Leben Jesu,
Mit Königl. Würtembergischem Privilegium gegen den Nachdruck.
Verlag von C. F. Osiander.
1836.
[[II]][[III]]
Vorrede.
Ich könnte mich freuen, dass ich den zweiten
und lezten Band dieses Werkes so bald nach dem er-
sten erscheinen lassen kann, in der Hoffnung, es
werden sich, nun die Übersicht des Ganzen möglich
ist, manche Missverständnisse lösen, und manches
harte Urtheil mildern. Allein sowohl mündlich ha-
ben über den ersten Band eben diejenigen am laute-
sten geschrieen, welche keine Seite in demselben ge-
lesen hatten, als auch schriftlich bis jezt nur solche
über denselben geurtheilt, mit welchen ich keine Ver-
ständigung hoffen kann, auch wenn sie diesen zwei-
ten Theil gelesen haben werden. So will ich mich
also keiner Freude hingeben, die mich doch täuschen
[IV]Vorrede.
würde, aber ebenso wenig auch fernerhin das Ge-
schrei der Eulen mich verdriessen lassen, die ich denn
freilich allzu rücksichtslos mit ungedämpftem Licht
geweckt habe.
Aus den bis jezt erschienenen Beurtheilungen
über den ersten Band habe ich für den zweiten noch
keinen Nutzen ziehen können, theils weil er schon
grösstentheils abgedruckt war, als sie mir zu Gesicht
kamen, theils wegen der Beschaffenheit der Beur-
theilungen selber.
Die erste, die ich zu lesen bekam, war eine
Recension von Herrn Dr. Paulus im Literaturblatt zur
allgemeinen Kirchenzeitung. Dem Urheber derselben
bin ich Dank schuldig für die liberale und anerken-
nende Weise, mit welcher er, bei durchaus abweichen-
der Ansicht, doch meine Arbeit behandelt hat. Sein
gewichtigster Einwand gegen meine Methode ist der:
wenn in einer Erzählung einiges Mythische sei, so
folge daraus noch nicht, dass Alles in ihr mythisch sein
müsse. Das wäre ohne Zweifel ein [sehr falscher]
Schluss, aber den habe ich auch nicht gemacht, son-
dern nur, dass dann auch Alles mythisch sein kön-
[V]Vorrede.
ne. Ob es sich wirklich so verhält, muss sich aus
der Beschaffenheit der einzelnen Erzählungen erge-
ben, und daraus habe ich es auch, wenn mir Alles
noch präsent ist, durchaus entschieden. Eigene Em-
pfindungen hat es in mir erregt, des würdigen alten
Landsmannes Freude über die Fortschritte der wis-
senschaftlichen Freiheit in Würtemberg zu lesen, ver-
möge welcher man daselbst dergleichen jezt unge-
fährdet schreiben könne: zu einer Zeit, wo ich be-
reits auf meine Schrift hin von meiner Repetenten-
stelle am Tübinger Seminar entfernt war.
Wie von seiner Wachsamkeit nicht anders er-
wartet werden konnte, hat sofort auch Herr Dr.
Steudel geglaubt, den verderblichen Wirkungen mei-
ner Schrift durch ein „Vorläufig zu Beherzi-
gendes“ *) zuvorkommen zu sollen. Man hat die-
[VI]Vorrede.
sem Mann schon so oft gesagt, dass es unschicklich
ist, wissenschaftliche Verhandlungen auf das morali-
sche Gebiet hinüberzuspielen, dem Gegner seine
Ansichten in's Gewissen zu schieben, und den Nicht-
orthodoxen als Irreligiösen zu brandmarken. Dennoch
hat er auch diessmal wieder den gewohnten Ton an-
gestimmt. Es ist freilich das Leichteste, statt in die
Sache einzugehen, vielmehr vorläufig um sie herum zu
reden, und beiläufig den Gegner mit gehässigen Insi-
nuationen zu verwunden, zumal wenn einem derglei-
chen Praktiken von sonst her schon geläufig sind.
Dass aber damit nichts ausgerichtet ist, liegt am Ta-
ge. Oder ja, man richtet etwas aus damit, nämlich
den Gegner bei'm grossen Publikum, das die Sache
nicht versteht, recht schwarz zu machen. Dazu brauch-
te es dann aber keinen Doctor der Theologie, son-
dern man konnte es ruhig dem Gerede der Conven-
tikel und dem Geschreibe der Tractätchengesellschaf-
ten überlassen.
Auch angeblich vom Standpunkt der Philosophie
ist meine Schrift beurtheilt worden durch Herrn Prof.
Eschenmayer, in einer Broschüre mit dem Titel: der
[VII]Vorrede.
Ischariotismus unsrer Tage. Diese Ausgeburt der le-
gitimen Ehe [zwischen] theologischer Ignoranz und reli-
giöser Intoleranz, eingesegnet von einer schlafwan-
delnden Philosophie, fällt so sehr durch sich selbst
in's Lächerliche, dass sie jedes Wort der Vertheidi-
gung überflüssig macht. Ihr Titel überdiess ist mir
zu einer fast gar zu stolzen Erinnerung Anlass gewor-
den. An Lessing nämlich, den auch einmal Wie-
ner Blätter als zweiten Judas Ischariot verklatsch-
ten, weil er — freilich eine noch massivere Beschul-
digung, als sie Herr E. gegen mich erhebt — für die
Herausgabe der Fragmente seines Ungenannten von
der Amsterdamer Judenschaft sich 1000 Dukaten soll-
te haben bezahlen lassen. An ihn hätte mich übri-
gens schon Herrn Dr. Steudel's Vorläufig zu Be-
herzigendes erinnern können, wenn ich es mit Vor-
bildern und Weissagungen leichter nähme, denn auch
gegen Lessing war „Etwas Vorläufiges“ erschienen
vom Hauptpastor Göze, gottseligen Andenkens, was
der heitere Mann, der Geschmeidigkeit wegen,
lieber das vorläufige Etwas nannte. Und so will ich
denn die Vorrede zu diesem zweiten Bande meines
[VIII]Vorrede.
angeblich anstössigen Werks mit den Worten schlies-
sen, mit welchen Lessing erklärt hat, warum er es
nicht bei Herausgabe der ersten Probe jener ärgerli-
chen Fragmente, wie ich nicht bei'm ersten Theile
dieses Buchs, habe bewenden lassen: „darum nicht,
weil ich überzeugt bin, dass diess Ärgerniss über-
haupt nichts als ein Popanz ist, mit dem gewisse
Leute gern allen und jeden Geist der Prüfung ver-
scheuchen möchten; darum nicht, weil es schlech-
terdings zu nichts hilft, den Krebs nur halb schnei-
den zu wollen; darum nicht, weil dem Feuer muss
Luft gemacht werden, wenn es gelöscht werden soll“.
Ludwigsburg im Oktober 1835.
Der Verfasser.
[[IX]]
Inhalt des zweiten Bandes.
- Seite
- (Zweiter Abschnitt.)
Neuntes Kapitel. Die Wunder Jesu1—251 - §. 87. Jesus als Wunderthäter 1
- §. 88. Die Dämonischen, allgemein betrachtet 5
- §. 89. Jesu Dämonenaustreibungen einzeln betrachtet 21
- §. 90. Heilungen von Aussätzigen 52
- §. 91. Blindenheilungen 60
- §. 92. Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankhei-
ten als Sündenstrafen betrachtet habe 83 - §. 93. Unwillkührliche Heilungen 93
- §. 94. Heilungen in die Ferne 103
- §. 95. Sabbatheilungen 122
- §. 96. Todtenerweckungen 133
- §. 97. Sturm-, See- und Fischgeschichten 173
- §. 98. Die wunderbare Speisung 197
- §. 99. Jesus verwandelt Wasser in We'n 219
- §. 100. Jesus verwünscht einen unfruchtbaren Feigenbaum 236
- Zehntes Kapitel. Jesu Verklärung und
lezte Reise nach Jerusalem252—300 - §. 101. Die Verklärung Jesu als wunderbarer äusserer
Vorgang 252 - §. 102. Die natürliche Auffassung der Erzählung in ver-
schiedenen Formen 256 - §. 103. Die Verklärungsgeschichte als Mythus 263
- §. 104. Abweichende Nachrichten über die lezte Reise
Jesu nach Jerusalem 274 - Seite
- §. 105. Abweichungen der Evangelien in Hinsieht auf den
Ausgangspunkt des Einzugs Jesu in Jerusalem 281 - §. 106. Näherer Hergang bei dem Einzug. Zweck und hi-
storische Realität desselben 287 - Dritter Abschnitt. Geschichte des Leidens,
Todes, und der Auferstehung Jesu301—685 - Erstes Kapitel. Verhältniss Jesu zu der
Idee eines leidenden und sterbenden
Messias; seine Reden von Tod, Aufer-
stehung und Wiederkunft303—373 - §. 107. Ob Jesus sein Leiden und seinen Tod in bestimm-
ten Zügen vorhergesagt habe? 303 - §. 108. Jesu Todesverkündigung im Allgemeinen; ihr Ver-
hältniss zu den jüdischen Messiasbegriffen; Aus-
sprüche Jesu über den Zweck und die Wirkun-
gen seines Todes 311 - §. 109. Bestimmte Aussprüche Jesu über seine künftige
Auferstehung 324 - §. 110. Bildliche Reden, in welchen Jesus seine Auferste-
hung vorherverkündigt haben soll 329 - §. 111. Die Reden Jesu von seiner Parusie. Kritik der
verschiedenen Auslegungen 341 - §. 112. Ursprung der Reden über die Parusie 355
- Zweites Kapitel. Anschläge der Feinde
Jesu; Verrath des Judas; leztes Mahl
mit den Jüngern374—442 - §. 113. Entwicklung des Verhältnisses Jesu zu seinen Feinden 374
- §. 114. Jesus und sein Verräther 380
- §. 115. Verschiedene Ansichten über den Charakter des Ju-
das, und die Motive seines Verraths 390 - §. 116. Bestellung des Paschamahls 396
- §. 117. Abweichende Angaben über die Zeit des lezten
Mahles Jesu 402 - Seite
- §. 118. Differenzen in Betreff der Vorgänge beim lezten
Mahle Jesu 415 - §. 119. Verkündigung des Verraths und der Verleugnung 425
- §. 120. Die Einsetzung des Abendmahls 436
- Drittes Kapitel. Gang nach dem Oelberg,
Gefangennehmung, Verhör, Verur-
theilung und Kreuzigung Jesu443—553 - §. 121. Jesu Seelenkampf im Garten 443
- §. 122. Verhältniss des vierten Evangeliums zu den Vor-
gängen in Gethsemane. Die johanneischen Ab-
schiedsreden und die Scene bei Anmeldung der
Hellenen 454 - §. 123. Gefangennehmung Jesu 472
- §. 124. Jesu Verhör vor dem Hohenpriester 480
- §. 125. Die Verleugnung des Petrus 489
- §. 126. Der Tod des Verräthers 498
- §. 127. Jesus vor Pilatus und Herodes 511
- §. 128. Die Kreuzigung 527
- Viertes Kapitel. Tod und Auferstehung
Jesu554—663 - §. 129. Die Naturerscheinungen bei'm Tode Jesu 554
- §. 130. Der Lanzenstich in die Seite Jesu 565
- §. 131. Begräbniss Jesu 574
- §. 132. Die Wache am Grabe Jesu 582
- §. 133. Erste Runde der Auferstehung 590
- §. 134. Galiläische und judäische, paulinische und apokry-
phische Erscheinungen des Auferstandenen 609 - §. 135. Die Qualität des Leibs und Wandels Jesu nach
der Auferstehung 629 - §. 136. Die Debatte über die Realität des Todes und der
Auferstehung Jesu 645 - Fünftes Kapitel. Die Himmelfahrt664—685
- §. 137. Die lezten Anordnungen und Verheissungen Jesu 664
- §. 138. Die sogenannte Himmelfahrt als übernatürliches
und als natürliches Ereigniss 672 - Seite
- §. 139. Das Ungenügende der Nachrichten über Jesu Him-
melfahrt. Deren mythische Auffassung 677 - Schluſsabhandlung. Die dogmatische Bedeu-
tung des Lebens Jesu686—744 - §. 140. Nothwendiger Übergang der Kritik in das Dogma 686
- §. 141. Die Christologie des orthodoxen Systems 689
- §. 142. Bestreitung der kirchlichen Lehre von Christo 701
- §. 143. Die Christologie des Rationalismus 707
- §. 144. Eine eklektische Christologie. Schlkiermacher710
- §. 145. Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant.
de Wette720 - §. 146. Die speculative Christologie 729
- §. 147. Leztes Dilemma 732
Neuntes Kapitel.
Die Wunder Jesu.
§. 87.
Jesus als Wunderthäter.
Daſs das jüdische Volk zu Jesu Zeit vom Messias
Wunderthaten erwartete, ist theils an sich schon natür-
lich, da ihm der Messias ein zweiter Moses und der
gröſste Prophet war, von Moses und den Propheten aber
die heilige Nationalsage Wunder aller Art erzählte; theils
läſst es sich aus späteren jüdischen Schriften wahrschein-
lich machen 1); theils wird es aus den Evangelien selbst
gewiſs. Als Jesus einmal einen dämonischen Blindstum-
men (ohne natürliche Mittel) geheilt hatte, wurde das
Volk dadurch auf die Vermuthung geführt:
μήτι οὗτός ἐςιν
ὁ υἱὸς Δαυίδ
(Matth. 12, 23); zum Beweiſs, daſs man
eine wunderbare Heilkraft als Attribut des Messias be-
trachtete. Johannes der Täufer wurde durch das Gerücht
von den ἔργοις Jesu zu der Frage an ihn veranlaſst, ob
er der ἐρχόμενος sei? worauf sich Jesus, zum Beleg, daſs
er es sei, nur wieder auf seine Wunderthaten berief
(Matth. 11, 2 ff. parall.). Auf dem Laubhüttenfest, das
Jesus in Jerusalem feierte, wurden Viele vom Volk an
ihn glaubig, indem sie dachten,
ὅτι ὁ Χριςὸς ὅταν ἔλϑῃ,
Das Leben Jesu II. Band. 1
[2]Zweiter Abschnitt.
μήτι πλείονα σημεῖα τούτων ποιήσει, ῶν οὖτος ἐποίησεν
(Joh. 7, 31);
Doch nicht bloſs, daſs er überhaupt Wunder thun
sollte, sondern auch die verschiedenen Arten von Wun-
dern, welche der Messias verrichten würde, waren in
der Volkserwartung vorherbestimmt. Auch dieſs durch
alttestamentliche Vorbilder und Aussprüche. Durch Moses
war dem Volke auf übernatürliche Art Speise und Trank
gewährt worden (2 Mos. 16, 17): ein Gleiches erwartete
man, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, vom Messias;
auf Elisa's Bitten waren den Einen die Augen auf über-
natürliche Weise verschlossen, den Andern ebenso geöff-
net worden (2 Kön. 6.): auch der Messias sollte die Au-
gen der Blinden aufthun; selbst Todte hatte der genannte
Prophet und sein Lehrer wiederbelebt (1 Kön. 17. 2 Kön. 4):
so konnte auch dem Messias die Macht über den Tod nicht
fehlen 2). Unter den Weissagungen war besonders Jes.
35, 5 f. auf diese Seite der Messiasvorstellung von Ein-
fluſs. Hier war von der messianischen Zeit gesagt (LXX.):
τότε ἀνοιχϑήσονται ὀφϑαλμοὶ τυφλῶν, καὶ ὦτα κωφῶν ἀκού-
σονται· τότε ἁλεῖται ὡς ἐλαφος ὁ χωλὸς, τρανὴ δὲ ἔςαι γλῶσ-
σα μογιλάλων
, was, bei Jesaias zwar in bildlichem Zusam-
menhang, doch bald eigentlich verstanden wurde, wie daraus
erhellt, daſs Jesus den Boten des Johannes gegenüber
(Matth. 11, 5.) mit offenbarer Beziehung auf diese Pro-
phetenstelle seine Wunderthaten beschreibt.
Diese Erwartung trat auch Jesu, sofern er zunächst
für einen Propheten, weiterhin für den Messias sich gab
und gehalten wurde, als Forderung entgegen, wenn er
nach mehreren bereits betrachteten Stellen (Matth. 12, 38.
16, 1. parall.) von seinen pharisäischen Gegnern um ein
σημεῖον angegangen wurde; wenn nach der gewaltsamen
Vertreibung der Verkäufer und Wechsler aus dem Tempel
[3]Neuntes Kapitel. §. 87.
die Juden ein legitimirendes σημεῖον von ihm verlangten
(Joh. 2, 18.), und das Volk in der Synagoge von Kaper-
naum, als er Glauben an sich als den von Gott gesandten
forderte, zur Bedingung dieses Glaubens machte, daſs er
ihm ein σημεῖον zeigen sollte (Joh. 6, 30.).
Den neutestamentlichen Nachrichten zufolge hat Je-
sus dieser Anforderung, welche seine Zeitgenossen an den
Messias machten, mehr als genug gethan. Nicht nur be-
steht ein beträchtlicher Theil der evangelischen Erzählun-
gen aus Beschreibungen seiner Wunderthaten; nicht nur
riefen nach seinem Tode seine Anhänger vor Allem auch
die von ihm verrichteten δυνάμεις, σημεῖα und τέρατα den
Juden in das Gedächtniſs zurück (A. G. 2, 22.): sondern
das Volk selbst war schon zu seinen Lebzeiten nach die-
ser Seite so durch ihn befriedigt, daſs viele deſswegen an
ihn glaubten (Joh. 2, 23. vgl. 6, 2.), daſs man ihn dem
Täufer, der kein σημεῖον gethan hatte, entgegenstellte (Joh.
10, 41.), und selbst vom künftigen Messias nicht glaubte,
daſs er ihn in dieser Hinsicht werde überbieten können
(Joh. 7, 31.). Daſs es Jesus an Wundern hätte fehlen las-
sen, scheinen jene Zeichenforderungen um so weniger zu
beweisen, da mehrere derselben unmittelbar nach bedeuten-
den Wunderakten gemacht wurden, so Matth. 12, 38. nach
der Heilung eines Dämonischen, Joh. 6, 30. nach der
Speisung der Fünftausend. Freilich ist eben diese Stellung
schwierig; denn wie die Juden die zwei genannten nicht
als rechte σημεῖα gelten gelassen haben sollten, ist nicht
wohl zu begreifen, da namentlich die Dämonenaustreibun-
gen sehr hoch gehalten wurden (Luc. 10, 17.); es müſste
denn das in jenen beiden Stellen geforderte Zeichen aus
Luc. 11, 16. (vgl. Matth. 16, 1. Marc. 8, 11.) als σημεῖον
ἐξ οὐρανοῦ näher bestimmt, und dabei an das specifisch-mes-
sianische ‘σημεῖον τοῦ υιοῦ τοῦ ἀνϑρώπου ἐν τῷ οὐρανῷ’ (Matth.
24, 30.) gedacht werden. Will man aber lieber die Ver-
bindung jener Zeichenforderungen mit vorhergegangenen
1 *
[4]Zweiter Abschnitt.
Wunderacten auflösen, so kann Jesus ganz wohl zahlreiche
Wunder gethan, und dennoch einige feindselige Pharisäer,
welche zufällig noch bei keinem derselben Augenzeugen
gewesen waren, nun auch selbst eines zu sehen verlangt
haben.
Auch daſs die Antwort Jesu auf solche Wunderfor-
derungen jedesmal ablehnend ist, beweist an sich gar nicht,
daſs er nicht in andern Fällen freiwillig Wunder gethan
haben könnte, wo ihm solche besser angelegt schienen.
Wenn er in Bezug auf die Forderung der Pharisäer Marc.
8, 12. erklärt, es w[e]rde τῇ γενεᾷ ταύτῃ gar keines, oder
Matth. 12, 39 f. 16, 4. Luc. 11, 29 f., es werde ihr kein
Zeichen ausser dem σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου gegeben wer-
den: so kann er ja unter dieser γενεὰ, welche er bei Mat-
thäus und Lukas als πονηρὰ καὶ μοιχαλίς näher bestimmt,
auch nur den ihm feindlichen pharisäischen Theil seiner
Zeitgenossen verstanden, und versichern gewollt haben,
daſs für diesen, sei es gar kein, oder nur das Zeichen des
Jonas, d. h., wie er es bei Matthäus deutet, das Wunder
seiner Auferstehung geschehen werde. Allein nimmt man
das οὐ δοϑήσεται αὐτῇ in dem Sinn, daſs seine Feinde nicht
selbst ein Zeichen von ihm zu sehen bekommen sollen: so
müſste es theils sonderbar zugegangen sein, wenn unter
den vielen in der gröſsten Öffentlichkeit von Jesu verrich-
teten Wundern bei keinem sollten Pharisäer zugegen ge-
wesen sein, theils wird dieſs Matth 12, 24 f. parall. wo sie
offenbar als gegenwärtig bei der Heilung des Blindstum-
men vorausgesezt werden, ausdrücklich widersprochen.
Überdieſs, wenn hier von selbstgesehenen Zeichen die Re-
de sein soll, so bekamen ja die Auferstehung Jesu und den
Auferstandenen seine Feinde gleichfalls nicht zu sehen, so
daſs mithin jener Ausspruch nicht blos den Sinn haben
kann, seine Feinde sollten vom Selbstsehen seiner Wunder
ausgeschlossen werden. Möchte man daher bei dem δο-
ϑήσεται αὐτῇ an ein Geschehen zum Besten der bezeich-
[5]Neuntes Kapitel. §. 88.
neten Subjekte denken: so sind die übrigen Wunder und
die Auferstehung Jesu in gleichem Sinn zu ihrem Besten
geschehen oder nicht, nämlich dem Erfolg nach nicht, wohl
aber dem Zwecke nach. Es bleibt also nichts übrig, als
die γενεὰ von den Zeitgenossen Jesu überhaupt, und eben-
so das δίδοσϑαι von möglicher Wahrnehmung überhaupt,
mittelbarer wie unmittelbarer, zu verstehen, so daſs Jesus
hier alle Wunderthätigkeit überhaupt abgelehnt, und ein-
zig nur auf das bevorstehende Wunder seiner Auferste-
hung verwiesen hat. Übel freilich scheint sich dieſs mit den
vielen Wundererzählungen in den Evangelien zu vertragen,
zu deren Betrachtung wir jezt übergehen, indem wir aus
einem Grunde, der unten von selbst erhellen wird, zuerst
die Dämonenaustreibungen vornehmen.
§. 88.
Die Dämonischen, allgemein betrachtet.
Während im vierten Evangelium die Ausdrücke δαι-
μόνιον ἔχειν und δαιμονιζόμενος nur im Munde der Juden
als Beschuldigung gegen Jesum, parallel mit μαίνεσϑαι
vorkommen (8, 48 f. 10, 20 f. vgl. Marc. 3, 22. 30. Matth.
11, 18.), sind in den drei ersten Dämonische, man kann
sagen die gewöhnlichsten Gegenstände der heilenden Thä-
tigkeit Jesu. Gleich wo sie die Anfänge seiner Wirksam-
keit in Galiläa beschreiben, stellen die Synoptiker unter
den Kranken, welche Jesus geheilt habe, die δαιμονιζομέ-
νους 1) oben an (Matth. 4, 24. Marc. 1, 34.), und diese
spielen durchweg in ihren summarischen Berichten von der
Wirksamkeit Jesu in gewissen Gegenden eine Hauptrolle
[6]Zweiter Abschnitt.
(Matth. 8, 16 f. Marc. 1, 39. 3, 11 f. Luc. 6, 18.). Auch
seinen Jüngern theilt Jesus vor allem Andern die Voll-
macht mit, Dämonen auszutreiben (Matth. 10, 1. 8. Marc.
3, 15. 6, 7. Luc. 9, 1.), was ihnen zu ihrer besondern
Freude wirklich nach Wunsch gelang (Luc. 10, 17. 20.
Marc. 6, 13.).
Ausser diesen summarischen Angaben aber werden
uns auch die Heilungen mehrerer Dämonischen im Einzel-
nen erzählt, so daſs wir uns eine ziemlich genaue Vorstel-
lung von dem eigenthümlichen Zustand dieser Leute ma-
chen können. Gleich bei demjenigen, dessen Heilung in
der Synagoge zu Kapernaum die Evangelisten als die er-
ste dieser Art setzen (Marc. 1, 23 ff. Luc. 4, 33 ff.), fin-
den wir einestheils eine Alterirung des Selbstbewuſstseins,
vermöge deren der Besessene in der Person des Dämon
redet, was sich auch bei andern Dämonischen, wie bei
den Gadarenischen (Matth. 8, 29 f. parall.), wiederholt;
anderntheils Krämpfe und Convulsionen mit wildem Ge-
schrei. Dieses krampfhafte Wesen findet sich bei jenem
Dämonischen, der zugleich als Mondsüchtiger bezeichnet
ist (Matth. 17, 14 ff. parall.) deutlich als Fallsucht ausge-
bildet; denn das plözliche Niederstürzen, oft an gefährli-
chen Orten, das Brüllen, Zähne knirschen und Schäumen
sind bekannte Symptome der Epilepsie 2). Die andre Seite,
die Störung des Selbstbewuſstseins, erscheint besonders
bei dem Gadarenischen Besessenen, neben dem, daſs gleich-
falls der Dämon, oder vielmehr eine Mehrheit von solchen
als Subjekt aus ihnen spricht, zum menschenscheuen Wahn-
sinn mit Anfällen einer gegen sich und Andre wüthenden
Tobsucht gesteigert 3). Doch nicht blos Wahnsinnige und
Epileptische, sondern auch Stumme (Matth. 9, 32. Luc. 11,
[7]Neuntes Kapitel. §. 88.
14. Matth. 12, 22. ist der δαιμονιζόμενος κωφὸς zugleich
τυφλὸς), und an gichtischer Verkrümmung des Körpers
Leidende (Luc. 13, 11. ff.) werden mehr oder minder be-
stimmt als Dämonische bezeichnet.
Die in den Evangelien vorausgesezte, auch von de-
ren Verfassern getheilte Vorstellung von diesen Leidenden
ist die, daſs ein böser, unreiner Geist (δαιμόνιον, πνεῦμα
ἀκάϑαρτον) oder mehrere, sich ihrer bemächtigt haben (da-
her ihr Zustand durch δαιμόνιον ἔχειν, δαιμονίζεσϑαι be-
zeichnet wird), welche nun aus ihnen reden (so Matth. 8,
31. οἱ δαίμονες παρεκάλουν αὐτὸν λέγοντες), und ihre Glied-
maſsen nach Belieben in Bewegung setzen (so Marc. 9, 20.
τὸ πνεῦμα ἐσπάραξεν αὐτὸν), bis sie bei der Heilung, mit
Gewalt ausgetrieben, den Menschen verlassen (ἐκβάλλειν,
ἐξέρχεσϑαι). Nach der evangelischen Darstellung hatte auch
Jesus diese Ansicht von der Sache. Zwar, wenn er zum
Behuf der Heilung von Besessenen den in ihnen befindli-
chen Dämon anredet (wie Marc. 9, 25. Matth. 8, 32. Luc.
4, 35.): so könnte man dieſs allerdings mit Paulus4) als
Eingehen in die fixe Idee dieser mehr oder minder verrück-
ten Personen ansehen, wozu der psychische Arzt, um wir-
ken zu können, sich bequemen muſs, so sehr er von dem
Ungrund jener Vorstellung überzeugt sein mag. Allein wenn
nun Jesus auch in Privatunterhaltungen mit seinen Jüngern
diesen nicht allein niemals etwas zur Untergrabung jener
Vorstellung sagt, sondern vielmehr wiederholt aus der Vor-
aussetzung eines dämonischen Grundes jener Zustände
heraus spricht (so, ausser dem Auftrag: δαιμόνια ἐκβάλ-
λετε Matth. 10, 8. noch Luc. 10, 18. ff. und besonders Matth.
17, 21. parall.: τοῦτο τὸ γένος, sc. δαιμονίων, οὺκ ἐκπορεύε-
ται κ. τ. λ.), wenn er in einer rein theoretischen Ausfüh-
rung, vielleicht ebenfalls im engeren Kreise seiner Jünger,
eine ganz den damaligen Volksvorstellungen sich anschlies-
Bogen 1. ist S. 7 u. 8 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.
[8]Zweiter Abschnitt.
sende Beschreibung vom Ausgehen der Dämonen, ihrem
Umirren in der Wüste und ihrer verstärkten Rückkehr
giebt (Matth. 12, 43 ff.): so kann man nur ein Zurechtma-
chen der Vorstellungen Jesu nach den unsrigen darin se-
hen, wenn sonst unbefangene Forscher, wie Winer5), Je-
sum die Meinung des Volks von der Ursache dieser Krank-
heiten nicht theilen, sondern sich ihr nur anbequemen
lassen. Um von jedem Gedanken an bloſse Accommoda-
tion abzukommen, darf man sich nur die zulezt bemerkte
Stelle genauer ansehen. Zwar hat man das Beweisende
derselben dadurch zu umgehen gesucht, daſs man sie bild-
lich nahm, oder gar als eine Parabel bezeichnete 6). Dabei,
wenn wir monstra von Ausdeutungen, wie diejenige, wel-
che nach Calmet noch Olshausen giebt 7), bei Seite lassen,
kommt das Wesentliche der Erklärung des vorgeblichen
Bildes immer darauf hinaus, daſs oberflächliche Bekehrung
zu der Sache Jesu einen nur um so schlimmern Rückfall
nach sich ziehe 8). Allein ich möchte wissen, was uns
denn überhaupt berechtigt, von der eigentlichen Auffassung
dieser Rede abzuweichen? In den Sätzen selbst liegt kei-
ne Andeutung, ebensowenig in der anderweitigen Darstel-
lungsweise Jesu, welcher sonst nirgends sittliche Verhält-
nisse in das Bild dämönischer Zustände hüllt, sondern wo
er noch, wie hier, von ἐξέρχεσϑαι der bösen Geister spricht,
wie Matth. 17, 21. dieſs eigentlich will verstanden wissen.
Aber in dem Zusammenhang der Erzählung? Lukas (11,
24, ff.) stellt den in Frage stehenden Ausspruch hinter die
Vertheidigung Jesu gegen die pharisäische Beschuldigung,
[9]Neuntes Kapitel. §. 88.
die Dämonen durch Beelzebul auszutreiben, — ohne Zwei-
fel irrig, wie wir gesehen haben, aber doch wohl zum Be-
weis, daſs er sie eigentlich von wirklichen Dämonen ver-
standen hat. Auch Matthäus stellt den Ausspruch in die
Nähe jener Beschuldigung und Apologie, doch schiebt er
die Zeichenforderung nebst Jesu Gegenäusserungen dazwi-
schen, und läſst Jesum am Schlusse die Nutzanwendung
machen: οὕτως ἔςαι καὶ τῇ γενεᾷ ταύτῃ τῇ πονηρᾷ. Dadurch
giebt er freilich der Rede eine bildliche Beziehung auf
den sittlich-religiösen Zustand seiner Zeitgenossen, aber
ohne Zweifel nur so, daſs er die vorangeschickte Beschrei-
bung des vertriebenen und wiederkehrenden Dämons ei-
gentlich von Besessenen gemeint hat, hierauf aber diesen
Hergang auch wieder als Bild des moralischen Zustandes
seiner Zeitgenossen wendet. Jedenfalls giebt Lukas, der
diesen Beisaz nicht hat, die Rede Jesu, wie Paulus sich
ausdrückt, als eine Warnung vor dämonischer Recidive.
Daſs nun die meisten jetzigen Theologen ohne bestimmten
Vorschub von Seiten des Matthäus, und in bestimmtem
Widerspruch gegen Lukas, den Ausspruch bloſs bildlich
fassen wollen, dieſs scheint nur in der Scheue seinen Grund
zu haben, Jesu eine so ausgeführte Dämonologie zuzuschrei-
ben, wie sie in den eigentlich gefaſsten Worten liegt. Ei-
ner solchen aber entgeht man auch abgesehen von dieser
Stelle dennoch nicht. Matth. 12, 25 f. 29. spricht Jesus
von einem Reich und Haushalt des Teufels in einer Weise,
welche über das blos Figürliche augenscheinlich hinaus-
geht, besonders aber ist die schon angeführte Stelle, Luc.
10, 18—20. von der Art, daſs sie selbst einem Paulus,
der sonst den geheiligten Personen der christlichen Urge-
schichte so gerne die Einsichten unsers Zeitalters leiht, das
Geständniſs abnöthigt, das Satansreich sei Jesu durchaus
nicht bloſs Symbol des Bösen gewesen, und er habe na-
mentlich wirkliche Dämonenbesitzungen angenommen. Denn,
sagt er ganz richtig, da hier Jesus nicht zu den Kranken,
[10]Zweiter Abschnitt.
nicht zum Volk, sondern zu solchen spreche, welche selbst
von dergleichen Krankheiten nach seiner Anleitung befrei-
ten, so sei es nicht als bloſse Anbequemung erklärbar,
wenn er ihr τὰ δαιμόνια ὑποτάσσεται ἡμῖν bestätigend
wieder aufnehme, und ihre Befähigung zur Heilung der
Dämonischen als eine Gewalt über die δύναμις τοῦ ἐχϑροῦ
beschreibe 9). Ebenso treffend hat derselbe Theologe an
andern Orten dem Anstoſs, welchen solche, deren Bildung
mit dem Glauben an Dämonenbesitzungen sich nicht ver-
trägt, an dem Ergebniſs nehmen könnten, daſs Jesus jenen
Glauben gehabt habe, durch die Bemerkung vorgebeugt,
daſs selbst der ausgezeichnetste Geist eine unrichtige Zeit-
vorstellung beibehalten könne, sofern sie nicht gerade im
Bereich seines besondern Nachdenkens liege[10)].
Erläuternd für die neutestamentlichen Vorstellungen
von den Dämonischen sind die Ansichten, welche wir bei
andern mehr oder minder gleichzeitigen Schriftstellern
über diese Materie finden. Die allgemeinen Begriffe von
Einflüssen böser Geister auf den Menschen, welche Melan-
cholie, Wahnsinn, Epilepsie zur Folge haben, waren zwar
schon frühe bei Griechen 11) wie bei Hebräern 12) verbrei-
tet: aber die bestimmtere Vorstellung, daſs die bösen Gei-
ster in den Leib des Menschen fahren und von demselben
Besiz nehmen, hat sich nachweislich doch erst ziemlich
spät, in Folge allgemeiner Verbreitung der orientalischen,
[11]Neuntes Kapitel. §. 88.
namentlich persischen, Pneumatologie unter Hebräern und
Griechen ausgebildet 13). Daher denn bei Josephus die
Rede von δαιμόνια τοῖς ζῶσιν εἰσδυόμενα 14), ἐγκαϑεζόμε-
να15), und dieselben Vorstellungen auch bei Lucian 16)
und Philostratus 17).
Über die Natur und Herkunft dieser Geister finden
wir in den Evangelien nichts ausdrücklich bemerkt, als
daſs sie zum Haushalt des Satan gehören (Matth. 12, 26 ff.
parall.), weſswegen denn, was einer von ihnen thut, auch
geradezu dem Satan zugeschrieben wird (Luc. 13, 16).
Durch Josephus 18), Justin den Märtyrer 19) und Philo-
stratus 20), mit welchen auch rabbinische Schriften über-
einstimmen 21), erfahren wir nun aber, daſs diese Dämo-
nien von Hause aus eigentlich abgeschiedene Seelen böser
Menschen seien, und neuere Theologen haben keinen An-
stand genommen, diese Ansicht von ihrer Herkunft auch
dem N. T. unterzulegen 22). Näher bestimmen jedoch
[12]Zweiter Abschnitt.
Justin und die Rabbinen vorzugsweise die Seelen der Rie-
sen, der Abkömmlinge jener Engel, welche sich mit den
Töchtern der Menschen vermischten, und die Rabbinen
ferner noch die Seelen der in der Sündfluth Umgekomme-
nen und der Theilhaber am babylonischen Thurmbau als
Plagegeister für die Überlebenden 23), womit auch die
Klementinen zusammenstimmen, nach welchen gleichfall;
jene zu Dämonen gewordenen Riesenseelen sich als die
stärkeren an menschliche Seelen zu hängen, und in Men-
schenleiber zu fahren suchen 24). Da nun in der ersteren
weiter lautenden Stelle Justin den Heiden aus ihren ei-
genen Vorstellungen heraus die Unsterblichkeit beweisen
will, so ist die Ansicht von den Dämonen als Seelen Ver-
storbener überhaupt, welche er dort äussert, zumal sein
Schüler Tatian sich ausdrücklich gegen diese Vorstellung
erklärt 25), schwerlich als seine eigene zu betrachten;
Josephus aber entscheidet für die im N. T. zum Grunde
22)
[13]Neuntes Kapitel. §. 88.
liegende Ansicht deſswegen nichts, weil sich seiner grie-
chischen Bildung wegen sehr fragt, ob er jene Lehre in
der ursprünglich jüdischen, oder in gräcisirter Gestalt
wiedergiebt. Darf man nun annehmen, daſs die Dämo-
nenlehre zu den Hebräern von Persien her gekommen sei:
so waren die Dew's der Zendreligion bekanntlich vor der
Menschenwelt entstandene, von Hause aus böse Geister,
an welchen der Hebraismus für sich nur den lezteren,
dem Dualismus angehörigen Zug, nicht aber den ersteren,
zu verwischen veranlaſst sein konnte. So wurden die
Dämonen in der hebräischen Ansicht die gefallenen Engel
von 1 Mos. 9, die Seelen ihrer Kinder, der Riesen, und
der groſsen Verbrecher vor und unmittelbar nach der
Sündfluth überhaupt, welche die Volksvorstellung allmäh-
lig in das Übermenschliche hinaufgesteigert hatte; über
den Kreis dieser Seelen jedoch, die man sich als den
Hofstaat des Satans denken mochte, lag in den Vorstel-
lungen der Hebräer kein Grund herabzusteigen. Ein sol-
cher lag nur in der mit der hebräischen zusammentreffen-
den griechisch-römischen Bildung: diese hatte keinen
Satan, also auch keinen eigenthümlichen, ihm dienenden
Geisterstaat, wohl aber hatte sie ihre Manen, Lemuren
u. dgl., sämmtlich abgeschiedene Menschengeister, welche
die Lebenden beunruhigten. Produkt nun der Ausglei-
chung jener jüdischen Vorstellungen, mit diesen griechisch-
römischen scheint die Darstellungsweise des Josephus und
Justin, wie auch der späteren Rabbinen zu sein: daſs
aber auch schon im N. T. eine solche zu finden sei, folgt
hieraus nicht. Sondern, wenn wir hier diese gräcisirte
Vorstellungsweise nicht positiv angezeigt finden, wie sie
es denn nirgends ist, vielmehr an einigen Orten die Dä-
monen mit dem Satan als sein zugehöriger Haushalt in
Verbindung gesezt sind: so müssen wir, bei der sonsti-
gen (soweit keine Umbildung in christlichem Sinne ein-
trat) unvermischt jüdischen Denkweise der synoptischen
[14]Zweiter Abschnitt.
Evangelien, vielmehr jene rein und ursprünglich jüdische
Vorstellung als die ihrige voraussetzen.
Die ältere Theologie nun hat bekanntlich, in Betracht
der Auktorität Jesu und der Evangelisten, die Ansicht
von einem wirklichen Besessensein jener Menschen durch
Dämonen zu der ihrigen gemacht. Die neuere Theologie
dagegen, besonders seit Semler26), in Betracht der auf-
fallenden Ähnlichkeit, welche zwischen dem Zustand der
neutestamentlichen Dämonischen und mancher natürlich
Kranken unsrer Zeit stattfindet, hat angefangen, auch
das Übel von jenen aus natürlichen Ursachen abzuleiten,
und die im N. T. vorausgesezte übernatürliche Ursache
auf Rechnung der Vorstellungen jener Zeit zu schreiben.
Daſs, wo in jetziger Zeit Epilepsie, Wahnsinn und selbst
eine, dem Zustand der neutestamentlichen Besessenen ähn-
liche Alteration des Selbstbewusstseins vorkommen, doch
nicht leicht mehr an dämonischen Einfluſs gedacht wird,
hat seinen Grund einerseits darin, daſs der fortgeschrittenen
Natur- und Seelenkunde jezt mehr Mittel und Anknü-
pfungspunkte zur natürlichen Erklärung jener Zustände
zu Gebote stehen, theils darin, daſs man die Widersprü-
che, welche in der Vorstellung des Besessenseins liegen,
wenigstens dunkel zu erkennen angefangen hat. Denn
abgesehen von den oben auseinandergesezten Schwierig-
keiten, welche die Annahme der Existenz von Teufel und
Dämonen überhaupt drücken, so mag man sich das Ver-
hältniſs zwischen dem Selbstbewuſstsein und den leibli-
chen Organen denken wie man will, immer ist doch das
schlechterdings nicht vorzustellen, wie das Band zwischen
beiden so lose sein sollte, daſs ein fremdes Selbstbewuſst-
[15]Neuntes Kapitel. §. 88.
sein sich einschieben, und mit Verdrängung des zum Or-
ganismus gehörigen, diesen in Besiz nehmen könnte. So
ergiebt sich für jeden, welcher die Erscheinungen der
Gegenwart mit aufgeklärten, und doch die Erzählungen
des N. Ts. noch mit orthodoxen Augen betrachtet, der
Widerspruch, daſs dasselbe, was jezt aus natürlichen
Ursachen kommt, zu Jesu Zeiten übernatürlich müsste
verursacht gewesen sein.
Diesen undenkbaren Unterschied der Zeiten wegzu-
bringen, und doch dem N. T. nichts zu vergeben, läugnet
Olshausen, welchen wir für diesen Punkt füglich als Re-
präsentanten der mystischen Theologie und Philosophie
jetziger Zeit betrachten können, Beides, sowohl daſs jezt
alle dergleichen Zustände natürlich, als daſs damals alle
übernatürlich verursacht gewesen seien. Was unsre Zeit
betrifft, so fragt er, wenn die Apostel in unsre Irrenhäu-
ser träten, wie sie manche der Kranken in denselben
nennen würden 27)? Allerdings, antworten wir, würden
sie viele derselben Besessene nennen, vermöge ihrer Zeit-
und Volksvorstellung nämlich, und nicht vermöge aposto-
lischer Erleuchtung, so daſs also der herumführende Mann
von Fach sie mit Recht eines Bessern zu belehren suchen
würde, und daraus gegen die Natürlichkeit jener Zustände
in unserer Zeit lediglich nichts folgen kann. Von der
Zeit Jesu behauptet der genannte Theologe, auch von den
Juden seien dieselben Krankheitsformen, je nach der ver-
schiedenen Entstehungsart das einemal für dämonisch ge-
halten worden, das andremal nicht, so daſs z. B. einer,
der durch organische Verletzung des Gehirns wahnsinnig,
oder der Zunge stumm geworden war, nicht für dämonisch
gegolten haben würde, sondern nur ein solcher, dessen
Zustand mehr oder minder auch psychisch veranlaſst ge-
wesen sei. Beispiele einer solchen, im Zeitalter Jesu ge-
[16]Zweiter Abschnitt.
machten Unterscheidung bleibt uns Olshausen, wie sich
von selbst versteht, schuldig. Wo hätten auch die dama-
ligen Juden die Kenntniſs der verborgenen natürlichen
Ursachen solcher Zustände hergenommen, wo die Krite-
rien, einen durch Miſsbildung des Gehirns entstandenen
Wahnsinn oder Blödsinn von psychologisch verursachtem
zu unterscheiden? Waren sie nicht ganz und gar auf
die äussere Erscheinung und zwar in ihren gröberen Um-
rissen, angewiesen? Diese aber ist bei einem Epileptischen
mit seinem plözlichen unvorhergesehenen Niederstürzen und
seinen Convulsionen, bei einem Wahnsinnigen mit seinem
Irrereden, namentlich wenn er, durch Rückwirkung der
Volksvorstellungen auf seinen Zustand, in der Person ei-
nes Dritten spricht, von der Art, daſs sie auf eine fremde
den Menschen beherrschende Macht hinweist, und daſs folg-
lich sobald einmal der Glaube an dämonische Besitzungen
im Volke gegeben ist, alle dergleichen Zustände auf solche
zurückgeführt werden werden, wie wir dieſs im N. T. fin-
den; wogegen bei Stummheit und gichtischer Verkrümmung
oder Lähmung die Herrschaft einer fremden Macht schon
weniger entschieden indicirt ist, und diese Leiden also
bald gleichfalls einem besitzenden Dämon zugeschrieben
werden können, bald auch nicht, wie wir jenes bei den
schon erwähnten Stummen Matth. 9, 32. 12, 22. und bei
der verkrümmten Frau, Luc. 13, 11, dieses bei dem κωφὸς
μογιλάλος Marc. 7, 32 ff. und bei den mancherlei Paralyti-
schen, deren in den Evangelien gedacht wird, finden; wo-
bei übrigens die Entscheidung für die eine oder andre An-
sicht gewiſs nicht von Erforschung der Entstehungsweise,
sondern lediglich von der äussern Erscheinung ausgegan-
gen ist. Haben demnach die Juden, und mit ihnen die
Evangelisten, die beiden Hauptarten der hiehergehörigen
Zustände auf dämonischen Einfluſs zurückgeführt, so bleibt
für den, der sich durch ihre Ansicht gebunden glaubt, oh-
ne sich doch der Bildung unsrer Zeit entziehen zu wollen,
[17]Neuntes Kapitel. §. 88.
die grelle Ungleichheit, dieselben Krankheiten in der ei-
nen Zeit sämmtlich als natürliche, in der andern sämmtlich
als übernatürliche denken zu müssen.
Die schlimmste Schwierigkeit aber erwächst für den
Olshausen'schen Vermittlungsversuch zwischen der jüdisch-
neutestamentlichen Dämonologie und der Bildung unsrer
Zeit daraus, daſs dieses leztere Element in ihm der An-
nahme persönlicher Dämonen widerstrebt. Dasselbe, der
Bildung des gedachten Theologen durch die Naturphiloso-
phie angehörige Streben, das im N. T. als ein Heer dis-
creter Individuen Gedachte emanatistisch in das Con-
tinuum einer Substanz aufzulösen, welche zwar einzelne
Kräfte aus sich hervortreten, diese jedoch nicht zu selbst-
ständigen Individuen sich fixiren, sondern als Accidenzien
wieder in die Einheit der Substanz zurückkehren läſst, —
dieses Streben sahen wir schon in Olshausen's Angelolo-
gie hindurchleuchten, und entschiedener tritt es nun in der
Dämonologie hervor. Dämonische Persönlichkeiten sind
zu widrig, bei den angeblich Besessenen namentlich das,
wie es Olshausen selbst ausdrückt 28), Stecken zweier
Subjekte in Einem Individuum zu undenkbar, als daſs man
sich eine solche Vorstellung zumuthen könnte. Daher wird
überall nur in schwebender Allgemeinheit von einem Rei-
che des Bösen und der Finsterniſs geredet, und zwar ein
persönlicher Fürst desselben vorausgesezt, aber unter den
Dämonen nur die einzelnen Ausflüsse und Wirkungen ver-
standen, in welchen das böse Princip sich manifestirt. Da-
her, und hieran ist Olshausen's Ansicht von den Dämo-
nen am bestimmtesten zu ergreifen, ist es ihm zu viel, daſs
Jesus den Dämon im Gadarener um seinen Namen gefragt
haben soll: so bestimmt kann doch Christus die von dem
Ausleger bezweifelte Persönlichkeit jener Ausflüsse des
finstern Reiches nicht vorausgesezt haben; weſswegen
Das Leben Jesu II. Band. 2
[18]Zweiter Abschnitt.
denn das τί σοι ὄγο α; (Marc. 5, 9.) als Frage nach dem
Namen nicht des Dämon, sondern des Menschen aufgefaſst
wird 29), gegen allen Zusammenhang offenbar, da die Ant-
wort: λεγεὼν, keineswegs als Miſsverstand, sondern als die
rechte, von Jesus gewollte Antwort erscheint.
Sind nun aber die Dämonen, nach Olshausen's An-
sicht, unpersönliche Kräfte, so ist es die Gesezmäſsigkeit
des Reichs der Finsterniſs in seinem Verhältniſs zum Licht-
reich, was sie leitet und zu ihren verschiedenen Funktio-
nen bewegt. Von dieser Seite müſste also, je schlimmer
der Mensch wird, desto enger der Zusammenhang zwi-
schen ihm und dem Reiche des Bösen sich knüpfen, und
der engste denkbare Zusammenhang, das Eingehen der fin-
stern Macht in die Persönlichkeit des Menschen, d. h. die
Besessenheit, müſste immer bei den Schlechtesten eintreten.
Dieſs finden wir aber geschichtlich gar nicht so, die Dä-
monischen erscheinen in den Evangelien nur so weit als
Sünder, wie alle Kranke Vergebung der Sünde nöthig ha-
ben, und die gröſsten Sünder, wie ein Judas, bleiben von
der Besessenheit verschont. Die gewöhnliche Vorstellung,
mit ihren persönlichen Dämonen, entgeht diesem Wider-
spruch. Zwar hält auch sie, wie wir dieſs z. B. in den
Klementinen finden, daran fest, daſs nur durch die Sünde
der Mensch dem Dämon den Zugang zu sich eröffne 30):
doch bleibt hier immer noch ein Spielraum für die indivi-
duelle Willkühr des Dämon, welcher aus nicht zu berech-
nenden subjektiven Gründen oft den Schlechteren vorüber-
gehen, auf den weniger Schlechten aber Jagd machen
kann 31). Werden hingegen, wie von Olshausen, die Dä-
[19]Neuntes Kapitel. §. 88.
monen nur als die Aktionen der Macht des Bösen in ihrem
durch Gesetze geregelten Verhältniſs zur Macht des Guten
betrachtet, so ist jede Willkühr und Zufälligkeit ausge-
schlossen, und deſswegen hat die Abweichung der Conse-
quenz, daſs nach seiner Theorie eigentlich immer die Schlimm-
sten besessen sein sollten, Olshausen sichtbare Mühe ver-
ursacht. Von dem scheinbaren Kampf zweier Mächte in
den Dämonischen ausgehend, ergreift er zunächst den Aus-
weg, daſs nicht bei denjenigen, welche sich ganz dem Bö-
sen ergeben, und somit eine innere Einheit ihres Wesens
behalten, sondern nur bei denen, in welchen noch ein in-
neres Widerstreben gegen die Sünde vorhanden sei, der
Zustand des Besessenseins eintrete 32). So aber, zum rein
moralischen Phänomen gemacht, müſste dieser Zustand
weit häufiger vorkommen, es müſste jeder heftige innere
Kampf in dieser Form sich äussern, und namentlich dieje-
nigen, welche sich später dem Bösen ganz ergeben, ihren
Durchgang durch eine Periode des Kampfs, also des Be-
sessenseins, nehmen. Daher fügt auch Olshausen noch ein
physisches Moment hinzu, daſs nämlich das Böse im Men-
schen vorwiegend seinen leiblichen Organismus, insbeson-
dere das Nervensystem geschwächt haben müsse, wenn er
für den dämonischen Zustand empfänglich sein solle. Al-
lein wer sieht nicht, zumal solche Zerrüttungen des Ner-
vensystems auch ohne sittliche Verschuldung eintreten kön-
nen, daſs auf diese Weise der Zustand, welchen man der
dämonischen Macht als eigenthümlicher Ursache vindiciren
wollte, zum groſsen Theil auf natürliche Gründe zurück-
geführt, und somit dem eigenen Zwecke widersprochen
wird? Daher wendet sich Olshausen von dieser Seite auch
bald wieder weg, und verweilt bei der Vergleichung des
δαιμονιζόμενος mit dem πονηρὸς, statt daſs er ihn mit dem
Epileptischen und Wahnsinnigen zusammenstellen sollte,
2 *
[20]Zweiter Abschnitt.
aus deren Vergleichung allein auf den Besessenen ein Licht
zurückgeworfen werden kann. Durch dieses Herüberspie-
len der Sache vom physiologisch - psychologischen Gebiete
auf das moralisch-religiöse ist der Excurs über die Dämo-
nischen zu einem d[er] unbrauchbarsten geworden, die im
Olshausen'schen Buche zu finden sind 33).
Lassen wir also die unerfreulichen Versuche, die
neutestamentlichen Vorstellungen von den Dämonischen zu
modernisiren, und unsre jetzigen Begriffe zu judaisiren,
fassen wir vielmehr auch in diesem Punkte das N. T. auf,
wie es sich giebt, ohne jedoch durch die Zeit- und Volks-
vorstellungen in demselben uns für weitere Forschungen
die Hände binden zu lassen.
Den bisher ermittelten Vorstellungen vom Wesen der
Dämonischen gemäſs gestaltete sich auch das Heilverfahren
mit solchen Personen, namentlich bei den Juden. Da die
Krankheitsursache nicht, wie bei natürlichen Übeln als ein
unpersönlicher Gegenstand oder Zustand, wie ein ungesun-
der Saft, eine krankhafte Spannung oder Schwäche, son-
dern als ein selbstbewuſstes Wesen angesehen wurde: so
suchte man auf dieselbe auch nicht blos mechanisch, che-
misch und dergl., sondern logisch, durch das Wort, zu wir-
ken. Man sprach dem Dämon zu, sich zu entfernen, und
um diesem Zuspruch Nachdruck zu geben, knüpfte man
ihn an die Namen von Wesen, welchen man Macht über
das Reich der Dämonen zuschrieb. Daher als Hauptmittel
gegen dämonische Besitzungen die Beschwörung 34), sei es
bei dem Namen Gottes, oder der Engel, oder eines andern
übermächtigen Wesens, wie des Messias (A. G. 19, 13.),
und mittelst gewisser Formeln, die man von Salomo her-
zuleiten pflegte 35). Übrigens wurden hiemit auch gewisse
[21]Neuntes Kapitel. §. 89.
Wurzeln 36), Steine 37), Räucherungen und Amulete 38) in
Verbindung gesezt, ebenfalls, wie man glaubte, aus Salo-
monischer Überlieferung. Da nun die Ursache von derglei-
chen Übeln nicht selten wirklich eine psychische war, oder
doch im Nervensystem lag, auf welches sich von geistiger
Seite unberechenbar einwirken läſst, so täuschte jenes psy-
chologische Verfahren nicht durchaus, sondern es konnte
oft wirklich durch die im Kranken erregte Meinung, daſs
vor einer Zauberformel der ihn besitzende Dämon sich nicht
länger halten könne, eine Hebung des Übels bewirkt wer-
den, wie denn Jesus selbst zugiebt, daſs auch jüdischen
Beschwörern dergleichen Kuren bisweilen gelingen (Matth.
12, 27.). Von Jesus aber lesen wir, daſs er ohne ander-
weitige Mittel und ohne Beschwörung bei einer andern
Macht durch sein bloſses Wort die Dämonen ausgetrieben
habe, und es sind die hervorstechendsten Heilungen dieser
Art, von welchen uns die Evangelien berichten, nunmehr
in Erwägung zu ziehen.
§. 89.
Jesu Dämonenaustreibungen, einzeln betrachtet.
Unter den einzelnen Erzählungen, welche uns in den
drei ersten Evangelien von den Kuren Jesu an Dämoni-
schen gegeben werden, ragen besonders drei hervor: die
Heilung eines Dämonischen in der Synagoge zu Kapernaum,
die der von einer Menge Dämonen besessenen Gadarener,
und endlich die des Mondsüchtigen, welchen die Jünger
nicht im Stande gewesen waren zu heilen.
Wie nach Johannes die Wasserverwandlung, so ist
nach Markus (1, 23 ff.) und Lukas (4, 33 ff.) die Heilung
eines Besessenen in der Synagoge von Kapernaum das er-
[22]Zweiter Abschnitt.
ste Wunder, das sie von Jesu seit seiner Rückkehr von
der Taufe nach Galiläa zu erzählen wissen. Jesus hatte
mit gewaltigem Eindruck gelehrt: als auf einmal ein an-
wesender Besessener in der Rolle des ihn besitzenden Dä-
mons aufschrie, er wolle mit ihm nichts zu schaffen haben,
er kenne ihn als den Messias, welcher gekommen sei, sie,
die Dämonen, zu verderben; worauf Jesus dem Dämon zu
schweigen und auszufahren gebot, was unter Geschrei und
Zuckungen von Seiten des Kranken und zum groſsen Er-
staunen der Menge über solche Gewalt Jesu geschah.
Hier könnte man sich allerdings mit rationalistischen
Auslegern die Sache so vorstellen: wenn der Kranke, der
einem lichten Augenblick in die Synagoge getreten war,
von der gewaltigen Rede Jesu einen Eindruck bekommen,
und dabei einen der Anwesenden von ihm als dem Mes-
sias hatte sprechen hören, so konnte in ihm leicht die Vor-
stellung sich bilden, der ihn besitzende unreine Geist kön-
ne mit dem heiligen Messias nicht zusammenbestehen, wo-
durch er in Paroxysmus gerathen, und seine Furcht vor
Jesu in der Rolle des Dämon aussprechen mochte. Sah
aber Jesus einmal den Menschen so gestimmt: was war ihm
näher gelegt, als, die Meinung desselben von seiner Ge-
walt über den Dämon zu benützen und diesem das Aus-
fahren zu gebieten, was dann nach den Gesetzen der See-
lenheilkunde, da der Irre von seiner fixen Idee aus ergrif-
fen wurde, gar wohl günstigen Erfolg haben konnte, weſs-
wegen Paulus diesen Fall für die Veranlassung hält, durch
welche Jesus zuerst auf den Gedanken geführt worden sei,
seine messianische Geltung zu Heilung von dergleichen Kran-
ken zu benützen 1).
Doch erhebt sich gegen diese natürliche Vorstellung
von der Sache auch manche Schwierigkeit. Daſs Jesus der
Messias sei, soll ihr zufolge der Kranke durch die Leute
[23]Neuntes Kapitel. §. 89.
in der Synagoge erfahren haben. Davon schweigt der Text
nicht blos, sondern er widerspricht einer solchen Annah-
me aufs Bestimmteste. Sein Wissen um Jesu Messiani-
tät hebt der aus dem Menschen redende Dämon durch das
οἶδά σε τίς εἶ κ. τ. λ. deutlich als ein ihm nicht von Men-
schen zufällig Mitgetheiltes, sondern als ein ihm vermöge
seiner dämonischen Natur wesentlich Zukommendes heraus.
Ferner, wenn Jesus ihm ein φιμώϑητι! zuruft, so bezieht
sich dieſs eben auf das, was der Dämon zuvor von seiner
Messianität ausgesagt hatte, wie ja auch sonst von Jesu
erzählt wird, daſs er
οὐκ ἤφιε λαλεῖν τὰ δαιμόνια, ὅτι ἤδει-
σαν αὐτὸν (Marc. 1, 34. Luc. 4, 41.), oder, ἵνα μὴ φανερὸν
αὐτὸν ποιήσωσιν
(Marc. 3, 12.); glaubte also Jesus durch
das dem Dämon aufgelegte Schweigen das Bekanntwerden
seiner Messianität verhindern zu können, so muſs er der
Meinung gewesen sein, daſs nicht der Besessene durch das
Volk in der Synagoge etwas von derselben gehört habe,
vielmehr umgekehrt dieses es von dem Besessenen erfahren
könnte; wie denn auch in der Zeit des ersten Auftritts
Jesu, in welche die Evangelisten den Vorfall verlegen,
noch Niemand an seine Messianität gedacht hat.
Fragt es sich demnach, wie, ohne Mittheilung von
aussen, der Dämonische Jesum als Messias durchschaut
haben könne? so beruft sich Olshausen auf die unnatür-
lich gesteigerte Nerventhätigkeit, welche in dämonischen
Personen wie in somnambülen ein verstärktes Ahnungsver-
mögen, eine Art von Hellsehen hervorbringe, vermöge des-
sen ein solcher Mensch gar wohl die Bedeutung Jesu für
das ganze Geisterreich habe erkennen können 2). Allein
abgesehen von den starken Zweifeln, welchen die Wirk-
lichkeit eines solchen Hellsehens bei Somnambülen noch
unterliegt, so schreibt die evangelische Darstellung jene
Kunde nicht einem Vermögen des Kranken, sondern des
[24]Zweiter Abschnitt.
in ihm wohnenden Dämons zu, wie dieſs auch allein den
damaligen jüdischen Vorstellungen angemessen ist. Der
Messias sollte erscheinen, um das dämonische Reich zu
stürzen (ἀμολέσαι ἡμᾶς, vgl. 1 Joh. 3, 8. Luc. 10, 18 f.),
den Teufel sammt seinen Engeln in den Feuerpfuhl zu
werfen (Matth. 25, 41. Offenb. 20, 10.) 3), und daſs nun
die Dämonen denjenigen, der ein solches Gericht über sie
zu üben bestimmt war, als solchen erkennen würden, er-
gab sich von selbst 4). Da wir demnach einerseits eine
wirkliche Existenz von Dämonen in jenen Leidenden nicht
annehmen, das jedoch ebenso schwer uns denken können,
daſs jene Menschen selbst vermöge einer Hellsehergabe Je-
sum zu einer Zeit, wo ihn sonst noch Niemand, und viel-
leicht er sich selbst noch nicht, für den Messias hielt, als
solchen erkannt haben; andrerseits aber dieses Erkanntwer-
den des Messias von den Dämonen so ganz mit den volks-
thümlichen Vorstellungen zusammentreffen sehen: so müs-
sen wir wohl vermuthen, daſs in diesem Punkte die evan-
gelische Tradition mehr diesen Vorstellungen, als der hi-
storischen Wahrheit gemäſs sich gebildet habe 5). Hiezu
war um so mehr Veranlassung, je rühmlicher für Jesum
eine solche Anerkennung von Seiten der Dämonen war.
[25]Neuntes Kapitel. §. 89.
Wie ihm, da die Erwachsenen ihn verkannten, aus dem
Munde der Kinder Lob zubereitet war (Matth. 21, 16.),
wie er, falls die Menschen schwiegen, überzeugt war, daſs
die Steine schreien würden (Luc. 19, 40.): so muſste es
angemessen scheinen, den, welchen sein Volk, das zu ret-
ten er gekommen war, nicht anerkennen wollte, von den
Dämonen anerkannt werden zu lassen, deren Zeugniſs, weil
sie nur Verderben von ihm zu gewarten hatten, unpar-
teiisch, und wegen ihrer höheren geistigen Natur zuver-
lässig war.
Haben wir in der zulezt betrachteten Heilungsgeschichte
eines Dämonischen eine von der einfachsten Gattung gehabt:
so begegnet uns in der Erzählung von der Heilung der be-
sessenen Gadarener (Matth. S, 28 ff. Marc. 5, 1 ff. Luc. 8,
26 ff.) eine höchst zusammengesezte, indem wir hier, ne-
ben mehreren Abweichungen der Evangelisten, statt Eines
Dämons viele, und statt des einfachen Ausfahrens derselben
ein Fahren in eine Schweineheerde haben.
Nach einer stürmischen Überfahrt über den galiläischen
See an das östliche Ufer begegnet Jesu nach Markus und
Lukas ein Dämonischer, welcher sich in den Grabmälern
jener Gegend aufhielt 6) und mit furchtbarer Wildheit ge-
gen sich selbst 7) und andere zu wüthen pflegte; nach
Matthäus waren es ihrer zwei. Es ist erstaunlich, wie
[26]Zweiter Abschnitt.
lange sich hier die Harmonistik mit elenden Ausflüchten,
wie, daſs Markus und Lukas nur Einen nennen, weil die-
ser durch Wildheit sich besonders ausgezeichnet, oder
Matthäus zwei, weil er den dem Wahnsinnigen zur Auf-
sicht beigegebenen Begleiter mitgezählt habe, und dergl. 8)
beholfen hat, bis man eine wirkliche Differenz zwischen
beiden Relationen zugeben mochte. Hiebei hat man, in
Erwägung dessen, daſs dergleichen Rasende ungesellig zu
sein pflegen, der Angabe der beiden mittlern Evangelisten
den Vorzug gegeben, und die Verdoppelung des Einen Dä-
monischen bei dem ersten daraus erklärt, daſs die Mehr-
heit der δαίμονες, von welchen in der Erzählung die Rede
war, dem Referenten zu einer Mehrheit von δαιμονιζόμενοι
geworden sei 9). Allein so entschieden ist die Unmöglich-
keit, daſs zwei Rasende in der Wirklichkeit sich zusam-
mengesellen, oder vielleicht auch nur in der ursprünglichen
Sage zusammengestellt wurden, denn doch nicht, daſs
hierauf allein schon ein Vorzug des Berichts bei Markus
und Lukas vor dem bei Matthäus sich begründen lieſse.
Wenigstens wenn man fragt, welche der beiden Darstel-
lungen der Sache leichter aus der andern, als der ursprüng-
lichen, in der Überlieferung sich habe bilden können? so
wird man die Möglichkeit auf beiden Seiten gleich groſs
finden. Denn wenn auf die oben angezeigte Weise die
mehreren Dämonen zu der Vorstellung auch von mehreren
Dämonischen Anlaſs geben konnten, so läſst sich ebenso
umgekehrt sagen: in der dem Faktum näheren Darstellung
des Matthäus, wo von Besessenen sowohl als von Dämo-
nen in der Mehrzahl die Rede war, trat das specifisch
Ausserordentliche dieses Falls nicht genug hervor, daſs auf
[27]Neuntes Kapitel. §. 89.
Ein Individuum mehrere Dämonen kamen, und indem man,
um dieses Verhältniſs hervorzuheben, sich beim Wiederer-
zählen so ausdrücken muſste, daſs in Einem Menschen
mehrere Dämonen sich befunden haben, so konnte dieſs
leicht Veranlassung werden, daſs nach und nach dem Plu-
ral der Dämonen gegenüber der Besessene in den Singular
gesezt wurde. Im Übrigen ist in diesem ersten Eingang
die Erzählung des Matthäus kurz und allgemein, die der
beiden andern ausführlich malend, woraus man gleichfalls
nicht ermangelt hat, auf die gröſsere Ursprünglichkeit der
lezteren zu schlieſsen 10). Gewiſs aber kann ebensowohl
die Ausführung, in welche sich Lukas und Markus thei-
len, daſs der Besessene kein Kleid an sich geduldet, alle
Fesseln zerrissen, und sich selbst mit Steinen geschlagen
habe, eine willkührliche Ausmalung der einfachen Bezeich-
nung χαλεποὶ λίαν sein, welche Matthäus nebst der Folge,
daſs Niemand jenen Weg habe gehen können, giebt, als
diese eine ungenaue Zusammenfassung von jener.
Die Eröffnung der Scene zwischen dem oder den Dä-
monischen und Jesus geschieht hier wie oben durch einen
angstvollen Zuruf des Dämonischen in der Person des ihn
besitzenden Dämons, daſs er mit Jesus, dem Messias, von
welchem er nur Qualen zu erwarten hätte, nichts zu schaf-
fen haben wolle. Die zur Erklärung der Erscheinung,
daſs der Dämonische Jesum sogleich als Messias erkannt,
gemachten Postulate, daſs Jesus damals wohl auch schon
auf dem peräischen Ufer als Messias genannt worden sei 11),
oder daſs dem Menschen (welchem seiner Wildheit wegen
Niemand nahe kommen konnte!) einige von den mit Je-
su über den See Gekommenen gesagt haben, dort sei der
Messias an's Land gestiegen 12), sind gleicherweise grund-
[28]Zweiter Abschnitt.
los, als offenbar ist, wie auch hier dieselbe jüdisch-christ-
liche Voraussetzung über das Verhältniſs der Dämonen
zum Messias wie oben diesen Zug der Erzählung hervor-
gebracht hat 13). Indeſs tritt hier noch eine Differenz der
Berichte ein. Nach Matthäus nämlich rufen die Besesse-
nen, wie sie Jesu ansichtig werden: τί ἡμῖν καὶ σοὶ —; ἦλ-
ϑες — βασανίσαι ἡμᾶς; nach Lukas fällt der Dämonische
Jesu zu Füſsen, und bittet ihn: μή με βασανίσῃς· nach
Markus endlich läuft er von ferne herbei, um Jesum fuſs-
fällig bei Gott zu beschwören, daſs er ihn nicht quälen
möchte. Wir haben also wieder einen Klimax: bei Mat-
thäus ein schreckenvolles Abwehren des unerwünscht kom-
menden Jesus: bei Lukas eine bittende Annäherung an
den gegenwärtigen; bei Markus sogar ein eiliges Aufsu-
chen des noch entfernten. Die Erklärer, von Markus aus-
gehend, müssen selbst zugeben, daſs das Herzulaufen eines
Dämonischen zu Jesu, den er doch fürchtet, etwas Wider-
sprechendes sei, weſswegen sie sich durch die Annahme
helfen, der Mensch, als er sich gegen Jesum hin in Bewe-
gung sezte, sei in einem lichten Augenblick gewesen, in
welchem er vom Dämon befreit zu werden wünschte, und
erst durch die Erhitzung des Laufens 14), oder durch die
Anrede Jesu 15) sei er in den Paroxysmus gerathen, in
welchem er in der Rolle des Dämons um Unterlassung der
Austreibung bat. Allein in den zusammenhängenden Wor-
ten bei Markus: ἰδὼν — ἔδραμε — καὶ προσεκύ ησε — καὶ
κράξας — εἶπε· ist keine Spur von einem Wechsel seines
Zustandes zu finden, und es bleibt so das Unwahrschein-
liche seiner Darstellung; denn der wirklich Besessene hät-
te sich, wenn er den gefürchteten Messias von ferne erkann-
te, eher so schnell wie möglich davongemacht, als sich ihm
[29]Neuntes Kapitel. §. 89.
genähert, und wenn auch dieſs, so konnte er, der sich
durch einen Gott feindseligen Dämon besessen glaubte,
Jesum doch gewiſs nicht bei Gott beschwören, wie Mar-
kus den Dämonischen thun läſst 16). Kann demnach sei-
ne Darstellung hier die ursprüngliche nicht sein, so ist die
des Lukas ihr zu verwandt, und eigentlich nur um die
Züge des Herzulaufens und Beschwörens einfacher, als daſs
wir sie für die dem Faktum nächste ansehen könnten. Son-
dern die am reinsten gehaltene ist ohne Zweifel die des
Matthäus, deren schreckenvolle Frage: ἦλϑες ὧδε πρὸ
καιροῦ βασανίσαι ἡμᾶς; einem Dämon, der als Feind des
Messiasreichs vom Messias keine Schonung zu erwarten
hatte, weit natürlicher steht, als die Bitte um Schonung
bei Markus und Lukas, wenn gleich Philostratus in einer
Erzählung, die man als Nachbildung dieser evangelischen
ansehen könnte, sich an die leztere Form gehalten hat 17).
Während man nach dem Bisherigen glauben muſste,
die Dämonen haben hier wie in der ersten Erzählung, oh-
ne daſs etwas von Seiten Jesu vorangegangen war, ihn auf
die beschriebene Weise angesprochen: so holen nun die
zwei mittleren Evangelisten nach, Jesus habe nämlich
dem unsaubern Geiste geboten gehabt, den Menschen zu
verlassen. Es fragt sich, wann Jesus dieſs gethan ha-
ben soll. Das Nächste wäre: ehe der Mensch ihn anre-
dete; aber mit dieser Anrede ist bei Lukas das προσέπεσε,
und mit diesem weiter rückwärts das ἀνακρ[ά]ξας so eng
verbunden, daſs man den Befehl Jesu vor den Schrei und
Fuſsfall als deren Ursache setzen müſste. Nun aber ist
als Ursache davon vielmehr der bloſse Anblick Jesu ange-
geben, so daſs man bei Lukas nicht sieht, wo jenes Gebot
[30]Zweiter Abschnitt.
Jesu seine Stelle finden soll. Noch schlimmer ist es bei
Markus, wo der Zuruf Jesu durch eine ähnliche Verket-
tung der Sätze sogar vor das ἔδραμε zurückgeschoben
wird, so daſs Jesus sonderbarerweise schon aus der Ferne
dem Dämon das ἔξελϑε zugerufen haben müſste. Wenn
auf diese Weise bei den beiden mittleren Evangelisten ent-
weder die vorangeschickte zusammenhängende Darstellung
oder der darauffolgende Zusaz unrichtig sein muſs: so
fragt sich nur, was von beiden eher den Schein des Unhi-
storischen wider sich habe? Und hier hat selbst Schleier-
macher eingeräumt, wenn in der ursprünglichen Erzählung
von einem vorausgegangenen Gebote Jesu die Rede gewe-
sen wäre, so würde dieses gewiſs in seiner rechten Stelle
vor der Bitte der Dämonen, und mit Anführung der eig-
nen Worte Jesu gegeben worden sein; wogegen seine je-
zige Stellung als Nachtrag, und ebenso seine abgekürzte
Fassung in der oratio obliqua (bei Lukas; erst Markus
wandelt sie nach seiner Weise in oratio recta um) sehr
stark die Vermuthung begründe, daſs es auch nur ein er-
klärender Nachtrag des Referenten aus eigener Conjektur
sei 18). Und zwar ist es ein höchst störender, indem er
der ganzen Scene nachträglich eine andre Gestalt giebt,
als sie von vorne herein zeigte. Zuerst nämlich war sie
auf ein zuvorkommendes Erkennen und Bitten des Dämo-
nischen angelegt: nun aber fällt der Erzähler aus seiner
Rolle, und in der Meinung, der Bitte des Dämons um
Schonung müsse ein harter Befehl Jesu vorangegangen sein,
[31]Neuntes Kapitel. §. 89.
bemerkt er nachfolgend, daſs Jesus vielmehr mit seinem
Gebote zuvorgekommen.
An die Nachholung dieses Gebots schlieſst sich nun
bei Markus und Lukas die Frage Jesu an den Dämon an:
τί σοι ὄνομα; worauf sich eine Mehrheit von Dämonen
zu erkennen giebt, und als ihren Namen λεγεὼν bezeich-
net, — eine Zwischenhandlung, von welcher Matthäus nichts
hat. Wie wäre es nun, wenn, wie der vorige Zusaz ei-
ne nachträgliche Erklärung des Vorhergehenden, so diese
Frage und Antwort eine vorausgeschickte Einleitung des
Folgenden wäre? und ebenso nur aus den eigenen Mitteln
der Sage oder des Referenten? Der sofort von den Dä-
monen ausgesprochene Wunsch nämlich, in die Schweine-
heerde zu fahren, sezt zwar auch bei Matthäus eine Mehr-
heit von Dämonen in jedem der beiden Besessenen voraus,
weil doch die Zahl der bösen Geister beiläufig der Zahl
der Schweine entsprechend gedacht werden muſs: eben
dieses Entsprechen aber der beiderseitigen Anzahl schien
noch besonders hervorgehoben werden zu müssen. Was
nun bei Thieren eine Heerde, das ist bei Menschen und
höheren Wesen ein Heer, oder genauer eine Heeresabthei-
lung, und da lag, wenn eine gröſsere Abtheilung bezeich-
net werden sollte, nichts näher, als die römische Legion,
welche Matth. 26, 53. auf die Engel, wie hier auf die Dä-
monen angewendet ist. — Daſs es nun aber, auch abgese-
hen von dieser näheren Bestimmung, mehrere Dämonen ge-
wesen sein sollen, welche hier in Einem Individuum ihre
Wohnung aufgeschlagen hatten, ist als undenkbar zu be-
zeichnen. Denn wenn man zwar so viel etwa noch sich
vorstellig machen kann, wie Ein Dämon mit Unterdrückung
des menschlichen Bewuſstseins, sich eines menschlichen Or-
ganismus bemächtigen könne: so geht einem doch alle Vor-
stellung aus, sobald man gar viele einen Menschen besi-
zende dämonische Persönlichkeiten sich denken soll. Denn
da dieses Besitzen nichts Andres ist, als, sich zum Sub-
[32]Zweiter Abschnitt.
jekt des Bewuſstseins in einem Individuum machen, das
Bewuſstsein aber in der Wirklichkeit nur Eine Spitze, Ei-
nen Mittelpunkt haben kann: so ist jedenfalls das schlech-
terdings nicht zu denken, daſs zu gleicher Zeit mehrere
Dämonen von einem Menschen sollten Besiz nehmen kön-
nen, und es könnte die mehrfache Besitzung immer nur
von einem successiven Wechsel des Besessenseins durch
verschiedene Dämonen verstanden werden, und nicht wie
hier ein ganzes Heer derselben zugleich im Menschen sein
und zugleich ihn verlassen.
Darin nun stimmen weiterhin alle Erzählungen überein,
daſs die Dämonen (um nicht, wie Markus sagt, ausser Lan-
des, oder nach Lukas in den Abgrund verwiesen zu wer-
den) Jesum um die Erlaubniſs gebeten haben, in die be-
nachbarte Schweineheerde zu fahren, daſs ihnen dieſs von
Jesu gestattet worden, und sofort durch ihre Einwirkung
sämmtliche Schweine (Markus, man darf nicht fragen, aus
welchen Mitteln, bestimmt ihre Zahl auf 2000) in den See
gestürzt und ersoffen seien. Bleibt man hier auf dem
Standpunkt der Berichte, welche durchaus wirkliche Dä-
monen voraussetzen, stehen, so fragt es sich: wie können
Dämonen, — eingeräumt auch, daſs sie von Menschen Be-
siz nehmen können, — wie können sie aber, als in jedem
Fall vernünftige Geister, den Wunsch haben und errei-
chen, in thierische Bildungen einzugehen? Jede Religion
und Philosophie, welche die Seelenwanderung verwirft,
muſs aus demselben Grunde auch die Möglichkeit eines sol-
chen Überganges läugnen, und Olshausen stellt vollkom-
men richtig die gadarenischen Säue im N. T. mit Bileams
Esel im alten als ein ähnliches σκάνδαλον καὶ πρόσκομμα
zusammen 19). Diesem ist er aber durch die Bemerkung,
daſs hier nicht an ein Eingehen der einzelnen Dämonen in
die einzelnen Schweine, sondern an ein bloſses Einwirken
[33]Neuntes Kapitel. §. 89.
sämmtlicher bösen Geister auf die Thiermasse zu denken
sei, mehr ausgewichen, als daſs er darüber hinweggekom-
men wäre. Denn das εἰσελϑεῖν εἰς τοὺς χοίρους, wie es dem
ἐξελϑεῖν ἐκ τοῦ ἀνϑρώπου gegenübersteht, kann doch unmög-
lich etwas Anderes bedeuten, als daſs die Dämonen in das-
selbe Verhältniſs, in welchem sie bisher zu den besessenen
Menschen gestanden, nunmehr zu den Schweinen getre-
ten seien; auch konnte sie vor der Verbannung ausser
Lands oder in den Abgrund nicht ein bloſses Einwirken,
sondern nur ein wirkliches Einwohnen in den Leibern der
Thiere bewahren: so daſs jenes σκάνδαλον stehen bleibt.
Unmöglich also kann jene Bitte von wirklichen Dämonen,
sondern nur etwa von jüdischen Wahnsinnigen vorgebracht
worden sein, nach den Vorstellungen ihres Volks. Ohne
leibliche Hülle zu sein, macht diesen zufolge den bösen
Geistern Qual, weil sie ohne Leib ihre sinnlichen Lüste
nicht befriedigen können 20); waren sie daher aus den
Menschen ausgetrieben, so muſsten sie in Thierleiber zu
fahren wünschen, und was taugte für ein πνεῦμα ἀκάϑαρτον
besser, als ein ζῶον ἀκάϑαρτον, wie das Schwein war? 21)
So weit könnten also die Evangelisten in diesem Punkt das
Faktische richtig wiedergeben, indem sie nur ihrer Vor-
stellung gemäſs den Dämonen zuschrieben, was vielmehr
die Kranken aus ihrem Wahne heraus sprachen. Nun
aber, wenn es weiter heiſst, die Dämonen seien in die
Schweine gefahren, berichten da die Evangelisten nicht
eine offenbare Unmöglichkeit? Paulus meint, auch hier,
wie sonst immer, identificiren die Evangelisten die besesse-
nen Menschen mit den sie besitzenden Dämonen, und schrei-
Das Leben Jesu II. Band. 3
[34]Zweiter Abschnitt.
ben also das εἰσελϑεῖν εἰς τοὺς χοίρους den lezteren zu, wäh-
rend doch in der Wirklichkeit nur die ersteren ihrer
fixen Idee gemäſs auf die Schweine losgerannt seien 22).
Hier lieſse sich zwar des Matthäus ἀπῆλϑον εἰς τοὺς χοί-
ρους, für sich genommen, etwa noch von einem Losrennen
auf die Heerde verstehen; aber nicht nur muſs Paulus
selbst einräumen, daſs das εἰσ ελϑόντες der beiden andern
Synoptiker ein wirkliches Hineingehen in die Schweine
bezeichne, sondern es hat auch Matthäus, wie die beiden
andern, vor dem ἀπῆλϑον ein ἐξελϑόντες οἱ δαίμονες (sc.
ἐκ τῶν ἀνϑρώπων), wodurch also die in die Schweine fah-
renden Dämonen von den Menschen, aus welchen sie vor-
her wichen, deutlich genug unterschieden sind 23). So er-
zählen also unsre Berichterstatter hier nicht blos wirklich
Vorgefallenes, gefärbt durch die Vorstellungsweise ihrer
Zeit, sondern hier haben sie einen Zug, der gar nicht auf
diese Weise vorgefallen sein kann.
Neuen Anstoſs macht die Wirkung, welche die Dä-
monen in den Schweinen hervorgebracht haben sollen.
Kaum in dieselben gefahren nämlich sollen sie die ganze
Heerde angetrieben haben, sich in den See zu stürzen,
wobei man mit Recht fragt, was denn die Dämonen nun
durch das Fahren in die Thiere gewonnen haben, wenn
sie diese alsbald vernichteten, und sich somit der so sehr
erbetenen leidlichen Interimswohnung selbst wieder be-
raubten 24)? Die Vermuthung, die Absicht der Dämonen
bei Vernichtung der Schweine sei gewesen, die Gemüther
der Eigenthümer durch diesen Verlust gegen Jesum einzu-
nehmen, was auch erfolgt sei 25), ist zu weit hergeholt;
die andre, daſs der mit Geschrei auf die Heerde losstür-
[35]Neuntes Kapitel. §. 89.
zende Dämonische sammt den im Schrecken davonlaufen-
den Hirten die Schweine scheu gemacht und in's Wasser
gejagt habe 26), würde, wenn sie auch nicht nach dem Obi-
gen dem Text zuwider wäre, doch nicht hinreichen, um
das Ertrinken einer Heerde von 2000 Stücken nach Mar-
kus, oder überhaupt nur einer groſsen Heerde, nach Mat-
thäus, zu erklären. Die Ausflucht, daſs wohl nur ein Theil
der Heerde ersoffen sei 27), hat in der evangelischen Er-
zählung nicht den mindesten Halt. — Vermehrt wird für
diesen Punkt die Schwierigkeit durch die nahe liegende
Reflexion auf den nicht geringen Schaden, welchen das
Ertrinken der Heerde den Eigenthümern brachte, und des-
sen mittelbarer Urheber Jesus gewesen wäre. Die Ortho-
doxen, wenn sie Jesum in irgend einer Wendung dadurch
rechtfertigen wollen, daſs durch Zulassung des Übergangs
der Dämonen in die Schweine die Heilung des Besessenen
möglich gemacht worden sei, und daſs doch gewiſs Thiere
getödtet werden dürfen, damit die Menschen lebendig wer-
den 28), bedenken nicht, daſs sie hiedurch auf die für ih-
ren Standpunkt inconsequenteste Weise die absolute Macht
Jesu über das dämonische Reich beschränken. Die Aus-
kunft aber, Jesus habe, sofern die Schweine Juden gehör-
ten, diese für ihre gewinnsüchtige Übertretung des Gesetzes
strafen wollen 29), überhaupt habe er aus göttlicher Voll-
macht gehandelt, welche oft zu höheren Zwecken Einzel-
nes zerstöre, und durch Bliz, Hagel und Überschwemmung
vieler Menschen Habe vernichten lasse 30), worüber Gott
3 *
[36]Zweiter Abschnitt.
der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre 31), — dieſs
ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste
Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem
seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über
das besonnene paulinische ‘γενόμενον ὑπὸ νόμον’ (Gal. 4, 4.)
und ‘ἑαυτὸν ἐκένωσε’ (Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig
entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche
Beurtheilung seiner Handlungen über das Maaſs des Mensch-
lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom
Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin-
einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren
dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst
Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich
sei, darzustellen 32): im offensten Widerspruch gegen de
evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern
er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte-
ste vorhersehen läſst 33). Es scheint daher auf Jesu die
Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen
zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er-
zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben 34);
wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi-
ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von
den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen
baar bezahlt haben soll 35).
Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na-
mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende
Erzählung bringt, ist es kein Wunder, daſs man in Bezug
auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus
dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch-
gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln,
[37]Neuntes Kapitel. §. 89.
und insbesondere den Untergang der Schweine mit der
durch Jesum bewirkten Austreibung der Dämonen aus-
ser Beziehung zu setzen. So fand Krug in der Stellung
beider Erfolge ein in der Tradition entstandenes ὕςερον
πρότερον. Die Schweine seien schon vor der Landung Je-
su durch den Sturm, der während seiner Überfahrt wü-
thete, in den See gestürzt worden, und als Jesus nachher
den Dämonischen heilen wollte, habe entweder er selbst,
oder einer aus seinem Gefolge, den Menschen beredet, sei-
ne Dämonen seien bereits in jene Schweine gefahren, und
haben sie in den See gestürzt; was dann als wirklich so
erfolgt aufgenommen und weiter gesagt worden sei 36).
K. Ch. L. Schmidt läſst, als Jesus an's Land stieg, die
Hirten ihm entgegen gehen, indessen von den sich selbst
überlassenen Schweinen mehrere in das Wasser stürzen,
und da nun um eben diese Zeit Jesus dem Dämon auszu-
fahren geboten habe, so haben die Umstehenden Beides in
Causalzusammenhang gesezt 37). Ohne weitere Bemerkung
erkennt man in diesen Erklärungsversuchen, an der gros-
sen Rolle, welche in denselben das zufällige Zusammen-
treffen verschiedener Umstände spielt, die ungeschickte
Vermischung der mythischen Erklärung mit der natürli-
chen, wie sie den ersten Unternehmungen auf dem mythi-
schen Standpunkt eigen gewesen ist. Da diese Vermischung
darin besteht, daſs von dem Unglaublichen in einer Er-
zählung, statt es aus Zeitvorstellungen herzuleiten, eine
historische aber wunderlose Grundlage angenommen wird:
so fragt sich, ob in der Zeit der muthmaſslichen Bildung
[38]Zweiter Abschnitt.
der evangelischen Erzählungen sich Vorstellungen finden,
aus welchen sich der Zug mit den Schweinen in der vor-
liegenden Geschichte erklären lieſse?
Eine hiehergehörige Zeitmeinung hatten wir schon,
nämlich die, daſs Dämonen nicht ohne Leib sein wollen,
und, daſs sie gerne an unreinen Orten seien, weſswegen
ihnen die Leiber von Schweinen am besten taugen muſs-
ten: indeſs erklärt sich hieraus der Zug noch nicht, daſs
sie die Schweine in das Wasser gestürzt haben sollen.
Doch auch hiefür fehlt es nicht an erklärenden Notizen.
Josephus berichtet von einem jüdischen Beschwörer, der
durch Salomonische Formeln und Mittel die Dämonen aus-
trieb, daſs er, um die Anwesenden von der Realität sei-
ner Austreibungen zu überführen, in die Nähe des Beses-
senen ein Wassergefäſs gestellt habe, welches der ausfah-
rende Dämon umwerfen und dadurch den Zuschauern au-
genscheinlich zeigen muſste, daſs er aus dem Menschen
heraus sei 38). Auf ähnliche Weise wird von Apollonius
von Tyana erzählt, daſs er einem Dämon, der einen Jüng-
ling besessen hatte, befohlen habe, sich mit einem sicht-
baren Zeichen zu entfernen, worauf derselbe sich erbot,
ein in der Nähe befindliches Standbild umzuwerfen, wel-
ches dann zum groſsen Erstaunen aller Anwesenden wirk-
lich in dem Augenblick umfiel, als der Dämon den Jüng-
ling verlieſs 39). Galt hienach das in Bewegung Setzen ei-
nes nahen Gegenstandes ohne körperliche Berührung als
die sicherste Probe der Realität einer Dämonenaustreibung:
so durfte diese Probe auch Jesu nicht fehlen, und zwar,
[39]Neuntes Kapitel. §. 89.
wenn jener Gegenstand bei einem Eleazar nur μικρὸν von
dem Beschwörer und dem Kranken entfernt, mithin der
Gedanke an eine Täuschung nicht ganz ausgeschlossen war,
so räumt in Bezug auf Jesum Matthäus, hierin ausmalen-
der als die beiden andern, durch die Bemerkung, daſs die
Schweineheerde μακρὰν geweidet habe, auch den lezten
Rest einer solchen Möglichkeit hinweg. Daſs nun aber
diese Probe hier nicht blos an Einem Gegenstande, son-
dern an mehreren sich zeigte, dieſs hatte seinen Grund in
einer andern Rücksicht, welche mit der bisher ausgeführ-
ten sich verband. Jesus sollte nämlich nicht bloſs gewöhn-
liche Besessene, wie den der ersten von uns betrachteten
Geschichte, geheilt haben, sondern die schwierigsten Ku-
ren dieser Art sollten ihm gelungen sein. Den gegenwär-
tigen Fall als einen von äusserster Schwierigkeit darzustel-
len, darauf ist von vorne herein die ganze Erzählung mit
ihrer grellen Schilderung von dem furchtbaren Zustand des
Gadareners angelegt. Zu dem Complicirten eines solchen
Falles gehörte nun aber besonders, daſs die Besitzung kei-
ne einfache, sondern wie bei Maria Magdalena,
ἀφ̕ ῆς
δαιμόνια ἑπτὰ ἐξεληλύϑει
(Luc. 8, 2.), oder bei der dämo-
nischen Recidive, wo der ausgetriebene Dämon mit sieben
ärgeren wiederkommt (Matth. 12, 45.), eine mehrfache war,
weſswegen denn hier selbst diese Zahlen noch überboten,
und der Darstellung des Markus zufolge gegen 2000 Dä-
monen in Einem Menschen zu denken sind. Daher nun
für die mehreren Dämonen die mehreren Gegenstände, als
welche durch den Zutritt oben erwähnter Vorstellungen
Thiere und näher Schweine bestimmt wurden. Die Ein-
wirkung der aus dem Menschen vertriebenen Dämonen
aber, wie sie an einem Wassergefäſs oder Standbild durch
nichts augenscheinlicher sich zeigen konnte, als dadurch,
daſs dasselbe gegen sein natürliches, durch das Gesez der
Schwere bestimmtes Verhalten umfiel: so konnte sie an
Thieren durch nichts sicherer sich bethätigen, als wenn
[40]Zweiter Abschnitt.
diese, ihrem natürlichen Lebenstrieb zuwider, sich zu er-
säufen veranlaſst wurden. Nur diese Entstehung unserer
Erzählung aus dem Zusammentreffen verschiedener Zeitvor-
stellungen und Interessen erklärt auch den oben bemerkten
Widerspruch, daſs die Dämonen zuerst die Schweine als
Aufenthalt sich erbitten, und unmittelbar darauf diesen
Aufenthalt selbst zerstören. Jene Bitte nämlich ist, wie
gesagt, aus der Vorstellung von der Scheue der Dämonen
vor Körperlosigkeit erwachsen, diese Zerstörung aber aus
der hiemit gar nicht zusammenhängenden von einer Aus-
treibungsprobe; was Wunder, wenn aus so heterogenen
Vorstellungen zwei widersprechende Züge in der Erzäh-
lung henvorgiengen?
Die dritte und lezte ausführlich erzählte Dämonenaus-
treibung hat das Eigenthümliche, daſs zuerst die Jünger
vergeblich die Heilung versuchen, hierauf aber Jesus die-
selbe mit Leichtigkeit vollbringt. Sämmtliche Synoptiker
nämlich (Matth. 17, 14 ff.; Marc. 9, 14 ff.; Luc. 9, 37 ff.)
berichten einstimmig, wie Jesus mit seinen drei Vertraute-
sten vom Verklärungsberge herabgekommen sei, habe er
seine übrigen Jünger in der Verlegenheit gefunden, daſs
sie einen besessenen Knaben, welchen sein Vater zu ih-
nen gebracht hatte, nicht im Stande gewesen seien zu
heilen.
Auch in dieser Erzählung findet eine Abstufung statt
von der gröſsten Einfachheit bei Matthäus bis zur gröſsten
Ausführlichkeit der Schilderung bei Markus, was denn
auch hier wieder die Folge gehabt hat, daſs man den Be-
richt des Matthäus als den der Thatsache am fernsten ste-
henden den Relationen der beiden andern nachsetzen zu
müssen glaubte 40). Im Eingang läſst Matthäus Jesum,
vom Berge herabgestiegen, zu dem ὄχλος stoſsen, hierauf
den Vater des Knaben zu ihm treten und ihn fuſsfällig um
[41]Neuntes Kapitel. §. 89.
Heilung desselben bitten; nach Lukas kommt ihm der ὄχλος
entgegen; nach Markus endlich sieht Jesus um die Jün-
ger viel Volks und Schriftgelehrte, die mit ihnen streiten,
das Volk, wie es seiner ansichtig wird, läuft hinzu und be-
grüſst ihn, er aber fragt, was sie streiten? worauf der
Vater des Knaben das Wort nimmt. Hier haben wir in
Bezug auf das Benehmen des Volks wieder einen Klimax:
aus dem zufälligen Zusammentreffen mit demselben bei
Matthäus war schon bei Lukas ein Entgegenkommen des
Volks geworden, und dieses steigert nun Markus zu einem
Herbeilaufen, um Jesum zu begrüſsen, wozu er noch das
abenteuerliche ἐξεϑαμβήϑη fügt. Was in aller Welt hatte
das Volk, wenn Jesus mit einigen Jüngern daherkam, so
sehr zu erstaunen? Dieſs bleibt durch alle andern Erklä-
rungsgründe, die man aufgesucht hat, so unerklärt, daſs
ich den Gedanken des Euthymius nicht so absurd finden
kann, wie Fritzsche ihn dafür ausgiebt, es sei an dem
eben vom Verklärungsberg herabgestiegenen Jesus noch et-
was von dem himmlischen Glanz, der ihn dort umleuchtet
hatte, sichtbar gewesen, wie bei Moses, als er vom Sinai
herunterkam (2 Mos. 34, 29 f.). Daſs unter diesem Volks-
gedränge zufällig auch Schriftgelehrte sich befunden ha-
ben, welche den Jüngern wegen der miſslungenen Heilung
zusezten und sie in einen Streit verwickelten, ist zwar an
und für sich gar wohl denkbar, aber im Zusammenhang
mit jenen Übertreibungen hinsichtlich des Verhaltens der
Menge muſs auch dieser Zug verdächtig werden, zumal
die beiden andern Berichterstatter ihn nicht haben; so daſs,
wenn sich zeigen läſst, auf welche Weise der Referent
dazu kommen konnte, ihn aus eigener Combination hinzu-
zufügen, wir ihn mit höchster Wahrscheinlichkeit fallen
lassen dürfen. In Bezug auf die Fähigkeit Jesu, Wunder
zu thun, hieſs es bei Markus früher einmal (8, 11.) bei
Gelegenheit der Forderung eines himmlischen Zeichens von
den Pharisäern: ἤρξαντο συζητεῖν αὐτῷ, und so lieſs er
[42]Zweiter Abschnitt.
denn hier, wo die Jünger sich unfähig zum Wunderthun
zeigten, die groſsentheils zur pharisäischen Sekte gehöri-
gen γραμματεῖς als συζητοῦντας τοῖς μαϑηταῖς auftreten. —
Auch in der folgenden Schilderung der Umstände des Kna-
ben findet dieselbe Abstufung in Bezug auf die Ausführ-
lichkeit statt, nur daſs Matthäus das σεληνιάζεται eigen
hat, welches man ihm nie hätte zum Vorwurf machen sol-
len 41), da die Herleitung periodischer Krankheiten vom
Monde im Zeitalter Jesu nichts Ungewöhnliches war 42).
Dem Markus ist die Bezeichnung des den Knaben besitzen-
den πνεῦμα als ἄλαλον (V. 17.) und κωφὸν (V. 25.) eigen-
thümlich; es konnte nämlich das Ausstossen unartikulir-
ter Laute während des epileptischen Anfalles als Stumm-
heit, und das für jede Anrede unzugängliche Verhalten
des Kranken als Taubheit des Dämons angesehen werden.
Wie der Vater Jesum von dem Gegenstand des Streits
und der Unfähigkeit seiner Jünger, den Knaben zu hei-
len, unterrichtet hat, bricht Jesus in die Worte aus: γενεὰ
ἄπιςος καὶ διεςραμμένη κ. τ. λ. Vergleicht man bei Mat-
thäus den Schluſs der Erzählung, wo Jesus den Jüngern
auf die Frage, warum sie den Kranken nicht haben hei-
len können, zur Antwort giebt: διὰ τὴν ἀπιςίαν ὑμῶν,
und hieran die Schilderung der bergeversetzenden Macht
schlieſst, welche ein auch nur senfkorngroſser Glaube ha-
be (V. 19 ff.): so kann man nicht zweifelhaft sein, daſs
nicht auch jene unwillige Anrede sich auf die Jünger be-
ziehe, in deren Unfähigkeit, den Dämon auszutreiben,
Jesus einen Beweis ihres noch immer mangelhaften Glau-
bens fand 43). Diese schlieſsliche Erklärung des Unver-
mögens der Jünger aus ihrer ἀπιςία läſst Lukas weg, und
[43]Neuntes Kapitel. §. 89.
