsbildung.
Der engliſche Bevollmächtigte im Hauptquartiere, Lord Aberdeen, folgte
in allen continentalen Fragen blindlings der Anſicht Metternichs und
meinte, dem engliſchen Intereſſe ſei genug geſchehen, wenn nur Hannover
und die Niederlande wiederhergeſtellt würden. Zum Glück hatte er keine
genügende Vollmacht. Daher wurde Pozzo di Borgo nach London ge-
ſendet, um die Zuſtimmung des Prinzregenten einzuholen, während
St. Aignan in Paris ſeinem Kaiſer die Friedensvorſchläge Metternichs
unterbreiten ſollte.


Indeſſen kam Stein nach Frankfurt, den die öſterreichiſchen Staats-
männer bisher in Leipzig zurückgehalten hatten, und trat alsbald mit
flammendem Eifer für die Fortſetzung des Krieges ein. Es gelang, den
Czaren, dann auch den König zu gewinnen. Napoleons Stolz konnte
ſich nicht entſchließen, ſofort auf die übergünſtigen Vorſchläge Oeſter-
reichs einzugehen. Als er ſich endlich zu den Friedensverhandlungen
bereit erklärte — freilich unter dem Vorbehalte, daß die Kleinſtaaten
Deutſchlands und Italiens keiner Oberherrlichkeit irgend welcher Art
unterworfen werden ſollten — da war im Hauptquartier bereits der
Entſchluß gefaßt, zwar die Unterhandlungen nicht abzubrechen, doch
[523]Das Kriegsmanifeſt vom 1. December.
gleichzeitig den Krieg weiterzuführen. Damit hatte Stein gewonnenes
Spiel; denn jeder neue Waffenerfolg der Verbündeten mußte unvermeid-
lich die Friedensbedingungen verſchärfen. Die Zuverſicht wuchs von
Tag zu Tag und bald galt es ohne förmliche Abrede als ausgemachte
Sache, daß man nunmehr mindeſtens einen Theil des linken Ufers,
etwa die Grenzen von 1792, zurückfordern werde. Die Kriegspartei
triumphirte. Als Blücher in Frankfurt von dem Staatskanzler Abſchied
nahm, ſagte er auf die Frage: „Wo werden wir uns wiederſehen?“
mit ſeinem fröhlichſten Lachen: „Im Palais Royal!“*)


Die Worte und Thaten des großen Hauptquartiers ließen freilich
von ſolcher friſchen Entſchloſſenheit nichts erkennen. Das Manifeſt vom
1. December, das den Franzoſen den bevorſtehenden Angriff ankündigte,
ſchien geradezu darauf berechnet, den franzöſiſchen Hochmuth, der die
Welt ſeit zwei Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen ließ, auf das Aeußerſte
zu ſteigern. Mit ſchmeichelnden Worten, deren gleichen noch nie in einer
Kriegserklärung vorgekommen, entſchuldigten die Verbündeten ihr Unter-
nehmen: ſie wollten nicht Frankreich bekriegen, ſondern die Uebermacht
Napoleons, ſie wünſchten, daß Frankreich groß, ſtark und glücklich ſei,
und verſprachen dem franzöſiſchen Staate einen größeren Gebietsumfang,
als er jemals unter ſeinen Königen gehabt, denn eine tapfere Nation
dürfe darum noch nicht von ihrer Höhe herabſinken, weil ſie in einem
heldenhaften Kampfe unglücklich geweſen ſei!


Kläglich, mattherzig wie dieſe Worte war auch der von Duca und Lan-
genau ausgeklügelte Kriegsplan. Vergeblich vertheidigte Gneiſenau die da-
mals noch neue Anſicht, daß dieſes centraliſirte Frankreich nur in ſeiner
Hauptſtadt ganz beſiegt werden könne. Die k. k. Kriegstheoretiker hatten auf
der Landkarte das Plateau von Langres entdeckt, jene beſcheidene Bodener-
hebung an den Grenzen von Hochburgund, welche die Waſſerſcheide dreier
Meere bildet; ſie nahmen an, daß auch Napoleon bei ſeinen Feldzügen ſich
durch die Erwägungen geographiſcher Gelehrſamkeit beſtimmen laſſe, und
mithin eine Demonſtration, „eine Winterbewegung“ gegen dieſe merkwürdige
Hochebene den Imperator zum Frieden zwingen werde. Im December ſetzte
ſich die große Armee langſam in Bewegung, um auf dem ungeheuren Um-
wege durch Baden, das Elſaß und die Schweiz nach Langres zu gelangen.
Die Hofburg verfolgte dabei zugleich politiſche Nebenzwecke: ſie dachte in
der Schweiz das alte ariſtokratiſche Regiment herzuſtellen und den Feind
zur Räumung des italieniſchen Kriegsſchauplatzes, der ihr ungleich wich-
tiger war als der franzöſiſche, zu nöthigen. Ihre Strategen rechtfertigten
die unnatürliche Künſtelei dieſes Kriegsplanes, der die Uebermacht der
Verbündeten willkürlich von der geraden und ſicheren Siegesſtraße ab-
lenkte, mit der wunderſamen Behauptung: auf dieſe Weiſe gewinne man
[524]I. 5. Ende der Kriegszeit.
den Beiſtand der Armee Wellingtons, die im äußerſten Südweſten Frank-
reichs, nahe den Pyrenäen, ſtand. Die läſtigen Stürmer und Dränger
des ſchleſiſchen Heeres wollte Langenau durch die Belagerung von Mainz
beſchäftigen und dem Kriegsſchauplatze fern halten. Erſt nach langem,
heftigem Streite erwirkte ſich Blücher die Erlaubniß, am Mittelrhein die
franzöſiſche Grenze zu überſchreiten; von da ſollte er durch die Saar-
lande und Lothringen ebenfalls jene wunderbare Hochebene zu erreichen
ſuchen, wo man ſein Waſſer nach drei Meeren zugleich abſchlagen konnte
— wie der derbe Lagerwitz der erbitterten Schleſier ſpottete.


Alſo gewährte die Unfähigkeit einer altväteriſchen Politik und Stra-
tegie dem Imperator abermals eine Möglichkeit der Rettung. Sie ſchenkte
ihm drei Monate Friſt um ein neues Heer zu ſchaffen und berechnete ihre
Kriegspläne auf das behutſame Vermeiden jeder durchſchlagenden Ent-
ſcheidung. Mochten immerhin Lainé und einige andere muthige Männer
in dem zahmen Geſetzgebenden Körper jetzt ihre Stimme erheben und den
Unwillen des Landes über die endloſen Kriege ausſprechen, der Despot
herrſchte ſie mit verächtlichen Worten an. Noch galt der Wahlſpruch des
Kaiſerreichs: die Herrſchaft der Schwätzerei iſt zu Ende! Napoleon förderte
ſeine Rüſtungen mit der alten Umſicht und rechnete zugleich auf den
Erfolg der diplomatiſchen Verhandlungen, auf den Zerfall der lockeren
Coalition. Wiederholt ließ er den Staatsmännern der Hofburg ſagen,
ein großer Sieg liege nicht im Intereſſe Oeſterreichs, könne leicht das
europäiſche Gleichgewicht zum Nachtheile für Oeſterreich verſchieben. Keine
Rede von Nachgiebigkeit. „Die alten Grenzen, ſchrieb er an Caulaincourt,
wären eine Erniedrigung für Frankreich; alle unſere Eroberungen wiegen
nicht auf was Preußen, Oeſterreich, Rußland, England während der
letzten Jahrzehnte gewonnen haben.“ Seine Unterhändler ſollten ihre
Friedensvorſchläge „ſo unbeſtimmt als möglich halten, denn wir haben
Alles von der Zeit zu gewinnen!“ —


Währenddem fielen einige der Feſtungen des Nordoſtens, die von
den Franzoſen alleſammt mit ehrenhafter Ausdauer vertheidigt wurden,
ſo Danzig und Torgau. Am 13. Januar wurde Wittenberg von den
Truppen Tauentziens erſtürmt nach einer ſchweren Beſchießung, die der
junge Bardeleben umſichtig leitete; es war der einzige einigermaßen
großartige Belagerungskampf in dieſem ſchlachtenreichen Kriege. Ungleich
wichtiger ward die Eroberung von Holland. Da Bernadotte ſchon im
November von Hannover aus gegen Dänemark zog um ſeine norwegiſche
Beute in Sicherheit zu bringen, ſo machte ſich Bülow von dem verhaßten
Oberfeldherrn los, brach aus Weſtphalen in die Niederlande ein, und ſo-
fort erfuhr die Welt wieder, was die Nordarmee vermochte wenn man
ſie frei gewähren ließ. General Oppen erſtürmte das feſte Doesborgh,
das Kolbergiſche Regiment und die Königin Dragoner, die alten Ansbach-
Baireuther, flochten ſich ein neues Blatt in ihren Lorbeerkranz. Dann
[525]Eroberung von Holland.
ward auch Arnheim mit ſtürmender Hand genommen, der Uebergang über
den Rhein und die Maas erzwungen, Herzogenbuſch mußte ſeine Thore
öffnen, und abermals, wie in den Tagen des großen Kurfürſten, war
Frankreichs Machtſtellung in den Niederlanden durch Preußens Waffen
in Stücke geſchlagen. Erſt vor den Mauern von Antwerpen kam Bülows
reißender Siegeszug ins Stocken. Hier befehligte Carnot; der unbeug-
ſame Republikaner hatte ſeinen Parteihaß hochherzig bezwungen um des
Vaterlandes willen und behauptete ſich in dem wichtigen Platze ſtandhaft
bis zum Friedensſchluſſe.


Die klugen Holländer verſtanden das Glück an der Locke zu faſſen.
Die Mitglieder der alten Ariſtokratie, die Altregenten, hatten ſchon ſeit
Jahren die Wiederherſtellung des Staates vorbereitet. Auf ihren Wink
erhob ſich das Volk von Amſterdam, ſobald die erſten Koſakenſchwärme
ſich an der Grenze zeigten, und hißte die Orangeflagge auf (15. Nov.).
Die franzöſiſchen Beamten flohen, die Truppen zogen ſich in die feſten
Plätze. Die Altregenten bildeten eine proviſoriſche Regierung und riefen
den Prinzen von Oranien zurück. Ueberall erklang das alte Oranje
boven! und das neue: Met Willem komt de vrede! So konnte denn das
unkriegeriſche Handelsvolk mit einigem Scheine behaupten, das Land habe
ſich ſelbſt befreit, obgleich die Blutarbeit der Eroberung allein den Preußen
und Ruſſen überlaſſen wurde.


Da Jedermann wußte, daß Oeſterreich ſich Belgiens zu entledigen
wünſchte, ſo war der Plan, die beiden Hälften der alten Niederlande zu
vereinigen, bereits mehrmals während der Coalitionskriege beſprochen
worden; ſchon im Jahre 1794 hatte der Rathspenſionär v. d. Spiegel
dieſen Vorſchlag vertheidigt. Der Gedanke lag in der Luft, er ergab ſich
von ſelbſt aus dem Ideengange jener alten diplomatiſchen Schule, die
ohne Verſtändniß für das hiſtoriſche Leben ihre Staatengebilde allein nach
den Rückſichten der geographiſchen Lage und Abrundung zurechtzuſchneiden
pflegte. Mit Eifer nahm die engliſche Handelspolitik jetzt den alten Ge-
danken auf. Die Briten hatten das holländiſche Colonialreich erobert und
wollten aus der reichen Beute die für die indiſche Herrſchaft wichtigſten
Plätze, Ceylon und das Cap, mitſammt der holländiſchen Flotte und einem
Theile von Guyana behalten. Nach den Anſchauungen des achtzehnten
Jahrhunderts war das herrenloſe Deutſchland ſelbſtverſtändlich verpflichtet
den Holländern dieſen Verluſt zu erſetzen; die Befeſtigung der engliſchen
Seeherrſchaft ſollte durch den burgundiſchen Kreis des deutſchen Reichs
bezahlt werden. Und wie nun überall die gute alte Zeit zurückzukehren
ſchien, ſo lebten auch die wilhelminiſchen Ueberlieferungen, die Erinnerungen
an das langlebige Bündniß der beiden Seemächte wieder auf. England
gedachte in den verſtärkten Niederlanden einen zuverläſſigen Bundes-
genoſſen, in dem Antwerpener Hafen einen wohlgedeckten Brückenkopf für
ſeine Feſtlandskriege zu finden; man hoffte durch die Verheirathung des
[526]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Erbprinzen von Oranien mit der Erbin der engliſchen Krone dieſen Bund
noch feſter zu begründen. Die Angſt vor dem jacobiniſchen Geiſte des
preußiſchen Heeres beſtärkte das Tory-Cabinet in ſolchen Anſchauungen:
dieſe „exaltirte“ kriegeriſche Macht mußte um des Friedens willen durch
einen friedfertigen Handelsſtaat von dem unruhigen Frankreich abgetrennt
werden.


So geſchah es, daß die engliſchen Staatsmänner die Herſtellung der
Vereinigten Niederlande rührig wie eine britiſche Angelegenheit betrieben;
ſie zeigten noch mehr Eifer dafür als für die Vergrößerung des hanno-
verſchen Welfenreichs. Schon ſeit dem Frühjahr 1813 ſtand das Lon-
doner Cabinet mit dem Prinzen von Oranien in Verbindung und ſuchte
die europäiſchen Höfe von der Nothwendigkeit des oraniſchen Geſammt-
ſtaates zu überzeugen. In der diplomatiſchen Welt galt das neue König-
reich ſo gänzlich als eine britiſche Schöpfung, daß man von jedem Land-
ſtriche, der an die Niederlande kam, kurzab zu ſagen pflegte: „dies Gebiet
wird engliſch.“ Ein gewandter Kaufmann pflegt, wenn er den Käufer
um die Hälfte des Preiſes übervortheilt, heilig zu betheuern, daß er nur
aus perſönlicher Verehrung für den Kunden den Handel ſchließe. So
hat auch die engliſche Handelspolitik immer verſtanden, ihre Abſichten
hinter großen Worten von Freiheit und Gleichgewicht zu verbergen. Sie
wollte ihrem niederländiſchen Schützling die Hälfte ſeiner Colonien vor-
enthalten; Lord Caſtlereagh aber erklärte ſtolz, ſein Staat ſei hochherzig
bereit einen Theil ſeiner Eroberungen herauszugeben, er könne jedoch dies
Opfer nur bringen, wenn die Niederlande auf dem Feſtlande vergrößert
und alſo in den Stand geſetzt würden, den zurückgewonnenen Theil ihres
Colonialreiches gegen Frankreich zu vertheidigen. England beraubte die
Niederlande jenes überſeeiſchen Beſitzes, worauf ihre alte Machtſtellung
beruht hatte, und beanſpruchte dann noch den Dank Europas für ſeine
Großmuth. Das neue niederländiſche Reich war an arrangement for an
European object;
nur um die Rheinlande vor Frankreich zu ſichern,
ſollte Deutſchland wieder einige ſeiner alten Reichslande verlieren. Zu-
gleich wurde mit begeiſterten Worten der Heldenmuth der Holländer ge-
prieſen; Europa war verpflichtet den noble élan dieſes Volkes zu be-
lohnen. Das engliſche Märchen ward mit ſolcher ausdauernden Ernſt-
haftigkeit wiederholt, daß man im Großen Hauptquartier ſchließlich daran
glaubte und die Phraſe von „Hollands Verdienſten um Europa“ in das
Wörterbuch der Diplomatie aufnahm.


Durch Bülows Siegeszug kam der preußiſche Hof zum erſten male
während dieſes Krieges in die günſtige Lage zu bieten, nicht blos zu
bitten; er konnte jetzt dem engliſchen Cabinet erklären, über dieſe durch
Preußen mit eroberten Lande dürfe erſt verfügt werden, wenn England
eine bindende Zuſage für die Einverleibung Sachſens gäbe. Aber dieſer
Gedanke kam gar nicht zur Sprache, da das preußiſche Cabinet ſelber
[527]Die Vereinigten Niederlande.
durchaus beherrſcht war von jener Gleichgewichtspolitik, worauf Englands
niederländiſche Pläne fußten. In allen Entwürfen Hardenbergs wurde
als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt, daß die Schweiz und die Niederlande
in der Regel den Frieden zwiſchen Deutſchland und Frankreich behüten,
im Falle des Krieges den erſten Anprall der franzöſiſchen Angreifer aus-
halten müßten; erſt in zweiter Linie ſollten Oeſterreich und Preußen den
Kampf aufnehmen. Die Vergrößerung der Niederlande ſchien um ſo mehr
im deutſchen Intereſſe zu liegen, da Hardenberg noch zuverſichtlich hoffte,
Holland und die Schweiz durch ein foederatives Band — als „Bundes-
verwandte“, wie man zu ſagen pflegte — mit Deutſchland zu verketten.
Zudem ward der den Hohenzollern ſo nahe verwandte Prinz von Ora-
nien bei Hofe faſt wie ein Mitglied des königlichen Hauſes angeſehen,
obgleich die Offiziere ihm die ſchimpfliche Capitulation von Erfurt nicht
verziehen. Er hatte wegen ſeiner Theilnahme am Kriege von 1806 Land
und Leute verloren; es ſchien Ehrenpflicht ihn reichlich zu belohnen. Da-
her ging Hardenberg kaum minder lebhaft als die engliſchen Staats-
männer für die oraniſche Sache ins Zeug; er umarmte unter Freuden-
thränen den niederländiſchen Geſandten Gagern, als die Nachricht von der
Eroberung Hollands kam. Die Bildung dieſes Zwiſchenſtaates erſchien in
den Augen der europäiſchen Höfe als ein Erfolg der preußiſchen Politik,
keineswegs als ein Rechtstitel, kraft deſſen Preußen neue Forderungen
ſtellen durfte.


Hier liegt ohne Zweifel der zweite große Fehler der Politik Harden-
bergs; doch dieſe niederländiſchen Träume ſind, wie jene Pläne des
deutſchen Dualismus, die Schuld nicht eines Mannes, ſondern des ge-
ſammten Zeitalters. Lange bevor man auf die Eroberung des linken
Rheinufers zu hoffen wagte, hatte Stein ſchon den verſtärkten niederländi-
ſchen Staat als eine europäiſche Nothwendigkeit gefordert, und Jedermann
ſtimmte bei. Nachher, da die Ländergier des Oraniers ſich allzu dreiſt
herauswagte, ſind wohl Manchem Zweifel aufgeſtiegen. Der Rheiniſche
Mercur beklagte, daß „der am wenigſten kriegeriſche deutſche Stamm“ mit
der Grenzhut betraut werden ſolle, und ſelbſt Caſtlereagh fragte in ſeinen
Briefen einmal bedenklich, ob dies Handelsvolk ſeiner europäiſchen Aufgabe
genügen könne. Ludwig Vincke, der von ſeiner theueren rothen Erde aus
die niederländiſchen Dinge lange beobachtet, ſagte voraus, dies willkürlich
ausgeklügelte Staatsgebilde müſſe untergehen; in den Niederlanden er-
wachte ſofort wieder der alte Groll, der die katholiſchen Belgier und die
proteſtantiſchen Holländer ſeit einem Vierteljahrtauſend getrennt hielt. Die
deutſche Diplomatie aber blieb von ſolchen Bedenken unberührt. Harden-
berg brachte der engliſchen Politik ein unbeſchränktes Vertrauen entgegen.
Nach der Einnahme von Antwerpen genehmigte er ſofort, daß die dort
im Hafen von den Preußen und Ruſſen erbeuteten Kriegsſchiffe nach
England entführt wurden. Für die Seemacht fehlte der deutſchen Politik
[528]I. 5. Ende der Kriegszeit.
noch jedes Verſtändniß; Niemand hat auch nur die Frage aufgeworfen,
ob nicht jene köſtliche Beute den Stamm einer preußiſchen Flotte bilden
könne.


Der Prinz von Oranien, alſo mit Geſchenken verſchwenderiſch über-
ſchüttet, fand ſich noch immer nicht genug belohnt für ſeine unbekannten
Verdienſte um Europa, entwarf mit unbeſchämter Stirn neue Vergröße-
rungspläne: bald ſollte ein links-rheiniſches Königreich Neu-Burgund bis
zur Moſel und Nahe, bald ein rechts-rheiniſches Groß-Naſſau von Düſſel-
dorf bis Bieberich in den unerſättlichen Schlund ſeines Hauſes fallen.
Das Volk am Rhein, ermüdet durch den Druck der napoleoniſchen Prä-
fecten, verſprach ſich goldene Berge von den reichen Holländern, fürchtete
die militäriſche Strenge der Preußen. Gegen dieſe Befreier ſeines Landes
hegte der Oranier, gleich ſeinen britiſchen Gönnern, ein tiefes Mißtrauen.
Faſt auf jedem Blatte des engliſch-niederländiſchen Depeſchenwechſels wird
die Beſorgniß ausgeſprochen, daß nur Preußen nicht Luxemburg erhalte,
nicht durch eine ſtarke rheiniſche Provinz „erdrückend“ auf die Niederlande
wirke, denn „die preußiſche Schlauheit wird ſich ſchwerlich mit Wärme an
die engliſche Ehrlichkeit anſchließen“. Von dieſer feindſeligen Geſinnung
der welfiſch-oraniſchen Staatsmänner ahnte Hardenberg nichts, vielmehr
förderte er die oraniſche Sache wie ſeine eigene und zeigte ſich ſogar be-
reit einige rein deutſche Striche am Niederrhein dem niederländiſchen Ge-
ſammtſtaate zu überlaſſen.


Erſt nachdem die Eroberung des linken Rheinufers beſchloſſen war,
konnte das preußiſche Cabinet einen beſtimmten Plan für die Wiederher-
ſtellung der Monarchie aufſtellen, denn jetzt erſt ließ ſich überſehen, welche
deutſche Gebiete für Preußen frei wurden. Ungeſäumt benutzte der Staats-
kanzler die Gunſt des Augenblicks und begann mit den Alliirten über
die preußiſchen Landforderungen zu verhandeln. Seit der Leipziger Schlacht
hielten die Verbündeten das Königreich Sachſen in ihrer Gewalt. Niemand
hätte an jenem Tage, da König Friedrich Auguſt als Kriegsgefangener
aus der erſtürmten Stadt abgeführt wurde, die ungeheuerliche Behaup-
tung gewagt, daß dieſer ergebenſte Vaſall Napoleons ein wiedergefundener
befreiter Freund der Verbündeten ſei. Der Imperator ſelbſt bewahrte
dem Könige immer eine wohlverdiente Dankbarkeit und forderte noch mehr-
mals während dieſes Winters die Warſchauer Krone für Friedrich Auguſt
zurück, weil es wider ſeine Ehre gehe den treuen Verbündeten zu ver-
laſſen. Der Wettiner hatte von Napoleons Siegen die Vergrößerung
Sachſens erhofft und mußte mithin auch die Folgen der franzöſiſchen
Niederlagen über ſich ergehen laſſen. Sein Land war in gerechtem Kriege
bis auf das letzte Dorf erobert und unterlag nach Völkerrecht allein der
Verfügung der Sieger. Der wider den Befehl des Königs erfolgte, poli-
tiſch und militäriſch gleich wirkungsloſe Uebertritt eines Theiles der ſäch-
ſiſchen Armee konnte an ſolchen Thatſachen nichts ändern. Nach der
[529]Preußens Gebietsforderungen.
Gefangennahme Friedrich Auguſts begrüßte Hardenberg triumphirend ſeinen
königlichen Herrn als König von Sachſen und Großherzog von Poſen.


Durch die Eroberung Sachſens war die naturgemäße Entſchädigung
für Preußen gefunden. Der preußiſche Staat erhielt durch dieſe Erwer-
bung das Mittel ſich mit Rußland über die polniſche Frage ganz zu
verſtändigen; er gewann eine wohlgeſicherte Südgrenze, die um ſo unent-
behrlicher ſchien, da ſein Gebiet gegen Oſten hin offen blieb, und eine
deutſche Provinz, die durch Stammesart und Bildung, durch das kirch-
liche Bekenntniß wie durch die Intereſſen des Verkehres mit den nordi-
ſchen Nachbarlanden eng verbunden war. Für das Gedeihen des künf-
tigen deutſchen Bundes war die Entfernung eines Fürſtenhauſes, das faſt
in allen Kriſen unſerer neueren Geſchichte ſchwer an dem großen Vater-
lande gefrevelt hatte, ein unzweifelhafter Segen. Da man leider nicht
alle Könige von Napoleons Gnaden nach Verdienſt behandeln konnte, ſo
blieb es doch nothwendig mindeſtens an einem Rheinbundsfürſten eine
wohlthätige Züchtigung zu vollſtrecken; wie heilſam ein ſolches Beiſpiel
auf die Gemüther des deutſchen hohen Adels wirken mußte, iſt durch die
Erfahrungen des Jahres 1866 überzeugend erwieſen. Aber alle die guten
Gründe, welche der preußiſch-deutſchen Politik die Einverleibung Sachſens
empfahlen, konnten dem Wiener Hofe nur als dringende Warnungen
erſcheinen.


Der Gegenſatz der Intereſſen der beiden Großmächte trat gerade in
der ſächſiſchen Frage mit ſo ſchneidender Schärfe hervor, daß nur Har-
denbergs Vertrauensſeligkeit ſich darüber zu täuſchen vermochte. Gneiſenaus
Scharfſinn war über die einfache Wahrheit keinen Augenblick zweifelhaft.
Die Hofburg mußte wünſchen die norddeutſche Großmacht möglichſt weit
in den Oſten zu ſchieben. Sie durfte nicht dem Staate, der ſchon durch
die vorſpringende Gebirgsfeſte der Grafſchaft Glatz das öſtliche Böhmen
bedrohte, auch noch die Päſſe des Erzgebirges ausliefern; ſie konnte noch
weniger ein katholiſches, dem kaiſerlichen Hofe nahe verwandtes Fürſten-
haus preisgeben, das von jeher ein brauchbares Werkzeug gegen Preußen
geweſen. Und wie ſollte ſie die Entthronung eines napoleoniſchen Sa-
trapen billigen, da ſie ſich ja aus den Mittelſtaaten eine ergebene öſter-
reichiſche Partei bilden wollte? Am 29. October ſchrieb Gentz ſchwer be-
ſorgt an Metternich: „die täglich mehr ans Licht tretenden länderſüchtigen
Projecte der Preußen werden uns dereinſt mehr zu ſchaffen machen als
die Hauptverhandlung mit Napoleon ſelbſt.“ Radetzky aber ſagte zu
Frankfurt in einer vertraulichen Denkſchrift: es ſei dringend zu wünſchen,
daß die Preußen, „wie ſie ſich jetzt zeigen,“ beim einſtigen Frieden mög-
lichſt wenig Truppen übrig behielten.


Noch ſchien es nicht an der Zeit, ſolche Geſinnungen offen auszu-
ſprechen. Zu laut erklang noch ſelbſt im ſächſiſchen Volke der allgemeine
Unwille wider die Sünden des albertiniſchen Hofes; ſogar der Welfe
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 34
[530]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Münſter meinte noch, man müſſe Friedrich Auguſt nicht achten ſondern
ächten. Wer den hinterhaltigen Biederſinn des öſterreichiſchen Monar-
chen durchſchaute, konnte freilich die Herzenswünſche der Lothringer
leicht errathen; Kaiſer Franz forderte nämlich, der gefangene König
ſolle nach Prag überſiedeln, ſeine Truppen dem öſterreichiſchen Heere
angeſchloſſen werden. Preußen und Rußland erwirkten jedoch, daß
Friedrich Auguſt nach Berlin abgeführt wurde und Sachſen vorläufig
einem ruſſiſchen Gouverneur untergeordnet wurde. Die Einſetzung einer
preußiſchen Verwaltung, welche den Uebergang zur Einverleibung ver-
mittelt hätte, blieb vorderhand unmöglich, da man ohne Oeſterreichs Zu-
ſtimmung nicht über die gemeinſame Eroberung verfügen durfte. Die
Mitglieder des ſächſiſchen Königshauſes hielten unter dem Schutze der
franzöſiſchen Waffen in dem belagerten Dresden aus; ſobald die Haupt-
ſtadt capitulirte, bot Kaiſer Franz ſeinen Verwandten Wohnſitze in Oeſter-
reich an. Prinz Anton, des Kaiſers Schwager, begann von Prag aus
eine emſige geheime Thätigkeit zur Rettung ſeines gefangenen Bruders;
die Umgebung Friedrich Auguſts ſetzte von vornherein ihre beſten Hoff-
nungen auf Oeſterreichs Gunſt.


Der Staatskanzler bemerkte nichts von Alledem. Er theilte, während
des Aufenthalts der Monarchen in Freiburg, dem öſterreichiſchen Miniſter
ſeine ſächſiſchen Pläne vertrauensvoll mit und nahm, da der verſchlagene
Oeſterreicher bei einem freundſchaftlichen Diner ihm einige ſüße Worte
erwiderte, leichten Sinnes als ſicher an, daß Metternich den preußiſchen
Abſichten zuſtimme.*) Dort im Breisgau wurde der alte Landesvater
Kaiſer Franz mit überſtrömender Freude empfangen. War doch dies Vor-
deröſterreich immer eine der beſtverwalteten Provinzen des Kaiſerhauſes
geweſen. Das Volk ſehnte ſich zurück nach dem ſchlaffen, bequemen Re-
gimente, der mächtige katholiſche Adel grollte der bürgerlich aufgeklärten
badiſchen Bureaukratie und konnte den Verluſt ſeiner alten landſtändi-
ſchen Verfaſſung nicht verſchmerzen. Der Kaiſer begegnete in der lieb-
lichen Dreiſamſtadt überall altöſterreichiſchen Erinnerungen: dort lag die
Dauphinenſtraße, die einſt den Brautzug Marie Antoinettens geſehen, da
das Denkmal am Martinsthore, das von den Kämpfen der Breisgauer
Freiwilligen in den neunziger Jahren erzählte, hier das ſchöne alte Kauf-
haus mit den Standbildern der Habsburger, das der Stadtrath zur Er-
innerung an den kaiſerlichen Beſuch wiederherzuſtellen beſchloß. Zahlreiche
Breisgauer meldeten ſich, den badiſchen Dienſt verſchmähend, zum Eintritt
in das öſterreichiſche Heer; wiederholt ward der Kaiſer in vertraulichen
Unterredungen beſchworen ſeine Kinder wieder an ſein Vaterherz zu
nehmen, ja bereits war der Stempel fertig für eine Denkmünze welche die
Wiedervereinigung verherrlichen ſollte. Kaiſer Franz zeigte ſich den Wün-
[531]Verhandlungen in Freiburg und Baſel.
ſchen ſeiner Getreuen keineswegs abgeneigt, aber Metternich blieb ſtand-
haft bei dem Syſteme ſeiner Arrondirungspolitik. Er wollte die rhein-
bündiſchen Höfe nicht reizen, und obwohl das Carlsruher Cabinet noch
zwei Jahre lang durch die öſterreichiſche Geſinnung lebhaft beunruhigt
wurde, ſo hat doch die Hofburg niemals während dieſer ganzen Zeit auch
nur verſucht mit Baden wegen des Rückfalls der vorderöſterreichiſchen
Lande zu verhandeln. Hardenberg ſah mit Kummer, daß Oeſterreich
ſelber für die ſüddeutſche Machtſtellung, welche er ihm zudachte, gar keine
Neigung offenbarte.


Nachdem die Schwankungen jener Frankfurter Tage überwunden
waren, ſtellte ſich raſch das natürliche Verhältniß der Parteien unter den
Verbündeten wieder her. Preußen und Rußland forderten eine entſchloſ-
ſene Kriegführung, Oeſterreich und England wichen der Entſcheidung
ängſtlich aus. Die Spannung im großen Hauptquartiere nahm bedenk-
lich zu. Ueberall ſtießen die beiden Parteien feindlich auf einander. In
der Schweiz verſuchte Metternich durch den Grafen Senfft der Berner
Ariſtokratie wieder ihre alte Vollgewalt ſowie die Herrſchaft über den
Aargau und das Waadtland zu verſchaffen. Czar Alexander dagegen
ſpielte den Gönner der liberalen Ideen, unterſtützte die Landsleute ſeines
waadtländiſchen Lehrers Laharpe und erreichte, mit Preußen vereint, daß
die Unabhängigkeit der neuen Cantone anerkannt und alſo doch etwas
von den berechtigten Neubildungen der jüngſten Jahre in das Zeitalter
der Reſtauration hinübergerettet wurde.


Der langſame Marſch gewährte den preußiſchen Staatsmännern
genügende Muße um über die Friedensbedingungen zu berathſchlagen. Zu
Freiburg ſtellte Kneſebeck in einer Denkſchrift die Forderungen zuſammen,
die ihm, Angeſichts der Stimmungen der Hofburg, noch erreichbar ſchienen.
Während im ſchleſiſchen Hauptquartiere bereits das Verlangen nach der
Rückerwerbung der deutſchen Thermopylen, der Vogeſen erhoben wurde,
hielten ſich die öſterreichiſchen Diplomaten ſtreng an das Manifeſt vom
1. December, das ihnen ſchon allzu kühn vorkam. Kneſebeck meinte alſo:
„da man einmal hingeſprochen hat, daß Frankreich größer als unter den
Königen ſein, der Rhein einen Theil ſeiner Grenze ausmachen ſoll, ſo
bleibe der Rhein Grenze von Baſel bis Landau.“*) Nur Straßburg
hoffte er als eine freie Stadt für Deutſchland zurückzugewinnen. Für
Preußen forderte er: Sachſen, Weſtphalen, Berg, das linke Rheinufer
und vor Allem das geſammte polniſche Land bis zum Narew. Die fixen
Ideen der Ruſſenfurcht ließen den pedantiſchen Mann nicht ſchlafen.


Hardenberg aber wollte ſich zunächſt über Rußlands Abſichten Klar-
heit verſchaffen. Daher bat er in Freiburg und nachher in Baſel, wie es
ſein König ſchon oft gethan, den Czaren dringend um die bündige Er-
34*
[532]I. 5. Ende der Kriegszeit.
klärung, wie viel polniſches Land Rußland für ſich verlange. Erſt als
Alexander abermals jede beſtimmte Antwort vor dem Friedensſchluſſe ver-
weigerte, ging Preußen auf eigene Fauſt vor. Der Staatskanzler ent-
warf eine genaue Berechnung der für Preußen nothwendigen Enſchädi-
gungen und übergab dieſe Denkſchrift, während des Aufenthalts zu
Baſel im Januar 1814, dem öſterreichiſchen Hofe. Sie forderte ganz
Sachſen, Vorpommern, die Rheinlande von Mainz bis zur niederländi-
ſchen Grenze, ſowie Polen bis zur Wartha; die Einwohnerzahl der Mo-
narchie war auf 10—11 Millionen berechnet. Als einzige Antwort er-
hielt Hardenberg ein franzöſiſches Billet des Grafen Stadion.*) Im
Tone vertraulicher Freundſchaft, mit der wohlbekannten k. k. Gemüthlich-
keit bemerkt der Oeſterreicher, die preußiſchen Zahlen ſeien doch gar zu
hoch, über zehn Millionen dürfe man nicht hinausgehen. Dann wagt er
eine ſchüchterne „Bemerkung zu Gunſten des unglücklichen ſächſiſchen Kur-
hauſes, deſſen gänzliche Vertreibung aus Deutſchland mir allzuſehr das
Gefühl der politiſchen Moral zu verletzen ſcheint“. Er deutet an, Preu-
ßen könne ſich wohl mit der Lauſitz und dem rechten Elbufer begnügen
und ſchließt harmlos: „Ew. Excellenz werden mir dieſe Betrachtungen
eines Biedermannes verzeihen; ich erlaube mir dergleichen zuweilen in
der Politik.“ Hardenberg antwortete ſogleich:**) „Von Allem was Sach-
ſen widerfahren könnte wäre die Theilung des Landes ohne Zweifel das
Schlimmſte.“ Er hielt ſeine Forderungen entſchieden aufrecht, verwies
zum Schluß auf die ſoeben eingetroffene Meldung von der Erſtürmung
Wittenbergs und auf alle die anderen Rechtstitel, welche ſich Preußen
durch ſeine kriegeriſchen Leiſtungen erworben habe. Damit hatte der
Schriftwechſel ein Ende; Metternich weigerte ſich, vor dem Frieden irgend
welche Zuſage zu geben.


Bei einiger Wachſamkeit konnte der Staatskanzler ſich über die Be-
weggründe der Stadion’ſchen „Biedermanns-Bemerkungen“ nicht täuſchen.
Eben in jenen Tagen erhielt er die ſichere Nachricht, daß derſelbe Mann,
der das Vertrauen des Kaiſers Franz beſaß und die Operationspläne
des großen Hauptquartiers entwarf, der Sachſe Langenau, mit den ſäch-
ſiſchen Royaliſten insgeheim in Verbindung ſtand. Metternich, wegen
dieſer Umtriebe zur Rede geſtellt, gab ſogleich eine beſchwichtigende Zuſage.
Trotz aller ſolcher Anzeichen wollte Hardenberg ſeinen Glauben an Oeſter-
reichs treue Freundſchaft nicht aufgeben.


Auch eine andere theuere Hoffnung des Vertrauensvollen erwies ſich als
ſehr unſicher. Bernadotte hatte ſeinen däniſchen Krieg beendigt und im Kieler
Frieden den Beſiegten die Abtretung von Norwegen abgezwungen (14. Ja-
nuar 1814); zur Entſchädigung wurde daſſelbe Schwediſch-Pommern, das
[533]Blücher über den Rhein.
der Kronprinz im letzten Sommer dem preußiſchen Staatskanzler zuge-
ſagt hatte, an Dänemark abgetreten. Hardenberg erging ſich in bitteren
Anklagen gegen die Treuloſigkeit des Bearners und nahm ſich feſt vor,
dieſen Streich unter keinen Umſtänden zu ertragen. Zu ſeiner Genug-
thuung erhielt er bald darauf eine Zuſchrift von dem erſten Grundherrn
Schwediſch-Pommerns, dem Fürſten Putbus, der ſich im Namen ſeiner
Landsleute feierlich gegen die Abtretung an Dänemark verwahrte*). Jedoch
das Alles lag noch in weitem Felde. Als der Krieg von Neuem anhob,
war Preußen wohl des Sieges ſicher, doch nicht des Siegespreiſes.


In der Neujahrsnacht von 1814 ſaßen zu Caub am Rhein die
Offiziere des ſchleſiſchen Hauptquartiers beim vollen Römer und gedachten
in froh bewegtem Geſpräche des großen Wandels der Zeiten. Vor einem
Jahre gerade hatte York noch jenſeits der deutſchen Oſtgrenze jenen Ver-
trag geſchloſſen, der den Preußen den Anbruch des Entſcheidungskampfes
ankündigte; heute ſtand Blücher mit Yorks ſiegreichen Truppen vor den
Thoren der deutſchen Weſtmark, an der nämlichen Stelle, wo er vor
zwanzig Jahren den erſten Krieg um die Befreiung der linksrheiniſchen
Lande eröffnet hatte. Mittlerweile ſchlugen die Ruſſen draußen bei ſchar-
fem Froſt eine Schiffbrücke hinüber nach der kleinen Inſel, die das graue
Gemäuer der alten Pfalz trägt; dort beſtieg Graf Brandenburg mit den
brandenburgiſchen Füſilieren in tiefer Stille die Kähne, und um Mitter-
nacht erklang am linken Ufer der donnernde Hurrahruf der Landenden.
Die Glücklichen hatten das anbefohlene Schweigen doch nicht bewahren
können; der Jubel mußte heraus, zu herrlich war die Stunde, die der
Sehnſucht ſo vieler arger Jahre die Erfüllung brachte. Am nächſten
Tage feierte drüben die fröhliche Pfalz ihr luſtiges Neujahrsfeſt: Muſik
und Geſang und Freudenrufe überall, wo die Preußen einzogen; die
treuen Proteſtanten auf dem Hunsrücken waren allezeit gut deutſch ge-
blieben und begrüßten ihre Befreier mit wärmerem Danke als ihre Nach-
barn in den Krummſtabslanden. Gleichzeitig zog General St. Prieſt mit
ſeinen Ruſſen in Coblenz ein, und als er neben der Caſtorkirche den
neuen Brunnen ſah mit der prahleriſchen Inſchrift zu Ehren der Ein-
nahme von Moskau, ließ er vorgnüglich ſein „Geſehen und genehmigt“
darunter ſchreiben.


Ohne ernſten Widerſtand zu finden marſchirte das ſchleſiſche Heer
durch Lothringen. Die mit Rekruten ſchwach bemannten Feſtungen konnten,
wie Gneiſenau vorausgeſagt, den Verbündeten nicht gefährlich werden;
und bald zog das große Publikum aus den außerordentlichen Erfahrungen
[534]I. 5. Ende der Kriegszeit.
dieſes Feldzuges den übereilten Schluß, die Zeit der Feſtungen ſei vor-
über. In Nancy feierte Blücher zu ſeiner lebhaften Genugthuung das
preußiſche Krönungsfeſt, in derſelben Stadt, die zwei Jahre lang ſeine
unglücklichen kriegsgefangenen Kameraden beherbergt hatte. Dann wen-
dete er ſich in kühner Schwenkung ſüdweſtwärts, überſchritt die Marne
und langte in den letzten Tagen des Januar bei Brienne an der Aube
an. So ſchob er ſein Heer mitten hinein zwiſchen den von Chalons
heranrückenden Imperator und die Große Armee, die nach einem Marſche
von mehr als einem Monat endlich das Plateau von Langres erreicht
hatte. Der alte Held hoffte den zaudernden Schwarzenberg mit ſich zum
gewiſſen Siege fortzureißen.


Im großen Hauptquartier herrſchte wieder Zwietracht und Rath-
loſigkeit. Die wunderſame Hochebene, von deren Beſitznahme Langenau
die Entſcheidung des Krieges erwartet hatte, war glücklich erreicht, die
Feſtung Langres ſelber hatte faſt ohne Widerſtand ihre Thore geöffnet
und doch war mit Alledem gar nichts gewonnen. Die Thorheit dieſer
gegen Berge und Flüſſe gerichteten Kriegführung drängte ſich jedem un-
befangenen Kopfe auf. Nur um ſo zäher hielten die gelehrten Strategen
an ihren Principien feſt. Kneſebeck erklärte die Waſſerſcheide von Langres
für den Rubicon, der nicht überſchritten werden dürfe. General Duca
empfahl, durch die Belagerung von Mainz einen methodiſchen Feſtungs-
krieg zu eröffnen. Schwarzenberg bemerkte verächtlich, mit welcher kin-
diſchen Wuth Blücher und Gneiſenau, alle Regeln der Kriegskunſt ver-
achtend, nach Paris drängten; er fand dieſe preußiſchen Köpfe „zu klein
für ein ſo großes Ereigniß“: ſie verfolgten ja doch nur den Zweck ſichs
wohl ſein zu laſſen in den Reſtaurants des Palais Royal! Ueber
Alexanders Kriegseifer urtheilte er, ganz im Sinne ſeines Hofes: „nicht
Gründe, ſondern Lüſternheit leiten Alexanders Schritte;“ denn jeder neue
Sieg konnte nur noch die Machterweiterung Rußlands und die Wiederher-
ſtellung Preußens ſichern. Die zärtlichen Briefe, womit Marie Luiſe
das Herz ihres Vaters beſtürmte, richteten freilich bei der Gemüthloſigkeit
des Kaiſers Franz nichts aus; jedoch ſah er mit ſteigendem Unmuthe, daß
er die Kräfte ſeines Staates und ſeine eigene Bequemlichkeit für fremde
Zwecke opfern ſollte. Die Wiederherſtellung der getreuen geiſtlichen Kur-
fürſten war doch unmöglich; wie durfte man ihm zumuthen, das linke
Rheinufer für Preußen zu erobern? Er verlangte Frieden, ſchleunigen
Abſchluß mit Anerkennung jener „natürlichen Grenzen“, welche Metternich
ja ſchon in Frankfurt zugeſtanden hatte. Seine Unluſt an dem Kriege
ſteigerte ſich bis zum Abſcheu, ſeit er errieth, daß Alexander auf Napoleons
Abſetzung hinarbeitete. Denn der Sturz des Schwiegerſohnes war nicht nur
an ſich gegen das Intereſſe des Hauſes Oeſterreich; es ſtand auch zu be-
fürchten, daß der Czar auf die neue Regierung Frankreichs — wer immer die
Erbſchaft des Entthronten antrat — einen entſcheidenden Einfluß gewänne.


[535]Das Hauptquartier in Langres.

Die öſterreichiſchen Staatsmänner hatten ſich in die Schande jener
Jahre ſo gemächlich eingelebt, daß ihnen der Todfeind des alten
Europas bereits als die Stütze der öffentlichen Ordnung, ſeine Beſei-
tigung als eine gefährliche revolutionäre Gewaltthat erſchien. Derſelbe
Gentz, der vor neun Jahren vor der Anerkennung des napoleoniſchen
Kaiſerthums gewarnt hatte, ſchrieb nun in ſchlotternder Angſt: geſtatte
man den Franzoſen die Berufung eines anderen Herrſchers, ſo werde
„der Grundſatz anerkannt, den man in unſeren Zeiten ohne Zittern
kaum ausſprechen kann, daß es von der Nation abhänge, ob ſie den
wirklich regierenden Souverän toleriren will oder nicht. Dies Princip
der Volksſouveränität iſt ganz eigentlich der Angel, um welchen alle re-
volutionären Syſteme ſich drehen.“ Der Leidenſchaftliche fand jetzt kaum
Worte genug, um ſeine Verehrung für die ſtabile Friedenspolitik des
Hauſes Oeſterreich, ſeinen Renegatenhaß gegen das unruhige Preußen,
ſeine Angſt vor Rußland auszuſprechen. Als die „Exaltirten“ des ſchle-
ſiſchen Hauptquartiers nachher den Zug gegen Paris durchſetzten, meinte
er ingrimmig: dieſer Marſch ſei „im Grunde wohl nicht weniger gegen
uns als gegen den Kaiſer Napoleon gerichtet“. Nur eine Hoffnung blieb
ſeinem bekümmerten Herzen bei dem Vorwärtsſtürmen der ſchleſiſchen
Jacobiner: — daß der Imperator baldigſt Frieden ſchlöſſe. „Jeden an-
deren Ausweg wird die mächtige Partei, die uns halb ſchon zum Weichen
gebracht hat, nicht blos als einen Sieg über Napoleon, ſondern als einen
Sieg über uns feiern. Daß die Coalition, die nun ausgedient und mehr
als ausgedient hat, zerfalle, macht mir wenig Kummer. Aber wie ſie
endigen wird, kann uns nicht gleichgiltig ſein.“


Einer ſolchen Geſinnung mußte freilich die franzöſiſche Hauptſtadt,
die ſo dicht vor den Füßen des Eroberers lag, ganz uneinnehmbar
erſcheinen. Metternichs Gewandtheit brachte bald faſt die ſämmtlichen
Diplomaten des Hauptquartiers auf ſeine Seite. Alle engliſchen Staats-
männer, Caſtlereagh, Stewart, Cathcart, Aberdeen bewunderten die weiſe
Mäßigung des öſterreichiſchen Staatsmannes, wenn er, der bald nachher
das Banner des Interventionsprincips erheben ſollte, jetzt dem Czaren
beweglich vorhielt: die Ehrfurcht, die man allen rein nationalen Ange-
legenheiten ſchulde, verbiete die Entthronung Napoleons. Aberdeen fand
es gradezu unwürdig hinauszugehen über die Frankfurter Bedingungen,
welche Napoleon doch ſelbſt verworfen hatte. Mehr und mehr befeſtigte
ſich das engliſche Cabinet in dem Glauben, die Demüthigung Rußlands ſei
die nächſte Aufgabe der britiſchen Politik. Metternich aber verſtand, den
Verzicht auf Belgien, der in der Hofburg von Haus aus beſchloſſene
Sache war, geſchickt ſo darzuſtellen, als ob Oeſterreich dem theueren eng-
liſchen Freunde ein ſchweres Opfer brächte, und gewann ſich dadurch
das volle Vertrauen der Briten. Wie hätten ſolche Köpfe vollends die
Biedermannsmaske des guten Kaiſers Franz durchſchauen ſollen? Ganz
[536]I. 5. Ende der Kriegszeit.
hingeriſſen ſchrieb Caſtlereagh über dieſen reinen Charakter, der über aller
Verſtellung hoch erhaben ſei. Auch Neſſelrode neigte ſich der Friedens-
partei zu; Hardenberg klagte über Steins Intrigen und gab ſich der
beſtrickenden Liebenswürdigkeit des öſterreichiſchen Staatsmannes mit einem
argloſen Vertrauen hin, das auch durch die härteſten Enttäuſchungen
nicht belehrt wurde. Die Coalition war nahe daran, bevor noch eine
Schlacht auf franzöſiſchem Boden gewagt worden, den Frieden auf die
Frankfurter Bedingungen hin abzuſchließen. Und dies unter den denkbar
günſtigſten militäriſchen Ausſichten, während man nur acht Märſche von
Paris entfernt ſtand!


Das Heer Schwarzenbergs zählte 190,000, das Blüchers 84,000 Mann
— eine erdrückende Uebermacht, obgleich die Heerhaufen von Genf bis
zur Moſel verzettelt waren. Napoleon war zwar nicht mehr, wie er im
November ſelbſt geſtanden, zu jedem kriegeriſchen Unternehmen unfähig,
ſondern hatte, Dank dem Zaudern der Alliirten, eine neue Feldarmee
gebildet, aber nur 70,000 Mann, meiſtentheils ungeſchulte muthloſe
Rekruten, während die Truppen der Verbündeten aus krieggewohnten,
ſiegesfrohen Soldaten beſtanden. Der Schimpf eines Friedensſchluſſes
in ſolcher Lage wurde durch die Monarchen von Rußland und Preußen,
mit Steins Hilfe, abgewendet. Alexander drohte den Feldzug nöthigen-
falls allein fortzuführen, und da der König erklärte, daß er ſich von
ſeinem Freunde nicht trennen werde, ſo gab Oeſterreich zur Hälfte nach
und man einigte ſich über ein Compromiß: der Krieg ſollte fortgeſetzt,
aber gleichzeitig eine große Friedensverhandlung in Chatillon eröffnet
werden. Von der Abſetzung Napoleons, überhaupt von Frankreichs in-
neren Verhältniſſen ſah man vorläufig ab. Auch über die Entſchädigungs-
anſprüche der einzelnen Mächte ſollte erſt nach dem Kriege verhandelt
werden; dies verlangte Alexander nicht blos weil er ſeine polniſchen
Pläne nicht aufdecken wollte, ſondern auch weil die Coalition in der That
ſchon auf zu ſchwachen Füßen ſtand als daß ſie die Erörterung ſo pein-
licher Fragen jetzt noch hätte ertragen können.


Widerwillig nahm Metternich dieſe Beſchlüſſe an, widerwillig führte
Schwarzenberg ſie aus. Blücher hatte am 28. Januar bei Brienne mit
geringem Glücke ein Gefecht gegen Napoleon beſtanden; er brannte vor Be-
gier, hier im Angeſichte des Schloſſes, wo der große Kriegsfürſt des Jahr-
hunderts einſt auf der Schule geweſen, ſein Examen abzulegen: „die Fran-
zoſen ſollen doch ſehen, daß wir Deutſchen in der Kriegskunſt auch etwas
gelernt haben!“ Auf die dringenden Vorſtellungen der preußiſchen Ge-
nerale geſtattete der Oberfeldherr endlich, daß Blücher am 1. Februar,
verſtärkt durch zwei Corps der großen Armee, von den Höhen von Trannes
hinabſtieg und den Imperator in ſeiner weit ausgedehnten Aufſtellung
bei La Rothière angriff. Schwarzenberg ſelbſt ſah mit zwei Dritteln der
vereinigten Armeen der Schlacht unthätig zu. Aber ſchon jenes eine
[537]Schlacht von La Rothière.
Drittel war den 40,000 Mann, welche Napoleon zur Stelle hatte, weit-
aus überlegen. Im Centrum drang Sacken mit ſeinen Ruſſen bei wildem
Schneegeſtöber gegen La Rothière vor und behauptete ſich dort wider die
kaiſerliche Garde. Dann ward auch der rechte Flügel der Franzoſen durch
Wrede und den Kronprinzen von Württemberg geſchlagen, und obwohl
der Unglücksmann Giulai wieder, wie einſt bei Leipzig, gegen die Linke
des Feindes wenig ausgerichtet hatte, ſo war doch am Abend ein voll-
ſtändiger Sieg erfochten. Ein großer Theil des franzöſiſchen Heeres floh
in wüſter Verwirrung; wurde der Sieg von der Uebermacht der Ver-
bündeten recht benutzt, ſo konnten die Geſchlagenen der Vernichtung nicht
entgehen. Sacken ſchrieb triumphirend: „An dieſem denkwürdigen Tage
hört Napoleon auf ein gefährlicher Feind der menſchlichen Geſellſchaft zu
ſein.“ Zum erſten male hatte der Marſchall Vorwärts in offener Feld-
ſchlacht ſelbſtändig dem Imperator gegenüber geſtanden, zum erſten male
ſeit Jahrhunderten war das ſtolze Frankreich auf ſeinem eigenen Boden
in einer ernſten Schlacht beſiegt. Gewaltig war der Eindruck bei Freund
und Feind. Napoleon ſelber gab für jetzt das Spiel verloren und bevoll-
mächtigte ſeinen Unterhändler in Chatillon, Caulaincourt, um jeden Preis
die Hauptſtadt zu retten und den Frieden abzuſchließen; freilich ſah er in
einem ſolchen Vertrage, wie er ſeinem Bruder Joſeph ſchrieb, nur eine
Capitulation und nahm ſich vor nach zwei Jahren den Krieg von Neuem
zu beginnen.


Da bereitete die öſterreichiſche Politik dem Imperator nochmals die
Rettung. Statt mit vereinten Kräften die Geſchlagenen nachdrücklich zu
verfolgen, theilte Schwarzenberg ſein Heer — angeblich, weil er die ge-
waltigen Maſſen nicht zu verpflegen vermochte, in Wahrheit weil die
Oeſterreicher ſich der ſchleſiſchen Stürmer und Dränger entledigen wollten.
Während die große Armee an der Seine entlang marſchirte um den Hauptſtoß
gegen den Feind zu führen, ſollte Blücher ſich nordweſtwärts an die Marne
wenden und von da die linke Flanke Napoleons umgehen. Wohlgemuth
zog der Alte ſeines Wegs über die kahle baumloſe Hochfläche der Cham-
pagne, die im Norden von den rebenreichen weißen Kreidefelſen des Marne-
thals, im Süden von den lieblichen Hügeln der Seine begrenzt wird.
Der Wind pfiff ſchneidend über das offene Land, der Regen ſtrömte her-
nieder; mühſelig wateten die Truppen durch jene berüchtigten Schlamm-
wege der Champagne pouilleuse, die bei den älteren Offizieren noch
vom Jahre 1792 in üblem Andenken ſtanden. Nachher trat hartes Froſt-
wetter ein und zwang die Soldaten, die von den Bauern verlaſſenen
Häuſer und Scheunen anzuzünden, wenn ſie ſich nur irgend wärmen
wollten in dem holzarmen Lande. Ein Unſtern hatte die Armee grade
in den häßlichſten Theil des ſchönen Frankreichs verſchlagen; die Preußen
meinten, neben dieſen öden Flächen erſchiene die grüne Ebene der Mark
wie ein Garten, ſie ſpotteten über die höhlenartigen, unwohnlichen Häuſer
[538]I. 5. Ende der Kriegszeit.
mit den gepflaſterten Stuben und den rauchenden Kaminen. Doch ihr
Sinn blieb fröhlich; ſie wußten, daß der ſieggewohnte Alte ſie gradeswegs
nach der Hauptſtadt führte, zum glücklichen Ende aller Leiden und Kämpfe.


Ein unbändiges Selbſtgefühl lebte in den tapferen Regimentern des
York’ſchen Corps; war doch den Litthauer Dragonern in dieſem ganzen
Kriege noch keine einzige Attake fehlgeſchlagen. Wer ſollte den Heurichs des
alten Iſegrimm etwas anhaben? An dieſem Scherznamen, den die Wäl-
ſchen nicht nachſprechen konnten, erkannten die York’ſchen einander im Dun-
kel der Nacht. Soeben erſt war York mit ſeinen Reitern bei La Chauſſee
in die Marſchkolonnen des Macdonald’ſchen Corps eingebrochen, und die
Soldaten erzählten ſich noch lange, wie die Eiſenreiter der napoleoniſchen
Küraſſier- und Carabiniersregimenter dem Angriffe der leichten branden-
burgiſchen Huſaren nicht hatten widerſtehen können, wie dann die Litthauer
und die Landwehrreiter den gefürchteten Weißmänteln, den polniſchen Lan-
ciers, der beſten Reitertruppe Napoleons, die Standarte abgenommen
hatten. Darauf hatte York ſeinen alten Vorgeſetzten Macdonald, den
ein tückiſches Schickſal immer wieder dem verhaßten Untergebenen in die
Hände jagte, zum Abzuge aus Chalons gezwungen und ſich wieder mit
dem ſchleſiſchen Heere vereinigt.


Die einzelnen Corps der Armee zogen weit von einander getrennt
weſtwärts. Gneiſenau hatte nichts gethan um die linke Flanke zu ſichern;
war doch mit Schwarzenberg verabredet, daß Wittgenſteins Corps die
Verbindung zwiſchen den beiden Armeen unterhalten, den weiten Raum
zwiſchen dem rechten Seineufer und der Marſchlinie der Schleſier decken
ſollte. Der Oberfeldherr aber hielt ſein Verſprechen nicht, ſondern wendete
ſich nach langſamen Märſchen und wiederholter Raſt ſüdwärts auf das
linke Seineufer, ſo daß zwiſchen ſeinem und Blüchers Heere eine weite
Lücke offen blieb. Ein geheimer Befehl ſeines Monarchen zwang ihn zu
dieſer verderblichen Bewegung, die dem Erfolge nach einem Verrathe gleich
kam; der gute Kaiſer, deſſen kindliche Unſchuld die britiſchen Staatsmänner
bewunderten, wollte verhindern, daß ein Sieg der vereinigten Armeen die
ſchwebenden Friedensverhandlungen ſtöre.


Wie durch ein Wunder ſah ſich Napoleon von dem ſicheren Untergange
gerettet. Er zog alle ſeine Streitkräfte ſogleich nach Sezanne heran, in der
Mitte zwiſchen den beiden Heeren der Verbündeten, brach dann plötzlich gegen
die linke Flanke der überraſchten ſchleſiſchen Armee vor und ſchlug ihre ver-
einzelten Corps mit ſeiner geſammelten Uebermacht in einer Reihe glänzen-
der Gefechte während der fünf Tage vom 10. bis 14. Februar. Zuerſt zer-
ſprengte er Olſuwieffs ſchwache Diviſion bei Champaubert und drängte ſich
alſo mitten in die Kolonnen des ſchleſiſchen Heeres hinein. Folgenden Tags
entging Sackens Corps bei Montmirail dem Untergange nur durch Yorks
heroiſche Aufopferung; die verwegenen Litthauer lernten hier zum erſten
male den Unbeſtand des Kriegsglücks kennen. Am 12. zogen ſich die Tags
[539]Unfälle des ſchleſiſchen Heeres.
zuvor geſchlagenen Generale bei Chateau-Thierry nach hitzigem Gefechte auf
das rechte Ufer der Marne zurück. Am 13. hielt Napoleon ſeinen triumphi-
renden Einzug in die eroberte Stadt um ſchon am 14. bei Etoges und Vau-
champs dem letzten noch unberührten Corps der ſchleſiſchen Armee, das der
Feldmarſchall ſelber, noch ohne nähere Kenntniß von den Unfällen der
letzten Tage, heranführte, einen unerwarteten blutigen Empfang zu bereiten.
Auch diesmal war das Glück den Franzoſen günſtig. Während des Ge-
fechtes kam ein furchtbarer Augenblick, der leicht dem ganzen Kriege ein
ſchmähliches Ende bereiten konnte. Blücher, Gneiſenau, Prinz Auguſt,
Kleiſt, Grolmann, faſt alle die beſten Männer des deutſchen Heeres hielten
eingepreßt in einem Viereck preußiſchen Fußvolks, von überlegenen feind-
lichen Reiterſchaaren rings umſchwärmt. Blücher ſelbſt ſuchte den Tod,
lebendig ſollte ihn der Feind nicht fangen. Grolmann aber ſprach mit
mächtiger Stimme zu den Truppen, die ſichere Ruhe der majeſtätiſchen
Heldengeſtalt flößte den Verzweifelnden neuen Muth ein, mit dem Bajo-
nette griffen ſie die Reiter an und bahnten den Generalen den Weg bis
zu dem nahen ſchützenden Walde. Unerſchütterlich wie nur je in den
Zeiten des Glücks hatten die Regimenter während dieſer Tage der Prü-
fung Stand gehalten. Selbſt jener ſtumme hagere Engländer, der immer
mit demſelben langweiligen, ſteifen Geſichte, mit dem Stocke die Luft
durchfuchtelnd, neben Gneiſenau einherzutraben pflegte, ſelbſt Hudſon
Lowe fand kaum Worte genug um den Löwenmuth dieſer abgeriſſenen,
halbverhungerten Helden zu preiſen. Aber wie ruhmvoll immer — das
beſte Heer der Verbündeten war geſchlagen, hatte 15,000 Mann und an
fünfzig Kanonen verloren, nicht ohne die Schuld ſeiner Führer, die doch
die Zuverläſſigkeit der öſterreichiſchen Bundesgenoſſen kennen mußten.


Noch einmal erhob ſich ſtrahlend das Geſtirn des Kaiſerreichs. Napo-
leon hatte mit ſeinen 30,000 Mann einen faſt zweifach ſo ſtarken Feind
angegriffen und war doch überall auf dem Schlachtfelde mit Uebermacht
erſchienen. Wieder wie in den Auſterlitzer Zeiten wurden lange Züge
von Gefangenen unter den Klängen der Feldmuſik, den Pariſern zur
Augenweide, an der Vendomeſäule vorübergeführt. Wieder wie damals
jubelten die Truppen, wenn die prächtigen ſtahlblauen Ordonnanzoffiziere
des Kaiſers auf den reichgeſchirrten Roſſen mit den Tigerſchabracken heran-
ſprengten um einen Befehl des Unüberwindlichen zu überbringen. Selbſt
die ſchwächſte Waffe der Franzoſen, die Reiterei, konnte wieder von Siegen
erzählen, da Schwarzenberg von ſeinen gewaltigen Reitermaſſen der ſchleſi-
ſchen Armee nichts abgetreten hatte. Was Wunder, daß das Selbſtver-
trauen im Heere wie im Volke mächtig anwuchs. Die ermüdeten Maſſen
hatten anfangs mit ſcheuem Staunen zugeſchaut, wie die langen Züge
hochgewachſener blonder Männer ins Land hereinſtrömten, da und dort
ſogar ihre Freude kundgegeben, wenn die Eroberer die drückenden Steuern
des Kaiſerreichs beſeitigten. Indeß der ehrenhafte patriotiſche Stolz der
[540]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Franzoſen zeigte ſich ſtärker als der Parteihaß. Nirgends fanden die
Fremden zuverläſſige Wegweiſer und Spione, überall mußten die Reiter
fürchten, daß der Hufſchmied ihnen die Roſſe vernagelte; die Frauen be-
wahrten durchweg eine würdige Zurückhaltung, zeigten gar nichts von der
gutmüthigen Schwäche der Deutſchen. Als der Krieg ſich in die Länge
zog, ſchwoll den Bauern der Kamm; nach den erſten Siegesnachrichten
folgten ſie dem Rufe ihres Kaiſers, der alle erwachſenen Franzoſen zum
Kampfe aufbot, und ſchaarten ſich zuſammen gegen den étranger. Aller-
dings beſchränkte ſich dieſer kleine Krieg auf die unmittelbare Nachbarſchaft
der verödeten Dörfer. Napoleon ſelber wußte wohl, daß ſein centraliſirter
Beamtenſtaat für einen Volksaufſtand großen Stiles keinen Raum bot;
eine levée en masse, ſagte er oft, iſt eine Chimäre in dieſem Lande,
wo Adel und Geiſtlichkeit durch die Revolution und die Revolution durch
mich zerſtört worden iſt. Immerhin ward der Kampf mit dem auf-
ſäſſigen Landvolke den Eroberern ſehr beſchwerlich; beide Theile verwil-
derten in der ruheloſen Fehde.


In dem Charakter der Franzoſen zeigte ſich ſeit jenen Tagen ein
Zug rauhen Fremdenhaſſes, den ſie in den Jahrhunderten ihrer über-
müthigen Selbſtgewißheit nie gekannt hatten, und dieſer Haß traf am
ſchärfſten die Preußen. Napoleon pflegte in ſeinen Briefen von Preußen
gar nicht mehr zu ſprechen; ſein Stolz ſträubte ſich gegen das Einge-
ſtändniß, daß Frankreich ſeine ſchwerſten Schläge durch das Schwert dieſes
mißachteten kleinen Staates erlitten hatte. Und doch wußte er ſo gut
wie ſein Volk, wer ſein furchtbarſter Gegner war. Dem Pariſer Witze
waren die Prussiens: les plus chiens, noch gräulicher als les Rustres
und les autres chiens. Die Siege der Ruſſen, der Briten, der Oeſter-
reicher nahm man hin als Unglücksfälle, die der Preußen erſchienen wie
ein Unrecht, eine unverſchämte Ueberhebung. Es konnte nicht fehlen, daß
ſolche Geſinnungen auf die Stimmung des preußiſchen Heeres zurück-
wirkten. Jene Gutmüthigkeit, die der deutſche Soldat im vergangenen
Jahre trotz ſeiner Erbitterung bewahrt hatte, verlor ſich mehr und mehr.
Die durch Schwarzenbergs Schlaffheit verſchuldete Verlängerung des Krieges
erſchütterte den ſittlichen Ernſt der Truppen; namentlich die Landwehr
war oft ſchwer in Zucht zu halten. Das Plündern wurde faſt zur Noth-
wendigkeit, da die Dörfer alleſammt leer ſtanden und die räuberiſchen
Ruſſen den preußiſchen Kameraden wenig übrig ließen. In tiefſter Seele
empört hielt York einmal ſeinen Tapferen ihre Zügelloſigkeit vor und
zeigte ihnen das Suum cuique auf ſeinem Ordensſterne. Napoleon ließ
im Volke ungeheuerliche Märchen von den Greueln der kinderfreſſenden
Fremdlinge verbreiten; er betrachtete die zunehmende Verwilderung des
Krieges mit cyniſchem Behagen: um ſo beſſer, rief er aus, dann greift
der Bauer zur Flinte! Das Aergſte freilich, was preußiſche Soldaten
während dieſer letzten wilden Wochen des Krieges verübten, reichte nicht
[541]Blüchers Marſch an die Seine.
von fern an die Unthaten der Franzoſen in Deutſchland heran; und
während die napoleoniſchen Marſchälle ihrer Mannſchaft mit ſchmählichem
Beiſpiele vorangingen, thaten die preußiſchen Offiziere und Freiwilligen
das Menſchenmögliche um die Roheit der Maſſe zu bändigen. Kein ein-
ziger deutſcher General, der nicht mit reinen Händen aus dem reichen
Frankreich zurückkehrte.


Genug, bei der erſten Gunſt des Kriegsglücks flammte der alte Na-
tionalhaß wieder auf und die Friedenswünſche verflogen. Mit vollem
Rechte fühlte Napoleon ſich ſeines Thrones ſicher. Von innen heraus
drohte ihm keine Gefahr. Der Name der Bourbonen war überall ver-
ſchollen, bis auf einige royaliſtiſche Gegenden des Südens und Weſtens;
was über die Tage des Baſtillenſturmes hinauslag lebte nicht mehr im
Gedächtniß dieſes durch und durch modernen Volkes. Kam ja einmal die
Rede auf das alte Königshaus, ſo dachte der Bauer grollend an den
Druck der Zehnten und Frohnden. Bernadotte galt allgemein als ein
elender Landesverräther, und wer ſonſt ſollte noch die Erbſchaft des Im-
perators antreten? Wenn Napoleon die geſchlagene ſchleſiſche Armee un-
aufhaltſam verfolgte, ſo ſtand außer Zweifel, daß die große Armee den
Rückzug zum Rheine antrat, und dann war ein glorreicher Friedensſchluß
dem Kaiſerreiche ſicher. Aber wie Schwarzenberg aus Furchtſamkeit die
Früchte des Sieges von La Rothiere zu pflücken verſäumt hatte, ſo unter-
ließ jetzt Napoleon aus Uebermuth die Ausbeutung ſeiner Erfolge. Die
ſchleſiſche Armee beſteht nicht mehr — rief er frohlockend; er meinte wieder
näher an München als an Paris zu ſein und vermaß ſich bald nochmals
die Weichſel zu erreichen. Von der ſittlichen Widerſtandskraft, die in
Blüchers Hauptquartiere lebte, ahnte er noch immer nichts. Statt dieſe
gefährlichſten Feinde bis zur Vernichtung zu bedrängen, warf er ſein
Heer plötzlich ſüdwärts an die Seine, ſchlug einige vereinzelte Corps der
großen Armee, zwang den Kronprinzen von Württemberg die ſteilen Ab-
hänge des Seinethals bei Montereau zu verlaſſen und bewirkte in der
That, daß der erſchreckte Schwarzenberg mit ſeinem ungeheuren Heere
an der Seine aufwärts zurückwich und an Blücher dringende Bitten um
Hilfe ſendete.


Der Alte aber und ſein genialer Freund zeigten ſich nie größer als
in dieſen Tagen der Noth. Freimüthig geſtanden ſie die begangenen
Fehler ein und verſprachen Alles wieder gut zu machen; ſie wollten ver-
geſſen, daß Schwarzenberg durch ſeinen Marſch über die Seine den An-
griff Napoleons auf die Schleſier verſchuldet und ihnen auch nachher,
als zwei Tage lang der Kanonendonner von Champaubert und Mont-
mirail zu der großen Armee hinüberklang, jeden Beiſtand verweigert hatte.
Sie dachten nur an den Sieg. Vier Tage nach dem Gefechte von Etoges
ſtand ihr Heer wieder in guter Ordnung, begierig die Scharte auszuwetzen.
In Eilmärſchen ging es nun gen Süden, und ſchon am 21. Februar
[542]I. 5. Ende der Kriegszeit.
vereinigte ſich Blücher bei Mery an der Seine wieder mit der großen
Armee. Seine Soldaten erwarteten mit Zuverſicht einen Tag wie den
von Leipzig, eine Hauptſchlacht, die mit einem Schlage den Krieg beenden
mußte: ſtand man doch mit faſt dreifacher Uebermacht dicht am Feinde,
150,000 Mann gegen 60,000.


Mittlerweile hatte die Diplomatie in Chatillon ihre Friedensverhand-
lungen eröffnet. Nur die Großmächte waren dort vertreten, denn mit
dem Untergange des Weltreiches kehrte die ariſtokratiſche Verfaſſung, welche
König Friedrich der Staatengeſellſchaft gegeben, ſofort zurück. Die Ueber-
macht der europäiſchen Pentarchie ward täglich fühlbarer, die Staaten
zweiten und dritten Ranges bedeuteten weniger denn je, und es war
Hardenbergs Stolz, daß er ſeinen Staat wieder in die Reihe jener
leitenden Mächte eingeführt hatte. Die Verbündeten verlangten die
Grenzen von 1792, einige Berichtigungen vorbehalten, und ſtellten zu-
gleich die Bedingung, daß die Mächte der Coalition allein, ohne Zu-
ziehung Frankreichs, über die Vertheilung der von Napoleon und ſeinen
Bundesgenoſſen abgetretenen Gebiete entſcheiden ſollten. Auf dieſem Satze
beſtanden Preußen und Rußland entſchieden; hart und demüthigend wie
er für Frankreich war legte er dem Beſiegten doch nur eine Beſchämung
auf, die von der tief empörten öffentlichen Meinung in Deutſchland und
England ſtürmiſch gefordert wurde. Hardenberg wünſchte ſogar Frankreich
gänzlich auszuſchließen von dem allgemeinen Congreſſe, der nach Abſchluß
des Friedens zur endgiltigen Feſtſtellung der neuen Verhältniſſe Europas
berufen werden ſollte. Er täuſchte ſich nicht über den tödlichen Haß, den
die Franzoſen ihrem kühnſten Feinde bewahrten, und ſah voraus, daß
Frankreich im Vereine mit ſeinen alten Bundesgenoſſen auf dem Con-
greſſe ein hochgefährliches Ränkeſpiel anzetteln würde. Auf eine ſo tiefe
Demüthigung des Gegners wollte jedoch Metternich nicht eingehen, und
nur nach lebhaftem Widerſtreben ſchloß er ſich mindeſtens der Forderung
an, daß die Vertheilung der Eroberungen den Alliirten ausſchließlich zu-
ſtehen ſolle. Caulaincourt trat anfangs ſehr verſöhnlich auf, ſo lange
der Schrecken von La Rothiere noch nachwirkte. Einige Tage lang ſchien
Alles im beſten Gange.


Gleich beim Beginne des Congreſſes von Chatillon benutzte England
die Geldverlegenheit ſeiner Bundesgenoſſen um einen Meiſterſtreich ſeiner
Handelspolitik zu vollführen. War irgend einer von Napoleons Plänen
berechtigt geweſen, ſo doch ſicherlich ſein Kampf für die Freiheit der
Meere. Jenes Gleichgewicht der Mächte, wornach die ermüdete Welt ver-
langte, war nicht geſichert, ſo lange ein einziger Staat auf allen Meeren
nach Willkür und Laune ſchaltete und der Seekrieg, zur Schande der
Menſchheit, noch den Charakter des privilegirten Raubes trug. Preußen
und Rußland hatten ſeit dem Bunde der bewaffneten Neutralität alle-
zeit die Grundſätze eines menſchlichen, dem Handel der Neutralen unbe-
[543]Congreß von Chatillon.
ſchwerlichen Seerechtes vertreten; ſie hofften jetzt dieſe Gedanken Friedrichs
und Katharinas durch einen Beſchluß des geſammten Europas anerkannt
zu ſehen. England aber fühlte ſich dadurch in den Grundfeſten ſeiner Macht
bedroht. Lord Cathcart erklärte rund heraus: hätten wir je die Grundſätze
der bewaffneten Neutralität anerkannt, ſo wäre der franzöſiſche Handel
nicht zerſtört worden und Napoleon regierte noch heute über die Welt;
niemals wird Großbritannien auf den Meeren ein anderes Geſetz an-
erkennen als die allgemeinen Regeln des „Völkerrechts“. Wie die Dinge
ſtanden, lagen andere Fragen für jetzt den drei Feſtlandsmächten ungleich
näher; zudem bedurften ſie alleſammt neuer Geldmittel für den Krieg,
und der reiche Alliirte war bereit abermals 5 Mill. Pfd. St. Subſidien
zu zahlen. Daher ſetzte England ſchon in der erſten Sitzung, am 5. Fe-
bruar, durch, daß über die Angelegenheiten des Seerechts nicht verhandelt
werden dürfe. Caulaincourt widerſprach nicht; auch er hatte dringendere
Sorgen. So iſt es geſchehen, daß der faulſte Fleck des modernen Völ-
kerrechts während der langen Friedensverhandlungen zu Chatillon, Paris
und Wien gar nicht berührt wurde. Die öffentliche Meinung, blind be-
geiſtert wie ſie war für das glorreiche Albion, fand an Alledem kein Arg.


Einmal im Zuge ſuchte Lord Caſtlereagh ſogleich noch einen zweiten
Lieblingsgedanken der britiſchen Politik zu verwirklichen und den Nieder-
landen eine genügende Abrundung zu ſichern. Niemand widerſprach, ob-
gleich man doch ſoeben erſt beſchloſſen hatte alle Entſchädigungsforderungen
bis zum Friedensſchluſſe zu vertagen; denn Niemand mochte es mit der
großen Geldmacht verderben, und über die europäiſche Nothwendigkeit des
niederländiſchen Geſammtſtaates waren Alle einig. Am 15. Februar kam
im Hauptquartiere zu Troyes ein Vertragsentwurf zu Stande, wonach
die alte holländiſche Republik unter die erbliche Herrſchaft des Hauſes
Oranien geſtellt und durch Belgien ſowie durch ein Stück des deutſchen
Rheinufers mit Köln und Aachen vergrößert werden ſollte. Auch Harden-
berg ſtimmte im Weſentlichen zu und machte nur einen Vorbehalt zu
Gunſten der deutſchen Nordweſtgrenze; ganz ſo tief in rein deutſches Land
wollte er die Holländer doch nicht hinübergreifen laſſen.*)


Unterdeſſen waren die erſten Nachrichten von Blüchers Unglücksfällen
im großen Hauptquartiere angelangt. Es fehlte nicht an ſpöttiſchen Be-
merkungen: ſo hatte ſich der Vorwitz der kleinen Köpfe des ſchleſiſchen
Heeres doch beſtraft; warum wollten ſie auch klüger ſein als die Weis-
heit der Duca und Langenau? Stärker als die Schadenfreude war doch
der Schrecken. In höchſter Angſt verlangte Metternich die ſchleunige Be-
endigung des unglückſeligen Krieges; es kam ſo weit, daß Oeſterreich
geradezu drohte ſich von der Coalition loszuſagen. **) Und im ſelben
[544]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Maße wuchs Napoleons Starrſinn. Alsbald nach ſeinem erſten Erfolge
nahm er die an Caulaincourt ertheilte Vollmacht zurück und befahl dem
Geſandten, auf keine Forderung der Alliirten einzugehen. Mit meinen
Gefangenen, meinte er trotzig, pflege ich nicht zu unterhandeln. Die Coa-
lition ſchien der Auflöſung nahe. Die hochmüthige Gönnermiene, welche
der Czar zur Schau trug, verletzte den öſterreichiſchen Stolz. Auch Har-
denberg gerieth in Unruhe, als er erfuhr, wie die Ruſſen ſich in Danzig
häuslich einrichteten und ihre preußiſchen Waffengefährten kaum in die
Stadt einlaſſen wollten. Nur ein großer Waffenerfolg konnte die ver-
ſtimmten Gemüther verſöhnen. Schwarzenberg aber war auch jetzt, nach
der Wiedervereinigung mit Blücher, nicht gewillt ſeine offenbare Ueber-
macht zu brauchen; er gab den Gedanken einer Entſcheidungsſchlacht wieder
auf und befahl, ſicherlich auf das Andringen der öſterreichiſchen Diplo-
maten, den Rückzug nach dem unglückſeligen Plateau von Langres. Hefti-
ger denn je geriethen die beiden Parteien aneinander. Der König ſagte
nach ſeiner ehrlichen Art dem Oberfeldherrn die härteſten Wahrheiten ins
Geſicht, der Czar ſtritt ſich lebhaft mit den Lords Aberdeen und Caſt-
lereagh.


Da kam Rettung durch die ſchleſiſchen Helden. Oberſt Grolmann
ſtellte ſeinem Feldmarſchall vor: angeſchmiedet an den k. k. Kriegsrath
gelange man doch nimmermehr ans Ziel; wie nun, wenn die ſchleſiſche
Armee ſich abermals von dem Hauptheere trennte, nochmals nordwärts
an die Marne marſchirte, dort die Corps von Bülow und Wintzingerode,
die aus Belgien heranrückten, an ſich zöge und alſo verſtärkt gradeswegs
gegen Paris vorginge? Es war als ob Scharnhorſt ſelber durch den
Mund ſeines feurigen Schülers redete; ſo einfach, groß und kühn erſchien
der Plan. Blücher griff mit Freuden den glücklichen Gedanken auf,
ſchrieb ſofort an den König und den Czaren, bat ſie um Genehmigung
des Unternehmens. Am 25. Februar wurde zu Bar ein großer Kriegs-
rath gehalten und nach heftigem Streite der Antrag Blüchers angenom-
men. Jenes ſonderbare Verhältniß, das im letzten Sommer nur that-
ſächlich beſtanden hatte, erhielt jetzt die amtliche Anerkennung: das kleine
ſchleſiſche Heer übernahm den Hauptſtoß zu führen, die große Armee ver-
hielt ſich abwartend! Der Ausgang des Feldzugs, ſchrieb Friedrich Wil-
helm ſeinem Feldmarſchall, liegt von nun an zunächſt in Ihrer Hand.


Während Blücher ſeelenfroh, ohne erſt die Erlaubniß der Monarchen
abzuwarten ſeinen zweiten Marſch gegen Paris antrat, wiederholte ſich
im großen Hauptquartiere tagaus tagein das alte Spiel. „Die Erbitte-
rung und das Mißtrauen Oeſterreichs ſind auf dem Gipfel“ — klagte
der Staatskanzler.*) Unaufhörlich ließ der Imperator die Oeſterreicher
durch geheime Zuſchriften bearbeiten, und Kaiſer Franz ging auf dieſe
[545]Blüchers zweiter Marſch auf Paris.
vertragswidrigen Sonderverhandlungen mit verdächtigem Eifer ein. Wollt
Ihr noch immer, ſo fragte Berthier den Oberfeldherrn der Alliirten, Euer
reinſtes Blut vergießen um die übel berechnete Rachſucht Rußlands und
die ſelbſtſüchtige Politik Englands zu befriedigen? Die Angſt vor der
Uebermacht des Czaren laſtete ſchwer und ſchwerer auf dem Wiener Ca-
binette. Das Gleichgewicht in Oſteuropa zu ſichern — dies bezeichnete
Gentz in ſeinen Briefen an Karadja als die Hauptaufgabe der nächſten
Zukunft; ein Friede, der den Franzoſen das linke Rheinufer überlaſſe,
ſei immer noch weniger traurig als der Sturz Napoleons. Und was
anders als die Entthronung des Schwiegerſohnes konnte die Folge ſein
wenn der Zug der Schleſier gelang? Die Unmöglichkeit mit dieſem Manne
einen ehrlichen Frieden zu ſchließen ließ ſich ſeit den Erfahrungen von
Chatillon nicht mehr verkennen. Der Menſch muß herunter! — darüber
war nur eine Stimme in der preußiſchen Armee. Und ſchon traten ſeine
glücklichen Erben auf den Schauplatz; der Graf von Artois erſchien in
Frankreich, im Rücken der verbündeten Heere und fand an Stein einen
warmen Fürſprecher. Der deutſche Staatsmann wußte wohl, welch ein
Wagniß es ſei ein Herrſcherhaus, das einer längſt verſunkenen Zeit an-
gehörte, zurückzuführen. Der Czar haßte die ſteife Hoffart der Bour-
bonen, der König liebte ſie nicht; unter den verbündeten Monarchen
zeigte allein der welfiſche Prinzregent, als unbedingter Anhänger des
göttlichen Königsrechts, lebhaften Eifer für die alte Dynaſtie. Gleichwohl
gewann ihre Sache täglich an Boden, denn Niemand wußte einen anderen
Nachfolger für Napoleon vorzuſchlagen.


Um ſo ängſtlicher ging Oeſterreich der Entſcheidung aus dem Wege.
Hatte man den Zug Blüchers leider nicht verhindern können, ſo durfte
mindeſtens Schwarzenberg nichts Entſcheidendes wagen. Seine Truppen
fühlten ſich ſchon ganz niedergeſchlagen von dem ewigen Rückzuge und
den zielloſen Hin- und Hermärſchen. In der zweiten Hälfte des Decem-
bers waren die Spitzen der großen Armee in Frankreich eingerückt, und
jetzt, nach mehr als zwei Monaten, hatten dieſe gewaltigen Maſſen noch
keine einzige Schlacht geſchlagen. Wie ein Nebelbild ſchien die nahe
Hauptſtadt vor den Augen der Entmuthigten zu verſchwinden. Da ſeht
Ihr was der Schrecken iſt — ſagte Napoleon befriedigt zu ſeiner Garde.
Auch als am 27. Februar das Corps Oudinots, eine lächerliche Minder-
zahl, bei Bar auf den Höhen über der Aube erſchien, vermied Schwarzen-
berg abermals die Schlacht, räumte Bar, ließ die Feinde ſich gemächlich
in der Stadt und im Thale der Aube ausbreiten. Da verlor endlich
König Friedrich Wilhelm die Geduld, überwand ſeine Schüchternheit und
zeigte wieder wie bei Kulm ſein geſundes militäriſches Urtheil. Er
zwang den Oberfeldherrn den Angriff zu befehlen. Mit lautem Jubel
vernahmen die Soldaten die heißerſehnte Kunde. Obwohl der Oeſter-
reicher allzuſpät und nur mit einem Theile ſeines Heeres das Treffen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 35
[546]I. 5. Ende der Kriegszeit.
begann, ſo wurde doch ein ſchöner Sieg erfochten. Es war ein froher
Tag für das königliche Haus, denn heute ritt Friedrich Wilhelms zweiter
Sohn, Prinz Wilhelm an der Seite des Vaters zum erſten male in die
Schlacht. Die Offiziere lächelten zufrieden, als der ſchöne ſiebzehnjährige
Jüngling im furchtbaren Kugelregen ganz unbefangen ſeinen Adjutanten-
dienſt verſah und nachher mit dem altberühmten ruſſiſchen Regimente
Kaluga den beherrſchenden Hügel von Malepin hinaufſtürmte. Sie
meinten, aus dem könne noch einmal ein anderer Prinz Heinrich werden;
Unehrerbietige ſtellten auch ſchon Vergleichungen an zwiſchen dieſem friſchen
Heldenſinne und der äſthetiſchen, ganz unſoldatiſchen Natur des geiſtreichen
Kronprinzen.


Der Sieg wurde, nach der Gewohnheit des großen Hauptquartiers,
nicht verfolgt; immerhin ſtellte er den Einmuth in der Coalition noth-
dürftig wieder her. Wie einſt der Teplitzer Vertrag auf die Kulmer
Schlacht, ſo folgte auf die Schlacht von Bar der Vertrag von Chaumont.
Am 1. März wurde die große Allianz feierlich auf zwanzig Jahre er-
neuert. Spanien, Italien, die Schweiz und die verſtärkten Niederlande
ſollten beim Friedensſchluſſe ihre volle Unabhängigkeit erlangen, die deut-
ſchen ſouveränen Fürſten „vereinigt werden durch eine foederative Verbin-
dung welche die Unabhängigkeit Deutſchlands ſichert und verbürgt“.


Indeſſen erreichte Blücher das Marnethal; aber da Napoleon, die
Gefährdung der Hauptſtadt raſch erkennend, ihm folgte, ſo wichen die
Schleſier in Eilmärſchen gen Norden aus und trafen bei Soiſſons mit
Bülows Heer zuſammen. Der Eroberer von Holland entſetzte ſich, als
er neben ſeinen vollzähligen, in den behäbigen flandriſchen Winterquar-
tieren wohl genährten Schaaren die ſchwachen Bataillone Yorks, dies
ſchmutzige, verwilderte und verwahrloſte Kriegsvolk erblickte. Unwillkür-
lich gedachten die Generale an jene Tage vor der Zorndorfer Schlacht,
da König Friedrich ſeine biſſigen Grasteufel mit Dohnas friſchen Truppen
vereinigte. Und welche Ausſichten für die Zukunft! Das preußiſche Heer
hatte das Größte gethan und das Schwerſte gelitten, die Blüthe der nord-
deutſchen Jugend lag auf den Schlachtfeldern. Selbſt Gneiſenau verlor,
wenn er die gelichteten Schaaren muſterte, zuweilen ſeinen königlichen
Frohmuth und fragte beſorgt, wie dieſer Staat mit erſchöpftem Haushalt
und geſchwächter Kriegsmacht den ſchweren Kampf um die Theilung der
Beute beſtehen ſolle. Doch die Stunde drängte. Napoleon hatte die
Ruſſen bei Craonne, allerdings unter furchtbaren Verluſten, zum Rück-
zuge genöthigt und ſchritt am nebligen Morgen des 9. März durch die
ſumpfigen Niederungen der Lette zum Angriff vor gegen die Felſenſtadt
Laon, den Stützpunkt des Blücher’ſchen Heeres. Der Schlachttag verlief
ohne Entſcheidung. Am ſpäten Abend erſt warfen ſich York und Kleiſt
auf Marmonts Corps, den rechten Flügel des Feindes, und hier, bei
Athis, entſpann ſich jenes ſchaurige Nachtgefecht, das den Preußen nach
[547]Schlacht von Laon.
ſo vielen Mißerfolgen wieder die erſte Siegesfreude ſchenkte. Zuerſt führte
Prinz Wilhelm ſeine oſtpreußiſchen Bataillone im Sturmſchritt, bei
rauſchender Feldmuſik, Alles niederſchmetternd durch das Dorf und dar-
über hinaus; dann räumten die Litthauer, Sohrs brandenburgiſche
Huſaren und die ſchwarzen Reiter mit den Todtenköpfen unter den er-
ſchreckten Feinden auf. Das ganze Corps ward zerſprengt, ließ fünfund-
vierzig Geſchütze in den Händen der Sieger. York aber hatte in der
wilden Hetzjagd dieſer Tage einen Freund gefunden; das Herz ward ihm
doch warm, wenn er den Mann von Nollendorf ſo neben ſich ſchalten
ſah, immer klar, ſicher, ganz bei der Sache. Noch eine Weile, und die
Heurichs erzählten ſich verwundert, der harte Alte habe nach altem ger-
maniſchen Kriegerbrauche mit ſeinem Kameraden Kleiſt Brüderſchaft getrun-
ken. Am nächſten Morgen ſchien das Schickſal des Imperators entſchie-
den. Keine Möglichkeit, nach der völligen Auflöſung des rechten Flügels
noch dem nunmehr dreifach überlegenen Heere der Verbündeten zu wider-
ſtehen; und dazu wieder wie bei Leipzig nur eine einzige Rückzugsſtraße,
durch das Sumpfland der Lette! Allem Anſchein nach mußte dies alte
Felſenneſt, das vor neunhundert Jahren der einzige Beſitz und die letzte
Zuflucht des jungen franzöſiſchen Königthums geweſen, nun den Unter-
gang des neuen Kaiſerthums ſehen.


Jetzt aber zeigte ſich, was Blüchers Flammenblick, was ſein gebieteri-
ſcher Wille dem deutſchen Heere war. Der Feldmarſchall war erkrankt, er-
ſchöpft an Leib und Seele von den furchtbaren Aufregungen dieſer Wochen,
und ſeit er nicht mehr befahl, erfüllten Haß und Streit das Hauptquar-
tier. Jene Ueberfülle von ſchroffen, ſtarken Charakteren, worin die Stärke
des preußiſchen Heeres lag, wurde nun gefährlich. Weder York noch
Kleiſt noch Bülow wollte ſich dem Phantaſten Gneiſenau unterordnen.
Der alte Groll brach wieder aus; es kam ſo weit, daß York die Armee
zu verlaſſen drohte. Gneiſenau aber verlor zum erſten male in ſeiner
Feldherrnlaufbahn die Spannkraft des Entſchluſſes, mochte nach ſo vielen
Opfern die Verantwortung für einen neuen blutigen Kampf nicht über-
nehmen. Es war die patriotiſche Sorge um Preußens Zukunft, was
dieſen einzigen großen Mißgriff ſeines Feldherrnlebens verſchuldete. Durfte
man jetzt, da Napoleons Sturz doch in ſicherer Ausſicht ſtand, die Trup-
pen abermals ſchwächen und alſo dem Hauſe Oeſterreich die Freude be-
reiten, daß Preußen beim Friedensſchluſſe kein Heer mehr beſaß, wie
dies Radetzky ſchon in Frankfurt freundnachbarlich gewünſcht hatte?
Boyen vornehmlich hob dieſe politiſchen Bedenken mit Nachdruck hervor
und überzeugte ſeinen feurigen Freund. Noch einmal rettete den Impe-
rator eine wunderbare Gunſt des Glückes. Unverfolgt durfte er abziehen
und alsbald wendete er ſich, den Vortheil der inneren Operationslinie
geſchickt benutzend, wieder gegen die große Armee. Schwarzenberg war
nach dem Siege von Bar, ſtatt gradezu auf Paris loszugehen oder den
35*
[548]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Imperator im Rücken zu bedrohen, wieder nach Süden ausgewichen.
Weitab von der offenen Siegesſtraße, bis nach Sens im freundlichen Thale
der Yonne, ſtanden ſeine Heerſäulen zerſtreut. Die Preußen grollten:
ob es denn wider die Natur eines öſterreichiſchen Generals ſei, ſein Ziel
auf dem kürzeſten Wege zu erreichen? Nachher drängte der Zauderer
ein ſchwaches franzöſiſches Corps von der Seine zurück und getraute ſich
wieder eine kleine Strecke nordwärts, bis zur Aube vorzugehen. Das
Elend dieſes jämmerlichen Feldzugs wollte kein Ende nehmen.


Da wendete ſich plötzlich die Politik des Wiener Hofes. Hatten vor
ſechs Wochen die Unglücksfälle der ſchleſiſchen Armee den Gang des Con-
greſſes von Chatillon durchkreuzt, ſo wirkte jetzt umgekehrt der Abbruch der
diplomatiſchen Verhandlungen ſtärkend und anfeuernd auf die Führung des
Krieges zurück. Vergeblich warteten die Bevollmächtigten der Alliirten ſeit
dem 17. Februar auf die Beantwortung ihres Ultimatums, vergeblich ſuchte
Kaiſer Franz noch am 10. März durch einen mahnenden Brief den Starr-
ſinn ſeines Schwiegerſohnes zu brechen. Erſt am 15. März gab Caulaincourt
eine beſtimmte Erwiderung, und ſie lautete in weſentlichen Punkten ab-
lehnend, ja ſie war für Oeſterreich noch weniger annehmbar als für die
anderen Mächte; denn während Napoleon die Abtretung der Rheinlande
endlich zugeſtand, die Auflöſung des Rheinbundes zugab und nur Berg
und Sachſen ihren bisherigen Souveränen ſichern wollte, behielt er an-
dererſeits den italieniſchen Königsthron ſeinem Stiefſohne Eugen vor. So
ſtieß der Verblendete wie mit Abſicht die einzige der verbündeten Mächte,
die ihm aufrichtig wohl wollte, zurück, und mit gutem Grunde ſagte
Gneiſenau: „Napoleon hat uns beſſere Dienſte geleiſtet als das ganze
Heer der Diplomatiker.“ Metternich mußte endlich erkennen, daß dem
Unſeligen nicht mehr zu helfen, daß der Untergang des Kaiſerreichs un-
vermeidlich war. Am 19. März erklärten die Verbündeten den Congreß
für beendigt, und ſofort offenbarte ſich der Umſchwung der öſterreichiſchen
Politik in der gehobenen Stimmung des Hauptquartiers. Mit ungewohnter
Entſchloſſenheit zeigte ſich Schwarzenberg am 20. März bei Arcis an
der Aube bereit eine Schlacht gegen den Imperator zu wagen. Die
Ausführung des glücklichen Gedankens war freilich ſchlaff wie immer;
nur die Truppen Wredes gelangten ins Gefecht. Immerhin wurde Na-
poleon genöthigt, am nächſten Tage nach ſchweren Verluſten das Schlacht-
feld zu verlaſſen, und was das Beſte war, die große Armee fing doch
wieder an ſich zu regen.


Der Geſchlagene faßte nun einen tolldreiſten, auf den Charakter des
Gegners berechneten Entſchluß; er umging in weitem Bogen den rechten
Flügel der Sieger und zog oſtwärts nach St. Dizier, um in den Rücken
der Verbündeten zu gelangen. Er hoffte, Schwarzenberg werde, beſorgt
für ſeine Rückzugslinie, ſofort den Abmarſch nach dem Rheine antreten.
Einige Wochen früher ausgeführt wäre der kecke Anſchlag ſicherlich ge-
[549]Schwarzenbergs Zug nach Paris.
lungen. Jetzt aber fühlten alle Mächte, auch Oeſterreich, daß das un-
würdige Schauſpiel der zitternden Uebermacht ein Ende nehmen mußte.
Es ſtand wirklich ſo wie Gneiſenau nachher dem alten Rüchel ſchrieb:
„So zogen wir endlich nach Paris, nicht aus Ueberlegenheit der dafür
ſprechenden Gründe, ſondern weil nichts Anderes übrig blieb und das
Verhängniß die große Armee dahin ſtieß.“ Als der Czar in Sommepuis
am 24. März aus einem Briefe Napoleons, den die Koſaken Blüchers auf-
gefangen, die Abſichten des Feindes erfuhr, da forderte zuerſt Toll das
Selbſtverſtändliche, das den Ueberklugen ſo lange unfaßbar geweſen: den
Marſch auf Paris. Die Straße war nahezu offen. Vereinigt mit der
nahen ſchleſiſchen Armee konnte man die ſchwachen Corps des Feindes,
die noch im Wege ſtanden, leicht überwältigen; ein ſtarkes Reitercorps
unter Wintzingerode ſollte zurückbleiben, um den Imperator, deſſen Name
jetzt doch allmählich ſeinen alten Zauber verlor, über den Zug der großen
Armee zu täuſchen. Alexander ſtimmte zu, er ſchmachtete nach Vergeltung
für den Einzug in Moskau. Am ſelben Tage erklärten auch der König
und Schwarzenberg in einem Kriegsrathe zu Vitry ihre Zuſtimmung.


Aufathmend empfing Blücher die entſcheidende Botſchaft: „nun heißt
es nicht mehr blos bei uns, ſondern überall Vorwärts!“ Dort in Vitry
erließen die Verbündeten auch eine öffentliche Erklärung, worin ſie die
franzöſiſche Nation gradezu aufforderten, durch ihren freien Willen dem
verderblichen Syſteme dieſes Kaiſerthums ein Ziel zu ſetzen; nur dann
ſei der Frieden Europas geſichert. Die letzte Brücke war abgebrochen.
Selbſt Kaiſer Franz hatte ſeinen Schwiegerſohn aufgegeben, er blieb in
Burgund zurück um der Entthronung nicht perſönlich beiwohnen zu
müſſen. So ging es denn endlich weſtwärts, quer über die unheimlichen
Schlachtfelder des Februars, und noch einmal raſten über dieſe blut-
gedüngten Gefilde alle Schrecken des Krieges, als die Diviſion Pacthod
am 25. März bei La Fère Champenoiſe gleichzeitig von der ſchleſiſchen
und der Hauptarmee ereilt wurde. Rettungslos verloren verſchmähte der
tapfere franzöſiſche General die Capitulation, die ihm Friedrich Wilhelm an-
bot; ſo blieb nichts übrig als eine grauſige Schlächterei. Schaudernd ſahen
der König und ſein Sohn Wilhelm, wie die Kanonenkugeln durch den
zuſammengekeilten Menſchenhaufen lange Furchen zogen und dann die
Reiter mit der blanken Waffe hineinſchmetterten. Ihrer viertauſend
ergaben ſich endlich, fünftauſend lagen todt am Boden. Es war ein
Schauſpiel der Vernichtung, wie es in prahleriſchen Schlachtberichten oft
geſchildert, ſelten wirklich erlebt wird; alte wetterfeſte Offiziere ſah man
erbleichen, wenn auf dieſen Tag die Rede kam.


Wohl war es die höchſte Zeit, daß den verſtimmten Truppen endlich
wieder die Zuverſicht des Gelingens kam. Heuer fand ſich kein Clauſewitz,
der, wie nach den verlorenen Schlachten des letzten Frühjahrsfeldzugs, dem
Heere die unvermeidliche Nothwendigkeit des Geſchehenen erwieſen hätte.
[550]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Die denkenden Offiziere wußten alleſammt, daß eine beiſpiellos mattherzige
Kriegsführung das Blut der Deutſchen und der Ruſſen in Strömen nutzlos
vergoſſen hatte; die fade Schönfärberei der amtlichen Kriegsberichte des
großen Hauptquartiers begann der Armee ſelber zum Ekel zu werden. Nun
endlich war der Bann gebrochen, aller Groll verſtummte vor der beſeligenden
Gewißheit der nahen letzten Entſcheidung. Napoleon blieb in der That
einige Tage lang in dem Wahne, daß die große Armee ihm gen Oſten
folge; als er endlich ſeinen Irrthum erkannte und in Gewaltmärſchen
herbeieilte, konnte er die bedrohte Hauptſtadt nicht mehr rechtzeitig er-
reichen, das Verhängniß nicht mehr wenden.


Auf dem Wege der Verbündeten ſtanden nur noch die gelichteten
Corps von Marmont und Mortier. Schwarzenbergs langſamer Marſch
gewährte ihnen die Zeit Paris zu erreichen. Die beiden Marſchälle be-
ſchloſſen, obgleich Marie Luiſe mit dem Könige von Rom an die Loire
flüchtete, vor den Mauern der Hauptſtadt eine letzte Schlacht zu wagen.
Verſtärkt durch Nationalgarden beſetzten ſie mit 34,000 Mann die Dörfer
der Bannmeile und die ſteilen Anhöhen, welche die Stadttheile des rechten
Seineufers auf der Nord- und Oſtſeite in weitem Bogen umkränzen.
Marmont ſtand auf der Rechten bis hinüber zum Walde von Vincennes,
dicht am Zuſammenfluß der Seine und Marne, Mortier hielt jenſeits
des Ourcq-Canals und lehnte ſich mit dem äußerſten linken Flügel an
den Hügel des Montmartre. Der Kampf gegen die 100,000 Mann der
Verbündeten war, trotz der feſten Poſitionen der Franzoſen, von vorn-
herein ausſichtslos; gleichwohl ward er überaus blutig, Dank den un-
glücklichen Anordnungen des großen Hauptquartiers, das ſeine Uebermacht
wieder nicht rechtzeitig zur Stelle brachte. Schon ſeit dem Morgen des
30. März kämpfte Prinz Eugen mit ſeinen Ruſſen gegen das Centrum
der Franzoſen, nahm das Dorf Pantin, verſuchte die Hochebene von Ro-
mainville zu erreichen, ward geworfen und hart bedrängt, bis endlich die
ruſſiſchen und die allzu lange pedantiſch geſchonten preußiſchen Garden
ihm Luft machten. Die Garde erſtürmte unter Oberſt Alvensleben die
Batterien bei Pantin, während die Ruſſen den Bergkirchhof Père La
Chaiſe mit der blanken Waffe nahmen. Weit ſpäter ward das Gefecht
auf dem rechten Flügel der Franzoſen eröffnet; der Kronprinz von Würt-
temberg ſetzte ſich im Walde von Vincennes feſt, behauptete ſich dort und
drang am Nachmittage bis an das Ufer des Fluſſes vor. Auch die ſchle-
ſiſche Armee gelangte erſt kurz vor Mittag zum Kampfe gegen den linken
Flügel des Feindes. Wer hätte dem kranken Blücher verbieten dürfen,
an ſolchem Ehrentage dem Sturme der Deutſchen auf den „Sankt Märten“
beizuwohnen? Die entzündeten Augen mit einem Damenhut und Schleier
bedeckt hielt er mitten im Getümmel und ſah mit an, wie ſeine vielge-
prüften Schleſier noch einmal, wie einſt bei Möckern, unter dem Kreuz-
feuer der feindlichen Batterien kämpften. Am Nachmittage war die ganze
[551]Schlacht von Paris.
Linie der Verbündeten im ſiegreichen Vorgehen; Prinz Wilhelm der Aeltere
hatte bereits die Barrieren der Stadt erreicht, nahebei erſtürmten Kleiſts
Truppen mit gefälltem Bajonett den Hügel mit den fünf Windmühlen
neben dem Montmartre, und auf der Linken der Franzoſen drangen
Langerons Ruſſen an den ſteilen Abhängen der Steinbrüche des Mont-
martre empor bis hinauf zu den ſtaffelförmig aufgeſtellten Batterien. Da
ſprengten Adjutanten heran, weiße Tücher in den Händen; die Schlacht
war beendet, Paris hatte capitulirt.


Lange hielten die Generale neben den Mühlen auf der Höhe und be-
trachteten ſchweigend die bezwungene Stadt; die ſtumpfen Thürme von Notre
Dame und die Kuppel des Pantheon glänzten im Abendlichte. Auch Oberſt
Below trabte herauf mit ſeinen Litthauern; er mußte doch halten was
er in Tilſit verſprochen und ſeinen Jungen die Hauptſtadt des Feindes
zeigen. Neuntehalb Jahrhunderte waren vergangen, ſeit unſer Kaiſer
Otto II. auf dieſen Hügeln ſeine Adlerfahnen aufpflanzte und die Stadt
da drunten durch die Hallelujahrufe ſeiner Streiter ſchreckte; ſeitdem waren
Engländer und Spanier und auch einzelne Reiterhaufen deutſcher Lands-
knechte bis in das Herz der franzöſiſchen Macht eingedrungen, doch nie-
mals wieder ein deutſches Heer. Wie furchtbar war dann das unglück-
liche Deutſchland durch die Uebermacht und den Uebermuth dieſes böſeſten
aller Nachbarn mißhandelt worden, alſo daß ſchon der große Kurfürſt
zu der Einſicht kam, nur ein Zug nach Paris könne dem Welttheil die
Staatenfreiheit, das dauernde Gleichgewicht der Mächte wiedergewinnen.
Nun lag das neue Rom gebändigt, eine unabſehbare Zukunft voll fried-
lichen Völkerglücks ſchien ſich aufzuthun vor den entzückten Blicken der
kampfesmüden Welt. Die Deutſchen glaubten das Unrecht zweier Jahr-
hunderte geſühnt, als am nächſten Tage der Czar, der König und Schwar-
zenberg an der Spitze der verbündeten Heere ihren Einritt hielten durch
das Martinsthor, das noch an König Ludwigs deutſche Eroberungsfahrten
erinnerte; darauf ging der Zug unter dem raſenden Jubel der dichtge-
drängten Volksmaſſen die breiten Boulevards entlang nach dem Platze
Ludwigs XV., wo einſt die Guillotine ihre Blutarbeit gethan, dann auf
die Elyſäiſchen Felder zur prunkenden Heerſchau. Wer hätte ſich auch
nur träumen laſſen, daß dieſelben preußiſchen Fahnen noch zweimal
binnen zweier Menſchenalter deſſelben Weges ziehen würden? Glück-
licher war doch Niemand als jene beiden großen Deutſchen, die nun
glorreich erfüllt ſahen, was ſie ſich einſt auf dem Leipziger Markte in
die Hand verſprochen hatten. Gneiſenau ſchrieb: „Was Patrioten träumten
und Egoiſten belächelten iſt geſchehen;“ Stein aber ſagte in ſeiner wuch-
tigen Weiſe: „Der Menſch iſt am Boden!“


In der alten Heimath der galliſchen Unbeſtändigkeit, in der Stadt
Paris war die Erbitterung gegen das Kaiſerreich früher und lebhafter er-
[552]I. 5. Ende der Kriegszeit.
wacht als in den Provinzen. Die ſo lange entſchlummerte Luſt an Kritik
und Widerſpruch wurde wieder rege, die Reden der Oppoſition im Geſetz-
gebenden Körper fanden lauten Widerhall, die conſtitutionellen Ideen aus
den Anfängen der Revolution lebten auf, das geiſtreiche Volk begann die
dumpfe Stille, die über ſeinem öffentlichen Leben lag, als einen unnatür-
lichen Zwang zu empfinden. Der Imperator hatte mit wunderbarer
Kenntniß des Volkscharakters die nationale Staatsform des neuen Frank-
reichs, den centraliſirten Beamtenſtaat auf viele Menſchenalter hinaus feſt
begründet. Die Spitze dieſes mächtigen Gebäudes blieb gleichwohl unge-
ſichert. Sobald das Glück den Herrſcher floh mußte er empfinden, daß
er doch nur der Erwählte des Volkes und den Millionen perſönlich ver-
antwortlich war; auf Treue konnte ein Regiment nicht rechnen, das
grundſätzlich nur den gemeinen Ehrgeiz benutzte. Schon als man im
Februar die Gefangenen von den Schlachtfeldern der Champagne durch die
Pariſer Straßen führte, wurden ſie nicht mehr wie ſonſt mit triumphi-
renden Rufen, ſondern mit Bedauern und Mitleid empfangen. Seit den
Niederlagen des März vollendete ſich die Umſtimmung der Hauptſtadt,
ein Geſinnungswechſel ſo jäh, ſo durchgreifend, ſo übermächtig wie vor
Zeiten als Heinrich IV. ſeinen Frieden mit der alten Kirche ſchloß und
das katholiſche Paris ſich mit einem male jauchzend in die Arme des ver-
haßten Ketzers ſtürzte.


Mit richtigem Inſtinkte begriff das Volk, daß nunmehr nur die alte
Dynaſtie noch möglich war; nicht Royaliſten, ſondern Männer der Re-
volution und des Kaiſerreichs erhoben am Lauteſten ihre Stimme für die
vergeſſenen und verlachten Bourbonen. Bei ihrem Einzuge bemerkten die
Verbündeten mit Verwunderung, wie die Maſſen verſuchten das Bild des
glorreichen Imperators von der Vendomeſäule herabzuſtürzen, wie National-
gardiſten den vielgefeierten Stern der Ehrenlegion ihren Roſſen an den
Schweif banden. Schon ſah man an vielen Hüten die weiße Kokarde.
Ueberall Verwünſchungen gegen den Tyrannen, donnernde Jubelrufe für
die Befreier. Die franzöſiſche Eitelkeit ließ ſich’s nicht nehmen, daß die
weiße Armbinde, welche die buntſcheckigen Kriegsvölker des alten Europas
als Erkennungszeichen trugen, eine Huldigung ſei für Frankreichs Könige;
die Alliirten erſchienen den Erregten wie ein royaliſtiſches Kreuzfahrer-
heer, das im Namen und Auftrag der franzöſiſchen Nation das Urtheil
an dem Tyrannen vollſtreckte. Den König von Preußen begrüßte im
Theater das Lied: Vive Guillaume et ses guerriers vaillants, de ce
royaume il sauve les enfants!
Der ſchlichte Friedrich Wilhelm war,
wie Frau von Staël ſagte, ganz erſtaunt, daß es dieſen Leuten ſo viel
Vergnügen machte beſiegt zu ſein. In ſeinem Heere ward der alte Na-
tionalhaß durch den Anblick ſolcher Untreue nur verſchärft. Mit tiefer
Geringſchätzung ſprachen alle Norddeutſchen von dieſer herzloſeſten aller
Nationen. Für die unverwüſtliche elaſtiſche Lebenskraft, die in dem beweg-
[553]Die Alliirten in Paris.
lichen franzöſiſchen Charakter liegt, hatten ſie kein Auge. Ein ruhiges Ver-
hältniß gegenſeitiger Achtung ſtellte ſich nicht her, zum Unheil für beide
Nationen. Jene ganze Generation preußiſcher Staatsmänner und Generale
hielt immer die Ueberzeugung feſt, daß eine letzte Abrechnung mit Frank-
reich noch bevorſtehe; Gneiſenau und Stein haben bis zu ihrem Todes-
tage in ſolcher Ahnung gelebt.


Indeſſen genoſſen die Sieger mit vollen Zügen die Freuden des
üppigen hauptſtädtiſchen Lebens. Den Pariſern brachte die Eroberung
durchaus kein Ungemach, da die Alliirten aus zärtlicher Schonung gegen
die Gefühle der Beſiegten ihre Truppen längere Zeit auf den Plätzen
bivouakiren ließen, ſondern nur Gelegenheit zu leichtem Gewinne. Viele
reiche engliſche Familien eilten an die Seine zu den lang entbehrten Ge-
nüſſen der Stadt des Vergnügens. Das Gold floß in Strömen. Die
Cafehäuſer in den Gallerien des Palais Royal und die Spielhöllen an
den Boulevards freuten ſich der glänzenden Geſchäfte und der guten
Kundſchaft des preußiſchen Feldmarſchalls, der nach vollbrachter Kriegs-
arbeit das Blüchern nicht mehr laſſen konnte; allabendlich ſaß er ſtunden-
lang mit Frack und Ordensſtern über den geliebten Karten, mit kalt-
blütiger Ruhe ſeine Goldrollen ſetzend, am grünen Tiſche ebenſo kühn
und glücklich wie im Kriege. Ganz unbegreiflich blieb den an die Roheit
der Conſcribirten gewöhnten Franzoſen der Charakter des preußiſchen Volks-
heeres. Sie ſchüttelten den Kopf, wenn die preußiſchen Freiwilligen, faſt
ſo eifrig wie ihr Kronprinz, zu den Kunſtſchätzen des Louvre wallfahrteten.
Kein Murillo und kein Rafael zog dieſe teutoniſche Jugend ſo unwider-
ſtehlich an wie Memlings Weltgericht mit der fürchterlich ernſten Geſtalt
des richtenden Erzengels — jenes „Danziger Bild“, das Napoleon aus
der Marienkirche geraubt hatte; hier ſtanden die jungen Deutſchen immer
dicht gedrängt, als ob ſie ſich mitten in der wälſchen Herrlichkeit ihres
heimiſchen Weſens recht bewußt werden wollten. Für das ſtille Gefühl
der Beſchämung, das ſie doch nicht los werden konnten, rächten ſich die
Pariſer nach ihrer Weiſe durch Couplets und Caricaturen.


Ihre ganze Liebenswürdigkeit aber wendete ſich dem Czaren zu. Die be-
rechnete Schmeichelei berauſchte den glücklichen Sieger, der Einfluß Steins
ſank von Tag zu Tage. Alexander wohnte im Palaſte Talleyrands, und der
ſchlaue Hausherr fand der Bewunderung kein Ende für den erſten Mann
des Jahrhunderts, der allein die Befreiung Europas vollendet habe. Die
Behörden, die Gelehrten der Akademie und vor Allen die Damen ſchwan-
gen wetteifernd ihre Weihrauchsfäſſer vor dem ſanften, liebevollen „Engel
des Friedens“. Alexanders Eitelkeit fühlte ſich lebhaft geſchmeichelt, als
die Vorſteherin einer weiblichen Irrenanſtalt ihm erzählte, daß die Zahl
der aus unglücklicher Liebe erkrankten jungen Damen ſeit der Anweſen-
heit des ruſſiſchen Selbſtherrſchers bedenklich zugenommen habe. Der
Ezar gebärdete ſich wieder als der mächtige Schirmherr der Völkerfreiheit
[554]I. 5. Ende der Kriegszeit.
und dachte die Welt durch ſeine Großmuth in Erſtaunen zu ſetzen, zu-
mal da ſein Rußland unmittelbar von Frankreich nichts gewinnen konnte.
Das engliſche Cabinet, voll höchſter Eiferſucht gegen Rußland, ſuchte jetzt
ebenfalls durch nachſichtige Schonung die Freundſchaft der Franzoſen zu
gewinnen. Oeſterreich, das ſchon längſt den Frieden um jeden Preis
wünſchte, ſteuerte in derſelben Richtung. So ſtand denn Preußen bald
völlig einſam mit ſeinem Verlangen nach rückſichtsloſer Benutzung des
Sieges.


Die veränderte Stellung der Parteien im Lager der Coalition zeigte
ſich bereits bei den Verhandlungen mit Napoleon. Am 25. März end-
lich hatte Caulaincourt — und immer noch in ſehr unbeſtimmten, allge-
meinen Ausdrücken — an Metternich geſchrieben, daß er Vollmacht habe
den Frieden zu unterzeichnen. Der Brief kam zu ſpät, die Entſcheidung
war gefallen. Sogleich nach ihrem Einzuge erklärten die Alliirten, daß
ſie nicht mehr mit Napoleon unterhandeln würden, und forderten den
Senat auf eine vorläufige Verwaltung einzurichten. Dieſe proviſoriſche
Regierung verfuhr nach dem einfachen Grundſatze ihres Führers Talley-
rand: „es iſt nicht Jedermanns Sache ſich von dem einſtürzenden Ge-
bäude begraben zu laſſen“ und ſprach unter nichtswürdigen Schmähungen
die Abſetzung des Imperators aus. Daß die tauſende von Beamten und
Rittern der Ehrenlegion alleſammt alsbald ihres Eides vergaßen, war in
dem neuen Frankreich ſelbſtverſtändlich. Talleyrand meinte ſeine Zeit ge-
kommen, hoffte im Namen des unmündigen Napoleon II. die Regentſchaft
zu führen; ſobald er ſich aber überzeugte, daß dieſer Plan bei den Siegern
keinen Anklang fand, ſtellte er ſich ſofort mit gewandter Schwenkung auf
die Seite der Bourbonen und verſtändigte ſich mit ſeinem kaiſerlichen
Gaſte über die Reſtauration des alten Königshauſes.


Napoleon wurde, als er nach dem Falle der Hauptſtadt in Fontaine-
bleau anlangte, bald von ſeinen eigenen Marſchällen verlaſſen; er fand den
Muth nicht, durch einen freiwilligen Tod ein Leben zu beenden, das nunmehr
jedes Zwecks entbehrte, und unterzeichnete am 11. April ſeine Abdankung.
Vergeblich rieth Hardenberg den Monarchen, den gefährlichen Mann in ein
entlegenes Exil zu verweiſen, vergeblich empfahl das preußiſche Cabinet
noch mehrmals während der folgenden Monate die Inſel St. Helena als
den beſtgeeigneten Verbannungsort. Kaiſer Franz war nicht geſonnen
den Schwiegerſohn gänzlich ins Verderben zu ſtürzen, obgleich er unbe-
denklich ſeine Tochter von dem Geſtürzten trennte; die Briten rechneten
auf die Wachſamkeit ihrer Mittelmeerflotte. Den Ausſchlag gab, daß Czar
Alexander ſeinen Edelſinn zeigen wollte. Alſo wurde der unbegreiflich
thörichte Beſchluß gefaßt, dieſen gewaltigen Menſchen mit ſeinem raſtloſen
Ehrgeiz auf die Inſel Elba zu ſenden. Dort ſollte er friedlich hauſen,
inmitten der aufgeregten Nationen Frankreichs und Italiens, denen er
beiden gleich nahe ſtand — der Titane, der eben jetzt zu ſeinem Augereau
[555]Sturz Napoleons.
ſagte: Aſien bedarf eines Mannes! Man ließ ihm Würde und Rechte
eines ſouveränen Fürſten, alſo auch das Recht der Kriegführung, und
wähnte ſeine Laufbahn beendet, zumal da er auf der Reiſe durch die
royaliſtiſchen Striche Südfrankreichs nur mit Noth der Wuth des Pöbels
entging.


Alexander hoffte nun, ſeinen neuen liberalen Grundſätzen gemäß,
durch einen Beſchluß der franzöſiſchen Nation die Bourbonen zurückzu-
rufen und ſie ſogleich auf eine Verfaſſung zu verpflichten. Der Prä-
tendent dachte anders, desgleichen ſein Bruder Artois, der ſogleich als
Monsieur, Fils de France in Paris auftrat. Wer im Bourboniſchen
Hauſe hätte jemals bezweifelt, daß die Krone der Capetinger am Todes-
tage des unglücklichen Knaben, den man Ludwig XVII. nannte, von
Gottes Gnaden auf den Roy Louis XVIII. übergegangen war? Ludwig
vergaß es dem Czaren nicht, daß dieſer ihn einſt aus Mitau ausgewieſen,
trug gefliſſentlich ſeine Vorliebe für England, den Nebenbuhler Rußlands,
zur Schau; hier ward ihm wohl bei dem hart reactionären Prinzregenten
und ſeinen Hochtorys, die von dem göttlichen Rechte des franzöſiſchen
Königthums ſo feſt überzeugt waren. Mit der Verſicherung, daß er die
Wiederherſtellung ſeines Hauſes nächſt Gott dieſem großen Reiche ver-
danke, verließ er England an Bord einer britiſchen Flotte, trat in Frank-
reich ſofort als der rechtmäßige König auf, verkündete noch unterwegs,
trotz der perſönlichen Abmahnungen des Czaren, ſeinen Entſchluß den ge-
treuen Unterthanen kraft ſeines königlichen Rechtes eine Charte zu ſchenken,
und langte am 3. Mai in Paris an. Wie er ſo in ſeine Hauptſtadt
einfuhr, der dicke gichtbrüchige Greis, auf dem Rückſitze die beiden noch
älteren Herzöge von Condé und Bourbon, der Eine von ihnen feſt ein-
geſchlafen, da fragten die verwundert zuſchauenden preußiſchen Offiziere,
ob dies Greiſenregiment die Erbſchaft eines Napoleon antreten ſolle. Und
dann jenes ſonderbare Gegenſtück zu den majeſtätiſchen Siegesfeſten des
Soldatenkaiſers, die Heerſchau vor den Tuilerien: droben auf dem Altane
der alte Herr in ſeinem Lehnſtuhle, drunten die Truppen gehorſam ihr
vive le Roy rufend, und zuletzt ein gnädiges Kopfnicken des Königs und
ein herablaſſendes je suis content! Der Bourbone fühlte ſich ſeines
Thrones völlig ſicher, trat den Verbündeten mit naiver Anmaßung ent-
gegen, beanſpruchte als vornehmſter Fürſt der Chriſtenheit in ſeinem
eigenen Schloſſe den Vortritt vor den drei Monarchen, denen er Alles
verdankte.


Den Siegern dagegen entgingen die ſchweren Gefahren nicht, welche
dies aus dem Grabe erſtandene Regiment bedrohten. Sie ſahen mit wachſen-
der Sorge, wie weder das knechtiſche Betragen der ſofort zum Royalis-
mus bekehrten napoleoniſchen Marſchälle noch die Soldatenſpielerei des
Herzogs von Berry die napoleoniſchen Geſinnungen des Heeres unter-
drücken konnte, wie die abgeſetzten Beamten grollten und ſchürten, wie
[556]I. 5. Ende der Kriegszeit.
zwiſchen den heimkehrenden Emigranten und der Maſſe des Volks eine
tiefe unüberſteigliche Kluft ſich aufthat. Vom erſten Tage der neuen Re-
gierung an hatten die Alliirten geringes Vertrauen zu ihrem Beſtande.
Aber ſtatt aus ſolchen unheimlichen Anzeichen den Schluß zu ziehen, daß
Frankreichs Nachbarn verſtärkt und zum Widerſtande gegen dieſe unbe-
rechenbare Macht in Stand geſetzt werden müßten, dachten die Staats-
männer von Rußland, England und Oeſterreich vielmehr durch milde
Friedensbedingungen dem alten Königshauſe ſeine dornige Aufgabe zu er-
leichtern.