Markus thut ihm nicht nur dieses nach, sondern flicht auch
V. 21 — 24. eine ihm eigenthümliche Zwischenscene zwi-
schen Jesus und dem Vater ein, in welcher er zuerst Ei-
niges über die Krankheitsumstände theils aus Matthäus,
theils aus eigenen Mitteln nachholt, hierauf aber den Va-
ter zur πίςις aufgefordert werden, und sofort mit Thränen
die Schwäche seines Glaubens und den Wunsch einer Stär-
kung desselben aussprechen läſst. Dieses zusammengenom-
men mit der Notiz von den streitenden Schriftgelehrten,
wird man nicht irre gehen, wenn man bei Markus und
wohl auch bei Lukas die Anrede: ὦ γενεὰ ἄπιςος, auf das
Publikum im Unterschied von den Jüngern, nach Markus
namentlich auch auf den Vater des Knaben bezieht, des-
sen Unglaube hier als der Heilung hinderlich, wie ander-
wärts (Matth. 9, 2.) der Glaube der Angehörigen als der-
selben förderlich dargestellt wird. Da aber beide Evange-
listen diesen Sinn dadurch hervorbringen, daſs sie die Er-
klärung der Unwirksamkeit der Jünger aus ihrer ἀπιςία
sammt dem Ausspruch über die Berge versetzende Macht
des Glaubens hier weglassen: so fragt sich, ob die an-
dern Verbindungen, in welche sie diese Reden stellen, pas-
sender als die bei Matthäus sind? Bei Lukas nun steht
der Ausspruch: wenn ihr Glauben habt, wie ein Senfkorn
u. s. f. (denn das διὰ τὴν ἀπιςίαν ὑμῶν haben beide gar
nicht), nur mit der geringen Variation, daſs statt des Ber-
ges ein Baum genannt ist, 17, 5. 6. ausser aller Verbin-
dung weder mit dem Vorhergehenden noch Folgenden als
ein versprengtes Redestück kleinster Gröſse, mit der ohne
Zweifel nach Art von Luc. 11, 1. und 13, 23. gemachten
Einleitung, daſs die Jünger Jesum bitten: πρόσϑες ἡμῖν
πίςιν· Markus giebt die Sentenz vom Berge versetzen-
den Glauben als Nutzanwendung zu der Geschichte vom
verfluchten Feigenbaum, wo sie auch Matthäus wieder hat.
Aber dazu paſst, wie wir bald sehen werden, der Aus-
spruch gar nicht, sondern, wenn wir nicht ganz darauf
[44]Zweiter Abschnitt.
verzichten wollen, etwas von dem Anlaſs zu wissen, bei
welchem er gethan worden ist, so müssen wir die Ver-
bindung bei Matthäus als die ursprüngliche annehmen;
denn zu einer den Jüngern miſslungenen Kur paſst er vor-
trefflich. — Ausser dem Zwischenspiel mit dem Vater hat
Markus die Scene auch dadurch noch effektvoller zu ma-
chen gesucht, daſs er während jener Zwischenhandlung ei-
nen Volkszulauf entstehen, nach Austreibung des Dämons
den Knaben ὡσεὶ νεκρὸν, so daſs Viele sagten, ὅτι ἀπέϑα-
νεν, hinsinken, und von Jesu, wie er sonst bei Todten that
(Matth. 9, 25.), durch ein κρατεῖν τῆς χειρὸς aufgerichtet
und ins Leben zurückgerufen werden läſst.
Während nach vollendeter Kur Lukas durch eine
kurze Hinweisung auf das Erstaunen des Volkes schlieſst,
lassen die ersten Synoptiker beide die Jünger, als sie mit
Jesu allein sind, die Frage an ihn richten, warum sie nicht
im Stande gewesen seien, den Dämon auszutreiben? was
er nun bei Matthäus zunächst auf die erwähnte Weise aus
ihrem Unglauben, bei Markus aber daraus erklärt, daſs
τοῦτο τὸ γένος ἐν οὐδενὶ δύναται ἐξελϑεῖν, εἰ μὴ ἐν προσευχῇ
καὶ νηςείᾳ, was auch Matthäus nach den Reden über Un-
glauben und Glaubensmacht noch hinzufügt. Dieſs scheint
nun bei Matthäus eine üble Zusammensetzung zu geben;
denn wenn zu der Heilung Fasten und Beten erforderlich
war: so hätten die Jünger, falls sie nicht vorher gefastet
hatten, auch mit dem festesten Glauben den Dämon nicht
auszutreiben vermocht 44). Ob nun die Auskunft genüge,
die beiden von Jesu namhaft gemachten Gründe der Un-
wirksamkeit der Jünger dadurch zu vereinigen, daſs man
Fasten und Beten eben als Stärkungsmittel des Glaubens
betrachtet 45), oder ob mit Schleiermacher eine Zusam-
menstellung von nicht zusammengehörigen Aussprüchen an-
[45]Neuntes Kapitel. §. 89.
zunehmen sei, bleibe hier dahingestellt. Daſs übrigens ei-
ne solche geistige und leibliche Diät des Exorcisten auf den
Besessenen von Wirkung sein sollte, hat man befremdlich
gefunden, und indem man eine solche mit Porphyrius 46)
eher dem Kranken angemessen dachte, hat man die προσ-
ευχὴ καὶ νηςεία als eine dem Besessenen, um die Kur ra-
dikal zu machen, gegebene Vorschrift angesehen 47). Al-
lein in offenbarem Widerspruch gegen die Erzählung.
Denn wenn Fasten und Beten von Seiten des Kranken zum
Gelingen der Kur erforderlich gewesen wäre: so hätten
wir eine allmählige Heilung und keine plözliche, was doch
alle Kuren sind, die in den Evangelien von Jesu erzählt
werden, und wie namentlich diese durch das καὶ ἐϑεραπεύ-
ϑη ὁ παῖς ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης bei Matthäus, so wie durch
das zwischen ἐπετίμησε κ. τ. λ. und ἀπέδωκε κ. τ. λ. hin-
eingestellte ἰάσατο bei Lukas deutlich genug bezeichnet
ist. Freilich will Paulus jenen Ausdruck des Matthäus
gerade zu seinem Vortheil wenden, indem er ihn so ver-
steht, von jener Zeit an sei nun der Knabe durch Anwen-
dung der vorgeschriebenen Diät allmählig vollends gesund
geworden. Allein man darf nur dieselbe Formel, wo sie
sonst in den Evangelien als Schluſsformel von Heilungsge-
schichten vorkommt, betrachten, um sich von der Unmög-
lichkeit jener Deutung zu überzeugen. Wenn z. B. die
Geschichte von der Heilung der Blutflüssigen mit der Be-
merkung schlieſst (Matth. 9, 22.): καὶ ἐσώϑη ἡ γυνὴ ἀπὸ
τῆς ὥρας ἐκείνης, so wird man dieſs doch nicht überse-
zen wollen: et exinde mulier paulatim servabatur, son-
dern es kann nur heiſsen: servata erat, servatam se prae-
buit, ab illo temporis momento. Ein Anderes, worauf
sich Paulus beruft, um zu beweisen, daſs Jesus hier ein
fortzusetzendes Heilverfahren eingeleitet habe, ist das ἀπέ-
[46]Zweiter Abschnitt.
δωκεν αὐτὸν τῷ πατρὶ αὐτοῦ bei Lukas, was nach ihm ziem-
lich überflüssig wäre, wenn es nicht ein Übergeben zu be-
sonderer Fürsorge bezeichnen sollte. Allein ἀποδίδωμι
heiſst nicht zunächst übergeben, sondern zurückgeben, und
so liegt in dem Satze nur der Sinn: puerum, quem sa-
nandum acceperat, sanatum reddidit, oder, daſs er den
einer fremden Gewalt, des Dämons, verfallenen Sohn den
Eltern als den ihrigen zurückgegeben habe. Endlich, wie
willkürlich ist es, wenn Paulus das ἐκπορεύεται (Matth.
V. 21.) in der engeren Bedeutung eines völligen Weggehens
vom vorläufigen Ausfahren, was schon auf das Wort Jesu
(V. 18.) geschehen sei, unterscheidet. So daſs uns auch
hier keine successive Kur berichtet ist, sondern, wie sonst
immer, eine momentane, weſswegen denn auch die προσευχὴ
und νηςεία nicht als Vorschrift für den Patienten gefaſst
werden können.
Zu dieser ganzen Geschichte muſs eine analoge Er-
zählung aus 2 Kön. 4, 29 ff. verglichen werden. Hier will
der Prophet Elisa einen gestorbenen Knaben dadurch wie-
der zum Leben bringen, daſs er seinen Knecht Gehasi mit
seinem Stabe sendet, welchen dieser dem Todten auf das
Angesicht legen soll; aber das Vornehmen des Knechts
bleibt ohne Erfolg, und Elisa muſs selbst kommen und den
Knaben in's Leben rufen. Das gleiche Verhältniſs, wie in
dieser A. T.lichen Geschichte zwischen dem Propheten und
seinem Diener, sehen wir in der N. T.lichen Erzählung
zwischen dem Messias und seinen Jüngern, daſs diese oh-
ne ihn nichts thun können, daſs aber er, was ihnen zu
schwer ist, mit Sicherheit vollbringt. Ebendamit aber se-
hen wir auch die Tendenz beider Erzählungen: sie ist,
durch Hinweisung auf den Abstand zwischen ihm und
selbst seinen vertrautesten Schülern den Meister zu heben;
oder, wenn wir die vorliegende evangelische Erzählung mit
der von dem gadarenischen Besessenen zusammenhalten,
so können wir sagen: wie jener früher erwogene Fall an
[47]Neuntes Kapitel. §. 89.
sich selbst als einer von höchster Schwierigkeit geschildert
wurde, so dieser durch das Verhältniſs, in welches die
demselben gewachsene Kraft Jesu zu der, wenn auch sonst
noch so groſsen, doch hier nicht ausreichenden Kraft sei-
ner Jünger gestellt wird.
Von den übrigen, kürzer erzählten Dämonenaustrei-
bungen ist die Heilung eines dämonisch Stummen und ei-
nes ebenso Blindstummen oben bei Gelegenheit des daran
sich knüpfenden Vorwurfs eines höllischen Bündnisses, so
wie die der zusammengebückten Frau in der allgemeinen
Betrachtung über die Dämonischen bereits genügend zur
Sprache gekommen; die der besessenen Tochter des kana-
näischen Weibes aber (Matth. 15, 22 ff. Marc. 7, 25 ff.)
hat nur das Eigenthümliche, daſs sie von Jesu durch ein
Wort aus der Entfernung bewirkt wird, wovon später.
Wenn nun den evangelischen Berichten zufolge in
allen diesen Fällen die Austreibung des Dämons Jesu ge-
lungen ist: so bemerkt Paulus, daſs diese Art von Heilun-
gen, unerachtet sie für das Ansehen Jesu bei der Menge
das Meiste gewirkt habe, doch an sich die leichteste ge-
wesen sei, und auch de Wette will für die Heilung der
Dämonischen, aber auch nur für sie, eine psychologische
Erklärung gelten lassen 48); Bemerkungen, welchen wir
nicht werden umhin können beizutreten. Denn sehen wir
als die wirkliche Grundlage des Zustands der Dämonischen
bald eine Art von Verrückung, bald krampfhafte Stimmung
des Nervensystems an, so wissen wir, daſs auf psychische
und Nervenkrankheiten am ehesten auch psychisch einzu-
wirken ist, eine Einwirkung, zu welcher bei dem über-
wiegenden Ansehen Jesu als Propheten und später selbst
als des Messias alle Bedingungen vorhanden waren. Nun
aber findet unter solchen Zuständen eine bedeutende Abstu-
[48]Zweiter Abschnitt.
fung statt, je nachdem sich die psychische Verrückung
mehr oder weniger auch schon körperlich fixirt hat, und
die Verstimmung des Nervensystems mehr oder minder ha-
bituell geworden und in die übrigen Systeme übergegangen
ist. Es stellt sich also der Kanon: je mehr das Übel blos
in einer Verstimmung des Gemüthes lag, auf welches Je-
sus unmittelbar durch sein Wort geistig wirken konnte,
oder in einer leichteren des Nervensystems, auf welches
er durch Vermittlung des Gemüths gewaltigen Eindruck
zu machen im Stande war: desto eher war es möglich,
daſs Jesus λόγῳ (Matth. 8, 16.) und παραχρῆμα (Luc. 13,
13.) dergleichen Zuständen ein Ende machen konnte; je
mehr aber umgekehrt das Übel sich auch schon als kör-
perliche Krankheit festgesezt hatte, desto schwerer ist an-
zunehmen, daſs Jesus im Stande gewesen sei, auf rein psy-
chologische Weise und augenblicklich Hülfe zu schaffen.
Ein zweiter Kanon ergiebt sich daraus, daſs, um bedeutend
geistig einwirken zu können, das ganze Ansehen Jesu als
Propheten mitwirken muſste, weſswegen er in Zeiten und
Gegenden, wo er längst in diesem Rufe stand, leichter auf
jene Weise wirken konnte, als wo nicht.
An diese beiden Maſsstäbe die evangelischen Erzäh-
lungen gehalten, steht der ersten von dem Vorgang in der
Synagoge zu Kapernaum, sobald man nur davon abgeht,
sie als durchaus historisch zu betrachten, nicht mehr all-
zuviel entgegen. Denn ob sie gleich so lautet, als hätte der
Dämon Jesum aus sich selbst erkannt, so kann doch theils
der in jenen Gegenden bereits sich ausbreitende Ruf Jesu,
theils seine gewaltige Rede in der Synagoge auf den Dä-
monischen den Eindruck, wenn auch nicht, daſs Jesus der
Messias sei, wie die Evangelisten sagen, doch, daſs er ein
Prophet sein müsse, gemacht, und so seinem Worte Nach-
druck gegeben haben. Was aber den Zustand des Kran-
ken betrifft, so wird uns nur von der fixen Idee desselben,
besessen zu sein, und von krampfhaften Anfällen gemeldet,
[49]Neuntes Kapitel. §. 89.
welche möglicherweise von der leichteren Art gewesen
sein könnten, der sich auf psychologischem Wege beikom-
men lieſs. Schwieriger in beiden Hinsichten ist die Hei-
lung der Gadarener. Denn einmal war Jesus am jenseiti-
gen Ufer nicht so bekannt, und dann wird uns der Zustand
derselben als ein so heftiger und eingewurzelter Wahnsinn
geschildert, daſs hier schwerlich ein Wort Jesu genügen
konnte, um dem schrecklichen Zustand ein Ende zu ma-
chen. Hier reicht somit die natürliche Erklärung von Pau-
lus nicht hin, sondern, wenn überhaupt noch etwas von
der Erzählung stehen bleiben soll, so müſste man anneh-
men, daſs, wie andre Theile derselben, so namentlich die
Schilderung von dem Zustande des Kranken sagenhaft über-
trieben sei. Ebendieſs wäre in Bezug auf die Heilung des
mondsüchtigen Knaben anzunehmen, da eine von Kindheit
an (Marc. V. 21.) dauernde, so heftige und in bestimmten
Perioden sich wiederholende Epilepsie etwas zu sehr im
Körper eingewurzeltes ist, als daſs die Möglichkeit einer
so schnellen reinpsychologischen Hülfe glaublich sein könn-
te. Daſs aber selbst Stummheit und vieljährige Verkrüm-
mung, welche doch nicht mit Paulus als bloſse närrische
Einbildung, man dürfe nicht reden oder sich aufrichten 49),
genommen werden kann, auf ein Wort gewichen sei,
wird man ohne vorgefaſste dogmatische Meinungen sich
nicht überreden können. Am wenigsten endlich läſst sich
denken, daſs auch ohne das Imposante seiner Gegenwart
der Wunderthäter aus der Ferne habe wirken können, wie
dieſs Jesus auf die Tochter des kananäischen Weibes ge-
than haben soll.
So sehr sich also der Natur der Sache nach annehmen
lieſse, daſs Jesus manche an vermeintlich dämonischer Ver-
rückung oder Nervenstörung leidende Personen auf psychische
Weise durch die Übermacht seines Ansehens und Wortes ge-
Das Leben Jesu II. Band. 4
[50]Zweiter Abschnitt.
heilt habe: so augenscheinlich ist es doch (wenn man nicht mit
Venturini50) und Kaiser51) annehmen will, Kranke die-
ser Art haben sich nicht selten geheilt geglaubt, wenn nur
durch Jesu Einwirkung die Krisis gebrochen war, und die
Referenten haben sie dafür ausgegeben, weil sie nichts
Weiteres von ihnen erfuhren und also von der wahrschein-
lich wiedergekehrten Krankheit nichts wuſsten), daſs die
Sage auch in diesem Felde nicht gefeiert, sondern die
leichteren Fälle, welche allein auf jene Weise kurirt wer-
den konnten, mit den schwersten und complicirtesten ver-
tauscht hat, auf welche eine psychologische Heilart gar
keine Anwendung finden konnte 52). Ob sich hiemit die
obige Verweigerung jedes Zeichens von Seiten Jesu verei-
nigen lasse, oder ob, um diese begreiflich zu finden, auch
solche psychologisch erklärbare Heilungen, welche aber
doch nur als Wunder erscheinen konnten, Jesu abgespro-
chen werden müssen, und ob hinwiederum nach Entzie-
hung auch dieser Grundlage die Ausbildung so vieler Wun-
dererzählungen von Jesu sich erklären lasse? soll hier nur
als Frage aufgestellt werden.
Werfen wir schlieſslich noch einen Blick auf das jo-
hanneische Evangelium, welches von Dämonischen und de-
ren Heilung durch Jesum nichts hat, so ist dieſs dem Apo-
stel Johannes, dem voraussezlichen Verfasser, nicht selten
als ein Zeichen geläuterter Ansichten zum Vortheil ange-
rechnet worden 53). Allein, wenn der genannte Apostel
[51]Neuntes Kapitel. §. 89.
an wirkliche Teufelsbesitzungen nicht glau' te, so hatte er
als Verfasser des vierten Evangeliums, der gewöhnlichen
Ansicht von seinem Verhältniſs zu den Synoptikern zufol-
ge, die bestimmteste Veranlassung, sie zu berichtigen, und
der Verbreitung einer nach seiner Ansicht falschen Mei-
nung durch eine Darstellung dieser Heilungen vom richti-
gen Gesichtspunkt aus vorzubeugen. Doch wie konnte der
Apostel Johannes zur Verwerfung der Ansicht, daſs jene
Krankheiten ihren Grund in dämonischen Besitzungen ha-
ben, kommen? Sie war nach Josephus jüdische Volksan-
sicht in jener Zeit, von der ein palästinischer Jude, der,
wie Johannes, erst in späteren Jahren in das Ausland
wanderte, nicht mehr im Stande war, sich loszumachen;
sie war, der Natur der Sache und den synoptischen Be-
richten zufolge, Ansicht Jesu selbst, seines angebeteten Mei-
sters, von welcher der Lieblingsjünger gewiſs keinen Fin-
ger breit abzuweichen geneigt war. Theilte aber Johan-
nes mit seinen Volksgenossen und Jesu selbst die Annah-
me wirklicher Dämonenbesitzungen, und bildete die Hei-
lung solcher Personen einen Haupttheil, ja vielleicht die
eigentliche Grundlage der angeblichen Wunderthätigkeit
Jesu: wie kommt es, daſs er dessenungeachtet in seinem
Evangelium ihrer keine Erwähnung thut? Daſs er sie
übergangen habe, weil die übrigen Evangelisten genug der-
gleichen Geschichten aufgenommen hatten, sollte man doch
endlich aufhören zu sagen, da er ja mehr als Eine von ih-
nen schon berichtete Wundergeschichte wiederholt hat,
und sagt man, diese habe er wiederholt, weil sie der Be-
richtigung bedurften: so haben wir bei Erwägung der syn-
optischen Relationen von den Heilungen der Dämonischen
gesehen, daſs bei manchen derselben eine Zurückführung
auf die einfache geschichtliche Grundlage gar sehr am Orte
53)
4 *
[52]Zweiter Abschnitt.
gewesen wäre. So bliebe noch, daſs Johannes aus Anbe-
quemung an die griechische Cultur der Kleinasiaten, unter
welchen er geschrieben haben soll, die ihnen unglaublichen
oder anstössigen Dämonengeschichten aus seinem Evange-
lium weggelassen hätte. Aber konnte und durfte wohl,
muſs man auch hier fragen, ein Apostel aus bloſser Ac-
commodation an die feinen Ohren seiner Zuhörer einen so
wesentlichen Zug des Wirkens Jesu zurückbehalten? Ge-
wiſs vielmehr deutet auch dieses Stillschweigen auf einen
Verfasser hin, welcher die Wirksamkeit Jesu nicht aus
eigener Anschauung, sondern nur aus einer durch helle-
nischen Einfluſs modificirten Tradition kannte, in welcher
daher die der höheren griechischen Bildung weniger ent-
sprechenden Dämonenaustreibungen entweder ganz ver-
schwunden, oder doch so zurückgetreten waren, daſs sie
vom Verfasser des Evangeliums übergangen werden konnten.
§. 90.
Heilungen von Aussätzigen.
Unter den Kranken, welche Jesus heilte, spielen ge-
mäſs dem leicht Hautkrankheiten erzeugenden Klima von
Palästina die Aussätzigen eine Hauptrolle. Wo Jesus der
synoptischen Erzählung zufolge die Abgesandten des Täu-
fers auf die faktischen Beweise seiner Messianität hinweist
(Matth. 11, 5.), führt er unter diesen auch das λεπροὶ κα-
ϑαρίζονται auf; wo er seine Jünger bei der ersten Aus-
sendung zu allerhand Wunderthaten bevollmächtigt, stellt
er die Reinigung der Aussätzigen oben an (Matth. 10, 8.),
und zwei Fälle von solchen Heilungen werden uns im Ein-
zelnen erzählt.
Der eine Fall ist allen Synoptikern gemeinschaftlich,
wiewohl sie ihn in verschiedenen Zusammenhang stellen.
Matthäus nämlich läſst Jesu bei'm Herabgehen von dem
Berge, auf welchem er die Bergrede gehalten (8, 1 ff.), die
übrigen in unbestimmter Stellung am Anfang seiner gali-
[53]Neuntes Kapitel. §. 90.
läischen Wirksamkeit (Marc. 1, 40 ff. Luc. 5, 12 ff.) einen
Aussätzigen begegnen, der ihn fuſsfällig um Heilung an-
fleht, und diese auch durch eine Berührung Jesu erhält,
welcher ihn sofort anweist, sich dem Gesetze (3 Mos. 14,
2 ff.) gemäſs dem Priester zur Reinerklärung zu stellen.
Der Zustand des Menschen wird von Matthäus und Mar-
kus einfach durch λεπρὸς, von Lukas sogar durch πλήρης
λέπρας bezeichnet. Nach Paulus freilich war eben dieses
Vollsein von Aussaz ein Symptom der Heilbarkeit, indem
das Ausschlagen und Abblättern des Aussatzes auf der gan-
zen Haut die Reinigungskrisis bezeichne, und demgemäſs
stellt sich jener Ausleger den Hergang folgendermaſsen vor 1).
Der Aussätzige geht Jesum als den Messias um ein Gut-
achten über seinen Zustand und nach Befund um eine Rein-
erklärung an (εἰ ϑέλεις, δύνασαί με καϑαρίσαι), welche
ihm den Gang zum Priester entweder ersparen, oder doch
eine tröstliche Hoffnung auf denselben mitgeben sollte. Je-
sus, indem er sich zu einer Untersuchung bereit erklärt
(ϑέλω), streckt die Hand aus, um ihn zu befühlen, ohne
daſs doch der vielleicht noch ansteckende Kranke ihm zu
nahe käme, und nach genauer Untersuchung spricht er als
Ergebniſs derselben die Überzeugung aus, daſs die Krank-
heit nicht mehr ansteckend sei (καϑαρίσϑητι), worauf sich
denn wirklich bald und leicht (εὐϑέως) der Aussaz vollende
ganz verlor.
Hier ist vor Allem die Behauptung, der Aussätzige sei
gerade in der Reinigungskrise gewesen, dem Texte fremd,
welcher bei den zwei ersten Evangelisten von Aussaz
schlechtweg spricht, während das πλήρης λέπρας des drit-
ten nichts Andres bedeuten kann, als das A. T.liche
מְצׄרׇע כַּשׇּׁﬥֶג (2 Mos. 4, 6. 4 Mos. 12, 10. 2 Kön. 5, 27.),
was dem Zusammenhang nach jedesmal den höchsten Grad
[54]Zweiter Abschnitt.
des Aussatzes bezeichnet. Daſs das καϑαρίζειν nach he-
bräischem und hellenistischem Sprachgebrauch auch bloſs
reinerklären bedeuten könne, ist zwar nicht in Abrede zu
stellen, nur müſste es diese Bedeutung in dem ganzen Ab-
schnitt beibehalten. Daſs nun aber, nachdem von Jesu
erzählt war, er habe das καϑαρίσϑητι gesprochen, Mat-
thäus noch ein καὶ εὐϑέως ἐκαϑαρίσϑη κ. τ. λ. in dem Sin-
ne, daſs also der Kranke wirklich von Jesu reinerklärt
worden sei, hinzugefügt haben sollte, ist der albernen Tau-
tologie wegen so undenkbar, daſs hier, aber dann auch
im ganzen Abschnitt, das καϑαρίζεσϑαι von wirklichem
Gereinigtwerden zu nehmen ist. An das
λεπροὶ καϑαρίζον-
ται
(Matth. 11, 5.) und ‘λεπροὺς καϑαρίζετε’ (Matth. 10, 8.),
wo doch das leztere Wort weder bloſse Reinerklärung,
noch auch etwas Anderes als in der vorliegenden Erzäh-
lung bezeichnen kann, genügt es zu erinnern. Woran aber
die natürliche Deutung der Anekdote am entschiedensten
scheitert, das ist die Zerreissung des ϑέλω, καϑαρίσϑητι.
Wer wird sich überreden können, daſs diese in allen drei
Berichten unmittelbar verbundenen Worte durch eine ziem-
liche Pause getrennt gewesen, daſs das ϑέλω bei oder ei-
gentlich vor dem Befühlen, das καϑαρίσϑητι aber nach
demselben gesprochen worden sei, da doch sämmtliche
Evangelisten beide Worte ohne Unterschied während der
Berührung gesprochen sein lassen? Gewiſs würde, wenn
der angegebene Sinn der ursprüngliche wäre, wenigstens
Einer der Evangelisten, statt des ἥψατο αὐτοῦ ὁ Ἰησοῦς λέ-
γων· ϑέλω, καϑαρίσϑητι, sagen: ὁ Ἰ. ἀπεκρίνατο· ϑέλω, καὶ
ἁψάμενος αὐτοῦ εἶπε· καϑαρίσϑητι. Ist aber das καϑαρί-
σϑητι in Einem Zuge mit ϑέλω gesprochen, so daſs Jesus
lediglich in Folge seines Willens, ohne dazwischeneinge-
tretene Untersuchung, das καϑαρίζεσϑαι eintreten lieſs: so
kann dieſs unmöglich eine Reinerklärung, wozu es einer
vorgängigen Untersuchung bedurfte, sondern muſs ein wirk-
liches Reinmachen gewesen sein. In diesem Zusammenhang
[55]Neuntes Kapitel. §. 90.
ist dann auch das ἅπτεσϑαι nicht von untersuchender Be-
rührung zu verstehen, sondern, wie sonst immer in sol-
chen Erzählungen, von heilender.
Für seine natürliche Erklärung dieses Vorgangs beruft
sich Paulus auf den Kanon, daſs überall in einer Erzäh-
lung das Gewöhnliche und Ordentliche vorausgesezt wer-
den müsse, wo nicht das Gegentheil ausdrücklich angege-
ben sei 2), ein Kanon, welcher an der der ganzen rationa-
listischen Auslegung eigenthümlichen Zweideutigkeit leidet,
was für uns, und was für die auszulegenden Schriftsteller
gewöhnlich und ordentlich ist, nicht zu unterscheiden.
Allerdings, wenn ich einen Gibbon vor mir habe, so darf
ich in seinen Erzählungen, sofern er nicht ausdrücklich
das Gegentheil anmerkt, nur natürliche Ursachen und Vor-
gänge voraussetzen, weil von der Bildung eines solchen
Schriftstellers aus das Übernatürliche höchstens als selten-
ste Ausnahme denkbar ist: schon anders verhält sich dieſs
bei einem Herodot, in dessen Vorstellungsweise das Ein-
greifen höherer Mächte keineswegs ungewöhnlich und aus-
ser der Ordnung ist, und vollends in einer auf jüdischem
Boden gewachsenen Anekdotenreihe, deren Zweck ist, ein
Individuum als höchsten Propheten, als mit Gott innigst
verbundenen Menschen darzustellen, versteht sich das Über-
natürliche so sehr von selbst, daſs jener rationalistische
Kanon sich dahin umkehrt: wo in solchen Erzählungen
auf Erfolge Gewicht gelegt ist, welche, als natürliche be-
trachtet, keine Wichtigkeit haben würden, da müſsten
übernatürliche Ursachen ausdrücklich ausgeschlossen sein,
wenn nicht, daſs solche im Spiele gewesen, als Ansicht
des Erzählers vorausgesezt werden sollte. In der vorlie-
genden Geschichte ist überdieſs das Ausserordentliche des
Hergangs dadurch hinlänglich angedeutet, daſs es heiſst,
auf Jesu Wort habe den Kranken der Aussaz alsbald ver-
[56]Zweiter Abschnitt.
lassen. Freilich weiſs Paulus, wie schon bemerkt, diese
Angabe auf eine allmählige natürliche Genesung zu deuten,
da εὐϑέως, wodurch die Evangelisten die Zeit derselben
bestimmen, je nach dem verschiedenen Zusammenhange das
einemal sogleich bedeute, das andremal nur bald und un-
gehindert. Dieſs eingeräumt, soll nun das bei Markus in
unmittelbarem Zusammenhang folgende εὐϑέως ἐξέβαλεν
αὐτὸν (V. 43.) sagen wollen, bald und ungehindert habe
Jesus den Geheilten hinausgetrieben? Oder soll in zwei
aufeinander folgenden Versen das Wort in verschiedenem
Sinne genommen werden?
Ist somit nach der Absicht der evangelischen Referen-
ten von einem augenblicklichen Verschwinden des Aussatzes
auf das Wort und die Berührung Jesu hin die Rede: so
ist, sich dieſs denkbar zu machen, freilich noch eine ganz
andre Aufgabe, als die, das augenblickliche Zurechtbrin-
gen eines mit fixer Idee Behafteten, oder einen bleibend
stärkenden Eindruck auf einen Nervenkranken sich vorzu-
stellen. Daſs eine, in Folge tiefer Verderbniſs der Säfte
durch den hartnäckigsten und bösartigsten aller Ausschläge
zerfressene Haut durch ein Wort und eine Berührung au-
genblicklich rein und gesund geworden sein sollte, dieſs
ist, weil es etwas einer langen Reihe von Vermittlungen
Bedürftiges als unmittelbar eingetreten darstellt, so undenk-
bar 3), daſs es jeden, der ausserhalb gewisser Vorurtheile
steht (was der Kritiker immer soll), unwillkührlich an das
Fabelreich erinnern muſs. Und im fabelhaften Gebiet mor-
genländischer, näher jüdischer Sage finden wir wirklich
das plötzliche sowohl Entstehen – als Verschwindenmachen
des Aussatzes zuerst. Als Jehova den Moses zum Behuf
seiner Sendung nach Ägypten mit der Fähigkeit, allerlei
Zeichen zu thun, ausrüstete, hieſs er ihn unter Anderem
auch seine Hand in den Busen stecken, und als er sie
[57]Neuntes Kapitel. §. 90.
herauszog, war sie von Aussaz bedeckt: er muſste sie
noch einmal hineinstecken, und beim abermaligen Heraus-
ziehen war sie wieder rein (2 Mos. 4, 6. 7.). Später, we-
gen eines Empörungsversuchs gegen Moses, wurde seine
Schwester Mirjam plözlich mit Aussaz geschlagen, aber auf
die Fürbitte des Moses bald wieder geheilt (4 Mos. 12, 10 ff.).
Besonders aber spielt unter den Wunderthaten des Pro-
pheten Elisa die Heilung eines Aussätzigen, deren auch Je-
sus (Luc. 4, 27.) gedenkt, eine bedeutende Rolle. Der sy-
rische Feldherr Naëman, welcher am Aussaz litt, wandte
sich an den israëlitischen Propheten um Hülfe; dieser lieſs
ihm die Weisung geben, er solle sich siebenmal im Jordan
waschen, worauf auch wirklich der Aussaz wich, welchen
aber der Prophet später veranlaſst war, auf seinen betrü-
gerischen Diener Gehasi überzutragen (2 Kön. 5.). Ich
wüſste nicht, was wir ausser diesen A. T.lichen Vorgän-
gen noch weiter bedürfen sollten, um die Entstehung der
evangelischen Anekdote erklärbar zu finden. Was der er-
ste Goël in Jehova's Auftrag vermochte, das, wie gesagt,
muſste auch der zweite zu thun im Stande sein, und oh-
nehin hinter einem Propheten durfte der Propheten gröſs-
ter nicht zurückbleiben. Waren hienach ohne Zweifel schon
in dem jüdischen Messiasbilde dergleichen Heilungen mit-
begriffen, so waren noch bestimmter die Christen, welche
den Messias in Jesu wirklich erschienen glaubten, veran-
laſst, seine Geschichte durch solche aus der mosaischen
und prophetischen Sage genommene Züge zu verherrlichen,
nur daſs sie dem milden Geiste des neuen Bundes (Luc.
9, 55 f.) gemäſs die strafende Seite jener alten Wunder
weglieſsen.
Etwas mehr Schein hat die rationalistische Berufung
auf den Mangel einer ausdrücklichen Angabe, daſs eine
wunderbare Reinigung vom Aussaz gemeint sei, bei der
Erzählung von den zehn Aussätzigen, welche dem Lukas
eigenthümlich ist (17, 12 ff.). Hier nämlich verlangen we-
[58]Zweiter Abschnitt.
der die Kranken ausdrücklich die Heilung, sondern sie ru-
fen nur: ἐλέησον ἡμᾶς, noch thut Jesus ein hierauf sich
beziehendes Machtwort, sondern er weist sie nur an, sich
den Priestern zu zeigen, was man denn rationalistischer-
seits nicht säumt, dahin zu erklären, daſs Jesus, nach ge-
nommener Kenntniſs von ihrem Zustand, sie ermuntert ha-
be, sich der priesterlichen Visitation zu unterwerfen; dieſs
habe wirklich ihre Reinsprechung zur Folge gehabt, und
der Samariter sei umgekehrt, um Jesu für seinen ermuthi-
genden Rath zu danken 4). Allein so angelegentlich, wie
es hier beschrieben wird, durch ein πίπτειν ἐπὶ πρόσωπον,
dankt man nicht für einen bloſsen Rath, noch weniger
konnte Jesus verlangen, daſs um des Erfolgs dieses Ra-
thes willen alle Zehne hätten umkehren sollen, und zwar
um Gott die Ehre zu geben — soll man nun sagen dafür,
daſs er Jesum befähigt habe, ihnen einen so guten Rath
zu ertheilen? Nein, sondern hier wird eine reellere Lei-
stung vorausgesezt, und diese giebt die Erzählung wirklich
an, wenn sie sowohl die Umkehr des Samariters durch
ἰδὼν ὅτι ἰάϑη begründet, als auch Jesum den Grund, wa-
rum er von Allen Dank erwartet hätte, durch ὅχὶ οἱ δέκα
ἐκαϑαρίσϑησαν; aussprechen läſst, was Beides doch nur
höchst gezwungen so erklärt werden kann, daſs, weil sie
gesehen, daſs Jesus mit seiner Reinerklärung recht gehabt,
der eine wirklich umgekehrt sei, ihm zu danken, die übri-
gen aber hätten umkehren sollen. Entscheidend aber ge-
gen die natürliche Erklärung ist der Saz: ἐν τῷ ὑπάγειν
αὐτοὺς ἐκαϑαρίσϑησαν. Wollte hier nach jener Deutung
der Referent bloſs sagen: wie die Kranken, beim Priester
angekommen, sich ihm zeigten, wurden sie für rein er-
klärt: so muſste er wenigstens setzen: πορευϑέντες ἐκα-
ϑαρίσϑησαν: wogegen nun die absichtsvolle Wahl des ἐν
τῷ ὑπάγειν unwidersprechlich zeigt, daſs von einem Rein-
[59]Neuntes Kapitel. §. 90.
werden während des Hingehens die Rede ist. Auch hier
also haben wir eine wunderbare Aussazheilung, welche
eben denselben Schwierigkeiten unterliegt, aber auch eben-
so in ihrer Entstehung erklärbar scheint, wie die vorige
Anekdote.
Doch es kommt bei dieser Erzählung noch etwas Ei-
genthümliches in Betracht, das sie von der vorigen unter-
scheidet. Es ist hier keine simple Heilung, ja die Hei-
lung ist nicht einmal eigentlich die Hauptsache, diese liegt
vielmehr in dem verschiedenen Betragen der Geheilten,
und die Frage Jesu: οὐχὶ οἱ δέκα ἐκαϑαρίσϑησαν κ. τ. λ.
(V. 17 f.) bildet die Spitze des Ganzen, welches hiemit
ganz moralisch schlieſst und zum Behuf der Belehrung
erzählt zu sein scheint 5). Namentlich daſs der als Muster
der Dankbarkeit Erscheinende gerade ein Samariter ist,
muſs bei demjenigen Evangelisten auffallen, welchem auch
die Lehrrede vom barmherzigen Samariter eigenthümlich
ist. Wie nämlich in dieser zwei Juden, ein Priester und
ein Levit, sich unbarmherzig beweisen, ein Samariter da-
gegen musterhaft barmherzig: so steht hier neun undank-
baren Juden ein Samariter als der einzig Dankbare ge-
genüber. Wie daher, sofern doch die plötzliche Heilung
dieser Kranken nicht historisch sein kann, wenn wir auch
hier, wie dort, eine von Jesu vorgetragene Parabel vor
uns hätten, welche die Dankbarkeit, wie jene die Barm-
herzigkeit, am Beispiel eines Samariters darstellen sollte,
nur aber geschichtlich verstanden worden wäre? Dieſs
wäre dann so, wie man schon behauptet hat, daſs es mit
der Versuchungsgeschichte sich verhalte. Doch eben in
Bezug auf diese haben wir gesehen, daſs und warum Je-
sus nie sich selbst unmittelbar in einer Gleichniſsrede auf-
treten lassen konnte, und dieſs müſste er hier gethan ha-
ben, wenn er von zehn Aussätzigen erzählt hätte, die er
[60]Zweiter Abschnitt.
einmal geheilt habe. Wollen wir daher den Gedanken,
hier etwas ursprünglich Parabolisches zu haben, nicht fal-
len lassen, so hätten wir uns die Sache so zu denken, daſs
aus der Sage von Heilungen, welche Jesus auch an Aus-
sätzigen vollbracht habe, einerseits, und andrerseits aus
Parabeln, in welchen Jesus, wie in der vom barmherzigen
Samariter, Individuen dieses angefeindeten Volkes als Mu-
ster verschiedener Tugenden aufstellte, die urchristliche
Sage diese Erzählung zusammengewoben habe, welche eben-
daher halb Wundererzählung, halb Parabel ist.
§. 91.
Blindenheilungen.
Eine der ersten Stellen unter den von Jesu geheilten
Kranken nehmen, gleichfalls nach der Natur des Landes 1),
die Blinden ein, von deren Heilung wiederum nicht bloſs
in den allgemeinen Schilderungen, welche die Evangelisten
(Matth. 15, 30 f. Luc. 7, 21.) oder Jesus selbst (Matth.
11, 5.) von seiner messianischen Thätigkeit geben, die Re-
de ist, sondern auch einige einzelne Fälle ausführlich be-
richtet werden. Und zwar mehrere als von den Heilun-
gen der zulezt beschriebenen Art, ohne Zweifel weil die
Blindheit, als ein Leiden des feinsten und complicirtesten
Organs, mehrere abweichende Behandlungsweisen zulieſs.
Eine dieser Blindenheilungen ist sämmtlichen Synoptikern
gemeinsam; die andern sind (sofern wir den dämonischen
Blindstummen des Matthäus hier nicht wieder zählen) je
eine dem ersten, zweiten und vierten Evangelisten eigen-
thümlich.
Gemeinsam ist den drei synoptischen Evangelien die
Erzählung, daſs Jesus auf seiner lezten Reise nach Jeru-
salem bei Jericho eine Blindenheilung verrichtet habe (Matth.
26, 29. parall.): aber bedeutende Differenzen finden statt
[61]Neuntes Kapitel. §. 91.
sowohl in Bestimmung des Objekts der Heilung, indem
Matthäus zwei Blinde hat, die beiden andern nur Einen,
als auch in Bezug auf das Lokal derselben, indem Lukas
sie bei'm Einzug, Matthäus und Markus bei'm Auszug
aus Jericho vor sich gehen lassen; auch wissen von der
Berührung, mittelst welcher nach dem ersten Evangelisten
Jesus die Blinden heilt, die beiden andern Berichterstat-
ter nichts. Von diesen Differenzen mag sich die lezte
durch die Bemerkung, daſs Markus und Lukas die Berüh-
rung, die sie verschweigen, darum nicht läugnen, etwa lö-
sen lassen: schwieriger ist die erste, welche die Zahl der
Geheilten betrifft. Hier hat man bald mit Zugrundlegung
des Matthäus gesagt, es möge sich einer von beiden Blin-
den besonders ausgezeichnet haben, weſswegen in die er-
ste Überlieferung er allein gekommen sei; Matthäus aber
als Augenzeuge habe ergänzend den zweiten Blinden hin-
zugefügt. So widersprechen weder Lukas und Markus
dem Matthäus, denn sie läugnen nirgends, daſs nicht noch
mehrere als nur der von ihnen hervorgehobene Blinde ge-
heilt worden seien; noch Matthäus den beiden andern,
denn wo Zwei seien, da sei auch Einer 2). Allein wenn
der einfache Erzähler von Einem Individuum spricht (und
sogar, wie Markus, dessen Namen nennt), an welchem et-
was Ausserordentliches geschehen sei: so hat er offenbar
der Angabe, es sei an zwei Individuen vorgegangen, still-
schweigend widersprochen, was ausdrücklich zu thun er
keine Veranlassung hatte. Wenn man sich aber auf die
andre Seite wendet, und, die Einzahl des Markus und Lu-
kas zum Grunde legend, von Matthäus, der hier wohl nicht
Augenzeuge gewesen sei, vermuthet, sein Referent habe
vielleicht den Führer des Blinden für einen zweiten Blin-
den angesehen 3): so ist damit schon ein wahrer Wider-
[62]Zweiter Abschnitt.
spruch zugegeben, nur unnöthigerweise eine höchst unwahr-
scheinliche Veranlassung desselben erdacht. Daſs die drit-
te Differenz, des ἐκπορετομένων ἀπὸ und ἐν τῷ ἐγγίζειν εἰς
Ἱεριχὼ, unlösbar sei, kann, wen die Worte nicht überzeu-
gen, aus den gewaltsamen Ausgleichungsversuchen lernen,
welche von Grotius bis Paulus darüber aufgestellt wor-
den sind.
Besser haben daher die älteren Harmonisten 4) gethan,
welchen deſswegen auch neuere Kritiker beigefallen sind 5),
wenn sie mit Rücksicht auf die zulezt besprochene Diffe-
renz hier zweierlei Begebenheiten unterschieden, und an-
nahmen, Jesus habe zuerst bei'm Einzug in Jericho (nach
Lukas), dann wieder bei'm Auszug (nach Matthäus und
Markus) einen Blinden geheilt. Mit der andern Abwei-
chung, rücksichtlich der Zahl, glauben diese Harmonisten
durch die Voraussetzung fertig zu werden, Matthäus habe
die beiden Blinden, den vor und den hinter Jericho ge-
heilten, zusammengezählt, und die Heilung von beiden
hinter Jericho versezt. Allein, wenn man der Angabe des
Matthäus rücksichtlich der Lokalität der Heilung so viel
Gewicht beilegt, um ihr und der des Markus zufolge zwei
Heilungen, die eine vor, die andre hinter der Stadt anzu-
nehmen: so weiſs ich nicht, warum seine abweichende
Zahlangabe nicht ebensoviel Geltung haben soll, und Storr
scheint mir consequenter zu verfahren, wenn er, auf bei-
de Differenzen gleiches Gewicht legend, annimmt, daſs Je-
sus zuerst bei'm Einzug nach Jericho Einen Blinden (Lu-
kas), dann bei'm Auszug von da zwei Blinde (Matthäus)
geheilt habe 6). Kommt nun aber hiebei Matthäus zu sei-
nem vollen Rechte, so ist dieſs hingegen dem Markus ver-
weigert. Denn wenn dieser, wie hier geschieht, um sei-
[63]Neuntes Kapitel. §. 91.
ner Ortsangabe willen mit Matthäus zusammengestellt ist,
so geschieht hiebei seiner Zahlangabe Gewalt, welche für
sich vielmehr eine Zusammenstellung mit Lukas erheischen
würde: so daſs, wenn man keine seiner Angaben beein-
trächtigen will, was man bei dieser Verfahrungsart nicht
darf, er von beiden gleicherweise getrennt werden muſs.
So hätten wir drei verschiedene Blindenheilungen bei Je-
richo: 1) die Heilung Eines Blinden bei'm Einzug, 2) die
eines weiteren bei'm Auszug, und 3) die Heilung zweier
Blinden bei'm Auszug, also zusammen vier Blinde. Den
zweiten und dritten Fall nun auseinanderzuhalten, ist frei-
lich schwierig. Denn wenn doch Jesus zu zwei verschie-
denen Thoren zu gleicher Zeit nicht ausgezogen sein kann,
so will sich ebensowenig das vorstellen lassen, daſs er,
bloſs auf der Durchreise begriffen, nach dem ersten Aus-
zug wieder in die Stadt zurückgekehrt, und später noch
einmal ausgezogen wäre. Überhaupt aber, drei so ganz
ähnliche Vorfälle hier zusammentreffen zu lassen, will
kaum angehen. Schon die Häufung von Blindenheilungen
muſs befremden. Besonders aber wird das Benehmen der
Begleiter Jesu unbegreiflich, welche, hatten sie einmal bei'm
Einzug gesehen, daſs das ἐπιτιμᾷν τῷ τυφλῷ, ἵνα σιωπήσῃ
nicht in Jesu Sinne sei, indem er ihn ja zu sich rief, dieſs
doch nicht bei dem Auszug, und zwar zweimal, wieder-
holt haben werden. Storr'n freilich stört diese Wiederho-
lung nicht in der Annahme von wenigstens zwei Vorfäl-
len dieser Art, denn Niemand wisse ja, ob diejenigen,
welche hinter Jericho Stille geboten, nicht ganz andre ge-
wesen seien, als die vor der Stadt das Gleiche gethan
hatten; wenn aber auch, so wäre eine solche Wiederho-
lung eines von Jesu faktisch miſsbilligten Benehmens zwar
unschicklich gewesen, aber darum nicht unmöglich, da
auch die Jünger, welche der ersten Speisung angewohnt
hatten, doch vor der zweiten wieder gefragt haben, wo
Brot für so Viele herzunehmen sei? — allein das heiſst aus
[64]Zweiter Abschnitt.
der Wirklichkeit einer Unmöglichkeit auf die der andern
argumentirt, wie wir bald genug bei Betrachtung des
doppelten Speisungswunders sehen werden. Doch nicht
allein das Benehmen der Begleiter, sondern überhaupt fast
alle Züge der Begebenheit müſsten sich auf die unbegreif-
lichste Weise wiederholt haben. Einmal wie das andere
der Ruf der Blinden: ἐλέησον ἡμᾶς, oder με, υἱὲ Δαυίδ!
hierauf (nach dem ihnen von der Umgebung auferlegten
Stillschweigen,) der Befehl Jesu, sie zu ihm zu bringen;
seine Frage, was sie von ihm wollen? ihre Antwort: se-
hend werden; seine Gewährung ihres Wunsches, worauf
sie ihm dankbar nachfolgen. Daſs sich dieſs Alles drei-
mal, oder auch nur zweimal so wiederholt haben sollte,
ist eine der Unmöglichkeit gleichkommende Unwahrschein-
lichkeit, und es müsste entweder nach der von Sieffert
in solchen Fällen angewandten Hypothese eine sagenhafte
Assimilation verschiedener Fakta, oder eine traditionelle
Variation einer einzigen Begebenheit angenommen werden.
Fragt man sich, um hier zu entscheiden: was konnte, ein-
mal eine Vermittlung durch die Sage vorausgesezt, leichter
geschehen, das Eine, daſs dieselbe Geschichte bald von
Einem, bald von Mehreren, bald vom Einzug, bald vom Aus-
zug erzählt wurde? so braucht man das Andre gar nicht
erst dazuzudenken, da jenes Erstere so ohne Vergleichung
wahrscheinlich ist, daſs man keinen Augenblick zweifeln
kann, es als wirklich vorauszusetzen. Reducirt man aber
so die scheinbar mehreren Fakta auf wenigere, so bleibe
man nur nicht mit Sieffert bei der Reduktion auf zwei
stehen, da hiebei nicht allein die Schwierigkeiten hinsicht-
lich der Wiederholung desselben Hergangs bleiben, son-
dern auch die Consequenz verlangt, wenn man die eine
Abweichung (in der Zahl) als unwesentlich aufgiebt, auch
von der andern (im Lokal) zu abstrahiren. Stellt sich
nun, wenn hier nur Eine Begebenheit erzählt werden soll,
die weitere Frage, welche der verschiedenen Erzählungen
[65]Neuntes Kapitel. §. 91.
wohl die ursprüngliche sei? so wird die Ortsangabe zu
keiner Entscheidung helfen, da genau ebensogut vor als
hinter Jericho ein Blinder zu Jesu stoſsen konnte. Eher
wird man in Bezug auf die Zahl Grund haben, sich zu
entscheiden, und zwar zu Gunsten des Lukas und Markus
für bloſs Einen Blinden. Keineswegs zwar aus dem von
Schleiermacher angegebenen Grunde, weil Markus, der
durch die Angabe, wie der Blinde geheiſsen, eine genauere
Bekanntschaft mit den Verhältnissen beurkunde, auch nur
Einen habe 7), da dem so oft auf eigne Hand individuali-
sirenden Markus am wenigsten bei den ihm eigenthümli-
chen Namen zu trauen sein dürfte; sondern aus dem Grun-
de, weil sich denn doch, diesen Fall mit der Erzählung
von dem Gadarenischen Besessenen zusammengehalten, ei-
ne Neigung des ersten Evangeliums zu Verdopplungen
nicht verkennen läſst.
Vielleicht war die Verdoppelung des Blinden bei Mat-
thäus durch die Erinnerung an die demselben Evangelisten
eigenthümliche Erzählung von einer früheren Heilung zweier
Blinden (9, 27 ff.) veranlaſst. Hier, gleichfalls im Wegge-
hen, nämlich von dem Ort, wo er die Tochter des ἄρχων
wiedererweckt hatte, folgen Jesu zwei Blinde nach, (die
bei Jericho sitzen) und rufen ähnlich wie dort den Da-
vidssohn um Erbarmen an, der sie sofort auch hier, wie
dort nach Matthäus, durch Handauflegung heilt. Daneben
finden sich freilich nicht geringe Abweichungen: von ei-
nem Stillegebot der Begleiter Jesu steht hier nichts, und
während bei Jericho Jesus die Blinden sogleich zu sich
ruft, kommen sie in dem früheren Falle erst zu ihm, als
er wieder zu Hause ist; ferner, während er dort sie fragt,
was sie von ihm wollen? fragt er hier gleich, ob sie das
Vertrauen haben, daſs er sie heilen könne? endlich das
Verbot, Niemand etwas zu sagen, ist dem früheren Fall
Das Leben Jesu II. Band. 5
[66]Zweiter Abschnitt.
eigenthümlich. Bei diesem Verhältniſs beider Erzählun-
gen könnte wohl eine Assimilation in der Art stattgefunden
haben, daſs dem Matthäus die zwei Blinden und die Berüh-
rung Jesus aus der ersten Anekdote in die zweite, die
Form des Rufs der Kranken aber aus der zweiten in die
erste hineingekommen wäre.
Wie beide Geschichten angelegt sind, scheint für ei-
ne natürliche Erklärung sich wenig darzubieten. Dennoch
haben die rationalistischen Ausleger eine solche zu veran-
stalten gewuſst. Daſs Jesus in dem früheren Falle die
Blinden fragt, ob sie Vertrauen zu ihm haben, erklärt man
dahin, Jesus habe sich überzeugen wollen, ob sie ihm
wohl bei der Operation festhalten und seine weiteren Vor-
schriften pünktlich befolgen würden 8); erst zu Hause hier-
auf, um ungestört zu sein, habe er ihr Übel untersucht,
und als er in demselben ein heilbares (nach Venturini9)
durch den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) Übel
erkannte, die Leidenden versichert, daſs ihnen nach dem
Maaſs ihres Zutrauens geschehen solle. Hierauf sagt Pau-
lus nur kurz, Jesus habe das Hinderniſs ihres Sehens ent-
fernt; aber auch er muſs sich etwas Ähnliches mit Ven-
turini denken, welcher Jesum die Augen der Blinden mit
einem scharfen, von ihm vorher zubereiteten Wasser be-
streichen, und sie so von dem entzündeten Staube reini-
gen läſst, worauf in Kurzem ihr Gesicht zurückgekehrt
sei. Allein auch diese natürliche Erklärung hat nicht die
mindeste Wurzel im Text; denn weder kann in der von
den Kranken geforderten πίςις etwas Andres, als, wie
immer in ähnlichen Fällen, das Vertrauen auf Jesu Wun-
dermacht, gefunden werden, noch in dem ἥψατο eine chir-
urgische Operation, sondern lediglich jenes Berühren,
welches bei so vielen evangelischen Heilungswundern, sei
[67]Neuntes Kapitel. §. 91.
es als Zeichen oder als Leiter der heilenden Kraft Jesu, er-
scheint; von weiteren Vorschriften zur völligen Herstel-
lung ist ohnehin nichts zu bemerken. Nicht anders verhält
es sich mit der Heilung der Blinden bei Jericho, wo über-
dieſs die zwei mittleren Evangelisten nicht einmal einer
Berührung gedenken.
Sollen aber auf diese Weise nach dem Sinne der Re-
ferenten auf das bloſse Wort oder die Berührung Jesu hin
Blinde augenblicklich sehend geworden sein: so werden
wohl ähnliche Bedenklichkeiten hier eintreten, wie in dem
vorigen Fall mit den Aussätzigen. Denn ein Augenübel,
es mag noch so leicht sein, wie es nicht ohne manchfache
Vermittlung entstanden ist, so wird es noch weniger un-
mittelbar auf ein Wort oder eine Berührung hin weichen
wollen, sondern es erfordert sehr complicirte theils chirur-
gische theils medicinische Behandlung, und so vornehmlich
die Blindheit, wenn sie überhaupt heilbarer Art ist. Wie
sollten wir uns auch die plötzliche heilende Einwirkung ei-
nes Wortes und einer Hand auf ein erblindetes Auge vor-
stellen? rein wunderbar und magisch? das hieſse das Den-
ken über die Sache aufgeben; oder magnetisch? allein es
ist ohne Beispiel, daſs auf dergleichen Übel der Magnetis-
mus von Einfluſs gewesen; oder endlich psychisch? aber
die Blindheit ist etwas vom Seelenleben so Unabhängiges,
selbstständig Körperliches, daſs an eine, namentlich plöz-
liche, Hebung derselben von geistiger Seite her nicht zu
denken ist. Wir müssen folglich bekennen, daſs eine ge-
schichtliche Auffassung dieser Erzählungen uns mehr als
nur schwer fällt, und es kommt nun darauf an, ob wir
die Entstehung unhistorischer Sagen dieser Art wahrschein-
lich machen können.
Die Stelle ist bereits angeführt, wo nach dem ersten
und dritten Evangelium Jesus den Gesandten des Täufers
gegenüber, welche ihn zu fragen hatten, ob er der ἐρχό-
μενος sei, sich auf seine Thaten beruft, und vor allem An-
5 *
[68]Zweiter Abschnitt.
dern hervorhebt, daſs τυφλοὶ ἀναβλέπουσι, zum deutli-
lichen Beweis, daſs namentlich auch solche, an Blinden
verrichtete Wunder vom Messias erwartet wurden, wie
ja jene Worte aus Jes. 35, 5, einer messianisch gedeute-
ten Weissagung, genommen sind, und auch in einer oben
angeführten rabbinischen Stelle unter den Wundern, wel-
che Jehova in der messianischen Zeit ausführen werde,
das hervorgehoben ist, daſs er oculos caecorum aperict,
id quod per Elisam fecit10). Eine eigentliche Blindheit
nun hat Elisa nicht geheilt, sondern nur einmal seinem
Diener die Augen für eine Wahrnehmung aus der über-
sinnlichen Welt eröffnet, und dann eine in Folge seines
Gebets über seine Feinde verhängte Verblendung wieder
aufhören lassen (2 Kön. 17—20.). Diese Thaten des Elisa
nun faſste man, ohne Zweifel in Rücksicht auf die jesaia-
nische Stelle, geradezu als Eröffnung erblindeter Augen
auf, wie wir aus jener rabbinischen Stelle sehen, und so
wurden vom Messias auch Blindenheilungen erwartet 11).
[69]Neuntes Kapitel. §. 91.
Nahm nun die urchristliche Gemeinde, wie sie aus den
Juden hervorgegangen war, Jesum für das messianische
Subjekt, so muſste sie die Tendenz haben, ihm auch alle
messianischen Prädikate, und so auch das in Rede stehen-
de, zuzuschreiben.
Die dem Markus eigenthümliche Erzählung von einer
Blindenheilung bei Bethsaida (8, 22 ff.) ist, neben der
gleichfalls nur bei ihm zu findenden von der Heilung ei-
nes schwerredenden Tauben (7, 32 ff.), welche wir deſs-
wegen hier mitberücksichtigen, die Lieblingserzählung aller
rationalistischen Ausleger. Wären uns doch, rufen sie aus,
auch sonst bei den evangelischen Heilungsgeschichten wie
hier die erklärenden Nebenumstände aufbehalten, so wür-
de, daſs Jesus nicht durch bloſse Machtsprüche heilte, hi-
storisch zu erweisen, und für tiefer Forschende sogar
die natürlichen Mittel seiner Heilungen zu entdecken sein 12)!
So ist, vorzüglich aus Veranlassung dieser Erzählungen,
welchen sich dann aber auch einzelne Züge aus andern
Theilen des zweiten Evangeliums anschlieſsen, Markus in
neuester Zeit auch von solchen, die sonst dieser Ausle-
gungsweise nicht eben geneigt sind, als Patron der natür-
lichen Erklärung dargestellt worden 13).
Was nun unsre beiden Heilungen betrifft, so ist den
rationalistischen Auslegern schon das eine gute Vorbedeu-
tung, daſs Jesus beide Kranke vom Volke weg besonders
nimmt, aus keinem andern Grunde, wie sie glauben, als
um ihren Zustand ärztlich zu untersuchen, und zu sehen,
11)
[70]Zweiter Abschnitt.
ob sich helfen lasse oder nicht. Eine solche Untersuchung
finden die bezeichneten Erklärer vom Evangelisten selbst
angezeigt, wenn nach ihm Jesus dem Tauben die Finger
in die Ohren steckte, wobei er die Taubheit als eine heil-
bare, vielleicht nur durch verhärtete Feuchtigkeit im Ohr
entstandene, gefunden, und hierauf, gleichfalls mit den
Fingern, das Hinderniſs des Gehörs entfernt habe. Wie
das ἔβαλε τοὺς δακτύλους εἰς τὰ ὦτα, so wird auch das ἥψα
το τῆς γλώσσης von einer chirurgischen Operation verstan-
den, durch welche Jesus das Zungenband bis auf den er-
forderlichen Punkt gelöst, und dem erstarrten Organ sei-
ne Gelenkigkeit wieder gegeben habe, und ebenso wird
das ἐπιϑεὶς τὰς χεῖρας αὐτῷ bei dem Blinden dahin erklärt,
Jesus habe vielleicht durch ein Drücken der Augen die
verdickte Linse herausgebracht. Eine weitere Hülfe findet
diese Erklärungsweise darin, daſs Jesus beidemale, an der
Zunge des Schwerredenden und an den Augen des Blin-
den, Speichel anwandte. Schon für sich hat der Speichel,
besonders nach älteren Ärzten 14), eine für die Augen heilsa-
me Kraft; da er indeſs so schnell in keinem Falle wirkt,
um eine Blindheit und einen Fehler der Sprachorgane mit
Einemmale entfernen zu können, so wird für beide Fälle
vermuthet, Jesus habe den Speichel nur gebraucht, um ein
Arzneimittel, wahrscheinlich ein ätzendes Pulver, anzu-
feuchten, wobei sowohl der Blinde nur das Ausspucken ge-
hört, von den eingemischten Medikamenten aber nichts ge-
sehen, als auch der Taube nach dem Geist der Zeit die
natürlichen Mittel wenig beachtet, oder die Sage sie nicht
weiter aufbewahrt habe. Wird hierauf in der Erzählung
vom Tauben die Heilung nur einfach angegeben, so zeich-
net sich die vom Blinden noch dadurch aus, daſs sie die
Wiederherstellung seines Gesichts umständlich als eine suc-
cessive beschreibt. Nachdem Jesus die Augen des Kran-
[71]Neuntes Kapitel. §. 91.
ken auf die beschriebene Weise behandelt hatte, fragte er
denselben, εἴ τι βλέπει; gar nicht, bemerkt Paulus, wie
ein Wunderthäter, der des Erfolges sicher ist, sondern
recht wie ein Arzt, der nach gemachter Operation den
Patienten probiren läſst, ob ihm geholfen sei. Der Kran-
ke erwiedert, er sehe, aber erst undeutlich, so daſs ihm
die Menschen wie Bäume erscheinen. Hier kann nun der
rationalistische Erklärer siegreich, wie es scheint, den
orthodoxen fragen: wenn Jesu die göttliche Kraft zu Be-
wirkung von Heilungen zu Gebote stand, warum heilte er
den Blinden nicht sogleich vollständig? Wenn ihm das
Übel einen Widerstand entgegensezte, den er nicht schon
bei'm ersten Versuch zu überwinden vermochte, wird daraus
nicht klar, daſs seine Kraft eine endliche, gewöhnlich
menschliche gewesen ist? Hierauf legte Jesus noch ein-
mal Hand an die Augen des Kranken, um der ersten Ope-
ration nachzuhelfen, und nun erst war die Kur vollendet 15).
Die Freude der rationalistischen Ausleger an diesen
Erzählungen des Markus ist durch die trockene Bemer-
kung zu stören, daſs auch hier die Umstände, welche die
natürliche Erklärung möglich machen sollen, nicht vom
Evangelisten selbst angegeben, sondern von den Auslegern
untergeschoben sind. Denn bei beiden Heilungen giebt
Markus nur den Speichel her, das wirksame Pulver aber
streuen Paulus und Venturini darein, wie auch nur sie
es sind, die aus dem Legen der Finger in die Ohren zu-
erst ein Sondiren, dann ein Operiren, und aus dem ἐπι-
τιϑέναι τὰς χεῖρας ἐπὶ τοὺς ὀφϑαλμοὺς sprachwidrig statt
eines Handauflegens ein chirurgisches Handanlegen machen.
Auch das Beiseitenehmen der Kranken bezieht sich dem
Zusammenhang zufolge (7, 36. 8, 20.) auf die Absicht Je-
su, den wunderbaren Erfolg geheim zu halten, nicht auf
[72]Zweiter Abschnitt.
das Verlangen, in Anwendung der natürlichen Mittel un-
gestört zu sein: so daſs der rationalistischen Erklärung
alle Stützen sinken und die orthodoxe sich ihr auf's Neue
gegenüberstellen kann. Diese nimmt die Berührung und
den Speichel entweder als Herablassung zu den Kranken,
welchen dadurch nahe gelegt werden sollte, wessen Macht
sie ihre Heilung zu verdanken hätten 16), oder als ein lei-
tendes Medium der geistigen Kraft Christi, an dessen Ge-
brauch er jedoch nicht gebunden gewesen sei 17); das Suc-
cessive der Heilung aber sucht man dann theils so zu wen-
den, daſs Jesus durch die halbe Heilung zuvor den Glau-
ben des Blinden habe beleben wollen, und erst als dieser
gewachsen war, den nunmehr Würdigen ganz wiederher-
gestellt habe 18); oder vermuthet man, dem Blinden, bei
seinem tiefgewurzelten Leiden, wäre eine plötzliche Hei-
lung vielleicht schädlich gewesen 19).
Allein durch diese Versuche, namentlich die lezte Ei-
genheit der evangelischen Erzählung zu deuten, begeben
sich die supranaturalistischen Theologen, welche sie vor-
bringen, selbst auf Einen Boden mit den Rationalisten, in-
dem sie nicht minder als jene in den Text hineintragen,
was in demselben nicht von ferne angedeutet ist. Denn
wo ist in dem Heilverfahren Jesu mit dem Kranken irgend
eine Spur, daſs er zuerst nur darauf ausgegangen sei, sei-
nen Glauben zu prüfen und zu stärken? in welchem Falle
statt des nur seinen äussern Zustand betreffenden ἐπηρώτα
αὐτὸν εἴ τι βλέπει; vielmehr wie Matth. 9, 28. ein πιςεύεις
ὅτι δύναμαι τοῦτο ποιῆσαι; stehen müſste. Vollends aber
die Vermuthung, eine plötzliche Kur möchte schädlich ge-
wesen sein! Der heilende Akt eines Wunderthäters ist
[73]Neuntes Kapitel. §. 91.
doch (namentlich nach Olshausen's Ansicht) nicht als der
bloſs negative der Wegräumung eines Übels, sondern zu-
gleich als der positive einer Mittheilung neuen Lebens und
frischer Kraft an das leidende Organ zu betrachten, bei
welcher von Schädlichkeit ihres plözlichen Eintritts nicht
die Rede sein kann. Da somit kein Grund sich ausfin-
dig machen läſst, aus welchem Jesus absichtlich dem au-
genblicklichen Wirken seiner Wunderkraft Einhalt gethan
hätte, so müſste sie nur ohne seinen Willen von aussen
durch die Macht des eingewurzelten Übels gehemmt wor-
den sein, was aber der ganzen evangelischen Vorstellung
von der selbst dem Tod überlegenen Wundermacht Jesu
entgegen ist, folglich nicht Meinung unsres Evangelisten
sein kann. Sondern die Absicht des Markus, wenn wir
seine ganze schriftstellerische Eigenthümlichkeit erwägen,
kann auch hier auf nichts Andres als auf Veranschauli-
chung gehen. Alles Plözliche aber ist schwer sich zur
Anschauung zu bringen: wer eine geschwinde Bewegung
einem Andern deutlich machen will, der macht sie ihm
zuerst langsam vor, und ein schneller Erfolg wird nur
dann recht vorstellbar, wenn ihn der Erzähler durch al-
le seine Momente hindurchführt; weſswegen denn ein Re-
ferent, dem es darum zu thun ist, in seiner Erzählung der
Vorstellungskraft seiner Leser möglichst zu Hülfe zu kom-
men, auch die Neigung zeigen wird, wo möglich überall das
Unmittelbare zu vermitteln und an dem plözlichen Erfolg doch
das Successive seines Eintritts hervorzukehren. So glaub-
te hier Markus oder sein Gewährsmann viel für die An-
schaulichkeit zu thun, wenn er zwischen die Blindheit des
Mannes und die völlige Herstellung seiner Sehkraft die
halbfertige Heilung oder das Sehen der Menschen wie Bäu-
me einschob, und das eigne Gefühl wird jedem sagen,
daſs dieser Zweck vollkommen erreicht ist. Darin aber
liegt, wie auch Andre bemerkt haben 20), so wenig eine
[74]Zweiter Abschnitt.
Hinneigung des Markus zu natürlicher Auffassung solcher
Wunder, daſs er ja vielmehr nicht selten die Wunder zu
vergrössern bemüht ist, wie wir theils bei'm Gadarener
gesehen haben, theils noch öfters werden bemerken kön-
nen. Auf ähnliche Weise wird dann auch das zu beur-
theilen sein, daſs Markus namentlich in diesen ihm eigenen
Erzählungen (aber auch sonst, wie 6, 13, wo er bemerkt,
daſs die Jünger die Kranken mit Öl gesalbt haben) die
Anwendung äusserer Mittel und Manipulationen bei den
Heilungswundern hervorhebt. Daſs diese Mittel, wie be-
sonders der Speichel, in der damaligen Volksansicht nicht
als natürlich wirkende Ursachen der Heilung galten, davon
kann schon die oben angeführte Erzählung von Vespasian
üherzeugen, so wie Stellen jüdischer und römischer Auto-
ren, nach welchen das Anspucken als magisches Mittel,
vornehmlich gegen Augenübel, galt 21). Sondern Olshau-
sen giebt ganz die damalige Vorstellung, wenn er Berüh-
rung, Speichel u. dgl. für die Conduktoren der dem Wun-
dermann inwohnenden höheren Kraft erklärt. Nur frei-
lich diese Ansicht auch zu der unsrigen machen könnten
wir nur dann, wenn wir mit Olshausen von einer Parallele
der Wunderkraft Jesu mit der animalisch ‒ magnetischen
ausgiengen, eine Vergleichung, welche zur Erklärung der
Wunder Jesu, insbesondere des vorliegenden, unzureichend
und darum überflüssig ist. Wir schreiben daher jene Mit-
tel lediglich auf Rechnung des Evangelisten. Auf diese
kommt dann ohne Zweifel auch das Besondernehmen der
Kranken, die übertreibende Beschreibung der Verwunde-
rung des Volks (ὑπερπερισσῶς ἐξεπλήσσοντο ἅπαντες, 7,
37.), und das strenge Verbot, Niemand von den Heilun-
gen etwas zu sagen. Dieses Geheimhalten gab der Sache
ein mysteriöses Ansehen, welches auch nach andern Stel-
len dem Markus gefallen zu haben scheint. Zu dem My-
[75]Neuntes Kapitel. §. 91.
steriösen gehört bei der Heilung des Tauben auch das
ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν ἐςέναξε (7, 34.). Denn wozu
hier seufzen? über das Elend des Menschengeschlechts 22),
das Jesu aus viel traurigeren Fällen längst bekannt sein
muſste? oder wollen wir durch die Erklärung, daſs jener
Ausdruck nichts weiter, als stilles Beten oder lautes Spre-
chen bedeute 23), der Schwierigkeit ausweichen? Wer
den Markus kennt, wird vielmehr den übertreibenden Er-
zähler darin erkennen, daſs er Jesu eine tiefe Gemüths-
bewegung bei einem Anlaſs zuschreibt, der eine solche gar
nicht hervorbringen konnte, aber von derselben begleitet
sich nur um so geheimniſsvoller ausnahm. Ganz vorzüg-
lich aber scheint mir etwas Mysteriöses darin zu liegen,
daſs Markus das gebietende Wort, mit welchem Jesus die
Ohren des Tauben aufthut, in seiner ursprünglichen syri-
schen Form: ἐφφαϑὰ, wiedergiebt, wie bei der Erweckung
der Tochter des Jairus nur unser Evangelist (5, 41.) das
ταλιϑὰ κοῦμι hat. Man sagt wohl, dieſs seien nichts we-
niger als Zauberformeln gewesen 24); allein, daſs Markus
diese Machtworte so gerne in der seinen Lesern, denen er
sie ja erklären muſs, fremden Ursprache wiedergiebt, be-
weist doch, daſs er eben dieser ihrer ursprünglichen Form
eine besondere Bedeutung beigelegt haben muſs, welche
dem Zusammenhang zufolge nur eine magische scheint ge-
wesen sein zu können. Diese Neigung zum Mysteriösen
können wir rückwärts blickend nun auch in der Anwen-
dung jener äusseren Mittel finden, welche zum Erfolg in
keinem Verhältniſs stehen; denn eben darin besteht ja
das Mysterium, daſs mit einer inadäquaten, endlichen Form
ein unendlicher Inhalt, mit einem scheinbar unwirksamen
Mittel die kräftigste Wirkung sich verbindet.
[76]Zweiter Abschnitt.
Haben wir nun oben die einfache Erzählung sämmt-
licher Synoptiker von der Blindenheilung bei Jericho nicht
für historisch halten können, so sind wir dieſs bei der ge-
heimniſsvollen Schilderung des Einen Markus von der
Heilung eines Blinden bei Bethsaida noch weniger im Stan-
de, sondern wir müssen sie als ein Produkt der Sage mit
mehr oder weniger Zuthaten des evangelischen Referen-
ten ansehen, und ebenso die von ihm mit gleicher Eigen-
thümlichkeit erzählte Heilung des κωφὸς μογιλάλος. Denn
auch bei dieser lezteren Geschichte fehlen uns neben den
schon ausgeführten negativen Gründen gegen ihre histori-
sche Glaubwürdigkeit die positiven Veranlassungen ihrer
mythischen Entstehung nicht, da die Weissagung auf die
messianische Zeit: τότε-ὦτα κωφῶν ἀκου̍σονται —τρανη
δὲ ἔςαι γλῶσσα μογιλάλων (Jes. 35, 5. 6.) vorhanden
war, und nach Matth. 11, 5. eigentlich verstanden wurde.
So günstig der natürlichen Erklärung auf den ersten
Anblick die eben betrachteten Erzählungen des Markus zu
sein schienen: so ungünstig und vernichtend, sollte man
glauben, müsse die johanneische Erzählung, Kap. 9., auf
sie fallen, wo nicht von einem Blinden schlechtweg, des-
sen zufällig eingetretenes Übel leichter wieder zu heben
sein mochte, sondern von einem Blindgeborenen die Rede
ist. Doch wie die Ausleger dieser Richtung scharfsichtig
sind, und den Muth nicht bald verlieren, so wissen sie
auch hier manches ihnen Günstige zu entdecken. Vor Al-
lem den Zustand des Kranken finden sie, so bestimmt auch
das τυφλὸν ἐκ γενετῆς zu lauten scheint, doch nur unge-
nau bezeichnet. Die Zeitbestimmung zwar, welche darin
liegt, enthält sich Paulus, wiewohl ungern und eigentlich
nur halb, umzustoſsen: um so mehr muſs er dann aber an
der Qualitätsbestimmung des Zustandes zu rütteln suchen.
Τυφλὸς müsse nicht gerade totale Blindheit bezeichnen,
und wenn Jesus den Kranken anweise, zum Siloateich zu
gehen, nicht sich führen zu lassen, so müsse derselbe noch
[77]Neuntes Kapitel. §. 91.
einigen Schein des Augenlichts gehabt haben, um selbst
den Weg dahin finden zu können. Noch mehr Hülfe sehen
die rationalistischen Ausleger in dem Heilverfahren Jesu.
Gleich Anfangs (V. 4.) sage er, er müsse wirken ἕως
ἡμέρα ἐςὶν, in der Nacht lasse sich nichts mehr anfangen:
Beweis genug, daſs er den Blinden nicht mit einem blo-
sen Machtwort zu heilen im Sinne gehabt habe, was er
auch bei Nacht hätte aussprechen können, daſs er viel-
mehr eine künstliche Operation habe vornehmen wollen,
zu welcher er freilich das Tageslicht bedurfte. Der πηλὸς
ferner, welchen Jesus mittelst seines Speichels macht und
dem Blinden auf die Augen streicht, ist ja der natürlichen
Auslegung noch günstiger als das bloſse πτύσας bei'm vo-
rigen Fall, weſswegen denn aus demselben die Fragen
und Vermuthungen wie Pilze in üppiger Fülle aufschies-
sen. Woher wuſste Johannes, fragt man, daſs Jesus nichts
weiter als Speichel und Staub zu der Augensalbe nahm?
war er selbst dabei, oder hatte er es blos aus der Erzäh-
lung des geheilten Blinden? Dieser konnte aber bei dem
schwachen Schimmer, den er nur hatte, nicht genau se-
hen, was Jesus vornahm, er konnte vielleicht, wenn Je-
sus, während er aus andern Ingredienzien eine Salbe
mischte, zufällig auch ausspuckte, auf den Wahn verfal-
len, aus dem Ausgespuckten sei die Salbe entstanden.
Noch mehr: hat Jesus, während oder ehe er etwas auf
die Augen strich, nicht auch etwas aus denselben wegge-
nommen, weggestrichen, oder sonst etwas daran verän-
dert, was der Blinde selbst und die Umstehenden leicht
für Nebensache ansehen konnten? Endlich das dem Blin-
den gebotene Waschen im Teiche dauerte vielleicht mehrere
Tage, war eine längere Badekur, und das ἦλϑε βλέπων
sagt nicht, daſs er nach dem ersten Bade, sondern daſs
er zu seiner Zeit, nach Vollendung der Kur, sehend wie-
derkam 25).
[78]Zweiter Abschnitt.
Allein, um von vorne anzufangen, so wird hier dem
ἡμέρα und νὺξ eine Bedeutung gegeben, welche selbst ei-
nem Venturini zu seicht gewesen ist 26), und namentlich
dem Zusammenhang mit V. 5. zuwiderläuft, welcher durch-
aus eine Beziehung der Worte auf den baldigen Hingang
Jesu erheischt 27). Was aber von etwaigen medicinischen
Ingredienzien des πηλὸς vermuthet wird, ist um so boden-
loser, als hier nicht wie bei dem vorigen Fall gesagt wer-
den kann, es werde nur das angegeben, was der Blinde
durch das Gehör oder einen leichten Lichtschimmer wahr-
nehmen konnte, da ja dieſsmal Jesus den Kranken nicht
allein, sondern in Gegenwart seiner Jünger vornahm.
Über die weitere Vermuthung vorangegangener chirurgi-
scher Operationen, durch welche die im Texte allein an-
gegebene Bestreichung und Waschung zur Nebensache wird,
ist nichts zu sagen, als daſs man an diesem Beispiele sieht,
wie zügellos die einmal eingelassene natürliche Erklärung
sich alsbald gebärdet, und die klarsten Worte des Textes
durch die Gebilde ihrer eigenen Combination verdrängt.
Wenn ferner daraus, daſs Jesus den Blinden zum Tei-
che gehen hieſs, gefolgert wird, er müsse noch einen
Schein des Lichts gehabt haben, so ist dagegen zu be-
merken, daſs Jesus demselben nur angab, wohin er sich
begeben (ὑπάγειν) solle; wie er dieſs näher angreifen
wollte, ob allein gehen oder einen Führer nehmen, das
überlieſs er ihm selber. Endlich wenn das engverbun-
dene ἀπῆλϑεν οῦ͗ν καὶ ἐνίφατο καὶ ἦλϑε βλέπων (V. 7,
vgl. V. 11.) zu einer mehrwöchigen Badekur auseinander-
gezogen wird, so ist dieſs gerade, wie wenn man das
veni, vidi, vici übersetzen wollte: nach meiner Ankunft
recognoscirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehöri-
gen Zwischenzeiten unterschiedliche Schlachten, und blieb
endlich Sieger.
[79]Neuntes Kapitel. §. 91.
Es läſst uns also auch hier die natürliche Erklärung
im Stiche, und wir behalten einen von Jesu wunderbar
geheilten Blindgeborenen. Daſs unsre obigen Zweifel ge-
gen die Realität der Blindenheilungen hier, wo es sich
von angeborener Blindheit handelt, in verstärktem Maaſse
wiederkehren, ist natürlich. Und zwar kommen hier noch
einige besondere kritische Gründe hinzu. Keiner der drei
ersten Evangelisten weiſs etwas von dieser Heilung. Nun
aber, wenn doch in der Gestaltung der apostolischen Tra-
dition und in der Auswahl, welche sie unter den von Jesu
zu erzählenden Wundern traf, irgend ein Verstand gewe-
sen sein soll, so muſs sich diese nach den zwei Gesichts-
punkten gerichtet haben: erstlich, die gröſseren Wunder
vor den scheinbar minder bedeutenden auszuwählen, und
zweitens diejenigen, an welche sich erbauliche Erörterun-
gen knüpften, vor denen, bei welchen dieſs nicht der Fall
war. In der ersteren Rücksicht war nun offenbar die Hei-
lung eines von Geburt an Blinden, als die ungleich schwie-
rigere, vor der eines Blinden schlechthin auszuwählen, und
man begreift nicht, wenn doch Jesus wirklich einen Blind-
geborenen sehend gemacht hat, warum davon nichts in
die evangelische Tradition und also in die synoptischen
Evangelien gekommen ist. Freilich konnte mit dieser Rück-
sicht auf die Gröſse des Wunders die andere auf die Er-
baulichkeit der daran sich knüpfenden Reden nicht selten
collidiren, so daſs ein minder auffallendes, aber durch die
Gespräche, die es veranlaſste, fruchtbareres Wunder ei-
nem auffallenderen, aber bei welchem das Leztere weni-
ger zutraf, vorgezogen werden mochte. Allein die Hei-
lung des Blindgeborenen bei Johannes ist von so merkwür-
digen Gesprächen, zuerst Jesu mit den Jüngern, dann
des Geheilten mit der Obrigkeit, endlich Jesu mit dem
Geheilten, begleitet, wie von dergleichen bei den synopti-
schen Blindenheilungen keine Spur ist, Gespräche, von
welchen, wenn auch nicht der ganze dialogische Verlauf,
[80]Zweiter Abschnitt.
so doch gnomische Perlen, wie V. 4. 5. 39., sich auch für
die Darstellung der drei ersten Evangelisten trefflich eig-
neten. Diese hätten also nicht umhin gekonnt, statt der
sowohl weniger merkwürdigen, als auch minder erbauli-
chen Blindenheilungen, welche sie haben, die Heilung
des Blindgeborenen aufzunehmen, wenn dieselbe in der
evangelischen Überlieferung, aus welcher sie schöpften,
befindlich gewesen wäre. Der allgemeinen evangelischen
Verkündigung konnte sie möglicherweise unbekannt blei-
ben, wenn sie an einem Orte und unter Umständen vor-
gefallen war, die ihre Ausbreitung nicht begünstigten, also
wenn sie in einem Winkel des Landes ohne weitere Zeu-
gen verrichtet worden war. Aber Jesus vollbringt sie ja
vielmehr zu Jerusalem, im Kreise seiner Jünger, mit gröſs-
tem Aufsehen in der Stadt, und zum höchsten Anstoſs bei
der Obrigkeit: da muſste die Sache bekannt werden, wenn
sie anders geschehen war, und da wir sie in der gewöhn-
lichen Evangelientradition nicht als bekannt antreffen, so
entsteht der Verdacht, sie möchte vielleicht gar nicht ge-
sehehen sein.
Aber der Gewährsmann ist doch der Apostel Johan-
nes. Wenn dieſs nur nicht, ausser dem unglaublichen,
also schwerlich von einem Augenzeugen herrührenden In-
halt des Berichts, auch noch aus einem andern Grund un-
wahrscheinlich würde. Der Referent erklärt nämlich den
Namen des Teiches Σιλωὰμ durch das griechische ἀπεςαλ-
μένος (V. 7.): eine falsche Erklärung, denn ein Abge-
schickter heiſst שָׁלוּחַ, wogegen שׁלחַֹ der wahrscheinlich-
sten Erklärung zufolge einen Wasserguſs bedeutet 28). Der
Evangelist wählte aber jene Deutung, weil er zwischen
dem Namen des Teichs und der Sendung des Blinden zu
demselben eine bedeutungsvolle Beziehung suchte, und sich
also vorgestellt zu haben scheint, der Teich habe durch
[81]Neuntes Kapitel. §. 91.
besondere Fügung den Namen des Gesendeten bekommen,
weil dereinst vom Messias zur Offenbarung seiner Herr-
lichkeit ein Blinder zu demselben gesendet werden sollte 29).
Nun konnte allerdings ein Apostel eine grammatisch un-
richtige Erklärung geben, sofern er nur nicht als inspirirt
vorausgesetzt wird, und auch ein geborener Palästinenser
konnte sich in Etymologieen hebräischer Worte irren, wie
das A. T. selber zeigt: doch aber sieht eine Spielerei die-
ser Art eher wie das Machwerk eines entfernter Stehen-
den als eines Augenzeugen aus. Der Augenzeuge hatte an
dem angeschauten Wunder und den vernommenen Reden
genug Bedeutungsvolles: erst bei dem entfernter Stehen-
den konnte die Mikrologie eintreten, daſs er auch aus den
kleinsten Nebenzügen eine Bedeutung herauszupressen such-
te. Tholuck und Lücke stossen sich stark an einer sol-
chen, wie der Leztere sich ausdrückt, an Unsinn streifen-
den Allegorie, welche sie ebendeſswegen sich nicht für jo-
hanneisch aufreden lassen wollen, sondern als eine Glosse
betrachten. Da jedoch alle kritischen Auktoritäten, bis
auf Eine, minder bedeutende, dieselbe bieten, so ist eine
solche Behauptung die baare Willkühr, und man hat nur
die Wahl, ob man mit Olshausen auch an diesem Zug als
einem apostolischen sich erbauen 30), oder mit den Proba-
bilien denselben mit unter die Merkmale von dem nicht
apostolischen Ursprung des vierten Evangeliums zählen
will 31).
Was nun aber den Verfasser des vierten Evangeliums,
oder die Überlieferung, aus welcher er schöpfte, veran-
lassen konnte, unzufrieden mit den Blindenheilungen, von
welchen die Synoptiker berichten, die vorliegende Erzäh-
Das Leben Jesu II. Band. 6
[82]Zweiter Abschnitt.
lung auszubilden, liegt schon in dem bisher Ausgeführten.
Es ist schon von Andern die Bemerkung gemacht, wie das
vierte Evangelium zwar wenigere, aber um so stärkere Wun-
der von Jesu erzähle 32). So, wenn die übrigen Evange-
lien simple Paralytische haben, welche Jesus heilt, hat das
vierte Evangelium einen, der 38 Jahre lang gelähmt war;
wenn Jesus in jenen eben Verstorbene wiederbelebt, ruft
er in diesem einen schon vier Tage in der Gruft Gelege-
nen, bei welchem bereits der Eintritt der Verwesung zu
vermuthen war, in das Leben zurück; ebenso hier statt
einfacher Blindenheilungen die Heilung eines Blindgebore-
nen, — eine Steigerung der Wunder, wie sie der apolo-
getisch ‒ dogmatischen Tendenz dieses Evangeliums ganz
angemessen ist. Auf welchem Wege hiebei der Verfasser
des Evangeliums oder die particuläre Tradition, welcher
er folgte, zu den einzelnen Zügen der Erzählung kommen
konnte, ergiebt sich leicht. Das πτύειν war bei magischen
Augenkuren gewöhnlich; der πηλὸς lag als Surrogat einer
Augensalbe nahe und kommt auch sonst bei zauberhaften
Proceduren vor 33); der Befehl, sich im Siloateich zu wa-
schen, kann der Verordnung Elisa's, daſs der aussätzige
Naëman sich siebenmal im Jordan baden solle, nachge-
bildet sein. Die Verhandlungen, welche sich an die Hei-
lung knüpfen, gehen theils aus der, auch von Storr be-
merklich gemachten Tendenz des johanneischen Evangeliums
hervor, sowohl die Heilung als die angeborne Blindheit des
Menschen möglichst urkundlich zu machen und zu verbür-
gen, daher das wiederholte Verhör des Geheilten selbst und
sogar seiner Eltern; theils drehen sie sich um die symbo-
lische Bedeutung der Ausdrücke: τυφλὸς und βλέπων, ἡμέρα
und νὺξ, wie sie zwar auch den Synoptikern nicht fremd
ist, noch specifischer jedoch in den johanneischen Bilder-
kreis gehört.
[83]Neuntes Kapitel. §. 92.
§. 92.
Heilungen von Paralytischen. Ob Jesus Krankheiten als
Sündenstrafen betrachtet habe.
Ein wichtiger Zug in der johanneischen Heilungsge-
schichte des Blindgeborenen ist übergangen worden, weil
er erst in Verbindung mit einem entsprechenden in der
synoptischen Erzählung von der Heilung eines Paralyti-
schen (Matth. 9, 1 ff. Marc. 2, 1 ff. Luc. 5, 17 ff.), die wir
demnächst zu betrachten haben, richtig gewürdigt werden
kann. Hier nämlich erklärt Jesus dem Kranken zuerst:
ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι σου, und hierauf, als Beweis, daſs
er zu solcher Sündenvergebung Vollmacht habe, heilt er
ihn, wobei die Beziehung auf die jüdische Ansicht nicht
verkannt werden kann, daſs das Übel und namentlich die
Krankheit des Einzelnen Strafe seiner Sünde sei; eine An-
sicht, welche, in ihren Grundzügen im A. T. angelegt
(3 Mos. 26, 14 ff. 5 Mos. 28, 15 ff. 2 Chron. 21, 15. 18 f.),
von den späteren Juden auf's Bestimmteste ausgesprochen
wurde 1). Hätten wir nun bloſs jene synoptische Erzäh-
lung, so müſsten wir glauben, Jesus habe die Ansicht sei-
ner Zeit- und Volksgenossen über diesen Punkt getheilt,
indem er ja seine Befugniſs, Sünden (als Grund der Krank-
heit) zu vergeben, durch eine Probe seiner Fähigkeit,
Krankheiten (die Folgen der Sünde) zu heilen, beweist.
Allein, sagt man, es finden sich andre Stellen, wo Jesus die-
ser jüdischen Meinung geradezu widerspricht, und daraus
folgt, daſs, was er dort zum Paralytischen sprach, bloſse
Accommodation an die Vorstellungen des Kranken zur För-
derung seiner Heilung war 2).
Die Hauptstelle, welche man hiefür anzuführen pflegt,
6 *
[84]Zweiter Abschnitt.
ist eben die Einleitung der zulezt betrachteten Geschichte
vom Blindgeborenen (Joh. 9, 1—3). Hier nämlich legen
die Jünger, wie sie den Mann, den sie als von Geburt
an Blinden kennen, am Wege stehen sehen, Jesu die Fra-
ge vor, ob seine Blindheit Folge seiner eigenen, oder der
Sünde seiner Eltern sei? Der Fall war für die jüdische
Vergeltungstheorie besonders schwierig. Von Übeln, wel-
che einem Menschen erst im Verlauf seines Lebens zuge-
stossen sind, wird der auf eine gewisse Seite sich einmal
neigende Beobachter leicht irgend welche eigne Verschul-
dungen dieses Menschen als Ursache ausfindig machen oder
doch voraussetzen. Von angeborenen Übeln dagegen gab
zwar die althebräische Ansicht (2 Mos. 20, 5. 5 Mos. 5, 9.
2 Sam. 3, 29.) die Erklärung an die Hand, daſs durch die-
selben die Sünden der Vorfahren an den Nachkommen
heimgesucht werden; allein, wie für das menschliche Recht
das mosaische Gesez selbst festsezte, daſs Jeder nur für
eigene Vergehungen solle gestraft werden können (5 Mos.
24, 16. 2 Kön. 14, 6.), und auch in Bezug auf die göttli-
che Strafgerechtigkeit die Propheten ein Gleiches ahnten
(Jer. 31, 30. Ezech. 18, 19 f.): so ergab sich für angebo-
rene Übel dem rabbinischen Scharfsinn der Ausweg, sol-
che Menschen mögen wohl schon in Mutterleibe gesündigt
haben 3), und diese Meinung war es ohne Zweifel auch,
welche die Jünger bei ihrer Frage V. 2. voraussetzten
Wenn ihnen nun Jesus zur Antwort giebt, weder um ei-
ner eignen noch um einer Sünde seiner Eltern willen sei
jener Mensch blind zur Welt gekommen, sondern um durch
[85]Neuntes Kapitel. §. 92.
die Heilung, welche er als Messias an ihm vollziehen soll-
te, die Wundermacht Gottes zur Anschauung zu bringen:
so wird dieſs insgemein so verstanden, als hätte damit Je-
sus jene ganze Meinung, daſs Krankheit und sonstiges Übel
wesentlich Sündenstrafe sei, verworfen. Allein ausdrück-
lich spricht hier Jesus nur von dem Falle, der ihm eben
vorlag, daſs dieses bestimmte Übel hier nicht in der Ver-
schuldung des Individuums, sondern in höheren göttlichen
Absichten seinen Grund habe; einen allgemeineren Sinn und
die Verwerfung der ganzen jüdischen Ansicht in jenem
Ausspruch zu finden, könnte man nur durch andre be-
stimmter dahin lautende Ausspräche ein Recht bekommen.
Da nun aber dem Obigen zufolge in den synoptischen Evan-
gelien eine Erzählung sich findet, welche, einfach aufge-
faſst, vielmehr ein Einstimmen Jesu in die herrschende
Meinung enthält, so würde sich fragen, was leichter an-
gehe, jenen synoptischen Ausspruch Jesu als Accommoda-
tion, oder den johanneischen nur mit Bezug auf den vor-
liegenden Fall zu fassen? eine Frage, welche Jeder zu
Gunsten des lezten Gliedes entscheiden wird, der einerseits
die Schwierigkeiten der Accommodationshypothese in ihrer
Anwendung auf die evangelischen Aussprüche Jesu kennt,
und andrerseits sich klar macht, daſs in der betreffenden
Stelle des vierten Evangeliums eine allgemeinere Beziehung
des Ausspruchs gar nicht angedeutet ist.
Freilich darf nach richtigen Interpretationsgrundsätzen
ein Evangelist nicht unmittelbar aus einem andern erläu-
tert werden, sondern es bliebe in unsrem Falle wohl mög-
lich, daſs, während die Synoptiker Jesu jene Zeitansicht
zuschreiben, der höher gebildete Verfasser des vierten
Evangeliums ihn dieselbe verwerfen lieſse: allein daſs auch
er jene Abweisung der Zeitansicht von Seiten Jesu nur
auf den einzelnen Fall bezog, beweist er durch die Art,
wie er ein andermal Jesum reden läſst. Wenn dieser näm-
lich zu dem achtunddreiſsigjährigen Kranken Joh. 5. nach
[86]Zweiter Abschnitt.
seiner Wiederherstellung warnend sagt: μηκέτι ἁμάρτανε,
ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται (V. 14.), so ist dieſs so gut,
als wenn er einem zu Heilenden zuruft: ἀφέωνταί σοι αἱ
ἁμαρτίαι σου, beidemale nämlich wird Krankheit als Sün-
denstrafe hier aufgehoben, dort angedroht. Doch auch hier
wissen die Erklärer, denen es unwillkommen ist, von Jesu
eine Ansicht, welche sie verwerfen, anerkannt zu finden,
dem natürlichen Sinne auszuweichen. Jesus soll das be-
sondre Übel dieses Menschen als eine natürliche Folge
gewisser Ausschweifungen erkannt, und ihn vor Wieder-
holung derselben gewarnt haben, weil dieſs eine gefährli-
chere Recidive herbeiführen könnte 4). Allein der Denk-
weise des Zeitalters Jesu liegt die Einsicht in den natürli-
chen Zusammenhang gewisser Ausschweifungen mit gewis-
sen Krankheiten als deren Folgen weit ferner als die An-
sicht von einem positiven Zusammenhang der Sünde über-
haupt mit der Krankheit als deren Strafe; es müſste also,
wenn wir dennoch den Worten Jesu den ersteren Sinn
sollten unterlegen dürfen, dieser sehr bestimmt in der Stel-
le angezeigt sein. Nun aber ist in der ganzen Erzählung
von einer bestimmten Ausschweifung des Menschen nicht
die Rede, das von Jesu ihm zugerufene μηκέτι ἁμάρτανε be-
zeichnet nur Sündigen überhaupt, und eine Unterredung
Jesu mit dem Kranken, in welcher er denselben über den
Zusammenhang seines Leidens mit einer bestimmten Sünde
belehrt hätte, zu suppliren, 5), ist die willkührlichste Fik-
tion. Welche Auslegung, wenn man, um einem dogmatisch
unangenehmen Ergebniſs auszuweichen, die eine Stelle (Joh.
9.) zu einer nicht in ihr liegenden Allgemeinheit erweitert,
die andere (Matth. 9.) durch die Accommodationshypothe-
se eludirt, der dritten (Joh. 5.) einen modernen Begriff
gewaltsam aufdrängt: statt daſs, wenn man nur die erste
[87]Neuntes Kapitel. §. 92.
Stelle nicht mehr sagen läſst als sie sagt, die beiden an-
dern in ihrem zunächst liegenden Sinn nicht im Mindesten
angetastet zu werden brauchen!
Doch man bringt noch eine weitere, und zwar syn-
optische Stelle herbei, um Jesu die Erhabenheit über die
bezeichnete Volksmeinung zu vindiciren. Wie ihm nämlich
einmal von Galiläern erzählt wurde, welche Pilatus bei'm
Opfern hatte niederhauen lassen, und von andern, welche
durch den Einsturz eines Thurmes verunglückt waren (Luc.
13, 1 ff.), wobei die Erzähler, wie man glauben muſs, zu
erkennen gaben, daſs sie jene Unglücksfälle für göttliche
Strafen der besondern Verworfenheit jener Leute ansehen,
erwiederte Jesus, sie möchten ja nicht glauben, jene Men-
schen seien besonders schlecht gewesen; sie selbst seien
um nichts besser, und sehen daher, falls sie sich nicht be-
kehren, einem gleichen Untergang entgegen. Es ist in der
That nicht klar, wie man in dieser Äusserung Jesu eine
Verwerfung jener Volksansicht finden kann. Wollte Jesus
gegen diese sprechen, so muſste er entweder sagen: ihr
seid ebenso groſse Sünder, wenn ihr auch nicht auf die
gleiche Weise leiblich zu Grunde gehet; oder: glaubet
ihr, daſs jene Menschen ihrer Sünde wegen zu Grunde ge-
gangen seien? nein! dieſs sieht man an euch, die ihr un-
erachtet eurer Schlechtigkeit doch nicht ebenso zu Grunde
gehet. So dagegen, wie der Ausspruch Jesu bei Lukas
lautet, kann der Sinn desselben nur dieser sein: daſs jene
Menschen schon jezt ein solcher Unfall betroffen hat, be-
weist nichts für ihre besondre Schlechtigkeit, so wenig das,
daſs ihr bisher von dergleichen verschont geblieben seid,
für eure gröſsere Würdigkeit beweist; vielmehr werden
früher oder später über euch kommende ähnliche Strafge-
richte eure gleiche Schlechtigkeit beurkunden — wodurch
also das Gesez des Zusammenhangs zwischen Sünde und
Unglück jedes Einzelnen bestätigt, nicht umgestoſsen wür-
de. Diese vulgär-hebräische Ansicht von Krankheit und
[88]Zweiter Abschnitt.
Übel steht nun allerdings im Widerspruch mit jener esote-
rischen, essenisch-ebionitischen, die wir im Eingang der
Bergrede, im Gleichniſs vom reichen Mann und sonst ge-
funden haben, nach welcher vielmehr die Gerechten in die-
sem Äon die Leidenden, Armen, Kranken sind: allein bei-
de Ansichten liegen einmal in den Äusserungen Jesu für
eine unbefangene Exegese zu Tage, und der Widerspruch,
welchen wir zwischen beiden finden, berechtigt uns we-
der, die eine Klasse von Aussprüchen gewaltsam zu deu-
ten, noch auch, sie Jesu abzusprechen, da wir nicht be-
rechnen können, wie er den Widerstreit zweier ihm von
verschiedenen Seiten der damaligen jüdischen Bildung her
gebotenen Weltanschauungen für sich gelöst haben mag.
Was nun die oben erwähnte Heilung betrifft, so las-
sen die Synoptiker Jesum den Boten des Täufers gegen-
über sich namentlich auch darauf berufen, daſs durch sei-
ne Wundermacht ‘χωλοὶ περιπατοῦσιν’ (Matth. 11, 5.), und
ein andermal wundert sich das Volk, wie es neben andern
Geheilten auch χωλοὺς περιπατοῦντας und κυλλοὺς ὑγιεῖς er-
blickt (Matth. 15, 31.). An der Stelle der χωλοὶ werden
anderwärts παραλυτικοὶ aufgeführt (Matth. 4, 24.), und
namentlich sind in den detaillirten Heilungsgeschichten,
welche wir über diese Art von Kranken haben, (wie Matth.
9, 1 ff. parall. 8, 5 ff. parall.) nicht χωλοὶ, sondern παρα-
λυτικοὶ genannt. Der Kranke Joh. 5, 5. gehörte wohl zu
den χωλοῖς, von welchen V. 3. die Rede gewesen war;
ebendaselbst sind ξηροὶ aufgeführt, und so finden wir Matth.
12, 9 ff. parall. die Heilung eines Menschen, der eine χεὶρ
ξηρὰ hatte. Da jedoch die drei zulezt angeführten Hei-
lungen von Gliederkranken unter andern Rubriken uns
wiederkehren werden: so bleibt hier nur die Heilung des
Paralytischen Matth. 9, 1 ff. parall. zu beleuchten übrig.
Da die Definitionen, welche die alten Ärzte von der
παράλυσις geben, zwar alle auf Lähmung, aber unentschie-
[89]Neuntes Kapitel. §. 92.
den, ob totale oder partiale, gehen 6), und überdieſs von
den Evangelisten kein strenges Festhalten an der medicini-
schen Kunstsprache zu erwarten ist, so müssen wir, was
sie unter Paralytischen verstehen, aus ihren eignen Be-
schreibungen von dergleichen Kranken entnehmen. In
unsrer Stelle nun erfahren wir von dem παραλυτικὸς, daſs
er auf einer κλίνη getragen werden muſste, und daſs, ihn
zum Aufstehen und Tragen seines Bettes zu befähigen,
für ein nie gesehenes παράδοξον galt, woraus wir also auf
eine Lähmung wenigstens der Füſse schlieſsen müssen.
Während von Schmerzen und einem hitzigen Charakter der
Krankheit in unsrem Falle nicht die Rede ist, wird ein
solcher in der Geschichte Matth. 8, 6. unverkennbar vor-
ausgesezt, wenn der Centurio von seinem Knechte sagt:
βέβληται-παραλυτικὸς, δεινῶς βασανιζόμενος, so daſs wir
also unter der παράλυσις in den Evangelien bald eine
schmerzlos lähmende, bald eine schmerzhaft gichtische
Gliederkrankheit zu verstehen hätten 7).
In Schilderung der Scene, wie der Paralytische Matth.
9, 1 ff. parall. zu Jesu gebracht wird, findet zwischen den
drei Berichten eine merkliche Abstufung statt. Matthäus
sagt einfach, wie Jesus von einem Ausflug an das jensei-
tige Ufer nach Kapernaum zurückgekehrt sei, habe man
ihm einen Paralytischen, auf einem Lager hingestreckt, ge-
bracht. Lukas beschreibt genau, wie Jesus, von einer
groſsen Menge, namentlich von Pharisäern und Schrift-
gelehrten, umgeben, in einem Hause lehrte und heilte, und
wie die Träger des Paralytischen, weil sie vor der Volks-
menge nicht durch die Thüre zu Jesu gelangen konnten,
den Kranken durch das Dach zu ihm niederlieſsen. Be-
[90]Zweiter Abschnitt.
denkt man die Struktur morgenländischer Häuser, auf de-
ren plattes Dach aus dem oberen Stockwerk eine Öffnung
führte 8), und nimmt man den rabbinischen Sprachgebrauch
hinzu, in welchem der via per portam (דרך פתחים) die
via per tectum (דרך גגין) als nicht minder ordentlicher
Weg, namentlich um in das ὑπερῷον zu gelangen, gegen-
übergestellt wird: so kann man unter dem καϑιέναι διὰ
τῶν κεράμων schwerlich etwas Anderes verstehen, als daſs
die Träger, welche entweder mittelst einer unmittelbar von
der Strasse dahin führenden Treppe, oder vom Dache des
Nachbarhauses aus auf das platte Dach des Hauses, in
welchem Jesus sich befand, gelangt waren, den Kranken
sammt seinem Bette durch die im Dachboden bereits be-
findliche Öffnung, wie es scheint an Stricken, zu Jesu her-
abgelassen haben. Markus, der in der Verlegung der Sce-
ne nach Kapernaum mit Matthäus, in Schilderung des gros-
sen Gedränges und der dadurch veranlaſsten Besteigung des
Daches mit Lukas zusammenstimmt, geht, ausserdem, daſs
er die Zahl der Träger auf viere festsezt, darin noch wei-
ter als Lukas, daſs er dieselben, ohne Rücksicht auf die
schon vorher vorhandene Thüre, das Dach abdecken und
durch eine erst aufgegrabene Öffnung den Kranken hinun-
terbefördern läſst.
Fragen wir auch hier, in welcher Richtung, ob auf-
wärts oder abwärts, der Klimax wohl eher entstanden sein
möge, so hat die auf der Spitze desselben stehende Erzäh-
lung des Markus so viel Schwieriges, daſs sie wohl kaum
für die der Wahrheit nächste wird angesehen werden kön-
nen. Denn nicht allein von Gegnern ist gefragt worden,
wie denn das Dach habe aufgegraben werden können, oh-
ne die darunter Befindlichen zu beschädigen 10)? sondern
9)
[91]Neuntes Kapitel. §. 92.
auch Olshausen räumt ein, daſs die Zerstörung der oberen,
mit Ziegeln bedeckten Fläche etwas Abenteuerliches ha-
be 11). Diesem auszuweichen nehmen manche Erklärer an,
Jesus habe entweder im inneren Hofe 12), oder vor dem
Hause 13) unter freiem Himmel gelehrt, und die Träger ha-
ben nur von der Brustwehr des Daches ein Stück heraus-
gebrochen, um den Kranken bequemer herunterlassen zu
können. Allein sowohl die Bezeichnung: διὰ τῶν κεράμων
bei Lukas, als die Ausdrücke des Markus machen diese
Auffassung unmöglich, indem hier weder ςέγη Brustwehr
des Dachs, noch ἀποςεγάζω das Durchbrechen von dieser,
ἐξορύττω aber doch nur das Aufgraben eines Loches be-
deuten kann. Bleibt hiemit das Aufbrechen des oberen
Dachbodens, so wird dieſs auch noch deſswegen unwahr-
scheinlich, weil es bei der in jedem Dache befindlichen
Thüre völlig überflüssig war. Daher hat man sich durch
die Annahme zu helfen gesucht, daſs die Träger zwar die
im Dache schon vorher befindliche Thüre benüzt, diese
aber, weil sie für die Lagerstatt des Kranken zu eng ge-
wesen, durch Wegbrechen der umgebenden Ziegellagen er-
weitert haben 14); allein auch hiebei bleibt das Gefährli-
che, und die Worte lauten von einer eigens gemachten,
nicht blos erweiterten Öffnung im Dache.
So gefährlich und überflüssig aber ein solches Begin-
nen in der Wirklichkeit war, so leicht läſst sich erklären,
wie Markus, in weiterer Ausmalung des Berichtes von
Lukas begriffen, auf diesen Zug verfallen konnte. Lukas
hatte gesagt, man habe den Kranken hinabgelassen, so daſs er
ἔμπροσϑεν τοῦἸησοῦ herunterkam. Wie konnten die Leute ge-
[92]Zweiter Abschnitt.
rade diese Stelle treffen, fragte sich Markus, wenn Jesus
nicht zufällig unter der Thüre des Daches stand, als da-
durch, daſs sie das Dach in der Gegend, unter welcher
sie Jesum befindlich wuſsten, aufbrachen, (ἀπεςέγασαν
τὴν ςέγην ὅπου ἦν15)? ein Zug, den Markus um so lieber
aufnahm, weil er den keine Mühe scheuenden Eifer, wel-
chen das Zutrauen zu Jesu den Leuten einflöſste, in das
stärkste Licht zu setzen geeignet war. Aber eben aus dem
lezteren Interesse scheint auch schon die Abweichung des
Lukas von Matthäus hervorgegangen zu sein. Bei Mat-
thäus nämlich, der die Träger den Paralytischen auf dem
gewöhnlichen Wege zu Jesu bringen läſst, indem er ohne
Zweifel das mühselige Herbeischleppen des Kranken auf
seinem Lager für sich schon als Probe ihres Glaubens an-
sah, tritt es doch minder bestimmt hervor, worin Jesus
ihre πίςις gesehen haben soll. Wurde nun die Geschichte
ursprünglich so, wie sie im ersten Evangelium lautet, vor-
getragen, so konnte leicht der Reiz entstehen, ein mehr
hervortretendes Zeichen ihres Zutrauens für die Träger
ausfindig zu machen, welches, sofern man die Scene zu-
gleich in groſsem Volksgedränge vor sich gehen lieſs, am
angemessensten in dem ungewöhnlichen Wege bestanden
zu haben scheinen konnte, welchen die Leute einschlugen,
um ihren Kranken zu Jesu zu bringen.
Doch auch die Darstellung des Matthäus können wir
nicht für treuen Bericht von einem Faktum halten. Man
hat zwar den Erfolg dadurch als einen natürlichen darzu-
stellen gesucht, daſs man den Zustand des Kranken nur
für Nervenschwäche erklärte, bei welcher das Schlimmste
die Einbildung des Kranken, sein Übel müsse als Sünden-
strafe fortdauern, gewesen sei 16); man hat sich auf ana-
loge Fälle schneller psychischer Heilung von Lähmungen
[93]Neuntes Kapitel. §. 93.
berufen 17), und eine länger fortgesezte Nachkur ange-
nommen 18); allein das Erste und Lezte ist reine Will-
kühr; wenn aber an den angeblichen Analogieen auch et-
was Wahres sein sollte, so ist es doch immerhin ohne
Vergleichung leichter möglich gewesen, daſs Heilungsge-
schichten von χωλοῖς und παραλυτικοῖς den messianischen
Erwartungen gemäſs sich in der Sage bilden, als daſs sie
wirklich erfolgen konnten. In der schon angeführten Stelle
des Jesaias nämlich, 35, 6, war von der messianischen
Zeit auch verheiſsen: τότε ἁλεῖται ὡς ἐλαφος ὁ χωλὸς, und
in demselben Zusammenhang, V. 3., war den γόνατα πα-
ραλελυμένα ein ἰσχύσατε zugerufen, was, wie die übrigen
damit zusammenhängenden Züge, später eigentlich verstan-
den und als Wunderleistung vom Messias erwartet worden
sein muſs, da sich, wie schon erwähnt, Jesus, zum Be-
weis, daſs er der ἐρχόμενος sei, auch darauf, daſs χωλοὶ
περιπατοῦσι, berief.
§. 93.
Unwillkührliche Heilungen.
Etlichemale in ihren allgemeinen Angaben über die hei-
lende Thätigkeit Jesu bemerken die Synoptiker, daſs Kranke
aller Art Jesum nur zu berühren, oder am Saum seines
Kleides zu fassen gesucht haben, um geheilt zu werden,
was dann auf die Berührung hin auch wirklich erfolgt sei
(Matth. 14, 36. Marc. 3, 10. 6, 56. Luc. 6, 19.). Hier
wirkte also Jesus nicht, wie wir es bis jezt immer gefun-
den haben, mit bestimmter Richtung auf einzelne Kranke,
sondern, ohne daſs er von jedem besondre Notiz nehmen
konnte, auf ganze Massen; sein Vermögen zu heilen er-
scheint hier nicht, wie sonst, an seinen Willen, sondern
[94]Zweiter Abschnitt.
an seinen Leib und dessen Umhüllungen gebunden; er
spendet nicht selbstthätig Kräfte aus, sondern muſs sich
dieselben unwillkührlich abgewinnen lassen.
Auch von dieser Gattung der Heilungswunder ist uns
ein detaillirtes Beispiel aufbehalten, in der Geschichte von
der blutflüssigen Frau, welche sämmtliche Synoptiker wie-
dergeben, und sie auf eigenthümliche Weise mit der Ge-
schichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus so
verflechten, daſs auf dem Hinweg zu dessen Hause Jesus
die Frau geheilt haben soll (Matth. 9, 20 ff. Marc. 5,
25 ff. Luc. 8, 43 ff.). Vergleichen wir die Darstellung
des Vorgangs bei den verschiedenen Evangelisten, so könn-
ten wir dieſsmal versucht sein, die des Lukas für die ur-
sprüngliche zu halten, weil aus ihr die gleichmäſsige Ver-
bindung der bezeichneten zwei Geschichten sich vielleicht
erklären lieſse. Wie nämlich die Leidenszeit der Frau von
sämmtlichen Referenten, so wird von Lukas, welchem
Markus folgt, auch das Lebensalter des Mädchens auf zwölf
Jahre gesezt, eine Gleichheit der Zahl, welche wohl im
Stande gewesen könnte, die beiden Geschichten in der
evangelischen Überlieferung zusammenzugesellen. Doch die-
ses Moment steht viel zu vereinzelt, um für sich eine Ent-
scheidung herbeizuführen, welche nur aus einer durchge-
führten Vergleichung der drei Berichte nach ihren einzel-
nen Zügen hervorgehen kann. Matthäus nun bezeichnet
die Frau einfach als γυνὴ αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη, was ei-
nen so lange andauernden starken Blutverlust, vermuth-
lich in Form zu reichlicher Menstruation, bedeutet. Lu-
kas, der angebliche Arzt, zeigt sich hier seinen Kunstver-
wandten keineswegs hold, sondern sezt hinzu, die Frau
habe ihr ganzes Vermögen an Ärzte gewendet, ohne daſs
diese ihr hätten helfen können. Markus, noch ungünsti-
ger, fügt bei, daſs sie von den vielen Ärzten viel habe
leiden müssen, und daſs es durch dieselben, statt besser,
vielmehr schlimmer mit ihr geworden sei. Die Umgebung
[95]Neuntes Kapitel. §. 93.
Jesu, als die Frau zu ihm tritt, bilden nach Matthäus
seine Jünger, nach Markus und Lukas drängende Volks-
massen. Nachdem nun alle drei Berichterstatter erzählt
haben, wie die Frau, ebenso schüchtern als vertrauens-
voll, von hinten herzugetreten sei und den Saum von Jesu
Gewand berührt habe, melden Markus und Lukas, sie sei
alsbald geheilt worden, Jesus aber habe das Ausgehen ei-
ner Kraft gefühlt und gefragt, wer ihn berührt habe? Als
die Jünger befremdet erwiedern, wie er denn bei so all-
gemeinem Drängen und Drücken des Volks eine einzelne
Berührung habe unterscheiden können? beharrt er nach
Lukas auf seiner Behauptung, nach Markus blickt er su-
chend um sich, die Thäterin ausfindig zu machen. Auf
dieses kommt nach beiden die Frau zitternd herbei, fällt
ihm zu Füſsen und bekennt Alles, worauf er ihr die be-
ruhigende Versicherung giebt, daſs ihr Glaube ihr gehol-
fen habe. Diesen complicirten Hergang hat Matthäus nicht,
sondern läſst nach der Berührung Jesum sich umschauen,
die Frau entdecken, ihr die Rettung durch ihren Glauben
verkündigen, und sofort ihre Heilung erfolgen.
Die vorgelegte Differenz ist so erheblich, daſs man
sich nicht zu sehr wundern darf, wenn Storr zwei ver-
schiedene Heilungen blutflüssiger Frauen annehmen woll-
te 1). Wurde er aber hiezu noch mehr durch die bedeu-
tenderen Abweichungen bestimmt, welche in der mit vor-
liegender Heilungsgeschichte verflochtenen Erzählung von
der Auferweckung der Tochter des Jairus sich finden: so
wird es eben durch diese Verflechtung vollends unmöglich,
sich vorzustellen, daſs Jesus zweimal, beidemale im Hin-
weg zur Wiederbelebung der Tochter eines jüdischen ἄρ-
χων, eine zwölf Jahre lang mit dem Blutfluſs behaftete
Frau geheilt haben solle. Wenn in Betracht dessen die
Kritik längst für die Einheit der faktischen Grundlage un-
[96]Zweiter Abschnitt.
serer drei Erzählungen sich entschieden hat, so hat sie
zugleich den Berichten des Markus und Lukas, ihrer grös-
seren Anschaulichkeit wegen, den Vorzug gegeben 2). Al-
lein, gleich von vorne, wenn doch von Markus Jeder zu-
geben wird, daſs sein Zusaz: ἀλλὰ μᾶλλον εἰς τὸ χεῖ-
ρον ἐλϑοῦσα, als Ausmalung des οὐκ ἴσχυσεν ὑπ̕ οὐδενὸς ϑε-
ραπευϑῆναιbei Lukas, auf seine eigene Rechnung kommt:
so scheint dieser Zug bei Lukas gleichfalls nur eine selbst-
erschlossene Ergänzung des αἱμοῤῥοοῦσα δώδεκα ἔτη zu sein,
welches Matthäus ohne Zusaz wiedergiebt. War die Frau
so lange krank, dachte man, so wird sie in dieser Zeit
viel mit Ärzten zu thun gehabt haben, und weil zugleich
im Contrast gegen die Ärzte, welche nichts ausgerichtet
hatten, die Wundermacht Jesu, welche augenblicklich
Hülfe schaffte, in um so glänzenderem Lichte erschien: so
bildeten sich in der Sage oder bei den Referenten jene
Zusätze. Wie nun, wenn es mit den übrigen Differenzen
sich ebenso verhielte? Daſs die Frau auch nach Matthäus
Jesum nur von hinten berührte, drückte das Bestreben und
die Hoffnung aus, verborgen zu bleiben; daſs Jesus sich
sogleich nach ihr umsah, darin lag, daſs er ihre Berüh-
rung gefühlt haben muſste. Jene Hoffnung der Frau wurde
erklärlicher und dieses Gefühl Jesu um so wundervoller,
je mehr Menschen Jesum umgaben und drängten: daher
wurde aus dem Geleite der μαϑηταὶ bei Matthäus von den
beiden andern ein συνϑλίβεσϑαι durch die ὄχλοι gemacht.
Da zugleich in dem auch von Matthäus erwähnten Um-
schauen Jesu nach der Berührung die Voraussetzung lag,
daſs er diese auf eigenthümliche Weise empfunden habe,
so bildete sich weiterhin die Scene aus, wie Jesus, ob-
gleich von allen Seiten gedrängt, doch jene einzelne Be-
rührung an der Kraft, die sie ihm entlockte, herausfühlt,
und so wurde das einfache ἐπιςραφεὶς καὶ ἰδὼν αὐτὴν des
[97]Neuntes Kapitel. §. 93.
Matthäus zu einem fragenden und die Thäterin aus der
Menge heraussuchenden Sichumwenden, welches das Ge-
ständniſs der Frau zur Folge hatte, umgebildet. Endlich,
weil als das Eigenthümliche dieser Heilungsgeschichte, auch
nach ihrer Gestalt im ersten Evangelium, das Ausgehen ei-
ner Heilkraft aus Jesu noch ehe er die hülfesuchende Per-
son gesehen hatte, sich bemerklich macht: so bestrebte man
sich bei'm Weitererzählen der Geschichte immer mehr,
unmittelbar nach der Berührung den Erfolg eintreten, und
Jesum auch nach demselben noch längere Zeit über die
Thäterin in Ungewiſsheit sein zu lassen (Lezteres im Wi-
derspruch mit der sonstigen Voraussetzung eines höheren
Wissens Jesu); so daſs sich von allen Seiten die Erzäh-
lung des ersten Evangeliums als die frühere und einfachere,
die der beiden andern als spätere und ausgeschmücktere
Formation der Sage zu erkennen giebt.
Was nun den gemeinschaftlichen Inhalt der Erzählungen
betrifft, so ist in neuerer Zeit beiden, orthodoxen wie ra-
tionalistischen Theologen das Unwillkührliche des heilenden
Einwirkens Jesu ein Anstoſs gewesen. Gar zu sehr — hierin
stimmen Paulus und Olshausen zusammen 3) — werde
hiedurch die Wirksamkeit Jesu in das Gebiet des Physi-
schen herabgezogen; Jesus erscheine da wie ein Magne-
tiseur, welcher bei der heilenden Berührung nervenschwa-
cher Personen einen Abgang an Kraft verspürt; wie eine
geladene elektrische Batterie, die bei'm Betasten sich ent-
ladet. Eine solche Vorstellung von Christo, meint Ols-
hausen, verbiete das christliche Bewuſstsein, welches sich
vielmehr genöthigt finde, die in Jesu wohnende Kraftfülle
als durchaus beherrscht durch seinen Willen, und diesen
geleitet durch das Bewuſstsein von dem sittlichen Zustande
der zu heilenden Personen, sich zu denken. Deſswegen
Das Leben Jesu II. Band. 7
[98]Zweiter Abschnitt.
wird nun vorausgesezt, Jesus habe die Frau auch ungese-
hen wohl erkannt, und mit Rücksicht auf ihre Fähigkeit,
durch diese leibliche Hülfe auch geistig gewonnen zu wer-
den, seine heilende Kraft wohlbedacht in sie ausströmen
lassen, sich aber, um ihre falsche Scham zu brechen und
sie zum offenen Bekenntniſs zu treiben, gestellt, als ob er
nicht wüſste, wer ihn berührt habe. Allein das christliche
Bewuſstsein, d. h. in dergleichen Fällen nichts Anderes,
als die fortgeschrittene religiöse Bildung unsrer Zeit, wel-
che die alterthümlichen Vorstellungen der Bibel nicht zu
den ihrigen machen will, hat zu schweigen, wo es eben
nicht auf dogmatische Aneignung, sondern rein auf exege-
tische Ermittlung der biblischen Vorstellungen ankommt.
Wie von der Einmischung dieses angeblich christlichen Be-
wuſstseins alle Verirrungen der Exegese herrühren, so hat
es auch hier den genannten Ausleger von dem offenbaren
Sinn der Berichte abgeführt. Denn nicht nur lautet in
den beiden ausführlicheren Erzählungen die Frage Jesu:
τίς μου ἥψατο; in der Art, wie er sie bei Lukas wieder-
holt und bei Markus durch ein suchendes Umherblicken
bekräftigt, durchaus als eine ernstlich gemeinte, wie ja
überhaupt die Bemühung dieser beiden Evangelisten dahin
geht, das Wunderbare an der Heilkraft Jesu dadurch in
ein besonders helles Licht zu setzen, daſs durch bloſse
glaubige Berührung seines Gewandes, ohne daſs er die be-
rührende Person erst zu kennen, oder ein Wort zu ihr zu spre-
chen brauchte, Heilung von ihm zu erlangen gewesen sei:
sondern auch ursprünglich schon in der kürzeren Darstel-
lung des Matthäus liegt in dem προσελϑοῦσα ὄπισϑεν ἥψα-
το und ἐπιςραφεὶς ἰδὼν αὐτὴν deutlich dieſs, daſs Jesus
erst nachträglich die Frau kennen gelernt habe, nachdem
bereits die heilende Kraft in sie ausgeströmt war. Läſst
sich somit eine der Heilung vorausgegangene Kenntniſs der
Frau und ein specieller Wille, ihr zu helfen, bei Jesu nicht
nachweisen, so bliebe für denjenigen, welcher keine un-
[99]Neuntes Kapitel. §. 93.
willkührliche Äusserung der Heilkraft Jesu annehmen will,
nur übrig, einen beständigen allgemeinen Willen, zu heilen,
in ihm vorauszusetzen, mit welchem dann nur der Glau-
be im Kranken zusammentreffen durfte, um die wirkliche
Heilung hervorzubringen. Allein daſs, unerachtet eine specielle
Willensrichtung auf die Heilung dieser Frau in Jesu nicht
vorhanden war, sie durch ihren bloſsen Glauben, auch oh-
ne Berührung seines Kleides gesund geworden wäre, ist
gewiſs nicht die Vorstellung der Evangelisten, sondern es
tritt hier an die Stelle des individuellen Willensaktes von
Seiten Jesu die Berührung von Seiten des Kranken; diese
ist es, welche statt des ersteren die in Jesu ruhende Kraft
zur Äusserung bringt: so daſs mithin das Materialistische
der Vorstellung auf diesem Wege nicht zu vermeiden ist.
Einen Schritt weiter muſs die rationalistische Ausle-
gung gehen, welcher nicht bloſs, wie dem modernen Su-
pranaturalismus, ein unbewuſstes, sondern überhaupt das
Ausgehen heilender Kräfte von Jesu unglaublich ist, wel-
che aber doch die Evangelisten geschichtlich wahr erzäh-
len lassen will. Nach ihr wurde Jesus zu der Frage, wer
ihn berührt habe, lediglich dadurch veranlaſst, daſs er sich
im Vorwärtsgehen aufgehalten fühlte; daſs die Empfindung
einer δύναμις ἐξελϑοῦσα die Veranlassung gewesen sei, is-
bloſser Schluſs zweier Referenten, von welchen der eine
Markus, es auch bloſs als eigene Bemerkung giebt, und nur
Lukas es der Frage Jesu einverleibt; die Genesung der Frau
wurde durch ihr exaltirtes Zutrauen bewirkt, vermöge
dessen sie bei der Berührung des Saumes Jesu in allen
Nerven zusammenschauderte, wodurch vielleicht eine plözli-
che Zusammenziehung der erweiterten Blutgefäſse herbei-
geführt wurde; übrigens konnte sie im Augenblick nur
meinen, nicht gewiſs wissen, geheilt zu sein, und erst
nach und nach, vielleicht in Folge des Gebrauchs von Mit-
teln, die ihr Jesus anrieth, wird das Übel sich völlig ver-
7 *
[100]Zweiter Abschnitt.
loren haben 4). Allein wer wird sich die schüchterne Be-
rührung einer kranken Frau, deren Absicht war, verbor-
gen zu bleiben, und deren Glaube auch durch das leiseste
Anstreifen Heilung zu erlangen gewiſs war, als ein Anfas-
sen, das Jesum im Gehen aufhielt, vorstellen? was für ein
mächtiges Vertrauen ferner auf die Macht des Vertrauens
gehört zu der Annahme, daſs es ohne Hinzutritt einer rea-
len Kraft von Seiten Jesu einen zwölfjährigen Blutfluſs
geheilt oder auch nur gemindert habe? endlich aber, wenn
die Evangelisten einen selbstgemachten Schluſs (daſs eine
Kraft von ihm ausgegangen) Jesu in den Mund gelegt, und
eine nur successiv eingetretene Wiederherstellung als eine
momentane beschrieben haben sollen: so fällt mit dem Auf-
geben dieser Züge die Bürgschaft für die historische Rea-
lität der ganzen Erzählung, aber ebendamit auch die Ver-
anlassung hinweg, sich mit der natürlichen Erklärung ver-
gebliche Mühe zu machen.
In der That auch, betrachten wir nur die vorliegende
Erzählung etwas näher, und vergleichen sie mit verwand-
ten Anekdoten, so können wir über ihren eigentlichen Cha-
rakter nicht im Zweifel bleiben. Wie hier und an eini-
gen andern Stellen von Jesu erzählt wird, daſs durch blo-
se Berührung seines Kleides Kranke genesen seien: so be-
richtet die Apostelgeschichte, daſs die σουδάρια und σιμι-
κίνϑια des Paulus, wenn man sie auflegte (19, 11 f.), und
von Petrus selbst der Schatten, wenn er auf einen fiel
(5, 15.), Kranke aller Art gesund gemacht habe, und apo-
kryphische Evangelien lassen durch die Windeln und das
Waschwasser des Kindes Jesu eine Masse von Kuren ver-
richtet werden 5). Von diesen lezteren Geschichten weiſs
Jedermann, daſs er sich mit denselben auf dem Gebiet der
[101]Neuntes Kapitel. §. 93.
Sage und Legende befindet; aber wodurch sollen sich von
diesen Kuren durch die Windeln Jesu die Heilungen durch
die Schweiſstücher Pauli unterscheiden, als etwa dadurch,
daſs jene von einem Kinde, diese von einem Erwachsenen
ausgehen? Gewiſs, stände die leztere Nachricht nicht in
einem kanonischen Buche, so würde sie Jedermann für fa-
belhaft halten: und doch soll die Glaubwürdigkeit der Er-
zählungen nicht aus dem vorausgesezten Ursprung des Buchs,
das sie enthält, sondern die Ansicht von dem Buche muſs
aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Erzählungen er-
schlossen werden. Zwischen diesen Heilungen durch die
Schweiſstücher aber und denen durch die Berührung des
Saums am Kleide findet wieder kein wesentlicher Unter-
schied statt. Beidemale eine Berührung von Gegenständen,
welche nur in äusserem Zusammenhang mit dem Wunder-
thäter stehen; nur daſs dieser Zusammenhang bei den
abgelegten Schweiſstüchern ein unterbrochener, bei dem
Gewande noch ein fortdauernder ist; beidemale aber
werden Erfolge, welche doch auch der orthodoxe Stand-
punkt nur aus dem geistigen Wesen jener Männer ablei-
ten, und als Akte ihres mit dem göttlichen einigen Willens
betrachten kann, zu physischen Wirkungen und Ausflüs-
sen gemacht. Steigt hiemit die Sache vom religiösen und
theologischen Standpunkt auf den natürlichen und physi-
kalischen herunter, weil ein Mensch mit einer solchen sei-
nem Körper inwohnenden und ihn als Atmosphäre umflies-
senden Heilkraft zu den Gegenständen der Naturkunde,
nicht mehr der Religion, gehören würde: so findet sich die
Naturwissenschaft ausser Stands, eine solche Heilkraft
durch sichere Analogieen oder klare Begriffe festzustellen,
und es fallen also jene Heilungen, vom objektiven Gebiet
auf das subjektive vertrieben, der Psychologie zur Begutach-
tung anheim. Diese wird nun allerdings, wenn sie die
Macht der Einbildung und des Glaubens in Rechnung
nimmt, für möglich erachten, daſs ohne eine wirkliche
[102]Zweiter Abschnitt.
Heikraft in dem vermeintlichen Wunderthäter, einzig durch
das überschwengliche Zutrauen des Kranken zu demsel-
ben, körperliche Leiden, welche mit dem Nervensystem in
engerem Zusammenhang stehen, geheilt werden können:
wenn nun aber die Psychologie geschichtliche Belege hie-
für aufsucht, so wird die Kritik, welche sie hiebei zu Hül-
fe zu nehmen hat, bald finden, daſs eine weit gröſsere Zahl
von dergleichen Kuren durch den Glauben Anderer erdich-
tet, als durch den angeblich dabei Betheiligter verrichtet
worden ist. So wäre es zwar keineswegs an sich un-
möglich, daſs durch den starken Glauben an eine selbst
den Kleidern und Tüchern Jesu und der Apostel inwoh-
nende Heilkraft manche Kranke bei Berührung derselben
wirklich Besserung verspürt hätten: aber mindestens eben-
sogut läſst sich denken, daſs man erst später, als nach
dem Tode jener Männer ihr Ansehen in der Gemeinde im-
mer höher stieg, dergleichen sich glaubig erzählt habe, und
es kommt auf die Beschaffenheit der Berichte hierüber an,
für welche von beiden Annahmen man sich zu entscheiden
hat. An den allgemeinen Angaben nun in den Evangelien
und der A. G., welche ganze Massen auf jene Weise ku-
rirt werden lassen, ist eben diese Häufung jedenfalls tra-
ditionell; die detaillirte Geschichte aber, welche wir bis-
her untersucht haben, hat darin, daſs sie die Frau ganze
zwölf Jahre lang an einer sehr hartnäckigen und am we-
nigsten blos psychisch zu heilenden Krankheit leiden, und
die Heilung, statt durch die Einbildung der Kranken, durch
eine Jesu fühlbar entströmte Kraft vor sich gehen läſst,
so viel Mythisches, daſs wir eine historische Grundlage
gar nicht mehr herausfinden können, und das Ganze als
Sage betrachten müssen.
Was diesem Zweige der evangelischen Wundersage im
Unterschied von andern sein Dasein gegeben hat, ist nicht
schwer zu sehen. Der sinnliche Glaube des Volks, unfä-
hig, das Göttliche mit dem Gedanken zu ergreifen, strebt,
[103]Neuntes Kapitel. §. 94.
es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da-
her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann
als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver-
wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch
nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil-
kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und
dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte
faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man-
tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des
Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine
Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.
§. 94.
Heilungen in die Ferne.
Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol-
che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent-
lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse
körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er-
folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche
Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber
muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs
sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich
entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der
bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin-
übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh-
ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so
materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen.
Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be-
zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum,
und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der
Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.
Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil-
kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung
des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum,
Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda-
[104]Zweiter Abschnitt.
selbst (Matth. 8, 5 ff. Luc. 7, 1 ff. Joh. 4, 46 ff.); ferner
Matthäus (15, 22 ff.) und Markus (7, 25 ff.) die Heilung der
Tochter des kananäischen Weibes, wovon, da die leztere
in der summarischen Relation nichts Eigenthümliches hat,
nur die ersteren beiden hier zu untersuchen sind. Die
gewöhnliche Ansicht nämlich über die bezeichneten Erzäh-
lungen ist die, daſs zwar Matthäus und Lukas dasselbe,
Johannes aber ein von diesem verschiedenes Faktum mel-
de, da sein Bericht von dem der beiden andern in folgen-
den Zügen abweiche: 1) der Ort, von wo aus Jesus hei-
le, sei bei den Synoptikern der Aufenthaltsort des Kran-
ken, Kapernaum, nach Johannes ein davon verschiedener,
nämlich Kana; 2) die Zeit, in welche die Synoptiker die
Begebenheit setzen, nämlich beide unmittelbar hinter die
Heimkehr Jesu nach der Bergrede, sei von der im vierten
Evangelium angegebenen, ebenso unmittelbar nach der Rück-
kehr Jesu vom ersten Pascha und seiner Wirksamkeit in
Samaria, verschieden; 3) der Kranke sei nach jenen der
Sklave, nach diesem der Sohn des Bittstellers; die wich-
tigsten Abweichungen aber finden 4) in Hinsicht des Bitt-
stellers selber statt, indem er im ersten und dritten Evan-
gelium eine Militärperson (ein ἑκατόνταρχος), im vierten ein
Hofbeamter (βασιλικὸς), nach jenen (laut V. 10 ff. bei
Matth.) ein Heide, nach diesem ohne Zweifel als Jude zu
denken sei; hauptsächlich aber werde er nach den Synop-
tikern von Jesu als Muster des innigsten, demüthigsten
Glaubens belobt, weil er ja Jesum in der Zuversicht, daſs
er auch aus der Ferne heilen könne, verhinderte, in sein
Haus zu gehen: nach Johannes dagegen werde er umge-
kehrt, weil er die Gegenwart Jesu in seinem Hause zum
Behuf der Heilung für nöthig hielt, wegen seines schwa-
chen, der σημεῖα und τέρατα bedürftigen Glaubens geta-
delt 1).
[105]Neuntes Kapitel. §. 94.
Diese Abweichungen sind allerdings bedeutend genug,
um von einem gewissen Gesichtspunkt aus um ihretwillen
auf der Verschiedenheit des dem synoptischen und des dem
johanneischen Berichte zum Grunde liegenden Faktischen
zu beharren: nur sollte man, wenn man es von dieser Seite
so genau nimmt, sich über die Abweichungen, welche auch
zwischen den beiden synoptischen Berichten stattfinden,
nicht verblenden. Schon in Bezeichnung der Person des
Leidenden stimmen sie nicht ganz zusammen: Lukas heiſst
ihn einen δοῦλος ἔντιμος des Hauptmanns, bei Matthäus
nennt dieser ihn ὁ παῖς μου, was ebensowohl einen Sohn
als einen Diener bedeuten kann, und dadurch, daſs der
Hauptmann V. 9, wo er von seinem Knechte spricht, den
Ausdruck: δοῦλος gebraucht, während der Geheilte V. 13.
wieder als ὁ παῖς αὐτοῦ bezeichnet wird, eher im ersteren
Sinne erklärt zu sein scheint. In Betreff seines Leidens
wird der Mensch von Matthäus als ein παραλυτικὸς δει-
νῶς βασανιζόμενος geschildert, von welcher Krankheitsform
Lukas nicht allein schweigt, sondern, indem er zu dem unbe-
stimmten: κακῶς ἔχων noch ἤμελλε τελευτᾷν sezt, Manchen
eine andere Krankheit vorauszusetzen scheint, da die Pa-
ralyse sonst nicht als schnell tödtende Krankheit vor-
komme 2). Als die bedeutendste Differenz aber geht durch
die ganze Erzählung diese hindurch, daſs Alles, was nach
Matthäus der Centurio unmittelbar selbst thut, bei Lukas
durch Gesandtschaften vermittelt ist, indem er hier zuerst
schon, nicht wie bei Matthäus persönlich, sondern durch
die πρεσβυτέρους τῶν Ἰουδαίων Jesum um die Heilung ersucht,
dann aber von dem Betreten seines Hauses ihn wiederum
nicht selbst zurückhält, sondern durch einige Freunde ab-
mahnen läſst. Zur Ausgleichung dieser Differenz pflegt man
sich auf die Regel: quod quis per alium facit etc. zu be-
[106]Zweiter Abschnitt.
rufen 3). Soll damit, wie es auf dem Standpunkt der so
urtheilenden Erklärer nicht anders denkbar ist, gesagt
sein, Matthäus habe wohl gewuſst, daſs zwischen dem
Hauptmann und Jesu Alles durch Mittelspersonen verhan-
delt worden sei, dennoch aber habe er der Kürze wegen
mittelst jener Redefigur ihn selbst mit Jesu sprechen las-
sen: so hat Storr vollkommen recht mit der Gegenbemer-
kung, daſs wohl schwerlich irgend ein Geschichtschreiber
jene Metonymie so beharrlich durch eine ganze Erzählung
hindurchführen würde, und zwar in einem Falle, wo ei-
nerseits die Redefigur sich keineswegs so von selbst verrathe,
wie z. B. wenn einem Feldherrn zugeschrieben wird, was
seine Soldaten thun, und wo andrerseits gerade auf den Um-
stand, ob die Person selbst oder durch Andere gehandelt
habe, zur vollen Erkennbarkeit ihres Charakters etwas an-
komme 4). Mit löblicher Consequenz hat daher Storr, wie
er der bedeutenden Differenzen wegen die Erzählung des
vierten Evangeliums auf ein anderes Faktum beziehen zu
müssen glaubte, als die des ersten und dritten, ebenso um
der Abweichungen willen, welche er zwischen den Berich-
ten der lezteren beiden fand, auch diese für Erzählungen
zweier verschiedenen Begebenheiten erklärt. Wundert man
sich, daſs zu drei verschiedenen Malen ein so ganz ähnli-
cher Heilungsfall an dem gleichen Orte vorgekommen sein
soll (denn auch nach Johannes lag und genas der Kranke
in Kapernaum): so verwundert sich Storr seinerseits, wie
man im Mindesten unwahrscheinlich finden könne, daſs in
Kapernaum zu verschiedenen Zeiten zwei Hauptleute einen
kranken Knecht, und wieder ein andermal ein Hofbeamter
einen kranken Sohn gehabt, daſs der zweite Hauptmann
(des Lukas) von der Geschichte des ersten gehört, sich auf
[107]Neuntes Kapitel. §. 94.
ähnliche Art an Jesum gewendet, und sein Beispiel ebenso
durch Demuth zu übertreffen gesucht habe, wie der erste
Hauptmann (Matth.), dem die frühere Geschichte des Hof-
manns (Joh.) bekannt gewesen sei, das schwache Vertrauen
dieses lezteren habe übertreffen wollen, und daſs endlich
Jesus alle drei Patienten auf dieselbe Weise aus der Ferne
geheilt habe. Allein der Vorfall, daſs ein vornehmer Be-
amter von Kapernaum Jesum um die Heilung eines Ange-
hörigen bat, und Jesus aus der Entfernung so auf diesen
einwirkte, daſs um dieselbe Zeit, da Jesus das heilende
Wort sprach, der Kranke zu Hause genas, ist so einzig
in seiner Art, daſs eine dreimalige Wiederholung dessel-
ben unmöglich angenommen werden kann, und auch schon
eine bloſs zweimalige Schwierigkeiten hat; weſswegen der
Versuch gemacht werden muſs, ob nicht die drei Berichte
auf Eine Grundlage zurückgeführt werden können.
Hier ist nun die am allgemeinsten für verschiedenartig
gehaltene Erzählung des vierten Evangelisten nicht allein
in den schon angegebenen Grundzügen der synoptischen
verwandt, sondern in manchen bemerkenswerthen Einzel-
heiten stimmt einer oder der andere der beiden synopti-
schen Referenten genauer mit Johannes zusammen als mit
dem andern Synoptiker. So, während in dem Zuge, daſs
er den Kranken als παῖς bezeichnet, Matthäus mindestens
ebensowohl mit dem johanneischen υἱὸς übereinstimmend
gefunden werden kann, als mit dem δοῦλος des Lukas, tref-
fen Matthäus und Johannes darin entschieden zusammen,
daſs nach beiden der kapernaitische Beamte sich unmittel-
bar an Jesum selber wendet, und nicht, wie bei Lukas,
durch Vermittler. Dagegen stimmt der johanneische Be-
richt mit dem des Lukas gegen den Matthäus in der Be-
schreibung des Zustandes überein, in welchem der Lei-
dende sich befunden haben soll: beide wissen nichts von
der παράλυσις, von welcher Matthäus spricht, sondern be-
zeichnen den Kranken als dem Tode nahe, Lukas durch
[108]Zweiter Abschnitt.
ἤμελλε τελευτᾷν, Johannes durch ἤμελλεν ἀποϑνήσκειν,
wozu der leztere V. 52 nachträglich bemerkt, daſs die
Krankheit von einem πυρετὸς begleitet gewesen. In Dar-
stellung der Art, wie Jesus die Heilung des Kranken voll-
zog, und wie dessen Genesung erfolgte, steht Johannes
wieder auf Seiten des Matthäus gegen den Lukas. Wäh-
rend nämlich dieser eine ausdrückliche Versicherung Jesu,
daſs der Knecht geheilt sei, gar nicht hat, lassen jene bei-
den ihn sehr übereinstimmend zu dem Beamten sagen, der
eine: ὕπαγε, καὶ ὡς ἐπίςευσας γενηϑήτω σοι, der andere:
πορεύου, ὁ υἱός σου ζῇ, und auch der Schluſs des Matthäus:
καὶ ἰάϑη ὁ παῖς αὐτοῦ ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ, stimmt wenigstens
der Form nach mehr zu der johanneischen Angabe, bei ge-
haltener Nachfrage habe der Vater gefunden, daſs ἐν ἐκείνῃ
τῇ ὥρᾳ, in welcher Jesus jenes Wort gesprochen, sein
Sohn gesund geworden sei, als zu der des Lukas, daſs die
zurückgekehrten Boten den kranken Knecht gesund ange-
troffen haben. In einem andern Punkte dieses Schlusses
wendet sich nun aber die Zustimmung des Johannes von
Matthäus wieder zu Lukas zurück. Bei beiden nämlich
ist von einer Art von Gesandtschaft die Rede, welche zu-
lezt noch aus dem Hause des Beamten tritt: bei Lukas
eine Anzahl von Freunden des Hauptmanns, welche Jesum
abhalten sollen, sich selbst zu bemühen; bei Johannes
Knechte, welche jubelnd ihrem Herrn entgegenziehen und
ihm die Kunde von der Genesung seines Sohnes bringen.
Gewiſs, wo drei Erzählungen so durcheinander verschlun-
gen sind, wie diese, darf man nicht bloſs zwei derselben
für identisch erklären und eine als verschiedene stehen las-
sen, sondern man muſs die drei Berichte entweder alle
auseinander halten, oder alle zusammenwerfen, wie Lez-
teres nach älteren Vorgängern Semler gethan 5), und Tho-
luck wenigstens für möglich erklärt hat, es zu thun. Nur
suchen solche Ausleger dann die Abweichungen der drei
[109]Neuntes Kapitel. §. 94.
Berichte so zu erklären, daſs keiner der Evangelisten et-
was Falsches gesagt haben soll. Den Stand des Bittstel-
lers betreffend sucht man den βασιλικὸς des Johannes zum
Militärbeamten zu machen, wovon dann das ἑκατόνταρχος
der beiden andern nur nähere Bestimmung wäre; was aber
den Hauptpunkt, das Benehmen des Bittstellers, betrifft,
so könnten, meint man, die verschiedenen Erzähler ver-
schiedene Seiten der Sache in der Art hervorgehoben ha-
ben, daſs Johannes nur das Frühere wiedergäbe, wie sich
Jesus über die anfängliche Schwäche des Glaubens in dem
Bittenden beklagte, die Synoptiker nur das Spätere, wie
er seinen schnell gewachsenen Glauben belobte. Wie man
auf noch leichtere Weise die Hauptdifferenz zwischen den
beiden synoptischen Berichten, in Hinsicht der mittelbaren
oder unmittelbaren Bittstellung, ausgleichen zu können
meinte, ist bereits angegeben worden. Dieses Bestreben,
die Widersprüche der drei Relationen auf gütlichem Wege
auszugleichen, ist ein falsches. Es bleibt dabei: die Syn-
optiker haben sich den Bittsteller als einen Centurio ge-
dacht, der vierte Evangelist als einen Hofbeamten; jene
als glaubensstark, dieser als der Stärkung noch bedürftig;
Johannes und Matthäus stellten sich vor, er habe sich un-
mittelbar, Lukas, er habe sich aus Bescheidenheit nur mit-
telbar an Jesum gewendet 6).
Wer stellt nun die Sache auf die rechte, und wer auf
irrige Weise dar? Nehmen wir zuerst die beiden Synop-
tiker für sich, so ist nur Eine Stimme der Erklärer, daſs
Lukas die genauere Darstellung gebe. Schon das will man
unwahrscheinlich finden, daſs der Kranke nach Matthäus
ein Paralytischer gewesen sein sollte, da bei dem Ungefähr-
lichen dieses Leidens der bescheidene Hauptmann schwer-
[110]Zweiter Abschnitt.
lich Jesum gleich bei'm Eintritt in die Stadt in Beschlag
genommen haben würde 7): als ob ein sehr schmerzhaf-
tes Übel, wie das von Matthäus beschriebene, nicht mög-
lichst schnelle Abhülfe wünschenswerth machte, und als
ob es ein unbescheidener Anspruch gewesen wäre, Je-
sum noch vor seiner Nachhausekunft um ein heilendes
Wort zu ersuchen. Vielmehr das umgekehrte Verhält-
niſs zwischen Matthäus und Lukas wird durch die Be-
merkung wahrscheinlich, daſs das Wunder und also auch
das Übel des wunderbar Geheilten in der Überlieferung
sich nie verkleinert, sondern stets vergröſsert, daher eher
der arggeplagte Paralytische zum μέλλων τελευτᾷν gestei-
gert, als dieser zu einem bloſs Leidenden herabgesezt wer-
den mochte. Hauptsächlich aber die doppelte Gesandtschaft
bei Lukas ist nach Schleiermacher etwas, das nicht leicht
erdacht wird. Wie, wenn sich dieser Zug vielmehr sehr
deutlich als einen erdachten zu erkennen gäbe? Während
bei Matthäus der Hauptmann Jesum auf sein Erbieten,
mit ihm gehen zu wollen, durch die Einwendung zurück-
zuhalten sucht: κύριεοὐκ εἰμὶ ἱκανὸς, ἵνα μου ὑπὸ τὴν ςέγην
εἰσέλϑῃς, läſst er bei Lukas durch die abgesandten Freunde
noch hinzusetzen: διὸ οὐδὲ ἐμαυτὸν ἠξίωσα πρός σε ἐλϑεῖν,
womit deutlich genug der Schluſs angegeben ist, auf wel-
chem diese Gesandtschaft beruhte. Erklärte sich der Mann
für unwürdig, daſs Jesus zu ihm komme, dachte man, so
hat er wohl auch sich selbst nicht für würdig gehalten, zu
Jesu zu kommen, eine Steigerung der Demuth des Mannes,
durch welche sich auch hier der Bericht des Lukas als
der secundäre zu erkennen giebt. Den ersten Anstoſs zu
diesen Gesandtschaften scheint übrigens das andere Inter-
esse gegeben zu haben, die Bereitwilligkeit Jesu, in des
Heiden Haus zu gehen, durch eine vorgängige Empfehlung
desselben zu motiviren. Das ist ja das Erste, was die
πρεσβύτεροι τῶν Ἰουδαίων, nachdem sie Jesu den Krankheits-
[111]Neuntes Kapitel. §. 94.
fall berichtet, hinzusetzen, ὅτι ἄξιός ἐςιν ᾧ παρέξει τοῦτο·
ἀγαπᾷ γὰρ τὸ ἔϑνος ἡμῶν κ. τ. λ., ähnlich, wie gleichfalls
bei Lukas, in der A. G. 10, 22., die Boten des Cornelius
dem Petrus, um ihn zu einem Gang in dessen Haus zu
vermögen, auseinandersetzen, daſs er ein ἀνὴρ δίκαιος καὶ
φοβου̍μενος τὸν ϑεὸν,μαρτυρου̍μενός τε ὑπὸ ὅλουτοῦἔϑνους τῶν
Ἰουδαίων sei. Daſs die doppelte Gesandtschaft nicht ursprüng-
lich sein kann, erhellt am deutlichsten daraus, daſs durch
dieselbe die Erzählung des Lukas alle Haltung verliert.
Bei Matthäus hängt Alles wohl zusammen: der Hauptmann
zeigt Jesu zuerst nur den Zustand des Kranken an, und
überläſst entweder ihm selber, was er nun thun wolle, oder
es kommt ihm, ehe er seine Bitte stellt, Jesus mit seinem
Anerbieten, sich in sein Haus zu begeben, zuvor, was nun
der Hauptmann auf die bekannte Weise ablehnt. Welches
Benehmen dagegen, wenn nach Lukas der Centurio Jesu zu-
erst durch die jüdischen Ältesten sagen läſst, er möchte kom-
men (ἐλϑὼν) und seinen Knecht heilen, hierauf aber, wie
Jesus wirklich kommen will, gereut es ihn wieder, ihn
dazu veranlaſst zu haben, und er begehrt nur ein wunder-
thätiges Wort von ihm. Daſs die erste Bitte nur von den
Ältesten, nicht von dem Centurio ausgegangen 8), diese Aus-
kunft läuft den ausdrücklichen Worten des Evangelisten
entgegen, welcher durch die Wendung: ἀπέςειλε — πρεσβυ—
τέρους — ἐρωτῶν αὐτὸν die Bitte als vom Hauptmann selber
ausgegangen darstellt; daſs aber dieser mit dem ἐλϑὼν nur
gemeint haben sollte, Jesus möchte sich in die Nähe seines
Hauses begeben, und nun wie er gesehen, daſs Jesus so-
gar in sein Haus treten wolle, dieſs abgelehnt habe, wäre
doch wohl zu ungereimt, als daſs man es dem sonst ver-
ständigen Manne zutrauen könnte, von welchem aber eben-
deſshalb noch weniger eine so wetterwendische Umstim-
mung zu erwarten ist, wie sie im Texte des Lukas liegt.
[112]Zweiter Abschnitt.
Wie aber dieser dazukam, die Bitte der ersten Gesandt-
schaft durch eine zweite zurücknehmen zu lassen, dieſs ent-
deckt uns ein unscheinbarer Verräther, der Ausdruck:
κύριε, μὴ σκύλλου nämlich, welcher in unsrer Erzählung
dem Lukas eigenthümlich ist. Diese Formel erinnert an
die ähnliche, welche derselbe Evangelist, und nach ihm
Markus, in der Geschichte von der Tochter des Jairus
gebraucht, wo, nachdem vor Jesu Ankunft im Hause das
Mädchen gestorben ist, ein Bote von da dem mit Jesu sich
nähernden Vater mit der Erinnerung: μὴ σκύλλε τὸν διδά-
σκαλον, entgegenkommt (8, 49.). Der Hauptmann, welcher
Jesum nicht in sein Haus bemühen will, erinnerte ihn an
den Boten, der dem Jairus wehrte, den Lehrer in sein
Haus zu bemühen, und wie hier, so lieſs er nun auch dort
der Ablehnung eine Aufforderung, in das Haus zu kom-
men, vorangehen. Da zu einer solchen Contre-ordre nur
bei Jairus, in dessen Hause sich seit der ersten Aufforde-
rung durch den Tod der Tochter die Lage der Dinge ver-
ändert hatte, keineswegs aber bei dem Centurio, dessen
Knecht noch immer im gleichen Zustande war, ein Grund
vorlag, so kann der Zug mit der widerrufenden Botschaft
nur aus jener Geschichte, wenn sie gleich erst nach der
unsrigen kommt, in diese herübergewandert sein, nicht aber
umgekehrt.
Da von der Identification aller drei Geschichten die
neueren Erklärer sich hauptsächlich durch die Furcht ab-
gehalten finden, Johannes möchte dabei in das Licht eines
solchen gestellt werden, der die Scene nicht genau genug
aufgefaſst, und wohl gar das Hauptmoment übersehen ha-
be 9): so würden sie also, wenn sie eine Vereinigung
dennoch wagen wollten, dem vierten Evangelium so viel
möglich die ursprünglichste Darstellung der Sache vindici-
ren, eine Voraussetzung, die wir sofort aus der Beschaf-
[113]Neuntes Kapitel. §. 94.
fenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. Das nun,
daſs dem vierten Evangelisten der Bittende ein βασιλικὸς
ist, nicht, wie den übrigen, ein ἑκατόνταρχος, ist ein in-
differenter Zug, aus welchem sich für keinen Theil etwas
schlieſsen läſst, und ebenso kann es mit der Abweichung
in Betreff des Verhältnisses des Kranken zum Bittsteller
sich zu verhalten scheinen. Indessen, wenn man in Bezug
auf den lezteren Punkt sich fragt: welche der drei Bezeich-
nungsweisen eignet sich am ehesten dazu, die beiden an-
dern aus sich haben entstehen zu lassen? so wird man wohl
schwerlich annehmen können, daſs aus dem johanneischen
υἱὸς in absteigender Linie zuerst unbestimmt ein παῖς,
dann ein δοῦλος geworden sei, und auch die umgekehrte
aufsteigende Richtung ist hier minder wahrscheinlich, als
das Mittlere, daſs aus dem zweideutigen παῖς, welches wir
im ersten Evangelium finden, in zwei Richtungen das ei-
nemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn,
wie bei Johannes, gemacht worden sein mag. Daſs die Be-
zeichnung des Zustandes, in welchem sich der Leidende
befand, bei Johannes wie bei Lukas sich zu der bei Mat-
thäus als Steigerung, mithin als die spätere verhalte, ist
bereits oben bemerkt. Der Unterschied in der Ortsan-
gabe würde auf dem jetzigen Standpunkt der verglei-
chenden Evangelienkritik ohne Zweifel so beurtheilt wer-
den, daſs in der apostolischen Tradition, aus welcher die
Synoptiker schöpften, der Ort, von welchem aus Jesus
das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke
lag, zusammengeflossen, das minder bekannte Kana von
dem berühmten Kapernaum verschlungen worden sei, Jo-
hannes aber, als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt
habe. Allein so erscheint das Verhältniſs nur, wenn man
den vierten Evangelisten als Augenzeugen schon voraus-
sezt: sucht man, wie man soll, rein aus der Beschaffen-
heit der Berichte heraus zu entscheiden, so stellt sich ein
ganz anderes Ergebniſs heraus. Es wird hier eine Hei-
Das Leben Jesu II. Band. 8
[114]Zweiter Abschnitt.
lung aus der Ferne berichtet, in welcher das Wunder um
so gröſser erscheint, je weiter die Distanz zwischen dem
Heilenden und Geheilten ist. Wird nun die mündliche
Überlieferung, wenn sich die Erzählung in dieser fort-
pflanzt, eine Neigung haben, jene Entfernung, und damit
das Wunder, zu verkleinern, so daſs wir in der Darstel-
lung des Johannes, der Jesum die Heilung von einem Orte
aus verrichten läſst, von welchem der Hofbeamte erst am
andern Tag bei dem Geheilten ankommt, die ursprüngliche,
in der der Synoptiker dagegen, welche Jesum mit dem
kranken Knecht in derselben Stadt sich befinden lassen, die
traditionell umgebildete Erzählung hätten? Nur das Um-
gekehrte kann der Sage gemäſs gefunden werden, und
auch hierin also zeigt sich der johanneische Bericht als
ein abgeleiteter. Besonders gemacht zeigt sich noch die
Pünktlichkeit, mit welcher im vierten Evangelium die Stun-
de der Genesung des Kranken ausgemittelt wird. Aus dem
einfachen, auch sonst am Schlusse von Heilungsgeschichten
vorkommenden ἰάϑη ἐν τῇ ὥρᾳ ἐκείνῃ des Matthäus ist ei-
ne Nachfrage des Vaters nach der ὥρα ἐν ᾖ κομψότερον
ἔσχε, eine Antwort der Knechte: ὅτι χϑὲς, ὥραν ἑβδόμην,
ἀφῆκεν αὐτὸν ὁ πυρετὸς, und endlich das Resultat, daſs
ἐν ἐκείνῃ τἥἥὥρᾳ, ἐν ᾖ εἶπεν αὐτῷ ὁ Ἰ. ὁ υἱός σουζῇ, die-
ser wirklich gesund geworden sei, gemacht: eine ängstli-
che Genauigkeit, eine Quälerei mit der Rechnung, welche
weit mehr das Streben des Referenten, das Wunder zu
constatiren, als den ursprünglichen Hergang der Sache zu
zeigen scheint. Darin, daſs er den βασιλικὸς persönlich mit
Jesu verhandeln läſst, hat der Verfasser des vierten Evan-
geliums mehr als der des dritten die ursprüngliche Ein-
fachheit der Erzählung bewahrt, wiewohl er, wie bemerkt,
in den entgegenkommenden Knechten einen Anklang an
die zweite Botschaft des Lukas hat. In dem Hauptdiffe-
renzpunkt aber, der den Charakter des Bittstellers betrifft,
könnte man mit Anwendung unsers eigenen Maſsstabes dem
[115]Neuntes Kapitel. §. 94.
Johannes den Vorzug vor den beiden andern Referenten
zuerkennen wollen. Denn wenn diejenige Erzählung die
mehr sagenhafte ist, welche ein Bestreben nach Vergröſse-
rung oder Verschönerung zu erkennen giebt: so könnte
man sagen, es zeige sich der Bittende, der nach Johannes
ziemlich schwach im Glauben gewesen sei, bei den Synop-
tikern zu einem Glaubensmuster verschönert. Allein nicht
auf Verschönerung überhaupt, sondern nur in Beziehung
auf ihren Hauptzweck, welcher bei den Evangelien die
Verherrlichung Jesu ist, geht die Sage oder ein dichtender
Referent aus, und hienach wird man in doppelter Hinsicht
die Verschönerung auf Seiten des vierten Evangeliums fin-
den. Einmal, wie es überhaupt darauf ausgeht, die Über-
legenheit Jesu durch den Contrast mit der Schwäche de-
rer, die mit ihm zu thun haben, hervorzuheben, konnte es
auch hier sein Interesse sein, den Bittsteller eher schwach-
als starkgläubig darzustellen, wobei ihm jedoch die Erwie-
derung, welche es Jesu in den Mund legt: ἐὰν μὴ σημεῖα
καὶ τέρατα ἴδητε,οὐμὴ πιςεύσητε, doch wohl zu hart ge-
rathen ist, weſswegen sie denn auch die meisten Erklärer
in Verlegenheit sezt. Zweitens aber konnte es unschick-
lich erscheinen, daſs Jesus von seinem anfänglichen Vor-
saz, in das Haus des Kranken zu gehen, sich nachher
wieder abbringen lieſs, und so fremdem Einfluſs zu folgen
schien; man konnte es für angemessener halten, die Hei-
lung aus der Ferne als seinen ursprünglichen Vorsaz, und
nicht erst durch einen Andern ihm eingeredet, darzustel-
len. Sollte nun aber, wie dieſs die Überlieferung an die
Hand gab, der Bittsteller doch eine Einrede gethan haben,
so muſste diese die entgegengesetzte Richtung als bei den
Synoptikern bekommen, nämlich, Jesum zu einem Gange
in das Haus des Kranken bestimmen zu wollen.
Fragt es sich nun um die Möglichkeit und den nähe-
ren Hergang des vorliegenden Ereignisses, so glaubt die
natürliche Erklärung am leichtesten mit der Erzählung
8 *
[116]Zweiter Abschnitt.
des vierten Evangeliums zurechtzukommen. Hier, wird be-
merkt, sage Jesus nichts davon, daſs er die Heilung des
Kranken bewirken wolle, sondern er versichere den Vater
nur, daſs das Leben seines Sohnes ausser Gefahr sei (ὁ
υἱός σου ζῇ), und auch der Vater, wie er finde, daſs das
Besserwerden seines Sohnes mit der Zeit, um welche er
mit Jesus gesprochen, zusammenfalle, schlieſse keineswegs,
daſs Jesus die Heilung aus der Ferne bewirkt habe. So
sei diese Geschichte nur die Probe davon, daſs Jesus, ver-
möge gründlicher Kenntnisse in der Semiotik, im Stande
gewesen sei, auf gegebene Beschreibung der Umstände ei-
nes Kranken hin eine richtige Prognose über den Verlauf
seiner Krankheit zu stellen; daſs jene Beschreibung hier
nicht mitgetheilt sei, daraus folge nicht, daſs sie Jesus
sich nicht habe geben lassen; ein σημεῖον aber werde
diese Probe (V. 54.) genannt, als Zeichen einer von Jo-
hannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit Jesu, die
Genesung eines besorglich Kranken vorauszusagen 10) Al-
lein, abgesehen von dieser Miſsdeutung des Wortes σημεῖον
und jener Einschwärzung eines im Text nicht angedeute-
ten Gesprächs, erschiene bei dieser Ansicht von der Sa-
che der Charakter und selbst der Verstand Jesu im
zweideutigsten Lichte. Denn, wenn wir schon denjenigen
Arzt für unvorsichtig halten würden, welcher auf selbst-
genommenen Augenschein hin bei einem Fieberkranken,
den man so eben noch für sterbend hielt, die Genesung
verbürgte, und dadurch seinen Kredit auf das Spiel sez-
te: um wie viel vermessener hätte Jesus gehandelt, wenn
er auf die bloſse Beschreibung eines Laien hin die Ge-
fahrlosigkeit des Umstandes versichert hätte? Ein solches
Benehmen können wir uns an ihm deſswegen nicht den-
ken, weil es der Analogie seines sonstigen Verfahrens, und
[117]Neuntes Kapitel. §. 94.
dem Eindruck, welchen sein Charakter bei den Zeitgenos-
sen zurücklieſs, geradezu widersprechen würde. Hat al-
so Jesus die Genesung des Fieberkranken auch nur vor-
ausgesagt, ohne sie zu bewirken, so muſs er doch auf zu-
verläſsigere Weise als durch natürliches Räsonnement von
derselben versichert gewesen sein, er muſs sie auf über-
natürliche Art gewuſst haben. Diese Wendung hat der
neueste Erklärer des Johannes der Sache zu geben versucht.
Er stellt die Frage, ob wir hier ein Wunder des Wissens
oder des Wirkens haben? und da nun von einer unmit-
telbaren Wirkung des Wortes Jesu nirgends die Rede sei,
sonst aber im vierten Evangelium gerade das höhere Wis-
sen Jesu besonders hervorgehoben werde, so erklärt er
sich dahin, Jesus habe vormöge seiner höheren Natur nur
gewuſst, daſs in jenem Augenblicke die Krankheit sich zum
Leben entschied 11). Allein die öftere Hervorhebung des hö-
heren Wissens Jesu in unserem Evangelium beweist hie-
her nichts, da es ebenso oft auf sein höheres Wirken auf-
merksam macht. Ferner, wenn von übernatürlichem Wis-
sen Jesu die Rede ist, wird dieſs sonst deutlich angegeben
(wie 1, 49. 2, 25. 6, 64.), und so würde Johannes, wenn
eine übernatürliche Kunde von der ohnehin erfolgten Ge-
nesung des Knaben gemeint wäre, Jesum wohl auch
hier auf ähnliche Weise, wie dort zu Nathanaël, zu dem
Vater sprechen lassen, daſs er seinen Sohn bereits in er-
träglicherem Zustande auf seinem Bette erblicke. Nicht
nur aber ist von höherem Wissen nichts angedeutet, son-
dern eine wunderbare Wirksamkeit deutlich genug zu ver-
stehen gegeben. Wenn nämlich von einem μέλλων ἀπο-
ϑνήσκειν die plözliche Genesung gemeldet ist, so will man
zunächst die Ursache wissen, welche diese unerwartete
Wendung herbeigeführt habe, und wenn nun ein Bericht,
der auch sonst auf das Wort seines Helden hin Wunder
erfolgen läſst, eine Versicherung desselben, daſs der Kran-
[118]Zweiter Abschnitt.
ke lebe, mittheilt, so kann nur das falsche Bestreben, das
Wunderbare zu vermindern, der Anerkenntniſs im Wege
stehen, daſs der Erzähler in diesem Worte die Ursache
jener Veränderung angeben wolle.
Bei der synoptischen Erzählung ist mit der Annahme
einer bloſsen Prognose nicht abzukommen, da hier der Vater
(Matth. V. 8.) eine heilende Einwirkung verlangt, und Jesus
ihm (V. 13.) eben diese seine Bitte gewährt. Dadurch schien
sich bei der Entfernung Jesu von dem Kranken, welche alle
physische wie psychische Einwirkung unmöglich machte,
der natürlichen Erklärung jeder Weg zu verschlieſsen:
wenn nicht Ein Zug der Erzählung unerwartete Hülfe ge-
boten hätte. Die Vergleichung nämlich, welche der Cen-
turio zwischen sich und Jesu anstellt, daſs, wie er nur ein
Wort sprechen dürfe, um durch seine Soldaten und Die-
ner dieſs und jenes ausgerichtet zu sehen, so auch Jesum
es nur ein Wort koste, seinem Knechte zur Gesundheit zu
verhelfen, konnte man möglicherweise so pressen, daſs, wie
auf Seiten des Hauptmanns, so auch auf Seiten Jesu an
menschliche Mittelspersonen gedacht wurde. Demnach
soll nun der Hauptmann Jesu haben vorstellen wollen, er
dürfe nur zu einem seiner Jünger ein Wort sprechen, so
werde dieser mit ihm gehen und seinen Knecht gesund
machen, was sofort auch wirklich geschehen sein soll 12).
Allein, da dieſs der erste Fall wäre, daſs Jesus durch sei-
ne Jünger heilen lieſs, und der einzige, daſs er sie unmit-
telbar zu einer bestimmten Heilung abschickte: wie konn-
te dieser eigenthümliche Umstand sogar in der sonst so
ausführlichen Erzählung des Lukas stillschweigend vor-
ausgesetzt werden? warum, da dieser Referent in Aus-
spinnung der übrigen Rede der Abgesandten nicht spar-
sam ist, geizt er mit den paar Worten, welche Alles auf-
[119]Neuntes Kapitel. §. 94.
geklärt haben würden, wenn er nämlich zu dem εἰπὲ λόγῳ,
ἑνὶ τῶν μαϑητῶν σου oder dergleichen etwas gesezt hätte?
Vollends aber am Schlusse der Erzählung, wo der Erfolg ge-
meldet wird, kommt diese Deutung nicht blos durch das
Stillschweigen der Referenten, sondern durch einen positi-
ven Zug bei Lukas in die übelste Verlegenheit. Lukas
schlieſst nämlich mit der Notiz, daſs die Freunde des Haupt-
manns bei ihrer Rückkehr in dessen Haus den Knecht be-
reits gesund gefunden haben. Soll ihn nun Jesus dadurch
wiederhergestellt haben, daſs er den Abgesandten einen
oder mehrere seiner Jünger mitgab, so konnte es mit dem
Kranken erst von da an, als die Abgesandten mit den
Jüngern im Hause ankamen, allmählig besser werden,
nicht aber konnten sie ihn bei ihrer Ankunft schon her-
gestellt finden. Paulus freilich sezt voraus, die Abgesandten
haben sich bei den Reden Jesu noch etwas verweilt, und so
seien die Jünger vor ihnen angekommen: aber wie sich
jene so unnöthig haben verweilen mögen, und wie der
Evangelist neben der Absendung der Jünger nun auch
noch das Zurückbleiben der Abgesandten habe verschwei-
gen können, enthält er sich zu erklären. Mag man nun
statt dessen als dasjenige, was den Soldaten des Haupt-
manns auf Seiten Jesu entspricht, Krankheitsdämonen 13),
oder dienstbare Engel 14), oder blos das Wort und die
Heilkräfte Jesu 15) denken: jedenfalls bleibt uns eine
wunderbare Wirksamkeit in die Ferne.
Diese Art des Wirkens Jesu nun hat nach dem Zuge-
ständniſs selbst solcher Ausleger, welche sonst das Wun-
derbare nicht scheuen, darin etwas besonders Schwieri-
ges, daſs durch den Mangel der persönlichen Gegenwart
Jesu und ihres wohlthätigen Eindrucks auf den Kranken
[120]Zweiter Abschnitt.
uns jede Möglichkeit genommen ist, die Heilung durch ein
Analogon des Natürlichen uns denkbar zu machen 16).
Nach Olshausen zwar hat auch diese Fernwirkung ihre
Analogieen, nämlich im thierischen Magnetismus 17). Ich
will dieſs nicht geradezu bestreiten, sondern nur auf die
Schranken aufmerksam machen, innerhalb deren sich mei-
nes Wissens diese Erscheinung im Gebiete des Magnetis-
mus immer hält. In die Ferne hin wirken kann nach den
bisherigen Erfahrungen nur theils der Magnetiseur oder
ein anderes im magnetischen Rapport mit ihr stehendes In-
dividuum auf die somnambüle Person, wo also der Fern-
wirkung immer eine unmittelbare Berührung vorausgegan-
gen sein muſs, was in dem Verhältniſs Jesu zu dem Kran-
ken unsrer Erzählung nicht gegeben ist; theils kommt eine
solche Wirkungsart bei den Somnambülen selbst oder an-
dern in zerrüttetem Nervenzustand befindlichen Menschen
vor, was wiederum auf Jesum keine Anwendung findet.
Geht also ein solches Heilen entfernter Personen, wie es
in unsern Erzählungen Jesu zugeschrieben wird, über je-
nes Äusserste natürlicher Wirksamkeit, wie wir es im
Magnetismus und den verwandten Erscheinungen finden,
noch weit hinaus: so wird uns durch jene Erzählungen,
sofern sie historische Geltung ansprechen, Jesus zu einem
übernatürlichen Wesen, und ehe wir ein solches uns
als wirklich denken, verlohnt es sich auf unserem kriti-
schen Standpunkt, zuvor noch zu untersuchen, ob die
betrachtete Erzählung nicht auch ohne historischen
Grund dennoch habe entstehen können? zumal sich, daſs
sie sagenhafte Ingredienzien enthalte, schon an den ver-
schiedenen Formationen zeigt, welche sie in den drei evan-
gelischen Berichte erhalten hat. Und hier erhellt es nun
von selbst, daſs das wunderbare Heilen Jesu durch Berüh-
[121]Neuntes Kapitel. §. 94.
rung des Kranken, wie wir es z. B. bei dem Aussätzigen
Matth. 8, 3. und den Blinden Matth. 9, 29. antreffen, ver-
möge eines nahe liegenden Klimax zunächst zum Heilen
Gegenwärtiger mittelst des bloſsen Wortes, wie bei den
Dämonischen, den Aussätzigen Luc. 17, 14. und andern
Kranken, dann aber zur Herstellung selbst Abwesender
durch ein Wort sich steigern konnte, wie denn schon im
A. T. ein Analogon hievon besonders herausgehoben ist.
Wie nämlich nach 2. Kön. 5, 9 ff. der syrische Feldherr
Naëman vor die Wohnung des Propheten Elisa kam, um
sich vom Aussaz heilen zu lassen, gieng dieser nicht selbst
zu ihm heraus, sondern sandte ihm einen Boten und lieſs
ihn zu siebenmaliger Waschung im Jordan anweisen. Dar-
über wurde der Syrer so ungehalten, daſs er, ohne die
Anweisung des Propheten zu berücksichtigen, wieder heim-
ziehen wollte. Er habe erwartet, erklärt er, der Prophet
werde zu ihm hertreten und unter Anrufung Gottes mit
der Hand über die aussätzige Stelle fahren; daſs nun aber
der Prophet, ohne selbst etwas an ihm vorzunehmen, ihn
an den Jordan verweist, das macht ihn muthlos und ärger-
lich, weil, wenn es auf Wasser ankäme, er solche zu
Hause besser als hier hätte haben können. Man sieht aus
dieser A. T.lichen Darstellung: das Ordentliche, was man
von einem Propheten erwartete, war, daſs er anwesend
mit körperlicher Berührung heilen könne; daſs er es auch
entfernt und ohne Berührung vermöge, wurde nicht vor-
ausgesetzt. Daſs Elisa dennoch auf die letztere Weise die
Kur des aussätzigen Feldherrn vollbringt, (denn das Wa-
schen war es auch hier so wenig als Joh. 9., was den
Kranken gesund machte, sondern die Wundermacht des
Propheten, welche ihre Wirksamkeit an diese äussere
Handlung zu knüpfen für gut fand), dadurch bewies er
sich als einen besonders ausgezeichneten Propheten, — und
nun der Messias, durfte der auch in diesem Stücke hinter
dem Propheten zurückbleiben? So zeigt sich unsre N. T.liche
[122]Zweiter Abschnitt.
Erzählung als nothwendiges Gegenbild jener A. T.lichen.
Wie dort der Kranke an die Möglichkeit seiner Wieder-
herstellung nicht glauben will, wenn der Prophet nicht aus
seinem Hause heraus zu ihm trete: so zweifelt hier nach
der einen Redaktion der für den Kranken Bittende ebenso
an der Möglichkeit der Heilung, wenn nicht Jesus in sein
Haus trete, nach der andern im Gegentheil ist er von der
Wirksamkeit der Heilkraft Jesu auch ohne das überzeugt,
und nach beiden gelingt hier Jesu wie dort dem Propheten
auch dieser besonders schwierige Wunderakt.
§. 95.
Sabbatheilungen.
Groſsen Anstoſs erregte den evangelischen Nachrichten
zufolge Jesus dadurch, daſs er nicht selten seine Heilungs-
wunder am Sabbat verrichtete, wovon ein Beispiel den drei
Synoptikern gemeinschaftlich ist, zwei dem Lukas eigen-
thümlich, und zwei dem Johannes.
In jener den drei ersten Evangelisten gemeinschaftli-
chen Erzählung sind zwei Fälle vermeinter Sabbatsenthei-
ligung verbunden, das Ährenraufen der Jünger (Matth.
12, 1. parall.) und die durch Jesum vollbrachte Heilung
des Menschen mit der verdorrten Hand (V. 9 ff. parall.).
Nach der auf dem Felde vorgefallenen Verhandlung über
das Ährenraufen fahren die beiden ersten Evangelisten so
fort, wie wenn Jesus unmittelbar von dieser Scene weg
in die Synagoge desselben nicht näher bezeichneten Orts
sich verfügt, und hier aus Anlaſs der Heilung des Men-
schen mit der verdorrten Hand abermals einen Streit über
die Heiligung des Sabbats gehabt hätte. Offenbar aber
waren diese beiden Geschichten ursprünglich nur der Ähn-
lichkeit des Inhalts wegen zusammengestellt, weſswegen
hier Lukas zu loben ist, daſs er durch die Worte: ἐν ἑτέ-
ρῳ σαββάτῳ den chronologischen Zusammenhang zwischen
[123]Neuntes Kapitel. §. 95.
beiden ausdrücklich zerschnitten hat 1). Die weitere Un-
tersuchung, wessen Erzählung hier die ursprünglichere sei,
können wir durch die Bemerkung erledigen, daſs, wenn
die von Matthäus den Pharisäern in den Mund gelegte
Frage, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen, als ein
Stück von gemachtem Dialogisiren bezeichnet wird 2),
dessen ebensogut dieselbe Frage beschuldigt werden kann,
welche die zwei mittleren Evangelisten Jesu leihen, und
noch dazu ihre belobte 3) Schilderung, wie Jesus den
Kranken in die Mitte treten heiſst, und später strafende
Blicke ringsumher wirft, einer gemachten Anschaulichkeit.
Das Übel des Kranken war nach den übereinstimmen-
den Nachrichten eine χεὶρ ξηρὰ oder ἐξηραμμένη. So un-
bestimmt diese Bezeichnung ist, so macht es sich doch die
natürliche Erklärung allzuleicht, wenn sie mit Paulus nur
eine durch Hitze angegriffene 4), oder gar nach Venturini's
Ausdruck eine verstauchte Hand 5) darunter versteht. Son-
dern wenn wir, um die Bedeutung der N. T.lichen Be-
zeichnungsweise zu bestimmen, billig auf das A. T. zu-
rückgehen, so finden wir 1. Kön. 13, 4. eine Hand, wel-
che im Ausstrecken ἐξηράνϑη (וַהּׅיבַשׁ), als unfähig geschil-
dert, an den Leib zurückgezogen zu werden, so daſs also
an Lähmung und Starrheit der Hand, und, bei Verglei-
chung des von einem Epileptischen gebrauchten ξηραίνεσϑαι
Marc. 9, 18., zugleich an ein Saftloswerden und Schwin-
den zu denken ist 6). Dafür nun aber, daſs Jesus dieses
und andre Übel mit natürlichen Mitteln behandelt habe,
wird aus der vorliegenden Erzählung ein sehr scheinbares
[124]Zweiter Abschnitt.
Argument abgeleitet. Nur ein solches Heilen, sagt man,
war am Sabbat verboten, welches mit irgend einer Be-
schäftigung verbunden war: also müssen die Pharisäer,
wenn sie, wie es hier heiſst, von Jesu eine Übertretung
der Sabbatsgesetze durch Heilen erwarteten, gewuſst ha-
ben, daſs er nicht durch das bloſse Wort, sondern durch
Medicamente und chirurgische Operationen zu heilen pfleg-
te 7). Da indessen, wie Paulus selbst anderswo anführt,
am Sabbat das Heilen auch nur durch eine sonst erlaubte
Beschwörung verboten war 8), da ferner zwischen den
Schulen Hillel's und Schammai's ein Streit obwaltete, ob
auch nur das Trösten der Kranken am Sabbat erlaubt sei 9),
und da überdieſs nach Paulus eigener Bemerkung die äl-
teren Rabbinen im Punkte des Sabbats strenger waren als
diejenigen, von welchen die uns vorliegenden Schriften
über diesen Gegenstand herstammen 10): so konnten die
Heilungen Jesu, auch ohne daſs natürliche Mittel dabei
in's Spiel kamen, von chicanirenden Pharisäern unter die
Kategorie von Sabbatsverletzungen gezogen werden. Dem
Haupteinwand gegen die rationalistische Erklärung, der aus
dem Schweigen der Evangelisten von natürlichen Mitteln
hergenommen wird, glaubt Paulus für unsern Fall durch
die Wendung zu begegnen, daſs damals in der Synagoge
keine zur Anwendung gekommen seien, sondern Jesus
habe sich die Hand vorzeigen lassen, um zu sehen, wie
die bisher von ihm angeordneten Mittel (also werden der-
gleichen doch fingirt) geholfen hätten, und da habe er sie
bereits völlig geheilt gefunden; denn daſs sie bereits wie-
derhergestellt gewesen sei, nicht daſs sie nun plötzlich ge-
sund geworden, bedeute das ἀποκατεςάϑη sämmtlicher Re-
[125]Neuntes Kapitel. §. 95.
ferenten. Allerdings sagt dieser Aorist: sie war herge-
stellt und wurde es nicht erst während des Ausstreckens,
welches ohne vorangegangene Heilung so wenig möglich
gewesen wäre als 1. Kön. 13, 4. das Anziehen: aber sie
war es geworden durch das Wort Jesu, welches die Evan-
gelisten mittheilen, nicht durch natürliche Mittel, welche
nur von den Erklärern ersonnen sind 11).
Gleich sehr entscheidend aber für die Nothwendigkeit,
hier eine Wunderheilung anzunehmen, wie für die Mög-
lichkeit, die Entstehung der Anekdote zu erklären, ist die
nähere Vergleichung der bereits erwähnten A. T.lichen Er-
zählung 1. Kön. 13, 1 ff. Als ein Prophet aus Juda dem
am Götzenaltar räuchernden Jerobeam mit dem Untergang
des Altars und des Götzendienstes drohte, und der König
mit ausgestreckter Hand den Unglückspropheten zu grei-
fen befahl, da vertrocknete plötzlich seine Hand, so daſs
er sie nicht mehr zurückziehen konnte, und der Altar zer-
fiel. Wie aber auf Ersuchen des Königs der Prophet Je-
hova um Wiederherstellung der Hand bat, konnte sie jener
wieder an sich ziehen, und sie wurde, wie sie vorher ge-
wesen war 12). Auch Paulus vergleicht hier diese Erzäh-
lung, aber nur um auch auf sie seine natürliche Erklärungs-
weise durch die Bemerkung anzuwenden, Jerobeams Zorn
habe leicht eine vorübergehende krampfhafte Erstarrung
der Muskeln u. s. w. in der gerade mit Heftigkeit aus-
gestreckten Hand hervorbringen können. Wem fällt es
[126]Zweiter Abschnitt.
aber nicht vielmehr in die Augen, daſs wir hier eine
Sage zur Verherrlichung des monotheistischen Prophe-
tenthums und zur Brandmarkung des israëlitischen Göz-
zendiensts in der Person seines Urhebers Jerobeam vor
uns haben? Der Mann Gottes weissagt dem Götzenaltar
schnellen wunderbaren Ruin; der abgöttische König streckt
freventlich die Hand gegen den Gottesmann aus; die Hand
erstarrt, der Götzenaltar zerfällt in Staub, und nur auf die
Fürbitte des Propheten wird der König wiederhergestellt:
wer mag hier über wunderbaren oder natürlichen Hergang
rechten, wo man eine offenbare Mythe vor sich hat? Und
wer kann ferner in unsrer evangelischen Erzählung eine
Nachbildung jener A. T.lichen verkennen, wobei nur dem
Geiste des Christenthums gemäſs die Vertrocknung der Hand
nicht als Strafwunder eintritt, sondern als natürliche Krank-
heit dargestellt, und Jesu nur die Heilung zugeschrieben,
ebendeſswegen auch nicht wie dort die Ausstreckung der
Hand zur verbrecherischen Ursache und zum pönalen Ha-
bitus der Krankheit, das Anziehen derselben aber zum Zei-
chen der Genesung gemacht wurde, sondern die Hand, wel-
che bis dahin krankhaft angezogen war, nach vollbrachter
Heilung wieder ausgestreckt werden kann. Daſs auch sonst
um jene Zeit im Orient den Lieblingen der Götter das
Vermögen zu dergleichen Heilungen zugeschrieben wurde,
sehen wir aus einer schon früher angeführten Erzählung,
in welcher dem Vespasian neben einer Blindenheilung auch
die Wiederherstellung einer kranken Hand zugeschrieben
wird 13)
Nicht selbstständig übrigens und als Zweck für sich
tritt in dieser Geschichte das Heilungswunder auf, sondern
die Hauptsache ist, daſs es am Sabbat geschieht, und die
Spitze der Anekdote liegt in den Worten, durch welche
Jesus seine heilende Thätigkeit am Sabbat gegen die Pha-
[127]Neuntes Kapitel. §. 95.
risäer rechtfertigt, bei Lukas und Markus nämlich durch
die Frage, was am Sabbat eher angehe, Gutes zu thun oder
Böses, ein Leben zu erhalten, oder zu verderben? bei Mat-
thäus, neben einem Stück von dieser Rede, durch das Dik-
tum von der sabbatlichen Rettung des in die Grube gefal-
lenen Schaafs. Lukas, welcher diese Gnome hier nicht hat,
legt sie mit der Abweichung, daſs statt des πρόβατον ein
ὄνος ἢ βοῦς, und statt der Grube der Brunnen steht, bei
Gelegenheit der Heilung eines ὑδρωπικὸς Jesu in den Mund
(14, 5.), eine Erzählung, an welcher überhaupt die Ähn-
lichkeit mit der bisher erwogenen auffällt. Jesus speist bei
einem Pharisäerobersten, wo man, wie dort in der Syna-
goge nach den zwei mittleren Evangelisten, auf ihn lauert
(hier: ἠσαν παρατηρου̍μενοι, dort: παρετήρουν); es ist ein
Wassersüchtiger da, wie dort ein Mensch mit verdorrter
Hand; wie dort nach Matthäus die Pharisäer Jesum fra-
gen: εἰ ἐξεςι τοῖς σάββασι ϑεραπεύειν; nach Markus und
Lukas Jesus sie fragt, ob es erlaubt sei, am Sabbat ein
Leben zu retten u. s. f.: so legt er ihnen hier die Frage
vor: εἰ ἔξέςι τῷ σαββάτῳ ϑεραπεύειν; worauf, wie dort,
die Gefragten schweigen (dort Markus: οἱ δὲ ἐσιώπων,
hier Lukas: οἱ δὲ ἡσύχασαν); endlich als Epilog der Hei-
lung, wie dort bei Matthäus als Prolog, das Diktum von
dem in den Brunnen gefallenen Thiere. Eine natürliche
Erklärung, wie sie auch von diesem Heilungswunder gege-
ben worden ist 14), erscheint hier ganz besonders als ver-
lorene Mühe, wo wir gar keine besondere Geschichte vor
uns haben, die auf eigenem historischen Fundamente ruh-
te, sondern eine bloſse Variation über das Thema der Sab-
batheilungen und die Gnome von dem verunglückten Last-
thier, welche dem einen (Matthäus) in Verbindung mit der
Wiederherstellung einer dürren Hand, dem andern (Lu-
kas) mit der Heilung eines Wassersüchtigen, einem drit-
[128]Zweiter Abschnitt.
ten in noch anderer Verbindung zukommen konnte; denn
auch noch einer dritten Heilungsgeschichte ist ein ähnlicher
Ausspruch beigesellt. Lukas nämlich erzählt 13, 10 ff. die
von Jesu am Sabbat vollzogene Heilung einer dämonisch
zusammengebückten Frau, wo auf die Beschwerde des Syn-
agogenvorstehers Jesus die Frage zurückgiebt, ob denn
nicht jeder am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der
Krippe löse und zur Tränke führe? eine Frage, in wel-
cher die Variation der obigen nicht zu verkennen ist. So
ganz identisch erscheint diese Geschichte mit der zulezt er-
wähnten, daſs Schleiermacher daraus, daſs bei der zwei-
ten nicht auf die vorhergehende zurückgewiesen, und so
die Wiederholung durch das Eingeständniſs entschuldigt ist,
schlieſst, es könne Luc. 13, 10 — 14, 5. nicht von demsel-
ben Verfasser hintereinander geschrieben sein 15).
Haben wir hienach gleich nicht drei verschiedene
Vorfälle hier, sondern nur drei verschiedene Rahmen, in
welche die Sage das unvergeſsliche, wahrhaft volksthümli-
che Diktum von dem am Sabbat zu rettenden oder zu ver-
sorgenden Hausthier gefaſst hat: so muſs doch, scheint
es, wenn wir Jesu eine so originelle und angemessene Re-
de nicht absprechen wollen, irgend eine, am Sabbat vor-
gefallene Heilung zum Grunde liegen. Nur nicht gerade
eine wunderbare. Sondern wie Lukas in der zulezt an-
geführten Stelle jenen Ausspruch mit der Heilung einer
dämonischen Frau verbindet, so könnte er von Jesu bei Ge-
legenheit einer jener Heilungen von Dämonischen, deren
natürliche Möglichkeit wir unter gewissen Einschränkun-
gen zugegeben haben, gethan worden sein; oder kann Je-
sus auch, wenn er bei Krankheitsfällen unter seiner Ge-
sellschaft in Anwendung der üblichen Medikamente auf
den Sabbat keine Rücksicht nahm, jene Appellation an
den praktischen Menschenverstand zu seiner Rechtfertigung
[129]Neuntes Kapitel. §. 95.
nöthig gehabt haben; oder endlich, wenn an der Annahme
rationalistischer Erklärer etwas Wahres ist, daſs Jesus in
orientalischer, namentlich essenischer Weise neben der
Seelenheilung auch mit leiblicher sich befaſst habe, so
kann er hiebei, wenn er der Aufforderung hiezu auch am
Sabbat nicht widerstand, zu einer solchen Apologie ver-
anlaſst gewesen sein; nur daſs wir dann immer nicht mit
jenen Auslegern in den einzelnen übernatürlichen Heilun-
gen, welche die Evangelien melden, die zum Grunde lie-
genden natürlichen aufsuchen dürften, sondern wir müſs-
ten eingestehen, daſs uns diese ganz verloren, und jene an
ihre Stelle getreten seien 16). Übrigens müssen es nicht
einmal Heilungen überhaupt gewesen sein, an welche sich
jener Ausspruch Jesu knüpfte, sondern jeder als Lebens-
rettung oder Lebenserhaltung zu betrachtende und mit äus-
serer Geschäftigkeit verbundene Dienst, den er oder seine
Jünger leisteten, konnte ihm der pharisäischen Partei ge-
genüber Anlaſs zu einer solchen Vertheidigung werden.
Von den zwei Sabbatheilungen des vierten Evange-
liums ist die eine schon mit den Blindenheilungen betrach-
tet worden; die andere (5, 1 ff.), welche unter den Hei-
lungen der Paralytischen vorgenommen werden konnte,
lieſs sich, weil doch der Kranke nicht mit jenem Ausdruck
bezeichnet ist, hieher versparen. In den Hallen des Teichs
Bethesda in Jerusalem fand Jesus einen schon 38 Jahre,
wie aus dem Folgenden erhellt, an Lähmung kranken Men-
schen, welchen er mit einem Worte zum Aufstehen und
Heimtragen seines Bettes befähigt, dadurch jedoch, weil es
Das Leben Jesu II. Band. 9
[130]Zweiter Abschnitt.
Sabbat war, die Feindschaft der jüdischen Hierarchen auf
sich ladet. Auf eigene Weise glaubten seit Woolston17)
Manche mit dieser Geschichte durch die Annahme fertig
zu werden, daſs Jesus hier nicht einen wirklich Leiden-
den geheilt, sondern nur einen verstellten Kranken entlarvt
habe 18). Der einzige Grund, der mit einigem Schein hie-
für angeführt werden kann, ist, daſs der Gesundgemachte
Jesum seinen Feinden als denjenigen angebe, der ihm am
Sabbat sein Bette zu tragen befohlen habe (V. 15. vgl. 11 ff.),
was sich nur dann erklären lasse, wenn Jesus ihm etwas
Unwillkommenes erwiesen hatte. Allein jene Anzeige konnte
er auch entweder in guter Meinung machen, wie der Blind-
geborene (Joh. 9, 11. 25.), oder wenigstens in der unschul-
digen, den Vorwurf der Sabbatsverletzung von sich auf
einen Stärkeren abzuwälzen 19). Daſs der Mensch wirk-
lich krank, und zwar an einem langwierigen Übel krank
gewesen sei, giebt wenigstens der Evangelist als seine
Ansicht, wenn er ihn als τριάκοντα καὶ ὀκτὼ ἔτη ἔχων ἐν
τῇ ἀσϑενείᾳ bezeichnet (V. 5.), wovon Paulus seine früher
vorgetragene gewaltsame Erklärung, nach welcher er die
38 Jahre auf das Lebensalter, nicht auf die Krankheitszeit
des Mannes bezog, neuerlich selbst nicht mehr vertreten
mag 20). Unerklärlich bleibt bei jener Ansicht von dem
Vorfall auch, was Jesus bei einer späteren Begegnung zu
dem Geheilten sprach (V. 14.): ἴδε ὑγιὴς γέγονας· μηκέτι
ἁμάρτανε, ἵνα μὴ χεῖρόν τί σοι γένηται.Paulus selbst sieht
sich durch diese Worte genöthigt, ein wirkliches, nur un-
bedeutendes Unwohlsein bei dem Menschen vorauszuse-
zen, d. h. das Unzureichende seiner Grundansicht von
dem Vorfall selbst einzugestehen, so daſs wir also hier ein
Wunder, und zwar keines der geringsten, behalten.
[131]Neuntes Kapitel. §. 95.
Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh-
lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden,
daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo-
hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab-
binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung
an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch
führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der
Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt,
und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn
auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der
κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist
gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein
Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau-
ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah-
ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un-
fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig
wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma-
chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir-
kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.),
noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus
u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs
wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es
erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli-
chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus
der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be-
thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus-
erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung
dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der
messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet,
sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an-
drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi-
schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau-
9 *
[132]Zweiter Abschnitt.
platz der Krankheit, wo alle mögliche Leidende ausgestellt
sind, tritt der groſse Wunderarzt Jesus auf, und wählt
sich denjenigen, der am hartnäckigsten leidet, heraus, um
durch Wiederherstellung desselben die glänzendste Probe
seiner Heilkraft abzulegen. Wie wir es bereits als die
Weise des vierten Evangeliums kennen, statt der extensiv
gröſseren Masse synoptischer Wundergeschichten wenige,
aber desto intensivere zu geben: so hat es auch hier durch
die Erzählung von der Heilung eines 38 Jahre lang Ge-
lähmten alle synoptischen Berichte von Heilungen glieder-
kranker Personen, von welchen die am längsten leidende
bei Lukas 13, 11. nur als eine γυνὴ πνεῦμα ἔχουσα ἀσϑενείας
ἔτη δέκα καὶ ὀκτὼ bezeichnet war, bei Weitem überbo-
ten. Ohne Zweifel war dem Evangelisten eine, obwohl,
wie wir dieſs auch sonst schon fanden, ziemlich unbestimmte
Kunde von dergleichen Heilungen Jesu, namentlich der des
Paralytischen Matth. 9, 2 ff. parall., zugekommen, da der
heilende Zuruf und der Erfolg der Heilung hier bei Jo-
hannes fast wörtlich ebenso, wie dort namentlich bei Mar-
kus, angegeben ist 23). Auch davon, daſs in der synopti-
schen Erzählung jene Heilung zugleich als ein Akt der
Sündenvergebung erscheint, ist in der vorliegenden johan-
neischen Geschichte noch eine Spur, indem Jesus, wie er
[133]Neuntes Kapitel. §. 96.
dort den Kranken vor der Heilung mit einem ἀφέωνταί
σοι αἱ ἁμαρτίαι beruhigt, so hier nach der Heilung ihn
durch das μηκέτι ἁμάρτανε κ. τ. λ. verwarnt. Die so aus-
geschmückte Heilungsgeschichte aber wurde zugleich zur
Sabbatheilung gemacht, weil das darin vorkommende Ge-
heiſs, das Bette hinwegzutragen, als der geeignetste An-
laſs zum Vorwurf der Sabbatentheiligung erscheinen mochte.