In Deutſchland hatten unterdeſſen jene Töne, welche Arndt in ſeiner
Schrift über den Rhein angeſchlagen, mannichfachen Widerhall gefunden.
Der vielgeſchäftige Reichspatriot Gagern forderte in einem wunderlichen
Büchlein „zur Berichtigung einiger politiſchen Ideen“ die avulsa imperii,
Elſaß und Lothringen für das Reich zurück: dies ſei der Weg für Oeſter-
reich zur Kaiſerkrone; „die Krone Preußen aber wird ohne Unbill dadurch
den Raum gewinnen, der zur Haltung dieſes Reichs nothwendig ſcheint,
und ein Zutrauen, ohne welches unſere Zukunft trübe wäre.“ Ein
Herman Teuthold ſchrieb einen „Appell an die Nation“, wollte alle Lande
des linken Ufers zu einem Königreiche Burgund vereinigen. In gleichem
Sinne ſprachen der Rheiniſche Mercur und die Teutſchen Blätter. Arndt,
Görres und ihre Freunde huldigten faſt alle der Hardenbergiſchen An-
ſicht, daß Oeſterreich im Elſaß, Preußen in den Moſellanden die Grenz-
hut übernehmen müſſe. Ein beliebtes Lied ſagte:


Gehalten hier von Oeſterreichs Macht,

Von Preußens Helden dort bewacht,

Am Rhein, am Rhein

Muß Deutſchlands Markung eiſern ſein.

Ein allgemeines leidenſchaftliches Verlangen nach der Vogeſengrenze zeigte
ſich in dieſem Jahre jedoch noch nicht. Es gab ihrer doch Viele, die mit
einem gelehrten Poeten das Jahr 1814 ſprechen ließen: jam vicisse sat
est, victor non ultor habebor.
Der wunderbare Siegeszug vom Memel
bis zur Seine hatte die kühnſten Hoffnungen übertroffen. Mancher er-
klärte ſich befriedigt, wenn nur die alte Grenze im Nordweſten wieder-
hergeſtellt und der Tyrann gezüchtigt würde: den Tod des Corſen forderte
man faſt allgemein, die Zeitungen ſprachen viel von Harmodios und
Ariſtogeiton.


Nach Allem was geſchehen, war eine Verſchärfung der Friedensbe-
dingungen in der That faſt unmöglich. Der Czar hatte ſoeben noch,
beim Einzuge, erklärt, daß die Verbündeten das alte Königthum und die
alten Grenzen Frankreichs wiederherſtellen wollten. Es ging kaum an,
dieſe ſo oft wiederholte Zuſage jetzt plötzlich zu brechen und den befreun-
deten Bourbonen härtere Zumuthungen zu ſtellen als dem Feinde Na-
poleon. Daher wagten die preußiſchen Diplomaten gar nicht einen förm-
[557]Deutſchlands Forderungen.
lichen Antrag auf die Wiedererwerbung von Elſaß-Lothringen zu ſtellen,
obgleich der Staatskanzler perſönlich dieſen Wunſch hegte und alle ſeine
Generale ihm eindringlich vorſtellten, wie ſchwer die Sicherheit Süddeutſch-
lands gefährdet würde, wenn jener mächtige Keil franzöſiſchen Gebietes
von Landau bis Hüningen tief in unſer Oberland hineinragte. Harden-
berg und ſogar Stein begnügten ſich den Rückfall von Straßburg und
Landau zu verlangen; denn dieſe Forderung durften ſie ſtellen ohne den
früheren Verſprechungen der Coalition untreu zu werden. Beim Ausbruche
der Revolutionskriege war ja ein volles Viertel des Elſaſſes, 245 Ge-
meinden mit 252,000 Einwohnern, noch im Beſitze deutſcher Reichsſtände
geweſen, freilich zum größten Theile unter franzöſiſcher Oberhoheit. Ga-
ben die Deutſchen dieſe alten Anſprüche auf, verzichteten ſie auf den
Wiedergewinn der ſchönen Herrſchaften Saarwerden, Lützelſtein, Rappolt-
ſtein, Mömpelgard, Dagsburg, Hanau-Lichtenberg, ſo waren ſie ſicherlich
berechtigt, zur Entſchädigung die beiden gefährlichen Hauptfeſtungen des
Oberrheins zu fordern. Aber einſtimmig traten die drei verbündeten
Mächte dieſer beſcheidenen Forderung Preußens entgegen. Talleyrand
betheuerte ſalbungsvoll: das einzige Mittel zur Verhinderung künftiger
Kriege ſei — eine große und ſtarke Nation nicht zu entehren, und fand
nur zu ſchnell Gehör bei dem Czaren, bei Metternich und Caſtlereagh.


Schon am 23. April wurde mit Monſieur ein vorläufiger Vertrag
abgeſchloſſen, kraft deſſen die Civilverwaltung in allen den Gebieten, welche
am 1. Januar 1792 franzöſiſch geweſen, ſofort an die franzöſiſchen Be-
hörden zurückgegeben werden ſollte; auch die Entfernung der verbündeten
Heere aus dieſen Landſtrichen wurde zugeſagt, ſobald Frankreich die noch
in Italien und Deutſchland beſetzten Feſtungen geräumt habe. Stein
machte den Staatskanzler darauf aufmerkſam, durch dieſen Vertrag ſeien
keineswegs ganz Elſaß-Lothringen und Burgund der franzöſiſchen Ver-
waltung preisgegeben, vielmehr lägen dort überall noch eingeſprengte alt-
deutſche Gebiete; als Leiter der Centralverwaltung befahl er ſogleich, daß
im Moſeldepartement alle die Ortſchaften, die erſt im Jahre 1793 erobert
worden, den Franzoſen nicht ausgeliefert werden ſollten*). Jedoch dieſe
ehrliche Auslegung des Vertrags fand bei den Verbündeten Preußens keinen
Anklang. Die ſchnelllebige Zeit hatte in der That ſchon ganz vergeſſen,
daß jenes deutſch gebliebene Viertel des Elſaſſes einſt den erſten Anlaß zu
den Revolutionskriegen gegeben hatte; allgemein glaubte man in der diplo-
matiſchen Welt, was die Franzoſen gefliſſentlich ausſprengten, das geſammte
oberrheiniſche Land ſei ſchon ſeit zweihundert Jahren franzöſiſch. Jeden-
falls wollte man ſich auf ſchwierige hiſtoriſche Unterſuchungen nicht ein-
laſſen und beſchloß das ganze Elſaß ſowie das ganze Moſeldepartement
ſogleich den franzöſiſchen Behörden auszuliefern. Damit war die Grund-
[558]I. 5. Ende der Kriegszeit.
lage des Friedensſchluſſes bereits feſtgeſtellt noch bevor der Friedenscongreß
eröffnet wurde. Die Coalition hatte, gegen den Widerſpruch Preußens, that-
ſächlich ſchon den Grundſatz anerkannt, daß die Grenzen vom 1. Januar
1792 zwar im Allgemeinen die Regel bilden, doch im Einzelnen zu Gunſten
des Beſiegten verändert werden müßten. Jene Frankfurter Verheißung:
Frankreich wird größer ſein als unter ſeinen Königen — ſollte ſich erfüllen.


Die Verhandlungen über den Friedensvertrag konnten erſt am 9. Mai
beginnen*), ſobald wieder eine anerkannte Staatsgewalt in Frankreich
beſtand. Die Bevollmächtigten verſammelten ſich in Talleyrands Hauſe.
Metternich und Stadion, Hardenberg und Humboldt, Neſſelrode und
Raſſumowsky, endlich Caſtlereagh, Stewart, Aberdeen und Cathcart ver-
traten die Coalition. Der ſoeben zum Miniſter des Auswärtigen ernannte
Talleyrand und jener Laforeſt, der vor 1806 in Berlin die Geſchäfte Napo-
leons geführt hatte, verhandelten im Namen des Allerchriſtlichſten Königs.
Mit gewohnter Dreiſtigkeit ſprach der franzöſiſche Miniſter ſein Befrem-
den darüber aus, daß man dem unbefleckten Lilienbanner dieſelben Zu-
muthungen ſtellte, wie der revolutionären Tricolore, und wiederholte
pathetiſch die in Napoleons letzten Erklärungen ſo oft erneuerte Verſiche-
rung: alle anderen Großmächte hätten ſich unmäßig vergrößert; kehre
Frankreich wieder in die Grenzen von 92 zurück, ſo werde das Gleich-
gewicht Europas bedenklich verſchoben. Indeß ſah der kluge Mann wohl
ein, daß alles Weſentliche in Wahrheit ſchon entſchieden war; er wußte,
daß dies entwaffnete Frankreich nach Lage der Umſtände ſich gar nichts
Beſſeres wünſchen konnte als die nachſichtigen Anerbietungen der Coalition,
und beſchränkte ſich daher bald auf den Verſuch, die Grenzen von 92
möglichſt vortheilhaft abzurunden. Die wenigen kurzen Sitzungen des
Congreſſes, die in Eile mitten in einem Strudel von Bällen, Schmäuſen
und Vergnügungen aller Art abgehalten wurden, galten nur der Erle-
digung von Fragen zweiten Ranges; darum iſt auch in den Archiven
wenig darüber zu finden. Bei der Gönnerſchaft, welche Rußland, Eng-
land und Oeſterreich den Franzoſen wetteifernd entgegentrugen, konnte
von einer Verſchärfung der urſprünglichen Bedingungen nicht mehr die
Rede ſein; die Frage war nur, wie viel Land Talleyrands Schlauheit
noch zu dem alten Gebiete hinzu erhandeln würde. Wohl bäumte ſich
der franzöſiſche Hochmuth noch zuweilen auf. Am 11. Mai verlangten
die Marſchälle im Staatsrathe die Wiedereröffnung des Krieges, offenen
Widerſtand gegen die ſchimpflichen Anforderungen der Coalition, und die
preußiſchen Generale befürchteten einige Tage lang den Ausbruch eines
Straßenkampfes in Paris.**) Doch das Gewölk zog vorüber, die Nüchtern-
heit König Ludwigs wollte ſich auf den tollen Vorſchlag nicht einlaſſen.


[559]Frankreichs neue Grenzen.

Jene Vereinbarung von Chaumont, kraft deren die Vertheilung der
abgetretenen Provinzen den Alliirten allein überlaſſen blieb, wurde auf-
recht erhalten, Dank der Feſtigkeit Hardenbergs. Indeß erreichte Talley-
rand, daß man dieſen Satz in den geheimen Artikeln des Friedensver-
trags begrub; die Franzoſen durften nichts erfahren von jener Beſtimmung,
die ihrem Stolze am unerträglichſten war. Bei der Berathung über die
einzelnen Punkte der Grenze bereitete die Nachgiebigkeit der drei Verbün-
deten Preußens dem franzöſiſchen Miniſter einen Triumph nach dem
andern. Er bewirkte nicht nur, daß alle von franzöſiſchem Gebiete ein-
geſchloſſenen Herrſchaften, Avignon und Venaiſſin, Mömpelgard und die
elſäſſiſchen Reichslande, bei Frankreich verblieben, ſondern erlangte auch
noch einige köſtliche Außenpoſten über die alten Grenzen hinaus: ſo Sa-
voyen und einen Landſtrich an der belgiſchen Grenze mit der wichtigen
Maasfeſtung Givet. Mit der äußerſten Zähigkeit marktete er um jeden
Brocken Landes; nur durch Humboldts entſchiedenen Widerſpruch wurde
Kaiſerslautern für Deutſchland gerettet.*) Dagegen überließ man die
altpfälziſchen Gebiete, die zwiſchen den Weißenburger Linien und der
Enclave Landau lagen, an Frankreich, und um die Grenze bei Saarlouis
abzurunden wurde ſogar Saarbrücken mit ſeinem unſchätzbaren Kohlen-
becken und der alten naſſauiſchen Fürſtengruft von St. Arnual preisge-
geben. Die treue deutſche, altproteſtantiſche Stadt war in Verzweiflung.
Sie hatte ſo ganz feſt gebaut auf die Verſicherung des Generalgouver-
neurs Gruner: wer deutſch ſpricht ſoll deutſch bleiben. Nun vernahm
Stein tief erſchüttert die rührenden Klagen dieſer wackeren Lothringer über
ihre ſchreckliche Lage, die in dem Herzen jedes Deutſchen Trauer erregen
müſſe, und legte ein gutes Wort ein für die Bitte der Saarbrücker, daß
man ihre Söhne mindeſtens im deutſchen Staatsdienſte anſtellen möge.**)
Beſſer ward für die Schweiz geſorgt, natürlich wieder auf Deutſchlands
Koſten: man konnte gar nicht genug thun die gerühmten Polſterkiſſen an
der deutſchen Grenze zu verſtärken. Die Eidgenoſſenſchaft erhielt das Bis-
thum Baſel, und Metternich erklärte ſich auch bereit ihr das altöſter-
reichiſche Frickthal mit Rheinfelden und Laufenburg zu laſſen.


Tag für Tag hatten die preußiſchen Staatsmänner mit der unerſchöpf-
lichen Freigebigkeit ihrer Verbündeten zu kämpfen, bis Humboldt ſich end-
lich von Metternich und Neſſelrode das Wort darauf geben ließ, daß es
nun genug ſei und kein Zollbreit deutſchen Bodens mehr abgetreten wer-
den ſolle.***) Talleyrand aber durfte mit Befriedigung ſein Werk be-
trachten: Frankreich blieb nach einem viertelhundertjährigen Kriege, den
[560]I. 5. Ende der Kriegszeit.
allein ſein Hochmuth über die Welt verhängt, um hundert Geviertmeilen
und mehr als eine Million Einwohner ſtärker denn zuvor.


Im Rauſche ſeiner Großmuth wollte der Czar, allem völkerrechtlichen
Brauche zuwider, dem Beſiegten die Bezahlung der Kriegskoſten erlaſſen;
er fand es unedel, dieſem wohlhabenden, durch die Ausplünderung aller
Länder bereicherten Frankreich einen beſcheidenen Theil des ruchloſen
Raubes wieder abzunehmen. Da auch Oeſterreich und England dieſer
eigenthümlichen Anſicht beiſtimmten, ſo mußten die Preußen nach lebhaf-
tem Widerſtreben ſich fügen und verzichteten auf jede Vergeltung für die
unerſchwingliche Tilſiter Contribution. Es war, als wollte man die
Franzoſen abſichtlich beſtärken in dem übermüthigen Wahne, daß für ſie
allein das Völkerrecht nicht vorhanden ſei. Außerdem hatte Preußen noch
die Rückerſtattung der von ihm an Frankreich gezahlten Vorſchüſſe zu
fordern. Das Finanzminiſterium berechnete, ſehr niedrig: 136 Mill. für
den Durchmarſch der großen Armee nach Rußland, ferner 10,7 Mill. für
die vertragswidrig erpreßten Leiſtungen und Lieferungen aus den Jahren
1808—12, endlich über 23 Mill. rückſtändige Zahlungen an das Königreich
Sachſen und die Stadt Danzig, die man beide ſchon als preußiſche Ge-
biete anſah, zuſammen 169,8 Mill. Fr. Die Zahlung dieſer Summe
war eine Lebensfrage für die preußiſchen Finanzen; der ungleiche Kampf
hatte den Staatshaushalt dermaßen erſchöpft, daß Hardenberg eben jetzt
bei Lord Caſtlereagh dringend um ein ſofortiges baares Darlehen von —
100,000 Pfd. St. bitten mußte! Alle jene Millionen waren für den Un-
terhalt der franzöſiſchen Armee verwendet worden, an der Rechtmäßigkeit
der Schuldforderung beſtand gar kein Zweifel. Hardenberg hielt die Be-
richtigung der Schuld jetzt um ſo mehr für unausbleiblich, da ja im
letzten Frühjahr die vertragswidrige Verweigerung der Zahlung der un-
anfechtbare Rechtsgrund für Preußens Kriegserklärung geweſen war.
Darum hatte er auch verſäumt, während des Krieges eine Bürgſchaft der
Alliirten für ſeine Anſprüche zu verlangen.


Es war eine folgenſchwere Unterlaſſungsſünde, freilich ein Fehler,
den wohl auch ein minder vertrauensvoller Staatsmann als Hardenberg
war hätte begehen können; denn wer mochte glauben, daß eine ſo ſonnen-
klare, unbeſtreitbare Forderung nicht die Unterſtützung der Bundesgenoſſen
finden würde? Als Preußen ſeine Rechnung dem Congreſſe zuerſt vor-
legte, widerſprach Niemand unter den Verbündeten. In der Sitzung vom
17. Mai verlangte Humboldt ſodann eine beſtimmte Erklärung der Fran-
zoſen. Da erwiderte Laforeſt: ſein König habe ihm unbedingt verboten
über dieſe Frage auch nur zu verhandeln — und zwar unmittelbar nach
einem Geſpräche mit dem Czaren.*) Nachher erfuhr der preußiſche Be-
vollmächtigte vertraulich von Metternich und Anſtett: die beiden Kaiſer-
[561]Kriegskoſten und Kunſtſchätze.
mächte ſeien einig durchaus keine Geldforderungen an Frankreich zu ſtellen
— ſie allerdings hatten von Frankreich keine Schulden einzutreiben — und
überließen den Preußen was ſie thun wollten. Alſo war Preußen von
ſeinen Alliirten völlig preisgegeben, in einer bizarren Situation, wie Hum-
boldt ſagte; und, fügte er mit bitterem Vorwurf gegen den Staatskanzler
hinzu, mit etwas weniger Verſchämtheit und etwas mehr Geſchick hätten
wir unſere gerechten Anſprüche ſchon vor dem Einzuge in Paris durch-
ſetzen können. König Ludwig kannte den Haß ſeines Volkes gegen die
Preußen und gab daher, ſobald er von den drei Mächten nichts mehr
zu befürchten hatte, die hochtrabende Antwort: „lieber dreihundert Millio-
nen aufwenden um Preußen zu bekämpfen, als hundert um es zu be-
friedigen!“ Sollte die norddeutſche Macht, mittellos wie ſie war, mit ihrem
gelichteten Heere den Krieg allein wieder aufnehmen? Es blieb kein Aus-
weg; man mußte die Folgen der Fehler Hardenbergs tragen. Durch die
Artikel 18 und 19 des Friedensvertrags verzichteten die europäiſchen
Mächte — vorbehaltlich einiger Anſprüche von Privatleuten — wechſel-
ſeitig auf alle ihre Schuldforderungen, ein Verzicht, der für Oeſterreich
und Rußland nichts, für Preußen eine ungeheure Einbuße bedeutete.


Ueberall bei den Berathungen des Congreſſes erſchienen die Preußen
als die Dränger und Treiber und überall zogen ſie den Kürzeren.
Friedrich Wilhelm nahm, wie ſein treues Volk, als ſelbſtverſtändlich an,
daß die mit Verhöhnung alles Völkerrechts zuſammengeraubten Kunſtſchätze
jetzt zu ihren rechtmäßigen Eigenthümern zurückkehren würden; er forderte
Alles zurück was ſeinem Staate an Büchern, Kunſtwerken und Trophäen
abgenommen war und erreichte in der That eine mündliche Zuſage. Als
aber Humboldt den franzöſiſchen Miniſter ernſtlich über das Wann und
Wie zur Rede ſtellte, wurde Talleyrand ſichtlich verlegen und meinte: er
glaube wohl, daß ſein Herr Alles wieder herausgeben wolle; König
Friedrich Wilhelm möge noch einmal mit dem Monarchen ſprechen;
wahrſcheinlich habe der premier gentilhomme du Roy dieſe Sache zu
beſorgen.*) Auf erneutes Drängen kam endlich die Berliner Victoria
aus ihrem Schuppen hervor; wie jubelte Jacob Grimm, als er ſich
eines Morgens auf die eherne Quadriga ſetzte und dort ſein Frühſtück
verzehrte. Auch der Degen Friedrichs des Großen fand ſich wieder,
und Grimm entdeckte mit dem Spürſinne des Sammlers noch einige
Schätze der Caſſeler Bibliothek in ihrem Verſteck. Das war Alles.
Freiherr von Oelſſen, den der König im Spätſommer zur Abholung
der preußiſchen Kunſtwerke nach Paris ſendete, wurde monatelang mit
Ausflüchten und leeren Reden hingehalten.**) Da die anderen drei
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 36
[562]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Mächte für Preußens Anſprüche kaum einen Finger regten, ſo hielt ſich
König Ludwig ſeines Wortes entbunden. Sein geſammtes Volk ſtand
hinter ihm wie ein Mann; kein Franzoſe, der nicht die Zurückforderung
des völkerrechtswidrigen Raubes für ein himmelſchreiendes Unrecht ge-
halten hätte. Mit erſchreckender Klarheit trat zu Tage, wie von Grund
aus die Plünderungszüge des Kaiſerreichs das Rechtsgefühl in dieſer
Nation verwüſtet hatten und wie nöthig es war, ſie durch eine ſtrenge
Züchtigung wieder an die ſittlichen Grundgedanken jeder friedlichen Staa-
tengeſellſchaft zu erinnern.


Stand es alſo, wie durfte man hoffen, daß die Alliirten ſogleich auf
die von Preußen beanſpruchte Gebietsentſchädigung eingehen würden?
Seinen eigenen Antheil an der Beute hatte Oeſterreich ſoeben in Sicher-
heit gebracht. Am 20. April zogen die Oeſterreicher nach einem ſchlaffen,
unrühmlichen Feldzuge in Venedig ein; am ſelben Tage warf ein unbe-
ſonnener Aufſtand der Mailänder das Königreich Italien über den Hau-
fen. So erlangte Kaiſer Franz faſt mühelos durch eine ſeltene Gunſt des
Glückes den Beſitz von Ober- und Mittelitalien und war daher weniger
denn je geneigt, dem beargwöhnten Preußen gegenüber irgend eine Ver-
pflichtung zu übernehmen. Gleichwohl wagte Hardenberg, wie ſeine Pflicht
gebot, den ausſichtsloſen Verſuch und legte am 29. April jene Forde-
rungen, die er ſchon in Baſel ausgeſprochen hatte, in einer ausführ-
lichen Denkſchrift den Verbündeten vor.*)


Er beginnt mit dem aufrichtigen Geſtändniß, daß Preußen für alle
anderen Mächte freundliche Abſichten hege, nur nicht für Dänemark; denn
das ſoeben an die Dänen abgetretene ſchwediſche Pommern müſſe um
jeden Preis preußiſch werden. Für Deutſchland fordert er eine Bundes-
acte, welche vornehmlich eine kräftige Kriegsordnung einrichten, die Be-
ziehungen zwiſchen Fürſten und Unterthanen, desgleichen das Gerichts-
weſen und den deutſchen Handel regeln und „die Stelle einer Verfaſſung
vertreten“ ſoll. Holland und die Schweiz ſchließen ein ewiges Bündniß
mit dem deutſchen Bunde. Rußland erlangt den größten Theil von
Warſchau mit etwa 2,3 Millionen Einwohnern; Preußen erhält Poſen
bis zur Warthe, mit Einſchluß von Thorn, etwa 1,3 Millionen Köpfe;
Oeſterreich nur das 1809 abgetretene Neu-Galizien, Krakau und Zamoscz
mit 700,000 Einwohnern. Außer dieſen polniſchen Strichen und Ober-
italien ſoll Oeſterreich vor Allem den zur Vertheidigung des Oberrheins
unentbehrlichen Breisgau erhalten; der vorgeſchobene Poſten muß mit
dem Kaiſerſtaate in ununterbrochener Verbindung ſtehen, daher haben
Baiern, Baden und Württemberg einige Stücke ihres Oberlandes (ſo
Paſſau und Lindau) abzutreten, die Fürſten von Hohenzollern und Lichten-
ſtein werden mediatiſirt und ihre Länder zu dem gleichen Zwecke verwendet.
[563]Hardenbergs Plan für die Herſtellung Preußens.
Dergeſtalt wird Oeſterreich um 1,7 Mill. Seelen ſtärker als im Jahre
1801. Preußen verzichtet, wenngleich ſehr ungern, auf das treue Ans-
bach-Baireuth und verlangt, außer den beiden Herzogthümern Weſtphalen
und Berg: ganz Sachſen ſowie die Rheinlande von Mainz bis Weſel.


Der Staatskanzler unterſchätzte alſo keineswegs, wie die Uneinge-
weihten ihm vorwarfen, die militäriſche Bedeutung des Rheinlandes; viel-
mehr war die Spitze ſeines Planes erſichtlich gegen Frankreich gerichtet.
Hardenberg berechnete die Einwohnerzahl der alſo hergeſtellten Monarchie,
offenbar zu niedrig, auf 10½ Millionen, 600,000 Köpfe mehr als im
Jahre 1805. Wie Vorderöſterreich, ſo ſollten auch Preußens weſtliche
Provinzen durch einen „Iſthmus“ mit dem Hauptkörper des Staates ver-
bunden werden; die Landkarten der Staatskanzlei beſtimmten ein Stück
hannoverſchen Landes ſüdlich von Göttingen für Preußen, um den Zu-
ſammenhang zwiſchen dem Eichsfelde und dem öſtlichen Weſtphalen her-
zuſtellen. Den Niederlanden wurde außer Belgien auch Luxemburg und
ein Stück der deutſchen Rheinlande zugedacht; doch war man jetzt etwas
behutſamer geworden und bot dem Oranier nur noch einen Strich im
äußerſten Weſten mit der Feſtung Jülich, außerdem die Verſetzung ſeiner
deutſchen Vettern auf das linke Ufer, an die luxemburgiſche Grenze. Die
feſten Plätze des Rheinthals wollte Hardenberg ſchlechterdings nicht in
ſchwache Hände kommen laſſen. Nur ungern, ſo geſtand er ſelbſt, forderte
er für ſeinen Staat dieſen gefährlichen Wachtpoſten; er fühlte, daß Preußen
hier eine Ehrenpflicht gegen das große Vaterland zu erfüllen hatte. Der
mißtrauiſche Blick des oraniſchen Staatsmannes Gagern bemerkte wohl,
wie das preußiſche proviſoriſche Gouvernement in Aachen die wiederge-
wonnenen altpreußiſchen Lande Cleve und Geldern mit den kölniſch-trieri-
ſchen Krummſtabslanden durchaus auf gleichen Fuß behandelte; man
bereitete in der Stille die Einverleibung vor. Baiern endlich ſollte für
die an Oeſterreich abgetretenen Provinzen das geſammte nördliche Baden
mit Mannheim und Heidelberg ſowie einen Theil der linksrheiniſchen
Pfalz mit Speyer empfangen. Der badiſche Hof mochte irgendwo auf
dem linken Rheinufer ſeine Entſchädigung finden; das ſchlaffe Regiment
des Großherzogs Karl ſtand überhaupt bei den großen Mächten in
ſchlechtem Anſehen, zudem ſchien ſeine Dynaſtie dem Ausſterben nahe.


So Hardenbergs Hoffnungen. Oeſterreich empfing durch die Denk-
ſchrift einen ſchlagenden Beweis der treuen Freundſchaft des Berliner
Cabinets. Wie oft hatte einſt der große König jeden Schritt weſtwärts,
den Oeſterreich wagte, mit der Feder und dem Schwerte bekämpft; jetzt
reichte Preußen ſelber der Hofburg die Herrſchaft über Süddeutſchland
wie auf einem Teller entgegen. Der Staatskanzler erbot ſich ſelbſt die
Stammesvettern ſeines Monarchen, die ſchwäbiſchen Hohenzollern dem
Gedanken des deutſchen Dualismus zu opfern, ja er wollte, um nur der
Kaiſermacht eine feſte Stellung am Oberrheine zu verſchaffen, ſogar dem
36*
[564]I. 5. Ende der Kriegszeit.
bairiſchen Staate, der ihm ſtets verdächtig blieb, eine hochgefährliche Ver-
größerung geſtatten: durch den Beſitz der badiſchen Pfalz ſchnitt Baiern
die kleinen ſüddeutſchen Staaten gänzlich von dem Norden ab, der Süden
wurde unbedingt von Oeſterreich und Baiern abhängig. Die patriotiſche
Abſicht dieſer thörichten Pläne war die Hoffnung, Oeſterreich vielleicht
dereinſt für die Wiedereroberung des Elſaſſes zu gewinnen; wußte man
doch, daß der mächtige Adel des Oberlandes auf beiden Ufern des Rheines
begütert war und noch ganz in öſterreichiſchen Erinnerungen lebte. Die
Vergrößerung Baierns ſchien ungefährlich, wenn ein öſterreichiſches Vor-
land zwiſchen Baiern und Frankreich eingeſchoben wurde.


Zum Glück für Deutſchland verſagte ſich Oeſterreich ſelbſt den frei-
gebigen Abſichten ſeines preußiſchen Freundes. Metternich blieb bei ſeiner
Anſicht, daß man die ſüddeutſchen Nachbarn nicht erſchrecken dürfe. In
der preußiſchen Denkſchrift fand er ſchlechterdings nichts was ſeiner eigenen
Anſicht entſprach; er wollte weder Rußland ſo weit in Polen eindringen
noch Preußen ſüdwärts über die Moſellinie vorrücken laſſen und am
Allerwenigſten die Albertiner den Hohenzollern preisgeben. Daher er-
widerte er, die Frage könne erſt auf dem großen Congreſſe, der binnen
zwei Monaten zuſammentreten ſollte, ihre Erledigung finden. In der
Stille aber traf er bereits ſeine Anſtalten um die Mainzer Feſtung den
Händen Preußens zu entwinden und ſchloß am 3. Juni mit Wrede einen
Vertrag zur Ausführung der Rieder Verabredungen: Baiern ſollte Mainz
und ein möglichſt großes Gebiet auf dem linken Rheinufer erhalten, dazu
die badiſche Pfalz und die zur Verbindung mit dem Hauptlande nöthigen
Gebiete. Deutſchlands wichtigſte Feſtung, der Schlüſſel der Rheinlande
war alſo dem Staate verſprochen, der noch unter Montgelas’ Leitung
ſtand und in Berlin mit Recht als ein geheimer Bundesgenoſſe Frank-
reichs beargwöhnt wurde. Selbſtverſtändlich durfte Preußen von dieſem
Abkommen nichts erfahren. Seinen engliſchen Freunden aber geſtand
Metternich offen: er wünſche möglichſt viele deutſche Staaten im Rhein-
thale anzuſiedeln und alſo zur Vertheidigung des Stromes zu zwingen;
nimmermehr könnten Oeſterreich und Baiern das feſte Mainz und damit
„die Herrſchaft über ihren einzigen großen Strom“, den Main, an Preußen
geben, das ſchon Rhein und Elbe, Oder und Weichſel beherrſche. Die
Hochtorys gingen, wie gewöhnlich, bereitwillig auf Metternichs Anſichten
ein; ſie glaubten ihm aufs Wort, daß der Main ein öſterreichiſcher Strom
ſei, und wollten ſich ebenfalls in Paris auf keine Verhandlung über
Preußens Anſprüche einlaſſen.


Auch der Czar war der gleichen Anſicht, obgleich Stein ſich warm
für die Vorſchläge des Staatskanzlers verwendete und dringend vorſtellte:
die preußiſch-ruſſiſchen Forderungen müßten jetzt ins Reine gebracht wer-
den, ſo lange Frankreich ſich noch nicht erholt und Oeſterreich ſein Heer
nicht verſtärkt habe. Alexander wünſchte nicht, ſich jetzt ſchon über ſeine
[565]Vertagung der Gebietsfragen.
polniſchen Pläne zu äußern, von denen auch Stein noch immer nichts
Sicheres wußte. In der That ſprachen auch gewichtige ſachliche Gründe
für die Verſchiebung der Entſcheidung bis zu dem Congreſſe, der die neue
Geſtalt des Staatenſyſtems feſtſetzen ſollte. Es zeigte ſich jetzt, daß
dieſer ungeheure Krieg doch in erſter Linie ein Kampf um Preußens
Daſein geweſen war. Die Wiederherſtellung Preußens ſetzte voraus Ver-
handlungen mit Rußland, Oeſterreich, England-Hannover, Dänemark,
Schweden, Holland und einer langen Reihe deutſcher Kleinſtaaten; ſie
berührte die beiden Fragen, worüber die Meinungen am Weiteſten aus-
einandergingen, den ſächſiſchen und den polniſchen Handel. Dieſe Fragen
jetzt erledigen hieß nichts anderes als dem Congreſſe die wichtigſten Auf-
gaben, um derentwillen er berufen war, im Voraus wegnehmen. Von
der Umgeſtaltung des preußiſchen Gebietes hing die neue Ordnung der
Staatengeſellſchaft vornehmlich ab; darin lag die Bedeutung zugleich und
die ſchwere Gefahr unſerer centralen Stellung.


Stein hat ſpäterhin den Staatskanzler getadelt, weil er den gün-
ſtigen Augenblick, da die Waffenthaten Preußens noch in friſcher Erinne-
rung ſtanden, nicht benutzt habe, um ſich den Siegespreis zu ſichern.
Als ob ſolche gemüthliche Stimmungen irgend etwas bedeuteten gegen-
über den mächtigen Intereſſen, welche die berechnete Zurückhaltung der
Alliirten beſtimmten! In den Augen Oeſterreichs und Englands waren
die Siege Blüchers und Gneiſenaus wahrhaftig kein Verdienſt, ſondern
nur ein Grund mehr, Preußen zu beargwöhnen, den aufſtrebenden Staat
in Schranken zu halten. Der Reichsritter war völlig im Irrthum, wenn
er wähnte, Metternich ſei in jenem Augenblicke zur Abtretung von Sachſen
bereit geweſen. Und welches Mittel beſaß denn Hardenberg, um die
widerſtrebenden Höfe jetzt zu bindenden Verſprechungen zu zwingen? Da
die Alliirten ſich verpflichtet hatten nur gemeinſam (d’un commun ac-
cord
) Frieden zu ſchließen, ſo war Preußen allerdings formell berechtigt
ſeine Zuſtimmung an Bedingungen zu knüpfen; man konnte erklären:
wir geſtatten nicht, daß Beſtimmungen über die Niederlande und Italien
in den Friedensſchluß aufgenommen werden, wenn nicht auch unſere Ent-
ſchädigungen Erwähnung finden. Aber dieſer letzte Trumpf war ſchon
verſpielt; Preußen hatte ja längſt der Herrſchaft Oeſterreichs über Ober-
italien und der Verſtärkung der Niederlande zugeſtimmt. Ein nachträg-
licher Widerſpruch war ein Lufthieb, konnte höchſtens bewirken, daß die
Artikel über Italien und Holland aus der Friedensurkunde wegblieben.
Damit ward Preußens Stellung nicht gebeſſert, nur das Mißtrauen der
Alliirten verſchärft.


Für jetzt war ſchlechterdings nichts zu erreichen. Preußen unterzeich-
nete am 31. Mai mit den drei verbündeten Höfen ein Protokoll, das die Ent-
ſcheidung aller noch ſtreitigen Gebietsfragen auf den Congreß verwies. Bis
dahin ſollten Würzburg und Aſchaffenburg durch Baiern, das Herzog-
[566]I. 5. Ende der Kriegszeit.
thum Berg und die Lande zwiſchen Maas und Moſel durch Preußen, die
Striche ſüdlich der Moſel durch Baiern und Oeſterreich, die belgiſchen
Lande durch England und Holland verwaltet werden; Mainz aber erhielt
eine gemiſchte Garniſon von Preußen und Oeſterreichern, ausdrücklich da-
mit die Entſcheidung frei bliebe. Hardenberg hatte bei ſeiner Niederlage
nur den einen Troſt, daß ſein gefährlichſter Gegner, Frankreich, bei der
Gebietsvertheilung nicht mitwirken ſollte. Aber die praktiſche Bedeutung
dieſer Beſtimmung hing offenbar lediglich von der Eintracht der Verbün-
deten ab. Verſtändigten ſie ſich nicht unter ſich, ſo mußte ein Staat von
der Macht und den weitverzweigten Verbindungen Frankreichs, wenn er
einmal an dem Congreſſe theilnahm, unausbleiblich auch in die Gebiets-
ſtreitigkeiten hineingezogen worden, ja er konnte vielleicht allen Verab-
redungen zum Trotz das entſcheidende Wort ſprechen. Dies ward auch
ſchon in Paris dunkel geahnt. Czar Alexander und Stein erfuhren bald
von einem verdächtigen geheimen Verkehre zwiſchen Talleyrand, Metternich
und Caſtlereagh; man fühlte, wie die Coalition ſich lockerte, wie England
und Oeſterreich nach Bundesgenoſſen ſuchten um die preußiſch-ruſſiſchen
Pläne zu vereiteln.


Während alſo Preußens unverſöhnlichſter Feind von einigen der
verbündeten Mächte umworben wurde, begann zugleich die Freundſchaft
zwiſchen dem preußiſchen und dem ruſſiſchen Cabinet bedenklich zu erkalten.
Schon die wohlfeile Großmuth des Czaren hatte den Staatskanzler tief
verſtimmt, und jetzt wurde auch von dem Plane der Wiederherſtellung
Polens Einiges ruchbar. Man vernahm, wie der Czar im Hotel Talley-
rand begeiſtert von Polens Freiheit ſprach; der kluge Franzoſe bedurfte
noch der ruſſiſchen Gunſt für die Abwicklung der Friedensverhandlungen und
beſtärkte den kaiſerlichen Gaſt durch harmloſe zuſtimmende Bemerkungen
in ſeiner Schwärmerei. Alexander beſuchte mehrmals die Feſtlichkeiten der
polniſchen Emigranten, die ihn huldigend umdrängten; er nahm die pol-
niſchen Regimenter, die unter Napoleon gefochten, ſofort in ſeinen Dienſt
und ſchickte ſie unter dem Banner des weißen Adlers in die Heimath.
Auch das ruſſiſche Heer marſchirte alsbald nach dem Friedensſchluſſe
eilig nach Polen zurück; zugleich trafen die Reſerven aus dem Oſten des
Reiches in Warſchau ein. Während des Sommers verſammelte ſich am
Bug und Narew eine Truppenmaſſe doppelt ſo ſtark als das Heer, das
der Czar gegen Frankreich ins Feld geführt; die Generale drohten laut,
ſie wollten doch ſehen, wer einer ſolchen Kriegsmacht das eroberte Polen
entreißen würde. Man hörte, daß der Czar unter ſeiner polniſchen Krone
faſt das geſammte Großherzogthum Warſchau und vielleicht auch Litthauen
zu vereinigen hoffe; nur ein kleiner Strich Landes in der Nähe Krakaus,
doch ohne dieſe Stadt, ſollte an Oeſterreich, nur Poſen bis zur Prosna,
aber ohne das altdeutſche Thorn, ſollte an Preußen abgetreten werden.
Dabei vermied Alexander nach wie vor jede offene Erklärung über die
[567]Der Friedensſchluß.
polniſche Sache. Es war nur menſchlich, daß Hardenberg durch dies
hinterliſtige Verfahren des überſchwänglich zärtlichen Freundes tief er-
bittert wurde und jetzt den Einflüſterungen der engliſch-öſterreichiſchen
Diplomaten ſein Ohr lieh. Gleichwohl forderte die ſchwer bedrängte Lage
des Staates gebieteriſch, ſolche Empfindlichkeit zu unterdrücken und eine
Verſtändigung mit dem Czaren zu ſuchen; denn wer anders als Rußland
konnte die Forderungen Preußens ehrlich unterſtützen?


Die Friedensurkunde, am 30. Mai unterzeichnet, enthielt über die
Vertheilung der Eroberungen nur einige kurze Sätze, das Wenige worüber
man ſich verſtändigt hatte: die Länder des linken Rheinufers ſollten zur
Entſchädigung für Holland, Preußen und andere deutſche Staaten ver-
wendet, Oeſterreichs italieniſcher Beſitz im Weſten durch den Teſſin und
den Langen See begrenzt, das Gebiet der alten Republik Genua mit dem
wiederhergeſtellten Königreich Sardinien vereinigt werden. Die anderen
Fragen blieben ſämmtlich offen. Oeſterreich ſah alſo doch nicht alle ſeine
ausſchweifenden italieniſchen Hoffnungen erfüllt. Den Kirchenſtaat über-
ging der Friedensvertrag mit Stillſchweigen; aber da der Papſt ſoeben,
am 24. Mai, in der ewigen Stadt wieder einzog und die romantiſch
aufgeregte Welt ihn überall mit Entzücken begrüßte, ſo war bereits ſicher,
daß er mindeſtens einen Theil ſeines Landes zurück erlangen würde. Auch
die Auslieferung von Genua an den alten Nebenbuhler Piemont war für
die Hofburg ein ſchwerer Schlag; England hatte die Stadt ſoeben erobert
und erklärte ſich unbedenklich bereit ſie an König Victor Emanuel dahin-
zugeben, weil man ihn für die Abtretung von Savoyen entſchädigen mußte.
Rußland ergriff, ſeinen alten Ueberlieferungen getreu, die Partei der Pie-
monteſen, und auch Frankreich erwies ſich ihnen günſtig; denn Talleyrand
erkannte, ſcharfſinniger als die Diplomaten der Coalition, daß die Ver-
ſtärkung der Zwiſchenſtaaten für Frankreich eher vortheilhaft als gefähr-
lich war. Wie er gegen die Bildung des Königreichs der vereinigten
Niederlande nichts einzuwenden hatte, ſo ſuchte er auch das Polſterkiſſen,
das im Süden die Gebiete Oeſterreichs und Frankreichs auseinander
halten ſollte, möglichſt zu verſtärken. Dem vereinigten Widerſpruche dieſer
drei Mächte mußte Oeſterreich nachgeben. Kaiſer Franz ertrug die halbe
Niederlage ſehr unwirſch; auf den Beſitz des Kirchenſtaates hatte er be-
ſtimmt gerechnet, war doch ſchon im Jahre 1799 die Seculariſation des
Patrimonium Petri von Thugut in vollem Ernſt geplant worden. Met-
ternich übergab dem engliſchen Cabinet einen feierlichen, auf die naive
Unwiſſenheit der Torys berechneten Proteſt, erinnerte die Briten an die
im vorigen Sommer zu Prag gegebenen Verſprechungen und verwahrte
die unbeſtreitbaren Rechte auf den Kirchenſtaat, welche das Haus Oeſter-
reich als König der Römer ſowie als erblicher Kaiſer und Oberhaupt des
deutſchen Reichskörpers beſitze. Immerhin waren Oeſterreichs weſentliche
Ziele erreicht; ſein italieniſcher Beſitz hatte ſich vervierfacht, ſeine Vettern
[568]I. 5. Ende der Kriegszeit.
hauſten wieder in Florenz und Modena, die Halbinſel lag jederzeit ſeinen
Waffen offen. Ganz Italien, allein Piemont ausgenommen, ſtand fortan
unter fremden Herrſchern, die mit der Hofburg durch eine natürliche
Intereſſengemeinſchaft verbunden waren. Der gefährliche Name des König-
reichs Italien wurde ſofort beſeitigt, das Vaterland Machiavellis ſollte
nicht mehr ſein als ein Familiengut der Sippe des Hauſes Oeſterreich.
Darum durften auch die altehrwürdigen Republiken Venedig und Genua
nicht wieder aufleben; wie leicht hätte der durch Napoleon wieder erweckte
Nationalgeiſt der Italiener hier eine Zuflucht finden können.


Ohnehin war dies Zeitalter der beginnenden Reſtauration allen Re-
publiken ungünſtig; wo kein Prinz auftrat, der ein Erbrecht von Gottes
Gnaden geltend machte, da ſchien überhaupt kein Recht vorhanden zu ſein.
Das neue Staatenſyſtem Europas trug durchaus den Charakter eines
großen Fürſtenbundes, und immer ſtärker ward in dieſer monarchiſchen
Staatengeſellſchaft der Einfluß der fünf großen Mächte. Sie allein hatten
den Pariſer Friedenscongreß beſchickt. Nur der Form halber geſtatteten
ſie nachher den drei Staaten Spanien, Portugal und Schweden auch
ihrerſeits Frieden mit Frankreich zu ſchließen, ſo daß die huit puissances
signatrices
gleichſam einen weiteren Ausſchuß der Pentarchie bildeten.
Ueber das Schickſal der Schweiz ward entſchieden ohne daß man die Eid-
genoſſenſchaft auch nur befragt hätte.


Mit der üblichen officiellen Glückſeligkeit benachrichtigte der Staats-
kanzler den in Berlin zurückgebliebenen Miniſter des Auswärtigen, Graf
Goltz, von dem Abſchluſſe des Friedens, worauf Goltz allen Diplomaten
Preußens in einem Rundſchreiben verſicherte: wir können uns der ge-
wiſſen Erwartung hingeben, unſere Wünſche für den Glanz und die
Macht Preußens vollſtändig erfüllt zu ſehen*). In Wahrheit war die
Stimmung der leitenden Kreiſe beſorgt und gedrückt. Die Generale
zürnten laut über die noch immer völlig ungeſicherte Lage der Monarchie.
Gneiſenau ſchrieb dem Staatskanzler, ohne Mainz und Jülich ſei Preußen
ſchlechterdings nicht im Stande die deutſche Weſtgrenze zu decken. Müff-
ling erzählte, wie Wrede bereits triumphirend von der künftigen Bundes-
feſtung Mainz ſpreche, und fragte, ob denn das Elend der alten Reichs-
feſtungen wiederkehren ſolle. „Welche Sicherheit für uns, fuhr er fort,
und welche traurige Ausſicht, wenn die Krautfürſten trotzen und wir —
nachgeben! Wenn wir nicht in demſelben Verhältniß vergrößert werden
als Oeſterreich und Rußland, wenn wir uns von dem öſterreichiſchen
Syſteme der Familien-Apanage täuſchen und Mainz und Jülich entreißen
laſſen, ſo kann es die Nation, die ſo viel gethan hat, nicht vergeben.“
Beſſer ein neuer Krieg als eine große Enttäuſchung!**)


Der Maſſe des Volkes blieben ſolche Befürchtungen fern, ob auch
[569]Die Heimkehr.
einzelne denkende Patrioten über den faulen Frieden klagten. Den ganzen
Sommer über lag der helle Sonnenſchein dankbarer Freude über den
altpreußiſchen Landen. Was hatte dies Volk gelitten! Vor wenigen Mo-
naten erſt hatte die Hauptſtadt den Donner der Schlacht dicht vor ihren
Mauern gehört, verwüſtet lagen die Felder, kahl und ſchmucklos die
Zimmer, kaum ein Haus das nicht den Tod eines Sohnes, eines Bruders
betrauerte, und nun war das Höchſte doch gelungen, das wälſche Babel
war gebändigt, das den Daheimgebliebenen ganz unerreichbar, ganz aus
der Welt zu liegen ſchien. Es war der Wunder genug für ein kurzes
Jahr; wer hätte klagen mögen? So glückliche Stunden hatte Berlin ſeit
Friedrichs Zeiten nicht mehr erlebt, wie an jenem ſonnigen Apriltage, da
der Flügeladjutant Graf Schwerin die erſte Nachricht von der Schlacht
vor Paris überbrachte. Nach dem alten fridericianiſchen Brauche ritt der
Curier mit einem Geſchwader blaſender Poſtillone zum Potsdamer Thore
ein; dann die Wilhelmsſtraße hinunter, vorbei an dem Dönhoff’ſchen Hauſe,
wo ſeine ſchöne junge Frau im Fenſter lag und vor Wonne faſt vergehen
wollte. Dann die Linden entlang zum Gouverneur, dem alten Leſtocq;
der ritterliche Mann hatte in ſeinen hohen Jahren dem Heere nicht mehr
folgen dürfen und pries mit neidloſer Freude die Jungen, die ſo viel
glücklicher geweſen als er ſelber einſt bei Eylau. Dann weiter zu den
Paläſten der Prinzeſſinnen und der Miniſter. Ueberall dicht gedrängte
jauchzende Maſſen, überall der Ruf: „der Curier, der Curier! Paris iſt
über!“ — und nachher hieß es wieder: „das iſt ja der Graf Schwerin,“
denn in dieſen unſchuldigen Tagen kannte man einander noch. Nur
Einer nahm an dem Jubel dieſes großen Berliner Familienfeſtes nicht
theil: der böſe alte Feldmarſchall Kalkreuth, Tilſiter Andenkens; der war
ein verſtockter Franzoſe geblieben und ließ ſeinen Aerger aus durch frivole
Späßchen wider das neue Teutonenthum. Ein zweiter großer Freuden-
tag kam im Juli. Ganz Berlin war auf den Beinen, Tauſende harrten
ſtundenlang in der warmen Sommernacht draußen im Thiergarten, bis
endlich unter dem Hurrahruf der Menge ein rieſiger Laſtwagen herankam,
wohl von zwanzig Roſſen mühſam gezogen; obenauf ſtand ein großer Holz-
kaſten, über und über bedeckt mit Namen, Verſen, Inſchriften aller Art von
der Hand guter Preußen, die dem ſonderbaren Gefährt unterwegs ihren
Willkommgruß mit auf die weite Reiſe gegeben. Es war die Victoria vom
Brandenburger Thore. Wie oft hatten die Berliner Bürger, alle dieſe
böſen Jahre über, ingrimmig aufgeblickt zu der langen Eiſenſtange auf
dem Thore, woran einſt die Quadriga befeſtigt geweſen; man erzählte
gern, daß der Turnvater Jahn einmal einen kleinen Teutonen geohrfeigt
hatte, weil der Junge nicht zu ſagen wußte was er ſich bei dem Anblick
der Stange denken ſollte. Die entführte Siegesgöttin erſchien dem Volke
wie das Symbol altpreußiſcher Ehre; nun hatte man ſie wieder nach
ehrlichem Kampfe und Alles war in Ordnung.


[570]I. 5. Ende der Kriegszeit.

Aehnliche Auftritte ſtürmiſcher Freude wiederholten ſich überall. Als
die Preußen durch das alte Thor von Hildburghauſen einzogen, da ſang
Rückert:


Niemals durchritten

Hat Dich ein Heer

Milder von Sitten,

Tapf’rer von Speer.

Wie athmete das unglückliche Hamburg wieder auf, das bis zum Friedens-
ſchluſſe in Davouſts harten Händen geblieben war. Dank der Barmherzig-
keit des wackeren däniſchen Oberſten Buchwald hatten die aus der Stadt
vertriebenen Tauſende armer Leute freilich in Altona ein Unterkommen
gefunden; ihrer fünfhundert waren doch der Noth erlegen und ruhten
nun in dem unheimlichen Maſſengrabe auf dem Kirchhofe von Ottenſen.
Auch die aus der Bank geraubten Millionen kehrten nicht zurück, da die
ſtrenge Unterſuchung, welche König Ludwig im Pariſer Frieden verſprach,
natürlich kein Ergebniß hatte: den Deutſchen gegenüber zeigten ſich die
Bourbonen durchaus als Napoleons Erben, Treu und Glauben galt
ihnen nichts.


Aller Jubel der Daheimgebliebenen reichte doch nicht heran an das
unſagbare Gefühl freudigen Stolzes, das den heimkehrenden Kriegern die
Seele ſchwellte. Noch in Paris wurde die Auflöſung der Jägerdetache-
ments angeordnet. Sodann ſtellte die Cabinetsordre vom 27. Mai 1814
die für die Dauer des Krieges aufgehobenen Exemtionen von der Cantons-
pflicht wieder her, „nachdem der Zweck der großen Anſtrengungen ſo glück-
lich erreicht iſt,“ und befahl allen Beamten und Lehrern die Rückkehr in ihre
Aemter. Die Bedürfniſſe des bürgerlichen Lebens forderten gebieteriſch
ihr Recht. Wie ging dieſen Freiwilligen das Herz auf, als ſie aus dem
wüſten Getöſe des Kriegslagers wieder hinübertraten in des Friedens heilige
Sabbathſtille. Da lag es ſtrahlend in der Büthenpracht ſeines Frühlings,
das herrliche Rheinland, und es war wieder unſer und die Glocken ſeiner
alten Dome läuteten zur Feier deutſcher Siege. Recht aus dem Herzen
ſeiner Kameraden rief Schenkendorf:


Wie mir Deine Freuden winken

Nach der Knechtſchaft, nach dem Streit!

Vaterland, ich muß verſinken

Hier in Deiner Herrlichkeit!

Und wie hatte ſich das Urtheil des Auslandes über die Deutſchen
geändert, ſeit die beſtechende Macht des Erfolges für ſie redete. Frau von
Staël geſtand wehmüthig: ſo ſei es nun doch, die Freiheit gehe heute wie
die Sonne im Oſten auf; und Capodiſtrias meinte: der feſte Hort der
europäiſchen Geſittung bleibe doch dies alte Deutſchland mit ſeiner Treue,
ſeinem Muthe und der Macht ſeiner tiefen Leidenſchaft, überall ſonſt Fels
oder Sand, hier allein fruchtbares Erdreich.


[571]Die Monarchen in England.

Auch in England waren die Preußen die Helden des Tages, als der
König und der Czar mit Metternich und Blücher von Paris aus zum
Beſuche des Prinzregenten hinüberkamen. Die unverdorbene Maſſe des
Volkes drängte ſich mit urkräftiger Begeiſterung um Blücher und Gnei-
ſenau, kaum waren ſie ihres Lebens ſicher bei den tollen Ausbrüchen der
ungeſtümen Freude; höchſtens der tapfere Koſakenhetman Platow kam
neben ihnen noch auf. Wie viel hundertmal, bis zum Tode des alten Feld-
marſchalls, iſt in engliſchen Häuſern der Ruf erklungen: drink a cup
for old Blucher!
Dem ſtolzen Adel aber gefiel weder die ſchlichte Er-
ſcheinung des Königs noch die ſoldatiſche Derbheit ſeiner Generale. Allein
Metternich verſtand die Herzen der vornehmen Welt zu gewinnen; ſein
Verhältniß zu dem Tory-Cabinet ward täglich vertrauter. Die Abneigung
des Hofes gegen Rußland ſteigerte ſich durch den perſönlichen Verkehr bis
zu tiefem Haſſe. Die vollendete Nichtigkeit des Welfen widerte den Czaren
an; der liberale Selbſtherrſcher vernahm mit unverhohlener Verachtung,
wie der Prinzregent ſich kaum auf die Straße hinaus wagen durfte, wie
der Londoner Pöbel dem Ehebrecher zurief: wo haſt Du Deine Frau
gelaſſen? Die Torys ihrerſeits hörten mit Abſcheu die großen Worte
Alexanders über Völkerfreiheit und Völkerglück; er war ihnen „halb ein
Narr, halb ein Bonaparte“. Ihr Zorn wuchs noch als eben in dieſen
Tagen ein Lieblingswunſch ihres Hofes zu Schanden wurde. Der junge
Prinz von Oranien war in London eingetroffen um die lang geplante
Verlobung mit der Prinzeſſin Charlotte abzuſchließen; Alles hoffte auf
die Wiederkehr der Zeiten Wilhelms III. Wenn nur der kleine Trotzkopf
der Prinzeſſin ſelber nicht geweſen wäre, der doch auch mitzureden hatte!
Mit dem lauten Ausrufe „I hate Orange“ wies ſie vor verſammeltem
Hofe eine Schale voll Apfelſinen zurück, und der unglückliche Freier mußte
abziehen. Der Welfe aber ſchäumte vor Grimm. Er glaubte zu wiſſen,
daß Alexanders Schweſter, die geiſtreiche Großfürſtin Katharina, ſeine
Tochter aufgeſtiftet habe*), fand die Anmaßung der Ruſſen ganz uner-
träglich und bot dem öſterreichiſchen Miniſter geradezu eine geheime Allianz
gegen den Czaren an, wie Humboldt bald darauf durch Metternich ſelbſt
erfuhr.**)


Auf der Rückreiſe beſuchte der König ſeine wiedergewonnenen Neuf-
chateller, und die allgemeine ungeheuchelte Freude des treuen Völkchens
zeigte, wie feſt unter einem wohlwollenden Regimente ſelbſt eine unna-
türliche politiſche Verbindung ſich einwurzeln kann. Zu Anfang Auguſt
kehrte er in die Mark zurück. Unterdeß zogen auch die Truppen heim.
Dem alten Blücher gönnten ſeine dankbaren Landsleute keine Erholung
von den engliſchen Jubelſtrapazen; faſt in jeder Stadt mußte er zum
[572]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Volke reden, immer fröhlich und hochgemuth, aber auch fromm und tief
beſcheiden. Gott allein gab er die Ehre, die neue Fürſtenwürde merkte
ihm Niemand an, und das Wörtchen „mir“ beſtrafte er als ein echter
Niederdeutſcher noch immer mit ſtiller Verachtung. Neuer Jubel in der
Hauptſtadt, als die Berliner Landwehr heimkehrte; die Maſſen ließen ſich
nicht halten, die Bataillone brachen aus einander, die Frauen ſtürzten
den Gatten in die Arme, die Jungen trugen den Vätern die Flinten und
ſo wogte der lange Zug dahin, die Wehrmänner ganz mit Kränzen über-
deckt, Soldaten und Bürger, Männer und Frauen in krauſem Durchein-
ander — recht eigentlich ein Volk in Waffen. Nur der König war un-
zufrieden, in Sachen des Parademarſches verſtand er keinen Scherz. Am
7. Auguſt endlich feierlicher Einmarſch der Armee, ein wenig geſtört durch
die Beſcheidenheit Friedrich Wilhelms. Der Rückſichtsvolle hatte nicht nur,
wie billig, den gefangenen Friedrich Auguſt ſchleunigſt nach dem benach-
barten Friedrichsfelde überſiedeln laſſen um ihm den kränkenden Anblick des
Siegesfeſtes zu erſparen; ſein demüthiger Sinn nahm ſogar Anſtoß an
den von Schinkel aufgeſtellten Siegesſäulen und Trophäen, er wollte jede
Beleidigung des geſchlagenen Feindes vermeiden, und noch in der Nacht
mußten die franzöſiſchen Fahnen und Waffen unter dicken Kränzen ver-
hüllt werden. —


Während alſo im preußiſchen Volke die Freude hohe Wellen ſchlug,
geſtalteten ſich die Ausſichten für den Congreß täglich trüber. Der König
fühlte mit ſeinem Sinne für das Wirkliche raſch heraus, daß ſein Freund
in Wien keineswegs geſonnen war mit ihm die Herrſchaft in Deutſchland
zu theilen: „mich will man, ſagte er bitter, zum Regierungsrath des
Kaiſers von Oeſterreich machen.“ Seine Staatsmänner aber gaben ihre
dualiſtiſchen Pläne noch nicht auf. Kneſebeck entwarf noch in Paris eine
neue Denkſchrift, die dem Hauſe Oeſterreich nochmals den Breisgau und
außerdem Mannheim, als den künftigen Hauptwaffenplatz Süddeutſchlands,
anbot.*) Unter den Wiener Staatsmännern war allein Stadion dieſem
Gedanken günſtig; er lebte noch in den Anſchauungen eines ſchwäbiſchen
Reichsgrafen und ſagte zu Humboldt treffend: durch den Verzicht auf
ſeine oberrheiniſchen Lande „würde Oeſterreich faſt aufhören ein deutſcher
Staat zu ſein“. Metternich aber blieb feſt und erklärte endlich im Au-
guſt dem preußiſchen Geſandten mit ungewohnter Beſtimmtheit: der ganze
Plan ſei unannehmbar. So hat Oeſterreich, nach Stadions Worten, auf-
gehört ein deutſcher Staat zu ſein — allein durch den freien Entſchluß
ſeines Hofes, gegen Preußens dringenden Wunſch.


In jeder der großen ſchwebenden Gebietsfragen war Metternich der
entſchiedene Gegner Preußens. Wie er Mainz bereits an Baiern ver-
[573]Oeſterreich und die Albertiner.
ſprochen, ſo war er auch in der polniſchen Sache mit dem argloſen
Staatskanzler keineswegs einverſtanden, ſondern fand Hardenbergs For-
derungen viel zu niedrig und wollte Rußland noch weiter in den Oſten
drängen. Die Hofburg täuſchte ſich weder über den untrennbaren Zu-
ſammenhang der ſächſiſchen und der polniſchen Frage noch über die na-
türliche Intereſſengemeinſchaft der preußiſchen und der ruſſiſchen Politik.
Im Juni ſagte Kaiſer Franz zu einem Bevollmächtigten des gefangenen
Königs, General Zeſchau: er finde die Entthronung Friedrich Auguſts
unbillig und unmoraliſch, „denn wir haben ja jetzt den Krieg geführt
um Alles wieder auf den alten Fuß herzuſtellen. Aber es handelt ſich
darum, daß Rußland nichts von Polen hergeben will, und dafür mag
Preußen ſich in Sachſen entſchädigen.“ Er habe darum, fuhr er fort,
ſeinem Miniſter befohlen alle Verhandlungen über dieſe Fragen auf den
Congreß zu verſchieben, „weil ich hoffe, daß man hier der Sache eine
beſſere Richtung geben kann.“ Der General möge das ſeinem Könige
erzählen; „ſchreiben kann ich’s nicht.“*) Schon im Laufe des Winters
war ein ſächſiſcher Agent Freiherr von Uechtritz durch die Koſaken des
ſächſiſchen Generalgouvernements aufgefangen worden. Aus ſeinen Papie-
ren ergab ſich, daß der entlaſſene ſächſiſche Miniſter Graf Senfft von
König Friedrich Auguſt bevollmächtigt werden ſollte mit den Mächten ins-
geheim wegen der Wiedereinſetzung des albertiniſchen Hauſes zu verhan-
deln; der Verkehr zwiſchen Senfft und ſeinem gefangenen Herrn ſollte
durch die Hände des Grafen Zichy, des k. k. Geſandten in Berlin gehen!
Während des Sommers verſuchte Kaiſer Franz abermals vergeblich den
König von Preußen zu bewegen, daß er ſeinen Gefangenen an Oeſterreich
ausliefere. Man erfuhr, daß Prinz Anton von Sachſen, eingeladen von
ſeinem kaiſerlichen Schwager, ſchon im Juli ſich nach Wien begab, um
auf dem Congreſſe für ſeinen Bruder zu wirken. Einige Wochen nachher
erklärte Metternich ſelbſt einem anderen ſächſiſchen Agenten, dem Grafen
Schulenburg: die Intereſſen Preußens und Oeſterreichs laufen in der
ſächſiſchen Frage einander ſchnurſtracks zuwider; am Beſten, wenn Schu-
lenburg ſelbſt als ſächſiſcher Geſandter „mit ruhender Vollmacht“ auf
dem Congreſſe erſcheint und ſtatt aller Inſtructionen den einfachen Auf-
trag mitbringt, in Allem und Jedem den Weiſungen Oeſterreichs zu folgen.
Friedrich Auguſt beeilte ſich den Rathſchlag wörtlich zu befolgen. Das
Bündniß zwiſchen den Lothringern und den Albertinern war unerſchüt-
terlich feſt begründet.


Das engliſche Cabinet ſtand dem ſächſiſchen Streite vorderhand ſehr
gleichgiltig und völlig unwiſſend gegenüber. Nach Caſtlereaghs Briefen
ließ ſich die Frage wohl aufwerfen: ob der edle Lord genau wußte, wo
[574]I. 5. Ende der Kriegszeit.
eigentlich das Königreich Sachſen lag? Soweit die Torys über die An-
gelegenheit nachgedacht hatten, waren ſie als geſchworene Feinde Napo-
leons dem gefangenen Rheinbundfürſten ungünſtig geſinnt. Nur der
Prinzregent empfand die natürliche Theilnahme des Welfen für den Al-
bertiner. Sehr geſchickt verſtanden die Agenten Friedrich Auguſts ſolche
Stimmungen zu nähren; ſie ſtellten dem Hofe von St. James vor:
dieſe conſervative Macht habe die legitimen Bourbonen wiederhergeſtellt
und könne doch unmöglich die nicht minder legitimen Wettiner entthronen
wollen. Am letzten Ende hing Englands deutſche Politik nach wie vor von
den Rathſchlägen Metternichs und Münſters ab, und Hardenberg durfte
eine nachhaltige Unterſtützung ſeiner ſächſiſchen Anſprüche von Seiten der
engliſchen Miniſter um ſo weniger erwarten, da die Verkettung der ſäch-
ſiſchen und der polniſchen Frage früher oder ſpäter doch ſelbſt den harten
Köpfen dieſer Torys einleuchten mußte.


In die polniſchen Händel aber ſtürmte Caſtlereagh mit dem ganzen
Feuereifer der Beſchränktheit hinein. Die Theilung Polens war einſt von
den beiden Weſtmächten als eine ſchwere Demüthigung empfunden worden,
weil ſie durch die Oſtmächte allein vollzogen ward; jetzt galt es die alte
Schmach zu ſühnen. Der Wille Englands, den man nach alter Gewohn-
heit für den Willen Europas ausgab, ſollte an der Weichſel entſcheiden.
Die Torys hatten im Sommer 1812 den klugen Rath Steins verſchmäht,
der ihnen vorſchlug, ſich im Voraus mit Alexander über die polniſche
Grenze zu verſtändigen; jetzt ſprach man in London viel von einem un-
abhängigen Polen unter einer nationalen Dynaſtie. Was man ſich dabei
dachte, war ſicherlich den Miniſtern ſelbſt nicht klar; nur ſo viel ſtand
feſt, daß Caſtlereagh als der Wortführer Europas dem Ehrgeiz Rußlands
entgegentreten wollte. Beſonders unheimlich erſchien den Hochtorys die
Abſicht des Czaren, den Polen eine Verfaſſung zu verleihen: „das ſei
eine Gefahr für die Ruhe Europas,“ ſagte Wellington in Paris zu dem
preußiſchen Geſandten Goltz, „beſonders jetzt, wo man durch die Verbrei-
tung allzu liberaler Grundſätze von oben her in die meiſten Völker einen
gewiſſen Gährungsſtoff gelegt hat.“*) England beſaß bereits Alles was
ſein Herz begehrte: das Cap und Ceylon, Malta und Helgoland, das
vergrößerte Hannover und den verſtärkten niederländiſchen Geſammtſtaat.
Außer den ioniſchen Inſeln, die man in Wien noch zu erwerben hoffte,
blieb auf der weiten Welt nichts mehr zu wünſchen übrig. Mit erha-
bener Uneigennützigkeit konnte man alſo, unter dem Beifall aller aufge-
klärten Geiſter, den Anwalt des europäiſchen Gleichgewichts ſpielen.


Zugleich ſtand Caſtlereagh in regem Verkehre mit den Tuilerien.
Der Czar hatte den Bourbonen ſchon nach wenigen Wochen ſeine Gunſt
wieder entzogen; Ludwig XVIII., gekränkt durch Alexanders Stolz, war
[575]Schwenkung der engliſchen Politik.
mit Freuden bereit, das Cabinet von St. James im Kampfe wider Ruß-
land zu unterſtützen. Caſtlereagh bat die Bourbonen, ihre Meinung über
die polniſche Frage den großen Mächten mitzutheilen und erkundigte ſich
zugleich bei ſeinem Geſandten Wellington, ob Frankreich in der Lage ſei,
dieſer Anſicht durch die Waffen Nachdruck zu geben. Der eiſerne Herzog
erwiderte: „die Lage der europäiſchen Angelegenheiten wird nothwendiger-
weiſe England und Frankreich zu Schiedsrichtern auf dem Congreſſe
machen, wenn dieſe Mächte ſich verſtändigen, und ein ſolches Einver-
ſtändniß mag den allgemeinen Frieden bewahren.“ Caſtlereagh dachte
noch keineswegs ſich von den alten Alliirten gänzlich loszuſagen; vielmehr
ſah er nicht ohne Argwohn auf Frankreichs unberechenbaren Ehrgeiz.
Er kannte das tiefe Friedensbedürfniß ſeines ermüdeten Landes und
wußte, daß auch Oeſterreich nur mit diplomatiſchen Waffen gegen Ruß-
land kämpfen wollte. Doch indem er Frankreich einlud ſich in die pol-
niſchen Händel zu miſchen, verletzte er leichtfertig die Verträge von Reichen-
bach und Teplitz, und dieſer gedankenloſe Vertragsbruch konnte, bei der
Klugheit des franzöſiſchen, der Thorheit des engliſchen Cabinets leicht zur
Zerſtörung der Coalition führen.


Auch in der niederländiſchen Frage war England den preußiſchen
Plänen nicht günſtig. Während jenes Aufenthalts der Monarchen in
London wurde die Vereinigung Belgiens und Hollands durch die Alliirten
endgiltig anerkannt, aber das ewige Bündniß mit Deutſchland, das Har-
denberg vorgeſchlagen, fand weder bei den Holländern noch bei ihren
britiſchen Beſchützern Anklang. Als ein völlig unabhängiger europäiſcher
Fürſt wollte der Oranier, ohne jede Gegenleiſtung, ſich des Schutzes der
preußiſchen Waffen erfreuen. Seine Politik verfolgte fortan den zwei-
fachen Zweck, dem preußiſchen Befreier möglichſt viel deutſches Land auf
dem linken Rheinufer zu entreißen und dem welfiſchen Hauſe die an
Holland angrenzenden oſtfrieſiſch-weſtphäliſchen Provinzen zu verſchaffen,
damit eine geſchloſſene welfiſch-oraniſche Macht den Preußen im Nord-
weſten das Gleichgewicht halte. Graf Münſter wirkte in demſelben Sinne.
Mit Entſetzen hörten die welfiſchen Diplomaten von jenem preußiſchen
„Iſthmus“, der Hannover im Süden umfaſſen ſollte; nimmer durfte das
ſtolze Welfenreich eine Enclave des verhaßten Nachbarſtaates werden.


Während das ſiegreiche England ſeine Kraft vergeudete an die künſt-
liche Bildung des niederländiſchen Staates, der ſechzehn Jahre nachher
unter Englands eigener Mitwirkung wieder zertrümmert ward, verſchaffte
die gewandte Staatskunſt der Bourbonen dem gedemüthigten Frankreich
erſtaunlich ſchnell wieder ſeine alte Stellung im Staatenſyſteme. Talley-
rand führte ſeinen Staat von den Träumen napoleoniſcher Weltherrſchaft
zurück zu jener nationalen Politik, die ſeit den Tagen Heinrichs IV. mit
allen Vorurtheilen und Gewohnheiten der Franzoſen feſt verwachſen war:
in der Zerſplitterung der Nachbarmächte, in der Begünſtigung der Klein-
[576]I. 5. Ende der Kriegszeit.
ſtaaten ſollte Frankreich ſeine Stärke ſuchen. Wohl nirgends hat dieſe
Politik, die bis zum heutigen Tage fortwährt, einen ſo durchſichtig klaren
Ausdruck gefunden, wie in der Inſtruction, welche Talleyrand im Sep-
tember 1814 für ſich ſelbſt niederſchrieb. Der Vertrag war noch kaum
unterzeichnet, wodurch Frankreich ſich verpflichtete an der Entſcheidung der
Gebietsfragen nicht theilzunehmen; und ſofort, als ſei nichts verſprochen,
mit unerſchütterlicher Gewiſſenloſigkeit, entwarf der franzöſiſche Staats-
mann ein vollſtändiges Programm für die Neugeſtaltung der europäiſchen
Karte. Da jener Artikel des Pariſer Friedens auf Frankreichs Betrieb
geheim gehalten wurde, ſo ahnte das große Publikum gar nicht, welchen
unerhörten Vertragsbruch das franzöſiſche Cabinet beging. Talleyrands
Inſtruction folgte Punkt für Punkt jener vertraulichen Pariſer Denk-
ſchrift, worin Hardenberg die preußiſchen Gebietsanſprüche dargelegt hatte,
und beantwortete alle deutſchen Fragen durchaus im Sinne des öſter-
reichiſchen Cabinets. Jener preußiſche Entwurf iſt alſo höchſtwahrſchein-
lich durch Metternich an Talleyrand verrathen und zwiſchen den beiden
Staatsmännern genau beſprochen worden: — ein Probſtück öſterreichiſcher
Bundestreue, das ſich nachher in Wien noch mehrmals wiederholte.


Ludwig XVIII. wußte wohl, daß Preußen die Napoleoniden arg-
wöhniſch beobachtete und mehrmals bei den Alliirten die Entfernung
Bonapartes aus Elba beantragte; doch er wußte auch, daß der preußiſche
Hof die Bourbonen kaum minder mißtrauiſch anſah als den geſtürzten
Uſurpator. Auf Augenblicke ſchien ſich zwar ein freundlicheres Verhältniß
zwiſchen den beiden Höfen herzuſtellen. Der Herzog von Berry hoffte
auf die Hand der ſchönen Prinzeſſin Charlotte von Preußen und ließ den
Grafen Goltz mehrmals über dieſe zarte Frage ausforſchen*). Indeß da
König Friedrich Wilhelm von einer ſolchen Familienverbindung durchaus
nichts wiſſen wollte, ſo trat bald wieder eine peinliche Spannung ein.
Der Bourbone fühlte ſehr richtig, daß ſeine Nation von ihm entſchiedene
Feindſchaft gegen den werdenden deutſchen Staat verlangte.


Auch Talleyrands Inſtruction geht von demſelben Gedanken aus. Sie
zeigt zunächſt, daß Frankreich überall die kleinen Staaten unterſtützen müſſe,
und ſtellt ſodann drei angeblich unanfechtbare Regeln des Völkerrechts auf:
Die Souveränität, die für das öffentliche Recht das Nämliche iſt was das
Eigenthum für das Privatrecht, kann niemals allein durch die Eroberung
erworben werden, ſondern nur durch den Verzicht des Souveräns; ſie iſt
rechtsgiltig nur für diejenigen Mächte, welche ſie anerkannt haben; endlich
(mit Nutzanwendung auf den gefangenen König von Sachſen) jeder Ver-
zicht auf die Souveränität iſt nichtig, wenn er nicht in voller Freiheit aus-
geſprochen wird. Daraus folgt: Preußen hat durchaus kein Recht die im
Tilſiter Frieden rechtmäßig abgetretenen Provinzen zurückzugewinnen. Die
[577]Talleyrands Inſtruction.
Mittelſtaaten dagegen ſind berechtigt die ihnen durch Napoleon geſchenkten
Gebiete mediatiſirter Reichsſtände zu behalten. Denn die Mediatiſirten
waren nicht Souveräne, ſondern Unterthanen von Kaiſer und Reich; jeder
Verſuch ſie wiederherzuſtellen wäre illegitim und gefährlich. „Schon ein
Zögern in dieſem Punkte würde genügen ganz Süddeutſchland aufzuregen
und in Flammen zu ſetzen.“ So iſt denn mit wunderbar dreiſter Logik
erwieſen, daß die legitime Dynaſtie der Bourbonen die Politik des Rhein-
bundes fortführen, die Könige von Napoleons Gnaden beſchützen muß.
Die größte Gefahr droht der deutſchen Freiheit von der Herrſchſucht
Preußens. Jeder Vorwand iſt dem Ehrgeiz dieſes Staates recht; kein
Gewiſſensbedenken hält ihn auf. Gebe man ihm erſt die verſprochenen
zehn Millionen Seelen, ſo wird er bald ihrer zwanzig haben und ganz
Deutſchland ihm unterworfen ſein. Darum muß ſein Beſitzſtand in
Deutſchland beſchränkt, ſein Einfluß auf die deutſchen Staaten im Zaum
gehalten werden durch eine weiſe Bundesverfaſſung, welche die Bundes-
gewalt in möglichſt viele Hände legt. Dazu iſt nöthig die Erhaltung der
kleinen, die Vergrößerung der Mittelſtaaten und vor Allem die Wiederher-
ſtellung des den Bourbonen ſo nahe verwandten Königs Friedrich Auguſt;
„durch die Erwerbung Sachſens würde Preußen einen ungeheuren und
entſcheidenden Schritt thun nach dem Ziele der völligen Beherrſchung
Deutſchlands.“ Darum ſoll auch Mainz nimmermehr eine preußiſche
Feſtung werden, ſondern, wie Luxemburg, ein feſter Platz des deutſchen
Bundes; ſüdlich der Moſel darf ſich Preußen nicht ausbreiten. Wir müſſen
Holland helfen möglichſt weit auf dem linken Rheinufer vorzurücken, des-
gleichen die Anſprüche Heſſens, Baierns und namentlich Hannovers unter-
ſtützen „um das für Preußen verfügbare Ländergebiet zu verkleinern“. Da
die Unabhängigkeit Polens leider unmöglich iſt und nur zur Anarchie führen
kann, ſo muß dort der Zuſtand von 1805 wiederhergeſtellt werden, um ſo
mehr „da dies den Anſprüchen Preußens auf Sachſen ein Ziel ſetzen
würde“. Italiens Unabhängigkeit beſteht darin, daß ſtets mehrere Mächte
auf der Halbinſel einander das Gleichgewicht halten; daher ſoll der Uſur-
pator Murat, celui qui règne à Naples, den legitimen Bourbonen die
Krone zurückgeben, Toscana an einen anderen Zweig der Bourbonen fallen,
der Papſt erhält die Legationen, Sardinien wird vergrößert und das Erb-
folgerecht der Linie Carignan ſicher geſtellt. So empfängt Frankreich im
Süden neben Oeſterreich den herrſchenden Einfluß. Der beſte Bundes-
genoſſe für dieſe Pläne iſt England, das außerhalb Europas der Länder-
gier fröhnt, in Europa eine conſervative Politik einhält.


Meiſterhaft hatte Talleyrand ſeine Denkſchrift auf die perſönlichen
Neigungen des legitimſten aller Könige berechnet. Der Mann, der einſt
bei dem Verbrüderungsfeſte der Revolution das Hochamt gehalten und
dann jahrelang als napoleoniſcher Miniſter, nach ſeinem eigenen Geſtänd-
niß, „den Henker Europas“ geſpielt, vertheidigte jetzt das legitime Recht
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 37
[578]I. 5. Ende der Kriegszeit.
mit jener feierlichen Salbung, die den Bourbonen wohl gefiel, ſchilderte
dies beſiegte Frankreich, das nach der Niederlage nichts für ſich fordern
durfte, als den großmüthigen Beſchützer der Schwachen und Bedrängten
und empfahl ſchließlich geradezu den Krieg für das „Recht“ in Polen,
wenn Rußland nicht im Frieden zu bändigen ſei. Der Tuilerienhof war
damals allein unter allen Großmächten kriegeriſchen Plänen nicht fremd,
wie ſelbſt Wellington bald bemerkte. Die aus den deutſchen Feſtungen
heimkehrenden Veteranen verlangten ſtürmiſch die Wiedereroberung der
natürlichen Grenzen. Die Angſt vor dem gefährlichen Narren auf Elba,
wie Fouché ſagte, und die ſteigende Verwirrung im Innern drängten den
Bourbonen den Gedanken auf, wieder einmal durch das oft erprobte
Mittel des Waffenlärms die Leidenſchaften der Parteien zu beſchwichtigen.
König Ludwig billigte aus voller Seele die Denkſchrift des Miniſters, der
ſo geſchickt die alten Ueberlieferungen der bourboniſchen Politik mit dem
modiſchen Mantel der Legitimität zu umhüllen wußte. Am Lebhafteſten
beſchäftigte den König das Schickſal ſeines ſächſiſchen Vetters; er ſchrieb
dem Gefangenen ermuthigende Briefe und gab noch beim Abſchied dem
Miniſter, als dieſer nach Wien reiſte, den gemeſſenen Befehl, um jeden
Preis dem Verwandten der älteſten und vornehmſten Dynaſtie ſein Erb-
land zu retten.


So die Geſinnungen Oeſterreichs und der Weſtmächte. Da zudem
die ſämmtlichen kleinen deutſchen Höfe der Vergrößerung Preußens leiden-
ſchaftlich widerſtrebten, ſo war offenbar ſchon vor dem Congreſſe der
Boden geebnet für das franzöſiſch-engliſch-öſterreichiſche Bündniß, das
Talleyrand ſeit Jahren wünſchte. Die italieniſche Frage, die einzige,
welche Frankreich und Oeſterreich hätte trennen können, trat neben der
deutſchen in den Hintergrund. Preußen durfte nicht hoffen, alle ſeine
Anſprüche, wie billig ſie auch waren, vor dem hohen Rathe Europas
durchzuſetzen. Wollte Hardenberg nicht ganz vereinſamt in die Kämpfe
des Congreſſes eintreten, ſo mußte er ein unvermeidliches Opfer bringen
und eine klare Verſtändigung mit Rußland herbeiführen. Die polniſche
Frage war bei gutem Willen hüben und drüben keineswegs unlösbar.
Der Staatskanzler konnte, ohne ein Lebensintereſſe ſeines Staates zu
ſchädigen, Kaliſch, Czenſtochau und das militäriſch werthloſe Land zwi-
ſchen Prosna und Wartha an Rußland dahin geben, wenn er dafür das
deutſche Thorn nebſt dem Kulmerlande und Rußlands treuen Beiſtand in
allen deutſchen Gebietsfragen gewann. Selbſt die polniſche Königskrone
Alexanders verlor bei nüchterner Prüfung viel von ihren Schrecken. Der
Plan des Czaren war unzweifelhaft eine phantaſtiſche Thorheit, doch ebenſo
gewiß weit gefährlicher für Rußland ſelbſt als für Preußen. Alexander
verwickelte ſich durch ſeine polniſche Krone in unabſehbare Händel, die den
ruſſiſchen Staat auf Jahre hinaus beſchäftigen und ſchwächen mußten;
Preußen dagegen konnte mit einiger Zuverſicht hoffen, durch eine ſtrenge
[579]Humboldts Bericht aus Wien.
und gerechte Verwaltung ſein geringes polniſches Gebiet gegen die ſarma-
tiſche Begehrlichkeit zu behaupten. Mitten im Rauſche der Siegestrunken-
heit fühlte Alexander doch zuweilen lebhaft die Gefahren ſeiner vereinſamten
Stellung. Auf der Rückreiſe von London traf er in Bruchſal mit Metter-
nich zuſammen und verſuchte dort ſich mit der Hofburg über Polens Zu-
kunft zu verſtändigen; der öſterreichiſche Staatsmann wich behutſam der
verfänglichen Frage aus. Ein gewandter preußiſcher Diplomat, der die
Eitelkeit des Czaren zu ſchonen verſtand, hätte alſo höchſtwahrſchein-
lich für das Angebot der polniſchen Krone eine leidliche Regelung der
Oſtgrenze erreichen können; ein treues Zuſammengehen der beiden alten
Bundesgenoſſen in der Mainzer und der ſächſiſchen Frage ergab ſich
dann von ſelbſt, da Rußland die bairiſch-öſterreichiſchen Zettelungen ſehr
ungünſtig anſah und ſeinem Nachbarn von vornherein Sachſen zur Ent-
ſchädigung für Warſchau angeboten hatte.


Zu Preußens Unheil hat Hardenberg dieſen einzigen Weg, der zum
Ziele führen konnte, erſt ſehr ſpät, nach monatelangen Irrgängen, einge-
ſchlagen. Er konnte den niederſchlagenden Eindruck, den ihm die über-
raſchende erſte Kunde von Alexanders polniſchen Plänen hinterlaſſen, lange
nicht verwinden; er ſah eine unberechenbar ſchwere Gefahr vom Oſten her
gegen ſeinen Staat heranrücken und wollte mit England und Oeſterreich
vereint das ſogenannte Intereſſe Europas vertheidigen, die Eroberungsluſt
des Czaren in Schranken halten ohne doch den Bund mit Rußland auf-
zugeben. Die Dankbarkeit der Hofburg und des Cabinets von St. James
ſollte ihm dann den Beſitz von Sachſen ſichern. Er bemerkte nicht, daß
er dadurch den Staat unvermeidlich zwiſchen zwei Feuer führte und ſeinen
ſächſiſchen Anſprüchen ſelber den Boden unter den Füßen hinwegzog.


Der Staatskanzler wurde in ſeinem Irrthume beſtärkt durch einen
ausführlichen Bericht Humboldts vom 20. Auguſt über die Stimmungen
des Wiener Hofes — ein merkwürdiges Schriftſtück, das mit überraſchen-
der Klarheit beweiſt, wie gröblich ſelbſt ein großer Kopf von entſchiedener
politiſcher Begabung die diplomatiſchen Verhältniſſe des Augenblicks ver-
kennen kann, wenn er die kleinen Pflichten des Geſandten verſchmäht.*)
Von Oeſterreichs inneren Verhältniſſen, von der verderbten Verwaltung,
dem zerrütteten Staatshaushalte und der ſteigenden Unzufriedenheit der
Italiener gab der geiſtvolle Mann eine meiſterhafte Schilderung. Ueber
die nächſten Zwecke der Hofburg dagegen hatte er ſich durch Metternichs
glatte Zunge völlig täuſchen laſſen. Hinſichtlich der polniſchen Händel
ſagt er zuverſichtlich: Metternich ſei feſt überzeugt, daß Czar Alexander
vor dem einmüthigen Widerſpruche Englands, Oeſterreichs und Preußens
zurückweichen werde, da die Ruſſen wie die Polen ſelbſt den Plänen des
Czaren widerſtrebten. England und Oeſterreich ſind entſchloſſen, mit
37*
[580]I. 5. Ende der Kriegszeit.
friedlichen Waffen gegen Rußland aufzutreten; um dies Einverſtändniß
zu vollenden iſt ſoeben General Nugent nach London geſchickt worden,
derſelbe Diplomat, der ſchon im Jahre 1810 die Annäherung der beiden
Höfe bewirkt hatte. Ueberdies will Oeſterreich ſein Heer verſtärken und
„eine impoſante Haltung“ annehmen. Nach Humboldts Anſicht muß
auch Preußen ſich dieſen Beſtrebungen anſchließen; denn ſchon die Ver-
einigung Polens mit Rußland iſt gefährlich, noch weit verderblicher aber
die Wiederherſtellung der polniſchen Krone, gleichviel unter welchem Namen.
In der ſächſiſchen Sache haben wir von Oeſterreich nichts zu fürchten.
Zwar lärmt die Militärpartei, an ihrer Spitze General Radetzky, wegen
der Preisgebung der Päſſe des Erzgebirges; einige andere Perſonen for-
dern daß Oeſterreich ſelbſt ſich in Sachſen vergrößern ſoll. „Aber der
Fürſt Metternich, deſſen Rath ſicher allein von dem Kaiſer befolgt werden
wird, betrachtet dieſe Sache von dem richtigen Geſichtspunkte“ und wünſcht
uns die nothwendige Abrundung in Deutſchland. Da die einfache Ent-
thronung des gefangenen Albertiners den legitimiſtiſchen Anſchauungen der
Zeit unfaßbar war, ſo hatte der Staatskanzler durch Humboldt vorſchlagen
laſſen, Friedrich Auguſt ſolle durch die Legationen entſchädigt werden.
In Deutſchland konnte das ſeiner Erblande beraubte ſächſiſche Haus nur
Unfrieden ſtiften; als König der Romagna hätte Friedrich Auguſt die
Rolle eines ergebenen k. k. Vaſallen ſicher ebenſo glücklich geſpielt wie
ſeine Vettern in Florenz und Modena. Metternich aber, ſo erzählt Hum-
boldt arglos, fand bei dem Vorſchlage „die größten Schwierigkeiten“.
Nicht als ob Oeſterreich die Legationen für ſich ſelber wünſchte; vielmehr
würde Kaiſer Franz ſehr gern ſeinen Verwandten dort im Süden ver-
ſorgen. Aber der Papſt wird dieſe Abtretung niemals zugeben und der
bigotte König, aus Furcht vor dem Kirchenbanne, ſie niemals annehmen.
Humboldt ahnt alſo gar nichts weder von dem geheimen Verkehre zwiſchen
den Lothringern und den Albertinern, noch von Oeſterreichs Abſichten
auf Bologna und Ferrara.


Ebenſo ſchlecht unterrichtet zeigt er ſich in der Mainzer Sache. Er
befürchtet zwar, dieſe Frage werde ſchwere Verwicklungen herbeiführen, da
Baiern die rheiniſche Feſtung ſtürmiſch für ſich fordere; doch auf Oeſter-
reich meint er ſich ſtützen zu können. Hatte er doch ſoeben bei den k. k.
Staatsmännern zu ſeiner Beruhigung eine Karte von Deutſchland, „wahr-
ſcheinlich nach Stadions Entwürfen,“ geſehen, worauf Mainz als preußi-
ſche Stadt verzeichnet war! In der deutſchen Verfaſſungsfrage endlich
will Metternich „noch mehr als in jeder anderen Angelegenheit ſich auf
Hardenberg verlaſſen, dem er unbegrenztes Vertrauen ſchenkt.“ — Wahr-
lich, es war kaum möglich die Abſichten der Hofburg gröblicher mißzuver-
ſtehen. Die Denkſchrift mußte, trotz einzelner Bedenken, dem Staats-
kanzler um ſo zuverläſſiger erſcheinen, da ſie ſeiner eigenen vorgefaßten
Meinung entſprach. Er ſchenkte der Ausſage ſeines Gegners diesmal
[581]Hardenberg gegen Rußland.
ausnahmsweiſe Glauben, obgleich die verdächtigſten Anzeichen für Oeſter-
reichs ſächſiſche Pläne vorlagen. obgleich Goltz aus Paris berichtete, aus
den Aeußerungen des k. k. Geſandten Grafen Bombelles gehe hervor,
daß Metternich die Wiederherſtellung der Albertiner wünſche*), und nahm
den Bericht Humboldts zur Grundlage für ſeinen diplomatiſchen Feld-
zugsplan.


Darauf ſchickte Hardenberg dem Geſchäftsträger in Petersburg,
Oberſt von Schöler, ein oſtenſibles Miniſterialſchreiben und einen Brief
des Königs an den Czaren.**) Der König, dem erſichtlich bei dem Handel
nicht wohl zu Muthe war, begnügte ſich ſeinen kaiſerlichen Freund mit
warmen Worten um Mäßigung zu bitten. Das Miniſterialſchreiben,
offenbar durch Humboldts Bericht veranlaßt, ſprach die Hoffnung aus,
der Kaiſer werde von ſeinen polniſchen Plänen abſtehen. „Seine Ab-
ſichten ſind rein, groß, hochherzig, aber offen geſtanden, ich glaube, daß
er ſich irrt.“ Die Polen verlangen unbelehrbar die Grenzen von 1772
zurück, darum darf nicht eine Wiederherſtellung Polens unter ruſſiſcher
Führung erfolgen, ſondern nur eine neue Theilung des Landes; Rußland
mag den größten Theil von Polen ſeinem Reiche einverleiben, nur nicht
Kaliſch, Czenſtochau, Thorn und Krakau. Preußen fordert ſodann, daß
ihm die Verwaltung von Sachſen baldigſt übergeben werde, und verlangt
freie Hand für zeitgemäße Reformen in Sachſen, da die Aufrechterhal-
tung der alten unbrauchbaren Geſetze „nur den Oligarchen willkom-
men iſt“.


Oberſt Schöler war ein literariſcher Dilettant, wie es ihrer viele
gab unter den Offizieren jenes äſthetiſchen Zeitalters, fein gebildet, wohl-
meinend, von angenehmen Formen. Empfänglich für die liberalen Ideen,
hatte er einſt die Reformen Steins und Schoens in einem begeiſterten
Akroſtichon beſungen; in der Theilung Polens ſah er ein politiſches Ver-
brechen: „die Vorſehung hat offenbar zum ewigen Memento in der Po-
litik die Herſtellung Polens beſchloſſen.“ Sicheres ſtaatsmänniſches Urtheil
und ſcharfe Menſchenkenntniß blieb ihm verſagt. Er hatte den Czaren
in großer Zeit, um das Jahr 1811, von der beſten Seite kennen gelernt
und ſich eine ſehr günſtige Anſicht von dem Charakter des Monarchen
gebildet. Nachher, während der Kriege, verlor er ihn aus den Augen
und konnte auch nach der Heimkehr des Czaren lange keine vertrauliche
Unterredung erlangen, da Alexander den Verkehr mit dem diplomatiſchen
Corps abſichtlich vermied. Der Oberſt fiel aus allen ſeinen Himmeln,
da ihm nun plötzlich die polniſchen Pläne des Kaiſers enthüllt wurden.
Er konnte kaum faſſen, wie Alexander, ſonſt ſo empfänglich für alles
Edle „in dieſe wirkliche Napoleonspolitik“ verfallen mochte, und war, wie
[582]I. 5. Ende der Kriegszeit.
ſein öſterreichiſcher College General Koller, der feſten Meinung, daß man
dieſem Ehrgeiz entgegentreten müſſe.


Am 7. September übergab er dem Czaren den Brief des Königs.
Alexander nahm die Zeilen mit ſichtlicher Befriedigung entgegen, doch
als ihm Schöler ſodann das Miniſterialſchreiben vorlas, fuhr er in hellem
Zorne auf: die Miniſter in Berlin verfolgen offenbar eine andere Politik
als ihr königlicher Herr; ich habe Warſchau erobert; was ich davon be-
halten will (und dazu gehört Krakau, Thorn, Czenſtochau, Kaliſch) werde
ich mit 700,000 Mann gegen Jedermann vertheidigen. Zugleich be-
theuerte er hoch und heilig, in allen anderen Fragen ſtehe er ſeinem
alten Freunde unbedingt zur Verfügung. Er verſprach, ſofort bei Eröff-
nung des Congreſſes das Königreich Sachſen ganz und allein an Preußen
auszuliefern; ohne jede Frage habe Preußen das Recht ſeine neue Pro-
vinz nach Belieben zu organiſiren, wenngleich es wünſchenswerth ſei den
alten ſächſiſchen Namen und die Verfaſſung des Landes noch eine Zeit
lang zu erhalten. Mitten in ſeinem herriſchen Zorne erbot er ſich alſo
zu einer werthvollen bindenden Verpflichtung, während Oeſterreich und
England dem Berliner Hofe nur unbeſtimmte Verheißungen entgegenge-
bracht hatten.


Ein kluger Unterhändler mußte auf Grund dieſer Zuſage weiter
gehen und eine klare Verſtändigung zu erwirken ſuchen. Schöler aber,
allein beſchäftigt mit der polniſchen Frage, bemerkte die Gunſt der Stunde
nicht. Am 11. September rief ihn der Kaiſer auf der Parade heran
und entſchuldigte ſich mit warmen Worten wegen ſeiner Heftigkeit. Die
Antwort des Geſandten war „ein kurzes und erbauliches Billet“, das er
gleich nachher dem Czaren ſandte. „Das Gefühl Seiner Erkenntlichkeit
nur — ſo ſchrieb er — hindert Ihren beſten Freund, Sire, Seine
Wünſche ſelbſt laut werden zu laſſen. Dagegen ſcheint es mir, daß
es keine ſtärkere Aufforderung, als dieſe edle Nachgiebigkeit des Königs,
für Ew. Kaiſerliche Majeſtät geben könne, ſoweit es möglich iſt die
Wünſche Ihres Freundes zu erfüllen. Die Billigkeit der Forderungen
Ew. Majeſtät beruht auf den Vortheilen, welche Europa Ihnen zu ver-
danken haben ſoll und wirklich hat, ſo lange die Unabhängigkeit der an-
deren Staaten ungefährdet, der eben erfochtene Frieden ungeſtört bleibt.
Rußlands innere Kraft und ſeine daraus entſpringende Sicherheit iſt
unleugbar. Soll durch überwiegende Vortheile ſeiner Abgrenzung mit
den Nachbarn dieſe Kraft ſo weit vermehrt werden, daß die Sicherheit
dieſer Nachbarn gefährdet wird, ſo ſchwindet jenes Verdienſt Ew. Majeſtät
um Europa völlig.“*) Eine ſolche Sprache, die nicht einmal den Verſuch
einer Annäherung machte, konnte den Czaren nur in ſeinem herriſchen
Trotze beſtärken; er wich fortan jeder Unterredung aus.


[583]Schölers Berichte aus Petersburg.

In ſeinen Berichten an den Staatskanzler und in einem ausführ-
lichen „Memoire über Rußlands Forderungen“ entwarf der Geſandte
ein finſteres Schauergemälde von Alexanders Ehrgeiz. Wahres und
Falſches wirft er wirr durch einander. Er vermuthet, daß der Czar
ſelbſt Memel, ja ganz Oſtpreußen zu gewinnen denke, und verweiſt war-
nend auf die ruſſiſche Garniſon, die noch immer unter General Kuleneff
in Danzig ſtand. Seit dem Tilſiter Frieden gefalle ſich Alexander in
„unbedingtem Huldigen des Zeitgeiſtes“; er werde vielleicht dereinſt ſeinen
Ruſſen eine Verfaſſung geben und jedenfalls die orientaliſchen Pläne ſeiner
Vorfahren wieder aufnehmen. Er iſt „ein Schüler Napoleons“. Der
Oberſt fühlt indeß, daß ſein erſchöpfter Staat nicht daran denken darf
die Ruſſen aus Warſchau zu vertreiben: vorderhand müſſen wir um
jeden Preis den Frieden wahren, doch die Zukunft wird uns zwingen
mit Oeſterreich verbündet gegen Rußland zu fechten.


Erſchreckt durch dieſe düſtere Schilderung, ermuthigt durch Hum-
boldts hoffnungsvollen Wiener Bericht, beſchloß der Staatskanzler ſich
an Oeſterreich und England anzuſchließen, freilich ohne mit Rußland
offen zu brechen. In ſeiner Antwort an Humboldt*) ſprach er dieſen
Entſchluß aus und entwickelte zugleich nochmals ſowohl die Gebietsan-
ſprüche Preußens als die alten dualiſtiſchen Pläne: „Wir brauchen Sach-
ſen (il nous faut la Saxe). Ich würde mir’s ewig vorwerfen, wenn ich
in dieſem Punkte nur im Geringſten nachgäbe. Die Anſtrengungen
Preußens haben ſo weſentlich zur Befreiung Europas beigetragen, daß
wir berechtigt ſind die Berückſichtigung unſerer Intereſſen zu erwarten.
Der Bund Oeſterreichs und Preußens iſt ſo nothwendig für die Erhal-
tung der Unabhängigkeit Europas; die Staatsmänner, welche den guten
Gedanken gehabt haben ſich von den unglückſeligen Vorurtheilen früherer
Zeiten zu befreien, müſſen einſehen, daß die Intereſſen der beiden Groß-
mächte zuſammenfallen, und daß Oeſterreich gar nichts Beſſeres thun
kann als zur Verſtärkung Preußens beizutragen, ganz wie Preußen mit
großer Freude die Vergrößerung und Kräftigung Oeſterreichs ſehen wird.
Ich ſehe mit Schmerz — und ich habe die Beweiſe dafür — daß es
noch ſehr achtungswerthe Männer giebt, die von dieſen großen Wahr-
heiten noch nicht durchdrungen ſind, ſondern im Gegentheil nach den
politiſchen Anſichten des vergangenen Jahrhunderts denken und handeln.“


Dann erklärt ſich der Staatskanzler über Mainz: wir werden dieſen
Platz niemals an Baiern ausliefern, auch die bairiſchen Anſprüche auf
Frankfurt und Hanau entſchieden bekämpfen. Um Metternich zu über-
zeugen ward eine Denkſchrift Kneſebecks beigefügt, die mit einem großen
Aufwande ſchwerfälliger militäriſcher Gelehrſamkeit den richtigen Satz be-
wies, daß Mainz für die Vertheidigung von Nord- und Mitteldeutſchland
[584]I. 5. Ende der Kriegszeit.
unentbehrlich ſei. Fürſt Metternich irrt, ſo fährt Hardenberg fort, wenn
er Baiern durch Gefälligkeit zu gewinnen hofft. „Er wird dieſen Staat
nie zufrieden ſtellen. Dieſe werdende, unabläſſig ländergierige Macht iſt,
ganz wie Württemberg, ein drohendes und ſchädliches Element in dem
Syſtem unſerer deutſchen Politik geworden. In dieſem Syſteme kann es
nach Lage der Umſtände nur noch ein Ziel geben, wornach Oeſterreich
und Preußen im eigenen und allgemeinen Intereſſe trachten müſſen: die
Macht und den entſcheidenden Einfluß zwiſchen den beiden Großmächten
zu theilen und dieſen Einfluß gemeinſam, in vollkommenſter Eintracht
auszuüben.“ Darum müſſen auch die Länder des linken Rheinufers an
Oeſterreich und Preußen kommen. „Dies iſt unzweifelhaft das einzige
Mittel um die deutſchen Staaten zweiten und dritten Ranges von unſerem
Syſteme abhängig zu machen und daſſelbe zu ſichern. Kleine Staaten
auf dem linken Ufer werden immer unter dem Einfluß Frankreichs ſtehen,
immer Ränke ſchmieden, unabläſſig das Gleichgewicht, das wir aufrichten
wollen, zu untergraben drohen.“


Kein Wort in dieſen Zeilen, das nicht den Plänen Metternichs
ins Geſicht ſchlug, und doch wähnte Hardenberg mit dem Oeſterreicher
weſentlich eines Sinnes zu ſein. Völlig verblendet warf er ſich dem
falſchen Freunde in die Arme, führte den Staat einer beſchämenden
Niederlage entgegen. Der König dachte anders, er verhehlte nicht, daß
er den Czaren noch immer als den beſten Bundesgenoſſen Preußens an-
ſehe, wofür ihn Hardenberg in ſeinen Tagebüchern mit gewohnter Un-
fehlbarkeit der pusillanimité beſchuldigte. Nach ſeiner allzu ſchonenden
Weiſe ließ Friedrich Wilhelm den Staatskanzler vorläufig ſchalten, doch
er nahm ſich vor den Bruch mit Rußland auf keinen Fall zu dulden,
und durch dieſen rettenden Entſchluß ſollte er bald nachher den Staat
wieder in die Bahnen der nationalen Politik zurückführen. —


Währenddem ſchritt man rüſtig an die Neuordnung der Verwaltung,
noch bevor die Grenzen des Staatsgebietes irgend feſt ſtanden. Der
Staatskanzler fühlte die Abnahme ſeiner Kräfte und hatte daher ſchon
im November 1813 das Finanzminiſterium ſeinem Neffen, dem Grafen
Bülow, übergeben. Am 3. Juni 1814 folgte eine umfaſſende Umgeſtal-
tung des Miniſteriums. Hardenberg übernahm neben dem Staatskanzler-
amte die unmittelbare Leitung der auswärtigen Angelegenheiten; ſein alter
Mitarbeiter von Franken her, Freiherr von Schuckmann, wurde Miniſter
des Innern; das neu gebildete Polizeiminiſterium ward dem Grafen Witt-
genſtein übergeben, während der Miniſter von Kircheiſen nach wie vor
das Juſtizdepartement behielt. An die Spitze der Kriegsverwaltung endlich
trat Generalmajor von Boyen, bisher Bülows unzertrennlicher Waffen-
gefährte. Unter ihm leitete Generalmajor von Grolmann den General-
ſtab und gab, raſch durchgreifend wie er war, dieſer Behörde ſogleich die
Verfaſſung, die ihr im Weſentlichen bis zum heutigen Tage geblieben iſt.
[585]Rühle von Lilienſtern, vom Kriege.
Der Generalſtab ſollte nicht, wie in vielen anderen Heeren, eine ſelbſtändige
Waffengattung bilden, deren Mitglieder ihr für immer angehörten,
ſondern mit der praktiſchen Arbeit der Linientruppen in lebendiger Be-
rührung bleiben; ſeine Offiziere traten nach einigen Jahren in die Linie
ein um je nach ihren Leiſtungen ſpäterhin wieder zurückzukehren. Zu-
gleich berief der König eine Commiſſion um die Grundlagen der geſammten
Heeresverfaſſung feſtzuſtellen; außer dem Kriegsminiſter gehörten ihr auch
Hardenberg, Gneiſenau und Grolmann an.


Darüber beſtand unter den Generalen kaum ein Streit, daß jene
Cabinetsordre vom 27. Mai, welche die Exemtionen von der Wehrpflicht
wieder eingeführt hatte, nur ein Nothbehelf für den Augenblick geweſen
war, beſtimmt den ſchreienden Mißſtänden der Volkswirthſchaft zu be-
gegnen. Die Dienſtpflicht Aller hatte ſich glänzend bewährt; was die
Noth des Augenblicks geboren ſollte jetzt zu einer dauernden Inſtitution
des Staates werden. In ſolchem Sinne brachte Blücher an der Tafel
des Königs einen Trinkſpruch auf Hardenberg aus: der Staatskanzler
habe den neuen Geiſt in der Monarchie geweckt, alſo daß man heute in
Preußen nicht mehr wiſſe wo der Bürgerſtand aufhöre und wo der Krieger-
ſtand. Noch ſtolzer forderte Gneiſenau für ſein Preußen das beſte und
volksthümlichſte Heerweſen der Welt, dazu die Freiheit gründlicher wiſſen-
ſchaftlicher Bildung und eine verſtändige, die Nation zu einem lebendigen
Ganzen vereinende Staatsverfaſſung: „der dreifache Primat der Waffen,
der Conſtitution, der Wiſſenſchaft iſt es allein, der uns zwiſchen den
mächtigeren Nachbarn aufrechterhalten kann.“


Nirgends aber fand der kühne politiſche Idealismus der Soldaten
des Befreiungskrieges einen edleren Ausdruck als in dem Buche des
Oberſten Rühle von Lilienſtern „Vom Kriege“. Die geiſtvolle Schrift,
die uns Rückſchauenden heute wie das wiſſenſchaftliche Programm der
modernen deutſchen Heeresverfaſſung erſcheint, widerlegte Kants Lehre
vom ewigen Frieden und namentlich die ihr zu Grunde liegende Fiction
des Naturzuſtandes durch die Beweisgründe der hiſtoriſchen Staats- und
Rechtslehre, deren Anſchauungen bereits anfingen zu einem Gemeingute
der beſtgebildeten Deutſchen zu werden. Sie erwies ſiegreich die unzer-
ſtörbare, ſegensreiche Nothwendigkeit des Krieges, der die Völker für den
Frieden erziehe, und ſtellte dem neuen Jahrhundert die Aufgabe, „die
Heere zu nationaliſiren und die Völker zu militariſiren.“ Jeder Tropfen
Blutes in einem freien Staate müſſe mit dem Eiſen des Krieges verſetzt
ſein; das Heer dürfe nicht als die Waffe des Staates begriffen werden,
als ein todtes Werkzeug, das man zur Zeit der Noth aus dem Winkel
hervorhole, ſondern als der bewaffnete Arm des Staates, als ein mit
ſeinem eigenen Leben eng verbundenes lebendiges Glied des Gemeinweſens.
Alle Inſtitutionen des Staates, alle Wiſſenſchaft und Geſinnung ſoll
kriegeriſch und friedlich zugleich ſein; nur dann bleiben die erhaltenden
[586]I. 5. Ende der Kriegszeit.
ſittlichen Kräfte des Volkslebens lebendig, Muth, Gehorſam und Ehrge-
fühl. Während das geſammte Ausland und ſelbſt preußiſche Staats-
männer, wie W. von Humboldt, das alte Märchen von dem künſtlichen
Staate Preußen noch immer wiederholten, ſprach dieſer tapfere Soldat zu-
verſichtlich aus: dies bewaffnete preußiſche Volk bewahre in der anſtecken-
den Umgebung zerfließender und vertrocknender Kleinſtaaten allein das
Gefühl des Vaterlandes und den ſtolzen Entſchluß ein ganzes und leben-
diges Volk bleiben zu wollen. — So gingen Scharnhorſts Saaten auf.
Die gereifte Geſittung führte die Deutſchen wieder zurück zu einer mann-
haften Auffaſſung des Lebens, zur richtigen Werthſchätzung der rüſtigen
Willenskraft einfacher Menſchheit.


Auch in den Maſſen des preußiſchen Volkes hatten ſich die Meinun-
gen über das Heerweſen von Grund aus verändert. Der einſt ſo ge-
fürchtete blaue Rock war jetzt ein Ehrenkleid, und den Meiſten leuchtete
ein, daß weder Geburt noch Reichthum von der ſchwerſten der allgemeinen
Bürgerpflichten befreien dürfe. In den Kreiſen der Patrioten ſprach man
geringſchätzig von der waffenſcheuen alten Zeit. Rückert ſang ſpöttiſch:


Es galt die alte Regel:

Soldat ins Feu’r hinein!

Der Bauer mit dem Flegel

Sieht zu und läßt es ſein.

Das Bild freilich, das ſich die öffentliche Meinung von der Kriegs-
verfaſſung der Zukunft entwarf, hatte mit Scharnhorſts Ideen wenig
gemein. Schon während des Krieges entſtand in den Maſſen eine Fülle
von Sagen über die Ereigniſſe des wunderbaren Jahres. Die Landwehr
wurde, wie natürlich, der Liebling des Volkes; denn ganz war die alte
Abneigung gegen die Berufsoffiziere doch nicht verflogen. Man wußte
tauſend Geſchichten von der Angſt der Franzoſen vor dem peuple sauvage
des Landwères,
und bald ſchien es, als ob dieſe Kerntruppe eigentlich
Alles gethan und die Linie nur ein werthloſes Anhängſel gebildet hätte.
Aus dieſen volksthümlichen Vorſtellungen und dem unendlichen Friedens-
bedürfniß der Zeit entwickelte ſich nun die Anſicht, die techniſche Ausbil-
dung des Soldaten ſei leere Spielerei, ein Milizheer von möglichſt kurzer
Dienſtzeit genüge am Beſten den Anforderungen des Krieges wie des
Friedens. Bis in die höchſten Schichten des Beamtenthums hinauf fand
dieſe Meinung Anklang; Präſident Schoen war ihr eifriger Anhänger.


Der neue Kriegsminiſter ſtand vor einer überaus ſchwierigen Auf-
gabe. Er hatte ſchon vor dem Kriege von 1806 den Gedanken der all-
gemeinen Wehrpflicht vertheidigt und wollte jetzt dieſe große Errungen-
ſchaft bewahren ohne doch in die dilettantiſchen Träume vom Milizweſen
zu verfallen, dem Staate ein ſtarkes, den größeren Nachbarmächten ge-
wachſenes Heer ſichern ohne doch die erſchöpften Finanzen völlig zu zer-
[587]Kriegsminiſter von Boyen.
ſtören. Während der zwei letzten Jahrzehnte war eine für Preußen ſehr
ungünſtige Verſchiebung der militäriſchen Machtverhältniſſe eingetreten.
Das fridericianiſche Heer war das ſtärkſte Europas geweſen, Dank der
Cantonpflicht Friedrich Wilhelms I. Seitdem aber hatten alle Nach-
barſtaaten, jeder in ſeiner Weiſe, das preußiſche Syſtem der Zwangs-
aushebung nachgeahmt. Die natürliche Ueberlegenheit der Kopfzahl trat
in Kraft; die kleinſte der Großmächte konnte nur noch hoffen nicht allzu
weit hinter den ſtärkeren Nachbarn zurückzubleiben, ſie mußte verſuchen,
durch die höchſte Anſpannung der ſittlichen Kräfte des Heeres die Un-
gunſt der Zahlen einigermaßen auszugleichen. Boyen wußte wohl, mit
wie unverhältnißmäßigen Verluſten die Landwehr alle ihre Siege erkauft,
und wie mangelhaft ihre Mannszucht, namentlich in den furchtbaren
Prüfungen des Winterfeldzugs, ſich gezeigt hatte. Auf eine ſo maſſenhafte
Verwendung der Landwehren im freien Felde war Scharnhorſt ſelber An-
fangs ſchwerlich gefaßt geweſen. Erſt die Noth, erſt das Mißlingen des
Frühjahrsfeldzuges und wahrſcheinlich Gneiſenaus Rath hatten den König
während des Waffenſtillſtandes bewogen, dieſe Truppe mit ihrem buntge-
miſchten Offizierscorps kurzweg in die Feldarmee einzureihen. Nur durch
ganz außerordentliche Ereigniſſe, durch den langjährigen harten Druck der
Fremdherrſchaft war jene wilde Gluth des Nationalhaſſes und der patrioti-
ſchen Leidenſchaft möglich geworden, welche die ungeſchulten Schaaren der
Landwehr zu ſo wunderbaren Erfolgen befähigt hatte. Der Kriegsminiſter
kannte die Welt zu gut um die Wiederkehr der gleichen Opferfreudigkeit
auch in der Zukunft zu erwarten, wenn etwa ein den Maſſen der Nation
unverſtändlicher Krieg dem Könige aufgezwungen würde. Und doch war
Preußen durch ſeine centrale Lage wie durch die ſtolzen fridericianiſchen
Traditionen ſeines Heeres in jedem Kriege immer zur Offenſive genö-
thigt: der Staat brauchte eine ſtarke Feldarmee, er mußte ſeine Land-
wehr zum Dienſte außerhalb der Landesgrenzen verpflichten um das
feindliche Gebiet ſogleich mit gewaltigen Maſſen überfluthen zu können.


Aus Alledem ergab ſich die Nothwendigkeit, die Landwehr eng an das
ſtehende Heer anzuſchließen. Nun gebot die Monarchie augenblicklich über
viele tauſende ausgedienter, kampfgewohnter Soldaten, desgleichen über
eine Menge erprobter Offiziere, die wieder in das bürgerliche Leben
zurücktraten; es war die denkbar günſtigſte Stunde zur Bildung einer
kriegstüchtigen Landwehr. Die Natur der Dinge führte die Reorgani-
ſatoren der Armee zurück zu jenen einfach großen Gedanken, von denen
einſt Scharnhorſt ausgegangen und nur durch die Noth des Tages wieder
abgedrängt worden war; ſie erkannten, daß die ſtehende Armee die mili-
täriſche Schule für die geſammte Nation bilden, die Landwehr weſentlich
aus ausgedienten Mannſchaften beſtehen müſſe. Wie oft hatten Boyen,
Gneiſenau und Grolmann einſt mit Scharnhorſt jede mögliche Form der
Volksbewaffnung beſprochen. Alle hier einſchlagenden Fragen waren ihnen
[588]I. 5. Ende der Kriegszeit.
aus eingehenden Berathungen längſt geläufig; hatte doch Boyen einſt
jahrelang die Organiſation des Krümperſyſtems unmittelbar geleitet. Nur
durch dieſe vieljährige Vorarbeit wird es erklärlich, daß die Commiſſion
ihre ſchwierigen Verhandlungen in wenigen Wochen beendigte und der
König ebenſo ſchnell den Vorſchlägen ſeine Genehmigung ertheilte.


Schon am 3. September 1814 erſchien das Geſetz über die Ver-
pflichtung zum Kriegsdienſte, von dem Könige und ſämmtlichen Miniſtern
unterzeichnet — ein Grundgeſetz des preußiſchen Staates, einer jener
epochemachenden Akte der Geſetzgebung, welche mit ſiegreicher Beredſam-
keit erweiſen, daß alle Geſchichte weſentlich politiſche Geſchichte iſt, daß
die Hiſtorie nicht die Aufgabe hat einen Volta unter ſeinen Froſchſchen-
keln zu beobachten oder aus den Funden der Topfgräber die Entwicklung
der Lampen und der Trinkgeſchirre nachzuweiſen, ſondern die Thaten der
Völker als wollender Perſonen, als Staaten, erforſchen ſoll. Das Wehr-
geſetz von 1814 hat die ſittlichen und politiſchen Grundanſchauungen der
Preußen auf Generationen hinaus beſtimmt, in alle ihre Lebensgewohn-
heiten tiefer eingegriffen als jemals eine wiſſenſchaftliche Entdeckung oder
eine techniſche Erfindung.


Das Geſetz begann, wie einſt Scharnhorſts Entwurf, mit einer Wie-
derholung jener monumentalen Worte Friedrich Wilhelms I.: „jeder
Eingeborene iſt zur Vertheidigung des Vaterlandes verpflichtet;“ doch
jetzt machte man unerbittlich Ernſt mit der altpreußiſchen Regel. Der
König erinnerte nochmals daran, wie die allgemeine Anſtrengung ſeines
treuen Volkes, ohne Ausnahme und Unterſchied die Befreiung des Va-
terlandes bewirkt und dem Staate ſeinen heutigen ehrenvollen Stand-
punkt erworben hätte. Die Einrichtungen alſo, die dieſen glücklichen
Erfolg hervorgebracht und deren Beibehaltung die ganze Nation wünſche,
ſollten als Grundlage für alle Kriegseinrichtungen des Staates dienen,
doch ſo daß die Fortſchritte der Wiſſenſchaften und Gewerbe nicht geſtört
würden; „denn in einer geſetzmäßig geordneten Bewaffnung der Nation
liegt die ſicherſte Bürgſchaft für einen dauernden Frieden.“ Statt der
alten zwanzigjährigen Dienſtzeit der Cantoniſten ward allen Wehrfähigen
für neunzehn Jahre die Waffenpflicht aufgelegt. Sie dienten fünf Jahre
im ſtehenden Heere, davon drei Jahre bei den Fahnen, zwei Jahre als
beurlaubte Reſerviſten, und traten im ſechsundzwanzigſten Lebensjahre
auf ſieben Jahre in das erſte Aufgebot der Landwehr ein. Dies Auf-
gebot war in Kriegszeiten, wie das ſtehende Heer, zum Dienſte im In-
und Auslande verpflichtet, hielt an beſtimmten Tagen in der Heimath
kleinere Uebungen ab und vereinigte ſich jährlich einmal mit Abtheilungen
des ſtehenden Heeres zu längeren Manövern. Das zweite Aufgebot der
Landwehr, ebenfalls mit ſiebenjähriger Dienſtzeit, wurde während des
Friedens nur in der Heimath und an einzelnen Tagen verſammelt,
diente im Kriege zunächſt zur Verſtärkung der Garniſonen; doch behielt
[589]Das preußiſche Wehrgeſetz.
ſich der König vor auch dieſen Theil der Landwehr im Allgemeinen „zur
Verſtärkung des Heeres“ zu verwenden, ſo daß eine Verwendung im
Auslande nicht ausgeſchloſſen war. Der Landſturm endlich, nur für den
äußerſten Fall zur Abwehr feindlicher Angriffe beſtimmt, ſollte alle irgend
Waffenfähigen vom ſiebzehnten bis zum fünfzigſten Jahre umfaſſen. Die
Söhne der gebildeten Stände, die ſich ſelber ausrüſteten, blieben nur
ein Jahr bei der Fahne, traten ſchon nach drei Jahren in die Landwehr
ein und hatten den erſten Anſpruch auf die Offiziersſtellen der Landwehr.
Die abgeſonderten Jägerdetachements blieben aufgehoben, indeß wagte
man noch nicht den demokratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht
bis in ſeine letzten Folgerungen hinauszuführen: die gebildeten Freiwil-
ligen wollte man vornehmlich den Elitecorps der Jäger und Schützen über-
weiſen, obwohl ihnen freiſtand ſich auch ein anderes Regiment zu wählen.
Erſt die Erfahrung ſollte lehren, wie heilſam die Miſchung von feineren
und gröberen Elementen für die ſittliche Haltung der Truppen war.
Die Kreisausſchüſſe, welche das Heer mit der bürgerlichen Selbſtverwal-
tung verbanden, beſtanden in veränderten Formen fort: eine Commiſſion,
gebildet aus dem Landrathe, einem Offizier und mehreren ſtädtiſchen
und ländlichen Gutsbeſitzern, ſollte das Erſatzgeſchäft in jedem Kreiſe
beſorgen.


Noch nie hatte ein moderner Staat in Friedenszeiten ſo harte For-
derungen an ſein Volk geſtellt; die Blutſteuer, welche Preußen ſeinen
Bürgern auferlegte, war unleugbar ſchwerer als alle anderen Steuern
zuſammengenommen. Selbſt die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht
wollten kaum ihren Ohren trauen, als ſie erfuhren, daß alle Männer
bis zum neununddreißigſten Jahre, allerdings bei völlig freier Wahl des
Wohnſitzes wie des Berufes, ſich zum Waffendienſte bereit halten ſollten.
Es war ein radicaler Bruch mit allen Neigungen und Vorurtheilen einer
friedlich erwerbenden Geſellſchaft, ein Wagniß ohne jeden Vorgang, das
nur darum gelingen konnte, weil der Stamm der Landwehr bereits vor-
handen war und die hochherzige Erregung der Kriegszeit noch nachwirkte.
Der König verbarg ſich nicht, welchem zähen paſſiven Widerſtande die
neuen Inſtitutionen namentlich in den neuen Provinzen begegnen würden,
und befahl daher eine ſchonende, ſchrittweis vorgehende Ausführung.


Ueberhaupt war noch Alles im Werden. Das Geſetz ſelber erkannte
an, daß unmöglich alle Wehrfähigen in das ſtehende Heer eintreten konnten
und ein Theil davon ſogleich der Landwehr zugetheilt werden mußte;
doch über die Höhe der jährlichen Aushebung war noch nichts endgiltig
beſchloſſen. Nur ſo viel ſtand ſchon feſt, daß die troſtloſe Lage des Staats-
haushalts eine ſehr ſtarke Linienarmee nicht geſtattete; neben dieſen über-
wältigenden finanziellen Sorgen mußten die ſchweren militäriſchen und
volkswirthſchaftlichen Bedenken, welche gegen die unverhältnißmäßige Ver-
mehrung der Landwehr ſprachen, vorläufig zurücktreten. Desgleichen konnte
[590]I. 5. Ende der Kriegszeit.
nur die Erfahrung zeigen, ob das Offizierscorps der Landwehr wirklich
im Stande war, wie dies Geſetz annahm, völlig ſelbſtändig neben den
Offizieren der Linie zu ſtehen. Aber wie unfertig auch Manches noch
erſchien, der große Wurf war doch gelungen. Mit dieſem Volksheere
war ein großartiges Mittel ſittlicher Volkserziehung gefunden, trefflich
geeignet die alten Tugenden der Nation, Muth, Treue, Pflichtgefühl zu
entwickeln, ihre natürlichen Schwächen, Eigenſinn, Particularismus, Ver-
ſchwommenheit zu bekämpfen. Der Staat wurde nun erſt dieſem ſtaat-
loſen Geſchlechte wahrhaft lebendig, wie den Bürgervölkern des Alter-
thums, trat mit ſeiner begeiſternden Majeſtät und ſeiner herben Strenge
in jedes Haus hinein. Die kurze Dienſtzeit zwang die Mannſchaft und
mehr noch die Offiziere zur Anſpannung aller Kräfte; das Freiwilligen-
jahr bot das einfache Mittel den höheren Ständen die ungewohnte Laſt
erträglich zu machen. Der alte, mit dem Weſen dieſes Staates feſt ver-
wachſene Gedanke Friedrich Wilhelms I. fand endlich die Geſtaltung,
welche den demokratiſchen Anſchauungen des neuen Jahrhunderts ent-
ſprach und doch der unzerſtörbaren Ariſtokratie der Bildung gerecht wurde.