§. 96.
Todtenerweckungen.
Drei Todtenerweckungen wissen die Evangelisten von
Jesu zu erzählen, davon eine den drei Synoptikern ge-
meinschaftlich, eine dem Lukas, und eine dem Johannes
eigenthümlich ist.
Die gemeinsame ist diejenige, welche von Jesu an ei-
nem Mädchen verrichtet worden, und in allen drei Berich-
ten mit der Erzählung von der blutflüssigen Frau verbun-
den ist (Matth. 9, 18 f. 23—26. Marc. 5, 22 ff. Luc. 8, 41 ff.).
In der näheren Bezeichnung des Mädchens und ihres Va-
ters weichen die Synoptiker ab, indem Matthäus den Va-
ter, ohne einen Namen zu nennen, unbestimmt als ἄρχων
εἷς, die beiden andern aber als Synagogenvorsteher Na-
mens Ἰάειρος einführen, und ebendieselben auch die Toch-
ter als zwölfjährig, Lukas noch ausserdem als das einzige
Kind ihres Vaters, bestimmen, wovon Matthäus nichts
weiſs. Bedeutender ist die weitere Differenz, daſs nach
Matthäus der Vater das Mädchen Jesu gleich Anfangs als
gestorben ankündigt, und ihre Wiederbelebung verlangt,
während er nach den beiden andern sie noch lebend, ob-
wohl in den letzten Zügen, verlieſs, um Jesum zur Verhü-
tung ihres wirklichen Todes herbeizuholen, und erst, wie
Jesus mit ihm auf dem Wege war, Leute aus seinem Hau-
se mit der Nachricht kommen, daſs das Mädchen indeſs
gestorben, und nun jede weitere Bemühung Jesu vergeb-
lich sei. Auch die Umstände bei der Wiederbelebung wer-
[134]Zweiter Abschnitt.
den verschieden beschrieben, indem Matthäus namentlich
davon nichts weiſs, daſs Jesus nach den beiden andern
Referenten nur den engsten Ausschuſs seiner Jünger, den
Petrus und die Zebedaiden, als Zeugen mitgenommen ha-
ben soll. Diese Abweichungen hat z. B. Storr so bedeu-
tend gefunden, daſs er zwei verschiedene Fälle annahm,
in welchen unter ähnlichen Umständen die Tochter das ei-
nemal eines weltlichen ἄρχων (Matthäus), das andremal
eines Synagogarchen Jairus (Markus und Lukas) vom To-
de erweckt worden sei 1). Daſs nun aber, was Storr
noch dazu annimmt, und was auf diesem Standpunkt an-
genommen werden muſs, Jesus nicht blos zweimal ein Mäd-
chen vom Tode erweckt, sondern auch beidemale unmittel-
bar vorher eine Frau vom Blutfluſs geheilt haben soll, ist
ein Zusammentreffen, welches sich durch die vage Bemer-
kung Storr's, es können sich zu verschiedenen Zeiten gar
wohl sehr ähnliche Dinge zutragen, um nichts wahrschein-
licher wird. Muſs man somit einräumen, daſs die Evan-
gelisten nur Eine Begebenheit erzählen, so sollte man doch
des weichlichen Bestrebens sich entschlagen, eine völlige
Übereinstimmung ihrer Erzählungen herauszubringen. Denn
weder kann das ἄρτι ἐτελεύτησε bei Matthäus, wie Kuinöl
will 2), est morti proxima heiſsen, noch läſst sich das
ἐσχάτως ἔχει und ἀπέϑνησκε bei Markus und Lukas von
bereits erfolgtem Tode verstehen, zumal bei beiden die
Todesnachricht den Vater später als etwas Neues hinter-
bracht wird3).
[135]Neuntes Kapitel. §. 96.
Hat daher die neuere Kritik mit Recht hier eine Ab-
weichung der Relationen zugegeben, so findet sie die ge-
nauere Darstellung des Hergangs einstimmig auf Seiten der
mittleren Evangelisten, sei es, daſs man mit Schonung des
Matthäus in seiner Darstellung eine Abkürzung findet, wie
sie auch von einem Augenzeugen veranstaltet sein könn-
te 4), oder daſs man diese mindere Genauigkeit als Zeichen
eines nichtapostolischen Ursprungs des ersten Evangeliums
ansieht 5). Daſs nun Markus und Lukas den von Matthäus
verschwiegenen Namen des Bittstellers angeben, und auch
seinen Stand genauer als jener bestimmen, kann ebenso-
wohl zu Ungunsten, als, wie gewöhnlich, zu Gunsten je-
ner beiden ausgelegt werden, da die namentliche Bezeich-
nung der Personen, wie schon früher bemerkt, nicht sel-
ten Zuthat der späteren Sage ist, wie die blutflüssige Frau
erst in der Tradition eines Joh. Malala Veronika 6), das
kananäische Weib erst in den Klementinen Justa heiſst 7),
und die beiden Mitgekreuzigten Jesu erst im Evangelium
Nicodemi Gestas und Demas 8). Das μονογενὴς des Lu-
kas ohnehin dient nur, die Scene rührender zu machen,
und das ἐτῶν δώδεκα konnte er und nach ihm Markus aus
der Geschichte der Blutflüssigen heraufnehmen. Die Dif-
ferenz, daſs nach Matthäus das Mädchen schon Anfangs
als gestorben, nach den beiden andern erst als sterbend
angekündigt wird, müſste man sehr oberflächlich angese-
hen haben, wenn man dieselbe nach unserem eigenen Ka-
non zu Ungunsten des Matthäus unter dem Vorwand ge-
3)
[136]Zweiter Abschnitt.
brauchen zu können glaubte, daſs bei ihm das Wunder
vergrössert sei. Denn auch bei den beiden andern wird
hernach der Tod des Mädchens gemeldet, und daſs er nach
Matthäus einige Augenblicke früher eingetreten sein müſs-
te, kann keine Vergröſserung des Wunders heiſsen. Um-
gekehrt muſs man sagen, daſs bei den beiden andern die
Wundermacht Jesu, zwar nicht objektiv, wohl aber subjek-
tiv gröſser, weil gesteigert durch den Contrast und das
Unerwartete, erscheine. Dort, wo Jesus gleich Anfangs
um eine Todtenerweckung gebeten wird, leistet er nicht
mehr, als von ihm verlangt war: hier dagegen, wo er, nur
um eine Krankenheilung ersucht, eine Todtenerweckung voll-
bringt, thut er mehr als die Betheiligten bitten und ver-
stehen; dort, wo das Vermögen, Todte zu erwecken, vom
Vater bei Jesu vorausgesezt wird, ist das Ungemeine eines
solchen Vermögens noch nicht so hervorgehoben, als hier,
wo der Vater zunächst nur das Vermögen, die Kranke zu
heilen, voraussezt, und als der Tod eingetreten ist, von
jeder weiteren Hoffnung abgemahnt wird. In der Art, wie
die Ankunft und das Verfahren Jesu im Leichenhause be-
schrieben wird, ist Matthäus bei seiner Kürze wenigstens
klarer als die andern mit ihren weitläuftigen Berichten.
Denn daſs Jesus, im Hause angelangt, die bereits zur Lei-
che versammelten Pfeifer sammt der übrigen Menge aus
dem Grunde weggewiesen habe, weil es hier keine Leiche
geben werde, ist vollkommen verständlich; warum er aber
nach Markus und Lukas ausserdem auch seine Jünger bis
auf jene drei von dem vorzunehmenden Schauspiel ausge-
schlossen haben soll, davon ist ein Grund schwer einzu-
sehen. Daſs eine gröſsere Anzahl von Zuschauern phy-
sisch oder psychologisch ein Hinderniſs der Wiederbele-
bung gewesen wäre, kann man nur unter Voraussetzung
eines natürlichen Hergangs sagen: war es ein Wunder,
so könnte man den Grund jener Ausschlieſsung nur in
der minderen Fähigkeit der Ausgeschlossenen suchen, wel-
[137]Neuntes Kapitel. §. 96.
cher aber eben durch die Anschauung eines solchen Wun-
ders hätte aufgeholfen werden sollen. Vielmehr scheint
es nach Allem, als hätten die zwei späteren Synoptiker,
welche auch im Gegensaz gegen die Schluſsformel des Mat-
thäus, daſs das Gerücht von diesem Ereigniſs sich im
ganzen Lande verbreitet habe, den Zeugen desselben von
Jesu das strengste Stillschweigen auflegen lassen, den
Vorgang als ein Mysterium betrachtet, zu welchem ausser
den nächsten Angehörigen nur der engste Ausschuſs der
Jünger gezogen worden sei. Vollends auf das von Schulz
herausgehobene, daſs, während Matthäus Jesum das Mäd-
chen nur einfach bei der Hand nehmen läſst, Markus und
Lukas uns die Worte, welche er dazu gesprochen, der er-
stere sogar in der Ursprache, zu überliefern wissen, kann
entweder kein Gewicht gelegt werden, oder nur in entge-
gengeseztem Sinne. Denn daſs Jesus, wenn er bei Aufer-
weckung eines Mädchens etwas sprach, sich ungefähr der
Worte: ἡ παῖς ἐγείρουbedient haben werde, dieſs konnte
wohl auch der vom Faktum entfernteste Erzähler auf ei-
gene Hand sich vorstellen, und bei Markus gar das
ταλιϑὰ κοῦμι als Zeichen einer besonders ursprünglichen
Quelle, aus welcher der Evangelist geschöpft habe, anse-
hen, heiſst das Näherliegende vergessen, daſs er es ebenso
leicht aus dem Griechischen seines Gewährsmanns über-
tragen haben kann, um, wie bei jenem ἐφφαϑὰ, das geheim-
niſsvolle Lebenswort in seiner ursprünglichen fremden Spra-
che, also nur um so mysteriöser klingend, wiederzugeben.
Gerne werden wir uns demnach dessen bescheiden, mit
Schleiermacher'schem Scharfsinn auszumachen, ob der ur-
sprüngliche Gewährsmann der Erzählung des Lukas einer
von den drei zugelassenen Jüngern gewesen, und ob der-
selbe, der sie ursprünglich berichtete, sie auch niederge-
schrieben habe 9)?
[138]Zweiter Abschnitt.
In Bezug nun auf den vorauszusetzenden wirklichen
Hergang der Sache tritt die natürliche Erklärung hier
ganz besonders zuversichtlich auf, indem sie Jesu eigene
Versicherung für sich zu haben glaubt, daſs das Mädchen
nicht wirklich todt sei, sondern nur in einem schlafähnlichen
Zustand der Ohnmacht sich befinde, und nicht bloſs entschie-
den rationalistische Ausleger, wie Paulus, oder halbratio-
nalistische, wie Schleiermacher, sondern auch entschieden
supranaturalistische Theologen, wie Olshausen, glauben
um der bezeichneten Erklärung Jesu willen hier an keine
Todtenerweckung denken zu dürfen 10). Der zulezt ge-
nannte Erklärer legt besonders auf den Gegensaz in der
Rede Jesu Gewicht, und meint, weil zu dem οὐκ ἀπέϑανε
noch das ἀλλὰ καϑεύδει gesezt sei, so könne der erstere
Ausdruck nicht bloſs so gefaſst werden: sie ist nicht todt,
indem ich den Vorsaz habe, sie zu erwecken — wunder-
lich, da doch dieser Zusaz gerade anzeigt, daſs sie nur in-
sofern nicht gestorben sei, als Jesus sie zu erwecken ver-
möge. Man beruft sich ferner auf die Erklärung Jesu über
den Lazarus, Joh. 11, 14, welche mit ihrem Λάζαρος ἀπέ-
ϑανε der gerade Gegensaz zu unserem οὐκ ἀπέϑανε τὸ κορά-
σιον sei. Aber vorher hatte Jesus doch auch von Lazarus
gesagt: αὕτη ἡ ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς ϑάνατον (V. 4.) und:
Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται (V. 11.), also ganz die-
selbe Leugnung des Todes und Behauptung eines bloſsen
Schlafes, wie hier, und doch bei einem wirklich Gestorbe-
nen. Gewiſs hat demnach Fritzsche recht, wenn er den
Sinn der Worte Jesu in unsrer Stelle so angiebt: puel-
lam ne pro mortua habetote, sed dormire existimatote,
quippe in vitam mox redituram. Ohnehin, wenn Mat-
thäus 11, 5. Jesum sagen läſst: νεκροὶ ἐγείρονται, so seheint
er, der sonst keine Todtenerweckung erzählt, eben an die-
se gedacht haben zu müssen.
[139]Neuntes Kapitel. §. 96.
Doch auch abgesehen von der falschen Deutung der
Worte Jesu hat diese Erklärung noch manche andere
Schwierigkeiten. Zwar, daſs sowohl an sich bei manchen
Krankheiten Zustände eintreten können, welche dem Tode
täuschend ähnlich sehen, als auch insbesondere bei dem
schlechten Zustand der Heilkunde unter den damaligen Ju-
den eine Ohnmacht leicht für wirklichen Tod genommen
werden konnte, ist nicht in Abrede zu stellen. Nun aber,
woher soll Jesus gewuſst haben, daſs gerade bei diesem
Mädchen ein bloſser Scheintod stattfand? Erzählte ihm
auch der Vater den Gang der Krankheit noch so genau,
ja, war er mit den Umständen des Mädchens vielleicht
vorher schon bekannt, wie die natürliche Erklärung sup-
ponirt, immer fragt sich, wie er hierauf so viel bauen konn-
te, um, ohne das Kind noch gesehen zu haben, im Wi-
derspruch gegen die Versicherung der Augenzeugen, es,
nach der rationalistischen Deutung seiner Worte, bestimmt
für nicht gestorben zu erklären? Dieſs wäre Vermessenheit
gewesen und Unklugheit dazu, wenn nicht anders Jesus
auf übernatürlichem Wege von dem wahren Thatbestand
sichere Kenntniſs hatte, womit aber der Standpunkt der
natürlichen Erklärung verlassen wäre. Nach Jesu Ankunft
bei der angeblich Scheintodten schiebt nun Paulus zwi-
schen das ἐκράτησε τῆς χειρὸς αὐτῆς und das ἠγέρϑη τὸ
κοράσιον, was, bei Matthäus schon enge genug verbunden,
die beiden andern Evangelisten durch εὐϑέως und παρα-
χρῆμα noch näher zusammenrücken, eine längere Zeit der
ärztlichen Behandlung ein, und Venturini weiſs die ange-
wandten Mittel sogar im Einzelnen namhaft zu machen 11).
Mit Recht hält gegen solche Willkührlichkeiten Olshausen
daran fest, daſs nach der Ansicht der Erzähler der bele-
bende Ruf Jesu, und wir können hinzusetzen, die Berüh-
[140]Zweiter Abschnitt.
rung seiner mit göttlicher Macht gerüsteten Hand, das Me-
dium der Erweckung des Mädchens gewesen sei.
Bei der dem Lukas eigenthümlichen Erweckungsge-
schichte (7, 11 ff.) fehlt der natürlichen Erklärung die
Handhabe, die in der zulezt betrachteten der Ausspruch
Jesu bot, in welchem er den wirklich erfolgten Tod des
Mädchens zu leugnen schien. Dennoch fassen die ratio-
nalistischen Ausleger Muth, und knüpfen ihre Hoffnungen
hauptsächlich daran, daſs Jesus V. 14. den im Sarge lie-
genden Jüngling anredet: anreden aber, sagen sie, könne
man doch nicht einen Todten, sondern nur einen solchen,
den man des Hörens fähig erkannt habe oder vermuthe 12).
Allein dieser Kanon würde auch beweisen, daſs die Tod
ten alle, welche am Ende der Tage Christus auferwecken
wird, nur Scheintodte seien, da sie sonst nicht, wie es
doch ausdrücklich heiſst (Joh. 5, 28. vgl. 1. Thess. 4, 16.),
seine Stimme hören könnten, — er würde also zu viel be-
weisen. Allerdings muſs, wer angeredet wird, als hörend
und in gewissem Sinne lebend vorausgesezt werden, aber
hier nur insofern, als die Stimme des Todtenerweckers
auch in erstorbene Ohren dringen kann. Nächstdem wer-
den wir zwar die Möglichkeit, daſs bei der jüdischen Un-
sitte, die Todten schon einige Stunden nach deren Ver-
scheiden zu begraben, leicht ein bloſs Scheintodter zu
Grabe getragen werden konnte, zugeben müssen 13): alles
Weitere aber, wodurch gezeigt werden soll, daſs diese
Möglichkeit hier Wirklichkeit gewesen, ist ein Gewebe
von Erdichtungen. Um zu erklären, wie Jesus, auch ohne
den Vorsaz, hier ein Wunder zu thun, sich mit dem Lei-
chenzuge einlassen, wie er auf die Vermuthung, der zu
Begrabende möchte vielleicht nicht wirklich todt sein, kom-
men konnte, wird zuerst fingirt, die beiden Züge, der
[141]Neuntes Kapitel. §. 96.
Leichenzug und der Zug der Begleiter Jesu, seien gerade
unter dem Stadtthor zusammengetroffen, und da sie einan-
der den Weg sperrten, eine Weile aufgehalten worden:
geradezu gegen den Text, der erst als Jesus den Sarg
anfaſste, die Träger stillestehen läſst. Durch die Erzäh-
lung der näheren Umstände des Todesfalls, die er sich
während des Stillstands habe geben lassen, gerührt, sei
nun Jesus zu der Mutter getreten, und habe, ohne Bezug
auf eine zu vollbringende Todtenerweckung, rein nur als
tröstenden Zuspruch, die Worte: μὴ κλαῖε zu ihr gespro-
chen 14). Allein was wäre doch das für ein leerer, an-
maſsender Tröster, welcher einer Mutter, die ihren einzi-
gen Sohn begräbt, nur geradezu das Weinen verbieten
wollte, ohne weder reale Hülfe durch Wiederbelebung des
Gestorbenen, noch ideale durch ausgesuchte Trostgründe
ihr zu bieten? Das Leztere thut nun Jesus nicht: soll er
also nicht ganz unzart aufgetreten sein, so muſs er das
Erstere im Sinn gehabt haben, und dazu macht er auch
alle Anstalt, indem er absichtlich den Sarg anhält und die
Träger zum Stehen bringt. Vor dem erweckenden Ruf
Jesu schiebt nun die natürliche Erklärung den Umstand
ein, daſs Jesus an dem Jüngling irgend ein Lebenszeichen
bemerkt, und auf dieses hin entweder unmittelbar, oder
nach vorgängiger Anwendung von Medikamenten 15), jene
Worte gesprochen habe, welche ihn vollends erwecken
halfen. Allein abgesehen davon, daſs jene Zwischenmo-
mente in den Text nur eingeschoben sind, und das starke:
νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρϑητι, eher dem Machtbefehl eines
Wunderthäters als dem Belebungsversuch eines Arztes ähn-
lich sieht: wie konnte Jesus, wenn er sich bewuſst war,
den Jüngling als lebenden schon angetroffen, nicht selbst
erst ihn vom Tode zurückgerufen zu haben, mit gutem Ge-
[142]Zweiter Abschnitt.
wissen die Lobpreisungen hinnehmen, welche dem Bericht
zufolge die zuschauende Menge dieser That wegen ihm als
groſsem Propheten zollte? Nach Paulus war er selber un-
gewiſs, wie er den Erfolg anzusehen habe; aber eben
wenn er nicht überzeugt war, den Erfolg sich selber zu-
schreiben zu dürfen, so erwuchs ihm die Pflicht, alles
Lob in Bezug auf denselben abzulehnen, und er kommt,
wenn er dieſs nicht that, in ein zweideutiges Licht, in
welchem er nach der übrigen evangelischen Geschichte,
sofern sie unbefangen aufgefaſst wird, keineswegs steht.
Auch hier also müssen wir anerkennen, daſs der Evan-
gelist uns eine wunderbare Todtenerweckung erzählen
will, und daſs nach ihm auch Jesus seine That als ein
Wunder angesehen haben muſs 16).
Je weniger bei der dritten Todtenerweckungsgeschich-
te, welche dem johanneischen Evangelium (Kap. 11.) ei-
genthümlich ist, weil wir an Lazarus keinen eben Gestor-
benen, oder auf dem Weg zum Grabe Befindlichen, son-
dern einen schon mehrere Tage Begrabenen vor uns ha-
ben, an eine natürliche Erklärung gedacht werden zu kön-
nen scheint: desto künstlicher und ausführlicher hat sie
sich gerade in Bezug auf diese Erzählung ausgebildet. Und
zwar ist hier neben der streng und consequent rationali-
stischen Auslegungsweise, welche den evangelischen Be-
richt durchaus als geschichtlich festhaltend, alle Theile des-
selben natürlich zu deuten sich anheischig macht, auch
noch jene andere aufgetreten, welche einzelne Züge des
Berichts als solche ausscheidet, die erst nach dem Erfolg
hinzugesezt seien, womit also schon ein Schritt in die my-
thische Erklärung hinüber gemacht worden ist.
Auf die nämlichen Prämissen wie bei der vorigen Er-
zählung gestüzt, daſs sowohl an sich als wegen der jüdi-
schen Sitten ein Begrabener wohl nach viertägigem Auf-
[143]Neuntes Kapitel. §. 96.
enthalt in einer Felsengruft wieder zum Leben habe kom-
men können — eine Möglichkeit, die wir als solche auch
hier nicht bestreiten —, beginnt die natürliche Erklärung 17)
mit der Voraussetzung, die wir vielleicht schon nicht mehr
ebenso passiren lassen sollten, daſs bei dem Boten, den
ihm die Schwestern mit der Krankheitsnachricht sandten,
Jesus sich genau nach den Umständen der Krankheit er-
kundigt haben werde, und nun soll die Antwort, welche
er dem Boten gab (V. 4.): αὕτη ἡ ἀσϑένεια ουκ ἔςι πρὸς
ϑάνατον κ. τ. λ. eben nur als Schluſs aus den von dem Bo-
ten eingezogenen Nachrichten seine Überzeugung ausdrü-
cken, daſs die Krankheit nicht tödtlich sei. Mit einer sol-
chen Ansicht von dem Zustande des Freundes würde aller-
dings das auf's Beste zusammenstimmen, daſs Jesus nach
erhaltener Botschaft noch zwei Tage in Peräa blieb (V. 6.),
indem er nach jener Voraussetzung seine Anwesenheit in
Bethanien für nicht so dringend nothwendig erachten konnte.
Nun aber, wie kommt es, daſs er nach Abfluſs dieser zwei Ta-
ge nicht nur entschlossen ist, dahin zu reisen (V. 8.), sondern
auch von dem Zustand des Lazarus eine ganz andre Ansicht, ja
die bestimmte Kunde von seinem Tode hat, welchen er den Jün-
gern zuerst verblümt (V. 11.), dann offen (V. 14.) ankündigt?
Hier erhält die bezeichnete Erklärungsart einen bedeuten-
den Riſs, den sie durch die Fiktion eines zweiten Boten 18),
welcher nach Verfluſs der zwei Tage Jesu die Nachricht
von des Lazarus indeſs erfolgtem Ableben gebracht habe,
nur um so auffallender macht. Denn von einem zweiten
Boten kann wenigstens der Verfasser des Evangeliums
nichts gewuſst haben, sonst müſste er seiner Erwähnung
thun, da die Verschweigung desselben der ganzen Erzäh-
[144]Zweiter Abschnitt.
lung eine andre Farbe giebt, die nämlich, daſs Jesus auf
wunderbare Weise von dem Tode des Lazarus Kenntniſs
gehabt habe. Daſs sofort Jesus, als er entschlossen war,
nach Bethanien zu reisen, zu den Jüngern sagte, er wolle
den eingeschlummerten Lazarus aufwecken (κεκοίμηται —
ἐξυπνίσω — V. 11.), wird auf diesem Standpunkt so er-
klärt, Jesus müsse aus den Nachrichten des Boten, der
den Tod des Lazarus meldete, irgendwie abgenommen ha-
ben, daſs derselbe nur in einem soporösen Zustand sich
befinde. Allein hier so wenig als oben können wir Jesu
die unkluge Vermessenheit zutrauen, ehe er noch den an-
geblich Verstorbenen gesehen hatte, die bestimmte Versi-
cherung, daſs er noch lebe, zu geben 19). Auch das hat
auf diesem Standpunkt seine Schwierigkeit, daſs Jesus zu
seinen Jüngern (V. 15.) sagt, er freue sich um ihretwillen,
vor und bei des Lazarus Tode nicht zugegen gewesen zu
sein, ἵνα πιςεύσητε. Die Paulus'sche Erklärung dieser
Worte, als ob Jesus gefürchtet hätte, der in seiner Gegen-
wart erfolgte Tod hätte sie im Glauben an ihn wankend
machen können, hat nicht allein das von Gabler Bemerk-
te gegen sich, daſs πιςεύω nicht geradezu nur das Nega-
tive: den Glauben nicht verlieren, bedeuten kann, was
vielmehr durch eine Phrasis, wie: ἵνα μὴ ἐκλείπῃ ἡ πίςις
ὑμῶν (s. Luc. 22, 32.) ausgedrückt sein müſste 20), son-
dern es ist auch nirgendsher eine solche Vorstellung der
Jünger von Jesu als dem Messias nachzuweisen, mit wel-
cher das Sterben eines Menschen, oder näher eines Freun-
des, in seiner Gegenwart unverträglich gewesen wäre.
Von Jesu Ankunft in Bethanien an wird die evange-
lische Erzählung der natürlichen Erklärung etwas günsti-
[145]Neuntes Kapitel. §. 96.
ger. Zwar die Anrede der Martha an ihn (V. 21 f.): wä-
re er zugegen gewesen, so würde ihr Bruder nicht gestor-
ben sein, ἀλλὰ καὶ νῦν οἶδα, ὅτι, ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν ϑεὸν,
δώσει σοι ὁ ϑεὸς, scheint unverkennbar die Hoffnung aus-
zusprechen, daſs Jesus auch den schon Gestorbenen in das
Leben zurückzurufen vermöge; allein daſs sie auf die fol-
gende Zusicherung Jesu: ἀναςήσεται ὁ ἀδελφός σου, klein-
müthig erwiedert: ja, am jüngsten Tage (V. 24.), thut al-
lerdings einer Erklärung Vorschub, welche nun rückwärts
auch der obigen Äusserung der Martha (V. 22.) den unbe-
stimmten Sinn unterlegt, auch jezt noch, unerachtet er
ihren Bruder nicht bei'm Leben erhalten habe, glaube sie
an Jesum als an denjenigen, welchem Gott Alles, was er
bitte, gewähre, d. h. als den Liebling der Gottheit, den
Messias. Allein nicht πιςεύω sagte Martha dort, sondern
οἶδα, und die Wendung: ich weiſs, daſs das und das ge-
schieht, wenn du nur willst, ist eine gewöhnliche indirekte
Form der Bitte, und hier um so unverkennbarer, da der
Gegenstand der Bitte aus dem vorausgeschickten Gegensatze
dahin klar wird, daſs Martha sagen will: den Tod des
Bruders zwar hast du nicht verhindert, aber auch jezt ist
es noch nicht zu spät, sondern auf deine Bitte wird ihn
Gott dir und uns wieder schenken. Ein Wechsel der Stim-
mung, wie er dann in Martha angenommen werden muſs,
deren kaum geäusserte Hoffnung in der Erwiederung V. 24.
bereits wieder erloschen ist, kann bei einem Weibe, wel-
ches hier und sonst als von sehr beweglicher Natur sich
zeigt, nicht zu sehr befremden, und wird in unserem Falle
durch die Form der vorangegangenen Zusicherung Jesu
(V. 23.) hinlänglich erklärt. Auf ihre indirekte Bitte näm-
lich hatte Martha eine bestimmte gewährende Zusage er-
wartet: da nun Jesus nur ganz allgemein und mit einem
Ausdruck antwortet, welchen man auf die Auferstehung
am Ende der Dinge zu beziehen gewohnt war (ἀναςήσεται),
so giebt sie halb empfindlich halb kleinmüthig jene Erklä-
Das Leben Jesu II. Band. 10
[146]Zweiter Abschnitt.
rung 21). Eben jene so allgemein lautende Äusserung Je-
su aber, so wie die noch unbestimmteren, V. 25 f: ἐγώ
εἰμι ἡ ἀνάςασις κ. τ. λ., glaubt man nun rationalistischer-
seits dahin deuten zu können, Jesus selbst sei von der Er-
wartung eines ausserordentlichen Erfolgs noch entfernt ge-
wesen, deſswegen tröste er die Martha bloſs mit der allge-
meinen Hoffnung, daſs er, der Messias, den an ihn Glau-
bigen die einstige Auferstehung und ein seliges Leben ver-
schaffen werde. Da jedoch Jesus oben (V. 11.) zu seinen
Jüngern zuversichtlich von einem Aufwecken des Lazarus
gesprochen hatte, so müſste er indessen umgestimmt wor-
den sein, wozu kein Anlaſs zu finden ist. Auch beruft
sich Jesus V. 40, wo er, im Begriff, zur Erweckung des
Lazarus zu schreiten, zu Martha sagt: ουκ εἶπόν σοι, ὅτι,
ἐὰν πιςεύσῃς, ὄψει τὴν δόξαν τοῦ ϑεοῦ offenbar auf V. 23,
in welchem er also schon die vorzunehmende Wiederbele-
bung vorhergesagt haben will. Daſs er diese nicht be-
stimmter bezeichnet, und das kaum gegebene Versprechen
in Bezug auf den ἀδελφὸς V. 25 f. wieder in allgemeine
Verheiſsungen für den πιςεύων überhaupt verhüllt, ge-
schieht, um den Glauben der Martha zu prüfen und zu
stärken 22).
Wie nun Maria mit Begleitung herauskommt, und
durch ihr Weinen auch Jesus bis zu Thränen erschüttert
wird, das ist ein Punkt, auf welchen sich die natürliche
Erklärung mit besonderer Zuversicht beruft und fragt, ob
Jesus, wenn ihm die Wiederbelebung des Freundes jezt
schon gewiſs gewesen wäre, nicht vielmehr mit der innig-
sten Freude sich seiner Gruft genähert haben würde, aus
der er ihn im nächsten Augenblick lebend wieder hervor-
rufen zu können sich bewuſst war? Hiebei wird dann das
ἐνεβριμήσατο (V. 33.) und ἐμβριμώμενος (V. 38.) von ge-
[147]Neuntes Kapitel. §. 96.
waltsamem Zurückdrängen des Schmerzens über den Tod
des Freundes verstanden, der sich hierauf in dem ἐδάκρυ-
σεν Luft gemacht habe. Allein sowohl nach der Etymolo-
gie, nach welcher es fremere in aliquem oder in se heiſst,
als nach der Analogie des N. T.lichen Sprachgebrauchs, wo
es Matth. 9, 30. Marc. 1, 43. 14, 5. immer nur im Sinne
von increpare aliquem vorkommt, bezeichnet ἐμβριμᾶσϑαι
eine Bewegung des Zorns, nicht des Schmerzens, und zwar
müſste es hier, wo es nicht mit dem Dativ einer andern
Person, sondern mit τῷ πνεύματι und ἐν ἑαυτῷ verbunden
ist, von einem stillen, verhaltenen Unwillen verstanden wer-
den. In diesem Sinne würde es V. 38, wo es zum zwei-
tenmal vorkommt, ganz wohl passen, denn in der voran-
gegangenen Äusserung der Juden: οὺκ ἠδύνατο οὐ̓τος, ὁ
ἀνοίξας τς ὀφϑαλμοὺς τοῦτυφλοῦ, ποιῆσαι ἵνα καὶ οὐ̓τος μὴ
ἀποϑάνῃ; liegt jedenfalls ein σκανδαλίζεσϑαι, indem Jesu
frühere That sie an seinem jetzigen Benehmen, und dieses
hinwiederum an jener irre machte. Wo aber das erstemal
von einem ἐμβριμᾶσϑαι die Rede ist, V. 33, scheint zwar
das allgemeine Weinen Jesum eher zu einer wehmüthigen
als unwilligen Bewegung haben veranlassen zu können:
doch war auch hier eine starke Miſsbilligung der sich zei-
genden ὀλιγοπιςία möglich. Daſs hierauf Jesus selbst in
Thränen ausbrach, beweist nur, daſs sein Unwille über
die γενεὰ ἄπιςος um ihn her sich in Wehmuth auflöste,
nicht aber, daſs Wehmuth von Anfang an seine Empfin-
dung war. Endlich, daſs die Juden (V. 36.) die Thränen
Jesu als Zeichen auslegten, πῶς ἐφίλει αὐτὸν, dieſs scheint
eher gegen als für diejenigen zu sprechen, welche die Ge-
müthsbewegung Jesu als Schmerz über den Tod des Freun-
des und Mitgefühl mit dessen Schwestern betrachten, da,
wie der Charakter der [johanneischen] Darstellung überhaupt
eher einen Gegensaz zwischen dem wirklichen Sinn des Be-
nehmens Jesu und der Art, wie die Zuschauer es auffaſs-
ten, erwarten läſst, so insbesondere {οἱ Ἰουδαῖοι} in diesem
10 *
[148]Zweiter Abschnitt.
Evangelium sonst immer diejenigen sind, welche Jesu Worte
und Thaten theils miſsverstehen, theils miſsdeuten. Man
beruft sich freilich noch auf den sonst so milden Charak-
ter Jesu, welchem die Härte nicht angemessen sei, mit wel-
cher er hier der Maria und den Übrigen ihr so natürliches
Weinen übelgenommen haben müſste 23): allein dem jo-
hanneischen Christus ist eine solche Denkweise keineswegs
fremd. Derjenige, welcher dem βασιλικὸς, der ihm mit der
unverfänglichen Bitte, zur Heilung seines Sohnes in sein
Haus zu kommen, entgegentrat, den Verweis gab: ἐὰν μὴ
σημεῖα καὶ τϑ;έρατα ἴδητε,ουμὴ πιςεύσητε (4, 48.); der die
Jünger, welche sich an der harten Rede des 6ten Kapitels
gestossen hatten, so schneidend mit einem τοῦτο ὑμᾶς σκαν-
δαλίζει; und μὴ καὶ ὑμεῖς ϑέλετε ὑπάγειν; anlieſs (6, 61.
67.); der seine eigene Mutter, als sie bei der Hochzeit zu
Kana ihm den Weinmangel klagte, durch das harte: τί
ἐμοὶ καὶ σοὶ, γύναι; abwies (2, 4.); der also jedesmal dann
am unwilligsten wurde, wenn Menschen, sein höheres Thun
und Denken nicht begreifend, sich kleinmüthig oder zu-
dringlich zeigten: der war hier ganz besonders zu ähnli-
chem Unwillen veranlaſst. Ist bei dieser Erklärung der
Stelle von einem Schmerz Jesu über den Tod des Lazarus
gar nicht die Rede, so fällt auch die Hülfe weg, welche
die natürliche Erklärung des ganzen Hergangs in diesem
Zuge zu finden glaubt; indeſs auch bei der anderen Deu-
tung läſst sich die augenblickliche Rührung durch das Mit-
gefühl mit den Weinenden gar wohl mit der Voraussicht
der Wiederbelebung vereinigen 24). Und wie hätten sich
auch die Worte der Juden V. 37. nach der Behauptung
natürlicher Erklärer geeignet, die Hoffnung, daſs Gott auch
jezt vielleicht etwas Auszeichnendes für ihn thun werde,
in Jesu zuerst anzuregen? Nicht die Hoffnung, daſs er
[149]Neuntes Kapitel. §. 96.
den Todten wiedererwecken könne, sondern nur die Ver-
muthung, daſs er vielleicht den Kranken am Leben zu er-
halten im Stande gewesen wäre, sprachen ja die Juden
aus; es hatte also schon früher Martha durch die Äusse-
rung, daſs auch jezt noch der Vater ihm gewähren werde,
was er bitte, mehr gesagt: so daſs, wenn dergleichen
Hoffnungen erst von aussen in Jesu angeregt wurden, die-
selben schon früher angeregt sein muſsten, und namentlich
vor jenem Weinen Jesu, auf welches man sich dafür, daſs
sie noch nicht angeregt gewesen, zu berufen pflegt.
Daſs die Äusserung der Martha, als Jesus den Stein
vom Grabe zu nehmen befiehlt: κύριε, ἤδη ὄζει (V. 39.),
für die wirklich schon eingetretene Verwesung und also
gegen die Möglichkeit einer natürlichen Wiederbelebung
nichts beweise, da sie auch bloſser Schluſs aus dem τεταρ-
ταῖος sein kann, ist auch von supranaturalistischen Aus-
legern eingeräumt worden 25). Hierauf aber die Worte,
mit welchen Jesus, die Einrede der Martha ablehnend,
auf der Öffnung des μνημεῖον besteht (V. 40.), daſs sie,
wenn sie nur glaube, τὴν δοξαν τοῦ ϑεοῦ sehen werde, wie
konnte er diese aussprechen, wenn er sich seiner Macht,
den Lazarus zu erwecken, nicht auf's Bestimmteste bewuſst
war? Nach Paulus sagte jener Ausspruch nur allgemein,
daſs der Vertrauensvolle auf irgend eine Weise eine herr-
liche Äusserung der Gottheit erlebe. Allein welche herr-
liche Äusserung der Gottheit war denn hier, bei Eröffnung
der Gruft eines seit vier Tagen Begrabenen zu erleben,
wenn nicht die, daſs er auferweckt werden sollte? und
im Gegensaz vollends gegen die Versicherung der Martha,
daſs den Bruder bereits die Verwesung ergriffen haben müs-
se, was können jene Worte für einen Sinn haben, als,
hier sei der Mann, der Verwesung zu wehren? Um aber
ganz sicher zu erfahren, was die δόξα τοῦ ϑεοῦ in unserer
[150]Zweiter Abschnitt.
Stelle sagen will, darf man nur auf V. 4. zurücksehen,
wo Jesus gesagt hatte, die Krankheit des Lazarus sei nicht
πρὸς ϑάνατον, sondern ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ, κ. τ. λ.
Hier erhellt doch wohl aus dem Gegensaz: nicht zum To-
de, unabweisbar, daſs die δόξα τοῦ ϑεοῦ die Verherrlichung
Gottes durch das Leben, also, sofern er jezt bereits todt
war, durch die Wiederbelebung des Lazarus bedeutet, —
eine Hoffnung, welche Jesus gerade im entscheidendsten
Augenblick nicht anzuregen wagen konnte, ohne eine hö-
here Gewiſsheit zu haben, daſs sie in Erfüllung gehen wer-
de 26). Daſs er sofort nach Eröffnung der Gruft, noch
ehe er dem Todten das δεῦρο ἔξω! zugerufen, bereits dem
Vater für die Erhörung seiner Bitte dankt, dieſs wird vom
Standpunkt der natürlichen Erklärung als der klarste Be-
weis dafür angeführt, daſs er den Lazarus nicht durch je-
nes Wort erst in das Leben gerufen, sondern beim Hinein-
blick in die Gruft ihn bereits wiederbelebt gefunden haben
müsse. Ein solches Argument sollte man von Kennern des
johanneischen Evangeliums in der That nicht erwarten.
Wie gewöhnlich ist es diesem nicht, z. B. in dem Ausspruch:
ἐδοξάσϑη ὁ υἱὸς τ. ἀ., das erst noch Bevorstehende und nur
erst Angelegte als bereits Verwirklichtes darzustellen; wie
passend war es namentlich hier, die Gewiſsheit der Erhö-
rung dadurch hervorzuheben, daſs sie als bereits gesche-
hene bezeichnet wurde? Und welcher Fiktionen bedarf es
nun ferner, um zu erklären, theils wie Jesus das in den
Lazarus zurückgekehrte Leben bemerken, theils wie er
wieder zum Leben gelangt sein konnte! Zwischen dem Weg-
nehmen des Steins, sagt Paulus, und Jesu Dankgebet liegt
der Moment des überraschenden Erfolgs; damals muſs Je-
sus, noch um einige Schritte entfernt, den Lazarus als ei-
nen Lebenden erkannt haben. Woran? müssen wir fra-
gen, und wie so schnell und sicher? und warum nur er
[151]Neuntes Kapitel. §. 96.
und Niemand sonst? Erkannt möge er ihn haben an Be-
wegungen, vermuthet man. Aber wie leicht konnte er
sich hierin täuschen bei einem in dunkler Felsengruft lie-
genden Todten; wie voreilig, wenn er, ohne erst genauer
untersucht zu haben, so schnell und bestimmt die Über-
zeugung, daſs er lebe, aussprach! Oder, wenn die Bewe
gungen des Todtgeglaubten stark und unverkennbar waren,
wie konnten sie den Umstehenden entgehen? Endlich, wie
konnte Jesus in seinem Gebet das bevorstehende Faktum
als Erkennungszeichen seiner göttlichen Sendung darstel-
len, wenn er sich bewuſst war, die Wiederbelebung des
Lazarus nicht bewirkt, sondern nur entdeckt zu haben?
Für die natürliche Möglichkeit eines Wiederauflebens des
schon Begrabenen wird unsre Unkenntniſs der näheren Um-
stände seines vermeintlichen Todes, das schnelle Begraben
bei den Juden, hierauf die kühle Gruft, die stark duften-
den Specereien, und endlich der warme Luftzug angeführt,
welcher mit der Abwälzung des Steins belebend in die Gruft
strömte. Alle diese Umstände jedoch führen nicht über den
niedrigsten Grad der Möglichkeit, welcher der höchsten
Unwahrscheinlichkeit gleich ist, hinaus, womit dann die
Gewiſsheit, mit welcher Jesus den Erfolg vorausverkün-
digt, unvereinbar bleiben muſs 27).
Eben diese bestimmten Vorhersagen, als das Haupthin-
derniſs einer natürlichen Erklärung dieses Abschnitts, sind
es daher, welche man, noch vom rationalistischen Stand-
punkt aus, durch die Annahme beseitigen wollte, daſs sie
nicht von Jesu selbst herrühren, sondern ex eventu vom
Referenten hinzugefügt sein mögen. Paulus selbst fand
wenigstens das ἐξυπνίσω αὐτὸν (V. 11.) gar zu bestimmt,
und wagte daher die Vermuthung, daſs der Erzähler nach
dem Erfolge ein milderndes Vielleicht, das Jesus hinzuge-
[152]Zweiter Abschnitt.
sezt hatte, weggelassen habe 28). Diese Auskunft hat
Gabler in erweiterte Anwendung gebracht. Nicht bloſs
über den bezeichneten Ausspruch theilt er die Paulus'sche
Vermuthung, sondern schon V. 4. ist er geneigt, das ὑπὲρ
τῆς δόξης τοῦ ϑεοῦ nur auf Rechnung des Evangelisten zu
schreiben; ebenso V. 15., bei dem χαίρω δἰ ὑμᾶς, ἵνα πιςεύ-
σητε, ὅτι ουκ ἤμην ἐκεῖ, vermuthet er eine kleine, von Jo-
hannes nach dem Erfolg angebrachte Verstärkung; endlich
auch bei den Worten der Martha, V. 22.: ἀλλὰ καὶ νῦν
οἶδα κ. τ. λ. giebt er dem Gedanken an einen eigenen Zu-
saz des Referenten Raum 29). Durch diese Wendung hat
die natürliche Auslegungsweise sich selbst als unfähig be-
kannt, mit der johanneischen Erzählung fertig zu wer-
den. Denn wenn sie, um sich an derselben geltend ma-
chen zu können, mehrere, gerade der bezeichnendsten
Stellen ausmerzen muſs, so gesteht sie damit eben, daſs
die Erzählung, so wie sie vorliegt, eine natürliche Deu-
tung nicht zuläſst. Zwar sind die Stellen, deren Unver-
träglichkeit mit der rationalistischen Erklärungsart durch
Ausscheidung derselben eingestanden wird, sehr sparsam
gewählt: allein aus der obigen Darstellung erhellt, daſs,
wollte man alle in diesem Abschnitt vorkommende Züge,
welche der natürlichen Ansicht vom ganzen Hergang wi-
derstreben, auf Rechnung des Evangelisten schreiben, am
Ende nur nicht gar Alles, was hier verhandelt wird, als
spätere Erdichtung angesehen werden müſste. Hiemit ist,
was bei den früher betrachteten zwei Berichten von Tod-
[153]Neuntes Kapitel. §. 96.
tenerweckungen wir gethan haben, bei der lezten und
merkwürdigsten Geschichte dieser Art von den verschiede-
nen auf einander gefolgten Erklärungsversuchen selbst voll-
zogen worden, nämlich die Sache auf die Alternative zu
treiben, daſs man von der evangelischen Erzählung entwe-
der den Hergang als übernatürlichen hinnehmen, oder,
wenn man ihn als solchen unglaublich findet, den histori-
schen Charakter der Erzählung leugnen muſs.
Um in diesem Dilemma für alle drei hiehergehörige
Erzählungen eine Entscheidung zu finden, müssen wir auf
den eigenthümlichen Charakter derjenigen Art von Wundern
zurückgehen, welche wir hier vor uns haben. Wir sind
bis jezt durch eine Stufenleiter des Wunderbaren aufge-
stiegen. Zuerst Heilungen von Geisteskranken; dann von
allen Arten leiblich Kranker, deren Organismus aber doch
noch nicht bis zum Entweichen des Geistes und Lebens
zerrüttet war; nunmehr die Wiederbelebung solcher Kör-
per, aus welchen das Leben bereits geflohen ist. Dieser
Klimax des Wunderbaren ist zugleich eine Stufenreihe des
Undenkbaren. Das nämlich haben wir uns zwar etwa noch
vorstellen können, wie eine geistige Störung, bei welcher
von den körperlichen Organen nur das dem Geiste zunächst
angehörige Nervensystem sich einigermaſsen angegriffen
zeigte, auch auf dem rein geistigen Wege des bloſsen Wor-
tes, Anblicks, Eindrucks Jesu gehoben werden mochte:
je weiter aber in das Körperliche eingedrungen das Übel
sich zeigte, desto undenkbarer war uns eine Heilung die-
ser Art. Wo bei Geisteskranken das Gehirn bis zur wil-
desten Tobsucht, bei Nervenkranken das Nervensystem bis
zu periodischer Epilepsie zerrüttet war, da konnten wir
uns schon schwer vorstellen, wie durch jene geistige Ein-
wirkung bleibende Hülfe geschafft worden sein sollte; noch
schwerer, wo die Krankheit ausser allem unmittelbaren
Zusammenhang mit dem Geistigen sich zeigte, wie bei Aus-
saz, Blindheit, Lähmung und dergleichen. Immer aber
[154]Zweiter Abschnitt.
war doch hier noch etwas vorhanden, woran die Wunder-
kraft Jesu, sofern wir sie uns doch geistiger Art denken
müssen, sich wenden konnte; es war doch noch ein Be-
wuſstsein in den Menschen, auf welches Eindruck zu ma-
chen, und durch dessen Vermittlung möglicherweise auch
auf den Körper solcher Personen zu wirken war. Nun
aber bei Todten ist das anders. Der Gestorbene, dem mit
dem Leben auch das Bewuſstsein entflohen ist, hat den lez-
ten Anknüpfungspunkt für die Einwirkung des Wunder-
thäters verloren, er nimmt ihn nicht mehr wahr, bekommt
keinen Eindruck mehr von ihm, da ihm selbst die Fähig-
keit, Eindrücke zu bekommen, auf's Neue verliehen wer-
den muſs. Diese aber zu verleihen, oder beleben im ei-
gentlichen Sinn, ist eine schöpferische Thätigkeit, welche
von einem Menschen ausgeübt zu denken, wir unsre Un-
fähigkeit bekennen müssen.
Doch auch innerhalb unsrer drei Todtenerweckungs-
geschichten selbst findet ein unverkennbarer Klimax statt.
Mit Recht hat schon Woolston bemerkt, es sehe aus, wie
wenn von diesen drei Erzählungen jede zu der vorange-
henden an Wunderbarem hätte hinzufügen wollen, was
dieser noch fehlte 30). Die Jairustochter erweckt Jesus
noch auf demselben Lager, auf welchem sie so eben ver-
schieden war; den nainitischen Jüngling schon im Sarg
und auf dem Wege zur Bestattung; den Lazarus endlich
nach viertägigem Aufenthalt in der Gruft. War es in je-
ner ersten Geschichte nur durch ein Wort angezeigt, daſs
das Mädchen den unterirdischen Mächten verfallen gewe-
sen: so wurde dieſs in der zweiten Geschichte durch den
Zug, daſs man den Jüngling bereits vor die Stadt hinaus
zu Grabe getragen habe, auch für die Anschauung ausge-
prägt, am entschiedensten aber ist der längst in der Gruft
verschlossene Lazarus als ein bereits der Unterwelt an-
[155]Neuntes Kapitel. §. 96.
gehöriger geschildert, so daſs, wenn die Wirklichkeit des
Todes im ersten Falle bezweifelt werden konnte, dieſs
bei'm zweiten schon schwerer, bei'm dritten so viel wie
unmöglich ist 31). In dieser Abstufung steigt dann auch
die Schwierigkeit, die drei Begebenheiten sich denkbar zu
machen: wenn anders, wo die Sache selbst undenkbar ist,
zwischen verschiedenen Modificationen derselben eine Stei-
gerung der Undenkbarkeit stattfinden kann. Wäre näm-
lich eine Todtenerweckung überhaupt möglich, so müſste
sie wohl eher möglich sein bei einem so eben verschiede-
nen, noch lebenswarmen Individuum, als bei einem erkal-
teten, das schon zu Grabe getragen wird, und wiederum
bei diesem eher als bei einem solchen, an welchem wegen
bereits viertägigen Aufenthalts im Grabe der Anfang der
Verwesung als eingetreten vorausgesezt, und daſs sich
diese Voraussetzung bestätigt habe, wenigstens nicht ver-
neint wird.
Doch auch abgesehen von dem Wunderbaren ist von
den betrachteten Geschichten immer die folgende theils in-
nerlich unwahrscheinlicher, theils äusserlich unverbürgter
als die vorhergehende. Was die innere Unwahrscheinlich-
keit betrifft, so tritt ein Moment derselben, welches an
sich zwar in allen, und somit auch in der ersten liegt,
doch bei der zweiten besonders hervor. Als Motiv, war-
um Jesus den Jüngling zu Nain erweckte, wird hier das
Mitleiden mit seiner Mutter bezeichnet (V. 13.). Damit
ist nach Olshausen eine Beziehung dieser Handlung auf
den Erweckten selbst nicht ausgeschlossen. Denn der
Mensch, bemerkt er, kann als bewuſstes Wesen nie bloſs
als Mittel behandelt werden, wie es hier der Fall wäre,
wenn man die Freude der Mutter als alleinigen Zweck
Jesu bei der Auferweckung des Jünglings betrachten woll-
te 32). Hiedurch hat Olshausen auf dankenswerthe Weise
[156]Zweiter Abschnitt.
die Schwierigkeit dieser und jeder Todtenerweckung nicht
gehoben, sondern in's Licht gestellt. Denn der Schluſs,
daſs, was an sich, oder nach geläuterten Begriffen, nicht
erlaubt oder schicklich ist, von den Evangelisten Jesu nicht
zugeschrieben werden könne, ist ein durchaus unerlaubter:
vielmehr müſste, die Reinheit des Charakters Jesu voraus-
gesezt, wenn ihm die Evangelien etwas Unerlaubtes zu-
schreiben, auf die Unrichtigkeit ihrer Erzählungen ge-
schlossen werden. Daſs nun Jesus bei seinen Todtenerwe-
ckungen darauf Rücksicht genommen hätte, ob sie den zu
erweckenden Personen, vermöge des Seelenzustands, in
welchem sie gestorben waren, zu Gute kommen oder nicht,
davon finden wir keine Spur; daſs, wie Olshausen an-
nimmt, bei den leiblich Erweckten auch die geistige Erwe-
ckung habe eintreten sollen und eingetreten sei, wird nir-
gends gesagt; überhaupt treten diese Erweckten, auch den
Lazarus nicht ausgenommen, nach ihrer Erweckung durch-
aus zurück, weſswegen Woolston fragen konnte, warum
doch Jesus gerade diese unbedeutenden Personen dem Tode
entrissen habe, und nicht einen Täufer Johannes oder ei-
nen andern allgemein nüzlichen Mann? Wollte man sagen,
er habe es als den Willen der Vorsehung erkannt, daſs
diese Männer, einmal gestorben, im Tode blieben: so hätte
er, scheint es, von allen einmal Gestorbenen so denken
müssen, und es wird in lezter Beziehung keine andere Ant-
wort übrig bleiben, als diese: weil man von berühmten
Männern urkundlich wuſste, daſs die durch ihren Tod ent-
standene Lücke durch kein Wiederaufleben ausgefüllt wor-
den war, so konnte die Sage, was sie von Todtenerwe-
ckungen zu erzählen Lust hatte, nicht an solche Namen
knüpfen, sondern muſste unbekannte Subjekte wählen, bei
welchen jene Controle wegfiel.
Ist dieser Anstoſs allen drei Erzählungen gemein, und
tritt bei der zweiten nur eines zufälligen Ausdrucks we-
gen sichtbarer hervor: so ist dagegen die dritte Erzählung
[157]Neuntes Kapitel. §. 96.
voll von ganz eigenthümlichen Schwierigkeiten, indem das
ganze Benehmen Jesu und zum Theil auch der übrigen
Personen nicht wohl zu begreifen ist. Wie Jesus die
Nachricht von der Krankheit des Lazarus und die darin
enthaltene Bitte der Schwestern, nach Bethanien zu kom-
men, erhält, bleibt er noch zwei Tage an Ort und Stelle,
und sezt sich erst, nachdem er seines Todes gewiſs gewor-
den, nach Judäa in Bewegung. Warum dieſs? Daſs es
nicht geschah, weil er etwa die Krankheit für ungefährlich
gehalten hätte, ist oben gezeigt, da er vielmehr den Tod
des Lazarus voraussah. Daſs es ebensowenig Gleichgültig-
keit gegen diesen war, wird vom Evangelisten (V. 5.) aus-
drücklich bemerkt. Was also sonst? Lücke vermuthet,
Jesus sei vielleicht eben in einer besonders gesegneten Wirk-
samkeit in Peräa begriffen gewesen, welche er um des La-
zarus willen nicht sogleich habe abbrechen wollen, indem
er für Pflicht gehalten habe, seinem höheren Beruf als
Lehrer den geringeren als heilender Wunderthäter und
helfender Freund nachzusetzen 33). Allein neben dem, daſs
er hier ganz wohl das Eine thun und das Andre nicht las-
sen konnte, nämlich entweder einige Jünger zur Fortse-
zung seiner Wirksamkeit in jener Gegend zurücklassen,
oder den Lazarus, sei es durch einen Jünger, oder durch
die Macht seines Willens in die Ferne heilen, schweigt ja
unser Referent völlig über eine solche Veranlassung des
längeren Verweilens Jesu, es darf sich also diese Ansicht
von demselben nur dann erst, und zwar als bloſse Ver-
muthung, hören lassen, wenn vom Evangelisten kein an-
derer Grund von Jesu Verweilen angedeutet ist. Dieser
liegt aber, worauf auch Olshausen aufmerksam macht,
ganz offen in der Erklärung Jesu V. 15., deſswegen sei
es ihm lieb, daſs er bei Lazarus Tode nicht gegenwärtig
gewesen sei, weil für den Zweck, den Glauben der Jün-
[158]Zweiter Abschnitt.
ger zu stärken, die Wiederbelebung des Gestorbenen wirk-
samer sein werde, als die Heilung des nur erst Kranken
hätte sein können. Absichtlich also hatte Jesus den La-
zarus erst sterben lassen, um durch seine wunderbare Er-
weckung sich um so mehr Glauben zu verschaffen. Das-
selbe im Ganzen fassen Tholuck und Olshausen nur zu mo-
ralisch, wenn sie von einer pädagogischen Absicht Jesu
reden, den Seelenzustand der Bethanischen Familie und
seiner Jünger zu vollenden 34), da es doch nach Ausdrü-
cken, wie ἵνα δοξασϑῇ ὁ υἱὸς τ. ϑ. (V.4.), vielmehr mes-
sianisch um Verbreitung und Befestigung des Glaubens an
Jesum als Gottessohn, zunächst freilich in jenem engsten
Kreise, zu thun war. Hier ruft zwar Lücke: nimmer-
mehr! so willkührlich und eigensinnig hat der Helfer in
der Noth, der edelste Menschenfreund, nie gehandelt 35),
und auch de Wette macht darauf aufmerksam, daſs Jesus
sonst niemals seine Wunder absichtlich herbeigeführt oder
vergröſsert habe 36). Allein wenn beide hieraus schlieſsen,
es müsse also Jesum irgend etwas Äusseres, ein anderwei-
tiges Berufsgeschäft, abgehalten haben: so ist dieſs im
Obigen schon als dem Bericht zuwiderlaufend erwiesen, so
daſs, wenn jene Männer mit Recht darauf beharren, der
wirkliche Jesus habe so nicht handeln können, das aber
nur mit Unrecht leugnen, daſs der Verfasser des vierten
Evangeliums seinen Jesus so handeln lasse, nichts Ande-
res übrig bleibt, als aus dieser Incongruenz des johannei-
schen Christus und des denkbar wirklichen mit den Pro-
babilien 37) auf den unhistorischen Charakter der johan-
neischen Erzählung zu schlieſsen.
Auch das angebliche Benehmen der Jünger V. 12. f.
muſs befremden. Wenn ihnen Jesus doch, sofern jeden-
[159]Neuntes Kapitel. §. 96.
falls ihre drei Koryphäen dabei gegenwärtig gewesen wa-
ren, schon den Tod der Jairustochter als einen bloſsen
Schlaf dargestellt hatte: wie konnten sie dann, wenn er
nun von Lazarus sagte: κεκοίμηται und ἐξυπνίσω αὐτον,
an einen natürlichen Schlaf denken? Aus einem gesunden
Schlaf weckt man doch wohl einen Patienten nicht, und
so muſste den Jüngern alsbald einfallen, daſs hier vielmehr
in dem Sinn, wie bei jenem Mädchen, von einer κοίμησις
die Rede sei. Daſs statt dessen die Jünger das tiefer Ge-
meinte so oberflächlich verstehen, das ist ja ganz nur die
Lieblingsmanier des vierten Evangelisten, die wir schon
an einer Reihe von Beispielen kennen gelernt haben. Es
war ihm traditionell der Sprachgebrauch Jesu zu Ohren
gekommen, den Tod nur als einen Schlaf zu bezeichnen,
und alsbald ergab sich in seiner, zu dergleichen Antithe-
sen geneigten Phantasie für diese Bilderrede ein entspre-
chendes Miſsverständniſs.
Was die Juden V. 37. sagen, ist, die Wahrheit der
synoptischen Todtenerweckungen vorausgesezt, schwer be-
greiflich. Die Juden berufen sich auf die Heilung des
Blindgeborenen (Joh. 9.), und machen den Schluſs, daſs
derjenige, welcher diesem zum Gesicht verholfen, wohl
auch im Stande gewesen sein müſste, den Tod des Laza-
rus zu verhindern. Wie verfallen sie auf dieses heterogene
und unzureichende Beispiel, wenn ihnen doch in den bei-
den Todtenerweckungen gleichartigere vorlagen, und sol-
che, welche selbst noch für den Fall des bereits erfolgten
Todes Hoffnung zu geben geeignet waren? Vorangegangen
waren aber jene galiläischen Todtenerweckungen dieser
judäischen in jedem Fall, weil Jesus nach dieser nicht
mehr nach Galiläa kam; auch konnten jene Vorgänge in
der Hauptstadt nicht unbekannt geblieben sein, zumal es
ja von beiden ausdrücklich heiſst, das Gerücht von densel-
ben habe sich εἰς ὅλην τὴν γῆν ἐκείνην, ἐν ὅλῃ τῇ Ἰουδαίᾳ καὶ
ἐν πάσῃ τῇ περιχώρῳ verbreitet. Den wirklichen Juden
[160]Zweiter Abschnitt.
also hätten diese Fälle näher gelegen: da der vierte Evan-
gelist sie auf etwas weit weniger Naheliegendes sich be-
rufen läſst, so wird wahrscheinlich, daſs er von jenen
Vorgängen nichts gewuſst hat; denn daſs die Berufung nur
ihm, nicht den Juden selber angehört, zeigt sich schon
darin, daſs er sie gerade auf diejenige Heilung sich bezie-
hen läſst, welche er nächstzuvor erzählt hatte.
Ein starker Anstoſs liegt auch in dem Gebete, welches
V. 41 f. Jesu in den Mund gelegt wird. Nachdem er dem
Vater für die Erhörung gedankt, sezt er hinzu, er für sich
wisse wohl, daſs der Vater ihn jederzeit erhöre, und nur
um des Volkes willen, um ihm Glauben an seine göttliche
Sendung beizubringen, spreche er diesen besonderen Dank
aus. Zuerst also giebt er seiner Rede eine Beziehung auf
Gott, hinterher aber sezt er diese Beziehung zu einer nur
um des Volks willen gemachten herunter. Und dieſs nicht
nur so, wie Lücke will, daſs Jesus für sich zwar bloſs
still gebetet haben würde, um des Volks willen aber sein
Gebet laut spreche (denn für das bloſs stille Beten liegt in
der Gewiſsheit der Erhörung kein Grund), sondern in dem
Sinne, daſs er für sich dem Vater nicht für einen einzelnen
Erfolg, wie gleichsam überrascht, zu danken brauche, da er
der Gewährung im Voraus gewiſs sei, also Wunsch und
Dank zusammenfallen, überhaupt sein Verhältniſs zum Vater
nicht in einzelnen Akten der Bitte, der Erhörung und des
Danks sich bewege, sondern ein beständiger und stetiger
Austausch dieser gegenseitigen Funktionen sei, aus wel-
chem an und für sich kein einzelner Dankakt in dieser
Weise sich aussondern würde. Wenn nun allerdings in
Bezug auf die Bedürfnisse des Volks und aus Sympathie
mit demselben in Jesu ein solcher einzelner Akt hervorge-
treten sein könnte: so müſste doch, wenn in dieser Stel-
lung Wahrheit gewesen sein soll, Jesus ganz im Mitgefühl
aufgegangen sein, den Standpunkt des Volks zu dem sei-
nigen gemacht, und so in jenem Augenblicke doch auch
[161]Neuntes Kapitel. §. 96.
aus eigenem Trieb und für sich selber gebetet haben. Hier
aber hat er kaum zu beten angefangen, so steigt ihm schon
die Reflexion auf, daſs er nicht in eigenem Bedürfnisse
bete, er betet also nicht aus lebendigem Gefühl, sondern
aus kalter Accommodation, und dieſs muſs man anstöſsig, ja
widrig finden. In keinem Falle darf, wer auf diese Wei-
se nur zur Erbauung Anderer betet, es diesen sagen, es
geschehe nicht von seinem, sondern nur von ihrem Stand-
punkt aus, weil ein lautes Gebet auf die Hörer nur dann
Eindruck machen kann, wenn sie voraussetzen, daſs der Spre-
chende mit ganzer Seele dabei sei. Wie mochte also Je-
sus sein angefangenes Gebet durch diesen Zusaz unwirk-
sam machen? Drängte es ihn, vor Gott ein Bekennt-
niſs des wahren Bestands der Sache abzulegen, so konnte
er dieſs im Stillen thun; daſs er es laut aussprach, und
in Folge dessen auch wir es hier lesen, dieſs könnte nur
auf die spätere Christenheit, auf die Leser des Evange-
liums, berechnet gewesen sein. Während nämlich zur
Erweckung des Glaubens in der umstehenden Menge er-
klärtermaſsen das Dankgebet nöthig war, konnte der fort-
geschrittene Glaube, wie ihn das vierte Evangelium voraus-
sezt, sich an demselben stossen, weil es aus einem zu un-
tergeordneten, und namentlich zu wenig stetigen Verhält-
niſs des Sohns zum Vater hervorgegangen scheinen konn-
te; es muſste folglich jenes Gebet, das für die gegenwär-
tigen Hörer nöthig war, für die späteren Leser wieder
annullirt, oder auf den Werth einer bloſsen Accommodation
restringirt werden. Diese Rücksicht aber kann unmöglich
schon Jesus, sondern nur ein später lebender Christ ge-
habt haben. Dieſs hat schon früher ein Kritiker gefühlt,
und daher den 42. Vers als unächten Zusaz von späterer
Hand aus dem Texte werfen wollen 38). Da jedoch dieses
Das Leben Jesu II. Band. 11
[162]Zweiter Abschnitt.
Urtheil von allen äusseren Gründen verlassen ist, so müſste
man, wenn jene Worte doch nicht von Jesu sein können,
annehmen, wozu Lücke früher nicht ganz ungeneigt war 39),
der Evangelist habe Jesu jene Worte nur geliehen, um die
in V. 41. vorangegangenen zu erläutern. Ganz gewiſs ha-
ben wir hier Worte, die Jesu vom Evangelisten nur gelie-
hen sind: aber, wenn einmal diese, wer steht uns dann
auch hier dafür, daſs es nur mit diesen sich so verhält?
In einem Evangelium, in welchem wir schon so viele Re-
den als bloſs geliehene erkannt haben, im Zusammenhang
einer Erzählung, welche an allen Enden historische Un-
denkbarkeiten hat, ist die Schwierigkeit eines einzelnen
Verses nicht ein Zeichen, daſs er nicht zum Übrigen, son-
dern in Verbindung mit dem Übrigen davon, daſs das Ganze
nicht in die Klasse historischer Compositionen gehört 40).
Was für's Andere die Abstufung zwischen den drei
Erzählungen in Rücksicht auf die äussere Beglaubigung be-
trifft, so hat schon Woolston richtig beobachtet, wie auf-
fallend es sei, daſs nur die Erweckung der Jairustochter,
in welcher das Wunderbare am wenigsten hervortrete, bei
drei Evangelisten vorkomme, die beiden andern aber je
nur bei Einem 41), und zwar, indem es bei der Erweckung
des Lazarus noch weit weniger begreiflich ist, wie sie bei
den übrigen fehlen kann, als bei der Erweckung des naini-
tischen Jünglings, so ist auch hier ein vollständiger Kli-
max vorhanden.
Daſs die zulezt genannte Begebenheit nur allein vom
Verfasser des Lukasevangeliums erzählt ist, daſs insbeson-
dere Matthäus und Markus sie nicht neben oder statt der
Erzählung von dem erweckten Mädchen haben, macht in
mehr als Einer Hinsicht Schwierigkeit 42). Schon über-
[163]Neuntes Kapitel. §. 96.
haupt als Todtenerweckung, sollte man glauben, da deren
nach unsern Berichten nur wenige vorgekommen waren,
und diese von ausgezeichneter Beweiskraft sind, es müſste
die Evangelisten nicht verdrossen haben, neben der einen
auch noch die zweite aufzunehmen, da es ja Matthäus für
der Mühe werth gehalten hat, z. B. von Blindenheilungen
drei Proben zu berichten, welche doch weit weniger Ge-
wicht hatten, wo er also weit eher mit Einer hätte ab-
kommen, und statt der übrigen noch eine oder die ande-
re Todtenerweckung aufnehmen können. Gesezt aber auch,
die zwei ersten Evangelisten wollten aus einem nicht mehr
zu ermittelnden Grunde nicht weiter als Eine Todtener-
weckungsgeschichte geben, so sollten sie, muſs man mei-
nen, weit eher die vom Jüngling zu Nain, sofern sie von
derselben wuſsten, ausgewählt haben, als die von der Jai-
rustochter, weil sie, wie oben ausgeführt, eine entschiede-
nere und auffallendere Todtenerweckung war. Geben sie
dessen ungeachtet nur die leztere, so kann von der andern
wenigstens Matthäus nichts gewuſst haben; dem Markus
freilich lag sie wahrscheinlich im Lukas vor, aber er war
schon 3, 7. oder 20. von Lukas 6, 12. (17.) zu Matthäus 12, 15.
übergesprungen, und kehrt erst 4, 35. (21 ff.) zu Lukas 8, 22.
(16 ff.) zurück 43), wo er dann die Erweckung des Jünglings
(Luc. 7, 11 ff.) bereits hinter sich hat. Die nunmehr entstehen-
de zweite Frage: wie kann die Wiederbelebung des Jüng-
lings, wenn sie wirklich vorgegangen war, dem Verfasser
des ersten Evangeliums unbekannt geblieben sein? hat,
auch abgesehen von dem voraussezlich apostolischen Ur-
sprung dieses Evangeliums, doch nicht geringere Schwie-
rigkeiten als die vorige. Waren doch ausser vielem Vol-
ke auch μαϑηταὶ ἱκανοὶ dabei; der Ort Nain kann, wie
Josephus seine Lage im Verhältniſs zum Thabor bestimmt,
nicht fern von dem gewöhnlichen galiläischen Schauplaz
11 *
[164]Zweiter Abschnitt.
der Thätigkeit Jesu gewesen sein 44); endlich verbreitete
sich ja das Gerücht von dem Ereigniſs, wie natürlich, weit
umher (V. 17.). Schleiermacher meint, die nichtapostoli-
schen Verfasser der ersten Aufzeichnungen aus dem Le-
ben Jesu haben weniger gewagt, die vielbeschäftigten Apo-
stel um Notizen anzugehen, sondern mehr die Freunde Je-
su zweiter Ordnung aufgesucht, und hiebei haben sie sich
natürlich am meisten an diejenigen Orte gewendet, wo sie
die reichste Ernte hoffen konnten, nach Kapernaum und
Jerusalem: was sich, wie die in Rede stehende Todtener-
weckung, an andern Orten zugetragen, das habe nicht so
leicht Gemeingut werden können. Allein diese Vorstellung
der Sache ist theils zu subjektiv, indem sie die Verbreitung
der Kunde von Jesu Thaten durch Nachfrage einzelner
Liebhaber und Anekdotensammler gehen läſst, theils, was
damit zusammenhängt, liegt von dergleichen Geschichten
die irrige Ansicht zum Grunde, als wären sie an den
Plätzen, wo sie vorgegangen, wie träge Klumpen zu Boden
gefallen, desselben Orts als todte Schätze verwahrt, und
nur denen, die sich an Ort und Stelle bemühten, vorgezeigt
worden: statt daſs dieselben, vielmehr von dem Ort, wo
sie sich begeben oder gebildet haben, lebendig auffliegen,
allenthalben umherschweifen, und nicht selten das Band,
das sie mit dem Ort ihrer Entstehung verknüpft, ganz zer-
reissen, wie wir an unzähligen wahren oder erdichteten
Geschichten täglich sehen, welche als an den verschieden-
sten Orten vorgefallen dargestellt werden. Hat sich ein-
mal eine solche Erzählung gebildet, so ist sie die Substanz,
die angebliche Lokalität das Accidens, keineswegs, wie Schlei-
ermacher es wendet, der Ort die Substanz, an welche die Er-
zählung als Accidens gebunden wäre. Läſst es sich dem-
nach nicht wohl denken, wie eine Begebenheit dieser Art,
wenn sie wirklich vorgefallen war, ausser der allgemei-
nen Überlieferung bleiben, und daher dem Verfasser des
[165]Neuntes Kapitel. §. 96.
ersten Evangeliums unbekannt sein konnte: so ergiebt sich
aus der Thatsache, daſs er nichts von derselben weiſs, ein
Schluſs gegen ihr wirkliches Vorgefallensein.
Doch mit ungleich schwererem Gewicht fällt dieser
Zweifelsgrund auf die Erzählung des vierten Evangeliums
von der Auferweckung des Lazarus. Wuſsten die Verfas-
ser oder Sammler der drei ersten Evangelien von dieser, so
konnten sie aus mehr als Einem Grunde nicht umhin, sie
in ihre Schriften aufzunehmen. Denn erstlich ist sie unter
sämmtlichen von Jesu vollbrachten Todtenerweckungen, ja
unter seinen sämmtlichen Wundern überhaupt dasjenige,
dem der Charakter des Wunderbaren am unverkennbarsten
aufgeprägt ist, und welches daher, wenn es gelingt, einen
von seiner historischen Realität zu überzeugen, eine vor-
züglich starke Beweiskraft hat 45), weſswegen die Evan-
gelisten, sie mochten schon eine oder zwei andre Todten-
erweckungen erzählt haben, doch nicht überflüssig finden
konnten, auch diese noch hinzuzufügen. Zweitens aber
griff sie, laut der johanneischen Darstellung, entscheidend
in die Entwickelung des Schicksals Jesu ein, indem nach
11, 47 ff. der vermehrte Zulauf zu Jesu und das groſse
Aufsehen, was die Wiederbelebung des Lazarus herbeige-
führt hatte, das Synedrium zu jener Berathschlagung ver-
anlaſste, bei welcher der blutige Rath des Kaiphas gege-
ben wurde und Eingang fand. Diese doppelte, dogmatische
sowohl als pragmatische Wichtigkeit des Ereignisses muſste
die Synoptiker nöthigen, es zu erzählen, wenn sie davon
wuſsten. Indeſs die Theologen haben allerlei Gründe aus-
findig gemacht, warum jene Evangelisten, auch wenn ih-
nen die Sache bekannt war, doch nichts von derselben sol-
len haben erzählen mögen. Die einen waren der Meinung,
zur Zeit der Abfassung der drei ersten Evangelien sei die
Geschichte noch in aller Munde, mithin ihre Aufzeichnung
[166]Zweiter Abschnitt.
überflüssig gewesen 46); Andre vermutheten umgekehrt, man
habe das weitere Bekanntwerden derselben verhüten wollen,
um dem noch lebenden Lazarus, welcher nach Joh. 12, 10.
wegen des an ihm geschehenen Wunders von den jüdischen
Hierarchen verfolgt wurde, oder seiner Familie, keine Ge-
fahr zu bereiten, was in der späteren Zeit, als Johannes
sein Evangelium schrieb, nicht mehr zu befürchten gewe-
sen sei 47). Zwar heben sich nun diese beiden Gründe
auf's Schönste gegenseitig auf, und sind auch jeder für
sich kaum einer ernsthaften Widerlegung werth: doch sollen,
weil ähnliche Ausflüchte auch sonst noch öfter als man
glauben möchte, angewendet werden, einige Gegenbemer-
kungen nicht gespart sein. Die Behauptung, als in ihrem
Kreise allgemein bekannt sei die Wiederbelebung des La-
zarus von den Synoptikern nicht aufgezeichnet worden,
beweist zu viel, indem auf diese Weise gerade die Haupt-
punkte im Leben Jesu, seine Taufe im Jordan, sein Tod
und seine Auferstehung, hätten unbeschrieben bleiben müs-
sen. Es dient aber eine solche Schrift, die, wie unsre
Evangelien, in einer religiösen Gemeinde entsteht, keines-
wegs bloſs dazu, Unbekanntes bekannt zu machen, son-
dern auch das bereits Bekannte festzuhalten. Gegen die
andre Erklärung ist schon von Andern bemerkt worden,
das Bekanntwerden dieser Geschichte unter Nichtpalästi-
nensern, für welche Markus und Lukas schrieben, habe
dem Lazarus nichts schaden können; aber auch der Ver-
fasser des ersten Evangeliums, falls er in und für Palästina
geschrieben, würde wohl schwerlich aus Rücksicht auf La-
zarus, welcher, ohne Zweifel Christ geworden, wenn er
auch im unwahrscheinlichen Fall zur Zeit der Abfassung
des ersten Evangeliums noch gelebt haben sollte, so wenig
[167]Neuntes Kapitel. §. 96.
als seine Familie sich weigern durfte, um des Namens
Christi willen zu leiden, ein Faktum verschwiegen haben,
in welchem sich dessen Herrlichkeit so besonders geoffen-
bart hatte. Die gefährlichste Zeit für Lazarus war nach
Joh. 12, 10. die gleich nach seiner Wiederbelebung, und
schwerlich konnte eine so spät kommende Erzählung diese
Gefahr erhöhen oder erneuern; überhaupt muſste in der Ge-
gend von Bethanien und Jerusalem, von woher dem La-
zarus die Gefahr drohte, der Vorgang so bekannt sein und
im Andenken bleiben, daſs durch Aufzeichnung desselben
nichts zu verderben war 48).
Bleibt es also, daſs die Synoptiker von der Auferwe-
ckung des Lazarus, von welcher sie nichts erzählen, auch
nichts gewuſst haben können, so entsteht auch hier die
zweite Frage, wie dieſs Nichtwissen möglich war? Die
mysteriöse Antwort Hase's, der Grund dieser Auslassung
sei in den gemeinsamen Verhältnissen verborgen, unter
welchen die Synoptiker überhaupt von allen früheren Vor-
fällen in Judäa schweigen, läſst wenigstens dem Aus-
druck nach ungewiſs, ob damit zu Ungunsten des vierten
Evangeliums oder der übrigen entschieden sein soll. Ge-
rade dieses Beste an der Hase'schen Antwort hat die neue-
ste Kritik des Matthäusevangeliums etwas zufahrend ver-
[168]Zweiter Abschnitt.
dorben, indem sie jene gemeinsamen Verhältnisse eiligst
dahin bestimmte, daſs durch die Unbekanntschaft mit einer
Geschichte, die einem Apostel habe bekannt sein müssen,
die Synoptiker sich sämmtlich als Nichtapostel beurkun-
den 49). Durch diese Verzichtleistung auf den aposto-
lischen Ursprung des ersten Evangeliums wird sein und
der andern Nichtwissen um den Vorgang mit Lazarus noch
keineswegs erklärlich. Denn bei der Merkwürdigkeit des
Faktums, da es ferner im Mittelpunkte des jüdischen Lan-
des vorgefallen war, groſses Aufsehen erregt hatte, und
die Apostel als Augenzeugen zugegen gewesen waren: ist
gar nicht einzusehen, wie es nicht in die allgemeine Über-
lieferung, und aus ihr in die synoptischen Evangelien hätte
kommen sollen. Man berief sich darauf, daſs diesen Evan-
gelien galiläische Sagen, d. h. mündliche Erzählungen und
schriftliche Aufsätze der galiläischen Freunde und Beglei-
ter Jesu zum Grunde liegen; diese seien bei der Auferwe-
ckung des Lazarus nicht zugegen gewesen, und haben sie
also nicht in ihre Denkwürdigkeiten aufgenommen; die
Verfasser der ersten Evangelien aber, indem sie sich streng
an diese galiläischen Nachrichten hielten, haben die Bege-
benheit gleichfalls übergangen 50). Allein so streng läſst
sich die Scheidewand zwischen Galiläischem und Judäi-
schem nicht ziehen, daſs der Ruf eines Ereignisses wie die
Auferweckung des Lazarus nicht auch nach Galiläa hätte
hinübertönen müssen; war es auch nicht in einer Festzeit
vorgefallen, wo (wie Joh. 4, 45.) viele Galiläer Augen-
zeugen sein konnten, so waren doch die Jünger, gröſsern-
theils Galiläer, dabei (V. 16.), und muſsten, sobald sie
nach Jesu Auferstehung wieder nach Galiläa kamen, das
Faktum überall auch in dieser Provinz ausbreiten; oder
vielmehr muſsten schon vorher, an dem lezten von Jesu
[169]Neuntes Kapitel. §. 96.
besuchten Paschafest, die festbesuchenden Galiläer die
stadtkundige Begebenheit erfahren haben. Daher findet
auch Lücke diese Gabler'sche Erklärung ungenügend; wenn
er aber seinerseits das Räthsel durch die Bemerkung lösen
will, daſs die ursprüngliche evangelische Überlieferung,
welcher die Synoptiker gefolgt seien, die Leidensgeschichte
wenig pragmatisch, also auch ohne Rücksicht auf diese
Begebenheit, als das geheime Motiv des Mordbefehls ge-
gen Jesum, dargestellt habe, und erst der in die innere
Geschichte des Synedriums eingeweihte Johannes im Stande
gewesen sei, diese Ergänzung zu geben 51): so könnte
zwar hiemit der eine Grund entkräftet zu sein scheinen,
der die Synoptiker nöthigen muſste, jene Begebenheit auf-
zunehmen, der nämlich, welcher von ihrer pragmatischen
Wichtigkeit hergenommen ist; wenn aber hinzugesezt wird,
als Wunder an sich und ohne jene näheren Umstände be-
trachtet, habe sie sich leicht unter den übrigen Wunderer-
zählungen verlieren können, von welchen wir in den drei
ersten Evangelien eine zum Theil zufällige Auswahl ha-
ben: so erscheint die synoptische Wunderauswahl eben nur
dann als eine zufällige, wenn man, was hier erst bewie-
sen werden soll, schon voraussezt, daſs die johanneischen
Wunder historisch seien, und ist sie nicht bis zum Ver-
standlosen zufällig, so kann sie ein solches Wunder nicht
verloren haben 52).
[170]Zweiter Abschnitt.
Diese und ähnliche Erwägungen sind es wohl gewe-
sen, welche einen der neuesten Sprecher in der Streitsa-
che des ersten Evangeliums zu einer Rüge der Einseitig-
keit veranlaſsten, mit welcher man die obige Frage immer
nur zum Nachtheil der Synoptiker und namentlich des
Matthäus beantwortet habe, ohne daran zu denken, daſs
ebenso nahe eine dem vierten Evangelium gefährliche Ant-
wort liege 53), und auch uns schrecken Lücke's Bannstrah-
len, welcher auch in der neuen Ausgabe demjenigen, der
aus dem Schweigen der Synoptiker auf Erdichtung dieser
Erzählung und Unächtheit des johanneischen Evangeliums
schlieſst, eine Akrisie sonder Gleichen und gänzlichen Man-
gel an Einsicht in das Verhältniſs unsrer Evangelien zu
einander (wie es nämlich die geistliche Sicherheit der Theo-
logen, auch durch die zum Theil treffenden Winke der Proba-
52)
[171]Neuntes Kapitel. §. 96.
bilien nicht aufgerüttelt, noch immer festhält) vorwirft,
nicht so sehr, um uns von der bestimmten Erklärung zu-
rückzuhalten, daſs wir die Erweckungsgeschichte des La-
zarus für die wie innerlich unwahrscheinlichste, so äusser-
lich am wenigsten beglaubigte halten, und auch diesen Ab-
schnitt in Verbindung mit den bisher beleuchteten als Kenn-
zeichen der Unächtheit des vierten Evangeliums betrachten.
Sind auf diese Weise alle drei evangelische Todtener-
weckungsgeschichten durch negative Gründe mehr oder
minder zweifelhaft gemacht, so fehlt jezt nur noch der po-
sitive Nachweis, daſs leicht auch ohne historischen Grund
die Sage, Jesus habe Todte erweckt, sich bilden konnte.
Vom Messias wurde bei seiner Ankunft nach rabbini-
schen 54) wie nach N. T.lichen Stellen (z. B. Joh. 5, 28 f.
6, 40. 44. 1. Kor. 15. 1. Thess. 4, 16.) die Auferweckung
der Todten erwartet. Nun war aber die παρουσία des Mes-
sias Jesus in der Ansicht der ersten Gemeinde durch sei-
nen Tod in zwei Stücke gebrochen: in seine erste vorbe-
reitende Anwesenheit, welche mit seiner menschlichen Ge-
burt begann und mit der Auferstehung und Himmelfahrt
schloſs, und in die zweite, noch zu erwartende Ankunft
in den Wolken des Himmels, um den αἰὼν μέλλων wirk-
lich zu eröffnen. Da es der ersten Parusie Jesu an der
von einem Messias erwarteten Herrlichkeit gefehlt hatte,
so wurden die groſsartigen Bethätigungen messianischer
Macht, wie namentlich die allgemeine Todtenerweckung,
in die zweite, noch bevorstehende Parusie verlegt. Doch
muſste, zum Unterpfand für das zu Erwartende, auch
schon durch die erste Anwesenheit die Herrlichkeit der
zweiten in einzelnen Proben hindurchgeschimmert, Jesus
seinen Beruf, einst alle Todte zu erwecken, schon bei sei-
ner ersten Ankunft durch Erweckung einiger Todten be-
urkundet haben, er muſste, um seine Messianität gefragt,
[172]Zweiter Abschnitt.
unter den Kriterien derselben auch das νεκροὶ ἐγείρονται
(Matth. 11, 5.) haben aufführen und seinen Aposteln dieselbe
Vollmacht ertheilen können (Matth. 10, S. vgl. A. G. 9, 40.
20, 10.), namentlich aber als genaues Vorspiel davon, daſs
einst
πάντες οἱ ἐν τοῖς μνημείοις ἀκου̍σονται τῆς φωνῆς αὐτοῦ
καὶ ἐκπορεύσονται
(Joh. 5, 28 f.), einem
τέσσαρας ἡμέρας
ἤδη ἔχοντι ἐν τῷ μνημείῳ φωνῇ μεγάλῃ das δεῦρο ἔξω
zu-
gerufen haben (Joh. 11, 17. 43.). Für die Entstehung de-
taillirter Erzählungen von einzelnen Todtenerweckungen
lagen überdieſs im A. T. die geeignetsten Vorbilder. Die
Propheten Elias (1. Kön. 17, 17 ff.) und Elisa (2. Kön.
4, 18 ff.) hatten Todte erweckt, und darauf berufen sich
jüdische Schriften als auf ein Vorbild der messianischen
Zeit 55). Objekt ihrer Todtenerweckungen war bei bei-
den ein Kind, nur ein Knabe, wie in der den Synoptikern
gemeinsamen Erzählung ein Mädchen; beide erweckten es,
wie Jesus die Jairustochter, noch auf dem Bette; beide
so, daſs sie sich allein in die Todtenkammer begaben, wie
Jesus dort Alle ausser wenigen Vertrauten hinauswies;
nur braucht wie billig der Messias die mühsamen Mani-
pulationen nicht vorzunehmen, durch welche die Prophe-
ten zu ihrem Zwecke zu gelangen suchen. Elia im Beson-
dern erweckte den Sohn einer Wittwe, wie Jesus zu Nain
that; er begegnete der Sareptanischen Wittwe (aber vor dem
Tod ihres Sohnes) am Thor, wie Jesus mit der Nainitischen
(nach ihres Sohnes Tod) unter dem Stadtthor zusammentraf;
endlich wird mit denselben Worten beidemale gemeldet, wie
der Wunderthäter den Sohn der Mutter zurückgegeben ha-
be 56). Selbst ein bereits in's Grab Gelegter, wie Lazarus, wur-
de durch Elisa erweckt (2 Kön. 13, 21.), nur daſs damals der
Prophet längst todt war, und die Berührung seiner Gebeine den
[173]Neuntes Kapitel. §. 97.
zufällig darauf geworfenen Leichnam belebte; zwischen den
zuvor angeführten A. T.lichen Todtenerweckungen aber
und der des Lazarus besteht darin eine Ähnlichkeit, daſs
Jesus, während er bei den beiden andern geradezu gebie-
tend auftritt, bei dieser zu Gott betet, wie Elisa und
namentlich Elia gethan hatte. Während nun Paulus auch
auf diese A. T.lichen Erzählungen seine an den evangeli-
schen vollzogene natürliche Erklärung ausdehnt: haben wei-
tersehende Theologen längst bemerkt, daſs die N. T.lichen
Todtenerweckungen nichts Anderes als Mythen seien, ent-
standen aus der Neigung der ältesten Christengemeinde,
ihren Messias dem Vorbilde der Propheten und dem mes-
sianischen Ideale gemäſs zu machen 57).
§. 97.
Sturm-, See- und Fischgeschichten.
Wie überhaupt, wenigstens nach der Darstellung der
drei ersten Evangelisten, die Umgegend des galiläischen
[174]Zweiter Abschnitt.
Sees Hauptschauplaz der Thätigkeit Jesu war: so steht
auch eine ziemliche Anzahl seiner Wunder mit dem See in
unmittelbarer Beziehung. Eines von dieser Gattung, der
dem Petrus bescheerte wunderbare Fischzug, hat sich uns
bereits zur Betrachtung dargeboten; übrig sind nun noch
die wunderbare Stillung des Sturms, der, während Jesus
schlief, auf dem See entstanden war, bei den drei Synop-
tikern; das Wandeln Jesu auf dem See, gleichfalls wäh-
rend eines Sturms, bei Matthäus, Markus und Johannes,
die Zusammenfassung der meisten dieser Momente, welche
der Anhang des vierten Evangeliums in die Zeit nach der
Auferstehung verlegt; endlich der von Petrus zu erangeln-
de Stater bei Matthäus.
Die zuerst genannte Erzählung (Matth. S, 23 ff. parall.)
will uns ihrer eigenen Schluſsformel zufolge Jesum als
denjenigen darstellen, welchem οἱ ἄνεμοι καὶ ἡ ϑάλασσα
ὑπακου̍0223;σιν. Es wird also, wenn wir den bisherigen Wun-
derklimax verfolgen, hier nicht bloſs vorausgesezt, daſs
Jesus auf den menschlichen Geist und durch diesen auf den
Körper psychologisch, oder auf den vom Geist verlassenen
menschlichen Organismus neu belebend, auch nicht bloſs,
wie in der früher erwogenen Fischzugsgeschichte, daſs
er auf die vernunftlose aber lebendige Natur, sondern,
daſs er selbst auf die leblose unmittelbar bestimmend habe
einwirken können. Durch ein richtiges Bewuſstsein davon,
wie eine solche Gewalt über die äussere Natur mit der
Bestimmung Jesu für die Menschheit und ihre Erlösung
57)
[175]Neuntes Kapitel. §. 97.
an sich nicht zusammenhänge, ist Olshausen auf den Ver-
such geführt worden, das Naturereigniſs, welchem Jesus
hier Einhalt thut, in eine Beziehung zur Sünde, und da-
mit zum Beruf Jesu zu setzen. Die Stürme sind ihm die
Krämpfe und Zuckungen der Natur, und als solche Fol-
gen der Sünde, welche in ihrer furchtbaren Wirksamkeit
auch die physische Seite des Daseins zerrüttet hat 1). Al-
lein nur eine Naturbeobachtung, welche über dem Einzel-
nen das Allgemeine vergiſst, kann Stürme, Gewitter u. dgl.
die im Zusammenhang des Ganzen ihre nothwendige Stelle
und wohlthätige Wirkung haben, als Übel und Abnormi-
täten betrachten, und eine Weltansicht, welche im Ernst
der Meinung ist, vor und ohne den Sündenfall würde es
keine Stürme und Gewitter, wie andrerseits keine Gift-
pflanzen und reissende Thiere, gegeben haben, streift —
man weiſs nicht, soll man sagen, an das Schwärmerische
oder an das Kindische. Wozu aber, wenn sich die Sache
auf diese Weise nicht fassen läſst, bei Jesu eine solche
Macht über die Natur? Als Mittel, ihm Glauben zu erwe-
cken, war sie unzureichend und überflüssig; denn einzelne
Gläubige fand Jesus auch ohne diese Art von Machtbewei-
sen, und allgemeinen Anhang verschafften ihm auch diese
nicht. Als Bild der ursprünglichen Herrschaft des Men-
schen über die äussere Natur, zu deren Wiedererlangung
er bestimmt ist, kann sie ebensowenig betrachtet werden,
denn der Werth dieser Herrschaft besteht eben darin, daſs
sie eine vermittelte, durch das fortgesetzte Nachdenken und
die vereinigte Anstrengung von Jahrhunderten der Natur
abgerungene, nicht aber eine unmittelbare, magische ist,
welche nur ein Wort kostet. So ist in Bezug auf den
Theil der Natur, von welchem hier die Rede ist, der
Kompaſs, das Dampfschiff, eine ungleich wahrere Verwirk-
lichung der Herrschaft des Menschen über dieselbe, als
[176]Zweiter Abschnitt.
die Beschwichtigung des Meeres durch ein bloſses Wort
gewesen wäre. Die Sache hat aber noch eine andere Sei-
te, indem die Herrschaft des Menschen über die Natur
nicht bloſs eine in sie eingreifende, praktische, sondern
auch eine immanente oder theoretische ist, vermöge wel-
cher der Mensch, auch wo er äusserlich der Macht des
Elementes unterliegt, doch innerlich nicht von derselben
besiegt wird, sondern in der Überzeugung, daſs die Na-
turgewalt nur das Natürliche an ihm zu zerstören vermö-
ge, sich in der Selbstgewiſsheit des Geistes über den mög-
lichen Untergang seiner Natürlichkeit emporhebt. Diese
geistige Macht, sagt man, bewies Jesus, indem er mitten
im Sturme ruhig schlief, und, von den zagenden Jüngern
aufgeweckt, ihnen Muth einsprach. Da jedoch, wenn
Muth bewiesen werden soll, wirkliche Gefahr vorhanden
sein muſs, für Jesum aber, sofern er sich als die unmit-
telbare Macht über die Natur wuſste, eine solche gar nicht
vorhanden war: so hätte er auch von dieser theoretischen
Macht keine wahre Probe hier abgelegt.
In beiden Hinsichten hat die natürliche Erklärung in
der evangelischen Erzählung nur das Denkbare und Wün-
schenswerthe Jesu zugeschrieben finden wollen, nämlich
einerseits verständige Beobachtung des Gangs der Witte-
rung, andererseits hohen Muth bei wirklicher Gefahr des
Untergangs. Das ἐπιτιμᾷν τοῖς ἀνέμοις soll nur in einem
Sprechen über den Sturm, in einigen Ausrufungen über
seine Heftigkeit, das Stillegebieten in der auf Beobachtung
gewisser Zeichen gegründeten Voraussage bestanden haben,
daſs der Sturm sich nun wohl bald legen werde, und der
Zuspruch an die Jünger soll, wie jener bekannte von Cä-
sar, nur aus dem Vertrauen hervorgegangen sein, daſs ein
Mann, auf welchen in der Weltgeschichte gerechnet sei,
nicht so leicht durch Zufälle aus seiner Bahn herausge-
worfen werde. Daſs hierauf die im Schiff Befindlichen die
Stillung des Sturms als Wirkung der Worte Jesu angese-
[177]Neuntes Kapitel. §. 97.
hen haben, beweise nichts, da ja Jesus ihre Deutung nir-
gends billige 2). Doch auch miſsbilligt hat er sie nicht,
unerachtet er den Eindruck wohl bemerken muſste, wel-
chen von der bezeichneten Ansicht aus der Erfolg auf die
Leute gemacht hatte; er müſste also absichtlich, wie Ven-
turini wirklich annimmt, ihre hohe Meinung von seiner
Wundermacht nicht haben stören wollen, um sie desto
fester an sich zu knüpfen. Noch ganz abgesehen hievon
aber, wie sollte die natürlichen Vorzeichen von dem Ende
des Sturmes Jesus, der nie einen Beruf auf dem See ge-
habt hatte, besser verstanden haben, als ein Petrus, Ja-
kobus, Johannes, welche von Jugend an auf demselben
einheimisch waren 3)? Endlich, wie konnte, wenn Mat-
thäus, zwar damals noch nicht in der Gesellschaft Jesu,
doch ohne Zweifel von den übrigen Jüngern als Augen-
zeugen den Hergang vernommen hat, von diesen dem blo-
sen Räsonniren Jesu über das Wetter der Sinn eines ἐπι-
τιμᾷν gegeben werden?
Es bleibt also dabei: so, wie die Evangelisten uns
den Vorgang erzählen, müssen wir in demselben ein Wun-
der erkennen; dieses nun aber vom exegetischen Ergeb-
niſs zum wirklichen Faktum zu erheben, fällt nach dem
oben Ausgeführten äusserst schwer, woraus gegen den hi-
storischen Charakter der Erzählung ein Verdacht erwächst.
Näher jedoch läſst sich, den Matthäus zum Grund gelegt,
gegen die Erzählung bis zur Mitte von V. 26. nichts ein-
wenden, sondern Jesus könnte bei seinen öfteren Fahrten
auf dem galiläischen See wirklich einmal geschlafen haben,
als ein Sturm ausbrach, die Jünger könnten ihn mit Sehre-
cken erweckt, er aber ruhig und gefaſst das τί δειλοί ἐςε,
ὀλιγόπιςοι; zu ihnen gesprochen haben. Was dann wei-
Das Leben Jesu II. Band. 12
[178]Zweiter Abschnitt.
ter folgt, das ἐπιτιμῆν τῇ ϑαλάσσῃ, welches Markus wie-
der mit seiner bekannten Vorliebe für solche Machtworte
mit den angeblich eigenen Ausdrücken Jesu nach griechi-
scher Übersetzung (σιώπα, πεφίμωσο!) wiedergiebt, der
Erfolg und der Eindruck, könnte in der Sage hinzugefügt
worden sein. Daſs ein solches ἐπιτιμᾷν τῇ ϑαλάσσῃ Jesu
angedichtet werden konnte, dazu lag die Veranlassung im
A. T. Hier wird in poëtischen Darstellungen des Durch-
gangs der Israëliten durch das rothe Meer Jehova als der-
jenige bezeichnet, welcher ἐπετίμησε τῇ ἐρυϑρᾷ ϑαλάσσῃ
(Ps. 106, 9. LXX. vgl. Nahum 1, 4.), daſs sie zurückwei-
chen sollte. Da nun das Werkzeug dieser Zurückweisung
des rothen Meers Moses gewesen war (2 Mos. 14, 16. 21.),
so lag es nahe, seinem groſsen Nachfolger, dem Messias,
eine ähnliche Funktion zuzuschreiben, wie denn wirklich
nach rabbinischen Stellen in der messianischen Zeit ein
ähnliches Austrocknen des Meeres, von Gott — ohne Zwei-
fel durch den Messias — bewirkt, erwartet wurde, wie
einst Moses eines herbeigeführt hatte 4). Daſs Jesu hier
statt des Austrocknens nur ein Stillen des Meers zuge-
schrieben wird, erklärt sich, wenn man den Sturm und
die dabei von Jesu bewiesene Fassung historisch nimmt,
eben aus dem Anknüpfen des Mythischen an diese ge-
schichtliche Grundlage, wo ein Austrocknen des Sees, da
sie ja zu Schiffe waren, nicht an der Stelle gewesen wäre.
Immerhin indeſs ist es ohne sicheres Beispiel, und
auch an sich unwahrscheinlich, daſs auf den Stamm eines
wirklichen Vorfalls ein mythischer Zusaz in der Art ge-
pfropft worden wäre, daſs jener völlig unverändert blieb.
Und Ein Zug ist schon in jenem bisher als historisch vor-
ausgesezten Stücke, welcher, näher angesehen, sich doch
eher dafür giebt, in der Sage gedichtet, als wirklich so
vorgefallen zu sein. Daſs nämlich Jesus vor dem Aus-
[179]Neuntes Kapitel. §. 97.
bruch des Sturmes einschlief, und auch als er ausbrach,
nicht sogleich erwachte, das war nicht seine That, son-
dern Zufall; eben dieser Zufall aber ist es, welcher der
ganzen Scene erst ihre volle Bedeutung giebt; denn der
im Sturm schlafende Jesus ist durch den Contrast, wel-
cher darin liegt, ein nicht minder sinnvolles Bild, als der
nach so vielen Stürmen im Schlaf an der heimischen Insel
landende Odysseus. Daſs nun Jesus wirklich bei'm Aus-
bruch eines Sturms geschlafen, kann zwar von Ungefähr
in Einem Falle unter zehn geschehen sein: auch in den
neun Fällen aber, wo es nicht geschehen war, sondern Je-
sus nur überhaupt im Sturme gefaſst und muthig sich zeig-
te, würde, glaube ich, die Sage ihren Vortheil so weit ver-
standen haben, daſs sie den Contrast der Seelenruhe Jesu
mit dem Toben der Elemente, wie er sich für den Ge-
danken in den Worten Jesu ausdrückte, so für die An-
schauung in das Bild des im Schiffe (oder wie Markus
malt 5), auf einem Kissen im Hintertheil des Schiffs) schla-
fenden Jesus zusammenfaſste. Wenn so, was in Einem
Falle vielleicht sich wirklich ereignet hat, in neun Fällen
von der Sage producirt werden muſste: so ist doch wohl
wahrscheinlicher, daſs wir hier einen dieser neun, als
daſs wir jenen Einen Fall vor uns haben. Bliebe auf die-
se Weise als historische Grundlage nichts mehr übrig, als
daſs Jesus im Gegensaz zu tobenden Meereswellen den
Glaubensmuth seiner Jünger in Anspruch genommen, so
muſs er dieſs nicht gerade mitten in einem Seesturm oder
überhaupt zur See gethan haben, sondern, so gut er bild-
lich sagen konnte: wenn ihr Glauben habt nur eines Senf-
korns groſs, so seid ihr im Stande, zu diesem Berg zu
sprechen: hebe dich weg und wirf dich in's Meer (Matth.
21, 21.), oder zu diesem Baume: entwurzle dich und pflan-
ze dich in den Meeresgrund (Luc. 17, 6.), und beides mit
12 *
[180]Zweiter Abschnitt.
Erfolg (καὶ ὑπήκ0223σεν ἂν ὑμῖν, Luc.): so konnte auch, sei
es er sich des Bildes bedienen, oder die Sage es ihm nach-
bildend leihen, daſs demjenigen, der Glauben habe, Wind
und Wellen auf das Wort gehorsam seien (ὅτι καὶ τοῖς
ἀνέμοις ἐπιτάσσει καὶ τῷ ὕδατι, καὶ ὑπακου̍0223;σιν αὐτῷ Luc.).
Bringen wir nun noch in Rechnung, was auch Olshausen
bemerkt, und Schneckenburger belegt hat 6), daſs der
Kampf des Gottesreichs mit der Welt in der ersten christ-
lichen Zeit gerne mit einer Fahrt durch einen stürmischen
Ocean verglichen wurde: so sieht man, wie leicht die Sa-
ge dazu kommen konnte, aus der Parallele mit Moses, aus
Äusserungen Jesu, und aus ihrer Vorstellung von ihm als
demjenigen, welcher das Schifflein des Gottesreichs durch
die empörten Wogen des κόσμος sicher hindurchsteuert,
eine solche Erzählung zusammenzusetzen. Oder, abgese-
hen hievon, die Sache nur allgemein vom Begriff eines
Wunderthäters aus betrachtet, findet man z. B. auch ei-
nem Pythagoras ähnliche Macht über Sturm und Unwetter
zugeschrieben 7).
Verwickelter als diese erste ist die andere See- und
Sturmgeschichte, welche dem Lukas fehlt, dagegen aber
neben Matth. 14, 22 ff. und Marc. 6, 45 ff. sich auch bei
Johannes, 6, 16 ff., findet, wo der Sturm die in der Nacht
allein schiffenden Jünger überfällt, und sofort Jesus, über
den See daherwandelnd, zu ihrer Rettung erscheint. Wäh-
rend auch hier mit Jesu Eintritt in das Schiff wunderba-
rer Weise der Sturm sich legt, bildet doch den eigentli-
chen Knoten der Erzählung dieſs, daſs in derselben der
[181]Neuntes Kapitel. §. 97.
Leib Jesu von einem Gesetze, welches sonst ausnahmslos
alle menschlichen Leiber in seinen Banden hält, von dem
Gesez der Schwere, so sehr ausgenommen erscheint, daſs
er im Wasser nicht nur nicht unter-, sondern selbst nicht
einsinkt, vielmehr über die Wellen wie über festen Boden
sich emporhält. Da müſste man sich den Leib Jesu in ir-
gend einer Art als einen ätherischen Scheinkörper denken,
wie die Doketen thaten, eine Vorstellung, welche, wie
von den Kirchenvätern als eine irreligiöse, so von uns als
eine abenteuerliche zurückgewiesen werden muſs. Zwar
sagt Olshausen, an einer höheren Leiblichkeit, geschwän-
gert mit Kräften einer höheren Welt, dürfe eine solche
Erscheinung nicht befremden 8): doch das sind Worte, mit
welchen sich kein bestimmter Gedanke verbindet. Wenn
man die den Leib verklärende und vollendende Thätigkeit
des Geistes Jesu, statt sie als eine solche zu fassen, welche
seinen Leib den psychischen Gesetzen der Lust und Sinn-
lichkeit immer vollständiger entnahm, vielmehr so versteht,
daſs derselbe durch sie den physischen Gesetzen der Schwe-
re enthoben worden sei: so ist dieſs ein Materialismus, von
welchem, wie oben, schwer zu entscheiden ist, ob man ihn
mehr phantastisch nennen soll oder kindisch. Ein Jesus,
der im Wasser nicht einsänke, wäre ein Gespenst, und
die Jünger in unserer Erzählung hätten ihn nicht mit Un-
recht dafür gehalten. Auch daran müssen wir uns erin-
nern, daſs bei seiner Taufe im Jordan Jesus diese Eigen-
schaft nicht zeigte, sondern ordentlich wie ein anderer
Mensch untertauchte. Hatte er nun auch damals schon die
Fähigkeit, sich über der Wasserfläche zu halten, und wollte
sie nur nicht gebrauchen? und war es also ein Akt seines
Willens, sich schwer oder leicht zu machen? oder aber,
wie Olshausen vielleicht sagen würde, war er zur Zeit
seiner Taufe im Proceſs der Läuterung seines Körpers noch
[182]Zweiter Abschnitt.
nicht so weit gekommen, daſs ihn das Wasser frei getra-
gen hätte, sondern so weit hätte er es erst später gebracht?
— Fragen, die wir nur machen, um einen Blick in den
Abgrund von Ungereimtheiten zu eröffnen, in welche man
sich bei der supranaturalistischen Deutung dieser Erzäh-
lung verwickelt.
Sie zu vermeiden, hat die natürliche Erklärung man-
cherlei Wendungen genommen. Am kühnsten hat Paulus
geradezu behauptet, es stehe gar nicht im Text, daſs Je-
sus auf dem Meere gegangen, das Wunder in dieser Stelle
sei lediglich ein philologisches, indem das περιπατεῖν ἐπὶ
τῆς ϑαλάσσης nur, wie 2 Mos. 14, 2. das ςρατοπεδεύειν ἐπὶ
τῆς ϑαλάσσης ein Lagern, so ein Wandeln über dem Meer,
d. h. am erhabenen Ufer desselben, bedeute 9). Der Be-
deutung der einzelnen Worte nach ist diese Erklärung mög-
lich: ihre wirkliche Anwendbarkeit aber muſs sich erst
aus dem Zusammenhang ergeben. Dieser nun läſst die Jün-
ger 25—30 Stadien weit gefahren sein (Joh.) oder mitten
im See sich befinden (Matth. u. Mark.), und nun heiſst es,
Jesus sei auf sie zu-, und zwar so nahe, daſs er mit ih-
nen sprechen konnte, an das Schiff herangekommen, περι-
πατῶν ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης — wie konnte er dieſs, wenn er
am Ufer blieb? Dieser Instanz auszuweichen, vermuthet
Paulus, die Jünger seien in der stürmischen Nacht wohl
nur am Ufer hingefahren: was dem ἐν μέσῳ τῆς ϑαλάσ-
σης, wenn es auch allerdings nicht mathematisch genau,
sondern nach populärer Redeweise zu nehmen ist, zu ent-
schieden widerspricht, um in weitere Rücksicht kommen
zu können. Tödtlich aber verlezt sich diese Auffassungs-
weise an der Stelle, wo Matthäus auch von Petrus sagt,
daſs er καταβὰς ἀπὸ τοῦ πλοίουπεριεπάτησεν ἐπὶ τὰ ὕδατα
(V. 29.), was, da unmittelbar darauf von καταποντίζεσϑαι
[183]Neuntes Kapitel. §. 97.
die Rede ist, doch wohl kein Wandeln am Ufer sein kann,
und wenn dieses nicht, dann auch nicht das wesentlich
ebenso bezeichnete Wandeln Jesu 10).
Aber, wenn Petrus bei seinem περιπατεῖν ἐπὶ τὰ ὕδατα
zu sinken anfieng, könnte da nicht bei ihm sowohl als bei
Jesus an ein Schwimmen auf dem See oder an ein Waten
durch seine Untiefen zu denken sein? Beide Ansichten
sind wirklich aufgestellt worden 11). Allein das Waten
müſste durch περιπατεῖν διὰ τ. ϑ. ausgedrückt, um das
Schwimmen zu bezeichnen aber doch irgend einmal in den
parallelen Stellen der uneigentliche Ausdruck mit dem ei-
gentlichen vertauscht sein; abgesehen davon, daſs 25—30
Stadien im Sturm zu schwimmen, oder bis gegen die Mitte
des gewiſs nicht so weit hinein seichten Sees zu waten,
beides gleich unmöglich sein muſste, ferner ein Schwim-
mender nicht leicht für ein Gespenst gehalten werden konn-
te, und endlich die Bitte des Petrus um besondere Erlaub-
niſs, es Jesu nachzuthun, und daſs er wegen Mangels an
Glauben es nicht vermochte, auf etwas Übernatürliches
hinweist 12).
Das Räsonnement, worauf auch hier die natürliche Ausle-
gungsweise beruht, hat bei dieser Gelegenheit Paulus in
einer Weise ausgesprochen, an welcher der zum Grunde
liegende Irrthum besonders glücklich in die Augen fällt.
Die Frage, sagt er, bleibe in solchen Fällen immer die,
ob die Möglichkeit eines nicht ganz genauen Ausdrucks von
Seiten der Schriftsteller, oder eine Abweichung vom Na-
turlauf das Wahrscheinlichere sei? Man sieht, wie falsch
das Dilemma gestellt ist, da es vielmehr nur heiſsen sollte,
[184]Zweiter Abschnitt.
ob es wahrscheinlicher sei, daſs der Verfasser sich unge-
nau (vielmehr widersinnig) ausgedrückt, oder daſs er eine
Abweichung vom Naturlauf habe erzählen wollen; denn
nur von dem, was er geben will, ist zunächst die Rede:
was wirklich zum Grund gelegen, das ist, selbst nach dem
immerwährenden Paulus'schen Reden von Unterscheidung
des Urtheils vom Faktum, eine ganz andre Frage. Dar-
aus, daſs unserer Ansicht zufolge eine Abweichung vom
Naturlauf nicht vorgekommen sein kann, folgt keineswegs,
daſs ein Erzähler aus der christlichen Urzeit eine solche
nicht annehmen und berichten konnte 13): um also das
Wunderbare aus dem Wege zu räumen, dürfen wir es
nicht aus dem Bericht hinaus erklären, sondern das müssen
wir versuchen, ob nicht der ganze Bericht aus dem Kreise
des Geschichtlichen auszuschlieſsen ist. Und in dieser Hin-
sicht hat nun zuvörderst jede unsrer drei Relationen ei-
genthümliche Züge, die in historischer Hinsicht verdächtig
sind.
Am auffallendsten sticht ein solcher Zug bei Markus
hervor, wenn er V. 48. von Jesu sagt, er sei auf dem
Meer gegen die Jünger dahergekommen, καὶ ἤϑελε παρελϑεῖν
αὐτοὺς, nur ihr angstvolles Rufen habe ihn vermocht, von ihnen
Notiz zu nehmen. Mit Recht deutet Fritzsche diese Stelle
so, daſs Markus dadurch anzeigen wolle, Jesus habe im
Sinne gehabt, durch göttliche Kraft unterstüzt, über den
ganzen See, wie über festen Boden, hinüberzugehen. Aber
mit eben so vielem Rechte fragt Paulus: hätte etwas zweck-
loser, abenteuerlicher sein können, als ein so seltsames
Wunder zu thun, ohne daſs es gesehen werden sollte?
Nur daſs man deſswegen nicht mit diesem Ausleger den
Worten des Markus den natürlichen Sinn geben darf, als
hätte Jesus die in der Nähe des Ufers Schiffenden zu Lande
vorübergehen wollen, zumal die wunderhafte Deutung der
[185]Neuntes Kapitel. §. 97.
Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange-
messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge-
währsmanns, daſs Jesus mit besondrer Rücksicht auf die
Jünger dieſsmal einen so ausserordentlichen Weg gemacht
habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung,
als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na-
türlich und gewöhnlich gewesen, daſs er auch ohne Rück-
sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag,
seine Straſse über dasselbe so unbedenklich, wie über fe-
stes Land, nahm. Daſs nun ein solches Gehen bei Jesu ha-
bituell gewesen, dieſs würde am entschiedensten eine Ols-
hausen'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor-
aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk-
sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite
Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über-
treibung nähert 14).
Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun-
derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel-
fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie-
wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf
dem Meere machen läſst. Diesen Zug macht ausser dem
Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne
Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei-
nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine
Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht
und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken
an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je-
sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge-
hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör-
[186]Zweiter Abschnitt.
pers sich nicht erfreute, zusprechen, ein Gleiches zu thun?
oder wenn er durch ein bloſses Wort den Leib des Petrus
vom Gesez der Schwere dispensiren konnte, ist er dann
noch ein Mensch? und wenn ein Gott, wird dieser auf
den Einfall eines Menschen hin so spielend Naturgesetze
cessiren lassen? oder endlich, soll der Glaube die Kraft
haben, augenblicklich den Körper des Gläubigen leichter
zu machen? Der Glaube hat freilich eine solche Kraft, näm-
lich in der kaum erwähnten bildlichen Rede Jesu, nach wel-
cher der Gläubige Berge und Bäume in's Meer zu versetzen, —
und warum nicht auch auf dem Meere zu wandeln? — im
Stande ist. Und daſs nun, sobald der Glaube weiche, auch
das Gelingen aufhöre, dieſs konnte in keinem der zwei er-
steren Bilder so geschickt dargestellt werden, wie in dem
lezten durch die Wendung: so lange einer Glauben habe,
vermöge er ungefährdet auf dem wogenden Meere einher-
zuschreiten, sobald er aber Zweifeln Raum gebe, sinke er
unter, wenn nicht Christus helfend ihm die Hand reiche.
Das also werden die Grundgedanken der von Matthäus ein-
geschobenen Erzählung sein, daſs Petrus auf die Festigkeit
seines Glaubens zu viel vertraut habe, durch das plözliche
Schwachwerden desselben in groſse Gefahr gekommen,
aber durch Jesus gerettet worden sei, ein Gedanke, wel-
cher sich Luc. 22, 31 f. wirklich ausgesprochen findet,
wenn Jesus zu Simon sagt: ὁ σατανᾶς ἐξῃτήσατο ὑμᾶς τοῦ
συνιᾶσαι ὡς τὸν σῖτονς ἐγὼ δὲ ἐδεήϑην περὶ σοῦἵνα μὴ
ἐκλείπῃ ἡ πίςις σου. Dieſs sagt Jesus dem Petrus mit Be-
zug auf seine bevorstehende Verleugnung: diese war der
Fall, wo sein Glaube, kraft dessen er sich so eben noch
erboten hatte, mit Jesu καὶ εἰς φυλακὴν καὶ εἰς ϑάνατον
πορεύεσϑαι, wankend wurde, wenn nicht der Herr durch
seine Fürbitte ihm neue Stärke verschafft hätte. Nehmen
wir dazu die schon erwähnte Neigung der ersten christli-
chen Zeit, die den Christen anfechtende Welt unter dem
Bilde eines wilden Meeres darzustellen: so werden wir
[187]Neuntes Kapitel. §. 97.
nicht umhin können, mit einem der neuesten Kritiker in
dem sich muthig zum Gehen auf dem Meer anschickenden,
bald jedoch kleinmüthig untersinkenden, aber von Jesu
emporgehaltenen Petrus eine in der Sage gebildete allego-
risch-mythische Darstellung jener Glaubensprobe zu fin-
den, welche der so stark sich dünkende Jünger so schwach
bestanden, und nur durch höheren Beistand glücklich über-
standen hat 15).
Doch auch der Relation des vierten Evangeliums fehlt
es nicht an einigen eigenthümlichen Zügen, die einen un-
historischen Charakter verrathen. Von jeher hat es den
Harmonisten Kreuz gemacht, daſs nach Matthäus und Mar-
kus das Schiff erst ungefähr in der Mitte des Sees sich
befand, als Jesus demselben begegnete: nach Johannes aber
bald vollends das jenseitige Ufer erreicht gehabt haben soll;
daſs nach jenen Jesus wirklich noch in das Schiff stieg,
und darauf der Sturm sich legte: nach Johannes dagegen
die Jünger ihn zwar in das Schiff nehmen wollten, die
wirkliche Aufnahme aber durch das sogleich erfolgte An-
landen überflüssig gemacht wurde. Zwar fand man auch
hier Ausgleichungen in Menge: das zu λαβεῖν gesezte ἤϑε-
λον sollte bald abundiren, bald, wie wenn es ἐϑέλοντες
ἔλαβον hieſse, die freudige Aufnahme bezeichnen, bald nur
den ersten Eindruck beschreiben, welchen das Erkennen
Jesu auf die Jünger gemacht habe, wobei die später wirk-
lich erfolgte Aufnahme in das Schiff verschwiegen sei 16).
Doch zu einer solchen Deutung liegt der einzige Anlaſs in
der unbefugten Vergleichung der Synoptiker: in der Er-
zählung des Johannes für sich liegt nicht nur kein Grund
dafür, sondern ein entschiedener dagegen. Denn der hin-
zugefügte Saz: εὐϑέως τὸ πλοῖον ἐγένετο ἐπὶ τῆς γῆς, εἰς
ἣν ὑπῆγον, wenn er auch nicht durch δὲ, sondern durch
[188]Zweiter Abschnitt.
καὶ angeknüpft ist, kann doch nur adversativ in dem Sinn
genommen werden, daſs es zur wirklichen Aufnahme Jesu in
das Schiff unerachtet der Bereitwilligkeit der Jünger doch
nicht gekommen sei, weil sie sich bereits am Ufer befunden
haben. In Betracht dieser Differenz hat Chrysostomus zwei
verschiedene Gänge Jesu auf dem Meer angenommen, und
wenn er sagt, bei dem zweiten Fall, den Johannes erzäh-
le, sei Jesus nicht in das Schiff gestiegen, ἵνα τὸ ϑαῦμα
μεῖζον ἐργάσηται17): so werden wir diese Absicht auf
den Evangelisten übertragend sagen, wenn Markus das
Wunder dadurch vergrössert habe, daſs er Jesu die Ab-
sicht, an den Jüngern vorbei über den ganzen See hinüber-
zuwandeln, unterlegte: so gehe Johannes noch weiter, in-
dem er ihn diese Absicht wirklich ausführen, und ohne
Aufnahme in das Schiff bis an das jenseitige Ufer gelan-
gen lasse. — Doch nicht nur zu vergrössern, sondern auch
fester zu begründen und zu constatiren hat der vierte Evan-
gelist das vorliegende Wunder gesucht. Nach den Syn-
optikern sind die einzigen Gewährsmänner desselben die
Jünger, welche Jesum auf dem Meer daherschreiten sa-
hen: Johannes fügt zu diesen wenigen unmittelbaren Ge-
währsmännern eine Masse von mittelbaren hinzu, näm-
lich das Volk, das bei der Speisung versammelt gewesen
war. Dieses nämlich, wie es am andern Morgen Jesum
nicht mehr an Ort und Stelle findet, berechnet nach ihm,
1) zu Schiff könne Jesus nicht über den See gekommen sein,
denn a) das Fahrzeug der Jünger habe er nicht mitbestie-
gen (V. 22.), b) ein andres Fahrzeug sei nicht dagewesen
(ebendas.); daſs er aber 2) auch nicht zu Land hinüber-
gekommen sei, ist darin enthalten, daſs das Volk, als es
sofort über den See fährt, ihn bereits am jenseitigen Ufer
findet (V. 25.), wohin er zu Lande in der kurzen Zwi-
schenzeit schwerlich gelangen konnte. So bleibt in der
[189]Neuntes Kapitel. §. 97.
Darstellung des vierten Evangeliums, indem alle natürlichen
Wege des Hinüberkommens Jesu abgeschnitten werden,
nur ein übernatürlicher übrig, und diese Folgerung ist von
der Menge in der verwunderten Frage wirklich gezogen,
welche sie an Jesum, als sie ihn am jenseitigen Ufer fin-
det, macht: πότε ὧδε γέγονας; Da diese ganze Controle des
wunderbaren Übergangs Jesu an der schnellen Überfahrt
der Menge hängt: so beeilt sich der Evangelist, zum Be-
huf von dieser ἄλλα πλοιάρια herbeizuschaffen (V. 23.).
Nun ist die überfahrende Menge (V. 22. 26 ff.) als diejeni-
ge bezeichnet, welche Jesus wunderbar gespeist hatte,
und diese belief sich (nach V. 10.) auf 5000 Menschen.
Wenn von diesen auch nur ⅕, ja nur \tfrac{1}{10} hinüberfuhr, so
bedurfte es hiezu, nach der richtigen Bemerkung der Pro-
babilien, einer ganzen Flotte von Schiffen, namentlich wenn
man an Fischernachen denkt; nimmt man aber Frachtschiffe
an, so werden diese nicht gerade alle die Richtung nach
Kapernaum gehabt, oder dem Begehren des Volks zulieb
ihre ursprüngliche Richtung abgeändert haben. Es scheint
also diese ganze Volksüberfahrt nur gemacht zu sein 18),
theils um das Wandeln Jesu auf dem Meer durch eine
Controle zu bestätigen, theils, wie wir später noch sehen
werden, um Jesum, welcher der allgemeinen Überlieferung
zufolge unmittelbar nach der Speisung an das andre Ufer
des Sees sich begeben hatte, noch mit dem Volk über die
Speisung reden lassen zu können.
Nach Hinwegnahme dieser, den einzelnen Erzählungen
eigenthümlichen Auswüchse des Wunderhaften bleibt im-
mer noch der Stamm des Wunders, daſs nämlich Jesus
eine bedeutende Strecke weit auf dem Meer gewandelt ha-
be, mit aller oben auseinandergesezten Unwahrscheinlich-
keit eines solchen Faktums zurück. Doch hat uns die
Auflösung jener Nebenzüge, indem wir die Anlässe ihrer
[190]Zweiter Abschnitt.
unhistorischen Entstehung entdeckten, die Auffindung sol-
cher Anlässe auch für die Haupterzählung erleichtert, und
damit die Auflösung auch dieser selbst möglich gemacht.
Daſs die Gewalt Gottes und des mit ihm einigen mensch-
lichen Geistes über die Natur von den Hebräern und er-
sten Christen gerne unter dem Bilde einer Übermacht über
die tobenden Meereswellen vorgestellt wurde, haben wir
aus dem vorigen Beispiel gesehen. In der Erzählung des
Exodus stellt sich diese Übermacht so dar, daſs das Meer
durch einen Wink aus seiner Stelle verjagt, und so dem
Volk Gottes ein trockener Weg durch seinen Grund geöff-
net wurde; in der zuvor betrachteten N. T.lichen Erzäh-
lung so, daſs das Meer an seiner Stelle blieb, und nur so
weit zur Ruhe gewiesen wurde, daſs Jesus und seine Jün-
ger zu Schiff gefahrlos über dasselbe hinübergelangen konn-
ten: in der jezt vorliegenden Anekdote wird aus der zwei-
ten der Zug beibehalten, daſs das Meer an seiner Stelle
bleibt, zugleich jedoch aus der ersten der herbeigeholt,
daſs zu Fuſs, nicht zu Schiffe hinübergewandelt wird, doch,
mit Rücksicht auf den andern Zug, nicht durch seinen
Grund, sondern über seine Oberfläche. Daſs sich auf sol-
che Weise die Anschauung der Übermacht des Wunder-
thäters über Wasserwogen fortbildete, dazu läſst sich theils
im A. T., theils in den Meinungen des Zeitalters Jesu
noch nähere Veranlassung finden. Unter den Wundern
des Elisa wird neben dem, daſs er mittelst seines Mantels
den Jordan getheilt, und so trockenen Fuſses habe hin-
durchgehen können (2 Kön. 2, 14.), auch das erzählt, daſs
er ein in's Wasser gefallenes Eisen schwimmend gemacht
habe (2 Kön. 6, 6.): eine Übermacht über das Gesez der
Schwere, welche der Wunderthäter wohl auch am eige-
nen Leibe geltend machen, und so, wie es Hiob 9, 8. LXX. von
Jehova heiſst, als περιπατῶν ὡς ἐπ̕ ἐδάφους ἐπὶ ϑαλάσσης
sich darstellen konnte. Von Wunderthätern, die auf dem
Wasser gehen konnten, wuſste man sich um die Zeit Jesu
[191]Neuntes Kapitel. §. 97.
Vieles zu erzählen. Abgesehen von eigenthümlich griechi-
schen Vorstellungen 19), so schrieb die orientalisch-grie-
chische Sage dem Hyperboreer Abaris einen Pfeil zu,
auf welchem er über Flüsse, Meere und Abgründe schwe-
bend sezte 20); der gemeine Volksglaube lieh manchen
Thaumaturgen die Fähigkeit, auf dem Wasser zu gehen 21):
und es erscheint so die Möglichkeit, daſs sich aus allen
diesen Elementen und Veranlassungen eine gleiche Sage
auch über Jesum bilden konnte, ungleich gröſser, als die
eines wirklichen Vorgangs dieser Art, — womit unsre
Rechnung geschlossen ist.
Mit den bisher betrachteten Seeanekdoten hat die Joh.
21. erzählte φανέρωσις Jesu ἐπὶ τῆς ϑαλάσσης τῆς Τιβεριά-
δος so auffallende Ähnlichkeit, daſs wir, obwohl das vierte
Evangelium den Vorfall in die Tage der Auferstehung Je-
su verlegt, doch nicht umhin können, wie wir sie schon
früher ihrem einen Theile nach mit der Erzählung vom
Fischzug Petri in Verbindung brachten, so nun ihren an-
dern Bestandtheil mit dem Wandeln Jesu und Petri auf
dem Meer in Parallele zu setzen. Beidemale wird in dem
noch nächtlichen Dunkel des Frühmorgens Jesus von den
im Schiffe befindlichen Jüngern erblickt, nur daſs er bei
dem späteren Falle nicht wie in dem früheren auf dem
Meere geht, sondern am Ufer steht, und die Jünger nicht
durch Sturm, sondern nur durch die Fruchtlosigkeit ihrer
Fischerarbeit in Verlegenheit gesezt sind. Beidemale fürch-
ten sie ihn: dort, weil sie ihn für ein Gespenst halten,
hier wagt es keiner, zu fragen, wer er sei, εἰδότες, ὅτι ὁ
Κύριός ἐςιν. Im Besondern aber findet die dem ersten
Evangelium eigenthümliche Scene mit Petrus in der genann-
ten Stelle des vierten ihre Parallele. Wie Petrus dort,
[192]Zweiter Abschnitt.
als der über den See einherschreitende Jesus sich zu er-
kennen giebt, ihn um die Erlaubniſs bittet, zu ihm über
das Wasser hingehen zu dürfen: so wirft er sich hier,
sobald der am Ufer stehende Jesus erkannt ist, in das
Wasser, um auf dem kürzesten Wege schwimmend zu ihm
zu gelangen. Da auf diese Weise, was in jener früheren
Erzählung ein wunderbares Wandeln auf dem Meere, in
der vorliegenden in Bezug auf Jesum ein wunderloses Ste-
hen am Ufer, in Bezug auf den Petrus aber ein natürli-
ches Schwimmen ist, somit die leztere Geschichte fast wie
eine rationalistische Paraphrase der ersteren lautet: so hat
es nicht an solchen gefehlt, welche wenigstens von der pe-
trinischen Anekdote im ersten Evangelium behaupteten, daſs
sie eine traditionelle Umbildung des Zugs Joh. 21, 7. in's
Wunderhafte sei 22). Diese Vermuthung auch auf das
Meerwandeln Jesu auszudehnen, wird die jetzige Kritik
dadurch abgehalten, daſs diesen Zug das als apostolisch
vorausgesezte vierte Evangelium selbst in der früheren Er-
zählung hat; wogegen wir auf unserem Standpunkt es
gar wohl möglich finden werden, daſs demselben vierten
Evangelisten dieselbe Geschichte in zwiefacher Form zu
Ohren gekommen, und von ihm an verschiedenen Orten
seiner Erzählung einverleibt worden sei. Indessen, wenn
beide Geschichten verglichen werden sollen, so dürfen wir
nicht schon zum Voraus die eine, Joh. 21., als die ur-
sprüngliche, die andere, Matth. 14. parall., als die abge-
leitete setzen, sondern müssen erst fragen, welche von bei-
den sich eher zum Einen oder Andern eigne? Allerdings
nun, wenn wir dem bewährten Kanon folgen, daſs die
wunderhaftere Erzählung die spätere sei, so erscheint die
von Joh. 21. in Bezug auf die Art, wie Jesus in die Nähe
der Jünger, und Petrus zu ihm gelangt, als die ursprüng-
liche. Aber aufs Engste hängt mit jenem Kanon der an-
[193]Neuntes Kapitel. §. 97.
dre zusammen, daſs die einfachere Erzählung die frühere,
die zusammengeseztere die spätere ist, wie das Conglome-
rat später als die einfache Steinbildung, — und nach die-
sem Kanon wäre umgekehrt die Erzählung Joh. 21. die ab-
geleitete, da in ihr die bezeichneten Züge noch mit dem
wunderbaren Fischzug verflochten sind, während sie in
der früheren Erzählung für sich ein Ganzes ausmachen.
Allerdings zwar kann auch ein gröſseres Ganze in kleinere
Stücke zersplittern: doch solchen Bruchstücken sehen die
getrennten Erzählungen vom Fischzug und vom Wandeln
auf dem Meere keineswegs ähnlich, welche vielmehr jede als
wohlgeschlossenes Ganze sich verhalten. Aus dieser Ver-
flechtung mit dem Wunder des Fischzugs, wozu noch kommt,
daſs der ganze Vorgang um den auferstandenen Jesus, der
an sich schon ein Wunder ist, sich dreht, wird nun auch
erklärlich, wie, gegen die sonstige Regel, die oft bezeich-
neten beiden Züge in der späteren Darstellung ihr Wun-
derhaftes verlieren konnten, indem sie nämlich durch die
Verbindung mit anderweitigem Wunderbaren zu bloſsen
Nebenzügen, zur natürlichen Staffage heruntergesezt wur-
den. Ist aber auf diese Weise die Erzählung Joh. 21. ei-
ne durchaus abgeleitete, so ist sie in Bezug auf ihren hi-
storischen Werth bereits mit denjenigen Erzählungen be-
urtheilt, welche ihre Grundlage bilden.
Sehen wir, ehe wir weiter gehen, auf die bisher durch-
laufene Reihe von Sturm-, See- und Fischgeschichten zu-
rück, so finden wir, daſs zwar die eine äusserste der an-
dern durchaus unähnlich ist, indem in der einen bloſs von
Fischen, in der andern bloſs vom Sturm gehandelt wird:
doch aber, je nachdem man sie aufstellt, hängt jede mit
der folgenden durch einen gemeinsamen Zug zusammen.
Die Erzählung von der Berufung der Menschenfischer (Matth.
4, 18 ff. parall.) eröffnet die Reihe; mit dieser hat die vom
Fischzug des Petrus (Luc. 5, 1 ff.) die Gnome von Men-
schenfischern gemein, aber das Faktum des Fischzugs ist
Das Leben Jesu II. Band. 13
[194]Zweiter Abschnitt.
ihr eigenthümlich; dieser leztere kehrt Joh. 21. wieder,
wo noch das morgenliche Stehen Jesu am Ufer und das
Hinüberschwimmen des Petrus dazukommt; dieſs Stehen
und Schwimmen erscheint Matth. 14, 22 ff. parall. als Ge-
hen auf dem Meer, und zugleich ist ein Sturm und dessen
Aufhören mit Jesu Eintritt in das Schiff hinzugefügt;
Matth. 8, 23 ff. parall. endlich steht die Stillung des Sturms
durch Jesum für sich allein.
Entfernter von den bisher betrachteten Erzählungen
steht die Geschichte Matth. 17, 24 ff. Zwar findet sich auch
hier wie bei einigen von jenen eine Anweisung Jesu an
den Petrus zum Fischfang, welcher, wie zwar nicht aus-
drücklich gesagt ist, doch vorausgesezt werden muſs, der
Erfolg entspricht: aber theils soll nur Ein Fisch, und zwar
mit dem Angel, gefangen werden, theils ist die Hauptsache
die, daſs in seinem Maule ein Geldstück gefunden werden
soll, um damit die Tempelsteuer für Jesus und Petrus, um
welche der leztere angegangen war, zu bezahlen. Diese
Erzählung, wie sie zunächst sich giebt, hat eigenthümliche
Schwierigkeiten, welche Paulus gut auseinandersezt, und
auch Olshausen nicht in Abrede stellt. Wenn nämlich
Fritzsche mit Recht bemerkt, zwei wunderbare Stücke
seien in dieser Geschichte: das eine, daſs der Fisch einen
Stater im Maule haben sollte, das andere, daſs Jesus dieſs
vorherwuſste, so erscheint theils jenes und damit auch die-
ses als abenteuerlich, theils das ganze Wunder als unnö-
thig. Zwar, daſs Fische Metalle und Kostbarkeiten im
Leibe gehabt haben, wird auch sonst erzählt 23), und ist
nicht unglaublich: daſs aber ein Fisch ein Geldstück im
Maule haben und darin behalten sollte, während er zu-
gleich nach dem Angel schnappt, das fand auch Dr. Schnap-
pinger24) unbegreiflich. Der Anlaſs des Wunders aber
[195]Neuntes Kapitel. §. 97.
konnte weder Geldmangel sein: denn wenn auch damals
gerade kein Vorrath in der gemeinsamen Kasse war, so
befand sich doch Jesus in dem befreundeten Kapernaum,
wo er auf natürlichem Weg zu dem nöthigen Gelde gelan-
gen konnte, man müſste denn mit Olshausen das Entleh-
nen durch Zusammenwerfen mit dem Betteln gegen das
von Jesu zu beobachtende decorum divinum finden; noch
konnte Jesus nach so vielen Proben seiner Wunderkraft
auch dieses Wunder noch nöthig finden, um den Petrus
im Glauben an seine Messianität zu bestärken.
Deſswegen ist es nicht zu verwundern, wenn ratio-
nalistische Ausleger gesucht haben, eines Wunders, das
auch Olshausen das schwierigste in der ganzen evangeli-
schen Geschichte nennt, um jeden Preis sich zu entledigen:
es kommt nur auf die Art an, wie sie dieſs angegriffen
haben. Der Nerv der natürlichen Erklärung des Faktums
liegt darin, daſs man in der Anweisung Jesu das εὑρήσεις
nicht vom unmittelbaren Finden eines Staters im Fische,
sondern von einem mittelbaren Erwerben dieses Geldbe-
trags durch Verkauf des Erangelten versteht 25). Daſs das
angezeigte Wort auch diese Bedeutung haben kann, ist zu-
zugeben, nur muſs, daſs es diese und nicht seine gewöhn-
liche Bedeutung habe, im einzelnen Falle aus dem Zusam-
menhang erhellen. Wenn es also in unsrem Fall hieſse:
nimm den ersten besten Fisch, trage ihn auf den Markt,
κἀκεῖ εὑρήσεις ςατῆρα, so wäre jene Erklärung an der
Stelle; da statt dessen dem εὑρήσεις vielmehr ein ἀνοίξας
τὸ ςόμα αὐτοῦ vorhergeht, da also nicht ein Ort zum Ver-
kaufen, sondern nur ein Ort am Fisch angegeben ist, wo
der Stater erlangt werden sollte, so kann nur an ein
unmittelbares Finden des Geldstücks in diesem Theile des
Fischs gedacht werden 26). Wozu wäre auch das Öffnen
13 *
[196]Zweiter Abschnitt.
des Fischmauls ausdrücklich bemerkt, wenn nicht eben in
demselben das Begehrte gefunden werden sollte? Paulus
findet darin nur die Anweisung, den Fisch ungesäumt vom
Angel zu lösen, um ihn lebendig zu erhalten und desto
eher verkäuflich zu machen. Zu dem Befehl, das Maul
des Fisches zu öffnen, könnte allerdings, wenn sonst nichts
dabei stände, die Herausnahme des Angels als Zweck und
Erfolg hinzugedacht werden: da aber εὑρήσεις νατῆρα da-
beisteht, so ist unverkennbar dieses als nächster Zweck
des Maulöffnens bezeichnet. Das Gefühl, daſs, so lange
von einem Aufthun des Maules am Fisch in der Stelle die
Rede sei, auch der Stater als in demselben zu findender
vorausgesezt werde, bewog die rationalistischen Erklärer,
das ςόμα wo möglich auf ein anderes Subjekt als den Fisch
zu beziehen, und da war nur der Fischer, Petrus, übrig.
Da nun aber das ςόμα durch das dabeistehende αὐτοῦan
den Fisch gebunden scheint, so hat Dr. Paulus, den Vor-
schlag eines Freundes, statt αὐτοῦεὑρήσεις geradezu ἀνϑ-
ευρήσεις zu lesen, mildernd oder überbietend, das stehen
gelassene αὐτοῦ von ςόμα getrennt, adverbialisch genommen,
und übersezt: du darfst dann nur deinen Mund aufthun,
um den Fisch feilzubieten, so wirst du auf der Stelle (αὐτοῦ)
einen Stater für denselben ausbezahlt bekommen. Wie konnte
aber, muſste man noch fragen, in dem fischreichen Kaper-
naum ein einziger Fisch so theuer bezahlt werden? daher
nahm dann Paulus das τὸν ἀναβάντα πρῶτον ἰχϑὺν ᾆρον
collectiv: nimm allemal den Fisch, der dir zuerst aufstöſst,
und mache so fort, bis du eines Staters werth eran-
gelt hast.
Werden wir durch die Reihe von Gewaltthätigkeiten,
welche zur natürlichen Erklärung dieser Erzählung nö-
thig sind, wieder zu derjenigen zurückgewiesen, welche
hier ein Wunder findet, und erscheint uns doch nach dem
früher Bemerkten dieses Wunder als abenteuerlich und
unnöthig, mithin als unglaublich: so bleibt nichts übrig,
[197]Neuntes Kapitel. §. 98.
als auch hier ein sagenhaftes Element vorauszusetzen.
Dieſs hat man so versucht, daſs man ein wirkliches aber
natürliches Faktum als zum Grunde liegend annahm, daſs
nämlich Jesus einmal den Petrus angewiesen habe, so lan-
ge zu fischen, bis die Tempelsteuer erangelt wäre, woraus
dann die Sage entstanden sei, der Fisch habe die Steuer-
münze im Maule gehabt 27). Diesen immer ungenügenden
Mittelweg zwischen natürlicher und mythischer Erklärung
zu vermeiden, denken wir uns lieber als Veranlassung die-
ser Anekdote das vielbenüzte Thema von einem Fischfang
des Petrus auf der einen, und die bekannten Erzählungen
von Kostbarkeiten, die im Leibe von Fischen gefunden
worden, auf der andern Seite. Petrus war, wie wir aus
Matth. 4, Luc. 5, Joh. 21. wissen, in der evangelischen
Sage der Fischer, welchem Jesus in verschiedenen Formen,
zunächst symbolisch, dann eigentlich, den reichen Fang
bescheert hatte. Das Werthvolle des Fangs tritt nun hier
als Geldmünze heraus, welche, wie dergleichen Dinge sonst
im Bauche von Fischen, so durch eine Steigerung des
Wunders gleich im Maule des Fisches gefunden werden
sollte. Daſs es gerade der zur Tempelsteuer erforderliche
Stater ist, könnte durch eine wirkliche Äusserung Jesu
über sein Verhältniſs zu dieser Abgabe, welche zufällig
mit jener Anekdote in Verbindung kam, veranlaſst sein,
oder könnte umgekehrt der in der Sage vom Fischfang zu-
fällig vorhandene Stater an die Tempelabgabe, welche für
zwei Personen eben so viel betrug, und den darauf be-
züglichen Ausspruch Jesu erinnert haben.
In diesen mährchenhaften Ausläufer endigen die See- und
Fisch-Anekdoten.
§. 98.
Die wunderbare Speisung.
Wie in den zulezt betrachteten Geschichten Jesus be-
[198]Zweiter Abschnitt.
stimmend und besänftigend auf die vernunftlose und selbst
auf die leblose Natur einwirkte: so wirkt er in denjenigen
Erzählungen, zu deren Betrachtung wir jezt fortschreiten,
sogar vermehrend nicht allein auf Naturgegenstände, son-
dern selbst auf künstlich verarbeitete Naturprodukte.
Daſs Jesus zubereitete Nahrungsmittel auf wunderbare
Weise vermehrt, mit wenigen Broten und Fischen eine
groſse Menschenmenge gespeist habe, erzählen uns mit sel-
tener Einstimmigkeit sämmtliche Evangelisten (Matth. 14,
13 ff. Marc. 6, 30 ff. Luc. 9, 10 ff. Joh. 6, 1 ff.). Und
glauben wir den beiden ersten von ihnen, so hat Jesus
dieſs nicht bloſs Einmal gethan, sondern Matth. 15, 32 ff.
Marc. 8, 1 ff. wird eine zweite Speisung erzählt, bei der
es im Wesentlichen ebenso wie bei der ersten zugieng.
Sie fällt der Zeit nach etwas später; der Ort ist etwas an-
ders bezeichnet, und die Dauer des Aufenthalts der Menge
bei Jesu abweichend angegeben; auch ist, was mehr besa-
gen will, das Gröſsenverhältniſs zwischen dem Speisevor-
rath und der Menschenmenge ein verschiedenes, indem das
erstemal mit 5 Broten und 2 Fischen 5000, das zweitemal
mit 7 Broten und wenigen Fischen 4000 Mann gesättigt
werden, und dort 12, hier 7 Körbe mit Brocken übrig
bleiben. Demungeachtet ist nicht nur die Substanz der
Geschichte auf beiden Seiten ganz dieselbe: Sättigung ei-
ner Volksmenge mit unverhältniſsmäſsig wenigen Nahrungs-
mitteln, sondern auch die Ausmalung der Scene ist in den
Grundzügen ganz analog: beidemale das Lokal eine einsa-
me Gegend in der Nähe des galiläischen Sees; beidemale
die Veranlassung des Wunders ein zu langes Verweilen
des Volks bei Jesu; beidemale bezeigt Jesus Lust, die
Menge aus eigenen Mitteln zu speisen, was die Jünger als
eine unmögliche Sache betrachten; beidemale besteht der
disponible Speisevorrath in Broten und Fischen; beidemale
läſst Jesus die Leute sich lagern und theilt ihnen nach
gesprochenem Dankgebet durch Vermittlung seiner Jünger
[199]Neuntes Kapitel. §. 98.
aus; beidemale werden sie vollkommen satt, und es kann
noch eine unverhältniſsmäſsig groſse Menge übrig gebliebe-
ner Brocken in Körbe gesammelt werden; endlich einmal
wie das andere sezt Jesus nach vollbrachter Speisung über
den See.
Bei dieser Wiederholung desselben Faktums macht na-
mentlich die Frage Schwierigkeit, ob es wohl denkbar sei,
daſs die Jünger, nachdem sie selbst mitangesehen hatten,
wie Jesus mit wenigen Nahrungsmitteln eine groſse Menge
zu speisen vermochte, dennoch bei einem zweiten ähnli-
chen Fall jenen ersten spurlos vergessen gehabt, und ge-
fragt haben sollten: πόϑεν ἡμῖν ἐν ἐρημίᾳ ἄρτοι τοσοῦτοι,
ὥςε χορτάσαι ὄχλον τοσοῦτον; Wenn man sich für eine sol-
che Vergeſslichkeit der Jünger darauf beruft, daſs sie auf
ähnliche unbegreifliche Weise die Erklärungen Jesu über
sein bevorstehendes Leiden und Sterben vergessen gehabt
haben, als dasselbe eintrat 1), so ist es ja ebenso noch eine
obschwebende Frage, ob nach so deutlichen Voraussagen
Jesu sein Tod den Jüngern so unerwartet hätte sein kön-
nen? Denkt man sich aber zwischen beide Speisungen eine
längere Zeit und eine Anzahl analoger Fälle hinein, wo
aber Jesus nicht für gut gefunden habe, auf wunderbare
Weise zu helfen 2), so sind dieſs theils reine Erdichtungen,
theils bliebe auch so unbegreiflich, wie die gar zu spre-
[200]Zweiter Abschnitt.
chende Ähnlichkeit der Umstände vor der zweiten Spei-
sung mit denen vor der ersten auch nicht Einen der Jün-
ger an diese sollte erinnert haben. Mit Recht behauptet
daher Paulus, hätte Jesus schon einmal die Menge durch
ein Wunder gespeist gehabt, so würden bei'm zweiten Mal
die Jünger auf seine Erklärung, er möge das Volk nicht
nüchtern entlassen, ihn getrost zur Wiederholung des vo-
rigen Wunders aufgefordert haben.
Jedenfalls daher, wenn Jesus zu zwei verschiedenen
Malen eine Volksmenge mit unverhältniſsmäſsig geringem
Vorrath gesättigt hat, müſste man mit einigen Kritikern
annehmen, daſs aus der Erzählung von der einen Bege-
benheit viele Züge in die von der andern übergegangen,
und so beide, ursprünglich sich unähnlicher, in der münd-
lichen Überlieferung immer mehr ausgeglichen worden seien,
wobei also namentlich die zweifelnde Frage der Jünger
nur das erste, nicht aber auch das zweitemal vorgekom-
men sein könnte 3). Für eine solche Assimilation kann
der Umstand zu sprechen scheinen, daſs der vierte Evan-
gelist, der namentlich in den Zahlangaben auf Seiten der
ersten Speisung des Matthäus und Markus ist, doch von
deren zweiter Speisungsgeschichte die Züge hat, daſs eine
Anrede Jesu, nicht der Jünger, die Scene eröffnet, und
daſs das Volk zu Jesu auf einen Berg kommt. Allein wenn
man hiebei die Grundzüge: Wüste, Speisung des Volks,
Aufsammeln der Brocken, auf beiden Seiten stehen läſst,
so ist auch ohne jene Frage der Jünger immer noch un-
wahrscheinlich genug, daſs eine solche Scene sich auf so
ganz ähnliche Weise wiederholt haben sollte; läſst man hin-
gegen auch jene allgemeinen Züge bei der einen Geschichte
fallen, so ist nicht weiter einzusehen, wie man die Treue
der evangelischen Erzählung in Bezug auf den Hergang der
[201]Neuntes Kapitel. §. 98.
zweiten Speisung auf allen Punkten in Anspruch nehmen,
und doch an der Angabe, daſs eine solche vorgefallen,
festhalten kann, zumal nur Matthäus und der ihm folgen-
de Markus von derselben wissen.
Daher haben neuere Kritiker, mit mehr 4) oder weni-
ger 5) Entschiedenheit, die Ansicht ausgesprochen, es sei
hier ein und dasselbe Faktum durch Miſsverstand des er-
sten Evangelisten, welchem der zweite folgte, verdoppelt
worden. Von der wunderbaren Speisung seien verschie-
dene Erzählungen im Umlauf gewesen, welche namentlich
in den Zahlangaben von einander abwichen, und nun habe
der Verfasser des ersten Evangeliums, welchem jede Wun-
dergeschichte weiter ein willkommener Fund, und der deſs-
halb zu kritischer Reduktion zweier verschieden lautenden
Erzählungen der Art wenig geeignet war, beide in seine
Sammlung aufgenommen. Dann erklärt sich vollkommen,
wie bei der zweiten Speisung die Jünger noch einmal so
ungläubig sich äussern können: weil nämlich auch die
zweite Geschichte da, wo der Verfasser des ersten Evan-
geliums sie hernahm, die einzige und erste gewesen war,
und der Evangelist verwischte diesen Zug nicht, weil er
überhaupt die beiden Erzählungen ganz so, wie er sie
hörte oder las, seiner Schrift einverleibt zu haben scheint,
was sich unter Anderem auch in der Constanz zeigt, mit
welcher er und der ihm nachschreibende Markus nicht nur
in der Darstellung der Begebenheiten selbst, sondern auch
in der späteren Erwähnung derselben Matth. 16, 9 f. Marc.
8, 19 f. bei der ersten Speisung die Körbe durch κόφινοι,
bei der zweiten durch σπυρίδες bezeichnet 6). Freilich
[202]Zweiter Abschnitt.
wird mit Recht behauptet, daſs der Apostel Matthäus un-
möglich einerlei für zweierlei habe aufgreifen, und eine
gar nicht vorgefallene neue Geschichte erzählen können 7):
aber die Wirklichkeit einer doppelten Speisung folgt nur
dann hieraus, wenn man den apostolischen Ursprung des
ersten Evangeliums schon voraussezt, der doch erst zu be-
weisen ist. Wenn ferner Paulus einwirft, die Verdoppe-
lung jenes Faktums wäre ohne allen Vortheil für die Sache
des Evangelisten gewesen, und Olshausen dieſs näher da-
hin entwickelt, daſs die Sage die zweite Speisungsgeschichte
nicht so einfach und nüchtern, wie die erste, gelassen ha-
ben würde: so kann dieses begehrliche Reden, es sei et-
was keine Erdichtung, weil es als solche noch ausge-
schmückter sein müſste, eigentlich geradezu abgewiesen
werden, weil es, jedes bestimmten Maſsstabs entbehrend,
unter allen Umständen wiederkehren, und am Ende das
Mährchen selbst nicht mährehenhaft genug finden wird;
insbesondre aber hier ist es deſswegen völlig leer, weil es
die Erzählung von der ersten Speisung als eine historisch
genaue voraussezt: haben wir in dieser schon ein sagenhaf-
tes Produkt, so braucht sich die Variation davon, die zweite
Speisungsgeschichte, nicht noch durch besondre traditio-
nelle Züge auszuzeichnen. Doch nicht bloſs nicht in's Wun-
derbarere ist die Erzählung von der zweiten Speisung ge-
genüber von der ersten ausgeschmückt, sondern, indem
sie, die Menge der Nahrungsmittel vermehrend, die Zahl
der Gesättigten vermindert, verringert sie damit das Wun-
der, und in diesem Antiklimax findet man die sicherste
Bürgschaft für die Wirklichkeit der zweiten Speisung, in-
dem, wer zu der ersten noch eine weitere hinzudichten
wollte, dieselbe wohl auch überboten, und statt der 5000
Menschen nicht 4000, sondern 10,000 gesezt haben würde 8).
[203]Neuntes Kapitel. §. 98.
Auch diese Argumentation beruht auf der unbegründeten
Voraussetzung, daſs die erste Speisung historisch sei, wo-
bei Olshausen selbst den Gedanken hat, daſs einer wohl
auch die zweite für die historische Grundlage, und die er-
ste für die sagenhafte Zuthat ansehen könnte, und dann
verhielte sich die erdichtete zur wahren, wie gefordert wür-
de, als Steigerung. Wenn er nun aber hiegegen bemerkt,
wie unwahrscheinlich es sei, daſs der unlautere Referent
das ächte Faktum als das geringere nachbringe, und das
falsche voranstelle, vielmehr wolle ein solcher die Wahr-
heit überbieten, und stelle deſshalb immer das Erdichtete
als das Glänzendere hinten an: so zeigt er damit auf's
Neue, daſs er sich auf die mythische Ansicht von den bi-
blischen Erzählungen nicht einmal soweit versteht, als zu
ihrer Beurtheilung nöthig ist. Denn von einem unlauteren
Referenten, welcher absichtlich die wahre Speisungsge-
schichte hätte überbieten wollen, spricht hier Niemand,
und am wenigsten erklärt irgend wer den Matthäus für ei-
nen solchen, sondern, mit vollkommenster Redlichkeit, ist
die Meinung, hatte der eine von 5000, der andre von 4000
Gesättigten geschrieben, ebenso redlich schrieb der erste
Evangelist Beides nach, und eben weil er völlig arg- und
absichtslos zu Werke gieng, kam es ihm auch nicht dar-
auf an, welche von beiden Geschichten voran- oder nach-
stehe, die bedeutendere oder die von minderem Belange, son-
dern er lieſs sich hierin durch zufällige Umstände, wie daſs
er die eine mit Begebenheiten zusammengestellt fand, die ihm
die früheren, die andre mit solchen, die ihm die späteren
schienen, bestimmen. Hiemit haben wir indeſs bloſs das
negative Resultat, daſs der doppelten Erzählung der ersten
Evangelien nicht zwei verschiedene Begebenheiten können
zum Grunde gelegen haben: welche, und ob überhaupt
eine von beiden historisch begründet sei, muſs Gegenstand
einer eigenen Untersuchung werden.
Wenn, um dem magischen Scheine auszuweichen, wel-
[204]Zweiter Abschnitt.
chen das vorliegende Wunder vor andern hat, Olshausen
dasselbe mit dem Gemüthszustand der betheiligten Perso-
nen in Beziehung sezt, und die wunderbare Speisung durch
den geistlichen Hunger der Menge vermittelt wissen will:
so ist dieſs nur ein zweideutiges Reden, das bei dem ersten
Versuch, den Sinn desselben festzustellen, in Nichts zer-
fällt. Denn bei Heilungen z. B. besteht nach der hier vor-
ausgesezten Ansicht jene Vermittlung darin, daſs das Ge-
müth des Kranken sich der Einwirkung Jesu glaubig öff-
net, so daſs bei fehlendem Glauben auch der Wunderkraft
Jesu der erforderliche Anknüpfungspunkt im Menschen
fehlt: hier also ist die Vermittlung eine reale. Sollte nun
hier dieselbe Art von Vermittlung stattgehabt, und also
bei denjenigen von der Menge, welche etwa unglaubig wa-
ren, die sättigende Einwirkung Jesu keinen Eingang ge-
funden haben: so müſste hier die Sättigung wie dort die
Heilung als etwas von Jesu geradezu und ohne vorange-
gangene Vermehrung der äusserlich vorhandenen Nahrungs-
mittel in dem Leibe der Hungrigen Gewirktes angesehen
werden. Allein eine solche Vorstellung von der Sache wird,
wie Paulus mit Recht erinnert, und auch Olshausen an-
deutet, durch die Bemerkung der Evangelisten abgeschnit-
ten, daſs unter die Menge wirklich Speisen vertheilt wor-
den seien, daſs von diesen jeder, so viel er wollte, genos-
sen habe, und daſs am Ende noch mehr als ursprünglich
vorräthig gewesen, übrig gebiieben sei. Die hierin liegende
äusserlich und objektiv vorgegangene Vermehrung der Nah-
rungsmittel kann nun doch nicht durch den Glauben des
Volks auf reale Weise vermittelt gedacht werden, so daſs
jener Glaube zum Gelingen der Brotvermehrung mitwirken
muſste, die Vermittlung kann vielmehr nur eine teleologi-
sche gewesen sein, d. h. daſs um eines gewissen Gemüths-
zustands der Menge willen Jesus die Speisung vornahm.
Eine solche Vermittlung aber giebt mir nicht die mindeste
Hülfe, mir den fraglichen Vorgang denkbarer zu machen,
[205]Neuntes Kapitel. §. 98.
denn nicht, warum es so, sondern wie es zugegangen sei,
ist die Frage. So beruht mithin Alles, was Olshausen hier
gethan zu haben glaubt, um das Wunder denkbarer zu
machen, auf der Amphibolie des Ausdrucks: Vermittlung,
und es bleibt die Undenkbarkeit einer unmittelbaren Ein-
wirkung des Willens Jesu auf die vernunftlose Natur die-
ser Geschichte mit den zulezt erwogenen gemein.
Doch eigenthümlich vor den andern ist ihr die Schwie-
rigkeit, daſs hier nicht bloſs wie bisher von einer den
Naturgegenständen ertheilten Richtung oder Modifikation,
sondern von einer Vermehrung derselben, und zwar in's
Ungeheure, die Rede ist. Zwar ist uns nichts alltäglicher,
als Wachsthum und Vermehrung der Naturgegenstände,
wie sie z. B. vom Samenkorn in den Parabeln vom Säe-
mann und vom Senfkorn dargestellt ist. Allein diese ge-
schieht erstlich nicht ohne Zutritt anderer Naturdinge, wie
Erde, Wasser, Luft, so daſs auch hier, nach dem bekann-
ten Saz der Naturlehre, nicht eigentlich die Substanz ver-
mehrt, sondern nur die Accidenzien verwandelt werden;
zweitens geschieht dieser Proceſs so, daſs er seine verschie-
denen Stadien in entsprechenden Zeitdistanzen zurücklegt.
Hier dagegen, bei der Vermehrung der Nahrungsmittel
durch Jesus, findet weder das Eine noch das Andere statt:
das Brot in der Hand Jesu hängt nicht mehr, wie der
Halm, auf welchem die Frucht wuchs, mit dem mütterli-
chen Boden zusammen, noch geschieht seine Vermehrung
allmählig, sondern plözlich.
Das aber eben soll das Wunderbare an der Sache sein,
und namentlich nach der lezteren Seite hin das gegenwär-
tige Wunder ein beschleunigter Naturproceſs genannt wer-
den können. Was von der Aussaat bis zur Ernte in drei
Vierteljahren geschieht, soll da in Minuten unter der Aus-
theilung der Speise geschehen sein; denn einer Beschleu-
nigung seien die Naturentwicklungen fähig, und einer wie
[206]Zweiter Abschnitt.
groſsen, das sei nicht zu bestimmen 9). Ein beschleunig-
ter Naturproceſs wäre es gewesen, wenn in Jesu Hand
je ein Korn hundertfältige Frucht getragen und zur Reife
gebracht, und er die vermehrten Körner aus immer vollen
Händen dem Volke hingeschüttet hätte, um sie von diesem
zerreiben, kneten und backen, oder in der Wüste, wo sie
waren, roh aus den Hülsen heraus geniessen zu lassen;
wenn er einen lebendigen Fisch genommen, und die Eier
in dessen Leibe plözlich hervorgerufen, befruchtet, und zu
ausgewachsenen Fischen gemacht hätte, welche dann die
Jünger oder das Volk hätten sieden oder braten mögen.
So hingegen nimmt er nicht Korn in die Hand, sondern
Brot, und auch die Fische müssen, so wie sie in Stücken
ausgetheilt werden, irgendwie zubereitet, vielleicht, wie
Luc. 24, 42. vgl. Joh. 21, 9. gebraten, oder eingesalzen ge-
wesen sein. Hier ist also auf beiden Seiten kein reines,
lebendiges Naturprodukt mehr, sondern ein todtes und durch
Kunst modificirtes; um ein solches in einen Naturproceſs
jener Art zu versetzen, hätte Jesus vor Allem durch seine
Wunderkraft aus dem Brot wieder Körner, aus den Brat-
fischen wieder rohe und lebende machen, dann geschwind
die beschriebene Vermehrung vornehmen, endlich sämmt-
liches Vermehrte vom Naturzustand in den künstlichen zu-
rückversetzen müssen. So wäre mithin dieses Wunder zu-
sammengesezt 1) aus einer Wiederbelebung, welche alle
sonst in den Evangelien erzählte an Mirakulosität überträ-
fe; 2) aus einem höchst beschleunigten Naturproceſs, und
3) aus einem unsichtbar vorgenommenen und ebenfalls höchst
beschleunigten Kunstproceſs, indem alle die langen Proce-
duren des Müllers und Bäckers auf der einen, und des
Kochs auf der andern Seite durch Jesu Wort in einem Au-
genblick müſsten vor sich gegangen sein. Wie mag also
Olshausen sich selbst und den glaubigen Leser durch den
[207]Neuntes Kapitel. §. 98.
annehmlich klingenden Ausdruck: beschleunigter Naturpro-
ceſs, täuschen, wenn doch dieser die Sache, von der die
Rede ist, nur zum dritten Theil bezeichnet?
Wie sollen wir uns nun ein solches Wunder zur An-
schauung bringen, und in welchen Moment des Hergangs
es versetzen? In Betreff des Lezteren sind nach der An-
zahl der in unsrer Erzählung handelnden Gruppen drei
Ansichten möglich, indem entweder in den Händen Jesu,
oder in denen der austheilenden Jünger, oder endlich erst
in denen des empfangenden Volks die Vermehrung vor sich
gegangen sein kann. Die leztere Vorstellung ist theils bis
zum Abenteuerlichen minutiös, wenn man sich Jesum und
die Apostel denken will, mit Behutsamkeit, daſs es doch
ja ausreichen möge, Krümchen vertheilend, die in den Hän-
den der Empfänger zu Stücken anschwellen, theils wäre
es nicht wohl möglich gewesen, für eine Masse von 5000
Mann aus 5 Broten, welche nach hebräischer Sitte, und
da sie ja ein Knabe trug, nicht sehr groſs können gewesen
sein, und vollends aus 2 Fischen für jeden ein, wenn auch
noch so kleines, Stückchen herauszubringen. Unter den
zwei übrigen Vorstellungsweisen finde ich es mit Olshau-
sen am angemessensten, daſs unter den schöpferischen Hän-
den Jesu sich die Nahrungsmittel vermehrt, und er neue
und immer neue Stücke den vertheilenden Jüngern gebo-
ten habe. Zur Anschauung kann man sich dann den Vor-
gang auf die doppelte Art zu bringen sucher, daſs man
entweder sich vorstellt, so oft ein Brotkuchen und ein
Fisch zu Ende war, sei aus den Händen Jesu ein neuer
gekommen, oder man denkt sich, die einzelnen Brotku-
chen und Fische seien gewachsen, so daſs, wie ein Stück
abgebrochen wurde, es sich so lange wieder ergänzte, bis
berechnetermaſsen die Reihe an den folgenden kommen
konnte. Die erstere Vorstellung scheint dem Texte fremd
zu sein, welcher, wenn er von Brocken ἐκ τῶν πέντε ἄρτων
spricht (Joh. 6, 13.), schwerlich eine Vermehrung dieser
[208]Zweiter Abschnitt.
Anzahl voraussezt, und so bleibt nur die zweite, durch
deren poëtische Ausmalung Lavater der orthodoxen An-
sicht einen schlechten Dienst erwiesen hat 10). Denn die-
ses Wunder gehört zu denjenigen, welche nur so lange
einigermaſsen glaublich erscheinen können, als man sie
im Halbdunkel einer unbestimmten Vorstellung zu halten
weiſs: sobald man dieselben an's Licht ziehen und in al-
len Theilen genau anschauen will, lösen sie sich in Nebel-
gebilde auf. Brote, die in den Händen des Austheilenden
wie angefeuchtete Schwämme aufquellen, Bratfische, wel-
chen, wie dem lebendigen Krebs die abgerissenen Scheeren
allmählig, so die abgebrochenen Theile plözlich wieder wach-
sen, gehören offenbar nicht in das Reich der Wirklich-
keit, sondern in ein ganz anderes.
Wie groſsen Dank verdient daher auch hier die ratio-
nalistische Auslegung, wenn es wahr ist, daſs sie uns von
der Zumuthung, ein so unerhörtes Wunder anzunehmen,
auf die leichteste Weise zu befreien weiſs. Hören wir
Dr. Paulus11), so wollen die Evangelisten gar kein Wun-
der erzählen, und das Wunder ist erst von den Erklä-
rern in ihren Bericht hineingetragen worden. Was sie er-
zählen, ist nach ihm nur so viel, daſs Jesus seinen gerin-
gen Vorrath an Lebensmitteln habe austheilen lassen, und
daſs in Folge dessen die ganze Menge genug zu essen be-
kommen habe. Hier sei jedenfalls das Mittelglied ausge-
lassen, welches näher angebe, wie es möglich gewesen,
daſs, unerachtet Jesus nur so wenige Lebensmittel zu bie-
ten hatte, dennoch die groſse Volksmasse habe gesättigt
werden können. Ein sehr natürliches Mittelglied aber er-
gebe sich aus der historischen Combination der Umstände.
Da nach Vergleichung von Joh. 6, 4. die Menge wahrschein-
lich zum gröſseren Theil aus einer Festkaravane bestan-
[209]Neuntes Kapitel. §. 98.
den habe, so könne sie nicht ohne alle Speisevorräthe ge-
wesen, und nur einigen Ärmeren vielleicht der Vorrath
bereits ausgegangen gewesen sein. Um nun die besser Ver-
sehenen zur Mittheilung an die, denen es fehlte, zu ver-
anlassen, habe Jesus ein Mahl veranstaltet, und sei mit
eigenem Beispiele in der Mittheilung dessen, was er und
seine Jünger von ihrem geringen Vorrath entbehren konn-
ten, vorangegangen; dieser Vorgang habe Nachahmung
gefunden, und so sei, indem Jesu Brotaustheilung eine
allgemeine Mittheilung veranlaſste, der ganze Volkshaufe
satt geworden. Allerdings müsse man dieses natürliche
Mittelglied in den Text erst hineindenken; da jedoch das
übernatürliche, welches man gewöhnlich annehme, die wun-
derbare Brotvermehrung, ebenso wenig ausdrücklich ange-
geben sei, sondern beide gleicherweise hinzugedacht wer-
den müssen: so könne man nicht anders, als für das na-
türliche sich entscheiden. — Doch das hier behauptete glei-
che Verhältniſs der beiden Mittelglieder zum Text findet
in der That nicht statt. Sondern, während zum Behuf
der natürlichen Erklärung ein neues austheilendes Subjekt
(die besser Versehenen unter der Menge), und ein neues
ausgetheiltes Objekt (deren Vorräthe), sammt der Handlung
des Austheilens von diesen hinzugedacht werden muſs: be-
gnügt sich die supranaturalistische Erklärung mit dem vor-
handenen Subjekt (Jesu und seinen Jüngern), Objekt (de-
ren kleinem Vorrath) und dessen Austheilung, und läſst
nur die Art hinzudenken, wie dieser Vorrath zur Sätti-
gung der Menge zulänglich gemacht wurde, indem er sich
nämlich unter Jesu (oder seiner Jünger) Händen wunder-
bar vermehrte. Wie kann man hier noch behaupten, dem
Text liege keines von beiden Mittelgliedern näher als das
andere? Daſs die wunderbare Vermehrung der Brote und
Fische verschwiegen ist, erklärt sich daraus, daſs dieser
Vorgang selbst sich nicht für die Anschauung festhalten
lassen will, daher besser nur nach dem Erfolg bezeichnet
Das Leben Jesu II. Band. 14
[210]Zweiter Abschnitt.
wird: wie aber will man erklären, daſs von der durch
Jesum hervorgerufenen Mittheilsamkeit der übrigen mit Vor-
rath Versehenen nichts gesagt ist? Zwischen das
ἔδωκε
τοῖς μαϑηταῖς, οἱ δὲ μαϑηταὶ τοῖς ὄχλοις
(Matth. 14, 19.)
und καὶ ἔφαγον πάντες καὶ ἐχορτάσϑησαν (V. 20.) jene
Mittheilung der Andern hineinzudenken, ist reine Willkühr,
wogegen durch das ‘καὶ τοὺς δύο ἰχϑύας ἐμέρισε πᾶσι’ (Marc.
6, 41.) unverkennbar angezeigt ist, daſs nur die 2 Fische
— und also auch nur die 5 Brote — das Objekt der Thei-
lung für Alle waren 12). Ganz besonders aber kommt die-
se natürliche Erklärung mit den Körben in Verlegenheit,
welche, nachdem Alle satt geworden, Jesus noch mit den
übrig gebliebenen Brocken füllen lieſs. Wenn hier der
vierte Evangelist sagt:
συνήγαγον οὖν, καὶ ἐγέμισαν δώδεκα
κοφίνους κλασμάτων ἐκ τῶν πέντε ἄρτων τῶν κριϑίνων,
ἃ ἐπερίσσευσε τοῖς βεβρωκόσιν
(6, 13.): so scheint doch
hiedurch deutlich genug gesagt zu sein, daſs eben von je-
nen 5 Broten, nachdem 5000 Mann sich von denselben
gesättigt, noch 12 Körbe voll Brocken, also mehr als der
ursprüngliche Vorrath betragen hatte, übrig geblieben seien.
Hier hat daher der natürliche Erklärer die abenteuerlich-
sten Wendungen nöthig, um dem Wunder auszuweichen.
Zwar, wenn die Synoptiker nur schlechtweg sagen, man
habe die Überreste des Mahls gesammelt, und mit densel-
ben 12 Körbe gefüllt, so könnte man vom Standpunkt der
natürlichen Erklärung etwa denken, Jesus habe aus Ach-
tung für die Gottesgabe auch das, was die Versammlung
von den eigenen Vorräthen liegen lieſs, durch seine Jün-
ger aufsammeln lassen. Allein, wie das, daſs das Voik
das übrig Gebliebene liegen lieſs und nicht zu sich steckte,
anzudeuten scheint, daſs es die gereichten Nahrungsmittel
als fremdes Eigenthum behandelte: so scheint Jesus, in-
dem er es ohne Weiteres durch seine Jünger einsammeln
[211]Neuntes Kapitel. §. 98.
läſst, es als sein Eigenthum zu betrachten. Daher nimmt
denn Paulus das ᾖραν κ. τ. λ. der Synoptiker nicht von
einem auf das Essen erst gefolgten Aufsammeln des nach
Sättigung der Menge Übriggebliebenen, sondern von dem
Überfluſs ihres geringen Vorraths, welchen die Jünger,
nachdem sie das für Jesum und sie selbst Erforderliche
zurückgethan, vor dem gemeinsamen Mahle und um ein
solches zu veranlassen, herumgetragen haben. Wie kann
aber, wenn nach ἔφαγον καὶ ἐχορτάσϑησαν unmittelbar καὶ
ᾖραν folgt, damit auf die Zeit vor dem Essen zurückge-
sprungen sein? müſste es nicht nothwendig wenigstens ᾖραν
γὰρ heiſsen? Ferner, wie kann, nachdem eben gesagt war,
das Volk habe sich satt gegessen, τὸ περισσεῦσαν, vollends
wenn, wie bei Lukas, αὐτοῖς dabei steht, etwas Anderes
als das vom Volk Übergelassene bedeuten? Endlich, wie
ist es möglich, daſs von 5 Broten und 2 Fischen, nachdem
Jesus und seine Jünger ihren Bedarf genommen, oder selbst
ohne dieſs, 12 Körbe zur Austheilung an das Volk gefüllt
werden konnten? Doch noch seltsamer geht es bei Erklä-
rung der johanneischen Stelle zu. Wegen der Anweisung
Jesu, das Übriggebliebene zu sammeln, ἵνα μή τι ἀπόληται,
scheint der folgenden Angabe, daſs sie von dem Überschuſs
der 5 Brote 12 Körbe gefüllt haben, die Beziehung auf die
Zeit nach dem Mahle nicht entzogen werden zu können,
wobei dann ohne wunderbare Brotvermehrung nicht abzu-
kommen wäre. Lieber reiſst daher Paulus von dem στν-
ήγαγονοὖ;ν das in Einem fortlaufende καὶ ἐγέμισαν δώδεκα
κοφίνους κ. τ. λ. ab, und läſst nun hier die Rede, noch här-
ter als bei den Synoptikern, ohne alle Andeutung auf Ein-
mal in das Plusquamperfectum und in die Zeit vor dem
Mahle zurückspringen.
Auch hier demnach löst die natürliche Erklärung ih-
re Aufgabe nicht: dem Texte bleibt sein Wunder, und
wenn wir Gründe haben, dieses unglaublich zu finden, so
müssen wir untersuchen, ob die Erzählung des Textes
14 *
[212]Zweiter Abschnitt.
wirklich Glauben verdiene? Für ihre ausgezeichnete Glaub-
würdigkeit führt man gewöhnlich die Übereinstimmung
sämmtlicher 4 Evangelisten in derselben an: aber diese
Übereinstimmung ist so vollständig nicht. Zwar die Dif-
ferenzen, welche zwischen Matthäus und Lukas, und wie-
der zwischen diesen beiden und dem auch hier ausmalen-
den Markus stattfinden, ferner zwischen sämmtlichen Syn-
optikern und Johannes darin, daſs jene den Vorgang
schlechtweg an einen τόπος ἔρημος, dieser ihn auf ein ὄρος
versezt, und daſs den Synoptikern zufolge die Handlung
durch eine Anrede der Jünger, nach Johannes durch ei-
ne Frage Jesu eröffnet ist (zwei Züge, worin, wie bereits
bemerkt, die johanneische Erzählung sich dem Bericht des
Matthäus und Markus von der zweiten Speisung nähert),
endlich noch die Differenz, daſs die Reden, welche die
drei ersten Evangelisten unbestimmt τοῖς μαϑηταῖς in den
Mund legen, der vierte in seiner individualisirenden Wei-
se namentlich dem Philippus und Andreas leiht, welcher
leztere auch als Träger der Brote und Fische bestimmt ein
παιδάριον angiebt, — diese Abweichungen können wir als
minder wesentlich übergehen, um nur an Eine uns zu hal-
ten, welche tiefer eingreift. Während nämlich nach den
synoptischen Berichten Jesus die Volksmenge zuerst lange
belehrt und ihre Kranken geheilt hatte, und erst durch
den einbrechenden Abend und die bemerkte Verspätung
veranlaſst wurde, sie noch zu speisen: ist bei Johannes,
sobald er nur die Augen aufhebt und das Volk heranzie-
hen sieht, Jesu erster Gedanke der, welchen er in der
Frage an den Philippus ausspricht: woher Brot nehmen,
um diese zu speisen? oder, da er dieſs nur πειράζων frag-
te, wohlwissend, τί ἤμελλε ποιεῖν, der Vorsaz, hier eine
wunderbare Speisung zu veranstalten. Wie konnte denn
aber Jesu bei'm ersten Herannahen des Volks sogleich die
Aufgabe entstehen, ihm zu essen zu geben? Deſshalb
kam es ja gar nicht zu ihm, sondern um seiner Lehre und
[213]Neuntes Kapitel. §. 98.
Heilkraft willen. Er muſste sich also ganz aus eigenem
Antrieb jene Aufgabe stellen, um seine Wundermacht in
einer recht ausgezeichneten Probe zu beweisen. Aber that
er auch je sonst ein Wunder so ohne Noth und selbst oh-
ne Veranlassung, ganz eigenwillig, nur um ein Wunder zu
verrichten? Ich weiſs es nicht stark genug auszusprechen,
wie unmöglich hier das Essen Jesu erster Gedanke sein,
wie unmöglich er dem Volk sein Speisungswunder in die-
ser Weise aufdringen konnte. Hier geht also die synopti-
sche Darstellung, in welcher das Wunder doch einen An-
laſs hat, der des vierten Evangelisten bedeutend vor, wel-
cher, zum Wunder eilend, die nöthige Motivirung dessel-
ben überspringt, und Jesum die Gelegenheit zu demselben
machen, nicht abwarten läſst. So konnte ein Augenzeuge
nicht erzählen, und wenn somit der Bericht desjenigen
Evangeliums, welchem man jezt die gröſste Auktorität ein-
räumt, als unhistorisch bei Seite gestellt werden muſs:
so sind bei den übrigen die oben beregten Schwierigkei-
ten der Thatsache hinreichende Gründe, ihre historische
Zuverlässigkeit zu bezweifeln, besonders wenn sich neben
diesen negativen auch positive Gründe auffinden lassen,
welche eine unhistorische Entstehung unsrer Erzählung
denkbar machen.
Solche Veranlassungen finden sich wirklich sowohl
innerhalb der evangelischen Berichte selbst, als ausserhalb
ihrer in der A. T. lichen Geschichte und dem jüdischen
Volksglauben. In ersterer Beziehung ist es bemerkenswerth,
daſs sowohl bei den Synoptikern als bei Johannes an die
durch Jesum vollzogene Speisung mit eigentlichem Brote
mehr oder minder unmittelbar Reden Jesu von Brot und
Brotmasse in uneigentlichem Sinne angehängt sind, näm-
lich hier die Aussprüche vom wahren Himmels- und Le-
bensbrot, das Jesus gebe (Joh. 6, 27 ff.), dort die vom fal-
schen Sauerteig der Pharisäer und Sadducäer, nämlich ih-
rer falschen Lehre und Heuchelei (Matth. 16, 5 ff. Marc.
[214]Zweiter Abschnitt.
8, 14 ff. vgl. Luc. 12, 1.), und beiderseits wird diese bild-
liche Rede Jesu' irrig von eigentlichem Brot verstanden.
Hienach läge die Vermuthung nicht allzufern, wie in den
angeführten Stellen das Volk und die Jünger, so habe auch
die erste christliche Überlieferung das von Jesu uneigent-
lich Gemeinte eigentlich gefaſst, und wenn er sich etwa
in bildlicher Rede bisweilen als denjenigen dargestellt hat-
te, welcher dem verirrten und hungernden Volke das wah-
re Lebensbrot, die beste Zukost, zu reichen vermöge, wo-
mit er vielleicht den Sauerteig der Pharisäer in Gegensaz
stellte: so habe dieſs in der Sage, ihrer realistischen Rich-
tung gemäſs, die Wendung genommen, als ob Jesus wirk-
lich einmal in der Wüste hungernde Volksmassen wunder-
bar gespeist hätte. Wenn das vierte Evangelium die Re-
den vom Himmelsbrot als veranlaſst durch die Speisung
hinstellt, so könnte das Verhältniſs leicht umgekehrt dieſs
gewesen sein, daſs die Entstehung dieser Geschichte durch
jene Rede veranlaſst war, zumal auch der Eingang der jo-
hanneischen Erzählung mit seinem: πόϑεν ἀγοράσομεν ἄρ—
τους, ἵνα φάγωσιν οὖτοι; sich gleich bei'm ersten Anblick
des Volks in Jesu Munde eher denken läſst, wenn er da-
mit auf eine Speisung durch das Wort Gottes (vgl. Joh.
4, 32 ff.), auf eine Stillung des geistigen Hungers (Matth.
5, 6.) anspielte, um das höhere Verständniſs seiner Jün-
ger zu üben (πειο ίζων), als wenn er wirklich an leibliche
Sättigung gedacht, und seine Jünger nur in der Hinsicht
auf die Probe gestellt haben soll, ob sie sich dabei auf
seine Wunderkraft verlassen würden. Weniger ladet zu
einer solchen Ansicht die Erzählung der Synoptiker ein:
durch die bildlichen Reden vom Sauerteig für sich konnte
die Entstehung der Speisungsgeschichte nicht veranlaſst
werden, und da so nit das johanneische Evangelium in Be-
zng auf jenen Schein eigentlich allein steht, so ist es dem
Charakter desselben doch angemessener, zu vermuthen, daſs
es die traditionell überkommene Wundererzählung zu bild-
[215]Neuntes Kapitel. §. 98.
lichen Reden im alexandrinischen Geschmacke verwendet,
als daſs es uns die ursprünglichen Reden aufbewahrt ha-
be, aus welchen die Sage jene Wundergeschichte gespon-
nen hätte.
Sind nun vollends die ausserhalb des N. T.s liegen-
den möglichen Veranlassungen zur Entstehung der Spei-
sungsgeschichte sehr stark: so werden wir den aufgenom-
menen Versuch, dieselbe aus N. T.lichen Stoffen zu con-
struiren, wieder fallen lassen müssen. Und hier erinnert
uns gleich der vierte Evangelist durch die dem Volke in
den Mund gelegte Erwähnung des Manna, jenes Himmels-
brots, welches Moses in der Wüste den Vorfahren zu es-
sen gegeben habe (V. 31.), an einen der berühmtesten Zü-
ge der israëlitischen Urgeschichte (2 Mos. 16.), welcher
sich ganz dazu eignete, daſs in der messianischen Zeit ein
Nachbild desselben erwartet wurde, wie wir denn wirk-
lich aus rabbinischen Schriften wissen, daſs unter denjeni-
gen Zügen, welche vom ersten Goël auf den zweiten über-
getragen wurden, das Verleihen von Himmelsbrot eine
Hauptstelle einnahm 13). Und wenn das mosaische Manna
sich dazu hergiebt, als Vorbild des von Jesu auf wunder-
bare Weise vermehrten Brotes angesehen zu werden: so
könnten die Fische, welche Jesus ebenso wunderbar ver-
mehrte, daran erinnern, wie auch durch Moses nicht nur
in dem Manna ein Brotsurrogat, sondern auch in den
Wachteln eine Fleischspeise dem Volk zu Theil geworden
war (2 Mos. 16, 8. 12. 13. 4 Mos. 11, 4—Ende). Ver-
gleicht man diese mosaischen Erzählungen mit unsrer evan-
gelischen, so findet sich auch in den einzelnen Zügen ei-
ne auffallende Ähnlichkeit. Das Lokal ist beidemale die
Wüste; die Veranlassung des Wunders hier wie dort die
Besorgniſs, das Volk möchte in der Wüste Mangel leiden,
oder gar durch Hunger zu Grunde gehen: in der A. T.-
[216]Zweiter Abschnitt.
lichen Geschichte die vorlaute, mit Murren verbundene des
Volks, in der N. T.lichen die kurzsichtige der Jünger und
die menschenfreundliche Jesu. Steht hierauf mit der An-
weisung des lezteren an die Jünger, sie sollen dem Volk
zu essen geben, in welcher schon sein Vorhaben einer
wunderbaren Speisung liegt, die Zusage parallel, welche
Jehova dem Moses gab, das Volk mit Manna (2 Mos. 16,
4.) und mit Wachteln (2 Mos. 16, 12. 4 Mos. 11, 18—20)
zu speisen: so ist ganz besonders sprechend die Ähnlich-
lichkeit des Zuges der evangelischen Erzählung, daſs die
Jünger es als Unmöglichkeit ansehen, für eine so groſse
Volksmasse in der Wüste Nahrungsmittel herbeizuschaffen,
mit dem, was der A. T.liche Bericht den Moses gegen
die Verheiſsung Jehova's, das Volk mit Fleisch zu sätti-
gen, zweifelnd einwenden läſst (4 Mos. 11, 21 f.). Wie
nämlich die Jünger, so findet auch Moses die Menge des
Volks zu groſs, als daſs er für möglich halten könnte, es
hinreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen; wie jene
fragen, woher in der Wüste so viele Brote nehmen? so fragt
Moses ironisch, ob sie denn Schafe und Rinder (was sie
nicht hatten) schlachten sollen? und wie die Jünger ein-
wenden, daſs nicht einmal durch die erschöpfendste Aus-
gabe von ihrer Seite dem Bedürfniſs gründlich abgeholfen
werden könnte: so hatte Moses in einer andern Wendung
erklärt, um das Volk so, wie Jehova verhieſs, sättigen zu
können, müſste das Unmögliche geschehen (die Fische aus
dem Meer herbeikommen), — Einwendungen, auf welche
dort Jehova, wie hier Jesus, nicht achtet, sondern das
Volk zur Empfangnahme der wunderbaren Speise sich rü-
sten heiſst.
So analog übrigens der Hergang der ausserordentlichen
Speisung auf beiden Seiten ist, so findet sich doch der we-
sentliche Unterschied, daſs im A. T. beidemale, bei dem
Manna wie bei den Wachteln, von wunderbarer Beischaf-
fung zuvor nicht vorhandener Speise, im neuen aber von
[217]Neuntes Kapitel. §. 98.
wunderbarer Vermehrung eines schon vorhandenen, aber
unzureichenden Vorraths die Rede ist, so daſs die Kluft
zwischen der mosaischen Erzählung und der evangelischen
zu groſs wäre, um diese unmittelbar aus jener ableiten zu
können. Sehen wir uns hier nach einem Mittelglied um,
so trifft es sich ganz sachgemäſs, daſs zwischen Moses und
den Messias auch in diesem Stück die Propheten eintreten.
Von Elias ist es bekannt, wie durch ihn und um seinet-
willen der geringe Vorrath an Mehl und Öl, den er bei
der Wittwe zu Zarpath fand, wunderbar vermehrt, oder
näher während der ganzen Dauer einer Hungersnoth zu-
reichend erhalten wurde (1 Kön. 17, 8—16.). Noch wei-
ter, und mehr zur Ähnlichkeit mit der evangelischen Er-
zählung entwickelt findet sich diese Wundergeschichte bei
Elisa (2. Kön. 4, 42 ff.). Dieser will, wie Jesus in der
Wüste mit 5 Broten und 2 Fischen 5000, so während ei-
ner Hungersnoth mit 20 Broten (welche, wie die von Jesu
vertheilten bei Johannes, als Gerstenbrote bezeichnet wer-
den) nebst etwas zerriebenem Getreide (כַּרְמֶל, LXX: πα-
λάϑας) 100 Menschen speisen, ein Miſsverhältniſs zwischen
Vorrath und Mannschaft, welches sein Diener, wie dort
Jesu Jünger, in der Frage ausdrückt, was denn für 100
Mann dieſs Wenige solle 14)? Elisa wie Jesus läſst sich
dadurch nicht irren, sondern befiehlt dem Diener, das
Vorhandene dem Volk zu essen zu geben, und wie in der
evangelischen Erzählung das Sammeln der übriggebliebenen
Brocken, so wird auch in der A. T.lichen am Schlusse
das besonders hervorgehoben, daſs unerachtet von dem Vor-
rath so Viele gegessen hatten, doch noch Überschuſs sich
[218]Zweiter Abschnitt.
herausgestellt habe 15). Die einzige Differenz ist hier ei-
gentlich noch die geringere Zahl der Brote und die gröſsere
des gesättigten Volks auf Seiten der evangelischen Erzäh-
lung; allein wer weiſs nicht, daſs überhaupt die Sage nicht
leicht nachbildet, ohne zugleich zu überbieten, und wer
sieht nicht, daſs es insbesondre der Stellung des Messias
völlig angemessen war, seine Wunderkraft zu der eines
Elisa, was das Bedürfniſs natürlicher Mittel betrifft, in
das Verhältniſs von 5 zu 20, was aber die übernatürliche
Leistung, in das von 5000 zu 100 zu setzen? Paulus frei-
lich, um die Folgerung abzuschneiden, daſs, wie die bei-
den A. T.lichen, so auch die ihnen so auffallend ähnliche
evangelische Erzählung mythisch zu fassen sei, dehnt auch
auf jene den Versuch einer natürlichen Erklärung aus, den
er an dieser durchgeführt, und läſst den Ölkrug der Witt-
we durch Beiträge der Prophetenschüler voll erhalten wer-
den, die 20 Brote aber für 100 Mann vermöge einer lo-
benswerthen Mäſsigkeit derselben zureichen 16), eine Er-
klärung, welche in dem Maaſse noch weniger verführe-
risch ist, als die entsprechende der N. T.lichen Erzählung,
in welchem bei jener vermöge ihrer gröſseren Zeitentfer-
nung weniger kritische (und vermöge ihres nur mittelba-
ren Verhältnisses zum Christenthum auch weniger dogma-
tische) Beweggründe vorhanden sind, an ihrer historischen
Richtigkeit festzuhalten.
Diese mythische Deduktion der Speisungsgeschichte
vollständig zu machen, fehlt nichts mehr, als die Nach-
weisung, daſs auch die späteren Juden noch von besonders
heiligen Männern glaubten, es werde durch ihren Einfluſs
[219]Neuntes Kapitel. §. 99.
geringer Speisevorrath zureichend gemacht, — und auch
mit solchen Notizen hat uns der uneigennützige Sammler-
fleiſs von Dr. Paulus beschenkt, wie namentlich, daſs zur
Zeit eines besonders heiligen Mannes die wenigen Schau-
brote zur Sättigung der Priester bis zum Überfluſs zuge-
reicht haben 17). Consequenterweise sollte der genannte
Ausleger auch diese Erzählung natürlich, etwa gleichfalls
durch die Mäſsigkeit jener Priester, zu erklären suchen:
doch die Geschichte steht ja nicht im Kanon, daher kann
er sie unbedenklich für ein Mährchen halten, und räumt
ihrer auffallenden Ähnlichkeit mit der evangelischen nur
so viel ein, daſs vermöge des durch jene rabbinische No-
tiz dokumentirten Glaubens der Juden an dergleichen Spei-
severmehrungen auch die N. T.liche Erzählung von judai-
sirenden Christen frühzeitig in gleichem (wunderhaftem)
Sinne habe aufgefaſst werden können. Allein laut unsrer
Untersuchung ist der evangelische Bericht in diesem Sinne
schon abgefaſst, und lag dieser Sinn im Geist der jüdischen
Volkssage, so ist die evangelische Erzählung ohne Zweifel
ein Produkt derselben.
§. 99.
Jesus verwandelt Wasser in Wein.
An die Speisungsgeschichte läſst sich die Erzählung
des vierten Evangeliums (2, 1 ff.) anreihen, daſs Jesus
bei einer Hochzeit zu Kana in Galiläa Wasser in Wein
verwandelt habe. Nach Olshausen sollen beide Wunder
unter dieselbe Kategorie zusammenfallen, indem beidemale
ein Substrat vorhanden sei, dessen Substanz modificirt
[220]Zweiter Abschnitt.
werde 1). Allein hiebei ist der logische Unterschied über-
sehen, daſs in der Speisungsgeschichte die Modification des
Substrats eine bloſs quantitative, eine Vermehrung des be-
reits in dieser Eigenschaft Vorhandenen, ist (Brot wird
nur mehr Brot, aber bleibt Brot): wogegen bei der
Hochzeit zu Kana das Substrat qualitativ modificirt, aus
etwas nicht bloſs mehr dergleichen, sondern ein Anderes
(aus Wasser Wein) wird, somit eine eigentliche Trans-
substantiation vor sich geht. Zwar giebt es qualitative Ver-
änderungen, welche naturgemäſs erfolgen, und deren plöz-
liche Hervorbringung von Seiten Jesu noch leichter denk-
bar wäre, als eine ebenso schnelle Vermehrung des Quan-
tums, wie z. B. wenn er plözlich Most zu Wein, oder
Wein zu Essig gemacht haben würde: denn dieſs wäre
nur ein beschleunigtes Hindurchführen desselben vegetabi-
lischen Substrats, des Traubensafts, durch verschiedene
ihm natürliche Zuständlichkeiten; wogegen es schon wun-
derbarer wäre, wenn Jesus dem Saft einer andern Pflan-
zenfrucht, z. B. des Apfels, die Qualität des Traubensafts
ertheilt hätte, ob er gleich hiebei doch immer noch inner-
halb der Grenzen desselben Naturreichs stehen geblieben
wäre. Hier nun aber, wo Wasser in Wein verwandelt
wird, ist von einem Naturreich in das andere, vom Ele-
mentarischen in das Vegetabilische übergesprungen, ein
Wunder, welches so weit über dem Speisungswunder steht,
als wenn Jesus dem Rath des Versuchers Gehör gegeben,
und aus Steinen Brot gemacht hätte.
Auch auf diese, wie auf die vorige Wundererzählung
wendet Olshausen, nach Augustin 2), die Kategorie eines
beschleunigten Naturprocesses an, so daſs hier nichts An-
dres geschehen sein soll, als in accelerirter Weise dassel-
[221]Neuntes Kapitel. §. 99.
be, was in langsamer Entwickelung sich jährlich am Wein-
stock darstelle. Diese Betrachtungsweise wäre in dem Fall
gegründet, wenn das Substrat, auf welches Jesus ein-
wirkte, dasselbe gewesen wäre, aus welchem naturgemäſs
der Wein hervorzugehen pflegt: hätte er eine Weinrebe
zur Hand genommen, und diese plözlich zum Blühen und
Tragen reifer Trauben gebracht, so lieſse sich dieſs ein
beschleunigter Naturproceſs nennen. Auch so übrigens hät-
ten wir noch keinen Wein, und brachte Jesus aus der zur
Hand genommenen Rebe sogleich auch diesen hervor, so
muſste er noch ein unsichtbares Surrogat des Kelterns, also
einen beschleunigten Kunstproceſs hinzufügen, so daſs auch
so schon die Kategorie des beschleunigten Naturprocesses
unzureichend würde. Doch wir haben ja keine Rebe als
Substrat dieser Weinproduktion, sondern Wasser, und
hiebei könnte von einem beschleunigten Naturproceſs nur
dann mit Fug gesprochen werden, wenn jemals aus Was-
ser, sei es auch noch so allmählig, Wein entstände. Hier
wird nun der Sache die Wendung gegeben, daſs allerdings
aus Wasser, aus der durch Regen u. dgl. in die Erde ge-
brachten Feuchtigkeit, die Rebe ihren Saft ziehe, den sie
sofort zur Produktion der Traube und des in ihr enthal-
tenen Weines verwende, so daſs folglich allerdings jähr-
lich vermöge eines natürlichen Processes aus Wasser Wein
entstehe 3). Allein abgesehen davon, daſs das Wasser nur
Eine der elementarischen Potenzen ist, welche die Rebe
zu ihrer Fruchtbarkeit nöthig hat, und daſs zu demselben
noch Erde, Luft und Licht hinzukommen müssen: so könnte
doch weder von einer, noch von allen diesen elementari-
schen Potenzen zusammen gesagt werden, daſs sie die
[222]Zweiter Abschnitt.
Traube oder den Wein hervorbringen, daſs also Jesus,
wenn er aus Wasser Wein hervorbrachte, dasselbe, nur
schneller, gethan habe, was sich in allmähligem Processe
jährlich wiederhole, sondern auch hier wieder sind we-
sentlich verschiedene logische Kategorieen verwechselt.
Wir mögen nämlich das Verhältniſs des Produkts zum Pro-
ducirenden, von welchem es sich hier handelt, unter die
Kategorie von Kraft und Äusserung, oder von Ursache und
Wirkung stellen: niemals wird gesagt werden können, daſs
das Wasser die Kraft oder die Ursache sei, welche Trau-
ben und Wein hervorbringe, sondern die Kraft, welche
deren Entstehung verursacht, ist immer nur die vegetabi-
lische Individualität des Weinstocks, zu welcher sich das
Wasser nebst den übrigen elementarischen Agenzien nur
wie die Solicitation zur Kraft, wie die Veranlassung zur
Ursache verhält. D. h. ohne Einwirkung von Wasser,
Luft u. s. f. kann allerdings die Traube nicht entstehen,
so wenig als ohne die Rebe; aber der Unterschied ist,
daſs in der Rebe die Traube an sich oder dem Keime nach
bereits vorhanden ist, welchem Wasser u. s. f. nur zur
Entwicklung verhelfen: in diesen elementarischen Wesen
dagegen ist die Traube weder actu noch potentia vorhan-
den, sie können dieselbe auf keine Weise aus sich, son-
dern nur aus einem Andern, der Rebe, entwickeln. Aus
Wasser Wein machen heiſst also nicht, eine Ursache schnel-
ler als auf natürlichem Wege erfolgen würde, zur Wirk-
samkeit bringen, sondern ohne Ursache, aus der bloſsen
Veranlassung, die Wirkung entstehen lassen, oder bestimm-
ter auf das Organische bezogen, ein organisches Produkt
ohne den producirenden Organismus aus dem bloſsen un-
organischen Material, oder vielmehr nur aus Einem Be-
standtheil dieses Materials, hervorrufen: ungefähr wie wenn
Einer aus Erde, ohne Dazwischenkunft der Getreidepflan-
ze, Brot, aus Brot, ohne es vorher durch einen thierischen
Körper assimiliren zu lassen, Fleisch, aus Wein auf eben
[223]Neuntes Kapitel. §. 99.
dieselbe Weise Blut gemacht haben sollte. Will man sich
daher nicht bloſs auf das Unbegreifliche eines Allmachts-
worts Jesu berufen, sondern mit Olshausen den Proceſs,
der in dem fraglichen Wunder enthalten sein müſste, nach
Art eines Naturprocesses sich näher bringen: so muſs man
nur nicht, um die Sache scheinbarer zu machen, einen
Theil der dazu gehörigen Momente verschweigen, sondern
alle hervorstellen, welche dann folgende gewesen sein müſs-
ten: 1) Zu dem elementarischen agens des Wassers müſste
Jesus die Kraft der übrigen oben genannten Elemente ge-
fügt, dann aber 2) was die Hauptsache ist, die organische
Individualität der Rebe ebenso unsichtbar herbeigeschafft
haben; 3) hätte er nun den natürlichen Proceſs dieser Ge-
genstände mit einander, das Blühen und Fruchttragen der
Rebe sammt dem Reifen der Traube bis zum Augenblick-
lichen beschleunigt; 4) hierauf den Kunstproceſs des Pres-
sens u. s. f. unsichtbar und plözlich geschehen lassen, und
endlich 5) den weiteren Naturproceſs der Gährung wieder
bis zum Augenblicklichen beschleunigen müssen. Auch hier
demnach ist die Bezeichnung des wunderbaren Vorgangs
als beschleunigten Naturprocesses nur von zwei Momenten
unter fünfen hergenommen, während deren drei unter die-
sen Gesichtspunkt sich gar nicht bringen lassen, von wel-
chen doch die beiden ersten, namentlich das zweite, von
einem Belange sind, der selbst den bei der Speisungsge-
schichte von dieser Vorstellungsweise vernachlässigten Mo-
menten nicht zukam: so daſs also von einem beschleunig-
ten Naturproceſs hier so wenig wie dort die Rede sein
kann 4). Da aber allerdings diese Kategorie die einzige
[224]Zweiter Abschnitt.
oder äusserste ist, unter welcher wir dergleichen Vorgän-
ge unserem Vorstellen und Begreifen näher bringen kön-
nen: so ist mit der Unanwendbarkeit jener Kategorie auch
die Undenkbarkeit des Vorgangs dargethan.