Das Wehrgeſetz gab ein unzweideutiges Zeugniß für die friedfertigen
Abſichten der Regierung; mit einer Feldarmee, die zur größeren Hälfte
aus Landwehren beſtand, ließ ſich eine Politik des unruhigen Ehrgeizes
ſchlechterdings nicht führen. Gleichwohl ſprach aus dem Aufgebote der
geſammten Nation zugleich der beſtimmte Entſchluß, die wiedererrungene
Großmachtſtellung der Monarchie zu behaupten. Daher denn an allen
Nachbarhöfen lebhafte Beunruhigung. Mochten einzelne Generale der
alten Schule über das preußiſche „Milizweſen“ verächtlich abſprechen,
die Kriegsthaten dieſes Heeres ſtanden doch noch in zu friſcher Erinne-
rung. Der franzöſiſche Kriegsminiſter Dupont zog ſogleich mit erſicht-
licher Sorge bei dem preußiſchen Geſandten Erkundigungen ein und
erhielt die trockene Antwort: „wir wollen große Streitkräfte ohne ein
unverhältnißmäßig großes ſtehendes Heer.“*) Noch beſorgter war die
Hofburg; ſie fürchtete nicht blos das Erſtarken des alten Nebenbuhlers,
ſondern ſie erkannte auch in dem Wehrgeſetze einen Triumph der militä-
riſchen Jacobiner des ſchleſiſchen Heeres und witterte unheimliche demo-
kratiſche Beſtrebungen.


Boyen aber ſah in ſeinem Geſetze das köſtliche Vermächtniß des
Befreiungskrieges; er ſagte ſich mit frohem Stolze, daß die Eigenart des
preußiſchen Staates in dieſen Inſtitutionen ſich verkörperte, daß Preußen
in der Ausbildung ſeines Heerweſens allen anderen Staaten überlegen
war und keine andere Großmacht jener Zeit, am allerwenigſten Oeſter-
reich mit ſeinen murrenden Italienern, wagen durfte ihrem ganzen Volke
Waffen in die Hände zu geben. In wie großem und freiem Sinne er
[591]Boyen über die deutſche Kriegsverfaſſung.
ſein Werk aufſaßte, wie treu er die Ueberlieferungen der Stein-Scharn-
horſtiſchen Tage in ſeinem Feuergeiſte bewahrte, das hat der anſpruchsloſe
Mann erſt nach Jahren öffentlich ausgeſprochen, als er zum fünfundzwan-
zigjährigen Jubelfeſte der Landwehr jenen Ausſpruch Gneiſenaus über den
dreifachen Primat in poetiſcher Form wiederholte und die Verſe ſchrieb:
„Der Preußen Loſung iſt die Drei — Recht, Licht und Schwert!“


Der Schweigſame liebte Deutſchland mit der ganzen tiefen, verhaltenen
Leidenſchaftlichkeit des echten Oſtpreußen; um ſeines Vaterlandes willen war
er einſt unter die Verſchwörer des Tugendbundes und nach Rußland auf die
Wanderſchaft gegangen. Aber dem unbeſtimmten Idealbilde einer deutſchen
Bundeskriegsverfaſſung wollte er das eigenartige Weſen ſeines preußiſchen
Volksheeres nicht opfern. In einer ausführlichen Denkſchrift*) ſchilderte
er dem Staatskanzler, wie in Deutſchland vier grundverſchiedene Syſteme
der Kriegsverfaſſung beſtänden: das öſterreichiſche, das rheinbündiſch-fran-
zöſiſche, das engliſch-hannoverſche und das preußiſche; nimmermehr dürfe
Preußen den deutſchen Charakter ſeines Heeres einem Compromiſſe mit
dieſen ausländiſchen Syſtemen zum Opfer bringen. „Man wird doch
nicht, weil der leibeigene Böhme, Raize, Bukowiner, der Landesmeinung
wegen, nach harten Geſetzen behandelt werden ſoll, den Pommern und
Brandenburger, blos um der lieben Uebereinſtimmung willen, ſtrengeren
Vorſchriften unterwerfen wollen? Preußen kann ſeinen Standpunkt in
Europa nur behaupten, wenn es die größere Uebereinſtimmung ſeiner
Einwohner, die beſſere Bildung ſeines Adels und Bürgerſtandes auf
das Kräftigſte zu einem eigenen Kriegsſyſteme benutzt. Wer dieſe na-
tionalen Vorzüge einer augenblicklichen philanthropiſchen Idee aufopfern
wollte, wäre nicht allein ein Feind Preußens, ſondern er vernichtete
auch die Willenskraft, durch die ſich Preußen ſeit dem großen Kurfürſten
in Europa hielt.“ Darum mag der künftige deutſche Bund wohl den
größeren Fürſten, den Kreisoberſten, die militäriſche Führung ihrer
Kreiſe anvertrauen und von allen Bundesgliedern ſehr große militäriſche
Leiſtungen verlangen: „Preußen hat in dieſem Kriege 60,000 Mann von
der Million gegeben. Dies ſei der Maßſtab! Wer mehr geben will,
wird belobt.“ Aber in die Organiſation unſeres Heeres darf ſich der
Bund nicht einmiſchen. „Wer mehr in die deutſche Kriegsverfaſſung
legen will, ſchadet ſich und auch Deutſchland.“


So die Meinung des berechtigten preußiſchen Particularismus, der
zugleich bewußte deutſche Geſinnung war. Mochten die Kleinſtaaten noch
eine Weile ihre franzöſiſchen und engliſchen Inſtitutionen behalten, da
ſie doch vorderhand weder die Kraft noch den Willen beſaßen die Ge-
ſchenke der Fremden aufzugeben. Unterdeſſen wuchs und reifte in Preußen
[592]I. 5. Ende der Kriegszeit.
Scharnhorſts Werk, die deutſche Kriegsverfaſſung, und einmal doch mußte
die Zeit kommen, da das ausländiſche Weſen in den kleinen Staaten
ſich überlebte. Dann konnte das preußiſche Volksheer ſich zum deutſchen
Heere erweitern. Bei Großgörſchen ſtand ſeine Wiege, wer mochte wagen
ihm die ſtolzen Siegesbahnen ſeiner Zukunft vorherzubeſtimmen? Boyen
trug in ſeiner verſchloſſenen Seele die ſichere Ahnung, daß dies nationale
Heer dereinſt noch reichere Kränze um ſeine Fahnen winden würde als
weiland die Soldaten Friedrichs.


Derweil in Wien der große Friedenscongreß zuſammentrat, erhob
ſich in Preußen eine neue Größe der deutſchen Geſchichte: das Volk in
Waffen. —


[[593]]

Zweites Buch.


Die Anfänge des Deutſchen Bundes.
1814—1819.


Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 38
[[594]][[595]]

Erſter Abſchnitt.
Der Wiener Congreß.


Als König Friedrich Wilhelm im Herbſte nach Wien abreiſte, rechnete
er auf einen Aufenthalt von drei Wochen. Aber volle neun Monate
ſollten vergehen von der erſten Conferenz der Bevollmächtigten der vier
alliirten Mächte am 18. September 1814 bis zu der endgiltigen Unter-
zeichnung der Schlußakte des Congreſſes am 19. Juni 1815. Wer hätte
auch Kraft und Luſt gefunden zu raſcher Erledigung der Geſchäfte? Die
fünf Sinne forderten ihr Recht nach der krampfhaften Sorge und Un-
ruhe dieſer beiden wilden Jahrzehnte. Wie einſt Paris nach dem Sturze
der Schreckensherrſchaft ſich kopfüber in den Strudel des Genuſſes ge-
ſtürzt hatte, ſo athmete das alte fürſtliche und adliche Europa jetzt auf,
froh ſeiner wiedergewonnenen Sicherheit. Der große Plebejer war ge-
fallen, der einmal doch den Hochgeborenen bewieſen hatte was eines
Mannes ungezähmte Kraft ſelbſt in einer alten Welt vermag; die Helden
des Schwertes verſchwanden vom Schauplatze, mit ihnen die große Leiden-
ſchaft, die unerbittliche Wahrhaftigkeit des Krieges. Wie Würmer nach
dem Regen krochen die kleinen Talente des Boudoirs und der Antichambre
aus ihrem Verſteck hervor und reckten ſich behaglich aus. Die vornehme
Welt war wieder ganz ungeſtört, ganz unter ſich. Wer hätte das gedacht,
daß der greiſe Fürſt von Ligne, vor langen Jahren der Löwe der Salons
im königlichen Frankreich, nun am Rande des Grabes noch einmal allen
Glanz und alle Pracht der alten hochadlichen Geſelligkeit genießen und
über den erlauchten Congreß, der wohl tanzte, aber nicht marſchirte,
geiſtreich boshafte Epigramme ſchmieden würde?


Sie kehrte freilich nicht wieder, die naive Unbefangenheit jener guten
alten Zeit, die ſo beſtimmt gewußt hatte, daß der Menſch erſt beim
Baron anfängt, daß die glückliche Einfalt des Pöbels von der Spötterei
und den freigeiſteriſchen Gedankenſpielen der großen Herren niemals ein
Wort erfahren kann. Dem neuen Geſchlechte lag die Angſt vor den
Schrecken der Revolution noch in allen Gliedern; mitten in die rauſchen-
38*
[596]II. 1. Der Wiener Congreß.
den Luſtbarkeiten des Congreſſes drangen unheimliche Nachrichten von
dem italieniſchen Geheimbunde der Carbonari, von der dumpfen Gährung
in Frankreich, von den Zornreden der enttäuſchten preußiſchen Patrioten,
von den Verſchwörungen der Griechen und dem Heldenkampfe der Ser-
ben wider ihre türkiſchen Tyrannen. Mochte man immerhin ſorgſam
die Thüren ſchließen und das laute Anklopfen des demokratiſchen neuen
Zeitalters überhören, ganz geheuer fühlte man ſich doch nicht mehr. Wie
ſonſt der Spott ſo war jetzt der Glaube Modepflicht: ein paar ſalbungs-
volle Worte über Chriſtenthum und göttliches Königsrecht mußte auch
das Weltkind zur Verfügung haben. Die weibiſche Zierlichkeit des acht-
zehnten Jahrhunderts verrieth ſich noch, wenngleich Zopf und Puder nicht
wieder auferſtanden, in den bartloſen Geſichtern, den Tabaksdoſen, den
Schuhen und ſeidenen Strümpfen, in der geſuchten Eleganz der männ-
lichen Kleidung; doch war der Ton des Umgangs ſchon um Vieles freier
und formloſer geworden. Keine Rede mehr von den alten Rang- und
Titelſtreitigkeiten, von dem pedantiſchen Gezänk über Form und Farbe
der Seſſel; bald da bald dort, bei irgend einem der Bevollmächtigten
fanden ſich die Miniſter zur Berathung zuſammen und unterzeichneten
die Urkunden nach dem Alphabet oder auch in bunter Reihe, wie man
gerade am Tiſche ſaß. Am Auffälligſten bekundeten ſich die veränderten
Sitten an den großen Prunk- und Feiertagen des Congreſſes. Das
Mittelalter feierte kirchliche, das Jahrhundert Ludwigs XIV. höfiſche
Feſte; die neue Zeit trug einen entſchieden militäriſchen Charakter. Pa-
rade und Heerſchau wurden unvermeidlich, ſo oft ſich der moderne Staat im
Glanze ſeiner Herrlichkeit ſonnen wollte. Selbſt dies Oeſterreich, damals
der am wenigſten militäriſche unter den großen Staaten des Feſtlandes,
durfte die ungeheure Macht der neuen maſſenhaften Heere nicht ganz
verkennen. Vor fünfzig Jahren hatte man noch über den militäriſchen
Anſtrich des preußiſchen Hofes vornehm geſpottet, jetzt war die preußiſche
Sitte allgemein eingebürgert, und auch der waffenſcheue Kaiſer Franz mußte
zuweilen in der Uniform erſcheinen.


Ein Diplomaten-Congreß kann niemals ſchöpferiſch wirken; genug,
wenn er die offenbaren Ergebniſſe der vorangegangenen kriegeriſchen Ver-
wicklungen leidlich ordnet und ſicherſtellt. Und wie hätte dieſe Wiener Ver-
ſammlung Größeres leiſten ſollen? Eine unbeſchreibliche Ermattung laſtete
auf den Gemüthern, wie einſt da der Utrechter Congreß das blutige Zeit-
alter Ludwigs XIV. beendigte; und wie damals Kronprinz Friedrich die
allgemeine Verkommenheit der europäiſchen Staatskunſt beklagte, ſo ging
jetzt die abgeſpannte und abgehetzte diplomatiſche Welt allen den unfertigen
neuen Ideen der Zeit ängſtlich aus dem Wege und ließ ſichs wieder
wohl ſein bei jener bequemen Staatsanſchauung des alten Jahrhunderts,
die den Staat nur als einen Haufen von Geviertmeilen und Seelen be-
trachtete. Die Wiener Luft that das Ihrige hinzu. Hier in dem Mittel-
[597]Die neue Diplomatie.
punkte des ungeheuren Familiengutes, das man Oeſterreich nannte, in
dieſem Wirrwarr zuſammengeheiratheter Länder und Völker hatte man
nie etwas geahnt von den ſittlichen Kräften, welche ein nationales Staats-
weſen zuſammenhalten; und es war ſo recht im Geiſte der alten Habs-
burgerpolitik, wenn Oeſterreich und Baiern jetzt ſelbander über die Frage
ſtritten, ob die Unterthanen der Mediatiſirten, die ihrem Landesherrn nur
wenig einbrachten, als halbe Seelen oder als Drittelſeelen zu berechnen
ſeien. Mit Entrüſtung vernahmen die befreiten Völker, daß ſie nun
wieder nichts ſein ſollten als eine große Heerde, die nur durch ihre Kopf-
zahl Werth hatte. Im Rheiniſchen Mercur donnerte Görres gegen „das
herzloſe ſtatiſtiſche Weſen“ der Wiener Diplomaten, und Blücher ſchrieb
grimmig an ſeinen alten Freund Rüchel: „Der gute Wiener Congreß
gleicht einem Jahrmarkt in einer kleinen Stadt, wo ein Jeder ſein Vieh
hintreibt es zu verkaufen oder zu vertauſchen.“ Durch eine kunſtvoll ab-
gewogene Vertheilung der Länder und der Leute die Wiederkehr der fran-
zöſiſchen Uebermacht zu verhindern — in dieſem einen Gedanken ging
jetzt wie einſt zu Utrecht die ganze Weisheit der Cabinette auf. Und wie
damals Caron de St. Pierre wähnte, aus der neuen, völlig willkürlichen
Geſtaltung der Länderkarte werde ein unabänderlicher Friedenszuſtand
hervorgehen, ſo erwachte jetzt wieder der unmännliche Traum vom ewigen
Frieden, dies ſicherſte Kennzeichen politiſch ermatteter und gedankenarmer
Epochen: viele treffliche Männer aus jedem Stande und jedem Volke
gaben ſich im Ernſt der Hoffnung hin, daß die Weltgeſchichte in ihrer
ewigen Bewegung nunmehr ſtill ſtehen, vor den Rathſchlüſſen des Wiener
Areopags ehrfürchtig verſtummen würde.


Preußens Diplomatie ſtand nicht auf der Höhe ſeiner Feldherrnkunſt;
keiner ſeiner Staatsmänner beſaß den kühnen, freien, ſicheren Blick
Gneiſenaus. Aber das halbe und flaue Ergebniß der Wiener Verhand-
lungen war durch die Natur der Dinge ſelbſt gegeben, nicht verſchuldet
durch die Fehler einzelner Männer. Die ſchwerſte Krankheit des alten
Staatenſyſtems, deren der treue Arndt ſoeben wieder in dem neueſten
Bande des Geiſtes der Zeit warnend gedachte, die Zerſplitterung Deutſch-
lands und Italiens, hatte der Befreiungskrieg nicht geheilt. Da hier
wie dort die öffentliche Meinung noch in einem Zuſtande völliger Unreife
verharrte, ſo brachte der Congreß beiden Völkern im Weſentlichen eine
Reſtauration: den Italienern die Gebietsvertheilung von 1795, den Deut-
ſchen die Wiederherſtellung jenes lockeren Nebeneinanders kleiner Monar-
chien, das einſt aus der Fürſtenrevolution von 1803 hervorgegangen war.
Dieſſeits wie jenſeits der Alpen hatte ſich Oeſterreich eine mittelbare, ge-
ſchickt verhüllte Herrſchaft errungen, die ungleich feſter ſtand als das
napoleoniſche Weltreich und den Deutſchen wie den Italienern jede Mög-
lichkeit friedlicher nationaler Entwicklung abſchnitt. Ein Deutſcher Bund
mit Oeſterreich und den noch unbekehrten Satrapen Bonapartes konnte
[598]II. 1. Der Wiener Congreß.
nichts anderes ſein als die verewigte Anarchie; ein Italien mit Oeſter-
reich, mit dem Papſte, den Bourbonen und den Erzherzogen mußte in
kläglicher Ohnmacht verharren. Es bedurfte einer langen Schule der
Leiden, bis den beiden ſchickſalsverwandten Nationen die Erkenntniß der
letzten Gründe ihres Unglücks aufging, bis jenes Wahngebilde des fried-
lichen Dualismus, das jetzt noch, und nicht durch einen Zufall, die beſten
Köpfe beherrſchte, in ſeiner Hohlheit erkannt ward und die alten ſtolzen
fridericianiſchen Ueberlieferungen wieder zu Ehren kamen. Die Herſtel-
lung einer wohlgeſicherten norddeutſchen Macht, wie ſie der Nation noth
that, war in Wien von Haus aus unmöglich, da Preußens Schickſal zum
guten Theile von dem Willen ſeiner Feinde und Nebenbuhler abhing.
Ein kühner, genialer Staatsmann an Preußens Spitze hätte vermuthlich
das verſchlungene Spiel der Wiener Verhandlungen weit einfacher ge-
ſtaltet, die Kriſis und die Entſcheidung raſcher herbeigeführt, doch, wegen
der erdrückenden Ungunſt der Umſtände, zuletzt ſchwerlich viel mehr er-
reicht als wirklich erlangt wurde.


Bei dieſer vorläufig noch unheilbaren Schwäche der Mitte des Welt-
theils konnte das neue Syſtem des europäiſchen Gleichgewichts, das in
Wien begründet wurde, nur ein Nothbehelf ſein, ein ſchwächlicher Bau,
der ſeine Dauer nicht der eigenen Feſtigkeit, ſondern allein der allgemei-
nen Erſchöpfung und Friedensſeligkeit verdankte. Viele der ſchwierigſten
und gefährlichſten Streitfragen des Völkerrechts mußte man unerledigt
liegen laſſen und tröſtete ſich mit jener Verlegenheitsphraſe, die nun bald
modiſch wurde: c’est une question vide. Immerhin blieb aus den
bitteren Lehren dieſer entſetzlichen Kriegsjahre mindeſtens ein großer und
neuer Gedanke als ein Gemeingut der politiſchen Welt zurück: ſelbſt die
frivolen Durchſchnittsmenſchen der Diplomatie fingen an zu begreifen,
daß der Staat doch nicht blos Macht iſt, wie das alte Jahrhundert ge-
wähnt hatte, daß ſein Leben doch nicht allein in der Belauerung und
behenden Uebervortheilung der Nachbarmächte aufgeht. Der Anblick jener
Triumphe, welche der Revolution und ihrem gekrönten Helden durch die
Zwietracht der alten Mächte bereitet wurden, hatte doch endlich ein leben-
diges europäiſches Gemeingefühl erweckt. Die befreite Welt war ernſtlich
geſonnen in einer friedlichen Staatengeſellſchaft zuſammenzuleben; ſie
fühlte, daß den Staaten, trotz aller trennenden Intereſſen, eine Fülle
großer Culturaufgaben gemeinſam war, die allein durch freundliche Ver-
ſtändigung gelöſt werden konnten. Mochte die mechaniſche Staatsan-
ſchauung vergangener Tage noch überwiegen, die gewiſſenloſe Staats-
raiſon der alten Cabinetspolitik war bereits im Untergehen; und es bleibt
das dauernde hiſtoriſche Verdienſt des Wiener Congreſſes, daß er für
den freundnachbarlichen Verkehr der Staatengeſellſchaft einige neue For-
men und Regeln fand. Ein Fortſchritt war es doch, daß man ſich über
die Vorſchriften der internationalen Etikette, über die Rangordnung der
[599]Die neue Staatengeſellſchaft.
diplomatiſchen Agenten und viele andere unſcheinbare aber unentbehr-
liche Vorausſetzungen eines geordneten Völkerverkehres endlich einigte. Zur
See blieb freilich Alles beim Alten. Hier galt kein Völkerrecht, ſondern
die Uebermacht Englands; nimmermehr wollte die Hoffart der Meeres-
königin ſich auch nur zu einer Verſtändigung über den Flaggengruß her-
beilaſſen.


Noch folgenreicher wurden die Verträge über die Schifffahrt auf den
conventionellen, mehreren Staaten gemeinſam angehörigen Flüſſen, ein
mühſeliges Werk, woran Humboldts Fleiß und Scharfſinn das Beſte
that. Die Handelspolitik des achtzehnten Jahrhunderts hatte grundſätz-
lich den eigenen Nutzen in der Schädigung des Nachbars geſucht; jetzt
zum erſten male berief ſich ein europäiſcher Vertrag auf die Lehre der
neuen Nationalökonomie, daß die Erleichterung des Verkehres im gemein-
ſchaftlichen Intereſſe aller Völker liege. Auch ein großes gemeinſames
Werk chriſtlicher Barmherzigkeit wurde ſchon in Angriff genommen: die
Mächte einigten ſich über die Abſchaffung des Negerhandels. Allerdings
vorerſt nur über den Grundſatz, da Spanien und Portugal bindende
Verpflichtungen nicht übernehmen wollten. Aber mit Alledem ward doch
die Bahn gebrochen für eine lange Reihe von Verträgen, welche das Netz
des völkerverbindenden Verkehres immer enger flochten, den Rechtsſchutz
für die Ausländer immer ſicherer ſtellten. Der neu erwachte National-
ſtolz hatte den geſunden Kern der alten deutſchen Weltbürgergeſinnung
keineswegs zerſtört. Kaum war der Imperator geſtürzt, ſo legte der
wackere preußiſche Juriſt Sethe dem Freiherrn vom Stein in einer Denk-
ſchrift dar, wie viele harte und feindſelige Beſtimmungen gegen die Aus-
länder der Code Napoleon enthalte*); Gelehrte und Geſchäftsmänner be-
ſtürmten die deutſche Diplomatie um Sicherung der Rechte der Fremden.
Mit dem Wiener Congreſſe begann in der That eine neue Epoche des
Völkerrechts, eine menſchlichere Zeit, welche den großen Namen der Staa-
tengeſellſchaft allmählich zur Wahrheit machte und namentlich dem inter-
nationalen Privatrechte endlich einen poſitiven Inhalt gab.


An dieſem großen Fortſchritte des Völkerrechts hatte freilich der Auf-
ſchwung des Weltverkehres ein größeres Verdienſt als die bewußte Ein-
ſicht der Mitglieder des Congreſſes. Wie hätte ſich auch eine ernſte und
tiefe politiſche Geſinnung entwickeln können in dieſer glänzenden und
rauſchenden Verſammlung, der prächtigſten und zahlreichſten, welche die
Welt ſeit dem großen Koſtnitzer Kirchentage geſehen hatte? Alle Mächte
Europas, mit einziger Ausnahme des Sultans, waren vertreten. Auf
dem Graben und auf den Baſteien des alten Wiens, im Prater und an
der großen Diplomatenbörſe, dem Gaſthofe „zur Kaiſerin von Oeſterreich“,
drängte ſich das bunte Gewimmel von Fürſten und Prätendenten, Staats-
[600]II. 1. Der Wiener Congreß.
männern und Offizieren, Prieſtern und Gelehrten, Abenteurern, Gaunern
und Supplikanten, unterthänigſt angeſtaunt und unterthänigſt ausgebeutelt
von den gemüthlichen Wienern, die ſich an den hohen Herrſchaften gar
nicht ſatt ſehen konnten. Die Erbſünde des gemeinen Durchſchnitts-
ſchlages der Diplomaten, die Vermiſchung der ernſten Staatsgeſchäfte mit
der Tändelei, dem Ränkeſpiel und dem Klatſch des Salons, gedieh zur
üppigſten Blüthe. Häßlicher als die unvermeidliche Sittenloſigkeit dieſes
großen Fürſtenbacchanals erſchien die lächelnde Verlogenheit, die ſich jetzt
zur Virtuoſität ausbildete: wer hier etwas gelten wollte mußte ſich auf
die Kunſt verſtehen Morgens ein geheimes Kriegsbündniß gegen ſeine
täglichen Tiſchgenoſſen abzuſchließen und Nachmittags mit den nämlichen
Freunden wieder in ungetrübter Zärtlichkeit zu verkehren.


Ueber dem ganzen glitzernden und blitzenden Treiben lag der Hauch
jener trivialen Gedankenloſigkeit, welche das Habsburgerregiment auf dem
Wiener Boden eingebürgert hatte. Die Zeit war dahin, da das wackere
Bürgerthum der ehrenfeſten deutſchen Landſtadt Wien ſich ſeine herrlichen
Kirchen errichtete. Was hatten dieſe langen drei Jahrhunderte, ſeit die
Donauſtadt der Mittelpunkt eines großen Reiches geworden, an Schönem
gebaut und gebildet? Nichts, gar nichts, kaum daß der Kuppelbau der
Karlskirche und das Belvedereſchloß mindeſtens einige Eigenthümlichkeit
zeigten. Sonſt allüberall, an dem häßlichen Häuſerhaufen der Burg
wie an den Paläſten des reichen Adels, dieſelbe abſchreckende Geſchmack-
loſigkeit. Einige Kunſtſammlungen waren wohl vorhanden, doch Niemand
beachtete ſie; die Schätze der Ambraſer Sammlung lagen vergeſſen, Karl
Auguſt von Weimar entdeckte ſie erſt jetzt von Neuem, denn der geiſtvolle
Fürſt hielt es in der ſchalen Nichtigkeit dieſer geſelligen Freuden nicht
aus und durchſtreifte die Stadt nach feineren Genüſſen ſuchend. Es
war noch ganz das von Schiller verſpottete alte Wien, die Stadt der
Phäaken mit ihrem ewigen Sonntag und dem ewig ſchnurrenden Brat-
ſpieß. Keine Spur von wiſſenſchaftlicher Thätigkeit: wer hatte von der
altehrwürdigen Univerſität je etwas gehört, außer daß ſie ein wohleinge-
richtetes Hospital mit einigen trefflichen Aerzten beſaß? Dazu der dumpfe
Druck der geheimen Polizei und ein allgemeiner politiſcher Stumpfſinn.
Kein Menſch in dieſem luſtigen Völkchen bekümmerte ſich um die politiſche
Thätigkeit des Congreſſes; der Oeſterreichiſche Beobachter brachte in neun
Monaten einen einzigen Artikel über die Geſchäfte der erlauchten Ver-
ſammlung, und Niemand fand das ſonderbar. Allein die Blüthe des
Theaters ließ errathen, daß hier doch ein reichbegabter Menſchenſchlag
lebte und das verfallene geiſtige Leben dereinſt doch wieder erwachen
konnte. Die Bildung in den Kreiſen der öſterreichiſchen Magnatenge-
ſchlechter war noch ganz franzöſiſch; nur mit den Herren aus Preußen
ſprach man deutſch um dem nordiſchen Teutonenthum doch eine Liebens-
würdigkeit zu erweiſen. Der Esprit der alten bourboniſchen Ariſtokratie
[601]Das Wiener Leben.
fehlte freilich ganz, und auch die großen Judenhäuſer, welche jetzt, Dank
der Finanznoth des Hauſes Oeſterreich, zum erſten male als eine Macht
auftraten und in die vornehme Welt eindrangen, die Firmen Arnſtein,
Eskeles, Herz waren damit nicht allzu reich geſegnet.


Unvermeidlich wirkte die geiſtige Armſeligkeit dieſer Umgebung auf den
ganzen Ton des Congreſſes zurück. Das flache Vergnügen bot hier den ein-
zigen Schutz gegen die Langeweile. Maskenzüge und Praterfahrten, Bälle
und Spielpartien, Schmauſereien und lebende Bilder drängten einander in
eintönigem Wechſel, ſo daß die Arbeit der Diplomatie lange kaum beginnen
konnte. Eine kauſtiſche Bemerkung des Fürſten von Ligne oder eine Skan-
dalgeſchichte von Metternich, der niemals weniger als zwei Damen zu-
gleich mit ſeiner Gunſt beehrte, oder eine Witzelei über die neu erfundene
Draiſine des Barons Drais, deren humpelnde Bewegung dem Fortſchreiten
der Congreßverhandlungen ſo verzweifelt ähnlich ſah, oder ein Urtheils-
ſpruch jenes hohen Gerichtshofs der Feinſchmeckerei, der an Talleyrands
Tafel den Käſe von Brie feierlich zum König des Käſegeſchlechtes ausrief
— das waren die Silberblicke in dieſer ungeheuren Fadheit. Es ſchien,
als wollte der wiederhergeſtellte alte Fürſtenſtand den Völkern Europas
recht gründlich zeigen, für welches Nichts ſie geblutet hatten. Man hat
viel von Napoleon gelernt, ſagte Karl Auguſt bitter, unter Anderem auch
die Frechheit.


Nicht ohne Geſchick ſpielte der Hausherr, Kaiſer Franz die Rolle
des ehrwürdigen Patriarchen unter dem hohen Adel, obgleich er noch
kaum ſiebenundvierzig Jahre zählte. Er ließ ſichs nicht verdrießen, täglich
fünfzigtauſend Gulden für die kaiſerliche Tafel, für den Congreß insge-
ſammt 16 Millionen Gulden auszugeben, während ſeine unbezahlten In-
validen auf den Landſtraßen betteln gingen; der pfiffige Rechner wußte
wohl, welche Vortheile ihm die Stellung des Wirthes bot. Wie rührend
erſchien den durchlauchtigen Gäſten dieſe mehr als unſcheinbare Geſtalt
in ihrem abgeſchabten blauen Rocke, mit dem gemüthlichen kleinbürgerlichen
Weſen. Ein geborener Florentiner war Franz erſt als junger Mann an
die Donau gekommen; aber die Maske des biederen, treuherzig groben
Oeſterreichers, die er damals vor ſein Geſicht genommen, ſaß ihm jetzt
wie angegoſſen, weil ſie ſeinem Phlegma und ſeinen vulgären Neigungen
entſprach. Niemand auf der Welt vermochte ihm jemals ein Gefühl
herzlichen Wohlwollens zu entlocken; ſpurlos rauſchten die Schickſals-
wechſel einer ungeheuren Zeit über den Stumpfſinn ſeiner Selbſtſucht
dahin. Er begnadigte niemals, außer wenn der Verbrecher ſelber um
den Tod bat; er leitete in eigener Perſon die Mißhandlung der politiſchen
Gefangenen, beſtimmte jedem ſelber die Schwere der Ketten und die Zahl
der Faſttage und kannte keine ſüßere Erholung als das Durchleſen er-
brochener Briefe; er hatte ſchon zwei Frauen verloren und ſollte bald
auch die dritte begraben um ſofort wieder mit unwandelbarer Gemüths-
[602]II. 1. Der Wiener Congreß.
ruhe die vierte zu heirathen; er umgab ſich grundſätzlich nur mit Menſchen
von unſauberer Vergangenheit, die er jederzeit mit einem Fußtritt ent-
laſſen konnte. Trotz Alledem und trotz dem böſen Blicke ſeiner kalten
harten Augen, trotz der ſo nahe liegenden Erinnerung an ſeinen Familien-
und Geiſtesverwandten Philipp II. von Spanien glaubte alle Welt an
die kindliche Unſchuld des herzloſen, mißtrauiſchen Despoten. Sein poli-
tiſches Syſtem war das denkbar einfachſte. Nach allen den Plagen und
Sorgen dieſer wüſten Jahre wollte er endlich wieder ſeine Ruhe haben,
wollte wieder als ein fleißiger Hofrath Stöße von Akten mit nichtsſagen-
den Randbemerkungen bemalen, in Mußeſtunden die Geige ſpielen, Papier
ausſchneiden, Vogelbauer lackiren und was ſonſt der k. k. Ausſchweifungen
mehr war. Geiſtlos und denkfaul wie die Mehrzahl ſeiner Ahnen, völlig
unfähig einen neuen politiſchen Gedanken auch nur zu verſtehen, ſah er
in allen den revolutionären und nationalen Ideen, welche das neue Jahr-
hundert bewegten, nichts als Bosheit und Dummheit, nichts als ſträf-
liche Auflehnung gegen das fromme Erzhaus. Mit dieſer Gedanken-
armuth verband ſich aber eine durchtriebene Bauernſchlauheit, ein gewiſſer
roher Inſtinkt für das politiſch Erreichbare: der Kaiſer fühlte ſehr richtig,
daß ſein Haus nahezu Alles was ſich nur wünſchen ließ bereits erlangt
und jede Aenderung in der Staatengeſellſchaft als eine Gefahr zu fürchten
hatte. So ward er aus Neigung, Grundſatz und Berechnung ein ge-
ſchworener Feind jeder, aber auch jeder Neuerung, ein argwöhniſcher Geg-
ner der beiden ehrgeizigen Nachbarmächte, Rußlands und vornehmlich
Preußens.


Wenn es dem guten Kaiſer nicht leicht fiel aus ſeinen prunkloſen
Alltagsgewohnheiten hinauszutreten in die prächtige Geſellſchaft des Con-
greſſes, ſo ſchwamm ſein vielgewandter Metternich vergnüglich wie ein
Fiſchlein in dem glänzenden Strudel. So wohl war es ihm nie mehr
geworden ſeit jenen lockeren Jugendtagen, da er an den leichtlebigen geiſt-
lichen Höfen der rheiniſchen Heimath ſeine Schule durchgemacht hatte.
Niemand verſtand wie er, in der Pauſe zwiſchen Diner und Maskenball
eine diplomatiſche Intrigue einzufädeln, vor der Fahrt zum Stelldichein
noch raſch eine Depeſche abzuthun oder mit dem Ausdrucke wärmſter
Zärtlichkeit in den ſchönen blauen Augen einen Herzensfreund recht gründ-
lich anzulügen. Auch ſah er es keineswegs ungern, wenn ſeine preußiſchen
Freunde ihn für leichtfertiger hielten als er war und für Vergeßlichkeit und
Nachläſſigkeit nahmen was aus böſer Abſicht hervorging. Denn wie er in
ſeinem Hauſe bei allem Aufwande immer ein umſichtiger Wirth blieb, hab-
ſüchtig, genau bis zum Geize, ſo hielt er auch mitten im Gewirr der ge-
ſelligen Zerſtreuungen ſeine politiſchen Pläne mit zäher Ausdauer feſt. Er
ſah in dieſem großen Fürſtentage auf öſterreichiſchem Boden einen großen
Triumph der habsburg-lothringiſchen Staatskunſt, betrachtete die Be-
ſchlüſſe der erlauchten Verſammlung wie ſein eigenes Werk und dachte
[603]Der öſterreichiſche Hof.
durch ſie der Bewegung des Völkerlebens ein- für allemal eine feſte
Schranke zu ſetzen. Gleich ſeinem Kaiſer ſah er ein, daß ſein Oeſter-
reich nur noch eine conſervative Politik verfolgen konnte, und wollte wie
jener die revolutionären Ideen der Völker durch eine ſcharfe polizeiliche
Aufſicht bändigen, den Ehrgeiz der beiden aufſtrebenden jungen Oſtmächte
unter dem Scheine zärtlicher Freundſchaft zügeln. Daher das feſte Bünd-
niß mit den gleichgeſinnten engliſch-hannoverſchen Torys und das bereits
vorbereitete gute Einvernehmen mit dem bourboniſchen Hofe. Der natio-
nalen Politik Preußens hatten die Verträge mit den Rheinbundsſtaaten
ſchon einen Riegel vorgeſchoben; jetzt galt es zunächſt durch die Erret-
tung Sachſens die kleinen Kronen noch feſter an das Haus Oeſterreich
anzuſchließen und ſodann die Türkei vor Rußlands Uebergriffen ſicher
zu ſtellen. Durch die Bekämpfung der Osmanen war Oeſterreich einſt
emporgekommen und in Wahrheit erſt zu einem Staate geworden; der
gedankenloſen Ruheſeligkeit dieſer neuen Staatsweisheit erſchien umgekehrt
die Erhaltung der letzten Trümmer der Osmanenherrſchaft als eine heilige
Aufgabe. Für den himmelſchreienden Jammer der ſerbiſchen und grie-
chiſchen Rajah hatte man in der Hofburg nur ein frivoles Lächeln. Ein
Gefühl innerer Wahlverwandtſchaft verband dies neue Oeſterreich, das
ſich in ſeinen italieniſchen Provinzen nur durch das Schwert aufrecht
erhalten konnte, mit der hohen Pforte. Schon ſeit Anfang 1813 hatte
Gentz mit dem Hospodaren der Walachei, Janko Karadja, einen regel-
mäßigen vertrauten Briefwechſel eröffnet, der den Divan, „unſeren treue-
ſten Alliirten,“ über die Lage der Welt und die Abſichten des Wiener
Hofes genau unterrichten ſollte. Vergeblich war Metternich ſeit dem
Herbſt des nämlichen Jahres bemüht geweſen, den Czaren dahin zu
überreden, daß der Sultan mit in die europäiſche Fürſtenfamilie aufge-
nommen, ſein Beſitzſtand durch alle Mächte insgeſammt feierlich verbürgt
werden ſollte.


Dieſe Lücke in dem großen Syſteme der Stabilitätspolitik ſollte jetzt
noch ausgefüllt werden. Gelang dies und wurden auch die polniſchen
Pläne Alexanders vereitelt, ſo war nach Metternichs Meinung das Werk
des Congreſſes auf unabſehbare Zeiten hinaus ſichergeſtellt. So ſpiegelte
ſich in dieſem Kopfe die Welt. Genuß und Ruhe war ihm das höchſte
Ziel der Politik, und nur die Furcht vor einer Ruheſtörung vermochte ihm
einen tapferen Entſchluß zu entreißen. Ewige Zerſplitterung Deutſchlands,
alſo daß die ſouveränen Kleinkönige freiwillig bei Oeſterreich Schutz ſuchten
gegen Preußen und „den höchſtgefährlichen Gedanken der deutſchen Einheit“;
ewige Ohnmacht Italiens, das, wie Lord Caſtlereagh den klagenden Pie-
monteſen trocken erwiderte, um der Ruhe Europas willen immer getheilt
bleiben mußte und in den Augen der Hofburg nur ein geographiſcher
Name war; Frankreich bewacht durch eine Reihe friedfertiger Mittelſtaaten,
die vom Texel bis zum liguriſchen Meere hin den gefährlichen Staat um-
[604]II. 1. Der Wiener Congreß.
geben und von jeder Berührung mit den Großmächten abſperren ſollten;
Rußland im Zaume gehalten durch das geſammte Europa, das die Türken
unter ſeinen Schutz nahm; die Revolution zerſchmettert durch den vereinten
Widerſtand der Höfe, wo und wie ſie ſich auch zeigte: in ſolchen Formen
etwa ſtellte ſich Metternich das neue von Oeſterreich geleitete Europa vor.
Es war ein Syſtem der Seelenangſt, die Ausgeburt eines ideenloſen
Kopfes, der von den treibenden Kräften der Geſchichte nicht das Mindeſte
ahnte; aber dieſe Politik entſprach dem augenblicklichen Bedürfniß der
öſterreichiſchen Monarchie, ſie entſprach der allgemeinen Schlummerſucht
der ermatteten Welt und ſie ging ans Werk mit gewiegter Schlauheit,
mit gründlicher Kenntniß aller gemeinen Triebe der menſchlichen Natur,
ſie verſtand ſich meiſterhaft auf jene kleinen Künſte gemüthlich lächelnder
Verlogenheit, worin von Alters her die Stärke der habsburgiſchen Staats-
kunſt lag.


Unter den fremden Gäſten erregten die Engländer das größte Auf-
ſehen. Eine ſolche Toilette, wie ſie die coloſſale Lady Caſtlereagh trug,
ſo altmodiſch, grell und abgeſchmackt, war den glatten Continentalen lange
nicht vorgekommen. Die ſeit Jahren von dem Feſtlande abgeſperrten
Inſulaner erſchienen wie Geſtalten aus einer anderen Welt; überall
reizten ſie den Spott durch die wunderlichen Schrullen ihres Spleens, den
Widerwillen durch ihren protzenhaften Uebermuth. Die geſammte vornehme
Welt lachte ſchadenfroh, als die Wiener Fiakerkutſcher einmal das allge-
meine Urtheil über die britiſche Beſcheidenheit auf dem Rücken des Ge-
nerals Charles Stewart urkundlich beglaubigten. Erſt gegen das Ende
des Congreſſes traf Wellington ein, endlich ein würdiger Vertreter der
großen Seemacht, aber auch er verſtand von den deutſchen Dingen nicht
mehr als ſeine armſeligen Genoſſen Caſtlereagh und Cathcart, hielt ſich
wie dieſe an die Rathſchläge der Oeſterreicher und der Hannoveraner.


Wie anders wußte der Czar ſich zur Geltung zu bringen. Er
ſpielte noch gern den ſchönen jungen Mann, man ſah ihn zuweilen Arm
in Arm mit den durchlauchtigen jungen Cavalieren von der böhmiſchen
oder der ungariſchen Nobelgarde. Dabei bewahrte er doch die ſalbungs-
volle Weihe des Weltheilands und Weltbefreiers; noch nie hatte er ſo
beredt und ſanft über die Beglückung des Menſchengeſchlechts geſprochen.
In einer Inſtruction, die er von Wien aus an alle ſeine Geſandten
ſchickte, ſchlug er einen Ton an, der an die Sprache des Rheiniſchen
Mercurs erinnerte: der Sturz Napoleons, ſagte er geradezu, ſei bewirkt
durch den Sieg der öffentlichen Meinung über die Anſichten der meiſten
Cabinette; für die Zukunft müſſe jedes Volk in den Stand geſetzt werden
ſelber ſeine Unabhängigkeit zu vertheidigen; darum keine Zerſtückelung
der Länder mehr und Einführung des Repräſentativſyſtems in allen
Staaten! Und abermals war Alexander in der glücklichen Lage daß ſeine
weltbefreienden Gedanken mit ſeinem perſönlichen Intereſſe genau zuſam-
[605]Alexander und Friedrich Wilhelm.
mentrafen. Unterwegs hatte er einige Tage in Pulawy, dem prächtigen
Schloſſe Czartoryskis verweilt und in vollen Zügen die berauſchenden
Huldigungen der ſchönen polniſchen Damen genoſſen; nun brachte er
ſeinen ſarmatiſchen Freund mit nach Wien und trat offen auf als con-
ſtitutioneller König des neuen Polenreichs.


Neſſelrode, der Freund Metternichs, fiel faſt in Ungnade; ſein Wort
galt wenig neben den Anſichten Czartoryskis und Capodiſtrias. Dieſer
geiſtreiche Corfiot verhehlte kaum, daß er den ruſſiſchen Dienſt nur als
eine Staffel anſah um dereinſt der Held und Befreier ſeines griechiſchen
Vaterlandes zu werden; allen geknechteten Völkern brachte er ſeine be-
geiſterte Theilnahme entgegen, zu allermeiſt dem unglücklichen Italien,
das ihm als die Schickſalsſchweſter ſeiner Hellas theuer war. Die neu-
gegründete Hetärie von Odeſſa und der Philomuſenbund der Athener
fanden an ihm einen Beſchützer. Bald ſah man einige der ruſſiſchen Herren
mit dem goldenen und dem ehernen Ringe der beiden helleniſchen Bünde
geſchmückt, der junge Fürſt Ypſilanti warb rührig für die griechiſche Sache.
Auch deutſche Prinzen, Gelehrte und Staatsmänner ſchloſſen ſich bereits
den Philhellenen an; Haxthauſens ſchöne Sammlung neugriechiſcher Bal-
laden ging von Hand zu Hand, erweckte zugleich altclaſſiſche Erinnerungen
und chriſtlich-romantiſche Schwärmerei. Wie conſervativ die Zeit auch
dachte, dieſen Großtürken, der ſoeben die Serben ſchaarenweiſe ſchinden,
pfählen und röſten ließ, wollten die deutſchen Idealiſten doch nicht als
einen legitimen Fürſten gelten laſſen. Metternich ſah mit Sorge, daß
die gehoffte europäiſche Geſammtbürgſchaft für ſeinen türkiſchen Schützling
doch noch im weiten Felde lag, und beobachtete mit wachſendem Mißtrauen
die revolutionäre Geſinnung des Czaren, der auch mit Stein wieder in
ein freundliches Verhältniß trat und den Deutſchen eine lebensfähige
Bundesverfaſſung wünſchte. Ein Unglück nur, daß der Freiherr kein
Amt bekleidete; ſo konnte er wohl Allen freimüthig ins Gewiſſen reden,
doch in den kritiſchen Augenblicken der Verhandlungen niemals den Aus-
ſchlag geben.


Der Anſpruchsloſigkeit König Friedrich Wilhelms ward das ewige
Gepränge bald unausſtehlich, er ſehnte ſich heim zur geordneten Arbeit
in ſeinem ruhigen Schloſſe und langweilte ſich gründlich auf den rauſchen-
den Feſten, kaum daß er ſchüchtern der ſchönen Gräfin Julie Zichy ein
ganz klein wenig den Hof machte. Seine Meinung über die Unentbehr-
lichkeit der ruſſiſchen Allianz ſtand feſt, jedoch wagte er noch nicht den
abweichenden Anſichten Hardenbergs und Humboldts ein entſchiedenes
Nein entgegenzuſtellen und ließ ſich ſogar zum täglichen Umgang den er-
klärten Gegner Rußlands Kneſebeck gefallen, der, allezeit eifrig öſterreichiſch,
ſich wie Metternich für den Sultan begeiſterte. Dem leichtlebigen Staats-
kanzler behagte das bunte Treiben wohl; er hörte es gern, wenn man ihm
unter den älteren, wie dem Fürſten Metternich unter den jüngeren Männern
[606]II. 1. Der Wiener Congreß.
des Congreſſes den Preis der Anmuth und Liebenswürdigkeit zuerkannte;
ſeine abnehmenden Kräfte litten ſichtlich unter der unabläſſigen Zerſtreu-
ung. Glücklicher wußte Humboldt die Strapazen des Genuſſes zu er-
tragen und im Taumel der geſelligen Freuden ſeinen zähen Fleiß zu be-
wahren. An Geiſt und Bildung, an Rührigkeit und ehrenhafter Geſinnung
gebrach es den preußiſchen Staatsmännern nicht. Humboldt und die Ge-
heimen Räthe der Hardenbergiſchen Staatskanzlei Stägemann, Jordan,
Hoffmann, waren, neben Gentz, die beſten Arbeitskräfte des Congreſſes;
ſie beſorgten faſt allein die ſchwierigen ſtatiſtiſchen Berechnungen, welche
der Neugeſtaltung der Karte Europas zur Unterlage dienten, und wurden
durch ihre unerbittlichen Zahlen den Fremden oft unbequem, namentlich
den Franzoſen, die jederzeit mit der Geographie auf geſpanntem Fuße
gelebt haben. Ueber den gelehrten Statiſtiker Hoffmann ſagte Talleyrand
einmal erboſt: wer iſt denn der kleine Mann da, der alle Köpfe zählt
und ſeinen eigenen verliert? Aber die Spannkraft des Entſchluſſes, die
aus dem Labyrinth der diplomatiſchen Ränke einen ſicheren Ausweg ge-
funden hätte, war dieſen treuen Arbeitern verſagt. Im Ganzen trat das
kleine Gefolge des Königs, bis auf die Lebemänner Prinz Auguſt und
Hardenberg, ſchlicht und ehrbar auf; die luſtigen Wienerinnen begriffen
gar nicht, warum des Königs Bruder, der ſchöne vielumworbene Prinz
Wilhelm, der doch ſeinen Löwenmuth vor dem Feinde gezeigt hatte, gegen
die Damen ſo mädchenhaft ſchüchtern war und ſeiner geliebten Gemahlin
gar nicht vergeſſen wollte.


Den zahlreichſten und bunteſten Theil der erlauchten Geſellſchaft
bildeten natürlich die deutſchen Kleinfürſten. Da war Keiner, von dem
Baiern Max Joſeph bis herab zu Heinrich LXIV. von Reuß, der nicht
geſchäftig um die Gnade der fremden Herrſcher warb; die Ruſſen erzähl-
ten mit unverhohlener Verachtung, welche Berge deutſcher durchlauchtiger
Bettelbriefe im Cabinet ihres Kaiſers aufgeſchichtet lagen. Da war Keiner,
der nicht ſeine angemaßte Souveränität als ein unantaſtbares Heiligthum
betrachtete: ſeit den Verträgen des vergangenen Herbſtes fühlte man ſich
dieſes napoleoniſchen Geſchenkes wieder ſo ſicher, daß Einer der Kleinſten
unbefangen zu Stein ſagen konnte: „ich weiß es wohl, die Souveränität
iſt ein Mißbrauch, aber ich befinde mich wohl dabei.“ Zu den Souveränen
geſellte ſich die dichte Schaar der Mediatiſirten, die noch immer auf die
Anerkennung ihres formell unbeſtreitbaren Rechts hofften, obgleich ihr
Schickſal ſchon in Ried und Fulda entſchieden war. Ihr Führer war
die Fürſtin Mutter von Fürſtenberg, eine tapfere und kluge Dame; un-
ermüdlich vertrat ſie die Intereſſen ihrer Leidensgenoſſen, im Verein mit
dem Geheimen Rathe Gärtner, dem viel verſpotteten surchargé d’affaires,
den ſich die Entthronten auf gemeinſchaftliche Koſten hielten.


Dazu Abgeordnete aus verſchiedenen deutſchen Landſchaften, die ihre
alte Dynaſtie zurückforderten: Freiherr von Summerau und Dr. Schlaar im
[607]Die deutſchen Fürſten.
Auftrage der öſterreichiſchen Partei des Breisgaus, eine Deputation aus
Düſſeldorf, die wieder pfalz-bairiſch werden wollte u. ſ. w. Nicht minder
eifrig verlangten die drei Oratoren der katholiſchen Kirche Deutſchlands,
Wamboldt, Helfferich und Schies die Wiederherſtellung der durch den Reichs-
deputationsſchluß vernichteten geiſtlichen Staaten oder doch mindeſtens die
Herausgabe des geraubten Kirchengutes. Sie ſtanden unter dem Schutze
des päſtlichen Geſandten, des gewandten, geiſtreichen Cardinals Conſalvi;
der Convertit Friedrich Schlegel, der Neffe Goethes, Rath Schloſſer aus
Frankfurt und ein großer an guten Köpfen reicher Kreis von Cleri-
calen ſchloß ſich ihnen an. Aber auch auf dem kirchlichen Gebiete zeigte
ſich die unendliche Zerſplitterung des vielgeſtaltigen deutſchen Lebens.
Denn neben dieſen Vertretern der römiſchen Papſtkirche erſchien der Coad-
jutor von Conſtanz, Freiherr von Weſſenberg, noch einer von den milden,
aufgeklärten hochadlichen Kirchenfürſten des alten Jahrhunderts — famo-
sus ille Wessenbergius
nannte ihn eine päpſtliche Bulle. Der hoffte
auf eine deutſche Nationalkirche und dachte ſeinem Auftraggeber, dem ent-
thronten Großherzog von Frankfurt Dalberg, den Primat Germaniens
zu verſchaffen. Dazu eine Reihe ehrenfeſter republikaniſcher Staatsmänner
aus den Hanſeſtädten, an ihrer Spitze der wackere Smidt von Bremen,
der während des Winterfeldzugs im großen Hauptquartiere tapfer aus-
gehalten und ſich durch Klugheit und Zuverläſſigkeit allgemeine Achtung
erworben hatte; dann Jakob Baruch aus Frankfurt als Vertreter der
deutſchen Judenſchaft; dann der kluge Buchhändler Cotta aus Stuttgart,
der mit feiner Spürkraft bereits witterte, daß die Entſcheidung der deut-
ſchen Dinge in Oeſterreichs Händen lag, und darum ſeine Allgemeine
Zeitung der Hofburg zur Verfügung ſtellte; und ſo weiter eine unend-
liche Reihe von Strebern, Horchern und Bittſtellern.


Als die eigentlichen Vertreter der troisième Allemagne, wie die
Franzoſen ſagten, erſchienen die Häupter der Mittelſtaaten. Allen dieſen
Creaturen Napoleons war das Herz geſchworen von Neid wider das ſieg-
reiche Preußen. Das ließ ſich doch nicht ertragen, daß der Staat Fried-
richs den Deutſchen wieder ein Vaterland, wieder ein Recht zu frohem
Selbſtgefühle gegeben hatte. Herunter mit dem waffengewaltigen Adler
in den allgemeinen Koth deutſcher Ohnmacht, Zankſucht und Armſeligkeit
— in dieſem Gedanken fanden ſich die Satrapen des Bonapartismus
behaglich zuſammen. Den Staat zu ſchwächen, der allein das Vaterland
vertheidigen konnte, ſchien Allen eine ſelbſtverſtändliche Forderung deutſcher
Freiheit. Selbſt jener bürgerlichſte aller Könige, der alltäglich, mit Jeder-
mann ſchäkernd und plaudernd, in den Straßen Wiens umherſchlenderte,
jener allbekannte gemüthliche Herr, der mit ſeinem derbluſtigen Weſen bald
an einen altfranzöſiſchen Oberſten, bald an einen bairiſchen Bierbrauer
erinnerte, ſelbſt König Max Joſeph betrieb den Kampf gegen Preußen mit
ſchwerem Ernſt, befahl ſeinem Bevollmächtigten in Gegenwart der Mo-
[608]II. 1. Der Wiener Congreß.
narchen, ſchlechterdings nichts zu unterzeichnen, ſo lange der König von
Sachſen nicht wieder eingeſetzt ſei. Nicht anders dachte ſein Sohn, der
excentriſche Kronprinz Ludwig, obgleich er zum Aerger des Vaters ſich zu
den begeiſterten Teutonen hielt und gern mit großen Worten von teutſchen
Sinnes teutſcheſter Bewährung ſprach.


Ungleich herausfordernder trat der württembergiſche Despot auf. Als
Senior hatte er unter den gekrönten Häuptern überall den Vortritt und
ſchloß daraus mit dem naiven Dünkel des deutſchen Kleinfürſtenſtandes,
daß er nun wirklich der Vornehmſte von Allen ſei, gab ſtets die reichſten
Trinkgelder, um die Großmächtigkeit der neuen Schwabenkrone zu erweiſen,
bemühte ſich in Worten und Gebärden dem gefallenen Imperator nach-
zuahmen, ſo weit ſein ungeheurer Leibesumfang dies erlaubte, bekundete
ſeinen Ingrimm über den Untergang der rheinbündiſchen Herrlichkeit
ungeſcheut in rohen Zornreden. Auch ſein Thronfolger war wie der
bairiſche ein Gegner der bonapartiſtiſchen Geſinnung des Vaters. Ein raſt-
loſer Ehrgeiz arbeitete in der Seele dieſes Kronprinzen Wilhelm; da er
ſich in dem letzten Winterfeldzuge als ein tapferer und geſchickter Offizier
gezeigt hatte, ſo hoffte er auf das Generalat der deutſchen Bundesarmee.
Seine Geliebte, die geiſtreiche Großfürſtin Katharina beſtärkte ihn in ſeinen
ſtolzen Träumen; das junge Paar verſtand einen ſolchen Nimbus geiſtiger
Größe um ſich zu verbreiten, daß ſelbſt nüchterne Männer meinten, von
dem Stuttgarter Hofe werde dereinſt ein neues Zeitalter über Deutſch-
land ausgehen. Man überſchätzte den Prinzen allgemein, und Manche
ſahen in ihm ſchon den künftigen deutſchen Kaiſer; von den ſo ungleich
größeren Leiſtungen der preußiſchen Generale wollte der deutſche Parti-
cularismus ſchon nichts mehr hören.


Unter den Staatsmännern der kleinen Höfe thaten ſich namentlich
Drei hervor, Wrede, Münſter und Gagern, Jeder in ſeiner Weiſe ein
typiſcher Vertreter jener den kleinſtaatlichen Diplomaten eigenthümlichen
impotenten Großmannsſucht, welche ſchon ſo viel Schmach über Deutſch-
land gebracht hatte und nunmehr während eines halben Jahrhunderts
das große Wort in unſerem Vaterlande führen ſollte. Als ein tapferer
Haudegen hatte ſich Wrede immer bewährt, ſeit jenen Tagen, da er den
Landſturm der Odenwälder Bauern gegen die Sansculotten führte, bis
herab zu der „Entſcheidungsſchlacht“ von Arcis, wie die ſervile bairiſche
Preſſe ſagte. Von wirklichem Feldherrntalente beſaß er ſo wenig wie von
edler Geſinnung und ernſter Bildung. Im Stehlen und im Plündern
hatte er es den verworfenſten napoleoniſchen Marſchällen gleich gethan,
vornehmlich während des ſchleſiſchen Winterfeldzuges im Jahre 1807; von
ſeiner brutalen Roheit wußten die unglücklichen Tyroler Aufſtändiſchen zu
erzählen. Die einſichtigen bairiſchen Offiziere glaubten ſelber nicht an dieſe
gemachte Größe; ſie wußten wohl, daß ſein in Rußland gebliebener Kamerad
Deroy, der Reformator der bairiſchen Infanterie, ein ungleich tüchtigerer
[609]Wrede. Münſter.
Soldat geweſen, daß die Glanzzeit der bairiſchen Waffen nicht in dem
jüngſten Winterfeldzuge, ſondern in den Kriegen des Rheinbundes zu
ſuchen war. Indeß der Glückliche hatte ſich zur rechten Zeit von Frank-
reich abgewendet und den für Oeſterreich ſo vortheilhaften Rieder Ver-
trag abgeſchloſſen. Seitdem erfreute er ſich der beſonderen Gunſt des
Wiener Hofes; mit dem plumpen Polterer kam man leichter aus als mit
Montgelas’ zäher Schlauheit. Auch war die öſterreichiſche Armee ſelber
ſo arm an Talenten, daß viele der k. k. Diplomaten dieſen Mann im
Ernſt für einen Feldherrn hielten. Noch ganz berauſcht von dem befliſ-
ſenen Lobe, das ihm die Aliirten für die Niederlage von Hanau geſpendet,
kam er nach Wien und vermaß ſich die preußiſche Habgier mit den Waffen
zu züchtigen, während er für Baiern ſelbſt Mainz, Frankfurt und Hanau,
eine ganz unverhältnißmäßige Entſchädigung forderte. Er war jetzt Fürſt
und Feldmarſchall, da Baiern doch auch ſeinen Blücher haben mußte,
und ſuchte durch lärmende Schimpfreden gegen die Federfuchſer ſeinem
Titel Ehre zu machen: ein Marſchall Wrede, rief er aus, unterzeichnet
nur mit dem Degen!


Einen ſeltſamen Gegenſatz zu dieſem ſäbelraſſelnden Prahler bildete
der ſteife, würdevoll gemeſſene Graf Münſter — einer jener beneidens-
werthen Menſchen, die ihren eigenen Kopf mit ſo erſichtlicher Ehrerbie-
tung auf den Schultern tragen, daß jeder Uneingeweihte an die Koſtbar-
keit dieſes Schatzes glauben muß. Den Bedientennaturen der herzoglichen
und großherzoglichen Diplomatie erſchien der rieſige Mann mit dem
langen, an die bekannte Erbſchönheit des Hauſes Habsburg erinnernden Ge-
ſichte wahrhaft großartig, wenn er mit naiver Unbefangenheit ſein eigenes
Lob verkündete. In der That beſaß der Graf eine vielſeitige, allerdings
wenig gründliche Bildung; Gemahl einer bückeburgiſchen Prinzeſſin, lang-
jähriger Genoſſe des ſtolzeſten Adels der Welt ſpielte er gern den großen
Herrn; auch durfte er wohl mit einigem Selbſtgefühle auf die kleinen
Leute aus den Rheinbundsſtaaten herniederſchauen, da er im Dienſte
der engliſchen Krone eine reiche Erfahrung geſammelt und in der Be-
kämpfung des Bonapartismus zähe Ausdauer gezeigt hatte. Gleichwohl
war er mehr Hofmann als Staatsmann, mehr Junker als Ariſtokrat.
Wie er ſich den Welfen unentbehrlich machte durch kleine Gefälligkeiten
bei den ärgerlichen häuslichen Händeln des Königshauſes — Kammer-
herrendienſte, zu denen ſich weder Steins Stolz noch Hardenbergs Schmieg-
ſamkeit jemals hergegeben hätte — ſo erhob ſich auch ſeine Auffaſſung
der großen Kämpfe des Jahrhunderts nicht über das platte Standesvor-
urtheil: das iſt der Hauptkampf unſerer Zeit, pflegte er zu ſagen, die
Antichambre will durchaus in den Salon! Als ein korrekter kurbraun-
ſchweigiſcher Beamter verlangte er die Wiederherſtellung der Kaiſerwürde,
deren Aufhebung die Welfen ja niemals anerkannt hatten, nur durfte die
Selbſtherrlichkeit des erlauchten Welfenhauſes dadurch nicht geſchmälert
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 39
[610]II. 1. Der Wiener Congreß.
werden. Seine zur Schau getragene Verachtung gegen „die Zaunkönige“
des Rheinbundes hinderte ihn keineswegs, ſofort auf dem Congreſſe, ohne
Wiſſen des Prinzregenten, für ſeine Welfen ebenfalls ein hannoverſches
Zaunkönigthum zu verlangen — eine anmaßliche Königskrone, deren un-
haltbare Anſprüche dereinſt noch ſchwer auf dem kleinen Lande laſten ſollten.


Es war der Fluch dieſer kleinſtaatlichen Welt, daß ſich ein ehren-
hafter Nationalſtolz in ihr nicht bilden konnte. Wie oft Münſter auch
mit vollem Athem von Deutſchlands Größe redete, ſo ſetzte er doch ſeinen
Stolz darein, daß alle ſeine Kinder Engländer waren. Und wie laut er
auch den Freiſinn der wahren Ariſtokratie zu rühmen pflegte, ſo war er
doch ſelber ganz und gar befangen in den lakaienhaften Vorſtellungen,
welche die gewerbmäßige Geſchichtsverfälſchung des Particularismus in den
deutſchen Kleinſtaaten ausgebildet hatte. Dies welfiſche Haus, das ſeit
Heinrich dem Löwen der deutſchen Nation nahezu nichts geweſen, war ihm
das herrlichſte der Erde. Ganz ſo urtheilslos wie die unterthänigen Göt-
tinger Profeſſoren ſchrieb er die Blüthe des engliſchen Parlamentarismus,
die ſich doch allein durch die erbliche Unfähigkeit der welfiſchen George und
auf Koſten ihrer Krone entwickelt hatte, der Weisheit des Hauſes Braun-
ſchweig zu und fand auch in der verknöcherten Junkerherrſchaft des altad-
lichen Hannoverlandes die geliebte „welfiſche Freiheit“ wieder. Dieſen großen
Augenblick, da Deutſchland endlich wieder ſich ſelber angehörte, dachte er zu
benutzen, um die gerechte Strafe, welche Heinrich der Löwe vor mehr denn
ſechshundert Jahren für ſeine Felonie empfangen hatte, rückgängig zu
machen; dagegen fand er es höchſt anmaßend, daß Preußen ſeinerſeits die
vor ſieben Jahren erlittene rohe Mißhandlung ſühnen wollte.


Dieſem Nachbarn widmete der welfiſche Staatsmann glühenden
Haß, ohne daß er je verſucht hätte, die preußiſchen Zuſtände auch nur
oberflächlich kennen zu lernen. Unter den politiſchen Sünden, welche
dieſer unglücklichen Nation die Bahn zur Macht und Freiheit verſperrten,
ward keine ſo verderblich wie die allgemeine, in einem gebildeten Volke faſt
wunderbare Unkenntniß des eigentlichen Inhalts der neueren vaterländiſchen
Geſchichte. Von allen den gewaltigen Umgeſtaltungen, welche die Ent-
ſtehung des preußiſchen Volksheeres und damit die Befreiung Deutſch-
lands erſt ermöglicht hatten, wußte man in den Kleinſtaaten ſchlechterdings
nichts. Wie die Rheinbündner ungeheuerliche Märchen erzählten von dem
Stumpfſinn der leibeigenen brandenburgiſchen Bauern und der Tyrannei
des preußiſchen Junkerthums, ſo ſprachen die Hannoveraner wegwerfend von
der Vielregiererei der Berliner Bureaukratie. Die Klügſten dort zu Lande
blieben von ſolchem Dünkel nicht frei. In den Jahren, da der hanno-
verſche Staat gar nicht mehr beſtand, ſchrieb Rehberg, der bedeutendſte
Mann unter jenen bürgerlichen Räthen, die für die adlichen hannoverſchen
Miniſter die Arbeit beſorgen mußten, ſein Buch über die Verwaltung
in Monarchien, eine Verherrlichung des welfiſchen Adelsregiments im
[611]Hans von Gagern.
Gegenſatze zur preußiſchen Knechtſchaft; die treffende Widerlegung, welche
Friedrich von Bülow, aus gründlicher Kenntniß beider Staaten heraus,
veröffentlichte, wurde von Niemand beachtet. So hatte ſich auch Münſter
ſeinen Begriff vom preußiſchen Staate allein aus dem landläufigen Ge-
rede und vielleicht aus Wilhelminens Memoiren gebildet; mit unendlicher
Verachtung äußerte er ſich über die Miſere der Berliner Corporalswirth-
ſchaft. Wie er im Jahre 1803 aus kleinlichem Mißtrauen die preußiſche
Occupation, welche ſeine Heimath vielleicht noch retten konnte, hintertrieb, ſo
glaubte er beim Ausbruche des Befreiungskrieges, Preußen lebe nur noch
in der Erinnerung, und jetzt da dieſer holde Traum verflogen war, ſchrieb
er ſchwer beſorgt an Gagern: ſeit Oeſterreich ſich im Oſten abrundet und
halb aus Deutſchland ausſcheidet iſt Preußens Vergrößerung für uns
die ſchwerſte Gefahr. Angſt und Scheelſucht blieben die treibenden Kräfte
in der deutſchen Politik dieſer Ministeriunculi, wie Stein ſie verächtlich
nannte. In Wien hielt ſich Münſter vorerſt noch zurück; er wollte, ſo
meldete er dem Prinzregenten, die preußiſchen Staatsmänner nicht er-
bittern um die ſchwebenden Verhandlungen über die Abrundung des
Welfenreichs nicht zu erſchweren. Eine läßliche Dilettantennatur, war
„der Maler“, wie er bei ſeinen Freunden hieß, ohnehin wenig geneigt zu
nachhaltiger Thätigkeit, auch feſſelte ihn jetzt eine Krankheit lange an das
Zimmer. Wo ſich aber die Gelegenheit bot, da arbeitete er emſig gegen
Preußen und leider war er über die Gedanken des Staatskanzlers nur
zu genau unterrichtet durch jenen böſen Zwiſchenträger, den Hannovera-
ner Hardenberg.


Wieder eine andere Spielart kleinſtaatlicher Ausländerei verkörperte
ſich in dem liberalen Foederaliſten Hans von Gagern. Wer kannte ihn
nicht, den Hans in allen Gaſſen, den raſtlos beweglichen kleinen Herrn
mit den munter blitzenden Augen und dem gewinnenden Lächeln um den
geiſtreichen Mund? Ueberall mußte er mit dabei ſein, wo geſpielt und
dinirt und über Land und Leute verhandelt wurde; völlig unberufen
miſchte er ſich in alle Geſchäfte des Congreſſes, unerſchöpflich in großen
Worten vom europäiſchen Gleichgewicht und vom Schutze der Minder-
mächtigen. Der berühmte Weinkeller des Hauſes Naſſau und die Freund-
ſchaft Talleyrands boten ihm die Mittel ſich zwiſchen den Geſandten der
Großmächte feſtzuniſten. Vor Jahren hatte der vielgeſchäftige Reichsritter
für das heilige Reich geſchwärmt, nachher, immer mit der gleichen vater-
ländiſchen Begeiſterung, dem Rheinbunde gedient und ein reichliches
Dutzend verurtheilter Kleinfürſten menſchenfreundlich vom Galgen abge-
ſchnitten. Jetzt empfahl er eine Foederation von völlig gleichberechtigten
Königen, Groß- und anderen Herzögen unter dem Schutze der öſterreichi-
ſchen Kaiſerkrone, aber auch ein hohes Maß von Grundrechten für das
deutſche Volk, denn ein ehrlicher Liberaler blieb dieſer wunderliche Jünger
der franzöſiſchen Aufklärung immer.


39*
[612]II. 1. Der Wiener Congreß.

Wie Münſter in England, ſo ſuchte Gagern in Holland den Schwer-
punkt der mitteleuropäiſchen Politik. Soeben erſt durch einen Zufall in
den holländiſchen Dienſt verſchlagen hatte er ſich alsbald in ſeiner unſteten
Phantaſie ein Idealbild von dem europäiſchen Berufe des oraniſchen
Hauſes entworfen, und wie Münſter von der welfiſchen Freiheit ſo
redete er von der oraniſchen Politik der rechten Mitte. Was kümmerte
es ihn, daß das alte Heldengeſchlecht der Oranier längſt die Augen ge-
ſchloſſen und die neue Linie Naſſau-Diez von dem großen Sinne ihrer
Ahnen nicht das Mindeſte geerbt hatte? Selbſt die unerſättliche Länder-
gier des neuen Königs der Niederlande belehrte den Begeiſterten nicht,
obgleich er auf Augenblicke über dies Uebermaß der Habſucht ſelber er-
ſchrak. Vornehmlich für Deutſchland erwartete er wunderbar ſegensreiche
Folgen von der weiſen Politik des Fürſtenhauſes, deſſen Wahlſpruch
lautete: je maintiendray! Im Rauſche ſeines Enthuſiasmus wußte er
zwiſchen holländiſchen und deutſchen Intereſſen gar nicht mehr zu unter-
ſcheiden. Den geliebteſten und begabteſten ſeiner Söhne ließ er in das
holländiſche Heer eintreten ohne zu ahnen daß er ihn in die Fremde
ſchickte; ebenſo arglos verſuchte er ein Stück nach dem andern vom
deutſchen linken Rheinufer für ſeinen Herrn abzureißen. Sein König
wollte von dem Deutſchen Bunde nichts hören; auch der Geſandte ſelber
fand es bedenklich, die geſammten Niederlande als Bundesverwandte, wie
Hardenberg wünſchte, dem deutſchen Geſammtſtaate anzugliedern, und kam
daher auf den unſinnigen Vorſchlag, daß die Niederlande, wie Oeſterreich,
Preußen und Dänemark, nur mit einem Theile ihres Gebiets, mit Luxem-
burg, dem Deutſchen Bunde beitreten ſollten. Dieſe Halbheit galt ihm
keineswegs als ein trauriger Nothbehelf, ſondern vielmehr als ein Triumph
echt germaniſcher Staatskunſt; denn je verzwickter, abgeſchmackter und
nebelhafter ſich das deutſche Staatsrecht geſtaltete, um ſo mehr ſchien
es ihm dem uralten Geiſte deutſcher Freiheit zu entſprechen. An dem
alten Reiche hatte er nichts ſo ſehr bewundert wie die ungeheuerlichen
Rechtsverhältniſſe von Schleſien und Altpreußen, von denen Niemand
ſicher ſagen konnte, ob ſie zu Deutſchland gehörten. In ſolchen Baſtards-
gebilden ſah er das eigentliche Weſen des corpus nomenque Germaniae;
wie beglückte ihn die Hoffnung, auch unſere Weſtgrenze mit einem ähnlichen
Meiſterwerke germaniſcher Staatenbildung zu ſchmücken.


Alſo trabten die großen Kinder der Kleinſtaaterei ſeelenvergnügt auf
ihren Steckenpferden dahin und boſſelten und feilten mit ihren feinen
Händen ſo lange an dem Staatsbau ihres Vaterlandes, bis die deutſche
Verfaſſung wieder ganz ebenſo phraſenhaft, verlogen und ſinnlos wurde
wie einſt das alte Reich. Gegen Preußen hegte Gagern eine aus Todes-
angſt und Verehrung ſonderbar gemiſchte Empfindung; der Haß fand
überhaupt keine Stätte in dieſer gutmüthigen Seele, die Alles, Men-
ſchen und Dinge immer von der freundlichſten Seite nahm. Wenn er
[613]Talleyrand.
in ſeinen hiſtoriſchen Phantaſien ſich bis in die Zeiten Wilhelms III.
verſtieg, dann hielt er ſogar auf Augenblicke Brandenburg und Hol-
land für natürliche Verbündete und betheuerte ſeinen preußiſchen Freun-
den inbrünſtig, „wie ſehr dem jetzigen Völkerſyſteme an dem guten
Einvernehmen zwiſchen Berlin und dem Haag gelegen iſt“. Aber zu
nahe an ſein geliebtes Holland durfte ihm der ſtreitbare Nachbarſtaat
nicht heranrücken; vollends die ſächſiſchen Anſprüche der preußiſchen Po-
litik erſchienen dem alten Vorkämpfer des Kleinfürſtenthums ſchlechthin
ruchlos. Mit Feuereifer warf er ſich ins Zeug um die „heiligſten Rechte“
des deutſchen hohen Adels zu vertheidigen und ſchrieb den preußiſchen
Staatsmännern nachdrückliche Briefe in jenem poſſirlichen Lehrtone, den
dieſe Kleinen alleſammt gern gegen die langmüthigen Großen anſchlugen.
Als er einmal dem Staatskanzler eine ſeiner wohlgemeinten, verworren-
gelehrten Flugſchriften ſendete, erlaubte er ſich die ſtrafende Bemerkung:
„Es iſt ſo viel Edles in Ihrem Gemüth, daß ich immer zu den beſten
Erwartungen zurückkehre, wenn auch Dinge vorgegangen waren, die ich
eben nicht billigen kann.“ Darauf Hardenberg, mit ſanfter Anſpielung
auf die proteiſche Natur des kleinſtaatlichen Patrioten: „Uebrigens muß
ich über den Zuſatz bemerken, daß, ſo ſehr viel Werth ich auf Ihren Bei-
fall ſetze, ich doch nicht glaube, in Ihnen einen Cenſor meiner öffentlichen
Handlungen anerkennen zu müſſen, ſo wenig ich mir anmaße, Eurer
Exc. politiſches Betragen in verſchiedenen Epochen zu vergleichen, oder zu
entſcheiden, wer von uns am Mehrſten auf Deutſchlands Ruhe, Eintracht
und herzuſtellendes Vertrauen hinwirkt.“ Trotz ſolcher Anzüglichkeiten
wollte Hardenbergs Gutherzigkeit dem wunderlichen Heiligen nicht ernſt-
lich gram werden. Seine Freunde betrachteten den Unermüdlichen nicht
ohne Humor. Alopeus ſchrieb treffend: „Dieſer unruhige Staatsmann,
dem es gleichgiltig iſt, welcher Sache er ſeine Talente widmet, wenn er
nur recht thätig erſcheinen kann, iſt jetzt zum Holländer geworden.“*)


Unter Staatsmännern ſolchen Schlages mußte bald der Einfluß des
Mannes fühlbar werden, der von allen Diplomaten des Congreſſes der
gewandteſte, von allen Gegnern Preußens der entſchloſſenſte war: des
Fürſten Talleyrand. Unerſchütterliche Sicherheit des Auftretens iſt auf
dem glatten Boden der Salons von jeher noch ſiegreicher geweſen als
verbindliche Liebenswürdigkeit. Wenn Metternich und Hardenberg durch
anmuthig gewinnende Formen große Erfolge in der vornehmen Geſell-
ſchaft errangen, ſo wirkte Talleyrands cyniſche Schamloſigkeit noch un-
widerſtehlicher. Welch ein Eindruck, wenn die unförmliche Geſtalt, ange-
than mit der altmodiſchen Tracht aus den Zeiten des Directoriums, ſich
ſchwerfällig auf ihrem Klumpfuß in den glänzenden Kreis des Hofes
[614]II. 1. Der Wiener Congreß.
hineinſchob: dicht über der hohen Halsbinde ein ungeheurer Mund mit
ſchwarzen Zähnen; kleine tiefliegende graue Augen ohne jeden Ausdruck;
abſchreckend gemeine Züge, kalt und ruhig, unfähig jemals zu erröthen
oder die innere Bewegung zu verrathen. Eine durchaus mephiſtopheliſche
Erſcheinung; in Hardenbergs Tagebuch heißt er ſtets: Talleyrand Bocks-
fuß. Die Damen lauſchten ergötzt, wenn er ihnen mit fauniſchem Lächeln
eine zweideutige Bemerkung oder ein boshaftes Witzwort zuwarf; auf die
Fragen der Diplomaten gab er mit unverwüſtlich kaltblütigem Phlegma
ſalbungsvolle Antworten. Unſaubere Gewohnheiten, die man bei jedem An-
deren plebejiſch genannt hätte, galten bei ihm als originell; der vornehme
Herr aus dem uralten Hauſe der Fürſten von Perigord, das Orakel aller
Feinſchmecker des Welttheils, der gründlichſte Kenner der Höfe gab ſich
ſelber die Geſetze des guten Tons. Er hatte ſie Alle kommen und gehen
ſehen, die Eintagshelden einer wirrenreichen Zeit; er kannte die Marquis
des alten Regimes, wie die Redner der Revolution und die Glückskinder
des Kaiſerreichs. Er hatte den kleinen deutſchen Souveränen bis ins
innerſte Herz geblickt, als er die Ländervertauſchungen der rheinbündiſchen
Politik beſorgte, immer bereit das Gold aus Jedermanns Hand zu neh-
men, aber auch gutmüthig, ergebenen Freunden gefällig, tief durchdrungen
von der Wahrheit, daß eine Hand die andere waſchen muß. So war
er faſt allein von den Zeitgenoſſen des alten Regimes immer obenauf
geblieben auf den Speichen des Glücksrades und rühmte ſich gern, die
hinkende Schildkröte ſei doch ſchneller zum Ziele gekommen als der na-
poleoniſche Haſe. Geſchickt wußte er die Meinung zu verbreiten, als ob
er zu jedem Erfolge Napoleons geholfen, jeden Mißgriff des Kaiſers wider-
rathen hätte. Er beſaß jene gemeſſene Haltung und ſichere Menſchen-
kenntniß, die den hochadlichen Kirchenfürſten des achtzehnten Jahrhunderts
eigenthümlich war, und galt zudem für eingeweiht in alle perſönlichen
Geheimniſſe der vornehmen Welt. Jeder Partei war er dienſtbar geweſen;
in dem berühmten „Wörterbuche der politiſchen Wetterfahnen“ behauptete
ſein Name unbeſtritten den erſten Platz. Gleichmüthig wie er einſt als
Biſchof für das Heil des freien Frankreichs gebetet, ſtand er jetzt als Ober-
kammerherr hinter dem Stuhle des legitimen Königs und ſchwenkte die
Oriflamme bei dem Krönungsfeſte der Bourbonen; „ich habe ſtets die
Erfahrung gemacht, ſagte er würdevoll, daß noch jedes Syſtem, von dem
ich abfiel, bald nachher zuſammenbrach.“ Im Grunde des Herzens iſt er
doch immer ein eingefleiſchter Ariſtokrat geblieben. Darum wünſchte er
von jeher einen Bund mit den alten Mächten Oeſterreich und England,
denn mit dem ſtolzen Adel dieſer Länder ließ ſichs leben; das Regiment
der ruſſiſchen Emporkömmlinge und vollends die bürgerlich-ſoldatiſche
Schlichtheit des preußiſchen Staates war ihm verächtlich.


Alſo konnte er zu Wien mit innerem Behagen die Rolle ſpielen, welche
ihm durch die Intereſſen ſeines Hofes auferlegt wurde. Er trat auf als
[615]Vorbereitende Sitzungen.
der Wortführer der rechtmäßigſten aller Dynaſtien, ſchilderte prahleriſch,
wenige Monate vor den hundert Tagen, wie unerſchütterlich feſt die Macht
ſeines Königshauſes ſtehe, wie jedes bedrängte Recht an den Bourbonen
einen ſicheren Anker finde, und erfreute die Gedankenarmuth der dynaſti-
ſchen Politik ſogleich durch das geſchickt erfundene Stichwort „Legitimität“.
Mit feierlicher Salbung verkündete er ſofort die drei ſchon in ſeiner In-
ſtruction bezeichneten Hauptziele der bourboniſchen Staatskunſt: Beſeiti-
gung „des Menſchen der in Neapel herrſcht“ — der Name Murats kam
niemals über Talleyrands keuſche Lippen —, Abwehr der ruſſiſchen Ueber-
griffe in Polen, endlich und vor Allem Wiedereinſetzung des Königs von
Sachſen. In dem ſächſiſchen Handel erkannte der Franzoſe ſcharfblickend
den Keil, der die Coalition zerſprengen mußte; pathetiſch nannte er die
Sache Friedrich Auguſts „die Sache aller Könige“ und beklagte das un-
glückliche Europa, deſſen öffentliches Recht durch Preußens und Rußlands
Gewaltthaten ſo ſchwer bedroht ſei.


Schon die formelle Leitung einer ſo vielköpfigen und buntſcheckigen
Verſammlung bot die größten Schwierigkeiten, zumal da ihre leitenden
Männer meiſtentheils nur als beſcheidene Gehilfen der Monarchen auf-
treten durften. Da Rußland und Oeſterreich die Entſcheidung aller
Streitfragen gefliſſentlich auf den Congreß verſchoben hatten, ſo waren
die großen Mächte vorläufig noch über gar nichts einig, nicht einmal über
die Frage, wer an den Berathungen theilnehmen dürfe. Daher konnte
weder jemals eine förmliche Eröffnung des Congreſſes ſtattfinden noch
eine gemeinſchaftliche Sitzung aller ſeiner Mitglieder noch endlich eine
Prüfung der Vollmachten; nur wenn ein Sondervertrag unterzeichnet
wurde, tauſchten die Unterhändler unter ſich ihre Beglaubigungen aus.


Um doch einige Ordnung in dies Chaos zu bringen, traten die
Miniſter der vier verbündeten Großmächte ſchon in der Mitte Septembers,
noch vor Ankunft der Franzoſen, zu Vorberathungen zuſammen. Die
preußiſchen Staatsmänner wahrten eiferſüchtig die neugewonnene Groß-
machtſtellung ihres Staates; antifranzöſiſch von Grund aus, bekämpften
ſie zugleich die Napoleoniden und verlangten ſtrenge Ausführung jenes
geheimen Artikels, der den Bourbonenhof von allen Gebietsverhandlungen
ausſchloß. Aus beiden Gründen ſuchten ſie die kleinen Staaten den
wichtigeren Berathungen fern zu halten, da die Theilnahme der Minder-
mächtigen unfehlbar den Einfluß Frankreichs verſtärken mußte. In ſol-
chem Sinne entwarf Humboldt den Plan einer Geſchäftsordnung*), den
[616]II. 1. Der Wiener Congreß.
er dem „Comité der Vier“ überreichte. Der Congreß, hieß es hier, iſt
kein Friedenscongreß, da der Friede längſt geſchloſſen, auch keine be-
rathende Verſammlung Europas, da Europa kein conſtituirtes Ganzes
bildet, ſondern er hat eine Mehrzahl verſchiedener Geſchäfte zu er-
ledigen, die auch auf verſchiedene Weiſe behandelt werden müſſen: Ge-
bietsfragen, beſondere Angelegenheiten und ſolche Einrichtungen, die für
den ganzen Welttheil wichtig ſind. Von den Gebietsfragen bleibt die
polniſche, nach den Verträgen, allein den drei Theilungsmächten vor-
behalten, doch ſoll England eine allen Theilen willkommene Vermittlung
übernehmen. Die allgemeinen Grundſätze über die Vertheilung der deutſchen
Gebiete werden, gemäß dem Pariſer Frieden, von den vier Mächten allein
aufgeſtellt; Frankreich, Holland, Dänemark und die Schweiz ſind fern zu
halten, weil ſie nicht von dem europäiſchen Standpunkte ausgehen, auch
Baiern und Württemberg dürfen erſt am Schluſſe der Berathungen zuge-
zogen werden. Die italieniſche Gebietsvertheilung unterliegt den Berathun-
gen zwiſchen Oeſterreich, Piemont, dem Papſte, den Bourbonen von Sicilien
und ihrem Schirmherrn England; Murat bleibt ausgeſchloſſen. Unter
den „beſonderen Angelegenheiten“ ſteht die deutſche Verfaſſungsfrage oben-
an; ſie wird allein durch die deutſchen Staaten entſchieden, mit Zuziehung
von Dänemark — wegen Holſtein —, den Niederlanden, die ganz oder
theilweiſe beitreten müſſen, und der Schweiz, denn ein ewiges Bündniß
zwiſchen dem Deutſchen Bunde und der Eidgenoſſenſchaft „wäre im höchſten
Grade wünſchenswerth“. So bleiben für die Berathungen aller Mächte
nur übrig einige gemeinſame Angelegenheiten, nämlich: die Verfaſſung der
Schweiz, da dort ein Bürgerkrieg droht; die neapolitaniſche Sache: — der
nicht von allen Mächten anerkannte Gewalthaber dort muß beſeitigt
werden; die Entfernung Napoleons aus Elba: — dieſer Feuerbrand darf
nicht in ſo drohender Nähe bleiben; endlich die Abſchaffung des Sklaven-
handels, die Regelung der internationalen Flußſchifffahrt und die Rang-
ordnung der Diplomaten. Dieſe allgemein-europäiſchen Angelegenheiten
werden von einem leitenden Comité bearbeitet und dann dem geſammten
Congreſſe vorgelegt.


Die preußiſchen Vorſchläge fanden ſofort lebhaften Widerſpruch, obgleich
ſie ſich ſtreng auf dem unzweifelhaften Rechtsboden des Pariſer Vertrages
hielten. Talleyrand hatte längſt dafür geſorgt, daß man in der Hofburg
von ſeiner geheimen Inſtruction Kunde erhielt, und die Oeſterreicher er-
kannten dankbar, welche löblichen Grundſätze der Tuilerienhof hinſichtlich
der ſächſiſchen und der polniſchen Frage hegte. Sie fanden es jetzt höchſt
unbillig, Frankreich von irgend einem wichtigen Theile der Verhandlungen
auszuſchließen. Lord Caſtlereagh ſtimmte ihnen zu; denn das Verhältniß
zwiſchen den Höfen von Paris und London war inzwiſchen immer freund-
licher geworden, und ſoeben erſt, auf der Reiſe nach Wien, hatte ſich
Caſtlereagh nochmals in den Tuilerien aufgehalten. König Ludwig ſchätzte
[617]Talleyrand und das Comité der Vier.
die Welfen ſogar höher als die Lothringer, da dieſe ſich doch durch das
Ehebündniß mit dem Corſen eines unverzeihlichen Frevels gegen die Legi-
timität ſchuldig gemacht hatten. Nur Rußland hielt zu Preußen. So
ſtand man denn rathlos, Zwei gegen Zwei, und einigte ſich endlich
(23. September) über einen unglücklichen Mittelweg. Man beſchloß: die
deutſchen Verfaſſungsſachen werden von einem Ausſchuß der fünf deutſchen
Königshöfe, alle europäiſchen Angelegenheiten von den vier verbündeten
Großmächten und den beiden bourboniſchen Mächten (Frankreich und
Spanien) bearbeitet; jedoch blieb der Plan der Gebietsvertheilung, nach
der Pariſer Abrede, zunächſt den vier Mächten vorbehalten, dieſe ſollten
dann ihre Vereinbarungen an Frankreich und Spanien mittheilen und
zuletzt auch die kleinen Höfe zur Aeußerung auffordern.


Offenbar gewährte dies Compromiß den Franzoſen die Handhabe
alles bisher Beſchloſſene wieder umzuwerfen, und der mittlerweile einge-
troffene Talleyrand ſäumte nicht, den Fehler zu benutzen. Als der fran-
zöſiſche Miniſter und ſein ergebener Freund Don Labrador, der Geſandte
der ſpaniſchen Bourbonen, am 30. September in das Comité der Vier
geladen wurden um den Beſchluß der vier Mächte entgegenzunehmen, da
feierte Talleyrands eiſerne Stirn einen glänzenden Triumph. Mit un-
vergleichlicher Dreiſtigkeit, als ſei der geheime Artikel des Pariſer Friedens
gar nicht vorhanden, forderte der Franzoſe die Theilnahme aller Staaten
an allen Verhandlungen des Congreſſes, brachte die Miniſter der vier
Mächte durch tönende Phraſen von der Heiligkeit des öffentlichen Rechtes
dermaßen in Verwirrung, daß die Sitzung ohne Ergebniß aufgehoben
wurde. Keiner der anderen Geſandten beſaß Geiſtesgegenwart genug, um
durch eine kühle Berufung auf den Pariſer Frieden die vertragswidrige
Anmaßung des Franzoſen ſchon an der Schwelle abzuweiſen. Hardenberg
konnte ſchon wegen ſeiner unglücklichen Taubheit bei ſolchen unerwarteten
Ueberfällen nicht leicht das rechte Wort finden. Humboldt aber und der
ruſſiſche Bevollmächtigte ſind auf eine ſo freche Verhöhnung der kaum
erſt unterzeichneten Verträge offenbar nicht gefaßt geweſen. Caſtlereagh
und Metternich endlich hatten bereits ſelber, durch ihre geheimen Ver-
handlungen mit dem Tuilerienhofe, den Pariſer Frieden gebrochen. In
einem theatraliſch gefärbten Berichte, der Wort für Wort darauf berechnet
war die Ueberlegenheit ſeines Verfaſſers in helles Licht zu rücken, meldete
Talleyrand ſeinem Könige den erfochtenen Sieg; zu ſeinen rheinbündiſchen
Freunden aber ſagte er ſtolz: j’ai sû m’asseoir.


Einen durchſchlagenden Erfolg errang der Franzoſe vorerſt noch nicht.
Er beantragte in den folgenden Sitzungen: alle Souveräne, die nicht
förmlich abgedankt, alſo auch Friedrich Auguſt von Sachſen ſollten zum
Congreſſe zugelaſſen und ſodann durch die Geſammtheit der Staaten eine
Reihe von Ausſchüſſen eingeſetzt werden. Beide Anträge fielen; ſie be-
kundeten doch gar zu deutlich die Abſicht, dem franzöſiſchen Hofe als dem
[618]II. 1. Der Wiener Congreß.
Gönner der Kleinſtaaten die Führung des Congreſſes zu verſchaffen.
Endlich ward beſchloſſen, aus den acht Mächten, welche den Pariſer
Frieden unterzeichnet, ein leitendes Comité zu bilden. Dieſer Ausſchuß der
Acht war der amtliche Congreß, doch er ward nur ſehr ſelten und ledig-
lich der Form halber verſammelt, da drei von den puissances signatrices
in der Staatengeſellſchaft nur noch wenig bedeuteten. Zunächſt hatte
Talleyrand lediglich erreicht, daß Alles formlos und haltlos durcheinander
wogte. Ohne nach dem Comité der Acht zu fragen begannen die vier
alliirten Großmächte unter ſich vertrauliche Unterhandlungen über die
polniſche Frage.


Wie mächtig hatte ſich doch in wenigen Tagen Talleyrands Anſehen
gehoben! Als er ankam, wurde er in den Salons ängſtlich gemieden,
desgleichen ſein Amtsgenoſſe, der Herzog von Dalberg, der als ein Ueber-
läufer bei allen Deutſchen in ſchlechtem Rufe ſtand; nur der gutmüthige
Gagern nahm ſich der Verlaſſenen an. Jetzt ſuchten die Diplomaten
den gewandten Franzoſen eifrig auf, am eifrigſten natürlich die bedrängten
Sachſen. Höchſtwahrſcheinlich hat er wie Metternich von dem ſächſiſchen
Hofe große Geldſummen erhalten. Das galt in dieſen Kreiſen für durch-
aus unverfänglich; verzeichnete doch Gentz in ſeinen Tagebüchern mit der
Ruhe des guten Gewiſſens die Summen, die ihm von der franzöſiſchen
Geſandtſchaft bezahlt wurden. Talleyrands geheimer Verkehr mit dem
gefangenen Könige war den preußiſchen Staatsmännern wohl bekannt*),
und umſonſt pflegte er ſeine Freundſchaftsdienſte nicht zu leiſten. Ein
urkundlicher Beweis für die Beſtechung wird ſich allerdings wohl niemals
führen laſſen, denn die Rechnungen der ſächſiſchen Chatoulle ſind ſpäter-
hin auf Befehl des Königs von Sachſen, und ſicherlich aus guten Grün-
den, verbrannt worden. Uebrigens hat die ganze Frage nur für die
Skandalſucht oder die moraliſirende Kleinmeiſterei irgend welche Bedeu-
tung, nicht für das ernſte hiſtoriſche Urtheil. Talleyrands Beſtechlichkeit
iſt allbekannt, wird ſelbſt von ſeinem Lobredner Hans von Gagern nicht
in Abrede geſtellt; gleichgiltig alſo, wie oft und von wem er ſich bezahlen
ließ. Dem ſächſiſchen Hofe aber gereicht nur zur Schande, daß er die
alte Politik des Landesverrathes weiter führte; ob er dafür auch Geld
aufwendete, thut nichts zur Sache. Auf den Verlauf des Congreſſes ſind
dieſe ſchmutzigen Händel ohne jeden Einfluß geblieben; nicht das Alberti-
niſche Gold, ſondern das richtig erkannte Intereſſe ihres eigenen Staates
beſtimmte die Haltung der öſterreichiſchen wie der bourboniſchen Staats-
männer. Der franzöſiſche Geſandte in Berlin äußerte unverhohlen zu
Jedermann: Friedrich Auguſt iſt Frankreichs treueſter Verbündeter geweſen,
wir dürfen ihn nicht verlaſſen.


Zugleich ſpielte Talleyrand den großmüthigen Beſchützer aller deut-
[619]Talleyrand und die Kleinfürſten.
ſchen Souveräne. Die kleinen Herren waren alleſammt in übler Stim-
mung; Gebietsvergrößerungen ſtanden zu Wien nicht in Ausſicht, und das
natürliche Uebergewicht der großen Mächte machte ſich ſchwer fühlbar.
Meiſterhaft verſtand Talleyrand dieſen Groll der Mittelſtaaten zu ſchüren;
das geſammte öffentliche Recht ſchien ihm in Frage geſtellt, wenn die
Kronen von Baiern und Württemberg bei der Neuordnung Europas nicht
ebenſo vollberechtigt mitſprächen wie Preußen oder Rußland. So hob er
binnen Kurzem ſeinen gedemüthigten Staat wieder empor zu der althiſto-
riſchen Führerſtellung an der Spitze der deutſchen Kleinſtaaten. Mit gutem
Grunde prieſen die Franzoſen ihren geſchickten Unterhändler; Czar Alexander
aber ſagte: „Talleyrand ſpielt hier den Miniſter Ludwigs XIV.“ — ein
treffendes Wort, das ſeitdem oftmals auf die neufranzöſiſche Politik an-
gewendet worden iſt.


Kaum vierzehn Tage nach jener ſtürmiſchen Sitzung hatte ſich Gentz
ſchon völlig mit dem dreiſten Franzoſen ausgeſöhnt. Auch der Czar ließ
den gefährlichen Gegner mehrmals zu geheimen Unterredungen über Polen
rufen und gab ihm dadurch ſelber das Recht ſich in die polniſchen Händel
einzumiſchen. Vor Allen die deutſchen Kleinfürſten umdrängten dienſt-
befliſſen den hochherzigen Mann, der die Gleichberechtigung von Rußland
und Schwarzburg-Sondershauſen ſo nachdrücklich verfocht. Das ſiegreiche
Deutſchland erlebte die Schmach, daß ſein hoher Adel ſich abermals, wie
einſt in den Tagen unſerer Niederlagen, um die Gunſt eines franzöſiſchen
Subalternbeamten bewarb. Wie die kleinen Herren im Jahre 1803 zu
Matthieu, drei Jahre darauf zu dem alten Pfeffel als Bittſteller gezogen
waren, ſo ſchlichen ſie jetzt in das beſcheidene Stübchen zu Talleyrands ver-
trautem Rathe, demſelben La Besnardiere, der ſchon vor ſieben Jahren
in Poſen ſich in den Künſten deutſcher Vaterlands-Gründung geübt hatte.
Am Lauteſten lärmten die Baiern; mit Montgelas hatte Talleyrand be-
reits auf der Reiſe, in Baden, eine Beſprechung gehalten. Selbſt Karl
Auguſt von Weimar erhob ſich nicht über das Gefühl vetterſchaftlicher
Theilnahme und zog ſich erſt ſpät von den Albertinern zurück, als er die
unſauberen Hintergedanken der ſächſiſchen Partei durchſchaute. Geſchäftig
trugen die franzöſiſchen Unterhändler allerhand übermüthige Aeußerungen
hin und her, die angeblich im preußiſchen Heere laut geworden. Die
Pariſer Zeitungen erzählten, „das anmaßende Benehmen der preußiſchen
Generale in Wien“ habe ſelbſt die wärmſten Freunde des ländergierigen
Staates abgeſtoßen, während doch von allen namhaften preußiſchen
Generalen allein der gemeſſen bedachtſame Kneſebeck anweſend war.


Die von ſpäteren Hiſtorikern nachträglich gegen Preußens ſächſiſche
Pläne erhobenen Einwände kamen im Jahre 1814 Niemandem in den
Sinn. Uns Heutigen erſcheint es als ein ſchwächlicher Gedanke, daß man
den gefangenen König nicht einfach entthronen, ſondern anderswo mit Land
und Leuten entſchädigen wollte; aber dieſe Entſchädigung verſtand ſich nach
[620]II. 1. Der Wiener Congreß.
der Geſinnung jener Tage von ſelbſt, ohne ſie wäre der preußiſche Plan
den anderen Höfen noch viel ruchloſer erſchienen. Ein Gelehrter von heute
mag wohl finden, Friedrich Auguſt ſei kaum ſchuldiger geweſen als der
mit Gnaden überhäufte König von Baiern; Max Joſeph ſelber jedoch und
ſein Talleyrand haben ſolche Gründe zur Entſchuldigung ihres ſächſiſchen
Schützlings begreiflicherweiſe nie ausgeſprochen. Auch an die angeblichen
Verdienſte der Wettiner um Deutſchlands Geſittung dachten die nüchternen
Geſchäftsmänner in Wien niemals. Der Parteigegenſatz, der dort heraus-
trat, war ungleich einfacher. Auf der einen Seite ſtand der Wunſch
der jungen deutſchen Großmacht, ihrem zerriſſenen, bedrohten Gebiete eine
haltbare Südgrenze zu verſchaffen und zugleich der landesverrätheriſchen
Geſinnung der Rheinbundshöfe eine heilſame Warnung zu geben; auf
der anderen Seite der uralte Haß Oeſterreichs und Frankreichs gegen
den Staat, in dem man dunkel den Hort der deutſchen Einheit ahnte,
und der dynaſtiſche Neid der kleinen Höfe. Das wettiniſche Haus war
ein „Haus“ wie das wittelsbachiſche und württembergiſche auch, und in
der Wahrung der Hausmacht gingen alle Gedanken der kleinen Herren
auf. Talleyrand verſtand binnen Kurzem alle dieſe Kräfte des Wider-
ſtandes um ſich zu ſammeln und verhehlte nicht, daß ihm das Loos
Friedrich Auguſts weit näher am Herzen lag als das Schickſal Polens.
Der Rheiniſche Mercur ſchrieb warnend: in den bourboniſchen Lilien ſind
noch immer die napoleoniſchen Bienen und Wespen verborgen. Jenes
große europäiſche Bündniß, das ſich um Frankreichs Banner ſchaarte, giebt
den ſächſiſchen Händeln eine weit über den Werth des ſtreitigen Landes
hinausgehende hiſtoriſche Bedeutung. Der preußiſche Staat erfuhr aber-
mals, wie zur Zeit der ſchleſiſchen Kriege, daß die weite Welt ihn zu
bekämpfen einig war.


Der Gefangene von Friedrichsfelde ſpielte unterdeſſen nicht unge-
ſchickt und ſicherlich in gutem Glauben die Rolle der tief gekränkten Un-
ſchuld. Er war ſein Lebelang gewiſſenhaft auf dem Boden des poſitiven
Rechts geblieben und hatte, ſo lange das heilige Reich beſtand, ſeine
reichsfürſtlichen Pflichten genau erfüllt. Der Gedanke aber, daß auch ein
ſouveräner König von Sachſen ſich gegen Deutſchland verſündigen könne,
blieb dieſem Kopfe unfaßbar. Im Sommer 1814 ließ er dem Czaren
eine Denkſchrift überreichen; ſie zählte in vollem Ernſt die Entſchädigungen
auf, welche Sachſen von Preußen zu verlangen habe! Der König ohne
Land forderte von dem Sieger großmüthig nur den Beeskow-Storkower
Kreis, einige preußiſche Enclaven und Begünſtigungen für den ſächſiſchen
Handel; außerdem Erſatz für Warſchau. Wie läppiſch dies Machwerk er-
ſcheinen mochte, es bildete doch den paſſenden Uebergang zu einer zweiten
Denkſchrift, die im Juli zu Nürnberg mit Genehmigung der bairiſchen
Regierung gedruckt wurde. Mit dem äußerſten Erſtaunen, heißt es hier,
habe der König das Gerücht vernommen, daß die Alliirten ihm ſein Erb-
[621]Die Lage in Sachſen.
land vorenthalten wollten; er würde fürchten die hohen Mächte zu be-
leidigen, wenn er ſolcher Verleumdung irgend Glauben ſchenkte. Darauf
wird das Verhalten des ſächſiſchen Hofes gerechtfertigt, alle Schuld auf
die force prépondérante geſchoben — ſo hieß der Große Alliirte jetzt —
und mit der ganzen ſtillvergnügten Naivität des deutſchen Kleinfürſten-
thums die treffende Wahrheit ausgeſprochen: „nur große Staaten können
ihren Anſichten treu bleiben.“ Friedrich Auguſt erklärte ſodann allen
Höfen, daß er niemals in eine Abtretung willigen werde. Sein Geſandter
in Wien, Graf Schulenburg fand zwar keinen Zulaß zu den amtlichen
Verhandlungen des Congreſſes, und in den Berathungen des deutſchen
Verfaſſungsausſchuſſes wurde das Königreich Sachſen als nicht mehr vor-
handen angeſehen. Doch Wrede trug dem Sachſen dienſtbereit alles
Wiſſenswerthe zu. Zugleich verhandelte Prinz Anton insgeheim mit ſeinem
Schwager, dem Kaiſer Franz; der Sachſe Langenau war der nächſte Ver-
traute von Gentz. Die Sache der Albertiner gewann täglich an Boden.


Auch im ſächſiſchen Volke ſtand es anders als der Staatskanzler
wähnte. Mehrere einſichtige Männer vom Adel ſchloſſen ſich dem Gene-
ralgouvernement des Fürſten Repnin an, ſo Carlowitz, Miltitz, Oppell,
Vieth, auch einige höhere Beamte wie der Freund Schillers, der Vater
von Theodor Körner; mit ihrer Hilfe hat die ruſſiſche Verwaltung ſehr
ſegensreich gewirkt, binnen Kurzem eine Menge verrotteter Mißbräuche aus
dem kleinen Staate hinausgefegt. Im gebildeten Bürgerthum beſtand eine
kleine preußiſche Partei, die Leipziger Kaufleute waren längſt verſtimmt
wider das Adelsregiment. Aus dieſen befreundeten Kreiſen entnahmen
Stein und Hardenberg ihre hoffnungsvolle Anſicht von der Stimmung
des Landes. In Wahrheit verharrte die Maſſe des Volkes in tiefer Ab-
ſpannung. Sie war erſchöpft von den Drangſalen des Krieges, durch die
Alleinherrſchaft des Adels von allem politiſchen Denken entwöhnt; man
betrachtete, wie alle Deutſchen jener Zeit, das angeſtammte Fürſtenhaus
als ein unentbehrliches Kleinod des engeren Vaterlandes, doch man blieb
vorerſt ſtill und gleichmüthig. An dem regen Federkriege, der den diplo-
matiſchen Kampf um Sachſens Zukunft begleitete, haben blos zwei nam-
hafte Sachſen theilgenommen: Karl Müller ſchrieb für die preußiſche
Anſicht, Kohlſchütter als Vertreter des unterthänigen Beamtenthums. Nur
eine Partei entfaltete eine rührige Thätigkeit: die Oligarchen vom Hof-
adel. Sie beherrſchten das Land ſeit Jahrhunderten, die ſtarke Hand
des preußiſchen Königthums drohte ſie in die Reihen der gemeinen Unter-
thanen hinabzudrücken. Der Hofadel und die hohen Beamten hielten, ſo
lange der Krieg währte, mit den zahlreichen franzöſiſchen Gefangenen, die
ſich in Dresden umhertrieben, vertraute Freundſchaft; ſie ließen die ſächſi-
ſchen Truppen in den Rheinlanden durch ihre Sendboten bearbeiten,
ſtanden mit den befreundeten Diplomaten zu Wien in lebhaftem Verkehr
und wußten, des Herrſchens gewohnt, das zahme Völkchen daheim nach
[622]II. 1. Der Wiener Congreß.
und nach dermaßen einzuſchüchtern, daß ſich bald die große Mehrheit des
Volks in dem Rufe vereinigte: „wir wollen unſeren König wieder.“ Man
begann die trefflichen Männer an der Spitze der proviſoriſchen Verwal-
tung als Ueberläufer zu verleumden. Noch vor wenigen Jahren lebte
im Armenhauſe zu Wahren ein alter Mann, der im Volksmunde der
Verräther hieß; er hatte während des blutigen Kampfes um Möckern
einem preußiſchen Bataillon einen verſteckten Fußweg gewieſen.


Das Bild der jüngſten Ereigniſſe verſchob ſich allmählich in dem
Gedächtniß des Volks; die Sünden des Königs waren vergeſſen, der
Uebergang der Truppen während der Leipziger Schlacht erſchien bald
ſchlechtweg als eine ſchimpfliche Fahnenflucht. Eine Theilung des Landes
wünſchte man freilich noch weniger als die Einverleibung in den preußiſchen
Staat; man berief ſich auf den Czaren, der den klagenden Deputationen
aus Sachſen wiederholt „die Integrität ihres Landes“ zugeſichert hatte.
Die politiſche Urtheilsloſigkeit der Maſſe erkannte nicht, daß dieſe In-
tegrität nur möglich war, wenn der alte König nicht wiederkehrte. Die
günſtigen Nachrichten aus Wien verſtärkten jene maßloſe Selbſtüberſchätzung,
die zum Weſen der Kleinſtaaterei gehört; man erwartete gemüthlich, ganz
Europa werde die Waffen ergreifen um dem gefangenen Albertiner auch
das letzte ſeiner Dörfer zurückzugeben. Bei den Führern der particulariſti-
ſchen Partei reichte allerdings die Einſicht weiter, doch ſie wollten lieber
in einem verkleinerten Sachſen die alte Adelsherrlichkeit fortführen als dem
gemeinen Rechte des preußiſchen Staates ſich unterwerfen. Der General-
gouverneur Fürſt Repnin ſchrieb nach der Kataſtrophe an ſeinen Gehilfen,
den geiſtreichen Staatsrath Merian, ſcharf und treffend: „Ich klage die
hohen Beamten an, die ganz ebenſo wie ich überzeugt waren, daß die
Rückkehr des Königs nicht ohne die Zerreißung ihres Vaterlandes ſtatt-
finden konnte. Dieſe ſelbſtſüchtigen Menſchen haben lieber das Unglück
ihres Vaterlandes bewirken als ihre perſönlichen Vortheile verlieren wollen.
Die Sachſen wollten ihren Fürſten wieder haben und gaben durch ihr
Betragen eine moraliſche Unterſtützung den Abſichten jener Mächte, welche
die Theilung Sachſens für vortheilhaft hielten.“*)


So lagen die Dinge, als die vier Mächte ihre formloſen Verhand-
lungen über Polen begannen. Hardenberg wollte noch immer nicht ſehen,
daß ſeine ſächſiſchen Hoffnungen rettungslos zu Schanden werden mußten,
wenn er in den polniſchen Händeln mit Oeſterreich und England Hand
in Hand ging. Entweder wich der Czar vor dem vereinten Widerſtande
der drei Höfe zurück: dann wurde die preußiſche Krone durch ihre ge-
treuen Verbündeten wieder mit jenem polniſchen Beſitze beladen, den ſie
ſelber als eine verderbliche Laſt anſah, und verlor damit jeden Anſpruch
auf eine Entſchädigung in Sachſen. Oder beide Theile bequemten ſich
[623]Die Verhandlungen über Polen.
zu einem Vergleiche — und dieſer Ausgang war der wahrſcheinlichere,
da weder Oeſterreich noch England in jenem Augenblicke einen Krieg
wünſchte: dann war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Alexander, erbittert
über Preußens Widerſtand, die ſächſiſchen Anſprüche des preußiſchen Hofes
nicht mehr unterſtützte; von allen Seiten preisgegeben, hätte unſer Staat,
wenn er nicht einen Kampf gegen ganz Europa wagen wollte, ſich mit
einem Landſtrich an der Warthe und etwa mit einigen Stücken der Lauſitz
begnügen müſſen. So einfach ſtand die Rechnung. Für Metternich ergab
ſich zunächſt die Aufgabe, den Staatskanzler über den untrennbaren Zu-
ſammenhang der polniſchen und der ſächſiſchen Sache zu täuſchen, die
Löſung der ſächſiſchen Frage hinauszuſchieben und vorderhand mit Preußen
und England vereint den Plänen Alexanders zu widerſprechen; dann war
das Bündniß zwiſchen Rußland und Preußen geſprengt und die De-
müthigung der norddeutſchen Großmacht ſicher. Die Falle war erſtaun-
lich plump. Schon im September ſchrieb Gentz hoffnungsvoll an Ka-
radja: wenn es nur gelinge, die Vergrößerung Rußlands im vormals
preußiſchen Polen zu ermäßigen, ſo falle der einzige Grund für die Ein-
verleibung Sachſens hinweg!


In der That wurde die Aufmerkſamkeit der preußiſchen Staats-
männer faſt gänzlich durch die polniſchen Angelegenheiten in Anſpruch
genommen. Die Generale verlangten einmüthig eine militäriſch haltbare
Oſtgrenze. Humboldt forderte, daß Preußen für das bedrohte Gleichgewicht
Europas eintrete. Stein ſagte dem Czaren mit genialer Sicherheit voraus,
daß die Errichtung eines polniſchen Königreichs unter ruſſiſchem Scepter
entweder zur Losreißung von Rußland oder zur gänzlichen Unterwerfung
der Polen führen werde. In Hardenbergs Umgebung ließen ſich auch be-
redte Freunde der Polen vernehmen: ſo der liebenswürdige Fürſt Anton
Radziwill und der Geheimrath Zerboni, ein geiſtreicher Liberaler und
ſchwärmeriſcher Bewunderer der ſarmatiſchen Freiheit. Dem Staatskanzler
ſelber ſchien das Vorrücken Rußlands gegen Weſten weniger gefährlich als
die Wiederherſtellung des Königreichs Polen und die drohende polniſche
Propaganda. Alle dieſe Beſtrebungen, grundverſchieden unter ſich, trafen
doch zuſammen in dem Gedanken, daß man Alexanders Pläne bekämpfen
müſſe; die Frage, wie dann Preußens eigene Anſprüche zu ſichern ſeien,
ward noch kaum ernſtlich aufgeworfen.


Der Czar war in Petersburg über den einmüthigen Widerſpruch ſeines
geſammten Hofes doch etwas erſchrocken und begann zu zweifeln, ob er die
Vereinigung Litthauens mit Polen ſeinen Ruſſen zumuthen dürfe; indeß
an der Wiederaufrichtung des polniſchen Königthums hielt er hartnäckig
feſt. In Wien trat er ſogleich offen heraus mit dem Vorſchlage, daß
ganz Warſchau bis zur Prosna, mit Einſchluß von Thorn und Krakau,
als ein ſelbſtändiges Königreich dem Czarenhauſe überlaſſen werden ſollte.
Zugleich unterſtützte er auf das Wärmſte die Anſprüche Preußens auf
[624]II. 1. Der Wiener Congreß.
Sachſen und verpflichtete ſich ſchon am 28. September durch einen förm-
lichen Vertrag, die Verwaltung des Landes ſofort an Preußen zu über-
geben. Auch in der deutſchen Verfaſſungsſache befürwortete er nachdrück-
lich die preußiſchen Pläne; er verhehlte nicht, wie tief er die Selbſtſucht
der rheinbündiſchen Höfe verachtete, und vermied doch klug jede zudring-
liche Einmiſchung. Auch Capodiſtrias wünſchte lebhaft die Befeſtigung
des Deutſchen Bundes, und der jüngere Alopeus, Alexanders Geſandter
in Berlin, war ein feuriger Bewunderer des preußiſchen Waffenruhms.
Kurz, Rußlands Halkung gegen Preußen blieb durchaus freundſchaftlich,
obgleich Preußen ſich noch in keiner Weiſe verpflichtet hatte die polniſchen
Abſichten des Czaren zu unterſtützen. Unabweisbar drängt ſich die Ver-
muthung auf, daß Hardenberg durch offenes Entgegenkommen auch eine
Verſtändigung über Thorn und das Kulmerland, ein unbedingtes Zu-
ſammenhalten der beiden Mächte erwirken konnte. Er aber blieb auf
Metternichs Seite und hoffte zunächſt, daß auch England und Oeſterreich,
wie Rußland bereits gethan, in die vorläufige Occupation von Sachſen
willigen würden.


Der König ſah der Politik ſeines Kanzlers nicht ohne Sorge zu und
hielt die ſofortige Beſitznahme von Sachſen für einen voreiligen Schritt,
da er, minder hoffnungsvoll als Hardenberg, aus dem Verhalten des
Kaiſers Franz den richtigen Schluß zog, daß Oeſterreich die Vertreibung
der Albertiner ſchwerlich billigen würde. Hätte man die Occupation ein
Jahr vorher, gleich nach der Leipziger Schlacht durchſetzen können, ſo
wäre ſie ein wirkſames Mittel geweſen um die gänzliche Einverleibung
vorzubereiten. Wie jetzt die Dinge ſtanden, unmittelbar vor der Ent-
ſcheidung des Congreſſes, brachte die Beſitznahme keinen Vortheil mehr,
ſie ſetzte den Staat nur der Gefahr einer Demüthigung aus, falls er
nicht im Stande war das occupirte Land ganz zu behaupten. Deshalb
widerſprach der König. Er traute jedoch ſeinem eigenen Verſtande zu
wenig, am wenigſten in diplomatiſchen Fragen, ließ widerwillig den Kanzler
ſchalten und meinte nachher, als Hardenbergs Pläne ſcheiterten, ärgerlich
nach ſeiner Weiſe: „Hab’s immer geſagt, haben aber Alle klüger ſein
wollen.“ Nur die von Hardenberg vorgeſchlagene Ernennung des Prinzen
Wilhelm zum Statthalter von Sachſen gab er ſchlechterdings nicht zu;
er wollte mindeſtens die Perſonen des königlichen Hauſes vor einer be-
ſchämenden Niederlage bewahren.


Mit unbeirrtem Selbſtgefühle blickte der Staatskanzler über die
verſtändigen Bedenken ſeines königlichen Herrn hinweg, ſchrieb verächtlich
in ſein Tagebuch: „jurat in verba des Kaiſers von Rußland“*) und er-
öffnete, im Bunde mit Metternich, ſeinen diplomatiſchen Kampf gegen
den Czaren. Auf die Einladung der drei Theilungsmächte übernahm
[625]Caſtlereagh als Vermittler.
England die Vermittlung; und ſchwerlich iſt jemals in der geſammten
Geſchichte der neueren Diplomatie ein Unterhändler ſo thöricht und un-
geſchlacht aufgetreten wie der edle Lord, dem ſeine Parteigenoſſen nach-
rühmten: „für alles Gute müſſen wir Gott und Caſtlereagh danken.“
Er ſollte vermitteln und gebärdete ſich als ein Parteimann, ſtellte ſogleich
Forderungen, welche weit über Oeſterreichs und Preußens Wünſche hinaus-
gingen. Die einfachſten Rückſichten des Anſtandes geboten ihm eine ge-
mäßigte Sprache, da England nach den Verträgen gar nicht berechtigt
war ſich in die polniſchen Händel zu miſchen; und gleichwohl ſchlug er
ſofort einen zankenden Ton an, den kein gekröntes Haupt und am Aller-
wenigſten das überſpannte Selbſtgefühl Alexanders ſich bieten laſſen konnte.
Schon in ſeiner erſten Denkſchrift vom 4. October warf er dem Czaren
die Beſchuldigung ins Geſicht, Rußlands Verfahren verſtoße wider Wort-
laut und Geiſt der Verträge — eine offenbar unwahre Behauptung, da
Alexander ſich weislich gehütet hatte irgend eine bindende Verpflichtung
einzugehen. Er erdreiſtete ſich ſogar die Abſichten ſeiner Auftraggeber zu
verfälſchen und erklärte, Oeſterreich und Preußen würden die Herſtellung
eines völlig unabhängigen Polenreichs mit Freuden begrüßen — was der
Meinung des Wiener wie des Berliner Hofes gradeswegs zuwiderlief.


Die einzige Entſchuldigung für ein ſo unerhörtes Verfahren lag in
der tiefen Unwiſſenheit des Lords; offenbar ahnte er gar nicht, was unter
der Unabhängigkeit Polens zu verſtehen ſei. Mit naiver Selbſtgefällig-
keit ſchrieb er an Wellington nach Paris, die kräftige Sprache ſeines
Memoires könne und werde ihres Eindrucks auf den Czaren nicht ver-
fehlen*). Noch anſchaulicher zeigte ſich die Unfähigkeit dieſes wunder-
lichen Vermittlers in ſeiner zweiten Denkſchrift vom 14. October. Hier
verlangt er, Oeſterreich ſolle, wo möglich mit Preußen vereinigt, dem
Czaren folgende Vorſchläge unterbreiten: entweder Herſtellung des freien
Polenreichs unter einem unabhängigen Fürſten, wie es vor 1772 be-
ſtanden; oder, falls dies unerreichbar, Wiederherſtellung des Zuſtandes
von 1791; oder endlich, im ſchlimmſten Falle, eine Theilung des Groß-
herzogthums Warſchau dergeſtalt, daß Preußen alles Land bis zur Weichſel,
Rußland nur den ſchmalen Landſtrich weiter öſtlich erhielte. Während
Hardenberg niemals mehr als die Warthelinie für Preußen gefordert
hatte, wollte der Brite, der in Preußens Namen zu ſprechen behauptete,
unſerem Staate faſt ſeinen geſammten alten polniſchen Beſitz wieder auf-
laden, ja er verſicherte, Preußen ſei bereit für die Wiederherſtellung des
Polens von 1771 „alle nöthigen Opfer zu bringen“, alſo die Marienburg
und die Weichſellande des Deutſchen Ordens wieder den Sarmaten aus-
zuliefern! Noch mehr. Der Lord forderte, ſämmtliche in der polniſchen
Sache gewechſelten Schriftſtücke ſollten dem Congreſſe vorgelegt, alle
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 40
[626]II. 1. Der Wiener Congreß.
europäiſchen Staaten aufgefordert werden den Plänen Rußlands ent-
gegenzutreten. In ſeinem blinden Eifer nahm er alſo harmlos Talley-
rands Vorſchläge wieder auf und wollte, den Verträgen entgegen, alle
Kleinſtaaten in die polniſchen Händel hineinziehen; das hieß Frankreich
zum Schiedsrichter Europas erheben! In einer dritten Denkſchrift vom
4. November geſtattete er ſich vollends eine Sprache, wie ſie ſonſt nur dicht
vor Ausbruch eines Krieges gehört wird. Er erklärte, die Anſichten des
Czaren „würfen alle zwiſchen den Staaten hergebrachten Grundſätze von
Treu und Glauben zu Boden“, und betheuerte nochmals: ein ruſſiſcher
Kaiſer, der bis zur Prosna herrſche, werde nach Belieben ſeine Heere
an die Donau und die Oder werfen, Oeſterreich und Preußen völlig in
Schach halten.


Es war, als ob der Lord den Czaren zum äußerſten Widerſtande auf-
reizen wollte. In der That fühlte ſich Alexander tief beleidigt und gab in
zwei Denkſchriften (vom 30. October und 21. November) eine ſchroff ab-
lehnende Antwort. In hochtrabenden Worten entwickelte er die Anſchau-
ungen, welche ſeitdem in der halbamtlichen ruſſiſchen Geſchichtſchreibung
herrſchend geblieben ſind: Rußland konnte im Frühjahr 1813 leicht einen
glorreichen Frieden ſchließen und hat nur um Europas willen den Kampf
weiter geführt; die geforderte Vergrößerung iſt für die Nachbarn nicht be-
drohlich, aber nothwendig um die Ruſſen wie die Polen zu beruhigen.
Dazu eine wohlverdiente Abfertigung für den Lord: ein Vermittler iſt nur
dann nützlich, wenn er die Geiſter einander näher führt! — Ging man
auf ſolchem Wege weiter, ſo trieb die nach Frieden ſchmachtende Welt
einem neuen Kriege entgegen.