Doch nicht allein in Bezug auf die Möglichkeit, son-
dern auch auf die Zweckmäſsigkeit und Schicklichkeit ist
das vorliegende Wunder in Anspruch genommen worden.
Zwar der in älteren 5) und neueren 6) Zeiten gemachte
Vorwurf, daſs es Jesu unwürdig sei, sich nicht allein in
Gesellschaft von Trunkenen betreten zu lassen, sondern
ihrer Trunkenheit durch seine Wunderkraft noch Vorschub
zu thun, ist als übertrieben abzuweisen, indem, wie die
Erklärer mit Recht bemerken, aus dem ὅταν μεϑυσϑῶσι
(V. 10.), welches der ἀρχιτρίκλινος in Bezug auf den ge-
wöhnlichen Hergang bei dergleichen Mahlen bemerkt, für
den damaligen Fall nichts mit Sicherheit gefolgert werden
kann. So viel jedoch bleibt immer, was nicht allein Pau-
lus und die Probabilien 7) bemerklich machen, sondern
auch Lücke und Olshausen als eine bei'm ersten Anblick
sich aufdringende Bedenklichkeit zugestehen, daſs nämlich
Jesus durch dieses Wunder nicht, wie er sonst pflegte,
irgend einer Noth, einem wirklichen Bedürfniſs abhalf,
sondern nur einen weiteren Reiz der Lust herbeischaffte;
nicht sowohl hülfreich, als vielmehr gefällig sich erwies;
mehr nur so zu sagen ein Luxuswunder, als ein wirklich
wohlthätiges verrichtete. Sagt man hier, es sei ein hinrei-
chender Zweck des Wunders gewesen, den Glauben der
Jünger zu befestigen 8), was nach V. 11. auch wirklich
die Folge war: so muſs man sich erinnern, daſs bei den
übrigen Wundern Jesu in der Regel nicht allein das For-
[225]Neuntes Kapitel. §. 99.
male derselben, d. h. daſs sie ausserordentliche Erfolge
waren, etwas Wünschenswerthes, nämlich den Glauben
der Anwesenden, zur Folge hatte, sondern auch ihrem
Materialen, d. h. daſs sie in Heilungen, Speisungen u. dgl.
bestanden, eine wohlthätige Absicht zum Grunde lag. Bei
dem gegenwärtigen Wunder fehlt diese Seite, und Paulus
hat so Unrecht nicht, wenn er auf den Widerspruch auf-
merksam macht, welcher darin liege, daſs Jesus zwar dem
Versucher gegenüber jede Aufforderung zu solchen Wun-
dern, die, ohne materiell wohlthätig, und durch ein drin-
gendes Bedürfniſs gefordert zu sein, nur formell etwa Glau-
ben und Bewunderung wirken könnten, abgewiesen, und
nun doch ein solches Wunder gethan haben sollte 9).
Man war daher supranaturalistischerseits auf die Wen-
dung angewiesen, nicht Glauben überhaupt, welcher eben-
so gut oder noch besser durch eine auch materiell wohl-
thätige Wunderhandlung zu bewirken war, sondern eine
ganz specielle, eben nur durch dieses Wunder zu bewir-
kende Überzeugung habe Jesus durch dasselbe hervorbrin-
gen wollen. Und hier lag nun nichts näher, als durch den
Gegensaz von Wasser und Wein, um welchen sich das
Wunder dreht, an den Gegensaz zwischen dem βαπτίζων
ἐν ὕδατι (Matth. 3, 11.), der zugleich ein οἶ νον μὴ πίνων
war (Luc. 1, 15. Matth. 11, 18.), und demjenigen, wel-
cher, wie er mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufte,
so auch die feurige, geistreiche Frucht des Weinstocks
sich nicht versagte, und daher οἰνοπότης gescholten ward
(Matth. 11, 19.), erinnert zu werden, um so mehr, da das
vierte Evangelium, welches die Erzählung von der Hoch-
zeit zu Kana enthält, in seinen ersten Abschnitten beson-
ders die Tendenz zeigt, vom Täufer zu Jesu herüberzufüh-
ren. Daher haben denn Herder10) und nach ihm einige
Das Leben Jesu II. Band. 15
[226]Zweiter Abschnitt.
Andere 11) angenommen, Jesus habe durch jenes Vorneh-
men seinen Jüngern, von welchen mehrere vorher Schü-
ler des Täufers gewesen waren, das Verhältniſs seines
Geistes und Amtes zu dem des Johannes versinnlichen,
und den Anstoſs, welchen sie etwa an seiner liberaleren
Lebensweise nehmen mochten, durch das Wunder nieder-
schlagen wollen. Allein hier tritt nun dasjenige ein, was
gleichfalls selbst Freunde dieser Auslegung als auffallend her-
vorheben 12), daſs Jesus das sinnbildliche Wunder nicht be-
nüzt, um durch erläuternde Reden seine Jünger über sein
Verhältniſs zum Täufer aufzuklären. Wie nöthig eine sol-
che Auslegung war, wenn das Wunder nicht seinen spe-
ciellen Zweck verfehlen sollte, erhellt sogleich daraus, daſs
der Referent nach V. 11. dasselbe gar nicht in diesem
Sinn, als Veranschaulichung einer besondern Maxime Je-
su, sondern ganz allgemein, als φανέρωσις seiner δόξα, ver-
standen hat 13). War also doch jene specielle Verständi-
gung Jesu Zweck bei dem vorliegenden Wunder, so hat
ihn der Verfasser des vierten Evangeliums, d. h. nach der
Voraussetzung jener Erklärer sein empfänglichster Schüler,
miſsverstanden, und Jesus, diesem Miſsverständniſs vorzu-
beugen, auf unzweckmäſsige Weise versäumt; oder, wenn
man dieses Beides nicht annehmen will, so bleibt es dabei,
daſs Jesus den allgemeinen Zweck, seine Wunderkraft zu
zeigen, gegen seine sonstige Weise durch eine Handlung
zu erreichen gesucht hätte, an deren Stelle er eine nüzli-
chere scheint haben setzen zu können.
Auch das unverhältniſsmäſsige Quantum Weins, wel-
ches Jesus den Gästen gewährt, muſs in Erstaunen setzen.
[227]Neuntes Kapitel. §. 99.
6 Krüge, jeder 2 bis 3 μετρητὰς fassend, gäben, wenn der
dem hebräischen Bath entsprechende attische μετρητὴς,
zu 1½ römischen amphoris oder 21 Würtembergischen
Maaſsen, verstanden ist, 252—378 Maaſs 14). Welches Quan
tum für eine Gesellschaft, die bereits ziemlich getrunken
hatte! Welche ungeheuren Krüge! ruft auch Dr. Paulus
aus, und wendet nun Alles an, um die Maaſsangabe des Tex-
tes zu verkleinern. Auf die sprachwidrigste Weise giebt
er dem ἀνὰ statt seiner distributiven eine zusammenfassen-
de Bedeutung, so daſs die 6 Hydrien nicht jede, sondern
zusammen 2 bis 3 Metreten enthalten haben sollen, und
auch Olshausen getröstet sich nach Semler dessen, daſs
ja nirgends bemerkt sei, das Wasser aller Krüge sei in Wein
verwandelt worden. Allein das sind Ausflüchte: wem die
Herbeischaffung eines so verschwenderisch und gefährlich
groſsen Quantums von Seiten Jesu unglaublich ist, der muſs
daraus auf einen unhistorischen Charakter der ganzen Er-
zählung schlieſsen.
Eigenthümliche Schwierigkeit macht bei dieser Er-
zählung auch das Verhältniſs, in welches sie Jesum zu sei-
ner Mutter und diese zu ihm sezt. Nach des Evangelisten
ausdrücklicher Angabe war dieses Wunder die ἀρχὴ τῶν
σημείων Jesu: und doch zählt seine Mutter so bestimmt
darauf, er werde hier ein Wunder thun, daſs sie ihm den
eingetretenen Weinmangel nur anzeigen zu dürfen glaubt,
um ihn zu übernatürlicher Abhülfe zu bewegen, und selbst
als sie eine abweisende Antwort erhält, verliert sie diese
Hoffnung so wenig, daſs sie den Dienern Anweisung giebt,
der Winke ihres Sohnes gewärtig zu sein (V. 3. 5.). Wie
sollen wir diese Erwartung eines Wunders bei Jesu Mut-
ter erklären? sollen wir die johanneische Angabe, die Was-
serverwandlung sei das erste Zeichen Jesu gewesen, nur
15 *
[228]Zweiter Abschnitt.
auf die Zeit seines öffentlichen Lebens beziehen, für seine
Jugend aber die apokryphischen Wunder der Kindheits-
evangelien voraussetzen? oder wenn dieſs schon Chrysosto-
mus mit Recht zu unkritisch gefunden hat 15), sollen wir
lieber vermuthen, Maria habe, vermöge ihrer durch die
Zeichen bei Jesu Geburt bewirkten Überzeugung, daſs er
der Messias sei, auch Wunder von ihm erwartet, und, wie
vielleicht schon bei einigen früheren, so nun auch bei die-
sem Anlaſs, wo die Verlegenheit groſs war, eine Probe je-
ner Kraft von ihm verlangt 16)? Wenn nur jene frühe
Überzeugung der Angehörigen Jesu von seiner Messiani-
tät in etwas wahrscheinlicher, und namentlich die ausseror-
dentlichen Ereignisse der Kindheit, durch welche sie hervor-
gebracht worden sein soll, mehr beglaubigt wären! wozu
noch kommt, daſs, auch den Glauben der Maria an die
Wunderkraft ihres Sohnes vorausgesezt, immer nicht er-
hellt, wie sie unerachtet seiner abweisenden Antwort doch
noch zuversichtlich erwarten konnte, er werde gerade bei
dieser Gelegenheit sein erstes Wunder thun, und bestimmt
zu wissen glauben, er werde es gerade so thun, daſs er
die Diener dazu gebrauchen würde. Dieſs bestimmte Wis-
sen der Maria selbst um die Modalität des zu verrichtenden
Wunders scheint auf eine vorangegangene Eröffnung Je-
su gegen sie zu deuten, und so sezt Olshausen voraus,
Jesus habe seiner Mutter über das Wunder, das er vor-
hatte, einen Wink gegeben gehabt. Wann aber sollte die-
se Eröffnung geschehen sein? schon wie sie zu der Hoch-
zeit giengen? da müſste also Jesus vorausgesehen haben,
daſs es an Wein gebrechen würde, in welchem Falle dann
aber Maria nicht wie von einer unerwarteten Verlegenheit
ihn von dem οἶνον ουκ ἐχουσι in Kenntniſs setzen konnte.
Oder erst nach dieser Anzeige, also in Verbindung mit den
[229]Neuntes Kapitel. §. 99.
Worten: τί ἐμοὶ καὶ σοὶ γύναι; κ. τ. λ.? aber hiemit läſst
sich eine so entgegengesezte Eröffnung gar nicht in Ver-
bindung denken, man müſste sich denn die abweisenden
Worte laut, die zusagenden aber leise, bloſs für Maria,
gesprochen vorstellen, was eine Komödie veranstalten
hieſse. Begreift man somit auf keine Weise, wie Maria ein
Wunder, und gerade ein solches, erwarten konnte, so
lieſse sich der ersteren Schwierigkeit zwar durch die Annah-
me scheinbar ausweichen, daſs Maria nicht in Erwartung
eines Wunders, sondern nur so, wie sie sich in allen
schwierigen Fällen bei ihrem Sohne Raths erholte, sich
auch in diesem an ihn gewendet habe 17): aber seine
Erwiederung zeigt, daſs er in den Worten seiner Mutter
die Aufforderung zu einem Wunder gefunden hatte, und
die Anweisung, welche Maria den Dienern giebt, bleibt
ohnehin bei dieser Annahme unerklärt.
Die Erwiederung Jesu auf die Anmahnung seiner Mut-
ter (V. 4.) ist ebenso oft auf übertriebene Weise getadelt 18)
als auf ungenügende gerechtfertigt worden. Man mag im-
merhin sagen, das hebräische מַה־לִּי וָלָךְ, dem das τί ἐμοὶ
καὶ σοὶ entspreche, komme z. B. 2. Sam. 16, 10. auch als
gelinder Tadel vor 19), oder sich darauf berufen, daſs mit
dem Amtsantritt Jesu sein Verhältniſs zur Mutter, was die
Wirksamkeit betrifft, sich gelöst habe 20): gewiſs durfte
doch Jesus auf die Gelegenheiten, seine Wundermacht in
Anwendung zu bringen, mit Bescheidenheit aufmerksam
gemacht werden, und so wenig derjenige, welcher ihm ei-
nen Krankheitsfall mit hinzugefügter Bitte um Hülfe an-
zeigte, eine Schmähung verdiente, so wenig und noch we-
niger Maria, wenn sie einen eingetretenen Mangel mit bloſs
[230]Zweiter Abschnitt.
hinzugedachter Bitte um Abhülfe zu seiner Kenntniſs brach-
te. Ein Anderes wäre es gewesen, wenn Jesus den Fall
nicht geeignet, oder gar unwürdig gefunden hätte, ein Wun-
der an denselben zu knüpfen: dann hätte er die auffor-
dernde Anzeige als Reizung zu falscher Wunderthätigkeit
(wie in der Versuchungsgeschichte) hart abweisen mögen;
so hingegen, da er bald darauf durch die That zeigte, daſs
er den Anlaſs allerdings eines Wunders werth finde, ist
schlechterdings nicht einzusehen, wie er der Mutter ihre
Anzeige, die ihm nur vielleicht einige Augenblicke zu frü-
he kam, verdenken konnte 21).
Den zahlreichen Schwierigkeiten der supranaturalisti-
schen Auffassung hat man auch hier durch natürliche Deu-
tung der Geschichte zu entfliehen versucht. Von der Sitte
ausgehend, daſs bei jüdischen Hochzeiten Geschenke an
Wein oder Öl gewöhnlich waren, und davon, daſs Jesus,
der 5 neugeworbene Schüler als ungeladene Gäste mitbrach-
te, einen Mangel an Wein voraussehen konnte, nimmt man
an, des Scherzes wegen habe Jesus sein Geschenk auf un-
erwartete und geheimniſsvolle Weise anbringen wollen. Die
δόξα, welche er durch diese Handlung offenbarte, ist hie-
nach nur seine Humanität, welche gehörigen Ortes auch
einen Spaſs zu machen nicht verschmähte; die πίςις, die
er sich dadurch bei seinen Jüngern zuwege brachte, ist
das freudige Anschlieſsen an einen Mann, welcher nichts
von dem drückenden Ernste zeigte, den man sich vom
Messias prognosticirte. Die Mutter wuſste um den Vor-
saz des Sohnes und mahnt ihn, wie es ihr Zeit schien,
denselben zur Ausführung zu bringen; er aber erinnert
sie scherzend, ihm nicht durch Vorschnelligkeit den Spaſs
zu verderben. Daſs er Wasser einschöpfen lieſs, scheint
zu der scherzhaften Täuschung gehört zu haben, welche
er beabsichtigte; daſs, als auf Einmal Wein statt Was-
[231]Neuntes Kapitel. §. 99.
sers in den Krügen sich fand, dieſs für eine wunderbare
Verwandlung gehalten wurde, ist leicht begreiflich in ei-
ner späten Nachtstunde, wo man schon ziemlich getrunken
hatte; daſs endlich Jesus die Hochzeitleute über den wah-
ren Thatbestand nicht aufklärte, war die natürliche Con-
sequenz, die hervorgebrachte scherzhafte Täuschung nicht
selbst zerstören zu wollen 22). Wie übrigens die Sache
zugegangen, durch welche Veranstaltung Jesus den Wein
an die Stelle des Wassers gebracht, dieſs, meint Paulus,
lasse sich nicht mehr ausmachen; genug, wenn wir wis-
sen, daſs Alles natürlich vor sich gegangen sei. Da aber
nach der Annahme dieses Auslegers der Evangelist sich der
Natürlichkeit des Erfolgs im Allgemeinen bewuſst war,
warum hat er uns keinen Wink darüber gegeben? Wollte
er auch den Lesern die Überraschung bereiten, welche Je-
sus den Zuschauern bereitet hatte, so muſste er sie doch
hinterher auflösen, um die Täuschung nicht bleibend zu
machen. Namentlich durfte er nicht den irreführenden
Ausdruck gebrauchen, daſs Jesus durch diesen Akt τὴν
δόξαν αὑτοῦ (V. 11.), was in der Sprache seines Evangeliums
nur dessen höhere Würde bedeuten kann, geoffenbart ha-
be; er durfte den Vorfall kein σημεῖον nennen, was ein
Übernatürliches involvirt; er durfte endlich nicht durch
den Ausdruck: τὸ ὕδωρ οἶνον γεγενημένον (V. 9.), noch we-
niger unten (4, 46.) durch die Bezeichnung Kana's mit
ὅπου ἐποίησεν ὕδωρ οἶνον, den Schein erregen, als stimmte
er der wunderhaften Auffassung des Vorgangs bei 23). Die-
se Schwierigkeiten suchte der Verfasser der natürlichen
Geschichte durch die Einräumung zu umgehen, daſs der
Referent selbst, Johannes, die Sache für ein Wunder an-
gesehen habe und als solches erzähle. Indeſs, abgesehen
[232]Zweiter Abschnitt.
von der unwürdigen Art, wie er diesen Irrthum des Evan-
gelisten erklärt 24), wäre es von Jesu nicht wohl denkbar,
daſs er auch seine Schüler in der Täuschung der übrigen
Gäste erhalten, und nicht wenigstens ihnen eine Aufklä-
rung über den wirklichen Hergang der Sache gegeben ha-
ben sollte. Man müſste daher annehmen, der Referent die-
ses Vorfalls im vierten Evangelium sei keiner von Jesu
Schülern gewesen, was jedoch über die Sphäre dieser Er-
klärungsweise hinausgeht. Doch auch zugegeben, daſs der
Referent selbst, wer er immer sein möge, in der Täuschung
derer, welche in dem Vorgang ein Wunder sahen, befan-
gen gewesen sei, wobei also seine Darstellungsweise und
die von ihm gebrauchten Ausdrücke begreiflich würden:
so ist Jesu Verfahren und Handlungsweise desto unbegreif-
licher, wenn kein wirkliches Wunder im Spiel war. Warum
richtete er die Darbringung des Geschenks mit raffinirtem
Fleiſse so ein, daſs es als wunderbare Bescheerung er-
scheinen muſste? warum lieſs er namentlich die Gefäſse,
in welche er sofort den Wein zu bringen im Sinne hatte,
vorher mit Wasser voll machen, dessen nothwendige Wie-
derentfernung am unbemerkten Vornehmen der Sache nur
hinderlich sein konnte? wenn man nicht mit Woolston an-
nehmen will, er habe dem Wasser nur durch zugegossene
Liqueure einen Weingeschmack ertheilt. Das Gefühl die-
ser doppelten Schwierigkeit, theils das Hineinbringen des
Weins in die bereits mit Wasser gefüllten Krüge denkbar
zu machen, theils Jesum von dem Verdacht freizusprechen,
als hätte er den Schein einer wunderbaren Verwandlung
des Wassers erregen wollen, mag es gewesen sein, was den
Verfasser der natürlichen Geschichte bewog, den Zusam-
menhang zwischen dem eingefüllten Wasser und dem spä-
ter zum Vorschein gekommenen Wein ganz zu zerreissen
[233]Neuntes Kapitel. §. 99.
durch die Annahme, das Wasser habe Jesus holen lassen,
weil es auch daran fehlte, und er den wohlthätigen Ge-
brauch des Waschens vor und nach der Tafel empfehlen
wollte, den Wein aber habe er hernach aus einer anstos-
senden Kammer, wohin er ihn gestellt hatte, herbeibrin-
gen lassen — eine Auffassung, bei welcher freilich entwe-
der die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des
Referenten als ziemlich bedeutend angenommen werden
müſste, wenn sie den aus der Kammer gebrachten Wein
für einen aus den Wasserkrügen geschöpften angesehen
haben sollen, oder die täuschende Veranstaltung Jesu als
sehr fein angelegt, was mit seiner sonstigen Geradheit sich
nicht verträgt.
In dieser Klemme zwischen der supranaturalen und der
natürlichen Erklärung, von welchen auch hier die eine so
wenig als die andre genügen kann, müſsten wir nun mit
dem neuesten Ausleger des vierten Evangeliums warten,
„bis es Gott gefällt, durch weitere Entwicklungen des be-
sonnenen christlichen Denkens die Lösung dieser Räthsel
zu allgemeiner Befriedigung herbeizuführen 25)“, wenn
uns nicht ein Ausweg schon dadurch angezeigt wäre, daſs
wir die betreffende Geschichte nur bei dem Einen Jo-
hannes finden. War sie, einzig in ihrer Art wie sie ist,
zugleich das erste Zeichen Jesu, so muſste sie, wenn auch
damals noch nicht alle Zwölfe mit Jesu waren, doch die-
sen allen bekannt werden, und wenn auch unter den übri-
gen Evangelisten kein Apostel ist, doch in die allgemeine
Tradition und von da in die synoptischen Aufzeichnungen
übergehen: so, da sie nur Johannes hat, scheint die An-
nahme, daſs sie in einem den Synoptikern unbekannten Sa-
gengebiet erst entstanden, leichter als die andere, daſs sie
aus dem ihrigen so frühzeitig verschwunden sei; es kommt
nur darauf an, ob wir im Stande sind, nachzuweisen, wie
[234]Zweiter Abschnitt.
auch ohne historischen Grund eine solche Sage sich gestal-
ten konnte. Kaiser verweist hiefür auf den abenteuerli-
chen Geist des verwandelnden Orients: aber diese Instanz
ist so unbestimmt, daſs Kaiser allerdings noch die Voraus-
setzung eines wirklich vorgefallenen humanen Scherzes Jesu
nöthig hat 26), womit er in der unglücklichen Mitte zwi-
schen mythischer und natürlicher Erklärung stehen bleibt,
aus welcher man nicht eher herauskommt, als bis man be-
stimmtere, näher liegende mythische Anhalts- und Entste-
hungspunkte für eine Erzählung herbeizuschaffen im Stande
ist. Im gegenwärtigen Falle nun braucht man weder bei'm
Orient überhaupt, noch bei Verwandlungen im Allgemei-
nen stehen zu bleiben, da sich bestimmt Wasserverwand-
lungen im engeren Kreise der hebräischen Urgeschichte
finden. Neben einigen Erzählungen, daſs Moses den Israë-
liten in der Wüste aus dürrem Felsen Wasser verschafft
habe (2. Mos. 17, 1 ff. 4. Mos. 20, 1 ff.), eine Wasser-
bescheerung, welche, nachdem sie in modificirter Weise
sich in der Geschichte Simson's wiederholt hatte (Richt. 15,
18 f.), auch in die messianischen Erwartungen übergetra-
gen wurde 27), ist die erste dem Moses zugeschriebene
Wasserverwandlung jene Umwandlung alles Wassers in
Ägypten in Blut, welche unter den sogenannten zehn Pla-
gen aufgeführt wird (2. Mos. 7, 17 ff.). Neben dieser
mutatio in deterius findet sich aber in der Geschichte des
Moses auch eine am Wasser vollzogene mutatio in melius,
indem er bitteres Wasser nach Jehova's Anweisung süſs
machte (2. Mos. 14, 23 ff.), wie später auch Elisa ein un-
gesundes Wasser gut und unschädlich gemacht haben soll
[235]Neuntes Kapitel. §. 99.
(2. Kön. 2, 19 ff.). Wie, laut der angeführten rabbinischen
Stelle, die Wasserbescheerung, so scheint unsrer johannei-
schen Erzählung zufolge auch die Wasserverwandlung von
Moses und den Propheten auf den Messias übergetragen
worden zu sein, mit denjenigen Modificationen jedoch, wel-
che in der Natur der Sache lagen. Konnte nämlich auf
der einen Seite eine Veränderung des Wassers in's Schlim-
mere, wie jene mosaische Verwandlung desselben in Blut,
konnte ein solches Strafwunder dem milden Geiste des als
Messias erkannten Jesus nicht wohl angemessen gefunden
werden: so konnte andrerseits eine solche Veränderung
in's Bessere, welche, wie die Vertreibung der Bitterkeit
oder Schädlichkeit, innerhalb der species des Wassers ste-
hen blieb, und nicht, wie jene Verwandlung in Blut, die
Substanz des Wassers selbst änderte, für den Messias
ungenügend erscheinen; beides zusammengenommen aber,
eine Veränderung des Wassers in's Bessere, welche zu-
gleich eine specifische Veränderung seiner Substanz wäre,
muſste beinahe von selbst eine Verwandlung in Wein ge-
ben. Diese ist nun von Johannes so erzählt, wie es zwar
nicht der Wirklichkeit, um so mehr aber dem Geist seines
Evangeliums angemessen gefunden werden muſs. Denn
so undenkbar, geschichtlich betrachtet, die Härte Jesu ge-
gen seine Mutter erscheint: so ganz im Geiste des vierten
Evangeliums ist es, seine Erhabenheit als des göttlichen
λόγος durch ein solches Benehmen gegen Bittende (wie
Joh. 4, 48.), und selbst gegen seine Mutter, auf die Spitze
zu stellen 28). Ebenso im Geiste dieses Evangelisten ist
es auch, den festen Glauben, welchen Maria unerachtet
der abweisenden Antwort Jesu behielt, dadurch herauszu-
heben, daſs er sie in einer historisch unmöglichen Ahnung
selbst von der Art und Weise, wie Jesus das Wunder ver-
[236]Zweiter Abschnitt.
richten würde, die oben besprochene Anweisung den Die-
nern geben läſst.
§. 100.
Jesus verwünscht einen unfruchtbaren Feigenbaum.
Die Anekdote von dem Feigenbaum, welchen Jesus,
weil er, hungrig, keine Früchte auf ihm fand, durch sein
Wort verdorren machte, ist den zwei ersten Evangelien
eigenthümlich (Matth. 21, 18 ff. Marc. 11, 12 ff.), wird aber
von ihnen mit Abweichungen erzählt, welche auf die An-
sicht von der Sache von Einfluſs sind. Und zwar schien
die eine dieser Abweichungen des Markus von Matthäus
der natürlichen Erklärung so günstig zu sein, daſs man
namentlich auch mit Rücksicht auf sie dem Evangelisten
neuerlich eine Tendenz zu natürlicher Ansicht von den
Wundern Jesu zugeschrieben, und um dieser einen, günsti-
gen Abweichung willen ihn auch bei der andern, ziemlich
unbequemen, die sich in vorliegender Erzählung findet, in
Schutz genommen hat.
Bliebe es nämlich bei der Art, wie der erste Evange-
list den Erfolg der Verwünschung Jesu angiebt: καὶ ἐξη-
ράνϑη παραχρῆμα ἡ συκῆ (V. 19.), so würde es wohl schwer
halten, hier mit einer natürlichen Erklärung anzukommen,
da auch die gewaltsame Paulus'sche Deutung, nach wel-
cher das παραχρῆμα nur weiteres menschliches Zuthun,
nicht aber eine längere Zeitfrist ausschlieſsen soll, doch
nur auf unbefugtem Herübertragen des Markus in den
Matthäus beruht. Bei Markus nämlich verwünscht Jesus
den Baum am Morgen nach seinem Einzug in Jerusalem,
und erst am folgenden Morgen bemerken die Jünger im Vor-
übergehen, daſs der Baum verdorrt ist. Durch diese Zwi-
schenzeit, welche Markus zwischen der Rede Jesu und
dem Verdorren des Baumes offen läſst, drängt sich nun
die natürliche Erklärung der ganzen Geschichte ein, darauf
fuſsend, daſs in dieser Frist der Baum wohl auch durch na-
[237]Neuntes Kapitel. §. 100.
türliche Ursachen habe verdorren können. Demgemäſs
soll nun Jesus an dem Baume neben dem Mangel an Früch-
ten auch sonst noch eine Beschaffenheit bemerkt haben,
aus welcher er ein baldiges Absterben desselben prognosti-
cirte, und dieses Prognostikon soll er ihm in den Worten:
von dir wird wohl Niemand mehr Früchte zu essen be-
kommen, gestellt haben. Als die Hitze des Tages die Vor-
aussage Jesu unvermuthet schnell verwirklichte, und die
Jünger dieſs am andern Morgen bemerkten, da erst sez-
ten sie diesen Erfolg mit den Worten Jesu vom vorigen
Morgen in Verbindung, und begannen diese als Verwün-
schung aufzufassen; eine Deutung, welche übrigens Jesus
nicht bestätigt, sondern den Jüngern zu Gemüthe führt,
mit nur einigem Selbstvertrauen werden sie nicht bloſs
solche schon physiologisch bemerkbare Erfolge voraussa-
gen, sondern noch viel Schwereres wissen und bewirken
können 1). Allein gesezt auch, die Angabe des Markus
wäre die richtige, so bleibt doch auch so die natürliche Er-
klärung unmöglich. Denn die Worte Jesu bei Markus
(V. 14.): μηκέτι ἐκ σοῦ εἰς τὸν αἰῶνα μηδεὶς καρπὸν φάγοι,
müſsten, wenn sie bloſs eine Vermuthung, was wohl ge-
schehen werde, enthalten sollten, nothwendig ein ἂν bei
sich haben, und in dem μηκέτι ἐκ σοῦκαρπὸς γένηται des
Matthäus ist ohnehin der Befehl nicht zu verkennen, ob-
gleich Paulus auch hier mit einem bloſsen „mag werden“
abkommen möchte. Auch daſs Jesus den Baum selbst an-
redet, so wie das feierliche εἰς τὸν αἰῶνα, welches er hin-
zufügt, spricht gegen eine simple Voraussage und für die
Verwünschung; Paulus fühlt dieſs wohl, und deutet daher
mit unerlaubter Gewaltsamkeit das λέγει αὐτῇ zu einem
Sagen in Beziehung auf den Baum um, während er das
εἰς τὸν αἰῶνα durch die Übersetzung: in die Folgezeit hin,
abschwächt. Doch gesezt auch, die Evangelisten hätten aus
[238]Zweiter Abschnitt.
ihrer irrigen Ansicht von dem Vorgang heraus die Worte
Jesu über den Feigenbaum in etwas verändert, und Jesus
also wirklich dem Baum nur ein Prognostikon gestellt: so
hat er doch, als das Vorausgesagte eingetreten war, den
Erfolg seiner übernatürlichen Einwirkung zugeschrieben.
Denn wenn er das, was er in Bezug auf den Feigenbaum
geleistet, als ein ποιεῖν bezeichnet (V. 21. bei Matth.), so
kann schon dieſs nur gezwungen auf eine bloſse Voraus-
sage bezogen werden; namentlich aber, wenn er es dem
Bergeversetzen gegenüberstellt, so muſs, wie dieses nach
jeder möglichen Deutung doch immer ein Bewirken ist,
ebenso auch jenes als eine Einwirkung auf den Baum ge-
faſst werden; jedenfalls muſste Jesus dem κατηράσω des
Petrus (V. 21. Marc.) entweder widersprechen, oder war
sein Stillschweigen darüber Zustimmung. Schreibt demnach
Jesus das Verdorren des Baums hinterher seiner Einwir-
kung zu, so hat er entweder auch schon durch seine An-
rede an denselben eine Einwirkung beabsichtigt, oder er
hat den zufälligen Erfolg zur Täuschung seiner Jünger ehr-
geizig miſsbraucht, ein Dilemma, in welchem uns die Worte
Jesu, wie sie von den Evangelisten referirt sind, entschie-
den auf die erstere Seite hinweisen.
Unerbittlich also werden wir von diesem natürlichen
Erklärungsversuch auf die supranaturalistische Auffassung
zurückgedrängt, so schwierig diese auch gerade bei vorlie-
gender Geschichte ist. Was sich gegen die physische Mög-
lichkeit einer solchen Einwirkung sagen lieſse, übergehen
wir, nicht zwar, als ob wir mit Hase uns anheischig ma-
chen könnten, sie aus der natürlichen Magie zu begrei-
fen 2), sondern weil eine andere Schwierigkeit die Unter-
suchung schon vorher abschlieſst, und gar nicht bis zur
Erwägung der physischen Möglichkeit kommen läſst. Die-
ser entscheidende Anstoſs betrifft die moralische Möglich-
[239]Neuntes Kapitel. §. 100.
keit einer solchen Handlung von Seiten Jesu. Was er hier
vollzieht, ist ein Strafwunder. Ein solches findet sich sonst
in den kanonischen Berichten über das Leben Jesu nicht:
nur die apokryphischen Evangelien sind, wie oben bemerkt
wurde, voll davon. In einem der kanonischen Evangelien
findet sich vielmehr eine gleichfalls schon öfters angeführ-
te Stelle, Luc. 9, 55 f., welche es als Bewuſstsein Jesu
ausspricht, daſs eine Benützung der Wunderkraft, um Stra-
fe zu üben und Rache zu nehmen, dem Geiste seines Be-
rufs widerspreche, und dasselbe Bewuſstsein spricht der
Evangelist über ihn aus, wenn er das jesaianische: κάλα-
μον συντετριμμένον ουκατεάξει κ. τ. λ. auf ihn anwendet
(Matth. 12, 20). Diesem Grundsaz und seinem sonstigen
Verfahren gemäſs hätte Jesus vielmehr einen dürren Baum
neubeleben, als einen grünen verdorren machen müssen,
und um seine dieſsmalige Handlungsweise zu begreifen,
müſsten wir Gründe nachzuweisen im Stande sein, wel-
che er gehabt haben könnte, von dem dort ausgesprochenen
Grundsaz, welcher keine Zeichen der Unächtheit gegen
sich hat, in diesem Falle abzugehen. Die Gelegenheit,
bei welcher er jenen Grundsaz aufstellte, war die aus An-
laſs der Weigerung eines samarischen Dorfs, Jesum und
seine Jünger gastlich aufzunehmen, an ihn gerichtete Fra-
ge der Zebedaiden, ob sie nicht nach der Weise des Elias
Feuer auf das Dorf herabregnen lassen sollen? worauf sie
Jesus an die Eigenthümlichkeit des Geistes mahnt, dem
sie angehören, mit welcher ein so verderbendes Thun sich
nicht vertrage. In unserem Falle hatte es Jesus nicht wie
dort mit Menschen, die sich unrecht gegen ihn betragen
hatten, sondern mit einem Baume zu thun, den er nicht
in der erwünschten Verfassung traf. Statt daſs nun hierin
ein besonderer Grund läge, von jener Regel abzugehen,
ist vielmehr der Hauptgrund, welcher in jenem ersten Falle
möglicherweise zur Verhängung eines Strafwunders hätte
bewegen können, bei diesem zweiten nicht vorhanden. Der
[240]Zweiter Abschnitt.
moralische Zweck der Strafe nämlich, den Gestraften zur
Einsicht und Anerkenntniſs seines Fehlers zu bringen und
dadurch zu bessern, fällt einem Baume gegenüber völlig
weg, und selbst von Strafe als Vergeltung kann bei einem
unfreien Naturgegenstande nicht die Rede sein 3). Sich
gegen einen leblosen Gegenstand, den man eben nicht im
erwünschten Zustand findet, zu ereifern, wird mit Recht
als Mangel an Bildung ausgelegt; in solcher Entrüstung
bis zur Zerstörung des Gegenstandes fortzugehen, wird
selbst für roh und unwürdig angesehen, und Woolston hat
so Unrecht nicht, wenn er behauptet, an jedem Andern
als an Jesu würde eine solche Handlung streng getadelt
werden 4). Zwar bei wirklich objektiv und habituell feh-
lerhafter Beschaffenheit eines Naturgegenstandes kann es
wohl etwa geschehen, daſs der Mensch ihn aus dem Wege
räumt, um einen bessern an seine Stelle zu setzen, wozu
übrigens immer nur der Eigenthümer die gehörige Auffor-
derung und Befugniſs hat (vgl. Luc. 13, 7.). Daſs aber
dieser Baum, weil er eben damals keine Früchte bot, auch
im folgenden Jahre keine getragen haben würde, verstand
sich keineswegs von selbst, und auch in der Erzählung
wird das Gegentheil angedeutet, wenn Jesus seine Verwün-
schung so ausdrückt, daſs auf dem Baume nie mehr Früch-
te wachsen sollen, was also ohne diesen Fluch voraussez-
lich doch noch geschehen sein würde.
War so die üble Beschaffenheit des Baums keine ha-
bituelle, sondern nur eine vorübergehende, so war sie,
wenn wir dem Markus weiter folgen, nicht einmal eine ob-
jektive, sondern rein subjektiv nur in dem zufälligen Ver-
hältniſs des Baums zu dem augenblicklichen Wunsch und
[241]Neuntes Kapitel. §. 100.
Bedürfniſs Jesu gegründet. Denn nach einem Zusaz, wel-
cher die zweite Eigenthümlichkeit des Markus in dieser
Erzählung bildet, war eben damals nicht Feigenzeit (V. 13.),
es war also kein Fehler, vielmehr ganz in der Ordnung,
daſs auch dieser Baum damals keine hatte, und Jesus, an
den es schon Wunder nehmen muſs, daſs er so zur Un-
zeit Feigen auf dem Baum erwartete, hätte wenigstens, als
er keine fand, sich auf das Ungegründete seiner Erwar-
tung besinnen, und eine so ganz unbillige Handlung, wie
die Verwünschung war, unterlassen sollen. Schon Kirchen-
väter stieſsen sich an diesem Zusaz des Markus, und fan-
den unter Voraussetzung desselben das Verfahren Jesu ganz
besonders räthselhaft 5); Woolston aber spottet nicht mit
Unrecht, wenn ein Kentischer Bauer im Frühjahr Obst in
seinem Garten suchte, und die Bäume umhiebe, welche kei-
nes haben, so würde er von Jedermann ausgelacht wer-
den. Die Ausleger haben durch eine bunte Reihe von Con-
jekturen und Deutungen der Schwierigkeit dieses Zusatzes
zu entgehen gesucht. Von der einen Seite hat man den
Wunsch, daſs doch die schwierigen Worte lieber gar nicht
dastehen möchten, geradezu in die Hypothese verwandelt,
sie mögen wohl spätere Glosse sein 6). Andrerseits, da,
wenn ein Zusaz der Art dastehen sollte, eher die umge-
kehrte Angabe zu wünschen war, daſs damals Feigenzeit
gewesen, um nämlich Jesu Erwartung, und seinen Unwil-
len, als er sie getäuscht sah, begreifen zu können: so hat
man auf verschiedene Weise die Negation aus dem Satze
Das Leben Jesu II. Band. 16
[242]Zweiter Abschnitt.
zu entfernen gesucht, theils ganz gewaltsam, indem man
statt οὐ οὗ las, nach ἦν interpungirte, hinter σύκων ein zwei-
tes ἦν supplirte, und übersezte: ubi enim tum versaba-
tur, tempus ficuum erat7); theils abgeschmackt, durch
Verwandlung des Satzes in einen Fragesaz: nonne enim
etc.8); theils dadurch, daſs das καιρὸς σύκων von der Zeit
der Feigenärnte genommen, und so in dem Zusaz die An-
gabe, die Feigen seien noch nicht weggelesen, d. h. noch
auf den Bäumen gewesen, gefunden wird 9), wofür man
sich auf das καιρὸς τῶν καρπῶν Matth. 21, 34. beruft. Al-
lein wie unter diesem Ausdruck, der eigentlich nur das
antecedens der Ärnte, das Vorhandensein der Früchte auf
Äckern oder Bäumen bezeichnet, wenn er in einem affirma-
tiven Satze steht, das consequens, die mögliche Fruchtein-
sammlung, nur in der Art verstanden sein kann, daſs das
antecedens, das Dasein der Früchte auf dem Felde, mit-
eingeschlossen bleibt, folglich ἔςι καιρὸς καρπῶν nur so viel
bedeuten kann: die (reifen) Früchte stehen auf den Äckern,
und sind demnach zur Einsammlung bereit: ebenso wird,
wenn jener Ausdruck in einem negativen Satze steht, zu-
erst das antecedens, das Befindlichsein der Früchte auf dem
Acker, Baum u. dgl., und erst mittelst dessen das conse-
quens, die Einsammlung der Früchte, aufgehoben; ουκ ἔςι
καιρὸς σύκων heiſst also: die Feigen sind nicht auf den Bäu-
men gegenwärtig, und somit auch nicht zum Einsammeln
bereit, keineswegs aber umgekehrt: sie sind noch nicht
eingesammelt, und stehen also noch auf den Bäumen. Aber
nicht nur diese unerhörte Redefigur, daſs, während der
Form nach das antecedens aufgehoben wird, dem Sinne
nach nur das consequens aufgehoben, das antecedens aber
[243]Neuntes Kapitel. §. 100.
gesezt sein soll, sondern noch eine andere, die man bald
Synchysis, bald Hyperbaton nennt, muſs bei dieser Erklä-
rung angenommen werden. Denn als Angabe, daſs damals
die Feigen noch auf den Bäumen gewesen, giebt der in
Rede stehende Zusaz nicht den Grund, warum Jesus auf
jenem Baume keine fand, sondern, warum er welche er-
wartete, er sollte also nicht hinter ουδὲν εῦρεν κ. τ. λ.,
sondern nach ἦλϑεν, εἰ ἄρα εὑρήσει κ. τ. λ. stehen, eine
Versetzung, welche aber nur beweist, daſs diese ganze
Erklärung gegen den Text läuft. Überzeugt einerseits, daſs
der Zusaz des Markus das Obwalten günstiger Umstände
für das Vorhandensein von Feigen auf jenem Baume ver-
neine, aber andrerseits doch bemüht, Jesu Erwartung zu
rechtfertigen, suchten andre Erklärer jener Verneinung statt
des allgemeinen Sinns, daſs es überhaupt nicht an der Jahrs-
zeit gewesen sei, wovon Jesus nothwendig hätte Notiz ha-
ben müssen, den particulären zu geben, daſs nur besondre
Umstände, welche Jesu nicht nothwendig bekannt sein muſs-
ten, der Fruchtbarkeit des Feigenbaums entgegengestanden
haben. Ein ganz specielles Hinderniſs wäre es gewesen,
wenn etwa der Boden, in welchem der Baum wurzelte,
ein unfruchtbarer gewesen wäre, und wirklich soll nach
Einigen καιρὸς σύκων einen für Feigen günstigen Boden be-
zeichnen 10); Andere, mit mehr Achtung vor der Wortbe-
deutung von καιρὸς, bleiben zwar bei der Erklärung von
günstiger Zeit, nur daſs sie diese nicht universell von ei-
ner stehend und alljährlich der Feigen ermangelnden Jah-
reszeit, sondern nur von einem einzelnen, zufällig den Fei-
gen ungünstigen Jahrgang verstehen 11). Allein καιρὸς ist
zunächst die rechte Zeit im Gegensaz zur Unzeit, nicht eine
günstige gegenüber einer ungünstigen; nun aber kann, wenn
16 *
[244]Zweiter Abschnitt.
einer, auch in einem unfruchtbaren Jahrgang, zu der Zeit,
in welcher sonst die Früchte zu reifen pflegen, solche sucht,
doch nicht gesagt werden, daſs es zur Unzeit sei, viel-
mehr könnte ein Miſsjahr gerade dadurch bezeichnet wer-
den, daſs, ὅτε ἦλϑεν ὁ καιρὸς τῶν καρπῶν, man nirgends
welche gefunden habe. Jedenfalls, wenn der ganze Jahr-
gang die Feigen, eine in Palästina so häufige Frucht, nicht
begünstigte, muſste Jesus dieſs fast ebensogut wissen, als
wenn die unrechte Jahrszeit war: so daſs das Räthsel
bleibt, wie Jesus über eine Beschaffenheit des Baums, wel-
che in Folge ihm bekannter Umstände nicht anders sein
konnte, so ungehalten sein mochte.
Allein erinnern wir uns doch nur, wer es ist, dem
wir jenen Zusaz verdanken. Es ist Markus, welcher in
seinem erläuternden, veranschaulichenden Bestreben so Man-
ches aus seinem Eignen zusezt, und dabei, wie längst an-
erkannt ist, und auch wir auf unsrem Wege schon zur
Genüge gefunden haben, nicht immer auf die überlegteste
Weise zu Werke geht. So hier nimmt er gleich das erste
Auffallende, was ihm begegnet, daſs der Baum keine
Früchte hatte, und ist eilig mit der Erklärung bei der
Hand, es werde die Zeit nicht gewesen sein; merkt aber
nicht, daſs er, indem er physikalisch die Leerheit des Baums
erklärt, dadurch das Verfahren Jesu moralisch unerklär-
lich macht. Auch die oben erwähnte Abweichung von Mat-
thäus in Betreff der Zeit, innerhalb welcher der Baum
verdorrte, ist, weit entfernt, eine gröſsere Urkundlichkeit
des Markus in dieser Erzählung 12), oder eine Neigung
zu natürlicher Erklärung des Wunderbaren zu beweisen,
wieder nur aus demselben veranschaulichenden Bestreben,
wie der zulezt betrachtete Zusaz, hervorgegangen. Das
[245]Neuntes Kapitel. §. 100.
Bild eines auf ein Wort hin plözlich verdorrenden Baums
fällt der Einbildungskraft schwer zu vollziehen: wogegen
es nicht übel dramatisch genannt werden kann, den Pro-
ceſs des Verdorrens hinter die Scene zu verlegen, und erst
von dessen Resultate die später Vorübergehenden Ansicht
nehmen zu lassen. — Mit seiner Behauptung übrigens, es
sei damals, etliche Tage vor Ostern, keine Zeit für Feigen ge-
wesen, hätte, auf die klimatischen Verhältnisse Palästina's
gesehen, Markus insofern recht, als in so früher Jahrszeit
die frisch getriebenen Feigen jenes Jahrgangs noch nicht
reif waren, indem die Frühfeige oder Boccore doch erst
um die Mitte oder gegen Ende Juni's, die eigentliche Fei-
ge, die Kermus, aber gar erst im Augustmonat reif wird.
Dagegen konnte um die Osterzeit noch vom vorigen Herbst
und über den Winter her die dritte Frucht des Feigen-
baums, die späte Kermus, hie und da auf einem Baume
angetroffen werden 13), wie denn nach Josephus ein Theil
von Palästina (das Uferland des galiläischen Sees, freilich
fruchtbarer, als die Gegend um Jerusalem, wo die frag-
liche Geschichte vorgieng) σῦκον δέκα μησὶν ἀδιαλείπτως
χορηγεῖ14).
Doch wenn wir auch auf diese Weise die allerdings
erschwerende Notiz des Markus, daſs der Mangel des
Baums kein wirklicher gewesen, sondern nur Jesu ver-
möge einer irrigen Erwartung so erschienen sei, auf die
Seite gebracht haben: so bleibt uns doch auch nach Mat-
thäus noch das Miſsverhältniſs, daſs Jesus wegen eines
vielleicht bloſs vorübergehenden Mangels einen Naturgegen-
stand zu Grunde gerichtet hätte. Weil ihn hiezu weder
ökonomische Rücksichten, da er nicht Eigenthümer des
Baumes war, noch auch moralische Absichten — auf einen
[246]Zweiter Abschnitt.
bewuſstlosen Naturgegenstand — bewogen haben können,
so hat man den Ausweg ergriffen, als das eigentliche Ob-
jekt, auf welches Jesus hier wirken wollte, die Jünger
zu substituiren, den Baum aber und was Jesus an ihm
that, als bloſses Mittel seiner Absicht auf jene zu betrach-
ten. Dieſs ist die symbolische Auffassung, durch welche
schon die Kirchenväter, und nun auch die meisten ortho-
doxen Theologen unter den Neueren, die Handlungsweise
Jesu von dem Vorwurf des Unpassenden zu befreien ge-
meint haben. Nicht Erboſsung über den Baum, der sei-
nem Hunger keine Stillung bot, war hienach die Stimmung
Jesu bei diesem Akte, sein Zweck nicht schlechtweg die
Vertilgung des unfruchtbaren Gewächses: sondern mit Be-
sonnenheit hat er die Gelegenheit eines früchteleer befun-
denen Baumes dazu benüzt, den Jüngern durch eine sym-
bolische Handlung anschaulicher und unvergeſslicher als
durch Worte die Wahrheit zu machen, die nun entweder
speciell so gefaſst werden kann, daſs das jüdische Volk,
welches beharrlich keine Gott und dem Messias gefälligen
Früchte bringe, zu Grunde gehen werde, oder allgemeiner
so, daſs überhaupt jeder, der von guten Werken so ent-
blöſst sei, wie dieser Baum von Früchten, einem ähnlichen
Strafgerichte entgegenzusehen habe 15). Mit Recht indeſs
fordern andre Ausleger, wenn Jesus mit der Handlung
dieſs bezweckte, so hätte er sich irgendwie darüber erklä-
ren müssen 16); denn war bei seinen Gleichniſsreden eine
Auslegung nöthig, so war sie bei einer Handlung um
so unentbehrlicher, je mehr diese ohne eine derartige Hin-
weisung auf einen ausser ihr liegenden Zweck als Zweck
für sich selbst gefaſst werden muſste. Zwar lieſse sich auch
[247]Neuntes Kapitel. §. 100.
hier, wie sonst, annehmen, Jesus habe wohl zur Verstän-
digung seiner Jünger über das von ihm Vollzogene noch
etwas gesprochen, was jedoch die Referenten, mit dem
Wunderfaktum zufrieden, weggelassen haben. Allein sollte
Jesus eine Deutung seiner Handlung im angegebenen sym-
bolischen Sinne gegeben haben, so hätten die Evangelisten
diese Rede nicht bloſs verschwiegen, sondern eine falsche
an deren Stelle gesezt; denn sie lassen Jesum nach seinem
Vornehmen mit dem Baume nicht schweigen, sondern aus
Anlaſs einer verwundrungsvollen Frage seiner Jünger, wie
es mit dem Baume zugegangen, eine Erläuterung geben,
welche aber nicht jene symbolische, sondern von ihr ver-
schieden, ja ihr entgegengesezt ist. Denn wenn Jesus ih-
nen sagt, sie sollen sich über das Verdorren des Feigen-
baums auf sein Wort hin nicht wundern, mit nur weni-
gem Glauben werden sie noch Gröſseres zu thun im Stande
sein: so legt er das Hauptgewicht auf sein Thun in der
Sache, nicht auf den Zustand und das Leiden des Baums
als Symbole; er hätte also, wenn doch auf das Leztere
sein Absehen gieng, zweckwidrig zu seinen Jüngern ge-
sprochen, oder vielmehr, wenn er so sprach, kann jenes
seine Absicht nicht gewesen sein. Ebendamit fällt auch
Sieffert's, ohnehin aus der Luft gegriffene Hypothese,
daſs Jesus zwar nicht nach, wohl aber vor jenem Akte,
auf dem Weg zum Feigenbaum hin, über den Zustand und
die Zukunft des israëlitischen Volks mit seinen Jüngern
Gespräche geführt habe, zu welchen die symbolische Ver-
wünschung des Baums nur als von selbst verständlicher
Schluſsstein gefügt worden sei; denn alles durch jene Ein-
leitung etwa angebahnte Verständniſs des fraglichen Aktes
hätte, zumal bei der Neigung der Zeit zum Mirakulösen,
durch jenes Nachwort, welches nur die wunderbare Seite
des Faktums berücksichtigte, wieder zu Nichte gemacht
werden müssen. Mit Recht hat daher Ullmann den hin-
zugefügten Worten Jesu so weit nachgegeben, daſs er der
[248]Zweiter Abschnitt.
von ihm zulässig gefundenen symbolischen Auffassung die
andere noch vorzieht, welche auch sonst schon vorgetra-
getragen war 17), Jesus habe durch die Wunderhandlung
den Seinigen einen neuen Beweis seiner Machtvollkommen-
heit geben wollen, um dadurch ihr Vertrauen auf ihn für
die bevorstehenden Gefahren zu stärken. Oder vielmehr,
da eine specielle Beziehung auf das bevorstehende Leiden
nirgends hervorgehoben, und in den Worten Jesu nichts
enthalten ist, was er nicht auch schon früher gesagt hätte
(Matth. 17, 20. Luc. 17, 6.): so muſs man mit Fritzsche
als die Ansicht der Referenten ganz allgemein diese aus-
sprechen, Jesus habe seinen Unwillen über die Unfrucht-
barkeit des Feigenbaums als Gelegenheit zur Verrichtung
eines Wunders benüzt, dessen Zweck nur der allgemeine
aller seiner Wunder war, sich als Messias zu beurkun-
den 18). Ganz in dem von Fritzsche gezeichneten 19) Geist
der Referenten spricht daher Euthymius, wenn er alles
Grübeln über den besondern Zweck der Handlung verbie-
tet, und nur im Allgemeinen auf das Wunder in ihr zu
sehen ermahnt 20). Keineswegs aber folgt daraus, daſs
auch wir uns des Nachdenkens hierüber enthalten, und
ohne Weiteres das Wunder glaubig hinnehmen müſsten:
vielmehr können wir uns der Bemerkung nicht erwehren,
[249]Neuntes Kapitel. §. 100.
daſs das besondere Wunder, welches wir hier haben, we-
der aus dem allgemeinen Zweck des Wunderthuns über-
haupt, noch aus irgend einem besondern Zweck und Grund
als wirklich von Jesu verrichtet sich erklären läſst, viel-
mehr in jeder Hinsicht seiner Theorie wie sonstigen Praxis
widerstrebt, und deſswegen mit gröſserer Bestimmtheit als
irgend ein andres, auch abgesehen von der Frage über die
physische Möglichkeit, für ein solches erklärt werden muſs,
welches Jesus nicht wirklich verrichtet haben kann.
Indem uns nun aber noch der positive Nachweis der-
jenigen Veranlassung obliegt, durch welche, auch ohne ge-
schichtlichen Grund, eine solche Erzählung entstehen konn-
te: so finden wir in unsrer gewöhnlichen Quelle, dem A.
T., zwar wohl manche bildliche Reden und Erzählungen
von Bäumen und von Feigenbäumen insbesondere, aber
keine, welche zu unsrer Erzählung eine so specifische Ver-
wandtschaft hätte, daſs wir sagen könnten, diese sei jener
nachgebildet. Statt dessen aber dürfen wir im N. T. nicht
weit blättern, so finden wir schon, zuerst in des Täufers
(Matth. 3, 10.), dann in Jesu eigenem Munde (7, 19.) die
Gnome von dem Baum, der, weil er keine gute Frucht
trägt, abgehauen und in's Feuer geworfen wird, und wei-
terhin (Luc. 13, 6 ff.) findet sich dieses Thema zu der fin-
girten Geschichte eines Herrn ausgeführt, welcher auf ei-
nem Feigenbaum in seinem Weinberge drei Jahre lang ver-
geblich Früchte sucht, und deſswegen denselben umhauen
lassen will, wenn nicht durch die Fürbitte des Gärtners
ihm noch eine einjährige Frist ausgewirkt würde. Schon
Kirchenväter haben in der Verwünschung des Feigenbaums
nur eine thatsächliche Ausführung der Parabel vom Fei-
genbaum gefunden 21); freilich in dem Sinne der vorhin
angeführten Erklärung, daſs Jesus selbst den damaligen
Zustand und das bevorstehende Schicksal des jüdischen
[250]Zweiter Abschnitt.
Volks wie früher durch eine bildliche Rede, so damals durch
eine symbolische Handlung habe darstellen wollen; was,
wie wir gesehen haben, undenkbar ist. Dennoch werden
wir uns der Vermuthung nicht erwehren können, daſs
wir hier ein und dasselbe Thema in drei verschiedenen
Gestalten vor uns haben, zuerst in concentrirtester Form
als Gnome, dann zur Parabel erweitert, und endlich zur
Geschichte realisirt; wobei wir nur nicht annehmen, daſs
Jesus, was er zweimal durch Worte, zulezt auch noch
durch eine Handlung dargestellt, sondern, daſs die Tradi-
tion, was sie als Gnome und parabolische Geschichte vor-
fand, auch vollends zur wirklichen Begebenheit gemacht
habe. Daſs in dieser wirklichen Geschichte das Ende des
Baums ein etwas andres ist, als was ihm in der Gnome
und Gleichniſsrede angedroht wird, nämlich Verdorren
statt des Umgehauenwerdens, darf nicht zum Anstoſs ge
reichen. Denn war die Parabel einmal zur wirklichen
Geschichte, mit dem Subjekt Jesus, geworden, war also
ihr ganzer didaktischer und symbolischer Gehalt in der äus-
seren Handlung aufgegangen: so muſste diese, sollte sie
noch Gewicht und Interesse haben, als Wunderhandlung
sich bestimmen, also die durch Axt und Hauen natürlich
vermittelte Vertilgung des Baums in ein unmittelbares Ver-
dorren auf das Wort Jesu sich verwandeln. Zwar scheint
gegen diese Ansicht von der Erzählung, nach welcher ihr
innerster Kern doch kein andrer als ein symbolischer blie-
be, sich ebendasselbe, was gegen die oben erwogene, ein-
wenden zu lassen, daſs nämlich die daran sich knüpfen-
de Rede Jesu einer solchen Auffassung widerstrebe. Al-
lein bei unsrer Ansicht von den Berichten sind wir befugt,
zu sagen, daſs mit der Umwandlung der Parabel zur Ge-
schichte in der Tradition auch der ursprüngliche Sinn von
jener verloren gieng, und, indem das Wunderbare als der
Nerv der Sache betrachtet zu werden anfieng, irrigerweise
jene, die Wundermacht und Glaubenskraft betreffende Re-
[251]Neuntes Kapitel. §. 100.
de damit verknüpft wurde. Sogar die besondere Veranlas-
sung, warum gerade die Rede vom Bergeversetzen an die
Erzählung vom Feigenbaum angeknüpft ist, läſst sich mit
Wahrscheinlichkeit nachweisen. Die Glaubenskraft, wel-
che hier durch ein von Erfolg begleitetes Sprechen zu einem
Berge: ἄρϑητι καὶ βλήϑητι εἰς τὴν ϑάλασσαν dargestellt ist,
findet sich anderswo (Luc. 17,6.) versinnbildlicht durch ein
ebenso wirksames Sprechen zu einer Art von Feigenbaum
(συκάμινος): ἐκριζώϑητι καὶ φυτεύϑητι ἐν τῇ ϑαλάσσῃ. So
erinnerte der verwünschte Feigenbaum, sobald sein Ver-
dorren als Wirkung der Wunderkraft Jesu gefaſst wurde,
an den durch die wunderbare Kraft des Glaubens zu ver-
pflanzenden Baum oder Berg, und so wurde dieses Diktum
jenem Faktum angehängt. Hier also gebührt dem dritten
Evangelium der Preiſs, welches uns die Parabel von der
unfruchtbaren συκῆ, und die Gnome von der durch den
Glauben zu verpflanzenden συκάμινος getrennt und rein,
jede in ihrer ursprünglichen Form und Bedeutung, erhal-
ten hat: während die beiden andern Synoptiker die Para-
bel zur Geschichte umgebildet, die Gnome aber (in etwas
andrer Form) zu einer falschen Deutung jener angeblichen
Geschichte verwendet haben.
[252]Zweiter Abschnitt
Zehntes Kapitel.
Jesu Verklärung und lezte Reise nach
Jerusalem.
§. 101.
Die Verklärung Jesu als wunderbarer äusserer Vorgang.
Mit den bisher untersuchten Wundererzählungen
konnte die Geschichte von der Verklärung Jesu auf dem
Berge nicht mehr verbunden werden, nicht bloſs weil sie
kein von Jesu verrichtetes Wunder, wie jene, vielmehr ein
an ihm vorgegangenes betrifft, sondern auch weil sie als
ein für sich stehender Moment im Leben Jesu hervortritt,
welche der Gleichartigkeit wegen nur etwa mit der Taufe
und Auferstehung zusammengestellt werden könnte; wie
denn Herder mit Recht diese drei Begebenheiten als die
drei lichten Punkte himmlischer Beurkundung im Leben
Jesu bezeichnet hat 1).
So, wie sich die synoptische Erzählung (Matth. 17,
1 ff. Marc. 9, 2 ff. Luc. 9, 28 ff.) — denn im vierten Evan-
gelium fehlt die Geschichte — dem ersten Anblick darbie-
tet, haben wir hier einen wirklichen äusseren und zwar
wunderbaren Vorgang: als Jesus 6—8 Tage nach seiner
ersten Leidensverkündigung mit seinen drei vertrautesten
Jüngern einen hohen Berg bestieg, waren diese Zeugen,
wie mit Einem Male sein Angesicht und selbst seine Klei-
der in überirdischem Glanze sich verklärten, wie zwei
ehrwürdige Gestalten aus dem Geisterreich, Moses und
[253]Zehntes Kapitel. §. 101.
Elias, erschienen, sich mit ihm zu unterreden, und wie
endlich aus einer lichten Wolke eine himmlische Stimme
Jesum für Gottes Sohn, dem sie Gehör zu schenken hät-
ten, erklärte.
Diese wenigen Züge der Geschichte regen eine Men-
ge Fragen an, um deren Sammlung sich Gabler ein be-
sonderes Verdienst erworben hat 2). Bei jedem der drei
Momente des Vorgangs, dem Glanze, der Todtenerschei-
nung, und der Stimme, läſst sich sowohl nach der Mög-
lichkeit, als nach dem zureichenden Zwecke fragen. Wo-
her soll vorerst der ausserordentliche Glanz an Jesum ge-
kommen sein? Bedenkt man, daſs von einem μεταμορφοῦ-
σϑαι Jesu die Rede ist, so scheint nicht an ein bloſses Be-
schienenwerden von aussen her, sondern an eine von innen
kommende Verklärung gedacht werden zu müssen, so zu
sagen an ein momentanes Durchleuchten der göttlichen δόξα
durch die menschliche Hülle, wie auch Olshausen diese
Begebenheit als einen Hauptmoment in dem Läuterungs-
und Verklärungsprocesse faſst, in welchem er die Leiblich-
keit Jesu während seines ganzen Lebens bis zur Himmel-
fahrt begriffen denkt 3). Allein, ohne das schon oben
Gesagte hier weiter auszuführen, daſs Jesus entweder kein
wahrer Mensch war, oder die mit ihm während seines Le-
bens vorgegangene Läuterung eine andere gewesen sein
muſs, als welche in einem Licht- und Leichtwerden des
Körpers bestand: so ist in keinem Falle zu begreifen, wie
an einem solchen Verklärungsproceſs ausser seinem Lei-
be auch seine Kleider theilnehmen konnten. Möchte man
dieses lezteren Punktes wegen lieber an eine Beleuchtung
von aussen denken, so wäre dieſs dann keine Metamorpho-
[254]Zweiter Abschnitt.
se, von welcher doch die Evangelisten sprechen: so daſs
also diese Scene zu keiner in sich zusammenstimmenden
Anschauung gebracht werden kann, wofern man nicht et-
wa mit Olshausen beides verbunden, Jesum sowohl strah-
lend als bestrahlt, sich denken will. Aber war dieser Glanz
auch möglich: immer bleibt doch die Frage, wozu er denn
gedient haben soll? Sagt man, was am nächsten liegt:
um Jesum zu verherrlichen, so war der geistigen Verherr-
lichung gegenüber, welche Jesus durch Rede und That
sich selber gab, diese physische durch glänzende Beleuch-
tung eine sehr unwesentliche, und fast kindisch zu nen-
nen; soll sie aber dennoch zur Erhaltung des allzuschwa-
chen Glaubens nöthig gewesen sein, so müſste sie vor der
Menge, oder doch vor dem weiteren Kreise der Jünger,
nicht aber vor dem engsten Ausschluſs der kräftigsten vor-
genommen, mindestens den wenigen Augenzeugen nicht
die Mittheilung gerade für die am meisten kritische Zeit,
bis zur Auferstehung, untersagt worden sein. — Mit ver-
stärkter Kraft kehren diese beiden Fragen bei dem zweiten
Moment in unserer Geschichte, bei der Erscheinung der
beiden Verstorbenen, wieder. Können abgeschiedene See-
len den Lebenden erscheinen? und wenn, wie es scheint,
die beiden Gottesmänner mit ihrem vormaligen, nur ver-
klärten, Leibe sich zeigten, woher nahmen sie diesen —
nach biblischer Vorstellung — vor der allgemeinen Auf-
erstehung? Zwar bei Elias, der ohne Ablegung des Kör-
pers gen Himmel fuhr, macht dieſs weniger Schwierig-
keit: allein Moses war doch gestorben, und sein Leich-
nam begraben worden. Vollends aber zu welchem Zweck
sollten die beiden groſsen Todten erschienen sein? Die
evangelische Darstellung, indem sie die beiden Gestal-
ten als συλλαλοῦντες τῷ Ἰ. darstellt, scheint den Zweck der
Erscheinung in Jesum zu setzen; näher, wenn Lukas recht
hat, bezog sich dieselbe auf das Jesu bevorstehende Lei-
den und Sterben. Aber angekündigt können sie ihm dieſs
[255]Zehntes Kapitel. §. 101.
nicht erst haben, da der einstimmigen Angabe der Synop-
tiker zufolge schon eine Woche vorher er selbst es voraus-
gesagt hatte (Matth. 16, 21 parall.). Daher vermuthet man,
durch Moses und Elias sei Jesus nur von den näheren
Umständen und Verhältnissen seines Todes genauer unter-
richtet worden 4); allein einerseits ist es der Stellung,
welche die Evangelien Jesu zu den alten Propheten geben,
nicht angemessen, daſs er von ihnen Belehrung bedurft
haben soll, andrerseits hatte Jesus schon früher sein Lei-
den mit so genauen Zügen vorhergesagt, daſs die speciel-
leren Eröffnungen aus der Geisterwelt nur etwa das πα-
ραδίδοσϑαι τοῖς ἔϑνεσιν und ἐμπτύεσϑαι, wovon er erst
später sagt (Matth. 20, 19. Marc. 10, 34.), betroffen haben
könnten. Oder sollte die an Jesum zu machende Mitthei-
lung nicht sowohl in einer Belehrung, als in einer Stär-
kung für sein bevorstehendes Leiden bestehen: so ist um
diese Zeit noch keine Spur eines Gemüthszustands bei Je-
su vorhanden, welcher einen Beistand dieser Art zu er-
heischen scheinen konnte; für das spätere Leiden aber
hätte diese so frühe Stärkung doch nicht hingereicht, wie
wir daraus sehen, daſs in Gethsemane eine weitere nöthig
war. Werden wir so, wiewohl bereits gegen die Anlage
des Textes, zu dem Versuch veranlaſst, ob sich der Er-
scheinung nicht vielleicht eine Beziehung auf die Jünger
geben lasse, so reicht der Zweck der Glaubensstärkung
überhaupt zur Begründung einer so besondern Veranstal-
tung theils als zu allgemein nicht aus, theils müſste Jesus
in der Parabel vom reichen. Mann den leitenden Grundsaz
der göttlichen Fügungen in dieser Beziehung falsch gedeu-
tet haben, wenn er ihn dahin aussprach, daſs, wer den
Schriften des Mosses und der Propheten — und wie viel
mehr, wer dem gegenwärtigen Christus — kein Gehör
schenke, auch durch einen wiederkehrenden Todten nicht
[256]Zweiter Abschnitt.
zum Glauben gebracht werden würde, weſswegen denn
eine solche Erscheinung, wenigstens zu jenem Zwecke, von
Gott nicht verfügt werde. Der speciellere Zweck, die
Jünger von der Übereinstimmung der Lehre und Schick-
sale Jesu mit Moses und den Propheten zu überzeugen,
war zum Theil schon erreicht, zum Theil aber wurde er
es erst nach dem Tode und der Auferstehung Jesu und der
Ausgieſsung des Geistes, ohne daſs die Verklärung in die-
ser Hinsicht irgend Epoche gemacht hätte. — Endlich die
Stimme aus der lichten Wolke (ohne Zweifel der Schechi-
nah) ist, gleich der bei der Taufe, eine Gottesstimme;
aber wie authropomorphistisch muſs die Vorstellung von
Gott sein, welche ein wirkliches hörbares Sprechen Got-
tes für möglich hält: oder wenn hier nur von einer Mit-
theilung Gottes an das geistige Ohr die Rede sein soll 5),
so ist damit die Sache in das Visionäre hinübergespielt, und
in eine ganz andere Betrachtungsweise übergesprungen.
§. 102.
Die natürliche Auffassung der Erzählung in verschiedenen Formen.
Den ausgeführten Schwierigkeiten derjenigen Ansicht,
welche die Verklärung Jesu als wunderbare und zwar äus-
sere Begebenheit betrachtet, hat man dadurch zu entgehen
gesucht, daſs man den ganzen Vorgang in das Innere der
dabei betheiligten Personen verlegte. Hiebei braucht das
Wunderbare nicht sogleich aufgegeben zu werden, nur
scheint es als ein im menschlichen Innern gewirktes Wun-
der einfacher und denkbarer zu sein. Man nimmt daher
an, daſs durch göttliche Einwirkung das geistige Wesen
der drei Apostel, und wohl auch Jesu selbst, bis zur
Ekstase gesteigert worden sei, in welcher sie entweder
wirklich mit der höheren Welt in Berührung traten,
oder deren Gestalten auf's Lebendigste selbst produci-
[257]Zehntes Kapitel. §. 102.
ren konnten, d. h. man denkt sich den Vorgang als Vi-
sion 1). Allein die erste Stütze dieser Auffassung, daſs ja
Matthäus selbst durch den Ausdruck: ὅραμα (V. 9.) die
Sache als einen bloſs subjektiven, visionären Vorgang be-
zeichne, weicht alsbald, wenn man sich erinnert, daſs we-
der in der Wortbedeutung von ὅραμα das Merkmal des
bloſs Innerlichen liegt, noch auch der N. T.liche Sprach-
gebrauch den Ausdruck nur für innere, sondern, wie A. G.
7, 31., ebenso auch für äussere Anschauungen verwendet 2).
Die Sache selbst betreffend aber ist es unwahrscheinlich,
und auch in der Schrift beispiellos, daſs Mehrere, wie hier
Drei oder Viere, an demselben Gesichte Theil gehabt hät-
ten 3); wozu noch kommt, daſs die ganze schwierige Frage
nach der Zweckmäſsigkeit einer solchen wunderbaren Ver-
anstaltung auch bei dieser Auffassung der Sache wiederkehrt.
Diesen Anstoſs zu vermeiden, haben daher Andere den
Vorgang zwar im Innern der betheiligten Personen belas-
sen, aber als Produkt einer natürlichen Thätigkeit der
Seele, das Ganze mithin für einen Traum erklärt 4). Wäh-
rend oder nach einem von Jesu oder ihnen selbst gespro-
chenen Gebete, in welchem des Moses und Elias gedacht,
und ihre Ankunft als messianischer Vorläufer gewünscht
worden war, schliefen dieser Auffassung zufolge die drei
Jünger ein, und träumten, indem wohl auch die von Jesu
genannten Namen jener Beiden in ihre schlaftrunkenen Oh-
ren hineintönten, als ob Moses und Elias gegenwärtig wä-
ren und Jesus sich mit ihnen unterhielte, was ihnen auch
Das Leben Jesu II. Band. 17
[258]Zweiter Abschnitt.
bei'm ersten, trüben Erwachen noch einen Augenblick vor-
schwebte. — Wie die vorige Erklärung auf das ὅραμα des
Matthäus, so stüzt sich diese darauf, daſs Lukas die Jün-
ger als βεβαρημένοι ὕπνψ, und erst gegen das Ende der
Scene wieder als διαγρηγορήσαντες bezeichnet (V. 32.).
Auf die Handhabe, welche der dritte Evangelist hiemit der
natürlichen Erklärung bietet, wird nun ein bedeutender Vor-
zug seiner Erzählung vor der der beiden ersten begründet,
indem die neueren Kritiker erklären, daſs durch diese und
andre Züge, welche die Begebenheit dem Natürlichen nä-
her bringen, die Darstellung bei Lukas sich als die ur-
sprüngliche, die des Matthäus dagegen durch Weglassung
derselben sich als die abgeleitete erweise, da bei der wunder-
süchtigen Richtung jener Zeit wohl Niemand solche, das
Wunder mindernde Züge, wie das Schlafen der Jünger,
hinzugedichtet haben würde 5). Diese Schluſsweise wür-
den wir zu der unsrigen machen müssen, wenn wirklich
der bezeichnete Zug nur im Sinne der natürlichen Erklä-
rung aufgefaſst werden könnte. Hier dürfen wir uns aber
nur erinnern, wie bei einer andern Scene, in welcher das
nach Lukas bei der Verklärung Jesu angekündigte Leiden
in Erfüllung zu gehen anfieng, und bei welcher nach dem-
selben Evangelisten gleichfalls eine himmlische Erscheinung
Jesu zu Theil wurde, in Gethsemane nämlich, die Jünger
ebenso, und zwar nach sämmtlichen Synoptikern, als καϑ-
εύδοντες erscheinen (Matth. 26, 40 parall.). Konnte hier
schon die bloſs äussere, formelle Ähnlichkeit beider Sce-
nen einen Referenten zur Übertragung des Zugs vom Schlaf
in die Verklärungsgeschichte veranlassen: so konnte ihm
noch mehr der Sinn und Inhalt dieses Zugs auch hier an
seinem Orte scheinen. Durch das Schlafen der Jünger
nämlich, eben während mit ihrem Meister das Wichtigste
[259]Zehntes Kapitel. §. 102.
vorgeht, wird ihr unendlicher Abstand von ihm, ihre Un-
fähigkeit, seine Höhe zu erreichen, und seine Überlegenheit
bezeichnet; der Prophet, der Empfänger einer Offenba-
rung, ist unter den gewöhnlichen Menschen wie ein Wa-
chender unter Schlafenden: weſswegen es sich ganz von
selbst ergab, wie bei dem tiefsten Leiden, so auch hier
bei der höchsten Verherrlichung Jesu die Jünger als schlaf-
trunkene darzustellen. Ist somit dieser Zug so weit ent-
fernt, der natürlichen Erklärung Vorschub zu thun, daſs
er vielmehr das an Jesu vorgegangene Wunder durch ei-
nen Contrast heben will: so sind wir auch nicht mehr be-
fugt, den Bericht des Lukas als den ursprünglichen anzu-
sehen, und auf seine Angabe eine Erklärung des Vorfalls
zu bauen, sondern umgekehrt werden wir an jenem Zu-
saz, in Verbindung mit dem schon erwähnten V. 31., seine
Darstellung als abgeleitete und ausgeschmückte erkennen 6),
und uns mehr an die der beiden ersten Evangelisten hal-
ten müssen. Fällt auf diese Weise die Hauptstütze derje-
nigen Auffassung, welche hier nur einen natürlichen Traum
der Apostel sicht, so hat diese ausserdem noch eine Menge
innerer Schwierigkeiten. Sie sezt nur die drei Jünger als
träumend voraus, und läſst Jesum wachen, also nicht in
der Illusion begriffen sein. Die ganze evangelische Dar-
stellung lautet aber so, als ob Jesus so gut wie die Jün-
ger die Erscheinung gehabt hätte; namentlich konnte er,
wenn das Ganze nur ein Traum der Jünger war, ihnen
nicht hernach sagen: μηδενὶ εἴπητε τὸ ὅραμα, wodurch er
sie ja eben in der Meinung bestärkt hätte, daſs es etwas
Besonderes und Wunderbares gewesen sei. Hatte aber
auch Jesus keinen Theil an dem Traum, so bleibt es doch
immer noch unerhört, daſs drei Personen zu gleicher Zeit
einen und denselben Traum haben sollten. Dieſs haben die
17 *
[260]Zweiter Abschnitt.
Freunde dieser Erklärung eingesehen, und daher soll nun
eigentlich nur der feurige Petrus, der ja auch allein spre-
che, so geträumt, die Referenten aber vermöge einer Syn-
ekdoche allen drei Jüngern zugeschrieben haben, was nur
Einem von ihnen begegnet war. Allein daraus, daſs Pe-
trus auch hier wie sonst den Sprecher macht, folgt nicht,
daſs auch er allein jenes Gesicht gehabt habe, wovon das
Gegentheil aus den klaren Worten der Evangelisten durch
keine Redefigur entfernt werden kann. Doch die in Rede
stehende Erklärung der Sache bekennt ihre Unzulänglich-
keit noch deutlicher. Nicht nur das laute Aussprechen der
Namen des Moses und Elias von Seiten Jesu muſs in den
Traum der Jünger unterstützend hineinspielen, sondern
auch ein Gewitter wird zu Hülfe genommen, welches in
denselben durch sein Blitze das Bild von überirdischem
Glanz, und durch seine Donnerschläge das von Gesprächen
und Himmelsstimmen hineingebracht, und sie auch nach
ihrem Erwachen noch einige Zeit in der Täuschung erhal-
ten haben soll. Doch daſs die Jünger nach Lukas eben
bei ihrem Erwachen (διαγρηγορήσαντες) die zwei Männer
bei Jesu stehen sahen, sieht nicht wie eine bloſse aus dem
Traum in das Wachen herübergenommene Täuschung aus,
weſswegen denn Kuinöl die weitere Annahme herbeizieht,
daſs, während die Jünger schliefen, wirklich zwei unbe-
kannte Männer zu Jesu gekommen seien, welche die Er-
wachenden sofort mit ihren Träumen in Verbindung ge-
bracht, und für Moses und Elias gehalten haben. Durch
diese Wendung der Ansicht sind nun alle diejenigen Mo-
mente, welche die auf einen Traum zurückgehende Auf-
fassung als innerlich vorschwebende betrachten sollte, wie-
der nach aussen getreten, indem die Vorstellung eines
Lichtglanzes durch die Blitze, die Meinung, Stimmen zu
hören, durch den Donner, endlich die Vorstellung von
zwei bei Jesu anwesenden Personen durch die wirkliche
Gegenwart zweier Unbekannten hervorgebracht worden
[261]Zehntes Kapitel. §. 102.
sein soll. Das Alles konnten die Jünger eigentlich nur im
Wachen wahrnehmen, und fällt somit die Voraussetzung
eines Traums als eine überflüssige hinweg.
Besser daher, sofern sie darin, daſs ihrer Drei an
Einem Traume theilgenommen haben müſsten, eine eigen-
thümliche Schwierigkeit hat, den Faden, welcher nach
dieser Erklärungsart den Vorgang noch an das Innere
knüpft, ganz abgerissen, und Alles wieder in die Aussen-
welt verlegt, so daſs wir, wie zuerst einen übernatürli-
chen, so nun einen natürlichen äusseren Hergang vor uns
haben. Den Jüngern bot sich etwas Objektives dar: so
erklärt sich, wie es mehrere zugleich wahrnehmen konn-
ten; sie täuschten sich wachend über das Wahrgenomme-
ne: natürlich, weil sie alle in demselben Vorstellungskreis,
in derselben Stimmung und Lage sich befanden. Dieser
Ansicht zufolge ist das Wesentliche der Scene auf dem
Berge eine geheime Zusammenkunft, welche Jesus beab-
sichtigte, und zu diesem Behufe die drei zuverlässigsten
seiner Jünger mit sich nahm. Wer die zwei Männer wa-
ren, mit welchen Jesus zusammenkam, wagt Paulus nicht
zu bestimmen; Kuinöl vermuthet heimliche Anhänger in
der Art des Nikodemus; nach Venturini waren es Esse-
ner, Jesu geheime Verbündete. Ehe diese noch eintrafen,
betete Jesus, und die Jünger, nicht zur Theilnahme gezo-
gen, schliefen ein; denn den von Lukas an die Hand ge-
gebenen Schlaf, wiewohl traumlos, behält diese Erklärung
gerne bei, um bei eben erst Erwachten die Täuschung
wahrscheinlicher zu machen. An fremden Stimmen, die
sie bei Jesu hörten, wachen sie auf, sehen Jesum, der
wahrscheinlich auf einem höheren Punkte des Berges, als
wo sie sich gelagert hatten, stand, in einem ungewöhnli-
chen Glanz, der von den ersten Morgenstrahlen, welche,
vielleicht durch nahe Schneelagen zurückgeworfen, auf Je-
sum fielen, herrührte, von ihnen aber in der ersten Über-
raschung für übernatürliche Verklärung gehalten wurde;
[262]Zweiter Abschnitt.
sie erblicken die beiden Männer, welche aus unbekannten
Gründen der schlaftrunkene Petrus, und nach ihm die Übri-
gen, für Moses und Elias halten; ihre Bestürzung steigt,
als sie die beiden Unbekannten in einem lichten Morgen-
nebel, der sich, wie sie weggehen wollten, herabsenkte,
verschwinden sehen, und aus dem Nebelgewölk einen der-
selben die Worte: οὖτός ἐςιν κ. τ. λ. rufen hören, welche
sie unter diesen Umständen für eine Himmelsstimme halten
muſsten 7). Diese Erklärung, welcher auch Schleiermacher
sich geneigt zeigt 8), findet, wie die vorige, besonders in
Lukas eine Stütze, weil bei diesem die Behauptung, die
beiden Männer seien Moses und Elias gewesen, weit we-
niger zuversichtlich als bei Matthäus und Markus ausge-
sprochen werde, und mehr nur als Einfall des schlaftrun-
kenen Petrus erscheine. Dieſs bezieht sich darauf, daſs,
während die beiden ersten Evangelisten geradezu sagen:
ὤφϑησαν αὐτοῖς Μωσῆς καὶ Ἠλίας, Lukas, wie es scheint
behutsamer, von ἄνδρες δύο spricht, οἵτινες ἦσαν Μωσῆς
καὶ Ἠλίας, wobei dann die erstere Bezeichnung den objek-
tiven Thatbestand, die zweite dessen subjektive Deutung
enthalten soll. Allein dieser Deutung pflichtet der Refe-
rent, wenn er doch οἵτινες ἦσαν, und nicht ἐνομίζοντο, sagt,
offenbar bei; weſswegen er also zuerst nur von zwei Män-
nern spricht, und erst nachher ihre Namen nennt, davon
kann die Absicht nicht gewesen sein, dem Leser eine be-
liebige andere Deutung offen zu lassen, sondern nur die,
das Geheimniſsvolle der ausserordentlichen Scene durch
die anfängliche [Unbestimmtheit] des Ausdrucks nachzubil-
den. Hat somit diese Erklärung ebensowenig als die bis-
her betrachteten in einer der evangelischen Erzählungen
eine Stütze: so hat sie zugleich nicht mindere Schwierig-
[263]Zehntes Kapitel. §. 103.
keiten als jene in sich selbst. Die Morgenbeleuchtung
auf ihren vaterländischen Bergen muſsten die Jünger so
weit kennen, um sie von himmlischer Glorie unterscheiden
zu können; wie sie auf die Meinung kamen, daſs die bei-
den Unbekannten Moses und Elias seien, ist zwar bei kei-
ner der bisher vorgelegten Ansichten leicht, am schwersten
aber bei dieser, zu erklären; wie Jesus, dem ja Petrus
durch seinen Antrag, die zu erbauenden σκηνὰς betreffend,
die Täuschung der Jünger zu erkennen gab, ihnen diese
nicht benahm, ist unbegreiflich; weſswegen Paulus sich
zu der Annahme flüchtet, Jesus habe die Anrede des Pe-
trus überhört; die ganze Ansicht von geheimen Verbün-
deten Jesu ist eine mit Recht verschollene, und endlich
hätte derjenige dieser Verbündeten, welcher aus der Wolke
heraus jene Worte zu den Jüngern sprach, sich eine un-
würdige Mystification erlaubt.
§. 103.
Die Verklärungsgeschichte als Mythus.
Wie immer also, so finden wir uns auch hier, nach-
dem wir den Kreis der natürlichen Erklärungen durchlau-
fen haben, zu der übernatürlichen zurückgeführt; aber
ebenso entschieden von dieser abgestoſsen, müssen wir, da
eine natürliche Auslegung der Text verbietet, die textge-
mäſse supranaturale aber historisch festzuhalten aus ratio-
nalen Gründen unmöglich fällt, uns dazu wenden, die
Aussagen des Textes kritisch zu untersuchen. Diese sollen
zwar bei vorliegender Erzählung besonders zuverläſsig sein,
da das Faktum von drei Evangelisten, welche namentlich
auch in der genauen Zeitbestimmung auffallend zusammen-
treffen, erzählt, und überdieſs vom Apostel Petrus (2 Petr.
1, 17.) bezeugt werde 1). Jene übereinstimmende Zeitan-
[264]Zweiter Abschnitt.
gabe, (sofern die ἡμέραι ὀκτὼ des Lukas, je nachdem man
zählt, mit den ἡμέραις ἓξ der andern dasselbe sagen) ist
allerdings auffallend; sie läſst sich aber, sammt dem, daſs
nach allen drei Referenten auf die Verkündigungsscene die
Heilung des dämonischen Knaben folgt, den die Jünger
nicht hatten heilen können, schon durch die Entstehung
der synoptischen Evangelien aus stehend gewordener evan-
gelischer Verkündigung erklären, von welcher es nicht
höher Wunder nehmen darf, daſs sie manche Anekdoten
ohne objektiven Grund auf bestimmte Weise zusammen
gruppirt, als daſs sie oft Ausdrücke, in welchen sie hätte
variiren können, durch alle drei Redaktionen hindurch
festgehalten hat 2). Die Beurkundung der Geschichte durch
die drei Synoptiker aber wird wenigstens für die gewöhn-
liche Ansicht von dem Verhältniſs der vier Evangelien
durch das Schweigen des johanneischen sehr geschwächt,
indem nicht einzusehen ist, warum dieser Evangelist eine
so wichtige Begebenheit, welche zugleich seinem System
so angemessen, und eigentlich die anschauliche Verwirkli-
chung seines Ausspruchs im Prolog (V. 14.): καὶ ἐϑεασά-
μεϑα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρὸς,
war, nicht aufgenommen haben soll. Der abgenuzte Grund,
er habe die Begebenheit als durch seine Vorgänger be-
kannt voraussetzen können, ist neben seiner allgemeinen
Unrichtigkeit hier noch besonders deſswegen unbrauchbar,
weil von den Synoptikern dieſsmal keiner Augenzeuge ge-
wesen war, also an ihren Erzählungen durch einen, der,
wie Johannes, die Scene miterlebt hatte, noch Manches
zu berichtigen und zu erläutern sein muſste. Man hat
sich daher nach einem andern Grund für diese und ähnli-
che Auslassungen im vierten Evangelium umgesehen, und
einen solchen in der antignostischen, näher antidoketischen
Tendenz zu finden geglaubt, welche man aus den johannei-
[265]Zehntes Kapitel. §. 103.
schen Briefen auch auf das Evangelium übertrug. In der
Verklärungsgeschichte, wird hienach behauptet, habe der
Jesum umleuchtende Glanz, die Verwandlung seines Aus-
sehens in das Überirdische, der Meinung Vorschub lei-
sten können, als sei seine menschliche Gestalt nur eine Schein-
hülle gewesen, durch welche zu Zeiten seine wahre, über-
menschliche Natur hindurchgeleuchtet habe; sein Verkehr
mit alten Prophetengeistern habe auf die Vermuthung füh-
ren können, er möge vielleicht selbst nur eine solche wie-
dergekommene Seele eines A. T.lichen Frommen sein, —
und um solchen irrigen Meinungen, welche unter gnosti-
sirenden Christen sich frühzeitig zu bilden anfiengen, kei-
ne Nahrung zu geben, habe Johannes diese und ähnliche
Geschichten lieber unterdrückt 3). Allein abgesehen davon,
daſs es der apostolischen παῤῥησία nicht entspricht, mög-
lichen Miſsbrauchs bei Einzelnen wegen Hauptfakta der
evangelischen Geschichte zu unterdrücken, so müſste Jo-
hannes hiebei doch mit einiger Consequenz verfahren sein,
und alle Erzählungen, welche eine doketische Miſsdeutung
in gleichem Maaſse mit der gegenwärtigen hervorrufen
konnten, aus dem Kreise seiner Darstellung ausgeschlos-
sen haben. Nun erinnert sich aber sogleich Jeder an die
Geschichte vom Wandeln Jesu auf dem See, welche min-
destens ebensosehr wie die Verklärungsgeschichte die Mei-
nung von einem bloſsen Scheinkörper Jesu hervorruft,
und doch auch von Johannes aufgenommen ist. Die Wich-
tigkeit freilich eines Vorfalls konnte hier noch einen Un-
terschied begründen, so daſs von zwei Erzählungen mit
gleich stark doketischem Schein Johannes dennoch gröſse-
rer Wichtigkeit wegen die eine aufnahm, die minder wich-
tige aber weglieſs. Hier nun aber wird doch wohl Nie-
mand behaupten wollen, der Gang Jesu auf dem See ste-
he an Wichtigkeit der Verklärungsgeschichte voran oder
[266]Zweiter Abschnitt.
auch nur gleich; Johannes muſste, wenn es ihm um Ver-
meidung des doketisch Scheinenden zu thun war, in jeder
Hinsicht vor Allem jene erste Geschichte unterdrücken:
da er es nicht gethan hat, so kann er auch jenes Princip
nicht gehabt haben, welches daher nie als Grund der ab-
sichtlichen Auslassung einer Geschichte im vierten Evan-
gelium gebraucht werden darf, sondern es bleibt, was na-
mentlich diese Begebenheit betrifft, dabei, daſs sein Ver-
fasser nichts oder doch nichts Genaues von derselben ge-
wuſst haben kann. Freilich kann dieses Ergebniſs nur
denen eine Instanz gegen den historischen Charakter der
Verklärungsgeschichte sein, welche das vierte Evangelium
als Werk eines Apostels betrachten, so daſs also wir aus
diesem Stillschweigen nicht gegen die Wahrheit der Er-
zählung argumentiren können: aber uns beweist auch
umgekehrt die Übereinstimmung der Synoptiker nichts für
dieselbe, indem wir schon mehr als Eine Erzählung, in
welcher drei, ja alle vier Evangelien zusammenstimmen,
für unhistorisch haben erklären müssen. — Was endlich
das angebliche Zeugniſs des Petrus betrifft, so ist wegen
der mehr als zweifelhaften Ächtheit des zweiten Briefs
Petri die allerdings auf unsre Verklärungsgeschichte be-
zügliche Stelle als Beweis für die historische Wahrheit
derselben jezt auch von orthodoxen Theologen aufgegeben
worden 4).
Dagegen haben wir ausser den oben angezeigten Schwie-
rigkeiten, welche in dem wunderhaften Inhalt der Er-
zählung liegen, noch einen weiteren Grund gegen die
historische Geltung der Verklärungsgeschichte, die Un-
terredung nämlich, welche den beiden ersten Evangelisten
zufolge die Jünger unmittelbar nachher mit Jesu geführt
haben sollen. Wenn nämlich im Herabsteigen vom Verklä-
rungsberge die Jünger Jesum fragen:
τί ου͑͂ν οἱ γραμματεῖς
[267]Zehntes Kapitel. §. 103.
λέγουσιν, ὅτι Ἠλίαν δεῖ ἐλϑεῖν πρῶτον
(Matth. V. 10.); so
klingt dieſs ganz, wie wenn etwas vorangegangen wäre,
woraus sie hätten abnehmen müssen, Elias werde nicht er-
scheinen, und gar nicht, wie wenn sie eben von einer Er-
scheinung desselben herkämen, da sie in diesem Falle nicht
unbefriedigt fragen, sondern zufriedengestellt sagen muſs-
ten: εἰκότως ου͑͂ν οἱ γραμματεῖς λέγουσιν κ. τ. λ.5). Daher
wird denn die Frage der Jünger von den Erklärern so ge-
deutet, als ob sie nicht eine Elias-Erscheinung überhaupt,
sondern an der eben gehabten nur ein gewisses Merkmal
vermiſst hätten, das nämlich, daſs nach der Ansicht der
Schriftgelehrten Elias bei seinem Auftritt wirksam und re-
formatorisch in das Leben der Nation eingreifen sollte, wo-
gegen er bei der eben gehabten Erscheinung ohne weitere
Wirksamkeit sogleich wieder verschwunden war 6). Diese
Erklärung wäre zulässig, wenn das ἀποκαταςήσει πάντα
in der Frage der Jünger stünde: statt dessen aber steht
es bei beiden Referenten (Matth. V. 11. Marc. V. 12.)
nur in der Antwort Jesu, so daſs die Jünger auf äusserst
verkehrte Weise das, was sie eigentlich vermiſsten, das
ἀποκαϑιςάνειν, verschwiegen, und nur das ἔρχεσϑαι ge-
nannt haben müſsten, was sie nach der gehabten Erschei-
nung nicht vermissen konnten. Wie aber die Frage der
Jünger keine gehabte Elias-Erscheinung, vielmehr das Ge-
fühl des Mangels einer solchen voraussezt: so auch die Ant-
wort, welche ihnen Jesus giebt. Denn wenn er erwie-
dert: wohl haben die Schriftgelehrten recht, wenn sie sa-
gen, Elias müsse vor dem Messias kommen; dieſs ist aber
kein Grund gegen meine Messianität, da mir bereits ein
[268]Zweiter Abschnitt.
Elias in der Person des Täufers vorangegangen ist, —
wenn er somit seine Jünger gegen den aus der Erwartung
der γραμματεῖς zu ziehenden Zweifel durch Verweisung
auf den ihm vorangegangenen uneigentlichen Elias zu ver-
wahren sucht: so kann eine Erscheinung des eigentlichen
Elias unmöglich vorausgegangen sein, sonst müſste Jesus
zu allererst auf diese Erscheinung, und nur etwa weiter-
hin auch auf den Täufer, hingewiesen haben 7). Die un-
mittelbare Verbindung dieses Gesprächs mit jener Erschei-
nung kann also nicht historisch sein, sondern nur der Ähn-
lichkeit zulieb gemacht, weil in beiden von Elias die Rede
ist 8). Doch nicht einmal mittelbar und durch Zwischen-
begebenheiten getrennt kann einer solchen Rede eine Er-
scheinung des Elias vorangegangen sein, da, wenn auch
noch so lange nachher, sowohl Jesus als die drei Augen-
zeugen unter seinen Jüngern sich derselben erinnern muſs-
ten, und nie so sprechen konnten, als ob eine solche gar
nicht stattgefunden hätte. Selbst aber auch nach einer
solchen Unterredung kann eine Erscheinung des wirklichen
Elias der orthodoxen Vorstellung von Jesu gemäſs nicht wohl
stattgefunden haben. Denn zu deutlich spricht er hier
seine Ansicht aus, daſs der eigentliche Elias gar nicht zu
erwarten, sondern der Täufer Johannes der verheiſsene
Elias gewesen sei: wäre also dennoch später eine Erschei-
nung des wirklichen Elias noch eingetreten, so hätte sich
Jesus geirrt, was gerade diejenigen, welchen an der hi-
storischen Realität der Verklärungsgeschichte am meisten
liegt, am wenigsten annehmen können. Schlieſsen sich so-
mit jene Erscheinung und diese Unterredung geradezu aus,
so fragt sich, welches von beiden Stücken eher aufgegeben
werden kann? Und hier ist der Inhalt der Unterredung
durch Matth. 11, 14. vgl. Luc. 1, 17., so bestätigt, die
[269]Zehntes Kapitel. §. 103.
Verklärungsgeschichte aber durch alle Arten von Schwie-
rigkeiten so unwahrscheinlich gemacht, daſs die Entschei-
dung nicht zweifelhaft sein kann. Es scheinen demnach,
wie oben schon einige Male, so auch hier zwei von ganz
verschiedenen Voraussetzungen ausgehende und wohl auch
in verschiedenen Zeiten entstandene Erzählungsstücke auf
ziemlich ungeschickte Weise zusammengesezt worden zu
sein; das die Unterredung enthaltende Stück nämlich geht
von der, wahrscheinlich früheren, Ansicht aus, die Weis-
sagung in Betreff des Elias sei eben nur in Johannes in
Erfüllung gegangen; wogegen das Stück von der Verklä-
rung, ohne Zweifel späteren Ursprungs, sich damit nicht
begnügt, daſs in der messianischen Zeit Jesu Elias unei-
gentlich im Täufer aufgetreten sei: er muſste auch persön-
lich und eigentlich, wenn auch nur in vorübergehender
Erscheinung, sich gezeigt haben.