Währenddem ward dem preußiſchen Staatskanzler doch unheimlich in-
mitten ſeiner ſonderbaren Bundesgenoſſen. Er ſah den britiſchen Vermittler
Forderungen aufſtellen, die mit Preußens eigner Anſicht nichts mehr ge-
mein hatten, und war noch immer nicht ſicher, ob ſeine treuen Freunde ihn
bei ſeinen ſächſiſchen Plänen unterſtützen würden. Hardenberg beſchloß alſo
ſich Gewißheit zu verſchaffen und ſendete am 9. October einen warmen
und treuherzigen Brief an Metternich: Preußen will dem weiſen Syſteme
d’une Europe intermédiaire (d. h. dem engeren Bunde der drei „deutſchen“
Großmächte) treu bleiben, muß aber in ſeiner unſicheren Lage zunächſt an
ſeine eigenen Intereſſen denken und fordert daher offene Antwort auf
folgende drei Fragen: ſtimmt Oeſterreich der Einverleibung von ganz
Sachſen zu? genehmigt die kaiſerliche Regierung die Verſetzung Friedrich
Auguſts nach den Legationen? verzichtet ſie auf den Gedanken Mainz an
Baiern auszuliefern? (Ueber dieſe Abſicht Oeſterreichs, welche Humboldt
noch vor zwei Monaten nicht gekannt, war alſo Hardenberg endlich ins Klare
gekommen.) Wenn die kaiſerliche Regierung dieſe drei Fragen bejaht und
zugleich verſpricht, unſere Abſichten auf Mainz und Sachſen feſt zu un-
terſtützen, dann „werde ich mit Ihnen hinſichtlich der polniſchen Frage in
[627]Hardenbergs drei Fragen an Metternich.
das vollkommenſte Einvernehmen treten“. Zuletzt wird Metternich auf-
gefordert, ſofort der vorläufigen Occupation von Sachſen zuzuſtimmen.
Dieſelbe Bitte erging an Caſtlereagh. Hardenberg lebte mithin noch immer
der Hoffnung, der öſterreichiſche Freund werde ihm ganz Sachſen und
außerdem noch das polniſche Land, wofür Sachſen als Erſatz dienen ſollte,
großmüthig gewähren!


Caſtlereagh antwortete bereits am 11. October, bewilligte die vor-
läufige Occupation und erklärte: ſein Hof werde auch der gänzlichen Ein-
verleibung von Sachſen zuſtimmen; England wünſche eine vollkommene
Wiederherſtellung der preußiſchen Macht und eine Züchtigung der „politi-
ſchen Unſittlichkeit“ Friedrich Auguſts. Aber, fuhr er in ſeinem gräßlichen
Franzöſiſch fort, „wenn dieſe Einverleibung ſtattfinden ſoll als ein Mittel
um den preußiſchen Staat zu entſchädigen für die Verluſte, welche er erleiden
könnte durch beunruhigende und gefährliche Unternehmungen von Seiten
Rußlands, und als ein Mittel um Preußen mit unvertheidigten Grenzen
in offenbare Abhängigkeit von Rußland zu verſetzen,“ dann kann ich die
Zuſtimmung Englands nicht in Ausſicht ſtellen. — Was ſollte dieſer Wort-
ſchwall ſagen? Preußen erklärte: Erſt verbürget uns den Beſitz von
Sachſen, nur dann können wir wagen unſer Bündniß mit Rußland auf-
zugeben und euere polniſche Politik zu unterſtützen. Caſtlereagh antwor-
tete: Erſt bewirket, daß Rußland ſeine Weſtgrenze nicht zu weit vorſchiebt,
dann werden wir der Einverleibung Sachſens zuſtimmen! Der Lord
ſtellte alſo die preußiſche Forderung kurzweg auf den Kopf, knüpfte ſeine
Zuſage an ein unerfüllbares Verlangen. Da keine der drei Mächte in
jenem Augenblicke einen Krieg gegen Rußland wollte, ſo lag es offenbar
nicht in Preußens Hand allein, eine Ermäßigung der ruſſiſchen Anſprüche
durchzuſetzen; und trotzdem ſollte Preußens Vergrößerung von dieſer
ſinnloſen Bedingung abhängen, während die Erwerbungen Oeſterreichs
in Italien die bedingungsloſe Zuſtimmung Englands gefunden hatten!
Dieſe ſonderbare Kunſt ſich im Kreiſe zu drehen macht einen ſo ent-
ſchieden zweideutigen Eindruck, daß ſich unwillkürlich die Vermuthung regt,
Metternich oder Münſter hätte dem edlen Lord die Feder geführt. Gleich-
wohl war der unbeholfene engliſche Staatsmann ſelber unzweifelhaft in
gutem Glauben; er erkannte ebenſo wenig wie Hardenberg, daß Preußen
nach Lage der Dinge nur zwiſchen Warſchau und Sachſen wählen, doch
nimmermehr Beides zugleich erlangen konnte.


Die öſterreichiſchen Staatsmänner brachte Hardenbergs offene Anfrage
in peinliche Verlegenheit. Gentz wollte kurzerhand mit Preußen und Ruß-
land brechen; leidenſchaftlicher denn je ſchalt er wider die Habgier der
preußiſchen Revolutionäre, wider Alexanders Lehrer Laharpe, der ſeine
liberalen Grundſätze ſo keck zur Schau trage; immer traulicher ward ſein
Verkehr mit Talleyrand und Langenau. Metternich ſah weiter. Er begriff,
daß es noch nicht an der Zeit war die Maske fallen zu laſſen, und wollte
40*
[628]II. 1. Der Wiener Congreß.
den vertrauensvollen preußiſchen Freund ſo lange in ſeinem holden Wahne
erhalten, bis Preußen ſich mit Rußland überworfen habe und gänzlich ver-
einzelt daſtehe; darum war er geneigt, der vorläufigen Occupation von
Sachſen zuzuſtimmen. Nach wenigen Tagen, am 14. October, wurde
Gentz ſelber durch Caſtlereaghs Zureden zu der Anſicht ſeines ruhigeren
Freundes bekehrt. Oeſterreich genehmigte, daß preußiſche Truppen in
Sachſen einrückten — sans reconnaître le principe, wie Gentz befriedigt
hinzufügt. Durch dies Zeichen des Wohlwollens beſtärkte man den preu-
ßiſchen Staatskanzler in ſeinem argloſen Vertrauen und behielt doch freie
Hand für die letzte Entſcheidung.


Um ſo ſchwieriger war die Erwiderung auf Hardenbergs drei Fragen;
erſt am 22. October kam Metternich damit zu Stande. Die zweite der
preußiſchen Fragen — wegen der Verſetzung Friedrich Auguſts nach den
Legationen — wurde in der k. k. Antwort mit keinem Worte erwähnt,
was nach altem diplomatiſchen Brauche einer unbedingten Weigerung
gleich kam. Die dritte — wegen Mainz — wurde entſchieden verneint.
Dieſen Platz, welchen Kaiſer Franz ſelber im Jahre 1797 gegen Venedig an
die Franzoſen preisgegeben, erklärte Metternich jetzt für die einzige Feſtung,
die einen Marſch gegen die untere Donau verhindere, ja für den einzigen
Handelsplatz, welcher Oeſterreich den Zugang zu den nördlichen Meeren
eröffne — eine erſtaunliche Behauptung, die ſich nur aus den noch er-
ſtaunlicheren geographiſchen und volkswirthſchaftlichen Kenntniſſen des
k. k. Staatsmanns erklären läßt. „Niemals wird der Kaiſer darauf ver-
zichten.“ Soll der Deutſche Bund unter dem gleichmäßigen Einfluß von
Oeſterreich und Preußen ſtehen und Süddeutſchland in ſeinen gerechten
Anſprüchen befriedigt werden, ſo darf Preußen das linke Moſelufer nicht
überſchreiten. Alſo dem preußiſchen Freunde wurde jetzt ſelbſt Koblenz
abgeſprochen und die unhaltbarſte aller deutſchen Flußgrenzen angeboten!
Auf Hardenbergs erſte Frage endlich erwiderte Metternich: ſein Kaiſer
würde nur mit Schmerz die Entthronung eines der älteſten Geſchlechter
ſehen; die Einverleibung widerſpreche dem Intereſſe Oeſterreichs, könne
unter den deutſchen Fürſten nur Mißtrauen gegen Preußen, Anklagen
gegen Oeſterreich hervorrufen; der Kaiſer hoffe, Preußen werde dem ge-
fangenen Könige mindeſtens ein Stück Landes an der böhmiſchen Grenze
laſſen. „Wenn aber die Gewalt der Umſtände die Einverleibung Sachſens
unvermeidlich machen ſollte,“ dann behält ſich Oeſterreich Verabredungen
über die Feſtungen und Grenzplätze, über Handel und Schifffahrt vor.
Der Kaiſer rechne auf „die unbedingte Uebereinſtimmung des Vorgehens“
der beiden Höfe in der polniſchen Sache, auf eine Verſtändigung über
die gemeinſame Ausführung der „lichtvollen“ Caſtlereagh’ſchen Denkſchrift.
Metternich erlaubt ſich dazu noch die unziemliche Bemerkung, die perſön-
lichen Gefühle des Königs Friedrich Wilhelm dürften einer geſunden Po-
litik nicht im Wege ſtehen!


[629]Metternichs Antwort.

Ein entſchloſſener preußiſcher Staatsmann mußte nach Empfang dieſer
Erwiderungen ſofort erkennen, daß auf die beiden Bundesgenoſſen kein
Verlaß und ein feſter Anſchluß an Rußland geboten war. Von den drei
preußiſchen Bedingungen hatte Metternich zwei rundweg abgelehnt; und
wer irgend wußte, wie wenig ſelbſt ein entſchiedenes Ja aus dieſem Munde
bedeutete, der mochte leicht berechnen, wie viel auf die halbe, gewundene,
widerwillige Zuſtimmung zu der dritten Bedingung zu geben ſei. Lag es
denn nicht auf flacher Hand, daß „die Gewalt der Umſtände die Einver-
leibung Sachſens nicht mehr unvermeidlich machte“, ſobald Preußen den
größten Theil von Warſchau zurück erhielt? Metternich aber rechnete auf
das leichtgläubige Vertrauen ſeines preußiſchen Freundes und frohlockte
laut, daß er ſeine Gedanken ſo geſchickt umhüllt habe. Auch Gentz war
mit der ſchriftſtelleriſchen Leiſtung ſeines Freundes einverſtanden und
weiſſagte jubelnd an Wrede’s Tafel, in vierzehn Tagen würde das Syſtem
der europäiſchen Allianzen verſchoben — das will ſagen: eine Annäherung
Oeſterreichs an die Weſtmächte vollzogen ſein.


Gentz war es, der den Fürſten Metternich bewogen hatte in der Mainzer
Frage ſo beſtimmt ablehnend aufzutreten; ſelbſt durch ein Bündniß mit
Frankreich, meinte er grimmig, müſſe Mainz vor Preußens Habgier gerettet
werden. Dieſe Anſicht fand einen treuen Bundesgenoſſen an der unſterb-
lichen Neigung unſerer Kleinfürſten, das einfach Zweckmäßige nicht zu thun,
die bedrohten Stellen des Vaterlandes ſtets den ſchwächſten Händen anzuver-
trauen. Die erneſtiniſchen Höfe, Naſſau und Heſſen erklärten am 25. Oc-
tober, dieſe wichtige Feſtung dürfe an keinen der größeren Staaten, weder
an Baiern noch an Preußen, preisgegeben werden; ſie gehöre dem ge-
ſammten Deutſchland. Man ſchlug vor, einen neuen Deutſchen Orden
zum Schutze der Rheinfeſtung zu bilden; ſo allgemein war der Wider-
ſpruch gegen die Befeſtigung der preußiſchen Macht am Mittelrhein, daß
der Freiherr vom Stein endlich auf den künſtlichen Plan verfiel, den
Kronprinzen von Württemberg als deutſchen Feldmarſchall in Mainz zu
verſorgen. Wer ſehen wollte, konnte auch aus anderen Anzeichen ent-
nehmen, wie Oeſterreich gegen Preußen geſinnt war. Die im tiefſten
Vertrauen an Metternich mitgetheilte preußiſche Landkarte, welche jenen
„Iſthmus“ ſüdhannoverſchen Landes zur Verbindung der öſtlichen mit
den weſtlichen Provinzen für Preußen verlangte, wurde, wie Münſter
ſelbſt erzählt, durch die öſterreichiſchen Staatsmänner dem welfiſchen Diplo-
maten verrathen.


Gleichzeitig mit der Antwort an Hardenberg (22. Oct.) erklärte Met-
ternich in einem Schreiben an Caſtlereagh: Oeſterreich könne nur ungern
einen Zwiſchenſtaat fallen laſſen, der ſo oft für das Gleichgewicht Deutſch-
lands und Europas nützlich geweſen; wenn aber die Einverleibung Sach-
ſens von den Verbündeten als unvermeidlich angeſehen werde, dann wolle
Oeſterreich dies ſchwere Opfer bringen unter der zweifachen Bedingung:
[630]II. 1. Der Wiener Congreß.
daß das Gleichgewicht in Deutſchland nicht durch das Vorrücken Preußens
ſüdwärts der Moſel geſtört werde, und daß die Einverleibung „nicht die
Entſchädigung bilde für die Zuſtimmung zu Vergrößerungsabſichten“. Die
faſt wörtliche Uebereinſtimmung dieſes dunklen Satzes mit Caſtlereaghs
Note vom 11. October legt abermals den Gedanken nahe, daß der edle
Lord bei dem verſchlungenen Ränkeſpiele nur ein argloſes Werkzeug Met-
ternichs geweſen iſt. Der öſterreichiſche Staatsmann hielt das Spiel be-
reits für gewonnen und war der blinden Hingebung des preußiſchen
Staatskanzlers ſo ſicher, daß er ihn in einer neuen Note vom 2. No-
vember gradezu aufforderte, mit Oeſterreich vereint das aberwitzige pol-
niſche Programm Lord Caſtlereaghs zu unterſtützen: Preußen ſollte ver-
langen entweder die Herſtellung des Polenreichs von 1771 oder den
Zuſtand von 1791 oder endlich zum Allermindeſten die Theilung Polens
nach dem Laufe der Weichſel! Dies Allermindeſte war ſelbſtverſtändlich
die eigentliche Abſicht der Hofburg. Wahrlich, Preußens Staatsmänner
mußten mit Blindheit geſchlagen ſein, wenn ſie jetzt nicht bemerkten, daß
Oeſterreich überall, in Sachſen, in Polen wie am Rhein, das Gegentheil
der preußiſchen Pläne verfolgte.


Und doch hat es noch lange gewährt, bis dem Staatskanzler und
Wilhelm Humboldt die Augen aufgingen. Seltſam, wie künſtlich die beiden
geiſtreichen Männer ſich drehten und wendeten um nur das Nächſtliegende,
das treuloſe Doppelſpiel der Hofburg, nicht zu bemerken. Sofort nach
Empfang der öſterreichiſchen Note vom 22. October begannen lebhafte Be-
rathungen im Schooße des preußiſchen Cabinets. Am 23. ſtellte Humboldt
die leitenden Gedanken für die Beantwortung der Note zuſammen.*) Hier
ſpricht er noch ganz ohne Mißtrauen, wiederholt nochmals alle Gründe,
die für die Einverleibung Sachſens ſprechen: Preußen vertragsmäßigen
Anſpruch auf Entſchädigung, und die Nothwendigkeit, durch „eine politiſche
Lection“ zu zeigen, „daß ein Fürſt nicht ungeſtraft gegen die Intereſſen
der Nation, welcher ſein Volk angehört, handeln darf.“ Der Kaliſcher
Vertrag und die Vergrößerung Rußlands in Polen war eine unerfreuliche
aber unvermeidliche Folge der Lage, „des falſchen Syſtems die Uebermacht
des Weſtens durch den Oſten zu bekämpfen. Grade damit dies nicht
wieder vorkomme, müſſen die Mächte Mitteleuropas und namentlich Preu-
ßen verſtärkt werden.“ Zerſtreute Gebiete in Polen, Deutſchland oder
Belgien reichen zu ſolcher Verſtärkung nicht aus, „man darf die großen
Mächte nicht als Zahlenwerthe behandeln.“ Darum iſt die Einverleibung
Sachſens für Oeſterreich nicht ein dem preußiſchen Bündniß, ſondern ein
dem europäiſchen Gleichgewichte gebrachtes Opfer; eine Theilung des Landes
erſcheint durchaus unannehmbar. Darauf erörtert Humboldt die Mainzer
Frage und erklärt: Betrachten wir den Platz nur als nöthig für die Ver-
[631]Humboldts Denkſchriften vom 23. und 25. October.
theidigung Deutſchlands gegen Frankreich, ſo haben wir nur zu verlangen,
daß Baiern gar keinen Einfluß auf Mainz gewinne, „wenn dieſer Staat
nicht offen und ehrlich dem Deutſchen Bunde beitritt und auf das Recht
ſelbſtändiger Kriegführung nicht verzichtet.“ Dies unveräußerliche Recht
der europäiſchen Macht Baiern hatte Wrede während der letzten Tage in
dem deutſchen Verfaſſungsausſchuſſe prahlend verfochten. Humboldt aber
fährt mit unverwüſtlicher Mäßigung fort: ſollte Baiern beſſere Geſin-
nungen gegen den Deutſchen Bund zeigen, dann müſſen wir ſuchen „dieſen
Hof zu gewinnen, ſtatt ihn zu beargwöhnen“. Die Frage der Moſelgrenze
endlich iſt eine rein ſtatiſtiſche Frage; ſie läßt ſich leicht beſeitigen, wenn
Oeſterreich uns den Erfolg unſerer Gebietsverhandlungen mit den kleinen
deutſchen Staaten verbürgt.


Humboldt ſah alſo in der Hofburg noch immer den treuen, leider
etwas ſchwachen Freund, der durch Vernunftgründe in ſeinen löblichen
Entſchlüſſen beſtärkt werden mußte; er hoffte ſelbſt die Baiern zu be-
kehren, die bereits unverhohlen den Krieg gegen Preußen predigten; er
wollte endlich, um nur Oeſterreich bei guter Stimmung zu halten, Mainz
aufgeben und auf das rechte Moſelufer verzichten. Die Stadt Koblenz
ſelber war allerdings in dieſem Zugeſtändniß nicht inbegriffen.


Nach zwei Tagen war die Stimmung des preußiſchen Cabinets ſchon
weniger gemüthlich. Man hatte offenbar die engliſchen und öſterreichiſchen
Schriftſtücke unterdeſſen ſchärfer geprüft und wohl auch Einiges erfahren
von dem vertrauten Verkehre zwiſchen Gentz und Talleyrand. Vielleicht
mag der König ſelbſt ſeinen Diplomaten bemerkt haben, die Zuſtimmung
der Hofburg zu der Einverleibung Sachſens ſei doch ſehr unbeſtimmt ge-
halten, und Lord Caſtlereaghs polniſche Pläne gingen weit über Preußens
eigene Wünſche hinaus. Genug, eine zweite Denkſchrift Humboldts an
Hardenberg*) verräth bereits lebhafte Beſorgniſſe; ſie giebt ein ſehr an-
ſchauliches Bild von dem reichen Geiſte ihres Verfaſſers, bringt in breiter
Ausführung eine Ueberfülle feiner Gedanken, die einander gegenſeitig das
Licht vertreten, und gelangt ſchließlich doch nicht zu einem runden, klaren,
unzweifelhaften Ergebniß. Humboldt prüft zuerſt Caſtlereaghs Vorſchläge
und ſtellt nunmehr endlich den ſo nahe liegenden Gedanken auf, daß
man die Grenzfrage und die Verfaſſungsfrage aus einander halten müſſe.
Den polniſchen Verfaſſungsplänen des Czaren entgegenzutreten ſei nicht
räthlich; denn „Kaiſer Alexander befindet ſich gewiß in großer Verlegen-
heit, wenn er ausführen will was er den Polen verſprochen zu haben
ſcheint, und die Mächte vermehren dieſe Verlegenheit, wenn ſie ſeinen
Abſichten nicht allzu entſchieden widerſprechen. Unter dieſem Geſichts-
punkte betrachtet iſt die geplante polniſche Verfaſſung vielleicht ſogar ein
Gegengift gegen die Nachtheile, welche aus der übermäßigen Vergrößerung
[632]II. 1. Der Wiener Congreß.
Rußlands entſtehen.“ Ueber die Grenzfrage bemerkt er, bisher habe man
immer nur die Warthelinie mit Thorn und Krakau gefordert, das ge-
legentlich geäußerte Verlangen nach der Weichſelgrenze ſei wohl niemals
ernſtlich gemeint geweſen. Kluge Mäßigung ſei nothwendig um die Ge-
fahr zu vermeiden „daß ein Bruch entſtehe, und an Europa — d. h.
vor Allem an Frankreich gegen Europa — appellirt werde. Frankreich
wird ſich der Streitfrage immer vornehmlich zu dem Zwecke bedienen
um die Zwietracht zwiſchen den Cabinetten zu verewigen, gelegentlich
Vortheil davon zu ziehen und nachher uns preiszugeben und ſich mit
Rußland zu verſtändigen, ſobald das franzöſiſche Sonderintereſſe befrie-
digt iſt.“


Dann betrachtet er Preußens eigenthümliche Stellung. Wir verlangen
über Rußlands Angebot hinaus nur noch Thorn und einige halbdeutſche
Striche; Oeſterreich aber fordert das wichtige Krakau, das die Polen nie-
mals preisgeben werden. Der Gewinn für Oeſterreich iſt alſo ungleich
größer, während wir um geringer Vortheile willen Gefahr laufen uns mit
Rußland zu überwerfen und in eine ſehr peinliche Lage zu gerathen. Sehr
bedenklich iſt auch „die Weiſe, wie Oeſterreich der Einverleibung Sachſens
zuſtimmt. Denn ſtatt laut und kühn zu ſagen, daß die kaiſerliche Regie-
rung die Sache Preußens gegen Jedermann vertheidigen wird, ſtimmt ſie
nur mit Widerſtreben, wie aus Gefälligkeit zu und will uns dieſe Gunſt
durch andere, ſehr ſchmerzliche Opfer erkaufen laſſen. Offen geſtanden,
es iſt ſehr zweifelhaft, ob wir nur unſeren augenblicklichen Vortheil dem
wirklichen und dauernden Intereſſe Preußens opfern, wenn wir in der
polniſchen Angelegenheit denſelben Weg mit Oeſterreich gehen. Man muß
vielmehr zugeben, daß Preußen dann ſein perſönliches Intereſſe aufgiebt
um die Sache Europas zu ergreifen. Dennoch wird Preußen immer den
Weg der Grundſätze und niemals den der reinen Convenienz einſchlagen.“
Wir verlangen aber, daß die verbündeten Mächte bei der Feſtſtellung der
von Rußland zu fordernden Grenzen auf Preußens ſchwierige Lage Rück-
ſicht nehmen; desgleichen daß ſie „gegen alle anderen Mächte offen und
kräftig die Sache Preußens und ſeiner neuen Erwerbungen vertheidigen;
daß ſie ſelber die Aufgabe übernehmen gewiſſenhaft die Verträge auszu-
führen, welche uns eine vollſtändige Wiederherſtellung und ſelbſt eine
angemeſſene Vergrößerung zuſichern; daß ſie uns endlich förmlich den
Beſitz der Landſtriche verbürgen, wegen deren wir noch von Rußland ab-
hängig ſind.“ Wollen die Mächte dieſe Verpflichtungen nicht übernehmen,
dann werden wir zwar nicht eine Politik befolgen, die wir verdammen,
aber Preußen wird zu ſeinem großen Leidweſen ſich genöthigt ſehen „zuerſt
an ſeine Selbſterhaltung zu denken“. Zum Schluß nochmals: wir müſſen
in der Verfaſſungsfrage nachgeben und nur die Warthelinie fordern; weigert
ſich Alexander, ſo dürfen die drei Mächte keinen Vertrag mit ihm ſchließen,
ſondern ſie müſſen die Frage offen laſſen und beſtimmt erklären, daß ſie
[633]Einſchreiten des Königs.
von ihrer Anſicht nicht abgehen würden, aber auch in dieſem Falle müſſen
ſie ſo weit als möglich Frankreich fern halten.


Ein wunderlicher Anblick, wie der geiſtvolle Mann immer wieder ſein
Roß bis dicht an den Graben heranführt und ſich doch nicht das Herz
faßt das Hinderniß zu nehmen. Er ſieht, daß die vorgeblichen Bundesge-
noſſen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen ſelbſt, daß Preußen für
ſich bei dieſem diplomatiſchen Feldzuge nichts Weſentliches gewinnen kann;
er ahnt die Nichtigkeit der öſterreichiſchen Verſprechungen; er begreift, daß
aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird.
Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung ſchwebe dem ſcharf-
ſinnigen Denker ſchon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künſt-
licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Anſicht: die erſte und ſelbſt-
verſtändlichſte Pflicht jedes preußiſchen Staatsmannes, die Pflicht, des
eigenen Landes Macht zu ſichern, ſei eine niedrige Sorge für „das per-
ſönliche Intereſſe Preußens“! Die gleißneriſche engliſche Phraſe von „der
Sache Europas“ berauſcht auch dieſen kalten Kopf! Es iſt dieſelbe über-
irdiſche Großmuth, dieſelbe übergeiſtreiche Willensſchwäche, die in unſerer
Geſchichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn
zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be-
gnügte ſich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindſeligkeit faſt aller
Mächte gegen Preußen*); er ſo wenig wie Humboldt fand den einfachen
Schluß, daß man die erdrückende Maſſe der Gegner ſprengen und min-
deſtens mit einer der fremden Mächte ſich abfinden müſſe.


Was man von Oeſterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut-
müthigen Schwäche noch zweifelhaft ſcheinen. Eben jetzt traten auf Be-
fehl ihres Kaiſers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe
zuſammen und beſchloſſen, Preußen müſſe durchaus wieder bis zur Weichſel-
linie vorrücken. Zur ſelben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich
anbieten, Oeſterreich ſei bereit in der polniſchen Sache nachzugeben, wenn
Rußland die ſächſiſchen Anſprüche Preußens nicht mehr unterſtütze. So
verſicherte Alexander ſeinem königlichen Freunde auf das Beſtimmteſte;
Metternich, nach ſeiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An-
erbieten genau übereinſtimmt mit der gleich nachher von Oeſterreich wirklich
eingehaltenen Politik, ſo iſt diesmal der Czar ſicherlich nicht der Lügner
geweſen. —


Eine unerhörte Demüthigung ſtand dem preußiſchen Staate bevor;
da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil-
ſamſte diplomatiſche Entſchluß ſeines Lebens. Am 6. November hatte er mit
dem Czaren eine lange Unterredung im engſten Kreiſe. Die beiden Freunde
verſtändigten ſich, und der König wagte nun endlich, ſeinen Diplomaten die
Politik anzubefehlen, welche er ſchon ſeit Monaten für die einzig ſichere
[634]II. 1. Der Wiener Congreß.
hielt: er befahl dem Staatskanzler, fortan nicht mehr feindlich gegen Ruß-
land vorzugehen. Friedrich Wilhelm hatte die Wiedererwerbung der
Millionen treuloſer Polen nie gewünſcht und konnte alſo nur mit Be-
fremden erfahren, wie hartnäckig England und Oeſterreich nach der Weichſel-
grenze verlangten. Er wußte beſſer als Hardenberg, welche Hemmniſſe
ſich der Einverleibung Sachſens entgegenſtellten; er hatte aus vertrautem
perſönlichen Umgang richtig herausgefühlt, daß der Czar für Preußen
mindeſtens mehr aufrichtiges Wohlwollen hegte als der gute Kaiſer Franz.
Sein ſchlichter Verſtand begriff nicht, warum Preußen — auf die Gefahr
hin ſeinen beſten Bundesgenoſſen zu verlieren — um jeden Preis den
phantaſtiſchen Gedanken des ruſſiſch-polniſchen Königthums bekämpfen ſollte,
der für Rußland ſelbſt weit gefährlicher war als für Deutſchland. Nun,
da er ſeine eigenen Staatsmänner rathlos hin und her ſchwanken ſah,
griff er ſelber durch und bewährte wieder den klaren, ſicheren Soldaten-
blick, den er am Tage von Kulm und ſo oft auf den Schlachtfeldern des
letzten Winterfeldzugs gezeigt hatte. Die perſönliche Neigung mag dabei
mitgewirkt haben, doch der Drang des Gemüths ſtimmte überein mit der
nüchternen politiſchen Berechnung.


Hardenberg fühlte ſich tief gekränkt durch das entſchiedene Auftreten
ſeines königlichen Herrn und dachte ernſtlich daran ſeinen Abſchied zu for-
dern; Metternich und Caſtlereagh ſuchten ihn in dieſem Entſchluſſe zu be-
ſtärken. Die Schwenkung des Königs wurde ſofort von den gewandten Geg-
nern ausgebeutet. Die Franzoſen ſetzten ein effectvolles Märchen in Umlauf:
wie Alexander durch brünſtige Zärtlichkeitsbetheuerungen ſeinen Freund und
ſich ſelber in ſanfte Rührung hineingeredet und dann dem argloſen Könige
das verhängnißvolle Verſprechen abgenommen habe. Die anmuthige Erfin-
dung fand bei den erboſten fremden Diplomaten um ſo leichter Gehör, da
der Entſchluß des Königs ihre ſämmtlichen Berechnungen über den Haufen
warf; ſeit dem bekannten Auftritte am Grabe Friedrichs des Großen wußte
ohnehin Jedermann, wie Großes der Czar in kunſtvollen Rührſcenen zu
leiſten vermochte. Talleyrand verkündete ſchon am 7. November frohlockend
an Gentz den großen Verrath der Preußen und gab dann die Parole aus,
welche bald von Metternich und Caſtlereagh nachgeſprochen wurde: Preußen
hat „die Sache Europas“ aufgegeben und darf darum Sachſen nicht er-
halten! Dieſer Abfall der falſchen Freunde iſt aber nicht durch den König
verſchuldet worden; er wäre vielmehr, auch ohne die That Friedrich
Wilhelms, unzweifelhaft nach einigen Wochen, und dann unter Mitwir-
kung des Czaren ſelber, eingetreten. Es bleibt das Verdienſt des Mo-
narchen, daß er ſeinem Staate für den unausbleiblichen Zuſammenſtoß
mit Oeſterreich und den Weſtmächten den Beiſtand Rußlands und alſo
doch mindeſtens eine leidliche Entſchädigung ſicherte.


Leider führte der König ſein gutes Werk nicht ganz zu Ende. Ihm
genügte, daß er den Bruch mit Preußens natürlichem Bundesgenoſſen
[635]Wendung der preußiſchen Politik.
abgewendet hatte; das Weitere überließ er, nach ſeiner ſchüchternen Weiſe,
dem Staatskanzler. Die Monarchen waren in jenem Geſpräche nur
über zwei Punkte übereingekommen: der König wollte, da ihm der Czar
abermals den Beſitz von Sachſen verbürgte, der polniſchen Königskrone
Alexanders nicht mehr widerſprechen, und er verwarf die von Oeſterreich
und England verlangte Weichſelgrenze als eine übertriebene, für Preußen
ſelbſt nachtheilige Forderung. Doch über die Zukunft des Landſtrichs
zwiſchen Warthe und Prosna gingen die Meinungen noch auseinander,
und es war ſicherlich Hardenbergs Pflicht, dieſe Grenzfrage ſogleich durch
vertrauliche Verhandlungen zu erledigen, alle zwiſchen Rußland und
Preußen noch ſtreitigen Punkte aus der Welt zu ſchaffen, um dann,
wohl gedeckt durch gegenſeitige bindende Verpflichtungen, mit einem ge-
meinſamen Programm den Weſtmächten und der Hofburg entgegenzutreten.
Der beſtimmte Befehl des Königs hatte die Lage völlig verändert; der
Staatskanzler konnte nicht mehr den Vermittler ſpielen, er mußte Partei
ergreifen. Angeſichts der unwahren Winkelzüge Metternichs, der ſinnloſen
Phraſen Caſtlereaghs, der offenbaren Feindſeligkeit Talleyrands und aller
kleinen Höfe war Preußen verpflichtet rückſichtslos an ſeine eigene Siche-
rung zu denken. Dem heuchleriſchen Geſchrei über „den Verrath an der
Sache Europas“ entging man ja doch nicht mehr.


Außer der von Rußland bereits angebotenen Prosnalinie waren aber
nur Thorn und die benachbarten Gebiete des alten Deutſch-Ordenslandes
für Preußen unentbehrlich. Dieſe wichtige Poſition an der Weichſel und
ihr deutſches Hinterland dem großen Vaterlande zurückzugeben blieb aller-
dings eine unerläßliche Aufgabe der nationalen Politik. Schon auf die
erſte unbeſtimmte Nachricht von der bevorſtehenden Wiedervereinigung ſpra-
chen die Aemter Engelsburg und Rheden ſofort dem Staatskanzler ihre
herzliche Freude aus und ſchilderten beweglich, mit wie „unnennbaren
Empfindungen“ ſie durch ſieben lange Jahre dicht an ihrer Grenze das
Glück der Preußen geſehen und ſelber das Joch der fremden Tyrannei
hätten tragen müſſen. *) Die Wiedererwerbung dieſer treuen deutſchen
Lande war, wie der Erfolg gezeigt hat, keineswegs unmöglich, obgleich
Czar Alexander auf das feſte Thorn großen Werth legte; man mußte
nur einen klaren Entſchluß faſſen, auf die rein polniſchen Landſtriche
um Kaliſch und Czenſtochau verzichten und vor Allem Oeſterreichs An-
ſprüche auf Krakau nicht mehr unterſtützen. Krakau war, wenn Preußen
die Stadt erlangen konnte, unſchätzbar als Grenzfeſtung wie als Stapel-
platz für den oberſchleſiſchen Handel; die alte Pflanzung des deutſchen
Bürgerthums hätte vorausſichtlich unter preußiſchem Scepter bald wieder
ein deutſches Gepräge empfangen. Aber wie die Dinge lagen, ſtritten ſich
nur Oeſterreich und Rußland um den Beſitz des Platzes; und warum
[636]II. 1. Der Wiener Congreß.
ſollte Preußen die öſterreichiſche Nachbarſchaft der ruſſiſchen vorziehen oder
gar die Anſprüche der Hofburg auf Zamosz und die Niederungen der Nida
unterſtützen? Nachdem der König entſchieden hatte, war es geboten ſofort
mit Rußland die Grenzfrage ins Reine zu bringen.


Hardenberg aber hatte ſich ſchon allzu tief eingelaſſen in die engliſch-
öſterreichiſchen Zettelungen; er konnte das Mißtrauen gegen Rußland nicht
überwinden. Alle ſeine ehrlichen Hoffnungen für Deutſchlands Zukunft
beruhten auf dem Bündniß der „drei deutſchen Großmächte“. Darum
wollte er auch jetzt noch eine Mittellinie zwiſchen den beiden Parteien ein-
halten und ſchrieb am Tage nach jenem Geſpräche (7. November) ver-
traulich an Caſtlereagh. Er hütete ſich wohl, von dem Befehle des Königs
etwas zu ſagen und erzählte nur, wie er im Verlaufe jener Unterredung
die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man Alexanders polniſche Königs-
krone anerkennen müſſe. Für Preußen verlangte er nochmals die Warthe-
linie und Thorn, für Oeſterreich das Land bis zur Nida, Krakau und
Zamosz, obgleich Metternich ſelber auf letzteren Platz wenig Werth legte. —
Es war kaum möglich ungeſchickter zu verfahren. Der Staatskanzler ſetzte
ſich zwiſchen zwei Stühle; durch die Anerkennung des Königreichs Polen
gab er der Hofburg willkommenen Anlaß über Preußens Verrath zu klagen,
und zugleich ſtieß er den Czaren vor den Kopf durch die Forderung einer
Grenze, welche Rußland nicht bewilligen konnte.


Auch Humboldt fügte ſich nur widerſtrebend dem Befehle des Königs
In einer dritten Denkſchrift, vom 9. November, warnte er vor der Ge-
fahr, daß Oeſterreich durch unſer ruſſiſches Bündniß in allen deutſchen
Fragen uns verfeindet werde *): „Da dieſe Verhältniſſe für Preußen immer
die nächſten und wichtigſten bleiben, wird Rußland es dafür nicht ent-
ſchädigen können. Ruhe, Gleichgewicht und Sicherheit laſſen ſich nicht
mehr denken, wenn Preußen ſich, ohne die gerechteſten und wichtigſten
Gründe, von ſeinem natürlichen politiſchen Syſteme, der Verbindung mit
Oeſterreich, Deutſchland, England und Holland trennt.“ Immer wieder
verbreitet der holde Traum des deutſchen Dualismus ſeinen Dunſtkreis
um die Köpfe der preußiſchen Staatsmänner. Auch ein ſehr ſonderbarer
Grund wird von Humboldts überſcharfem Geiſte für Hardenbergs Politik
herangezogen: der Umſtand nämlich, daß die beiden ſchlimmſten Feinde
Preußens und des europäiſchen Friedens, Frankreich und Baiern, ebenfalls
gegen Rußland kämpfen; daraus folgt nicht, wie gewöhnliche Menſchen
vermuthen werden, daß Preußen, mit dieſen Feinden verbündet, höchſt-
wahrſcheinlich frevelhaft betrogen würde, ſondern umgekehrt, daß „Frank-
reich und Baiern alles Intereſſe dabei verlieren, ſobald Preußen auf
die Seite tritt, auf welche ſie ſich in Abſicht der polniſchen Angelegenheit
ſtellen!“


[637]Neue Bedenken Humboldts.

Aus ſolchen kunſtvollen Vorderſätzen ergiebt ſich die Nothwendigkeit
offen für England und Oeſterreich aufzutreten; aber Preußen muß for-
dern, daß die beiden Mächte augenblicklich in einem definitiven Vertrage
Preußens gerechte Forderungen anerkennen und ihm namentlich die Ein-
verleibung von Sachſen verbürgen. Sollten ſie jedoch wider Erwarten
auf dieſe Bedingungen nicht eingehen, „ſo bewieſen ſie dadurch ſchon,
daß ſie kein rein europäiſches Intereſſe hätten, und daß ſie Preußen die
Kräfte nicht einräumen wollten, deren es zur Erhaltung ſeiner Unab-
hängigkeit bedarf; und ſo würde Preußen vor ſich und Europa gerechtfer-
tigt ſein, ſich von ihnen zu trennen und einen eigenen Weg mit Rußland
einzuſchlagen.“


Wahrlich, blinde Ergebenheit gegen Rußland iſt das Letzte, was ſich
den Diplomaten der Staatskanzlei vorwerfen läßt; bis zur zwölften Stunde
bauten ſie feſt auf Oeſterreichs Freundſchaft. Schon nach wenigen Tagen
ward offenbar, daß weder Oeſterreich noch England eine feſte Verpflich-
tung für Preußens Wiederherſtellung übernehmen wollte. Hardenberg
hat dann noch wochenlang in unfruchtbaren Vermittlungsverſuchen ſich
erſchöpft; Preußen trug von ſeinem „Abfall“ zunächſt nur den Haß da-
von, der jedem diplomatiſchen Frontwechſel zu folgen pflegt. Doch als
nachher der Streit ſich verbitterte, da führte die Natur der Dinge, halb
wider den Willen der preußiſchen Staatsmänner, jene Parteigruppirung
herbei, welche dem klaren Blicke des Königs von vornherein als unver-
meidlich erſchienen war. Auf der einen Seite ſtanden Preußen und Ruß-
land, auf der andern: Oeſterreich, England, alle kleinen Neider des wer-
denden deutſchen Staats und, als der Leiter der großen Verſchwörung,
Frankreich. Nur ſeinem Könige verdankte der aus tauſend Wunden blu-
tende Staat, daß er aus einem ſolchen Kampfe nicht völlig gedemüthigt
hervorging. —


Am 8. November übergab Fürſt Repnin die Verwaltung von Sachſen
an die preußiſchen Bevollmächtigten General von Gaudi und Miniſter
v. d. Reck. Der Leipziger Bürgermeiſter Siegmann und die Handlungs-
deputirten ſprachen ſofort im Namen von Stadt und Kaufmannſchaft dem
Staatskanzler ihr volles Vertrauen aus, dankten ihm für die treffliche
Wahl der oberſten Beamten. *) Es fehlte nicht an unerquicklichem Streite,
da der moderne Staat mit ſeiner ſtrengen Aufſicht plötzlich unter die
Spinnweben und den verſtaubten Urväterhausrath dieſer verkommenen
altſtändiſchen Verwaltung hineinfuhr. An die Spitze des Finanzweſens
wurde Staatsrath Frieſe geſtellt, einer der beſten Köpfe des preußiſchen Be-
amtenthums, derſelbe, der nachher der Preußiſchen Bank lange mit großem
Erfolge vorgeſtanden hat. Er wußte nicht grell genug zu ſchildern, wie
[638]II. 1. Der Wiener Congreß.
ſündlich der Staatshaushalt, der freilich noch immer minder verſchuldet
war als die erſchöpften Finanzen Preußens, durch eine faule, ſchwerfällige
und beſtechliche Verwaltung verwahrloſt ſei, und gerieth mit den Mit-
gliedern des ſächſiſchen Finanz-Collegiums hart an einander. *) Den
ſächſiſchen Edelleuten, welche bisher den Abtheilungen des General-
gouvernements vorgeſtanden, wurden bürgerliche Beamte an die Seite
geſetzt, ſo der Geh. Rath Krüger, ein echter Sohn der tüchtigen, rück-
ſichtslos ſtrengen altpreußiſchen Beamtenſchule, und der ſächſiſche Hof-
rath Ferber, ein alter Gegner der Ständeherrſchaft, beim Adel längſt als
Demagog verrufen. Darüber denn große Entrüſtung. Die Gekränkten
hielten die heiligſten Rechte „der ſächſiſchen Nation“ für gefährdet — die
harmloſe Verwechslung des perſönlichen mit dem allgemeinen Intereſſe
bleibt ja die Erbſünde kleinſtaatlicher Weltanſchauung — und brachten den
armſeligen Handel bis vor den Congreß. Stein, der in Streitigkeiten
zwiſchen Edelleuten und „Officianten“ ſelten unparteiiſch verfuhr, ſchalt auf
die Roheit der Preußen. Der Staatskanzler aber wies die Klagenden ſcharf
ab: „Sie können aus dieſen nur perſönlichen Differentien nicht eine Sache
des ſächſiſchen Volkes machen, als deſſen Repräſentanten Sie keineswegs
angeſehen werden können.“


Die verſtändigen Leipziger Geſchäftsmänner faßten bald Zutrauen
zu dem neuen ſtraffen und gerechten Regimente; der Curs der Staats-
papiere und Kaſſenbillets ſtieg ſofort. Mit warmen Worten dankte der
Handelsconſulent Gruner dem Staatskanzler, daß er der Adelsherrſchaft
entgegentrete; in ihr liege der Grund „der unſerer Adminiſtration eigen-
thümlichen Schwerfälligkeit“. Noch entſchiedener ſchrieb der Chef des großen
Bankhauſes Reichenbach: „Die Leute werden bald zu bekennen gezwungen
ſein, daß der das Heil des Vaterlandes nicht will, der die alte Verwirrung,
den häßlichen Schlendrian und die ſtarrköpfige Aufrechthaltung alter Miß-
bräuche wünſcht, welche eine gewiſſe Clique für unſer Palladium ausgeben
möchte.“ **) Einige dieſer alten Mißbräuche waren freilich auch der wackeren
Leipziger Bürgerſchaft theuer. Die Stadt hatte bisher nahezu einen Staat
im Staate gebildet; ſie hielt ihre eigenen Stadtſoldaten, keine landesherr-
lichen Truppen durften in ihren Mauern erſcheinen; der Stadtrath erfreute
ſich des behaglichen Rechtes, Niemandem von der Verwaltung des Gemeinde-
vermögens Rechenſchaft abzulegen u. ſ. w. Unter der Hand ließ man um die
Erhaltung dieſer Privilegien bitten. Der Staatskanzler konnte jedoch, ſo lieb
ihm die Stadt war, lediglich die Bewahrung der alten Meßprivilegien und
eine freie Gemeindeverfaſſung zuſagen; er verſprach auch, die nothwendigen
[639]Sachſen unter preußiſcher Verwaltung.
neuen Steuern nur „unter Zuziehung einer aus der Nation gewählten
Ständeverſammlung“ aufzulegen und der Stadt in Friedenszeiten keine
Garniſon aufzudrängen. *) Weiter ging er nicht. Das gemeine Recht der
monarchiſchen Verwaltung konnte die oligarchiſchen Vorrechte nicht unbe-
rührt fortbeſtehen laſſen.


Gewiß ſind auch in Sachſen einzelne Mißgriffe vorgekommen; die
Erhebung aus der Enge der Kleinſtaaterei iſt noch in keiner unſerer neuen
Provinzen ganz ohne verletzende Härte geſchehen. Aber die Maſſe des
Volks blieb trotz ihrer unzweifelhaft particulariſtiſchen Geſinnung von
jedem Gedanken des Widerſtandes weit entfernt. Ein gründlicher Kenner
der Verhältniſſe, der Gouvernementscommiſſar von Zeſchau in Wittenberg,
der ſpätere ſächſiſche Finanzminiſter, erklärte freimüthig: man könne nicht
verlangen, „daß das ſächſiſche Volk einen Fürſten ganz vergeſſe, unter
deſſen Regierung es bis zum Jahre 1806 ganz glücklich lebte;“ doch die
Mäßigung der Regierung finde Anerkennung; ganz gewiß ſeien keine Un-
ruhen zu befürchten, das Volk werde ſich raſch in die neue Ordnung ein-
gewöhnen. **) Jedermann weiß, wie genau dieſe Weiſſagung bald nachher
in der nördlichen Hälfte des Landes ſich erfüllt hat. Doch weil es ſo ſtand,
weil die leichte Verſchmelzung des Landes mit dem preußiſchen Staate
außer Zweifel war, darum kämpfte die Adeliche Reſſource in Dresden,
der alte Sammelplatz des Hofadels und der Bureaukratie, mit leiden-
ſchaftlichem Eifer gegen den drohenden Untergang ihrer alten Herrlichkeit.
Die Förſter — faſt die einzigen Menſchen im Lande, denen ſich der alte
König, frei von dem Zwange der Etikette, in ſeiner menſchlichen Harm-
loſigkeit gezeigt hatte — beförderten eifrig die Briefe des Gefangenen und
ſeines Contino Marcolini. Die Ungewißheit der Zukunft gab der Wüh-
lerei des Junkerthums ſtets neue Nahrung. Man lauſchte angſtvoll auf
jede Nachricht aus Wien, auf jeden Wink aus Friedrichsfelde. Als der
Herzog von Braunſchweig im November durch Dresden kam, hielt er für
Welfenpflicht, gegen Jedermann von der nahen Rückkehr des angeſtamm-
ten Herrn zu ſprechen. Sofort bemerkte Geh. Rath Krüger, wie die
Aufregung in der Reſidenz zunahm; „meine eigene Kanzlei, ſchrieb er
dem Staatskanzler, zittert und bebt bei dieſer Ausſicht!“ ***)


Unterdeſſen tobte weithin durch das Lager des Rheinbundes, am
Lauteſten in Baiern, ein erbitterter Federkrieg, deſſen bodenloſe Gemein-
heit der Sachſe Karl von Noſtitz treffend als „pamphletiſtiſche Mord-
brennerei“ bezeichnete. Dieſe Libelle, zumeiſt von den Cabinetten ſelber
veranlaßt oder beeinflußt, haben nicht nur die Leidenſchaften des Tages
[640]II. 1. Der Wiener Congreß.
geſchürt und den Kampf verſchärft. In ihnen ſammelte ſich auch das
ganze Rüſtzeug jener vergifteten Waffen an, welche ſeitdem während eines
Menſchenalters gegen Preußen geſchwungen wurden; ſchon jetzt verrieth
ſich das nachher in den Tagen der Demagogenverfolgung mit ſo reichem
Erfolge gekrönte Beſtreben, den Befreiungskrieg und ſeine Helden vor der
Krone Preußen zu verdächtigen. Mit Gentzens Freunde Adam Müller,
dem Herausgeber des ultramontanen „Tyroler Boten“, wetteiferte der
Welfe Sartorius. Der gelehrte Göttinger Hiſtoriker verfaßte, während
er zu Wien in den Vorzimmern der Diplomaten umherſchlich und ver-
traulich mit Gentz verkehrte, unter dem Namen eines „preußiſchen Pa-
trioten“ die Flugſchrift „über die Vereinigung Sachſens mit Preußen“
und ſchilderte mit dem ganzen Kummer eines beſchämten treuen Preußen-
herzens: im Lande geht das Gerücht, daß verblendete Rathgeber die Hände
des Königs mit geſtohlenem Gute beflecken wollen; die Verführung lauert,
der Staat ſteht am Scheidewege; ſoll denn nochmals, wie einſt in Schle-
ſien, Weſtpreußen, Hannover, das suum cuique rapit der Sinnſpruch
unſeres Adlers ſein? Die Augsburger Allgemeine Zeitung ſtand, wie in
jeder großen Kriſis unſerer neueren Geſchichte, auch diesmal unter den
Feinden Preußens.


Noch handfeſter ſprachen Aretin und Hörmann, die beiden alterprob-
ten Schergen des Bonapartismus, in der Münchener Alemannia. Aretins
Schrift „Sachſen und Preußen“ führte den Gedanken aus, der ſeitdem
ein Lieblingsſatz unſerer Foederaliſten wurde: der aufgeblaſene preußiſche
Froſch müſſe eine Macht zweiten Ranges bleiben; werde er zu einer
„Primär-Macht“, ſo gehe die Ruhe und das Gleichgewicht Europas unter;
dazu die herkömmliche Verſicherung, daß die preußiſche Ländergier auch
nach Hamburg, nach Böhmen und Mähren trachte. Gleichfalls aus den
Kreiſen Montgelas’ und der bairiſchen Regierung ſtammt die Flugſchrift
„Preußen und Teutſchland“, die nach einer Fluth wüſter Schmähreden
ſchließlich die „Sachſen, Rheinländer und Mainzer“ feierlich aufruft, ihre
Freiheit gegen die Fänge des preußiſchen Adlers zu vertheidigen. Die
Krone dieſer Literatur bilden die in Baiern heimlich gedruckten „Sächſiſchen
Actenſtücke aus der Dresdener ungeſchriebenen Zeitung“ — eine Fälſchung
von ſolcher Plumpheit, daß wir heute kaum noch begreifen, wie ſie jemals
gläubige Leſer finden konnte. Da verwendet ſich Herzog Ernſt von Co-
burg für ſeinen gefangenen Verwandten in einem rührenden Briefe,
welchen nachweislich La Besnardiere auf Talleyrands Befehl angefertigt
hat. Da richten die preußiſchen Generale (York, Bülow, Kleiſt, Gneiſenau
und Maſſenbach bunt durch einander) eine drohende Adreſſe an den Staats-
kanzler und verlangen ſäbelraſſelnd die ſofortige Einverleibung Sachſens:
„wo wäre die preußiſche Monarchie, wenn wir dem behutſamen Cabinette
blind gehorcht hätten?“ Da warnt eine Denkſchrift Hardenbergs den König
vor dem zügelloſen Geiſte des Heeres und den gefährlichen Umtrieben
[641]Der Federkrieg um Sachſen.
jener geheimen Vereine, die zur Bekämpfung Napoleons ſo nützlich ge-
weſen. Wilhelm Humboldt frohlockt in einem Briefe an Niebuhr, wie
glorreich die Preußen dem Beiſpiele des von dem großen Hiſtoriker ſo
herrlich geſchilderten räuberiſchen Römervolkes zu folgen verſtänden: „nur
Baiern mit ſeinem eiſernen Miniſterium ſteht uns noch im Wege!“ Neben
ſolchen Kraftleiſtungen des bajuvariſchen Bonapartismus erſcheinen die
ſpärlichen Kundgebungen aus Sachſen ſelbſt zahm und harmlos. Ein
kummervoller Aufruf „an alle teutſchen Nationen“; ein anonymes Flug-
blatt, verlegt „bei St. Landgier“; ein paar Schriften von Beamten und
Advocaten, worin unter wiederholten „je nun ja“ verſichert wird, der Ver-
faſſer ſchreibe nur „aus innerer Ueberzeugung“ — das iſt Alles. Auch
die wenigen der Einverleibung günſtigen Flugſchriften aus Sachſen zeigen
denſelben Charakter politiſcher Verſumpfung; nirgends ein großer natio-
aler Geſichtspunkt, immer nur kleinbürgerliche Klagen über die Mißbräuche
der adlichen Vetterſchaft und den bigotten Sinn des katholiſchen Hofes:
wie anders in Preußen, wo die Prinzeſſin wie die Bürgersfrau den
Luiſenorden trägt und alle Religionsparteien der königlichen Gerechtigkeit
genießen!


Auch die ausländiſchen Zeitungen begannen in dem Streite Partei
zu ergreifen: durchgängig gegen Preußen. Da das Tory-Cabinet Anfangs
den preußiſchen Anſprüchen günſtig ſchien, ſo nahmen ſich die Whigs,
nach der alten Regel engliſcher Parteitaktik, im Parlamente wie in den
Zeitungen eifrig des gefangenen Königs an, und die öffentliche Meinung
ſtand hinter ihnen. Die engliſche Nation hat während der zwei jüngſten
Menſchenalter dem Erſtarken des deutſchen Nordens immer ebenſo feind-
ſelig, wenngleich minder lärmend widerſtrebt wie die Franzoſen. Damals
fand ſie vollends ihre theuerſten Handelsintereſſen durch Preußen gefährdet:
Leipzig, der große Stapelplatz der britiſchen Waaren, durfte nicht in die
Zollgemeinſchaft eines großen Staates eintreten. In heiligem Zorne ver-
fluchten die Redner der Whigs die argliſtigen Anſchläge der Despoten
wider „die ſächſiſche Nation“, und mit der gleichen erhabenen Begeiſterung
wurde die Vereinigung Genuas mit Piemont als der Tod der Freiheit
Italiens gebrandmarkt. Die franzöſiſche Preſſe hielt wie Ein Mann zu
dem treuen Alliirten Napoleons. Schon am 7. November, alſo bevor
man in Paris den entſcheidenden Schritt des Königs von Preußen kannte,
verkündete die halbamtliche Quotidienne unverhohlen das Programm des
bourboniſchen Rheinbundes: die Regierung des Allerchriſtlichſten Königs
iſt vielleicht die einzige in Europa, welche bei einer Volksabſtimmung auf
einſtimmige Anerkennung rechnen kann; „die ſchöne Rolle des Vertheidigers
der Unterdrückten, des Beſchützers der Schwachen, des bewaffneten Bürgen
für die Heiligkeit der Verträge, das iſt Frankreichs berechtigte Größe, hierin
liegt ſein legitimes und unverjährbares Uebergewicht;“ darum volle Selb-
ſtändigkeit für Polen, das als ein ſchon beſtehender Staat nur reicherer
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 41
[642]II. 1. Der Wiener Congreß.
Ausſtattung bedarf; darum unbeſchränkte Souveränität für die deutſchen
Staaten, Achtung vor der individualité nationale der Sachſen, der
Baiern und der anderen deutſchen Völker; „dann wird eine freie und
ſtarke Confoederation die franzöſiſchen Waffen auf immer von den Waffen
Oeſterreichs und Preußens trennen!“


Der Rheiniſche Mercur trat dem vollſtimmigen Chor der Rhein-
bündler tapfer entgegen und ward darum von den Journaliſten Montgelas’
der Therſites unter den deutſchen Zeitſchriften geſcholten. Görres warnte
in ſeiner bilderreichen Sprache vor den Baſiliskeneiern des galliſchen
Hahnes. Doch ein ſicheres Verſtändniß der großen Machtfrage war ſelbſt
in dieſen Kreiſen nicht vorhanden. Der Mercur öffnete ſeine Spalten
nicht nur den Freunden, ſondern auch den gemäßigten Gegnern der preu-
ßiſchen Anſprüche: ein gefühlvoller Artikel bat die Söhne Germaniens um
Schonung für Sachſen, „den geiſtigeren Bruder, der allein ſtudirt hat“
— als ob dieſer Bruder nicht auch unter preußiſcher Herrſchaft ungeſtört
hätte weiter ſtudiren können! Die literariſche Vertheidigung der preußiſchen
Politik ward im Ganzen nur von ſolchen Männern geführt, welche der
Regierung nahe ſtanden. Auf Veranlaſſung des Staatskanzlers erſchien
eine Flugſchrift von Varnhagen, oberflächlich wie Alles was dieſer politiſche
Dilettant in Staatsſachen geſchrieben hat, voll hohler Phraſen über „den
Geiſt der Liberalität, der über Preußens Beſtrebungen ſchwebt“. Ernſter
und würdiger ſprachen Arndt, Eichhorn und J. G. Hoffmann. Die
Schrift des wackeren Statiſtikers „Preußen und Sachſen“ giebt mit ihrer
ruhig beſcheidenen Haltung eine beredte Antwort auf die modiſchen An-
klagen wider den preußiſchen Uebermuth. Niemals, ſagt Hoffmann gelaſſen,
ſei Preußen ſo einſtimmig von der deutſchen Welt geſchmäht worden wie
in den Tagen der Stein-Hardenbergiſchen Geſetze; gleichwohl müſſe das
Gute in dem Staate doch wohl überwiegen, da die Nation für die Wie-
deraufrichtung eines ſo verrufenen Gemeinweſens ſo unvergeßliche Opfer
gebracht habe. Die kühle und ſachliche Darſtellung der Schuld des ge-
fangenen Königs erregte in Friedrichsfelde ſolche Erbitterung, daß der
ſächſiſche Miniſter Graf Einſiedel ſich erdreiſtete von der preußiſchen Re-
gierung das Verbot der Hoffmann’ſchen Schrift zu verlangen; ſelbſtver-
ſtändlich ward ihm ſeine Note zurückgegeben.


Weitaus das bedeutendſte Werk aus dieſem Federkriege iſt Barthold
Niebuhrs Flugſchrift „Preußens Recht wider den ſächſiſchen Hof“ — wohl
überhaupt die vornehmſte Leiſtung der deutſchen Publiciſtik aus jenem Zeit-
raum, denn ſie vereinigt Arndts edle Leidenſchaft und rhetoriſchen Schwung
mit dem Gedankenreichthum und der politiſchen Sachkenntniß von Fried-
rich Gentz. Wie frei und kühn entwickelt der große Hiſtoriker zwei Kern-
gedanken unſerer nationalen Politik, welche noch niemals früher mit ſolcher
Klarheit ausgeſprochen, ſeitdem allen edleren Deutſchen in Fleiſch und
Blut gedrungen ſind. Er zeigt, daß ein großes ſeiner Einheit bewußtes
[643]Metternich beantragt die Theilung Sachſens.
Volk den Abfall von der Sache der Nation auch dann als Felonie be-
ſtrafen darf, wenn der Verräther kein geſchriebenes Recht verletzt hat; „die
Gemeinſchaft der Nationalität iſt höher als die Staatsverhältniſſe, welche
die verſchiedenen Völker eines Stammes vereinigen oder trennen.“ Als-
dann ſagt er mit der Sicherheit des Sehers voraus, daß die Tage der
deutſchen Kleinſtaaterei gezählt ſind: ſchwache Gemeinweſen, die ſich nicht
durch eigene Kraft behaupten können, „hören auf Staaten zu ſein.“ Zu
ſolchem Urtheil gelangte der conſervative Denker, da er ein Jahr nach
der Schlacht von Leipzig das deutſche Kleinfürſtenthum wieder den Fahnen
Frankreichs folgen ſah. In dem vertrauten Briefwechſel der preußiſchen
Diplomatie ſprach ſich der Unmuth über den wiederauflebenden Particu-
larismus noch weit ſchärfer aus. „Die nämlichen Menſchen — ſchrieb
Alopeus an Humboldt — die nach der Schlacht von Leipzig ausriefen:
ihm geſchieht recht, bemitleiden jetzt den frommen König; und die Bour-
bonen, die im Junimonat vollauf zu thun hatten ſich ſelbſt zu erhalten,
haben es jetzt ſo weit gebracht, daß ſie ſich um die Erhaltung Anderer
kräftig verwenden können. Freilich empört ſich das Gefühl, wenn man
es anſehen muß, daß der nämliche deutſche Kaiſer, der von ſeinen Vaſal-
len ſchändlicherweiſe verlaſſen wurde, jetzt dieſe mit den Verbrechen des
Hochverraths und der Felonie beſchmutzten Vaſallen ſchaarenweiſe in der
Kaiſerſtadt mit allen den Souveränen gebührenden Ehrenbezeigungen auf-
nimmt. Man frägt ſich, welches der Endzweck einer ſolchen nicht von der
Nothwendigkeit gebotenen Herablaſſung ſein kann.“ —


Auf den Gang der Congreßverhandlungen übten natürlich weder
ſolche Zornworte noch Niebuhrs und Hoffmanns Vernunftgründe irgend
einen Einfluß. Oeſterreich hatte gehofft, mit England und Preußen ver-
eint den Czaren in die Enge zu treiben und dann über Preußens Kopf
hinweg ſich mit Rußland zu verſtändigen. Nun war dieſer Plan durch
das Eingreifen des Königs vereitelt, und ſofort änderte Metternich ſeine
Taktik. Auch ihm, wie den Franzoſen, war die ſächſiſche Frage ungleich
wichtiger als die Zukunft Polens. Schon am 11. November, in einem
Geſpräche mit Caſtlereagh und Hardenberg, nahm er das dem Staats-
kanzler gegebene Verſprechen zurück und erklärte: der allgemeine Wider-
ſtand gegen die Einverleibung Sachſens ſei unüberwindlich, mindeſtens
Dresden und der ſüdliche Theil des Landes müßten dem gefangenen Fürſten
wieder zufallen. So wurde der Gedanke der Theilung Sachſens, welchen
Stadion ſchon im Sommer den Unterhändlern Friedrich Auguſts ange-
deutet hatte, endlich als das Ziel der öſterreichiſchen Politik ausgeſprochen.
Die willkürliche Zerreißung des alten ſächſiſchen Gemeinweſens, die Zer-
ſtörung ſeines altgewohnten Verkehrs durch neue Zolllinien erregte der
Hofburg kein Bedenken. Ihre Abſicht war lediglich, das ergebene alber-
tiniſche Haus wieder auf der für Preußen läſtigſten Stelle anzuſiedeln und
zugleich dem preußiſchen Freunde eine Wunde an ſeinem Leibe offen zu
41*
[644]II. 1. Der Wiener Congreß.
halten. Da die Lothringer ſelber in den Völkern ihres Hausbeſitzes nie-
mals eine öſterreichiſche Staatsgeſinnung zu erwecken verſucht hatten, ſo
beſaßen ſie auch kein Verſtändniß für die ſtaatsbildende Kraft der preußi-
ſchen Monarchie; ſie hofften, das getheilte Sachſen werde für Preußen
ein zweites Polen ſein. Kaiſer Franz tröſtete den Herzog von Weimar:
„nu nu, was bruddeln’s mit dem Kopf? wenn das Land getheilt wird,
kommt’s am erſten wieder z’ſamm.“


Hardenberg wies den Antrag Metternichs entſchieden zurück und ſchlug
dann vor, die Albertiner nicht durch die Legationen, ſondern durch ein
Stück des katholiſchen Weſtphalens zu entſchädigen. Er hatte in Wien
endlich bemerkt, daß Oeſterreich den nördlichen Theil des Kirchenſtaates
ſelber zu behalten wünſchte, und dachte die Hofburg durch dies Anerbieten
nachgiebiger zu ſtimmen. Niemand in ganz Deutſchland hat damals die
preußiſchen Staatsmänner darauf hingewieſen, was es bedeutete die beiden
feſten Burgen des römiſchen Weſens in unſerem Norden, Münſter und
Paderborn, als einen ſelbſtändigen Staat in die Hände eines bigott katho-
liſchen Fürſtenhauſes zu geben; der heilige Stuhl wurde von allen Frei-
geiſtern jener Generation als völlig machtlos geringgeſchätzt, von den Roman-
tikern als ein Feind der Revolution bewundert. Dagegen erkannten die
Patrioten ſehr richtig, daß nach Hardenbergs neueſtem Vorſchlage, der
allerdings durch den Gang der diplomatiſchen Verhandlungen unvermeidlich
geboten war, die ſächſiſchen Händel viel von ihrer nationalen Bedeutung
verloren. Wollte man den getreueſten Vaſallen Napoleons wieder auf
deutſchem Boden anſiedeln, ſo war die Frage: ob er die Päſſe des Erzge-
birges oder ein Stück von Niederſachſen erhalten ſolle? freilich noch immer
hochwichtig für Preußens militäriſche Machtſtellung, doch auf die warme
Theilnahme des großen Publikums konnte ſie nicht mehr zählen. Selbſt
Arndt geſtand, ſeitdem ſei ihm der ſächſiſche Streit gleichgiltig geworden.
Metternich fand auch dieſen neuen Plan hochbedenklich und wiederholte mit
wachſender Beſtimmtheit, nur die Wiedereinführung des Gefangenen in
einen Theil ſeines Landes könne den tiefen Unmuth der deutſchen Fürſten
beſchwichtigen.


Auch England nahm bald ſein gegebenes Wort zurück. Lord
Caſtlereagh erntete jetzt die Früchte ſeiner zudringlichen Anmaßung. Er
hatte dem Czaren die gröbſten Beleidigungen geboten; und da nunmehr
Preußen ſich weigerte an dem diplomatiſchen Feldzuge gegen Rußland ferner
theilzunehmen, ſo trieb die Logik der Thatſachen die engliſchen Staats-
männer auf die Seite jener Macht, welche Preußen und Rußland am ent-
ſchiedenſten bekämpfte. Bereits am 15. November kam der beſchränkt-
ehrliche Charles Stewart zu Stein und klagte voll Schmerz und Scham:
wir ſind gezwungen uns in Frankreichs Arme zu werfen! Die Furcht
des britiſchen Cabinets vor den Zornreden der parlamentariſchen Oppoſition
und das Mitgefühl des Prinzregenten für den gefangenen Wettiner be-
[645]Oeſterreich und England gegen Preußen.
ſchleunigten dieſe Schwenkung. Caſtlereagh erhielt aus der Heimath den
Befehl die preußiſche Sache gänzlich aufzugeben, und er iſt ſich in ſeiner
Beſchränktheit des begangenen Verrathes niemals klar bewußt geworden.
Auch im Parlamente wußte der edle Lord ſpäterhin zur Entſchuldigung
ſeines Geſinnungswechſels nur das Eine vorzubringen: die öffentliche
Meinung Deutſchlands ſei der Einverleibung Sachſens entſchieden un-
günſtig geweſen — eine wunderſame Behauptung im Munde dieſer Hoch-
torys, welche ſonſt die Geringſchätzung der Wünſche der Völker gefliſſentlich
zur Schau trugen.


Nur Caſtlereaghs Gedankenloſigkeit und Metternichs Argliſt erklären
das Räthſel, daß England und Oeſterreich jetzt plötzlich Alles für ſchwarz
erklärten was ſie bisher für weiß gehalten. Die von ihnen ſo lange be-
kämpfte polniſche Königskrone Alexanders erſchien ihnen nunmehr als eine
„Falle“, welche der Czar ſich zum eigenen Schaden ſtelle, und die Ein-
verleibung Sachſens, der ſie beide mit halben Worten zugeſtimmt, galt
nun als eine ſchwere Verletzung des Völkerrechts. Man hatte erkannt, daß
Rußland ohne einen Krieg von ſeinen polniſchen Plänen nicht abzubringen
ſei; „die polniſche Angelegenheit, ſchrieb Gagern ſchon am 1. December,
iſt beinah beendigt, aus Mangel an Kämpfern.“ Um ſo feſter rechnete
Metternich auf die Vereitelung der ſo ungleich ſchlechter geſicherten preu-
ßiſchen Anſprüche. Er ſtand jetzt mit Talleyrand in herzlichem Vereine,
prüfte und genehmigte mit dem Franzoſen gemeinſam eine neue Rechts-
verwahrung des gefangenen Königs.


Solcher Erfolge froh trat Talleyrand täglich herausfordernder auf,
ließ durch Dalberg und La Besnardiere eine Apologie des Albertiners
verfaſſen, verſicherte dem getreuen Gagern: niemals werde Frankreich
die Preußen weder am linken Rheinufer noch in Sachſen dulden. Eine
„Denkſchrift über Sachſen vom franzöſiſchen Geſichtspunkte“ zählte Preu-
ßens Sünden gegen das deutſche Vaterland auf: den Baſeler Frieden,
den Reichsdeputationshauptſchluß, die Neutralität von 1805 — Alles
Sünden vom franzöſiſchen Geſichtspunkte! Der Moniteur verkündete
feierlich: „der einzige Fürſt, der vielleicht berechtigt wäre, über Friedrich
Auguſt zu urtheilen, der König von Frankreich ſpricht den Gefangenen
frei!“ — und pries begeiſtert die ewige Zerſplitterung als die glorreiche
Eigenthümlichkeit der deutſchen Nation: „im deutſchen Charakter liegt die
Anhänglichkeit an heilige Gewohnheiten; die heiligſte darunter iſt: beſon-
deren Fürſten zu gehorchen.“


Dieſe princes particuliers waren mit der Geſchichtsphiloſophie des
Moniteurs ganz einverſtanden; ſie zeigten ſich bereit, auf Talleyrands
Aufforderung einen gemeinſamen Proteſt gegen die Einverleibung Sachſens
zu unterzeichnen, nur eine drohende Warnung des Czaren hintertrieb das
Unternehmen. Der Franzoſe hatte für jeden der kleinen Herrn lockende
Verſprechungen bereit, und jeder von ihnen hoffte doch noch auf der großen
[646]II. 1. Der Wiener Congreß.
Wiener Länderbörſe wenigſtens einige tauſend Seelen zu gewinnen. Die
Geſinnung des deutſchen Kleinfürſtenthums fand einen getreuen Ausdruck in
den zahlreichen Denkſchriften des Landgrafen von Heſſen-Homburg, welche
den einleuchtenden Satz ausführten: „da alle Nachbarmächte ſich vergrößert
haben,“ ſo muß Homburg, um nicht von ſeiner hiſtoriſchen Machtſtellung
herabzuſinken, nothwendig die Dörfer Ober-Urſel und Ober-Roßbach ſeinem
Reiche einverleiben! Der darmſtädtiſche Geſandte von Türkheim begründete
ſogar, inmitten dieſer hoch-legitimiſtiſchen Geſellſchaft, die Entſchädigungs-
anſprüche ſeines durchlauchtigen Herrn durch eine feierliche Berufung auf
die unveräußerlichen droits de l’homme.*) Wenn aber Talleyrands Pläne
gelangen, wenn Preußen weder am Rhein noch in Sachſen entſchädigt
wurde, ſo blieb mehr Land frei für die Herzenswünſche der Kleinen; darum
ſtanden ſie alle ohne Ausnahme auf Frankreichs Seite, und der beſiegte
Feind erſchien ihnen wieder als der großmächtige Protector Deutſchlands.


Das wüſte Gezänk um Sachſen brachte alle anderen Arbeiten des
Congreſſes ins Stocken. Der deutſche Verfaſſungsausſchuß war ſchon
längſt unverrichteter Dinge auseinandergegangen. Dazwiſchen hinein
ſpielten erbärmliche perſönliche Ränke. Metternich verſuchte den preußi-
ſchen Staatskanzler bei Alexander zu verdächtigen, legte dem Czaren die
antiruſſiſchen Noten vor, welche Hardenberg zu Beginn des Congreſſes
geſchrieben hatte — und was der Jämmerlichkeiten mehr iſt. Trotz aller
ſolcher Proben der öſterreichiſchen Freundſchaft ließ ſich der Staatskanzler
von Metternich bereden, noch einmal zwiſchen Rußland und England-
Oeſterreich zu vermitteln. Er ſtellte am 23. November nochmals die alten
Forderungen auf: die Warthelinie für Preußen, Krakau und Zamosz für
Oeſterreich — obgleich er durch den Befehl des Königs verpflichtet war
ſich nicht von Rußland zu trennen. Zum Glück kam ihm der Freiherr
vom Stein zu Hilfe. Der große Mann hatte inzwiſchen eingeſehen, daß
er bisher allzu einſeitig den polniſchen Plänen des Czaren entgegengetreten
war; nach ſeiner herrlichen unbefangenen Weiſe beſchloß er ſofort den
begangenen Fehler zu ſühnen und bot fortan ſeine ganze Kraft auf, um
Sachſen für Preußen zu retten. Ihm war es zu verdanken, daß Alexanders
Antwort ziemlich günſtig ausfiel. Der Czar verſicherte (27. Nov.), daß
er niemals den preußiſchen Bundesgenoſſen, der ihn ſo „kraftvoll, edel
und ausdauernd unterſtützt“ habe, verlaſſen werde, und forderte ganz
Sachſen für Preußen, Mainz für den Deutſchen Bund; von ſeinen polniſchen
Anſprüchen gab er Thorn und Krakau auf, beide ſollten als neutrale freie
Städte anerkannt werden.


Durch dieſe Erklärung war die Mainzer Frage erledigt. Metternich
verzichtete auf die Abſicht, die Feſtung an Baiern zu geben, denn in der
[647]Verſchärfung der ſächſiſchen Frage.
Bekämpfung dieſes Planes waren Rußland und Preußen mit dem par-
ticulariſtiſchen Neide der Kleinfürſten einig. Hardenberg wollte den Schlüſſel
der Rheinlande nicht treuloſen Händen anvertrauen; die Kleinen aber be-
fürchteten, wie die württembergiſchen Bevollmächtigten ſich ausdrückten *),
daß ein ſtarker Staat im Beſitze von Mainz „das Schickſal aller übrigen
deutſchen Staaten von ſich abhängig machen würde“. So verfiel man
denn auf ein Auskunftsmittel, das, unnatürlich und abgeſchmackt wie es
war, doch aus den chaotiſchen Zuſtänden des Deutſchen Bundes ſich mit
einer gewiſſen Nothwendigkeit ergab. Das goldene Mainz, dereinſt der
Sitz des vornehmſten deutſchen Fürſten, wurde der Landeshoheit des Darm-
ſtädter Großherzogs unterworfen, weil dieſer Machthaber ſeinen Nachbarn
niemals bedrohlich werden konnte; die Feſtung ward ein feſter Platz des
Deutſchen Bundes mit einer öſterreichiſch-preußiſchen Garniſon. Alſo be-
hielt Preußen hier doch einen Fuß im Bügel. Von dem unendlichen Streite,
welchen das Mitbeſatzungsrecht Oeſterreichs dereinſt erregen ſollte, ahnte
man noch nichts; man träumte noch den Traum des friedlichen Dualismus.
Ebenſo künſtlich war der ruſſiſche Vorſchlag, Thorn und Krakau zu freien
Städten zu erheben; eine Republik Krakau mußte unfehlbar der Heerd
einer namentlich für Oeſterreich hochgefährlichen polniſchen Propaganda
werden. Indeß die Gedanken der Hofburg erhoben ſich nur bis zu dem
Wunſche, daß der beherrſchende Platz des oberen Weichſelthals den Ruſſen
nicht als Grenzfeſtung dienen dürfe. Metternich fand gegen den Plan
wenig einzuwenden.


Die polniſchen Händel boten nur noch geringe Schwierigkeiten, zumal
da Alexander jetzt die Vereinigung von Litthauen und Polen fallen ließ
und allein die warſchauiſchen Lande für das neue Polenreich beſtimmte.
Seinem klagenden Czartoryski ſagte er freilich insgeheim zum Troſte:
dies verſtümmelte Königreich ſei nur eine pierre d’attente. Gleichviel,
die ſächſiſche Frage blieb fortan der einzige ernſthafte Streitpunkt zwi-
ſchen den Mächten. Immer heftiger ward der allgemeine Widerſpruch
gegen die preußiſchen Pläne. In ſeiner Verlegenheit entſchloß ſich der
Staatskanzler zu einem der größten diplomatiſchen Mißgriffe ſeines Lebens.
Er ſchrieb an Metternich (3. Dec.) einen unbegreiflichen Brief, der das gute
Herz des öſterreichiſchen Freundes durch bewegliche Worte rühren ſollte:
„theurer Fürſt, retten Sie Preußen aus ſeinem gegenwärtigen Zuſtande;“
dazu einige ſchwülſtige Verſe aus dem Rheiniſchen Mercur, welche den
Doppeladler einluden, mit dem ſchwarzen Aar gefälligſt auf derſelben
Rieſeneiche zu horſten!


Mit kaum verhehltem Hohne antwortete Metternich in einer vertrau-
lichen Note vom 10. December. Er nahm jetzt amtlich ſeine früheren Zuſagen
zurück, bot dem preußiſchen Freunde nur noch ein Fünftel des ſächſiſchen
[648]II. 1. Der Wiener Congreß.
Landes, ein Stück der Lauſitz mit etwas über 400,000 Einwohner: erhalte
der Albertiner ſeine Krone nicht wieder, ſo komme der Deutſche Bund
nicht zu Stande und Frankreich übernehme wieder das Protectorat der
Kleinſtaaten. Während er alſo die Preußen vor den franzöſiſchen Ränken
warnte, übergab er ſelbſt (16. Dec.) dieſe ſeine vertrauliche Note an Talley-
rand, auf Befehl des Kaiſers Franz, damit König Ludwig erſehe, welche
„vollkommene Uebereinſtimmung der Anſichten“ zwiſchen Oeſterreich und
Frankreich in der ſächſiſchen Frage beſtehe! Die Treuloſigkeit der Hofburg
enthüllte ſich ſo ungeſcheut, daß der ehrliche Görres entrüſtet ſchrieb:
Preußen braucht nur die beiden k. k. Noten vom 22. Oct. und 10. Dec.
neben einander drucken zu laſſen, um in den Augen aller rechtſchaffenen
Leute Recht zu behalten. Hardenberg war wie aus den Wolken gefallen;
„non fidem servavit“ ſchrieb er verzweifelnd in ſein Tagebuch, als er das
Eintreffen jener „ganz und gar unerwarteten“ Antwort verzeichnete. *)
Doch ſah er wohl, daß auf die Meinung der rechtſchaffenen Leute in
dieſem Machtkampfe gar nichts ankam; er ſprach dem Oeſterreicher (in
einer mit Alexander vereinbarten Note vom 16. Dec.) ſein ſchmerzliches
Befremden aus über den Geſinnungswechſel der Hofburg und bot, da
ſein weſtphäliſcher Entſchädigungsplan keinen Anklang gefunden, jetzt ein
Stück des linksrheiniſchen Landes, mit Trier und Bonn, zur Verſorgung
Friedrich Auguſts an. Die Verkehrtheit dieſes nur durch die letzte pein-
liche Verlegenheit abgedrungenen Gedankens leuchtet heute Jedem ein: den
Albertiner dicht neben der franzöſiſchen Grenze anſiedeln hieß geradezu
den Franzoſen ein bequemes Ausfallsthor gegen Deutſchland öffnen. Wenn
aber Metternich die ſchwache Seite des preußiſchen Vorſchlags ſofort er-
ſpähte und ſalbungsvoll erwiderte: nimmermehr dürfe das linke Rheinufer
alſo den Franzoſen bloß geſtellt werden — ſo führte er nur ſein unred-
liches Spiel weiter, denn mit dieſem gefürchteten Frankreich ſtand er ſelber
bereits in herzlichem Einverſtändniß. Um die Gegner zu theilen, forderte
Hardenberg zugleich die fränkiſchen Markgrafſchaften von Baiern zurück.
Es war ein unglücklicher Schachzug, obſchon die polternde Gehäſſigkeit der
bairiſchen Staatsmänner wohl eine Züchtigung verdiente. Der Staats-
kanzler hatte Ansbach-Baireuth zwar noch nicht in einem förmlichen Ver-
trage abgetreten, doch mehrmals mündlich ſich bereit erklärt, das Herzog-
thum Berg als Entſchädigung anzunehmen; wenn er jetzt ohne Ausſicht
auf Erfolg den alten Streit wieder aufrührte, ſo gab er nur den Met-
ternich, Wrede und Talleyrand willkommenen Anlaß, die „preußiſchen Kniffe“
vor der diplomatiſchen Welt zu verklagen. Er ſchloß ſeine Note mit der
Verſicherung, daß Preußen noch immer zumeiſt auf Rußlands und Oeſter-
reichs Beiſtand baue.


In Wahrheit begann man auf beiden Seiten bereits die Möglich-
[649]Kriegsrüſtungen.
keit eines Krieges zu erwägen. Die Erbitterung im preußiſchen Volke
ſtieg zuſehends. Eine Adreſſe aus Berlin ſtellte dem Könige die Kräfte
des Landes für den gerechten Kampf zur Verfügung, und Stägemann
ſang zürnend:


Die Fahne Brandenburgs, mein Lied,

die ſchwinge noch einmal,

und noch einmal, erzürnt Gemüth,

ergreif’ den tapfern Stahl! …

Die Hunde Frankreichs, noch nicht heil

von Wunden unſ’rer Jagd —

auf, Kugelblitz, auf, Lanzenpfeil! —

die Hunde wollen Schlacht!

Man erfuhr durch Goltz, *) daß die franzöſiſche Armee, auf Talley-
rands Antrag, in der Stille verſtärkt wurde. Man hörte von dem Plane,
die ſächſiſchen Truppen, welche unter preußiſchem Oberbefehle nördlich der
Moſel ſtanden, im rechten Augenblicke mit den Baiern und Oeſterreichern
auf dem rechten Moſelufer zu vereinigen. Unter den k. k. Generalen
zeigte Schwarzenberg die froheſte Siegeszuverſicht; hatte er doch im letzten
Kriege die kleinen Köpfe Blüchers und Gneiſenaus genugſam verachten
gelernt. Am 16. December enthüllte Metternich dem Grafen Münſter
ſeine Abſicht einen Deutſchen Bund ohne Preußen zu bilden, falls Preußen
die ſächſiſchen Anſprüche nicht aufgebe; Oeſterreich beanſpruchte ſelbſtver-
ſtändlich nur die beſcheidene Stellung des Erſten unter Gleichen. Der
welfiſche Staatsmann begriff ſofort: das bedeute den Krieg und die Auf-
löſung des Congreſſes; er war zu Allem bereit, obwohl ihm Oeſterreichs
Herrſchſucht und die ungünſtige geographiſche Lage Hannovers einige
Sorgen bereiteten, und verlangte von England die Verlängerung des
Subſidienvertrages, damit das Welfenheer gerüſtet werde.


Der preußiſche Kriegsminiſter traf ſofort ſeine Anſtalten für die Ge-
genwehr. Am 29. December überſendete Grolman den mit Boyen,
Gneiſenau und Schöler verabredeten Kriegsplan: **) zwei große Armeen
in Sachſen und am Rhein ſollten nach der guten fridericianiſchen Weiſe
den Feldzug gleichzeitig durch eine kühne Offenſive eröffnen, während ein
Obſervationscorps Schleſien deckte. So bedrohlich erſchien die Lage, daß
man über alle Bedenken der militäriſchen Rangordnung hinwegſah und
zu Feldherren der beiden Heere Blücher und Gneiſenau vorſchlug; neben
dieſen komme nur noch Bülow in Betracht, da York, Kleiſt und Tauentzien
doch nur treffliche Corpsführer ſeien. Oberſt Krauſeneck, der in Mainz
unter dem öſterreichiſchen Gouverneur Frimont die preußiſche Garniſon
befehligte, erhielt Auftrag, ſich ſofort auf gegebenen Wink der Feſtungs-
[650]II. 1. Der Wiener Congreß.
werke am rechten Ufer zu bemächtigen; ſie genügten um den Platz in
Schach zu halten, zur Beſetzung der ganzen Feſtung reichten die beſchei-
denen Kräfte nicht aus. Auch die anderen Feſtungen ließ Boyen insge-
heim ausrüſten. Die ſächſiſchen Truppen am Rhein wurden ohne Auf-
ſehen weiter nordwärts, in die Nähe preußiſcher Regimenter verlegt. Von
den kleinen norddeutſchen Contingenten nahm Boyen an, daß ſie alle-
ſammt, mit Ausnahme der Hannoveraner, den Fahnen Preußens folgen
müßten. Die Monarchie war entſchloſſen ſogleich als der Herr von Nord-
deutſchland aufzutreten; wer durfte in einem ſolchen Daſeinskampfe nach
dem Zetergeſchrei und den Souveränitätsverwahrungen der Kleinfürſten
fragen?


Inmitten dieſer allgemeinen Verwirrung ſah Talleyrand ſeinen Wai-
zen blühen. Nachdem ihm Metternich die letzte öſterreichiſche Note über
Sachſen amtlich mitgetheilt hatte, hielt ſich der Franzoſe nunmehr be-
rechtigt, ſelber von Amtswegen in die ſächſiſchen Händel einzugreifen und
antwortete dem öſterreichiſchen Freunde am 19. December. Da die poli-
tiſche Frage zu einer einfachen Grenzfrage geworden ſei, ſo ſei die ſächſiſche
Angelegenheit gegenwärtig die wichtigſte Principienfrage für den Welt-
theil. Hier ſtehen die beiden Grundſätze der Legitimität und des Gleich-
gewichts zugleich auf dem Spiele. Man verbreitet heute die entſetzliche
Lehre, daß Könige verurtheilt werden können, daß die Strafe der Confis-
cation wieder eingeführt werden darf, daß die Völker wie die Heerden
eines Meierhofes getheilt werden dürfen, daß es kein öffentliches Recht
giebt, „daß für den Stärkeren Alles gerecht iſt.“ Aber Europa verflucht
dieſe Grundſätze; „ſie erregen den gleichen Abſcheu in Wien, in Peters-
burg, in London, in Madrid und Liſſabon“ (alſo nicht in Berlin). Die
Einverleibung Sachſens würde aber auch das Gleichgewicht Europas zer-
ſtören, inmitten des Deutſchen Bundes „eine unverhältnißmäßige Angriffs-
macht“ ſchaffen. Darum Herſtellung des legitimen Königs; ſind einige
Abtretungen zur Entſchädigung Preußens unvermeidlich, ſo wird Frank-
reich dem rechtmäßigen Herrſcher dazu rathen.


Durch dieſe Note warf Talleyrand den geheimen Artikel des Pariſer
Friedens den vier Mächten zerriſſen vor die Füße. Nachdem er lange
nur im Dunkeln gegen den Vertrag angekämpft, drängte er ſich jetzt mit
einer amtlichen Denkſchrift in die Territorialverhandlungen ein, von denen
Frankreich vertragsmäßig ausgeſchloſſen war, und unterſtützte den öſter-
reichiſchen Vorſchlag der Theilung Sachſens — was ihn freilich nicht
abhielt, im ſelben Athemzuge den Fluch Europas wider die Politik der
Ländervertheilung auszuſprechen. Eine zweite Note des Franzoſen an
Caſtlereagh (v. 26. Dec.) ſchlug jenen Ton legitimiſtiſcher Salbung an,
welcher den Hochtorys unwiderſtehlich war. Der Zweck des Congreſſes
iſt, „die Revolution zu ſchließen;“ früher bekämpften ſich Republik und
Monarchie, heute die revolutionären und die legitimen Dynaſtien; die
[651]Nochmals das Comité der Vier.
revolutionären Dynaſtien ſind alle verſchwunden bis auf die eine, die in
Neapel hauſt, die legitimen alle wiederhergeſtellt bis auf die eine des un-
glücklichen Königs von Sachſen; „die Revolution iſt alſo noch nicht ge-
ſchloſſen;“ und Frankreich erwartet, daß der Congreß ſeine Pflicht erfülle.
— Schon die nächſten Tage lehrten, daß Frankreichs Vertragsbruch den
öſterreichiſchen wie den engliſchen Staatsmännern hochwillkommen kam.
Die drei Mächte waren einig; bereits am 14. December hielt Metternich
die werdende Tripel-Allianz für ſo geſichert, daß er den ſächſiſchen Agen-
ten Schulenburg beauftragte, er möge ſeinem königlichen Herrn ſchreiben:
Sachſen iſt gerettet! —


Da die formloſen Verhandlungen nicht zum Ziele führten, ſo beſchloß
man endlich, das Comité der Vier wieder einzuberufen und die Gebiets-
fragen feierlich vor dem Forum der vier verbündeten Großmächte zu er-
ledigen. Am 29. December begann dies Comité aufs Neue zu tagen.
Der Verlauf war wie zu erwarten ſtand: über Mainz war alle Welt
einig, desgleichen über die Hauptpunkte der polniſchen Angelegenheit; nur
die ſächſiſche Frage rückte nicht von der Stelle. Eine neue Note Harden-
bergs an Metternich (v. 29. Dec.) fragte die Gegner: „will man Preußen
in die Nothwendigkeit ſetzen, in Zukunft nach Vergrößerungen zu ſtreben?“
Sie erregte einen Sturm der Entrüſtung, da man die Wahrheit des Vor-
wurfs fühlte. Auch eine Denkſchrift Steins (v. 20. Dec.) konnte den
öſterreichiſchen Miniſter nur in ſeiner Anſicht beſtärken. Der edle Mann
ſagte voraus, das wiederhergeſtellte Sachſen werde im Norden eine ebenſo
gefährliche Macht der Zwietracht ſein wie Baiern im Süden; er ahnte
nicht, daß die Hofburg nichts ſehnlicher wünſchte als ein norddeutſches
Baiern.


Die Hintergedanken Oeſterreichs verriethen ſich ſchon in der erſten
Sitzung der Vier, als Metternich den Eintritt Talleyrands in das Comité
beantragte; zugleich erklärte er, ohne die Genehmigung Friedrich Auguſts
könne die ſächſiſche Frage nicht entſchieden werden. Caſtlereagh unter-
ſtützte ſeinen Freund. Nach der wunderbaren Logik dieſes Kopfes war die
Zulaſſung Frankreichs ſchon darum nothwendig, „weil die Verträge von
Kaliſch und Reichenbach nach dem geheimen Artikel des Pariſer Friedens
auch für Frankreich rechtsverbindlich ſeien“ — und doch ſchloß jener ſelbe
Artikel Frankreich von jeder Mitwirkung bei den Gebietsverhandlungen
ausdrücklich aus. Solchen Zumuthungen traten Rußland und Preußen
mit wiederholten ſcharfen Erwiderungen entgegen; ſie wollten Friedrich
Auguſt unter keinen Umſtänden und auch Talleyrand erſt dann in das
Comité einlaſſen, wenn die vier Mächte ſich bereits geeinigt hätten. Es
fielen bittere Worte, ernſte Drohungen. Unter dem Eindruck dieſer leiden-
ſchaftlichen Auftritte verfiel Lord Caſtlereagh zuerſt auf den unſeligen Ge-
danken, welchen Talleyrand ſeit Monaten ſchürend und hetzend vorbereitet
hatte: er beantragte insgeheim ein Kriegsbündniß zwiſchen England, Oeſter-
[652]II. 1. Der Wiener Congreß.
reich, Frankreich und ihren kleinen Geſinnungsgenoſſen. Im Grunde iſt
es müßig, einen Charakter dieſes Schlages nach ſeinen Beweggründen zu
fragen. Der edle Lord war was ſeine Landsleute stubborn nennen; in
blindem Eifer rannte der engliſche Stier auf das rothe Tuch der ſächſi-
ſchen Frage los, das ihm die gewandten Eſpadas Metternich und Talley-
rand vorhielten; zudem war dem Lord ſoeben die Nachricht zugekommen,
daß England in Gent mit Nordamerika Frieden geſchloſſen, alſo die Arme
frei hatte. Irgend ein Intereſſe, das den engliſchen Staat zum Kriege
wider Preußen treiben konnte, war freilich auf der weiten Welt nicht
vorhanden; aber man hatte ſich ſeit vielen Wochen in die Entrüſtung
wider den Staat, der die Sache Europas verrathen haben ſollte, hinein-
geredet, und einmal doch mußte das von „den Hunden Frankreichs“ an-
gefachte Feuer in hellen Flammen aufſchlagen. Selbſt Gagern wußte
zur Entſchuldigung der britiſchen Tollheit nur zu ſagen: „der Topf lief
über oder es war Vorwand.“


Während Metternich mit den Vertretern der Weſtmächte den Angriff
auf Preußen beſprach, ging der geſellige Verkehr der diplomatiſchen Welt
in ungetrübter Munterkeit weiter; mit der gewohnten treuherzigen Ge-
müthlichkeit bewirthete der gute Kaiſer Franz ſeine fürſtlichen Gäſte, denen
er das Meſſer in den Rücken zu ſtoßen hoffte. Noch am 2. Januar
ſchrieb Metternich „ſeinem theueren Fürſten“ Hardenberg ein freundſchaft-
liches Billet, bat ihn wegen dringender Geſchäfte die heutige Sitzung auf
morgen zu verſchieben *); einige Stunden nachher kam er ſelber zu dem
Staatskanzler um Rückſprache zu nehmen wegen der Artikel über Thorn
und Krakau. Von der Sitzung des 3. Januar berichten die Protokolle
des Vierer-Ausſchuſſes nur, daß Oeſterreich, im Weſentlichen mit den
ruſſiſchen Vorſchlägen einverſtanden, eine Vergrößerung ſeines polniſchen
Antheils verlangt habe. An demſelben Tage, der ſich ſo friedlich anließ,
unterzeichnete Metternich mit Caſtlereagh und Talleyrand das Kriegs-
bündniß gegen Preußen und Rußland. Der Wortlaut dieſes ſeltſamen
Vertrages war ebenſo dunkel wie die Abſichten ſeiner Urheber; man hatte
guten Grund das Licht zu ſcheuen. „In Folge neuerdings offenbarter
Anſprüche“ verpflichten ſich die drei Mächte, einander gegenſeitig mit minde-
ſtens 150,000 Mann zu unterſtützen, falls eine von ihnen wegen ihrer
gemeinſam aufgeſtellten gerechten und billigen Vorſchläge angegriffen oder
bedroht werden ſollte; ein Angriff auf Hannover oder die Niederlande
gilt als ein Angriff auf England. Die drei Mächte haben zugleich „die
Abſicht, die Beſtimmungen des Pariſer Friedens in der ſeinem wahren
Zwecke und Geiſte möglichſt entſprechenden Weiſe zu vervollſtändigen.“
Andere Mächte, namentlich Baiern, die Niederlande und Hannover, ſollen
zum Beitritt eingeladen werden. — Alſo zur Vervollſtändigung des Pa-
[653]Das Bündniß vom 3. Januar.
riſer Friedens, der jede Einmiſchung Frankreichs in die Gebietsfragen
unterſagte, ſchloſſen Oeſterreich und England ein Bündniß mit Frankreich!
Der Vertrag ſprach nur von einem Vertheidigungsbündniß; ſein wirklicher
Zweck war der Angriff. Denn wollte man jenen „neuerdings offenbarten
Anſprüchen“ entgegentreten, ſo mußte man zunächſt den Beſitzſtand Preu-
ßens in Sachſen angreifen. Ein geheimer Artikel enthielt überdies die
verſtändliche Drohung: wenn Baiern, Hannover oder die Niederlande der
Einladung nicht folgten, ſo würden ſie „jedes Recht auf die Vortheile ver-
lieren, welche ſie kraft des gegenwärtigen Vertrages beanſpruchen könnten.“


Nach der Abſicht ſeines eigentlichen Urhebers, Talleyrands, war der
Bund unzweifelhaft dazu beſtimmt, mit überlegener Macht das erſchöpfte
Preußen zu überfallen und von ſeiner neu errungenen Großmachtſtellung
wieder herabzuſtürzen. Der Franzoſe ſtand am Ziele ſeiner Wünſche;
er rühmte ſich mit vollem Rechte: „ich habe für Frankreich eine foedera-
tive Stellung geſchaffen, wie ſie fünfzig Jahre glücklicher Unterhandlungen
kaum hätten erreichen können,“ und ließ den General Ricard aus Paris
kommen um mit Schwarzenberg und Wrede den Feldzugsplan für das
Frühjahr zu verabreden. Bereits wurden in Böhmen Truppen zuſam-
mengezogen, Wrede verkündete prahlend den unzweifelhaften Sieg, Mün-
ſter aber zeichnete den Geiſt dieſer unvergleichlich treuloſen Politik mit
dem frivolen Ausruf: „wir ſpielen eine Partie en trois; iſt der Feind
geſchlagen, ſo geht es gegen den Freund.“ Stein hat ſeitdem nie wieder
Vertrauen zu dem Welfen faſſen wollen. In Friedrichsfelde athmete
man auf. Der gefangene König gab ſeinem Bruder Anton Vollmacht,
ſofort beim Einmarſch des Heeres der Tripelallianz die Regentſchaft in
Sachſen zu übernehmen, und empfing von dem Prinzen die frohe Bot-
ſchaft: „mein Schwager Franz wird unſern Nachbarn nicht ſehr gnädig
behandeln!“ Graf Schulenburg ſah ſchon die glücklichen Tage nahen, da
Preußens Macht zerfallen und Hannover die Führerſtellung im Norden
übernehmen würde — eine Weiſſagung, worin man leicht den Widerhall
welfiſcher Prahlereien erkennt.


Der Vertrag vom 3. Januar iſt von lang nachwirkenden mittelbaren
Folgen geweſen. Er hat Frankreich wieder eingeführt in die Gemeinſchaft
der Staatengeſellſchaft und zwiſchen den Weſtmächten jene vielgerühmte
entente cordiale begründet, welche ſeitdem, immer nur auf kurze Zeit
unterbrochen, fortgewährt hat bis zum heutigen Tage. Er hat am Wiener
Hofe den alten Choiſeul’ſchen Gedanken des Bundes der katholiſchen Groß-
mächte wieder belebt, eine Politik, der es fortan in der Hofburg niemals
mehr an mächtigen Freunden fehlte. Er ließ zugleich eine natürliche
Gruppirung der Mächte ahnen, die einer großen Zukunft ſicher war: hier
die Weſtmächte, Oeſterreich und die Pforte; dort die jungen Staaten
Preußen, Rußland und Nordamerika. Preußen lernte endlich, weſſen
man ſich von Oeſterreich ſelbſt unter dem Segen des friedlichen Dualismus
[654]II. 1. Der Wiener Congreß.
zu verſehen habe. Hardenberg freilich hat die „unglückliche Uebereilung“
ſeiner öſterreichiſchen Freunde nur zu bald großmüthig vergeſſen; doch
unter den jüngeren, kräftigeren Männern der Regierungskreiſe blieb die
Erinnerung an jenen Treubruch lange lebendig. Die alten glorreichen
fridericianiſchen Ueberlieferungen fanden wieder muthige Bekenner; und
jener Staatsmann, der nachher in langen ſtillen Friedensjahren die Politik
des großen Königs behutſam weiter führen ſollte, der Hauptbegründer des
Zollvereins, Eichhorn, hatte an den ſächſiſchen Händeln mit ſeiner ſcharfen
Feder theilgenommen und ſich ſein Urtheil über Oeſterreich aus den Er-
fahrungen des Wiener Congreſſes gebildet.


Es giebt aber ein letztes Maß des Unſinns, das in einer geordneten
Staatengeſellſchaft auf die Dauer nicht überſchritten werden kann. Kaum
war der Vertrag unterzeichnet, ſo fragte ſich Lord Caſtlereagh, wie er mit
einer ſo ganz unengliſchen Politik vor dem Parlamente beſtehen ſollte.
Hatte England darum ein Vierteljahrhundert hindurch gegen Frankreichs
Uebermacht gekämpft, damit jetzt 150,000 napoleoniſche Veteranen unter
dem Lilienbanner wieder den Rhein überſchritten? Man kannte in Wien,
trotz aller Ableugnungen Talleyrands, die bonapartiſtiſche Geſinnung des
franzöſiſchen Heeres. Und ſollte der kaum erſt blutig erkämpfte Friede
wieder geſtört werden — einem napoleoniſchen Satrapen zu Lieb’? Die
verbrecheriſche Thorheit eines ſolchen Unterfangens begann dem Briten
doch einzuleuchten; auch Metternich ward beſorgt über den lauten Jubel
der Franzoſen und der Rheinbündler. Während der folgenden Wochen
ſchloſſen ſich noch Sardinien, Baiern, Hannover, Darmſtadt dem Bündniß
vom 3. Januar an, ja die Schwerfälligkeit der Oraniſchen Regierung
hatte ſogar den tragikomiſchen Erfolg, daß die Niederlande erſt im April
dem Kriegsbunde gegen Preußen förmlich beitraten — in einem Augen-
blicke, da die Welt durch Napoleons Rückkehr längſt wieder verwandelt
war und Preußens Heer bereits heranzog die Niederlande gegen Frankreich
zu vertheidigen. Doch das Bündniß war todt geboren, eine wirkliche
Kriegsgefahr beſtand nur etwa ſechs Tage lang.


Schon in der Sitzung vom 9. Januar thaten Oeſterreich und Eng-
land einen erſten Schritt zur Verſöhnung. Sie gaben die feierliche Er-
klärung ab, daß die Verhandlungen über Sachſen lediglich den Zweck
hätten dem preußiſchen Staate die vertragsmäßige Entſchädigung zu ver-
ſchaffen, und darum die Entſcheidung in keiner Weiſe von der Zuſtimmung
Friedrich Auguſts abhängig ſei. Nur unter dieſer Bedingung genehmigten
Preußen und Rußland den jetzt unvermeidlichen Eintritt des franzöſiſchen
Miniſters. Am 12. Januar trat Talleyrand in den Rath der Groß-
mächte ein. Das Comité der Vier erweiterte ſich zum Fünfer-Ausſchuß,
und dieſe Fünf bildeten den eigentlichen Congreß *), ſo daß die erlauchte
[655]Der europäiſche Fünfer-Ausſchuß.
Verſammlung gerade vier Monate gebraucht hatte um ſich nur zu con-
ſtituiren. Das Uebergewicht der fünf großen Mächte erzwang ſich Gel-
tung, allen Abreden zuwider. Nunmehr fand Talleyrand ſelbſt die Hege-
monie der Großmächte nicht mehr unverträglich mit „dem öffentlichen
Rechte“; keine Rede mehr von allen den wohllautenden Gründen, womit
er einſt zu Beginn des Congreſſes die Gleichberechtigung aller Staaten
Europas vertheidigt hatte.


Auch die preußiſchen Staatsmänner begannen einzuſehen, daß einige
Nachgiebigkeit geboten war. Der Vertrag vom 3. Januar blieb ihnen
freilich völlig verborgen. Als die Grenzverhandlungen um jene Zeit nicht
vorwärts wollten, da haben die preußiſchen Bevollmächtigten einmal dem
niederländiſchen Miniſter Nagell gedroht: wenn Holland allzu widerſpenſtig
bleibe, ſo werde Preußen ſich an Frankreich anſchließen — was der Hol-
länder ſofort, triumphirend über die argloſe Unwiſſenheit der Preußen
ſeinen engliſchen Freunden meldete. So wenig ahnte Hardenbergs Staats-
kanzlei, daß der Kriegsbund der Gegner bereits geſchloſſen war. Doch
auf die Möglichkeit eines Krieges war ſie längſt gefaßt; zu ſo vielen
anderen drohenden Anzeichen kam jetzt noch die ſichere Nachricht, daß
England und Oeſterreich, auf Talleyrands Betrieb, die Pforte zu einem
Angriff auf Rußland zu bereden ſuchten. Man konnte ſichs nicht ver-
bergen, die Einverleibung Sachſens ließ ſich höchſtwahrſcheinlich nur durch
einen europäiſchen Krieg erreichen. Und war denn die Frage, ob die Alber-
tiner in Münſter, Trier oder Dresden hauſen ſollten, wichtig genug um
deshalb das ermüdete Volk nochmals unter die Waffen zu rufen? Die
wohlmeinenden Männer der Staatskanzlei überkam doch zuweilen ein Ge-
fühl patriotiſcher Scham, wenn ſie zurückſchauten auf den jammervollen
Gang des Congreſſes: vier Monate unabläſſigen Streites, und noch kein
einziges poſitives Ergebniß für Deutſchland geſichert! In der arg ent-
täuſchten Nation ſtieg der Mißmuth alſo, daß ſelbſt Goethe einmal zürnend
aus ſeiner olympiſchen Ruhe heraustrat. Am zweiten Januar brachte
eine Jenaer Zeitung ein Gedicht des Altmeiſters:


Sagt, wie ſchon am zweiten Tage

Sich ein zweites Feſt entzündet?

Hat vielleicht willkommne Sage

Vaterland und Reich gegründet?

Nein! —

und mit dieſem harten Nein ging der Alte gelaſſen dazu über, einem
„würdigen und biedern“ Weimariſchen Beamten zum Jubelfeſte Glück zu
wünſchen. Das vornehm geringſchätzige Wort des Dichters machte, wie
Varnhagen verſichert, auf die Beſſeren der deutſchen Diplomaten doch tiefen
Eindruck; man empfand immer ſchmerzlicher, daß man bisher gar nichts
geleiſtet. Und ſollte nun gar dieſer Congreß, der berufen war dem zer-
[656]II. 1. Der Wiener Congreß.
rütteten Welttheil eine dauerhafte Ordnung zu geben, mit einem neuen
europäiſchen Kriege enden?


Sehr bald ſah Hardenberg ein, daß er eine ſolche Verantwortung
nicht übernehmen dürfe. In der Sitzung der Fünf vom 12. Januar
verlangte er zwar nochmals das ungetheilte Sachſen; doch insgeheim berieth
er bereits ſeit einigen Tagen mit dem getreuen Hoffmann, ob es nicht ge-
rathen ſei, auf einen Theil Sachſens zu verzichten, und ſchon am 13. Januar
entwarf er einen Plan très-confidentiel, worin er die Möglichkeit zugab
etwa 840,000 Einwohner von Sachſen wieder an Friedrich Auguſt zu
überlaſſen. Dafür forderte er Baireuth, „die Wiege unſerer Ahnen.
Politiſche und militäriſche Gründe rathen ſowohl uns als den andern
Mächten, nicht zu geſtatten, daß Frankreich, Baiern und Sachſen in den
Beſitz einer ununterbrochenen, Deutſchland von den Grenzen Frankreichs
bis nach Böhmen und Preußen hin durchſchneidenden Querlinie kommen.“
Die Sorge vor einem neuen Rheinbunde blieb nach wie vor beſtimmend
für Preußens Politik.


Sobald dieſer Entſchluß dem Ausſchuſſe der Fünf bekannt wurde,
war der Boden geebnet für die Verſtändigung. Die ſächſiſche Angelegen-
heit verlor den Charakter einer Principienfrage, und es begann der un-
erquickliche Streit um die einzelnen Stücke des ſächſiſchen Landes. Die
Aufgabe der preußiſchen Unterhändler blieb noch immer ſehr ſchwierig.
Sie verlangten vor Allem die Saalepäſſe ſowie die Feſtungen Wittenberg
und Torgau; die Bedeutung dieſer Poſitionen für die damalige Kriegs-
weiſe hatte ſich in den Kriegen von 1806 und 13 genugſam gezeigt, und
— deſſen hatten Hardenberg und Humboldt gar kein Hehl — ein freund-
nachbarliches Verhältniß zu den Albertinern ſtand auf lange Jahre hinaus
nicht zu hoffen. Sie forderten ferner den größten Theil der Lauſitz mit
dem reichen Görlitz, und endlich Leipzig. Die Stadt war nicht nur hoch-
wichtig als der Mittelpunkt des geiſtigen wie des wirthſchaftlichen Lebens
der oberſächſiſchen Lande; der große Meßplatz mußte auch, wenn er eine
ſächſiſche Grenzſtadt blieb, vorausſichtlich durch einen ſchwunghaften
Schmuggelhandel für das preußiſche Zollweſen ſehr gefährlich werden.
Faſt jede dieſer Forderungen fand bei den Verbündeten vom 3. Januar
lebhaften Widerſpruch. Talleyrand zitterte für das deutſche Gleichgewicht:
falle Torgau an Preußen, ſo werde Oeſterreich gezwungen ein unerſchwing-
lich koſtſpieliges Heer zu halten. Metternich wünſchte den preußiſchen
Antheil auf die Niederlauſitz zu beſchränken und bot dem Staatskanzler
ſogar das ſchon für Oeſterreich ſelbſt beſtimmte Tarnopol an, wenn er
nur ſeine ſächſiſchen Anſprüche ermäßige. Caſtlereagh endlich ſuchte
namentlich Leipzig für die Albertiner — das will ſagen: für den engliſchen
Schmuggel — zu retten.


Höchſtwahrſcheinlich hätte Preußen, einem ſo allgemeinen Widerſtande
gegenüber, ſelbſt in dieſem letzten Stadium der ſächſiſchen Frage nochmals
[657]Theilung Sachſens.
den Kürzeren gezogen, wenn man nicht doch noch zum Degen greifen
wollte. Jetzt aber zeigten ſich die vortheilhaften Folgen jener vielgeſcholtenen
Schwenkung des Königs. Der Czar unterſtützte feſt und nachdrücklich
jeden Anſpruch ſeines Freundes, und da die Gegner, mit einziger Aus-
nahme Frankreichs, den Krieg nicht ernſtlich wollten, ſo haben ſie ſchließ-
lich den meiſten der preußiſch-ruſſiſchen Forderungen nachgegeben. Talley-
rands Muſe ſchwelgte wieder in freien Erfindungen, um die feſte Eintracht
der beiden Mächte zu zerſprengen. Da ſollte Alexander ärgerlich ausge-
rufen haben: „Ach, wenn ich mich nur nicht ſo tief eingelaſſen hätte!
Wenn ich nur mein Wort nicht gegeben hätte!“ — und was der Anek-
doten mehr war. Sehr möglich, daß Czartoryski ſeinem kaiſerlichen Freunde
rieth die Preußen preiszugeben. Aber die Intereſſen, welche die ruſſiſche
mit der preußiſchen Politik verbunden, waren ſtärker als Alexanders Launen
oder der Deutſchenhaß ſeines ſarmatiſchen Rathgebers: wurde Preußen
nicht vollſtändig entſchädigt, ſo konnte Rußland die erſehnte Prosnagrenze
nicht erlangen. Darum hielt der Czar treu zu ſeinem Freunde und
betrieb, wie Gentz erboſt an Karadja ſchrieb, die preußiſchen Forderungen
ganz ſo eifrig wie ſeine eigenen. In dem geſammten Verlaufe dieſer
letzten Verhandlungen iſt es nicht ein einziges mal geſchehen, daß Ruß-
land ſich von Preußen getrennt hätte. Wenn der Czar ſchließlich aus dem
Streite größeren Vortheil zog als ſein Verbündeter, ſo lag der Grund
nicht in irgend einer Treuloſigkeit der Ruſſen, ſondern in der Thatſache,
daß jetzt nur noch die preußiſchen, nicht mehr die ruſſiſchen Anſprüche
durch Oeſterreich und die Weſtmächte beſtritten wurden. Lediglich der
verſtändigen Politik des Königs war es zu verdanken, daß nach peinlichem
Streite die Saalepäſſe und die nordthüringiſchen Lutherlande, die Feſtungen
der Elblinie und Görlitz an Preußen kamen. Nur Leipzig wurde durch
die engliſche Handelspolitik hartnäckig vertheidigt. Als alle Einigungsver-
ſuche ſcheiterten, da entſchloß ſich Alexander endlich zu einem „Opfer“,
das ihm hart ankam: er bot (8. Februar) zum Erſatz das feſte Thorn
und deſſen Umgebungen.


Es war eine kümmerliche Entſchädigung und doch ein Beweis für
Alexanders guten Willen. Seine Ruſſen hatten ſich in der Weichſelfeſtung
längſt häuslich eingerichtet und wollten dem Czaren dieſe Nachgiebigkeit
lange nicht verzeihen. Alles in Allem war das für das ſächſiſche Volk
ſo ſchmerzliche Compromiß der Theilung des ſtreitigen Landes, bei der
annähernden Gleichheit der Kräfte beider Parteien, das einzig mögliche
Ergebniß, da man hüben wie drüben den Krieg ſcheute; und daß die
Theilung für Preußen ſo günſtig ausfiel, daß der Albertiner die größere
Hälfte ſeines Gebietes abtreten mußte, ward allein möglich durch Rußlands
Beiſtand. —


Nunmehr galt es, an anderen Stellen Deutſchlands die zu Preußens
voller Entſchädigung noch fehlenden Landſtriche zu ſuchen. Den unglück-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 42
[658]II. 1. Der Wiener Congreß.
lichen Einfall, die Baireuther Angelegenheit wieder aufzunehmen, gab der
Staatskanzler bald auf. Dagegen ließ Metternich die ſo lange und hart-
näckig feſtgehaltene Moſelgrenze fallen; Preußen erhielt Koblenz und das
Gebirgsland zwiſchen Saar und Nahe. Die preußiſchen Staatsmänner
verhehlten nicht, daß der König nur um Deutſchlands, „nur um des all-
gemeinen Wohles willen“ den linksrheiniſchen Beſitz übernehme; Preußen
gelange dadurch in eine ähnlich bedrohte Stellung wie einſt Oeſterreich
durch die Erwerbung Belgiens. Eben dieſe Bedrängniß des Nebenbuhlers
war in Metternichs Augen der einzige Troſt für das unwillkommene Vor-
rücken Preußens gegen Süddeutſchland hin; wie ſchön, meinte er zu
ſeinen Vertrauten, daß man Preußen alſo mit Frankreich unmittelbar
„compromittirt“ habe! Uebrigens gönnte er dem preußiſchen Gebiete nicht
einmal auf dem linken Rheinufer eine genügende Abrundung. Ein Stück
des alten Saar-Departements wurde vorbehalten, um hier, dicht an der
gefährdeten Grenze, die Anſprüche von Oldenburg, Coburg, Homburg,
Strelitz und Pappenheim zu befriedigen. Nach Oeſterreichs Anſicht war
es ja ein Gebot weiſer Politik, möglichſt viele Kleinſtaaten zur Verthei-
digung der Rheingrenze zu nöthigen. Es war, als wollte die Hofburg
die benachbarten Elſaß-Lothringer durch den täglichen Anblick des ganzen
Elends deutſcher Kleinſtaaterei gründlich von dem Segen franzöſiſcher
Staatseinheit überzeugen. Sodann bewilligte Caſtlereagh, daß die Land-
forderungen Hannovers und der Niederlande zu Preußens Vortheil etwas
herabgeſetzt wurden.


Auch die polniſchen Händel kamen während der nächſten Wochen ins
Gleiche. Durch den Vertrag vom 2. Mai 1815 wurde die neutrale
Republik Krakau begründet. Eine Commiſſion der drei Theilungsmächte
— für Preußen Jordan und Stägemann — ging hinüber um die neue
Verfaſſung einzurichten. Indeß fühlte man von vorn herein, wie lebens-
unfähig dieſe lächerlichſte von allen Kunſtſchöpfungen des Congreſſes war;
ſchon die Inſtruction der Commiſſare drohte mit dem Einſchreiten der
drei Mächte, falls der junge Freiſtaat zu einem Heerde des Aufruhrs
würde.


Der engliſche Bevollmächtigte ließ es ſich nicht nehmen, noch einmal
die der britiſchen Tugend ſo wohlthuende und dabei ſo wenig koſtſpielige
Rolle des Protectors ſarmatiſcher Freiheit zu ſpielen; ſo hoffte er zu-
gleich den Zorn der Whigs über die Preisgebung Polens zu beſchwichtigen.
Er verlangte in einer phraſenhaften Circularnote vom 12. Januar: da
ein unabhängiges Polen unter einem eigenen Herrſcherhauſe leider unmög-
lich ſei, ſo ſollten die drei Theilungsmächte ſich mindeſtens verpflichten
„die Polen als Polen zu behandeln“. Die naive Unwiſſenheit des edlen
Lords dachte die drei Theilungsmächte auf einen Fuß zu behandeln; wer
hätte auch dieſem Kopfe beibringen ſollen, daß Preußen zu dem kleinen,
ſchon theilweiſe germaniſirten Poſen ganz anders ſtand als Oeſterreich zu
[659]Die Verträge über Polen.
dem polniſch-rutheniſchen Galizien oder Rußland zu der Hauptmaſſe der
alten Adelsrepublik? Wollten die Oſtmächte dieſe neue unberufene An-
maßung Englands nach Gebühr abfertigen, ſo mußten ſie das Cabinet
von St. James verbindlich erſuchen, zuvörderſt die Iren als Iren zu be-
handeln. Sie verſchmähten jedoch weislich, einen neuen müßigen Streit
zu erregen und antworteten mit höflich nichtsſagenden Noten. Hardenberg
erwiderte (30. Jan.): Preußen ſei bereit dem Poſener Lande eine den Ge-
wohnheiten und dem Geiſte der Einwohner entſprechende Verwaltung zu
geben und zu zeigen, daß das nationale Daſein der Völker unter jeder
Regierung unangetaſtet bleiben könne. Auf eine Beſchränkung der eigenen
Souveränität ließ er ſich nicht ein. Es war für Oeſterreich wie für
Preußen gebieteriſche Pflicht, ſich nicht die Hände zu binden, da Niemand
den Verlauf der polniſchen Experimente Alexanders berechnen konnte; auch
der Czar ſelber wünſchte nicht, in ſeinen völkerbeglückenden Plänen beauf-
ſichtigt zu werden. Daher enthielt weder die Schlußacte des Congreſſes
noch der Vertrag der drei Theilungsmächte vom 3. Mai irgend ein Wort,
das die Polen zu politiſcher Selbſtändigkeit berechtigte. Die drei Mächte
verſprachen lediglich: „ihre polniſchen Unterthanen ſollen Inſtitutionen
erhalten, welche die Bewahrung ihres Volksthums ſichern, in Gemäßheit
der Staatsformen, welche jede der betheiligten Regierungen ihnen zu ge-
währen für gut finden wird.“ Dazu die Zuſage freien, höchſtens durch
einen Zoll von 10 Procent beſchwerten Handels mit den eigenen Erzeug-
niſſen der vormals polniſchen Landestheile, freier Durchfuhr gegen mäßige
Zölle und freier (d. h. unverbotener) Schifffahrt auf den polniſchen
Flüſſen bis in die Seehäfen. Die Theilungsmächte waren mithin nur
verpflichtet, Sprache und Sitte des Volkes zu ſchonen, desgleichen dem
Handel einige geringfügige Begünſtigungen zu gewähren; in allem Uebrigen
behielten ſie freie Hand.


Gegen Mitte Februars waren die Gebietsverhandlungen zwiſchen den
Großmächten nahezu beendigt. Talleyrands Kriegsluſt hatte an dem tiefen
Friedensbedürfniß der ermüdeten Zeit zuletzt doch einen unüberwindlichen
Widerſtand gefunden; in dem Comité der Fünf gewann er keinen ent-
ſcheidenden Einfluß, und die kläffende Meute ſeiner rheinbündleriſchen Ge-
noſſen wurde von den großen Mächten kurzweg zur Seite geſchoben. Die
deutſche Verfaſſung blieb freilich noch in tiefem Dunkel; doch da der
Hofburg an der raſchen Löſung dieſer Frage wenig lag, ſo entwarf Gentz
ſchon jetzt ein pomphaftes Manifeſt, das der bewundernden Welt verkünden
ſollte: „die große Arbeit des Congreſſes iſt beendigt.“ Da kehrte Napo-
leon von Elba zurück, das von Talleyrand ſo prahleriſch geſchilderte
Kartenhaus der bourboniſchen Herrlichkeit ſtob vor dem Hauche des Im-
perators in alle Winde. Der franzöſiſche Miniſter, der ſoeben noch
pathetiſch verſichert hatte, Millionen franzöſiſcher Fäuſte würden ſich gegen
den Corſen erheben, ward über Nacht ein machtloſer Mann. Die ge-
42*
[660]II. 1. Der Wiener Congreß.
meinſame Gefahr führte die vier alliirten Mächte aufs Neue zuſammen,
die letzten noch offenen Gebietsfragen wurden raſch abgethan. Vergeblich
verſuchte Napoleon die erneuerte Coalition zu ſprengen, indem er die Ur-
kunde des Vertrags vom 3. Januar, die er in den Tuilerien im Schreib-
tiſche Ludwigs XVIII. vorgefunden, dem Czaren überſendete. Alexander
verbrannte das unſaubere Actenſtück in Gegenwart Steins vor Metternichs
unbeſchämten Augen. Man wollte der vergangenen Untreue nicht mehr
gedenken.


Die Rückkehr des Imperators brachte die unter der Hand langſam
fortgeführten Verhandlungen über Italiens Zukunft endlich zum Abſchluß.
Auch hier im Süden bewährte ſich England als der vertrauteſte Bundes-
genoſſe der Hofburg. Aber mit Rußlands Hilfe durchkreuzten die Piemon-
teſen d’Aglié und Bruſasco die geheime Abſicht Metternichs, einen ita-
lieniſchen Fürſtenbund unter Oeſterreichs Führung zu ſtiften. Auch der
Wunſch Oeſterreichs, die Linie Savoyen-Carignan von der Thronfolge in
Piemont auszuſchließen erwies ſich als unausführbar, da Rußland und
Frankreich entſchieden widerſprachen. Um ſo zäher hielt die Hofburg ihre
alten Anſprüche auf die Legationen feſt; ſie hatte den geſammten Kirchen-
ſtaat durch ihre Truppen beſetzt und hoffte ſicher, mindeſtens die Lande
nördlich des Apennin zu behalten. Metternich verwarf den Vorſchlag der
bourboniſchen Höfe, daß ein italieniſcher Ausſchuß, nach dem Vorbilde des
deutſchen, auf dem Congreſſe gebildet würde um die Frage zu entſcheiden:
er fürchtete überſtimmt zu werden, zumal da die Bourbonen auch auf
Toscana Anſprüche erhoben. Inzwiſchen begann es auf der Halbinſel zu
gähren; die voreilige Freude der Lombarden über den Einzug der Tedeschi
wich bald einer tiefen Verſtimmung, das Volk in der Romagna rottete
ſich zuſammen wider die öſterreichiſchen Truppen, einzelne patriotiſche
Verſchwörer verkehrten insgeheim mit dem Gefangenen von Elba. Als
nun der Größte der Italiener ſeinen abenteuerlichen Zug antrat und
Murat in Neapel zum Kriege rüſtete, da mußte man in Wien unberechen-
bare Wirren befürchten. Man lenkte klug ein und verſtändigte ſich raſch
mit den ſogenannten legitimen Mächten der Halbinſel: Toscana wurde
für die Erzherzöge gerettet, die Bourbonen vorläufig mit Lucca abgefun-
den, der geſammte alte Kirchenſtaat aber dem Papſte zurückgegeben; allein
die Poleſina, das fette Niederungsland der Pomündungen, blieb den
Oeſterreichern. Preußen betheiligte ſich an dieſen Verhandlungen wenig;
nur hielt der König für Fürſtenpflicht, aus Rückſicht auf ſeine neuen
katholiſchen Unterthanen ſich wiederholt und nachdrücklich für die Wieder-
herſtellung des Kirchenſtaates zu verwenden; nach der allgemeinen Anſicht
jener romantiſchen Tage war ja der Beſtand der römiſchen Kirche unzer-
trennlich von der weltlichen Macht des Papſtthums. In einem feierlichen
Proteſte verwahrte ſich der römiſche Stuhl gegen die Schmälerung des
Kirchenſtaates. Niemand achtete darauf. Das moderne Europa war be-
[661]Italien. Orient.
reits daran gewöhnt, daß alle ſeine großen Friedensſchlüſſe von den Ver-
wünſchungen der Curie begleitet wurden. Dem preußiſchen Geſchäftsträger
Piquot aber ſprach der Nuntius den warmen Dank des Papſtes aus
für das Wohlwollen, das der Staatskanzler der katholiſchen Kirche be-
wieſen habe.*)


Ueber die orientaliſchen Händel wurde keine Verſtändigung erzielt.
Nirgends zeigte ſich ſo grell wie hier der trotz allem äußeren Glanze un-
verkennbare innere Verfall der öſterreichiſchen Monarchie. Derſelbe Staat,
der einſt, als die Osmanen mächtig waren, der Vorkämpfer der chriſtlichen
Welt gegen den Islam geweſen, überließ jetzt, da die Pforte am Boden
lag, muthlos, blind für die Zeichen der Zeit, der ruſſiſchen Politik die
Vollendung ſeines eigenen Werkes. Im Februar legte der Czar den
Mächten einen umfaſſenden Entwurf vor, wornach ſie ſich alleſammt ver-
pflichten ſollten für die Menſchenrechte der Rajah einzutreten, Rußland
insbeſondere als Protector der Orthodoxen, Oeſterreich und Frankreich
als Beſchützer der Lateiner. Es gebe, ſagte die ruſſiſche Note, ein unge-
ſchriebenes Geſetzbuch des Völkerrechts, das in voller Kraft beſtehe und
allen Völkern Gleichheit der Rechte verbürge. Entrüſtet wies Metternich
den revolutionären Vorſchlag zurück. Doch ebenſo wenig war der Czar
geneigt die von der Hofburg gewünſchte Bürgſchaft für den Beſtand der
Türkei zu übernehmen; ſelbſt England wollte ſich nicht mit einer ſo un-
berechenbar ſchweren Verpflichtung belaſten. So geſchah es, daß in Wien
über die Türkei gar nichts beſchloſſen, die orientaliſche Frage ſtillſchweigend
zu den vielen anderen ungelöſten Aufgaben des Congreſſes gelegt wurde.


Gleichzeitig mit den Berathungen der Großmächte erledigte Hardenberg
noch eine überaus verwickelte diplomatiſche Arbeit: die Abrechnung mit
Hannover, Schweden und Dänemark. Dieſe durch viele Monate hinge-
zogenen dreifachen Verhandlungen zeigen in ihrem ſonderbar verſchlungenen
Zuſammenhange ſehr anſchaulich, welchen weiten Horizont der Blick der
preußiſchen Staatsmänner umfaſſen mußte, wie nahe unſer Staat, Dank
ſeiner centralen Lage, ſelbſt durch die entlegenſten Händel des Welttheils
berührt wurde; und ſie haben dem Vaterlande einen bleibenden Gewinn
gebracht: die Befreiung Pommerns von den letzten Reſten der Fremdherr-
ſchaft. Trotz des Kieler Friedens, der die Lande nördlich der Peene an
Dänemark gab, blieb der Staatskanzler unerſchütterlich bei ſeinem Plane,
Vorpommern und Rügen für Preußen zu erwerben; jener harte Kampf,
den die Hohenzollern faſt zweihundert Jahre hindurch mit der Feder und
dem Schwerte um ihr altes Erbe geführt, ſollte für immer beendigt werden.
Doch wie wollte man den rechtmäßigen Eigenthümer, Dänemark, zur Ab-
tretung des Landes nöthigen, da doch Preußen von der däniſchen Krone nicht
das Mindeſte zu fordern hatte? Gleichwohl hat Hardenberg die wichtige Er-
[662]II. 1. Der Wiener Congreß.
werbung ermöglicht durch gewandte Benutzung der wirrenreichen Streitig-
keiten, welche die ſkandinaviſche Welt erſchütterten.


Um die Dänen in Güte zur Abtretung von Vorpommern zu be-
wegen, mußte man zunächſt mit dem unbequemen kleinen Nachbarn wieder
in freundlichen Verkehr treten. Es bezeichnet Hardenbergs finaſſirende
Art, daß er ganz unbedenklich am 25. Auguſt 1814 mit Dänemark zu
Berlin Frieden ſchloß. Die Witzbolde beſpöttelten den Hardenbergiſchen
Familienfrieden; der Staatskanzler unterzeichnete für Preußen, ſein dem
Vater ganz entfremdeter Sohn Graf Hardenberg-Reventlow für Däne-
mark. Der Vertrag enthielt, da die beiden Mächte kaum ernſtlich gegen
einander gefochten hatten, nur die einfache Beſtätigung des Kieler Frie-
dens und die Wiederholung der dort gegebenen Zuſage, daß Dänemark
für Norwegen, außer Schwediſch-Pommern, noch weitere Entſchädigungen
erhalten ſollte. Von Helgoland, das der Kieler Friede endgiltig an England
gegeben hatte, iſt weder bei dieſen Berliner Verhandlungen noch ſpäter
auf dem Wiener Congreſſe irgend die Rede geweſen. Man hatte kein
Recht, die Inſel für Deutſchland zu fordern, da ſie nie zum alten Reiche
gehörte; die binnenländiſche Beſchränktheit der deutſchen Politik wußte den
Werth des Platzes nicht zu würdigen, der doch ſoeben erſt, in den Tagen
der Continentalſperre, ſeine Bedeutung für den deutſchen Handel gezeigt
hatte. Die allgemeine Begeiſterung für das großmüthige Albion fand kein
Arg daran, daß ſich England in aller Stille ein kleines norddeutſches
Gibraltar gründete.


Im Vertrauen auf dieſe Verträge kam der König von Dänemark
nach Wien und hoffte dort, außer Vorpommern auch noch Lübeck und Ham-
burg oder mindeſtens das Fürſtenthum Lübeck zu gewinnen. Er wurde
der Bruder Luſtig der erlauchten Geſellſchaft, man lachte viel über ſeine
drolligen Matroſenſpäße; doch ſeine Politik fand nirgends Unterſtützung,
der getreue Bundesgenoſſe Napoleons ſtand unter den Staatsmännern
der Legitimität ganz vereinſamt. Lord Caſtlereagh meinte ſich nicht ver-
pflichtet, dem kleinen Staate, welchen England zweimal räuberiſch überfallen
hatte, jetzt wenigſtens das gegebene Wort zu halten. Der Dänenkönig
erreichte nur den Fortbeſtand des Sundzolles, allerdings ein werthvolles
Zugeſtändniß für die däniſchen Finanzen. Als ihm Metternich beim Ab-
ſchiede zurief: Sire, vous emportez tous les coeurs! — gab der Be-
trogene ſeufzend zur Antwort: mais pas une seule âme. Währenddem
war auch Vorpommern den Dänen verloren gegangen. Die Norweger,
geführt von ihrem Statthalter, dem däniſchen Prinzen Chriſtian, hatten
ſich dem Kieler Frieden widerſetzt, ihrem Lande eine ſelbſtändige Verfaſſung
gegeben und den Statthalter zum König erwählt; darauf war Bernadotte
mit ſeinen Schweden eingerückt, bis nach einem Feldzuge von vierzehn
Tagen Prinz Chriſtian in dem Vertrage von Moß (14. Auguſt 1814)
ſeine Anſprüche aufgab. Durch Verhandlungen zwiſchen der Krone Schwe-
[663]Neuvorpommern.
den und dem norwegiſchen Storthing wurde nachher die Vereinigung der
beiden Königreiche der Halbinſel herbeigeführt. Noch heute bleibt es dunkel,
wie weit die berufene däniſche Treue bei jener Erhebung der Norweger
mitgewirkt hat. Jener ſchlaue Franzoſe aber, der Schwedens Geſchicke
leitete, wollte natürlich an der Mitſchuld des Kopenhagener Hofes nicht
zweifeln; er erklärte, der Kieler Friede ſei durch Dänemark gebrochen,
darum könne auch Vorpommern nicht ausgeliefert werden.


Es war ſicherlich nicht an Preußen, den unparteiiſchen Richter zu
ſpielen in dieſen unerquicklichen Händeln der nordiſchen Mächte; die na-
tionale Politik gebot, den Streit der Fremden um das deutſche Land zu
Deutſchlands Vortheil auszubeuten und die verlorene Mark dem Vater-
lande zurückzubringen. Eine Aufgabe, wie geſchaffen für Hardenbergs
ſchmiegſame Gewandtheit. Oeſterreich und Frankreich, in früheren Zeiten
die hartnäckigſten Feinde der pommerſchen Politik der Hohenzollern, verhielten
ſich diesmal zum Glück ganz gleichgiltig. Der Staatskanzler verſtändigte
ſich zunächſt mit Schweden. Bernadotte war bereit, ſeine Anſprüche auf
Vorpommern gegen eine Summe Geldes an Preußen abzutreten; am
13. Mai 1815 berichtete Münſter dem Prinzregenten als unzweifelhaft,
daß Preußen und Schweden ſchon längſt handelseinig ſeien. Alſo gegen
Schweden gedeckt, hoffte Hardenberg auch die Dänen zum Verzicht auf
Vorpommern zu bewegen. Dies war nur möglich, wenn man ihnen
einen Erſatz an Land und Leuten bot; denn Dänemark hatte unzweifelhaft
das beſſere Recht auf Vorpommern. Auf der weiten Welt ließ ſich aber
nur ein Land finden, das man den Dänen vielleicht zum Erſatze bieten
konnte: das Herzogthum Lauenburg rechts der Elbe. Welche Zumuthung:
für die 75 Geviertmeilen des reichen Vorpommerns 19 in Lauenburg; für
die Seefeſtung Rügen, für das prächtige Stralſund und die Greifswalder
Hochſchule blos — das Grab Till Eulenſpiegels und zwei Drittel der
guten Stadt Ratzeburg, denn ihr Domhof gehörte dem Strelitzer Vater-
lande! Nur die Bedrängniß des von allen Seiten bedrohten Kopenhagener
Cabinets ließ es möglich ſcheinen, daß Dänemark auf einen ſo ungleichen
Tauſch eingehen würde, der ihm nur den einen Vortheil bot das Hol-
ſteiniſche Gebiet abzurunden.


Lauenburg war aber ein rechtmäßiges Beſitzthum des hannoverſchen
Hauſes, und ſo hing denn die Erwerbung Vorpommerns von einer Ver-
ſtändigung mit den Welfen ab, denen Preußen überdies noch die in
Reichenbach ausbedungene Vergrößerung um 250—300,000 Seelen ſchul-
dete. Daß Hildesheim zu dieſer Entſchädigung verwendet werden ſollte,
ſtand bereits feſt; die Abtretung von Oſtfriesland dagegen hatte der König
ſtandhaft zurückgewieſen, und ſeitdem war das treue Völkchen ſeinem
Herzen nur noch theurer geworden. Gleichwohl liefen beunruhigende
Gerüchte durchs Land; die Abtretung an die Welfen, ſo hieß es, ſtehe doch
noch bevor. Schwer beſorgt ſchrieb der Oberpräſident Vincke an den
[664]II. 1. Der Wiener Congreß.
Staatskanzler: nimmermehr dürfe man dies Kernvolk aufopfern, ein Oſt-
frieſe ſei mehr werth als zwanzig halbfranzöſiſche Rheinländer; auch biete
der Beſitz der Ems den einzigen freien Zugang zur Nordſee, das einzige
Mittel den Rheinzöllen der Holländer entgegenzuwirken.


Da gab der Streit um Vorpommern den welfiſchen Diplomaten eine
bequeme Handhabe um den in Reichenbach geſcheiterten Verſuch zu er-
neuern. Der Staatskanzler verlangte jetzt von den Welfen Lauenburg,
und da er außerdem noch die vertragsmäßige Vergrößerung für Hannover
beſchaffen mußte, ſo erſah Münſter raſch ſeinen Vortheil und forderte als
Erſatz: Oſtfriesland und jenen „Iſthmus“ des Göttinger Landes, der
nach Hardenbergs Plänen die öſtlichen Provinzen Preußens mit dem
Weſten verbinden ſollte. Die letztere Forderung ließ ſich nicht abweiſen,
ſie iſt jedoch in Berlin als ein offenbarer Beweis böſen Willens den
Welfen lange nachgetragen worden; denn war man in Hannover ehrlich
geſonnen mit Preußen gute Freundſchaft zu halten, ſo konnte die Um-
klammerung durch Preußen dem Welfenhofe nicht bedrohlich erſcheinen.
Noch tiefer verletzte den König die Zumuthung wegen Oſtfriesland; keine
der vielen Enttäuſchungen dieſer traurigen Zeit hat ihn ſo ſchmerzlich be-
rührt. Viele Monate hindurch, bis in den März hinein, widerſprach er
beharrlich; wie oft hat er Kneſebeck deshalb zu dem Staatskanzler geſendet,
was immer ein untrügliches Zeichen der Verſtimmung war. Die Welfen
aber beſtanden auf ihrem Scheine. Nicht als ob ſie die handelspolitiſche
Bedeutung der Emsmündung irgend gewürdigt hätten; die herrlichen
Ströme Niederſachſens waren in den Augen des welfiſchen Adelsregiments
lediglich dazu beſtimmt mit ergiebigen Zöllen belaſtet zu werden. Aber
Oſtfriesland grenzte an Holland, und eine ununterbrochen zuſammen-
hängende welfiſch-oraniſche Nordweſtmacht galt in London und Hannover
wie im Haag als nothwendig, um dem preußiſchen Nachbarn das Gleich-
gewicht zu halten. Deshalb verharrte Münſter bei ſeiner Forderung,
und König Friedrich Wilhelm ſtand ſchließlich vor der Frage: ob Vor-
pommern für Preußen wichtiger ſei oder Oſtfriesland? Hardenberg ſtimmte
unbedenklich für Pommern; denn da die Landgrenze im Oſten durch den
Verluſt von Warſchau ſich ſo ungünſtig geſtaltete, ſo war es für Preußen
unerläßlich, mindeſtens auf der Seeſeite ſich zu decken und die Herrſchaft
über die Odermündungen ganz in ſeine Hand zu bringen; Oſtfriesland
aber, ſo wichtig es war, bildete doch nur einen Außenpoſten mehr.


Noch ſchwerer wog in Hardenbergs Augen eine Erwägung der na-
tionalen Politik: der lange Kampf um die Befreiung Pommerns durfte
wahrlich nicht damit enden, daß die Dänen, wie ſchon am Kieler Buſen,
ſo auch am Strelaſunde ſich einniſteten. Dagegen hatte Hannover ſelbſt
während ſeiner Verbindung mit England immer als ein deutſches Land ge-
golten, und ſeine gänzliche Abtrennung von Großbritannien ſchien damals,
da Prinzeß Charlotte noch lebte, ſehr nahe, ſchon nach dem Tode des Prinz-
[665]Lauenburg. Oſtfriesland.
regenten bevorzuſtehen; an Hannover abgetreten ging Oſtfriesland dem
deutſchen Leben nicht verloren. Hardenberg hat keineswegs, wie ihm er-
bitterte Patrioten vorwarfen, in frevelhaftem Leichtſinn das oſtfrieſiſche
Land preisgegeben, ſondern das Für und Wider der verwickelten Frage
gewiſſenhaft abgewogen und dann mit ſeinem richtigen politiſchen Blicke
das kleinere Uebel gewählt. Schon am 15. Februar ließ er in der Staats-
kanzlei einen Artikel für die Berliner Zeitungen ſchreiben, um die Leſer-
welt auf die Abtretung Oſtfrieslands vorzubereiten und zugleich anzu-
deuten, dies ſchmerzliche Opfer ſei das einzige Mittel zur Erwerbung des
ungleich werthvolleren Vorpommerns. Der Aufſatz fand aber weder bei
den Zeitgenoſſen noch bei ſpäteren Hiſtorikern Beachtung. Im März
endlich gab der König widerſtrebend ſeine Zuſtimmung. Da erhob ſich
ein letztes unerwartetes Hinderniß. Nach der thörichten Familien-Ueber-
lieferung der Welfen war Oſtfriesland ein altes Erbe des Welfenhauſes,
nur durch Gewalt und Liſt an Preußen gekommen. Der Prinzregent er-
fuhr alſo mit lebhafter Entrüſtung, daß er für den Heimfall dieſes urwelfi-
ſchen Landes auch noch Lauenburg herausgeben ſollte. Er ſträubte ſich
aufs Aeußerſte; dieſer Liebloſeſte aller Söhne verſpürte plötzlich Anwand-
lungen kindlichen Zartgefühls und verſicherte, ſeine „Delicateſſe“ verbiete
ihm, noch bei Lebzeiten ſeines geiſteskranken Vaters eine Provinz abzu-
treten. Münſter mußte alle ſeine Beredſamkeit aufbieten; er ſtellte dem
Erzürnten vor, daß Lauenburg für Preußens pommerſche Abſichten in der
That unentbehrlich ſei. Erhebe man Schwierigkeiten, ſo werde der ohne-
hin erbitterte König von Preußen vielleicht den ganzen Handel rückgängig
machen; und am Ende bleibe ja noch die erfreuliche Ausſicht, daß Preußen
bei dem neuen Kriege gegen Napoleon wieder des guten engliſchen Geldes
bedürfen würde, dann könne man Lauenburg dem Bundesgenoſſen wieder
abnehmen! Das wirkte; das zarte Gewiſſen des Welfen war beruhigt.


So kam denn am 29. Mai der Tauſchvertrag zwiſchen Preußen und
Hannover zu Stande: Lauenburg für Hildesheim, Goslar, Oſtfriesland
und ein Stück der Grafſchaft Lingen; dazu zwei preußiſche Militärſtraßen
durch Hannover als Erſatz für den gewünſchten „Iſthmus“. Die alten Reichen-
bacher Forderungen der Welfen waren alſo doch, in Folge der ſächſiſchen
Händel, um etwa 50,000 Seelen herabgemindert worden. Am 4. Juni ſo-
dann trat Dänemark ſeine Rechte auf Schwediſch-Pommern an Preußen
ab und erhielt dafür Lauenburg nebſt 2 Mill. Thaler; der Staatshaus-
halt war aber dermaßen erſchöpft, daß man ſich ausbedingen mußte dieſe
geringe Summe erſt vom Neujahr 1816 ab in vier halbjährigen Raten
zu zahlen! Endlich am 7. Juni gab Schweden, gegen 3½ Mill. Thaler,
ſeine letzten Anſprüche auf deutſchen Boden auf und erſtattete zugleich
die während der letzten Jahre veräußerten vorpommerſchen Domänen dem
neuen Landesherrn zurück. Preußen bewilligte mithin Oſtfriesland und
über 5 Mill. Thaler für ein Land, das damals, freilich unter einer
[666]II. 1. Der Wiener Congreß.
ſehr ſchlaffen Verwaltung, nur einen jährlichen Ueberſchuß von 224,000
Thalern brachte. Kaufmänniſch betrachtet war das Geſchäft ſicherlich un-
vortheilhaft, Schweden allein gewann bei dem verwickelten Handel; die
deutſche Nation aber hatte guten Grund dem Staatskanzler für dieſe
ſchwierige Arbeit zu danken.


Es war die höchſte Zeit, Vorpommern von dem ſkandinaviſchen Leben
zu trennen. Das Land war in faſt zwei Jahrhunderten gänzlich für die
drei Kronen des Nordens gewonnen; wie ſpät hatte doch ſelbſt E. M. Arndt,
faſt vierzig Jahre alt, das Bewußtſein ſeines deutſchen Volksthums ge-
wonnen! Wie viel hundert mal haben die Rügener ihre Feſte angetanzt
unter den Klängen des alten Schwedenſanges: Gustavs skål! Zu Anfang
des Jahrhunderts ſangen die Stralſunder Kaufherren bei feſtlichen Ge-
lagen nach feierlicher Melodie das Nationallied:


Laßt die Politici nur machen!

Ob Frankreich oder England ſiegt —

Man kapert uns kein Schiff, kein Boot:

Was hat es denn mit uns für Noth?

Nachher, da die blaugelbe Flagge die Schiffe der Stralſunder Rheder
nicht mehr zu decken vermochte, begann dieſe Gemüthlichkeit allerdings
einem männlicheren Gefühle zu weichen; indeß ſahen der Landadel und
das ſtädtiſche Patriciat, von der ſchwediſchen Krone mit koſtbaren Privi-
legien überſchüttet, der Rechtsgleichheit der preußiſchen Verwaltung mit
ſehr gemiſchten Empfindungen entgegen. Wunderbar ſchnell hat ſich dann
die Geſinnung des Landes verwandelt. Die Krone Schweden ſelber em-
pfand, daß durch den Einzug der Preußen nur die natürliche Ordnung
hergeſtellt wurde; König Karl XIII. ſprach zum Abſchied ſeinen getreuen
Pommern aus, Schweden ſei durch die Erwerbung Norwegens in eine
„inſulariſche Lage“ gekommen und weniger denn je im Stande die ent-
legene deutſche Provinz zu vertheidigen. Und dies wackere deutſche Land
ſollte ſchon nach wenigen Jahren bewähren, was der Sprecher der Ritter-
ſchaft, Graf Bohlen, bei der Huldigungsfeier verſprach: „wir werden be-
weiſen, daß wir auch unter einer auswärtigen Regierung nicht verlernt
haben Deutſche zu ſein.“


In Oſtfriesland aber herrſchte tiefe Trauer. Lange wollte man die
Unheilsbotſchaft nicht glauben; die königlichen Behörden verſicherten wie-
derholt, daß ſie von der Abtretung amtlich nichts wüßten. Das tapfere
Landwehrregiment der Provinz focht noch bei Ligny und Belle-Alliance
unter preußiſchen Fahnen; noch im Juli 1815 ging eine Deputation der
Stände nach Paris, ihre Mitglieder im Verein mit den Landwehrmän-
nern beſchworen den König die Provinz nicht zu verſtoßen. Der Wider-
wille gegen das adliche Hannoverland war ſo allgemein in dieſem Lande
des Handels und der Bauernfreiheit, daß man die Abtretung erſt zu
Ende des Jahres 1815 zu vollziehen wagte. Auch dann währte die alte
[667]Abſchluß mit den Niederlanden.
Treue fort; wie lange noch haben die oſtfrieſiſchen Studenten in Göttingen
die ſchwarzweiße Kokarde an der Mütze getragen, und wenn ſie beim Lan-
desvater das „Friedrich Wilhelm lebe hoch“ ſangen, dann liefen den ehr-
lichen Jungen die hellen Thränen über die Backen. Bis zum Tode des
Königs hat Oſtfriesland „ſeinen alten herrlichen Feſttag“ gefeiert; noch
am 3. Auguſt 1839 ſahen die Badegäſte auf Norderney mit Erſtaunen,
wie auf jedem Fiſcherhauſe der Inſel eine preußiſche Flagge wehte.


Hatte der Staatskanzler in dieſen Verhandlungen, freilich nur durch
ein ſchweres Opfer, das Intereſſe des Staates klug gewahrt, ſo mußte er
dagegen bei den Unterhandlungen mit den Niederlanden die Folgen ſeiner
früheren Uebereilungen tragen. Alle jene verſchwenderiſchen Zuſagen, die
man während des Winterfeldzuges dem Schooßkinde der engliſchen Politik
gegeben, ließen ſich nicht mehr zurücknehmen; auch gelangte Hardenberg
ſelbſt in Wien noch nicht zu der Einſicht, daß dies durch Preußens Waf-
fen wieder eingeſetzte Oraniſche Haus eine entſchieden feindſelige Geſin-
nung gegen Deutſchland hegte. Er betrachtete die Niederlande noch immer
als eine feſte Vormauer Deutſchlands und begrüßte es mit Freuden, daß
mindeſtens Luxemburg dem Deutſchen Bunde beitrat. War doch dies
Ländchen damals noch kriegeriſch und entſchieden franzoſenfeindlich geſinnt;
die Erinnerung an die k. k. Latour-Dragoner und die Jäger von Le Loup
lebte noch im Volke. Die preußiſchen Diplomaten trugen dem oraniſchen
Unterhändler ſeinen in den ſächſiſchen Händeln bewährten legitimiſtiſchen
Feuereifer nicht nach, ſondern bewieſen, zu Gagerns eigenem Erſtaunen,
eine „ungemeine Nachgiebigkeit“.


Von Jülich und anderen Pariſer Verheißungen war freilich nicht mehr
die Rede; jedoch Preußen erklärte ſich bereit, einen Theil von Geldern mit
dem feſten Venloo abzutreten, und erprobte dabei nochmals die gehäſſige
Geſinnung der engliſchen Staatsmänner. Gagern verlangte „la lisière
de la Meuse“:
preußiſch Geldern ſollte von ſeinem natürlichen Waſſer-
wege, der Maas, abgeſperrt, die Grenze überall mindeſtens eine Stunde
öſtlich von dem Fluſſe gezogen werden. Er berief ſich auf den Herzog
von Wellington, der, noch ganz befangen in den altväteriſchen Gleichge-
wichtslehren des alten Jahrhunderts und voll Mißtrauens gegen den
unruhigen preußiſchen Ehrgeiz, in einem militäriſchen Gutachten die un-
geheuerliche Behauptung aufgeſtellt hatte, ohne dieſe Liſière würden die
Niederlande durch Preußen erdrückt werden. In der gutmüthigen Hoffnung
an den Oraniern für alle Zukunft dankbare Bundesgenoſſen zu haben, war
Hardenberg ſchwach genug auf dieſe unverſchämte Zumuthung einzugehen;
ſo erhielt Deutſchland jene Nordweſtgrenze, die auf der Karte Europas
ihres Gleichen nicht findet.


Schon in den nächſten Monaten ſollte Preußen die Dankbarkeit der
holländiſchen Kaufmannspolitik kennen lernen. Die Oranier zeigten ſich
unter allen Nachbarn Preußens am gehäſſigſten und händelſüchtigſten.
[668]II. 1. Der Wiener Congreß.
Gegen Sinn und Wortlaut der Wiener Verträge wurden ſofort jene
ſchändlichen Rheinzölle wieder eingerichtet, wodurch die niederländiſche
Republik einſt ihre deutſchen Hinterlande mißhandelt hatte. Da die ſtati-
ſtiſchen Hilfsmittel jener Zeit ſehr mangelhaft waren und Haſſelts geo-
graphiſches Handbuch den Diplomaten als letzte Weisheitsquelle diente, ſo
liefen bei allen Gebietsverträgen des Congreſſes einzelne kleine Irrthümer
mit unter, die bei einigem Anſtandsgefühle der betheiligten Staaten nach-
träglich leicht berichtigt werden konnten. Durch ein ſolches Verſehen geſchah
es auch, daß die beiden preußiſchen Straßen von Aachen nach Eupen und
Geilenkirchen auf zwei kurzen Strecken niederländiſches Gebiet berührten;
augenblicklich errichteten die Oranier dort ihre Douanen, unterwarfen den
preußiſchen Binnenhandel ihren Zöllen. Als endlich eine gemiſchte Com-
miſſion zuſammentrat um die Grenze endgiltig feſtzuſtellen, da ſtritten
die Holländer um jede Seele, jeden Baum und jeden Zoll Landes.*)
Ueber die Galmeigruben von Altenberg konnte man ſich ſchlechterdings
nicht einigen; dies berüchtigte „neutrale Gebiet“ an der belgiſch-preußi-
ſchen Grenze erinnert noch heutigen Tags an die freundnachbarliche
Geſinnung der Niederländer. Solche gehäufte Proben oraniſcher Dank-
barkeit und vornehmlich die empörende Bedrückung der Rheinſchifffahrt
ließen das Wohlwollen des Berliner Cabinets für den Haager Hof bald
erkalten.


Ein anderer der kleinen Gegner Preußens, Baiern, hatte ſeine thörichte
Feindſeligkeit bitter zu bereuen. Wenn irgend ein deutſches Fürſtenhaus
durch ſein dynaſtiſches Intereſſe auf Preußens Freundſchaft angewieſen
war, ſo doch ſicherlich das durch die Hohenzollern ſo oft gerettete Haus
Wittelsbach. Preußens Staatsmänner waren auch im Jahre 1814, ob-
gleich ſie ein wohlbegründetes Mißtrauen gegen Montgelas hegten, dem
bairiſchen Staate keineswegs feindſelig geſinnt. Das feſte Mainz wollten
ſie freilich dieſen unzuverläſſigen Händen nicht anvertrauen; doch war
Hardenberg in Paris geneigt, die badiſche und die linksrheiniſche Pfalz
an Baiern zu geben, und noch in Wien rieth Humboldt, die Baiern
durch Entgegenkommen zu gewinnen, wenn ſie nur irgend guten Willen
für den Deutſchen Bund zeigten. Die ſchamlos undeutſche Geſinnung,
welche von Montgelas’ Genoſſen zur Schau getragen wurde, die prahle-
riſche Feindſeligkeit Wredes und die unfläthigen Schimpfreden der „lite-
rariſchen Mordbrenner“ des Münchener Hofes zwangen die Staatskanzlei
zu einer veränderten Haltung. Montgelas war nicht nur durch alte
Neigung und Gewohnheit an Frankreich gebunden und mit den Führern
der norddeutſchen Patrioten, namentlich mit Stein und Görres, perſönlich
verfeindet; er hoffte auch, durch ſeinen lärmenden Eifer für Friedrich Auguſt
ſich die Dankbarkeit Oeſterreichs, Englands und Frankreichs zu ſichern
[669]Baierns Anſprüche.
und mit deren Hilfe eine reiche Entſchädigung für Salzburg und das
Innviertel zu gewinnen. Ein grober politiſcher Fehler, ſelbſt vom Ge-
ſichtspunkte der rein dynaſtiſchen Politik betrachtet! England hat ſich um
die ſüddeutſchen Gebietsfragen niemals viel gekümmert, Frankreich verlor
gegen das Ende des Congreſſes jeden Einfluß, und Oeſterreich erwies ſich
bald als ein treuloſer Freund.


Die großen Mächte ſchloſſen ihren Frieden in der ſächſiſchen Sache,
und Wrede trug von ſeiner anmaßenden Zudringlichkeit nur den allge-
meinen Haß davon; ſelbſt in den Kreiſen der rheinbündiſchen Diplomaten
hießen die Baiern les Prussiens du Midi. Der Czar vor Allen war
tief erbittert und hörte willig auf den Freiherrn vom Stein, der nicht
müde ward ihm vorzuſtellen, wie gefährlich es ſei den Kernſtaat des Rhein-
bundes zu vergrößern. König Friedrich Wilhelm vernahm mit Befremden
durch ſeinen Geſandten Küſter, daß die Münchener Patriotenkreiſe alltäg-
lich über den Krieg gegen Preußen „wie über die natürlichſte und leichteſte
Sache von der Welt“ redeten.*) Durfte man dieſem Staate geſtatten,
ganz Süddeutſchland zu umklammern? Die Vereinigung der badiſchen
Pfalz mit Baiern mußte dem Staatskanzler jetzt in ganz anderem Lichte
erſcheinen, da die gewünſchte Niederlaſſung Oeſterreichs am Oberrheine
nicht erfolgt war. Und war denn Preußen irgend gebunden an jene
leichtfertigen Verſprechungen, welche Metternich eigenmächtig und insgeheim
den Baiern gegeben hatte? Wenn Preußen den feierlich verheißenen un-
unterbrochenen Zuſammenhang ſeines Gebietes nicht hatte erreichen können,
warum ſollte nicht Baiern die gleiche Entſagung üben? Warum mußten
Baden und die beiden Heſſen, die für Deutſchland nie ernſtlich gefährlich
werden konnten, eine ſchwere Beraubung ertragen um den mächtigſten
Staat des Rheinbundes ganz unbillig zu vergrößern?


Solche einfache Gründe der Politik und des Rechtes brachten den
König und den Staatskanzler allmählich zu dem Entſchluſſe, dem Münche-
ner Hofe nur die volle Entſchädigung für die an Oeſterreich abgetretenen
Provinzen, doch nichts weiter zu geſtatten. Zwar gelang es den bairiſchen
Unterhändlern, nachdem ſie den ganzen Winter über mit einer Commiſſion
der Großmächte gefeilſcht und gemarktet, am 23. April 1815 einen vor-
läufigen Vertrag mit den Mächten der Coalition abzuſchließen, wonach
Baiern für Salzburg und das Innviertel einen unverhältnißmäßigen Er-
ſatz erhalten ſollte: die Hauptmaſſe der linksrheiniſchen Pfalz, Hanau und
ein großer Theil des öſtlichen Odenwalds wurden den Wittelsbachern
verſprochen, dazu „der Heimfall der badiſchen Pfalz“ ſobald die regierende
Linie des badiſchen Hauſes ausſtürbe. Dieſe réversibilité du Palatinat
hat ſich ſeitdem wie ein rother Faden durch alle Wandlungen der neueren
[670]II. 1. Der Wiener Congreß.
bairiſchen Politik hindurchgezogen. Namentlich der Kronprinz Ludwig war
völlig beherrſcht von dieſem Gedanken; er ſollte ſein ſchönes geliebtes
Salzburg, wo er die letzten Jahre über Hof gehalten, jetzt an Oeſterreich
ausliefern und wollte dafür mindeſtens die „Wiege ſeines Geſchlechts“
zurückerwerben, obgleich durchaus kein Rechtsgrund den Anſpruch unter-
ſtützte. Baiern hatte vor Jahren die rechtsrheiniſche Pfalz gegen über-
reichliche Entſchädigung, ohne jeden Vorbehalt abgetreten, und es ließ ſich
ſchlechterdings nicht abſehen, warum das Land wieder an die Wittelsbacher
zurückfallen ſollte ſobald die Erbfolge in Baden auf die Grafen von Hoch-
berg überging. Nur die Mißgunſt der Großmächte gegen das nachläſſige
Regiment des Großherzogs Karl von Baden hat eine Zeit lang dieſe
bairiſchen Anmaßungen begünſtigt. Aber der Aprilvertrag war todtge-
boren, denn er behielt ausdrücklich „die Zuſtimmung der betheiligten Sou-
veräne“ vor; und dieſe, Württemberg, Baden, beide Heſſen, erhoben ſo-
fort lauten Einſpruch. Der badiſche Bevollmächtigte Marſchall hatte ſchon
früher dem Staatskanzler geſchrieben: „Ludwig XIV. hat durch alle
blutigen Kriege, die Europa während ſeiner Regierung erſchütterten, nicht
eine Million Einwohner für die franzöſiſche Monarchie erworben, und
nun will Baiern durch einen coup de main im Wege der Unterhand-
lungen ſich um 400,000 Unterthanen bereichern.“*) Jetzt erneuerte er
ſeinen Proteſt. Auch König Friedrich Wilhelm fand es höchſt unbillig,
daß Hanau ohne jeden Rechtsgrund von Kurheſſen abgeriſſen werden
ſollte. So geſchah es, daß der Aprilvertrag nicht ratificirt wurde, und die
Schlußacte des Congreſſes die Streitfrage offen ließ. —


Unter ſolchen Kämpfen kam die Wiederherſtellung der preußiſchen
Monarchie zu Stande. Das Ergebniß der Wiener Verhandlungen war
eine halbe Niederlage der preußiſchen Politik; weder am Rhein noch in
Sachſen noch an der polniſchen Grenze hatte ſie ihre Ziele vollſtändig
erreicht. Der Staat war gegen den Beſitzſtand von 1805 um volle
600 Geviertmeilen kleiner und nur um kaum eine halbe Million Ein-
wohner ſtärker geworden, er hatte die verſprochene Abrundung nicht er-
langt, ſondern zerfiel wieder wie vor Alters in zwei weit entlegene Maſſen.
Zudem war ein den Hohenzollern verfeindetes Fürſtenhaus wieder einge-
ſetzt, ein lebensunfähiger Mittelſtaat, der niemals wieder zu geſunden
politiſchen Zuſtänden gelangen konnte, aufs Neue hergeſtellt. Die vier
Kleinkönige beherrſchten faſt ein Viertel von dem Gebiete des Deutſchen
Bundes; die Lieblingsſchöpfung Napoleons, die neue Macht der Mittel-
ſtaaten hatte alle Stürme der Zeit überdauert. Im preußiſchen Volke
erregte der Ausgang des diplomatiſchen Kampfes tiefe Verſtimmung. Ganz
im Sinne der öffentlichen Meinung ſchrieb Blücher: wir haben einen
tüchtigen Bullen nach Wien hingebracht und uns einen ſchäbigen Ochſen
[671]Ergebniß für Preußen.
eingetauſcht. Die Gegner hatten ihrer Schadenfreude kein Hehl. Nicht
zufrieden mit dem wirklich errungenen Erfolge ſprengten ſie das Märchen
aus, der preußiſche Staat habe ſich widerwillig ſtatt der ſüdlichen Hälfte
von Sachſen die Rheinlande aufladen müſſen, während doch Hardenbergs
Abſichten von Haus aus zugleich auf Sachſen und das Rheinland ge-
richtet waren. Alle aber begegneten ſich in der frohen Hoffnung, ein ſo
künſtliches politiſches Gebilde könne nicht dauern.


Und doch frohlockten Preußens Feinde zu früh. Das Künſtliche
dieſes Staatsbaues lag nicht darin, daß er zugleich die äußerſten Marken
des Oſtens und Weſtens beherrſchte, ſondern allein darin, daß er noch
nicht fertig war, daß jene Landſchaften, welche die natürlichen Mittelglie-
der zwiſchen ſeinen Provinzen bildeten, ihm noch nicht angehörten. Trotz
aller Mißerfolge im Einzelnen hatte Preußen durch die Wiener Verhand-
lungen die Möglichkeit einer geſunden, kräftigen Fortbildung gewonnen. Die
Gefahr eines neuen Rheinbundes, die in Wien ſo drohend ſchien, wurde
durch Napoleons Rückkehr und abermalige Niederlage auf lange hinaus be-
ſeitigt. Die Schwäche der Bourbonen lag vor aller Augen; der von Preußen
ſo hartnäckig bekämpfte Einfluß Frankreichs auf die kleinen Höfe blieb in
der That während der nächſten Jahrzehnte ſehr geringfügig. Und wie ganz
anders ſtand Deutſchland jetzt dem unruhigen Nachbarvolke gegenüber, da
ſtatt jener elenden, vom Verſailler Hofe beſoldeten geiſtlichen Fürſten der
norddeutſche Großſtaat die Wacht am Rhein übernahm. Des läſtigen
polniſchen Beſitzes ledig verwuchs er jetzt feſter denn je mit dem deutſchen
Leben; zu den jungen überelbiſchen Colonien traten die alten Culturlande
des Rheines mit ihren mächtigen Städten und ihrem entwickelten Gewerb-
fleiße hinzu. Es gab fortan kein deutſches Intereſſe mehr, das den preu-
ßiſchen Staat nicht im Innerſten berührte. Er beſaß, wie König Friedrich
Wilhelm ſagte, kein Dorf anders als mit der Zuſtimmung des geſammten
Europas und gewann dadurch die Sicherheit, deren er bedurfte um ſeine
buntgemiſchten neuen Gebiete mit ſeinem Geiſt und Weſen zu durchdringen.
Wenn er dieſe unſäglich ſchwere Aufgabe löſte, wenn er das ſchöne Wort
bewährte, das ſein König in jenen Tagen ausſprach: „Deutſchland hat
gewonnen was Preußen erworben hat,“ dann konnte der halbe Erfolg
der Wiener Verhandlungen für ihn leicht ebenſo ſegensreich werden wie
einſt die diplomatiſche Niederlage des großen Kurfürſten auf dem Weſt-
phäliſchen Friedenstage. Nicht aus Uebermuth wahrlich hatte Hardenberg
die Gegner gefragt: wollt Ihr Preußen durchaus zwingen nach neuen Ver-
größerungen zu ſtreben? Nur die Gedankenloſigkeit der Hofburg und der
kleinen Staaten vermochte ſich darüber zu täuſchen, daß die neue Geſtaltung
des preußiſchen Gebietes keine Dauer verſprach, daß eine Großmacht in ſo
unnatürlicher Lage nicht verharren durfte. Die Hälfte Deutſchlands ge-
horchte dem preußiſchen Scepter; war in dieſer erſt der deutſche Einheits-
ſtaat feſt und ſicher begründet, ſo mußte früher oder ſpäter die Stunde
[672]II. 1. Der Wiener Congreß.
kommen, da das Schwert Friedrichs wieder aus der Scheide fuhr um auch
die andere Hälfte, die noch in allen Gliedern die Nachwirkung der zwei-
hundertjährigen Fremdherrſchaft verſpürte, zum Vaterlande zurückzuführen.


Als ein Menſchenalter ſpäter die Vertreter der Nation ohne die
Mitwirkung der Fürſten über den Neubau des deutſchen Geſammtſtaates
beriethen, vergeudeten ſie die günſtige Zeit mit Berathungen über die
Grundrechte des Volks. Derſelbe dunkle Drang der Selbſtſucht beherrſchte
die Diplomaten, die in Wien ohne Zuziehung der Nation über Deutſch-
lands Zukunft verhandelten; das deutſche Verfaſſungswerk gerieth nach
kurzem Anlauf ins Stocken, der Streit über die dynaſtiſchen Intereſſen
des Hauſes Wettin nahm monatelang alle Kräfte des Congreſſes in An-
ſpruch, und erſt gegen das Ende des großen Fürſtentages, als die Dinge
bereits völlig ausſichtslos lagen, ward in übereilter Haſt die deutſche
Bundesacte beendigt. Sehr günſtig hatten die Ausſichten freilich nie ge-
ſtanden. Einem Lande, deſſen Grenzen Niemand kannte, dem unbeſtimm-
ten Begriffe „Deutſchland“ eine feſte politiſche Form zu geben war an
ſich eine unmögliche Aufgabe. Ein erbarmungsloſer Druck der Noth, wie
er einſt die Staaten Nordamerikas gezwungen hatte widerwillig auf ihre
Souveränität zu verzichten, ward in jenem Augenblicke nicht fühlbar, da
alle Welt auf eine lange Zeit friedlichen Behagens hoffte. So zeigte ſich
denn hart und nackt das politiſche Naturgeſetz, das jeden Staat treibt,
ſein Ich, ſeine Unabhängigkeit bis aufs Aeußerſte zu vertheidigen. Ehr-
furcht vor dem großen Vaterlande, Dankbarkeit gegen ſeine Befreier,
Scham über die eigenen Frevel ließ ſich von den Sklaven Napoleons
nicht erwarten.


Auch eine durchgebildete öffentliche Meinung, ein leidenſchaftlicher
Volkswille, ſtark genug die Widerſtrebenden fortzureißen beſtand noch
nirgends. Was dieſe Generation an ſchöpferiſchem politiſchem Vermögen
beſaß, war in dem ungeheuren Ringen um die Befreiung des Vaterlandes
darauf gegangen. Wohl flogen die Hoffnungen der Patrioten hoch; wir
warten, ſagte Arndt, einer neuen Herrlichkeit wie ſeit Jahrhunderten nicht
geweſen iſt! Die conſtitutionellen Ideen der Revolution hatten in der
Stille auf deutſchem Boden überall Wurzeln geſchlagen, „Verfaſſung“
und „Repräſentativſyſtem“ galten bereits als gleichbedeutende Worte.
Gleichzeitig, unter Männern von ganz verſchiedener Bildung, ward die
zuverſichtliche Weiſſagung laut: wie die kirchliche Reformation im ſech-
zehnten, ſo werde die politiſche im neunzehnten Jahrhundert von Deutſch-
land über die Welt hinausgehen. Zu dieſen modernen Gedanken geſellten
ſich romantiſche Erinnerungen aus Deutſchlands älteſter Geſchichte: die un-
vergeßliche Schande der Regensburger Tage ſchien wie ausgelöſcht, mit
der Herſtellung von Kaiſer und Reich mußte auch die Macht der Ottonen
[673]Die öffentliche Meinung.
den Deutſchen wiederkehren. Niemals hat ſich ein hochbegabtes und hoch-
gebildetes Geſchlecht in ſo kindlich unklaren politiſchen Vorſtellungen be-
wegt; Alles was dieſe Zeit über den Staat dachte kam aus dem Gemüthe,
aus einer innigen, überſchwänglichen Sehnſucht, die ihre Ideale nach
Belieben bald in der Vergangenheit bald in der Zukunft ſuchte. Ganz
unbefangen verſchmolz man das Uralte mit dem Allerneueſten: während
der Rheiniſche Mercur das Scharnhorſtiſche Heerweſen und die Aufhebung
aller deutſchen Binnenmauthen empfahl, holte er zugleich Dantes Mo-
narchia aus dem Staube hervor und meinte durch die Ideen des drei-
zehnten Jahrhunderts die Leiden der neuen kaiſerloſen Zeit zu heilen.
Daß der Politiker bei der Stange bleiben, für ſeine Gedanken einſtehen
ſoll, war der Mehrzahl dieſer Publiciſten noch unbekannt; harmlos, un-
maßgeblich gab Jeder in Zeitungen und Flugſchriften ſeine Wünſche und
Einfälle zum Beſten, gern bereit auch die entgegengeſetzte Anſicht ſich
anzueignen. Arndt erklärte gradezu: „die Zeit iſt jetzt ſo, daß ein ge-
ſcheidter Mann blos Ideen ausſäen darf aus der Luſt des Säens und
weil er die Nothwendigkeit begriffen hat, daß die in mancher Hinſicht
noch immer zu trägen germaniſchen Geiſter aufgeſchüttelt werden.“ —
Wie richtig hatte doch Fichte ſeine Zeitgenoſſen beurtheilt, da er ſagte, der
Deutſche könne nie ein Ding allein wollen, er müſſe auch ſtets das Ge-
gentheil dazu wollen!


Und welches krankhaft überſpannte Selbſtgefühl mitten in dieſer Zer-
fahrenheit der öffentlichen Meinung! Unabläſſig verſichern die Blätter:
Einzelheiten ausgenommen iſt die ganze Nation vollkommen mit ſich ein-
verſtanden und weiß was ihr frommt und was ſie zu fordern berechtigt
iſt; mit unendlicher Verachtung reden ſie von dem Lottoſpiele der Poli-
tiker und den Spiegelfechtereien der Diplomatik. Dies tapfere Geſchlecht
durfte ſich mit gerechtem Stolze eines Heldenkampfes rühmen, und da nun
der Verfaſſungsbau des neuen Deutſchlands ſo lächerlich weit zurück blieb
hinter den kühnen Erwartungen des Befreiungskrieges, ſo entſtand in der
Nation ein verhängnißvoller Irrthum, der durch zwei Menſchenalter
wie ein Fluch auf dem deutſchen Leben gelegen hat: der Wahn, als ob
die Zerſplitterung des Vaterlandes allein die Schuld der Höfe ſei und
nicht ebenſo ſehr die Schuld dieſes zwiſchen Wollen und Nichtwollen,
zwiſchen patriotiſcher Sehnſucht und particulariſtiſcher Gewöhnung hin
und her ſchwankenden Volkes ſelber. Die Sprache der Publiciſtik zeigte
ein eigenthümliches Gemiſch von Salbung und Bitterkeit. Nirgends er-
klang ſie lauter als in den Spalten des Rheiniſchen Mercurs, der denn
auch ſchon im Sommer 1814 in den Rheinbundsſtaaten des Südens ver-
boten ward. Mögen die Fürſten ernſtlich bedenken, rief Görres drohend,
wie ihre Völker ſie empfangen werden, wenn ſie ein zerfetztes Vaterland
mit nach Haus bringen, dann bleibt uns nur noch die Wahl zwiſchen
Entwürdigung und Empörung! Das Bild der deutſchen Verfaſſung, das
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 43
[674]II. 1. Der Wiener Congreß.
der Mehrzahl der Patrioten vorſchwebte, entſprach etwa jenem Vorſchlage
für das künftige Reichswappen, welchen der Rheiniſche Mercur veröffent-
lichte: „der Doppeladler den ſchwarzen Aar zärtlich umhalſend und der
bairiſche Löwe friedlich dazu geſellt!“ Wahrlich, es war nicht blos trübe
Verſtimmung, wenn Goethe ſagte: der Schlaf ſei zu tief geweſen, dieſe eine
Aufrüttelung würde nicht genügen.


So weit ſich in dem Durcheinander guter Vorſätze und phantaſtiſcher
Wünſche ein greifbarer politiſcher Gedanke erkennen ließ, fand der Plan
der Wiederherſtellung des habsburgiſchen Kaiſerthums außerhalb der alten
preußiſchen Provinzen noch den meiſten Anklang. Was wußte man auch
in den Kleinſtaaten von der traurigen Rolle, welche das Haus Oeſterreich
noch in dem jüngſten Kriege geſpielt? Mancher wackere Mann ſah zwiſchen
Schwarzenberg und Gneiſenau, Giulai und Bülow keinen weſentlichen
Unterſchied. Der Rheiniſche Mercur bewunderte den „rührend wahren“
Charakter des Kaiſers Franz: in dem ſei kein Arg, keine Ader vom
Tyrannen; ſelbſt Metternich ward wohl zuweilen ſchwacher Gutmüthigkeit
beſchuldigt, an ſeiner deutſchen Geſinnung zweifelte man nicht. Was ſchien
natürlicher, als die Rückkehr zu den altheiligen Formen einer tauſend-
jährigen Geſchichte: nur ein Kaiſer konnte das deutſche Dornröschen aus
dem Schlummer wecken. In Vers und Proſa fand der alte Kaiſertraum
neuen Ausdruck:


Ach das Sehnen wird ſo laut:

Wollt Ihr keinen Kaiſer küren?

Kommt kein Ritter heimzuführen

Deutſchland die verlaſſne Braut?

Die Frage, ob denn die heilloſe Vereinigung deutſcher und aus-
ländiſcher Intereſſen abermals beginnen ſollte, ward mit einigen nach-
drücklichen patriotiſchen Vermahnungen abgethan. Görres befahl kurzab:
„deutſche Fürſten auf fremden Thronen müſſen ihre deutſchen Länder nie
in fremde Angelegenheiten miſchen!“ Noch beweglicher redete Rückert dem
Adler Habsburgs ins Gewiſſen:


Nicht die fremde Pommeranze,

Iſts die Dir gehört zunächſt:

Der Reichsapfel, der im Glanze

Hier an deutſchen Eichen wächſt!

Willſt bei Apfel, Stab und Kronen

Nicht auf unſern Eichen wohnen?

Der Naturforſcher Oken, ein warmherziger Patriot von handfeſtem, kurz
angebundenem Radicalismus, erwies in der Jenenſer Nemeſis: mit der
Kaiſerkrone ſeien alle anderen Forderungen der Nation von ſelbſt er-
füllt, durch ſie erlange Deutſchland wieder den erſten Rang in Europa.
Der geiſtvolle Philolog F. G. Welcker führte noch zwei Jahre ſpäter in
den Kieler Blättern alle Gebrechen des Vaterlandes darauf zurück, „daß
[675]Kaiſerträume.
dem verfallenen Deutſchland kein Kaiſer werden wollte.“ So lebendig
erhielt ſich der Gedanke des Kaiſerthums, doch wer vermochte ihn praktiſch
zu geſtalten? Die harte Thatſache des deutſchen Dualismus machte den
Patrioten für die Zukunft geringe Sorgen: wenn die Lothringer, nach
einem Vorſchlage des Rheiniſchen Mercurs, mit den Hohenzollern eine
Erbverbrüderung ſchloſſen, ſo ſtellte ſich ja die wirkliche Einheit über lang
oder kurz von ſelber her. Bis dahin mußte man dem preußiſchen Staate
allerdings eine gewiſſe Unabhängigkeit neben und unter der öſterreichiſchen
Kaiſerkrone zugeſtehen. Ein Aufſatz im Mercur wollte den Kaiſer Franz
an die Spitze eines zwiegetheilten Reichstags ſtellen, ſo daß Preußen das
norddeutſch-proteſtantiſche Collegium, Oeſterreich das rheiniſch-katholiſche
leitete. Der preußiſche Staat ſollte die ſchaffende und treibende Kraft in
dieſem Doppelreiche bilden; denn ſeit der Staat Friedrichs ſeine alte
Kraft wiedergewonnen hatte, gab man ſich draußen im Reiche wieder, wie
im achtzehnten Jahrhundert, der behaglichen Anſicht hin, daß Preußen
von der gütigen Natur dazu beſtimmt ſei den anderen Deutſchen die Laſt
und Arbeit der großen Politik dienſtfertig abzunehmen. Den Oeſterreichern
theilte Görres die angenehmere Aufgabe zu, „das innerlich wärmende
und nährende Element“ im Deutſchen Reiche zu bilden, dies entſpreche
ihrem „Stammescharakter“. Aehnliche Anſichten vertrat der wohlmeinende
Hildburghauſener Geheime Rath Schmid in ſeinem Buche „Deutſchlands
Wiedergeburt“; er dachte ſich die preußiſche Krone als den Reichsverweſer
im Norden und zugleich als einen warnenden Rath und Volkstribunen
neben dem öſterreichiſchen Erbkaiſer.


Auch was Arndt auf Steins Veranlaſſung „über die künftige ſtän-
diſche Verfaſſung“ ſchrieb, zeigt doch, daß der herrliche Mann über die
weſentlichen ſtaatsrechtlichen Begriffe noch gar nicht nachgedacht hatte. Er
fordert einen Kaiſer und einen aus den Landboten der Provinzen gebil-
deten Reichstag, ohne der Rechte der Fürſten auch nur zu gedenken; er
verlangt die alten Landſtände zurück, allerdings nicht ſo unbedingt wie
der Koblenzer Romantiker, der die Dreizahl des Lehr-, Wehr- und Nähr-
ſtandes feierte, ſondern in etwas modernerer Form, und dieſen altſtändi-
ſchen Körperſchaften ſollen die Miniſter verantwortlich ſein. Die wenigen
politiſchen Sätze der Schrift liegen vereinzelt wie die Muſcheln am Strande
im dicken Sande moraliſcher, hiſtoriſcher, ethnographiſcher Betrachtungen.
Die geſammte Bildung der Zeit blieb noch durch und durch unpolitiſch,
die Methode politiſchen Denkens, die Kunſt ſachlicher Erörterung beſaßen
unter allen deutſchen Publiciſten nur Zwei: Niebuhr, der ſich über die
deutſche Verfaſſungsfrage niemals ausſprach, und Gentz, die Feder der
Hofburg. Und wie fremd war doch ſelbſt den beſten Deutſchen jener
Tage der ruhige, gehaltene Nationalſtolz eines großen Volkes. Auf der
einen Seite ein fanatiſcher Haß gegen Frankreich, ein Haß, welchen Arndt
noch nach dem Kriege als den heiligen Wahn, als die Religion unſeres
43*
[676]II. 1. Der Wiener Congreß.
Volkes verherrlichte; auf der anderen eine ebenſo blinde Bewunderung
für das allein freie England, das allein unter allen heutigen Völkern
von vielen herrlichen Namen leuchte — und dies aus dem Munde der
Landsleute von Goethe, Stein, Blücher und Gneiſenau! Als die Pläne
der Welfen auf dem Congreſſe ſich enthüllten, da gingen dem treuen
Manne freilich die Augen auf, und er ſagte in einer ſeiner ſchönſten
Schriften, dem „Blick aus der Zeit in die Zeit“ friſch von der Leber weg
dem engliſchen Kleinſinn und dem hannoverſchen Dünkel harte Wahrheiten.


Ueberall, auch in den Schriften der kundigſten Publiciſten, wird
als unumſtößliche Wahrheit gepredigt, die Kleinſtaaterei ſei Deutſchlands
Zierde, ſei der kräftige Fruchtboden unſerer Freiheit und Cultur; die
alte unſelige Verwechslung von Freiheit und Vielherrſchaft kehrt in den
mannichfachſten Formen wieder. Aber da man mit dem Waſſer der
Kleinſtaaterei auch das Feuer der nationalen Macht verſchmelzen wollte,
ſo war allen politiſchen Tauſendkünſtlern Thür und Thor geöffnet. Die
handgreifliche Wirklichkeit der deutſchen Einzelſtaaten nöthigte die Publi-
ciſten von ſelbſt zu nüchterner Selbſtbeſchränkung; hinſichtlich der Rechte
der Landſtände entſtand bereits eine gewiſſe Uebereinſtimmung der An-
ſichten, Alle forderten das Recht der Bitten und Beſchwerden ſowie die
Steuerbewilligung, die Meiſten auch Theilnahme an der Geſetzgebung.
Dagegen bot die unfindbare Größe des deutſchen Geſammtſtaates ein be-
quemes Verſuchsfeld für dilettantiſche Schrullen und ſpielende Willkür;
für das große Vaterland erſchien keine Narrheit zu abgeſchmackt. Da
empfahl Profeſſor Lips in Erlangen ein Kaiſerthum, das unter den deut-
ſchen Fürſten aller fünf Jahre reihum gehen ſollte: — wie der Plump-
ſack, meinte Görres. Da ſendete ein hannoverſcher Staatsmann dem
Congreſſe den Entwurf einer deutſchen Bundesacte, die ſich bereits im
Artikel 7 zu dem geiſtreichen Satze erhob: „die große Frage, von welcher
alles Uebrige abhängt, beſteht aber darin: wie ſoll es künftig in Deutſch-
land werden und welche Verfaſſung ſoll es erhalten? Hic nodus Gordius.“


Neben den verworrenen Träumereien der Patrioten ließen ſich auch
ſchon wieder die begehrlichen Wünſche des Particularismus vernehmen.
Der geiſtreiche ſchwergelehrte Karl Salomo Zachariä, ein würdiger Ver-
treter jenes bedientenhaften alten Profeſſorenthums, das nun doch an-
fing ſeltener zu werden, hatte ſich bei ſeiner Berufung nach Heidelberg
ſofort aus einem unterthänigen Kurſachſen in einen unterthänigen Bade-
ner verwandelt und ſchrieb jetzt, ganz im Geiſte der Carlsruher Rhein-
bundsgeſinnung, einen „Entwurf zu dem Grundvertrage des deutſchen
Staatenbundes“. Keine Rede mehr von der tauſendjährigen Geſchichte
der deutſchen Nation; die ſouveränen Fürſten Deutſchlands können ſich
nur zum Zwecke der Sicherung der inneren Ruhe und zur Vertheidigung
gegen das Ausland verbinden; in allen anderen Angelegenheiten gilt das
liberum veto, dergeſtalt, daß Bundesbeſchlüſſe nur die Zuſtimmenden
[677]Particulariſtiſche Schriften. Thon.
verpflichten. Ueber dieſem Chaos ſteht ein Bundestag in Wien, geleitet
von dem Protector Oeſterreich und dem Erzkanzler Preußen. Noch deut-
licher ſprach jener Gehilfe Münſters, Sartorius in einer Flugſchrift, die
einen Sonderbund aller Mittel- und Kleinſtaaten empfahl. Das Aeußerſte
leiſtete ein in der diplomatiſchen Welt insgeheim verbreitetes Schriftchen
„Zum Wiener Congreß“, das wahrſcheinlich mit La Besnardieres Beihilfe
verfaßt war: hier ward ungeſcheut die Wiederherſtellung des Rheinbundes
für den Süden und Weſten angerathen, der Norden mochte ſich an Preußen
halten. Aber auch ein wohlgemeintes patriotiſches Buch („Ideen über
die Bildung eines freien germaniſchen Staatenbundes“) verlangte die
Bildung einer Foederation der Kleinſtaaten unter Baierns Führung. Der
Verfaſſer war wahrſcheinlich der Leipziger Buchhändler Baumgärtner,
Generalconſul des Königs von Preußen. Die unglaubliche Begriffsver-
wirrung der beiden nächſten Jahrzehnte kündigte ſich ſchon an in der
charakteriſtiſchen Thatſache, daß ſogleich nach dem Befreiungskriege ein
wackerer, verſtändiger Deutſcher in aller Unſchuld den preußiſchen Staat
als eine halbfremde Macht behandeln konnte!


Die altpreußiſchen Provinzen verhielten ſich gänzlich ſchweigſam in
dieſem Federkriege. Die Natur forderte ihre Rechte nach der krampfhaften
Anſpannung des ungleichen Kampfes; manche der Einſichtigen fühlten
wohl auch, daß der Traum des preußiſchen Kaiſerthums, der in den
Kreiſen der Freiwilligen ſo oft beſprochen worden, für jetzt ganz unmög-
lich blieb. Nur in den Deutſchen Blättern des wackeren Leipziger Buch-
händlers F. A. Brockhaus ward einmal eine Stimme laut, die den An-
ſprüchen Preußens einigermaßen gerecht wurde. Ein Artikel „Tantae
molis erit Germanam condere gentem“
zeigte mit einer damals uner-
hörten Nüchternheit: für den Einheitsſtaat, der unſer Ziel bleiben müſſe,
ſei der rechte Augenblick noch nicht gekommen; von der Erneuerung der
alten ſogenannten freien Foederativverfaſſung könne man aber nichts An-
deres erwarten als die Wiederkehr jener elenden Zeiten, da Deutſchland
„das allgemeine Wirths-, Werb- und Hurenhaus von ganz Europa war“.
Vorderhand bleibe den Deutſchen lediglich die Aufgabe, den Ausbau der
Freiheit im Innern zu ſichern, und in dieſer Hinſicht biete nur ein Staat
Grund zur Hoffnung: Preußen. Der alſo ſchrieb wagte noch kaum
zwiſchen den Zeilen anzudeuten, daß er von Preußen dereinſt auch die
Vollendung der nationalen Einheit erwartete.


Wie viel tapferer ging der Adjutant Karl Auguſts, der junge Thon
auf die Frage der deutſchen Zukunft los — derſelbe, der ſpäterhin als
Leiter des Weimariſchen Finanzweſens in der Geſchichte des Zollvereins
eine Rolle ſpielen ſollte. Er hatte unter den Lützow’ſchen Jägern mitge-
fochten und ſich die ſtolzen patriotiſchen Stimmungen der Kriegszeit auch
während des Congreſſes treu bewahrt. Als er nun das unvermeidliche
Mißlingen der Wiener Verhandlungen vor Augen ſah, ſchrieb er kurz,
[678]II. 1. Der Wiener Congreß.
ſcharf und ſicher einen Aufſatz: Was wird uns die Zukunft bringen?*)
und erwies, wie für jetzt doch nur ein ganz loſer Bund ohne Haupt zu
Stande komme; das alte Reich ſei todt für immer, alle Hoffnungen der
Nation beruhten fortan auf Preußens innerer Entwicklung. Möge dieſer
Staat ſich innerlich kräftigen, dann werde er ſtark genug ſein um der-
einſt die undeutſchen Mächte Oeſterreich und England aus unſerem Lande
hinauszuſchlagen, die Mittelſtaaten, Napoleons Gebilde, zu zertrümmern
und die geſammte Nation unter ſeiner Krone zu vereinigen. So die Ge-
danken eines deutſchen Soldaten im Mai 1815. Sie blieben den Zeitge-
noſſen verborgen wie jene Schrift Fichtes aus dem Sommer 1813; viel-
leicht daß einmal Karl Auguſt auf die Abhandlung ſeines jungen Adjutanten
einen Blick geworfen und darin einen Anklang an die Fürſtenbunds-
träume ſeiner eigenen Jugend erkannt hat. Wie unheimlich erſcheint
doch die ſchwerflüſſige Langſamkeit der nationalen Entwicklung neben den
raſchen Gedanken der kurzlebigen Einzelmenſchen! Vor hundertundfünfzig
Jahren gerade hatte Pufendorf die Bildung des Deutſchen Bundes vor-
ausgeſagt; jetzt endlich ward das Seherwort zur Wahrheit. Und wie viele
Jahrzehnte voll Sorge, Schmach und Arbeit ſollten abermals vergehen,
bis ſich erfüllte was dieſer neue namenloſe Prophet, allein unter allen
Zeitgenoſſen, vorher ſah: die Losreißung von Oeſterreich und die Einheit
Deutſchlands unter Preußens Krone!


Eine ſo verworrene öffentliche Meinung konnte den Cabinetten nicht
die Richtung auf beſtimmte Ziele geben; ſie bewirkte nur das Eine, daß
eine deutſche Bundesverfaſſung überhaupt zu Stande kam. Die öſter-
reichiſchen Staatsmänner hatten noch in Teplitz beabſichtigt, die deutſchen
Souveräne wie die italieniſchen lediglich durch eine Defenſiv-Allianz mit
der Hofburg zu verbinden. Aber ſchon während des Krieges war Metter-
nich zu der Einſicht gelangt, daß Angeſichts der hochgeſpannten Erwar-
tungen der deutſchen Nation irgend eine feſtere Form bündiſcher Verfaſ-
ſung gewährt werden müſſe. Deshalb, aus Furcht vor der Revolution,
gab er in Chaumont dem Drängen Hardenbergs nach und bewilligte die
Zuſage „eines foederativen Bandes“ für die deutſchen Staaten. Auch
darin zeigte ſich die Erſtarkung des neuen Deutſchlands, daß keine der
fremden Mächte in Wien den Anſpruch erhob unmittelbar in die deutſchen
Verfaſſungshändel einzugreifen. Für dieſe Arbeit, die ihm die heiligſte
aller irdiſchen Angelegenheiten blieb, ſetzte Stein die ganze Wucht ſeines
heroiſchen Willens ein. Mit heiligem Entſetzen ſahen die kleinen Fürſten
und Miniſter auf den unzähmbaren Mann, wie er einmal, die mächtigen
Augen funkelnd, die Naſe kreideweiß vor Zorn, dem bairiſchen Kronprinzen
die geballte Fauſt vor das Geſicht hielt. Doch was vermochte alle Leiden-
[679]Steins erſte Bundespläne.
ſchaft, alle Ausdauer gegenüber einer Aufgabe, die ſchon völlig unlösbar
geworden war durch den Dualismus der Großmächte, durch den böſen
Willen der Rheinbundshöfe und nicht am Wenigſten durch die allgemeine,
auch von Stein ſelber getheilte politiſche Unklarheit der Zeit?


Sobald der Reichsritter ſich überzeugte, daß Oeſterreich die Wieder-
annahme der Kaiſerwürde hartnäckig abwies, ließ er ſeine Teplitzer Pläne
fallen und arbeitete, noch in Chaumont am 10. März 1814, einen neuen
Bundesentwurf aus, welcher die executive Gewalt den vier größten deut-
ſchen Staaten zuwies. Sein Augenmerk war jetzt vornehmlich auf die
Beſchränkung des „Sultanismus“ der kleinen Despoten gerichtet; darum
Grundrechte, „Rechte der Deutſchheit,“ von Bundeswegen jedem Deutſchen
gewährleiſtet, und ein aus Abgeordneten der Fürſten und der Landtage
gemiſchter Bundestag. Im nächſten Sommer ward dieſer Entwurf von
Neuem umgeſtaltet und im Juli, bei einer Zuſammenkunft in Frankfurt,
mit dem Staatskanzler und dem Grafen Solms-Laubach eingehend be-
rathen. Widerſtrebend ergab ſich der Freiherr jetzt darein, die Abgeord-
neten der Landtage aus dem Bundestage auszuſchließen; bildet man den
Bundestag allein aus Fürſten, meinte er bitter, ſo vertraut man den
Schutz der landſtändiſchen Rechte gerade denen an, welche ein Intereſſe
haben ſie zu untergraben! Aber die Unmöglichkeit, bei Oeſterreich und
den Rheinbundshöfen ein deutſches Parlament durchzuſetzen ſprang in
die Augen, desgleichen die unbehilfliche Schwerfälligkeit einer allzu zahl-
reichen Bundesverſammlung ohne Haupt; auch ſchien es bei der Macht,
welche die Landesherren beſaßen, in der That unziemlich, ihre Vertreter
unter der Ueberzahl der Volksabgeordneten verſchwinden zu laſſen. Der
ſo naheliegende Gedanke, ein Staatenhaus für die Fürſten, ein Volkshaus
für die Vertreter der Nation zu bilden, tauchte noch nirgends auf; um
die Verfaſſung der nordamerikaniſchen Union hatte ſich noch Niemand in
Deutſchland ernſtlich bekümmert.


Den alſo umgebildeten Entwurf legte Hardenberg im September,
gleich nach ſeiner Ankunft in Wien, dem öſterreichiſchen Miniſter vor, und
ſeltſam genug war das Werk gerathen. Wie wunderlich hatten ſich doch
dieſe wohlmeinenden norddeutſchen Patrioten gedreht und gewendet um
die Quadratur des Cirkels zu finden und das kaum halbdeutſche Oeſter-
reich mit dem eigentlichen Deutſchland unter einen Hut zu bringen. Sie
erkannten richtig, daß Oeſterreich ſich einer irgend kraftvollen Bundesge-
walt nicht fügen konnte; jedoch da ſie von der völligen Gleichheit Oeſter-
reichs und Preußens wie von einem unantaſtbaren Glaubensſatze aus-
gingen, ſo verlangten ſie für das Haus Lothringen nicht jene privilegirte
Sonderſtellung zurück, welche die kaiſerlichen Erblande im alten Reiche
ſeit Jahrhunderten eingenommen hatten, ſondern ſchlugen vor: Oeſterreich
ſolle nur mit den Ländern weſtlich des Inns, Preußen nur mit den Pro-
vinzen links der Elbe in den engeren Bund eintreten, beide Mächte aber
[680]II. 1. Der Wiener Congreß.
für ihr geſammtes Gebiet eine ewige Allianz mit Deutſchland ſchließen.
Dabei war als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt, daß Oeſterreich ſeine ober-
rheiniſchen Provinzen doch noch wieder übernehmen würde. Auch die
Schweiz und die Niederlande beabſichtigte man zu einem ewigen Bündniß
einzuladen. Tragiſche Ironie des Schickſals! Unmittelbar nachdem die
Märker, Pommern, Preußen und Schleſier den anderen Deutſchen das
Signal gegeben hatten für den Kampf der Befreiung, dachte unſer erſter
Staatsmann alles Ernſtes dieſe Kernlande des neuen Deutſchlands vom
Deutſchen Bunde auszuſchließen.


In dies Deutſchland links der Elbe und des Böhmerwaldes wollte
Stein die Kreisverfaſſung des alten Reichs wieder einführen, damit die
unbrauchbaren Contingente der kleinſten Staaten zu leiſtungsfähigen
Maſſen zuſammengeballt würden. Daher ſieben Kreiſe, und wo möglich
noch die Niederlande als achter burgundiſcher Kreis. Oeſterreich und
Preußen übernehmen in je zwei Kreiſen, Baiern, Hannover, Württem-
berg in je einem das Amt des Kreisoberſten, die militäriſche Führung
und die Aufſicht über die Ausführung der Bundesgeſetze; die vormaligen
Kurfürſten von Baden und Heſſen erhalten in je einem Kreiſe die Stelle
des zweiten Kreisoberſten. Hier aber erhob ſich die peinliche Frage, ob
man dem unſteten Ehrgeiz des Münchener und Stuttgarter Hofes eine
verſtärkte Macht gewähren dürfe. Alle kleinen Nachbarn zitterten vor
der gewaltthätigen Ländergier des Königs Friedrich; die Hechinger Regie-
rung beſchwor die preußiſchen Staatsmänner beweglich*), doch ja dafür zu
ſorgen, daß ihr Ländchen nicht gänzlich von württembergiſchem Gebiete
umſchloſſen würde, ſondern durch badiſches Land hindurch einen freien
Zugang zum Bodenſee erhielte. Deshalb ſchlug Stein vor, dem bairiſchen
und ſchwäbiſchen Kreiſe ausſchließlich die Gebiete von Baiern und Würt-
temberg zuzuweiſen; die ſämmtlichen Kleinſtaaten wurden der Führung
der drei ſogenannten deutſchen Großmächte, Oeſterreich, Preußen, Eng-
land-Hannover untergeben. Dieſe ſieben vormaligen Kurfürſten bilden
zuſammen den Rath der Kreisoberſten, der die executive Gewalt, die aus-
wärtige Politik und das Kriegsweſen in ſeine Hand nimmt; kein Bundes-
ſtaat darf ſelbſtändig mit dem Auslande unterhandeln. Der Kurfürſten-
rath des alten Reichs, der ſelbſt in der Rheinbundsverfaſſung als Rath
der Könige fortbeſtanden hatte, ſollte alſo mit erhöhter Macht wieder auf-
leben. Stein wollte, wie alle preußiſchen Staatsmänner, ſo weit noch
möglich zurückkehren auf den Rechtsboden, welchen die Fürſtenrevolution
von 1803 geſchaffen hatte. Das Directorium im Rathe der Kreisoberſten
erhalten Oeſterreich und Preußen gemeinſchaftlich, dergeſtalt daß Oeſter-
reich wie vor Alters den Vorſitz führt, Preußen aber das eigentliche Direc-
[681]Vorverhandlungen zwiſchen Oeſterreich und Preußen.
torium, die Geſchäftsleitung übernimmt, wie einſt Kurmainz „Mund und
Feder“ des Regensburger Reichstags war. Die geſetzgebende Gewalt ſteht,
gemeinſam mit den Kreisoberſten, dem Rathe der Fürſten und Stände
zu, der alle mindermächtigen Fürſten, die freien Städte und die Media-
tiſirten umfaßt: jeder Stand, der ein Gebiet von mehr als 50,000 Köpfen
beſitzt, erhält eine Stimme, gleichviel ob er noch Souverän heißt oder
nicht, die übrigen zuſammen haben ſechs Curiatſtimmen.


Auf ſolche Weiſe wollte der Reichsritter den unglücklichen Opfern
des Staatsſtreichs von 1806 gerecht werden ohne ihnen doch die Landes-
hoheit zurückzugeben. Er machte ſeine preußiſchen Freunde wiederholt darauf
aufmerkſam, daß man die in ihrer Macht ſo ungleichen Mediatiſirten
nicht alle auf gleichen Fuß behandeln dürfe*); da ſei das Geſammthaus
Hohenlohe mit 106,000 Seelen, Fürſtenberg mit 83,000 und ſo abwärts
bis zu den Aspremonts, die ein Völkergewimmel von 195 Köpfen be-
herrſchten. Den beſten Theil des Entwurfs bildeten die Abſchnitte über
die Rechte der Nation: in jedem Bundesſtaate ſollen Landſtände beſtehen
mit dem Rechte der Steuerbewilligung, der Vertretung der Landesrechte,
der Mitwirkung bei der Geſetzgebung; jedem Deutſchen wird die Sicher-
heit des Eigenthums gewährleiſtet, desgleichen Preßfreiheit, das Recht der
Beſchwerde, das Recht in andere deutſche Staaten auszuwandern und ſich
auf jeder deutſchen Lehranſtalt zu bilden.


Als Hardenberg am 13. September in Baden bei Wien dieſen Plan
mit Metternich beſprach, zeigte ſich ſogleich, daß Oeſterreich einen ſo aus-
führlichen Entwurf nicht wünſchte. Die Hofburg war, wie Gentz ſeinem
Karadja geſtand, von vornherein geſonnen in Wien nur die allgemeinen
Grundzüge der Bundesverfaſſung feſtzuſtellen, alles Weitere dem Frank-
furter Bundestage zu überlaſſen; mehr als das ſchlechthin Unerläßliche
wollte ſie den Souveränen nicht zumuthen. Sodann verlangte Metter-
nich, daß Oeſterreich und Preußen mit allen ihren vormals „teutſchen
Ländern“ dem Bunde beiträten; nur die Wacht am Oberrhein wollte
Oeſterreich durchaus nicht wieder übernehmen Hardenberg gab um ſo
leichter nach, da durch Oeſterreichs Vorſchlag der Rechtsboden von 1803
wiederhergeſtellt wurde. Mit Behagen erzählten die k. k. Diplomaten
ihren Vertrauten, daß nunmehr der Kaiſerſtaat in allen Kriegsfällen,
etwa die italieniſchen Händel ausgenommen, auf die Heeresfolge Deutſch-
lands rechnen könne; lägen doch irgendwo in Galizien zwei alte ſchleſiſche
Lehen, die ſogenannten Herzogthümer Zator und Auſchwitz, folglich ſei
der Deutſche Bund auch zur Vertheidigung des öſterreichiſchen Polens
verpflichtet! Welche Provinzen der beiden Großmächte als teutſche Länder
zu betrachten ſeien, das hatte freilich in jener confusio divinitus ordi-
nata,
die ſich römiſches Reich nannte, Niemand zu ſagen gewußt, und
[682]II. 1. Der Wiener Congreß.
auch jetzt kam man darüber nicht ins Klare; die Frage ward erſt vier
Jahre ſpäter, auf dem Papiere mindeſtens, entſchieden. Sicher war nur,
daß mit dem Eintritt der Hauptmaſſe Cisleithaniens jede ernſthafte
Bundesverfaſſung unmöglich wurde, und eben dahin ging Metternichs
Abſicht.


Endlich ſtellte der öſterreichiſche Miniſter ſeinem preußiſchen Freunde
eindringlich vor, wie ſchwerfällig das zweiköpfige Directorium ſei; wie viel
einfacher, wenn Oeſterreich, das doch nicht auf alle ſeine alten Kaiſerrechte
verzichten könne, allein den Vorſitz übernähme; alle deutſchen Geſchäfte
würden ja doch im Voraus vertraulich zwiſchen den beiden führenden
Großmächten vereinbart werden; auch ſei unter dem Präſidium „blos
eine formelle Leitung der Geſchäfte zu verſtehen“. Hardenberg gab nach.
Ebenſo blind wie er einſt in den Anfängen ſeiner diplomatiſchen Lauf-
bahn an Frankreichs Freundſchaft geglaubt hatte vertraute er jetzt auf
Oeſterreich; er wollte die Möglichkeit eines Streites zwiſchen den beiden
Mächten nicht mehr zugeben und bemerkte nicht, welchen Vortheil in
ſolchem Falle das Recht des Vorſitzes bot.*) Nunmehr wurde der Ent-
wurf nach Oeſterreichs Wünſchen abgeſchwächt und verkürzt, bis ſeine
41 Artikel zu zwölf zuſammengeſchrumpft waren. Dieſe zwölf Artikel
legten die beiden führenden Staaten am 14. October dem Fünfer-Aus-
ſchuſſe vor, der nach dem Beſchluſſe der europäiſchen Mächte über die
deutſche Verfaſſung berathen ſollte. Das Schickſal des Deutſchen Bundes
ward alſo allein in die Hände von Oeſterreich, Preußen, England-Hanno-
ver, Baiern und Württemberg gegeben; den übrigen Staaten blieb nur
die nachträgliche Zuſtimmung vorbehalten.


Offenbar war dieſer Verſuch der Bildung einer deutſchen Pentarchie
nur ein willkürlicher Nothbehelf der Verlegenheit; denn wollte man ſich
an das hiſtoriſche Recht, an die alten Prärogativen des Kurfürſtenrathes
halten, ſo durfte man die Kurhäuſer Baden und Heſſen nicht ausſchließen.
Um die Willkür zu beſchönigen berief ſich Metternich auf jene Clauſel der
Acceſſionsverträge, welche die Kleinſtaaten von Baden abwärts verpflichtete
ſich den Anforderungen der künftigen Bundesverfaſſung zu fügen; aber
durch dieſe Zuſage war das Recht der Mitberathung keineswegs aus-
geſchloſſen. Der wirkliche Beweggrund für das eigenmächtige Vorgehen
[683]Der deutſche Fünfer-Ausſchuß.
der beiden Großmächte war lediglich die diplomatiſche Convenienz; ſie
hielten für unmöglich durch eine Verhandlung mit allen deutſchen Staaten
irgend ein Ergebniß zu erzielen. Der Erfolg lehrte jedoch, daß in dem
wunderbaren Wirrſal der deutſchen Politik das Leichte oft ſchwer und das
Unwahrſcheinliche möglich iſt. Die Bundesverfaſſung kam erſt zu Stande
als man den bunten Haufen der geſammten Kleinſtaaten zur Berathung
heranrief. Die Verhandlungen des Fünfer-Ausſchuſſes dagegen, die ſich
in dreizehn ſtürmiſchen Sitzungen bis zum 16. November hinzogen, ver-
liefen ohne jedes Ergebniß; denn unter den auserwählten fünf Staaten
tagten die beiden boshafteſten Feinde der deutſchen Einheit, Baiern und
Württemberg.


Sie hatten beide, Baiern ohne jede Bedingung, Württemberg unter
einem nichtsſagenden Vorbehalt, die volle Souveränität zugeſichert erhal-
ten; ermuthigt durch die unbillige Gunſt, welche ihnen die Großmächte
gewährten, entfalteten ſie ſofort, wie Stein entrüſtet ſagte, ihr Syſtem
„der Vereinzelung gegen den Bund, des Ehrgeizes gegen die Kleinſtaa-
ten, des Despotismus gegen das eigene Land.“ Ihre Abſicht war, wie
die preußiſchen Staatsmänner ſogleich erriethen, die Entſcheidung der
deutſchen Verfaſſungsfrage ſo lange hinauszuſchieben, bis ihre eigenen
Gebietsanſprüche nach Wunſch erledigt ſeien.*) Mit ſeiner gewohnten
brutalen Grobheit verſicherte Wrede ſofort, die europäiſche Macht Baiern
habe gar kein „perſönliches Intereſſe“ an dem Deutſchen Bunde, ſie
könne durch Anſchluß an Frankreich weit größere Vortheile erlangen und
wolle nur aus freundlicher Nachgiebigkeit gegen den allgemeinen Wunſch
dem Vereine der deutſchen Souveräne beitreten. Noch nach dem Congreſſe
geſtand Montgelas dem preußiſchen Geſandten von Küſter „ſeine äußerſte
Gleichgiltigkeit gegen den Deutſchen Bund: warum ſollten denn die
deutſchen Staaten nicht wie die italieniſchen ganz ſelbſtändig neben ein-
ander leben, verbunden nur durch gute Nachbarſchaft und gegenſeitige
freie Convenienz?“**)


Nichts lag den preußiſchen Staatsmännern ferner als eine radicale
unitariſche Politik. Während in Steins Augen der Einheitsſtaat immer
das Ideal blieb, theilten Hardenberg und Humboldt aus voller Ueber-
zeugung den allgemeinen Glauben an die culturfördernde Macht der
Kleinſtaaterei. Kneſebeck führte in ſeiner doctrinären Weiſe wiederholt
den Gedanken aus, Deutſchland werde nur durch die Buntheit ſeiner
politiſchen Zuſtände fähig den Mittelpunkt Europas zu bilden; er wollte
„dies Centrum als Palladium für die freie Aſſociation und Erhal-
tung des Gleichgewichts auch dadurch ſtempeln, daß es Beides auch
in ſich darſtellen ſoll.“***) Aber wie beſcheiden auch die Wünſche der
[684]II. 1. Der Wiener Congreß.
Preußen waren, der frivole Hohn gegen Deutſchland, welchen Wrede zur
Schau trug, erregte doch ihren Zorn. Der Baier erklärte kurzab, ſein
König ſei nicht gewillt, „ſich der Ausübung irgend eines Regierungsrechtes,
das der Souveränität anhängt, zu begeben,“ am Allerwenigſten der Be-
fugniß, nach Belieben mit dem Auslande Bündniſſe abzuſchließen; denn
an dieſem Rechte finde der bairiſche Nationalſtolz Gefallen; verzichte man
darauf, ſo „verliere Baiern an Achtung und Würdigkeit bei den Aus-
wärtigen“. Für die fünf Kreisoberſten verlangte er vollſtändige Parität,
alſo ein jährlich wechſelndes Directorium. Darum wünſchte er auch mög-
lichſt wenige Provinzen Oeſterreichs und Preußens in den Bund aufzu-
nehmen; jedenfalls dürften die beiden Großmächte nur ebenſo viel Truppen
zum Bundesheere ſtellen wie Baiern.


So enthüllte ſich zum erſten male die Abſicht der Mittelſtaaten das
deutſche Heer, aus Eiferſucht gegen die Großmächte, zu ſchwächen — eine
Politik des Neides, die ſelbſt in der polniſchen Geſchichte kein Seitenſtück
fand und nach Jahren in der lächerlichen Kriegsverfaſſung des Deutſchen
Bundes ihre Abſichten durchſetzen ſollte. Noch frecher als die Baiern ſprachen
die württembergiſchen Bevollmächtigten; ſie rührten durch ihre herausfor-
dernden Reden den ganzen eklen Bodenſatz der alten Rheinbundsgeſinnung
wieder auf. Von Grundrechten der Nation wollten ſie ſchon darum nichts
hören, weil der Stuttgarter Hof das Daſein einer deutſchen Nation nicht an-
erkannte. Eine ſchamloſe Geſchichtsverfälſchung, die bereits in den Schulen
der Rheinbundsſtaaten ihr Gift zu ſäen begann, leugnete kurzerhand Alles
ab was den Deutſchen durch Jahrhunderte gemeinſam geweſen, ließ aus
der geſammten Vorzeit unſeres Volkes nichts gelten als die acht Jahre
der napoleoniſchen Anarchie. „Der Zweck des Bundes, erklärte Miniſter
von Linden trocken, widerſpricht der Abſicht, aus verſchiedenen Völker-
ſchaften, z. B. Preußen und Württembergern, ſo zu ſagen eine Nation zu
bilden!“ Dagegen zeigte der Stuttgarter Hof einen ſehr verdächtigen
Eifer für die Kreisverfaſſung. Er wünſchte, daß allein die Kreisoberſten
Mitglieder des Bundes werden, alle anderen Fürſten ſich nur als unter-
gebene Kreisſtände „den fünf Mächten“ anſchließen ſollten, und verlangte
vornehmlich Vergrößerung der ſüdweſtdeutſchen Kreiſe, damit König Fried-
rich den erſehnten neuen Landgewinn auf einem Umwege erlangen und
über vier Millionen mittelbarer oder unmittelbarer Unterthanen das Schwert
des Kreisoberſten ſchwingen konnte.


Die preußiſchen Bevollmächtigten führten den Kampf gegen dies un-
würdige Treiben in erſter Reihe; ſelbſt Metternich ſah nicht ohne Sorge,
daß die zu Ried und Fulda geſtreute Saat doch gar zu üppig auf-
ging, und konnte nicht umhin ſeinen ſüddeutſchen Schützlingen zuweilen
zu widerſprechen, namentlich wenn ſie den Rechten ſeiner Standesge-
noſſen, der Mediatiſirten zu nahe traten. Münſter endlich ergriff begierig
die Gelegenheit um das Licht der gerühmten welfiſchen Freiheit vor aller
[685]Auflöſung des Fünfer-Ausſchuſſes.
Welt leuchten zu laſſen. Sein Prinzregent theilte ſoeben in einem hoch-
müthigen Rundſchreiben den europäiſchen Höfen die Gründung des König-
reichs Hannover mit und ſtellte die fragwürdige Behauptung auf, „durch
ſeine Verbindung mit Großbritannien habe das welfiſche Haus dem
deutſchen Vaterlande vielfältig Schutz und Unterſtützung angedeihen laſſen.“
In dem gleichen prahleriſchen Tone ſchrieb Münſter eine Note zur Be-
kämpfung der Doctrinen des württembergiſchen Sultanismus; er wies
nach, daß die Rechte der Landſtände durch die Souveränität der kleinen
Kronen keineswegs hinfällig geworden ſeien, und ward von der urtheils-
loſen öffentlichen Meinung wegen ſeiner edlen liberalen Geſinnung hoch
geprieſen, während er doch in Wahrheit nur für das Ständeweſen des
hannoverſchen Adelsregiments eine Lanze gebrochen hatte. Die Lage der
Dinge im Fünfer-Ausſchuß geſtaltete ſich bald ſo hoffnungslos, daß Stein
im äußerſten Unmuth den Czaren zu Hilfe rief. Alexander ließ mit
warmen Worten ſeine Zuſtimmung zu den Vorſchlägen der deutſchen
Großmächte ausſprechen und mahnte die deutſchen Staaten an die Ver-
heißungen der Kaliſcher Proclamation. Der Stuttgarter Despot aber
konnte die frevelhaften Angriffe auf die Vollgewalt ſeiner Rheinbunds-
krone nicht länger mehr mit anſehen; „man wird ſich bald ſchämen müſſen
ein Württemberger zu ſein“ — hörte man ihn ſchelten. Am 16. November
erklärte Württemberg ſeinen Austritt aus dem Rathe der Fünf, und vor
den Augen des ſpottenden Europas ging die deutſche Pentarchie an ihrer
Uneinigkeit zu Grunde.


Unterdeſſen hatten ſich auch die kleinen Staaten geregt, mit Recht
erbittert über die angemaßte Fünfherrſchaft. Baden, das vergeblich Ein-
laß in den Rath der Fünf verlangt hatte, überreichte an demſelben
Tage, da Württemberg ausſchied, eine förmliche Verwahrung, welche dem
Großherzog alle Rechte der unbeſchränkten Souveränität vorbehielt. Die
bonapartiſtiſche Geſinnung des Miniſters von Hacke verſchmähte die ge-
häſſigſten Worte nicht: nicht darum habe ſein Großherzog fremde Ketten
abgeſtreift um vielleicht eigene zu tragen. Gagern aber verſammelte die
Vertreter der meiſten Kleinſtaaten, von Kurheſſen abwärts, um ſich und
ſtellte ihnen die Nothwendigkeit vor, den Großen „fühlbar zu machen, daß
wir da ſind und unſer Handwerk wohl verſtehen.“ Eine überaus gemiſchte
Geſellſchaft fand ſich hier zuſammen: ehrliche, einſichtige Patrioten wie
Smidt und der Mecklenburger Pleſſen, verſtockte Particulariſten wie der
Naſſauer Marſchall, endlich Phantaſten wie Gagern ſelber, der nicht die
rheinbündiſche Geſinnung Baierns und Württembergs fürchtete, ſondern
„die verhüllte Zweiherrſchaft“ Oeſterreichs und Preußens. Manche der
Theilnehmer beſtimmte lediglich die Eiferſucht gegen die Mediatiſirten; ſie
wollten ſich nicht überbieten laſſen von dieſen Entthronten, die als conſe-
quente Legitimiſten für alle Kleinodien aus des heiligen Reiches Rumpel-
kammer ſich begeiſterten und den Kaiſer Franz mit Bitten um die Wie-
[686]II. 1. Der Wiener Congreß.
derannahme der Karolingerkrone beſtürmten. Einig waren die Kleinſtaaten
vorderhand nur in dem Wunſche die Fünfherrſchaft zu brechen.


Immerhin zeigten die kleinen Höfe auch diesmal, wie ſo oft in der
älteren Reichsgeſchichte, doch etwas mehr vaterländiſchen Sinn als die
Mittelſtaaten; mehrere unter ihnen wünſchten, im Bewußtſein der eigenen
Ohnmacht, ernſtlich eine ſtarke Reichsgewalt, die ſie gegen den Ehrgeiz der
größeren Nachbarn beſchützen ſollte. Daher entſchloß ſich Stein dieſe klein-
fürſtliche Oppoſition für ſeine patriotiſchen Zwecke zu benutzen; er ſchob
den vielgeſchäftigen Gagern geſchickt zur Seite und bewog den Verein der
neunundzwanzig kleinen Fürſten und Städte am 16. November, an dem-
ſelben Tage, da Württemberg ausſchied, den beiden führenden Mächten
eine Collectivnote zu überreichen. Darin wurden Oeſterreich und Preußen
gebeten, ſämmtlichen deutſchen Staaten einen neuen Verfaſſungsplan „auf
der Baſis gleicher Rechte und einer vollſtändigen Repräſentation aller
Bundesglieder“ vorzulegen; an die Spitze des Bundes aber müſſe ein
Kaiſer „als teutſcher Freiheit Aegide“ treten. So luftig und unklar dieſer
Kaiſerplan erſchien und ſo gewiß mehrere der Unterzeichner den Kaiſer-
gedanken lediglich als einen frivolen Vorwand gebrauchten um nur der
Fünfherrſchaft ledig zu werden, ebenſo gewiß enthielt die Erklärung der
Kleinſtaaten einige ehrenwerthe beſtimmte Zugeſtändniſſe: ſie erboten ſich
namentlich, den Landtagen ein von Bundeswegen feſtzuſtellendes Minimum
landſtändiſcher Rechte zu gewähren.


Alſo zugleich von Innen und Außen angegriffen brach die deutſche
Pentarchie zuſammen. Einige Monate lang beſtand gar kein deutſcher Ver-
faſſungsausſchuß mehr. Der Boden war frei für willkürliche Pläne jeder
Art; Gagern und Pleſſen ſprachen bereits von einem Bunde der Mittel-
und Kleinſtaaten ohne Oeſterreich und Preußen, aber mit Dänemark und
den unvermeidlichen Niederlanden. Münſter erwiderte den Kleinſtaaten
im Namen der Großmächte, erkannte ihre patriotiſchen Abſichten wohl-
wollend an und erklärte beſtimmt, die Wiederaufrichtung des Kaiſerthums
ſei, Angeſichts der Weigerung Oeſterreichs, ganz unmöglich. Die Rhein-
bundsgeſinnung dagegen, welche ſich in den Noten Württembergs und Ba-
dens ſo ſchamlos ausgeſprochen hatte, wollten die Großmächte nicht unge-
rügt hingehen laſſen. Oeſterreich und England-Hannover hofften in jenem
Augenblicke noch, den preußiſchen Hof von Rußland abzuziehen und kamen
darum in den deutſchen Händeln den Anſichten Preußens mit einer Be-
fliſſenheit, die ſie freilich zu nichts Ernſtlichem verpflichtete, entgegen.
Münſter entwarf für Preußen und Oeſterreich eine identiſche Note, welche
dem badiſchen Hofe übergeben werden ſollte. In einer unerhört ſcharfen
Sprache hielt er der Carlsruher Regierung ihr Sündenregiſter vor, alle
ihre Bedrückungen gegen das eigene Volk, „Maßregeln, die unter die will-
kürlichſten des franzöſiſchen Revolutionsſyſtems gerechnet werden müſſen.“
Dann wird der wichtige Grundſatz aufgeſtellt, daß es den deutſchen
[687]Urſprung der ſüddeutſchen Verfaſſungen.
Staaten keineswegs frei ſtehe, ob ſie dem Bunde beitreten wollten oder
nicht. Die Großmächte berufen ſich nicht auf den tauſendjährigen, niemals
rechtsgiltig aufgehobenen Beſtand des Deutſchen Reichs; ſie halten ſich
an das Nächſtliegende, an die Acceſſionsverträge des vergangenen Jahres:
alle der großen Allianz Beigetretenen ſeien gebunden an die Kaliſcher
Proclamation, die dem deutſchen Volke die Wiederaufrichtung ſeiner Ver-
faſſung „unter nöthigen Modificationen“ zuſage. „Die Garantie, welche
die alliirten Mächte über die Souveränität Badens ertheilt haben, kann
nicht auf unbedingte Befugniſſe gedeutet werden, welche Seiner K. Hoheit
niemals zugeſtanden haben und welche mit den Abſichten geradezu ſtreiten
würden, welche der deutſchen Nation von Seiten der alliirten Mächte
als Zwecke des Kriegs, zu deſſen glücklicher Beendigung ihre Vaterlands-
liebe und ihr auf dieſe Zuſicherung geſtützter Muth ſo Vieles beige-
tragen hat, bekannt gemacht worden ſind.“*) Im letzten Augenblicke
wurde Metternich bedenklich; ein ſolcher Ton erſchien ihm zu ſchroff.
Man begnügte ſich dem badiſchen Miniſter mündlich die Meinung der
Großmächte mitzutheilen. Dagegen wurde dem württembergiſchen Hofe
am 24. November eine gemeinſame Antwort übergeben, welche, obſchon
in etwas milderer Form, dem Münſter’ſchen Entwurfe entſprach und ſehr
nachdrücklich erklärte: alle deutſchen Staaten ſind verpflichtet dem Bunde
beizutreten. Es war, als ob Stein ſelber den Großmächten die Feder
geführt hätte; ſchade nur, daß weder Metternich noch Münſter ernſtlich
gewillt war den ſchönen Reden die That folgen zu laſſen.


Die Auflöſung des Fünfer-Ausſchuſſes wurde folgenreich für viele
Jahre, denn ſie gab den Anlaß für die Begründung der conſtitutionellen
Staatsformen in Süddeutſchland. Aus den gemeinſten Beweggründen,
aus Souveränitätsdünkel und particulariſtiſcher Angſt vor der Einmiſchung
der Bundesgewalt entſchloſſen ſich die Cabinette der drei Mittelſtaaten
des Südens, auf eigene Fauſt das Nothwendige zu thun und ihren Lan-
den das Repräſentativſyſtem zu gewähren. Sie waren dazu auch leichter
im Stande als Preußen, da ihre napoleoniſche Präfectenverwaltung bereits
zehn Jahre Zeit gehabt hatte um alle Landestheile einer gleichmäßigen
Ordnung zu unterwerfen und jede centrifugale Kraft zu bändigen. König
Max Joſeph hatte ſchon im September eine Durchſicht der papiernen Ver-
faſſung von 1808 angeordnet; ſobald er dann in Wien wahrnahm, daß die
Großmächte den Souveränen ein Minimum landſtändiſcher Rechte von
Bundeswegen auferlegen wollten, befahl er ſeiner Reviſionscommiſſion im
October ihre Arbeiten ſchleunigſt zu beendigen. Friedrich von Württemberg
ließ ſeine Miniſter, in einer ungezogenen Replik vom 24. November, die
unantaſtbare Allmacht der ſchwäbiſchen Königskrone nochmals vertheidigen,
er wetterte und tobte wider die Anmaßung der Großmächte und verließ
[688]II. 1. Der Wiener Congreß.
Wien ſchon um Weihnachten hoch entrüſtet. Gleichwohl entging ſeiner
Klugheit nicht, daß es zu Ende war mit den guten Tagen der ungeſtörten
Selbſtherrlichkeit. Die Schwaben erkannten den brutalen Tyrannen kaum
wieder, ſo ſanft und gnädig trat er nach ſeiner Heimkehr plötzlich auf, ſo
ſichtlich bemühte er ſich Frieden zu halten mit ſeinem Volke; von Napo-
leon wollte er gar nichts mehr hören, doch ebenſo beſtimmt ſprach er aus,
daß er niemals irgend einer Weiſung aus Wien gehorchen werde.*) Am
11. Januar 1815 überraſchte er ſein unglückliches Land durch eine Procla-
mation, welche die nahe Einberufung eines Landtags ankündigte: der
König gewähre dieſe längſt beabſichtigte Wohlthat ſchon jetzt, um zu be-
weiſen, „daß nicht eine äußere Nothwendigkeit oder eine gegen Andere
eingegangene Verbindlichkeit“ ihn zwinge. Damit glaubte er dem Deut-
ſchen Bunde ein Schnippchen geſchlagen zu haben; er ahnte nicht, wie
bald ſein mißhandeltes Volk ſelber ein furchtbares Strafgericht über die
Sünden des letzten Jahrzehntes halten würde. Auch dem kranken Groß-
herzog Karl von Baden fehlte es nicht an Verſtand. Die herriſchen
Mahnungen der Großmächte ſchreckten ihn aus ſeinem dumpfen Brüten
auf; ſchon am 1. December ließ er dem preußiſchen Staatskanzler in
einer verbindlichen Note anzeigen, er ſei bereit ſeinem Volke alle die
in dem preußiſchen Bundesplane geforderten landſtändiſchen Rechte zu
gewähren und habe bereits eine Verfaſſungscommiſſion eingeſetzt. Aus
ſo trüben Quellen entſprang die conſtitutionelle Bewegung in Süddeutſch-
land; doch da ſie der Natur der Dinge entſprach, ſo nahm ſie ihren Fort-
gang auch als die kleinen Kronen von dem Deutſchen Bunde nichts mehr
zu fürchten hatten.


In jenem Augenblicke war die Beſorgniß der Mittelſtaaten keineswegs
grundlos, denn die preußiſchen Staatsmänner betrieben, ungeſchreckt durch
den Zerfall des Fünfer-Ausſchuſſes, das deutſche Verfaſſungswerk mit
rührigem Eifer. Die nationale Politik war ihnen Herzensſache; wiederholt
hatten ſie dem vaterlandsloſen Gerede der Baiern und Württemberger die
Erklärung entgegengehalten: ihr König betrachte es „als ſeine Regenten-
pflicht, ſeine Unterthanen wieder in eine Verbindung zu bringen, wodurch
ſie mit Deutſchland eine Nation bilden.“ Humboldt ſchritt ſofort an die
Ausarbeitung eines neuen Entwurfs; da ſtieß er auf eine ganz unerwartete
neue Schwierigkeit. Der öſterreichiſche Miniſter nämlich, der bisher für
die Kreisverfaſſung geſprochen hatte, ward plötzlich anderen Sinnes. Er
errieth, was allerdings ſehr nahe lag, daß die kleinen norddeutſchen Con-
tingente, dem preußiſchen Kreisoberſten untergeordnet, unfehlbar in der
preußiſchen Armee verſchwinden würden; und da er bei dem deutſchen
Verfaſſungswerke, das ihn im Uebrigen völlig kalt ließ, nur den einen
Zweck verfolgte die Macht Preußens zu beſchränken, ſo erklärte er ſich
[689]Preußiſche Entwürfe im December.
jetzt gegen jede Kreiseintheilung. Auch Münſter ſtimmte dem öſterreichi-
ſchen Freunde bei, ſobald dieſer ihm das Schreckgeſpenſt der norddeutſchen
Hegemonie vor die Augen hielt.


So geſchah es, daß Humboldt jetzt gleichzeitig zwei Entwürfe für
die Bundesacte ausarbeiten mußte, den einen mit, den anderen ohne
Kreiſe; in beiden waren die weſentlichen Grundgedanken der Zwölf Ar-
tikel beibehalten. Am 9. December erörterte der Raſtloſe in einer Denk-
ſchrift die Vorzüge der Kreisverfaſſung: ſie ſei unentbehrlich um den
kleinſten Staaten einen geordneten Inſtanzenzug für ihr Gerichtsweſen
zu ſichern und die militäriſche Kraftanſpannung ſchon im Frieden vor-
zubereiten; das Gegentheil ging nur an unter „dem bonapartiſtiſchen
Syſteme“, das in beſtändigem Kriegszuſtande lebte und vor keinem
Mittel zurückſchrak. Zugleich verſucht er den Klagen der Kleinſtaaten
über Unterdrückung zu begegnen und ſchlägt vor, außer Baden und
Kurheſſen noch drei jährlich wechſelnde Mitglieder des Fürſtenrathes in
den Rath der Kreisoberſten aufzunehmen.*) Zwei Tage ſpäter über-
ſandte er die vollendeten Entwürfe dem Staatskanzler, betonte nochmals,
wie wichtig die Kreisverfaſſung für Preußens zerſtückelte Lage ſei, rieth
aber trotzdem nicht allzu ängſtlich auf dieſer Forderung zu beſtehen, denn
unſere Stärke in Deutſchland werde immer zum Theil eine moraliſche
ſein, und viel komme darauf an, „daß Preußen den kleinen Fürſten nicht
als eine Gefahr, ſondern als ein Schutz erſcheine.“ Jetzt endlich, nach
faſt drei Monaten fruchtloſer Verhandlungen, ſtieg dem geiſtvollen Manne
eine Ahnung, aber auch nur eine Ahnung auf von Oeſterreichs bundes-
freundlichen Abſichten. „Man hat uns, ſchrieb er, gern bei der deutſchen
Verfaſſungsangelegenheit vorangeſtellt und uns leicht und gern in Allem
nachgegeben, weil man es lieber mochte, wenn lieber wir (da man auch
von uns wußte, daß wir immer eine feſte und kräftige Verfaſſung wollen
würden) den Fürſten, denen allen die Feſſeln einer Conſtitution läſtig
ſind, unangenehm würden und gefährlich erſchienen.“ Daß aber die Hof-
burg ſelber eine feſte und kräftige Verfaſſung nicht wollen konnte, war
ihm noch immer nicht klar geworden; vielmehr hoffte er ſich raſch mit
Oeſterreich und Hannover über einen der beiden Entwürfe zu verſtändigen
und etwa in acht Tagen die Verhandlungen mit Baiern und Württem-
berg wieder aufzunehmen.**) Während die preußiſchen Staatsmänner
alſo, treufleißig und arglos, Waſſer in das deutſche Danaidenfaß ſchöpften,
verhandelte Metternich mit Münſter insgeheim über den Plan eines Deut-
ſchen Bundes ohne Preußen!


Stein verſah die Arbeit Humboldts mit ſeinen Bemerkungen, for-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 44
[690]II. 1. Der Wiener Congreß.
derte höhere Rechte für die Mediatiſirten und die Reichsritter, aber auch
ein reicheres Maß von Volksrechten, namentlich die Aufhebung der Leib-
eigenſchaft und des Dienſtzwanges ſowie die Ablöſung der Frohnden in
ganz Deutſchland. Ernſtlichen Anſtoß nahm Stein allein daran, daß Hum-
boldt, aus Rückſicht auf Oeſterreich, die Beſtimmungen über die Landtage
abgeſchwächt und den Landſtänden nur noch eine berathende Stimme ein-
geräumt hatte. „Das iſt ein Rieſenſchritt rückwärts, erwiderte der Frei-
herr. Preußen hat unter allen Ländern am Wenigſten Urſache ihn zu
thun und zu veranlaſſen. In dieſem Staate vereinigen ſich alle Elemente,
die eine ruhige, verſtändige Bewegung kräftig organiſirter Landſtände ver-
bürgen: Nationalität, Gewohnheit und erprobte Bereitwilligkeit Abgaben
zu leiſten, Opfer zu bringen, Beſonnenheit und geſunder Menſchenver-
ſtand, allgemeine Bildung. Oeſterreich kann aus vielen Gründen nicht
gleiche Grundſätze ausſprechen, wegen der Fremdartigkeit ſeiner Beſtand-
theile, dem niederen Zuſtande ſeiner allgemeinen Bildung, den Maximen
ſeiner Regierung und Regenten, und es mag aus dieſen Gründen eine
Ausnahme machen. Man überlaſſe es ihm ſich auszuſprechen.“*) Alſo
ſah ſich ſelbſt dieſer feurige Parteigänger des lothringiſchen Kaiſerthums
genöthigt eine Ausnahmeſtellung für Oeſterreich zu fordern ſobald auf
die praktiſchen Folgen des bündiſchen Lebens die Rede kam.


Alle die ſaueren Mühen dieſer Decemberwochen blieben für jetzt
verlorene Arbeit. Denn mittlerweile verſchärfte ſich der Streit um die
ſächſiſch-polniſche Frage, die drohende Kriegsgefahr nahm Aller Gedanken
in Anſpruch, und während der erſten Hälfte des Januars rückte das
deutſche Verfaſſungswerk keinen Schritt von der Stelle. Sobald die Luft
etwas reiner ward, kehrte Humboldt ſofort wieder zu ſeinem Schmerzens-
kinde zurück. Er hatte inzwiſchen mit dem wohlmeinenden Weimariſchen
Miniſter von Gersdorff viel verkehrt, die Wünſche der Kleinſtaaten näher
kennen gelernt und die Ueberzeugung gewonnen, daß ſich ſeit der Auf-
löſung des Reichs an den deutſchen Höfen ein ungeheurer Dünkel, mit
dem man rechnen mußte, gebildet hatte. Jene Abſtufungen des Ranges
und des Rechtes, die in der alten Reichsverfaſſung beſtanden, waren
vergeſſen; die neuen Souveräne fühlten ſich einander ſchlechthin gleich.
Sollte die Bundesacte überhaupt zu Stande kommen, ſo durfte den
Kleinſtaaten keine allzu auffällige formelle Unterordnung unter die grö-
ßeren Genoſſen zugemuthet werden; denn, meinte Gersdorff mit jener
kindlichen Unſchuld, die von jeher das Vorrecht unſerer kleinſtaatlichen
Diplomaten war: „man liebt den Schein der Freiheit ſelbſt wenn man
ihr Weſen nicht zu beſitzen vermag.“**) Zudem fiel jeder Grund für die
Bildung eines Kreisoberſtenrathes hinweg, wenn man die Kreiseintheilung
[691]Wiederaufnahme der Verhandlungen.
ſelber bei der Hofburg nicht durchſetzen konnte. Nach der Haltung, welche
die Mittelſtaaten im Fünfer-Ausſchuß und in den ſächſiſchen Händeln
eingenommen hatten, ſchien es auch ſehr zweifelhaft, ob ein Rath von
fünf, ſieben oder zehn Staaten die executive Gewalt des Bundes ein-
trächtiger, wirkſamer handhaben würde als ein aus allen Staaten gebil-
deter Bundestag.


Daher erwog Humboldt mit dem Staatskanzler ſchon im Januar
die Frage, ob man nicht, Angeſichts der Verſtimmung der Kleinſtaaten,
beſſer thue die zwei Räthe fallen zu laſſen und ſtatt ihrer eine einzige
Bundesverſammlung zu bilden, welche die laufenden Geſchäfte in einem
engeren Rathe, wichtigere Fragen im Plenum zu erledigen hätte; in dem
Plenum ſollten alle Staaten mindeſtens eine Stimme, die Mediatiſirten
einige Curiatſtimmen erhalten. Bei der grenzenloſen Eiferſucht Aller
gegen Alle erſchien die nahezu vollſtändige Parität als das einzige
Mittel um nur irgend eine Form bündiſcher Einheit zu erreichen. Die
beiden Staatsmänner entwarfen ſodann eine Note an Metternich, baten
um die beſtimmte Erklärung: ob der kaiſerliche Hof die Kreisverfaſſung
endgiltig ablehne? und ob er die Bildung eines einfachen Bundestages,
ſtatt der zwei Räthe, genehmige? Dann könne ein neuer Entwurf aus-
gearbeitet werden. Preußen ſei zu jedem Zugeſtändniß bereit: „nur drei
Punkte ſind es, von denen man nicht abgehen kann: eine kraftvolle
Kriegsgewalt, ein Bundesgericht und landſtändiſche, durch den Bundes-
vertrag geſicherte Verfaſſungen. Ohne das Bundesgericht würde es dem
Rechtsgebäude in Deutſchland an dem letzten und nothwendigſten Schluß-
ſteine mangeln.“*) Es waren dieſelben drei Cardinalpunkte, welche Har-
denberg ſchon in Paris als die Hauptaufgaben der Bundesverfaſſung be-
zeichnet hatte.


Alſo quälten die treuen Patrioten ſich ab an der hoffnungsloſen
Arbeit. Preußen allein unter allen deutſchen Staaten betrieb das deutſche
Verfaſſungswerk mit nachhaltigem Eifer; ſeine Staatsmänner wieſen jetzt
auch den einzigen Weg, der noch mindeſtens zu einer nothdürftigen Ver-
ſtändigung führen konnte. Seine Politik zeigte ſich in Allem rechtſchaffen
und ohne Hintergedanken, namentlich auch den Mediatiſirten gegenüber,
die es wiederholt dankbar ausſprachen, daß ſie allein an der preußiſchen
Krone einen großmüthigen Beſchützer fänden.**)


Um die Sache nur raſch wieder in Gang zu bringen, beſchloſſen die
preußiſchen Staatsmänner am 2. Februar, das Einzige was fertig vor-
44*
[692]II. 1. Der Wiener Congreß.
lag, jene beiden Humboldt’ſchen Entwürfe vom December, an den öſter-
reichiſchen Miniſter zu überſenden. In einer begleitenden Note wieder-
holten ſie nochmals alle die in Humboldts vertraulichen Denkſchriften
ausgeſprochenen Bedenken für und wider die Kreisverfaſſung und erboten
ſich bereitwillig zu jeder Abänderung — mit einziger Ausnahme jener
drei unantaſtbaren Punkte: Kriegsgewalt, Bundesgericht und landſtändiſche
Verfaſſungen. Durch dieſe entgegenkommende Haltung hofften ſie um ſo
ſicherer eine raſche Verſtändigung mit der Hofburg zu erreichen, da ja
Humboldts beide Entwürfe nichts weiter enthielten als eine gründlichere
Ausarbeitung jener Zwölf Artikel, welche Metternich ſelbſt im October
dem Fünfer-Ausſchuß mit vorgelegt hatte. Sehr willkommen war es
ihnen daher, daß ſich im nämlichen Augenblicke auch der Verein der
deutſchen Fürſten und Städte wieder rührte. Durch den Zutritt Badens
und einiger Kleinen bis auf zweiunddreißig Mitglieder verſtärkt, bat er
am 2. Februar die beiden führenden Mächte um ſchleunige Eröffnung
der Berathungen Aller. Hardenberg und Humboldt erklärten ſich ſofort
bereit, und da auch Metternich zuſtimmte, ſo ließen ſie nunmehr, am
10. Februar, ihre Note mit den beiden Denkſchriften an das öſterreichiſche
Cabinet abgehen.


Aber der öſterreichiſche Staatsmann, der im Herbſt ſo gefällig mit
Preußen zuſammengegangen war, fand jetzt der Bedenken kein Ende: er
hatte während der ſächſiſchen Händel die Mittelſtaaten als brauchbare
Bundesgenoſſen gegen den norddeutſchen Nebenbuhler ſchätzen gelernt und
wollte durchaus Alles vermeiden was ihren Souveränitätsdünkel verletzen
konnte. Wie man ſich in der Hofburg den Deutſchen Bund vorſtellte,
das hatte Freiherr von Weſſenberg ſchon im December in einem neuen
Bundesplane verrathen. Es war bereits der fünfte Entwurf, der in dieſer
troſtloſen Verhandlung zur Sprache kam. Dies geiſtloſe Machwerk lud
die deutſchen Staaten ein, ſich nach Gefallen einem Bunde anzuſchließen,
der die gemeinſame äußere und innere Sicherheit erhalten ſollte; wer
eintritt, darf ohne Zuſtimmung der Genoſſen nicht wieder ausſcheiden.
Alle Bundesſtaaten haben als ſolche gleiche Rechte. Ein permanenter
Bundesrath wird aus den Geſandten aller Staaten gebildet, Oeſterreich
führt den Vorſitz. Keine Spur von einer wirklichen Bundeskriegsgewalt;
der Bundesrath hat lediglich „darauf zu ſehen“, daß jeder Staat ſein
Contingent vollſtändig erhält. Die Ausgaben werden durch Matrikularbei-
träge beſtritten. Die auswärtige Politik bleibt den Bundesſtaaten unge-
ſchmälert, nur dürfen ihre Verbindungen mit Auswärtigen nicht gegen
den Bund ſelber gerichtet ſein. Landſtände ſind binnen Jahr und Tag
einzuberufen, doch wird ihre Einrichtung den Landesherren überlaſſen.
Dazu noch ein Artikel über die Mediatiſirten und einige, ſehr beſcheidene,
Unterthanenrechte, wozu aber die Preßfreiheit nicht gehört; endlich noch
die Zuſage, daß der Bund für die Freiheit des Handels und der Schiff-
[693]Weſſenbergs Entwurf.
fahrt „ſorgen“ werde. — Hier endlich bekannte die Hofburg Farbe; jene
Zwölf Artikel hatte ſie im October nur deshalb angenommen, weil ſie da-
mals Preußen noch bei guter Stimmung erhalten wollte. Metternichs wirk-
liche Meinung ging jetzt, wie ſchon in Teplitz, dahin, daß die Souveränität
der deutſchen Staaten nur ſo weit beſchränkt werden dürfe als erforderlich
war um die europäiſche Stellung des Hauſes Oeſterreich einigermaßen
ſicher zu ſtellen. Von den drei Punkten, welche Preußen als die Funda-
mente der Bundesverfaſſung anſah, war der eine, das Bundesgericht,
in dem Weſſenbergiſchen Plane gänzlich beſeitigt; über die anderen beiden,
Kriegsgewalt und Landſtände, ſchlüpfte der Vertraute Metternichs mit
einigen allgemeinen Redensarten hinweg. So weit gingen die Abſichten
jener beiden Mächte auseinander, deren Intereſſen Hardenberg für har-
moniſch hielt.


Die Weſſenbergiſche Arbeit konnte ruhig ihrer Stunde harren, grade
weil ſie der leerſte und farbloſeſte von allen den bisherigen Entwürfen
war; ſie wurde die Grundlage der deutſchen Bundesverfaſſung, das Ei,
woraus der Kukuk des Frankfurter Bundestages auskroch. Vorderhand
hütete ſich Metternich weislich das Werk ſeines Geheimen Raths ſchon
jetzt förmlich als k. k. Gegenentwurf vorzulegen, er begnügte ſich die
beiden Pläne Humboldts für unausführbar zu erklären. Da die beiden
Vormächte ſich über eine Vorlage nicht einigten, ſo konnten auch die ver-
heißenen Berathungen Aller nicht beginnen.


Um die Verwirrung zu vollenden warf jetzt Stein noch einen neuen
Zankapfel unter die Hadernden. Der Reichsritter konnte ſich von dem
ſchönen Kaiſertraume ſo ſchnell nicht trennen, allzu tief waren ihm die
grandioſen Bilder der Stauferzeiten ins treue Herz gegraben. Sobald er
gewahr wurde, daß auch die Kleinſtaaten, mit den Lippen mindeſtens, die
Herſtellung der Kaiſerkrone forderten, nahm er ſeine Teplitzer Pläne wie-
der auf, und es gelang ihm diesmal ſogar den Czaren zu überzeugen.
Alexander hatte aus den widrigen Erfahrungen der jüngſten Wochen ge-
lernt, wie leicht ſich eine öſterreichiſch-franzöſiſche Allianz gegen Rußland
und Preußen bilden konnte, und gab ſich der Hoffnung hin, der Beſitz
der deutſchen Kaiſerkrone würde, wie vor Alters, der Hofburg die Annähe-
rung an die Tuilerien erſchweren. Doch verfuhr er auch jetzt, wie immer
während des Wiener Congreſſes, als ein zuverläſſiger Freund König
Friedrich Wilhelms und wollte den Kaiſerplan nur dann unterſtützen,
wenn Preußen von freien Stücken zuſtimme. So begann denn ſeit dem
9. Februar, zu Hardenbergs bitterem Aerger, ein lebhafter Notenwechſel
zwiſchen Stein und Kapodiſtrias einerſeits, Humboldt andererſeits. Aber-
mals führte Stein, wie einſt in Teplitz, den verzwickten Gedanken aus:
weil Oeſterreich kein rein deutſcher Staat ſei, darum müſſe der Kaiſer-
ſtaat durch ein künſtliches verfaſſungsmäßiges Band an Deutſchland ange-
ſchloſſen werden. Mit unbeſtreitbaren Gründen zeigten der Reichsritter
[694]II. 1. Der Wiener Congreß.
und ſein ruſſiſcher Gehilfe, daß eine monarchiſche Spitze kräftiger ſei als
eine collegialiſche. Ebenſo unwiderleglich erwies Humboldt die Unfähigkeit
Oeſterreichs dieſe monarchiſche Macht zum Heile der Nation zu gebrauchen:
„Deutſchland widerſtrebt jener öſterreichiſchen Unbeweglichkeit, für welche
die Erfahrung nichts iſt und die Jahrhunderte ſpurlos vorübergehen.“
Die Nothwendigkeit des preußiſchen Kaiſerthums, die ſich aus dieſem Für
und Wider von ſelber zu ergeben ſchien, konnte, wie die Lage war, noch
nicht erkannt werden; ſaßen doch die Lothringer wieder ſo feſt im germa-
niſchen Sattel, daß ſie zuweilen ſchon daran dachten Preußen ganz vom
Rücken des deutſchen Roſſes herunterzuwerfen! Das Ergebniß war, daß
die Kaiſerpläne begraben wurden. Humboldt behielt Recht mit ſeiner trocke-
nen Erklärung: nur ein Bund iſt jetzt noch möglich.