Um nun zu begreifen, wie eine solche Erzählung auf
sagenhaftem Wege entstehen konnte, ist der zuerst zu er-
wägende Zug, an dessen Betrachtung sich die aller übri-
gen am leichtesten anreiht, der sonnenartige Glanz des
Angesichts und das helle Leuchten der Kleider Jesu.
Das Schöne und Majestätische ist dem Orientalen, und ins-
besondere dem Hebräer, ein Leuchtendes; der Dichter des
hohen Lieds vergleicht seine Geliebte mit der Morgenröthe,
dem Monde, der Sonne (6, 9.); die von Gottes Segen un-
terstüzten Frommen werden der Sonne in ihrer Macht
verglichen (Richt. 5, 31.), und namentlich das jenseitige
Loos der Gerechten wird dem Glanz der Sonne und der
Gestirne zur Seite gesezt (Dan. 12, 3. Matth. 13, 43.) 9).
Daher erscheint nicht allein Gott im Lichtglanz, und Engel
mit glänzendem Angesicht und leuchtenden Gewändern (Ps.
[270]Zweiter Abschnitt.
50, 2. 3. Dan. 7, 9 f. 10, 5. 6. Luc. 24, 4. Offenb. 1,
13 ff.), sondern auch die Frommen des hebräischen Alter-
thums, wie Adam vor dem Fall, und unter den folgenden
namentlich Moses und Josua, werden mit einem solchen Licht-
glanz vorgestellt 10), wie denn die spätere jüdische Sage auch
ausgezeichneten Rabbinen in erhöhten Augenblicken über-
irdischen Glanz verlieh 11). Am berühmtesten ist das leuch-
tende Antliz des Moses geworden, von welchem 2. Mos.
34, 29 ff. die Rede ist, und von ihm wurde, wie in an-
dern Stücken, so auch in diesem ein Schluſs a minori ad
majus auf den Messias gemacht, was schon der Apostel
Paulus 2. Kor. 3, 7 ff. andeutet, wiewohl er dem Moses
als dem διάκονος τοῦ γράμματος nicht Jesum, sondern, ge-
mäſs der Veranlassung seines Schreibens, die Apostel und
christlichen Lehrer als διακόνους τοῦ πνεύματος gegenüber-
stellt, und die den Glanz des Moses überbietende δόξα die-
ser lezteren erst als Gegenstand der ἐλπὶς im zukünftigen
Leben erwartet. Eigentlich aber war doch am Messias
selbst ein dem des Moses entsprechender, ja ihn überstrah-
lender Glanz zu erwarten, und eine jüdische Schrift, wel-
che von unsrer Verklärungsgeschichte keine Notiz nimmt,
argumentirt ganz im Geiste der Juden der ersten christli-
chen Zeit, wenn sie geltend macht, Jesus könne nicht der
Messias gewesen sein, da ja sein Angesicht nicht den Glanz
des Angesichts Mosis, geschweige einen höheren, gehabt
habe 12). Solche Einwürfe, wie sie ohne Zweifel schon
[271]Zehntes Kapitel. §. 103.
die ersten Christen theils von Juden hören, theils sich
selber machen muſsten, konnten nicht anders, als in der
ältesten Gemeinde eine Tendenz erzeugen, jenen Zug aus
dem Leben des Moses im Leben Jesu nachzubilden, ja zu
überbieten, und statt eines leuchtenden Angesichts, das
sich mit einem Tuche verdecken lieſs, ihm einen auch über
die Gewänder sich ergieſsenden Strahlenglanz, wenn auch
nur vorübergehend, zuzuschreiben.
Daſs die Verklärung des Angesichts von Moses zum
Vorbild für Jesu Verklärung gedient habe, beweist aber
überdieſs eine Reihe einzelner Züge. Moses bekam seinen
Glanz auf dem Berge Sinai: auch von Jesu Verklärung ist
ein Berg der Schauplaz; Moses hatte bei einer früheren
Besteigung des Bergs, welche mit der späteren, nach der
sein Angesicht glänzend wurde, leicht zusammenflieſsen
konnte, ausser den 70 Ältesten besonders noch drei Ver-
traute, Aaron, Nadab und Abihu, zur Theilnahme an der
Anschauung Jehova's mit sich auf den Berg genommen
(2. Mos. 24, 1. 9—11.): so nimmt nun auch Jesus seine
drei vertrautesten Jünger mit sich, um, so viel ihre Kräfte
es vermöchten, Zeugen des erhabenen Schauspiels zu sein,
und ihre nächste Absicht war nach Luc. V. 28. προσεύ-
ξασϑαι: gerade wie Jehova den Moses mit den Dreien und
den Ältesten auf den Berg kommen heiſst, um von ferne
anzubeten. Wie hernach, als Moses mit Josua den Sinai
bestieg, die δόξα Κυρίου als νεφέλη den Berg bedeckte
(V. 15 f. LXX), wie Jehova aus der Wolke heraus dem
12)
[272]Zweiter Abschnitt.
Moses rief, bis dieser endlich in die Wolke zu ihm hin-
eingieng (V. 16—18.): so haben wir auch in unsrer Er-
zählung eine νεφέλη φωτὸς, welche Jesum und die himm-
lischen Erscheinungen beschattet, eine φωνὴ ἐκ τῆς νεφέλης,
und bei Lukas ein εἰσελϑεῖν der Drei in die Wolke. Was
die Stimme aus der Wolke zu den Jüngern spricht, ist
im ersten Theil die messianische Deklaration, welche, aus
Ps. 2, 7. und Jes. 42, 1. zusammengesezt, schon bei Jesu
Taufe vom Himmel erscholl; im zweiten Theil ist sie aus
den Worten genommen, mit welchen Moses in der früher
angeführten Stelle des Deuteronomium (18, 15.) der ge-
wöhnlichen Deutung zufolge dem Volk den künftigen Mes-
sias ankündigt und es zur Folgsamkeit gegen denselben er-
mahnt 13).
Durch die Verklärung auf dem Berge war Jesus sei-
nem Vorbild, Moses, an die Seite gestellt, und da es in
den Erwartungen der Juden lag, daſs nach Jes. 52, 6 ff.
die messianische Zeit nicht nur Einen, sondern mehrere
Vorläufer haben 14), und unter Andern namentlich auch
der alte Gesezgeber zur Zeit des Messias erscheinen soll-
te 15): so war für dessen Erscheinung kein Moment ge-
[273]Zehntes Kapitel. §. 103.
eigneter, als der, in welchem der Messias auf dieselbe Wei-
se, wie einst er, auf einem Berge verherrlicht wurde.
Zu ihm gesellte sich dann von selbst derjenige, welcher
nach Mal. 3, 23. am bestimmtesten als messianischer Vor-
läufer, und zwar nach den Rabbinen zugleich mit Moses,
erwartet wurde. Erschienen beide Männer dem Messias,
so ergab sich von selbst, daſs sie sich mit ihm unterredet
haben werden, und fragte sich's um einen Inhalt dieser
Unterredung, so lag vom lezten Abschnitt her nichts näher,
als das bevorstehende Leiden und Sterben Jesu, welches
ohnehin als das eigentliche messianische Geheimniſs des
N. T. sich am ehesten zu einer solchen Unterhaltung mit
Wesen einer andern Welt eignete, weſswegen man sich
wundern muſs, wie Olshausen behaupten kann, auf die-
sen Inhalt des Gesprächs hätte die Mythe nicht kommen
können. So hätten wir also hier einen Mythus, dessen
Tendenz die gedoppelte ist, erstens, die Verklärung des Mo-
ses an Jesu in erhöhter Weise zu wiederholen, und zwei-
tens, Jesum als den Messias mit seinen beiden Vorläufern
zusammenzubringen, durch diese Erscheinung des Gesetz-
gebers und des Propheten, des Gründers und des Reforma-
tors der Theokratie, Jesum als den Vollender des Gottes-
reichs, als die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten,
darzustellen, und seine messianische Würde noch überdieſs
durch eine Himmelsstimme bekräftigen zu lassen 16).
Das Leben Jesu II. Band. 18
[274]Zweiter Abschnitt.
An diesem Beispiel läſst sich schlieſslich besonders
augenscheinlich zeigen, wie die natürliche Erklärung, in-
dem sie die historische Gewiſsheit der Erzählungen fest-
halten will, die ideale Wahrheit derselben verliert, gegen
die Form den Inhalt aufgiebt: wogegen die mythische durch
Aufopferung des geschichtlichen Leibes solcher Erzählun-
gen doch die Idee derselben, welche ihr Geist und ihre
Seele ist, erhält und rettet. War nämlich der natürlichen
Erklärung zufolge der Lichtglanz um Jesum ein zufälliges
optisches Phänomen, und die beiden Erschienenen entwe-
der Traumbilder oder unbekannte Menschen: wo bleibt
da die Bedeutung der Begebenheit? wo ein Grund, eine
solche ideenlose, gehaltleere, auf gemeiner Täuschung und
Aberglauben beruhende Anekdote in die Evangelien aufzu-
nehmen? Dagegen, wenn ich nach der mythischen Auffas-
sung in dem evangelischen Berichte zwar keine wirkliche
Begebenheit finden kann, so behalte ich doch einen Sinn
und Inhalt der Erzählung, weiſs, was die erste Christen-
gemeinde sich bei derselben gedacht, und warum die Ver-
fasser der Evangelien ihr eine so wichtige Stelle in ihren
Denkschriften eingeräumt haben 17).
§. 104.
Abweichende Nachrichten über die lezte Reise Jesu nach Jerusalem.
Bald nach der Verklärung auf dem Berge lassen die
Evangelisten Jesum die verhängniſsvolle Reise antreten,
[275]Zehntes Kapitel. §. 104.
welche ihn seinem Leiden entgegenführte. Über den Ort,
von welchem er bei dieser Reise ausgieng, und den Weg,
welchen er nahm, weichen die evangelischen Nachrichten
von einander ab. Stimmen über den Ausgangspunkt die
Synoptiker zusammen, indem sie sämmtlich Jesum von Ga-
liläa aufbrechen lassen (Matth. 19, 1. Marc. 10, 1. Luc.
9, 51., in welcher lezteren Stelle zwar Galiläa nicht aus-
drücklich genannt ist, aber aus dem Vorhergehenden, wo
nur von Galiläa und Galiläischen Ortschaften die Rede
war, so wie aus der im Folgenden erwähnten Reise durch
Samarien, sich von selbst ergiebt 1)): so scheinen sie doch
über den Weg, welchen Jesus von da nach Judäa ge-
wählt habe, von einander abzugehen. Zwar sind die An-
gaben zweier von ihnen in diesem Punkte so dunkel, daſs
sie der harmonisirenden Exegese Vorschub zu leisten schei-
nen könnten. Am klarsten und bestimmtesten sagt Mar-
kus, Jesus habe seinen Weg über Peräa genommen: aber
sein ἔρχεται εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας διὰ τοῦ πέραν τοῦ Ἰορ-
δάνου ist schwerlich etwas Anderes, als die Art, wie er
sich den schwerverständlichen Ausdruck des Matthäus,
dem er in diesem Abschnitt folgt, erklären zu dürfen glaub-
te. Was dieser mit seinem μετῇρεν ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας καὶ
ἦλϑεν εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας πέραν τοῦἸορδάνου eigentlich
sagen will, ist in der That dunkel. Denn wenn die Er-
klärung: er kam in den Theil von Judäa, welcher jenseits
des Jordans liegt 2), gleicherweise gegen Geographie wie
17)
18 *
[276]Zweiter Abschnitt.
Grammatik verstöſst, so ist die Deutung, zu welcher die
Vergleichung des Markus die meisten Ausleger geneigt
macht, daſs Jesus nach Judäa gekommen sei durch das
Land jenseits des Jordans 3), auch nach der von Fritzsche
angebrachten Modifikation wenigstens nicht ohne gramma-
tische Schwierigkeit. Bleibt indeſs so viel in jedem Fall,
daſs auch Matthäus wie Markus Jesum von Galiläa nach
Judäa den weiteren Weg über Peräa nehmen läſst: so
scheint dagegen Lukas ihn den näheren, durch Samaria, zu
führen. Zwar ist sein Ausdruck 17, 11, daſs Jesus auf
seiner Reise nach Jerusalem διήρχετο διὰ μέσου Σαμαρείας
καὶ Γαλιλαίας, kaum klarer, als der eben erwogene des
Matthäus. Der gewöhnlichen Wortbedeutung nach scheint
er auszusagen, Jesus habe zuerst Samarien, dann Galiläa,
queer durchschnitten, um so nach Jerusalem zu kommen.
Aber diese Aufeinanderfolge ist verkehrt; denn gieng er
von einem galiläischen Orte aus, so muſste er zuerst das
übrige Galiläa, und dann erst Samarien durchreisen. Man
hat deſswegen dem διέρχεσϑαι διὰ μέσου die Bedeutung ei-
nes Hinziehens auf der Grenze zwischen Galiläa und Sa-
marien gegeben 4), und nun den Lukas mit den beiden er-
sten Evangelisten durch die Voraussetzung vereinigt, Jesus
sei auf der galiläisch-samarischen Grenze bis zum Jordan
hingereist, habe hierauf diesen überschritten, und sei so-
fort durch Peräa nach Judäa und Jerusalem gewandert.
Diese leztere Voraussetzung verträgt sich aber mit Luc.
9, 51 ff. nicht; denn wenn dieser Stelle zufolge Jesus nach
dem Aufbruch aus Galiläa alsbald einem samarischen Dor-
fe zugeht, und hier übeln Eindruck macht, ὅτι τὸ πρόσω-
πον αὐτοῦ ἦν πορευόμενον εἰς Ἱερουσαλήμ: so lautet dieſs
ganz, wie wenn er die Richtung von Galiläa durch Sama-
[277]Zehntes Kapitel. §. 104.
rien nach Judäa gehabt hätte, und wir werden am besten
thun, mit unbefangenen Exegeten hier eine Abweichung
der synoptischen Evangelien anzuerkennen 5). Erst gegen das
Ende des Weges Jesu vereinigen sie sich wieder, indem
laut ihres übereinstimmenden Berichts Jesus nach Jerusa-
lem von Jericho her gekommen ist (Matth. 20, 29. parall.),
ein Ort, welcher übrigens mehr dem über Peräa, als dem durch
Samarien gekommenen Galiläer auf der geraden Straſse lag.
Ist auf diese Weise unter den Synoptikern zwar in
Rücksicht auf den von Jesu eingeschlagenen Weg ein Streit,
aber doch in Bezug auf den Ausgangspunkt und das lezte
Stück des Wegs Übereinstimmung: so weicht der johan-
neische Bericht in beiden Hinsichten von ihnen ab. Ihm
zufolge nämlich ist es gar nicht Galiläa, von wo Jesus zur
lezten Paschareise aufbricht, sondern schon vor dem Laub-
hüttenfest des vorigen Jahrs hatte er jene Provinz, zum
leztenmal, wie es scheint, verlassen (7, 1. 10.); daſs er zwi-
schen diesem und dem Fest der Tempelweihe (10, 22.) wie-
der dahin gekommen wäre, wird wenigstens nicht gesagt;
nach diesem Feste aber begab er sich nach Peräa und blieb
daselbst (10, 40.), bis ihn die Krankheit und der Tod des
Lazarus nach Judäa, und in die nächste Nähe Jerusalems,
nach Bethanien, rief (11, 8 ff.). Der Nachstellungen seiner
Feinde wegen zog er sich von hier bald wieder zurück,
doch, weil er das bevorstehende Pascha besuchen wollte,
nur bis in das Städtchen Ephraim, unweit der Wüste (11,
54.), von wo aus er dann, ohne daſs eines Aufenthalts in
Jericho gedacht würde, das auch von Ephraim aus, wie
man dessen Lage gewöhnlich bestimmt, nicht im Wege lag,
nach Jerusalem zum Feste sich begab.
[278]Zweiter Abschnitt.
Eine so totale Abweichung muſste die Harmonisten
in ungewöhnliche Geschäftigkeit versetzen. Der Aufbruch
aus Galiläa, dessen die Synoptiker gedenken, soll nach ih-
nen nicht der Aufbruch zum lezten Pascha, sondern zum
Fest der Tempelweihe gewesen sein 6), unerachtet er von
Lukas durch das ἐν τῷ συμπληροῦσϑαι τὰς ἡμέρας τῆς ἀνα-
λήψεως αὐτοῦ (9, 51.) unverkennbar als Aufbruch zu dem-
jenigen Feste, auf welchem Leiden und Tod Jesu warte-
ten, bezeichnet ist, und sämmtliche Synoptiker die hier be-
gonnene Reise mit jenem festlichen Einzug in Jerusalem
endigen lassen, welcher auch dem vierten Evangelium zu-
folge unmittelbar vor dem lezten Paschafest erfolgt ist 7).
Soll hienach der Aufbruch aus Galiläa, von welchem sie
erzählen, der zum Enkänienfest, die Ankunft in Jerusalem
aber, welche sie melden, die zum späteren Pascha gewe-
sen sein: so müſsten sie das nach dieser Voraussetzung
zwischen beiden Punkten Liegende, nämlich Jesu Ankunft
und Aufenthalt in Jerusalem zum Fest der Tempelweihe,
seine Reise von da nach Peräa, von Peräa nach Bethanien,
und von hier nach Ephraim, ganz übergangen haben. Scheint
hieraus zu folgen, daſs jene Berichterstatter von allem
Diesem auch nichts gewuſst haben: so soll vielmehr, wie
geltend gemacht wird, Lukas dadurch, daſs er bald nach
der Abreise aus Galiläa Jesum auf Schriftgelehrte stoſsen
lasse, die ihn auf die Probe stellen wollen (10, 25 ff.), dann
ihn in dem Jerusalem benachbarten Bethanien zeige (10,
38 ff.), hierauf ihn wieder rückwärts an die Grenzscheide
von Samarien und Galiläa versetze (17, 11.), und erst als-
dann ihn zum Pascha in Jerusalem einziehen lasse (19,
29 ff.), deutlich genug darauf hinweisen, daſs zwischen je-
ner Abreise und dieser Ankunft Jesus schon einmal nach
Judäa und Jerusalem, und von da wieder zurück gereist
[279]Zehntes Kapitel. §. 104.
sei 8). Allein, wenn die Schriftgelehrten ohnehin nichts
beweisen, so ist auch von Bethanien nirgends die Rede,
sondern nur von einer Einkehr Jesu bei Martha und Ma-
ria, welche der vierte Evangelist in jenes Dorf versezt,
woraus jedoch nicht folgt, daſs auch der dritte sie ebenda-
selbst wohnhaft, und also Jesum, wenn er bei ihnen war,
in der Nähe von Jerusalem sich gedacht habe. Daraus
aber, daſs so sehr lange nach der Abreise (9, 51—17, 11.)
Jesus erst auf der Grenze zwischen Galiläa und Samarien
erscheint, folgt nur, daſs wir hier keine geordnet fort-
schreitende Erzählung vor uns haben. Doch selbst Mat-
thäus soll nach dieser harmonisirenden Ansicht von jenen
Zwischenbegebenheiten gewuſst, und sie für den genauer
Zusehenden angedeutet haben; sein μετῇρεν ἀπὸ τῆς Γα-
λιλαίας nämlich soll als Andeutung der Reise Jesu auf die
Enkänien eine Diegese abschlieſsen, das καὶ ἠλϑεν εἰς τὰ
ὅρια τῆς Ἰουδαίας πέραν τοῦ Ἰορδάνου dagegen mit Angabe der
Ausweichung von Jerusalem nach Peräa (Joh. 10, 40.)
einen neuen Abschnitt eröffnen; wobei übrigens zugestan-
den wird, daſs ohne die Data des Johannes Niemand auf
eine solche Zerreissung der Worte des Matthäus kommen
würde 9). Dergleichen Künsteleien gegenüber ist für denje-
nigen, welcher die Richtigkeit des johanneischen Berichts
voraussezt, kein anderer Weg übrig, als der von der neue-
sten Kritik eingeschlagene, nämlich die Autopsie des Mat-
thäus, der die Reise nur ganz kurz behandelt, aufzugeben,
von Lukas aber, der einen ausführlichen Reisebericht hat,
anzunehmen, daſs er oder ein von ihm benüzter Sammler
zwei verschiedene Berichte, von welchen der eine die frü-
here Reise Jesu auf das Fest der Tempelweihe, der andre
seine lezte Paschareise betraf, zusammengefügt habe, ohne
zu ahnen, daſs zwischen die Abreise Jesu aus Galiläa und
[280]Zweiter Abschnitt.
seinen Einzug in Jerusalem vor dem Pascha noch ein frü-
herer Aufenthalt in Jerusalem, sammt andern Reisen und
Begebenheiten, fiel 10).
Auf eigene Weise kehrt sich nun aber im Verlauf des
Berichts von der oder den lezten Reisen Jesu das Verhält-
niſs zwischen den synoptischen Evangelien und dem johan-
neischen um. Wie nämlich zuerst auf Seite der ersteren
eine groſse Lücke sich zeigte, indem sie eine Masse von
Zwischenbegebenheiten und Zwischenaufenthalten übergien-
gen, welche Johannes giebt: so scheint nun gegen das En-
de des Reiseberichts auf Seiten des lezteren eine, wenn
auch kleinere, Lücke einzutreten, indem er nichts davon
hat, daſs Jesus über Jericho nach Jerusalem gekommen
ist. Man kann zwar sagen, Johannes habe, unerachtet
den Synoptikern zufolge eine Blindenheilung und der Be-
such bei Zacchäus in dieselbe fiel, doch diese Durchreise
übergehen können; allein es fragt sich, ob in seiner Dar-
stellung ein Durchgang durch Jericho überhaupt Raum ha-
be? Auf dem Wege von Ephraim nach Jerusalem liegt die
genannte Stadt nicht, sondern bedeutend östlich ab; man
hilft sich daher durch die Voraussetzung, von Ephraim
aus habe Jesus allerlei Nebenreisen gemacht, auf einer von
diesen sei er nach Jericho gekommen, und von hier dann
nach Jerusalem gezogen 11).
Jedenfalls herrscht hienach in den evangelischen Nach-
richten von der lezten Reise Jesu eine besondere Uneinig-
keit, indem er der vulgären, synoptischen Tradition zufol-
ge aus Galiläa über Jericho, und zwar nach Matthäus und
Markus durch Peräa, nach Lukas durch Samaria, gereist
wäre, dem vierten Evangelium zufolge aber von Ephraim
[281]Zehntes Kapitel. §. 105.
her gekommen sein müſste: Angaben, zwischen welchen
eine Vereinigung unmöglich, aber auch die Wahl sehr
schwierig ist.
§. 105.
Abweichungen der Evangelien in Hinsicht auf den Ausgangs-
punkt des Einzugs Jesu in Jerusalem.
Selbst über den Schluſs der Reise Jesu, über die lezte
Station vor Jerusalem, sind die Evangelisten nicht ganz ei-
nig. Während es nach den Synoptikern das Ansehen hat,
als sei Jesus von Jericho aus ohne längeren Zwischenauf-
enthalt an demselben Tage bis nach Jerusalem gekommen
(Matth. 20, 34. 21, 1 ff. parall.): läſst ihn das vierte Evan-
gelium von Ephraim zunächst nur bis Bethanien gehen, hier
übernachten, und erst am folgenden Tag seinen Einzug in
die Hauptstadt halten (12, 1. 12 ff.). Um beide Darstel-
lungen zu vereinigen, sagt man, bei der nur summarischen
Erzählung der Synoptiker sei es nicht zu verwundern,
daſs sie das Übernachten in Bethanien nicht ausdrücklich
berühren, ohne es deſswegen leugnen zu wollen; es finde
somit kein Widerspruch zwischen ihnen und Johannes statt,
sondern, was jene kurz zusammenfassen, lege dieser in
seine weiteren Momente auseinander 1). Allein während
Matthäus Bethanien gar nicht nennt, thun die beiden an-
dern Synoptiker dieser Ortschaft auf eine Weise Erwäh-
nung, welche der Annahme, daſs Jesus daselbst über-
nachtet habe, entschieden widerstrebt. Wenn sie nämlich
erzählen, ἁς ἤγγισεν εἰς Βηϑφαγῆ καὶ Βηϑανίαν, habe sich
Jesus aus dem nächsten Dorf einen Esel holen lassen, und
sei sofort auf diesem in die Stadt eingeritten: so kann man
sich zwischen die so verbundenen Vorgänge unmöglich eine
Nacht hineindenken, sondern die Erzählung lautet so, als
ob unmittelbar auf die Sendung Jesu der Eigenthümer den
[282]Zweiter Abschnitt.
Esel verabfolgt, und unmittelbar nach der Ankunft des
Esels Jesus sich zum Einzug angeschickt hätte. Auch läſst
sich, wenn Jesus in Bethanien über Nacht zu bleiben im
Sinne hatte, auf keine Weise ein Zweck seiner Sendung
nach dem Esel ausfindig machen. Denn soll das Dorf, in
welches er schickte, eben Bethanien gewesen sein: so hatte
er, wenn erst auf den andern Morgen ein Reitthier zu be-
stellen war, nicht nöthig, die Jünger vorauszuschicken,
sondern konnte füglich warten, bis sie in Bethanien ange-
kommen waren; daſs er aber, ehe er noch in Bethanien
angelangt war, und sich umgesehen hatte, ob nicht hier
ein Esel zu finden sei, über dieses nächstgelegene Dorf
hinaus nach Bethphage geschickt haben sollte, um dort auf
den andern Morgen einen Esel aufzubieten, entbehrt vol-
lends aller Wahrscheinlichkeit, und doch sagt wenigstens
Matthäus entschieden, daſs der Esel in Bethphage geholt
worden sei. Dazu kommt, daſs, der Darstellung des Mar-
kus zufolge, als Jesus in Jerusalem ankam, bereits die
ὀψία angebrochen (11, 11.), und es ihm deſswegen nur
noch möglich war, sich in Stadt und Tempel vorläufig um-
zusehen, worauf er mit den Zwölfen sich nach Bethanien
zurückzog. Nun läſst sich zwar das nicht beweisen, was
schon behauptet worden ist, daſs das vierte Evangelium
den Einzug vielmehr auf den Morgen verlege: aber das
muſs man fragen, warum denn Jesus, wenn er nur von
dem nahen Bethanien kam, nicht bälder von da aufgebro-
chen ist, um in Jerusalem auch noch etwas, das der Rede
werth wäre, thun zu können? Die späte Ankunft Jesu in
der Stadt, wie sie Markus behauptet, erklärt sich offen-
bar nur aus dem längeren Wege von Jericho her: kam er
bloſs von Bethanien, so gieng er von hier schwerlich so
spät erst weg, daſs er, nachdem er die Stadt sich nur
angesehen, wieder nach Bethanien umkehren muſste, um
am folgenden Tag zeitiger von da aufzubrechen, woran
ihn aber auch schon am vorigen nichts gehindert hatte.
[283]Zehntes Kapitel. §. 105.
Freilich ist in seiner Verlegung der Ankunft Jesu in Je-
rusalem auf den späten Abend Markus von den beiden an-
dern Synoptikern nicht unterstüzt, indem diese Jesum noch
am Tage seiner Ankunft die Tempelreinigung vornehmen,
und Matthäus ihn selbst noch Heilungen verrichten und
sich gegen die Hohenpriester und Schriftgelehrten verant-
worten läſst (Matth. 21, 12 ff.): allein auch ohne jene Zeit-
angabe entscheidet die Continuität der Momente des Hin-
kommens gegen jene Flecken, der Sendung der Jünger,
der Ankunft des Esels, und des Einreitens, gegen die Mög-
lichkeit, in die Erzählung der Synoptiker ein Bethanisches
Nachtquartier einzuschieben.
Bleibt es auf diese Weise dabei, daſs die drei ersten
Evangelisten Jesum geradezu von Jericho aus, ohne Auf-
enthalt in Bethanien, der vierte aber ihn nur von Betha-
nien her nach Jerusalem ziehen läſst: so müssen sie, wenn
sie beiderseits recht haben sollen, von zwei verschiedenen
Einzügen reden, wie dieſs neuerlich von mehreren Kritikern
vermuthet worden ist 2). Ihnen zufolge zog Jesus zuerst
(was die Synoptiker erzählen), mit der Festkarawane ge-
radezu nach Jerusalem, und es erfolgte hiebei, wie er sich
durch die Besteigung des Thiers bemerklich machte, von
Seiten der Mitreisenden unvorbereitet eine laute Huldigung,
welche den Einzug in einen Triumphzug verwandelte. Nach-
dem er sich am Abend nach Bethanien zurückgezogen,
gieng ihm dann am folgenden Morgen (was Johannes er-
zählt), eine groſse Volksmenge entgegen, um ihn einzu-
holen, und als er auf dem Weg von Bethanien her mit
derselben zusammentraf, wiederholte sich, dieſsmal vorbe-
reitet von Seiten seiner Anhänger, die Scene des gestrigen
Tags in noch gröſserem Maſsstabe. Dieser Unterscheidung
eines früheren Einzugs Jesu in Jerusalem, ehe man hier
[284]Zweiter Abschnitt.
von seiner Ankunft wuſste, und eines späteren, nachdem
man schon erfahren hatte, daſs er in Bethanien sei, ist
die Differenz günstig, daſs nach der synoptischen Erzäh-
lung die Huldigenden nur προάγοντες und ἀκολουϑοῦντες
(Matth. V. 9.), nach der johanneischen aber ὑπαντήσαντες
(V. 13. 18.) sind. Fragt man nun aber: warum geben
denn unsre sämmtlichen Referenten jeder nur Einen Ein-
zug, und findet sich bei keinem derselben von zweien eine
Spur? so bekommt man in Bezug auf den Johannes die
Antwort, dieser verschweige den ersten Einzug wahrschein-
lich deſswegen, weil er ihn nicht mitgemacht habe, indem
er während desselben nach Bethanien möge verschickt ge-
wesen sein, um die Ankunft Jesu anzumelden 3). Da in-
deſs nach unsern Grundsätzen, wenn vom Verfasser des
vierten Evangeliums, dann auch von dem des ersten vor-
ausgesezt werden darf, daſs er der in der Überschrift ge-
nannte Apostel gewesen: so fragt man vergebens, wohin
denn nun bei'm zweiten Einzug Matthäus solle verschickt
gewesen sein, daſs er von diesem nichts zu erzählen wuſs-
te? da sich bei dem wiederholten Gang von Bethanien nach
Jerusalem kein Anlaſs einer solchen Sendung denken läſst.
Übrigens auch in Bezug auf den Johannes ist sie reine Er-
dichtung; abgesehen davon, daſs, auch wenn die beiden
Evangelisten nicht persönlich zugegen waren, sie doch von
einer im Kreise der Jünger so vielbesprochenen Begeben-
heit, wie der feierliche Einzug gewiſs auch in seiner Wie-
derholung war, das Genaueste erfahren muſsten. Haupt-
sächlich aber, wie die Erzählung der Synoptiker nicht so
lautet, als ob nach dem von ihnen beschriebenen Einzug
noch ein zweiter erfolgt wäre: so ist die johanneische von
der Art, daſs vor dem Einzug, dessen sie Meldung thut,
ein anderer unmöglich gedacht werden kann. Ihr zufolge
gehen nämlich am Tag vor dem johanneischen Einzug, also
der Voraussetzung gemäſs an demselben Tage mit dem syn-
[285]Zehntes Kapitel. §. 105.
optischen, viele Juden von Jerusalem nach Bethanien hin-
aus, weil sie von Jesu Ankunft gehört hatten, und nun
ihn und den von ihm erweckten Lazarus sehen wollten
(V. 9. vgl. 12.). Allein wie konnten sie am Tag des syn-
optischen Einzugs hören, daſs Jesus in Bethanien sei? an
jenem Tage gieng ja Jesus Bethanien vorbei oder durch,
und zog gerade nach Jerusalem, von wo er nach allen Er-
zählungen erst so spät Abends nach Bethanien hinausge-
gangen sein kann, daſs Juden, die nun erst von Jerusa-
lem aus dahin giengen, nicht mehr hoffen konnten, ihn
noch sehen zu können 4). Wofür mochten sie aber nur
sich die Mühe nehmen, Jesum in Bethanien aufzusuchen,
da sie ihn doch an jenem Tag in Jerusalem selber hatten?
gewiſs müſste es in diesem Falle nicht bloſs heiſsen, sie
seien ουδιὰ τὸν Ἰησοῦν μόνον, ἀλλ̕ ἵνα καὶ τὺν Λάζαρον
ἴδωσι, gekommen, sondern, Jesum haben sie zwar in Jeru-
salem selbst gesehen gehabt, nun aber haben sie auch noch
den Lazarus sehen wollen, und seien deſswegen nach Be-
thanien gegangen; wogegen der Evangelist, welcher Leute
von Jerusalem aus, um Jesum zu sehen, nach Bethanien
gehen läſst, unmöglich vorausgesezt haben kann, daſs eben
an diesem nämlichen Tage Jesus in Jerusalem zu sehen
gewesen sei. Auch das Weitere, wenn es bei Johannes
heiſst, am folgenden Tag habe man in Jerusalem gehört,
daſs Jesus dahin komme (V. 12.), klingt gar nicht so, wie
wenn Jesus schon am Tag vorher daselbst gewesen wäre,
sondern als ob man von Bethanien aus erfahren hätte, daſs
er heute vollends hereinkommen würde; so wie auch der
Empfang, den man ihm sofort bereitet, nur als Verherr-
lichung seines ersten Eintritts in die Hauptstadt einen rech-
ten Sinn hat, bei seiner zweiten Dahinkunft aber nur et-
wa dann füglich hätte veranstaltet werden können, wenn
Jesus Tags zuvor unbemerkt und ungeehrt hereingekom-
[286]Zweiter Abschnitt.
men wäre, und man dieſs am folgenden Tag hätte nach-
holen wollen: wogegen, wenn schon der erste Einzug so
glänzend war, der Pomp des zweiten eine müssige Wie-
derholung gewesen wäre. Und zwar müſsten sich bei'm
zweiten alle Züge des ersten wiederholt haben, was, mag
man es mehr als absichtliche Veranstaltung Jesu, oder als
zufällige Fügung der Umstände betrachten, immer höchst
unwahrscheinlich bleibt. Von Jesu ist es nicht wohl zu
begreifen, wie er ein Schauspiel wiederholen mochte, das,
Einmal bedeutsam, in seiner Wiederholung matt und zweck-
los war 5); die Umstände aber müſsten auf unerhörte Wei-
se zusammengetroffen haben, wenn beidemale dieselben Eh-
renbezeugungen von Seiten des Volks, dieselben Äusserun-
gen des Neides von Seiten seiner Gegner eingetreten sein,
auch beidemale ein an die Weissagung des Zacharias erin-
nerndes Reitthier zu Gebote gestanden haben sollte. Man
könnte daher die Sieffert'sche Assimilationshypothese zu
Hülfe nehmen, und voraussetzen, die beiden Einzüge, ur-
sprünglich mehr verschieden, seien durch traditionelle Ver-
mischung sich so ähnlich geworden: wenn nicht überhaupt
die Annahme, daſs den evangelischen Erzählungen hier
zwei verschiedene Fakta zum Grunde liegen, eines andern
Umstands wegen unmöglich würde.
Auf den ersten Anblick zwar scheint es die Annah-
me von zwei verschiedenen Einzügen zu unterstützen, wenn
man bemerkt, daſs Johannes seinen Einzug den Tag nach
jenem Bethanischen Mahle, bei welchem Jesus unter merk-
würdigen Umständen gesalbt wurde, vor sich gehen läſst,
die beiden ersten Synoptiker dagegen (denn Lukas weiſs
von einer zu Bethanien und in dieser Periode des Lebens
Jesu gehaltenen Mahlzeit bekanntlich nichts) ihren Ein-
zug diesem Mahle vorangehen lassen; wodurch also, ganz
der obigen Voraussetzung gemäſs, der synoptische Einzug
[287]Zehntes Kapitel. §. 106.
als der frühere, der johanneische als der spätere erschiene.
Dieſs wäre gut, wenn nur nicht Johannes seinen Einzug
so früh, die Synoptiker dagegen ihr Bethanisches Mahl
so spät setzen würden, daſs jener unmöglich nach diesem
erst erfolgt sein kann. Nach Johannes nämlich kommt Je-
sus 6 Tage vor dem Pascha nach Bethanien, und zieht am
folgenden Tag in Jerusalem ein (12, 1. 12.): das Bethani-
sche Mahl der Synoptiker dagegen (Matth. 26, 6 ff. parall.)
kann höchstens 2 Tage vor dem Pascha gehalten worden
sein (V. 2.), so daſs, wenn der synoptische Einzug vor
dem johanneischen Mahl und Einzug stattgefunden haben
soll, dann nach allem Diesem den Synoptikern zufolge
noch eine zweite Bethanische Mahlzeit angenommen wer-
den müſste. Allein zwischen den hiebei vorauszusetzen-
den zwei Mahlzeiten fände nun ebenso, wie zwischen den
beiden Einzügen, bis in's Einzelste hinein die auffallendste
Ähnlichkeit statt, und das Sichverflechten von zwei der-
gleichen Doppelbegebenheiten ist so verdächtig, daſs man
hier schwerlich die Auskunft wird anwenden mögen, es
seien zwei Einzüge und Mahlzeiten, die einander ursprüng-
lich weit unähnlicher gesehen haben, in der Tradition durch
Übertragung von Zügen aus der einen Begebenheit in die
andere sich so ähnlich geworden, wie wir sie jezt ha-
ben: sondern hier, wenn irgendwo, ist es leichter, sofern
einmal die Urkundlichkeit der Berichte aufgegeben wird,
sich vorzustellen, daſs in der Überlieferung Eine Bege-
benheit variirt, als daſs durch dieselbe zwei Begebenhei-
ten assimilirt worden seien 6).
§. 106.
Näherer Hergang bei dem Einzug. Zweck und historische
Realität desselben.
Während das vierte Evangelium zuerst die Jesu ent-
gegenströmende Menge ihm ihre Huldigung darbringen,
[288]Zweiter Abschnitt.
und dann erst die kurze Angabe folgen läſst, daſs Jesus
einen jungen Esel, dessen er habhaft wurde, bestiegen ha-
be: ist bei den Synoptikern das Erste, was sie geben, ein
ausführlicher Bericht, wie Jesus zu dem Esel kam. Als
er nämlich in die Nähe von Jerusalem, gegen Bethphage
und Bethanien am Ölberg hingekommen, habe er zwei sei-
ner Jünger in das vor ihnen liegende Dorf geschickt, mit
der Weisung, wenn sie hineinkämen, würden sie — und
nun sagt Matthäus, eine Eselin angebunden, und ein Fül-
len bei ihr, die beiden andern, ein Füllen, auf welchem
noch Niemand gesessen habe, angebunden — finden, das
(die) sollen sie losbinden und ihm bringen, etwaige Ein-
wendungen des Eigenthümers aber durch die Bemerkung,
der Herr bedürfe seiner (ihrer), niederschlagen; dieſs sei
so geschehen, und die Jünger haben — auf die Thiere
nach Matthäus, nach den beiden andern auf das Eine
Thier —, ihre Kleider unterbreitend, Jesum gesezt.
Das Auffallendste in diesen Berichten ist offenbar die
Angabe des Matthäus, daſs Jesus nicht bloſs, da doch nur
er allein reiten wollte, zwei Esel requirirt, sondern daſs
er auch wirklich auf beide sich gesezt haben soll. Zwar,
wie natürlich, hat es nicht an Versuchen gefehlt, das Er-
stere zu erklären, und das Leztere zu beseitigen. Das
Mutterthier soll Jesus mit dem Füllen, auf welchem er ei-
gentlich reiten wollte, haben holen lassen, damit das jun-
ge, noch saugende Thier desto eher gehen möchte 1), oder
soll die an das Junge gewöhnte Mutter von selbst nachge-
laufen sein 2); allein ein noch durch Saugen an die Mutter
gewöhntes Thier gab der Eigner schwerlich zum Reiten
her. Das noch üblere Reiten auf zwei Thieren suchen die
einen dadurch zu beseitigen, daſs sie sehr schwachen Au-
ctoritäten zufolge und gegen alle kritischen Grundsätze bei
[289]Zehntes Kapitel. §. 106.
der Angabe vom Auflegen der Kleider statt ἐπάνω αὐτῶν
lesen: ἐπ̕ αὐτὸν (τὸν πῶλον), worauf sodann bei der Anga-
be, daſs Jesus sich darauf gesezt habe, das ἐπάνω αὐτῶν
auf die über das Eine Thier gebreiteten Kleider bezogen
wird 3). Ohne Änderung der Lesart glaubten Andere
durch Annahme einer Enallage numeri4) oder dadurch
auszukommen, daſs sie vor αὐτῶν ἑνὸς supplirten 5), Con-
structionen, die den Zeiten des Faustrechts in der N. T.-
lichen Grammatik angehören, von welchen man sich freuen
könnte, daſs sie durch Winer und Fritzsche vorüber seien,
wenn nicht auch Olshausen noch bemerkte, das ἐπάνω αὐ-
τῶν sei nichts als ungenauer Ausdruck, indem die beiden
Thiere als zusammengehörig betrachtet, und daher, was
das eine betraf, auch auf das andere übergetragen worden
sei. Laut seiner Worte muſs sich der Evangelist vielmehr
vorgestellt haben, Jesus sei auf zwei Thieren geritten,
was als abwechselndes Reiten auf dem einen und andern
gedacht 6), für eine so kurze Strecke eine unnöthige Un-
bequemlichkeit gewesen wäre, auf jede andre Weise aber
völlig undenkbar ist, und uns an die übrigen Evangelisten
verweist, deren Angabe nur Eines Reitthiers sich mit der
des Matthäus durch die gewöhnliche Bemerkung, sie nen-
nen nur das Füllen, auf welchem Jesus geritten sei, und
lassen die Eselin, als Nebensache, weg, nicht ausgleichen
läſst. — Fragt sich somit, wie denn Matthäus auf seine
abenteuerliche Vorstellung gekommen ist? so haben, ob-
wohl auf wunderliche Weise, diejenigen auf den rechten
Punkt hingewiesen, welche vermutheten, Jesus habe in
seiner Anrede an die Jünger, und Matthäus in seiner Ur-
schrift, der Stelle des Zacharias (9, 9.) zufolge für den
Das Leben Jesu II. Band. 19
[290]Zweiter Abschnitt.
Einen Begriff des Esels mehrerer Ausdrücke sich bedient,
woraus sofort der griechische Übersetzer des ersten Evan-
geliums miſsverständlich mehrere Thiere gemacht habe 7).
Allerdings sind die gehäuften Bezeichnungen des Esels in je-
ner Stelle: הֲמוֺר וְעַיר בֶּן־אֲתֹנוֺתὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον,
LXX, der Anlaſs der Verdoppelung desselben im er-
sten Evangelium, indem nämlich die copula, welche im
Hebräischen erklärend gemeint war, als hinzufügend
genommen, und statt „ein Esel, d. h. ein Eselsfüllen
u. s. w.“ vielmehr „ein Esel sammt einem Eselsfüllen“
in der Stelle gefunden wurde 8). Allein diesen Fehler
kann nicht erst der griechische Übersetzer gemacht haben,
welcher schwerlich, wenn er in der ganzen Erzählung des
Matthäus nur Einen Esel gefunden hätte, rein aus der Pro-
phetenstelle heraus ihn verdoppelt, und so oft sein Original
von Einem Esel sprach, den zweiten hinzugefügt, oder statt
des Singulars den Plural gesezt haben würde: sondern
ein solcher muſs den Verstoſs begangen haben, dessen ein-
zige schriftlich fixirte Quelle die Prophetenstelle war, aus
welcher er mit Zuziehung der mündlichen Tradition seine
ganze Erzählung herausspann, d. h. der Verfasser des er-
sten Evangeliums, welcher sich freilich hiedurch, wie die
neuere Kritik mit Recht behauptet, unwiederbringlich um
den Ruhm eines Augenzeugen bringt 9).
Ist dieser Miſsgriff dem ersten Evangelium eigen, so
haben hinwiederum auch die beiden mittleren einen Zug
für sich, welchen vermieden zu haben dem Verfasser des
ersten zum Vortheil gereicht. Auf das Schleppende zwar
[291]Zehntes Kapitel. §. 106.
soll nur beiläufig aufmerksam gemacht werden, was darin
liegt, daſs, nachdem bei allen drei Synoptikern Jesus den
zwei abgeschickten Jüngern genau vorherb zeichnet hatte,
wie sie den Esel finden, und womit sie den Eigenthümer
desselben zufrieden stellen sollten, nun Markus und Lu-
kas sich und dem Leser die Mühe nicht sparen, ausführ-
lich und genau das Alles als eingetroffen zu wiederholen
(Marc. V. 4 ff. Luc. V. 32 ff.), während Matthäus (V. 6.)
geschickt durch ein ποιήσαντες καϑὼς προσέταξεν αὐτοῖς ὁ Ἰ.
sich abfindet — dieſs, als bloſs die Form betreffend, soll
hier nicht weiter geltend gemacht werden. Das aber be-
trifft den Inhalt der Sache, daſs nach Markus und Lukas
Jesus ein Thier verlangte, ἐφ̕ ὅ ουδεὶς πώποτε ἀνϑρώπων
ἐκάϑισε, ein Zug, von welchem Matthäus nichts weiſs.
Man begreift hier nicht, wie sich Jesus das Vorwärtskom-
men durch die Wahl eines noch nicht zugerittenen Thiers
absichtlich erschweren mochte, welches, wenn er es nicht
durch göttliche Allmacht in Ordnung hielt (denn bei dem
ersten Ritt auf einem solchen Thier reicht auch die gröſs-
te menschliche Reitkunst nicht aus), gewiſs manche Stö-
rung des festlichen Zugs herbeigeführt haben wird, zumal
ihm kein Vorangehen des Mutterthiers zu Statten kam,
welches nur im Kopfe des ersten Evangelisten mitgelaufen
ist. Dieser Unannehmlichkeit hat Jesus gewiſs nicht ohne
triftigen Grund sich ausgesezt, und ein solcher scheint na-
he genug zu liegen in der Ansicht des Alterthums, wel-
cher zufolge, nach Wetstein's Ausdruck, animalia, usibus
humanis nondum mancipata, sacra habebantur: so daſs
also Jesus für seine geheiligte Person und zu dem hohen
Zwecke seines messianischen Einzugs auch nur ein heili-
ges Thier hätte gebrauchen mögen. Näher erwogen jedoch
wird man dieſs eitel finden, und wunderlich dazu; denn
dem Esel konnte man es nicht ansehen, daſs er noch nicht
geritten war, ausser an der Ungebärdigkeit, mit welcher
er den ruhigen Fortschritt des feierlichen Zuges gestört
19 *
[292]Zweiter Abschnitt.
haben würde 10). So wenig wir auf diese Weise begrei-
fen, wie Jesus in dem Besteigen eines nicht zugerittenen
Thiers eine Ehre gesucht haben kann, so begreiflich wer-
den wir es finden, daſs schon frühe die christliche Gemein-
de es seiner Ehre schuldig zu sein glaubte, ihn nur auf
einem solchen Thiere reiten, wie später ihn nur in einem
ungebrauchten Grabe liegen zu lassen, was in ihre Denk-
würdigkeiten aufzunehmen, die Verfasser der mittleren
Evangelien kein Bedenken trugen, weil ihnen freilich bei'm
Schreiben der nichtzugerittene Esel nicht die Unbequem-
lichkeit verursachte, welche er Jesu bei'm Reiten verur-
sacht haben müſste.
Wenn in die bisher erwogenen beiden Schwierigkei-
ten die Synoptiker sich theilen, so ist eine andre ihnen
allen gemeinschaftlich, die nämlich, welche in dem Um-
stand liegt, daſs Jesus so zuversichtlich zwei Jünger nach
einem Esel sendet, den sie im nächsten Dorf in der und
der Situation finden würden, und daſs der Erfolg seiner
Voraussage so genau entspricht. Das Natürlichste könnte
scheinen, hier an eine vorangegangene Verabredung zu
denken, welcher zufolge zur bestimmten Stunde am be-
zeichneten Orte ein Reitthier für Jesum bereit gehalten
[293]Zehntes Kapitel. §. 106.
worden sei 11); allein wie konnte er eine solche Verabre-
dung in Bethphage getroffen haben, da er eben von Jeri-
cho kam? Daher findet auch Paulus dieſsmal etwas An-
deres wahrscheinlicher, daſs nämlich in den an der Haupt-
straſse nach Jerusalem gelegenen Dörfern um die Fest-
zeiten viele Lastthiere zum Vermiethen an die Wallfahrer
bereit gestanden haben werden; wogegen jedoch zu be-
merken ist, daſs Jesus gar nicht wie vom nächsten besten,
sondern von einem bestimmten Thiere spricht. Man wun-
dert sich daher, wenn man es bei Olshausen nur als ver-
muthlichen Sinn der Referenten bezeichnet findet, daſs dem
einziehenden Messias Alles durch Fügung Gottes zur Hand
gewesen sei, wie er dessen eben bedurfte, so wie, daſs
derselbe Ausleger die Voraussetzung nothwendig findet, die
Besitzer des Thiers seien mit Jesu befreundet gewesen, da
vielmehr die gleichsam magische Gewalt hier dargestellt
werden soll, welche, sobald er nur wollte, dem bloſsen Na-
men des Κύριος inwohnte, bei dessen Nennung der Besi-
zer des Esels den Esel, wie später (Matth. 26, 18. parall.)
der Inhaber des Saals den Saal unweigerlich zu seiner
Disposition stellte. Zu dieser göttlichen Fügung zu Gun-
sten des Messias, und der unwiderstehlichen Kraft seines
Namens kommt noch das höhere Wissen, durch welches
Jesu hier ein entferntes Verhältniſs, das er für seine Be-
dürfnisse benützen konnte, offen vor Augen lag.
Ist dieſs der Sinn und die Absicht der Evangelisten
bei den angegebenen Zügen ihrer Erzählung: so kann man
sich nicht verhehlen, daſs gerade eine solche Anwendung
und Probe des höheren Wissens Jesu, welche in dem Be-
merken eines im nächsten Dorf angebundenen Esels be-
steht, so wie eine solche Macht seines Namens, welcher
der Eigenthümer eines Lastthiers nicht widerstehen kann,
[294]Zweiter Abschnitt.
als ziemlich kleinlicht erscheinen muſs. Zu gut kennen wir
auch bereits die Neigung der urchristlichen Sage, solche
Proben der höheren Natur ihres Messias zu geben (man
denke an die Berufung der zwei Brüderpaare; die genaue-
ste Analogie aber hat die eben angeführte, unten näher zu
betrachtende Art, wie Jesus das Lokal für seine lezte
Mahlzeit mit den Zwölfen bestellen läſst), als daſs wir uns
der Vermuthung enthalten könnten, auch hier nur ein Ge-
bilde jener Neigung vor uns zu haben. Dieſs wird um so
wahrscheinlicher, wenn wir nachzuweisen im Stande sind,
warum sich hier des Fernsehen Jesu gerade als Wissen um
einen angebundenen Esel zeigt, wie eine solche Nachwei-
sung allerdings möglich ist. Über der im ersten und vier-
ten Evangelium citirten Stelle aus Zacharias nämlich, wel-
che vom Einreiten des sanftmüthigen Königs nur überhaupt
auf einem Esel handelt, versäumt man gewöhnlich, eine
andere A. T.liche Stelle zu berücksichtigen, welche näher
den angebundenen Esel des Messias enthält. Es ist
dieſs die Stelle 1 Mos. 49, 11, wo der sterbende Jakob zu
Juda von jenem שילה sagt (LXX): δεσμεύων πρὸς ἄμπε-
λον τὸν πῶλον αὐτοῦ καὶ τῇ ἕλικι τὸν πῶλον τῆς ὄνουαὐτοῦ.
Justin der Märtyrer faſst auch diese mosaische Stelle, wie
jene prophetische, als Weissagung auf den Einzug Jesu,
und behauptet daher geradezu, das Füllen, welches Jesus
holen lieſs, sei an einen Weinstock gebunden gewesen 12).
Auch die Juden deuteten nicht nur überhaupt jenen Schi-
lo vom Messias, wie sich schon in den Targumim nach-
weisen läſst 13), sondern namentlich auch das Anbinden
[295]Zehntes Kapitel. §. 106.
des Esels wurde vom Messias erwartet, und zwar, weil
man mit der Stelle aus der Genesis die des Zacharias com-
binirte, bei seinem Einzug in Jerusalem 14). Daſs jene
Weissagung Jakobs von keinem unsrer Evangelisten ange-
führt wird, beweist höchstens, daſs sie bei'm Niederschrei-
ben der vorliegenden Erzählung sich derselben nicht aus-
drücklich bewuſst waren: daſs sie aber auch demjenigen
Kreise, in welchem die Anekdote sich zuerst bildete, nicht
vorgeschwebt habe, kann es keineswegs beweisen. Für
einen Durchgang der Erzählung durch mehrere Hände von
solchen, welche sich der ursprünglichen Beziehung auf die
Stelle der Genesis nicht mehr bewuſst waren, spricht al-
lerdings auch dieſs, daſs sie der Weissagung nicht mehr
ganz ähnlich ist. Sollte eine vollkommene Übereinstimmung
stattfinden, so müſste Jesus, nachdem er dem Zacharias
zufolge auf dem Esel in die Stadt geritten war, diesen
bei'm Absteigen an einer Weinrebe angebunden haben, statt
daſs er ihn jezt im nächsten Dorf (nach Markus von einer
Thüre am Wege) losbinden läſst, wodurch aber zugleich dieſs
noch erreicht wurde, daſs mit der Erfüllung jener beiden
Weissagungen noch eine Probe des übernatürlichen Wis-
sens Jesu und der magischen Kraft seines Namens verbun-
den werden konnte. — Im vierten Evangelium fehlt mit der
Beziehung auf die mosaische Stelle der Zug vom angebun-
denen Esel und dessen Abholung, und es wird mit allei-
niger Rücksicht auf die des Zacharias kurz gesagt: εὑρὼν
δὲ ὁ Ἰ. ὀνάριον, ἐκάϑισεν ἐπ̕ αὐτό (V. 14.).
Das Nächste, was nun in Betracht kommt, ist die
Huldigung, welche Jesu vom Volke dargebracht wird. Nach
[296]Zweiter Abschnitt.
allen Relationen ausser der des Lukas bestand diese im
Abhauen von Baumzweigen, welche man nach den beiden
Synoptikern auf den Weg streute, nach Johannes, der nä-
her Palmzweige angiebt, Jesu, wie es scheint, entgegen-
trug; ferner nach allen ausser Johannes im Breiten von
Kleidern auf den Weg. Dazu kam ein jubelnder Zuruf,
von welchem alle mit unbedeutenden Modificationen die
Worte: εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι Κυρίου haben,
ferner alle ausser Lukas das ὡσαννὰ, alle endlich die Be-
grüſsung als König oder Sohn Davids. Hier ist zwar das
בָּרוּך הַבָּא בְּשֵׁם יְהוָֺה aus Ps. 118, 26. eine gewöhnliche Be-
grüſsungsformel für Festbesuchende gewesen, und auch
das dem vorhergehenden Verse desselben Psalms entnom-
mene הוֺשׁׅיעָה נָּא war ein gewöhnlicher Ruf am Laubhütten-
fest und am Pascha 15); aber das hinzugesezte τῷ υἱῷ
Δαυὶδ und ὁ βασιλεὺς τοῦ Ἰσραὴλ zeigt, daſs man jene all-
gemeinen Formeln hier speciell auf Jesum als den Messias
anwandte, ihn in eminentem Sinne willkommen heiſsen,
und seinem Unternehmen Glück wünschen wollte. In Be-
treff der Subjekte, welche die Huldigung darbringen, bleibt
Lukas im engsten Kreise stehen, er knüpft nämlich das
Breiten der Kleider auf den Weg (V. 36.) an das Vorher-
gehende so an, daſs es scheint, als schriebe er es, wie das
Legen der Kleider auf den Esel, nur den Jüngern zu, wie
er denn die Loblieder ausdrücklich nur ἅπαν τὸ πλῆϑος
τῶν μαϑητῶν anstimmen läſst; Matthäus und Markus da-
gegen lassen diese Huldigungen von den begleitenden Volks-
massen ausgehen. Dieſs vereinigt sich indessen leicht; denn
wenn Lukas von dem πλῆϑος τῶν μαϑητῶν spricht, so ist
dieſs der weitere Kreis der Anhänger Jesu, und andrer-
seits ist der πλεῖςος ὄχλος bei Matthäus doch auch nur die
Gesammtheit der ihm Günstigen unter der Menge. Wäh-
[297]Zehntes Kapitel. §. 106.
rend nun aber die Synoptiker innerhalb der Grenzen des
mit Jesu reisenden Festzugs bleiben, läſst Johannes, wie
schon oben erwähnt, die ganze Feierlichkeit von solchen
ausgehen, die von Jerusalem aus Jesu entgegenzogen (V. 13.),
wogegen dann die mit Jesu kommende Menge den Einho-
lenden die von ihm vollbrachte Auferweckung des Laza-
rus bezeugt, um deren willen nach Johannes die feierliche
Einholung von Jerusalem aus veranstaltet war (V. 17 f.).
Diesen Beweggrund können wir, da wir die Wiederbele-
bung des Lazarus oben kritisch bezweifelt haben, nicht
gelten lassen; mit seinem angeblichen Grunde aber wird
auch das Faktum der Einholung selbst erschüttert, zumal
wenn wir bedenken, wie die Würde Jesu es zu erfordern
scheinen konnte, daſs ihn die Davidsstadt feierlich einge-
holt habe, und wie es auch sonst zu den Eigenthümlich-
keiten der Darstellung des vierten Evangeliums gehört, vor
der Ankunft Jesu zu den Festen die erwartungsvollen Re-
den des Volks über ihn zu referiren (7, 11 ff. 11, 56.).
Der lezte Zug in dem vor uns liegenden Gemälde ist
der Unwille der Feinde Jesu über die starke Anhänglich-
keit des Volks an ihn, welche sich bei dieser Gelegenheit
zeigte. Nach Johannes (V. 19.) sprachen die Pharisäer
zu einander: da sehen wir, daſs unser bisheriges (scho-
nendes) Verfahren nichts nüzt; alle Welt hängt ihm ja an
(wir werden anders einschreiten müssen). Nach Lukas
(V. 39 f.) wandten sich einige Pharisäer an Jesum selbst
mit dem Ansinnen, seinen Schülern Stillschweigen aufzu-
legen, worauf er ihnen zur Antwort giebt, wenn diese
nicht rufen, würden die Steine schreien. Während Lukas
und Johannes dieſs noch auf dem Zuge vor sich gehen las-
sen, ist es bei Matthäus erst nachher, als Jesus mit dem
Festzug im Tempel angekommen war, und die Kinder auch
hier fortfuhren, Hosianna dem Sohne Davids zu rufen,
daſs die Hohenpriester und Schriftgelehrten Jesum auf den
[298]Zweiter Abschnitt.
Unfug, wofür sie es hielten, aufmerksam machten, worauf
er sie mit einer Sentenz aus Ps. 8, 3. (ἐκ ςόματος νηπίων
καὶ ϑηλαζόντων κατηρτίσω αἶνον) zurückweist (V. 15 f.),
eine Sentenz, die also hier, unerachtet sie im Original sich
augenscheinlich auf Jehova bezieht, auf Jesum angewendet
wird. — Die von Lukas an den Einzug angeknüpfte Klage
Jesu über Jerusalem wird unten noch in Betrachtung
kommen.
Unzweideutig sprechen Johannes und insbesondere Mat-
thäus durch sein τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν, ἵνα πληρωϑῇ κ. τ. λ.
den Gedanken aus, die Absicht zunächst Gottes, indem er
diese Scene veranstaltete, dann aber auch des Messias Je-
sus, als Mitwissers und Theilnehmers der göttlichen Rath-
schlüsse, sei gewesen, durch diese Gestaltung seines Ein-
zugs eine alte Weissagung zu erfüllen. Wenn Jesus in
der Stelle des Zacharias, 9, 9. 16), eine Weissagung auf
sich als den Messias sah, so kann dieſs nicht Erkenntniſs
des höheren Princips in ihm gewesen sein, da, wenn die
Prophetenstelle auch nicht auf einen historischen Fürsten,
wie Usia 17) oder Johannes Hyrcanus 18), sondern auf
ein messianisches Individuum zu beziehen ist 19), dieses
wohl als friedlicher, aber doch als weltlicher Fürst, und
zwar im ruhigen Besiz von Jerusalem, also ganz anders
[299]Zehntes Kapitel. §. 106.
als Jesus, gedacht werden muſs. Wohl aber scheint Je-
sus auf natürlichem Wege zu jener Beziehung haben kom-
men zu können, indem die Rabbinen die Stelle des Zacha-
rias mit groſser Übereinstimmung auf den Messias deute-
ten 20). Namentlich wissen wir, daſs, weil die unschein-
bare Ankunft, welche hier vom Messias vorhergesagt war,
im Widerspruch zu stehen schien mit der glänzenden, wel-
che Daniel vorherverkündigt hatte, dieſs dahin ausgegli-
chen zu werden pflegte, daſs, je nachdem sich das jüdi-
sche Volk würdig beweisen würde oder nicht, sein Mes-
sias in der herrlichen oder in der geringen Gestalt erschei-
nen solle 21). War nun auch zur Zeit Jesu diese Unter-
scheidung noch nicht ausgebildet, sondern nur erst über-
haupt eine Beziehung der Stelle Zach. 9, 9. auf den Mes-
sias: so konnte doch Jesus sich etwa die Vorstellung ma-
chen, daſs jezt, bei seiner ersten Parusie, die Weissagung
des Zacharias, einst aber bei seiner zweiten die des Da-
niel an ihm in Erfüllung gehen müsse. Doch wäre auch
das Dritte möglich, daſs entweder ein zufälliges Einreiten
[300]Zweiter Abschnitt.
Jesu auf einem Esel von den Christen später auf diese Weise
gedeutet, oder daſs, damit kein messianisches Attribut ihm
fehle, der ganze Einzug frei nach den beiden Weissagun-
gen und der dogmatischen Voraussetzung eines höheren
Wissens in Jesu ausgemalt worden wäre.
[[301]]
Dritter Abschnitt.
Geschichte des Leidens, Todes,
und der Auferstehung Jesu.
[[302]][[303]]
Erstes Kapitel.
Verhältniss Jesu zu der Idee eines lei-
denden und sterbenden Messias; seine
Reden von Tod, Auferstehung und
Wiederkunft.
§. 107.
Ob Jesus sein Leiden und seinen Tod in bestimmten Zügen
vorhergesagt habe?
Den Evangelien zufolge hat Jesus seinen Jüngern mehr
als Einmal, und schon geraume Zeit vor dem Erfolg 1),
vorausgesagt, daſs ihm Leiden und gewaltsamer Tod be-
vorstehe. Und zwar blieb er, wenn wir den synoptischen
Nachrichten trauen, nicht bei Voraussagung dieses Schick-
sals im Allgemeinen stehen, sondern bestimmte den Ort
seines Leidens vorher, nämlich Jerusalem; die Zeit dessel-
ben: daſs eben auf dieser Festreise ihn sein Schicksal er-
eilen würde; die Subjekte, von welchen er zu leiden ha-
ben würde (ἀρχιερεῖς, γραμματεῖς, ἔϑνη); die wesentliche
Form seines Leidens: Kreuzigung in Folge eines Richter-
spruchs; auch Nebenzüge sagte er voraus: daſs es an Geis-
selhieben, Spott und Verspeien nicht fehlen würde (Matth.
16, 21. 17, 12. 22 f. 20, 17 ff. 26, 12. mit den Parall.,
Luc. 13, 33.). — Zwischen den Synoptikern und dem Ver-
fasser des vierten Evangeliums findet hier ein dreifacher
[304]Dritter Abschnitt.
Unterschied statt. Für's Erste lauten bei dem Lezteren die
Voraussagen Jesu nicht so klar und deutlich, sondern sind
meistens in dunkler Bilderrede vorgetragen, von welcher
der Referent wohl auch selbst gesteht, daſs sie den Jün-
gern erst nach dem Erfolge klar geworden sei (2, 22.).
Ausser einer bestimmten Äusserung, daſs er sein Leben
freiwillig lassen werde (10, 15 ff.), spielt in diesem Evan-
gelium Jesus auf seinen bevorstehenden Tod besonders ger-
ne durch den Ausdruck ὑψοῦν, ὑψοῦσϑαι, an, welcher zwi-
schen Erhöhung an das Kreuz und zur Herrlichkeit schwankt
(3, 14. 8, 28. 12, 32.), und vergleicht die ihm bevorstehen-
de Erhöhung mit der der ehernen Schlange in der Wüste
(3, 14.), wie bei Matthäus sein Schicksal mit dem des Jo-
nas (12, 40.); dann spricht er auch von einem Weggehen,
wohin man ihm nicht folgen könne (7, 33 ff. 8, 21 f.),
wie bei den Synoptikern von einem Kelch, den er trinken
müsse, und welchen mit ihm zu theilen seinen Jüngern
schwer fallen dürfte (Matth. 20, 22. parall.). Sind auf
diese Weise die johanneischen Leidensverkündigungen min-
der deutlich als die synoptischen: so fängt dagegen bei Jo-
hannes Jesus weit früher mit diesen Verkündigungen an.
Bei den Synoptikern fallen die bestimmteren Vorhersagen
alle theils unmittelbar vor, theils auf die lezte Reise; nur
die dunkle Rede vom Zeichen des Jonas fiele früher;
wogegen im vierten Evangelium Jesus bereits bei seinem
ersten Festbesuch auf seinen bevorstehenden Tod hinzudeu-
ten anfängt. Endlich, wenn den drei ersten Evangelisten zu-
folge Jesus jene Voraussagungen nur dem vertrauten Kreise
der Zwölfe mittheilt, spricht er sie bei Johannes dem Volk
und selbst seinen Feinden gegenüber aus.
Bei der kritischen Prüfung dieser evangelischen Nach-
richten werden wir vom Speciellen zum Allgemeinen in der
Art fortschreiten, daſs wir zuerst fragen: ist es glaublich, daſs
Jesus so viele einzelne Züge des auf ihn wartenden Schick-
sals vorausgewuſst habe? hierauf untersuchen, ob über-
[305]Erstes Kapitel. §. 107.
haupt ein Vorauswissen und Voraussagen seines Leidens
von Seiten Jesu wahrscheinlich sei; wobei dann der Un-
terschied zwischen der synoptischen und johanneischen Dar-
stellung von selbst zur Sprache kommen wird.
Wie Jesus die einzelnen Umstände seines Leidens und
Sterbens so genau vorherwissen konnte, davon giebt es eine
doppelte Erklärungsweise, eine supranaturale und eine na-
türliche. Die erstere scheint ihre Aufgabe durch die ein-
fache Berufung darauf lösen zu können, daſs vor dem pro-
phetischen Geiste, welcher Jesu in höchster Fülle inwohn-
te, von Anfang an sein Schicksal in allen einzelnen Zügen
ausgebreitet gelegen haben müsse. Da indessen Jesus selbst
bei seinen Leidensverkündigungen ausdrücklich sich auf das
A. T. berief, dessen Weissagungen auf ihn in allen Stü-
cken erfüllt werden müſsten (Luc. 18, 31. vgl. 22, 37.
24, 25 ff. Matth. 16, 21. 26, 54.): so darf die orthodoxe
Betrachtungsweise diese Hülfe nicht verschmähen, sondern
muſs der Sache die Wendung geben, Jesus habe, lebend
und webend in den Weissagungen des A. T., aus ihnen
mit Hülfe des ihm inwohnenden Geistes jene Specialitäten
schöpfen können 2). Demnach müſste Jesus, während die
Kunde von der Zeit seines Leidens, wenn er diese nicht
etwa aus Daniel oder einer ähnlichen Quelle berechnet ha-
ben soll, seinem prophetischen Vorgefühl überlassen bliebe,
auf Jerusalem als den Ort seines Leidens und Todes
durch Betrachtung des Schicksals früherer Propheten als
Typus des seinigen in der Art gekommen sein, daſs der
Geist ihm sagte, wo so viele Propheten, da müsse nach
höherer Consequenz auch der Messias den Tod erleiden
(Luc. 13, 33.); auf seinen Untergang in Folge förmlicher
Verurtheilung müſste ihn etwa dieſs geführt haben, daſs
Jes. 53, 8. von einem über den Knecht Gottes verhängten
מׅשְׁפָּט, und V. 12. davon die Rede ist, daſs er ἐν τοῖς ἀνό-
Das Leben Jesu II. Band. 20
[306]Dritter Abschnitt.
μοις ε̕λογίσϑη (vgl. Luc. 22, 37.); seine Verurtheilung durch
die Obersten des eigenen Volks hätte er vielleicht aus Ps.
118, 22. geschlossen, wo οἱ οἰκοδομοῦντες, welche den Eck-
stein verworfen haben, nach apostolischer Deutung (A. G.
4, 11.) die jüdischen Obern sind; seine Übergabe an die
Heiden konnte er darin finden, daſs in mehreren A. T.li-
chen Klagliedern, die sich messianisch deuten lieſsen, die
plagenden Subjekte als רְשָׁעׅים, d. h. als Heiden, erschei-
nen; daſs sein Tod gerade der Kreuzestod sein würde, könn-
te er theils aus dem Typus der am Holz aufgehängten eher-
nen Schlange 4. Mos. 21, 8 f. (vgl. Joh. 3, 14.), theils aus
dem Durchgraben der Hände und Füſse Ps. 22, 17. LXX.
abgenommen haben; endlich den Hohn und die Miſshand-
lung aus Stellen, wie im angeführten Psalm V. 7 ff. Jes.
50, 6. u. dgl. Soll nun der Jesu inwohnende Geist, wel-
cher ihm der orthodoxen Ansicht zufolge die Beziehung
dieser Weissagungen und Vorbilder auf sein endliches Schick-
sal erkennbar machte, ein Geist der Wahrheit gewesen
sein: so muſs sich die Beziehung auf Jesum als der wahre
und ursprüngliche Sinn jener A. T.lichen Stellen nachwei-
sen lassen. Um aber nur bei den Hauptstellen stehen zu
bleiben, so hat jezt eine gründliche, grammatisch-histori-
sche Auslegung für Alle, die sich aus dogmatischen Vor-
aussetzungen hinauszusetzen im Stande sind, überzeugend
nachgewiesen, daſs in denselben nirgends vom Leiden Chri-
sti, sondern Jes. 50, 6. von den Miſshandlungen, welche
der Prophet zu erdulden hatte 3), Jes. 53. von den Drang-
salen des Prophetenstandes, oder noch wahrscheinlicher
des israëlitischen Volks, die Rede sei 4); daſs Ps. 118. von
der unerwarteten Rettung und Erhöhung des Volks oder eines
Fürsten desselben gehandelt werde 5), so wie, daſs Ps. 22.
[307]Erstes Kapitel. §. 107.
ein bedrängter Exulant spreche 6); daſs aber gar im 17ten
Vers dieses Psalms von der Kreuzigung Christi die Rede
sei (da doch, auch die unwahrscheinlichste Erklärung des
כארי durch perfoderunt vorausgesezt, dieſs in keinem Falle
eigentlich, sondern nur bildlich zu verstehen, das Bild aber
nicht von einer Kreuzigung, sondern von einer Jagd oder
einem Kampf mit wilden Thieren hergenommen wäre 7),
dieſs wird jezt nur noch von Solchen behauptet, mit wel-
chen es sich nicht verlohnt zu streiten. Sollte demnach
Jesus auf übernatürliche Weise vermöge seiner höheren
Natur in diesen Stellen eine Vorandeutung der einzelnen
Züge seines Leidens gefunden haben: so wäre, da eine
solche Beziehung nicht der wahre Sinn jener Stellen ist,
der Geist in Jesu nicht der Geist der Wahrheit gewesen;
es wird also der orthodoxe Erklärer, sofern er sich nur
dem Lichte unbefangener Auslegung des A. T. nicht ver-
schlieſst, aus eigenem Interesse zu der natürlichen Ansicht
hingetrieben, daſs nicht höhere Eingebung, sondern eigene
Combination Jesum auf eine solche Auslegung der A. T.li-
chen Stellen und auf die Voraussicht der einzelnen Züge
seines künftigen Schicksals geführt habe.
Daſs es die herrschende Priesterpartei sein würde, der
er unterliegen müſste, dieſs, kann man hienach sagen 8),
war leicht vorauszusehen, da diese theils vorzüglich gegen
Jesum erbittert, theils im Besiz der erforderlichen Macht
war; daſs sie Jerusalem zum Schauplaz seiner Verurthei-
lung und Hinrichtung machen würde, ebenfalls, da hier
der Mittelpunkt ihrer Stärke war; daſs er, von den Ober-
sten seines Volks verurtheilt, den Römern zur Hinrichtung
würde übergeben werden, folgte aus der damaligen Be-
20 *
[308]Dritter Abschnitt.
schränkung der jüdischen Gerichtsbarkeit; daſs gerade der
Kreuzestod über ihn verhängt werden würde, konnte ver-
muthet werden, da diese Todesart bei den Römern na-
mentlich gegen Aufrührer verfügt zu werden pflegte; daſs
endlich Geiſselung und Verspottung nicht fehlen würde,
lieſs sich gleichfalls aus römischer Sitte und der Roheit
damaligen Gerichtsverfahrens zum Voraus berechnen. —
Doch, genauer die Sache erwogen, wie konnte denn Je-
sus so gewiſs wissen, ob nicht Herodes, der eine gefährli-
che Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatte (Luc. 13, 31.),
der Priesterpartei zuvorkommen, und zu dem Morde des
Täufers auch den seines Nachfolgers fügen würde? Und
wenn er auch gewiſs sein zu dürfen glaubte, daſs ihm nur
von Seiten der Hierarchie her wirkliche Gefahr drohe,
wer versicherte ihn denn, daſs nicht einer ihrer tumultua-
rischen Mordversuche (vgl. Joh. 8, 59. 10, 31.) doch end-
lich gelingen, und er also, wie später Stephanus, ohne
weitere Förmlichkeit, und ohne vorgängige Ablieferung an
die Römer, seinen Tod auf ganz andre Weise, als durch
die römische Strafe der Kreuzigung, finden könne? End-
lich, wie konnte er so zuversichtlich behaupten, daſs ge-
rade der nächste Anschlag, nach so vielen miſslungenen, sei-
nen Feinden glücken, und eben die jezt bevorstehende
Festreise seine lezte sein würde? — Indessen kann auch
die natürliche Erklärung hier die A. T.lichen Stellen zu
Hülfe nehmen und sagen, Jesus habe, sei es durch An-
wendung einer unter seinen Volksgenossen damals übli-
chen Auslegungsweise, oder von eigenthümlichen Ansichten
geleitet, in den schon angeführten Schriftstellen näheren
Aufschluſs über den Hergang bei dem ihm als Messias be-
vorstehenden gewaltsamen Ende gefunden 9). Allein wenn
schon dieſs schwer zu beweisen sein möchte, daſs bereits
zu Lebzeiten Jesu alle diese verschiedenen Stellen auf den
[309]Erstes Kapitel. §. 107.
Messias bezogen worden seien; daſs aber Jesus selbststän-
dig, vor dem Erfolg, auf eine solche Beziehung ganz hete-
rogener Stellen gekommen sei, ebenso schwer denkbar ist:
so wäre das vollends dem Wunder ähnlich, wenn einer so
falschen Deutung der Erfolg doch wirklich entsprochen haben
sollte; überdieſs aber reichen die A. T.lichen Orakel und
Vorbilder nicht einmal hin, um alle einzelnen Züge in der
Vorherverkündigung Jesu, namentlich die genaue Zeitbe-
stimmung, zu erklären.
Kann somit Jesus weder auf übernatürliche noch
auf natürliche Weise eine so genaue Vorkenntniſs der Art
und Weise seines Leidens und Todes gehabt haben: so
hat er sie überhaupt nicht gehabt, und was ihm die Evan-
gelisten davon in den Mund legen, ist als vaticinium post
eventum anzusehen 10). Hiebei hat man nicht ermangelt,
den synoptischen Berichten gegenüber den johanncischen
zu erheben, indem eben die speciellen Züge der Voraussa-
gung, welche Jesus nicht so gegeben haben kann, nur bei
den Synoptikern sich finden, während Johannes ihm nur
unbestimmte Andeutungen in den Mund lege, und von die-
sen seine nach dem Erfolg gemachte Auslegung derselben
unterscheide, zum deutlichen Beweis, daſs wir in seinem
Evangelium allein die Reden Jesu unverfälscht in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt besitzen 11). Allein näher betrachtet
verhält es sich nicht so, daſs auf den Verfasser des vier-
ten Evangeliums nur die Schuld irriger Deutung der übri-
gens unverfälscht erhaltenen Aussprüche Jesu fiele, son-
dern an Einer Stelle wenigstens hat er, zwar dunkel, aber
doch unverkennbar, die Vorausbezeichnung seines Todes
[310]Dritter Abschnitt.
als Kreuzestodes ihm in den Mund gelegt, mithin die eige-
nen Worte Jesu nach dem Erfolg verändert. Wenn näm-
lich Jesus bei Johannes sonst passivisch von einem ὑψω-
ϑῆναι des Menschensohns spricht, so konnte er hiemit zwar
möglicherweise seine Erhebung zur Herrlichkeit meinen,
wiewohl dieſs 3, 14. wegen der Vergleichung mit der mo-
saischen Schlange, die bekanntlich an einer Stange er-
höht worden ist, bereits schwer fällt: aber wenn er nun
8, 28. das Erhöhen des Menschensohns als That seiner
Feinde darstellt (ὅταν ὑψώσητε τὸν υἱὸν τ. ἀ.), so konn-
ten diese ihn nicht unmittelbar zur Herrlichkeit, sondern
nur zum Kreuz erheben, und Johannes muſs also, wenn
unser obiges Resultat gelten soll, diesen Ausdruck selbst
gebildet, oder doch die aramäischen Worte Jesu schief
übersezt haben, und er fällt daher mit den Synoptikern
im Wesentlichen unter eine Kategorie. Daſs er übrigens
gröſstentheils das Bestimmte, was er sich dabei dachte, Je-
sum in dunkeln Ausdrücken vortragen lieſs, dieſs hat in
der ganzen Manier dieses Evangelisten seinen Grund, des-
sen Neigung zum Räthselhaften und Mysteriösen hier der
Forderung, Weissagungen, die nicht verstanden worden
waren, auch unverständlich einzurichten, auf erwünschte
Art entgegenkam.
Jesu auf diese Weise eine Vorherverkündigung der
einzelnen Züge seines Leidens, namentlich der schmachvol-
len Kreuzigung, aus dem Erfolge heraus in den Mund
zu legen, dazu war die urchristliche Sage hinlänglich ver-
anlaſst. Je mehr der gekreuzigte Christus Ἰουδαίοις μὲν
σκάνδαλον, Ἕλλησι δὲ μωρία war (1 Kor. 1, 23.): desto
mehr that es Noth, diesen Anstoſs auf alle Weise hinweg-
zuschaffen, und wie hiezu unter dem Nachhergeschehenen
besonders die Auferstehung, als gleichsam die nachträg-
liche Aufhebung jenes schmachvollen Todes, diente: so
muſste es erwünscht sein, jener anstöſsigen Katastrophe
auch schon vorläufig den Stachel zu benehmen, was
[311]Erstes Kapitel. §. 108.
nicht besser, als durch eine solche Vorherverkündigung,
geschehen konnte. Denn wie das Unbedeutendste, prophe-
tisch vorausverkündigt, durch solche Aufnahme in den Zu-
sammenhang eines höheren Wissens Bedeutung gewinnt:
so hört das Schmählichste, sobald es als Moment ei-
nes göttlichen Heilplans vorhergesagt wird, auf, schmäh-
lich zu sein, und wenn dann vollends eben derjeni-
ge, über welchen es verhängt ist, zugleich den propheti-
schen Geist besizt, es vorauszusehen und vorauszusagen:
so beweist er sich, indem er nicht bloſs leidet, sondern auch
das göttliche Wissen um sein Leiden ist, als die ideale
Macht über dasselbe. Noch weiter ist hierin der vierte
Evangelist gegangen, indem er es der Ehre Jesu schuldig
zu sein glaubte, ihn auch als die reale Macht über sein
Leiden, als denjenigen, welchem nicht fremde Gewalt die
ψυχὴ entreisse, sondern der sie mit freiem Willen hinge-
be, darzustellen (10, 17 f.), eine Darstellung, zu welcher
übrigens Matth. 26, 53, wo Jesus die Möglichkeit behaup-
tet, zu Abwendung seines Leidens den Vater um Engelle-
gionen zu bitten, bereits ein Ansaz ist.
§. 108.
Jesu Todesverkündigung im Allgemeinen; ihr Verhältniss zu den
jüdischen Messiasbegriffen; Aussprüche Jesu über den Zweck
und die Wirkungen seines Todes.
Ziehen wir auf diese Weise von den Äusserungen,
welche die Evangelisten Jesu über sein bevorstehendes Schick-
sal in den Mund legen, alles dasjenige ab, was die nähere
Bestimmtheit dieser Katastrophe betrifft: so bleibt uns doch
noch so viel, daſs Jesus überhaupt vorherverkündigt habe,
ihm stehe Leiden und Tod bevor, und zwar insofern in
den A. T.lichen Orakeln dem Messias ein solches Schick-
sal vorausbestimmt sei. Da nun aber die angeführten A.-
T.lichen Hauptstellen, welche von Leiden und Tod handeln,
nur mit Unrecht auf den Messias bezogen werden, und
[312]Dritter Abschnitt.
auch andere, wie Dan. 9, 26, Zach. 12, 10, diese Bezie-
hung nicht haben 1): so werden sich wiederum gerade die
Orthodoxen am meisten hüten müssen, dem übernatürli-
chen Princip in Jesu eine so falsche Deutung der betre-
fenden Weissagungen zuzuschreiben. Daſs statt dessen Je-
sus möglicherweise durch rein natürliche Combinationen
das allgemeine Resultat herausgebracht haben könnte: da
er die Hierarchie seines Volks sich zur unversöhnlichen
Feindin gemacht, so habe er, sofern er aus der Bahn sei-
nes Berufs nicht zu weichen fest entschlossen war, von
ihrer Rachsucht und Übermacht das Äusserste zu fürch-
ten (Joh. 10, 11 ff.); daſs er aus dem Schicksal mehrerer
früheren Propheten (Matth. 5, 12, 21, 33 ff. Luc. 13, 33 f.),
und einzelnen dahin gedeuteten Weissagungen auch sich
ein ähnliches Ende prognosticiren, und demgemäſs den Sei-
nigen voraussagen konnte, es stehe ihm früher oder spä-
ter ein gewaltsamer Tod bevor, — das sollte man nicht
mehr mit unnöthiger Überspannung des supranaturalisti-
schen Standpunkts leugnen, sondern der rationalen Be-
trachtungsweise der Sache einräumen 2).
Es kann auffallen, wenn wir nach diesem Zugeständ-
niſs noch die Frage machen, ob es der N. T.lichen Dar-
stellung zufolge auch wahrscheinlich sei, daſs Jesus wirk-
lich jene Voraussage gegeben habe? da ja eine allgemeine
Vorherverkündigung des gewaltsamen Todes das Mindeste
ist, was die evangelischen Nachrichten zu enthalten schei-
nen. Die Meinung mit dieser Frage ist aber die, ob der
Erfolg, namentlich das Benehmen der Jünger, in den Evan-
gelien so beschrieben werde, daſs eine vorausgegangene Er-
öffnung Jesu über sein bevorstehendes Leiden damit ver-
[313]Erstes Kapitel. §. 108.
einbar sei. Von den Jüngern nun bemerken die Evange-
listen ausdrücklich, daſs sie in die Reden Jesu von dem
ihm bevorstehenden Tode und der Auferstehung sich nicht
allein nicht haben finden können, in dem Sinne, daſs sie
die Sache sich nicht zurechtzulegen, mit ihren vorgefaſs-
ten Messiasbegriffen nicht zu reimen wuſsten, wie Petrus,
wenn er Jesu auf die erste Todesverkündigung hin zurief:
‘ἵλεώς σοι Κύριε· ουμὴ ἔςαι σοι τοῦτο’ (Matth. 16, 22.), son-
dern wenn Lukas das ‘οἱ δὲ ἠγνόουν τὸ ῥῆμα’ des Markus
(9, 32.) so weiter ausführt:
καὶ ἦν παρακεκαλυμμένον ἀπ̕
αἰτῶν ἵνα μὴ αἴσϑωνται αὐτό
(9, 45.): so ist hiemit selbst
das einfache Wortverständniſs, das Fassen, wovon die Re-
de ist, den Jüngern abgesprochen. So trifft sie denn auch
hernach die Verurtheilung und Hinrichtung Jesu völlig un-
vorbereitet, und vernichtet deſswegen alle Hoffnungen, die
sie auf ihn als Messias gesezt hatten (Luc. 24, 20 f.:
ἐςαύρωσαν αὐτόν· ἡμεῖς δὲ ἠλπίζομεν, ὅτι αὐτός ἐςιν ὁ μέλ-
λων λυτροῦσϑαι τὸν Ἰσραήλ
). Allein hatte Jesus mit den
Jüngern so ganz παῤῥησίᾳ (Marc. 8, 32.) von seinem Tode
gesprochen, so muſsten sie seine klaren Worte nothwen-
dig auch fassen, und hatte er ihnen seinen Tod als gegrün-
det in den messianischen Weissagungen des A. T., mithin
zur Bestimmung des Messias gehörig, nachgewiesen, so
konnten sie nach seinem wirklich erfolgten Tode den Glau-
ben an seine Messianität nicht so ganz verlieren. Mit Un-
recht zwar hat der Wolfenbüttler Fragmentist in dem Be-
nehmen Jesu, wie es die Evangelisten schildern, Spuren
auffinden wollen, daſs auch ihm selbst sein Tod unerwar-
tet gekommen sei: aber das Resultat, welches er zieht,
behält, auch wenn bloſs auf das Benehmen der Jünger ge-
sehen wird, seine Gültigkeit, daſs nämlich, nach demsel-
ben zu urtheilen, Jesus den Jüngern keine vorläufige Mit-
theilung über seinen bevorstehenden Tod gemacht haben
könne, sondern sie scheinen bis auf die lezte Zeit hinaus
in diesem Stück die gewöhnliche Ansicht gehabt, und erst
[314]Dritter Abschnitt.
nachdem sie der Tod Jesu unerwartet getroffen, aus dem
Erfolg das Merkmal des Leidens und Sterbens in ihren
Messiasbegriff aufgenommen zu haben 3). Allerdings müs-
sen wir hier das Dilemma stellen: entweder sind die An-
gaben der Evangelisten von dem Nichtverstehen der Jün-
ger und ihrer Uberraschung bei'm Tode Jesu unhistorisch
übertrieben, oder sind die bestimmten Aussprüche Jesu
über den ihm bevorstehenden Tod ex eventu gemacht, und
er kann nicht einmal im Allgemeinen seinen Tod als zu
seinem messianischen Schicksal gehörig vorhergesagt haben.
In beiden Hinsichten konnte die Sage zu unhistorischen
Darstellungen veranlaſst sein: zur Erdichtung einer Vor-
aussage seines Todes im Allgemeinen durch dieselben Grün-
de, welche oben als Motive geltend gemacht worden sind,
ihm die Vorherverkündigung der einzelnen Züge seines
Leidens in den Mund zu legen; zur Fiktion eines so völ-
ligen Unverstandes von Seiten der Jünger aber konnte man
sich theils durch die Neigung veranlaſst sehen, die Tiefe
des von Jesu eröffneten Mysteriums von einem leidenden
Messias mittelst des Nichtverstehens der Jünger zu heben,
theils dadurch, daſs man in der evangelischen Verkündi-
gung die Jünger vor der Ausgieſsung des Geistes den zu
bekehrenden Juden und Heiden verähnlichte, welche Al-
les eher, als den Tod des Messias, begreifen konnten.
Um dieses Dilemma einer Entscheidung entgegenzufüh-
ren, müssen wir zuvörderst die damaligen Zeitvorstellun-
gen über den Messias darauf ansehen, ob wohl das Merk-
mal des Leidens und Sterbens schon vor und unabhängig
von Jesu Tod in denselben enthalten war oder nicht. War
es schon zu Lebzeiten Jesu jüdische Vorstellung, daſs der
Messias eines gewaltsamen Todes sterben müsse: so hat
es alle Wahrscheinlichkeit, daſs auch Jesus diese Vorstel-
lung in seine Überzeugung aufgenommen und seinen Jün-
[[315]]Erstes Kapitel. §. 108.
gern mitgetheilt habe, welche dann um so weniger in die-
sem Stücke so unbelehrt bleiben und vom wirklichen Er-
folg so ganz darniedergeschlagen werden konnten; war
dagegen jene Vorstellung vor Jesu Tode nicht unter seinen
Landsleuten verbreitet, so bleibt es zwar immer noch mög-
lich, daſs Jesus durch eigenes Raisonnement auf dieselbe
kommen konnte, aber eben so möglich ist dann, daſs die
Jünger erst nach dem Erfolg das Merkmal des Leidens und
Todes in ihren Messiasbegriff aufgenommen haben.
Die Frage, ob die Vorstellung von einem leidenden
und sterbenden Messias zu Jesu Zeit bereits unter den Ju-
den verbreitet gewesen sei, gehört zu den schwierigsten,
und über welche die Theologen noch am wenigsten zum
Einverständniſs gekommen sind. Und zwar liegt die Schwie-
rigkeit der Frage nicht in theologischem Parteiinteresse, so
daſs man hoffen könnte, mit dem Aufkommen unparteii-
scher Forschung werde sich die Verwicklung lösen, da
vielmehr, wie Stäudlin treffend nachgewiesen hat 4), so-
wohl das orthodoxe als das rationalistische Interesse jedes
auf beide Seiten hintreiben kann, weſswegen wir denn
auch auf beiden Seiten Theologen von beiden Parteien fin-
den 5): sondern die Schwierigkeit der Sache liegt in dem
Mangel an Nachrichten, und in der Unsicherheit derjeni-
gen, welche vorhanden sind. Wenn das alte Testament die
Lehre von einem leidenden und sterbenden Messias ent-
hielte, so würde hieraus allerdings mit mehr als bloſser
[316]Dritter Abschnitt.
Wahrscheinlichkeit folgen, daſs sie auch unter den Juden
zu Jesu Zeit vorhanden gewesen: so hingegen, da nach
den neuesten Untersuchungen wohl die Lehre von einer in
der messianischen Zeit vorzunehmenden Sühnung des Volks
(Ezech. 36, 25. 37, 23. Zach. 13, 1. Dan. 9, 24.) sich im
A. T. findet, aber keine Spur davon, daſs diese Sühnung
durch Leiden und Tod des Messias zu Stande kommen sol-
le 6): so ist von dieser Seite her keine Entscheidung der
vorgelegten Frage zu erwarten. Näher liegen der Zeit Je-
su die A. T.lichen Apokryphen: aber da diese überhaupt
vom Messias schweigen, so kann auch von jenem speciellen
Zug im Bilde desselben keine Rede sein 7); so wie auch
von den beiden das fragliche Zeitalter am nächsten berüh-
renden Schriftstellern, Philo und Josephus, der leztere die
messianischen Hoffnungen seiner Nation verschweigt 8), der
erstere wohl messianische Zeiten und einen messiasartigen
Helden, aber nichts von einem Leiden desselben hat 9). Es
bleiben also nur das N. T. und die späteren jüdischen
Schriften als Quellen übrig.
Im N. T. hat es fast durchaus das Ansehen, als hätte
an einen leidenden und sterbenden Messias unter den mit
Jesu lebenden Juden Niemand gedacht. Wenn der Mehr-
zahl der Juden die Lehre vom gekreuzigten Messias ein
σκάνδαλον war; wenn die Jünger Jesu in seine wiederhol-
ten deutlichen Todesverkündigungen sich nicht finden konn-
ten: so sieht dieſs doch gar nicht aus, als ob die Lehre
von einem leidenden Messias unter den Juden jener Zeit
im Umlauf gewesen wäre; vielmehr stimmt mit diesen Um-
ständen die Behauptung völlig überein, welche der vierte
Evangelist dem jüdischen ὄχλος in den Mund legt (12, 34.),
[317]Erstes Kapitel. §. 108.
sie haben aus dem νόμος gelernt, ὅτι ὁ χριςὸς μένει εἰς τὸν
αἰῶνα10). Doch eine allgemeine Geltung der Idee des lei-
denden Messias unter den damaligen Juden behaupten auch
jene Theologen nicht, sondern die Hoffnung auf einen welt-
lichen, endlos regierenden Messias als die herrschende
einräumend, halten sie nur daran fest, worin selbst der
Wolfenbüttler Fragmentist mit ihnen übereinstimmt 11), daſs
eine minder zahlreiche Partei, nach Stäudlin namentlich die
Essener, nach Hengstenberg der bessere, erleuchtetere Theil
des Volks überhaupt, einen solchen Messias angenommen
habe, welcher zunächst in Niedrigkeit erscheinen, und erst
durch Leiden und Tod zur Herrlichkeit eingehen würde.
Hiefür beruft man sich besonders auf zwei Stellen, eine
aus dem dritten, und eine aus dem vierten Evangelium.
Wie Jesus als unmündiges Kind im Tempel zu Jerusalem
dargestellt wird, spricht der greise Simeon unter andern
Weissagungen, namentlich über den Widerspruch, welchen
ihr Sohn einst finden werde, zu Maria auch die Worte:
‘καὶ σοῦ δὲ αὐτῆς τὴν ψυχὴν διελεύσεται ῥομφαία’ (Luc. 2, 35.),
wodurch ihr mütterlicher Schmerz über den Tod ihres Soh-
nes bezeichnet, also die Ansicht, daſs dem Messias ein ge-
waltsamer Tod bevorstehe, als eine schon vor Christo vor-
handene dargestellt zu werden scheint. Noch deutlicher
liegt die Idee von einem leidenden Messias in den Worten,
welche das vierte Evangelium (1, 29.) den Täufer bei'm
Anblick Jesu sprechen läſst, er sei ὁ ἀμνὸς τοῦ ϑεοῦ ὁ αἴ-
ρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου, ein Ausspruch, welcher, in
seiner Beziehung auf Jes. 53., im Munde des Täufers gleich-
falls dafür sprechen würde, daſs die Vorstellung eines süh-
nenden Leidens des Messias schon vor Jesu vorhanden ge-
[318]Dritter Abschnitt.
wesen sei. Allein beide Stellen sind bereits oben als un-
historisch nachgewiesen, und es darf daraus, daſs die ur-
christliche Sage geraume Zeit nach dem Erfolge sich be-
wogen fand, Personen, welche sie für gottbegeisterte hielt,
eine Vorkenntniſs des göttlichen Rathschlusses hinsichtlich
des Todes Jesu in den Mund zu legen, keineswegs gefol-
gert werden, daſs wirklich schon vor dem Tode Jesu die-
se Einsicht vorhanden gewesen. — Schlieſslich wird das
noch geltend gemacht, daſs die Evangelisten und Apostel
die Idee eines leidenden und sterbenden Messias im A. T.
nachweisen, woraus man schlieſsen zu dürfen glaubt, daſs
diese Deutung der betreffenden A. T.lichen Stellen damals
unter den Juden nicht unerhört gewesen sei. Allerdings
berufen sich Petrus (A. G. 3, 18. 1. Petr. 1, 11 f.) und
Paulus (A. G. 26, 22 f. 1. Kor. 15, 3.) auf Moses und
die Propheten als Verkündiger des Todes Jesu, und Phi-
lippus deutet dem äthiopischen Eunuchen die Stelle Jes. 53.
auf die Leiden Christi (A. G. 8, 35.): allein, da die ge-
nannten Männer alles dieſs nach dem Erfolg sprachen und
schrieben, so haben wir keine Sicherheit, ob sie nicht auch
bloſs aus dem Erfolg heraus, und ohne sich an eine unter
ihren jüdischen Zeitgenossen übliche Auslegungsweise an-
zuschlieſsen, jenen A. T.lichen Stellen eine Beziehung auf
das Leiden des Messias gegeben haben 12).