Ueber dieſem unfruchtbaren Zwiſchenſpiele gingen wieder vier Wochen
verloren, und kaum war es zu Ende, ſo kam am 7. März die Nach-
richt von Napoleons Rückkehr. Das europäiſche Kriegsbündniß und die
Rüſtungen drängten viele Wochen lang alle anderen Fragen in den Hin-
tergrund. Die deutſche Verfaſſung ſchien rettungslos verloren. Auch
der auf Preußens Antrag eingeſetzte deutſche Militärausſchuß, welchem der
Kronprinz von Württemberg vorſaß, ging unverrichteter Dinge ausein-
ander; mit zorniger Scham verließ Rühle von Lilienſtern dieſe Verſamm-
lung, von der er gehofft hatte, ſie werde die allgemeine Wehrpflicht für
ganz Deutſchland einführen. Desgleichen ſcheiterten die ebenfalls auf
Preußens Betrieb berufenen Conferenzen über die deutſche Flußſchifffahrt;
denn die Welfen fanden es ganz unerhört, daß die rein deutſchen Flüſſe
derſelben Freiheit genießen ſollten wie die mehreren europäiſchen Mächten
gemeinſam angehörigen. Wegwerfend ſchrieb Münſter an den Prinzregen-
ten: Hannover werde ſicherlich nicht finanzielle Opfer bringen „um einige
vage Ideen von Handelsfreiheit zu begünſtigen“. Die ehrenwerthen Män-
ner unter der deutſchen Diplomatie überkam ein vernichtendes Gefühl der
Scham. Welch ein Schauſpiel bot ſeit ſechs langen Monaten dies Deutſch-
land, das ſoeben noch die Welt mit ſeinem Kriegsruhm erfüllt hatte!
Nichts als Zank und Stank, nichts als Neid gegen die Retter der Nation,
und noch immer kein Ende! Der wackere Gersdorff rieth in ſeiner Her-
zensangſt dem Staatskanzler: jetzt könne aus Deutſchland doch nichts
Tüchtiges werden, die feindſelige Geſinnung von Baiern und Genoſſen
laſſe ſich nicht verkennen; beſſer alſo, Preußen ſchließe mit dem Süden
nur eine Allianz, mit den kleinen norddeutſchen Staaten aber einen feſten
Bund, der für das ganze Vaterland eine beſſere Zukunft vorbereiten
könne.*)


Die Mehrzahl der ſtreitigen Gebietsfragen war erledigt, die Monar-
chen rüſteten ſich zur Abreiſe, Alle verlangten ungeduldig nach dem Schluß
[695]Neue Verhandlungen im Frühjahr.
des Congreſſes und horchten geſpannt auf die Nachrichten aus Weſten; die
Rheinbündner erhoben wieder keck das Haupt, mehrere der Mittelſtaaten
verhehlten kaum, daß ſie auf neue Siege des Imperators hofften. Das
war die Stimmung nicht, die ein dauerndes nationales Werk zeitigen
konnte. Hardenberg, der in der Regel ein ſicheres Gefühl für die Gunſt
des Augenblicks zeigte, wünſchte denn auch die Verfaſſungsberathungen zu
vertagen, bis nach einer neuen Niederlage Napoleons der Trotz der Rhein-
bündner gebrochen und die allgemeine Stimmung wieder ruhiger und
geſammelter wäre. Aber wie würde die Nation, die jetzt abermals zu
neuen ſchweren Opfern aufgeboten ward, ihre Fürſten und Miniſter
empfangen, wenn ſie ihr nach dieſem Pomp endloſer Feſte nichts, rein
nichts heim brachten? Dies ſchien doch gar zu ſchmachvoll; ſelbſt Gentz
warnte vor dem Zorne der öffentlichen Meinung. Ueberdies wünſchte
Metternich dringend, die deutſche Bundesacte, die in ſeinen Augen ja
nur eine europäiſche Angelegenheit war, in die große Schlußacte des Con-
greſſes mit aufzunehmen und ſie alſo unter die Bürgſchaft des geſammten
Welttheils zu ſtellen. Er legte hierauf noch in ſpäteren Jahren den
höchſten Werth und ſtellte gern die charakteriſtiſche Behauptung auf: der
Deutſche Bund iſt grade deshalb eine dauernde Foederation, weil „ſein
Entſtehen das vereinte Werk der europäiſchen Mächte und der deutſchen
Fürſten war.“*) Und ſeltſamerweiſe ward dieſe Anſicht von allen preu-
ßiſchen Staatsmännern, ſelbſt von Humboldt getheilt; ſie hofften durch
die europäiſche Geſammtbürgſchaft den Mittelſtaaten eine neue Felonie
zu erſchweren und bedachten nicht, wie grauſam einſt das alte Reich
unter der zudringlichen Einmiſchung ſeiner auswärtigen Garanten gelitten
hatte. So kam es, daß Preußen ſich doch noch entſchloß die Verhand-
lungen zu der denkbar ungünſtigſten Zeit wieder aufzunehmen.


Auf eine irgend erträgliche Ordnung der deutſchen Dinge hoffte
Humboldt freilich längſt nicht mehr; was frommte ſeine dialektiſche Kunſt
gegen die Bosheit der Mittelſtaaten und die berechnete Zurückhaltung
Oeſterreichs? Er ſelbſt geſteht: jetzt blieb nichts mehr übrig als den
Bund zu Stande bringen, gleichviel auf welche Weiſe. Dennoch legte
er ſich abermals ins Zeug und brachte zu Anfang Aprils einen neuen
weſentlich abgekürzten Entwurf zu Stande. Es war der ſechſte. Aber
die Verhandlungen wurden wieder verſchoben; die Mittelſtaaten zeigten
keine Neigung ſich noch auf irgend etwas einzulaſſen. In der zweiten
Hälfte des Monats ſchien die Stimmung wieder günſtiger zu werden.
Sofort ſchöpfte Humboldt neuen Muth**) und wagte am 1. Mai einen
ſiebenten, mehr in das Einzelne eingehenden Plan vorzulegen.


Die Hofburg jedoch erklärte beide Entwürfe für unmöglich. Das
[696]II. 1. Der Wiener Congreß.
Haus Oeſterreich ſelber war natürlich nach ſeiner oft bewährten Reichs-
treue zu jedem Opfer bereit; daran durfte Niemand zweifeln, der die
brünſtigen Betheuerungen der k. k. Staatsmänner vernahm. Nur wegen
des unüberwindlichen Widerſtandes der kleinen Königshöfe ſah ſich der
öſterreichiſche Miniſter zu ſeinem lebhaften Bedauern genöthigt, die preu-
ßiſchen Vorſchläge wieder einmal abzuweiſen. Metternich wußte aus ſeiner
reichen diplomatiſchen Erfahrung, daß langwierige Streitigkeiten zuletzt
durch die allgemeine Ermüdung entſchieden werden. Jetzt begann dies
Gefühl bei Jedermann übermächtig zu werden. Alle ſtimmten dem Oeſter-
reicher bei, da er nun herausſagte, was ſchon im September ſeine Mei-
nung geweſen war: an eine Bundesverfaſſung ſei für jetzt doch nicht zu
denken; genug wenn man ihre „Grundzüge“ feſtſtelle. Dann holte er
jenen Weſſenbergiſchen Plan vom December wieder hervor, der allerdings
kaum als der Grundzug eines Grundzugs gelten konnte, ließ das Mach-
werk ein wenig erweitern und übergab dieſe Umarbeitung am 7. Mai
als achten Entwurf den preußiſchen Staatsmännern. Ueber dieſen Ent-
wurf ward nun endlich eingehend zwiſchen Metternich und Hardenberg
verhandelt. Auf Preußens Wunſch ſchaltete der Oeſterreicher einige ver-
ſchärfende Zuſätze ein, der Staatskanzler fügte eigenhändig den Artikel
über die Mediatiſirten hinzu, und ſo entſtand jener neunte und letzte
Bundesplan, welchen Metternich am 23. Mai im Namen Oeſterreichs
und Preußens den Bevollmächtigten aller deutſchen Staaten zur Be-
ſchlußfaſſung unterbreitete. Trotz der zweimaligen Umarbeitung waren
die Hauptſätze des öſterreichiſchen December-Entwurfs unverändert ge-
blieben, ſo daß Weſſenberg als der eigentliche Verfaſſer der deutſchen
Bundesacte betrachtet werden muß. Der liebenswürdige, feingebildete
Breisgauer Baron zählte zu den freiſinnigſten Politikern Oeſterreichs;
er hegte ſogar, wie ſein Bruder, der den Römiſchen verhaßte Coadjutor,
eine gewiſſe Schwärmerei für das deutſche Vaterland. Aber in Sachen
der deutſchen Politik konnte es unter den k. k. Staatsmännern keine
Meinungsverſchiedenheit geben; wer dem Hauſe Oeſterreich diente mußte
dem deutſchen Geſammtſtaate den Charakter eines loſen völkerrechtlichen Ver-
eins zu verleihen ſuchen, weil ſonſt der Kaiſerſtaat keinen Raum darin fand.


Tags zuvor, am 22. Mai hatte König Friedrich Wilhelm die folgen-
ſchwere Verordnung über die Repräſentation des Volks unterzeichnet. Die
preußiſchen Staatsmänner rechneten ſichs zur Ehre, wie Humboldt oft
ſagte, daß Niemand in Wien wärmer als ſie für die Rechte der deutſchen
Landſtände eingetreten war. Wie durfte alſo Preußen zurückbleiben hin-
ter den ſüddeutſchen Höfen, die bereits ihre Verfaſſungscommiſſionen ein-
berufen hatten? Wer hätte damals auch nur für denkbar gehalten, daß
die Einführung des Repräſentativſyſtems gerade in Preußen auf die
ſchwerſten Hemmniſſe ſtoßen und ſich am Längſten verzögern würde?
Mindeſtens eine feierliche Zuſage ſchien unerläßlich; war doch Hardenberg
[697]Preußiſche Verordnung über die Volksrepräſentation.
längſt gewöhnt, ſich durch hochtönende Verſprechungen mit den harten
Pflichten des Geſetzgebers abzufinden. Auch der König war ſeit Ende
1808 für die conſtitutionellen Gedanken gewonnen und wünſchte ſeinem
treuen Volke ſogleich ein Zeichen dankbaren Vertrauens zu geben. Aber
mit welcher frevelhaften Fahrläſſigkeit ging der Staatskanzler wieder zu
Werke! Er ließ den König verſprechen, daß die Provinzialſtände wieder-
hergeſtellt oder, wo ſie nicht mehr beſtänden, neu eingeführt werden und
aus ihnen durch Wahl die allgemeine Landesrepräſentation hervorgehen
ſolle. So band er der abſoluten Krone im Voraus die Hände, und dies
in einem Augenblicke, da er ſelber über die provinzialſtändiſchen Rechte
jenes bunten Ländergemiſchs, das in den preußiſchen Staat neu eintrat,
nicht einmal oberflächlich unterrichtet war! Die öffentliche Meinung, dank-
bar für Alles was freiſinnig hieß, nahm die königliche Verheißung mit
heller Freude auf, vornehmlich gefiel ihr die der Modeanſicht entſprechende
Zuſage einer ſchriftlichen Verfaſſungsurkunde. Bald genug ſollte ſich
herausſtellen, daß Hardenberg einen ſchweren politiſchen Fehler begangen,
daß er das Unmögliche verſprochen hatte. —


Dem tragiſchen Niedergange unſerer vaterländiſchen Hoffnungen
durfte auch der Humor nicht fehlen. Das durch ſieben Monate ver-
ſchleppte deutſche Verfaſſungswerk mußte zuletzt in athemloſer, unbedachter
Haſt übers Knie gebrochen werden. Als die ſo oft verheißenen Berathun-
gen Aller endlich eröffnet wurden, da hatte Gentz die Redaction der Schluß-
acte des Congreſſes ſchon nahezu beendigt; es galt zu eilen, wenn die
deutſche Bundesacte darin noch Platz finden ſollte. So wurde denn
zwiſchen dem 23. Mai und dem 10. Juni, in elf kurzen Conferenzen,
wovon zwei nur den Ceremonien der Eröffnung und des Schluſſes galten,
die ſchwerſte aller europäiſchen Fragen abgethan. Frivoler ward niemals
mit dem Schickſal eines großen Volks geſpielt. Bei der Eröffnung fehlte
Württemberg. Freiherr von Linden entſchuldigte ſein Ausbleiben in einem
franzöſiſchen Billet mit einer Landpartie, ſein Amtsgenoſſe Wintzingerode
ſchützte Unpäßlichkeit vor, und auch allen folgenden Sitzungen blieben die
Württemberger fern. Für die bereits abgereiſten badiſchen Miniſter war
zwar ein Stellvertreter anweſend, er hatte jedoch keine Vollmacht und
erklärte nach einigen Tagen ſeinen Austritt. Die Uebrigen erſchienen.
Die Kleinſtaaten waren Anfangs nur durch fünf Bevollmächtigte vertreten,
ſetzten aber durch, daß von der dritten Sitzung an jeder Staat ſeinen
eigenen Vertreter ſendete.


Am 26. Mai begann die eigentliche Berathung. Baiern verlangte
ſogleich, gegen den lebhaften Widerſpruch der Preußen, daß der Ausdruck
„ſouveräne“ Fürſten in den Eingang der Bundesacte aufgenommen werde.
Als man ſodann den Entwurf im Einzelnen durchging, da erhob ſich
bei jedem Artikel ein ſo heilloſer Wirrwarr grundverſchiedener Forderungen,
und auf dem Tiſche des Vorſitzenden häufte ſich ein ſolcher Berg von
[698]II. 1. Der Wiener Congreß.
Noten, Vorbehalten und Bedenken an, daß jede Möglichkeit einer Ver-
ſtändigung aufhörte. Verſtimmt ging man auseinander. Hardenberg und
Humboldt richteten Tags darauf in voller Verzweiflung an Metternich und
Münſter eine Note*), worin ſie ausſprachen: bei der Kürze der Zeit und
nach den Erlebniſſen der jüngſten Sitzung ſcheine die Fortſetzung einer
wirklichen Discuſſion unmöglich; die Anſichten gingen zu weit auseinan-
der, auch dürften Oeſterreich, Preußen und Hannover — die alſo in den
Augen der preußiſchen Staatsmänner noch immer als treue Geſinnungs-
genoſſen erſchienen — ſich nicht in eine ſchiefe Stellung bringen, ſich
nicht zwingen laſſen um des lieben Friedens willen für die Schwächung
der Bundesgewalt zu ſtimmen. „Die Unterzeichneten ſind bei allen Vor-
berathungen durchaus der Meinung S. F. Gnaden des Herrn Fürſten
von Metternich beigepflichtet, daß dasjenige, was die früheren Entwürfe
hierüber enthielten, nur der Nothwendigkeit den Bund jetzt und hier
wirklich zu ſchließen aufgeopfert werden könne; und ſie geſtehen frei, daß
ſie einzig und allein aus dieſem Grunde, einzig und allein um nicht jede
Vereinigung der Fürſten Deutſchlands zu hindern oder aufzuſchieben,
aber übrigens mit ſehr ſchmerzlichen Gefühlen einen Entwurf mit vor-
gelegt haben, von dem ſie nur zu ſehr empfinden, wie wenig er dem
wichtigen Zwecke entſpricht, den man ſich unmittelbar nach der Befreiung
Deutſchlands und noch bei dem Anfange des Congreſſes vorgeſetzt hatte,
und wie ungünſtig dies auch auf die allgemeine Stimmung einwirken
wird. Sollte dieſer Entwurf durch eine Discuſſion, für welche der jetzige
Augenblick, in dem die ſchnelle allgemeine Uebereinkunft der vorherrſchende
Geſichtspunkt iſt, immer ungünſtig bleibt, noch mehr geſchwächt werden,
ſo iſt kaum der mindeſte günſtige Erfolg der Verhandlungen in Frank-
furt abzuſehen.“ Daher verlangt Preußen ein Ultimatum der drei Groß-
mächte an die deutſchen Staaten; die drei Höfe nehmen ſogleich an dem
Entwurfe die Abänderungen vor, welche nach dem Verlaufe der letzten
Conferenz unumgänglich ſcheinen, und erklären in der nächſten Sitzung:
weitere Aenderungen ſind unzuläſſig, wir ſchließen den Bund ab mit
allen den Fürſten, welche dieſe Vorlage annehmen, über Einzelheiten
mag dann der Frankfurter Bundestag entſcheiden. Die Beiden ſchloſſen:
verfahre man alſo, dann würden die meiſten Staaten ſofort beitreten,
einige erſt etwas ſpäter ſobald ſie ſich überzeugten, daß der Bund auch
ohne ſie zu Stande gekommen ſei.


Alſo doch endlich wieder ein raſches kühnes Ergreifen des Moments,
nach der alten ſtolzen fridericianiſchen Weiſe! Wenn Oeſterreich und Eng-
land-Hannover den preußiſchen Antrag annahmen, ſo war der Erfolg
ſicher, ſo wurden das Bundesgericht, die ſchärfere Faſſung des Artikels
über die Landſtände und alles Gute, was Preußen ſonſt noch in den
[699]Die Berathungen Aller.
öſterreichiſchen Entwurf hineingebracht hatte, für den Deutſchen Bund
gerettet. Denn nur drei Wochen ſpäter ward die Schlacht von Belle-
Alliance geſchlagen, und wie hätten die Mittelſtaaten dann noch wagen
dürfen dem Deutſchen Bunde fern zu bleiben? Der Vorſchlag Preußens
entſprach auch durchaus der wohlbegründeten Rechtsanſicht, welche die
drei verbündeten Höfe im November den Cabinetten von Stuttgart und
Carlsruhe entgegengehalten hatten — der Anſicht, daß die Kleinſtaaten
durch die Acceſſionsverträge verpflichtet waren dem Bunde beizutreten.
Jetzt aber kam an den Tag, daß jene kräftigen November-Noten für
Oeſterreich und Hannover nur ein diplomatiſcher Schachzug geweſen waren.
Metternich wollte von jener ſtrengen Rechtsanſicht nichts mehr wiſſen.
Wie ſchon der Weſſenbergiſche Entwurf die deutſchen Fürſten nur be-
ſcheiden „einlud“, nach Belieben in den Bund einzutreten, ſo erklärte
jetzt der öſterreichiſche Miniſter: irgend ein Zwang zum Eintritt dürfe
gegen die deutſchen Souveräne niemals, auch nicht mittelbar angewendet
werden! Was kümmerten ihn auch das Bundesgericht und die Land-
ſtände — dieſe fixen Ideen der preußiſchen Politik, die man in der Hof-
burg halb gleichgiltig halb mißtrauiſch anſah? Sollte Oeſterreich wegen
ſolcher Dinge ſich die Freundſchaft der Mittelſtaaten verſcherzen?


Metternich lehnte den preußiſchen Vorſchlag ab, und am 29. Mai
ſetzte man die Conferenzen in der alten chaotiſchen Weiſe fort. Die
Ausſichten geſtalteten ſich immer düſterer, denn an dieſem Tage wurde
Hofrath von Globig, der Geſandte des endlich wieder hergeſtellten Königs
von Sachſen, in die Verſammlung eingeführt; durch ihn erhielten die
centrifugalen Kräfte eine werthvolle Verſtärkung. Globig trat natürlich
mit ſeinem alten Gönner Metternich in vertrauliche Berathungen. Man
erwog insgeheim, ob Sachſen nicht einem ſüddeutſchen Bunde unter
Oeſterreichs Führung beitreten ſolle, gab aber den Gedanken raſch wieder
auf; der Oeſterreicher meinte: gegenwärtig erſcheine ein geſammtdeutſcher
Bund doch als das geeignetſte Mittel um den Ehrgeiz Preußens wirkſam
zu beſchränken! Am 30. Mai beſprach die Conferenz den Artikel über
die Landtage. Der lautete jetzt, nachdem Oeſterreich alle die in den
preußiſchen Entwürfen vorgeſchriebenen landſtändiſchen Rechte geſtrichen
hatte, ganz kurz: In allen deutſchen Staaten ſoll eine landſtändiſche
Verfaſſung beſtehen. Gagern, allezeit ein ehrlicher Liberaler, fand dieſe
Faſſung zu nackt und unbefriedigend. Anderen erſchien ſie zu ſtreng und
gebieteriſch; wer durfte ſich denn herausnehmen, ſouveränen Fürſten mit
einem „ſoll“ irgend etwas zu befehlen? Die Mehrheit beſchloß: „In
allen deutſchen Staaten wird eine landſtändiſche Verfaſſung ſtattfinden“
— ſtatt eines Befehles eine Prophezeiung! Und mancher der Abſtimmen-
den hoffte ſchon insgeheim als ein falſcher Prophet erfunden zu werden.


Der 2. Juni brachte die Kataſtrophe, den Triumph des Particula-
rismus. Die deutſche Welt ſollte erfahren, was die Wiederherſtellung
[700]II. 1. Der Wiener Congreß.
des albertiniſchen Königthums für unſere nationale Politik bedeutete.
Darüber war kein Streit, daß man jetzt nur über die Grundzüge der
künftigen Bundesverfaſſung berieth. Die Bundesacte ſagte ausdrücklich,
das erſte Geſchäft des Frankfurter Bundestages werde „die Abfaſſung
der Grundgeſetze des Bundes und deſſen organiſche Einrichtung“ ſein.
So blieb doch noch die ſchwache Hoffnung, daß ſich in Frankfurt nach
Napoleons Niederwerfung vielleicht eine verſtändige Mehrheit bilden und
einige der Wiener Sünden ſühnen konnte. Da beantragte Sachſen das
liberum veto, die Einſtimmigkeit für alle Beſchlüſſe des Plenums der
Bundesverſammlung. Ein letzter Reſt von Schamgefühl hinderte die
Conferenz zwar, dieſen Antrag in ſeiner nackten Frechheit anzunehmen.
Aber die Mehrheit beſchloß Tags darauf, was der Sache nach auf daſ-
ſelbe hinauslief: daß alle Beſchlüſſe über die Grundgeſetze, über organiſche
Bundeseinrichtungen, über jura singulorum und Religionsangelegenheiten
nur mit Stimmeneinhelligkeit gefaßt werden dürften. Damit wurde ein
neuer polniſcher Reichstag begründet, der geſetzlichen Fortbildung des
deutſchen Geſammtſtaates für immer ein Riegel vorgeſchoben, die Partei
der Reform in die Bahnen der Revolution hinübergedrängt. Dies
war das erſte Lebenszeichen des wieder aufgerichteten ſächſiſchen König-
reichs. Die Grundgeſetze einer Bundesverfaſſung, die noch gar nicht be-
ſtand, deren Grundzüge man erſt feſtſtellte, an einſtimmige Beſchlüſſe
binden — das hieß nichts anderes als von vornherein erklären: dem
neuen Deutſchland iſt nur durch das Schwert zu helfen. Und was war
denn mit der Phraſe „organiſche Bundeseinrichtungen“ gemeint? Auch
darüber ward man nicht einig und vermied jede Auslegung.


Durch dieſen Beſchluß war das Wenige verdorben was ſich noch
verderben ließ. In Allem und Jedem hatte der Particularismus und
die Willkür der kleinen Kronen die Oberhand behalten. Natürlich be-
haupteten ſie ihre eigene Diplomatie und das Recht der Bündniſſe; nur
gegen den Bund und ſeine Mitglieder durften ſie ſich mit Auswärtigen nicht
verbinden. Dadurch war nicht unbedingt ausgeſchloſſen, daß Deutſche
gegen Deutſche, als Hilfstruppen fremder Mächte, zu Felde zogen. Und
dieſe Gefahr lag noch immer ſehr nahe. Fing doch der alte ſchmutzige
Soldatenhandel wieder an: noch während des Congreſſes wurde ein
naſſauiſches Regiment an Holland verkauft oder, wie man ſich amtlich
ausdrückte, verliehen. „Bei einmal erklärtem Bundeskriege“ ſollte kein
Bundesſtaat einſeitige Unterhandlungen mit dem Feinde eingehen. Was
aber ein Bundeskrieg ſei? und ob der Bund bei einem Angriffe auf die
ausländiſchen Beſitzungen ſeiner Mitglieder zum Einſchreiten verpflichtet
ſei — über dieſe Lebensfragen konnte man ſich nicht einigen. Gewiß
war nur, daß der Bund, armſeliger als ein Staat dritten Ranges, ſelber
keine Angriffskriege führen durfte, denn die Bundesacte ſprach nur vom
Schutze gegen Angreifer. Nachdem die Rechte der Landſtände mit einer
[701]Sachſen und das liberum veto.
Redensart abgefertigt waren, wendete ſich der Uebermuth der napoleoni-
ſchen Könige gegen die Mediatiſirten. Vergeblich verſuchte Preußen den
Entthronten einige Curiatſtimmen zu ſichern; die Mittelſtaaten ſetzten
durch, daß dieſe Frage an den Bundestag verwieſen wurde, und nach
Allem was man hier vor Augen ſah wußte bereits Jedermann was eine
ſolche Vertröſtung bedeutete. Noch ſchlimmer erging es den Juden. Der
urſprüngliche Entwurf hatte ihnen „die denſelben in den einzelnen Bun-
desſtaaten bereits eingeräumten Rechte“ zugeſichert. An die Stelle dieſes
bedeutungsvollen „in“ ſetzte man ein „von“. Durch dieſe drei Buchſtaben
erhielten Hannover und Kurheſſen freie Hand die Geſetze des Königreichs
Weſtphalen aufzuheben und den Juden-Leibzoll wieder einzuführen; die
Frankfurter Juden gingen der Emancipation verluſtig, welche ſie ſich ſo-
eben erſt mit ſchwerem Gelde von dem Fürſten-Primas Dalberg erkauft
hatten.


Auch die Hoffnung auf eine nationale Neugeſtaltung der katholiſchen
Kirche Deutſchlands ſchwand mehr und mehr. Wie war doch die deutſche
Hierarchie zugerichtet worden durch die Seculariſationen und die zahlloſen
anderen Gewaltthaten des napoleoniſchen Zeitalters. Und wie tief war
ihre politiſche Machtſtellung geſunken: ſtatt jener Wolke geiſtlicher Fürſten
ſaßen jetzt im hohen Rathe des Deutſchen Bundes nur noch ſechs katho-
liſche Souveräne, Oeſterreich, Baiern, Sachſen, zwei Hohenzollern und
Lichtenſtein. Beide Parteien des deutſchen Clerus beſtürmten die Staats-
männer mit ihren Eingaben. Cardinal Conſalvi und die Oratoren for-
derten Herſtellung des alten Beſitzes und wo möglich auch der alten
politiſchen Macht der Kirche, jedenfalls Theilnahme kirchlicher Vertreter
an den Verhandlungen über den Bund und Wiederbeſetzung der ver-
waiſten Bisthümer durch den Papſt. Heinrich Weſſenberg andererſeits
führte den Plan einer deutſchen Nationalkirche unter der Leitung eines
Fürſten-Primas wiederholt in wortreichen Denkſchriften aus und blieb doch
dabei, nach Prieſterart, den Proteſtanten gegenüber ultramontan; eine
Anerkennung der Rechte der Evangeliſchen von Bundeswegen ſchien ihm
wenig wünſchenswerth. Beide Parteien bekämpften einander leidenſchaft-
lich. Weſſenberg war den Oratoren kaum mehr als ein Ketzer. Graf
Spiegel aber, auch ein vornehmer feingebildeter Kirchenfürſt der alten
Zeit, warnte die preußiſchen Staatsmänner dringend vor den Denkſchriften
der Oratoren: „es weht darin ein rein ultramontaniſcher Geiſt, eine
Größe ganz im Gegenſatze mit dem auf immer ehrwürdigen Wahrheits-
ſinne, der die Väter auf den Concilien zu Conſtanz und Baſel beſeelte.“
Er wünſchte zwar Herſtellung der katholiſchen Kirche, aber auch ihre
Weiterbildung „durch liberale Regierungen“.*)


Baiern und Württemberg ſtanden beiden Theilen gleich feindlich gegen-
[702]II. 1. Der Wiener Congreß.
über; ſie hofften, jedes für ſich, durch ein Concordat mit Rom Landesbis-
thümer zu gründen und den Deutſchen Bund hier wie überall ganz aus dem
Spiele zu laſſen. Die Preußen endlich zeigten ſich auch in dieſer Frage, wie
durchweg in den Wiener Bundesverhandlungen, gerecht, freiſinnig, national;
ſie forderten, daß der Bund der katholiſchen Kirche eine für ganz Deutſch-
land gemeinſame Verfaſſung gebe, aber auch den evangeliſchen Landeskirchen
ihre alten Rechte gewährleiſte. So wogten die Anſichten durch einander.
Nur in Einem ſtimmten Alle ohne Ausnahme überein: in der Meinung
nämlich, daß Oeſterreich ſich ſelbſt überlaſſen, außerhalb der neuen Ord-
nung unſeres kirchlichen Lebens bleiben müſſe. Sobald man an irgend
eine praktiſche Frage herantrat, ergab ſich immer wieder, daß Oeſterreich
nicht zu uns gehörte. Daher konnte denn der von der liberalen Welt
gefeierte Heinrich Weſſenberg in Wien bei ſeinem Bruder, dem k. k. Ge-
heimen Rath wohnen und ſich ſogar in den Kreiſen der Hofburg einiger
Gunſt erfreuen: was er erſtrebte galt ja nur für die Länder draußen im
Reich, ließ die kaiſerlichen Erblande unberührt. Zahlloſe Conferenzen
waren ſchon wegen dieſer Kirchenſachen gehalten worden, zu hohen Thür-
men hatte ſich das Schreibwerk der Petitionen und Entwürfe aufgeſtapelt;
da gelang es doch endlich, vermuthlich durch Weſſenbergs älteren Bruder,
in den letzten öſterreichiſchen Bundesentwurf einen Artikel einzuſchalten,
welcher der katholiſchen Kirche eine gemeinſame Verfaſſung, den Evange-
liſchen die Aufrechterhaltung ihrer alten Rechte verhieß. Die Mehrheit
ſtimmte zu. Aber Baiern widerſprach, und mit ſolchem Eifer, daß Hein-
rich Weſſenberg alle Hoffnung aufgab. Am 3. Juni ſchrieb er dem
Staatskanzler*): da „die Kirchenſachen in Deutſchland noch immer in
einem beiſpielloſen Zuſtande von Verlaſſenheit ſich befänden“ und der
Congreß ſich mit den Einzelheiten nicht habe beſchäftigen können, ſo er-
laube er ſich vorzuſchlagen, daß die betheiligten Souveräne, die Fürſten
mit katholiſchen Unterthanen, binnen zwei Monaten Abgeordnete nach
Frankfurt ſenden möchten. Dort in Frankfurt, auf freien Conferenzen,
welche dem bairiſchen Dünkel doch unmöglich gefährlich erſcheinen konnten,
dachte der Unermüdliche ſeine Nationalkirche doch noch durchzuſetzen.


Mittlerweile war ſelbſt Oeſterreich zu der Einſicht gelangt, daß man
ein Ende machen mußte. Gingen die Verhandlungen ſo weiter, ſo konnte
zuletzt ſogar von dem öſterreichiſchen Entwurfe nichts mehr übrig bleiben.
Metternich eröffnete alſo der Conferenz am 5. Juni — was er ſchon
mehrmals angekündigt, aber aus Rückſicht auf die Gefühle der Rhein-
bundshöfe noch nicht ausgeführt hatte —: die Bundesacte habe nunmehr
eine Faſſung erhalten, welche der Anſicht der meiſten Höfe zu entſprechen
ſcheine; er erkläre hiermit Oeſterreichs Beitritt zum Deutſchen Bunde,
auf Grund der beſchloſſenen Verfaſſungs-Grundzüge, und bitte die anderen
[703]Baiern droht auszutreten.
Staaten das Gleiche zu thun. Er ſagte jedoch keineswegs, wie Preußen
verlangt hatte, daß der Bund auch ohne den Beitritt Aller zu Stande
kommen werde, ſondern ſtellte Jedem frei zu thun und zu laſſen was
ihm beliebe. Darauf traten auch Preußen, Hannover, Dänemark, Luxem-
burg und einige Kleine bei. Die Meiſten gaben nachher wehmüthige
ſchriftliche Erklärungen hinzu. Preußen fügte ſich nur, weil es immer
noch beſſer ſei „einen unvollkommenen Bund zu ſchließen als gar keinen“,
desgleichen Hannover nur weil es „wünſchenswerther ſcheine einen un-
vollkommenen Deutſchen Bund als keinen einzugehen“; Luxemburg ſchloß
„ein Band, das Zeit, Erfahrung und ſteigendes Zutrauen erſt beſſern
müſſen“ — und was der Klagen mehr war. Aber welch ein Aufruhr
in der Verſammlung, als Graf Rechberg jetzt trocken erklärte, er ſehe ſich
genöthigt den Beitritt Baierns in dieſem Augenblicke noch vorzubehalten!
Er machte dann noch einige ernſte, geheimnißvolle Andeutungen, woraus
Jedermann ſchließen mußte, der Münchener Hof verſage ſich dem Bunde.
Die Beſtürzung war allgemein, und zu allem Unglück beging der gute
Gagern noch eine folgenſchwere Thorheit. Ohne reichspatriotiſche Phraſen
ging es bei ihm niemals ab; daher fügte er, indem er den Beitritt
Luxemburgs erklärte, noch die Bedingung hinzu: der Bund müſſe das
ganze Deutſchland umfaſſen. Naſſau ſchloß ſich wie immer den oraniſchen
Vettern an. Gagerns Vorbehalt entſprang allerdings zum Theil einer
foederaliſtiſchen Schrulle; denn in einer erläuternden Note bemerkte der
luxemburgiſche Geſandte: da ſein König nur die Geſammtheit der deut-
ſchen Staaten als Deutſchen Bund gelten laſſe, ſo dürfe die Beſatzung
der Bundesfeſtung Luxemburg auch nur vom Bunde, d. h. von allen
Staaten abwechſelnd geſtellt werden. Gleichwohl war die Erklärung des
redſeligen Phantaſten ſicherlich nicht bös gemeint. Er ahnte nicht, welches
arge Beiſpiel er gab. Welch eine Verwirrung mußte entſtehen, wenn noch
mehrere der übrigen Staaten erklärten: wir treten nur bei, falls alle
Anderen beitreten! Und ſo geſchah es in der That. Die Entſcheidung
über Deutſchlands Zukunft ward im Submiſſionswege ausgeboten und
ſchließlich denen zugeſchlagen, die das Geringſte für das Vaterland leiſten
wollten.


In der Conferenz am 8. Juni, ſo war beſchloſſen, ſollten die noch
ausſtehenden Beitrittserklärungen verleſen und das Werk beendet werden.
Die zwei Tage bis dahin vergingen in banger Aufregung, in peinlicher
Angſt. Graf Rechberg ließ nichts von ſich hören; allgemein ward ver-
ſichert, Baiern trete nicht bei. Selbſt der kaltblütige Humboldt war wie
vernichtet, nach Allem was er in dieſer Geſellſchaft hatte erleben müſſen.
Völlig entmuthigt entwarf er bereits den Plan für einen proviſoriſchen
Bund ohne Baiern.*) Unterdeſſen trug Gagerns Fehler ſeine Früchte.
[704]II. 1. Der Wiener Congreß.
Sachſen, Darmſtadt und Andere, ja ſogar Dänemark und Mecklenburg,
welche am 5. Juni ohne Vorbehalt beigetreten waren, erklärten jetzt, ſie
könnten ſich nur einem Bunde, der das ganze Deutſchland umfaſſe, an-
ſchließen. Mehrere dieſer Staaten baten ausdrücklich, man möge den
Fürſten, welche noch draußen bleiben wollten, durch neue Zugeſtändniſſe
den Eintritt ermöglichen. Es war eine Schraube ohne Ende. Wenn
Baiern ſich verſagte, ſo ſtob Alles auseinander.


Da meldete Graf Rechberg am Morgen des 8. Juni, ſeine neuen
Inſtructionen ſeien eingetroffen. So behauptete er wenigſtens; doch ſcheint
es keineswegs unmöglich, daß der Baier ſich dieſen ganzen lächerlichen
Schlußeffect des unwürdigen Intrigenſtücks nur in ſeiner ſchöpferiſchen
Phantaſie ausgedacht hat um die letzten Wünſche der Wittelsbacher deſto
ſicherer durchzudrücken. Genug, Alles athmete auf. Oeſterreich und
Preußen traten ſofort mit Rechberg in vertrauliche Berathung; er aber
forderte außer einigen Kleinigkeiten: Beſeitigung des Bundesgerichts und
des Artikels über die katholiſche Kirche. So erfüllte ſich denn was Har-
denberg am 27. Mai warnend vorhergeſagt: die beiden Großmächte kamen
wirklich in die ſchiefe Lage, um des Friedens willen für die Schwächung
der Bundesgewalt ſtimmen zu müſſen, was für Metternich freilich kein
Opfer war. Das Bundesgericht fiel — der Schlußſtein des deutſchen
Rechtsgebäudes, wie es Humboldt ſo oft genannt; und von den Papier-
maſſen der kirchlichen Verhandlungen blieb nichts übrig als ein dürftiger
Artikel, welcher anordnete was faſt überall in Deutſchland ſchon längſt
zu Recht beſtand: daß die Verſchiedenheit der chriſtlichen Religionsparteien
keinen Unterſchied im Genuſſe der bürgerlichen und politiſchen Rechte be-
gründen könne. Dann ging es zur Conferenz, und Metternich verkündete
„mit Vergnügen“, daß Baiern nur noch einige wenige Aenderungen
wünſche. Dies einige Wenige ward genehmigt, und nunmehr war man
wirklich zu Ende, denn was hätte an dieſer Acte noch geſtrichen werden
können? Am 10. Juni verſammelte man ſich noch einmal um die Bun-
desacte zu unterzeichnen und die Leiche der deutſchen Einheit mit allen
diplomatiſchen Ehren feierlich zu verſcharren. Wann ſollte ſie auferſtehen?


Die erſten elf Artikel der vom 8. Juni datirten Urkunde wurden
noch, gerade vor Thorſchluß, in die Schlußacte des Congreſſes eingefügt;
das ſiegreiche Deutſchland hatte fortan alle Fürſten Europas, mit Aus-
nahme des Papſtes und des Sultans, als die Garanten ſeines Grund-
geſetzes zu verehren. Auch die Proteſte fehlten nicht, welche von Alters
her zu jeder großen deutſchen Staatsaction gehörten. Die Mediatiſirten
verwahrten alleſammt ihre Rechte. Noch kühner erhoben die Fürſten von
Iſenburg und Knyphauſen ihr Haupt; ſie betrachteten ſich als Souveräne
und erklärten als ſolche ihren Beitritt zum Deutſchen Bunde. Es war
vergeblich; den Bedürfniſſen der deutſchen Kultur, die ja nach der allge-
meinen Meinung in der ſchönen Mannichfaltigkeit unſeres Staatslebens
[705]Abſchluß der Bundesverfaſſung.
ihre Wurzeln haben ſollte, genügten achtunddreißig deutſche Mächte. Da
ergab ſich plötzlich, daß noch ein neununddreißigſter Souverän vorhanden
war, der Landgraf von Heſſen-Homburg. Den hatte man ganz vergeſſen;
doch da er zugleich k. k. Feldmarſchallleutnant war, ſo durften die Deut-
ſchen hoffen, daß der Bundestag ſich ſeiner noch erbarmen würde. —
Am Lauteſten klagte der römiſche Stuhl. Cardinal Conſalvi berief ſich
in einer ſchwungvollen lateiniſchen Note auf jenen Nuntius Chigi, der
einſt gegen den Weſtphäliſchen Frieden proteſtirt hatte, und legte Ver-
wahrung ein, weil weder das heilige römiſche Reich, dieſer durch die Heilig-
keit des Glaubens geweihte Mittelpunkt der politiſchen Einheit, noch die
Macht der geiſtlichen Fürſten wiederhergeſtellt ſei.


Nur damit der Bund gewiß das geſammte Deutſchland umfaſſe
hatten die beſſer geſinnten Cabinette den letzten ſchweren Forderungen
Baierns nachgegeben, und dennoch war trotz allem Feilſchen und Dingen
der Bund Aller nicht zu Stande gekommen. Wie einſt Nordcarolina und
Rhode Island an der Begründung der zweiten Unionsverfaſſung Nordame-
rikas nicht theilnahmen, ſo blieben Baden und Württemberg der Stiftung
des Deutſchen Bundes fern und traten erſt bei als Napoleons Sturz
zum zweiten male entſchieden war: Baden am 26. Juli, Württemberg
am 1. September. —


So entſtand die Bundesacte, die unwürdigſte Verfaſſung, welche je
einem großen Kulturvolke von eingeborenen Herrſchern auferlegt ward,
ein Werk, in mancher Hinſicht noch kläglicher als das Gebäude des alten
Reichs in den Jahrhunderten des Niedergangs. Ihr fehlte jene Majeſtät
der hiſtoriſchen Größe, die das Reich der Ottonen noch im Verfalle um-
ſchwebte. Blank und neu ſtieg dies politiſche Gebilde aus der Grube,
das Werk einer kurzlebigen, in ſich ſelbſt verliebten Diplomatie, die aller
Erinnerungen des eigenen Volkes vergeſſen hatte; kein Roſt der Jahr-
hunderte verhüllte die dürftige Häßlichkeit der Formen. Von Kaiſer und
Reich ſang und ſagte das Volk; bei dem Namen des Deutſchen Bundes
hat niemals ein deutſches Herz höher geſchlagen. Unter den Bundes-
ſtaaten hatten nur ſechs der kleinſten ihren Beſitzſtand ſeit zwanzig Jahren
nicht verändert; ſelbſt das geduldigſte der Völker konnte an die Legitimität
einer zugleich ſo neuen und ſo willkürlichen Ländervertheilung nicht mehr
glauben. Dieſelbe Fremdherrſchaft, die das alte Reich zu Grunde ge-
richtet, belaſtete auch den neuen Bund. Oeſterreichs Uebermacht hatte ſich
ſeit den Tagen Friedrichs erheblich verſtärkt, ſie war jetzt um ſo ſchwerer
zu brechen, da ſie ihren Einfluß mittelbar, ohne die herriſchen Formen
des Kaiſerthums ausübte. Die auswärtigen Diplomaten lächelten ſchaden-
froh: wie ſchön, daß wir Oeſterreich und Preußen zuſammengekoppelt
und dadurch geſchwächt haben! Das alte Reichsrecht ſprach doch noch
von einer deutſchen Nation; die Vorſtellung mindeſtens, daß alle Deut-
ſchen ihrem Kaiſer treu, hold und gewärtig ſeien, war niemals ganz ver-
Treitſchke, Dentſche Geſchichte. I. 45
[706]II. 1. Der Wiener Congreß.
ſchwunden. Die neue Bundesacte wußte gar nichts mehr von einem
deutſchen Volke; ſie kannte nur Baiern, Waldecker, Schwarzburg-Sonders-
hauſener, Unterthanen jener deutſchen Fürſten, welche nach Gefallen zu
einem völkerrechtlichen Vereine zuſammengetreten waren. Die Nation
mußte den Becher der Demüthigung bis zur Hefe leeren; jene württem-
bergiſche Mahnung: „man werde doch nicht aus verſchiedenen Völker-
ſchaften ſozuſagen eine Nation bilden wollen“ hatte vollſtändig Recht be-
halten. Die Deutſchen ſtanden außer jeder Beziehung zu der Bundes-
gewalt, waren nicht einmal verpflichtet ihr zu gehorchen; nur wenn ein
Souverän einen Bundesbeſchluß als Landesgeſetz zu verkündigen geruhte,
mußten ſeine Unterthanen dieſem Landesgeſetze ſich fügen. Die Nation war
mediatiſirt durch einen Fürſtenbund. Wie die Revolution von 1803 ſo
ward auch dieſe neue Verfaſſung Deutſchlands ausſchließlich durch die
Dynaſtien geſchaffen.


Der neue Bundestag war der Regensburger Reichstag in etwas
modernerer Geſtalt, ganz ebenſo ſchwerfällig und unbrauchbar; daß er bald
als engerer Rath bald als Plenum tagte, war eine leere Förmlichkeit, da
auch im engeren Rathe alle Neununddreißig mitſtimmten. Der Wider-
ſpruch zwiſchen dem formalen Rechte und der lebendigen Macht trat im
Deutſchen Bunde ſogar noch greller hervor als im heiligen Reiche. Der
durch den Genuß der Souveränität aufgeſtachelte Dünkel der kleinen
Kronen bewirkte in Wien eine Stimmenvertheilung, welche alle Unge-
heuerlichkeiten des alten Reichsrechts weitaus überbot und nun ihrerſeits
dazu half jenen Dünkel bis zum Wahnſinn zu ſteigern. Eine gewiſſe
Bevorzugung der kleinen Bundesglieder liegt im Weſen jeder Foederativ-
verfaſſung; das aber ging doch über jedes Maß erlaubter Unbilligkeit
hinaus, daß im Plenum des Bundestags die ſieben größten Staaten,
Oeſterreich, die Königreiche und Baden, die zuſammen mehr als fünf
Sechſtel des deutſchen Volks umfaßten, mit nur 27 Stimmen die Min-
derheit bildeten neben den 42 Stimmen des letzten Sechſtels. Das hieß
die großen Staaten geradezu auffordern zur Umgehung der Bundesbe-
ſchlüſſe oder zur gewaltſamen Einſchüchterung der kleinen Genoſſen. Und
dazu jenes Geſchenk der Krone Sachſen, die Einſtimmigkeit für alle wich-
tigen Beſchlüſſe — eine Vorſchrift die im heiligen Reiche nur für Reli-
gionsſachen und jura singulorum gegolten hatte. Jetzt konnte Reuß
jüngerer Linie jede Entwicklung des Bundes verbieten. Dieſe Fortbildung
ward aber vollends unmöglich gemacht durch die Begründung der land-
ſtändiſchen Verfaſſungen. Denn ſollte der Bund irgend welches Leben
gewinnen, ſo mußte er zunächſt die Militärgewalt und die auswärtige
Politik der Bundesſtaaten zu beſchränken ſuchen; dies waren aber gerade
die einzigen Kronrechte welche nach Einführung der Landſtände den Klein-
fürſten noch ungeſchmälert verblieben, ein freiwilliger Verzicht darauf ſtand
mithin ganz außer Frage.


[707]Die Bundesacte.

Und dieſe vielköpfige Bundesverſammlung ohne Haupt trug keine
Verantwortlichkeit, weder rechtlich noch ſittlich. Sie beſtand aus Ge-
ſandten, welche lediglich ihre Inſtruction zu befolgen hatten und alſo
jeden Tadel von ſich auf ihre Auftraggeber abwälzen konnten, während
andererſeits die kleinen Kronen nur allzu bald die Kunſt lernten, ſich vor
dem Zorne der öffentlichen Meinung hinter dem Bundestage zu verſtecken.
Deutſchlands innere Politik ward zu einem Luftkampfe; Niemand wußte
mehr, wo er eigentlich ſeine Gegner ſuchen ſollte. Die entſittlichenden
Wirkungen ſolcher Unwahrheit zeigten ſich raſch genug, an den Höfen wie
im Volke: feige Angſt auf der einen, Wolkenkukuksheimer Träume und
unklare Verbitterung auf der anderen Seite. Die heilloſe Verwirrung
mußte um ſo unerträglicher werden, da ein ſchwerer Kampf zwiſchen dem
Bunde und ſeinen Gliedern gar nicht ausbleiben konnte; denn die Cen-
tralgewalt des Bundes war abſolutiſtiſch, war lediglich ein Organ der
Fürſten, in den Einzelſtaaten aber kam bald die Macht der Landtage
empor.


Die Nation nahm das traurige Werk mit unheimlicher Kälte auf.
Wer überhaupt davon redete ſprach ſeine grimmige Entrüſtung aus.
Die wenigen Artikel über Volksrechte, an denen der öffentlichen Meinung
zumeiſt gelegen war, enthielten ſo leere, ſo windige Verſprechungen, daß
ſogar dieſe gutherzige Nation anfangen mußte an den böſen Willen ihrer
Machthaber zu glauben. Wie ſonderbar nahm ſich neben den unbe-
ſtimmten Phraſen über Preßfreiheit, Handelsfreiheit, Landſtände die ge-
naue Aufzählung der Privilegien der Mediatiſirten und der Thurn- und
Taxis’ſchen Poſtrechte aus. Und zu Alledem das Kläglichſte: die Bundes-
acte war gar keine Verfaſſung, ſondern enthielt nur die niemals ausge-
führten Grundzüge eines künftigen Bundesrechts. Vier Jahre ſpäter
ſchrieb der ehrliche Gagern nicht ohne Reue einem conſervativen Freunde:
„Sie reden von der Erhaltung des Beſtehenden. Ich ſuche vergeblich
den Beſtand. Ich ſehe eine Bundesacte, die wir zu entwickeln zu Wien
uns erſt vornahmen!“ —


In den Gebietshändeln hatten Preußens Staatsmänner, durch die
Feſtigkeit ihres Königs, doch einen halben Erfolg erreicht. In den Bun-
desverhandlungen wurden ſie aufs Haupt geſchlagen; nichts, gar nichts
von ihren Abſichten hatten ſie durchgeſetzt. Aber der Schild preußiſcher
Ehre war ohne Makel geblieben. Die Haltung des Staates, der uns
von den Fremden befreit, gereichte noch in Wien allen anderen Deutſchen
zur Beſchämung — wenn in einem ſolchen harten Intereſſenkampfe die
Scham überhaupt Raum fände. Zäh und redlich, conſequenter als
Stein, hatten Hardenberg und Humboldt einen beſtimmten Plan einge-
halten, immer nur Schritt für Schritt zurückweichend vor dem vereinten
Widerſtande nahezu des geſammten Deutſchlands, einen Plan, der freilich
auch an der allgemeinen politiſchen Unklarheit der Epoche krankte, aber
45*
[708]II. 1. Der Wiener Congreß.
jedenfalls ehrenhafter und verſtändiger war als alle anderen Wiener Vor-
ſchläge. Die beſtändig wechſelnde Form ihrer Entwürfe war nicht ihre
Schuld, ſondern ergab ſich unvermeidlich aus der Bedrängniß eines aus-
ſichtsloſen Streites wider Gegner, die nicht durch das Wort, ſondern
allein durch den Schlag überzeugt werden konnten. Das Einzige, was
den Beiden zur Laſt fiel, war das argloſe Vertrauen zu den falſchen
Freunden Oeſterreich und Hannover. Aber ſelbſt ein vollkommener
Staatsmann, der von ſolcher Schwäche frei blieb, konnte in dieſem Kriege
nicht ſiegen. Der geſammte Gang der deutſchen Schickſale während der
jüngſten Jahre führte unabwendbar zu der traurigen und doch noth-
wendigen Folge, daß nach Napoleons Fall nicht ſein tapferer Feind
Preußen, ſondern ſein ſchwankender Gegner Oeſterreich und ſeine Bun-
desgenoſſen, die Rheinbündner über die Geſtaltung unſeres Staates ent-
ſchieden.


Selbſt der Czar äußerte ſeinen Unwillen über den kläglichen Aus-
gang, und ſogar Gentz hatte ein ſo lächerliches Machwerk doch nicht er-
wartet. Gleichwohl beſaß die neue Ordnung der deutſchen Dinge drei
folgenſchwere Vorzüge. Die welthiſtoriſchen Wirkungen der Fürſtenrevo-
lution von 1803 blieben unverändert, das fratzenhafte theokratiſche Weſen
kehrte nicht wieder; das neue Deutſchland athmete in der geſunden Luft
weltlichen Staatslebens. Sodann ward durch die Bundesverfaſſung die
Entſtehung eines neuen Rheinbundes zwar keineswegs verhindert aber
weſentlich erſchwert; deshalb allein, ſo geſtanden Hardenberg und Hum-
boldt oftmals, nahmen Preußens Staatsmänner ein Werk an, über deſſen
Mängel ſie ſich nicht täuſchten. Preußen trat dem Bunde bei um die
Mittelſtaaten an wiederholtem Landesverrathe zu hindern, während dieſe
und Oeſterreich in der Bundesverfaſſung nur ein Bollwerk gegen den
preußiſchen Ehrgeiz ſahen. Endlich war der Deutſche Bund ſo locker
und ohnmächtig, daß er den Staat Friedrichs in ſeiner inneren und
äußeren Entwickelung kaum ſtören konnte. Sobald Preußen ſich erſt
wieder auf ſich ſelbſt beſann, bot ihm die ſchattenhafte Bundesverfaſſung
tauſend Mittel und Wege um die kleinen Staaten durch Sonderbünde
an ſich zu ketten und durch die That zu beweiſen, daß Oeſterreich für
Deutſchland nichts leiſten, Preußen allein der Sehnſucht der Nation und
dem recht verſtandenen Intereſſe der kleinen Höfe ſelber gerecht werden
konnte. Und dies bleibt für uns, die wir die abgeſchloſſene Laufbahn
überſchauen, der hiſtoriſche Ruhm des Deutſchen Bundes: er beſaß nicht
die Kraft, das Erſtarken des einzigen lebendigen deutſchen Staates zu
hindern — des Staates, der berufen war dereinſt ihn ſelber zu zerſtören
und dieſem unglücklichen Volke eine neue, würdige Ordnung zu ſchenken. —


[[709]]

Zweiter Abſchnitt.
Belle Alliance.


So alltäglich es iſt, daß kommende Ereigniſſe ihren Schatten voraus
werfen, ebenſo ſelten geſchieht es, daß die Helden einer abgeſchloſſenen,
überwundenen Vergangenheit wieder auf der verwandelten Bühne der
Zeit erſcheinen. An ſolcher Wiederkehr vergangener Größe haftet immer
ein wunderbarer, traumhafter Zauber, weil ſie dem nothwendigen ewigen
Werden des hiſtoriſchen Lebens widerſpricht. Phantaſtiſcher hat das
Schickſal nie gewaltet als während jener hundert Tage, da mit einem
male, wie ein Geſpenſterzug am hellen Mittag, die Männer und die
Leidenſchaften eines Zeitalters der Kriege wieder hereinbrachen über ein
neues friedensfrohes Geſchlecht und das grandioſe Abenteuer des napo-
leoniſchen Kaiſerthums in einem ſtürmiſchen Nachſpiele ſeinen würdigen
Abſchluß fand. Am 1. März landete Napoleon mit ſeinen neunhundert
Getreuen an der Küſte bei Cannes; am 20. Abends, am Geburtstage
des Königs von Rom, fuhr ſein beſtaubter Reiſewagen durch die ſchwei-
gende Hauptſtadt nach den Tuilerien, und ein Schwarm von Veteranen
begrüßte freudetrunken den heimkehrenden Helden am Portale des ver-
laſſenen Königsſchloſſes. „Der Kaiſer hat ſich gezeigt, und die königliche
Regierung beſteht nicht mehr“ — ſchrieb er ſtolz an die Geſandten. Noch
nie und nirgends hatten die dämoniſchen Mächte des Genies und des
Ruhmes einen ſo glänzenden Triumph gefeiert; der unblutige Siegeszug
ſchien wirklich, wie der Imperator den Fürſten Europas verſicherte, „das
Werk einer unwiderſtehlichen Gewalt, des einſtimmigen Willens einer
großen Nation, die ihre Pflichten und ihre Rechte kennt.“


Und doch ging dieſe wundergleiche Revolution faſt allein von der
Mannſchaft des Heeres aus. Die alten Corporale und Sergeanten, die
hier, wie in allen Berufsarmeen, den Geiſt des Heeres beherrſchten,
hingen mit abgöttiſcher Verehrung an dem Bilde des demokratiſchen Hel-
den, ſie waren die Apoſtel jener napoleoniſchen Religion, deren ungeheuer-
liche Legenden das ſtolze Volk über ſeine Niederlagen tröſteten. Wie
hätte das vierte Artillerieregiment, in deſſen Reihen einſt der Leutnant
Bonaparte gedient, der feurigen Anrede des gros papa widerſtehen ſollen,
[710]II. 2. Belle Alliance.
der die glorreiche Tricolore und die weltbezwingenden Adler zurückbrachte,
den verhaßten neuen Offizieren aus dem Emigrantenadel den Laufpaß
gab? Hingeriſſen von einem Taumel der Begeiſterung, überwältigt von
der Macht wundervoller Erinnerungen folgte ein Regiment nach dem
anderen dem lockenden Beiſpiele: die Zeit ſollte wiederkehren, da der
Prätorianer Alles war, der Bürger nichts. Die alte Garde umwand
ihre Adler mit Flor und gelobte ſie nicht eher zu enthüllen, als bis die
Ehre des Kaiſerreichs durch glänzende Siege an den Pruſſiens und den
anderen Fremdlingen gerächt ſei. Aber das Heer war nicht mehr Frank-
reich, wie einſt in den Tagen des achtzehnten Brumaire. Wenn ſogar
ein Theil der Offiziere, darunter einige der tüchtigſten Marſchälle wie
Oudinot und Macdonald, an dem großen Eidbruch theilzunehmen ver-
ſchmähte, ſo ſahen vollends die friedlichen Mittelklaſſen mit rathloſer Be-
ſtürzung dem Wiederaufſteigen dieſer demokratiſchen Tyrannis zu, deren
ſonderbar zweiſeitiges Weſen ihnen zugleich willkommen und bedrohlich
ſchien. Die Reſtauration hatte an der napoleoniſchen Verfaſſung nichts
Weſentliches geändert; ſie zehrte, wie die Bonapartiſten ſagten, von „dem
Capitale von Autorität“, das der erſte Conſul allen ſeinen Nachfolgern
hinterlaſſen. Die ſchlagfertige Maſchine der Präfectenverwaltung arbeitete
ſtetig weiter. Der wohlmeinende König aber, dem die Gunſt der Torys
die Kurbel in die Hand gegeben, blieb den Perſonen, den Gefühlen und
Gewohnheiten der neuen demokratiſchen Geſellſchaft völlig fremd; und um
ihn drängten ſich die Artois und Blacas, die begehrliche Meute der
Emigranten, die den Augenblick der Wiederaufrichtung des alten Adels-
regimentes kaum erwarten konnten. Nicht allein die Mißgriffe der Krone,
ſondern mehr noch die unheimlichen Abſichten, welche man ihren An-
hängern zutraute und zutrauen mußte, erweckten den Haß des Volkes gegen
die Bourbonen.


Neben jenen Pilgern des Grabes, die ſich um das Lilienbanner
ſchaarten, erſchien der rückkehrende Napoleon ſelbſt den bürgerlichen Klaſ-
ſen als ein nationaler Held, ein Vertreter der vergötterten Ideen von 89.
Aber ſein Name bedeutete zugleich: Krieg. Der Inſtinkt der Geſchäfts-
welt fühlte alsbald heraus, daß weder dieſer Mann jemals Frieden hal-
ten, noch die Nachbarmächte ihn ruhig gewähren laſſen konnten. Sofort
nach ſeiner Rückkehr ging die vortheilhafte Stellung, welche Talleyrands
Schlauheit der bourboniſchen Krone in der Staatengeſellſchaft verſchafft
hatte, wieder verloren; Frankreich ſtand völlig vereinſamt, und vor den
Augen der friedensbedürftigen Geſellſchaft eröffnete ſich die düſtere Aus-
ſicht auf neue unabſehbare kriegeriſche Stürme. Zudem hatten die par-
lamentariſchen Inſtitutionen der Charte raſch Boden gewonnen. Kaum
war das Zeitalter des militäriſchen Ruhmes abgelaufen, ſo warf ſich die
Nation mit bewunderungswürdiger Lebenskraft wieder in die politiſchen
und literariſchen Parteikämpfe. Das Land freute ſich an dem redneriſchen
[711]Die hundert Tage.
Prunk der Kammerverhandlungen, an der lauten Kritik der freien Preſſe.
Die conſtitutionelle Doctrin fand wieder ehrliche, überzeugte Bekenner.
Tauſende glaubten treuherzig, es ſei die Beſtimmung dieſes Volkes der
Freiheit, die engliſche Parlamentsherrſchaft mit dem unantaſtbaren napo-
leoniſchen Verwaltungsdespotismus zu verquicken und alſo den conſtitutio-
nellen Muſterſtaat zu begründen; die Verwirklichung dieſer Ideale ſchien
aber leichter möglich unter der ſchwachen Krone der Bourbonen als unter
der eiſernen Herrſchaft des Soldatenkaiſers. So geſchah es, daß die
Gebildeten und Beſitzenden ſich dem Imperator argwöhniſch fern hielten;
der Curs der Rente ſank in wenigen Tagen bis auf 53. Anhänglichkeit
an das königliche Haus zeigten freilich nur einzelne Striche des Südens
und Weſtens; ſelbſt der legitimiſtiſche Aufſtand, der in der Vendee aus-
brach, war ungefährlich, da er mehr von dem Adel als von den Bauern
ausging. Die Rückkehr Napoleons erfolgte zu früh; einige Jahre ſpäter,
da die Erinnerung an die Schrecken der Kriegszeit ſchon mehr verblaßt
und der Groll gegen die Emigranten noch mächtiger angewachſen war,
hätte ſie vielleicht Erfolg haben können. Wie jetzt die Dinge lagen ver-
hielt ſich die Mehrheit der Nation ſkeptiſch, ängſtlich, verlegen. Nur die
Bauern in den allezeit kriegeriſchen Oſtprovinzen und die Arbeitermaſſen
einiger großer Städte hießen den gekrönten Plebejer willkommen. In den
Vorſtädten von Paris that ſich eine Foederation zuſammen, aber die
jacobiniſchen Erinnerungen, die hier wieder auflebten, hatten mit dem
Caeſarencultus des Heeres wenig gemein.


Napoleon bemerkte ſchnell, wie ſehr das Land ſich verwandelt hatte;
die Bourbonen, ſagte er ingrimmig, haben mir Frankreich ſehr verdor-
ben. Um die Mittelklaſſen zu gewinnen mußte er mit den liberalen
Ideen liebäugeln: „das Genie hat gegen das Jahrhundert gekämpft, das
Jahrhundert hat geſiegt!“ In geſchickten Manifeſten ſtellte er ſich als den
Erwählten des Volkes dar und hob den popularen Charakter des Kaiſer-
reichs hervor, das die Demokratie disciplinirt, die Gleichheit vollendet und
die Freiheit vorbereitet habe. Doch Verheißungen genügten längſt nicht
mehr. Er ſah ſich genöthigt ein Cabinet aus Männern der Revolution zu
bilden und die Verfaſſung des Kaiſerreichs durch eine Zuſatzacte zu ergän-
zen, welche der Nation eine gewählte Volksvertretung, die Preßfreiheit, das
Petitionsrecht, ja ſogar eine Beſchränkung der militäriſchen Gerichtsbarkeit
gewährte. So mußte er ſich ſelber die Hände binden, in einem Augen-
blicke, da nur eine ſchrankenloſe Dictatur die friedensluſtige Nation zu
ſtarker kriegeriſcher Anſtrengung zwingen konnte. In Tricots und antikem
Mantel zog er dann auf das Maifeld hinaus um die Schauluſt der
Pariſer durch ein großes volksthümlich-militäriſches Spektakelſtück zu be-
friedigen und öffentlich ſein demokratiſches Glaubensbekenntniß abzulegen:
„als Kaiſer, als Conſul, als Soldat verdanke ich Alles dem Volke!“
Seine Lieblingstochter Hortenſia und ihr kleiner Sohn Ludwig wohnten
[712]II. 2. Belle Alliance.
dem prahleriſchen Schauſpiele bei; aber Marie Luiſe kehrte nicht wieder
in die Tuilerien zurück: die Treue der Oeſterreicherin gehörte nur dem
Glückskinde, nicht dem Gatten.


Auf Schritt und Tritt erfuhr der Imperator, daß er nur noch der
Bandenführer einer großen Soldatenmeuterei, nicht mehr das allgefürch-
tete Staatsoberhaupt war; Scham und Zorn übermannten ſeine ſtolze
Seele, wenn er ſich am Fenſter zeigen mußte um die Huldigungen der
Foederirten aus den Arbeitervierteln entgegenzunehmen. Auf Augen-
blicke fragte er ſich wohl, ob er nicht kurzab die rothe Mütze aufſetzen,
die Führung der radicalen Parteien übernehmen, die Nationalgarde der
Pariſer Bourgeoiſie auflöſen und an ihrer Statt ein Volksheer aus den
foederirten Arbeitermaſſen bilden ſolle. Aber der Abſcheu wider die Jaco-
biner überwog. Napoleon konnte nicht laſſen von den alten despotiſchen
Gewohnheiten, verfolgte ſeine Gegner durch Proſcriptionsliſten, errichtete
wieder eine zweifache geheime Polizei, deren Agenten einander wechſel-
ſeitig bewachten. Und trotz der Zuſatzacte, trotz ſeiner liberalen Betheue-
rungen, trotz ſeiner ablehnenden Haltung gegen die Jacobiner erwarb
er ſich doch nicht das Vertrauen der Bourgeoiſie. Wohl ſchloß ſich der
leichtgläubige Doctrinär Benjamin Conſtant dem bekehrten Despoten an,
und das Organ der Conſtitutionellen, Dunoyers Cenſeur pries die Zu-
ſatzacte als die Vollendung der franzöſiſchen Freiheit — eine wunderſame
Selbſttäuſchung, die nachher durch Jahrzehnte das Schlagwort der Oppo-
ſition geblieben iſt. Aber die Maſſe der Conſtitutionellen verharrte in
ihrem Mißtrauen; ſie hoffte insgeheim auf den ſchlauen Ludwig Philipp
von Orleans, der ſchon ſeit Langem ſtillgeſchäftig nach der Bürgerkrone
Frankreichs ſeine Netze auswarf. Als die Abgeordneten im Juni zuſam-
mentraten, wurde ein Gegner Napoleons, der Mann des Convents Lan-
juinais zum Präſidenten erwählt; mit rückſichtsloſer Heftigkeit traten die
radicalen Parteiführer dem Kaiſer entgegen.


Das Aergſte blieb doch, daß Napoleon, um die Scheu der Bourgeois
vor dem Kriege zu beſchwichtigen, eine erheuchelte Zuverſicht auf den Be-
ſtand des Friedens zeigen mußte. Nichts lag ihm in jenem Augenblicke
ferner als der Wunſch nach Krieg: erſt wenn die große Armee des Kaiſer-
reichs wiederhergeſtellt war, durfte der Streit um die unveräußerlichen
alten Grenzen von Neuem beginnen. Wiederholt verſicherte er den
europäiſchen Höfen, daß ſich in Frankreich Nichts verändert habe, daß er
auf alle Pläne kriegeriſcher Größe verzichte und nur noch einen Kampf
anerkenne, den heiligen Kampf um das Glück der Völker. Niemand
glaubte ihm. Unaufhaltſam rüſtete ſich das alte Europa zur Vernichtung
des Uſurpators, und doch mußte er noch eine Weile den Schein bewahren,
als ob ſein Kaiſerthum ein Reich des Friedens ſei. Nach drei Wochen
erſt wagte er die Vermehrung des Heeres zu befehlen: die Armee, die er
115,000 Mann ſtark vorgefunden, wuchs bis Anfang Juni nur auf 198,000
[713]Eindruck in Deutſchland.
Mann kriegsbereiter Truppen. Das nämliche Gefühl der Unſicherheit
zwang ihn auch zu einer höchſt gewagten Kriegführung. Nach den Er-
fahrungen des letzten Jahres ſchien bei einem zähen Vertheidigungskriege
im Innern Frankreichs ein Erfolg nicht ganz unmöglich; doch da der
Uſurpator weder auf eine Maſſenerhebung rechnen noch ſich der Gefahr
einer Niederlage auf franzöſiſchem Boden ausſetzen konnte, ſo mußte er
den Angriff auf die Nachbarlande wagen, und für dieſen verzweifelten
Schlag ſtanden ihm nur 128,000 Mann zu Gebote. Was übrig blieb
wurde an den weiten Grenzen entlang vertheilt — eine völlig nutzloſe
Zerſplitterung der militäriſchen Kräfte; der Argwohn der öffentlichen
Meinung erlaubte dem Imperator nicht, irgend ein Stück franzöſiſcher
Erde ganz ohne Vertheidigung preiszugeben. Erſt als der Krieg unver-
meidlich ward, ließ Napoleon die friedliche Maske fallen und bekannte ſich
nochmals zu den hochmüthigen Gedanken der alten Kaiſerpolitik. Sein
Kriegsminiſter Davouſt mußte alle die alten Soldaten vom linken Rhein-
ufer unter die Fahnen rufen. In ſeiner Anrede an die Armee ſprach der
Imperator wieder wie einſt als der Schirmherr des deutſchen Particu-
larismus, mahnte zum Kampfe gegen die unerſättliche Coalition, die ſich
bereits anſchicke die kleinen deutſchen Staaten zu verſchlingen; eine Procla-
mation, die auf dem Schlachtfelde von Belle Alliance in dem erbeuteten
Wagen Napoleons gefunden wurde, verkündete den Belgiern und Rhein-
ländern die frohe Botſchaft: ſie ſeien würdig Franzoſen zu ſein!


Sobald dieſer Caeſar wieder an die Spitze ſeiner Praetorianer trat,
mußte der alte Kampf zwiſchen Weltherrſchaft und Staatenfreiheit unaus-
bleiblich von Neuem entbrennen. Nach dem Buchſtaben des Völkerrechts
war Napoleons Schilderhebung allerdings nur ein legitimer Eroberungs-
krieg des ſouveränen Fürſten von Elba gegen den Allerchriſtlichſten König;
vergeblich ſuchte Gentz im Oeſterreichiſchen Beobachter durch künſtliche
Sophismen dies unbeſtreitbare Rechtsverhältniß wegzudeuteln. Aber wie
durften die Formen des Völkerrechts dieſem Gewalthaber zu Gute kommen,
der ſein Leben lang mit Treu und Glauben geſpielt, jedes heilige Recht
der Staatengeſellſchaft mit Füßen getreten hatte? Den Millionen in
Deutſchland, Rußland, England erſchien der rückkehrende Despot nicht als
ein kriegführender Fürſt, ſondern ſchlechtweg als ein blutiger Verbrecher,
der durch ruchloſen Wortbruch alle Segnungen des ſchwer errungenen
Friedens wieder in Frage ſtellte. Ein Aufſchrei des Zorns ging durch
das preußiſche Land. Der alte Todfeind war wieder zur Stelle, war wie
ein hungriger Wolf eingebrochen in die friedlichen Hürden der befreiten
Völker; das deutſche Schwert mußte ihn nochmals herunterſchleudern
von dem angemaßten Throne — wer hätte das bezweifelt? Dies tapfere
Volk, das unter den Nackenſchlägen des Tyrannen ſo namenlos gelitten,
wollte und konnte nichts ſehen von allen den rührenden und erhebenden
Auftritten, welche die Rückkehr des Imperators verſchönten, nichts von
[714]II. 2. Belle Alliance.
allen den politiſchen Wirren, welche die rathloſe Ueberraſchung der
franzöſiſchen Nation erklärten. Den Preußen war Frankreichs Volk ein-
fach eine Rotte von Verräthern, ſein Heer eine eidvergeſſene Soldatesca,
die ſich mit ihrem alten Räuberhauptmann zu neuen Plünderungszügen
verſchwor. Und mit dem grimmigen Haſſe verband ſich diesmal ein
Gefühl freudigen Stolzes. Der alte Blücher ſprach ſeinen Preußen wieder
aus der Seele, da er auf die erſte Nachricht jubelnd rief: „das iſt das
größte Glück für uns, nun kann die Armee wieder gut machen was die
Diplomaten verfehlten.“ Erſt durch den Verlauf des Congreſſes und
Talleyrands feindſelige Zettelungen hatte die Maſſe der Patrioten im
Norden klar erkannt, wie matt und ſchwächlich der Pariſer Friedensſchluß
geweſen und wie wenig geſichert unſere Weſtgrenze war. Sobald ſich die
Ausſicht auf einen neuen Krieg eröffnete, erhob die Preſſe, der Rheiniſche
Mercur voran, ſofort den Ruf: jetzt endlich ſei die Zeit gekommen dem
galliſchen Raubthier die Zähne auszubrechen. In tauſend Tönen, weit lauter
und beſtimmter als ein Jahr zuvor, erklang die Forderung: heraus mit
dem alten Raube, heraus mit Elſaß und Lothringen!


Auch den Höfen war keinen Augenblick zweifelhaft, daß ſie die Zer-
ſtörung des Pariſer Friedens nicht dulden durften. Schon am 8. März
ſchlug Stein die Aechtung des Friedensbrechers vor. Am 13. traten die
acht Mächte, welche den Friedensſchluß unterzeichnet hatten, zuſammen
und beſchloſſen eine öffentliche Erklärung, worin ſie den Völkern Europas
verkündeten, daß Napoleon Buonaparte ſich ſelber außerhalb des bürger-
lichen und politiſchen Rechts geſtellt, als Feind und Störer der Ruhe
der Welt ſich der öffentlichen Verfolgung preisgegeben habe. Die Bona-
partiſten ſchrieen Zeter über dieſen unerhörten, dieſen menſchenfreſſeriſchen
Beſchluß; doch er ſprach nur aus, was das empörte Gewiſſen aller Deut-
ſchen und Ruſſen und der großen Mehrheit des engliſchen Volkes gebiete-
riſch forderte. Am 25. März erneuerten die vier Verbündeten von Chau-
mont ihr altes Bündniß, boten dem Könige von Frankreich ſowie jedem
anderen von Buonaparte angegriffenen Lande auf Verlangen ihren Beiſtand
an, luden alle Mächte Europas zum Beitritt ein und verpflichteten ſich
die Waffen nicht eher niederzulegen als bis Buonaparte außer Stand
geſetzt ſei neue Unruhen zu erregen und ſich der Staatsgewalt in Frank-
reich abermals zu bemächtigen. Die Achtserklärung ſchloß eine Verände-
rung der franzöſiſchen Grenzen nicht ſchlechthin aus, denn ſie behielt
den Mächten ausdrücklich das Recht vor die Beſtimmungen des Pariſer
Friedens zu vervollſtändigen und zu verſtärken. Aber ſie beruhte wie
das Kriegsbündniß vom 25. März, auf einem verhängnißvollen thatſäch-
lichen Irrthum, auf der Annahme, daß die Bourbonen mindeſtens in
einem Theile Frankreichs ſich behaupten und die verbündeten Heere als
Hilfstruppen der königlichen Armee auftreten würden.


Erſt einige Tage ſpäter erfuhr man in Wien, daß König Ludwig ſein
[715]Napoleons Aechtung.
Land bis auf das letzte Dorf hatte räumen müſſen. Der legitime Herrſcher
ſaß als ein Fürſt ohne Land in Gent, jetzt gänzlich unter dem Einfluß
der racheſchnaubenden Emigrantenpartei; der geächtete Störer der öffent-
lichen Ruhe aber zeigte ſeinen gekrönten Herren Brüdern in friedfertigen
Briefen die unblutige Unterwerfung Frankreichs an und erbot ſich ſofort
den Pariſer Vertrag anzuerkennen. Die Lage war mit einem Schlage
verändert, und die grollenden Whigs im Parlamente ſäumten nicht ſie
auszubeuten: Whitebread und Burdett fragten in donnernden Reden,
ob England von Neuem bluten ſolle um einem freien Volke eine Regie-
rung aufzuzwingen, eine Dynaſtie, deren haltloſe Schwäche ſich ſo kläglich
offenbart habe?


Die Tory-Regierung fühlte, daß ſie die Oppoſition beſchwichtigen
mußte, und ließ daher in Wien erklären: der Prinzregent genehmige
zwar den Vertrag vom 25. März und werde Alles aufbieten um Buona-
parte zu bekämpfen, doch könne er ſich nicht verpflichten den Franzoſen
eine beſtimmte Regierung aufzuerlegen. Oeſterreich, Preußen und Ruß-
land erkannten am 9. Mai dieſe Auslegung des Vertrages als wohlbe-
gründet an und behielten ſich ebenfalls freie Hand vor gegenüber der künf-
tigen Regierung Frankreichs. Sodann entſpann ſich in dem Comité der
acht Mächte eine langwierige Berathung über die Frage: ob nicht in
Folge der thatſächlichen Erfolge und der friedfertigen Zuſchriften Buona-
partes eine neue veränderte Erklärung geboten ſei. Die zu dieſem Zwecke
ernannte Commiſſion gelangte zu dem Schluſſe, daß die Betheuerungen
des Uſurpators keinen Glauben verdienten; ſie behauptete in ſehr ge-
mäßigten Worten: das Recht einer Nation ihre Regierungsform zu ver-
ändern ſei nicht ſchrankenlos, ſondern den Nachbarſtaaten ſtehe die Befugniß
zu ſich gegen den gemeingefährlichen Mißbrauch dieſes Rechtes zu ver-
wahren; ſie erinnerte an die allbekannte Thatſache, daß die Alliirten dem
beſiegten Frankreich nur unter der ausdrücklichen Bedingung der Ent-
thronung des corſiſchen Friedensſtörers einen milden Frieden gewährt
hätten, und erklärte ſcharf und treffend: „die förmliche Zuſtimmung der
franzöſiſchen Nation zu der erneuten Thronbeſteigung Buonapartes würde
einer Kriegserklärung gegen Europa gleichkommen.“ Dieſe förmliche Zuſtim-
mung der franzöſiſchen Nation zu dem Gewaltſtreiche des Uſurpators er-
folgte in der That, faſt im nämlichen Augenblicke da der Commiſſionsbericht
(am 12. Mai) dem Comité der Acht vorgelegt wurde. Die napoleoniſche
Zuſatzacte ward der Nation zur allgemeinen Abſtimmung vorgelegt; mehr
als 1¼ Millionen Stimmen erklärten ſich dafür, kaum 5000 wagten
zu widerſprechen, die große Mehrzahl hielt ſich fern, ließ willenlos Alles
über ſich ergehen. Damit hatte das franzöſiſche Volk die Thronrevolu-
tion unzweifelhaft anerkannt, und für die acht Mächte ergab ſich, nach
den eigenen Worten ihrer Commiſſion, die Nothwendigkeit, nunmehr die
frühere, allein gegen die Perſon Buonapartes gerichtete Declaration fallen
[716]II. 2. Belle Alliance.
zu laſſen und dem Staate Frankreich, wie er ſich jetzt thatſächlich neu
geſtaltet hatte, den Krieg zu erklären. Aber dieſer allein richtige Schluß
ward nicht gezogen, da die Abſichten der verbündeten Mächte ſehr weit
auseinander gingen.


Jene ſalbungsvolle Verſicherung der Torys, England wolle den Fran-
zoſen nicht eine beſtimmte Regierung aufzwingen, war keineswegs ehrlich
gemeint, ſondern lediglich ein parlamentariſcher Schachzug. Die ſtarr
legitimiſtiſche Geſinnung des Tory-Cabinets änderte ſich nicht; in ſeinen
Augen war und blieb der König ohne Land der rechtmäßige Beherrſcher
von Frankreich, und Europa war ſelbſtverſtändlich verpflichtet, durch einen
royaliſtiſchen Kreuzzug den legitimen König wieder auf den Thron ſeiner
Väter zurückzuführen, damit England als der hochherzige Beſchützer der
dankbaren Bourbonen den herrſchenden Einfluß in den Tuilerien erhielte.
In ſolchem Sinne wiederholte Wellington beſtändig: „Frankreich hat keine
Feinde; dieſer Krieg iſt ein Krieg Europas, Frankreich mit eingeſchloſſen,
gegen Buonaparte und ſein Heer.“ Darum durfte auch Niemand irgend
welche Gebietsforderungen an Frankreich ſtellen. Voll hoher ſittlicher
Entrüſtung, behaglich auf ihre wohlgefüllten Taſchen klopfend, ſprachen
die Torys über die preußiſche Armuth und Habgier; ihr Neid gegen
Deutſchland trat ſo gehäſſig hervor, daß ſelbſt die Gutherzigkeit der preu-
ßiſchen Patrioten jetzt endlich über den wahren Charakter der britiſchen
Handelspolitik ins Klare kam und Mancher, der ſeit Jahren ein glühender
Bewunderer der engliſchen Hochherzigkeit geweſen, nunmehr ſein Urtheil
berichtigte. Aber wie beſchränkt, heuchleriſch, engherzig die Politik der Torys
auch erſchien, ſie allein unter den Verbündeten wußten genau was ſie
wollten und verfolgten ihr Ziel mit hartnäckiger Ausdauer.


In der Hofburg fehlte es nicht an fanatiſchen Legitimiſten, die in
das engliſche Horn blieſen. Adam Müller fand es ganz unbeſtreitbar,
daß Ludwig XVIII. nunmehr ſchon ſeit vierundzwanzig Jahren regiere
und Buonaparte nur ein Rebell ſei; ſonſt würde ja das göttliche Recht
aller Throne geleugnet und „das lächerliche Recht der Völker, eine Art
von Willen zu haben, anerkannt!“ Metternich ſelbſt dachte nüchterner,
er hegte keine Vorliebe für die Bourbonen und behielt ſich vor, nach den
Umſtänden zu handeln; aber da ſeine ruheſelige Natur jede zweifelhafte
Neuerung verabſcheute und die Verträge von Paris und Wien ihm als
ein unantaſtbares Werk ausbündiger diplomatiſcher Weisheit erſchienen,
ſo durften die Torys hoffen, den öſterreichiſchen Freund allmählich zu
ihrer Anſchauung hinüberzuziehen. Czar Alexander dagegen und König
Friedrich Wilhelm konnten dem Bourbonen das Kriegsbündniß vom 3.
Januar nicht verzeihen. Unter den preußiſchen Generalen war nur eine
Stimme darüber, daß dies zugleich ſchwache und treulos undankbare
Königshaus nicht zurückkehren dürfe; der Czar ſprach mit Wärme von
dem liberaliſirenden Herzog von Orleans. Doch weder der Petersburger
[717]Zwieſpalt der Coalition.
noch der Berliner Hof hatte ſchon einen beſtimmten Plan für die Wieder-
beſetzung des franzöſiſchen Thrones gefaßt; überdies ſtimmten die beiden
Mächte unter ſich keineswegs überein. Während die preußiſchen Staats-
männer von Haus aus auf die Sicherung der deutſchen Weſtgrenze hin-
arbeiteten, gefiel ſich der Czar wieder in überſchwänglicher Großmuth.
Den wahren Grund ſeiner Hochherzigkeit verrieth er einmal, als ihm der
Ausruf entfuhr: entweder ich nehme Theil an dieſem Kuchen, oder der
Kuchen ſoll gar nicht gebacken werden! Rußland konnte von dieſem
Kriege nichts gewinnen, und was kümmerte ihn Deutſchland wenn er
hoffen konnte durch Freiſinn und Zartgefühl den engliſchen Einfluß in
Frankreich aus dem Felde zu ſchlagen? Schon am 25. Mai ließ er
ſeinen Geſandtſchaften ſchreiben: es beſteht eine franzöſiſche Nation, deren
berechtigte Intereſſen nicht ungeſtraft geopfert werden dürfen; darum weder
eine Herſtellung der unhaltbaren alten Ordnung noch eine Demüthigung
Frankreichs, das für die Wohlfahrt Europas unentbehrlich iſt.


Bei dieſer tiefgreifenden Meinungsverſchiedenheit ließ ſich eine un-
zweideutige Kriegserklärung gegen Frankreich, wie ſie von Hardenberg und
Humboldt gewünſcht wurde, nicht durchſetzen. Die Coalition beſchloß auf
jede weitere öffentliche Erklärung zu verzichten und beruhigte ſich bei dieſer
Halbheit um ſo lieber, da ja in den Wechſelfällen des Krieges ſich leicht
die Gelegenheit zu beſtimmteren Beſchlüſſen bieten konnte. Alle Welt er-
wartete einen langen und langweiligen Krieg; war doch die Führung der
europäiſchen Heere wieder in Schwarzenbergs und Langenaus bewährte
Hände gelegt worden. Die Mächte begannen alſo den Feldzug in einer
überaus unklaren völkerrechtlichen Stellung. Sie hatten den Kampf gegen
Buonaparte angekündigt — denn ſo nannten ſie den Imperator noch immer
— und nachher verſichert, daß ſie nicht den Zweck verfolgten die Bour-
bonen wieder einzuſetzen. Sie waren unbeſtreitbar im Zuſtande des Krieges
gegen den franzöſiſchen Staat, da das Völkerrecht nur Kriege zwiſchen
Staaten kennt; ob ſie ſich aber ſelber als Feinde Frankreichs betrachteten,
das blieb Angeſichts ihrer eigenen widerſpruchsvollen Erklärungen durchaus
zweifelhaft. Auch die Proclamation an die Franzoſen, welche Schwarzenberg
beim Einmarſche der Heere erließ, lautete ſehr unbeſtimmt; mit Mühe hatte
Gagern erlangt, daß aus dem Satze „Europa will den Frieden“ minde-
ſtens der gefährliche Schluß „und nichts als den Frieden“ geſtrichen wurde.


Dieſe rechtliche Unklarheit bei der Einleitung des Krieges hat nach-
her den unglücklichen Ausgang der Friedensverhandlungen zwar nicht
allein verſchuldet — denn die Entſcheidung gab der vereinte Widerſtand,
welchen das geſammte Europa den deutſchen Forderungen entgegenſetzte
— aber die Stellung der deutſchen Unterhändler auf dem Friedenscon-
greſſe weſentlich erſchwert. Genug, dieſem vieldeutigen Bündniß „gegen
Buonaparte“ traten nach und nach alle Mächte zweiten Ranges bei; eine
thörichte, vorzeitige Schilderhebung Murats in Italien, die raſch nieder-
[718]II. 2. Belle Alliance.
geſchlagen ward, beſtärkte die Höfe in der Ueberzeugung, daß jede Ver-
handlung mit dem Bonapartismus unmöglich ſei. Deutſchland erſchien,
was ſeit drei Jahrhunderten nicht mehr erlebt worden, ſchon beim Be-
ginne des großen Krieges vollkommen einig. Offenen Verrath wagte Nie-
mand mehr, obwohl ſich die böſe Geſinnung des Münchener und des
Stuttgarter Hofes wieder in tauſend Zänkereien über das Verpflegungs-
weſen bekundete. Aber die Nation ſollte ſchmerzlich genug erfahren, daß
Einigkeit nicht Einheit iſt. Da der Deutſche Bund in dem Augenblicke
der Kriegserklärung noch nicht beſtand, ſo konnten die deutſchen Staaten
auch nur einzeln der Coalition beitreten; ſie erhielten im Rathe der großen
Mächte keine Stimme und erprobten ſogleich, wie werthlos jenes Recht
der ſelbſtändigen diplomatiſchen Vertretung war, das ſie als die ſchönſte
Zierde ihrer Kronen betrachteten.


Angeſichts der ungeheuren Ueberlegenheit der Streitkräfte der Ver-
bündeten verhieß die alsbaldige Eröffnung des Feldzugs ſicheres Gelingen;
faſt alle namhaften Generale der Coalition, Blücher und Gneiſenau, Wel-
lington, Toll und Diebitſch ſtimmten darin überein. Die Zögerung,
meinte Blücher, ſchafft Napoleon nur die Heere, die wir mit vielem Blute
bekämpfen müſſen. Nach Gneiſenaus Anſicht konnten am 1. Mai drei große
Armeen von je 200,000 Mann etwa am Ober-, Mittel- und Niederrhein
zum Einmarſch in Frankreich bereit ſtehen. Sein ſtaatsmänniſcher Blick ſah
voraus, was faſt alle Uebrigen für unmöglich hielten, daß der Imperator
die Offenſive ergreifen würde. Um ſo dringender rieth er den Alliirten
ihrerſeits mit dem Angriff zuvorzukommen. Rückten die drei Armeen
gleichzeitig gegen Paris vor und verſammelte ſich unterdeſſen in ihrem
Rücken die vierte Armee, die aus Rußland herankam, dann konnte Napo-
leon nur einer von ihnen eine ebenbürtige Macht entgegenſtellen; erlitt
das eine Heer durch die Feldherrnkunſt des Gegners einen Unfall, ſo
zog es ſich auf die große Reſervearmee zurück, die beiden anderen aber
blieben im Vorgehen auf Paris. Wieder wie vor’m Jahre bezeichnete
Gneiſenau die feindliche Hauptſtadt als das einzig mögliche Ziel des
Kampfes, während ſelbſt muthige Männer wie Humboldt bedenklich mein-
ten, die Geſchichte kenne keine Wiederholungen. Und wieder wie damals
warnte er vor jeder Zerſplitterung der Kräfte: mit dem Sturze Napo-
leons ſei alles Andere, auch das Schickſal Italiens von ſelbſt entſchieden.


In der Hofburg dagegen ward der italieniſche Kriegsſchauplatz als ſo
hochwichtig angeſehen, daß ſelbſt Radetzky erklärte: Oeſterreich müſſe die
Schweiz zum Mittelpunkte ſeiner Operationen wählen, um mit der ita-
lieniſchen Armee in Verbindung zu bleiben. Auf der Halbinſel begann
es zu gähren. Die Mailänder fingen ſchon an, die übereilte Revolution
des vergangenen Frühjahrs zu bereuen, murrten über die Herrſchaft des
bastone tedesco. Die phantaſtiſchen Manifeſte Murats, die von der
Einheit Italiens redeten, machten doch einigen Eindruck; auch die natür-
[719]Kriegsplan der Coalition.
liche Theilnahme für den großen Landsmann, der ſoeben wieder die Wun-
derkraft des antico senno Italiens offenbart hatte, erwachte von Neuem.
Kaiſer Franz hielt für nöthig, ſeinen Bruder Johann in das neue lom-
bardo-venetianiſche Königreich zu ſenden, denſelben der vor ſechs Jahren
die Italiener zuerſt zur Freiheit aufgerufen hatte. Der Erzherzog ließ
es an Biederkeit und guten Worten nicht fehlen, doch machte er auf die
menſchenkundigen Südländer geringen Eindruck. Der Wiener Hof fühlte
ſich ſeines adriatiſchen Beſitzes keineswegs ſicher. Dazu die alte, auch
von Kneſebeck getheilte Vorliebe der k. k. Generale für geſuchte und weit-
läuftige Bewegungen, endlich und vor Allem der dringende Wunſch die
Gefahren des Krieges den Verbündeten zuzuſchieben, damit Oeſterreich
bei dem ſchwierigen Friedensſchluſſe mit ungebrochener Kraft daſtände.


Aus Alledem ergab ſich ein ungeheuerlicher Kriegsplan, der ſelbſt
die Künſteleien von 1814 noch überbot: in den Niederlanden 210,000
Mann unter Blücher und Wellington, am Mittelrhein Barclay de Tolly
mit 150,000 Ruſſen, am Oberrhein und in der Schweiz 200,000 Oeſter-
reicher, in Piemont endlich eine Armee von 60,000 Mann — eine Trup-
penmaſſe, die bis zu Ende Juli noch durch einen Nachſchub von 170,000
Mann auf 800,000 Köpfe verſtärkt wurde und dann dem Feinde um das
Dreifache überlegen war. Als das nächſte Ziel der Operationen dachte
ſich Schwarzenberg nicht Paris, ſondern Lyon. Von Napoleon aber ſtand
mit Sicherheit zu vermuthen, daß er ſich auf den zunächſt ſtehenden Feind,
auf das niederländiſche oder das mittelrheiniſche Heer ſtürzen würde; die k. k.
Truppen waren alſo vor der Fauſt des Gefürchteten ſicher. Da nach dem
öſterreichiſchen Plane die Ruſſen ſogleich in die erſte Reihe der Kämpfer
einrücken ſollten, ſo verlangte Schwarzenberg die Vertagung des Ein-
marſchs bis zum 16., dann zum 27. Juni, endlich gar bis zum 1. Juli.
Obgleich alle anderen Mächte es hochbedenklich fanden dem raſtloſen Feinde
ein volles Vierteljahr Friſt zu ſchenken, ſo behält doch in einem Coalitions-
kriege der Zaudernde immer Recht. Oeſterreich behauptete hartnäckig, ſeine
Rüſtungen nicht eher beendigen zu können, und ſo mußte denn am 19.
April der große Kriegsrath der Coalition zu Wien die Vorſchläge der
Hofburg im Weſentlichen annehmen, in die Verſpätung der Operationen
willigen. Die diplomatiſche Welt, und Hardenberg mit ihr, glaubte be-
ſtimmt, die Entſcheidung werde im Centrum der verbündeten Heere fallen.
Der Armee in den Niederlanden dachte man, wie vor zwei Jahren der
ſchleſiſchen, die beſcheidene Rolle eines Hilfscorps zu, und wieder wie da-
mals ſollte der Gang der Ereigniſſe aller Vorausſicht ſpotten.


Mit den Berathungen über den Kriegsplan verband ſich ein lebhafter
Streit über die Vertheilung der kleinen deutſchen Contingente. Die Höfe
der Mittelſtaaten hielten es alleſammt für ein Gebot kleinköniglicher Ehre,
ihre Truppen lieber unter fremden als unter preußiſchen Oberbefehl zu
ſtellen. Graf Münſter meinte die Stunde gekommen um ſein altes Ideal,
[720]II. 2. Belle Alliance.
die engliſch-hannoverſche Hegemonie in Norddeutſchland zu verwirklichen,
und warnte die kleinen Nachbarn dringend vor dem Anſchluß an Preußen.
In der That wurden außer den Niederländern auch die Hannoveraner,
Sachſen, Naſſauer und Braunſchweiger dem engliſchen Heere Wellingtons
zugetheilt; nur ein kleines norddeutſches Bundesarmeecorps, zumeiſt aus
Kurheſſen beſtehend, trat unter preußiſchen Befehl. Die ſüddeutſchen
Truppen zogen zu den Oeſterreichern und Ruſſen am Ober- und Mittel-
rhein, ſo daß ſich auch diesmal ein Gefühl nationaler Waffengemeinſchaft
nicht bilden konnte.


Napoleons Heer war das beſte, das er je ins Feld geführt. Die aus
der Kriegsgefangenſchaft und den deutſchen Feſtungen heimgekehrten Ve-
teranen bildeten den Stamm ſeiner Regimenter. Mit abgöttiſcher Ver-
ehrung blickte der gemeine Mann auf ſeinen kleinen Corporal; noch nie-
mals war die Mannſchaft ſo ganz durchglüht geweſen von Praetorianerſtolz
und leidenſchaftlicher Kampfluſt. Aber ihren Generalen traute ſie nicht
über den Weg, da ein Theil der Marſchälle den Bourbonen treu geblieben
war; und kehrte das Glück dem Imperator den Rücken, ſo ſtand von
dieſen tapferen Graubärten, die alleſammt ihren Fahneneid gebrochen
hatten und von den Bourbonen das Aergſte befürchten mußten, wenig ſitt-
liche Widerſtandskraft zu erwarten.


Wie anders die Stimmungen im preußiſchen Heere! Als der König
in einem kräftigen Aufrufe ſeinen Preußen ſagte: „Europa kann den Mann
auf Frankreichs Thron nicht dulden, der die Weltherrſchaft als den Zweck
ſeiner ſtets erneuerten Kriege laut verkündigte“ — da fand er überall in
dem treuen Volke williges Verſtändniß. Abermals wie vor zwei Jahren
eilte die Jugend zu den Waffen, der Landſturm und die Detachements
der freiwilligen Jäger wurden von Neuem errichtet, und abermals be-
ſeelte die Kämpfer der feſte Entſchluß, daß dieſer heilige Krieg nicht
anders enden dürfe als mit einem ganzen und vollen Siege. Das von
den ungeheuren Anſtrengungen der jüngſten Jahre noch ganz erſchöpfte
Preußen ſtellte wiederum 250,000 Mann unter die Fahnen; auch die
kleinen norddeutſchen Nachbarn zeigten diesmal regeren Eifer, ſtellten
etwa 70,000 Mann. An kriegeriſcher Erfahrung und Sicherheit kam das
Volksheer freilich dem Feinde nicht gleich. Die Armee befand ſich gerade
in einem gefährlichen Uebergangszuſtande als der unerwartete Kriegsruf
erſcholl. Das Wehrgeſetz und die Gebietserwerbungen machten eine Neu-
bildung eines großen Theiles der Truppenkörper nothwendig; noch auf
dem niederländiſchen Kriegsſchauplatze mußten einzelne Bataillone von
ihren alten Regimentern abgetrennt werden. Die geſammte Reiterei
wurde neu formirt, der Artillerie fehlte die Mannſchaft; Blücher hatte
für ſeine 304 Kanonen nur 5303 Mann, bei einem Armeecorps gar nur
11 Mann für das Geſchütz, während das Reglement 30 Mann auf das
Geſchütz rechnete. Die Mehrzahl der Linientruppen, die bis zum Ende
[721]Zuſtand des preußiſchen Heeres.
des vorigen Jahres noch am Rhein geſtanden, hatte der Kriegsminiſter erſt
vor Kurzem in die öſtlichen Provinzen zurückverlegt, theils weil er die
ſchwer heimgeſuchten Rheinländer der Einquartierung entlaſten wollte,
theils weil er einen Krieg mit Oeſterreich befürchtete. Als nun plötzlich
das Unwetter im Weſten aufſtieg und der König der Niederlande drin-
gend um ſofortige Hilfe bat, da mußte man was am nächſten zur Hand
war auf den Kriegsſchauplatz werfen. Die 116,000 Mann, die ſich in
Belgien verſammelten, waren zur Hälfte Landwehren, und von dieſen
wieder beſtand ein großer Theil, die Elblandwehr, aus Truppen der neuen,
vormals weſtphäliſchen Provinzen — Mannſchaften, die ſich erſt in den
preußiſchen Dienſt einleben mußten: hatten doch Manche darunter vor
Kurzem noch unter Napoleon gefochten.


Den Oberbefehl über die Feldarmee hatte der König ſchon im März
ſeinem greiſen Feldmarſchall wieder übertragen; auch Gneiſenau übernahm
wieder die ſchwere Vertrauensſtellung an Blüchers Seite. Um der Wieder-
kehr der gehäſſigen Streitigkeiten zwiſchen den Führern vorzubeugen, wurde
das Commando der drei erſten Armeecorps, welche den belgiſchen Feldzug
eröffnen ſollten, den Generalen Zieten, Borſtell und Thielmann anvertraut,
die alle drei im Dienſtalter hinter Gneiſenau ſtanden. Bülow erhielt das
vierte Corps, das als Reſerve dienen ſollte; ſo kam der Eigenſinnige
nicht zu häufig mit ſeinem Gegner Gneiſenau in Berührung. Das nord-
deutſche Bundesarmeecorps, das ſich am deutſchen Niederrhein, im Rücken
der Blücher’ſchen Armee verſammelte, wurde unter Kleiſts Befehle ge-
ſtellt, deſſen mildes und gehaltenes Weſen ſich für die diplomatiſchen
Aufgaben eines Bundesfeldherrn beſonders eignete. York und Tauentzien
endlich erhielten das Commando der beiden Armeecorps in den öſtlichen
Provinzen. General Grolman trat ſelbſt als Generalquartiermeiſter in
Blüchers Hauptquartier ein und wies den Corpsführern der belgiſchen
Armee vier ſeiner fähigſten Offiziere, Reiche, Aſter, Clauſewitz und Valen-
tini als Stabschefs zu. Der Held von Wartenburg fühlte ſich in tiefſter
Seele gekränkt, forderte nochmals ſeinen Abſchied, wollte in dieſer Ver-
theilung der Rollen nichts ſehen als eine Parteigehäſſigkeit des „Tugend-
bundes“. Wie York dachten alle die alten militäriſchen Gegner der Re-
formpartei; ſie klagten, durch Boyen und Grolman kämen die Phantaſten
und Demagogen in der Armee obenauf. Am Hofe begann wieder das
arge Spiel der geheimen Verdächtigung gegen das ſchleſiſche Hauptquartier.
In den Offizierskreiſen verſicherte man beſtimmt: Herzog Karl von Meck-
lenburg, der den Feldmarſchall bei der Abreiſe im Namen der Berliner
Garniſon noch einmal begrüßte, habe vergeblich um ein Brigadecommando
in der Blücher’ſchen Armee gebeten; der Schwager des Königs ſolle dem
gefährlichen Einfluſſe Gneiſenaus fern gehalten werden. General Kneſe-
beck unternahm ſogar den Feldmarſchall ſelbſt zu freiwilligem Verzicht auf
den Oberbefehl zu bereden; doch kaum fing er behutſam an von Blüchers
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 46
[722]II. 2. Belle Alliance.
hohen Jahren zu ſprechen, ſo lachte der Alte hell auf: was das für dummes
Zeug iſt!


Damit war Alles abgethan: wer hätte den Helden der Nation von
der Stelle, die ihm gebührte, verdrängen dürfen? Während der thaten-
armen Monate letzthin war er wirklich nur ein gebrechlicher alter Mann
geweſen, und eben jetzt traf den zärtlichen Vater noch ein grauſamer
Schlag: ſein Lieblingsſohn Franz, ein hochbegabter, verwegener Reiter-
offizier, war im Kriege ſchwer am Kopfe verwundet worden und verfiel
in unheilbare Geiſteskrankheit. Aber ſobald der Krieg entſchieden war,
raffte ſich der herrliche Greis wieder auf, wie ein edles Schlachtroß beim
Schmettern der Trompete; er fühlte die Laſt der Jahre und des Kummers
nicht mehr. Wieder einmal hatte er Alles voraus gewußt: warum wollten
ihm die verfluchten Diplomatiker nicht glauben, als er ihnen vor’m Jahre
vorherſagte, der Böſewicht werde ganz gewiß aus ſeinem Käfig ausbrechen?
Ueberall auf der Reiſe drängten ſich die Maſſen um den volksthümlichen
Helden. Friſch und jugendlich, leuchtend von Zuverſicht trat er unter
ſeine jubelnden Truppen. Wie that es ihm wohl, das neue oſtfrieſiſche
Regiment, die Landsleute ſeiner herzlieben Frau mit unter ſeinen Be-
fehlen zu ſehen. Den erbitterten ſächſiſchen Offizieren hielt er aus der
Fülle ſeines deutſchen Herzens heraus eine mächtige Rede: hier kenne er
nicht Preußen noch Sachſen, hier ſeien nur Deutſche, die für ihr großes
Vaterland ſiegen wollten und müßten. Mit dieſem Heere getraute er
ſich Tunis, Tripolis und Algier zu erobern, wenn nur das Meer nicht
dazwiſchen wäre. Die Stunde des Kampfes konnte er kaum erwarten
und ſchrieb ſiegesgewiß an ſeinen getreuen Heinen, der ihm daheim ſeine
Güter verwaltete: „Die Franzoſen habe ich vor mich, den Ruhm hinter
mich, balde wird es knallen!“*)


Er fand die Armeeverwaltung in peinlicher Verlegenheit. Denn der
König der Niederlande, der ſo dringend um ſchleunigen Einmarſch der
Preußen gebeten hatte, that jetzt, da er ſich in Sicherheit wußte, gar
nichts für die Verpflegung der verbündeten Heere in dem reichen Lande;
er kannte die Verachtung, welche die preußiſchen Offiziere ſeit dem thürin-
giſchen Feldzug gegen ihn hegten, erwiderte ſie durch unverhohlene Ab-
neigung und zeigte ſo üblen Willen, daß ihn Gneiſenau, ſicher mit Unrecht,
franzöſiſcher Sympathien beſchuldigte. Baares Geld, woran Wellington
Ueberfluß hatte, fehlte den Preußen gänzlich; ſchon ſeit anderthalb Mo-
naten war der Armee kein Sold bezahlt worden. Der treffliche General-
intendant Ribbentrop wußte keinen Rath mehr. Blücher ſchrieb dem
Staatskanzler zornig: „der niederländiſche König iſt der ungefälligſte,
heimlichſte, intereſſirteſte Menſch.“**) Um der dringendſten Noth abzuhelfen,
[723]Blücher in Belgien.
ſtellte er eigenmächtig Wechſel aus, die von den Elberfelder Kaufleuten
auf ſeinen großen Namen hin bezahlt wurden. Seine Truppen mußte
er vorläufig von den Bauern verpflegen laſſen und ebendeshalb weiter
als räthlich war, im Norden der Maas und Sambre zwiſchen Fleurus,
Namur, Cinay und Hannut zerſtreuen. Alle dieſe Sorgen fochten ihn in
ſeiner Siegeszuverſicht gar nicht an. Auf den erſten Blick durchſchaute er
die innere Schwäche des neuen Kaiſerreichs: „die Nation iſt bei Weitem nicht
ſo vor Bonaparte portirt wie die franzöſiſchen Blätter es auspoſaunen.“
Er ſagte mit prophetiſcher Sicherheit voraus, daß die Entſcheidung hier
auf dem belgiſchen Kriegsſchauplatze fallen werde. „Beendigen wir den
Krieg glücklich, ſchrieb er dem Staatskanzler, ſo gerathen alle großen
Herren in meine Schuld; und gut ſoll und wird es gehen, denn die
große Macht, ſo ſich die Sicherheitscommiſſarien von Bonaparte träumen,
iſt ein Hirngeſpinnſt. Es fehlt ihm an Allem, und beſonders hat er das
Zutrauen zu ſich ſelbſt und ſeinem Anhang verloren.“*)


Auch über die Forderungen, welche Deutſchland nach dem Siege an
die Franzoſen zu ſtellen habe, war Blücher von Haus aus mit ſich im
Reinen; „ich hoffe, ſo ſchrieb er ſchon zu Anfang Mai, dieſer Krieg wird
ſich ſo endigen, daß Frankreich in Zukunft Deutſchland nicht mehr ſo
gefährlich ſein wird. Elſaß und Lothringen müſſen ſie hergeben.“ Und
wunderbar, derſelbe Mann, in dem ſich der nationale Stolz und Haß
des norddeutſchen Volkes verkörperte, war zugleich ein Kosmopolit im
edelſten Sinne. Es wird in alle Zukunft eine ſtolze Erinnerung für
unſere Nation bleiben, wie jener weitherzige deutſche Weltbürgerſinn, der
bisher nur unſerer Bildung zu Gute gekommen, für unſer Staatsleben ein
Fluch geweſen war, jetzt einmal unter höchſt außerordentlichen Verhält-
niſſen auch politiſch fruchtbar wurde und Deutſchlands Feldherren be-
fähigte europäiſche Politik großen Stiles zu treiben. In Blüchers Augen
war dieſer Kampf ein heiliger Krieg der verbrüderten Völker Europas
für die gemeinſame Freiheit, und nichts ſchien ihm ſelbſtverſtändlicher als
daß der Bruder für den Bruder einſtehen müſſe bis zum letzten Bluts-
tropfen. Mit einer rückhaltloſen Selbſtvergeſſenheit, deren ſchlechterdings
nur der deutſche Idealismus fähig war, erklärte er ſich bereit alle Kräfte
ſeines Heeres für die Sache Europas einzuſetzen. Vertrauensvoll kam
er ſeinem engliſchen Waffengefährten entgegen und ſetzte treuherzig bei
dem Briten die nämliche Geſinnung voraus. Das kurze, ſichere ſolda-
tiſche Weſen des engliſchen Feldherrn gefiel ihm wohl: „Wellington iſt
die Gefälligkeit ſelbſt, ſchrieb er befriedigt, und ein ſehr beſtimmter Mann,
wir werden eine gute Ehe mit einander führen.“ Als trotz ſeiner ſtür-
miſchen Bitten und Vorſtellungen der Beginn des Krieges von den Wiener
Strategen immer weiter hinausgeſchoben wurde, da drohte er dem Staats-
46*
[724]II. 2. Belle Alliance.
kanzler: „Wenn der Befehl zum Vorwärts ausbleibt, die Unruhen in
Frankreich zunehmen, ſo mache ich es wie in Schleſien und ſchlage los.
Wellington accompagnirt mich ſicher.“ Gneiſenau, gleich ſeinem greiſen
Freunde bereit zu jedem Opfer für die gemeinſame Sache, urtheilte doch
anders über den Charakter des Briten; er meinte, von dem laſſe ſich
der zäheſte und tapferſte Widerſtand gegen den Feind erwarten, aber
weder eine kühne Unbotmäßigkeit, noch irgend eine Aufopferung für die
Verbündeten. Und dies Urtheil traf das Rechte; denn wenn im Blücher’-
ſchen Hauptquartiere die hochherzige Begeiſterung für die Freiheit Europas
vorherrſchte, ſo war Wellington ein Engländer vom Wirbel bis zur Zehe,
im Guten wie im Böſen.


Die kurzen ſechs Tage des belgiſchen Feldzugs erwecken nicht nur die
höchſte politiſche und menſchliche Theilnahme durch den raſtloſen, mächtig
aufſteigenden dramatiſchen Gang der Ereigniſſe, durch die Ueberfülle gran-
dioſer Kämpfe, Leidenſchaften und Schickſalswechſel, die ſich in wenigen
Stunden zuſammendrängte; ſie gewähren auch einen tiefen Einblick in die
wunderbar vielgeſtaltige und ungleichmäßige Entwicklung der abendländi-
ſchen Völker, denn drei grundverſchiedene Epochen der europäiſchen Kriegs-
geſchichte traten in den Ebenen von Brabant gleichzeitig auf den Kampf-
platz. Hier das achtzehnte Jahrhundert, das Söldnerheer Altenglands;
dort das Zeitalter der Revolution, das Berufsſoldatenthum der demokra-
tiſchen Tyrannis; da endlich die neueſte Zeit, das preußiſche Volk in
Waffen. Jede der drei Armeen entfaltet in einem ungeheuren Ringen
ihre eigenſte Kraft, und jede wird geführt von dem Feldherrn, der ihrem
Charakter entſpricht. Da Blücher und Gneiſenau, die Helden des ſtür-
miſchen Völkerzornes; dort der gekrönte Plebejer; hier endlich jener Wel-
lington, der damals von Münſter und den Hochtorys als der größte
Feldherr des Jahrhunderts gefeiert wurde, uns Nachlebenden aber als
der letzte großartige Vertreter einer völlig überwundenen Kriegsweiſe er-
ſcheint.


Wellington zählt zu jenen ſeltenen Männern, die ohne ſchöpferi-
ſches Genie, faſt ohne Geiſt, allein durch die Kraft des Charakters,
durch die Macht des Willens und der Selbſtbeherrſchung zu den Höhen
hiſtoriſchen Ruhmes emporſtiegen. Wer hätte dieſem langſam faſſenden
Knaben einen Weltruf geweiſſagt, ihm der nie recht jung war und von
ſeinen eigenen Brüdern Richard und Heinrich an Talent weitaus über-
troffen wurde? Ein Sohn jener hochkirchlichen Toryfamilien, die ſich
als Eroberer in Irland niedergelaſſen hatten und inmitten der feind-
ſeligen Kelten den Raſſen- und Standesſtolz, die Art und Unart des
engliſchen Mutterlandes nur um ſo ſtarrer bewahrten, hatte er nach alt-
engliſchem Adelsbrauche die ſubalternen Stellen im Heere durch Geld und
Gunſt raſch überſprungen, ſchon mit fünfundzwanzig Jahren in dem Revo-
lutionskriege ein Regiment befehligt. Sodann lernte er in Oſtindien die
[725]Wellington.
Kunſt des Herrſchens, unter den Augen ſeines Bruders Richard Welles-
ley, des genialen Begründers der britiſchen Großmachtſtellung im Oriente.
Streng gegen ſich und Andere, unverbrüchlich gehorſam und pflichtgetreu,
gerecht und ehrenhaft, kalt, ſicher und verſtändig in Allem, zeigte er ſich
jeder der ſchwierigen militäriſchen und politiſchen Aufgaben, welche das in-
diſche Leben dem Heerführer ſtellt, vollauf gewachſen; und wie verwegen
der Bedachtſame, der alle Möglichkeiten peinlich genau vorher erwog, zur
rechten Stunde das Glück zu packen wußte, das lehrten der glänzende
Sieg von Aſſaye über die ſechsfache Uebermacht der Hindus und der
kühne Reiterzug in die Berge der Mahratten. Nach Europa zurück-
gekehrt nahm er Theil an der berüchtigten Raubfahrt nach Kopenhagen,
tapfer und tüchtig wie immer, aber auch vollkommen gleichgiltig gegen
das traurige Schickſal des ruchlos überfallenen ſchwachen Gegners; denn
niemals war ein Sohn Britanniens ſo ganz durchdrungen von der alt-
nationalen Anſicht: right or wrong, my country! Nachher übernahm
er den Oberbefehl in Portugal, von Haus aus voll ruhiger Siegeszuver-
ſicht; trocken erklärte er, „ich werde mich behaupten.“ Der theatraliſche
Prunk der neufranzöſiſchen Kriegsherrlichkeit machte auf dieſen nüchternen
Kopf gar keinen Eindruck; an dem Sturze Napoleons zweifelte er nie-
mals. Während der ſechs Jahre des Halbinſelkrieges erzog er ſeine
Söldner zu Virtuoſen in allen Künſten der altüberlieferten Kriegsweiſe.


Von Neuerungen und durchgreifenden Verbeſſerungen hielt er nichts;
niemals hat er irgend ein Verdienſt begünſtigt, niemals eine Beförderung
außer der Reihe vorgeſchlagen. Selbſtändige, denkende Generale waren ihm
unbequem, während ſein weitherziger Bruder Richard begabte Untergebene
in ungeſtörter Freiheit ſchalten ließ; er brauchte zuverläſſige, geſchickte Werk-
zeuge und fand ſie mit ſicherer Menſchenkenntniß heraus. Seine Adju-
tanten waren zumeiſt junge Lords, die auf den beſten Pferden der Welt
die Befehle des Feldherrn pünktlich überbrachten und auf jede eigene
Meinung gehorſam verzichteten. Er kannte ſeinen Werth, ſagte ſeinen
Freunden im Tory-Cabinet gerade heraus: „Ihr habt Niemand außer
mir,“ ließ ſich mit einer außerordentlichen, nie mißbrauchten Vollmacht
ausſtatten, ſo daß er jeden Offizier ohne Weiteres ſuspendiren und in
die Heimath zurückſenden konnte. Seine Generale durften während der
Schlacht in der angewieſenen Poſition Alles thun, was ſie für gut hielten,
aber das nächſte Hinderniß vor ihrer Front war ihre unüberſchreitbare
Grenze, bei Strafe des Standrechts. Die Offiziere liebten den Geſtrengen
wenig, der nie in kameradſchaftlicher Herzlichkeit aufthaute, nie einen An-
flug von Wohlwollen oder Großmuth verrieth, auch nicht wenn der Dienſt
dabei keinen Schaden nehmen konnte. Der durchbohrende Blick der kalten
Augen, die ſtolzen Züge mit der Adlernaſe und dem feſtgeſchloſſenen
unbeweglichen Munde, der ſcharfe befehlende Klang der Stimme verboten
jede vertrauliche Annäherung. Aber Alle gehorchten, Alle fühlten ſich
[726]II. 2. Belle Alliance.
ſtolz dem ſchwer zu Befriedigenden genug zu thun; ein Tadel oder auch
nur ein Urtheil über die Maßregeln des Feldherrn wagte ſich ſelbſt im ver-
trauten Geſpräche der Offiziere nicht heraus. Sie folgten ſeinen Befehlen
blindlings wie den unerforſchlichen Rathſchlüſſen des Schickſals; ſelten einmal
würdigte er ſie einer Anſprache und ſetzte dann in langſamer Rede, ſchwer-
fällig und unſchön, aber beſtimmt und deutlich ſeine Abſichten auseinander.


Eine ſo unbedingte Abhängigkeit war nur möglich in den kleinen
Armeen der alten Zeit. In der That befand ſich Wellington dann am
wohlſten, wenn er ſelber, wie die Landsknechtsführer des ſechzehnten Jahr-
hunderts, die Frundsberg, Emſer und Leyva, den perſönlichen Mittel-
punkt des Heeres bildete, wenn er ſeine Regimenter in dicht gedrängter
Aufſtellung eng um ſich verſammelt hielt und ſie mit ſeinem Auge nahe-
zu überſah. Tief unter den hochadlichen Offizieren, die ihre Patente
durch Kauf erwarben, von ihnen getrennt durch eine unausfüllbare Kluft
ſtand die rohe Maſſe der Mannſchaft, der Abſchaum des engliſchen Volks,
wie Wellington ſelber ſagte. Reicher Sold und gute Koſt nebſt der ent-
ſprechenden Prügeltracht hielt dieſe Miethlinge zuſammen. Wunderbares
vermochten die athletiſchen Körper mit ihrem altengliſchen Boxermuthe,
ihrer Muskelkraft und Ausdauer zu leiſten, wenn der Drillſergeant ſie
einige Jahre lang unter ſeine Fuchtel genommen hatte; unwiderſtehlich
wirkte der Bajonettangriff der Hünengeſtalten der Garde oder der wuchtige
Anprall der ſchweren Reiter auf ihren großen edlen Roſſen. Aber wehe
der Stadt, die von dieſen Truppen mit Sturm genommen ward wie das
unglückliche Badajoz; in dem Taumel des Sieges verlor die neunſchwänzige
Katze ihre Schrecken, die Bande der Mannszucht zerriſſen und entfeſſelt
raſten die Mordluſt, die Raubgier, alle viehiſchen Begierden dahin. So
glich dies Heer einem großen, mit höchſter Sicherheit arbeitenden Uhr-
werke und war doch mehr als eine Maſchine; denn in dem Offizierscorps
lebten der ritterliche Anſtand und der Nationalſtolz des engliſchen Adels,
auch der brutale Soldat war nach ſo vielen glänzenden Erfolgen dem
nie beſiegten Feldherrn ganz und gar ergeben, ſah mit Selbſtgefühl auf
ſeine ruhmreiche Fahne.


Wellington hatte in Spanien ſein kleines Heer mit bedachtſamer
Umſicht geſchont, nur von Zeit zu Zeit, wenn alle Anzeichen den Erfolg
verbürgten, einen kühnen Angriff gewagt, ohne je das Daſein ſeiner
Armee auf das Spiel zu ſetzen. Dem Imperator ſelber war er niemals
auf dem Schlachtfelde begegnet; die großartige, durch ungeheure Maſſen-
ſchläge den Sieg mit einem male erzwingende Kriegsweiſe Napoleons
blieb ihm unbekannt. Ganz unbefangen hielt er jene altväteriſch bedacht-
ſame Kriegführung, die ihm ſelber in den ungewöhnlichen Verhältniſſen
des ſpaniſchen Kriegsſchauplatzes ſo große Erfolge bereitet hatte, für die
einzig richtige. Auf die Volksheere ſah er mit der ganzen Verachtung
des Berufsſoldaten herunter; ſie waren ihm alleſammt um nichts beſſer
[727]Wellingtons Kriegsweiſe.
als die ſpaniſchen Guerillas, welche ſich auf dem Schlachtfelde ſo oft un-
brauchbar erwieſen, und niemals wollte er zugeben, daß der Erfolg des
Halbinſelfeldzuges doch nicht möglich geweſen wäre ohne den Fanatismus
jener zuchtloſen Banden, die den Feind im Rücken durch die Schrecken
des kleinen Kriegs ermüdeten und ſchwächten. „Der Enthuſiasmus,
ſchrieb er in ſeiner ungelenken Weiſe an Caſtlereagh, iſt in der That
keine Hilfe um irgend ein Ding zu vollbringen und iſt nur eine Ent-
ſchuldigung für die Unordnung, womit jedes Ding gethan wird, und für
den Mangel an Mannszucht und Gehorſam in den Heeren.“ Aus dieſen
militäriſchen Anſichten ſprach zugleich die antirevolutionäre Geſinnung des
Hochtorys. Wellington hat in ſpäteren Jahren, ſobald ſein ſicherer Sol-
datenblick die unaufhaltſame Nothwendigkeit einer Reform erkannte, mehr-
mals gewagt ſich von ſeinen politiſchen Freunden zu trennen und, unbe-
kümmert um den Zorn der Partei, ſelber mit ſtarker Hand vollendet was
er bisher als gefährliche Neuerung bekämpft. Im Alter ſtand der Ruhm-
gekrönte hoch genug um allein dem Ganzen zu leben, allein der Stimme
ſeines lauteren Patriotismus zu folgen: „ich gäbe, ſagte er einſt, willig
mein Leben dahin, wenn ich meinem Lande damit einen Monat bürger-
lichen Krieges erſparen könnte.“ Im Jahre 1815 war er durchaus noch
ein hochconſervativer Parteimann; der Weltkrieg jener Tage erſchien ihm
einfach als ein Kampf der legitimen Obrigkeit gegen die Revolution.


Die nationalen Leidenſchaften, die in den Völkern des Feſtlandes
brandeten, betrachtete er halb mit Argwohn halb mit Verachtung. Unter
Iren, Hindus, Spaniern und Portugieſen hatte er den größten Theil
ſeines Lebens verbracht; nach ſolchen Erfahrungen ſtand ihm die Mei-
nung feſt, daß keine andere Nation ſich den Briten auch nur von fern
vergleichen dürfe. Die altengliſche Sünde der Geringſchätzung fremden
Volksthums zeigte ſich bei dieſem trockenen unliebenswürdigen Helden in
ſo beleidigenden, kalt hochmüthigen Formen, daß ſelbſt die Spanier, die
ihm ſo viel verdankten, ihn aus Herzensgrunde haßten. Ganz wie ſein
Freund Caſtlereagh blieb er der Anſicht, daß die parlamentariſche Freiheit
ein ausſchließliches Beſitzthum des bevorzugten engliſchen Stammes ſei
und für die Unreife der Continentalen nicht tauge. Wie er ſchon in
Indien und Spanien die ſtaatsmänniſche Thätigkeit mit der militäriſchen
verbunden hatte, ſo war er nach dem Frieden in Paris und Wien als
Geſandter wirkſam und wurde von den Miniſtern ſo tief ins Vertrauen
gezogen, daß man ihn geradezu wie ein Mitglied des Cabinets betrachtete.
Er theilte das Mißtrauen der Torys gegen die aufſtrebenden Mächte
Preußen und Rußland, war in den Geheimniſſen der Cabinette weit
gründlicher bewandert als das Blücher’ſche Hauptquartier und übernahm
ſein Commando ſogleich mit einem feſten, klar durchdachten politiſchen
Plane — mit der Abſicht den legitimen König wieder in das Schloß
ſeiner Väter zurückzuführen.


[728]II. 2. Belle Alliance.

Unter den 94,000 Mann ſeines Heeres waren 32,000, etwa ein
Drittel, Engländer, 37,000 Deutſche, 25,000 Niederländer. Von den
Deutſchen waren nur die ruhmreichen Regimenter der Deutſchen Legion,
etwa 7000 Mann, ebenſo kriegserfahren wie die wohlgedrillten engliſchen
Veteranen, die Mannſchaft weniger roh, die Offiziere nach deutſcher Weiſe
höher gebildet; auch die ſchwarze Schaar des Herzogs von Braunſchweig
beſtand größtentheils aus geſchulten Soldaten. Dagegen befand ſich unter
den Hannoveranern und Naſſauern viel junge Mannſchaft, desgleichen
unter den neugebildeten niederländiſchen Regimentern; auf die franzöſiſch
geſinnten Belgier war überdies kein Verlaß. Wellington betrachtete dieſe
buntſcheckige Armee mit geringem Zutrauen und ſuchte ihr mehr ſittlichen
Halt zu geben indem er die alten Regimenter mit den jungen Truppen
durcheinander miſchte. Auch von dem kriegeriſchen Werthe des preußiſchen
Heeres dachte er nicht hoch. Wohl kamen Augenblicke, da Blüchers mächtige
Perſönlichkeit, der hohe Schwung der Seele, der aus den Worten und
Blicken des Alten ſprach, ſelbſt dieſen Nüchternen bezauberte; „was für
ein ſchöner alter Knabe er doch iſt,“ ſagte er einmal mit ungewohnter
Wärme, als er dem Davonreitenden nachblickte. Aber der „republikaniſche
Geiſt“ dieſes Volksheeres blieb ihm unheimlich. War doch der ſtürmiſche
nationale Stolz und Thatendrang der preußiſchen Armee jetzt ſchon allen
Höfen verdächtig geworden; ſelbſt der Czar meinte um jene Zeit, er
werde wohl noch einſt ſeinen preußiſchen Freund gegen deſſen eigenes
Heer beſchützen müſſen!


Obwohl Wellington, wie die meiſten ſeiner Landsleute, im Stillen
der Meinung war, daß der Sturz des Weltreichs eigentlich durch den
ſpaniſchen Krieg bewirkt worden ſei, ſo ſah er doch nicht ohne Sorge dem
Augenblicke des erſten perſönlichen Zuſammentreffens mit Napoleon ſelber
entgegen. Der Gefahr einer Niederlage wollte und durfte er ſich nicht
ausſetzen; denn wie ſollte England die von den anderen Höfen nicht ge-
wünſchte Zurückführung der Bourbonen erwirken, wenn ſein kleines
Heer geſchlagen wurde? Darum ging er mit höchſter Vorſicht zu Werke.
Sobald der Kriegsrath in Wien die Vertagung des Kampfes beſchloſſen
hatte, fügte ſich der engliſche Feldherr nach ſeiner Gewohnheit unweiger-
lich dem Befehle und richtete ſich auf eine behutſame Vertheidigung ein.
Während Blücher durch die Schwierigkeiten der Verpflegung genöthigt
ward, ſein Heer nördlich der Sambre weit auseinanderzulegen — doch
immerhin noch nahe genug um die Armee bei der höchſten Pünktlichkeit
allenfalls in ſtarken vierundzwanzig Stunden verſammeln zu können —
zerſtreute Wellington ſeine Truppen ohne Noth, abſichtlich über einen noch
weit größeren Raum. Denn da er Napoleons Charakter und Kriegsweiſe
nicht kannte, ſo nahm er an, die Franzoſen würden in mehreren Colon-
nen, an verſchiedenen Stellen zugleich in Belgien einbrechen, und ver-
theilte ſeine Armee, ſtatt ſie nahe an die Preußen heranzuſchieben, auf
[729]Das engliſch-deutſche Heer.
der weiten Linie von Quatrebras bis weſtlich in die Gegend von Gent,
während er nach ſeiner ſtreng methodiſchen Art ſeine Reſerve bei Brüſſel
zurückbehielt um nach Umſtänden die bedrohten Punkte unterſtützen zu
können. So dachte er gegen jeden möglichen Angriff gerüſtet zu ſein, die
Verbindung mit England über Antwerpen und Oſtende ſicherzuſtellen und
zugleich ſeine Schützlinge, den Hof des flüchtigen Königs in Gent und
das Häuflein der bourboniſchen Haustruppen bei Aloſt vor einer Ueber-
rumpelung zu bewahren. Aber durch dieſe weitgedehnte Aufſtellung ward
ein raſches Zuſammenwirken mit Blücher verhindert; es blieb möglich,
daß Napoleon, der jedem einzelnen der beiden verbündeten Heere über-
legen war, ſich plötzlich zwiſchen die beiden Armeen eindrängte und die
Preußen, die ihm am nächſten ſtanden, ſchlug ehe Wellington zur Un-
terſtützung herbeieilen konnte. —


Kurz bevor die Schwerter aus der Scheide fuhren erlebte die deutſche
Armee noch eine unheimliche Kataſtrophe. Selbſt dieſer erſte Krieg, den die
Deutſchen in vollem Einmuth führten, ſollte nicht beginnen, ohne daß die
Flammen des alten grimmigen Bruderzwiſtes noch einmal aus dem Bo-
den emporſchlugen. Den unglücklichen ſächſiſchen Händeln folgte in Bel-
gien noch ein tragiſches Nachſpiel. Sobald die großen Mächte über
Sachſens Schickſal einig geworden, hatten ſie beſchloſſen den gefangenen
König in die Nähe von Wien kommen zu laſſen, damit er der geſchloſſe-
nen Uebereinkunft beiträte. Die preußiſche Regierung wußte aus Dresden,
daß der ſächſiſche Hofadel die Durchreiſe ſeines angeſtammten Fürſten zu
lärmenden Kundgebungen benutzen wollte; ſie wußte desgleichen durch die
Miniſter in Berlin, daß Friedrich Auguſt entſchloſſen war, alles in Wien
Beſchloſſene rundweg abzulehnen und die Verhandlungen von vorn zu
beginnen.*) Sofort traf Hardenberg ſeine Maßregeln. Der Gefangene
mußte, als er am 22. Februar die Reiſe nach Preßburg antrat, ſeinen
Weg durch Schleſien nehmen. An der öſterreichiſchen Grenze begrüßte
ihn ſofort das Geläute der Glocken und aller Pomp eines fürſtlichen
Empfanges. Doch mehr als ſolche Ehren konnte Kaiſer Franz ſeinem
Schützlinge nicht bieten; denn neben der Abwehr des neuen Angriffs der
Franzoſen erſchien jetzt der Streit um Sachſen in ſeiner ganzen klein-
lichen Erbärmlichkeit, als eine läſtige Störung, die man um jeden Preis
aus der Welt ſchaffen mußte. Preußen erlebte die Genugthuung, daß alle
die völkerrechtlichen Grundſätze, welche Hardenberg bisher unter dem Zeter-
geſchrei des entrüſteten „Europas“ vertheidigt hatte, nunmehr von Oeſter-
reich, England und Frankreich förmlich anerkannt wurden. Einſtimmig
erklärten die Mächte: da eine Eroberung des ganzen Landes, eine debel-
latio
vorliegt, ſo iſt ein Friedensſchluß mit dem entthronten Fürſten
[730]II. 2. Belle Alliance.
rechtlich nicht geboten; nur aus freiem Willen ſind die Eroberer bereit,
die eine Hälfte des Landes an Friedrich Auguſt zurückzugeben, wenn er
zuvor die Bewohner der anderen Hälfte ihres Eides entbunden und ſich
den Wiener Beſchlüſſen unterworfen hat; bis dahin verbleibt die Ver-
waltung des ganzen Landes in Preußens Händen. Mit ſolchen Aufträgen
traten am 12. März Metternich, Wellington und Talleyrand vor den
Wettiner.


Als er trotzig die Wiederaufnahme der Verhandlungen verlangte, er-
widerten ſie in einer ſcharfen Note, „er verkenne gänzlich ſeine Lage.“
Talleyrand aber verſicherte erhaben: Friedrich Auguſt habe „dem grau-
ſamſten Feinde Deutſchlands“ gedient und verdiene darum keine Scho-
nung! Das Hin- und Herzerren, das nun begann (von Unterhand-
lungen kann man kaum reden), erregt höchſtens ein pathologiſches Inter-
eſſe. Zwei Monate lang hielt der verblendete alte Mann die Mächte
hin mit Entſchädigungsforderungen für Warſchau oder die Lauſitz, mit
Rechtsverwahrungen, Formbedenken und tauſend armſeligen Quälereien.
Erſt am 18. Mai kam der Friede zwiſchen Preußen und Sachſen zu
Stande, genau nach den Beſchlüſſen des Comités der Fünf. An den
Höfen regte ſich der Verdacht, Friedrich Auguſt ſuche abſichtlich die Ver-
handlungen hinzuziehen, bis ein neuer Sieg Napoleons den Albertinern
ihre alte Macht zurückgäbe. Die Vermuthung lag ſehr nahe. Der
Dresdner Pöbel, der mit blauem wie der mit rothem Blute, jubelte dem
rückkehrenden Großen Alliirten entgegen; damals wie im Jahre 1866
fand das Ehrgefühl dieſer Kreiſe ſeinen getreuen Ausdruck in dem Vers-
lein: „Preußiſcher Kukuk, warte! Uns hilft Bonaparte!“ Der Hof in
Preßburg dachte doch anders; die Rückkehr der napoleoniſchen Herrſchaft
war dem alten Könige in jenem Augenblicke unwillkommen, weil ſie ihn
des Beiſtandes ſeiner mächtigen Beſchützer beraubte. Der mühſelige Gang
der letzten Verhandlungen erklärt ſich genugſam aus der legitimiſtiſchen
Starrheit und der pedantiſchen Formenſeligkeit des Albertiners. Was
verſchlug es dem kleinköniglichen Stolze, wenn die unleidlichen proviſo-
riſchen Zuſtände in dem armen Lande, das ſeit anderthalb Jahren nicht
mehr zur Ruhe gekommen, noch um einige Monate verlängert wurden?


Derſelben Geſinnung begegnete das preußiſche General-Gouvernement
bei den ſächſiſchen Beamten. Die oberſten Behörden widerſetzten ſich hart-
näckig, als die in Folge der Theilung unvermeidliche Abſonderung der
Archive und Regiſtraturen anbefohlen wurde; man ging ſo weit, ſogar
Rechnungs-Ablegung von dem General-Gouvernement zu verlangen. Das
Dresdner Geheime Conſilium behauptete in einem höchſt poſſirlichen band-
wurmartigen Schriftſtücke*) „die Ohnmöglichkeit, ohne allerſeitiges Einver-
ſtändniß“ die Theilung durchzuführen, und berief ſich auf die Parlaments-
[731]Nachſpiel der ſächſiſchen Händel.
reden „des bei der Abfaſſung der Wiener Protokolle ſelbſt mitgewirkten
Lords Caſtlereagh“. Alles vergeblich; ſogar der Name des ſelbſt mit-
gewirkten Lords machte auf den Staatskanzler keinen Eindruck. Harden-
berg befahl, mit Strenge vorzugehen; die Theilung ſei durch die Mächte
unwiderruflich beſchloſſen, von einer Rechenſchaft über die Verwaltung
eines eroberten Landes „könne gar nicht die Rede ſein“*). Das Land
blieb alſo vorläufig in Preußens Beſitz, alle für die definitive Theilung
erforderlichen Vorbereitungen wurden vollzogen; das Zaudern des alten
Königs bewirkte nur einige unfruchtbare Zänkereien. Den ſächſiſchen Le-
gitimiſten aber iſt niemals ein Schimmer der Selbſterkenntniß aufge-
gangen, auch als ſie endlich die Früchte ihres Thuns vor Augen ſahen;
ſie haben nie begriffen, daß ſie ſelber durch ihre Gehäſſigkeit gegen
Preußen redlich mitgeholfen hatten zu der vielbeweinten Theilung des
Landes.


Für die kleine ſächſiſche Armee ſollte der Starrſinn Friedrich Auguſts
verhängnißvoll werden. Der Kriegsherr als Gefangener in Preußens
Händen, und ſeine Soldaten als Bundesgenoſſen im Lager der Alliirten:
in dieſem ſchiefen und unwahren Verhältniß waren die bedauernswerthen
Regimenter durch anderthalb Jahre verblieben. Ihr Unſtern wollte, daß
ſie an dem Kriegsruhm der Verbündeten faſt keinen Antheil gewannen;
die Anſchauungen des preußiſchen Heeres blieben dieſen altgedienten Be-
rufsſoldaten ganz fremd, der Name Landwehr galt hier als Schimpfwort.
Nach dem Frieden ſtanden ſie lange in Weſtdeutſchland, der Heimath
fern, doch von Dresden aus beſtändig durch Briefe und Sendboten be-
arbeitet. Die anhaltende Ungewißheit über die Zukunft des Landes rief
Parteiungen im Offizierscorps hervor. Eine Adreſſe zu Gunſten des ge-
fangenen Königs wurde eingereicht, unter lebhaftem Widerſtreben der
preußiſchen Vorgeſetzten. Die Legitimiſten wollten das grüne Kreuz, eine
von dem ruſſiſchen Gouvernement geſtiftete Auszeichnung, nicht mehr auf
der Bruſt ihrer Kameraden dulden; in Coblenz kam es zu gewaltſamen
Auftritten zwiſchen Görres und ſächſiſchen Offizieren. Die Mannſchaft
begann irr zu werden an ihren Führern; ſie fühlte ſich wie verrathen
und verkauft, da ſelbſt der gemeine Soldat merkte, daß die plötzliche Ver-
legung des Armeecorps in die Nähe preußiſcher Garniſonen politiſche Gründe
hatte. Aller Unſegen des Parteikampfes brach über die Truppen herein.
Wer billig urtheilt, wird ſich nur darüber verwundern, daß in ſo unge-
ſunden Zuſtänden die Bande der ehrenhaften deutſchen Mannszucht nicht
ſchon früher zerriſſen.


Die dienſtliche Haltung der Regimenter blieb untadelhaft den Winter
über, obgleich die alten rheinbündiſchen Erinnerungen natürlich wieder le-
bendig wurden, da und dort in den Quartieren der ſächſiſchen Soldaten
[732]II. 2. Belle Alliance.
auch ein vive l’empereur erklang. Die beiden Generale, welche in der
Armee mit Recht des höchſten Anſehens genoſſen, Zeſchau und Le Coq,
waren ſtrenge Legitimiſten und durften deshalb nicht bei den Truppen
bleiben. Das Commando des Corps wurde durch einen argen Mißgriff
dem General Thielmann anvertraut, der ſeinen alten Kameraden als ein
Deſerteur verdächtig war; und er verſtärkte dieſe Mißgunſt, indem er
nach ſeiner ſchauſpieleriſchen Weiſe, mit unmilitäriſcher Redſeligkeit durch
Trinkſprüche und Anreden die Offiziere für Preußen zu gewinnen ſuchte.
Da aus Wien die Nachricht von der Theilung des Landes kam, forderte
er ſofort eigenmächtig ſeine Kameraden auf, zwiſchen dem preußiſchen und
dem ſächſiſchen Dienſte zu wählen; darauf neuer Zwiſt unter den Offi-
zieren, ſteigendes Mißtrauen unter der Mannſchaft. So hat der General
durch ſein taktlos zudringliches Benehmen die Lockerung der Mannszucht
in der kleinen Armee unbeſtreitbar mitverſchuldet.


Dieſe heilloſen Wirren zu beendigen war für den König von Preußen
unerläßliche Pflicht. Boyen ſah ſchon im März unruhige Auftritte unter
den ſächſiſchen Truppen voraus. Durfte man ſie in ihrem unfertigen
Zuſtande belaſſen bis zu dem ganz unabſehbaren Zeitpunkte, da es dem
Albertiner gefallen würde ſeinen thörichten Widerſtand aufzugeben? Der
König befahl daher am 14. März dem General Gneiſenau ungeſäumt
aus den dem preußiſchen Antheile angehörigen Mannſchaften neue Re-
gimenter zu bilden: „ich werde mich freuen, von jetzt an nie einen Unter-
ſchied zwiſchen meinen älteren Regimentern und ihnen zu machen.“*)
Den Offizieren blieb die Wahl des Dienſtes freigeſtellt. Die Gewiſſen-
haftigkeit des Königs ließ ſich nicht ein auf die peinliche Frage, ob der
alte Fahneneid der Sachſen nicht durch ihren Uebertritt zu den Verbün-
deten aufgehoben ſei. Er befahl einfach eine neue Formation der ſäch-
ſiſchen Regimenter, wozu er unzweifelhaft befugt war, und wollte die Ver-
eidigung der an Preußen kommenden Truppentheile ſo lange vertagen,
bis Friedrich Auguſt ſie des alten Eides entbunden hätte. Am 1. April
ſchärfte Hardenberg dem General Gneiſenau den königlichen Befehl noch-
mals ein, da nach dem Gange der Verhandlungen an der ſchließlichen
Zuſtimmung des Wettiners nicht zu zweifeln ſei. Die Mächte in Wien
waren mit dem Verfahren des Staatskanzlers einverſtanden; ſie beſchloſſen
die bei der Krone Sachſen verbleibenden Regimenter der Armee Wellingtons
zuzutheilen. Die preußiſchen Generale ſchoben dann die Ausführung ſcho-
nend noch um einige Wochen hinaus. Um den Sachſen ſein Vertrauen
zu zeigen nahm Blücher in Lüttich mitten unter ihnen ſein Hauptquartier.
Aber ſeine herzliche Anſprache fand taube Ohren; der Groll der Truppen
ſtieg von Tag zu Tag, die ganz bonapartiſtiſch geſinnten Quartierwirthe
des Lütticher Landes regten die Verblendeten noch mehr auf.


[733]Menterei in Lüttich.

Als endlich auf einen neuen königlichen Befehl am 2. Mai die Theilung
der Armee angeordnet wurde, da brach die ſo lange von Dresden her ge-
ſchürte und unzweifelhaft auch durch einzelne gewiſſenloſe Offiziere genährte
Erbitterung der Mannſchaft furchtbar aus. Trunkene Soldatenhaufen
ſtürmten unter dem Rufe „wir laſſen uns nicht theilen“ das Haus des
Feldherrn. Der alte Held mußte fliehen vor ſeinen eigenen Soldaten; nur
durch die Tapferkeit ſeiner ſächſiſchen Wachen entging er dem Tode. Auf die
Willenskraft und das ſittliche Anſehen der Offiziere kommt bei ſolchen Aus-
brüchen der Roheit Alles an. Die ſächſiſche Wache vor Blüchers Thür that
ehrenvoll ihre Soldatenpflicht; die Reiterei und die Artillerie hielten ſich
dem wüſten Treiben ganz fern. Auch unter dem Fußvolk blieb die Mann-
ſchaft überall da ruhig, wo die Führer ſie zu beherrſchen verſtanden; ſelbſt
ſolche Offiziere, die ſich bereits für den preußiſchen Dienſt gemeldet hatten,
behaupteten ihr Anſehen, wenn ſie nur tüchtig waren. Jenes Bataillon
dagegen, das ſchon zur Zeit der Dennewitzer Schlacht, früher als die
anderen Sachſen, zu den Preußen übergegangen war, zeichnete ſich in
Lüttich durch ſeine Zuchtloſigkeit traurig aus*).


Nachſicht gegen dieſe faſt im Angeſichte des Feindes begangene Meuterei
wäre ſchimpfliche Schwäche geweſen. Das Kriegsrecht nahm ſeinen Gang,
die Rädelsführer wurden erſchoſſen, die Fahne der ſächſiſchen Garde vor
der Front verbrannt. General Borſtell, der ſich aus Mitleid mit den
Unglücklichen geweigert hatte, die Verbrennung der Fahne vorzunehmen,
büßte ſeinen Ungehorſam auf der Feſtung; an ſeiner Stelle übernahm
General Pirch den Befehl über das zweite Armeecorps. Dann mußte
das ſächſiſche Corps den Rückmarſch in die Heimath antreten, da die
preußiſchen Soldaten, wüthend über die dem Marſchall Vorwärts an-
gethane Schmach, mit den Sachſen nicht zuſammen fechten wollten, und
Wellington ſich weigerte die meuteriſche Truppe in ſein Heer aufzunehmen.
Schuldige und Unſchuldige gingen des Schlachtenruhms von Ligny und
Belle Alliance verluſtig. Auf dem Rückmarſch erfuhren die Sachſen viel-
leicht das Entſetzlichſte, was jemals deutſche Krieger ertragen haben.
Ueberall am Rhein und in Weſtphalen grimmiger Haß und Abſcheu gegen
die Meuterer; in Aachen beſetzten bewaffnete Bürger argwöhniſch die Wachen
und Thore, als die ſächſiſchen Regimenter vorbeikamen. Ueberall jubelte
das Volk über den neuen ſtrahlenden Sieg Blüchers und Gneiſenaus. Die
preußiſchen Freiwilligen, welche dem ſiegreichen Heere nachzogen, konnten
ihre Verachtung gegen „die ſächſiſchen Hunde“ nicht bemeiſtern; nach wie-
derholten blutigen Raufhändeln mußte man mehrmals die Landſtraße ver-
meiden um ſchmählichen Begegnungen auszuweichen. Und dazu der grade
für die ehrenhaften Offiziere empörende Gedanke, daß ſie an dem Kampfe
[734]II. 2. Belle Alliance.
von Belle Alliance hätten theilnehmen können und dort unzweifelhaft ihre
Pflicht gethan haben würden! Natürlich ſchob man alle Schuld auf die
preußiſchen Generale, die doch nur den Befehl ihres Königs ausgeführt
und den Sachſen durchaus keinen neuen Eid zugemuthet hatten. Während
ganz Deutſchland ſich das Herz erhob an dem neuen Ruhme der preußi-
ſchen Waffen, herrſchte in Sachſen tiefe Trauer; man ſang das Lied des
ſächſiſchen Tambours: „O Vaterland, daß du zerriſſen biſt! Wie ſollt’
ich noch leben zu dieſer Friſt?“ Die kleine Armee hat nach der endlich
vollzogenen Theilung noch Jahrzehnte lang unter den Folgen jenes böſen
Tages gelitten; ſie blieb mit Offizieren überfüllt, das Avancement ſtockte
gänzlich. Die napoleoniſchen Veteranen, die alten Herren mit dem blau-
gelben und dem rothen Bande, gaben den Ton an; aus dieſen Kreiſen
iſt dann der Todhaß gegen Preußen wie ein heiliges Vermächtniß auf die
jüngere Generation übergegangen.


Der greiſe Feldmarſchall aber fühlte ſich unglücklich bis zur Verzweif-
lung. Seit fünfundfünfzig Jahren trug er den Degen und hatte niemals
anderes Blut vergoſſen als das Blut der Feinde. Und nun dieſe Schmach!
Nun mußte er, der Vater ſeiner Soldaten, Hinrichtungen vornehmen in
der eigenen Armee und nachher noch ſein ganzes Anſehen einſetzen um die
Meuterer vor dem Ingrimm der Preußen zu beſchützen. Der gewaltige
Mann war wie vom Fieber geſchüttelt und horchte in furchtbarer Auf-
regung auf das Knattern des Gewehrfeuers, als draußen der Spruch des
Kriegsgerichts vollſtreckt ward. An den König von Sachſen aber ſchrieb
er mit ſeinem mächtigen Freimuth, in einer Sprache wie ſie nie ein
Feldherr gegen ein gekröntes Haupt gewagt hat: „Ew. K. Majeſtät haben
durch Ihre früher ergriffenen Maßregeln Ihre Unterthanen, einen ge-
achteten deutſchen Völkerſtamm, in das tiefſte Unglück geſtürzt. Durch
Ihre ſpäteren Maßregeln kann es dahin kommen, daß er allgemein mit
Schande bedeckt wird. Das vergoſſene Blut wird dereinſt vor Gottes
Gericht über den kommen, der es verſchuldet hat, und vor dem Allwiſſen-
den wird Befehle geben und Befehle dulden als ein und daſſelbe geachtet
werden müſſen. Ew. K. Majeſtät wiſſen, daß ein Greis von 73 Jahren
keine anderen irdiſchen Abſichten mehr haben kann als daß die Stimme
der Wahrheit gehört werde und das Rechte geſchehe. So haben Ew. K.
Majeſtät dieſes Schreiben aufzunehmen!“*) Blücher mochte in ſeinem
Zorne ein Wort zu viel ſagen; es ließ ſich nicht erweiſen, daß die
Meuterei planmäßig vorbereitet worden wäre. Doch im Weſentlichen
traf der Alte das Rechte: ohne das verblendete Zaudern Friedrich Auguſts,
ohne die ſchändliche Aufwiegelung, die von ſeinen Helfershelfern ſeit
Monaten betrieben wurde, wäre das Blut der ſächſiſchen Soldaten bei
Lüttich nicht gefloſſen. —


[735]Napoleons Anmarſch.

In der zweiten Woche des Juni führte Napoleon ſeine Feldarmee,
den Marſch geſchickt verdeckend, gegen die belgiſche Grenze um bei
Charleroi die Sambre zu überſchreiten. Von dort geht eine Straße
nordwärts über Quatrebras nach Brüſſel, eine zweite oſtwärts in einem
großen Bogen über Sombreffe nach Namur. Der Imperator wußte
über die Aufſtellung der Verbündeten ungefähr, daß Wellingtons Heer
in der Gegend von Brüſſel, das preußiſche bei Namur ſtand. Das Dreieck
zwiſchen Charleroi, Quatrebras und Sombreffe bildete alſo den natür-
lichen Platz für die Vereinigung der verbündeten Armeen; gelang dieſe
Vereinigung rechtzeitig, ſo war den 210,000 Mann der beiden Feldherren
der Sieg über die 128,000 Franzoſen von vornherein geſichert. Daher
beſchloß Napoleon hier zwiſchen die beiden Heere einzubrechen um ſie dann
getrennt zu ſchlagen. Obwohl er ſich durch die Gährung in Frankreich,
durch die faſt hoffnungsloſe Schwierigkeit ſeiner militäriſchen Lage lebhaft
beunruhigt fühlte und während dieſes Feldzugs nach ſeinem eigenen Ge-
ſtändniß die gewohnte kalte Sicherheit nicht immer bewahrte, ſo war ihm
doch die alte hochmüthige Geringſchätzung des Gegners geblieben. Er
hoffte, ſein plötzliches Erſcheinen werde genügen um Blücher gegen Oſten
abzudrängen, Wellington zum Rückzug nordwärts zu bewegen, ſo daß der
Zwiſchenraum zwiſchen Beiden ſich erweiterte. Daß die Preußen ſogleich,
dicht an der Grenze, eine Schlacht annehmen würden, erwartete er nicht.
Aber dies Unerwartete geſchah. Sobald Gneiſenau das Anrücken des
Feindes gegen Charleroi erfuhr, befahl er ſofort, in der Nacht vom 14.
auf den 15. Juni, die Concentration des geſammten Heeres bei Som-
breffe, die am 16. vollendet ſein ſollte. Am 15. bei Morgengrauen begann
der Anmarſch der Franzoſen. Ihr rechter Flügel wendete ſich gegen das
Armeecorps Zietens, das unter blutigen Gefechten auf der Straße nach
Sombreffe zurückging.


Schon bei dieſen erſten Kämpfen zeigte ſich die furchtbare Erbitterung
der beiden Nationen. Wie oft hatten im vorigen Jahre die aus den
deutſchen Feſtungen heimkehrenden napoleoniſchen Veteranen in blinder
Wuth Raufhändel begonnen, wenn ſie unterwegs preußiſchen Regimentern
begegneten; jetzt galt es Rache zu nehmen an dieſen preußiſchen Hunden, die
ihrerſeits den Haß nicht minder herzhaft erwiderten. Gleichzeitig ging Napo-
leons linker Flügel nordwärts auf der Straße nach Quatrebras vor und
gelangte, da die Spitzen der engliſchen Armee um eine bedeutende Strecke
weiter zurückſtanden als die Preußen, mit leichter Mühe bis nach Frasnes.
Die Stellung des preußiſchen Heeres bei Sombreffe wurde dadurch in
der rechten Flanke bedroht. Zudem ward auch ſchon zweifelhaft, ob Bülows
Corps am nächſten Tage rechtzeitig bei der Armee eintreffen würde. Um
die Empfindlichkeit des älteren Generals zu ſchonen hatte Gneiſenau dem
Marſchbefehle an Bülow eine ſo höfliche Faſſung gegeben, daß er faſt
wie ein unmaßgeblicher Vorſchlag klang. Bülow, immer geneigt zu eigen-
[736]II. 2. Belle Alliance.
mächtigem Handeln und noch ohne Kenntniß von dem wirklichen Ausbruch
der Feindſeligkeiten, blieb unbeſorgt in Lüttich und verſchob die anbefohlene
Vereinigung ſeines Corps bei Hannut auf den 16. Juni. Ein zweiter
dringenderer Befehl zum Anmarſch traf ihn daher in Hannut nicht an.
Das vierte Corps verlor in einem Zeitpunkte, da jede Minute koſtbar
war, einen vollen Tag und konnte am 16. nicht mehr bei der Armee
eintreffen. Die Lage der drei preußiſchen Corps, die ſich in der Gegend
von Sombreffe zuſammenzogen, geſtaltete ſich alſo ſehr ernſthaft, und ob-
wohl das Blücher’ſche Hauptquartier ungeſtüm nach einer raſchen Ent-
ſcheidung verlangte, ſo wurde doch am Morgen des 16. ernſtlich die
Frage erwogen, ob man nicht beſſer thue die Armee weiter nördlich,
näher an das rechts rückwärts ſtehende engliſche Heer heranzuführen; dort
konnte die Vereinigung der Verbündeten ſich ungeſtört vollziehen.


Während Gneiſenau die Abſicht Napoleons ſogleich durchſchaute, blieb
Wellington bei ſeiner vorgefaßten Meinung, daß der Anmarſch der Feinde
in mehreren Colonnen erfolgen werde, und befürchtete einen Angriff auf
ſeiner rechten Flanke, auf der Straße von Mons her. Die erſte Nach-
richt von den Gefechten bei Charleroi ließ er unbeachtet, da er dort nur
einen Theil der Armee Napoleons vermuthete; und auch als er endlich
am Abend des 15. von Brüſſel aus, einen ganzen Tag ſpäter als Blücher,
die Concentration ſeiner Armee anordnete, befahl er nicht einfach den
Linksabmarſch des geſammten Heeres nach dem wichtigen Knotenpunkte
Quatrebras, wo die Straßen von Charleroi und Namur nach Brüſſel
zuſammentrafen und eine Vereinigung mit den Preußen möglich war,
ſondern gab ſeinen Corps die Richtung auf die fünf Meilen lange Linie
von Enghien im Weſten über Nivelles nach Genappe im Oſten, ſo daß
die engliſche Armee nur mit ihrer äußerſten Linken die Straße nach Char-
leroi berührte. Die völlig grundloſe Sorge vor einer Umgehung im
Weſten beſtimmte alle Anordnungen des engliſchen Feldherrn; ſeine Re-
ſerven, die nach Genappe, auf die Straße von Charleroi marſchiren
ſollten, ließ er am 16. fünf Stunden lang bei Waterloo raſten, weil er
im Zweifel war, ob er ſie nicht noch weiter im Weſten verwenden ſollte.
Zum Glück beſetzte Prinz Bernhard von Weimar mit ſeiner naſſauiſchen
Brigade am Abend des 15. eigenmächtig den Kreuzweg von Quatrebras;
aber ſelbſt dieſer ſchwache vorgeſchobene Poſten des linken Flügels der
Engländer ſtand noch eine ſtarke Meile rechts rückwärts hinter der preußi-
ſchen Aufſtellung und vermochte eine Umgehung der linken Flanke Blüchers
ſchwerlich zu verhindern.


Noch verderblicher wurde, daß der Herzog ſich ſelber und den preu-
ßiſchen Feldherrn gründlich täuſchte über die Stellung, welche ſein Heer
am 16. einnehmen konnte. Am 15. um Mitternacht ließ er an Blücher
ſchreiben, nächſten Tags früh 10 Uhr würden 20,000 Mann des engli-
ſchen Heeres bei Quatrebras ſtehen — was nach den getroffenen Anord-
[737]Wellingtons Verſprechungen.
nungen rein unmöglich war. Am 16. vor Tagesanbruch verließ er ſelbſt
das glänzende Ballfeſt, das die Herzogin von Richmond den engliſchen
Offizieren gab, warf ſich aufs Pferd, und eilte auf der Straße nach Char-
leroi ſüdwärts bis über Quatrebras hinaus auf die Höhen von Frasnes,
dicht gegenüber dem linken Flügel der Franzoſen. Von dort ſchrieb er
um 10½ Uhr früh an Blücher: um 12 Uhr würden ſeine Reſerven in
Genappe, nur eine halbe Meile hinter Quatrebras eintreffen, die engliſche
Reiterei in Nivelles, 1⅓ Meile weſtlich von Quatrebras. War dies
richtig, ſo durfte Blücher mit Sicherheit auf die Unterſtützung der Eng-
länder am Nachmittage zählen. Um 1 Uhr hielten die beiden Feld-
herren auf dem Windmühlenhügel von Buſſy, im Rücken der preußiſchen
Aufſtellung eine Zuſammenkunft, und hier verſprach Wellington, daß er
Nachmittags in die Schlacht eingreifen, die Franzoſen je nach Umſtänden
über Marbais oder Frasnes im Rücken oder in der Flanke anfallen
werde. Mit den Worten „um 4 Uhr werde ich hier ſein“ trennte ſich
der Herzog von dem preußiſchen Feldherrn.


Im Vertrauen auf dieſe Zuſage beſchloſſen Blücher und Gneiſenau
die Schlacht anzunehmen. Die beiden Armeecorps von Zieten und Pirch
ſtanden mit der Front nach Süden auf dem Höhenzuge von Brye und
weiter vorwärts in dem tiefen feuchten Wieſengrunde des Lignebaches,
der ſich zu den Füßen dieſer ſanften Bodenerhebung ausdehnt; hier am
Bache waren die Dörfer St. Amand la Haye rechts und Ligny links
ſtark beſetzt. Thielmann mit dem dritten Armeecorps traf erſt um Mittag
nach angeſtrengtem Marſche auf dem Schlachtfelde ein und ſtellte ſeine
Truppen zwiſchen Sombreffe und Tongrinne als linken Flügel mit der
Front nach Weſten auf, ſo daß die Linien des Centrums und des linken
Flügels faſt ſenkrecht aufeinander ſtießen und die Schlachtſtellung einen
nach Süden geöffneten Haken bildete. Der äußerſte rechte Flügel bei
Wagnelée ſtand überdies völlig ungedeckt, falls etwa vom Weſten her,
aus der Gegend von Frasnes ein Angriff erfolgte. Nur die beſtimmte
Erwartung, daß Wellington rechtzeitig zur Unterſtützung des rechten Flü-
gels herankommen werde, bewog die preußiſchen Heerführer, ſich in ſo un-
vortheilhafter Stellung auf eine Schlacht einzulaſſen; ſie hofften das
Gefecht den Nachmittag über hinzuhalten, bis gegen Abend 40,000 Mann
vom engliſchen Heere die Entſcheidung brächten.


Aber der engliſche Feldherr konnte ſein Wort nicht halten. Er ſah ſich
ſelbſt bei Quatrebras mit überlegener Macht angegriffen und hatte dort
noch um 3 Uhr Nachmittags nur 7000 Mann zur Stelle; dann erſt trafen
neue Zuzüge ein. Erſt am ſpäten Abend ſtanden etwas über 30,000 Mann
bei Quatrebras verſammelt, grade genug um den Angriff nothdürftig ab-
zuſchlagen; an die verheißene Unterſtützung war alſo nicht mehr zu denken.
Wellington hatte das Unmögliche verſprochen, ſicherlich nur aus Irrthum,
in gutem Glauben; aber was verſchlug es ihm auch, wenn er ſein Wort
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 47
[738]II. 2. Belle Alliance.
nicht halten konnte und die Bundesgenoſſen durch ſeine Schuld eine
Schlappe erlitten? Es waren ja doch nur Deutſche, und auf die fremden
Nationen, mit denen ihn ſein Kriegerleben zuſammenführte, hatte er nie-
mals Rückſicht genommen, mochten ſie nun Hindus, Portugieſen oder
Preußen heißen. Seine nächſte Aufgabe war, das engliſche Heer zu er-
halten — ſo faßte er ſeine Pflichten auf; und wenn die Bundesgenoſſen
den Hauptſtoß der Feinde aufnahmen, ſo gewann er um ſo ſicherer Zeit
ſeine eigenen Truppen zu vereinigen. Der Herzog allein verſchuldete —
erſt durch die verſpätete und verfehlte Verſammlung ſeiner Streitkräfte,
dann durch ſeine unhaltbare Zuſage — daß, ſtatt einer Schlacht mit
vereinten Kräften, zwei Schlachten zu gleicher Zeit und nur durch den
Zwiſchenraum einer guten Meile getrennt, beide unter ſehr ungünſtigen
Verhältniſſen für die Alliirten, geſchlagen werden mußten. *)


Der Imperator blieb noch am Vormittag des 16. in dem Wahne,
daß die beiden Heere der Coalition ſich nach Brüſſel und Namur zurück-
zögen, er gönnte daher ſeinen durch das geſtrige Gefecht und die ſtarken
Märſche der letzten Tage ermüdeten Truppen eine ſehr lange Raſt. Erſt
um Mittag überzeugte er ſich, daß die Preußen in der Poſition von Ligny
und St. Amand la Haye Stand hielten und beſchloß den Angriff mit
der Hauptmaſſe ſeines Heeres, dem rechten Flügel und den Reſerven.
Ney aber, der mit dem linken Flügel bei Frasnes auf der Brüſſeler
Straße ſtand, erhielt Befehl rechts abzumarſchiren und den Preußen in
die rechte Flanke zu fallen; ſo konnte am Abend des langen Sommer-
tages das Heer Blüchers vernichtet werden. Dieſer Schlachtplan ſetzte
freilich voraus, daß Ney auf der Brüſſeler Straße nur eine ſchwache
feindliche Macht antraf, daß die Engländer wirklich auf Brüſſel zurück-
gingen.


Napoleon hatte auf dem Schlachtfelde von Ligny etwa 75,000 Mann
zur Stelle, Blücher 78—80,000 Mann. Die unglückliche hakenförmige
Aufſtellung der Preußen erlaubte aber dem Imperator faſt ſeine ge-
ſammten Streitkräfte gegen La Haye und Ligny zu verwenden, wo die
beiden Armeecorps von Zieten und Pirch, 56,000 Mann, allein den An-
griff der Uebermacht aushalten mußten. Thielmann, durch den gewun-
denen Lauf des Lignebachs von Ligny getrennt, wurde durch einige Schein-
angriffe der Franzoſen beſchäftigt; er konnte wohl einige Truppentheile
den beiden anderen Corps zu Hilfe ſenden, doch mit der Maſſe ſeines
Corps nicht an dem Hauptkampfe theilnehmen. Die eigentliche Schlacht
bewegte ſich um den Beſitz von La Haye und Ligny; hier auf dieſem
[739]Schlacht von Ligny.
engen Raume lag die Entſcheidung, und hier vermochte der linke Flügel
der Preußen gar nicht einzugreifen. Beide Heere fochten mit verzweifel-
tem Muthe, der Haß ſo vieler Jahre brach furchtbar aus. Kein Pardon
hüben und drüben; ein franzöſiſcher General drohte Jeden erſchießen zu
laſſen, der ihm einen gefangenen Preußen brächte. Im Ganzen bewahr-
ten die franzöſiſchen Truppen mehr Ruhe und Sicherheit; die Offiziere
behielten ihre Leute feſt in der Hand, während die Leidenſchaft ungeſtümer
Kampfluſt, die in dem deutſchen Volksheere flammte, die preußiſchen Führer
oft zu vorzeitiger Vergeudung der Kräfte verleitete. Der wellige, erſtarr-
ten Meereswogen gleichende Boden, die mit mannshohem Getreide und
dichtem Kartoffelkraut beſtandenen Felder der üppigen Brabanter Ebene
boten Gelegenheit zu mannichfachen Ueberraſchungen, denen die Kaltblü-
tigkeit der jungen preußiſchen Truppen, namentlich der Landwehr nicht
immer gewachſen war. Es war ein drückend heißer Tag. Bei ſtechender
Sonne und ſchwüler Gewitterluſt mußte das preußiſche Fußvolk, das zum
Theil ſchon Tags zuvor gefochten hatte, zum Theil die Nacht hindurch
marſchirt war, ſechs Stunden lang faſt ununterbrochen das Nahgefecht
um die Dörfer beſtehen. Manchen ſtand der Schaum vor dem Munde
von der Wuth des Kampfes und der ungeheuren Anſtrengung; hier
ſchlürfte Einer mit lechzenden Lippen das Kothwaſſer aus einer Miſtlache,
dort brach ein Anderer, unverwundet, vor Erſchöpfung todt zuſammen.


Kurz vor 3 Uhr begann Vandamme den Angriff auf den rechten
Flügel der Preußen bei La Haye und nahm das Dorf nach zweiſtündigem
blutigem Ringen. Da führt Blücher ſelbſt friſche Truppen zum Angriff
vor, das Dorf wird zurückerobert, geht aber von Neuem verloren, da
eine Attake der preußiſchen Reiterei nebenan mißlingt. Gleichwohl kommt
das Gefecht hier zum Stehen, die Franzoſen werden in dem Dorfe feſt-
gehalten, gelangen keinen Schritt darüber hinaus. Vergeblich ſendet Na-
poleon gegen Abend einen Theil ſeiner Garde zur Unterſtützung Van-
dammes; das Corps Zietens behauptet ſich ſechs Stunden lang uner-
ſchütterlich. Trafen jetzt die Engländer zur Verſtärkung des rechten Flügels
ein, ſo war der Sieg entſchieden. Unterdeſſen war Gerard mit dem rechten
Flügel der Franzoſen gegen das Dorf Ligny vorgegangen; dort hatten
die Preußen das Schloß und die Häuſer zur Vertheidigung eingerichtet,
ihre Batterien beſtrichen wirkſam die Fläche vor der Front. Viermal
werden die Angreifenden zurückgeworfen, und als ſie endlich in die Häuſer-
zeile eindringen, gewinnen ſie doch nur die Hälfte des Dorfes. In der
anderen Hälfte, jenſeits des Baches behaupten ſich die Preußen, und
nun entbrennt im Inneren des Dorfes ein Gefecht von unerhörter Hart-
näckigkeit, da beide Parteien aus den dichten Infanteriemaſſen in ihrem
Rücken beſtändig Verſtärkungen an ſich ziehen. Bald ſteht das Schloß
und ein großer Theil des Dorfes in Flammen; in der Dorfgaſſe thürmen
ſich die Leichen auf; jedes Haus und jeder Stall wird zu einer kleinen
47*
[740]II. 2. Belle Alliance.
Feſtung, bis auf die Treppen und in die Stuben der Wohnungen ver-
folgen die Wüthenden einander mit dem Bajonett. So wogt der Kampf
unentſchieden dahin, durch fünf furchtbare Stunden. Aber die Preußen
verbrauchen ihre ganze Kraft; 14,000 Mann, mehr als neunzehn Ba-
taillone werden nach und nach in dies eine Dorf hineingeworfen, und
zuletzt bleibt kein einziges friſches Regiment des Fußvolks mehr übrig für
die Entſcheidung. Noch war nichts verloren; noch mußte das Erſcheinen
der Engländer die Schlacht wenden. Hatte doch Wellington am Nach-
mittage dem Feldmarſchall abermals durch Leutnant Wuſſow ſagen laſſen,
er werde mit den ſoeben eingetroffenen Verſtärkungen eine kräftige Offen-
ſive zu Gunſten der preußiſchen Armee verſuchen; ſein Bevollmächtigter
im Blücher’ſchen Hauptquartiere, Oberſt Hardinge verſicherte noch um
7 Uhr beſtimmt, in einer halben Stunde ſpäteſtens müßten ſeine Lands-
leute zur Stelle ſein. Eine Stunde nachher ließ Gneiſenau dem General
Krafft ſagen, nur noch eine kleine Weile ſolle er ſich in Ligny behaupten,
dann könne die engliſche Hilfe nicht fehlen.


Die Sonne neigte ſich zum Untergange. Da führte Napoleon ſeine
wohlgeſchonten Reſerven, die alte Garde und eine gewaltige Reitermaſſe
perſönlich gegen Ligny vor um das Centrum der Preußen zu durchbrechen.
Während die Grenadiere unter dem wilden Rufe: „Es lebe der Kaiſer!
Kein Pardon!“ in die Dorfgaſſe eindringen und jetzt endlich die ermatteten
Vertheidiger zum Abzuge zwingen, umgehen einige Bataillone der Garde,
von der Dämmerung begünſtigt, das Dorf auf der Oſtſeite. Ihnen nach,
den Bach durchreitend, ſieben Regimenter ſchwerer Reiter, der Kern der
kaiſerlichen Cavallerie, 5000 Pferde. Sie wenden ſich an Ligny vorbei
gegen den Windmühlenberg von Buſſy, gegen die zweite Linie der preu-
ßiſchen Aufſtellung. Blücher erkennt die Gefahr und verſucht mit ſeiner
Lieblingswaffe den Schlag abzuwehren. Soeben noch ſah man den Alten
erſchöpft von der Anſtrengung und dem quälenden Zweifel wie einen
gebrochenen Mann dahertraben. Jetzt flammt er wieder auf in jugend-
lichem Feuer, läßt eine Reiterbrigade, welche ſeitwärts hinter Ligny hält,
zum Angriff vorgehen. Die Reiter jubeln, als der alte Held, den Säbel
in der Fauſt ſchwingend, in weiten Bogenſätzen auf ſeinem prächtigen
Schimmel heranſprengt und ſich ſelbſt an ihre Spitze ſtellt. Neben ihm
führt Oberſtleutnant Lützow, der Freiſchaarenführer von 1813 das ſechste
Uhlanenregiment mit lautem Marſch Marſch! vor; es folgen die weſt-
preußiſchen Dragoner, die kurmärkiſchen und die Elb-Landwehrreiter; in
geſtrecktem Laufe jagen die Roſſe durch das hohe Korn. Da ſtutzen die
Thiere plötzlich vor einem tiefen Hohlwege, der die Felder durchſchneidet,
und während die Uhlanen verſuchen das unvermuthete Hinderniß zu
nehmen, ſchlagen zwei wohlgezielte Salven in ihre aufgelöſten Reihen.
Milhauds Küraſſiere hauen nach, die Preußen machen Kehrt. Auch die
Küraſſiere müſſen gleich darauf vor dem Feuer eines preußiſchen Ba-
[741]Rückzug von Ligny.
taillons umkehren; lachend ſehen die Weſtphalen mit an, wie die ſchweren
Reiter ſich unter ihren gefallenen Pferden hervorwinden und, den Küraß
mit beiden Händen haltend, zu Fuß das Weite ſuchen. Die Uhlanen
und die Landwehrreiter ſammeln ſich wieder, dringen von Neuem vor-
wärts; herüber und hinüber fluthen die Maſſen der Kämpfer. Mitten
in dem wilden Getümmel trabt Gneiſenau, zieht den Säbel, ſagt fröhlich
zu Major Bardeleben, der wehrlos, den Arm in der Binde, neben ihm
reitet: „halten Sie Sich nur an mich; ein Hundsfott, wenn ich Sie nicht
heraushaue!“ Zugleich drängen ſich die aus Ligny vertriebenen Regimenter
gegen Brye zurück, langſam, unabläſſig feuernd, aber in ungeordneten
Schwärmen. Die Mitte der Schlachtſtellung iſt ſchon nahezu durchbrochen.


Auch St. Amand la Haye wird endlich geräumt; unaufhaltſam dringt
der Feind gegen die Höhe von Buſſy. Kurz vor Einbruch der Nacht
brauſt ein Gewitter über das Schlachtfeld; das Rollen des Donners und
das Geheul des Sturmes übertäubt während einer halben Stunde den
Lärm der Schlacht. Doch mitten in der Finſterniß des Unwetters tobt
der Kampf weiter; die erſchöpften Soldaten athmen auf bei dem friſchen
Luftzuge. Die Geſchlagenen ſammeln ſich um Brye und den Hügel von
Buſſy, das Vorrücken des Feindes geräth hier ins Stocken. Währenddem
war der Feldmarſchall verſchwunden. Schon bei jener erſten Attake der
Uhlanen hatte eine Kugel ſein Pferd getroffen, und er lag nun lange
faſt bewußtlos unter dem ſchweren Thiere; ohne ihn zu bemerken ſtürmten
Freund und Feind mehrmals dicht an ihm vorüber, nur ſein getreuer
Adjutant Graf Noſtitz hielt bei ihm aus, bis endlich Major v. d. Buſche
von den Elb-Landwehrreitern herbeikam und den Betäubten auf einem
Soldatenpferde hinwegführte. Aber in der Verwirrung der Nacht ver-
gingen mehrere Stunden bevor die Rettung des Feldherrn bekannt wurde.


Die Führung des Heeres lag für jetzt allein auf den Schultern
Gneiſenaus, der eine Weile ſchweigend in der Nähe von Brye hielt. Die
ihn ſo ſahen in ſeiner majeſtätiſchen Ruhe ahnten nicht, welche ſchweren
Gedanken ihm Kopf und Herz beſtürmten. Er hatte, wie Blücher und
Grolman, der Zuſage Wellingtons volles Vertrauen geſchenkt, noch vor
einer Stunde ſicher auf den Sieg gerechnet und dachte mit Unmuth an
den engliſchen Feldherrn, der ſein Wort ſo ſchlecht gehalten. Was ſchien
natürlicher, als dem Beiſpiel des Briten zu folgen, nur für die Sicherheit
des eigenen Heeres zu ſorgen und den gefahrloſen Weg nach der deutſchen
Grenze einzuſchlagen? Die alte Römerſtraße, die im Rücken des Schlacht-
feldes nordoſtwärts in das Maasthal führte, bot den Geſchlagenen die
bequemſte Rückzugslinie; hier mußte man bald mit Bülow, der von Oſten
herankam, zuſammentreffen und konnte ſpäter Verſtärkungen aus Deutſch-
land an ſich ziehen. Unwillkürlich hatte bereits ein Theil der Truppen
dieſen Weg eingeſchlagen, der auf den erſten Blick als der einzig mög-
liche erſchien. Aber nahm die Armee die Richtung nach der Maas, ſo
[742]II. 2. Belle Alliance.
entfernte ſie ſich von den Bundesgenoſſen, und es ſtand mit Sicherheit
zu erwarten, daß der behutſame engliſche Feldherr ſich dann nach Ant-
werpen, vielleicht auf ſeine Schiffe zurückzog. So ging der belgiſche Feld-
zug mit einem Schlage zu Ende, und wer ſtand dafür, ob die Coalition
mit ihren böſen Congreß-Erinnerungen, mit ihrer mühſam verhaltenen
Zwietracht, mit ihrem kleinmüthigen Schwarzenbergiſchen Hauptquartiere
dann noch den Muth fand den Krieg gegen Frankreich fortzuſetzen, wenn
ihre beiden beſten Feldherren das Spiel verloren gaben? Ein Ausweg
blieb noch: hatte Wellington nicht vorwärts zu den Preußen kommen
wollen, ſo konnten dieſe rückwärts die Vereinigung mit dem engliſchen
Heere ſuchen. Wenn die Armee ihre Verbindung mit dem Rheine auf-
gab und auf jede Gefahr hin den ſchwierigen Weg nach Norden, in der
Richtung auf Wavre einſchlug, ſo näherte ſie ſich den Verbündeten und
es blieb möglich, daß in zwei oder drei Tagen irgendwo in der Nähe von
Brüſſel die Schlacht mit vereinten Kräften noch geſchlagen wurde, welche
heute durch Wellingtons Schuld vereitelt war. In wenigen Minuten
mußte der folgenſchwere Entſchluß gefaßt werden; das Schickſal der nächſten
Monate europäiſcher Geſchichte hing daran. Gneiſenau entſchied wie er
mußte, wie außer ihm von allen Heerführern jener Tage nur noch Blücher
ſelbſt entſchieden hätte. Nach einem Blick auf die Karte befahl er den
Marſch nordwärts über Tilly und Mellery nach Wavre.


Die Adjutanten flogen aus um den Truppen in der Finſterniß die
Richtung anzugeben. General Jagow deckte den Rückzug, blieb noch bis
2 Uhr Nachts auf dem Schlachtfelde. Die Franzoſen trauten ihrem eigenen
Siege nicht, ihre Garde ſtand die ganze Nacht hindurch unter den Waffen.
Sie wagten weder zu verfolgen noch auch nur die Marſchrichtung der Ge-
ſchlagenen zu erkunden und verloren jede Fühlung mit dem Gegner. Die
preußiſche Armee hatte 12,000 Mann verloren, etwas mehr als der Feind,
das Corps Zieten ſogar faſt ein Viertel ſeiner Mannſchaft. Aber ſo uner-
ſchütterlich war die ſittliche Spannkraft dieſes Heeres: nach wenigen Stun-
den der Nachtruhe ſtanden die Regimenter ſchon bei Tagesanbruch wieder in
guter Ordnung beiſammen. Keine Spur von jener gedrückten Stimmung,
die nach unglücklichen Kämpfen ſelbſt den Tapferen überkommt; gleich leb-
haft verlangten die Soldaten wie die Führer nach einer neuen Schlacht
um die Scharte auszuwetzen. Einige tauſend Mann von den neugebildeten
weſtphäliſchen Regimentern waren freilich verſprengt, irrten an der Römer-
ſtraße entlang der Maas und dem Rheine zu. Doch von den erprobten
Truppen aus den alten Provinzen fehlte faſt Niemand; die Wenigen
unter dieſen Veteranen von 1813, die im Dunkel der Nacht von ihren
Regimentern oſtwärts abgekommen, ſchloſſen ſich, ſobald ſie auf Bülows
Corps trafen, dieſem an und nahmen noch Theil an der Schlacht von
Belle Alliance.


Glücklicher hatte das engliſche Heer den heißen Tag überſtanden. Als
[743]Treffen von Quatrebras.
Ney gegen 2 Uhr mit dem linken Flügel des franzöſiſchen Heeres be-
fohlenermaßen auf der Brüſſeler Straße nordwärts gegen Quatrebras
vorging, mußte er bald erfahren, daß die engliſche Macht ihm gegenüber
weit ſtärker war als Napoleon angenommen. Zwar im Anfang war er
den 7000 Naſſauern und Niederländern, welche Wellington zur Stelle
hatte, um reichlich das Doppelte überlegen, und da er überdies ſein Fuß-
volk durch den Wald von Boſſu, der links vor ſeiner Fronte lag, unbe-
merkt dicht an den Gegner heranſchieben konnte, ſo geriethen die Alliirten
eine Zeit lang in ernſte Bedrängniß und waren bereits nahe daran den
wichtigen Kreuzungspunkt zu räumen. Da kamen zwiſchen 3 und 4
Uhr — mehrere Stunden ſpäter als Wellington gerechnet hatte — die
erſten Regimenter der Reſerve von Brüſſel heran: eine engliſche Diviſion
unter General Picton, dann Herzog Wilhelm mit ſeinen ſchwarzen Braun-
ſchweigern. Ihnen gelang, das Gefecht auf dem linken Flügel wieder
herzuſtellen, und ſie drangen ſchon über Quatrebras hinaus, als ein
mächtiger Reiterangriff der Franzoſen ſie in Verwirrung zurückſchleuderte.
Wellington ſelbſt entging nur durch die Schnelligkeit ſeines Roſſes dem
Tode. Der tapfere Welfe aber ward inmitten ſeines Leibbataillons von
der tödlichen Kugel getroffen. Er ſtarb zur rechten Zeit für ſeinen Ruhm;
denn nun lebte er fort im Gedächtniß ſeines treuen Volkes als ein Held
der Nation, als der Führer der ſchwarzen Schaar, und jene häßlichen
Züge welfiſcher Härte und Ueberhebung, die ſich während der kurzen Mo-
nate ſeiner Regierung dem braunſchweigiſchen Ländchen ſchon ſehr fühlbar
gemacht hatten, wurden gern vergeſſen.


In dieſem gefährlichen Augenblicke trafen die engliſchen und hanno-
verſchen Regimenter des Generals Alten auf dem rechten Flügel der Ver-
bündeten ein; mehr als dieſe ſchwache Diviſion wollte Wellington nicht
von Nivelles heranziehen, da ihn noch immer der Wahn beherrſchte, Na-
poleon werde eine Umgehung im Weſten verſuchen. Die Diviſion Alten be-
gann ſich in dem Walde von Boſſu auszubreiten, und mit ihrer Hilfe wurde
Neys zweiter Angriff abgeſchlagen. Marſchall Ney hoffte längſt nicht mehr,
nach Ueberwältigung der engliſchen Streitkräfte ſich auf das Schlachtfeld
von Ligny wenden zu können; genug wenn ihm nur gelang den Gegner
hier von der Brüſſeler Straße zu verdrängen. Der ſonſt allen Anderen
durch unbekümmerten Soldatenmuth voranleuchtete, zeigte ſich in dieſem
Feldzuge immer fieberiſch unruhig; die Erinnerung an den Eidbruch der
jüngſten Wochen, die Furcht vor einer ſchmachvollen Zukunft quälte ihn
ſichtlich. In leidenſchaftlicher Erregung beſchwor er ſeinen tapferen elſaß-
lothringiſchen Landsmann Kellermann, wieder wie einſt bei Marengo durch
einen wuchtigen Reiterangriff den Ausſchlag zu geben: Frankreichs ganze
Zukunft ſtehe auf dem Spiele. Auch dieſer dritte Verſuch ſcheiterte, vor-
nehmlich an der Feſtigkeit der engliſchen Veteranen Pictons, die, wie einſt
ihre Vorfahren bei Minden, das Gewehr zur Attake rechts nahmen und
[744]II. 2. Belle Alliance.
mit dem Bajonett den Reitern zu Leibe gingen. Indeſſen nahmen Al-
tens tapfere Regimenter den Wald von Boſſu, und auf der Brüſſeler
Straße zogen neue Reſerven heran: die engliſchen Garden und die
letzten Braunſchweiger. Wellington verfügte jetzt über mehr als 30,000
Mann gegen 21,000. Als die Dämmerung hereinbrach, war ſeine ganze
Linie im langſamen Vorgehen, freilich nur eine kleine Strecke weit; die
Schlacht endete faſt auf der nämlichen Stelle wo ſie begonnen.


Ein ſeltſamer Glücksfall kam dem engliſchen Feldherrn zu gute. Das
Corps des Generals Erlon war der Armee Neys zugetheilt, aber am Nach-
mittage, noch bevor Erlon an dem Treffen von Quatrebras theilnehmen
konnte, durch Napoleon nach dem Schlachtfelde von Ligny abberufen worden;
die Regimenter langten in der That ſchon in der Nähe des rechten Flügels
der Preußen an, als Ney ſie nach Quatrebras zurückrief. So irrte dies
Corps, das leicht gegen Wellington den Ausſchlag geben konnte, während
des Nachmittags zwiſchen den beiden Schlachtfeldern hin und her und
vereinigte ſich erſt am Abend, als das Treffen bereits entſchieden war,
mit Neys Armee. Der Marſchall hatte, wenngleich er den unmöglichen
Zumuthungen des Imperators nicht genügen konnte, doch einen werth-
vollen Erfolg erreicht: die Vereinigung der beiden Heere der Coalition
war vorläufig verhindert. Wellington aber ſprach mit unerquicklichem Hoch-
muth von ſeinem wahrlich beſcheidenen Siege; „wir haben geſchlagen, die
Preußen ſind geſchlagen“ — wiederholte er mehrfach. Da er Napoleons
Pläne noch immer nicht durchſchaute, noch am 17. ja ſelbſt am 18. Juni
eine Umgehung von Weſten her für möglich hielt, ſo konnte er auch nicht
begreifen, daß er ſelber das ganze heilloſe Wirrſal dieſer unnöthigen
Doppelſchlacht hervorgerufen, und fand kein Wort der Dankbarkeit für
die Preußen, deren uneigennützige Aufopferung ihm doch allein die An-
nahme des Gefechts bei Quatrebras ermöglicht hatte. —


Spät in der Nacht wurde Blücher von ſeinen Generalſtabsoffizieren
in einem Bauernhauſe zu Mellery, auf dem Wege nach Wavre, aufge-
funden. Ruhig ſeine Pfeife rauchend lag der Alte auf der Streu; er
fühlte ſich an allen Gliedern zerſchlagen von dem ſchweren Sturze, doch
ſeine frohe Zuverſicht war nicht gebrochen. Unbedenklich genehmigte er die
Anordnungen ſeines Freundes; die Beiden hatten ſich ſo ganz in einan-
der eingelebt, daß Gneiſenau ſicher war ſtets aus der Seele des Feldmar-
ſchalls heraus zu beſchließen. Am Morgen ritt der Feldherr dem Heere
voraus nach Wavre; die Soldaten jubelten ſobald ſie des Geretteten an-
ſichtig wurden, und antworteten mit einem fröhlichen Ja als er im Vor-
überreiten fragte, ob ſie morgen wieder ſchlagen wollten. Auf den Sonnen-
brand von geſtern folgte ein grauer ſchwüler Tag mit vereinzelten Ge-
witterſchauern, dann am Abend ſtrömender Regen, die ganze Nacht hindurch.
Mühſam wateten die Soldaten, die nun ſeit drei Tagen im Marſch oder
im Gefechte geweſen, in dem aufgeweichten ſchweren Boden und ſchoben
[745]Gneiſenaus Pläne für den 18. Juni.
die Räder der Kanonen durch den tiefen Schlamm. Auf der Beiwacht
war der Schlaf faſt unmöglich, und doch blieb der frohe Muth unver-
wüſtlich; am Morgen des 18. ſah man die ſchleſiſchen Füſiliere nach den
Klängen der Feldmuſik einen luſtigen Walzer tanzen. Ein warmer Auf-
ruf des Feldmarſchalls mahnte die Truppen ihre letzte Kraft aufzubieten
für den neuen Kampf: „vergeſſet nicht, daß Ihr Preußen ſeid, daß Sieg
oder Tod unſere Loſung iſt!“


In ſeinem Berichte an den König ſprach Gneiſenau offen die An-
klage aus, daß Wellington „wider Vermuthen und Zuſage“ ſeine Armee
nicht rechtzeitig concentrirt habe, und in vertrauten Briefen äußerte er
ſich noch weit ſchärfer. Jedoch in dem veröffentlichten Berichte des Blü-
cher’ſchen Hauptquartiers wurde die peinliche Frage ſchonend übergangen,
und auch nach dem Kriege verſchmähte Gneiſenau, um der Bundesfreund-
ſchaft willen, hochherzig jeden Federkrieg, obgleich die unaufrichtigen
Erzählungen des Briten ſein reizbares militäriſches Ehrgefühl geradezu
zum Widerſpruche herausforderten. Erſt zwanzig Jahre ſpäter wurde
durch ein nachgelaſſenes Geſchichtswerk von Clauſewitz, der unzweifelhaft
die Mittheilungen ſeines Freundes Gneiſenau benutzt hatte, die geheime
Geſchichte dieſes Feldzugs aufgeklärt. In jenem Augenblicke vollends
lag dem kühnen Manne nichts ferner als ein unfruchtbares Hadern um
vergangene Fehler; er meldete dem Könige, eine Schlacht mit getheilten
Kräften ſei jetzt nicht mehr möglich, und traf ſofort ſeine Vorbereitungen
für die Vereinigung mit dem engliſchen Heere. Die Stimmung im Haupt-
quartiere ward mit jeder Stunde zuverſichtlicher, da die zuwartende Hal-
tung des Feindes deutlich bewies, daß das Ergebniß des 16. Juni zwar
eine verlorene Schlacht, aber keine Niederlage war. Blücher fühlte ſich
des Erfolges völlig ſicher; er wollte, falls Napoleon die Engländer nicht
angriffe, ſelber mit Wellington vereint dem Feinde alsbald die Schlacht
anbieten und hieß das wilde Regenwetter, „unſeren alten Alliirten von
der Katzbach“, hochwillkommen. Der ruſſiſche Militärbevollmächtigte Toll
kam übel an, als er für nöthig hielt dieſe ſtolzen Preußen zu tröſten
und beſchwichtigend ſagte, die große Armee unter Schwarzenberg werde
Alles wieder gut machen. Blüchers Adjutant Noſtitz erwiderte ſcharf: „ehe
Sie zu Ihrem Kaiſer zurückkehren, iſt entweder der belgiſche Feldzug
ganz verloren oder wir haben die zweite Schlacht gewonnen, und dann
brauchen wir Eure große Armee nicht mehr!“


Auf Blüchers Anfrage erklärte ſich der engliſche Feldherr bereit, am
18. an der Brüſſeler Straße eine neue Schlacht anzunehmen, wenn er
auf die Hilfe von etwa 25,000 Preußen zählen könne. Der Alte erwi-
derte, er werde kommen und hoffentlich mit ſeiner ganzen Armee. Nach
einem kurzen glänzenden Reitergefechte, wobei Lord Uxbridge mit den
Rieſen der engliſchen Garde-Cavallerie die franzöſiſchen Lanciers buchſtäblich
niederritt, ging Wellington am Nachmittage nordwärts zurück und ver-
[746]II. 2. Belle Alliance.
ſammelte ſein Heer bei Mont St. Jean, rittlings auf der Brüſſeler Straße,
mit der Front nach Süden. Die Furcht vor einer Umgehung von rechts
her gab er freilich noch immer nicht ganz auf und ließ daher bei Hal,
zwei Meilen weſtlich vom Schlachtfelde ein Corps von 17,000 Mann
ſtehen, ſodaß in den Entſcheidungsſtunden faſt ein Fünftel ſeines Heeres
fehlte. Das preußiſche Heer war in der Nacht vom 17. auf den 18.
vollzählig in der Gegend von Wavre verſammelt, nur zwei ſtarke Meilen
öſtlich von Mont St. Jean, und auch die ſehnlich erwartete Munitions-
colonne traf noch ein. Aber dieſe kurze Entfernung, die ein Adjutant im
Galopp wohl in einer guten Stunde zurücklegen konnte, bot bei dem ent-
ſetzlichen Zuſtande der Wege für die unbehilflichen Geſchützmaſſen einer
großen Armee erhebliche Schwierigkeiten. Zudem ward ein langer Auf-
enthalt unvermeidlich, da das noch unberührte Corps Bülows die Spitze
nehmen ſollte und die weiter vorwärts ſtehenden Heertheile erſt durch-
kreuzen mußte. Beabſichtigte der engliſche Feldherr nur eine Demon-
ſtration, wie Gneiſenau eine Zeit lang argwöhnte, ſo konnte die Lage
der Preußen, die ihre linke Flanke bloß ſtellten, hochgefährlich werden;
nur im feſten Vertrauen auf die unerſchütterliche Ausdauer des eng-
liſchen Heeres durften ſie das Wagniß unternehmen. Wellington getraute
ſich dem preußiſchen Feldherrn nur zuzumuthen, daß er zur Verſtärkung
des linken Flügels der Engländer herankäme. Gneiſenau aber wählte nach
ſeiner großen Weiſe einen kühneren und ſchwereren Plan: er dachte viel-
mehr die Franzoſen im Rücken und der rechten Flanke anzugreifen. Ge-
lang dieſer Schlag, ſo war Napoleons Heer vernichtet und der Krieg mit
einem male beendet.


Daß die Beſiegten ſo verwegene Gedanken faſſen durften, wurde nur
möglich durch die Unterlaſſungsſünden des Siegers. Gewiß war es für
Napoleon nicht unbedenklich den Preußen mit der Hauptmacht ſeines Heeres
zu folgen. Aber ſeine verzweifelte Lage forderte kühne Entſchlüſſe. Blieb
er dem rührigſten ſeiner Gegner auf den Hacken, ſo war möglich, daß die
geſchlagene Armee auf dem Rückzuge gänzlich aus den Fugen gerieth, da
die Wirkung eines Sieges ſich durch unaufhaltſame Verfolgung zu ver-
doppeln pflegt. Ob Wellington dann noch einen Schlag gegen Ney wagte,
erſchien mindeſtens zweifelhaft; wahrſcheinlicher doch daß der Bedachtſame
ſich auf Antwerpen zurückzog. Es war nicht Kleinmuth was den Im-
perator hinderte dieſen Entſchluß zu faſſen, ſondern der alte Fehler der
Ueberhebung. Wie einſt nach der Dresdener Schlacht und nach den
Siegen in der Champagne, ſo dachte er auch jetzt zu niedrig von dem
Gegner; er glaubte beſtimmt, die Preußen eilten in voller Auflöſung dem
Rheine zu, und hielt nicht einmal für nöthig ihren Rückzug beobachten
zu laſſen. Stand es alſo wie er wähnte, dann blieb ihm freilich Zeit
vollauf um das engliſche Heer zu ſchlagen. Gemächlich ließ er ſeine
Truppen am Vormittag des 17. raſten. Seine Gedanken weilten mehr
[747]Schlachtfeld von Belle Alliance.
in Paris als bei dem Heere; er fragte ſeine Generale, was wohl die Ja-
cobiner nach dieſem neuen Siege des Kaiſerreichs thun würden. Erſt
um Mittag befahl er dem Marſchall Grouchy den Preußen zu folgen,
in der Richtung oſtwärts nach Gembloux und der Maas, ſie nicht aus
den Augen zu laſſen und ihre Niederlage zu vollenden; für dieſen
Zweck gab er dem Marſchall 33,000 Mann, eine Macht zu ſtark für ein
Beobachtungscorps, zu ſchwach um eine Schlacht gegen das geſammte
preußiſche Heer zu wagen. Grouchy zog während der zweiten Hälfte des
Tages nach Oſten in die Irre ohne der Preußen gewahr zu werden.
Erſt am Morgen des 18. fand er ihre Spur und wendete ſich gegen
Wavre; aber von Gneiſenaus Plänen ahnte er nichts, ſondern vermuthete
nunmehr die preußiſche Armee auf dem Rückzuge nach Brüſſel. Er ſo
wenig wie ſein Kaiſer hielt für denkbar, daß ein geſchlagenes Heer ſich
ſogleich nach der Schlacht wieder ordnen und zu einem neuen Angriffe
rüſten könnte. Der Gedanke ſich zwiſchen die beiden Heere der Coalition
einzuſchieben, kam dem Imperator jetzt nicht mehr in den Sinn, da die
Möglichkeit des Rückzuges der Preußen nach Norden durchaus außerhalb
ſeiner Berechnungen lag. Er ſelber vereinigte ſich am Nachmittage des
17. in der Nähe von Quatrebras mit der Armee Neys, zog dann in
voller Sicherheit nordwärts auf der Brüſſeler Straße den Engländern
nach, um ſie morgen oder übermorgen dieſſeits oder jenſeits von Brüſſel
zur Schlacht zu zwingen.


So verworren und unfertig die Doppelſchlacht am 16. Juni verlaufen
war, ebenſo einfach großartig geſtaltete ſich der Gang der Ereigniſſe am 18.
Wellington hatte mit Kennerblick eine feſte defenſive Stellung gewählt,
wie er ſie von Spanien her liebte. Sein Heer hielt auf einem lang-
geſtreckten niederen Höhenzuge, der von Weſten nach Oſten ſtreichend,
etwa in der Mitte, bei dem Dorfe Mont St. Jean von der wohlge-
pflaſterten Brüſſeler Landſtraße ſenkrecht durchſchnitten wird. Auf dieſem
engen Raume von kaum 5000 Schritt Länge ſtanden die Truppen dicht
zuſammengedrängt, mehr als 30,000 Deutſche, 24,000 Engländer, über
13,000 Niederländer, zuſammen 68,000 Mann, auf der Rechten Lord
Hill, im Centrum der Prinz von Oranien, auf dem linken Flügel General
Picton. Ein tief eingeſchnittener, von Hecken eingefaßter Querweg lief
der Front entlang. Im Rücken des Heeres fiel der Boden ſanft ab,
ſo daß die Mehrzahl der Regimenter dem anrückenden Feinde verborgen
blieb; weiter nördlich lag an der Landſtraße der lichte, von zahlreichen
Wegen durchzogene Wald von Soignes, der für den Fall des Rückzugs
eine gute Deckung bot. Der Herzog blieb während vieler Stunden im
Centrum bei Mont St. Jean; hier unter einer Ulme, auf einer Boden-
welle neben der Landſtraße konnte er faſt die ganze Aufſtellung über-
blicken und nach ſeiner Gewohnheit Alles unmittelbar leiten. Einige
hundert Schritt vor der Front lagen wie die Vorwerke einer Feſtung drei
[748]II. 2. Belle Alliance.
ſtark beſetzte Poſitionen: vor der Rechten das Schloß Goumont inmitten
der alten Bäume ſeines Parkes, von hohen Mauern umſchloſſen; vor
dem Centrum an der Landſtraße das Gehöfte La Haye Sainte; vor dem
äußerſten linken Flügel die weißen Häuſergruppen von Papelotte und La
Haye. Die Straße fällt ſüdlich von Mont St. Jean ſanft ab, führt
dann völlig eben durch offene Felder und ſteigt eine ſtarke halbe Stunde
weiter ſüdlich, nahe bei dem Pachthofe La Belle Alliance wieder zu einem
anderen niederen Höhenzuge empor, ſo daß das Schlachtfeld eine weite,
mäßig eingetiefte Mulde bildet, die allen Waffen den freieſten Spielraum
gewährt.


Auf dieſen Höhen bei Belle Alliance ſtellte Napoleon ſein Heer auf,
Reille zur Linken, Erlon zur Rechten der Straße, dahinter bei Roſſomme
die Reſerve; ſein Plan war einfach durch einen oder mehrere Frontal-
angriffe die Linien der Engländer zu durchbrechen, wo möglich an der
ſchwächſten Stelle, auf ihrem linken Flügel. Da die unſicheren Feuer-
waffen jener Zeit dem Angreifer erlaubten mit ungebrochener Kraft nahe
an den Vertheidiger heranzugelangen, ſo hoffte der Imperator durch
ungeheuere Maſſenſchläge den zähen Gegner niederzuringen. Seine
Kriegsweiſe war während der letzten Jahre immer gewaltſamer geworden;
heute vollends, in der fieberiſchen Leidenſchaft des verzweifelten Spielers
zeigte er die ganze Wildheit des Jacobiners, ballte viele Tauſende ſeiner
Reiter, ganze Diviſionen des Fußvolks zu einer einzigen Maſſe zuſammen,
damit ſie wie die Phalangen Alexanders mit ihrem Elephantentritt Alles
zermalmten. So begann die Schlacht — ein beſtändiges Vordringen und
Zurückfluthen der Angreifer gleich der Brandung am ſteilen Strande —
bis dann das Erſcheinen der Preußen in Napoleons Rücken und rechter
Flanke den Schlachtplan des Imperators völlig umſtieß. Der Kampf
verlief wie eine planvoll gebaute Tragödie: zu Anfang eine einfache Ver-
wicklung, dann gewaltige Spannung und Steigerung, zuletzt das Herein-
brechen des Alles zermalmenden Schickſals; unter allen Schlachten der
modernen Geſchichte zeigt wohl nur die von Königgrätz in gleichem Maße
den Charakter eines vollendeten Kunſtwerks. Der letzte Ausgang hinter-
ließ in der Welt darum den Eindruck einer überzeugenden, unabwend-
baren Nothwendigkeit, weil ein wunderbares Geſchick jeder der drei Na-
tionen und jedem der Feldherren genau die Rolle zugewieſen hatte,
welche der eigenſten Kraft ihres Charakters entſprach: die Briten bewährten
in der Vertheidigung ihre kaltblütige, eiſerne Ausdauer, die Franzoſen
als Angreifer ihren ritterlichen, unbändigen Muth, die Preußen endlich
die gleiche ſtürmiſche Verwegenheit im Angriff und dazu, was am ſchwerſten
wiegt, die Selbſtverleugnung des begeiſterten Willens.


Napoleon rechnete mit Sicherheit auf einen raſchen Sieg, da er die
Preußen fern im Südoſten bei Namur wähnte. Seine Armee zählte
über 72,000 Mann, war dem Heere Wellingtons namentlich durch ihre
[749]Beginn der Schlacht.
ſtarke Cavallerie und die Ueberzahl der Geſchütze — 240 gegen 150
Kanonen — überlegen. Unter ſolchen Umſtänden ſchien es unbedenklich
den Angriff auf die Mittagszeit zu verſchieben, bis die Sonne den durch-
weichten Boden etwas abgetrocknet hätte. Um den Gegner zu ſchrecken
und die Zuverſicht des eigenen Heeres zu ſteigern, veranſtaltete der
Imperator im Angeſichte der Engländer eine große Heerſchau; krank wie
er war, von tauſend Zweifeln und Sorgen gepeinigt, empfand er wohl
auch ſelber das Bedürfniß ſich das Herz zu erheben an dem Anblick
ſeiner Getreuen. So oft er ſpäterhin auf ſeiner einſamen Inſel dieſer
Stunde gedachte, überkam es ihn wie eine Verzückung, und er rief: „die
Erde war ſtolz ſo viel Tapfere zu tragen!“ Und ſo ſtanden ſie denn
zum letzten Male in Parade vor ihrem Kriegsherrn, die Veteranen von
den Pyramiden, von Auſterlitz und Borodino, die ſo lange der Schrecken
der Welt geweſen und jetzt aus dem Schiffbruch der alten Herrlichkeit
nichts gerettet hatten als ihren Soldatenſtolz, ihre Rachgier und die
unzähmbare Liebe zu ihrem Helden. Die Trommler ſchlugen an, die
Feldmuſik ſpielte das Partant pour la Syrie! In langen Linien die
Bärenmützen der Grenadiere, die Roßſchweifhelme der Küraſſiere, die be-
troddelten Czakos der Voltigeure, die flatternden Fähnchen der Lanciers,
eines der prächtigſten und tapferſten Heere, welche die Geſchichte ſah. Die
ganze prahleriſche Glorie des Kaiſerreichs erhob ſich noch einmal, ein über-
wältigendes Schauſpiel für die alten Soldatenherzen; noch einmal erſchien
der große Kriegsfürſt in ſeiner finſteren Majeſtät, ſo wie der Dichter ſein
Bild kommenden Geſchlechtern überliefert hat, mitten im Wetterleuchten der
Waffen zu Fuß, in den Wogen reitender Männer. Die brauſenden Hoch-
rufe wollten nicht enden; hatte doch der Abgott der Soldaten vorgeſtern erſt
aufs Neue ſeine Unbeſiegbarkeit erwieſen. Und doch kam dieſer krampf-
hafte Jubel, der ſo ſeltſam abſtach von der gehaltenen Stille drüben im
engliſchen Lager, aus gepreßten Herzen: das Bewußtſein der Schuld, die
Ahnung eines finſteren Schickſals lag über den tapferen Gemüthern. Zehn
Stunden noch, und die verwegene Hoffnung des deutſchen Schlachten-
denkers war erfüllt, und dies herrliche Heer mit ſeinem Trotze, ſeinem
Stolze, ſeiner wilden Männerkraft war vernichtet bis auf die letzte
Schwadron.


Um ½12 Uhr begann Napoleon die Schlacht, ließ ſeinen linken
Flügel gen das Schloß Goumont vorgehen, während er zugleich auf ſeiner
Rechten die Anſtalten für den entſcheidenden Stoß traf. Vier Diviſionen
Fußvolk ſchaarten ſich dort zu einer rieſigen Heerſäule zuſammen; eine bei
Belle Alliance aufgeſtellte große Batterie bereitete durch anhaltendes Ge-
ſchützfeuer den Angriff vor. Gegen ½ 2 Uhr führte General Erlon
die gewaltige Infanteriemaſſe wider den linken Flügel der Briten heran.
Aber noch bevor dieſe Bewegung begann wurde der Imperator bereits
durch eine unheimliche Nachricht in der kalten Sicherheit ſeiner Berech-
[750]II. 2. Belle Alliance.
nungen geſtört. Er erfuhr um 1 Uhr durch einen aufgefangenen Brief,
daß General Bülow auf dem Marſche ſei gegen die rechte Flanke der
Franzoſen; und während er auf der Höhe bei Roſſomme, im Rücken
des Centrums, an ſeinem Kartentiſche ſtand, glaubte er auch ſchon fern
im Oſten bei dem hochgelegenen Dorfe Chapelle St. Lambert dunkle Trup-
penmaſſen zu bemerken, die alsbald zwiſchen den Wellen des Bodens wie-
der verſchwanden. Ein ſofort ausgeſendeter Adjutant beſtätigte die Vermu-
thung. Gewaltſam ſuchte der Kaiſer ſich zu beruhigen und ſendete vorläufig
zwei Cavalleriediviſionen oſtwärts über den rechten Flügel der Schlacht-
ſtellung hinaus. Es war ja doch ſicher nur das eine Corps Bülows,
vielleicht nur ein Theil davon, und ehe die Preußen in die Schlacht ein-
greifen konnten, mußte Wellington geſchlagen ſein. Seinen Offizieren
aber ſagte Napoleon mit zuverſichtlicher Miene, Marſchall Grouchy ziehe
zur Unterſtützung der rechten Flanke herbei: die Armee durfte von der
Gefahr nichts ahnen. Währenddem war Erlon mit ſeinen vier Schlacht-
haufen vorgerückt; ſchon während des Anmarſches erlitt er ſchwere Ver-
luſte, ganze Reihen in den tiefen Colonnen wurden von den engliſchen
Kanonenkugeln niedergeriſſen. Es gelang zuerſt eine niederländiſche Bri-
gade in die Flucht zu ſchlagen; nur ein Theil der Truppen des jungen
Königreichs bewährte ſich; der alte Blücher hatte ganz recht geſehen, als er
meinte, dieſe Belgier ſchienen „keine reißenden Thiere“ zu ſein. Dann aber
brach das engliſche und hannoverſche Fußvolk hinter den ſchützenden Hecken
hervor, umfaßte mit ſeinen langen Linien die unbehilflichen Klumpen der
Franzoſen. Nach einem mörderiſchen Gefechte, bei dem der tapfere Picton
den Tod fand, mußten die Angreifer zurückgehen. Ponſonbys ſchottiſche
Reiter ſetzten nach, ſprengten die Weichenden auseinander, drangen in
unaufhaltſamem Laufe bis in die große Batterie der Franzoſen; hier erſt
wurden ſie durch franzöſiſche Cavallerie zur Umkehr genöthigt.


Der große Schlag war mißlungen. Und jetzt ließ ſich ſchon nicht
mehr verkennen, daß jedenfalls ein beträchtlicher Theil der preußiſchen
Armee im Anmarſch war, und zwar in der Richtung auf das Dorf
Plancenoit, das im Rücken des rechten Flügels der Franzoſen lag. Noch
ſtand es dem Imperator frei die Schlacht abzubrechen, aber wie hätte
der Stolze einen ſo kleinmüthigen Entſchluß faſſen können? Er ſendete
das Corps Lobaus über Plancenoit hinaus, ſo daß ſeine Schlachtſtellung
ſtatt einer einfachen Linie nunmehr einen auf der Rechten rückwärts ge-
bogenen Haken bildete. Die Preußen verdarben ihm die ganze Anlage
der Schlacht noch bevor von ihrer Seite ein Schuß gefallen war. Den
gegen die Engländer fechtenden Heertheilen wurde die auf der Rechten
drohende Bedrängniß ſorgſam verborgen gehalten. Darum ließ Napoleon
die Truppen Lobaus nicht weiter nach Oſten vorgehen, wo ſie das Corps
Bülows am Rande des breiten Lasnethals leicht aufhalten konnten, ſondern
hielt ſie nahe bei Plancenoit zurück: der Zuſammenſtoß mit den Preußen
[751]Anmarſch der Preußen.
ſollte ſo lange als möglich hinausgeſchoben werden, damit die Armee
nicht durch den Kanonendonner auf der Rechten in ihrer Siegeszuverſicht
beirrt würde. Aus Furcht vor dem Angriff der Preußen wagte der
Imperator auch nicht mehr, die 24 Bataillone ſeiner Garde, die noch
unberührt in Reſerve ſtanden, gegen die Engländer vorzuſchicken, ſondern
beſchloß mit ſeiner geſammten Cavallerie das Centrum Wellingtons zu
durchbrechen: ein ausſichtsloſes Beginnen, da die Hauptmaſſe des Fuß-
volks der Verbündeten noch unerſchüttert war.


Blücher war am Morgen von Wavre aufgebrochen. Die alten Glie-
der wollten ſich noch gar nicht erholen von dem böſen Sturze vorgeſtern,
doch wer durfte dem Helden heute von Ruhe und Schonung ſprechen?
Lieber, rief er aus, will ich mich auf dem Pferde feſt binden laſſen, als
dieſe Schlacht verſäumen! Wohlgemuth ritt er inmitten der Regimenter, die
ſich mit unſäglicher Anſtrengung durch den tiefen Schlamm hindurcharbei-
teten; ein Brand in Wavre hatte den Marſch erheblich verzögert. Die Sol-
daten frohlockten wo der Feldherr ſich zeigte, traten mit lautem Zuruf an
ihn heran, ſtreichelten ihm die Kniee; er hatte für Jeden ein ermunterndes
Wort: „Kinder, ich habe meinem Bruder Wellington verſprochen, daß wir
kommen. Ihr wollt mich doch nicht wortbrüchig werden laſſen?“ Thielmann
blieb mit dem dritten Armeecorps bei Wavre zurück um den Rücken des
Heeres gegen einen Angriff Grouchys zu decken, der in der That am Nach-
mittage auf Wavre heranzog. Die übrigen drei Corps nahmen den Marſch
auf Chapelle St. Lambert; um 10 Uhr waren die Spitzen, um 1 Uhr die
Hauptmaſſe der Armee dort auf den Höhen angelangt. Nun theilte ſich
das Heer. Zieten mit dem erſten Corps marſchirte gradaus, in der Rich-
tung auf Ohain und weiter gegen den rechten Flügel der Franzoſen. Bülow
mit dem vierten Corps und dahinter das zweite Corps unter Pirch wendeten
ſich nach links, ſüdweſtwärts, gegen den Rücken der franzöſiſchen Auf-
ſtellung. Das ſchwierige Defilé des Lasnethals war zum Glücke vom
Feinde nicht beſetzt, der Bach ward überſchritten, und gegen 4 Uhr
ließ Bülow ſeine Truppen wohl verdeckt in und hinter dem Walde von
Frichemont antreten: erſt wenn eine genügende Macht zur Stelle war,
ſollte der überraſchende Vorſtoß erfolgen. In tiefem Schweigen rückten
die Regimenter in ihre Stellungen ein; die Generale hielten am Rande
des Waldes und verfolgten mit geſpannten Blicken den Gang der Schlacht.
Als einer der Offiziere meinte, der Feind werde nun wohl von den Eng-
ländern ablaſſen, und um ſich den Rückzug zu ſichern ſeine Hauptmacht
gegen die Preußen werfen, da erwiderte Gneiſenau: „Sie kennen Napo-
leon ſchlecht. Er wird gerade jetzt um jeden Preis die engliſche Schlacht-
linie zu zerſprengen ſuchen und gegen uns nur das Nothwendige ver-
wenden.“


Und ſo geſchah es. Noch ehe die Preußen bei dem Walde von
Frichemont anlangten, zwiſchen 3 und 4 Uhr hatte der zweite große
[752]II. 2. Belle Alliance.
Angriff der Franzoſen begonnen. Ney ſprengte mit vierzehn Regimentern
ſchwerer Reiterei auf der Weſtſeite der Landſtraße gegen die Vierecke der
engliſchen Garde und der Diviſion Alten im Centrum heran. Lange
wogte der Kampf unentſchieden hin und her, aber das Fußvolk hielt un-
erſchütterlich aus. Endlich zurückgeworfen zog Ney auch die Cavallerie
Kellermanns an ſich, ſo daß er jetzt 26 Reiterregimenter zu erneutem
Angriff heranführte, die größte Reitermaſſe, welche dies kriegeriſche Zeit-
alter jemals an einer Stelle thätig geſehen hatte. Der Boden dröhnte
von dem Hufſchlag von zehntauſend Pferden, ein Wald von Säbeln
und Lanzen bedeckte die Thalmulde, ſtundenlang ſchwankte das Gefecht,
zehn-, zwölfmal ward die Attake gegen einzelne Bataillone erneuert. Noch-
mals behielt die Standhaftigkeit des engliſchen und deutſchen Fußvolks die
Oberhand. Auch dieſer Angriff ſcheiterte, die Schwadronen begannen zu
weichen, ein kühnes Vorgehen der engliſchen und hannoverſchen Reſerve-
reiterei brachte ſie vollends in Verwirrung; aber auch die Sieger fühlten
ſich tief erſchöpft.


Auf den anderen Theilen des Schlachtfeldes geſtaltete ſich unter-
deſſen der Gang der Ereigniſſe weit günſtiger für Napoleon. Die Divi-
ſion Quiot, die ſchon an dem großen Angriffe Erlons theilgenommen,
ging von Neuem auf der Landſtraße vor und beſtürmte die Meierei von
La Haye Sainte. Dort ſtand Major Baring mit einem Bataillon von
der leichten Infanterie der Deutſchen Legion und einigen Naſſauern.
Die grünen Jäger hatten ſchon um Mittag die Schlachthaufen Er-
lons abgeſchlagen; die treuen Männer hingen mit ganzem Herzen an
ihren Offizieren, alle bis zum letzten Gemeinen zeigten ſich entſchloſſen
von dieſem Ehrenpoſten nimmermehr zu weichen. Und welche Aufgabe
jetzt! Schon brannten die Dächer des Gehöftes, die Einen mußten löſchen,
die Anderen führten aus den Fenſtern, hinter den Hecken und Mauern
des Gartens das Feuergefecht gegen die furchtbare Uebermacht draußen.
Pulver und Blei gingen aus; vergeblich ſandte Baring wiederholt ſeine
Boten rückwärts nach Mont St. Jean mit der dringenden Bitte um
Munition. Erſt als faſt die letzte Patrone verſchoſſen war, räumte die
tapfere kleine Schaar den Platz. Wie Raſende drangen die Franzoſen
hinter den Abziehenden in das Gehöfte ein, durchſuchten brüllend alle
Stuben und Scheunen: „kein Pardon dieſen grünen Brigands!“ — denn
wie viele ihrer Kameraden waren heute Mittag und jetzt wieder den ſicheren
Kugeln der deutſchen Jäger erlegen! Das Vorwerk des engliſchen Centrums
war genommen, und bald ergoß ſich der Strom der Angreifer weiter bis
nach Mont St. Jean. Die Mitte der Schlachtlinie Wellingtons ward
durchbrochen. Da führte der Herzog ſelber die hannoverſche Brigade
Kielmannsegge herbei und ihr gelang die Lücke im Centrum vorläufig zur
Noth wieder auszufüllen. Aber auch nur vorläufig; denn die Reſerven
waren ſchon herangezogen bis auf den letzten Mann, und La Haye Sainte,
[753]Bülow bei Frichemont.
die beherrſchende Poſition dicht vor dem Centrum, blieb in den Händen
des Feindes. Mittlerweile konnte auch der tapfere Bernhard von Weimar
auf dem linken Flügel die Vorwerke La Haye und Papelotte gegen die
Diviſion Durutte nicht mehr behaupten. Er begann zu weichen. Welling-
tons Beſorgniß ſtieg. Schon ſeit mehreren Stunden hatte er wiederholt
Adjutanten an Blücher geſendet mit der dringenden Bitte um Hilfe.
Kalt und ſtreng ſtand er unter ſeinen Offizieren, die Uhr in der Hand,
und ſagte: „Blücher oder die Nacht!“ Wenn Napoleon jetzt im Stande
war ſeine Garde gegen Mont St. Jean oder gegen den erſchütterten linken
Flügel der Engländer zu verwenden, ſo konnte ihm der Sieg nicht fehlen.


In dieſem verhängnißvollen Zeitpunkte begann der Angriff der Preußen.
Bereits klang fern vom Oſten her, beiden Theilen vernehmlich, Kanonen-
donner nach dem Schlachtfelde hinüber — die erſte Kunde von dem Ge-
fechte, das ſich bei Wavre, im Rücken der Blücher’ſchen Armee, zwiſchen
Thielmann und Grouchy entſpann. Um die nämliche Zeit fiel vor
dem Walde von Frichemont der erſte Schuß. Es war ½ 5 Uhr Nach-
mittags; grade fünf Stunden lang hatte die Armee Wellingtons den
Kampf allein aushalten müſſen. Bülows Batterien fuhren ſtaffelförmig
auf den Höhen vor dem Walde auf. Ein einzig ſchönes Schauſpiel, wie
dann die Brigaden des vierten Corps mit Trommelklang und fliegenden
Fahnen nach einander aus dem Gehölze heraustraten und zwiſchen den
Batterien hindurch ſich in die Ebene gegen Plancenoit hinabſenkten. Gnei-
ſenau fühlte ſich in ſeinem ewig jungen Herzen wie bezaubert von der
wilden Poeſie des Krieges und unterließ ſelbſt in ſeinem amtlichen Schlacht-
berichte nicht zu ſchildern, wie herrlich dieſer Anblick geweſen ſei.


Der Held von Dennewitz that ſein Beſtes um die Fehler vom
15. und 16. Juni zu ſühnen, leitete den Angriff mit beſonnener Kühn-
heit wie in den großen Zeiten der Nordarmee. Gleich im Beginne des
Gefechts fiel der allbeliebte Oberſt Schwerin, derſelbe, der vor einem
Jahre der Hauptſtadt die Siegesbotſchaft gebracht hatte. Das Corps
Lobaus ward zurückgedrängt, unaufhaltſam drangen die Preußen vor-
wärts auf Plancenoit. Etwas ſpäter, um 6 Uhr hatte General Zieten
mit der Spitze des erſten Corps Ohain erreicht und ging dann, ſobald
er von der Bedrängniß des engliſchen linken Flügels unterrichtet war,
raſch auf die Vorwerke La Haye und Papelotte vor, wo die Diviſion
Durutte ſich ſoeben eingeniſtet hatte. Prinz Bernhard von Weimar rettete
die Trümmer ſeiner Truppen, als die preußiſche Hilfe herankam, rück-
wärts in den ſchützenden Wald von Soignes; ſeine tapferen Naſſauer
waren durch das lange, ungleiche Gefecht völlig kampfunfähig geworden.
Die Brigade Steinmetz warf nun die Franzoſen aus den beiden Vor-
werken wieder hinaus, die brandenburgiſchen Dragoner hieben auf die
Zurückweichenden ein, die Batterien des erſten Corps beſtrichen weithin
den rechten Flügel des Feindes, und bis in das franzöſiſche Centrum
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 48
[754]II. 2. Belle Alliance.
hinein verbreitete ſich ſchon die Schreckenskunde, dort auf der Rechten ſei
Alles verſpielt.


Gegen 7 Uhr war die Schlacht für Napoleon unzweifelhaft ver-
loren. Sein linker Flügel hatte wieder und wieder vergeblich das Schloß
Goumont berannt, im Centrum war der große Reiterangriff geſcheitert,
auf der Rechten und im Rücken drängten die Preußen von zwei Seiten
her näher und näher; den einzigen Gewinn der letzten Kämpfe, die
Meierei von La Haye Sainte auf die Dauer zu behaupten war nicht
mehr möglich. Durch einen rechtzeitigen Rückzug konnte noch mindeſtens
die Hälfte des Heeres gerettet werden. Es ergab ſich aber nothwendig
aus dem Charakter des Imperators und aus ſeiner verzweifelten poli-
tiſchen Lage, daß er dieſen Ausweg verſchmähte und noch einen dritten
allgemeinen Angriff verſuchte — diesmal nach zwei Seiten zugleich. Er
ließ um ſieben Uhr die 24 Bataillone ſeiner Garde heranrufen, behielt
nur zwei als letzte Reſerve zur Hand, ſendete zwölf nach Plancenoit
gegen Bülow. Die übrigen zehn ſollte Ney zu einem neuen Angriff
gegen das engliſche Centrum führen, abermals weſtlich der Landſtraße,
möglichſt entfernt von den Schaaren Zietens. Mit ſtürmiſchem Hochruf
eilten die Bataillone bei Belle Alliance an dem Imperator vorüber: es
war ja ihr Handwerk den Sieg zu entſcheiden. Sie tauchen dann in
die unheimliche Bodenmulde hinab, wo dichte Haufen von Leichen und
Pferden den Todesweg der franzöſiſchen Reiter bezeichnen, ſtürmen unter
Trommelſchlag, unbekümmert um die Geſchoſſe der engliſchen Batterien,
über die Felder, erſteigen den Abhang dicht vor der Front der britiſchen
Garde. Droben liegen indeſſen Maitlands Grenadiere im Graſe ver-
borgen. Als die erſten Bärenmützen auf der Höhe erſcheinen, ſchallt
weithin Wellingtons durchdringender Ruf: „auf, Garden! fertig!“ — und
mit einem male ſteigt dicht vor den Augen der entſetzten Franzoſen eine
rothe Mauer auf, die lange Linie der engliſchen Garde, eine furchtbare
Salve kracht auf wenige Schritte Entfernung in die Reihen der Angreifer
hinein. Ein kurzes wüthendes Handgemenge, dann werden die Blauen
von den Rothen mit dem Bajonett den Abhang hinuntergeſchleudert.
Neys Pferd bricht von einer Kugel getroffen unter dem Reiter zuſammen,
und wie ſie den Führer fallen ſehen wenden ſich die Garden zur Flucht.
Der aber macht ſich von ſeinem Thiere los, ſpringt auf, verſucht mit
zornigen Rufen die Weichenden zu halten. Umſonſt; denn mittlerweile
ſind die übrigen Bataillone weiter links zwiſchen zwei Feuer gerathen
und gehen ebenfalls zurück. Die Kaiſergarde ſtiebt auseinander; ihr unglück-
licher Führer irrt baarhaupt, mit zerbrochenem Degen auf dem Schlacht-
felde umher und ſucht vergeblich die Kugel, die ihn von ſeiner Gewiſſens-
angſt und ſeinen finſteren Ahnungen erlöſen ſoll.


Indem hatte Blücher ſchon den Schlag geführt, der die Vernichtung
des napoleoniſchen Heeres entſchied. Die Truppen Bülows gingen in
[755]Die Entſcheidung bei Plancenoit.
drei Colonnen im Sturmſchritt auf Plancenoit vor. In und neben dem
Dorfe hielten jene zwölf friſchen Bataillone der Kaiſergarde; und ſie
fochten mit dem höchſten Muthe, denn Alle fühlten, daß hier die Ent-
ſcheidung des ganzen Krieges lag. Die anſtürmenden Preußen ſahen
ſich im freien Felde den Kugeln den Vertheidiger, die in den Häuſern
und hinter den hohen Mauern des Kirchhofs verdeckt ſtanden, ſchutzlos
preisgegeben. Dieſer letzte Kampf ward faſt der blutigſte dieſes wilden
Zeitalters; das Corps Bülows verlor in viertehalb Stunden 6353 Mann,
mehr als ein Fünftel ſeines Beſtandes, nach Verhältniß ebenſo viel wie
die engliſche Armee während des ganzen Schlachttages. Der erſte und
der zweite Sturm ward abgeſchlagen; da führte Gneiſenau ſelbſt die
ſchleſiſchen und pommerſchen Regimenter zum dritten male vorwärts,
und jetzt gegen 8 Uhr drangen ſie ein. Noch ein letzter wüthender
Widerſtand in der Dorfgaſſe, dann entwich die Garde in wilder Flucht;
ihr nach Major Keller mit den Füſilieren des 15. Regiments, dann die
anderen Bataillone. Auf der ganzen Linie erklang in langgezogenen Tönen
das ſchöne Signal der preußiſchen Flügelhörner: Avanciren! Zu gleicher
Zeit ward weiter nördlich das Corps Lobaus von Bülows Truppen in
der Front, von Zietens Reitern in der Flanke gepackt und völlig zer-
ſprengt. Die beiden Heertheile der Preußen vereinigten ſich hier; der
furchtbare Ring, der den rechten Flügel der Franzoſen auf drei Seiten
umklammern ſollte, war geſchloſſen. Von Norden drängten die Engländer,
von Oſten und Süden die Preußen heran. Den Truppen Zietens wies
Grolman die Richtung nach der Höhe hinter dem Centrum der Franzoſen,
nach dem Pachthof La Belle Alliance, der mit ſeinen weißen Mauern
weithin erkennbar wie ein Leuchtthurm über dem tiefen Gelände empor-
ragte. Dorthin nahmen auch die Sieger von Plancenoit ihren Weg.


Ueber 40,000 Preußen hatten noch am Gefechte theilgenommen, und
jetzt da die Arbeit faſt gethan war kam auch das Armeecorps Pirchs von
den Höhen hinter Plancenoit herab. Napoleon war während dieſer letzten
Stunde nach La Haye Sainte vorgeeilt um die Diviſion Quiot noch
einmal zum Angriff auf Mont St. Jean vorzutreiben. Sobald er zu
ſeiner Linken die Niederlage Neys und gleichzeitig den Zuſammenbruch
des geſammten rechten Flügels bemerkte, ſagte er wie vernichtet: „es iſt
zu Ende, retten wir uns!“ Er eilte an der Landſtraße zurück, nicht ohne
ſchwere Gefahr, denn ſchon ward die Straße zugleich von den Engländern
und von Zietens Batterien mit einem heftigen Kreuzfeuer beſtrichen.


Schweigſam, unbeweglich, mit wunderbarer Selbſtbeherrſchung ſah
Wellington auf die ungeheuere Verwirrung. Sein Heer war nicht nur
völlig ermattet, ſondern auch in ſeiner taktiſchen Gliederung ganz gebrochen;
der lange Kampf hatte alle Truppentheile wirr durcheinander geſchüttelt,
aus den Trümmern der beiden prächtigen Reiterbrigaden Ponſonby und
Somerſet ſtellte man ſoeben zwei Schwadronen zuſammen. Keine Mög-
48*
[756]II. 2. Belle Alliance.
lichkeit, mit ſolchen Truppen noch ein nachhaltiges Gefecht zu beſtehen.
Der Herzog wußte wohl, daß allein das Erſcheinen der Preußen ihn vor
einer unzweifelhaften Niederlage bewahrt hatte; ſeine wiederholten dringen-
den Bitten an Blücher laſſen darüber keinen Zweifel. Doch er war
dem militäriſchen Ehrgefühle ſeiner Tapferen eine letzte Genugthuung
ſchuldig; auch ſah er mit ſtaatsmänniſcher Feinheit voraus, wie viel ge-
wichtiger Englands Wort bei den Friedensverhandlungen in die Wag-
ſchale fallen mußte, wenn man ſich ſo anſtellte, als hätten die britiſchen
Waffen die Schlacht im Weſentlichen allein entſchieden. Darum ließ er,
ſobald er den rechten Flügel der Franzoſen dem preußiſchen Angriffe er-
liegen ſah, alle irgend verwendbaren Trümmer ſeines Heeres noch eine
Strecke weit vorrücken. Auf dieſem letzten Vormarſch trieb der hanno-
verſche Oberſt Halkett die beiden einzigen Vierecke der Kaiſergarde, die noch
zuſammenhielten, vor ſich her und nahm ihren General Cambronne mit
eigenen Händen gefangen. Aber die Kraft der Ermüdeten verſagte bald,
ſie gelangten nicht über Belle Alliance hinaus. Wellington überließ, nach-
dem er den Schein gerettet, die weitere Verfolgung ausſchließlich den
Preußen, die ohnehin dem Feinde am Nächſten waren.


Die Geſchlagenen ergriff ein wahnſinniger Schrecken. Kein Befehl fand
mehr Gehör, Jeder dachte nur noch an ſein armes Leben. Fußvolk und
Reiter wirr durch einander, flohen die aufgelöſten Maſſen auf und neben
der Landſtraße ſüdwärts; die Troßknechte zerhieben die Stränge und
ſprengten hinweg, ſo daß die 240 Kanonen alleſammt bis auf etwa 27
in die Hände der Sieger fielen. Selbſt der Ruf L’Empereur! der ſonſt
augenblicklich jeden Weg dem kaiſerlichen Wagen geöffnet hatte, verlor
heute ſeinen Zauber; der kranke Napoleon mußte zu Pferde davonjagen,
obgleich er ſich kaum im Sattel halten konnte. Nur um die Fahnen
ſchaarten ſich immer noch einige Getreue; ihrer vier waren in der Schlacht
verloren gegangen, die übrigen wurden alleſammt gerettet. Niemals
in aller Geſchichte war ein tapferes Heer ſo plötzlich aus allen Fugen
gewichen. Nach der übermenſchlichen Anſtrengung des Tages brach alle
Kraft des Leibes und des Willens mit einem Schlage zuſammen; das
Dunkel der Nacht, die Uebermacht der Sieger, der umfaſſende Angriff
und die raſtloſe Verfolgung ſteigerten die Verwirrung. Entſcheidend blieb
doch, daß dieſem Heere bei all ſeinem ſtürmiſchen Muthe die ſittliche
Größe fehlte. Was hielt dieſe Meuterer zuſammen? Allein der Glaube
an ihren Helden. Nun deſſen Glücksſtern verbleichte, waren ſie nichts
mehr als eine zuchtloſe Bande.


Die Sonne war ſchon hinter dicken Wolken verſunken, als die beiden
Feldherren vor dem Hofe von Belle Alliance mit einander zuſammen
trafen; ſie umarmten ſich herzlich, der bedachtſame Vierziger und der
feurige Greis. Nahebei hielt Gneiſenau. Endlich doch ein ganzer und
voller Sieg, wie er ihn ſo oft vergeblich von Schwarzenberg gefordert;
[757]Die Verfolgung.
endlich doch eine reine Vergeltung für allen Haß und alle Schmach jener
entſetzlichen ſieben Jahre! Es ſang und klang in ſeiner Seele; er dachte
an das herrlichſte der fridericianiſchen Schlachtfelder, das er einſt von
ſeiner ſchleſiſchen Garniſon aus ſo oft durchritten hatte. „Iſt es nicht
gerade wie bei Leuthen?“ — ſagte er zu Bardeleben und ſah ihn mit
ſtrahlenden Augen an. Und wirklich, wie einſt bei Leuthen blieſen jetzt die
Trompeter das Herr Gott Dich loben wir! und die Soldaten ſtimmten
mit ein. Aber Gneiſenau dachte auch an die Schreckensnacht nach der
Schlacht von Jena, an jene Stunden beim Webichtholze, da er die Todes-
angſt eines geſchlagenen Heeres, die dämoniſche Wirkung einer nächtlichen
Verfolgung mit angeſehen. Noch gründlicher als einſt an der Katzbach,
ſollte heute der Sieg ausgebeutet werden. „Wir haben, rief er aus,
gezeigt wie man ſiegt, jetzt wollen wir zeigen wie man verfolgt.“ Er befahl
Bardeleben mit einer Batterie den Fliehenden auf den Hacken zu bleiben,
immer aufs Gerathewohl in das Dunkel der Nacht hineinzuſchießen, da-
mit der Feind nirgends Ruhe fände. Er ſelber nahm was von Truppen zur
Hand war mit ſich, brandenburgiſche Uhlanen und Dragoner, Infanterie
vom 15. und 25. und vom 1. pommerſchen Regimente; Prinz Wilhelm
der Aeltere, der die Reſervereiterei des Bülow’ſchen Corps geführt, ſchloß
ſich ihm an.


So brauſte die wilde Jagd auf der Landſtraße dahin; nirgends hielten
die Flüchtigen Stand. Erſt bei Genappe, wo die Straße auf einer engen
Brücke das Thal der Dyle überſchreitet, verſuchten die Trümmer der
kaiſerlichen Garde den Uhlanen zu widerſtehen; doch kaum erklang, gegen
11 Uhr, der Sturmmarſch des preußiſchen Fußvolks, ſo brachen ſie ausein-
ander. General Lobau und mehr als 2000 Mann geriethen hier in Ge-
fangenſchaft; auch der Wagen Napoleons mit ſeinem Hut und Degen ward
erbeutet. Welche Ueberraſchung, als man die Sitzkiſſen aufhob; der große
Abenteurer hatte ſich die Mittel ſichern wollen für den Fall der Flucht,
den Wagen über und über mit Gold und Edelſteinen angefüllt. Die
armen pommerſchen Bauerburſchen ſtanden vor dem Glanze faſt ebenſo
rathlos wie einſt die Schweizer bei Nancy vor dem Juwelenſchatze des
Burgunderherzogs; Mancher verkaufte einen koſtbaren Stein für wenige
Groſchen. Das prächtige Silbergeſchirr des Imperators behielten die
Offiziere der Fünfundzwanziger und ſchenkten es der Lieblingstochter ihres
Königs als Tafelſchmuck.


Gneiſenau aber und Prinz Wilhelm ritten nach kurzem Verſchnaufen
raſtlos weiter. Drüben jenſeits der Dyle glaubten die Franzoſen ſicher zu
ſein und hatten ſich zur Beiwacht gelagert. Mindeſtens ſiebenmal wurden
ſie durch die nachſetzenden Preußen von ihren Feuern aufgeſcheucht. Als
ſein Fußvolk nicht mehr weiter konnte, ließ Gneiſenau einen Trommler auf
ein Beutepferd aufſitzen; der mußte ſchlagen was das Kalbfell aushalten
wollte, und weiter ging es mit den Uhlanen allein. Wie viele Schaaren
[758]II. 2. Belle Alliance.
der Franzoſen ſind dann noch vor dem Klange dieſer einzigen Trommel
auseinandergelaufen! Die Straße war überſäet mit Waffen, Torniſtern
und allerhand Getrümmer, wie einſt der Weg von Roßbach nach Erfurt.
Beim Morgengrauen ward das Schlachtfeld von Quatrebras erreicht, aber
erſt jenſeits, in Frasnes, nach Sonnenaufgang hielten die erſchöpften Ver-
folger ein. Sie hatten die Zerrüttung des feindlichen Heeres ſo bis zur
völligen Auflöſung geſteigert, daß ſich von den Kämpfern von Belle Al-
liance nur 10,000 Mann, lauter ungeordnete Haufen, nachher in Paris
wieder zuſammen fanden.


Mit ſtolzen Worten dankte Blücher dem unübertrefflichen Heere, das
ermöglicht habe was alle großen Feldherren bisher für unmöglich gehalten
hätten: „So lange es Geſchichte giebt wird ſie Euer gedenken. Auf Euch,
ihr unerſchütterlichen Säulen der preußiſchen Monarchie, ruht mit Sicher-
heit das Glück Eures Königs und ſeines Hauſes. Nie wird Preußen unter-
gehen, wenn Eure Söhne und Enkel Euch gleichen!“ An Stein ſchrieb
er einfach: „Ich hoffe, mein verehrter Freund, Sie ſind von mich zufrie-
den“ und ſprach die Hoffnung aus, ſeine alten Tage als Steins Nachbar
„in Ruhe aufs Land zu verleben“. Er befahl, die Schlacht zu nennen
nach dem ſinnvollen Namen des Hofes La Belle Alliance, wo die beiden
Sieger „durch eine anmuthige Gunſt des Zufalls“ zuſammen getroffen
waren — „zum Andenken des zwiſchen der britiſchen und preußiſchen
Nation jetzt beſtehenden, von der Natur ſchon gebotenen Bündniſſes, der
Vereinigung der beiden Armeen und der wechſelſeitigen Zutraulichkeit der
beiden Feldherren.“ Wellington ging auf den ſchönen Gedanken, der beiden
Völkern die verdiente Ehre gab, nicht ein. Die Schlacht ſollte als ſein
Sieg erſcheinen, darum taufte er ſie auf den Namen des Dorfes Waterloo,
wo gar nicht gefochten wurde; denn dort hatte er am 17. Juni über-
nachtet und von Spanien her war er gewohnt die Stätten ſeiner Siege mit
dem Namen ſeines letzten Hauptquartiers zu bezeichnen. Während Gnei-
ſenaus Schlachtbericht durchaus ehrlich und beſcheiden den wirklichen Her-
gang, ſo weit er ſchon bekannt war, erzählte, ſtellte der Herzog in ſeinem
Berichte die Ereigniſſe ſo dar, als ob ſein letzter Scheinangriff die Schlacht
entſchieden und die Preußen nur eine immerhin dankenswerthe Hilfe ge-
leiſtet hätten. Zum Glück wurde von ſolchen Zügen engliſcher Bundes-
freundſchaft vorderhand noch wenig ruchbar. Das Verhältniß zwiſchen
den Soldaten der beiden Heere blieb durchaus freundlich; die tapferen
Hochſchotten, die auf dem Schlachtfelde den preußiſchen Vierundzwanzigern
um den Hals fielen und mit ihnen gemeinſam das Heil Dir im Sieger-
kranz! ſangen, fragten wenig, wem das höhere Verdienſt gebühre.


In der Heimath hatte die Unglückspoſt von Ligny große Beſtürzung
erregt; man ſah ſchon ein neues Zeitalter unendlicher Kriege emporſteigen.
Um ſo ſtürmiſcher nun die Freude über die Siegesbotſchaft. Wie war
doch plötzlich das Machtverhältniß zwiſchen den beiden Nachbarvölkern
[759]Treffen bei Wavre.
verſchoben! Schon jenſeits der Grenze empfingen die Deutſchen den
Feind; die Hälfte des preußiſchen Heeres und ein Theil der norddeutſchen
Contingente genügten um, vereint mit etwa 60,000 Engländern und Nie-
derländern, das franzöſiſche Heer aufs Haupt zu ſchlagen; unabweisbar
drängte ſich der Gedanke auf, daß Preußen allein, ſelbſt ohne Oeſterreich,
bereits ſtark genug war die böſen Nachbarn zu bemeiſtern, wenn ſich nur
alle deutſchen Staaten ihm anſchloſſen. Gneiſenau ſagte befriedigt: „Die
Franzoſen ahnen nicht blos, ſie wiſſen jetzt, daß wir ihnen überlegen ſind.“
Im Bewußtſein ſolcher Kraft verlangte die Nation wie aus einem Munde
rückſichtsloſe Ausbeutung des Sieges, gänzliche Befreiung des deutſchen
Stromes. Im Namer Aller rief Arndt den Siegern zu:


Nun nach Frankreich, nun nach Frankreich!

Holt geſtohlnes Gut zurück!

Unſre Veſten, unſre Grenzen,

Unſern Theil an Siegeskränzen,

Ehr’ und Frieden holt zurück!

In gleichem Sinne rief ein anderer Poet:


Reißt Vaubans Stachelgurt von Frankreichs Grenze,

Legt ihn der Euren an!

Die Unvollkommenheit alles menſchlichen Thuns zeigt ſich aber nir-
gends greller als im Kriege. Ein letzter Erfolg, der noch möglich ſchien,
entging den Preußen — nicht ohne die Schuld der beiden gelehrteſten
Männer der Armee, wie die Offiziere urtheilten. Das Heer Grouchys
entzog ſich der Vernichtung. Als der Marſchall am 18. Juni gegen
Wavre herankam, hielt ihn Thielmann bis zum Abend durch ein geſchickt
und muthig geführtes Gefecht an der Dyle feſt. Am frühen Morgen
des 19. griff Grouchy abermals an, und Thielmann, der dem übermäch-
tigen Feinde nur drei Brigaden entgegenzuſtellen hatte, wich in der Rich-
tung auf Löwen zurück. Sein Generalſtabschef, der geiſtvolle Clauſewitz
hielt die Lage für noch bedenklicher als ſie war und ſetzte den Rückzug
allzu weit nach Norden fort. Als die Franzoſen ſodann, auf die Schreckens-
nachricht aus Belle Alliance, ſchleunigſt umkehrten und der Sambre zu-
eilten, da hatten die Preußen die Fühlung mit ihnen verloren und konnten
ſie nicht mehr erreichen. Unterdeſſen ward auch von der Hauptarmee her
ein Unternehmen gegen Grouchy eingeleitet. Während General Pirch am
ſpäten Abend des 18. bei Plancenoit eintraf und die Schlacht ſchon nahezu
beendet fand, verfiel ſein Generalſtabschef, der gelehrte Aſter ſogleich auf
den glücklichen Gedanken, dies zweite Corps müſſe ſich jetzt oſtwärts
wenden um je nach Umſtänden die Armee Grouchys zu verfolgen oder
ihr den Rückzug abzuſchneiden. Er ſprach damit nur aus was unmittel-
bar nachher Gneiſenau ſelber dem General auftrug. Die Aufgabe bot
große Schwierigkeiten. Das Corps war durch den Tag von Ligny und
[760]II. 2. Belle Alliance.
durch mehrfache Entſendungen geſchwächt, zählte nur 16,000 Mann,
halb ſo viel wie vor drei Tagen; die Soldaten fühlten ſich tödlich er-
ſchöpft, und zudem wußte man nichts Sicheres über Grouchys Stellung.
Was Wunder, daß der Nachtmarſch nur langſam von ſtatten ging? Aber
bei größerer Rührigkeit ſeines Generalſtabs mußte der General am 19. er-
fahren, wo Grouchy zu finden ſei. Dies ward verſäumt. Erſt am 20. kam
die Nachricht, daß der Marſchall in der Nacht, ohne einen Schuß zu thun,
unweit der Vorpoſten nach der Sambre zu vorübergezogen und alſo den
beiden Corps von Pirch und Thielmann glücklich entſchlüpft war. Pirch
eilte ſofort nach, traf die Nachhut bei Namur, nahm die Stadt nach einem
blutigen Gefechte an den Thoren, aber die Hauptmacht Grouchys war
ſchon in Sicherheit. So geſchah es, daß den Franzoſen vorläufig noch
ein leidlich geordnetes Heer von 30,000 Mann übrig blieb, das vielleicht
den Kern für eine neue Armee bilden konnte.


Die beiden Feldherren verſtändigten ſich ſchnell über den gemeinſamen
Einmarſch in das Innere Frankreichs, wobei die Preußen wieder die Spitze
nehmen ſollten; nur gingen Beide von grundverſchiedenen Abſichten aus.
Blücher wollte einfach die Unterwerfung des verhaßten Landes vollenden
bis die Monarchen das Weitere verfügten; Wellington wünſchte den legi-
timen König ſchleunig in die Tuilerien zurückzuführen. Und wie viel
vortheilhafter war die politiſche Stellung des Briten! Während Blücher,
ohne Kenntniß von den Plänen ſeines Hofes, ſich begnügen mußte ſeinen
Generalen jeden amtlichen Verkehr mit den Bourbonen zu verbieten, ging
Wellington, unbekümmert um die Wünſche der Bundesgenoſſen, ruhig auf
ſein ſicheres Ziel los, forderte den Genter Hof auf, dem engliſchen Heere
nachzuziehen.


Die Entſcheidung des Krieges fiel ſo wunderbar raſch, daß jene
Mächte, welche eine neue Reſtauration nicht wünſchten, ſich gar nicht auf
die veränderte Lage vorbereiten konnten. König Ludwig war noch der von
allen Mächten anerkannte König von Frankreich, das geſammte diplo-
matiſche Corps hatte ihn nach Gent begleitet, und den Vorſtellungen der
fremden Staatsmänner glückte es, den gefährlichen Einfluß des Grafen
Blacas zu beſeitigen, den König für eine gemäßigtere Richtung zu ge-
winnen. Einer erſten, unklugen und übermüthigen Proclamation folgte
ſchon am 28. Juni eine zweite voll freundlicher Verheißungen. Der Bour-
bone verſprach, ſich abermals zwiſchen die alliirten und die franzöſiſchen
Armeen zu ſtellen, „in der Hoffnung, daß die Rückſichten, welche man
mir zollt, zu Frankreichs Heile dienen werden;“ er verwahrte ſich feierlich
gegen die Wiederherſtellung der Zehnten und grundherrlichen Rechte, gegen
die Rückforderung der Nationalgüter. Wellington trug kein Bedenken,
den Friedensdeputationen, welche ihm die Hauptſtadt zuſendete, zu er-
klären, die Bedingungen der Sieger würden um Vieles härter werden, wenn
die Nation ihren König nicht zurückriefe. Und ſeltſam, der ruſſiſche Ge-
[761]Napoleons zweite Entthronung.
ſandte Pozzo di Borgo unterſtützte eifrig die Beſtrebungen des engliſchen
Feldherrn: ganz auf eigene Fauſt, denn der Czar ſelber dachte in jenem
Augenblicke noch an die Thronbeſteigung der Orleans. Pozzo hoffte durch
Begünſtigung der bourboniſchen Sache auf Jahre hinaus der mächtigſte
Mann in den Tuilerien zu werden. Ein Theil der beſitzenden Klaſſen
neigte ſich nun doch der Anſicht zu, daß eine neue Reſtauration der einzig
mögliche Ausgang der rathloſen Verwirrung und namentlich für Frank-
reichs europäiſche Stellung vortheilhaft ſei — eine kühle Berechnung,
die freilich mit den Gefühlen dynaſtiſcher Treue nicht das Mindeſte
gemein hatte.


Der Imperator mußte ſogleich erfahren, daß Frankreich für einen
unglücklichen Napoleon keinen Raum bot. Auf den Rath ſeiner Umge-
bung verließ er das Heer, das ihn doch allein ſtützen konnte, am 20.
Juni und eilte nach Paris; dort ſah er ſich von aller Welt ſo gänzlich
verlaſſen, daß er bereits nach zwei Tagen zu Gunſten ſeines Sohnes ab-
dankte. Die proviſoriſche Regierung, die ſich unter Leitung des ſchlauen
Fouché gebildet hatte, beachtete die Worte des Geſtürzten nicht mehr. Er
verbrachte dann noch einige Tage voll banger Zweifel in jenem Malmaiſon,
wo einſt die verſtoßene Joſephine in ihrer Einſamkeit gelebt hatte, bot der
Regierung vergeblich ſeine Dienſte als einfacher General an. Endlich ſah
er ein, daß ſeine Rolle ausgeſpielt war; der Gedanke, mit Hilfe der ja-
cobiniſchen Foederirten in den Pariſer Vorſtädten wieder ans Ruder zu
gelangen, ſchien dem Despoten zu unmilitäriſch. Als die Preußen ſich
näherten, verließ er am 29. Juni das Schloß und eilte an die Küſte
nach Rochefort. Der große Schauſpieler ſchlug nun noch einmal ſeine
Toga in maleriſche Falten, erklärte dem Prinzregenten, er komme um wie
Themiſtokles Schutz zu ſuchen am gaſtlichen Heerde des großmüthigen
Feindes, und begab ſich am 15. Juli an Bord des engliſchen Kriegs-
ſchiffs Bellerophon. Hardenberg erlebte die Genugthuung, daß ſein ſo
oft wiederholter Vorſchlag jetzt von allen Mächten unbedenklich gebilligt
wurde; es blieb nichts übrig als den unheilvollen Mann fern von Eu-
ropa in ſichere Haft zu bringen. Dort auf der einſamen Felſeninſel hat
der Gefangene mit eigenen Händen eine Strafe über ſich verhängt, wie
ſie der bitterſte Feind nicht grauſamer erſinnen konnte. Dies titaniſche
Leben nahm ein gaunerhaftes Ende. Mit wüſtem Gezänk und der gewerb-
mäßigen Verbreitung ungeheuerlicher Lügen füllte er ſeine letzten Jahre
aus; er ſelber riß den Schleier hinweg von der bodenloſen Gemeinheit des
Rieſengeiſtes, der ſich einſt erdreiſtet hatte der Welt den Fuß auf den
Nacken zu ſetzen.


Ueber die Behandlung Napoleons hatten die beiden Feldherren ſich
nur ſchwer geeinigt. Der Gegenſatz der britiſchen und der deutſchen
Politik brach überall hervor. Wellington wollte die Gefühle der Fran-
zoſen ſorgſam ſchonen, und da er im Herzen völlig kalt blieb, ſo erkannte
[762]II. 2. Belle Alliance.
er auch richtig, daß es den Eroberern übel anſtand ihren Sieg durch
eine Gewaltthat zu beflecken. In Blüchers Hauptquartier dagegen flammte
der alte Haß gewaltig auf: ſo viele deutſche Männer lagen abermals in
ihrem Blute durch die Schuld dieſes einen Mannes! Blücher vermaß
ſich, er wolle den Unhold, wenn er ihn finge, im Schloſſe von Vincennes
erſchießen laſſen, auf derſelben Stelle, wo einſt der Herzog von Enghien
ermordet wurde; denn wozu ſonſt die Wiener Achtserklärung gegen den
Störer der öffentlichen Ruhe? Erſt auf Wellingtons dringende Bitten
gab er den grimmigen Plan auf und fügte ſich „der theatraliſchen Groß-
muth“, wie Gneiſenau erbittert ſchrieb, „aus Achtung für den Charakter
des Herzogs und — aus Schwäche“. Dagegen ſetzte der preußiſche Feld-
herr durch, daß der Marſch bis nach Paris fortgeſetzt wurde, während
der Engländer der Hauptſtadt die neue Demüthigung lieber erſparen und
ſeinen bourboniſchen Schützling allein einziehen laſſen wollte. Blücher
blieb ſtandhaft, ſtellte den Friedensgeſandten der Pariſer ſo ſtrenge Be-
dingungen, daß die Fortſetzung des Krieges unvermeidlich wurde.


Das preußiſche Heer drang unaufhaltſam vor, den Engländern weit
voran; auch der Feſtungskrieg ward mit Nachdruck begonnen, ſo daß noch
vierzehn feſte Plätze ihre Thore den Deutſchen öffnen mußten. Das Volk
betrug ſich überall tief feindſelig; die Franzoſen ließen ſichs nicht nehmen,
daß dieſer neue Krieg der Coalition ein himmelſchreiendes Unrecht ſei.
Auch die Preußen traten härter und ſchroffer auf als im vorigen Jahre.
Gneiſenau hoffte die Armee Grouchys an der Oiſe von Paris abzuſchneiden.
Dies gelang nicht; immerhin wurden die Truppen des Marſchalls durch
die raſtloſe Verfolgung faſt ebenſo vollſtändig aufgelöſt wie die Beſiegten
von Belle Alliance. Der kühne Parteigänger Major Frankenhauſen ließ
ihnen nirgends Ruhe, er bewährte wieder den alten Ruhm der preußi-
ſchen Reiterei, die ſonſt in dieſem Kriege wenig Gelegenheit zur Auszeich-
nung fand. In den Gefechten von Compiegne und Villers Cotterets
leiſteten die Franzoſen nur ſchwächlich Widerſtand. Die Geſchlagenen
entkamen in aufgelöſten Schaaren in die Hauptſtadt, und mit ihnen gebot
Davouſt, der Oberbefehlshaber von Paris, noch über 70,000 Mann; doch
was war von dieſen muth- und zuchtloſen Haufen zu erwarten? Am
29. Juni langte Blücher in Goneſſe an, wenige Stunden nördlich von
Paris; der liebliche Keſſel des Seinethals lag dicht vor ſeinen Blicken.
Sein Heer hatte die 36 Meilen von dem belgiſchen Schlachtfelde in elf
Tagen, mit nur einem Ruhetage, zurückgelegt.


Hier im Hauptquartier zu Goneſſe kam ein böſer Tag für Gneiſenau.
Das zieht die Herzen ſo mächtig zu dem Bilde dieſes großen Deutſchen
hin, daß er in Allem ſo einfach menſchlich war und darum auch einmal
recht menſchlich bitter und ungerecht werden konnte. So widerfuhr es
ihm heute. Er wußte, daß er der eigentliche Feldherr dieſes Krieges ge-
weſen, daß der rettende Gedanke der Vereinigung der beiden Heere allein
[763]Feldzug in Frankreich.
aus ſeinem Kopfe entſprungen war; nun mußte er hören, wie die Ver-
bündeten Wellington als den erſten der Helden prieſen, dieſen Briten, der
wohl auf dem Schlachtfelde hohe Umſicht und Ausdauer gezeigt, doch bei
der Leitung des Feldzugs Fehler auf Fehler gehäuft hatte. Eine tiefe
Bitterkeit überkam ihn, wenn er ſein ruhmlos verborgenes Wirken, alle
die ſo lange ſchweigſam ertragenen Kränkungen der letzten Jahre über-
dachte. Wie abenteuerlich hatte das Schickſal mit ihm geſpielt, von Kin-
desbeinen an! In Schilda, dem ſächſiſchen Abdera war er zur Welt ge-
kommen, mitten im Wirrwarr des Kriegslagers der Reichsarmee, unter
den Feinden Preußens; die preußiſchen Kanonen brummten dem Kinde
das Wiegenlied, und wenig fehlte, ſo wäre der Knabe auf dem Rückzuge
in der Nacht nach der Torgauer Schlacht von den Hufen der Pferde zer-
treten worden, hätte ihn ein mitleidiger Grenadier nicht aufgehoben.
Nachher die öde freudloſe Zeit, da er in Schilda barfuß die Gänſe hütete,
bis endlich die katholiſchen Verwandten in Würzburg ſich ſeiner erbarmten.
Der Heimathloſe wußte niemals recht, zu welchem deutſchen Stamme
noch zu welcher Kirche er eigentlich gehörte. Dann die wilden tollen
Studentenjahre in Erfurt, eine kurze Dienſtzeit bei den öſterreichiſchen
Reitern, eine Fahrt nach Amerika mit den Unglücklichen, die der Ans-
bacher Markgraf den Briten verkaufte. Darauf der preußiſche Dienſt:
im Anfang glänzende, überſchwängliche Hoffnungen, dann wieder die leere
Nichtigkeit des ſubalternen Lebens, ſo armſelig, ſo niederdrückend, daß
dieſer Feuergeiſt, der ſich einſt faſt in ſeinen eigenen Gluthen verzehrt
hatte, jetzt ernſtlich Gefahr lief zum Philiſter zu werden. Als dann die
weltverwandelnden Geſchicke über Preußen hereinbrachen, da jauchzte der
Genius in ihm auf; durch ihn errang das gedemüthigte Heer den erſten
Erfolg, ſeit Scharnhorſts Tode durfte ſich Niemand mehr mit ihm ver-
gleichen. Und was war ſein Lohn? Die Offiziere des Generalſtabs, die
den Zauber des Genies im täglichen Umgang empfanden, wußten freilich
wohl, was Deutſchland an dieſem Manne beſaß; ſie kamen ſich vor wie
in der verkehrten Welt, wenn ſie dieſen geborenen Herrſcher mit dem
Federhute in der Hand ehrerbietig neben dem Czaren ſtehen ſahen. Aber
wenn die Soldaten den alten Blücher mit donnerndem Hurrah begrüßten,
ſo bemerkten ſie kaum den unbekannten General an der Seite des Feld-
marſchalls. Bülow hatte ſeinen Namen in die Tafeln der Geſchichte
eingetragen, von Gneiſenau wußte ſie nichts. Er war älter als alle Ge-
nerale der Infanterie und noch immer Generalleutnant, hatte nie ein
ſelbſtändiges Commando geführt, trug weder den ſchwarzen Adlerorden
noch das große eiſerne Kreuz. Der König liebte ihn nicht, das boshafte
Geflüſter unter den Hofleuten hörte nicht auf; er fühlte ſich ſeiner Stel-
lung im Heere ſo wenig ſicher, daß er erſt kürzlich den Staatskanzler
gebeten hatte ihm doch für die Friedenszeiten das Amt des Generalpoſt-
meiſters zu verſchaffen. Wie fern lag ihm alle Ueberhebung, wie oft
[764]II. 2. Belle Alliance.
nannte er ſich nur einen vom Glücke begünſtigten Soldaten; aber ein-
mal doch mußte der Unmuth heraus. In höchſter Leidenſchaft ſchrieb er
dem Staatskanzler an einem Tage drei Briefe voll heftiger Anklagen,
beſchuldigte in ſeinem Zorne ſelbſt Stein und Blücher des Undanks.*)
Die Gerechtigkeit des Königs gab ihm bald Genugthuung; er trug nach-
her den Ordensſtern, der im Wagen Napoleons gefunden worden. Doch
über den hiſtoriſchen Ruhm, der ihm gebührte, iſt die Mehrzahl der Zeit-
genoſſen nie ins Klare gekommen; erſt ein ſpäteres Geſchlecht ſeiner
Landsleute ward ſeiner Größe gerecht, und die Franzoſen wiſſen bis zum
heutigen Tage noch nicht, wer der erſte Feldherr des verbündeten Euro-
pas war.


Der Unmuth zog nur wie ein flüchtiges Gewölk über Gneiſenaus
freie Stirne hin. Noch an dem nämlichen 30. Juni war der Held wie-
der ganz bei der Sache, legte den beiden Heerführern ſeinen Plan für die
Einnahme der Hauptſtadt vor. Während Bülow die leidlich befeſtigte
Nordſeite von Paris durch Scheinangriffe beſchäftigte, marſchirte Blücher
mit der übrigen Armee rechtsab, überſchritt die Seine unterhalb der Stadt
und ſchickte ſich an, den Platz vom Süden her anzugreifen; am 2. Juli
wurde Bülow von den nachrückenden Engländern abgelöſt und folgte dem
Feldmarſchall. Die letzten Kämpfe an der offenen Südſeite fielen wieder
allein den Preußen zur Laſt. Umſonſt verſuchte Davouſt in einem be-
weglichen Briefe Waffenruhe zu erbitten. Die Behauptung des Marſchalls,
nach dem Sturze Napoleons beſtehe kein Grund mehr zum Kriege, klang
dem deutſchen Feldherrn wie Hohn; in einer geharniſchten Antwort
forderte er den verhaßten Peiniger der deutſchen Bürger zur Capitulation
auf: „wollen Sie die Verwünſchungen von Paris ebenſo wie die von
Hamburg auf ſich laden?“ Ein unglückliches Gefecht ſeiner Lieblings-
waffe erſchütterte den Alten tief. Die alterprobten brandenburgiſchen
und pommerſchen Huſaren, 650 Pferde unter der Führung des kühnen
Sohr, geriethen bei Verſailles plötzlich in einen Hinterhalt, unter die
elf Reiterregimenter des Generals Excelmans; als ſie zurückſprengten,
verirrten ſie ſich in dem Dorfe Chesnoy zwiſchen die hohen Mauern
einer Sackgaſſe. Ein Drittel ſchlug ſich durch, die Anderen wurden
größtentheils niedergehauen. Unter ihnen auch der blutjunge Freiwillige
Heinrich von York, der Lieblingsſohn des Generals; der rief, als die Feinde
ihm Pardon anboten: „ich heiße York!“ und hieb um ſich bis er zuſammen-
brach. So mußte der eiſerne Mann, der einſt den deutſchen Krieg be-
gonnen, dicht vor dem letzten Siege noch einmal mit ſeinem Herzblute
zahlen.


Am 2. Juli drang das Corps Zietens nach einem heftigen Ge-
fechte bis auf die Hochebene von Meudon vor. Als der wilde Van-
[765]Zweite Einnahme von Paris.
damme in der folgenden Nacht verſuchte, von Iſſy aus dieſe Poſition
zurückzuerobern, ward er gänzlich geſchlagen; die Ueberlegenheit der preußi-
ſchen Waffen zeigte ſich ſo glänzend, daß Davouſt noch am ſelben Morgen
ſich zur Uebergabe bereit erklärte. Blücher ſendete den General Müff-
ling als Unterhändler. Der hatte einſt in Blüchers Namen die unver-
geßliche Capitulation von Ratkau abgeſchloſſen; der Alte konnte ihn ſeit-
dem nie ohne ſtillen Aerger anſehen und hieß ihn jetzt eine andere Capi-
tulation zu Stande bringen, die den letzten Flecken von ſeinem Ehrenſchilde
tilgen ſollte. Binnen drei Tagen mußte die Stadt übergeben werden, Da-
vouſt mit den Trümmern der Armee über die Loire zurückgehen. Triumphi-
rend ſchrieb Blücher an Kneſebeck: „Mein Tagewerk iſt vollendet, Paris
iſt mein! Meinen braven Truppen, ihrer Ausdauer und meinem eiſernen
Willen verdanke ich Alles!“ Nachher ward noch der ganze Weſten und
Norden des Landes von den Heeren der Verbündeten beſetzt. Welche
Freude, als Scharnhorſts Schwiegerſohn Friedrich Dohna ſeine Reiter
ihre Roſſe in der Loire tränken ließ; er dachte ſtolz an ſeine tapferen
Ahnen, die in den Hugenottenkriegen gleichfalls den Schrecken der deut-
ſchen Waffen bis vor die Wälle von Blois und Orleans getragen hatten.


Diesmal wollte Blücher der verhaßten Stadt weder die Ehre ſeines
Beſuches noch die Augenweide eines feierlichen Einzugs gönnen. Sie
ſollte fühlen was der Krieg iſt. Die Regimenter rückten einzeln ein und
wurden alleſammt einquartiert, obgleich die Bourgeois über ſolche Beſchim-
pfung leidenſchaftlich klagten. Behörden und Bürgerſchaft zeigten die
höchſte Gehäſſigkeit; daß dieſe Preußen in vier Tagen der franzöſiſchen
Kriegsherrlichkeit ein Ende gemacht, war ihnen eine unbegreifliche Unver-
ſchämtheit. Der Sieger verlangte die Zahlung von zwei Monaten Sold
für die Armee und ſofort zwei Millionen Kriegsſteuer; die Klagenden ver-
wies er an Daru: der verſtehe, wie man das Geld zur Stelle ſchaffe.
Gleich am erſten Abend wurde das Danziger Bild von preußiſchen Mus-
ketieren aus dem Louvre entführt, und nun begann die Zurücknahme
des Raubes. Haarklein müſſen ſie Alles herausgeben — meinte der
Alte und trieb zur Eile, damit die verfluchten Diplomatiker nicht dazwiſchen
kämen. Allein dem harten Willen des deutſchen Feldherrn verdankte die
Welt, daß der europäiſche Skandal des großen Pariſer Plünderungs-
magazins nun ein Ende nahm. Altenſtein, Eichhorn und der junge
Kölniſche Kunſtforſcher de Groote zeigten den preußiſchen Soldaten das
geſtohlene Gut; doch trotz dem Spüreifer der deutſchen Gelehrten ward
ein Theil des unüberſehbaren Raubes nicht wieder aufgefunden. Nach-
dem die Preußen das Werk der Sühne einmal in Gang gebracht,
machten auch andere Staaten ihre Anſprüche geltend. Der Manuſcripten-
ſchatz der Heidelberger Palatina, den einſt Tilly nach Rom, dann Bona-
parte nach Paris entführt hatte, gelangte endlich wieder an den Neckar
zurück; das kunſtſinnige Volk von Florenz empfing mit Sang und Klang
[766]II. 2. Belle Alliance.
in bekränztem Zuge ſeine Götterbilder, die Venus und den Apollino, als
ſie wieder heimkehrten in die herrliche Tribuna der Ufficien. Die Brücke
von Jena wollte Blücher in die Luft ſprengen laſſen — am Liebſten, wenn
ſich Fürſt Talleyrand vorher darauf geſetzt hätte; nur das Einſchreiten der
Monarchen vereitelte die Abſicht.


Das Hauptquartier blieb zu St. Cloud. In jenem Saale der
Orangerie, wo einſt der Staatsſtreich des Brumaire vollführt wurde,
ſchlugen die preußiſchen Regimentsſchneider ihre Werkſtatt auf; zum Ab-
ſchied nahm der Feldmarſchall noch das David’ſche Bild von Bonapartes
Alpenzuge mit hinweg und ſchenkte es ſeinem Könige für das Berliner
Schloß. In Paris führte der Gouverneur Müffling ein ſtrenges Regiment,
über die Truppen wie über die ewig ſcheltenden und jammernden Quar-
tierwirthe. Unter ihm gebot der Commandant Oberſt Pfuel, ein eifriger
Teutone, hochgerühmt auf allen Turn- und Schwimmplätzen der nord-
deutſchen Jugend; dem handfeſten Manne kam es nicht darauf an, einem
ſchimpfenden Franzoſen ſogleich mit der nationalen Waffe, dem Floret,
Satisfaction zu geben. Er hatte einen ſchweren Stand unter dem fiebe-
riſch aufgeregten Volke; häufig wurden die preußiſchen Wachpoſten Näch-
tens angefallen, mehrmals mußten ſie in den Arkaden des Palais Royal
mit der Waffe einſchreiten, wenn der herausfordernde Hohn der Gäſte in
den Cafehäuſern gar zu übermüthig wurde.


Einen ſeltſamen Gegenſatz zu dem ſcharfen, doch keineswegs ge-
waltthätigen Auftreten der Preußen bildete Wellingtons berechnete Milde.
Der Herzog ließ ſeine Truppen im Freien beim Boulogner Gehölz lagern,
vermied Alles was die Pariſer Eitelkeit irgend kränken konnte, und voll-
endete unterdeß in aller Gelaſſenheit einen Meiſterſtreich britiſcher Diplo-
matie, der dem gewandteſten Londoner Stockjobber zur Ehre gereichte.
Wie er die Dinge anſah, verſtand ſichs ganz von ſelbſt, daß Englands
Wille in dieſem Coalitionskriege allein entſcheiden mußte. Ohne bei den
verbündeten Höfen auch nur anzufragen ließ er den Bourbonen, unter dem
Schutze der engliſchen Bajonette, in die Tuilerien einziehen. Als die drei
Monarchen am Abend des 10. Juli in Paris eintrafen, ſaß König Ludwig
ſchon ſeit zwei Tagen wieder auf ſeinem Throne und empfing ſie als
leutſeliger Hausherr. Fouché, der raſch merkte woher der Wind wehte,
hatte ſich den Bourbonen noch rechtzeitig angeſchloſſen und dafür geſorgt,
daß die Kammern des Kaiſerreichs ſich nicht wieder verſammelten. Was
frommte es, daß Blücher jede Einladung König Ludwigs ausſchlug, daß
die preußiſchen Wachen in den Tuilerien den Hof gar nicht bemerken
wollten? Die zweite Reſtauration war vollzogen, durch England allein;
an die Wiedervertreibung der Bourbonen konnte keine der anderen Mächte
im Ernſt denken. Durch dieſe vollendete Thatſache vereitelte die britiſche
Politik zugleich die gerechten Forderungen der deutſchen Nation. Die Ab-
trennung von Elſaß-Lothringen war möglich, wenn die Alliirten ſich zu-
[767]Ankunft der Monarchen.
nächſt unter ſich einigten und dann den Bourbonen in das verkleinerte
Königreich zurückriefen; ſie war unerreichbar wenn man darüber mit einem
befreundeten Könige verhandeln mußte. Mit gutem Grunde klagte Harden-
berg, das eigenmächtige Verfahren der Briten habe die Coalition in einen
„amphibiſchen Zuſtand“ verſetzt.*)


Die beiden Kaiſer wurden durch den glänzenden Erfolg des belgiſchen
Feldzugs keineswegs angenehm überraſcht. Das Heer des Czaren kam
gar nicht mehr ins Feuer. Die Oeſterreicher und die Süddeutſchen be-
gannen, nach einem unbedeutenden Gefechte bei Straßburg, einen ſehr
matten Belagerungskrieg gegen die elſäſſiſchen Feſtungen; Erzherzog Johann
ward, von wegen der faſt unblutigen Eroberung von Hüningen, durch
die dankbaren Baſeler wie ein anderer Napoleon gefeiert. Die anderen
Plätze hielten ſich ſämmtlich. Das Volk bethätigte überall fanatiſchen Haß;
mancher Nachzügler der verbündeten Heere ward unter unmenſchlichen
Martern umgebracht. In den Vogeſen rotteten ſich die Gebirgsſchützen
zuſammen; die Schlettſtätter ließen nachher die äußerſt harmloſen Gräuel
der Belagerung auf ihrem Rathhauſe in pathetiſchen Bildern verherrlichen.
Genug, der öſterreichiſche Kriegsruhm hielt ſich in den beſcheidenſten
Grenzen. Kaiſer Franz ſagte zu den Offizieren des Blücher’ſchen Haupt-
quartiers in ſeiner anbiedernden Weiſe: „Ihr Herren Preußen ſeid doch
Taifelskerle;“ und Metternich geſtand dem Freiherrn vom Stein, ein
öſterreichiſches Heer hätte nach der Schlacht von Ligny mindeſtens ſechs
Wochen gebraucht um ſich zu erholen — worauf Stein nachdrücklich er-
widerte: „da ſehen Sie was die ſittliche Kraft vermag.“ Getreuer als in
ſolchen Artigkeiten bekundete ſich die wirkliche Stimmung der Hofburg in
den hämiſchen Briefen Adam Müllers, der nicht genug witzeln konnte
über die auf den Boulevards berliniſirenden Blücher’ſchen Römer.


Auch der Czar verbarg kaum, wie tief es ihn wurmte, daß die Bundes-
genoſſen ihm allen Kriegsruhm vorweg genommen hatten. Sobald er ſah,
daß an der Herſtellung der Bourbonen nichts mehr zu ändern war, gab
er ſeine orleaniſtiſchen Pläne ſofort auf, hieß Pozzo di Borgo’s eigen-
mächtiges Verfahren nachträglich gut und bemühte ſich wieder, durch
Großmuth gegen Frankreich dem engliſchen Nebenbuhler den Rang abzu-
laufen. Das hochherzige Pathos, worin er ſich gefiel, zeigte jetzt eine
eigenthümlich myſtiſche Färbung. Unterwegs, in Heidelberg war er in die
Netze der bigotten Schwärmerin Frau von Krüdener gerathen, die ihn ſeit-
dem nicht mehr los ließ. Die vielgefeierte Prophetin war im Grunde
eine flache Natur; der alte Goethe meinte, als ſie ſtarb: „So ein Leben,
wie Hobelſpäne! Nicht einmal ein Häufchen Aſche iſt daraus zu gewinnen
zum Seifenſieden!“ Aber ſie verſtand ſich in der Modeſprache und den
Modegefühlen der romantiſchen Zeit mit Anmuth zu bewegen, und Alexan-
[768]II. 2. Belle Alliance.
ders liebebedürftiges Herz ſehnte ſich nach ſüßerer Tröſtung, als der dürre
Rationalismus ſeines Lehrers Laharpe ſie bieten konnte. In Paris empfing
den Czaren ſofort ein Kreis chriſtlich begeiſterter Damen, huldigte dem
neuen Weltheiland, der das Reich des Gottesfriedens begründen und,
natürlich, nach dem Vorbilde des Erlöſers Alles vergeben und vergeſſen
ſollte. Ebenſo natürlich, daß dieſe großmüthigen Abſichten wieder genau
zuſammenfielen mit dem vermeintlichen Intereſſe der ruſſiſchen Politik.
Obgleich Alexander auf ſeine Weiſe wirklich ein treuer Bundesgenoſſe
ſeines weſtlichen Nachbarn war, ſo wünſchte er doch keineswegs daß Preußen
ſtark genug würde um der ruſſiſchen Freundſchaft entrathen zu können;
darum ſollte Deutſchland an ſeiner Weſtgrenze verwundbar bleiben. Noch
lebhafter als im vorigen Jahre trat der Czar heuer für die Franzoſen
ein, blieb für Steins Mahnungen ganz unzugänglich. Metternich fand ſich
ebenfalls ſchnell in die neue durch Wellingtons Rückſichtsloſigkeit geſchaffene
Lage; er ließ den Gedanken an die Einſetzung Napoleons II., womit Gentz
eine Zeit lang geſpielt hatte, ſofort fallen, und kam den Bourbonen freund-
lich entgegen. Da er nach wie vor der Meinung blieb, daß Oeſterreich
die gefährliche Poſition am Oberrheine keinenfalls wieder übernehmen
dürfe, ſo wünſchte er einen ſchleunigen, milden Friedensſchluß. Was
fragte der Wiener Hof nach den gerechten Anſprüchen der deutſchen Nation?


Dieſe Hoffnungen der Deutſchen fanden nirgends wärmeren Aus-
druck als in den Briefen der preußiſchen Generale. Schon vier Tage
nach der Entſcheidungsſchlacht ſchrieb Gneiſenau an den Staatskanzler:
„wehe denen und Schande ihnen, wenn dieſe einzige Gelegenheit nicht
ergriffen würde um Belgien, Preußen, Deutſchland zu ſichern für ewige
Zeiten!“ Er forderte für Belgien einige feſte Plätze im franzöſiſchen Flan-
dern, für Preußen Mainz und Luxemburg, desgleichen Naſſau und Ans-
bach-Baireuth; Baiern ſollte dafür in Elſaß-Lothringen entſchädigt werden,
das Haus Naſſau im wälſchen Luxemburg. „Welche Sprache jetzt Preußen
führen kann und muß, wiſſen Sie beſſer als ich. So hoch hat noch nie
Preußen geſtanden!“ In ähnlichem Sinne bat Blücher den König, „die
Diplomatiker anzuweiſen, daß ſie nicht wieder verlieren was der Soldat
mit ſeinem Blute errungen hat.“ Der Alte lebte, wie faſt die ge-
ſammte deutſche Nation, des naiven Glaubens, daß die fremden Mächte
den Preußen den ſo redlich verdienten Siegespreis gar nicht verſagen
könnten, wenn nur unſere Diplomaten feſt blieben. Der König war mit
den Wünſchen ſeiner Generale perſönlich durchaus einverſtanden und
beauftragte Gneiſenau, neben Hardenberg und Humboldt als Bevollmäch-
tigter an dem Friedenscongreſſe theilzunehmen; dem feurigen Helden that
es recht in der Seele wohl, daß derſelbe Talleyrand, der in Wien den Ver-
nichtungskrieg gegen Preußen geſchürt hatte, ihm jetzt als demüthiger Unter-
händler für die Beſiegten gegenübertreten mußte. Aber Friedrich Wilhelms
Nüchternheit erkannte auch, wie wenig in dieſem harten Machtkampfe auf
[769]Der Rath der vier Mächte.
Vernunftgründe und auf die offenbare Gerechtigkeit der preußiſchen Forde-
rungen ankam; „das alleinige Verfolgen meines Staatsintereſſes, ſchrieb
er beſchwichtigend an den Feldmarſchall, findet Schwierigkeiten in den
vielfach combinirten Intereſſen der übrigen Staaten.“


In der That war die Stellung der preußiſchen Unterhändler heuer
ſogar noch ungünſtiger als bei dem erſten Friedenscongreſſe; in allen
weſentlichen Fragen begegneten ſie dem Widerſpruche der anderen vier
Mächte. Wohl traten die alten Gegner von Wien her, die Niederlande,
Baiern und Württemberg, diesmal mit Eifer für die preußiſchen Forde-
rungen ein, da die Schwächung der franzöſiſchen Oſtgrenze für ſie noch
weit wichtiger war als für Preußen ſelber. Aber — ſo ſcharf hatte ſich
das Syſtem der Pentarchie bereits ausgebildet — die Denkſchriften der
Staaten zweiten Ranges wurden von den großen Mächten als müßige
Stilübungen angeſehen, ſelten auch nur einer Antwort gewürdigt. Der
preußiſche Staat ſtand allein; ſein Heer hatte ſich heldenhaft für die ge-
meinſame Sache des Welttheils aufgeopfert um ſchließlich für das eigene
Land nahezu nichts zu erringen. —


Als Hardenberg am 15. Juli in Paris eintraf, mußte er von dem
Czaren ſogleich heftige Vorwürfe hören wegen der Zügelloſigkeit des preu-
ßiſchen Heeres. Und doch hielt Blücher ſtrenge Mannszucht, beſtrafte
unnachſichtlich die vereinzelten Ausſchreitungen unter ſeinen Truppen.
Nur die Niederländer und, nach ihrer alten Gewohnheit, die Baiern,
ließen ſich einige Ausbrüche der Roheit zu ſchulden kommen; indeß trug
auch daran die ſtörriſche Gehäſſigkeit der Quartierwirthe reichliche Mit-
ſchuld. Der Seinepräfect ſelber hetzte die Pariſer gegen die Verbündeten
auf. Als Müffling das venetianiſche Viergeſpann von dem Triumph-
bogen des Carrouſelplatzes herabnehmen ließ, wurden die Arbeiter mehr-
mals von dem Pöbel und den Leibgardiſten der Bourbonen vertrieben,
bis endlich ein öſterreichiſches Bataillon Frieden ſtiftete. Der Staats-
kanzler errieth ſofort, daß die einſeitig gegen die Preußen gerichteten An-
klagen des Czaren eine beſtimmte Abſicht verſteckten: es kam darauf an,
die Preußen als ſiegestrunkene Uebermüthige darzuſtellen, auch ihr Kriegs-
ruhm wurde gefliſſentlich verkleinert und angezweifelt.


In dem großen Miniſterrathe ſaßen Neſſelrode, Capodiſtrias, Pozzo;
Caſtlereagh, Wellington, Stewart; Metternich, Weſſenberg, Schwarzenberg
— Keiner darunter, der den drei preußiſchen Bevollmächtigten entgegen-
gekommen wäre. Die Präſidialmacht des neuen Deutſchen Bundes hielt
ſich zu Anfang zurück, da ſie dem einmüthigen Verlangen der deutſchen
Nation doch nicht allzu laut widerſprechen durfte, aber ſie that auch nicht
das Mindeſte um die Zurückforderung der Vogeſengrenze zu unterſtützen.
Gentz ſprach von vorn herein mit giftigem Hohne über „die engherzigen
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 49
[770]II. 2. Belle Alliance.
Anſchauungen“ der Preußen, die aus dem Kampfe gegen die Revolution
ſelbſtſüchtig Vortheil ziehen wollten. Der von Stein und ſeinen Freunden
aufgeworfene Vorſchlag, das Elſaß dem Erzherzog Karl zu geben, ſteigerte
nur den Widerwillen des Kaiſers Franz, der gegen dieſen Bruder ſtets
ein tiefes Mißtrauen hegte.


Zwiſchen den beiden Nebenbuhlern Rußland und England entſpann
ſich nun ein ſtürmiſcher Wettlauf um den Preis der Großmuth; beide
hofften ſich für die drohende orientaliſche Verwicklung die Freundſchaft
Frankreichs zu ſichern. Bei den Briten wirkte auch noch die Erinnerung
an das Bündniß vom 3. Januar und die damals begründete entente
cordiale
mit, vor Allem aber die den Hochtorys eigenthümliche geiſtige
Beſchränktheit. Zu großen Geſichtspunkten der feſtländiſchen Politik ver-
mochten ſich dieſe Inſulaner nicht zu erheben; Caſtlereagh ſprach unbe-
fangen aus: „wenn man für fünf oder ſieben Jahre Vorſichtsmaßregeln
ergriffe, ſo ſei das Höchſte geſchehen, was die Diplomatie leiſten könne.“
Die Sieger beſchloſſen, die Unterhandlung mit der Krone Frankreich
erſt dann zu beginnen, wenn ſie ſich unter einander geeinigt hätten.
Das unglückliche Land lag waffenlos zu den Füßen der Eroberer. Ueber-
all die Raſerei des Parteihaſſes; in Paris tiefer Groll gegen den König,
den Schützling der Fremden; im Süden begann ſchon der Bürgerkrieg,
der wüthende Kampf des „weißen Schreckens“. Ueberdies wurden die
Trümmer der napoleoniſchen Armee eben jetzt, auf Alexanders Rath,
aufgelöſt, weil der Czar den Verbündeten beweiſen wollte, daß ihnen kein
Feind mehr gegenüberſtehe, daß die Stunde des Vergebens gekommen
ſei. Das Land war außer Stande den Bedingungen der Sieger irgend
welchen Widerſtand entgegenzuſtellen. Um ſo ſchwerer hielt die Verſtän-
digung zwiſchen den Siegern ſelbſt. So glatt und leicht die Verhandlungen
über den erſten Pariſer Frieden verlaufen waren, ebenſo ſtürmiſch ge-
ſtaltete ſich diesmal die Berathung. Zwei volle Monate lang führten
die preußiſchen Staatsmänner den diplomatiſchen Kampf gegen das ge-
ſammte Europa, bis ſie endlich nachgeben mußten und dann, nach der
eigentlichen Entſcheidung, die Friedensverhandlung mit Frankreich eröffnet
wurde.


Schon am 15. Juli hatte Caſtlereagh die Grundſätze aufgeſtellt, von
denen die Verbündeten ausgehen ſollten*): „das Anſehen König Ludwigs
entehren oder ſchwächen heißt in der That die eigene Macht der Verbün-
deten verringern.“ Es iſt auch die Pflicht der Mächte, die Nation mit
Nachſicht und Verſöhnlichkeit zu behandeln, dagegen den König bei der
Neubildung des Heeres und der Unterdrückung der Verſchwörer zu unter-
ſtützen. Im ſchärfſten Gegenſatze zu dieſer Anſicht, welche die Sieger
von Belle Alliance in der That nur als die ergebene Polizeimannſchaft
[771]Preußens Friedensvorſchläge.
des Allerchriſtlichſten Königs betrachtete, ſprach Hardenberg am 22. Juli
ſeine Forderungen aus.*) Drei Ziele, ſagt er, ſind durch dieſen Frie-
densſchluß zu erreichen: Bürgſchaft für die Ruhe Europas, Entſchädigung
für die Kriegskoſten, endlich Ausführung der beim erſten Frieden gegebenen
Verſprechungen. Die Ruhe der Welt kann nur durch die Schwächung der
franzöſiſchen Oſtgrenze geſichert werden, da die Franzoſen ſpäteſtens nach
Abzug unſerer Heere ſich wieder feindſelig zeigen werden. Der letzte Krieg
hat die Verwundbarkeit der Niederlande offenbart, wie die militäriſche
Schwäche Oberdeutſchlands durch die napoleoniſchen Feldzüge erwieſen iſt.
Alſo Verſtärkung der Niederlande durch eine Reihe franzöſiſcher Feſtungen;
das Elſaß an Deutſchland zurückgegeben, ſeine feſten Plätze durch Oeſterreich
beſetzt; für Preußen die Feſtungen an der Saar und der oberen Moſel;
für die Schweiz einige Grenzfeſtungen im Jura, für Piemont ganz Sa-
voyen. Von Dünkirchen bis hinauf nach Chambery und den ſavoyiſchen
Seen ſollte ein mehrere Meilen breiter Streifen, der die ganze Oſtgrenze
entlang lief und die vorderſte der drei Vauban’ſchen Feſtungsreihen um-
faßte, abgetrennt werden, wie eine Landkarte aus der Staatskanzlei
näher angab.


Wie Preußen überall in dieſem Kriege ſeine rückſichtsloſe Hingebung
an die gemeinſame Sache Europas bethätigt hatte, ſo forderte Hardenberg
auch von dem Siegespreiſe für ſeinen eigenen Staat unmittelbar nur wenig:
Metz, Diedenhofen und Saarlouis. Selbſt Gneiſenau hatte raſch ein-
geſehen, wie ſtark das allgemeine Mißtrauen gegen Preußen ſei und rieth
daher jetzt, mehr für die Niederlande, Oeſterreich und Süddeutſchland als
für Preußen ſelbſt zu verlangen; den Briten müſſe man vorſtellen: ſo
werde Preußen im Weſten geſichert und könne gegen Rußland ſchärfer
auftreten.**) Als eine Möglichkeit bezeichnete der Staatskanzler endlich
noch die Losreißung der freien Grafſchaft Burgund, die ſich nach ihrer
alten Freiheit zurückſehne. In der allgemeinen Zerrüttung jener Tage
regten ſich allerdings auch vereinzelte centrifugale Beſtrebungen, die man
längſt erſtorben glaubte: ſogar aus Lyon kamen Abgeſandte zu Kaiſer
Franz und baten, die Stadt als ſelbſtändige Republik von Frankreich ab-
zutrennen. In der Franche Comté waren die alten habsburgiſchen Ueber-
lieferungen noch ſehr lebendig; Beſançon, die Stadt Granvellas, bewahrte
in jeder Straße Erinnerungen an die goldenen Zeiten Karls V., über dem
Thore des Rathhauſes prangte noch der Adler mit dem alten ſtolzen Deo
et Caesari semper fidelis.
Doch das Alles bedeutete wenig; der Ver-
nichtungskrieg des Convents gegen die Provinzen hatte mit einem voll-
ſtändigen Siege der Staatseinheit geendet. In allen den Landſtrichen,
49*
[772]II. 2. Belle Alliance.
welche Hardenberg zurückforderte, dachte die große Mehrheit des Volks den
Alliirten feindlich — mit der einzigen Ausnahme des treuen Saarbrückens,
das den Staatskanzler ſchon auf der Durchreiſe feſtlich begrüßt und aber-
mals flehentlich um Vereinigung mit Preußen gebeten hatte*); ſelbſt das
benachbarte Saarlouis, die Heimath Neys, war bis zum Fanatismus
franzöſiſch geſinnt.


Hinſichtlich der Geldentſchädigung erinnerte Hardenberg an die thö-
richte, von Preußen vergeblich bekämpfte Großmuth vom vorigen Jahre:
„es wäre Narrheit noch einmal ebenſo zu handeln.“ Er verlangte, ob-
gleich der ängſtliche Altenſtein ihm gerathen hatte ſich mit 800 Mill. zu
begnügen**), die Zahlung von 1200 Mill. Fr., davon 200 Mill. vorab
für die Eroberer von Paris, Preußen und England. Eine Rechnung aus
der Staatskanzlei wies ſodann nach, daß Frankreich in den Jahren 1806
bis 1812 aus Preußen allein 1228 Mill. erhoben hatte — was noch um
reichlich 300 Mill. hinter der Wahrheit zurückblieb.***) Endlich für die
Zurückgabe der Kunſtſchätze und die Einlöſung der anderen noch uner-
füllten Verſprechungen des vorigen Jahres ſollte eine europäiſche Com-
miſſion ſorgen. Die preußiſchen Vorſchläge waren ſtreng, doch durchaus
gerecht, Angeſichts der vollſtändigen Niederlage des napoleoniſchen Heeres
und der unbelehrbaren Feindſeligkeit der Franzoſen. Ein Unglück nur,
daß die Entſagung, welche der preußiſche Staat für ſich ſelber übte, die
Behauptung der erhofften Beute erſchwerte; denn wer anders als Preußen
konnte die widerſpänſtigen Elſaſſer mit ſtarker Hand feſthalten während der
böſen Uebergangszeit bis ein neues gut deutſches Geſchlecht heranwuchs?
Da Oeſterreich ſein altes Erbe hartnäckig verſchmähte, ſo tauchten die
wunderlichſten Vorſchläge auf; man dachte an einen vierzigſten Bundes-
ſtaat unter dem Kronprinzen von Württemberg, Gagern wollte das Elſaß
ſogar in die Eidgenoſſenſchaft aufnehmen. Und daneben in Frankreich
hunderttauſende grollender napoleoniſcher Veteranen! Welche Ausſichten
für die Zukunft!


Indeß ward dieſer einzige ſtichhaltige Einwurf, der ſich gegen Har-
denbergs Vorſchläge erheben ließ, von der Gegenpartei kaum beiläufig
erwähnt. Die große Denkſchrift, welche Capodiſtrias am 28. Juli über-
reichte, bewegte ſich vielmehr in den luftigen Regionen der politiſchen Ro-
mantik, da Rußland die wirklichen Zwecke ſeiner Politik nicht enthüllen
durfte. Der gewandte Grieche hatte ſich in den ſalbungsvollen Ton,
welcher der gegenwärtigen Stimmung Alexanders entſprach, um ſo leichter
eingelebt, da er ſelber die großen Worte und die leeren Allgemeinheiten
liebte, und führte beweglich aus: mit Frankreich habe Niemand Krieg ge-
[773]Rußland und England gegen Preußen.
führt, nur mit Bonaparte, folglich ſei das Eroberungsrecht unanwendbar,
wenn man nicht das legitime Königshaus dem Haſſe preisgeben und in
den Augen der Nachwelt alle Gräuel der Revolution rechtfertigen wolle.
Darum einfache Wiederherſtellung des Pariſer Friedens und, für den Fall
einer nochmaligen Revolution, Erneuerung des Bündniſſes von Chaumont,
endlich militäriſche Beſetzung des Landes auf kurze Zeit, bis zur Ab-
tragung einer Contribution, welche von den Nachbarſtaaten Frankreichs
weſentlich zur Anlegung von Grenzfeſtungen verwendet wird.


Dieſe Vorſchläge ſchmückten ſich mit dem wohllautenden Titel einer
„Combination von moraliſchen und reellen Garantien“, erregten jedoch
im preußiſchen Lager lebhafte Entrüſtung. Am 4. Auguſt ſchrieb Hum-
boldt dem Staatskanzler: „Der ruſſiſche Plan iſt der verderblichſte für
Preußen, der hätte erſonnen werden können. Wenn er befolgt würde,
ſo zöge Preußen von dieſem ganzen Kriege, ſeinen Verluſten, ſeinen un-
geheueren Aufopferungen keinen anderen Vortheil als einen Contribu-
tionsantheil, den es noch größtentheils zur Anlegung feſter Plätze gegen
Frankreich aufwenden ſoll. Dagegen hätte es die wichtigen Nachtheile,
die Mittel, die ihm der jetzige Krieg gebracht hätte, nicht auf die Er-
leichterung des erſchöpften Landes und die Sicherung ſeiner öſtlichen
Grenzen wenden zu können, ruſſiſche Truppen jahrelang durch ſeine
Staaten und Deutſchland ziehen zu ſehen und in allen ſeinen Verhand-
lungen mit Frankreich noch den Einfluß des ruſſiſchen Hofes auf ſeinem
Wege zu finden.“ Wir müſſen um jeden Preis die Verbündeten zur
Verengerung der Grenzen Frankreichs bewegen und darum „das An-
ſehen vermeiden, als ſpräche Preußen nur zu ſeinem eigenen Vortheil.
In der That iſt es auch Preußen in der jetzigen Lage mehr um Siche-
rung ſeiner Grenzen als um Vergrößerung zu thun.“*) In einer zweiten
vertraulichen Denkſchrift entwickelt er dann nochmals ſein altes ſo oft
mit Metternich beſprochenes Syſtem des „intermediären Europas“, der
feſten Vereinigung von England, Oeſterreich und Preußen, welche die
beiden drohenden Maſſen Frankreich und Rußland in Schranken halten
ſoll; dies Syſtem iſt ſchon in Wien erſchüttert worden durch die allzu
ſtarke Vergrößerung Rußlands und wird vollends unhaltbar wenn Preußen
mit ungeſicherten Grenzen der tödlich erbitterten franzöſiſchen Nation und
den Bourbonen, die uns ihre Feindſeligkeit ſchon genugſam gezeigt haben,
gegenüber geſtellt wird.**)


Sodann übergab Humboldt dem Comité der Vier eine ſchlagende
Widerlegung der ruſſiſchen Denkſchrift; die Aufgabe war wie geſchaffen
für ſeine unbarmherzige Dialektik. Er zeigte, wie der Krieg zwar nicht
zum Zwecke der Eroberung begonnen worden, jetzt aber thatſächlich der
[774]II. 2. Belle Alliance.
Zuſtand der Eroberung vorhanden ſei; wie Frankreich büßen müſſe, was
Frankreich verſchuldet; wie den Verbündeten zwar das Recht der eigenen
Sicherung zuſtehe aber nicht unzweifelhaft das Recht der Einmiſchung
in Frankreichs innere Angelegenheiten; möge man den Franzoſen ſogleich
nehmen, was zur militäriſchen Deckung ihrer Nachbarn unentbehrlich ſei,
dann aber dem Lande alsbald ſeine Unabhängigkeit zurückgeben, denn
Preußen wiſſe aus eigener Erfahrung, daß nichts ein Volk tiefer erbittere
als die Anweſenheit fremder Truppen in Friedenszeiten; wolle Europa
die Franzoſen unter ſeine Vormundſchaft nehmen, ſo werde die Revolution
niemals endigen. Gleichzeitig begründete Hardenberg nochmals ſeine
Forderungen in einer ausführlichen Denkſchrift (vom 4. Auguſt), erwies,
wie Frankreich ſchon ſeit Ludwig XIV. ſeine natürlichen Vertheidigungs-
linien überſchritten habe und eben durch den Beſitz dieſer Außenpoſten
zu immer neuen Eroberungskriegen verlockt worden ſei. Auch Kneſebeck
ſchloß ſich an, diesmal ganz nüchtern und ohne doctrinäre Wunderlich-
keiten; er hob hervor, daß ſelbſt ein Friedensſchluß von übertriebener Milde
keine Sicherheit gebe für die Dauer der bourboniſchen Herrſchaft, denn
niemals würde das franzöſiſche Volk die Niederlage in Brabant verzeihen.


Mittlerweile kam, auf Hardenbergs Einladung, auch Stein nach
Paris. Der Freiherr verlebte unterwegs einige Tage am Rhein mit
Goethe gemeinſam, und der treue Arndt beobachtete mit ſtiller Rüh-
rung, wie die beiden beſten Söhne des Vaterlands einander ſo freundlich
forſchend mit ihren großen braunen Augen anſahen, Jeder bemüht die
räthſelhafte Eigenart des Anderen behutſam zu ſchonen. In Paris
bot Stein alle ſeine Beredſamkeit bei dem Czaren auf, widerlegte in
einer bündigen Denkſchrift (vom 18. Auguſt) die ruſſiſche Behauptung,
daß Frankreich der Verbündete ſeiner Beſieger ſei: iſt Frankreich unſer
Freund, warum halten wir dann das Land beſetzt und ſchreiben Liefe-
rungen aus? Er ſchloß mahnend: „England und Rußland ſollen nicht
glauben, es ſei ihr Vortheil Deutſchland beſtändig in einem Zuſtande
von Aufregung und Leiden zu belaſſen.“ Aber was wog jetzt Steins
Wort neben den Thränen und Gebeten der Frau von Krüdener und der
Frau von Lezay-Marneſia? Die Blitze ſeiner Rede drangen nicht mehr
durch den dicken Nebel der Weihrauchswolken, welche den Czaren im Hotel
Montchenu umgaben. Und wenn Stein nichts mehr galt, was vermoch-
ten vollends die Vertreter der Mächte zweiten Ranges? Die Badener
traten ſehr beſcheiden auf, ſchilderten in beweglichen Eingaben den unhalt-
baren Zuſtand an ihrer Rheingrenze — wie ſoeben erſt die Franzoſen
von Straßburg aus verſucht hätten eine Brücke auf das deutſche Ufer
zu ſchlagen — verlangten zum Mindeſten das alleinige Eigenthum an der
Kehler Brücke und die Schleifung der Straßburger Feſtungswerke*).
[775]Preußen an der Spitze der Mittelſtaaten.
Ungleich dreiſter ſprach der ehrgeizige Kronprinz von Württemberg. In
ſeinen Briefen und Denkſchriften kündigte ſich ſchon jene Oppoſition der
Mittelſtaaten gegen die Großmächte an, welche nachher durch viele Jahre
das deutſche Leben beunruhigen ſollte. Er erklärte drohend, Europa könne
ſo wenig den neuen vierfachen Deſpotismus ertragen, wie einſt den ein-
fachen Napoleons und ſagte bereits, was er vierzig Jahre ſpäter dem Bun-
destagsgeſandten von Bismarck wiederholte: die Schutzloſigkeit unſerer
Südweſtgrenze werde die ſüddeutſchen Kronen über lang oder kurz zu
einem neuen Rheinbunde nöthigen.


Niemand aber war unermüdlicher als der holländiſche Reichspatriot
Gagern; fielen doch diesmal die Intereſſen der Niederlande mit denen
Deutſchlands durchaus zuſammen. Der Unaufhaltſame fühlte ſich ſo recht
in ſeinem Elemente, wenn er in zahlloſen Denkſchriften das ganze Rüſtzeug
ſeiner reichsgeſchichtlichen Gelehrſamkeit entfaltete und die lange Reihe der
franzöſiſchen Gewaltthaten ſeit den Zeiten Heinrichs II. und Moritzs von
Sachſen nachwies. So phantaſtiſch er in ſeinen foederaliſtiſchen Träumen
war, die Romantik der legitimiſtiſchen Staatslehre berührte den Schüler
Montesquieus und Humes nicht. Auf die Behauptung, man habe nur
mit Bonaparte Krieg geführt, antwortete er friſchweg mit der Frage, ob
etwa Bonaparte allein bei Belle Alliance geſchoſſen, kartäſcht und geſäbelt
hätte: „die Nationen ſind es, die ſich bekriegen, auf die Nationen fallen
die glücklichen wie die unglücklichen Folgen der Kriege zurück.“ Natürlich,
daß der alte Anwalt der Kleinſtaaten auch gegen die Hegemonie der Groß-
mächte Einſpruch erhob. Auch Don Labrador, der ſpaniſche Geſandte,
verlangte feierlich Zulaſſung zu den Conferenzen *). Indeß die Unmög-
lichkeit, die an ſich ſchwierige Verhandlung vor dem Forum der ſämmt-
lichen europäiſchen Staaten zu erledigen, ſprang in die Augen; der Rath
der Vier beſchloß ſchon am 10. Auguſt, die Staaten zweiten Ranges
erſt zu der eigentlichen Unterhandlung mit Frankreich — das will ſagen:
erſt nach der Entſcheidung — zuzuziehen.


Die unzertrennliche Intereſſengemeinſchaft zwiſchen Preußen und den
ſüddeutſchen Staaten zeigte ſich ſo deutlich, daß alle die böſen Erinnerungen
der Rheinbundszeiten ſpurlos verwiſcht ſchienen. Preußen übernahm wie-
der ſeine natürliche Rolle als Beſchützer des geſammten Deutſchlands.
Was ſich an rechtlichen und politiſchen Gründen für die Wiedereroberung
unſerer alten Weſtmark nur irgend anführen ließ, ward in der That von
den preußiſchen Diplomaten und ihren Genoſſen aus den Kleinſtaaten
mit erſchöpfender Gründlichkeit ausgeſprochen. Mit richtigem Takt hoben
die Staatsmänner am ſtärkſten den Geſichtspunkt der militäriſchen Siche-
rung hervor, den einzigen, der auf eine Diplomatenverſammlung einigen
Eindruck machen konnte. Dr. Butte dagegen, in ſeiner vielgeleſenen Schrift
[776]II. 2. Belle Alliance.
über die Friedensbedingungen, ſowie die Mehrzahl der deutſchen Zeitungen
nahmen den Gedankengang Arndts wieder auf und forderten die Sprach-
grenze als ein natürliches Recht der Nation. Bei der freundlichen Ge-
ſinnung hüben und drüben ſtand auch ein ernſter Streit über die Ver-
theilung der Beute nicht zu befürchten, wenn nur erſt der Rückfall des
Elſaſſes an den Deutſchen Bund geſichert war. Aber dieſe Entſcheidung
lag allein in der Hand der Großmächte, und nur zu bald zeigte ſich in
Paris, wie vor Kurzem in Wien, daß Humboldts Traum vom „inter-
mediären Europa“ ein leeres Phantaſiegebilde war. England und Oeſter-
reich, die er für Preußens natürliche Bundesgenoſſen anſah, verhielten
ſich gegen die deutſchen Forderungen ebenſo ablehnend wie Rußland und
Frankreich.


Am 6. Auguſt ließ ſich Metternich zum erſten male vernehmen und
erklärte feierlich, dieſer Krieg ſei gegen das bewaffnete Jacobinerthum geführt
worden und dürfe nicht in einen Eroberungskrieg ausarten. Darum
ſuchte er die Bürgſchaften der europäiſchen Ruhe vornehmlich in einer ver-
ſtändigen Ordnung der inneren Angelegenheiten Frankreichs und in einer
vorübergehenden militäriſchen Beſetzung; außerdem ſollten die Feſtungen
der vorderſten Linie entweder an die Nachbarſtaaten abgetreten „oder
wenigſtens geſchleift werden“. Alsdann führte er näher aus, wie Deutſch-
land nur der Feſtung Landau bedürfe, zum Erſatz für das zerſtörte
Philippsburg; im Uebrigen genüge es, wenn die Feſtungen im Elſaß ge-
ſchleift würden und Straßburg nur ſeine Citadelle behielte. Den ge-
wiegten Diplomaten des Viererausſchuſſes mußte ſofort einleuchten, daß
jenes „oder wenigſtens“, gleich beim Beginne der Verhandlungen ausge-
ſprochen, die wirkliche Meinung Metternichs kundgab; bei dem Syſteme
der Arrondirungspolitik, das er nun ſeit drei Jahren unbeirrt verfolgte,
durfte er den Rückfall des Elſaſſes nicht wünſchen. Nur die preußiſchen
Staatsmänner, immer geneigt von dem öſterreichiſchen Freunde das Beſte
zu vermuthen, wollten den eigentlichen Sinn der k. k. Denkſchrift nicht
begreifen; ſie bedauerten nur „die ſchwankende Haltung“ des Wiener
Hofes, während die ruſſiſchen wie die engliſchen Miniſter ſofort erkannten,
daß Oeſterreich ſich von der gemeinſamen Sache Deutſchlands losſagte,
und darum nur noch von „den preußiſchen Forderungen“ ſprachen.


Auch auf England hoffte Hardenberg noch eine Zeit lang; war doch
allbekannt, daß die Haltung Caſtlereaghs und Wellingtons den Wünſchen
ihres Landes keineswegs entſprach. Die Londoner Preſſe forderte laut ent-
ſchloſſene Ausbeutung des Sieges; Caſtlereaghs Parteigenoſſen, die Torys,
von jeher die entſchiedenſten Gegner Frankreichs, eiferten am Lebhafteſten
gegen jede falſche Großmuth. Lord Liverpool ſelbſt ſchrieb im Namen
des Cabinets, man könne dieſe offenbare Geſinnung der Nation nicht
überſehen. Sogar der Prinzregent ſprach ſich für die deutſchen Anſprüche
aus und folgte den Rathſchlägen des Grafen Münſter, der in Paris, zu
[777]Oeſterreich gegen Preußen.
Steins freudigem Erſtaunen, mit den Preußen treulich zuſammenging.
Ganz unbekümmert um den Widerſpruch der Nation ſchritten Caſtlereagh
und Wellington ihres Weges weiter. Der Herzog blieb dabei, die Been-
digung der Revolution ſei der einzige Zweck dieſes Krieges, daher könne
jetzt nur eine Occupation für wenige Jahre erfolgen. Caſtlereagh ſchloß
ſich ihm an und vertröſtete die Preußen auf beſſeren Lohn nach zukünfti-
gen Kriegen: *) „Fortgeſetzte Ausſchreitungen Frankreichs können ohne
Zweifel in künftigen Tagen Europa zur Zerſtückelung Frankreichs nöthi-
gen, und Europa wird eine ſolche Veränderung ſeines Länderbeſtandes mit
Kraft durchführen und mit Einmuth aufrechthalten, wenn dieſelbe dereinſt
in den Augen der Menſchheit als eine nothwendige und gerechtfertigte
Maßregel erſcheinen wird.“ Aber der gegenwärtige Krieg iſt nicht um
ſolcher Zwecke willen begonnen worden. Zum Schluß nochmals: „Wenn
die Alliirten durch den kriegeriſchen Ehrgeiz Frankreichs in ihrem Vertrauen
getäuſcht werden ſollten, dann werden ſie nochmals die Waffen ergreifen,
nicht nur geſtützt auf beherrſchende militäriſche Poſitionen, ſondern auch
mit jener ſittlichen Kraft, welche allein eine ſolche Coalition zuſammen-
halten kann.“


Alſo in der angenehmen Erwartung neuen Blutvergießens, neuer
Kriegsnoth ſollten die nach Frieden ſchmachtenden Deutſchen dieſe einzige
Gelegenheit zur Sicherung ihrer Grenzen aus der Hand geben! Was
Wunder, daß dieſe Anweiſung auf zukünftiges Elend, neben den ſal-
bungsvollen Worten von der ſittlichen Kraft der Coalition, allen Deut-
ſchen wie Spott klang? Die Stimmung ward mit jedem Tage erregter.
Sogar der geſellige Verkehr zwiſchen den Staatsmännern der beiden Par-
teien gerieth ins Stocken, die Briten beklagten ſich bitter über Humboldts
eiſige Kälte und ſchneidende Sarkasmen. So zog ſich der Handel durch
anderthalb Monate. Endlich entſchloß ſich der Staatskanzler einen halben
Schritt zurückzuweichen; er erbot ſich am 28. Auguſt, das obere Elſaß
aufzugeben, verlangte für Deutſchland nur noch Diedenhofen und Saar-
louis, Landau und Bitſch, endlich Straßburg als freie Stadt.


Unterdeſſen hatte Gneiſenau eine Denkſchrift für den Czaren auf-
geſetzt, die am 31. Auguſt auf Befehl des Königs übergeben wurde;
Friedrich Wilhelm verſprach ſich von den feurigen Worten des Generals
einigen Eindruck und hoffte am nächſten Tage durch eine perſönliche Un-
terredung ſeinen Freund vollends umzuſtimmen. **) Ohne auf die preußi-
ſchen Forderungen im Einzelnen einzugehen verſuchte Gneiſenau zunächſt
nur das Herz des Czaren für den Grundſatz der Gebietsabtretung zu
gewinnen. Er zeigte, daß in der That Frankreich die Schuld an dem
[778]II. 2. Belle Alliance.
neuen Kriegsunglück trage; ohne die Hilfe aller energiſchen Männer
Frankreichs, ohne die ſtumpfe Theilnahmloſigkeit der Maſſe hätte „der ge-
ächtete Abenteurer“ niemals den Zug von Cannes nach Paris vollenden
können. „Europa erwartet von den Verbündeten mit Recht die Beſtrafung
ſolcher Unthaten und wird mit Erſtaunen erfahren, daß man einen neuen
Utrechter Frieden ſchließen, die Leiden dieſes beklagenswerthen Deutſch-
lands verewigen will; das wird die Regierungen zur Verzweiflung bringen
und die Völker erbittern. Wenn von zwei Nachbarn der eine die Ein-
heit der Staatsgewalt beſitzt, phyſiſch und moraliſch auf den Angriff ein-
gerichtet iſt, während der andere durch die natürlichen Gebrechen einer
Bundesverfaſſung und durch die Geſtalt ſeiner Grenzen ſtrenge auf die
Vertheidigung beſchränkt wird, ſo läßt ſich leicht vorherſehen, welcher von
Beiden unterliegen wird. Was in den Händen des Einen ein Angriffs-
mittel iſt, wird in der Hand des Anderen ein Mittel zur Abwehr. Die
bourboniſche Regierung kann ſich nicht ſicherer die Volksgunſt gewinnen,
als wenn ſie ſich der abenteuerlichen Rachſucht ihrer Nation ganz hin-
giebt. Ermuthigt durch die Erfahrung, daß ſeine Grenze auch nach den
größten Niederlagen unverletzt bleibt, daß die Berechnungen einer eng-
herzigen Politik ihm unter allen Umſtänden die Sicherheit ſeines Gebietes
gewährleiſten, wird das franzöſiſche Volk bald keine Schranke mehr für
ſeinen Uebermuth kennen. Und ſollen wir der franzöſiſchen Partei in
Deutſchland neue Gründe geben zu dem Glauben, daß man mehr ge-
winnt durch Anſchluß an die Eroberungspläne Frankreichs als durch Er-
füllung ſeiner Pflichten gegen das Vaterland und die gemeinſame Sache
Europas? Das mächtige und furchtbare Rußland ſteht wahrlich zu hoch
für kleinliche Erwägungen, welche dem großherzigen Charakter des Kaiſers
nicht entſprechen. Bleibt Frankreichs Grenze unverändert, ſo wird man
allgemein ſagen, England wolle den Continent in neue Wirren ſtürzen,
damit er nicht Zeit habe ſich gegen die britiſche Handelspolitik zur Wehr
zu ſetzen.“ So der Gedankengang des langen, in mangelhaftem Franzö-
ſiſch, doch mit der höchſten redneriſchen Kraft geſchriebenen Memorandums.
Gneiſenau trug auch kein Bedenken, für Piemont, die Niederlande und
die kleinen deutſchen Staaten die Zulaſſung zu den Conferenzen zu ver-
langen, was in den Augen der anderen Großmächte eine arge Ketzerei war.


Der Czar blieb taub. Auch ſeine Unterredung mit dem Könige führte
zu keinem Ergebniß. Dem General dankte Alexander kurz und trocken für
ſeine wohlgemeinten eifrigen Bemühungen um die großen Intereſſen Euro-
pas *) und ließ durch Capodiſtrias eine ausführliche Widerlegung abfaſſen,
die in Ermangelung von Gründen eine unerhörte Fülle moraliſcher Ge-
meinplätze entfaltete: „Soll Europa darum den militäriſchen Deſpotis-
mus beſiegt und den Geiſt der Eroberung vernichtet haben, um jetzt aber-
[779]Capodiſtrias gegen Gneiſenau.
mals aus einem Könige von Frankreich ein Opfer zu machen und dem
Königthum eine neue Entheiligung zu bereiten? Das hieße die Sittlich-
keit für immer aus allen politiſchen Verhandlungen verbannen. Die
Gewalt allein würde dann Grundſatz, Mittel und Zweck der Staatskunſt
werden! Frankreich, erniedrigt und durch eine Reihe willkürlicher Maß-
regeln noch mehr ſittlich verdorben, müßte ſich ſchließlich in die Arme der
gewaltſamſten Partei werfen. Eine vorübergehende Occupation bietet den
Nachbarn Frankreichs jede Sicherheit, die ſie nur wünſchen können.“ Zum
Schluß: „Verkennen wir in einem ſo entſcheidenden Augenblicke nicht den
unwandelbaren Gang der Vorſehung, welche die Sache der Religion, der
Sittlichkeit und Gerechtigkeit nur darum hat ſtraucheln laſſen, um ihr
neue Triumphe zu bereiten und um den Fürſten wie den Völkern große
und heilſame Antriebe zu geben!“ *)


Als dies Muſterſtück orientaliſcher Kanzelberedſamkeit am 5. Sep-
tember den preußiſchen Staatsmännern überreicht wurde, hatten ſie be-
reits ihre letzte Hoffnung auf England aufgeben müſſen. Caſtlereaghs
Bruder Lord Charles Stewart war nach Windſor geeilt und in den letzten
Tagen des Auguſt zurückgekehrt mit der frohen Botſchaft, daß er den
Einfluß des Grafen Münſter überwunden, den Prinzregenten gänzlich
für die Anſicht Caſtlereaghs und Wellingtons gewonnen habe. Mit er-
höhtem Selbſtgefühle durften die Beiden nun vorgehen. Der Herzog er-
widerte (31. Auguſt) auf Hardenbergs letzte Denkſchrift kurz und ſcharf:
jede Gebietsabtretung ſei unpolitiſch und widerrechtlich, weil nicht im Ein-
klange mit der Wiener Erklärung der Verbündeten; die Occupation für
einige Jahre genüge vollauf. **) Caſtlereagh aber erklärte (2. September),
im Namen des Prinzregenten, Englands volle Zuſtimmung zu den ruſ-
ſiſchen Vorſchlägen. So war man denn in offener Zwietracht: Rußland
und England verſagten ſich grundſätzlich jeder Gebietsforderung Preußens;
Oeſterreich — mit ſeinem ſchüchternen Verlangen nach Schleifung der
elſaſſiſchen Grenzplätze — ſtand ſcheinbar in der Mitte, doch in Wahr-
heit der engliſch-ruſſiſchen Meinung ſehr nahe. Sollte dies an Geld und
Truppen erſchöpfte Preußen jetzt ſeine Forderungen mit den Waffen durch-
ſetzen? Daran war nicht zu denken.


Aber auch der Czar fühlte, daß er ſeinem beſten Alliirten nicht eine
unbedingte, demüthigende Unterwerfung zumuthen durfte, da er doch die
Fortdauer des preußiſch-ruſſiſchen Bündniſſes dringend wünſchte. Er be-
ſchloß daher ſchon am 7. September ein wenig einzulenken, freilich nur
eine winzige Strecke weit, und ließ durch Neſſelrode dem Staatskanzler
erklären: Rußland halte zwar wie England unwiderruflich feſt an dem
Gedanken der vorübergehenden Occupation (le système des garanties
[780]II. 2. Belle Alliance.
temporaires lautete der Kunſtausdruck); damit ſeinen jedoch einige kleine
Gebietsabtretungen wohl vereinbar. Alſo Landau an Deutſchland, Sa-
voyen an Piemont, einige Grenzplätze an die Niederlande, vielleicht auch
Hüningen an die Schweiz; für Preußen ſelber gar nichts. Auch dieſe
Denkſchrift triefte wieder von Lehren der Weisheit und Tugend: „das
doppelte Ziel der Beruhigung Europas und Frankreichs kann nur erreicht
werden, wenn die Verbündeten bei den Friedensunterhandlungen dieſelbe
Reinheit der Abſichten, dieſelbe Uneigennützigkeit, denſelben Geiſt der Mäßi-
gung bewahren, welche bisher die unwiderſtehliche Kraft des europäiſchen
Bundes gebildet haben.“ *) Trotz Alledem that der Czar jetzt doch ſelber
was er vor zwei Tagen noch für einen Verrath an Religion und Sitt-
lichkeit erklärt hatte, er gab die mit ſo viel heiliger Entrüſtung verfochtene
Unantaſtbarkeit des franzöſiſchen Bodens auf und bahnte damit den Weg
zur Verſtändigung. In einem vertraulichen Begleitbriefe beſchwor Neſſel-
rode den Staatskanzler, „dieſe traurige Angelegenheit raſch zu beendigen.
Dies werde dem Czaren das liebſte Geburtstagsgeſchenk ſein. Nichts iſt
Ihm und uns Allen peinlicher als dieſe Meinungsverſchiedenheit zwiſchen
zwei Höfen, deren Beziehungen ſo innig ſind.“ **)


Mit großer Gewandtheit benutzte Metternich ſofort die Gunſt des
Augenblicks, um als Vermittler zwiſchen die Streitenden zu treten. In
einer Denkſchrift vom 8. September erkannte er die gemäßigte und ver-
ſöhnliche Haltung aller Höfe dankbar an und fand es ſehr erklärlich, daß
gleichwohl in Folge der Verſchiedenheit der geographiſchen Lage und der
nationalen Stimmungen ihre Anſichten nicht gänzlich übereinſtimmten.
Oeſterreich wünſche eine möglichſt große Sicherheit aber möglichſt geringe
Opfer für Frankreich und ſchlage daher „ein gemiſchtes Syſtem von dauern-
den und zeitlichen Bürgſchaften“ vor, alſo vor Allem die Zurückführung
Frankreichs auf den Beſitzſtand von 1790. „Die Grenzen von 1790“ —
damit war ſehr glücklich eines jener handlichen Schlagwörter gefunden,
wie ſie die noch ganz franzöſiſch gebildete Diplomatie jener Tage liebte.
Die weiteren Vorſchläge der Denkſchrift paßten freilich zu dieſem wohl-
klingenden Worte wie die Fauſt auf das Auge; ſie zeigten deutlich, daß
Metternich nicht ehrlich vermittelte, ſondern die engliſch-ruſſiſche Partei
ergriff. Von jenem Viertel des Elſaſſes, das im Jahre 1790 noch deutſch
geweſen, war gar nicht mehr die Rede; vielmehr verlangte der Oeſter-
reicher außer Landau und jenen niederländiſchen Grenzplätzen, welche der
Czar bereits zugeſtanden hatte, ausdrücklich nur noch Saarlouis, und
ſelbſt dieſen Platz nicht unbedingt, da ja Frankreich zur Erbauung einer
anderen Saarfeſtung Gelder an Preußen zahlen könne. Dazu endlich
[781]Oeſterreichs ſcheinbare Vermittlung.
1200 Mill. Kriegsentſchädigung und eine ſiebenjährige Beſetzung des Landes
durch 150,000 Mann, welche unter Wellingtons Oberbefehl „die euro-
päiſche Polizei“ handhaben ſollen. *)


Alſo von Oeſterreich preisgegeben, erklärte Hardenberg nunmehr
(8. September), daß ſein König um der Eintracht willen auf ſeine weiter-
gehenden Anſichten verzichte und die Grenzen von 1790 annehme; jedoch
er verſtand dieſen Grundſatz ehrlich und verlangte — zum Erſatz für
jene eingeſprengten deutſchen Gebiete im Elſaß — außer Landau auch
Saarlouis, Bitſch und den nördlichſten Streifen des Elſaſſes mit Fort
Louis, Weißenburg, Hagenau. Selbſt England erklärte ſich jetzt mit einer
mäßigen Gebietsforderung einverſtanden, und ſo endigte denn die Ver-
handlung, wie einſt der Streit über Sachſen, mit einem widerwärtigen
Feilſchen um die einzelnen Städte und Feſtungen. Hardenberg verthei-
digte jede ſeiner letzten Forderungen mit der höchſten Hartnäckigkeit, doch
da ihn keine der anderen Mächte unterſtützte, ſo konnte er zuletzt nur
Landau, Saarlouis und das Kohlenbecken von Saarbrücken für Deutſch-
land retten. Von dem Metternich’ſchen Vorſchlage „Beſitzſtand von 1790“
blieb zuletzt nicht viel mehr übrig als der Name, da der ſogenannte Ver-
mittler ſein eigenes Wort nicht ernſt nahm. Am 19. September be-
ſchloſſen die vier Mächte, nunmehr mit Frankreich in Verhandlungen ein-
zutreten. Tags darauf überreichten ſie ihr gemeinſames Ultimatum. Sie
nahmen an, der Friede ſei geſichert, denn was konnte das waffenloſe
Frankreich wider ihre nur allzu milden Bedingungen ausrichten? Die
ruſſiſche Armee trat bereits den Rückmarſch an. Blücher ſchrieb ſchon
am 23. September in die Heimath: „Der Friede iſt zu Stande, aber
leider nicht ſo wie er hatte ſein ſollen, wie ich es eingeleitet, aber durch
Hardenberg ſeine zuletzt bewieſene Standhaftigkeit iſt er doch noch beſſer
zu Stande gekommen wie es den Anſchein hatte. Wir hatten gleichſam
gegen Alle zu fechten.“ **)


In den Augen der Franzoſen dagegen bildete das Ultimatum der
Verbündeten erſt den Anfang der eigentlichen Verhandlungen. Ganz
Paris beeiferte ſich, wie nach einer ſtillen Verſchwörung, den hochſinnigen
Czaren von ſeinen Alliirten zu trennen. Die vornehme Welt ſchwelgte
in jenen frommen Redensarten, welche dem neuen Weltheiland wohl
thaten, und bewunderte den weihevollen Spruch Talleyrands: „Nichts iſt
weniger ariſtokratiſch als der Unglaube.“ Der Czar wurde mit geiſtreichen
Huldigungen wie mit plumpen Schmeicheleien überſchüttet; als er zum
Abſchied ſein Heer auf der Ebene von Vertus muſterte, ſagten die Pariſer
Blätter wonnetrunken: wie heimiſch müſſe ſich der edle Herrſcher dort auf
dem Tugendfelde fühlen! Wellington dagegen entging, trotz ſeines rück-
[782]II. 2. Belle Alliance.
ſichtsvollen Auftretens, den gehäſſigſten Angriffen nicht, ward einmal im
Theater geradezu aus der königlichen Loge hinausgepfiffen. Mit den
Preußen vollends lebte Jedermann auf Kriegsfuß. Welche Entrüſtung
in Paris am 3. Auguſt, als die preußiſchen Truppen zur Feier ihres
nationalen Feſttags ihre Quartiere und Kaſernen erleuchteten und auf
dem Hauſe des Königs die Inſchrift zu leſen ſtand: parcere subjectis
et debellare superbos!
Und welch ein kleinlicher Zank um den Sold
und die Verpflegung der Truppen! Anfangs waren die Bourbonen, bei
der allgemeinen Unordnung, in der That kaum im Stande den Pflichten
des Beſiegten nachzukommen. Als aber Hardenberg 5 Mill. aus Preußen
herbeiſchaffen ließ um den rückſtändigen Sold zu bezahlen, weigerte ſich
Blücher dies neue Opfer aus der Hand ſeiner Mitbürger anzunehmen
„die Armee, ſchrieb er ſtolz, iſt kein Söldnerheer, das um jeden Preis
abgelohnt werden muß, ſie iſt mit der Nation eins!“ Dann kam endlich
eine Vereinbarung zu Stande, kraft deren Frankreich die Verwaltung in
den occupirten Landestheilen wieder übernahm und zugleich die Pflicht
für Sold und Unterhalt der Heere zu ſorgen. Doch wie die Bourbonen
im vorigen Jahre die verſprochene Rückgabe der Kunſtſchätze verweigert
hatten, ſo brachen ſie auch diesmal ihr Wort. Der in ſeiner Großmuth
unerſchöpfliche Czar ſtundete ſofort die fälligen Zahlungen, auch das reiche
England drückte ein Auge zu, und Oeſterreich hatte nicht den Muth ſich
von den Beiden zu trennen. Nur das von allen Mitteln entblößte Preußen
konnte keine Nachſicht üben. Als der Finanzminiſter Lonis an Humboldt
kurz und hochmüthig ſchrieb, die für die Bekleidung der preußiſchen Truppen
geforderten Summen könnten nicht bezahlt werden, da erhielt er die Ant-
wort: er ſelber trage die Schuld, wenn Preußen ſich jetzt ſelber helfe. Die
Generale erhielten Befehl, in den Departements Requiſitionen auszu-
ſchreiben, und nun endlich entſchloß ſich der bourboniſche Hof ſeinen Ver-
pflichtungen nachzukommen. *)


Ganz im Sinne dieſes ſteifen Hochmuths war auch die Note gehalten,
womit Talleyrand am 21. Septbr. das Ultimatum der Verbündeten be-
antwortete. Der gewandte Mann hatte aus dem beginnenden Abmarſch
der ruſſiſchen Armee neue Hoffnungen geſchöpft und begann hochtrabend:
der Allerchriſtlichſte König habe mit den vier Mächten, ſeinen Verbündeten,
keinen Krieg geführt und könne ihnen folglich ein Eroberungsrecht nicht zuge-
ſtehen; niemals werde er eine Scholle Landes von „dem alten Frankreich“
abtreten; ſtellten die vier Mächte dergleichen Zumuthungen, ſo ſeien die
franzöſiſchen Bevollmächtigten angewieſen, ſie nicht einmal anzuhören!
Die Verbündeten forderten aber von dem „alten Frankreich“ nichts weiter
als Saarlouis, Landau und einen Strich an der Maas; ſie waren bereit,
dafür Avignon und das deutſche Viertel des Elſaſſes, die Eroberungen
[783]Verhandlungen mit Frankreich.
der Revolution, den Bourbonen zu laſſen, ſo daß „das alte Frankreich“
noch immer einen Zuwachs von mehreren hunderttauſend Köpfen behielt!
Zwei Tage vorher hatte Talleyrand auch die Rückgabe der Kunſtſchätze
für unzuläſſig erklärt, weil ſie den Haß des Volks gegen die Bourbonen
ſteigern müſſe. Eine ſolche Sprache aus dem Munde eines völlig ent-
waffneten Staates erſchien doch ſogar den Briten und den Ruſſen un-
erträglich. Wellington, der früher die Rückforderung der Kunſtſchätze
bedenklich gefunden hatte, meinte jetzt: ſie ſei nothwendig um den Fran-
zoſen „eine große moraliſche Lection zu geben“. Auf Talleyrands Note
erwiderten die vier Mächte ſchon am folgenden Tage ſcharf abweiſend:
von Eroberungen ſei überhaupt nicht die Rede, ſondern nur von Maßregeln
für die Sicherheit Europas; wolle der königliche Hof etwa jenen Grund-
ſatz der Unantaſtbarkeit der franzöſiſchen Grenzen wieder aufnehmen, der
unter Napoleon ſo viel Unglück angerichtet habe? — Den Deutſchen gegen-
über hatten England und Rußland den Grundſatz der Unverletzlichkeit
Frankreichs ſoeben erſt ſalbungsvoll vertheidigt; jetzt gaben ſie ihn wie-
der auf.


In den Tuilerien verbreitete dieſe Antwort tiefe Beſtürzung. König
Ludwig verſuchte noch einmal perſönlich einen Sturm auf das erregbare
Gemüth des Czaren. „In der Bitterniß meines Herzens — ſo ſchrieb
er am 23. Septbr. — nehme ich meine Zuflucht zu E. Maj., um Ihnen
hingebend das peinliche Gefühl auszuſprechen, das ich beim Durchleſen
der Vorſchläge der vier Mächte empfunden habe. Eines vor Allem er-
ſchüttert mich tief und treibt mich zur Verzweiflung an dem Wohle des
unglücklichen Frankreichs: der niederſchmetternde Gedanke, daß E. Maj.,
auf den ich meine Hoffnung geſetzt, die mir überſendete Note gebilligt zu
haben ſcheint. Ich zögere nicht Ihnen zu verſichern, Sire: ich werde
mich weigern das Werkzeug für den Untergang meines Landes zu werden,
und ich werde eher vom Throne niederſteigen als der Befleckung ſeines
alten Glanzes durch eine beiſpielloſe Erniedrigung zuſtimmen!“ Kaiſer
Franz ward gleichzeitig durch ein Handbillet auf dies verzweifelte Schreiben
aufmerkſam gemacht; nur den Todfeind, den König von Preußen würdigte
der Bourbone keiner Mittheilung. *) Indeß die angedrohte Abdankung
war doch allzu unwahrſcheinlich, das theatraliſche Pathos des Briefes
ſtand in einem allzu lächerlichen Mißverhältniß zu der Thatſache, daß
die Verbündeten das alte Frankreich ungeſtört im Beſitze einer erheblichen
Vergrößerung laſſen wollten. Selbſt der Czar war über den maßloſen
Jammer ſeines Schützlings befremdet. Ganz unerſchütterlich blieb Alex-
ander freilich nicht; er ſetzte durch, daß von den letzten Forderungen der
Coalition noch ein wenig nachgelaſſen wurde. Die Verbündeten verzich-
[784]II. 2. Belle Alliance.
teten auf die wichtige Maasfeſtung Givet und auf Condé: der glorreiche
Name dieſes Platzes war dem Hauſe der Kapetinger gar zu theuer!


Ein Miniſterwechſel in den Tuilerien kam dem Abſchluß des Friedens-
werkes zu ſtatten. Da die legitimiſtiſchen Ultras durch die Gewaltmittel
des weißen Schreckens den Sieg bei den Kammerwahlen davongetragen
hatten, ſo konnte weder der Königsmörder Fouché noch der vermittelnde
Talleyrand ſich im Cabinet behaupten. Der Czar half in der Stille
nach, da ihm Fouchés Verkehr mit den Engländern verdächtig war; er
dachte ſogar ernſtlich daran, ſeinem Pozzo di Borgo als geborenem Fran-
zoſen eine Stelle in dem Miniſterium zu verſchaffen, fand es jedoch zu-
letzt klüger den Vertrauten in der ſicheren Stellung eines ruſſiſchen Ge-
ſandten zu belaſſen. Der Herzog von Richelieu bildete am 26. September
das neue Cabinet, ein wohlmeinender, aber mit Frankreich völlig unbe-
kannter Staatsmann, der ſich durch langen Aufenthalt in Rußland das
Wohlwollen des Czaren erworben hatte. Machtlos wie er war, allein
angewieſen auf die Gunſt Alexanders fand er ſich raſch in das Unver-
meidliche, und ſchon am 2. October kam die entſcheidende Vereinbarung
zwiſchen Frankreich und den vier Mächten zu Stande. Das Protokoll
brauchte wieder den hochtrabenden Ausdruck, die Grenze von 1790 ſolle
die Regel bilden; doch in Wahrheit trat Frankreich nur ab: einen Land-
ſtrich an der belgiſchen Grenze mit Marienburg und Philippeville, ferner
den Reſt von Savoyen, endlich Landau und Saarlouis mit Saarbrücken.


Czar Alexander konnte den Schauplatz ſeiner Thaten nicht verlaſſen,
ohne die Welt noch einmal durch eine Offenbarung erhabener Gefühle
in Erſtaunen zu ſetzen. In den angſtvollen Tagen nach der Schlacht
von Bautzen hatte König Friedrich Wilhelm einmal tiefbewegt auf einem
einſamen Ritt zu ſeinem Freunde geſagt: „jetzt kann uns nur Gott allein
noch retten; ſiegen wir, ſo wollen wir ihm vor aller Welt die Ehre geben!“
Wie oft war ſeitdem jene weihevolle Stunde dem Czaren wieder vor die
Seele getreten. Hochaufgeregt durch die Weiſſagungen der Frau von
Krüdener und durch ein phantaſtiſches Schriftchen des deutſchen Philo-
ſophen Baader, beſchloß er jetzt den hingeworfenen Gedanken ſeines
Freundes nach ſeiner Weiſe zu geſtalten und ſchrieb eigenhändig die Ur-
kunde der heiligen Allianz nieder, ein perſönliches Glaubensbekenntniß,
das der Welt zeigen ſollte, das neue europäiſche Dreigeſtirn verdanke ſeinen
Glanz allein der Sonne Chriſti. Aller Edelſinn und alle Glaubensinbrunſt,
aber auch die ganze unklare Gefühlsſeligkeit und die weltliche Eitelkeit
dieſes ſchwammigen Charakters waren in dem wunderſamen Acten [...]
niedergelegt. Die Erkenntniß, daß die europäiſche Staatengeſellſchaft eine
lebendige Gemeinſchaft bildet, dieſe alte halbvergeſſene Wahrheit, die ſich
nach den Gräueln des napoleoniſchen Zeitalters der Welt wieder über-
mächtig aufdrängte, empfing unter den Händen des Gottbegeiſterten eine
ſonderbare theokratiſche Umbildung. Die drei Monarchen von Oeſterreich,
[785]Die heilige Allianz.
Preußen und Rußland, ſo ſchrieb der Czar, betrachten ſich als verbunden
durch die Bande einer wahrhaften und unauflöslichen Brüderlichkeit, als
Familienväter ihren Unterthanen gegenüber; ſie ſehen ſich an als von
der Vorſehung beauftragt drei Zweige einer Familie zu regieren, und
erkennen als den einzigen Souverain der einen chriſtlichen Nation allein
„Gott, unſern göttlichen Erlöſer Jeſus Chriſtus, das Wort des Höchſten,
das Wort des Lebens“. Alle Staaten, welche ſich zu dieſen Heilswahr-
heiten bekennen, ſind zum Eintritt in den heiligen Bund brüderlich ein-
geladen *).


Jene räthſelhafte Schickſalsgunſt, welche es immer ſo fügte, daß die
Gefühlswallungen Alexanders mit ſeinem Vortheile zuſammentrafen,
waltete auch über dieſem Erguſſe ſeiner heiligſten Empfindungen. Alle
Mächte Europas konnten ſeiner brüderlichen Einladung folgen, nur jene
beiden nicht, welche der ruſſiſchen Politik von Altersher als unverſöhn-
liche Feinde galten. Der Papſt mußte fern bleiben, weil der Stellver-
treter Chriſti nur die civitas Dei unter der Herrſchaft des gekrönten
Prieſters anerkennen durfte. Vollends der ungläubige Sultan war, wie
der Czar unverhohlen ausſprach, für immer aus dem großen Bruderbunde
Europas ausgeſchloſſen. Dem verſtändigen Sinne Friedrich Wilhelms
erſchienen die orakelhaften Sätze, die ihm der Czar mit feierlichem
Ernſt vorlegte, ſehr befremdlich; aber warum dem alten Freunde eine
Gefälligkeit verſagen, welche dem preußiſchen Staate durchaus keine Ver-
pflichtung auferlegte? Bereitwillig ſchrieb der König, wie ſein Freund
wünſchte, das Actenſtück mit eigenen Händen ab (26. September). Schwerer
entſchloß ſich Kaiſer Franz; er ſah voraus, wie peinlich dieſer heilige
Bund den treuen Freund in Konſtantinopel berühren würde. Doch da
Metternich die fromme Urkunde lächelnd für leeres Geſchwätz erklärte, ſo
trat auch Oeſterreich noch am ſelben Tage bei. Nach und nach haben
ſich dann ſämmtliche Staaten Europas dem heiligen Bunde angeſchloſſen,
die meiſten aus Gefälligkeit für den Czaren, einige auch weil die frommen
Worte vom väterlichen Fürſtenregiment den hochconſervativen Neigungen
des anbrechenden Reſtaurationszeitalters entſprachen.


Nur drei hielten ſich zurück: jene beiden alten Feinde Rußlands
— und England. Während der Prinzregent als Beherrſcher von Hannover
willig unterzeichnete, erklärte Caſtlereagh in einer biſſigen Rede: das
Parlament beſtehe aus praktiſchen Staatsmännern und könne daher wohl
einen Staatsvertrag genehmigen, doch nicht eine Erklärung von Grund-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 50
[786]II. 2. Belle Alliance.
ſätzen, welche den engliſchen Staat in die Zeiten Cromwells und der
Rundköpfe zurückſchleudern würden. Der wahre Beweggrund der Hoch-
torys war aber nicht die Rückſicht auf das Parlament, mit dem ſie ſchon
fertig zu werden verſtanden, ſondern das Mißtrauen gegen Rußland und
die Sorge für den Sultan, der in der That durch den Abſchluß der
heiligen Allianz lebhaft beunruhigt wurde. Die wunderliche Epiſode iſt
nicht ohne culturhiſtoriſches Intereſſe, da ſich die romantiſchen Stimmungen
und das lebendige europäiſche Gemeingefühl des Zeitalters darin wider-
ſpiegeln. Eine politiſche Bedeutung dagegen hat der heilige Bund nie
gehabt; ſie ward ihm nur angedichtet durch die Oppoſitionspreſſe aller
Länder, die ſich bald gewöhnte von „dem Syſtem der heiligen Allianz“ zu
ſprechen und ihre Anklagen gegen die Politik der Oſtmächte an dieſe
imaginäre Adreſſe richtete.


Am 20. November ward endlich der Frieden unterzeichnet. Aber
auch dieſer Vertrag brachte den Deutſchen noch nicht den endgiltigen
Abſchluß ihrer inneren Gebietsſtreitigkeiten. Landau ward an Oeſter-
reich und von dieſem an Baiern abgetreten, doch damit war den For-
derungen der Wittelsbacher noch nicht Genüge geleiſtet. Da Oeſterreich
die Wiedererwerbung des Elſaſſes verſchmäht und alſo das einfachſte
Mittel zur gänzlichen Befriedigung des Münchener Hofes aufgegeben hatte,
ſo ließ ſich Metternich, um doch ein Unterhandlungsmittel in Händen zu
haben, von den großen Mächten den dereinſtigen „Heimfall“ des Breis-
gaus und der badiſchen Pfalz zuſichern — eine völlig rechtswidrige Ver-
abredung — und der unſelige Gebietsſtreit zwiſchen Baiern und Oe-
ſterreich blieb vorläufig unerledigt. Glücklicher war England. Außer der
Abſchaffung des Negerhandels, die dem britiſchen Volke bereits zu einem
Gegenſtande der nationalen Eitelkeit, des allgemeinen Sports geworden
war, erlangten die Torys auch die Schirmherrſchaft über die ioniſchen
Inſeln; die mediterraniſche Machtſtellung des Inſelreichs war nunmehr
feſter denn je begründet. Frankreich mußte, je nach ſeinem Wohlverhalten,
drei bis fünf Jahre lang die militäriſche Beſetzung ſeiner Nordoſtprovinzen
ertragen und 700 Mill. Kriegsentſchädigung zahlen. 500 Mill. wurden
zu je einem Fünftel unter die vier Großmächte und die Geſammtheit
der Kleinſtaaten vertheilt; England und Preußen erhielten außerdem
noch je 25 Mill. für die Einnahme von Paris. Der Reſt ward für
die Befeſtigung der an Frankreich angrenzenden Landſtriche beſtimmt, der-
geſtalt daß Baiern 15 Mill., der Deutſche Bund 25 Mill. für die rheini-
ſchen Feſtungen erhielt; Preußen mußte ſich mit 20 Mill. begnügen, da
ihm Saarlouis und das Beſatzungsrecht in Luxemburg abgetreten wurde.


Am nämlichen Tage erneuerten die vier Mächte ihr altes Bündniß.
England hatte die einfache Verlängerung des Chaumonter Vertrages auf
zwanzig Jahre gewünſcht. Aber Rußland hielt entgegen, daß man Frank-
reich doch nur während des Ausnahmezuſtandes der Occupationszeit als
[787]Der Friede und der Vierbund vom 20. November.
einen verdächtigen Feind behandeln dürfe, und ſetzte durch, daß die vier
Mächte ſich, ohne feſte Zeitangabe, zur Erhaltung des legitimen Königs-
hauſes und der Charte verpflichteten *), denn von dem Parteifanatismus
der Emigranten befürchtete der Czar die ſchwerſten Gefahren für Frankreich.
Die vier Mächte gelobten einander, durch wiederholte Zuſammenkünfte
der Monarchen oder der Miniſter die europäiſche Sicherheit zu über-
wachen. So ward denn der geſammte Welttheil, und Frankreich insbe-
ſondere unter die polizeiliche Aufſicht der Coalition geſtellt; die Bourbonen
durften nicht ruhen bis ſie aus dieſer, für eine ſtolze Nation demüthi-
genden Lage wieder herauskamen und die Aufnahme Frankreichs in das
Bündniß der großen Mächte durchſetzten. Da die vier Mächte ſämmtlich,
Oeſterreich und England nicht ausgenommen, der wilden Leidenſchaft der
Emigranten mißtrauten, ſo richteten ſie zum Abſchied noch eine Note an
Richelieu, ermahnten ihn die Mäßigung mit der Feſtigkeit zu verbinden,
allen Feinden der öffentlichen Ruhe, unter welcher Geſtalt ſie ſich auch
zeigten, die feſte Verfaſſungstreue entgegenzuſtellen. Voll ſchwerer Be-
ſorgniß verließen die Staatsmänner der Coalition Paris. Keiner von
ihnen glaubte an die Lebenskraft des alten Königshauſes, ſie alle ſchätzten
die Dauer der bourboniſchen Herrſchaft nur auf wenige Jahre. Und
einem ſolchen Staate, deſſen Zukunft völlig unberechenbar erſchien, hatte
das verbündete Europa die beherrſchenden Plätze am deutſchen Oberrhein
wieder eingeräumt!


In der geſammten modernen Geſchichte iſt nur noch einmal nach
glänzenden kriegeriſchen Erfolgen ein Friede geſchloſſen worden, der ſich
an ſchonender Milde dem Vertrage vom 20. November 1815 vergleichen
läßt: der Prager Friede von 1866. Aber was in Prag aus dem freien
Entſchluß, aus der weiſen Selbſtbeſchränkung des Siegers hervorging, das
führte in Paris der gemeinſame Argwohn der Verbündeten gegen den kühn-
ſten und rührigſten der Siegesgenoſſen herbei. Der große Augenblick, da
das ſeit Richelieu ſo unnatürlich verrenkte Gleichgewicht Europas wiederher-
geſtellt und den Deutſchen ihr altes Erbtheil zurückgegeben werden konnte,
ward verſäumt weil alle Mächte des Oſtens und Weſtens ſich begegneten
in dem Entſchluſſe die Mitte des Welttheils beſtändig niederzuhalten.
Durch ſchmerzliche Erfahrungen erkaufte ſich die deutſche Nation die Er-
kenntniß, daß ſie die Sühne des alten Unrechts allein von ihrem eigenen
guten Schwerte erwarten durfte. Alle die düſteren Weiſſagungen Harden-
bergs, Humboldts und Gneiſenaus gingen wörtlich in Erfüllung. Die
Franzoſen empfanden nicht nur, wie billig, die mehrjährige Anweſenheit
der fremden Truppen als eine unauslöſchliche Schmach; ſie nahmen auch
den beiſpiellos milden Frieden für eine grauſame Beleidigung. Nicht
Saarbrücken oder Landau lag ihnen am Herzen; was ſie nicht vergeſſen
50*
[788]II. 2. Belle Alliance.
konnten war die Niederlage von Belle Alliance. Rache für Waterloo!
— dies blieb für Jahrzehnte der Schlachtruf des franzöſiſchen Volkes.
Dieſem Gedanken entſprangen die Revolution von 1830, die Kriegs-
drohungen von 1840 und die Wiederherſtellung des Kaiſerreiches, bis
dann nach einem halben Jahrhundert der alte Herzenswunſch in einem
wüſten Eroberungskriege ſich entlud und der deutſche Sieger die Unter-
laſſungsſünden von 1815 endlich ſühnte.


So blieb das Verhältniß zwiſchen den beiden Nachbarvölkern auf
Jahrzehnte hinaus krankhaft unſicher und geſpannt. Die Deutſchen em-
pfingen die Kunde von dem faulen Frieden mit bitterem Zorne. So
recht im Namen ſeines Volkes rief Blücher: „Preußen und Deutſchland
ſteht trotz ſeiner Anſtrengungen immer wieder als der Betrogene vor der
ganzen Welt da“ — worauf er dann abermals ſeinen Ingrimm gegen
die Diplomatiker ausſprach und zornig fragte, wie lange denn „dieſe
ſonderbare Verſammlung von Unterthanen, die ihre eigenen Monarchen
beherrſchen,“ noch beſtehen ſolle. In ihrer naiven Unkenntniß der po-
litiſchen Verhältniſſe hatten viele Deutſche alles Ernſtes gehofft, in Paris
würden nicht nur die alten Grenzen des Vaterlandes wieder hergeſtellt,
ſondern auch die Gebrechen der Bundesverfaſſung geheilt werden. Schenken-
dorf wollte die Hoffnung nicht aufgeben, daß man den Erben der Leopolde
und Ferdinande, der die deutſche Krone ſo kaltblütig verſchmähte, nun doch
zwingen könnte, ſich mit dem alten Purpur zu bekleiden. Der treue Mann
konnte die Stunde gar nicht erwarten, da das verſteinerte Birnengeſicht
des Kaiſers Franz wieder mit dem Reife der Karolinger geſchmückt würde,
und ſang:


O ſei denn endlich weiſer,

Du Herde ohne Hirt,

Und wähle ſchnell den Kaiſer

Und zwing’ ihn daß er’s wird!

Welche Entrüſtung nun unter dieſem teutoniſchen Geſchlechte, als ſich
ergab, daß Alles beim Alten blieb, daß die Kaiſerherrlichkeit begraben war,
daß Rappoltsweiler und Oberehnheim wieder Ribeauvillé und Obernay
heißen, daß die alten ſchönen Heimathlande deutſcher Geſittung wieder
von dem Schlamme wälſcher Verbildung überfluthet werden ſollten, um
vielleicht für immer darin zu verſinken! In tauſend deutſchen Herzen
hallte die Klage des Dichters wieder:


Doch dort an den Vogeſen

Liegt ein verlornes Gut.

Da gilt es, deutſches Blut

Vom Höllenjoch zu löſen!

Und was am tiefſten verwundete: dieſelben verlorenen deutſchen Länder,
denen man die Freiheit hatte bringen wollen, frohlockten über den diplo-
matiſchen Erfolg des Auslandes. In heller Verzweiflung rief Rückert:


[789]Erbitterung der Deutſchen.
Wird unſer Siegszug denn zur Flucht?

Ganz Frankreich höhnt uns nach.

Und Elſaß, du entdeutſchte Zucht,

Höhnſt auch! O ärgſte Schmach!

Im Rheiniſchen Mercur donnerte Görres mit der ganzen Wildheit
ſeines Jacobinerzornes wider das Baſiliskenei, das der galliſche Hahn
gelegt und die deutſche Einfalt ausgebrütet hat. Die Erbitterten wollten
die ſo nahe liegenden Gründe des großen Mißlingens nicht ſehen, ſchoben
alle Schuld auf Hardenbergs Schwäche und auf die „deutſche Uneinigkeit“,
welche fortan ein ſtehender Klagepunkt in den Beſchwerden der enttäuſch-
ten Patrioten bleiben ſollte. Und doch hatten der König wie ſeine Staats-
männer ihre Schuldigkeit im vollen Maaße gethan und bei den Miniſtern
der Mittelſtaaten treue Unterſtützung gefunden. Nicht die Deutſchen waren
uneinig geweſen, ſondern Oeſterreich war von Deutſchland abgefallen.
Jene alte habsburgiſche Hauspolitik, welche ſo oft deutſche Reichslande
gegen kaiſerliche Erblande an die Fremden dahingegeben, hatte diesmal,
da für das Haus Lothringen nichts Wünſchenwerthes zu erwerben ſtand,
die Deutſchen einfach im Stiche gelaſſen.


Es war aber der Fluch des friedlichen Dualismus, daß die preußiſche
Regierung fortan von der öffentlichen Meinung für die Sünden Oeſter-
reichs verantwortlich gemacht wurde und, um nur den theuren Bundes-
genoſſen nicht zu kränken, grundſätzlich unterließ ſich ſelber vor der
Nation zu rechtfertigen. Und wie frech und ſchamlos log dieſe Hofburg
jetzt dem deutſchen Volke ins Angeſicht! Gentz, der nachgerade jeden ſitt-
lichen Halt verlor, verſicherte im Oeſterreichiſchen Beobachter mit dreiſter
Stirn, niemals hätte zwiſchen den großen Mächten irgend eine Mei-
nungsverſchiedenheit über die Friedensbedingungen beſtanden, und ſchloß
feierlich: wäre dem nicht ſo, „dann haben wir das Publicum aus Unwiſ-
ſenheit oder gefliſſentlich falſch berichtet!“ War es zu verwundern, wenn
einer ſolchen Politik gegenüber die Sprache der Patrioten täglich heftiger
ward und Görres wüthend ſchrieb: „Wie die Vendomeſäule ein fortwäh-
rendes Zeichen unſerer Schande iſt, ſo ſoll im Rheiniſchen Mercur die
fortwährende Proteſtation des Volks gegen alles Halbe und Schlechte
niedergelegt werden, damit die Nachwelt erkenne: die Zeitgenoſſen waren
damit nicht einverſtanden!“


Der unglückliche Friede verbitterte nicht nur die Stimmung der
Nation dermaßen, daß dem jungen Deutſchen Bunde von Haus aus
auch nicht ein Schimmer freudiger Hoffnung entgegenſtrahlte. Er för-
derte auch die während des Krieges erwachſene Selbſtüberſchätzung des
Volks; darüber war ja gar kein Streit, daß „das Volk“ Alles ungleich
herrlicher hinausgeführt hätte als die Diplomaten. Die Maſſen der Na-
tion kehrten bald wieder allen politiſchen Gedanken den Rücken; ſie wen-
deten ſich den ſchweren Sorgen des Haushalts zu um in treuer Arbeit
[790]II. 2. Belle Alliance.
die Wunden des uṅgeheuren Kampfes auszuheilen. Wer aber den feurigen
Idealismus des Befreiungskrieges noch im Herzen bewahrte, der tröſtete
ſich des Glaubens: jetzt ſei die Stunde gekommen, da das Volk ſelber die
Leitung des deutſchen Staates übernehmen müſſe. Es klang wie die
Weiſſagung der Kämpfe und Leiden des kommenden Jahrzehnts, wenn
einer der Beſten aus dem jungen Geſchlechte, der Kieler Hiſtoriker F. C.
Dahlmann, zur Siegesfeier die in Form und Inhalt den Geiſt der Zeit
bezeichnenden Worte ſprach: „Friede und Freude kann nicht ſicher wieder-
kehren auf Erden, bis, wie die Kriege volksmäßig und dadurch ſiegreich
geworden ſind, auch die Friedenszeiten es werden, bis auch in dieſen der
Volksgeiſt gefragt und in Ehren gehalten wird, bis das Licht guter Ver-
faſſungen herantritt und die kümmerlichen Lampen der Cabinette über-
ſtrahlt.“ —


[]

Appendix A Inhalt.


Erſtes Buch.
Einleitung. Der Untergang des Reichs.


  • Seite
  • 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden 3
  • Die Reichsverfaſſung 7
  • Der preußiſche Staat 24
  • Die neue Literatur 86
  • 2. Revolution und Fremdherrſchaft 104
  • Der Revolutionskrieg bis zum Baſeler Frieden 104
  • Friedrich Wilhelm III. Der Reichsdeputationshauptſchluß. Die claſſiſche
    Dichtung 146
  • Auflöſung des Reichs. Krieg von 1806 212
  • 3. Preußens Erhebung 269
  • Stein. Scharnhorſt. Das neue Deutſchthum 269
  • Miniſterium Altenſtein. Krieg von 1809 320
  • Rheinbündiſche Zuſtände. Hardenbergs Verwaltung. Ruſſiſcher Krieg 352
  • 4. Der Befreiungskrieg 405
  • Die Vorbereitung 405
  • Frühjahrsfeldzug. Waffenſtillſtand 448
  • Die Zeit der Siege 469
  • 5. Ende der Kriegszeit 507
  • Befreiung des Weſtens. Kriegspläne 507
  • Der Winterfeldzug 533
  • Friede und Heimkehr 551

Zweites Buch.
Die Anfänge des Deutſchen Bundes 1814—1819.


  • Seite
  • 1. Der Wiener Congreß 595
  • Charakter des Congreſſes. Die Perſonen 595
  • Die Gebietsverhandlungen 615
  • Der Deutſche Bund 672
  • 2. Belle Alliance 709
  • Der Belgiſche Feldzug 709
  • Der zweite Pariſer Friede 769

[]

Appendix B Berichtigungen.


Seite 105 Zeile 5 v. o. lies: 1787.


‒ 106 ‒ 16 v. u. lies: fruchtbarer.


‒ 117 ‒ 7 v. u. lies: von Form zu Form.


‒ 122 ‒ 17 v. u. lies: anzuerkennen.


‒ 130 ‒ 20 v. u. lies: Targowicer.


‒ 136 ‒ 2 v. o. lies: der Oſtſlaven gegen die Weſtſlaven.


‒ 140 ‒ 20 v. o. hinter: Am 5. Auguſt iſt einzuſchalten: 1796.


‒ 169 ‒ 2 v. u. hinter: Tyrannei iſt einzuſchalten: in Neapel.


‒ 221 ‒ 20 v. u. lies: zu verdrängen


‒ 241 ‒ 2 v. o. lies: Unterwerfungsvertrag.


‒ 258 ‒ 8 v. o. lies: der linke Flügel.


‒ 265 ‒ 9 v. o. und noch mehrmals lies: Herzogs von Warſchau.


‒ 290 ‒ 2 v. u. und öfter lies: Grolman.


‒ 291 ‒ 6 v. u. lies: hat er ſie.


‒ 316 ‒ 16 v. u. lies: erſchien der erſte Theil des Fauſt.


‒ 354 ‒ 13 v. u. lies: finſtere Nacht.


‒ 482 ‒ 2 v. o. lies: rechten Elbufer.


‒ 519 ‒ 16 v. o. lies: Frieſe.


‒ 531 ‒ 4 v. o. hinter: Geſinnung iſt einzuſchalten: des Breisgaues.


‒ 536 ‒ 11 v. u. lies: 29. Januar.


‒ 570 ‒ 4 v. u. lies: Pozzo di Borgo und Capodiſtrias meinten.


‒ 736 ‒ 7 v. u. lies: der rechten Flanke.


Appendix C

Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.


[][][][][]
Notes
*)
Bericht an den König, Münſter 30. Oct. 1804.
*)
Hardenbergs Journal, 6. Sept. 1806.
*)
So geſteht Marwitz in einem Briefe an Hardenberg vom 11. Febr. 1811.
*)
So erzählt Müffling in einer Denkſchrift über die Landwehr, die er am 12. Juli
1821 an Hardenberg überſendete.
*)
Bericht des Miniſters v. Schuckmann an den König, 24. Mai 1812.
*)
Nach der Berechnung von M. Duncker, Aus der Zeit Friedrichs d. Gr. und
Fr. Wilhelms III. S. 505 f.
*)
Hardenbergs Journal 6. Jan. 1809.
*)
Cabinets-Ordres v. 10. Jan. und 4. März 1809.
**)
Bericht des Oberpräſidenten Sack an Dohna, 19. Sept. 1809.
***)
Eingabe der hinterpommerſchen Städte an den König, Stargard 28. Sept. 1809.
*)
Bericht der Potsdamer Regierung v. 6. Dec. 1809.
**)
Dohna an Hardenberg, 22. Aug. 1810.
*)
Nach der Rechnung des Finanzminiſteriums, welche W. v. Humboldt im Früh-
jahr 1814 zu Paris den Großmächten überreichte. (Humboldts Bericht an Hardenberg
20. Mai 1814.)
*)
Nach einer handſchriftlichen Aufzeichnung von F. G. Welcker.
*)
So noch in einem Briefe des Königs an K. Victor Emanuel von Sardinien
vom 15. März 1821.
*)
Ich benutze hier die Aufzeichnungen des bair. Oberconſiſtorialraths v. Schmitt,
die mir ſein Sohn, Herr Pfarrer Schmitt in Heidelberg mitgetheilt hat.
*)
Klewitz’ Bericht über ſeine Rundreiſe in der Provinz Sachſen v. 29. Juli 1817.
*)
Journal de Hardenberg, zum Jahresanfang 1810.
*)
Eingabe v. 4. Dec. 1810. Aehnliche Eingaben aus Altpreußen von v. Hülſen,
v. Brederlow u. A.
*)
Eingabe an Hardenberg 30. Jan. 1811.
**)
Eingabe an den König, Perleberg 24. Jan. 1811.
***)
Ich benutze hier u. A. den im Berliner G. St. Archiv verwahrten Aktenmäßi-
gen Bericht über die Verſammlung der ſtändiſchen Landesdeputirten von 1811 und der
interimiſtiſchen Nationalrepräſentation 1812—15. (Von Riedel. 1841.)
*)
Eingabe der kurmärkiſchen Landſchaft v. 10. Oct. 1810.
*)
Cabinets-Ordre v. 6. Sept. 1811.
*)
Eingabe der neumärkiſchen Stände, 4. Dec. 1812.
**)
Inſtruction des Staatskanzlers an die Regierungen, 11. Febr. 1812.
***)
Bericht der Regierung in Oppeln 24. Oct. 1816.
*)
Viele Belege hierfür giebt der Bericht des Miniſters v. Beyme v. 21. April
1818 über ſeine Rundreiſe durch Pommern und Preußen.
*)
Hardenbergs Tagebuch 6. Nov. 1811.
*)
Hardenbergs Journal 20. April 1811.
*)
Nach der Rechnung des Finanzminiſteriums, die in Paris am 17. Mai 1814
übergeben wurde. Der Anſatz iſt aber unzweifelhaft viel zu niedrig. Dem zweiten
Pariſer Friedenscongreſſe überreichte Hardenberg im Septbr. 1815 eine andere Rech-
nung, wornach Preußen 94 Mill. Fr. über den Reſt der Contribution hinaus gezahlt
und außerdem noch durch den Durchmarſch der großen Armee einen Schaden von 309
Mill. Fr. erlitten hatte.
*)
Nachgewieſen von Max Lehmann, Kneſebeck und Schoen. S. 57.
*)
Hardenbergs Tagebuch 11. März 1812.
**)
Hardenbergs Tagebuch 26. Mai 1812.
*)
Hardenbergs Tagebuch 30. Mai 1812.
*)
Hardenbergs Journal 7. Januar 1813.
*)
Metternich an Hardenberg 9. Januar 1818.
*)
Kneſebecks Denkſchrift an Hardenberg, Freiburg 7. Januar 1814.
*)
Eingabe der Deputirten des Cottbuſer Kreiſes an den König, Berlin 25. Aug.
1814.
*)
Hardenbergs Journal 22. Mai 1813.
*)
Die Abſchrift, die mir vorlag, trägt kein Datum. Das Memoire kann aber,
nach Form und Inhalt, nur während des Waffenſtillſtandes geſchrieben ſein.
**)
Hardenbergs Tagebuch 24. Januar 1814.
*)
Der Wortlaut dieſes Vertrags iſt noch unbekannt. Sein weſentlicher Inhalt
*)
erhellt aus einer Note Metternichs an Caſtlereagh, Paris 27. Mai 1814, welche Farini
(Storia d’Italia dall’ anno 1814. I. 27) im Turiner Hausarchive gefunden hat. Vieles
an dem Hergang erſcheint noch räthſelhaft.
*)
Ich kann nicht finden, daß G. Swederus (in ſeinem galligen Buche: Schwedens
Politik und Kriege in d. J. 1808—14) etwas Weſentliches zu Gunſten ſeines Helden
Karl Johann erwieſen hätte.
*)
Hardenbergs Tagebuch 18. Auguſt 1813.
*)
Hardenbergs Tagebuch 17. November 1813.
*)
Rombergs Rundſchreiben an die Stände der Grafſchaft Mark vom 22. No-
vember 1813.
*)
Eingabe Knyphauſens an den König, 25. Juli 1814.
*)
Gruners Bericht über die Verwaltung des General-Gouvernements Berg,
24. Januar 1814.
*)
Sacks Generalbericht über die proviſoriſche Verwaltung am Mittel- und Nieder-
rhein, 31. März 1816.
*)
Hardenbergs Tagebuch 1. December 1813.
*)
Hardenbergs Tagebuch, 16. December 1813.
*)
Hardenbergs Tagebuch 8. Januar 1814.
*)
Kneſebecks Denkſchrift über die Reconſtruction Preußens, 7. Januar 1814.
*)
Stadion an Hardenberg, Baſel 21. Januar 1814.
**)
Hardenberg an Stadion, 21. Januar 1814.
*)
Eingabe des Fürſten Malte zu Putbus, Januar 1814.
*)
Hardenbergs Tagebuch 15. Februar 1814. Caſtlereaghs Denkſchrift über die
Niederlande, 28. Jan. 1815.
**)
Hardenbergs Tagebuch 14. Februar 1814.
*)
Hardenbergs Tagebuch, 27. Februar 1814.
*)
Stein an Hardenberg, 11. Mai 1814.
*)
Metternich an Hardenberg, 8. Mai 1814.
**)
Gneiſenau an Hardenberg, 13. Mai 1814.
*)
Humboldt an Hardenberg, 17. Mai 1814.
**)
Eingabe des Oberbürgermeiſters Laukhard an Gruner, Saarbrücken 7. Juni
1814. Stein an Hardenberg, 15. Juni 1814.
***)
Humboldt an Hardenberg, 20. Mai 1814.
*)
Humboldts Bericht an den Staatskanzler über die Sitzung v. 17. Mai 1814.
*)
Humboldt an Hardenberg, 27. Mai 1814.
**)
Berichte des Geſandten Grafen von der Goltz aus Paris vom 31. Oktober
1814 u. ſ.
*)
Hardenbergs Plan pour l’arrangement futur de l’Europe, 29. April 1814.
*)
Hardenberg an Goltz, 31. Mai. Goltz an die Geſandten, 8. Juni 1814.
**)
Gneiſenau an Hardenberg, 18. Mai. Müffling an Gneiſenau, 17. Mai 1814.
*)
Hardenbergs Tagebuch 29. Juni 1814.
**)
Humboldts Bericht an den König, Wien 20. Auguſt 1814.
*)
Kneſebecks Denkſchrift über den Frieden von Paris (undatirt, in Paris ge-
ſchrieben).
*)
Nach Zeſchaus Aufzeichnungen (Erinnerungen an General H. W. v. Zeſchau.
Dresden 1866. S. 69.
*)
Goltz’ Bericht, Paris, 2. Sept. 1814.
*)
Goltz’s Berichte vom 20. Juli 1814 u. f.
*)
Humboldts Bericht an den König, Wien 20. Auguſt 1814.
*)
Goltz’s Bericht, 31. Auguſt 1814.
**)
Hardenberg an Schöler, 26. Auguſt 1814.
*)
Nach Schölers Berichten, St. Petersburg 7., 10. und 12. September 1814.
*)
Hardenberg an Humboldt, 3. September 1814.
*)
Goltz’s Bericht, Paris 26. Sept. 1814.
*)
Boyens Denkſchrift über die deutſche Kriegsverfaſſung (undatirt, während des
Congreſſes dem Staatskanzler übergeben).
*)
Sethe an Stein, Düſſeldorf, 13. Mai 1814.
*)
Gagern an Hardenberg 12. 18. Novbr. Hardenberg an Gagern 16. Novbr.
Alopeus an Humboldt 11. Octbr. 1814.
*)
Humboldts „Vorſchläge über den Geſchäftsgang des Congreſſes“, verhandelt
am 18. Sept. u. f.
*)
Humboldt an Hardenberg, 27. Jan. 1815.
*)
Repnin an Merian, Wien 15/25. Febr. 1815.
*)
Hardenbergs Tagebuch 1. October 1814.
*)
Goltz’s Bericht, Paris 21. Oct. 1814.
*)
Humboldts Denkſchrift über den Brief des Fürſten Metternich, 23. Oct. 1814.
*)
Humboldts Denkſchrift sur le mémoire de Lord Castlereagh, 25. Oct. 1814.
*)
Hoffmanns Bemerkungen zu ſeiner Statiſtiſchen Ueberſicht, 30. Oct. 1814.
*)
Eingabe an Hardenberg, 5. Nov. 1814.
*)
Humboldts Denkſchrift über die polniſche Frage, 9. Nov. 1814.
*)
Eingabe der Leipziger Handlungsdeputirten an den Staatskanzler, 15. Nov.,
Siegmann an Hardenberg, 16. Nov. 1814.
*)
Darüber berichtet der Finanzminiſter von Bülow ausführlich an den Staats-
kanzler, Berlin, 8. Dec. 1814.
**)
Gruner an Stägemann 27. November, Reichenbach an Hardenberg 28. No-
vember 1814.
*)
Hardenberg an Miltitz 12. December 1814, an Bülow 25. Januar 1815.
**)
Schreiben Zeſchaus an den proviſoriſchen Chef der ſächſiſchen Polizei von Bülow
(18. November 1814).
***)
Krügers Bericht an Hardenberg, 29. November 1814.
*)
Eingaben des Erbprinzen von Homburg an Humboldt, Türkheims an Harden-
berg (Jan. Febr. 1814).
*)
Wintzingerode und Linden an Hardenberg, 8. December 1814.
*)
Hardenbergs Tagebuch 10. 12. Dec. 1814.
*)
Goltzs Berichte aus Paris 24. Nov. 19. Dec. 1814.
**)
Grolman an Hardenberg, 29. Dec. 1814 mit einer Denkſchrift über den Ope-
rationsplan.
*)
Metternich an Hardenberg, 2. Jan. 1815.
*)
So Humboldt in ſeinem handſchriftlichen „Syſtematiſchen Verzeichniß“ der
Congreßverhandlungen, Wien 15. Juni 1815.
*)
Piquots Bericht, Wien 29. Sept. 1814.
*)
So Sack in ſeinem Generalberichte vom 31. März 1816.
*)
Küſter in ſeinem Berichte vom 17. Mai 1815; ähnlich in vielen anderen
Depeſchen.
*)
Marſchall an Hardenberg, 5. März 1815.
*)
Als Manuſcript gedruckt Weimar 1867 u. d. T.: Aus den Papieren eines
Verſtorbenen.
*)
In wiederholten Eingaben des Fürſten von Hohenzollern-Hechingen an den
Staatskanzler.
*)
Stein an Humboldt, 29. December 1814.
*)
Man hat oft behauptet, Metternich habe dem Staatskanzler mündlich die Thei-
lung des Präſidiums für die Zukunft verſprochen. Aber nicht nur iſt für dieſe ſonder-
bare Vermuthung niemals irgend ein Beweis erbracht worden, ſondern es liegen auch
Actenſtücke vor, welche zu dem entgegengeſetzten Schluſſe zwingen. Im Jahre 1816
nämlich, unmittelbar vor Eröffnung des Bundestages, machte der Bundesgeſandte von
Hänlein auf eigene Hand den vergeblichen Verſuch, nachträglich noch für Preußen einen
Antheil am Präſidium zu erlangen. Es entſpann ſich darüber zwiſchen ihm und Har-
denberg ein langer Briefwechſel, und in dieſen ſämmtlichen vertrauten Briefen, worin
alle die Forderung Hänleins unterſtützenden Gründe ausführlich erörtert werden, ge-
ſchieht einer öſterreichiſchen Zuſage nirgends Erwähnung.
*)
So Humboldt in dem oben erwähnten Syſtematiſchen Verzeichniß.
**)
Küſters Bericht, München 28. Auguſt 1815.
***)
Kneſebecks Denkſchrift vom 7. Januar 1814.
*)
Münſters Entwurf zur Beantwortung der badiſchen Note vom 16. Nov. 1814.
*)
Berichte des Geſchäftsträgers Jouffroy, Stuttgart 12. Jan. 7. März 1815.
*)
Humboldts Denkſchrift über die beiden neuen Entwürfe zur Bundesacte, 9. De-
cember 1814.
**)
Humboldt an Hardenberg, 11. Decbr. 1814.
*)
Steins Bemerkungen zu dem Entwurfe, ohne Kreiſe 26. u. 29. Decbr. 1814.
**)
Gersdorff an Humboldt, 6. December 1814.
*)
Hardenberg und Humboldt, Entwurf einer Note an Fürſt Metternich, die neue
Organiſation des Bundestags betreffend. Das Concept iſt undatirt, muß aber ſchon
im Januar geſchrieben ſein, da mehrere der darin enthaltenen Sätze wörtlich in der
preußiſchen Note vom 2./10. Februar wiederkehren.
**)
Graf Solms-Laubach an Hardenberg, 4. April 1815, und viele andere ähnliche
Eingaben.
*)
Gersdorff an Hardenberg, 7. April 1815.
*)
Metternich an Hruby, 11. December 1817.
**)
So berichtet er ſelbſt in der Syſtematiſchen Ueberſicht.
*)
Hardenberg und Humboldt an Metternich und Münſter, 27. Mai 1815.
*)
Spiegel an Humboldt, 2. Decbr. 1814.
*)
Weſſenbergs Denkſchrift an Hardenberg, 3. Juni 1815.
*)
Humboldt, Entwurf für einen vorläufigen Vertrag zwiſchen den beitretenden
deutſchen Staaten.
*)
Blücher an Heinen, Lüttich 6. Mai 1815.
**)
Blücher an Hardenberg, Namur 27. Mai 1815.
*)
Blücher an Hardenberg, Namur 2. Juni 1815.
*)
Berichte des ſächſiſchen Generalgouvernements und des Miniſters v. d. Goltz an
den Staatskanzler vom 2. Januar und 19. Februar 1815.
*)
v. 31. März, eingetragen als „Nr. 6 der ausländiſchen Regiſtrande“.
*)
Weiſungen an das General-Gouvernement v. 24. u. 27. März 1815.
*)
Cabinetsordre an Gneiſenau 14. März 1815.
*)
Ich benutze hier u. A. die Aufzeichnungen meines Vaters, der als blutjunger
Offizier bei einem ſächſiſchen Regimente in der Nähe von Lüttich ſtand und ſeine Leute
im Zaume zu halten wußte.
*)
Blücher an König Friedrich Auguſt, 6. Mai 1815.
*)
So hat im Weſentlichen ſchon Clauſewitz den Sachverhalt dargeſtellt, ohne daß
der Herzog, in ſeiner bekannten Erwiderung auf das Buch des Generals, einen Wider-
ſpruch verſucht hätte. Was Clauſewitz nur andeutete, iſt jetzt im Einzelnen erwieſen
durch die Unterſuchungen von M. Lehmann (Hiſtoriſche Zeitſchrift. Neue Folge II. S. 274)
und H. Delbrück (Zeitſchrift f. Preuß. Geſchichte 1877. S. 645).
*)
Gneiſenau an Hardenberg, drei Briefe aus Goneſſe 30. Juni 1815.
*)
Hardenbergs Tagebuch 3. Juli 1815.
*)
Caſtlereaghs Memorandum v. 15. Juli 1815.
*)
Hardenberg, Denkſchrift über die von dem Comité der Vier zu befolgenden
Grundſätze, 22. Juli 1815.
**)
Gneiſenau an Hardenberg, 27. Juli 1815.
*)
Hardenbergs Tagebuch, 11. Juli 1815.
**)
Altenſteins Denkſchrift über die Contribution, Paris 21. Juli 1815.
***)
Vgl. oben S. 321 u. 391.
*)
Humboldt an Hardenberg 4. Aug. 1815.
**)
Humboldt, Mémoire très-confidentiel, 4. Aug. 1815.
*)
Hacke an Hardenberg 19. Aug.; Hacke und Berſtett an Hardenberg 21. Oct. 1815.
*)
Labrador an Hardenberg, 15. September 1815.
*)
Caſtlereaghs vertrauliche Note an Hardenberg, wahrſcheinlich im Auguſt ge-
ſchrieben.
**)
Boyen an Gneiſenau 31. Aug. 1815. Gneiſenau, Memorandum für S. Maj.
den Kaiſer Alexander.
*)
Czar Alexander an Gneiſenau 5. Sept. 1815.
*)
Capodiſtrias, Réponse au mémoire du général de Gneisenau, 5. Sept. 1815.
**)
Wellingtons Denkſchrift an Hardenberg, 31. Aug. 1815.
*)
Neſſelrode an Hardenberg über Caſtlereaghs Denkſchrift vom 2. Sept. (7. Sept.
1815).
**)
Neſſelrode an Hardenberg, 7. Sept. 1815.
*)
Metternichs Denkſchrift für das Comité der Vier, 8. Sept. 1815.
**)
Blücher an Heinen, 23. Sept. 1815.
*)
Louis an Humboldt 23. Aug. Humboldts Bemerkungen dazu 24. Aug. 1815.
*)
König Ludwig an Kaiſer Alexander 23. September, an Kaiſer Franz 23. Sep-
tember 1815.
*)
Eine Andeutung in einer Parlamentsrede Lord Liverpools hat Anlaß gegeben
zu der häufig wiederholten Behauptung, daß die Acte der heiligen Allianz einige geheime
Artikel enthalten hätte. Obgleich die Unhaltbarkeit dieſer Annahme ſich ſchon aus inneren
Gründen ergiebt, ſo ſei hier doch zum Ueberfluß noch verſichert, daß die im Berliner
Geh. Staatsarchiv verwahrte Original-Urkunde nichts weiter als den allbekannten Text
enthält.
*)
Ruſſiſche Denkſchrift über den Bündnißvertrag, 9./21. Oct. 1815.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpbj.0