Wenn auf diese Weise die Annahme, daſs die in Frage
stehende Idee schon zu Jesu Lebzeiten unter seinen Volks-
genossen vorhanden gewesen sei, im N. T. keinen festen
Grund hat: so fragt sich jezt, ob ein solcher vielleicht in
den späteren jüdischen Schriften zu finden ist. Zu den äl-
testen uns übrigen Schriften dieser Klasse gehören die bei-
den chaldäischen Paraphrasen von Onkelos und Jonathan,
und von diesen pflegt das Targum des lezteren, der rab-
[319]Erstes Kapitel. §. 108.
binischen Tradition zufolge eines Schülers von Hillel d. Ä., 13),
für die Vorstellung von einem leidenden Messias deſswegen an-
geführt zu werden, weil es die Stelle Jes. 52, 13—53, 12. auf
den Messias beziehe. Allein mit der Auslegung dieser Stelle
im Targum Jonathan hat es die eigene Bewandtniſs, daſs
dasselbe zwar den Abschnitt im Allgemeinen messianisch
deutet, so oft aber von Leiden und Tod die Rede wird,
recht absichtlich und meistens höchst gewaltsam entweder
diese Begriffe vermeidet, oder auf ein anderes Subjekt, das
Volk Israël, ausbeugt: zum deutlichen Beweise, daſs dem
Verfasser Leiden und gewaltsamer Tod mit dem Begriff
des Messias unvereinbar geschienen habe 14). Doch dieſs
soll eben der Anfang der Abirrung vom wahren Sinn des
Orakels sein, zu welcher die späteren Juden ihr fleischli-
cher Sinn und die Opposition gegen das Christenthum ver-
leitet habe: die älteren Ausleger haben, sagt man, in der
[320]Dritter Abschnitt.
jesaianischen Stelle einen leidenden und sterbenden Messias
gefunden. Allerdings bezeugen Abenesra, Abarbanel und
Andre, manche alte Lehrer haben Jes. 53. auf den Mes-
sias bezogen 15): allein einige dieser Angaben lassen dun-
kel, ob nicht ebenso bloſs stückweise, wie Jonathan, und
bei allen bleibt zweifelhaft, ob die Erklärer, von denen
sie sprechen, zum Alter Jonathan's hinaufreichen, was
ohnehin von den Theilen des Buchs Sohar, welche die
bezeichnete Stelle auf den leidenden Messias deuten 16),
unwahrscheinlich ist. Diejenige Schrift aber, welche ne-
ben Jonathan noch am nächsten an die Zeit Jesu hinanrei-
chen möchte, das pseudepigraphische vierte Buch Esra,
der wahrscheinlichsten Rechnung zufolge kurz nach der
Zerstörung Jerusalems unter Titus abgefaſst 17), erwähnt
zwar des Todes des Messias, aber nicht eines leidensvollen,
sondern nur eines solchen, wie er nach der langen Dauer
des messianischen Reichs der allgemeinen Auferstehung vor-
angehen sollte 18). Die Vorstellung von groſsen Drangsa-
len allerdings, welche gleichsam als Geburtswehen des
Messias (הבלי המישיח, vgl. ἀρχὴ ὠδίνων Matth. 24, 8.) der
messianischen Zeit vorangehen würden, ist ohne Zweifel
schon vor Christo verbreitet gewesen 19), und ebenso frü-
he scheint an die Spitze dieser, besonders das Volk Israël
bedrängenden Übel der ἀντίχριςος gestellt worden zu sein,
welchen der χριςὸς zu bekämpfen haben würde (2 Thess.
14)
[321]Erstes Kapitel. §. 108.
2, 3 ff.) 20): aber, indem er denselben auf übernatürliche
Weise, τῷ πνεύματι τοῦςόματος αὺτοῦ, vernichten sollte, so
war hierin noch kein Leiden für den Messias enthalten.
Dennoch finden sich Stellen, in welchen von einem Leiden
des Messias, und zwar von einem stellvertretenden für das
Volk, die Rede ist 21): allein theils ist dieſs nur ein Lei-
den, kein Sterben des Messias; theils trifft es denselben
entweder vor seiner Herabkunft in das irdische Leben, in
seiner Präexistenz 22), oder in der Verborgenheit, in wel-
cher er sich von seiner Geburt bis zu seinem messianischen
Auftritt hält 23); theils ist das Alter dieser Vorstellungen
zweifelhaft, und sie könnten nach einigen Spuren erst von
der Zerstörung des jüdischen Staats durch Titus sich zu
datiren scheinen 24). Indessen fehlt es in jüdischen Schrif-
ten keineswegs an Stellen, in welchen geradezu behaup-
tet wird, daſs ein Messias auf gewaltsame Weise umkom-
men werde: allein diese betreffen nicht den eigentlichen
Messias, den Abkömmling Davids, sondern einen andern,
aus der Nachkommenschaft Josephs und Ephraims, wel-
cher dem ersteren in untergeordneter Stellung beigegeben
wurde. Dieser Messias ben Joseph sollte dem Messias
ben David vorangehen, die zehn Stämme des ehmaligen
Reichs Israël mit den zwei Stämmen des Reichs Juda ver-
einigen, hierauf aber im Kriege gegen Gog und Magog
durch das Schwert umkommen, worauf die Stelle Zach.
12, 10. bezogen wurde 25). Doch von diesem zweiten, ster-
Das Leben Jesu II. Band. 21
[322]Dritter Abschnitt.
benden Messias fehlen vor der babylonischen Gemara, wel-
ehe im 5ten und 5ten Jahrhundert nach Christo gesammelt
ist, und dem in Bezug auf sein Alter höchst zweifelhaften
Buch Sohar, die sicheren Spuren 26).
Obschon es hienach nicht nachweislich und selbst nicht
wahrscheinlich ist, daſs die Vorstellung von einem leiden-
den Messias zu Jesu Zeit schon unter den Juden vorhan-
den gewesen: so bliebe doch immer möglich, daſs auch
ohne solchen Vorgang Jesus selbst durch Beobachtung der
Verhältnisse, und Vergleichung derselben mit A. T.lichen
Erzählungen und Weissagungen, auf den Gedanken gekom-
men wäre, daſs Leiden und Sterben zum Amt und zur
Bestimmung des Messias gehöre; wobei dann aber na-
türlicher wäre, daſs er allmählig erst im Laufe seiner öf-
fentlichen Wirksamkeit diese Überzeugung gefaſst, und sie
hauptsächlich nur seinen Vertrauten mitgetheilt, als daſs
er sie schon von Anfang an gehabt, und sie vor Gleich-
gültigen, ja Feinden, ausgesprochen hätte: dieses die Art,
wie Johannes, jenes, wie die Synoptiker die Sache dar-
stellen.
Auch in Bezug auf die Äusserungen Jesu über den
Zweck und die Wirkungen seines Todes können wir, wie
oben bei der Vorherverkündigung des Todes selbst, einen
mehr natürlichen Gesichtspunkt von einem mehr suprana-
turalistischen unterscheiden. Wenn Jesus im vierten Evan-
gelium sich mit dem treuen Hirten vergleicht, der für sei-
ne Schafe das Leben lasse (10, 11. 15.): so kann dieſs
den ganz natürlichen Sinn haben, daſs er von seinem Hir-
ten- und Lehramte nicht zu weichen gesonnen sei, sollte
auch in Führung desselben der Tod ihm drohen (morali-
sche Nothwendigkeit seines Todes) 27); der ahnungsvolle
Ausspruch in demselben Evangelium (12, 24.), wenn das
[323]Erstes Kapitel. §. 108.
Samenkorn nicht in die Erde fallend ersterbe, bleibe es
einsam, ersterbe es aber, so bringe es viele Frucht, läſst
eine ebenso rationale Erklärung von der siegenden Kraft
jedes Märtyrertods für eine Idee und Überzeugung zu (mo-
ralische Wirksamkeit seines Todes) 28); endlich, was sich
in den johanneischen Abschiedsreden so oft wiederholt, es
sei den Jüngern gut, daſs Jesus hingehe, denn ohne sei-
nen Hingang könnte der παράκλητος nicht zu ihnen kom-
men, der ihn in ihnen verklären, und sie in alle Wahrheit
leiten werde, darin könnte man die ganz natürliche Über-
legung Jesu finden, daſs ohne die Aufhebung seiner sinnli-
chen Gegenwart die bis dahin noch so sinnlichen messia-
nischen Vorstellungen seiner Jünger nicht vergeistigt wer-
den würden (psychologische Wirksamkeit seines Todes) 29).
Mehr der supranaturalistischen Betrachtungsweise gehört
dasjenige an, was Jesus bei der Stiftung des Abendmahls
spricht. Denn wenn zwar das, was die beiden mittleren
Evangelisten ihn hiebei sagen lassen, daſs das dargereichte
‘ποτήριον τὸ αἷμα τῆς καινῆς διαϑήκης’ (Marc. 14, 24.),
‘ἡ καινὴ διαϑήκη ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ’ (Luc. 22, 20.) sei, nur so
viel zu bedeuten scheinen könnte: wie durch die blutigen
Opfer am Sinai der Bund des alten Volkes mit Gott, so
werde durch sein, des Messias, Blut in höherer Weise
der Bund der neuen um ihn sich sammelnden Gemeinde
besiegelt: so verschmilzt hingegen in der Relation des Mat-
thäus, wenn er (26, 28) Jesum hinzusetzen läſst, sein Blut
werde vergossen für Viele εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, die Vor-
stellung des Bundesopfers mit der von einem Sühnopfer,
und auch bei den beiden andern ist durch den Zusaz: τὸ
περὶ πολλῶν oder ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυνόμενον, über das bloſse
Bundesopfer zum Sühnopfer hinausgegangen. Wenn fer-
ner im ersten Evangelium (20, 28.) Jesus sagt, er müsse
21 *
[324]Dritter Abschnitt.
δοῦναι τὴν ψυχὴν αὑτοῦλύτρον ἀντὶ πολλῶν: so ist dieſs ohne
Zweifel auf Jes. 53. zu beziehen, wo, nach einer, dem He-
bräer auch sonst geläufigen Vorstellung (Jes. 43, 3. Prov.
21, 18.) dem Tode des Knechts Jehova's eine sühnende
Beziehung auf die übrige Menschheit gegeben wird.
Hienach könnte Jesus durch psychologische Reflexion
darauf gekommen sein, wie zuträglich der geistigen Ent-
wicklung seiner Jünger eine solche Katastrophe sein wer-
de, und nationalen-Vorstellungen gemäſs mit Berücksichti-
gung A. T.licher Stellen selbst auf die Idee einer sühnen-
den Kraft seines messianischen Todes. Indessen könnte
doch namentlich das, was die Synoptiker Jesum von sei-
nem Tod als Sühnopfer sagen lassen, mehr dem nach Je-
su Tode ausgebildeten System anzugehören, und was der
vierte Evangelist ihm über die Beziehung seines Todes
zum Paraklet in den Mund legt, ex eventu gesagt zu sein
scheinen, so daſs auch bei diesen Aussprüchen Jesu über
den Zweck seines Todes eine Sonderung des Allgemeinen
vom Speciellen vorgenommen werden müſste.
§. 109.
Bestimmte Aussprüche Jesu über seine künftige Auferstehung.
Mit nicht minder klaren Worten als seinen Tod, und
mit einer besonders genauen Zeitbestimmung, hat den evan-
gelischen Nachrichten zufolge Jesus auch seine Auferste-
hung verausverkündigt. So oft er seinen Jüngern sagte,
des Menschen Sohn werde am Kreuze getödtet werden,
sezte er hinzu: καὶ τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναςήσεται oder ἐγερ-
ϑήσεται (Matth. 16, 21. 17, 23. 20, 19. parall. vgl. 17, 9.
26, 32. parall.).
Aber auch von dieser Vorherverkündigung heiſst es,
die Jünger haben sie nicht gefaſst, so wenig, daſs sie sogar
miteinander stritten, τί ἐςι τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναςῆναι (Marc.
[325]Erstes Kapitel. §. 109.
9, 10.); und gemäſs diesem Nichtverstehen zeigen sie so-
fort nach dem Tode Jesu keine Spur einer Erinnerung,
daſs ihnen ein auf das Sterben folgendes Auferstehen Je-
su vorhergesagt war, keinen Funken von Hoffnung, daſs
diese Zusage in Erfüllung gehen werde. Als die Freunde
den vom Kreuz abgenommenen Leichnam in das Grab
gelegt hatten, nahmen sie (Joh. 19, 40.) — oder behielten
sich die Frauen (Marc. 16, 1. Luc. 23, 56.) — die Einbal-
samirung vor, was man doch nur bei einem solchen thut,
welchen man als eine Beute der Verwesung betrachtet;
als an dem Morgen, welcher nach N. T.licher Rechnung den
vorausbestimmten Auferstehungstag eröffnete, die Frauen
zum Grabe giengen, dachten sie so wenig an eine vorher-
gesagte Auferstehung, daſs ihnen die vermuthliche Schwie-
rigkeit, den Stein vom Grab zu wälzen, Besorgniſs mach-
te (Marc. 16, 3.); als Maria Magdalena und später Petrus
das Grab leer fanden, hätte ihr erster Gedanke sein müs-
sen, daſs nun die Auferstehung wirklich erfolgt sei, wenn
eine solche vorausgesagt war: statt dessen vermuthet jene,
der Leichnam möchte gestohlen sein (Joh. 20, 2.), Petrus
aber verwundert sich bloſs, ohne auf eine bestimmte Ver-
muthung zu kommen (Luc. 24, 12.); als die Weiber den
Jüngern von der gehabten Engelerscheinung sagten, und
sich des Auftrags der Engel entledigten, hielten die Jün-
ger ihre Aussage theils für leeres Geschwäz (λῆρος Luc.
24, 11.), theils wurden sie zu schreckenvollem Erstaunen
erregt (ἐξέςησαν ἡμᾶς, Luc. 24, 21 ff.); als Maria Magda-
lena, und hernach die Emmauntischen Jünger, die Eilfe
versicherten, den Auferstandenen selbst gesehen zu haben,
schenkten sie auch dieser Aussage keinen Glauben (Marc.
16, 11. 13.), wie später Thomas sogar der Versicherung
seiner Mitapostel nicht (Joh. 20, 25.); endlich, als Jesus
selbst in Galiläa den Jüngern erschien, gaben noch nicht
alle den Zweifel auf (οἱ δὲ ἐδίςασαν, Marc. 28, 17.). Dieſs
Alles muſs man wohl mit dem Wolfenbüttler Fragmenti-
[326]Dritter Abschnitt.
sten 1) unbegreiflich finden, wenn Jesus seine Auferstehung
so klar und bestimmt vorhergesagt hatte.
Zwar, wie das Benehmen der Jünger nach Jesu Tod
gegen eine solche von Jesu gegebene Voraussage spricht,
so scheint das seiner Feinde dafür zu sprechen. Denn
daſs nach Matth. 27, 62 ff. die Hohenpriester und Pha-
risäer an das Grab Jesu sich von Pilatus eine Wache
erbitten, hat nach ihrer eigenen Erklärung darin seinen
Grund, daſs Jesus bei seinem Leben noch gesagt haben
sollte: μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἐγείρομαι. Allein diese Erzäh-
lung des ersten Evangeliums, die wir erst unten näher
würdigen können, entscheidet noch nichts, sondern tritt
nur auf die eine Seite des Dilemma, so daſs wir nun sa-
gen müssen: wenn die Jünger nach dem Tode Jesu sich
wirklich so benahmen, dann kann weder er seine Aufer-
stehung vorhergesagt, noch können die Juden aus Rück-
sicht auf eine solche Vorherverkündigung eine Wache an
sein Grab bestellt haben; oder, wenn die beiden lezteren
Angaben richtig sind, können die Jünger sich nicht so be-
nommen haben.
Die Schärfe dieses Dilemma hat man dadurch abzu-
stumpfen versucht, daſs man den oben angeführten Vorher-
verkündigungen nicht den eigentlichen Sinn einer Wieder-
kehr des gestorbenen Jesu aus dem Grabe, sondern nur
den uneigentlichen eines neuen Aufschwungs seiner unter-
drückten Lehre und Sache unterlegte 2). Wie die A. T.-
lichen Propheten, wurde gesagt, die Wiederherstellung des
israëlitischen Volks zu neuem Wohlergehen unter dem Bil-
de einer Auferstehung der Todten darstellen (Jes. 26, 19.
Ezech. 37.), wie sie die kurze Frist, innerhalb welcher
[327]Erstes Kapitel. §. 109.
unter gewissen Bedingungen diese Wendung der Dinge zu
erwarten wäre, durch den Ausdruck bezeichnen, in zwei
bis drei Tagen werde Jehova das Geschlagene aufrichten
und das Getödtete wiederbeleben (Hos. 6, 2. 3)), eine Zeit-
angabe, welche auch Jesus unbestimmt für eine kurze Zeit
gebrauche (Luc. 13, 32.): so wolle er mit dem Ausdruck,
er werde nach seinem Tode τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ ἀναςῆναι, nichts
Anderes sagen, als, wenn auch er der Gewalt seiner Fein-
de unterliegen und getödtet werden sollte, so werde das
von ihm begonnene Werk doch nicht untergehen, sondern
in kurzer Zeit einen neuen Aufschwung nehmen. Diese
von Jesu bloſs bildlich gemeinten Redensarten haben die
Apostel, nachdem Jesus leiblich auferstanden war, eigent-
lich genommen, und für Weissagungen auf seine persön-
liche Wiederbelebung angesehen. Daſs nun in den ange-
führten Prophetenstellen das הׇיׇה, קוּם und הֵקׅיץ nur den an-
gegebenen tropischen Sinn habe, ist richtig, aber in Stellen,
deren ganzer Zusammenhang tropisch ist, und wo namentlich
das dem Wiederbeleben vorangegangene Schlagen und Töd-
ten selbst nur einen figürlichen Sinn hatte. Daſs dage-
gen hier, wo die ganze vorhergehende Reihe von Ausdrü-
cken, das παραδίδοσϑαι, κατακρίνεσϑαι, ςαυροῦσϑαι, ἀπο-
κτείνεσϑαι u. s. f., eigentlich zu nehmen war, auf Einmal
mit dem ἐγερϑῆναι und ἀναςῆναι eine uneigentliche Bedeu-
tung eintreten sollte, würde doch ein unerhörter Absprung
sein; dessen nicht zu gedenken, daſs Stellen, wie Matth.
26, 32, wo Jesus sagt: μετὰ τὸ ἐγερϑῆναί με προάξω ὑμᾶς
εἰς τὴν Γαλιλαίαν, nur bei der eigentlichen Bedeutung des
ἐγείρεσϑαι einen Sinn haben. Ebenso steht die Zeitbe-
stimmung des dritten Tages an den beiden Stellen, auf
welche man sich für die ungenaue und sprichwörtliche Be-
deutung einer kurzen Zeit überhaupt beruft, in einem Zu-
[328]Dritter Abschnitt.
sammenhang, welcher von selbst auf einen solchen Sinn
des Ausdrucks führt, indem in der Prophetenstelle vor
dem ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ – μετὰ δύο ἡμέρας, in der evan-
gelischen aber vor dem τῇ τρίτῃ – σήμερον καὶ αὔριον steht:
wogegen in allen Stellen, wo Jesus seine Auferstehung
verkündigt, jede solche Veranlassung, von dem bestimmten
Sinn des Ausdrucks abzugehen, fehlt 4). Hat also Jesus
wirklich die Ausdrücke, und in dem Zusammenhang, ge-
braucht, wie die Evangelisten sie ihm in den Mund legen,
so kann er durch dieselben nicht blos uneigentlich den
baldigen Sieg seiner Sache haben verkündigen wollen, son-
dern seine Meinung muſs die gewesen sein, er selbst wer-
de drei Tage nach seinem gewaltsamen Tod auf's Neue in
das Leben zurückkehren.
Da jedoch Jesus, dem Benehmen seiner Jünger nach
seinem Tode zufolge, seine Auferstehung nicht mit deutli-
chen Worten vorherverkündigt haben kann: so haben sich
andre Ausleger zu der Einräumung verstanden, die Evan-
gelisten haben den Reden Jesu nach dem Erfolg eine Be-
stimmtheit gegeben, welche sie in Jesu Mund noch nicht
gehabt haben; sie haben das, was Jesus bildlich vom Auf-
schwung seiner Sache nach seinem Tode gesagt habe, nicht
bloſs eigentlich verstanden, sondern es dieser Auffassung
gemäſs auch so umgeformt, daſs, wie wir es jezt lesen,
wir es allerdings eigentlich verstehen müssen 5). Doch
nicht alle betreffenden Reden Jesu seien auf diese Weise
verändert, sondern hie und da auch noch seine ursprüng-
lichen Ausdrücke stehen geblieben.
[329]Erstes Kapitel. §. 110.
§. 110.
Bildliche Reden, in welchen Jesus seine Auferstehung vorher-
verkündigt haben soll.
Schon zu Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit hat
dem vierten Evangelium zufolge Jesus die ihm feindlich ge-
sinnten Juden in bildlicher Rede auf seine künftige Auf-
erstehung hingewiesen (2, 19 ff.). Nachdem während sei-
nes ersten messianischen Festbesuchs der Marktunfug im
Tempel ihn zu jenem Schritte heiligen Eifers bewogen hat-
te, von welchem oben die Rede gewesen, und wie nun die
Juden ihn um ein Zeichen angiengen, durch welches er
sich als einen Gottgesandten legitimiren sollte, der zur
Vornahme solcher Gewaltmaſsregeln Befugniſs hätte, giebt
ihnen Jesus die Antwort: λύσατε τὸν ναὸν τοῦτον, καὶ ἐν
τρισὶν ἡμέραις ἐγερῶ αὐτόν. Die Juden nahmen diese Wor-
te in dem Sinn, welcher, da sie im Tempel gesprochen
wurden, am nächsten lag, und hielten Jesu entgegen, daſs
er diesen Tempel, zu dessen Bau man 46 Jahre gebraucht
habe, wohl schwerlich, wenn er zerstört wäre, in 3 Tagen
wieder aufzurichten im Stande sein dürfte; aber der Evan-
gelist belehrt uns, dieſs sei nicht die Meinung Jesu gewe-
sen, sondern dieser habe, wie übrigens den Jüngern erst
nach seiner Auferstehung klar geworden sei, von dem ναὸς
τοῦ σώματος αὑτοῦ geredet, d. h. also durch das Abbrechen
und Wiederaufbauen des Tempels auf seinen Tod und seine
Auferstehung hingedeutet. Giebt man hiebei auch zu, was
indessen gemäſsigte Ausleger leugnen 1), daſs Jesus die Ju-
den mit ihrer Forderung eines gegenwärtigen Zeichens (wie
er es auch Matth. 12, 39 f. gethan haben soll) füglich auf
seine einstige Auferstehung, als das gröſste und namentlich
für seine Feinde beschämendste Wunder in seiner Ge-
schichte, habe verweisen können: so muſste diese Hinwei-
sung doch von der Art sein, daſs sie möglicherweise ver-
[330]Dritter Abschnitt.
standen werden konnte (wie Matth. a. d. a. St. Jesum
ganz unumwunden sich erklären läſst). So hingegen, wie
wir hier den Ausspruch Jesu haben, konnte er, als ihn
Jesus that, unmöglich in diesem Sinne begriffen werden.
Denn wer im Tempel von der Zerstörung dieses Tempels
spricht, dessen Rede wird Jedermann auf eben das Tem-
gebäude, in welchem er sich befindet, beziehen. Es müſs-
te demnach Jesus, als er das τὸν ναὸν τοῦτον sprach, auf
seinen Leib gedeutet haben, was auch die Freunde dieser
Erklärung meistens voraussetzen 2). Allein für's Erste
sagt der Evangelist von einem solchen Gestus nichts, un-
erachtet es in seinem Interesse lag, zur Unterstützung sei-
ner Deutung denselben hervorzuheben. Für's Andere hat
Gabler mit Recht darauf aufmerksam gemacht, wie matt
und schaal es gewesen wäre, einer Rede, welche nach Al-
lem, was in ihr Wort, also Logisches war, sich auf das
Tempelgebäude bezog, durch einen bloſsen Zusaz von Mi-
mischem eine ganz andere Beziehung zu geben. Hat sich
aber Jesus dieser Hülfe bedient, so konnte sein Fingerzeig
nicht unbemerkt bleiben; es muſsten die Juden eher dar-
über mit ihm rechten, wie er zu dem Übermuth komme,
seinen Leib ναὸς zu nennen, oder wenn auch dieſs nicht,
so konnten doch in Folge jener Aktion die Jünger nicht
bis nach der Auferstehung Jesu über den Sinn seiner Re-
de im Dunkeln bleiben 3).
Durch diese Schwierigkeiten fand sich die neuere
Exegese gedrungen, die johanneische Auslegung der Wor-
te Jesu als eine ex eventu gemachte Miſsdeutung zu ver-
lassen, und zu versuchen, unabhängig von der Erklärung
[331]Erstes Kapitel. §. 110.
des Referenten in den Sinn der räthselhaften Rede einzu-
dringen, welche er Jesu in den Mund legt 4). Der Auf-
fassung der Juden, welche die Worte Jesu auf ein wirkli-
ches Abbrechen und Wiederaufbauen des Nationalheilig-
thums bezogen, kann man nicht beistimmen wollen, ohne
Jesu gegen seinen sonstigen Charakter eine in's Ungeheu-
re getriebene leere Groſssprecherei zuzuschreiben. Sieht
man sich deſswegen nach einem irgendwie uneigentlichen
Verstande des Ausspruchs um, so begegnet man in demsel-
ben Evangelium zuerst der Stelle 4, 21 ff., wo Jesus der
Samariterin verkündigt, es komme nächstens die Zeit, wo
man nicht mehr ἐν Ἱεροσολύμοις den Vater anbeten, son-
dern ihn als Geist geistig verehren werde. Eine Abro-
girung des vermeintlich allein gültigen Tempelcultus zu Je-
rusalem könnte das λύειν des ναὸς auch in unsrer Stelle
ursprünglich bedeutet haben. Diese Auffassung wird durch
eine Erzählung der Apostelgeschichte, 6, 14., bestätigt.
Stephanus, welcher, wie es scheint, den in Frage stehen-
den Ausspruch Jesu adoptirt hatte, wurde von seinen An-
klägern beschuldigt, geäussert zu haben, ὅτι Ἰησοῦς ὁ Να-
ζωραῖος οὖτος καταλύσει τὸν τόπον τοῦτον, καὶ ἀλλάξει τὰ
ἔϑη, ἃ παρέδωκε Μωϋσῆς, wo demnach als Folge des Tem-
pelabbruchs eine Änderung der mosaischen Religionsver-
fassung, ohne Zweifel eine Vergeistigung derselben, be-
zeichnet wird. Dazu kommt noch eine Stelle in den
synoptischen Evangelien. Dieselben Worte beinahe, wel-
che bei Johannes Jesus selbst ausspricht, kommen in den
zwei ersten Evangelien (Matth. 26, 60 f. Marc. 14, 57 f.)
als Anklage falscher Zeugen gegen ihn vor, und hier hat
Markus den Zusaz, daſs er den abzubrechenden ναὸς als
χειροποίητος, den von Jesus neu zu bauenden als ἄλλος,
[332]Dritter Abschnitt.
ἀχειροποίητος bezeichnet, was derselbe Gegensaz von sinn-
licher und geistiger Religionsverfassung zu sein scheint.
Demgemäſs läſst sich nun auch die johanneische Stelle so
erklären: das ist das Zeichen meiner Vollmacht, daſs ich im
Stande bin, an die Stelle des mosaischen Ceremonialdien-
stes in kürzester Frist einen neuen, geistigen Gottesdienst
zu setzen. Allein, abgesehen von der minder bedeuten-
den Schwierigkeit, daſs bei Johannes nicht wie bei den
Synoptikern das Subjekt gewechselt, und der neuzuer-
richtende ναὸς als ἄλλος, sondern durch αὐτὸς als dersel-
be mit dem zerstörten bezeichnet wird 5), so läſst sich na-
mentlich das ἐν τρισὶν ἡμέραις nach dem oben Ausgeführ-
ten auch hier nicht ohne Weiteres in dem unbestimmten
Sinne von kurzer Zeit fassen 6): in seiner genauen Bedeu-
dung genommen aber paſst es nur als Termin der Aufer-
stehung Jesu, nicht aber der Vergeistigung des Religions-
wesens.
So von beiden Erklärungen in gleicher Weise augezo-
gen und abgestoſsen, flüchtet sich Olshausen zu einem Dop-
pelsinn, welcher indeſs nicht zwischen der johanneischen
und der zulezt dargelegten symbolischen, sondern zwischen
der johanneischen Deutung und der jüdischen die Mitte
hält, indem Jesus nur, um die Juden abzuweisen, sie zum
Abbrechen ihres Tempels, als zu etwas Unmöglichem, auf-
gefordert, und unter dieser nie eintreffenden Bedingung
sich zum Bau eines neuen erboten haben soll; so jedoch,
daſs neben diesem ostensibeln Sinn für die Menge noch ein
verborgener hergieng, der den Jüngern erst nach der Auf-
erstehung klar wurde, nach welchem ναὸς den Leib Jesu
bezeichnete. Allein jene an die Juden gerichtete Aufforde-
rung sammt dem darangehängten Erbieten wäre ein un-
würdiger Muthwille, die darin verborgene Andeutung für
[333]Erstes Kapitel. §. 110.
die Jünger eine nuzlose Spielerei gewesen, und überhaupt
ist ein Doppelsinn dieser Art in der Rede eines verständi-
gen Menschen unerhört. Da man auf diese Weise an der
Erklärbarkeit der johanneischen Stelle ganz verzweifeln
möchte, so beruft sich der Verfasser der Probabilien dar-
auf, daſs die Synoptiker die Zeugen, welche vor Gericht
behaupteten, Jesus habe jenen Ausspruch gethan, als ψευ-
δομάρτυρας bezeichnen, woraus er folgert, daſs Jesus so
etwas, wie Johannes ihn hier sprechen lasse, gar nicht
gesagt habe, und sich somit einer Erklärung der johannei-
schen Stelle überhebt, indem er sie als ein Figment des
vierten Evangelisten betrachtet, welcher die Verläumdung
jener Ankläger sowohl erklären, als durch eine mystische
Deutung der Worte Jesu habe abwenden wollen 7). Al-
lein theils folgt aus der synoptischen Bezeichnung jener
Zeugen als falscher nicht, daſs der Ansicht jener Evange-
listen zufolge Jesus gar nichts von dem, wessen sie ihn
beschuldigten, gesagt habe, da er es ja auch nur etwas an-
ders gesagt oder anders gemeint haben kann, theils ist,
wenn er gar nichts der Art gesagt haben soll, schwer zu
erklären, wie die falschen Zeugen auf jene Aussage, und
namentlich auf das sonderbare ἐν τρισὶν ἡμέραις gekommen
sein sollen.
Wenn hienach bei jeder Deutung des Ausspruchs, aus-
ser bei der unmöglichen auf den Leib Jesu, das ἐν τρισὶν
ἡμέραις einen Anstoſs bildet: so werden wir, wie es scheint,
auf diejenige Relation des Ausspruchs hingewiesen, in wel-
cher jene Zeitbestimmung fehlt, d. h. auf die Relation der
Apostelgeschichte. Hier wird Stephanus nur beschuldigt,
gesagt zu haben, ὅτι Ἰ. ὁ Ναζ. οὖτος καταλύσει τὸν τόπον
τοῦτον (τὸν ἅγιον), καὶ ἀλλάξει τὰ ἔϑη ἃ παρέδωκε Μωϋσῆς.
Das Falsche an dieser Aussage — denn auch die Zeugen
gegen Stephanus werden als μάρτυρες ψευδεῖς bezeichnet —
[334]Dritter Abschnitt.
könnte der zweite Saz sein, welcher mit eigentlichen Wor-
ten von einer Änderung der mosaischen Religionsverfas-
sung spricht, und statt dessen Stephanus wohl in der oben
ausgeführten figürlichen Bedeutung gesagt haben: καὶ
πάλιν οἰκοδομήσει αἰτὸν, oder καὶ ἄλλον (ἀχειροποίητον)
οἰκοδομήσει.
Hatte nun in diesem Sinne auch schon Jesus jenen
Ausspruch, aber ohne die Bestimmung der drei Tage, ge-
than, und dadurch unter den Juden bedeutenden Anstoſs
erregt, so lag es nach seiner Auferstehung nahe, den zu
zerstörenden und wiederaufzubauenden Tempel als Bezeich-
nung des Leibes Jesu aufzufassen, um theils den jüdischen
Beschuldigungen auszuweichen, theils eine Weissagung der
Auferstehung mehr zu haben. Einmal aber den Ausspruch
auf die Auferstehung bezogen, ergab es sich von selbst,
daſs zuerst auch das bei der Bestimmung von dieser solenne
ἐν τρισὶν ἡμέραις hineingetragen, und dann weiterhin das
ἄλλον in αὐτὸν, das οἰκοδομήσω in ἐγερῶ verwandelt wurde.
Wie hier durch das Bild vom abzubrechenden und neu
aufzubauenden Tempel, so soll Jesus bei einer andern Ge-
legenheit durch das Vorbild des Propheten Jonas auf seine
Auferstehung im Voraus hingedeutet haben (Matth. 12, 39 ff.
vgl. 16, 4. Luc. 11, 29 ff.). Als die Schriftgelehrten und
Pharisäer ein σημεῖον von ihm zu sehen verlangten, soll
Jesus ihr Ansinnen durch die Erwiederung zurückgewiesen
haben, daſs einer so schlimmen γενεὰ kein Zeichen gege-
ben werde, als τὸ σημεῖον Ἰωνᾶ τοῦ προφήτου, welches in der
ersten Stelle bei Matthäus Jesus selbst dahin erklärt: wie
Jonas drei Tage und drei Nächte ἐν τῇ κοιλίᾳ τοῦ κήτους ge-
wesen sei, so werde auch des Menschen Sohn drei Tage
und drei Nächte ἐν τῇ καρδίᾳ τῆς γῆς zubringen. An der
zweiten Stelle, wo Matthäus Jesu diesen Ausspruch leiht,
wiederholt er die angegebene Deutung nicht; Lukas aber
in der Parallelstelle erklärt denselben nur so: καϑὼς γὰρ
ἐγένετο Ἰωνᾶς σημεῖον τοῖς Νινευΐταις, οὑτως ἔςαι καὶ ὁ υιὸς
[335]Erstes Kapitel. §. 110.
τοῦ ἀνϑρώπουτῇ γενεᾷ ταύτῃ. Gegen die Möglichkeit, daſs
Jesus die Auslegung des Jonaszeichens, welche ihm Mat-
thäus, V. 40., in den Mund legt, selbst gegeben habe,
läſst sich Verschiedenes einwenden. Das zwar, daſs Jesus
von drei Tagen und drei Nächten, welche er im Herzen
der Erde zubringen werde, deſswegen nicht habe sprechen
können, weil er nur einen Tag und zwei Nächte im Grabe
gewesen sei 8), wird sich schwerlich entgegenhalten las-
sen, da der N. T.liche Sprachgebrauch entschieden die Ei-
genheit hat, den Aufenthalt Jesu im Grabe, weil er den
Tag vor dem Sabbat durch den Abend, und den nach dem
Sabbat durch den Morgen noch berührte, einen dreitägigen
zu nennen; wurde aber einmal dieser Eine Tag sammt
zwei Nächten für drei volle Tage genommen, so war es
nur eine Umschreibung dieses Vollseins, daſs zu den Ta-
gen auch noch die Nächte gesezt wurden, was sich ohne-
hin in der Vergleichung mit den drei Tagen und Nächten
des Jonas von selbst ergab 9). Dagegen wäre es, wenn
Jesus von dem σημεῖον Ἰωνᾶ die Erklärung gab, welche
ihm Matthäus leiht, eine so klare Voraussagung seiner
Auferstehung gewesen, daſs aus denselben Gründen, wel-
che nach dem Obigen den eigentlichen Vorausverkündigun-
gen derselben entgegenstehen, Jesus auch diese Erklärung
nicht gegeben haben kann. Jedenfalls muſste sie die nach
V. 49. anwesenden Jünger zu einer Frage an Jesum ver-
anlassen, wo sich dann nicht einsehen läſst, warum er ih-
nen die Sache nicht vollends klar gemacht, also mit eigent-
lichen Worten seine Auferstehung vorherverkündigt haben
sollte. Kann er aber dieſs nicht gethan haben, weil sonst
die Jünger nach seinem Tod sich nicht so benommen ha-
ben könnten, wie sie sich den evangelischen Nachrichten
zufolge benahmen: so kann er auch nicht durch jene Ver-
Bogen 21. ist S. 335 u. 336 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.
[336]Dritter Abschnitt.
gleichung des ihm bevorstehenden Sehicksals mit dem des
Jonas eine Frage der Jünger hervorgerufen haben, welche
er, wenn sie an ihn gestellt wurde, auch beantworten
muſste, aber dem Erfolg nach nicht beantwortet haben kann.
Aus diesen Gründen hat sich die neuere Kritik dahin
ausgesprochen, daſs die Matthäische Erklärung des σημεῖον
Ἰωνᾶ eine post eventum vom Evangelisten gemachte Deu-
tung sei, welche er fälschlich Jesu in den Mund lege 10).
Wohl hat hienach Jesus die Pharisäer auf das σημεῖον Ἰωνᾶ
verwiesen, aber nur in dem Sinn, in welchem es Lukas
ihn erklären läſst, daſs, wie Jonas selbst, seine bloſse Ge-
genwart und seine Buſspredigt, ohne Wunder, den Ninevi-
ten als göttliches Zeichen genügt habe: so auch seine Zeit-
genossen, statt nach Wunderzeichen zu haschen, sich an
seiner Person und Predigt genügen lassen sollen. Diese
Auffassung ist die einzige dem Zusammenhang der Rede
Jesu — auch bei Matthäus — und näher der Parallele zwi-
schen dem Verhältniſs der Nineviten zu Jonas und dem der
Königin des Südens zu Salomo angemessene. Wie es die
σοφία Σολομῶνος war, durch welche die leztere von den En-
den der Erde sich herbeigezogen fühlte: so bei Jonas auch
nach dem Ausdruck des Matthäus lediglich sein κήρυγμα,
auf welches hin die Nineviten Buſse thaten. Das Futurum
in dem Satze bei Lukas: οὓτως ἔςαι καὶ ὁ υἱὸς τ. ἀ. τῇ
γενεᾷ ταύτῃ (σημεῖον), von welchem man glauben möchte,
es könne nicht auf den gegenwärtigen Jesus und seine Pre-
digt, sondern müsse auf etwas Künftiges, wie seine Aufer-
stehung, bezogen werden, geht in der That nur auf die
künftige κρίσις, in welcher sich hervorstellen wird, daſs,
wie für die Nineviten Jonas, so für die damals lebenden Ju-
den Jesus als σημεῖον berechnet war. Frühzeitig muſs jedoch,
wie wir aus dem ersten Evangelium ersehen, dem Schicksal des
Jonas eine typische Beziehung auf den Tod und die Auferste-
hung Jesu gegeben worden sein, indem die erste Gemeinde für
[337]Erstes Kapitel. §. 110.
die so anstössige Katastrophe ihres Messias mit Ängstlich-
keit überall im A. T. Vorbilder und Weissagungen auf-
suchte.
Noch einige Aussprüche Jesu finden sich im vierten
Evangelium, welche schon als verhüllte Weissagungen der
Auferstehung gefaſst worden sind. Die Rede vom Wai-
zenkorn zwar, 12, 24, bezieht sich zu augenscheinlich nur
auf das durch seinen Tod zu fördernde Werk Jesu, als
daſs sie hier weiter in Betracht kommen könnte. Aber in
den johanneischen Abschiedsreden finden sich einige Aus-
sprüche, welche noch immer Manche von der Auferstehung
verstehen möchten. Wenn Jesus sagt: ich werde euch
nicht verwaist lassen, ich komme zu euch; noch kurze
Zeit, so sieht die Welt mich nicht mehr, ihr aber sehet
mich; über ein Kleines, so werdet ihr mich nicht mehr
sehen, und wieder über ein Kleines, so werdet ihr mich
sehen u. s. f. (14, 18 ff. 16, 16 ff.): so glauben Manche, die-
se Reden, mit dem Verhältniſs von μικρὸν καὶ πάλιν μικρὸν,
mit dem Gegensaz zwischen ἐμφανίζειν ἡμῖν (τοῖς μαϑη-
ταῖς) καὶ ουχὶ τῷ κόσμῳ, mit dem von ganz persönlichem
Wiedersehen lautenden πάλιν ὄψομαι und ὄψεσϑε, können
auf nichts Anderes, als auf die Auferstehung bezogen wer-
den, welche eben das kurz auf das Nichtsehen gefolgte
Sehen, und zwar ein persönliches und auf die Freunde
Jesu eingeschränktes, gewesen sei 11). Allein dieses ver-
heiſsene Wiedersehen beschreibt Jesus hier zugleich auf
eine Weise, welche für die Tage der Auferstehung nicht
ganz passen will. Wenn das ὅτι ἐγὼ ζῶ (14, 19.) seine
Auferstehung bedeuten soll, so weiſs man gar nicht, was
in diesem Zusammenhang das καὶ ὑμεῖς ζήσεσϑε heiſsen
will; wenn Jesus sagt, bei jenem Wiedersehen werden
seine Jünger sein Verhältniſs zum Vater erkennen, und
ihn nichts mehr zu fragen brauchen (14, 20. 16, 23.): so
Das Leben Jesu II. Band. 22
[338]Dritter Abschnitt.
machten sie ja noch am lezten Tage ihres Zusammenseins
mit ihm nach der Auferstehung eine, und zwar im Sinn
des vierten Evangeliums recht unverständige, Frage an
ihn (A. G. 1, 6.); endlich, wenn er verspricht, daſs zu
demjenigen, der ihn liebe, er und der Vater kommen
und Wohnung bei ihm machen werden: so wird vollends
klar, daſs Jesus hier nicht von einem leiblichen, sondern
von seinem geistigen Wiederkommen durch den παράκλη-
τος redet12). Hat jedoch auch diese Erklärung ihre Schwie-
rigkeiten, indem hinwiederum das ὄψεσϑέ με und ὄψομαι
ὑμᾶς auf jene bloſs geistige Wiederkunft nicht ganz passen
will: so müssen wir die Lösung dieses scheinbaren Wi-
derspruchs auf die genauere Beleuchtung dieser Aussprü-
che an einer späteren Stelle versparen, und erinnern einst-
weilen nur, daſs aus den johanneischen Abschiedsreden,
deren Untermischung mit eignen Gedanken des Evangeli-
sten jezt selbst von Freunden des vierten Evangeliums zu-
gestanden ist, am wenigsten ein Beweis in dieser Sache
genommen werden kann.
Nach allem diesem könnte der Ausweg noch übrig
zu sein scheinen, daſs Jesus zwar allerdings über die ihm
bevorstehende Auferstehung sich nicht geäussert, nichts
desto weniger aber sie für sich vorhergewuſst habe. Wuſs-
te er seine Auferstehung vorher, so wuſste er sie entwe-
der auf übernatürliche Weise, vermöge des ihm inwohnen-
den prophetischen Geistes, höheren Princips, — wenn man
will, seiner göttlichen Natur: oder er wuſste sie auf na-
türliche Weise, durch verständige menschliche Überle-
gung. Allein ein übernatürliches Vorherwissen jenes Er-
eignisses ist auch hier, wie in Beziehung auf den Tod, we-
gen der Beziehung undenkbar, in welche Jesus dasselbe
zum A. T. sezt. Nicht bloſs in Stellen nämlich, wie Luc.
18, 31, welche, als Vorhersagungen, nach dem Ergebniſs
[339]Erstes Kapitel. §. 110.
unsrer lezten Untersuchung, uns schon nicht mehr als hi-
storisch gelten können, stellt Jesus seine Auferstehung,
wie sein Leiden und seinen Tod, als ein τελεσϑῆναι πάν-
των τῶν γεγραμμένων διὰ τῶν προφητῶν τῷ υἱῷ τοῦ ἀνϑρώ-
που dar, sondern auch nach dem Erfolg hält er den an
seiner Auferstehung zweifelnden Jüngern vor, sie hätten
glauben sollen
ἐπὶ πᾶσιν οἷς ἐλάλησαν οἱ προφῆται, daſs
nämlich ταῦτα ἔδει παϑεῖν τὸν Χριςὸν, καὶ εἰσελϑεῖν εἰς
τὴν δόξαν αὑτοῦ
(Luc. 24, 25 f.). Laut des Verfolgs der
Erzählung hat Jesus sofort diesen Jüngern (den Emmaun-
tischen) alle von ihm handelnden Schriftstellen, ἀρξάμενος
ἀπὸ Μωσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν, wozu weiter
unten auch noch die ψαλμοὶ gesezt werden (V. 45.), aus-
gelegt; im Einzelnen jedoch wird uns keine Stelle angege-
ben, welche und wie sie Jesus auf seine Wiederbelebung
gedeutet hätte, ausser daſs aus Matth. 12, 39 f. folgen wür-
de, er habe das Schicksal des Propheten Jonas als Vor-
bild des seinigen betrachtet, und aus der späteren aposto-
lischen Deutung, als muthmaſslichem Nachhall der seinigen,
geschlossen werden könnte, daſs er, wie nachmals die Apo-
stel, hauptsächlich in Ps. 16, 8 ff. (A.G. 2, 25 ff. 13, 35.),
Jes. 53. (A.G. 8, 32 ff.), Jes. 55, 3. (A.G. 13, 34.), und
dann etwa noch in Hos. 6, 2. solche Weissagungen gefun-
den habe. Allein das Schicksal des Jonas hat mit dem
Schicksal Jesu nicht einmal recht eine äusserliche Ähn-
lichkeit, und das ihn betreffende Buch trägt seinen Zweck
so sehr in sich selber, daſs derjenige es gewiſs nicht nach
seinem wahren Sinn und der Absicht seines Verfassers deu-
tet, der ihm oder einem Zuge desselben eine vorbildliche
Beziehung auf Ereignisse der Zukunft unterlegt; Jes. 55, 3.
ist so augenscheinlich heterogen, daſs man kaum begreift,
wie die Stelle nur mit der Auferstehung Jesu hat in Be-
ziehung gebracht werden können; Jes. 53. bezieht sich ent-
schieden auf ein in immer neuen Gliedern wiederaufleben-
des Collektivsubjekt; Hosea 6. unverkennbar bildlich auf
22 *
[340]Dritter Abschnitt.
Volk und Staat Israël; endlich die Hauptstelle, Ps. 16.,
kann nur auf einen Frommen gedeutet werden, welcher
durch Jehova's Hülfe einer Todesgefahr zu entrinnen hofft,
und zwar nicht in der Art, daſs er, wie Jesus, aus dem
Grabe wieder hervorgehen, sondern gar nicht wirklich
in dasselbe versezt werden würde, versteht sich, dieſs nur
vor der Hand, und mit dem Vorbehalt, seiner Zeit aller-
dings der Natur den Tribut zu entrichten 13), was auf
Jesum wiederum nicht passen würde. Hätte also ein über-
natürliches Princip in Jesu, ein prophetischer Geist, ihn
in diesen A. T.lichen Geschichten und Stellen eine Voran-
deutung seiner Auferstehung finden lassen: so könnte, da
in keiner derselben eine solche Beziehung wirklich liegt,
der Geist in ihm nicht der Geist der Wahrheit, sondern
er müſste ein Lügengeist gewesen sein, das übernatürliche
Princip in ihm nicht ein göttliches, sondern ein dämoni-
sehes. Bleibt, um dieser Consequenz zu entgehen, dem
für verständige Auslegung des A. T.s zugänglichen Supra-
naturalisten nichts übrig, als das Vorherwissen Jesu von
seiner Auferstehung als ein natürlich-menschliches zu be-
haupten: so war die Auferstehung, als Wunder betrach-
tet, ein Geheimniſs des göttlichen Rathschlusses, in wel-
ches einzudringen dem menschlichen Verstand vor dem Er-
folg unmöglich war; als natürlicher Erfolg angesehen aber
war sie der unberechenbarste Zufall, wenn man nicht ei-
nen von Jesu und seinen Verbündeten planmäſsig herbei-
geführten Scheintod annehmen will.
Also nach dem Erfolg erst ist so Voraussicht wie
Voraussage der Auferstehung Jesu beigelegt, und nun
war es auch bei der bodenlosen Willkühr jüdischer
Exegese den Jüngern und Verfassern der N. T.lichen
Schriften ein Leichtes, im A. T. Vorbilder und Weissa-
gungen auf die Wiederbelebung ihres Messias aufzufinden.
[341]Erstes Kapitel. §. 111.
Nicht als ob sie dieſs mit schlauer Absichtlichkeit, und
selbst von der Nichtigkeit ihrer Auslegungs- und Schluſs-
weise überzeugt, gethan hätten, wie der Wolfenbüttler
Fragmentist und Andre seines gleichen lästern: sondern
wie es dem, der in die Sonne gesehen, ergeht, daſs er noch
längere Zeit, wo er hinsieht, ihr Bild erblickt: so sahen
sie, durch ihre Begeisterung für den neuen Messias ge-
blendet, in dem einzigen Buche, das sie lasen. dem A. T.,
ihn überall, und ihre, in dem wahren Gefühl der Befrie-
digung tiefster Bedürfnisse gegründete Überzeugung, daſs
Jesus der Messias sei, ein Gefühl und eine Überzeugung,
die auch wir noch ehren, griff, sobald es sich um refle-
xionsmäſsige Beweise handelte, nach Stützen, welche längst
gebrochen sind, und selbst durch das eifrigste Bemühen
einer hinter der Zeit zurückgebliebenen Exegese nicht
mehr haltbar gemacht werden können.
§. 111.
Die Reden Jesu von seiner Parusie. Kritik der verschie-
denen Auslegungen.
Doch nicht allein daſs er drei Tage nach seinem To-
de wieder aufleben werde, um sich seinen Freunden zu
zeigen, sondern auch, daſs er später einmal, mitten in der
Drangsalszeit, welche auch die Zerstörung des Tempels in
Jerusalem herbeiführen sollte, in den Wolken des Himmels
kommen werde, um die gegenwärtige Weltperiode abzu-
schlieſsen, und durch ein allgemeines Gericht die künftige
zu beginnen, hat Jesus den evangelischen Nachrichten zu-
folge vorausgesagt (Matth. 24. und 25. Mare. 13. Lue. 17,
22—37. 21, 5—36.).
Als Jesus zum leztenmale aus dem Tempel gieng (Lu-
kas hat diese Bestimmung nicht) und seine Jünger (Lu-
kas unbestimmt: Einige) ihn auf den herrlichen Bau be-
wundernd anfmerksam machten, gab er ihnen die Versi-
cherung, daſs alles, wie sie es da sehen, von Grund aus
[342]Dritter Abschnitt.
zerstört werden würde (Matth. 24, 1. 2. parall.). Auf
die Frage der Jünger, wann dieſs geschehen, und was das
Zeichen der ihrer Ansicht nach damit zusammenhängenden
Ankunft des Messias sein werde (V. 3.), warnt sie Jesus,
sich nicht durch Leute, welche sich fälschlich für den
Messias ausgeben, und durch die Meinung, gleich nach
den ersten Vorzeichen müsse die erwartete Katastrophe
folgen, irreführen zu lassen; denn Kriege und Kriegsge-
rüchte, Kämpfe von Völkern und Reichen gegeneinander,
Hungersnoth, Pest und Erdbeben da und dort, seien nur
die ersten Anfänge des der Ankunft des Messias vorange-
henden Elends (V. 4—8.). Auch sie selbst, seine Anhän-
ger, werden zuvor noch Haſs, Verfolgung und Mord über
sich ergehen lassen müssen; Treulosigkeit, Verrath, Täu-
schung durch falsche Propheten, Lieblosigkeit und allge-
meines Sittenverderben werde unter den Menschen einreis-
sen, zugleich aber müsse die Botschaft vom Messiasreich
noch vorher in der ganzen Welt verkündigt werden; nach
allem diesem erst könne das Ende der jetzigen Weltperio-
de eintreten, auf welches mit Standhaftigkeit harren müs-
se, wer an dem Glücke der künftigen Antheil bekommen
wolle (V. 9—14.). Ein näheres Vorzeichen schon von
dieser Katastrophe sei die Erfüllung des Danielischen Ora-
kels (9, 27.) von dem an heiliger Stätte aufzustellenden
Verwüstungsgräuel (nach Lukas, 21, 20, die Umstellung
Jerusalems durch Kriegsheere); wenn dieses eintrete,
dann sei es (nach Lukas, weil die Verödung Jerusalems be-
vorstehe, welche Luc. 19, 43 f. in einer Anrede Jesu an
die Stadt durch περιβαλοῦσιν οἱ ἐχϑροί σου χάρακά σοι, καὶ
περικυκλώσουσί σε καὶ συνέξουσί σε πάντοϑεν, καὶ ἐδαφιοῦσί
σε καὶ τὰ τέκνα σου; ἐν σοὶ, καὶ ουκ ἀφήσουσιν ἐν σοὶ λίϑον
ἐπὶ λίϑῳ näher bestimmt ist) die höchste Zeit zur schleu-
nigsten Flucht, bei welcher alle am schnellen Fortkommen
Gehinderte zu bedauern, und von welcher, daſs sie in kei-
ne ungünstige Zeit fallen möge, angelegentlich zu wünschen
[343]Erstes Kapitel. §. 111.
sei; denn es trete dann eine beispiellose Drangsalszeit ein
(nach Luc. V. 24. hauptsächlich darin bestehend, daſs vom
Volk Israël viele umkommen, andere gefangen weggeführt,
Jerusalem aber eine vorherbestimmte Periode hindurch
von Heiden zertreten werden werde), welche nur durch
gnadenvolle Abkürzung ihrer Dauer von Seiten Gottes aus
Rücksicht auf die Erwählten erträglich werde (V. 15—22.).
Um diese Zeit werden falsche Propheten und Messiase
durch Wunder und Zeichen zu täuschen suchen, und da
oder dort den Messias zu zeigen versprechen: da doch
ein Messias, der irgendwo verborgen wäre und aufgesucht
werden müſste, kein wahrer sein könne, indem dessen An-
kunft wie das Leuchten des Blitzes eine plözliche, überall-
hin dringende Offenbarung sei, und ebensobald sich um
ihn die ihm bestimmten Anhänger sammeln werden (V. 23
—28.). Unmittelbar nach dieser Drangsalszeit werde sich
nun durch Verfinsterung von Sonne und Mond, durch
Herabfallen der Sterne und Erschütterung aller Kräfte des
Himmels, die Erscheinung des Messias einleiten, welcher
sofort zum Schrecken der Erdenbewohner mit groſser
Herrlichkeit in den Wolken des Himmels daherkommen,
und alsbald durch Engel mit Trompetenschall seine Er-
wählten von allen Enden der Erde zusammenrufen lassen
werde (V. 29—31.). An den vorgenannten Zeichen sei die
Nähe der angegebenen Katastrophe so sicher, wie an dem
Ausschlagen des Feigenbaums die Nähe des Sommers, zu
erkennen; noch das gegenwärtige Zeitalter werde, bei al-
lem was sicher sei, das Alles erleben, obgleich der genaue-
re Termin nur Gott allein bekannt sei (V. 32—36.). Wie
aber die Menschen seien (das Folgende haben Markus und
Lukas theils gar nicht, theils nicht in diesem Zusammen-
hang), so werden sie auch die Ankunft des Messias, wie
einst die der Sündfluth, mit leichtsinniger Sicherheit her-
anrücken lassen (V. 37—39.): und doch werde es ein
äusserst kritischer Zeitpunkt sein, der diejenigen, welche
[344]Dritter Abschnitt.
in den nächsten Verhältnissen gestanden, ganz entgegen-
geseztem Loos überantworten werde (V. 40. 41.). Darum
sei Wachsamkeit noth (V. 42.), wie immer, wenn von ei-
nem entscheidenden Erfolge der Zeitpunkt seines Eintref-
fens unbekannt sei, was sofort durch das Bild vom Haus-
herrn und Dieb (V. 43. 44.), vom Knechte, dem der ver-
reisende Herr die Aufsicht über das Hauswesen anver-
traut (V. 45—51.), ferner von den klugen und thörichten
Jungfrauen (25, 1—13.), endlich von den Talenten (V. 14
—30.), veranschaulicht wird. Hierauf folgt eine Beschrei-
bung des feierlichen Gerichts, welches der Messias über
alle Völker halten, und in welchem er nach der Rücksicht,
ob einer die Pflichten der Menschenliebe beobachtet oder
hintangesezt habe, Seligkeit oder Verdammniſs zuerkennen
werde (V. 31—46.). 1).
In diesen Reden kündigt also Jesus bald (εὐϑέως, 24,
29.) nach derjenigen Drangsal, in welcher wir (nament-
lich nach der Darstellung des Lukasevangeliums) die Bela-
gerung von Jerusalem und die Zerstörung des Tempels er-
kennen müssen, und so, daſs es die Generation seiner Zeit-
genossen (ἡ γενεὰ αὕτη V. 34.) noch erleben werde, seine
sichtbare Wiederkunft in den Wolken und das Ende der
gegenwärtigen Zeitperiode an. Da nun bald vor 1800 Jah-
ren die Zerstörung des jüdischen Tempels erfolgt, und eben-
solange her die Zeitgenossenschaft Jesu ausgestorben, seine
sichtbare Wiederkunft aber und das von ihm mit dersel-
ben in Verbindung gesezte Weltende noch immer nicht ein-
getreten ist: so scheint insofern die Vorherverkündigung
Jesu eine irrige gewesen zu sein. Schon in der ältesten
christlichen Zeit, da die Wiederkunft Christi sich länger
verzog, als man sich gedacht hatte, standen, nach 2. Petr.
3, 3 f., Spötter mit der Frage auf: ποῦ ἐςιν ἡ ἐπαγγελία
[345]Erstes Kapitel. §. 111.
τῆς παρουσίας αὐτοῦ ἀφ̕ ἧς γὰρ οἱ πατέρες ἐκοιμήϑησαν,
πάντα οὓτω διαμένει ἀπ̕ ἀρχῆς κτίσεως. In neuerer Zeit ist
die nachtheilige Folgerung, welche aus dem bezeichneten
Verhältniſs gegen Jesum und die Apostel sich scheinbar
ziehen läſst, von Niemand schneidender ausgesprochen wor-
den, als von dem Wolfenbüttler Fragmentisten. Keine
Verheiſsung in der ganzen Schrift, meint er, sei auf der
einen Seite bestimmter vorgetragen, auf der andern offen-
barer falsch befunden worden, als diese, welche doch eine
der Grundsäulen des gesammten Christenthums bilde. Und
zwar sieht er darin nicht einen bloſsen Irrthum, sondern
einen absichtlichen Betrug der Apostel (denen, und nicht
Jesu selbst, er jenes Versprechen und die es enthaltenden
Reden zuschreibt), hervorgegangen aus der Nothwendig-
keit, die Leute, von deren Beiträgen sie ihren Unterhalt
ziehen wollten, durch das Versprechen einer nahen Beloh-
nung anzulocken, und kennbar an der Kahlheit, mit wel-
cher sie den aus dem allzulangen Verzug der Wiederkunft
Christi erwachsenden Zweifeln, wie Paulus im 2ten Thes-
salonicherbrief durch Versteckspielen mit dunkeln Redens-
arten, und gar Petrus in seiner zweiten Epistel durch das
Ungeheure einer Berufung auf die göttliche Zeitrechnung,
in welcher 1000 Jahre = einem Tage seien, zu entgehen
suchen 2).
Der tödtlichen Wunde, welche man durch solche Fol-
gerungen aus dem vor uns liegenden Abschnitt dem Chri-
stenthum beibringen wollte, muſste natürlich die Exegese
auf jede Weise auszubeugen suchen. Und zwar näher, in-
dem der ganze Knoten darin besteht, daſs Jesus mit etwas
nunmehr längst Vergangenem in unmittelbaren Zeitzusam-
menhang etwas noch immer Zukünftiges zu setzen scheint,
so waren die drei Auswege möglich: entweder zu leugnen,
daſs Jesus zum Theil auch von etwas jezt schon Vergan-
[346]Dritter Abschnitt.
genem spreche, und ihn von lauter noch immer Zukünfti-
gem reden zu lassen; oder zu leugnen, daſs ein Theil sei-
ner Rede etwas noch jezt Zukünftiges betreffe, somit die
ganze Voraussagung auf etwas bereits hinter uns Liegen-
des zu beziehen; oder endlich zwar zuzugeben, daſs der
Vortrag Jesu theils auf Solches, was uns schon ein Ver-
gangenes, theils auf Solches, was uns noch ein Zukünf-
tiges ist, sich beziehe, aber zu leugnen, daſs er zwischen
beidem eine unmittelbare Zeitfolge behauptet habe.
In der urchristlichen Erwartung der Wiederkunft Christi
noch lebend, und zugleich in geregelter Exegese nicht so
geübt, um über einige Härten einer sonst erwünschten Er-
klärung nicht hinwegsehen zu können, bezogen einige Kir-
chenväter, wie Irenäus und Hilarius 3), den ganzen Ab-
schnitt von seinem Anfang Matth. 24, bis zu seinem Ende
Kap. 25, auf die noch bevorstehende Wiederkunft Christi
zum Gericht. Allein, indem diese Auslegungsweise so-
gleich einräumt, von vorne herein habe Jesus als Typus
dieser lezten Katastrophe die Zerstörung Jerusalems ge-
braucht: so giebt sie damit sich selbst wieder auf, denn
was heiſst jenes Zugeständniſs anders, als daſs der Anfang
der fraglichen Reden zunächst den Eindruck mache, wie
wenn von der Zerstörung Jerusalems, also etwas bereits
Vergangenem, die Rede wäre, und daſs nur eine weitere
Reflexion und Combination demselben eine Beziehung auf
etwas noch in der Zukunft Liegendes geben könne?
Der neuere Rationalismus, welchem in seinen natura-
listischen Anfängen jede Hoffnung auf die Wiederkunft
Christi zu Nichte geworden war, und welcher, um das
ihm Miſsfällige aus der Schrift wegzubringen, jede exege-
tische Gewaltthat sich erlaubte, warf sich deſswegen auf
[347]Erstes Kapitel. §. 111.
die entgegengesezte Seite, und wagte den Versuch, die be-
treffenden Reden Jesu in ihrem ganzen Verlauf nur auf
die Zerstörung Jerusalems, und was ihr zunächst voran-
gieng und folgte, zu beziehen 4). Dieser Auslegung zu-
folge soll das Ende, von welchem die Rede ist, nur das
Aufhören der jüdisch-heidnischen Weltgestaltung; das von
der Ankunft Christi in den Wolken Gesagte nur bildliche
Bezeichnung der Verbreitung und des Siegs seiner Lehre;
die Versammlung der Völker zum Gericht und die Verwei-
sung der einen in die Seligkeit, der andern in die Ver-
dammniſs ein Bild für die beglückenden Folgen sein, wel-
che die Aneignung der Lehre und Sache Jesu, und für die
Übel, welche die Gleichgültigkeit oder gar Feindschaft ge-
gen dieselbe mit sich führe. Allein hiebei wird ein Ab-
stand der Bilder von den Ideen angenommen, der sowohl
an sich unerhört, als im Besondern hier nicht denkbar ist,
wo Jesus zu jüdisch Gebildeten redend, wissen muſste, daſs
sie, was er von Ankunft des Messias in den Wolken, vom
Gericht und Ende der gegenwärtigen Weltperiode sagte,
im eigentlichsten Verstande nehmen würden.
Läſst auf diese Weise die Rede Jesu ihrer ganzen
Länge nach weder auf die Zerstörung des jüdischen Staats,
noch auf die Vorgänge am Ende der Dinge sich beziehen:
so müſste sie auf etwas von beidem Verschiedenes bezogen
werden, wenn jedesmal an einem und ebendemselben Zug
jene gedoppelte Unmöglichkeit haften würde. So aber liegt
die Sache nicht, sondern während auf das ferne Ende der
Welt nicht bezogen werden kann, was Matth. 24, 2. 3.
15 ff. von Verwüstung des Tempels u. s. w. gesagt wird:
kann umgekehrt auf die Zerstörung Jerusalems das nicht
gehen, was 25, 31 ff. von dem durch des Menschen Sohn
[348]Dritter Abschnitt.
zu haltenden Gericht verkündigt ist. Indem hienach in der
Rede Jesu von vorn herein die Beziehung auf die Zerstö-
rung Jerusalems, nach hinten zu aber die auf das Ende
der Dinge die vorwiegende ist: so wird eine Theilung mög-
lich, in der Art, daſs der erste Theil der Rede auf jenen
näheren, der zweite auf diesen entfernteren Erfolg bezo-
gen werden kann. Dieſs ist der von den meisten neueren
Exegeten eingeschlagene Mittelweg, bei welchem es sich
nur fragt, wo der Einschnitt zu machen ist, welcher beide
Theile von einander trennt. Da es eine Spalte sein müſs-
te, in welche voraussezlich die ganze Zeit von der Zerstö-
rung Jerusalems bis zum jüngsten Tag, also muthmaſslich
ein Zeitraum von mehreren Jahrtausenden hineinfiele: so
sollte sie, muſs man denken, kenntlich bezeichnet, und
folglich leicht und mit Übereinstimmung zu finden sein.
Es ist kein gutes Vorzeichen für die ganze Voraussetzung,
daſs man diese Übereinstimmung vergeblich sucht, vielmehr
an den verschiedensten Örtern der Rede Jesu jener Ab-
schnitt gefunden worden ist.
Da auf der einen Seite so viel entschieden zu sein
schien, daſs wenigstens der Schluſs des 25ten Kapitels,
von V. 31. an, mit den Reden von dem feierlichen Gericht,
welches der Messias, von den Engeln umgeben, über alle
Völker halten werde, nicht auf die Zeit der Zerstörung
Jerusalems bezogen werden könne: so glaubten manche
Theologen hier die Grenze abstecken, und bis 25, 30. zwar
die Beziehung auf das Ende des jüdischen Staates festhal-
ten zu können, von da an aber zum Weltgericht am Ende
der Dinge übergehen zu müssen 5). Auffallen muſs bei die-
[349]Erstes Kapitel. §. 111.
ser Erklärung schon dieſs, die groſse Kluft, welche der-
selben zufolge zwischen 25, 30. und 31. stattfinden müſste,
durch ein einfaches δὲ bezeichnet zu sehen. Dann aber
wird hiebei nicht nur das von Sonnen- und Mondsfinster-
nissen, Erdbeben, und herabfallenden Sternen Gesagte als
bloſses Bild für den Untergang des jüdischen Staats und
Cultus erklärt, sondern, daſs 24, 31. vom Messias gesagt
ist, er werde auf den Wolken kommen, das soll heis-
sen: unsichtbar; mit Macht, das heiſse: nur durch seine
Wirkungen bemerkbar; mit vieler Herrlichkeit, d. h. mit
einer solchen, die aus jenen Wirkungen werde erschlossen
werden können; die alle Völker zusammentrompetenden
ἄγγελοι aber sollen die predigenden Apostel sein 6).
Fällt hiemit der Versuch, von hinten herein gehend
bei 25, 30. abzutheilen, durch die Unfähigkeit, das weiter
vorwärts Liegende zu erklären, in sich selbst zusammen:
so lag es nahe, von vorneherein zu sehen, bis wohin die
Beziehung auf die nächste Zukunft nothwendig festzuhal-
ten sei, und da ergab sich der erste Ruhepunkt hinter
24, 28; denn was bis dahin von Krieg und andrer Noth,
vom Gräuel im Tempel, von der Nothwendigkeit schleuni-
ger Flucht, um beispiellosem Elend zu entgehen, gesagt
ist, das kann aus der Beziehung zur Zerstörung Jerusa-
lems ohne die gröſste Gewalt nicht gerissen werden; was
aber folgt, vom Erscheinen des Menschensohns in den Wol-
ken u. s. f., erheischt eben so dringend eine Beziehung auf
die lezten Dinge 7). Hiebei jedoch scheint es zuvörderst unbe-
greiflich, wie man den ungeheuren Zeitraum, welcher auch
bei dieser Erklärung zwischen den einen und andern Theil
der Rede fällt, gerade zwischen zwei Verse hineinlegen
kann, welche Matthäus durch eine Partikel der kürzesten
[350]Dritter Abschnitt.
Zeit (εὐϑέως) verbindet. Man hat diesem Übelstand durch
die Behauptung auszuweichen versucht, daſs εὐϑέως hier
nicht die schnelle Folge der einen Begebenheit auf die an-
dere, sondern nur das unerwartete Eintreten eines Ereig-
nisses bezeichne, und also hier nur so viel gesagt werde:
plözlich einmal (unbestimmt, wie lange) nach jenen Be-
drängnissen bei der Zerstörung Jerusalems werde der Mes-
sias sichtbar erscheinen. Abgesehen davon jedoch, daſs
eine solche Deutung von εὐϑέως, wie Olshausen richtig
sieht, ein bloſser Nothbehelf ist, so ist durch dieselbe nicht
einmal wirklich geholfen, indem nicht allein der parallele
Markus V. 24. durch sein ἐν ἐκείναις ταῖς ἡμέραις μετὰ
τὴν ϑλίψιν ἐκείνην die von hier an gemeldeten Erfolge in
dieselbe Zeitreihe mit den zuvor erzählten verlegt, sondern
auch kurz hernach übereinstimmend in allen Relationen
(Matth. V. 34. parall.) die Versicherung sich findet, daſs
alles dieſs noch von der gegenwärtigen Generation erlebt
werden würde. Da auf diese Weise der Annahme, daſs
von V. 29. an Alles auf die Wiederkunft Christi zum
Weltgericht gehe, durch den 34ten Vers Vernichtung
drohte: so wurde nunmehr, wie schon der Wolfenbüttler
klagt 8), das Wort γενεὰ gefoltert, daſs es der Voraus-
setzung nicht mehr entgegen sein sollte. Bald muſste es
die jüdische Nation 9), bald die Anhängerschaft Jesu 10)
bedeuten, und von der einen oder andern sollte Jesus sa-
gen, sie werde, unbestimmt in der wievielten Generation,
bei'm Eintritt jener Katastrophe noch vorhanden sein. So
den gedachten Vers zu erklären, daſs er eine Zeitbestim-
mung gar nicht enthalte, soll selbst nothwendig sein in
Rücksicht auf den gleichfolgenden 35ten: da nämlich in
diesem Jesus den Zeitpunkt jener Katastrophe zu bestim-
[351]Erstes Kapitel. §. 111.
men für unmöglich erkläre, so könne er nicht unmittelbar
vorher eine solche Bestimmung gegeben haben durch die
Versicherung, daſs seine Zeitgenossen noch Alles erleben
würden. Indeſs diese angebliche Nöthigung, das γενεὰ so
zu deuten, ist längst aus dem Wege geschafft durch die
Unterscheidung zwischen der ungefähren Bezeichnung des
Zeitraums, über den das fragliche Ereigniſs nicht hinaus-
fallen werde (γενεὰ), welche Jesus giebt, und der genau en
Bestimmung des Zeitpunkts (ἡμέρα καὶ ὥρα), in welchem
es eintreten werde, die er nicht geben zu können versi-
chert 11). Doch selbst die Möglichkeit, γενεὰ auf eine der an-
gegebenen Arten zu deuten, verschwindet, wenn man er-
wägt, daſs in Verbindung mit einem Verbum der Zeit und
ohne sonstiges Prädikat γενεὰ unmöglich eine andre als
seine ursprüngliche Bedeutung: Generation, Zeitalter, ha-
ben kann; daſs in einen Zusammenhang, welcher die Zu-
kunft des Messias durch Zeichen zu bestimmen sucht, ein
Ausspruch übel passen würde, der, statt über den Ein-
tritt jener Katastrophe etwas auszusagen, vielmehr von der
Dauer des jüdischen Volks oder der christlichen Gemeinde
handelte, von welcher gar nicht die Rede war; daſs auch
schon V. 33. in dem ὑμεῖς, ὅταν ἴδητε πάντα τανῦτα,
γινώσκ ετε κ. τ. λ. vorausgesetzt ist, die Angeredeten wür-
den die Annäherung des fraglichen Ereignisses noch erle-
ben; endlich daſs an einer andern Stelle (Matth. 16, 28.
parall.) die Versicherung, die Ankunft des Menschensohns
noch zu erleben, statt von der γενεὰ αὕτη geradezu von
τισὶ τῶν ὦδε ἑςώτων gegeben wird, wodurch aufs Ent-
scheidendste dargethan ist, daſs Jesus auch an unsrer Stelle
unter jenem Ausdruck das Geschlecht seiner Zeitgenossen
verstanden hat, welches noch nicht ausgestorben sein soll-
te, bis jene Katastrophe eintreten würde 12).
[352]Dritter Abschnitt.
Findet sich demnach nach V. 34. etwas, das auf ein
dem Zeitalter Jesu sehr nahes Ereigniſs zu beziehen ist:
so kann nicht schon von V. 29. an die Rede Jesu auf das
entfernte Ende der Welt gehen, sondern man muſs den
Einschnitt noch etwas weiter hinaus, etwa nach V. 35. oder
42. setzen 13). Allein hiebei behält man dann Aussprüche
im Rücken, welche der Deutung auf die Zeit von Jerusa-
lems Zerstörung, die man dem Abschnitt bis zu den be-
zeichneten Versen geben will, widerstreben, man muſs in
dem Reden von dem herrlichen Kommen Christi auf den
Wolken und dem Versammeln aller Völker durch Engel
(V., 30 f.) dieselben ungeheuren Tropen finden, an welchen,
wie wir oben gesehen haben, eine andere Abtheilung ge-
sch eitert ist.
Hat auf diese Weise der Ausspruch V. 34, welcher,
sammt der vorangehenden Bilderrede vom Feigenbaum (V.
32 f.) und der angehängten Bekräftigung (V. 35.), auf ein
sehr nahes Ereigniſs sich beziehen muſs, sowohl ohnehin
vorwärts Reden, welche nur auf die ferne Katastrophe ge-
hen können, als auch rückwärts bereits eben solche: so
scheint er in dem Context der übrigen Rede als Oase von
eigen thümlichem Sinn mitten inne zu liegen. So nimmt
Schott an, nachdem Jesus bis V. 26. von der Zerstörung
Jerusalems gesprochen, sei er zwar V. 27. auf die Ereig-
nisse am Ende der jetzigen Weltperiode übergegangen,
V. 32. aber komme er auf das die Zerstörung Jerusalems
Betreffende zurück, und fahre erst V. 36. wieder über das
Weltende zu sprechen fort 14). Allein das heiſst in der
Verzweiflung den Text zerhacken; denn so unordentlich
und springend kann Jesus, noch dazu ohne in der An-
einanderreihung der Sätze eine Andeutung zu geben, un-
möglich gesprochen haben.
[353]Erstes Kapitel. §. 111.
Das soll er auch nicht, meint die neueste Kritik, son-
dern auf Rechnung der Referenten soll es kommen, ver-
schiedene, nicht zusammengehörige Aussprüche Jesu nicht
in der besten Ordnung aneinandergefügt zu haben. Mat-
thäus freilich, räumt Schulz ein, stelle sich diese Reden
als in Einem Zuge gesprochen vor, und nur Willkühr oder
Gewalt könne sie in dieser Hinsicht auseinanderreissen:
schwerlich aber habe Jesus selbst sie in diesem Zusammen-
hang und mit diesem Totalgepräge vorgetragen 15). Die
verschiedenen Momente seiner Zukunft, meint Sieffert,
seine unsichtbare Parusie zur Zerstörung Jerusalems, und
seine eigentliche am Ende der Dinge, möge Jesus zwar
nicht ausdrücklich gesondert haben, doch habe er sie si-
cher auch nicht positiv verbunden, sondern, was er still-
schweigend aneinanderreihte, das sei den Evangelisten der
Dunkelheit des Gegenstandes wegen in einander verflossen.
Und indem hier zwischen Matthäus und Lukas die Diffe-
renz wiederkehrt, daſs, was Matthäus in Einem Zusam-
menhang gesprochen sein läſst, bei Lukas an verschiedene
Stellen vertheilt ist, wozu noch kommt, daſs er manches
von Matthäus Mitgetheilte theils gar nicht, theils anders
giebt: so glaubte sich Schleiermacher17) berechtigt, die
Composition des Matthäus geradezu aus Lukas zu rectifi-
eiren und zu behaupten, während bei Lukas die zwei ge-
trennten Reden, 17, 22 ff. und 21, 5 ff., jede ihren guten
Zusammenhang und ihre unzweifelhafte Beziehung haben,
sei bei Matthäus (Kap. 24. und 25.) durch Vermengung
jener beiden Vorträge und Hinzufügung anderweitiger Re-
destücke sowohl der Zusammenhang verdorben, als die Be-
ziehung verdunkelt worden. Soll nun aber in der Rede
Luc. 21. für sich genommen nichts sein, was über die Be-
16)
Das Leben Jesu II. Band. 23
[354]Dritter Abschnitt.
ziehung auf die Einnahme Jerusalems und das damit Zu-
sammenhängende hinausgienge: so findet sich doch auch
hier (V. 27.) das τότε ὄψονται τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου ἐρχό-
μενον ἐν νεφέλῃ, und wenn dieſs Schleiermacher als bloſses
Bild für die zu Tage kommende religiöse Bedeutung der
zuvorbeschriebenen politischen und Naturbegebenheiten er-
klärt: so ist dieſs eine Gewaltsamkeit, an welcher seine
ganze Ansicht von dem Verhältniſs der beiden Berichte
scheitert. Wenn auf diese Weise in der Verknüpfung
des Endes aller Dinge mit der Zerstörung des Tem-
pels zu Jerusalem Matthäus keineswegs allein steht, son-
dern Lukas sie gleichfalls macht, und ohnehin Markus, der
in diesem Abschnitt einen Auszug aus Matthäus giebt: so
mag zwar vielleicht auch in dieser Rede Jesu, wie in an-
dern, die sie mittheilen, Manches zu verschiedenen Zeiten Ge-
sprochene zusammengestellt sein; aber zu der Annahme hat
man kein Recht, daſs gerade das auf jene beiden nach un-
srer Vorstellung so weit auseinanderliegenden Begebenhei-
ten sich Beziehende das Nichtzusammengehörige sei, zumal
wir aus der übereinstimmenden Darstellung der übrigen
N. T.lichen Schriften ersehen, daſs die erste Gemeinde die
Wiederkunft Christi sammt dem Ende der gegenwärtigen
Weltperiode als nahe bevorstehend erwartete (s. 1. Kor.
10, 11. 15, 51. Phil. 4, 5, 1. Thess. 4, 15 ff. Jac. 5, 8.
1. Petr. 4, 7. 1. Joh. 2, 18. Offenb. 1, 1. 3. 3, 11. 22,
7. 10. 12. 20. .
Ist hiemit der lezte Versuch gescheitert, die groſse
Kluft, welche auf unsrem heutigen Standpunkt zwischen
der Zerstörung Jerusalems und dem Ende aller Dinge be-
festigt ist, auch in die vorliegenden Reden hineinzubrin-
gen: so sind wir thatsächlich belehrt, daſs jene Trennung
eben nur unsre Vorstellung ist, die wir in die Darstellung
des Textes nicht hineintragen dürfen. Und wenn wir er-
wägen, daſs wir die Vorstellung von jener Kluft nur der
Erfahrung der vielen Jahrhunderte verdanken, welche seit
[355]Erstes Kapitel. §. 112.
der Zerstörung Jerusalems verflossen sind: so muſs es uns
leicht werden, uns zu denken, wie der Urheber dieser
Reden, welcher diese Erfahrung noch nicht hinter sich
hatte, die Vorstellung hegen konnte, daſs bald nach dem
Fall des jüdischen Heiligthums, nach jüdischer Vorstellung
des Mittelpunkts der jetzigen Welt, es auch mit dieser
selbst ein Ende nehmen, und der Messias zum Gericht er-
scheinen werde.
§. 112.
Ursprung der Reden über die Parusie.
In dem zulezt gezogenen Resultat über die unsrer Be-
trachtung vorliegenden Reden ist nun aber etwas enthal-
ten, welches zu vermeiden alle bisher beurtheilten falschen
Erklärungsversuche gemacht worden sind. Hat nämlich
Jesus sich vorgestellt und ausgesprochen, daſs bald
nach dem Falle des jüdischen Heiligthums seine sichtbare
Wiederkunft und das Ende der Welt erfolgen werde, wäh-
rend nun seit jener ersten Katastrophe fast 1800 Jahre
hingegangen sind, ohne daſs die andere eingetreten wäre:
so hat er in diesem Stücke geirrt, und wer nun auch der
exegetischen Evidenz so viel nachgiebt, um in jenem Re-
sultate über den Sinn der vorliegenden Reden mit uns über-
einzustimmen, der sucht doch aus dogmatischen Rücksich-
ten dieser Consequenz desselben auszuweichen. Bekannt-
lich hat Hengstenberg in Bezug auf die Gesichte der he-
bräischen Propheten die Ansicht aufgebracht, welche auch
bei Andern, z. B. bei Olshausen, Beifall gefunden, es ha-
ben sich dem geistigen Schauen dieser Männer die zukünf-
tigen Dinge nicht in dem Medium der Zeit, sondern des
Raums, gleichsam als groſse Tableaus, dargeboten, wo-
bei, wie dieſs bei Gemälden oder Fernsichten der Fall ist,
das Entfernteste oft unmittelbar hinter dem Nächsten zu
stehen geschienen, Vorder- und Hintergrund sich miteinan-
der vermengt haben, und diese Theorie von einem per-
23 *
[356]Dritter Abschnitt.
spectivischen Schauen soll nun auch auf Jesum, nament-
lich in Bezug auf die vorliegenden Reden, ihre Anwen-
dung finden 1). Allein, was Paulus schlagend bemerkt
hat 2), wie derjenige, welcher in einer äusserlich gegebe-
nen Perspective die Distanzen nicht zu unterscheiden weiſs,
sich in einer optischen Täuschung befindet, d. h. irrt:
ebenso wird bei einer innerlichen Perspective von Vorstel-
lungen, wenn es so etwas giebt, das Übersehen der Di-
stanzen ein Irrthum genannt werden müssen, und es zeigt
somit diese Theorie nicht, daſs jene Männer nicht geirrt
haben, sondern erklärt vielmehr nur, wie sie leicht irren
konnten. Auch Olshausen hält daher diese, von ihm sonst
adoptirte Betrachtungsweise nicht für zureichend, in ge-
genwärtigem Fall allen Schein des Irrthums von Jesu zu ent-
fernen, und sucht deſswegen aus der eigenthümlichen Natur
des Faktums, von dessen Voraussage es sich handelt, noch
besondere Rechtfertigungsgründe abzuleiten 3). Für's Erste
soll es zur ethischen Bedeutsamkeit der Lehre von Christi
Wiederkunft gehören, daſs diese jeden Augenblick für
möglich, ja wahrscheinlich, gehalten werde. Allein hiedurch
sind bloſs Äusserungen, wie Matth. 24, 37 ff. gerechtfer-
tigt, wo Jesus zur Wachsamkeit ermahnt, weil Niemand
wissen könne, wie bald der entscheidende Augenblick kom-
me; keineswegs aber solche, wie 24, 34, wo er versichert,
noch vor Ablauf eines Menschenalters werde alles in Er-
füllung gehen; denn das Mögliche denkt sich, wer eine
richtige Vorstellung hat, eben als möglich, das Wahrschein-
liche als wahrscheinlich, und wenn er bei der Wahrheit
bleiben will, stellt er es eben so dar: wer hingegen das
nur Mögliche oder Wahrscheinliche als Wirkliches sich
vorstellt, der irrt, und wer es, ohne es selbst so vorzu-
[357]Erstes Kapitel. §. 112.
stellen, doch um eines religiösen oder moralischen Zweckes
willen dafür ausgiebt, der hat sich eine pia fraus erlaubt.
Weiter bemerkt Olshausen, die Ansicht, daſs die Zukunft
Christi zunächst bevorstehe, habe ihre Wahrheit darin,
daſs wirklich die ganze Weltgeschichte ein Kommen Chri-
sti sei, ohne daſs jedoch hiedurch sein abschlieſsendes Kom-
men am Ende der Dinge ausgeschlossen wäre. Allein,
wenn Jesus als nächstbevorstehend bewiesenermaſsen sein
eigentliches, abschliessendes Kommen darstellt, in Wahr-
heit aber nur sein uneigentliches, fortwährendes Kommen
auch in der nächsten Zeit schon eingetreten ist: so hat er
diese beiden Arten seines Kommens verwechselt. Das Lez-
te, was Olshausen anführt, weil die Beschleunigung oder
Verzögerung der Wiederkunft Christi von dem Benehmen
der Menschen, also von der Freiheit, abhänge, so sei seine
Weissagung nur bedingt zu verstehen, steht und fällt mit
dem Ersten: denn etwas Bedingtes unbedingt darstellen,
heiſst eine irrige Vorstellung verbreiten.
Auch Sieffert hält in ähnlicher Weise die Gründe,
durch welche Olshausen die Bestimmungen Jesu über sei-
ne Wiederkunft dem Gebiete des Irrthums zu entnehmen
sucht, für ungenügend, dennoch aber meint er, dem christ-
lichen Bewuſstsein sei es unmöglich, Jesu eine getäuschte
Erwartung zuzuschreiben 4). In keinem Falle würde dieſs
berechtigen, in der Rede Jesu diejenigen Elemente, wel-
che auf den näheren, und welche auf den nach unserer
Einsicht entfernteren Erfolg sich beziehen, willkührlich von
einander zu scheiden: sondern wenn wir Gründe hätten,
einen solchen Irrthum von Seiten Jesu für undenkbar zu
halten, so würden wir überhaupt die Reden von der Par-
usie ihm absprechen müssen. Indeſs, vom orthodoxen
Standpunkt betrachtet, fragt man nicht zuerst, was einem
heutigen christlichen Bewuſstsein beliebe, von Christo an-
[358]Dritter Abschnitt.
zunehmen oder nicht, sondern, was von Christo geschrie-
ben stehe, ist die Frage, worein sich dann das Bewuſst-
sein wird zu schicken suchen müssen so gut es geht; ra-
tional die Sache angesehen aber hat ein solches auf Vor-
aussetzungen ruhendes Gefühl, wie das sog. christliche Be-
wuſstsein ist, in wissenschaftlichen Verhandlungen keine
Stimme, und ist, so oft es sich in solche mischen will,
durch ein einfaches: mulier taceat in ecclesia! zur Ord-
nung zu weisen.
Fragt es sich nun, ob wir vielleicht andre Gründe
haben, die Weissagungen Matth. 24. 25. parall. Jesu ab-
zusprechen, so können wir unsre Untersuchung an die Be-
hauptung supranaturalistischer Theologen anknüpfen, was
Jesus hier voraussage, habe er nicht auf dem natürlichen
Wege verständiger Berechnung, sondern nur auf übernatür-
liche Weise vorherwissen können 5). Schon das Allgemei-
ne, daſs der Tempel zerstört, und Jerusalem verwüstet
werden würde, konnte nach dieser Ansicht nicht so sicher
vorausgewuſst werden. Wer hätte vermuthen können, fragt
man, daſs die Juden so weit in ihrer Raserei gehen wür-
den, daſs jener Ausgang herbeigeführt werden muſste? wer
konnte berechnen, daſs gerade solche Kaiser solche Procu-
ratoren schicken würden, welche durch Niederträchtigkeit
und Schwäche zur Empörung reizten? Noch auffallender
ist dann, daſs manche einzelne Züge, die Jesus vorhersag-
te, wirklich eingetroffen sind. Die Kriege, Seuchen, Erd-
beben, Hungersnöthen, welche er prophezeihte, lassen sich
in der folgenden Geschichte wirklich nachweisen; die
Verfolgungen seiner Anhänger sind ohnehin eingetreten;
die Voraussagung von falschen Propheten, und zwar na-
mentlich von solchen, die durch Versprechen von Wun-
derzeichen das Volk in die Wüste locken würden (Matth.
24, 11. 24 ff. parall.), läſst sich mit einer auffallend ähnli-
[359]Erstes Kapitel. §. 112.
chen Stelle aus Josephus Schilderung der lezten Zeiten
des jüdischen Staats vergleichen 6) die κυκλοὺμένη ὑπὸ ςρα-
τοπέδων Ἱερουσαλὴμ bei Lukas, womit der χἄραξ zu ver-
gleichen ist, welcher nach Luc. 19, 43 f. um Jerusalem ge-
zogen werden sollte, kann in dem Umstand wiedergefun-
den werden, daſs nach Josephus Zeugniſs Titus Jerusalem
durch eine Mauer einschlieſsen lieſs 7); so wie endlich
auch das auffallen kann, daſs die Angaben: ουκ ἀφεϑήσεται
λίϑος ἐπὶ λίϑῳ in Bezug auf den Tempel, und ἐδαφιοῦσί σε
(Luc. 19, 44.) in Bezug auf die Stadt, in wörtliche Erfül-
lung gegangen sind.
Wenn nun aus der Unmöglichkeit, dergleichen in na-
türlicher Weise vorauszusehen, auf orthodoxem Standpunkt
eine übernatürliche Einsicht Jesu gefolgert wird: so un-
terliegt die Annahme einer solchen auch hier den gleichen
Schwierigkeiten, wie oben bei den Vorherverkündigungen
des Todes und der Auferstehung. Denn nach Matthäus
(24, 15.) und Markus (13, 14.) hat Jesus das Eintreten der
Katastrophe an die Erfüllung des durch Daniel von einem
βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως Geweissagten geknüpft, folglich
Dan. 9, 27. (vgl. 11, 31. 12, 11.) auf ein Ereigniſs bei
der Zerstörung Jerusalems durch die Römer bezogen. Denn
was Paulus behauptet, Jesus habe hier nur einen Ausdruck
von Daniel entlehnt, ohne jenen Ausspruch des Propheten
als Weissagung auf etwas zu seiner Zeit noch Künftiges
zu betrachten, wird hier besonders durch den Zusaz: ὁ
ἀναγινώσκων νοείτω, undenkbar. Nun aber darf es auf dem
[360]Dritter Abschnitt.
jetzigen Standpunkt der Kritik als entschieden angesehen
werden, daſs die angezeigten Stellen im Daniel auf die
Entweihung des Heiligthums unter Antiochus Epiphanes
sich beziehen 8), also die Deutung derselben, welche die
Evangelisten hier Jesu leihen, eine falsche ist. Eine sol-
che aber kann ihm nicht aus seiner höheren Natur gekom-
men, sondern er müſste hierin seiner menschlichen Gei-
steskraft überlassen gewesen sein. Doch eben, wie er
mittelst dieser im Stande gewesen sein sollte, einen von
so vielen Zufälligkeiten abhängigen Erfolg mit seinen Ein-
zelheiten vorauszusehen, ist unbegreiflich, und man wird
von hier aus auf die Vermuthung geführt, daſs diese Re-
den in der Bestimmtheit, wie wir sie hier lesen, nicht
vor dem Erfolg, mithin nicht von Jesu, gesprochen, son-
dern nach dem Erfolg ihm als Weissagung in den Mund
gelegt worden seien. So nimmt z. B. Kaiser an, Jesus ha-
be nur bedingt, für den Fall, daſs die Nation sich nicht
durch den Messias retten lieſse, dem Tempel und der Stadt
ein schreckliches Schicksal durch die Römer gedroht, und
dieſs in prophetischen Bildern beschrieben: die unbedingte
Haltung aber und die genaueren Bestimmungen seien sei-
ner Rede erst post eventum gegeben worden 9).
Im Gegensaz gegen diese beiden Ansichten, von einer
übernatürlichen, und einer erst nach dem Erfolge gemach-
ten Weissagung, sucht man von einer dritten Seite her die
Möglichkeit darzuthun, daſs, was hier vorausgesagt wird,
wirklich schon Jesus natürlicherweise habe wissen kön-
nen 10). Auf das Allgemeine, die Zerstörung des Tem-
pels und die Einnahme Jerusalems, konnte er, sagt man,
durch den Schluſs kommen, daſs Gott alle Hindernisse des
[361]Erstes Kapitel. §. 112.
von ihm begonnenen Werkes, also auch den Tempel zu
Jerusalem, in welchem, als der Basis des Priestercultus,
er eines der stärksten erkannte, aus dem Wege räumen
würde. Allein auf einen, wenn er aus bloſs menschlicher
Berechnung hervorgieng, so äusserst unsichern Schluſs
konnte Jesus ohne die keckste Vermessenheit keine so feier-
liche Versicherung, und namentlich die Gewiſsheit nicht
bauen, daſs die Zerstörung noch im Lauf eines Menschen-
alters eintreten werde. Wenn man aber das besonders be-
fremdlich gefunden hat, daſs mit einzelnen Zügen der Weis-
sagung Jesu der Erfolg zusammengetroffen sein soll: so
wird eben dieses Zusammentreffen in Anspruch genommen.
Das Jerusalem prophezeihte κυκλοῦσϑαι ὑπὸ ςρατοπέδων
werde von Titus bei Josephus gerade als unausführbar be-
zeichnet 11); ebenso, wenn das Aufwerfen eines χάραξ um
die Stadt vorausgesagt werde, so melde Josephus, daſs,
nachdem der erste Versuch eines χῶμα durch Brandstif-
tung von Seiten der Belagerten vereitelt worden, Titus
vom Aufwerfen weiterer Dämme abgestanden sei 12); von
falschen Messiasen, die in der Zeit von Jesu Tod bis zur
Zerstörung Jerusalems aufgestanden wären, melde die Ge-
schichte nichts; die Völkerbewegungen und Naturerschei-
nungen in jener Periode seien bei Weitem nicht so bedeu-
tend gewesen, wie sie hier geschildert werden; namentlich
aber sei in diesen Reden gar keine Zerstörung Jerusalems,
sondern nur des Tempels, der Stadt aber bloſs ἐρήμωσις
und πατεῖσϑαι ὑπὸ ἐϑνῶν vorhergesagt: lauter Abweichun-
gen der Weissagung vom Erfolg, welche nicht stattfinden
würden, wenn entweder ein übernatürlicher Blick in die
Zukunft, oder ein vaticinium post eventum im Spiele wäre.
[362]Dritter Abschnitt.
Immer indeſs bleibt doch die merkwürdige Thatsache von
den falschen Propheten, die das Volk in die Wüste lock-
ten, und ungenau wohl auch als ψευδόχριςοι bezeichnet
werden konnten; das περιβαλοῦσι χάρακα behält seine Rich-
tigkeit, da ja vor dem Mauerbau wirklich χώματα aufge-
führt worden waren; die auf mehreren Seiten von den
Feinden umlagerte Stadt konnte wohl κυκλουμένη ὑπὸ ςρα-
τοπέδων heiſsen; der Stadt wird wenigstens bei Lukas,
wenn man die 21, 20. ihr gedrohte ἐρήμωσις mit dem ἐδα-
φιοῦσί σε καὶ ουκ ἀφήσουσιν ἐν σοὶ λίϑον ἐπὶ λίϑῳ 19, 44.
vergleicht, offenbar die wirkliche Zerstörung vorhergesagt,
und daſs der bei Matthäus und Markus, wenn auch nur
dem Tempel, gedrohte Untergang doch in der bestimmten
Frist erfolgte, ist ein auffallendes Zusammentreffen: so daſs,
Alles zusammengenommen, geurtheilt werden muſs, ohne
sonstige Hülfe, als verständige Combination der Umstände,
wäre Jesus in seiner Zeit nicht im Stande gewesen, eine
so bestimmte Voraussage mit solcher Sicherheit zu geben.
Eine solche Hülfe soll nun aber die jüdische Zeitvor-
stellung von den Umständen gewesen sein, welche der An-
kunft des Messias vorausgehen würden. Falsche Prophe-
ten und Messiase, Krieg, Theurung und Seuchen, Erdbe-
ben und Bewegungen am Himmel, überhandnehmende Sit-
tenlosigkeit, galten als die nächsten Vorboten des Messias-
reichs: daher, sagt man, finden wir sie auch hier voraus-
gesagt, und dürfen nicht kleinlich von jedem Zuge die Er-
füllung in der Geschichte auffinden wollen 13). Wirklich
finden sich nun bei den Propheten in Bezug auf die Tage
des Kommens Jehova's (Jes. 13, 9 ff. Joël 2, 11. 4, 15.
Zeph. 1, 14 ff. Hagg. 2, 7. Zach. 14, 1 ff. Mal. 3, 1 ff.)
so analoge Beschreibungen der demselben vorangehenden
und es begleitenden Drangsale, und ohnehin in späteren
jüdischen Schriften Aussprüche, welche mit diesen evan-
[363]Erstes Kapitel. §. 112.
gelischen so viel Verwandtschaft haben 14), daſs man nicht
zweifeln kann, es sei hier aus einem Kreise von Zeitvor-
stellungen heraus über die Zeit der Ankunft des Messias
gesprochen. Aber ob der Hauptzug in dem vorliegenden
Gemälde, die Zerstörung des Tempels und Verödung der
Stadt, sich ebenso als ein Theil der allgemeinen Vorstel-
lungen zur Zeit Jesu nachweisen läſst, ist eine andere
Frage. Zwar findet sich in jüdischen Schriften die Mei-
nung, die Geburt des Messias treffe mit der Zerstörung des
Heiligthums zusammen 15): aber diese Vorstellung hat sich
offenbar erst nach dem Untergang des Tempels gebildet,
um aus dem tiefsten Punkte des Unglücks die Quelle des
Trostes entspringen zu lassen. Josephus findet im Daniel
neben dem auf Antiochus Bezüglichen auch eine Weissa-
gung auf die Vernichtung des jüdischen Staats durch die
Römer 16), und, so wenig dieſs die ursprüngliche Bezie-
hung von irgend einem der Danielischen Gesichte ist:
[364]Dritter Abschnitt.
wenn man nur einmal, sei es aus welchem Grunde immer,
zur Zeit Jesu einen Theil jener Weissagungen auf etwas
noch Bevorstehendes bezog, so scheint nichts mehr im Wege
zu stehen, daſs nicht auch Jesus diese Ansicht seiner Zeit
sollte getheilt haben können. Wie nun die Juden zur Zeit
Jesu den weit frühere Zeitverhältnisse betreffenden Weis-
sagungen Daniels eine Beziehung auf noch bevorstehende
Ereignisse geben konnten, erklärt sich aus dem gleichen
Grunde, wie das, daſs die Christen jetziger Zeit der vol-
len Verwirklichung von Matth. 24. 25. noch entgegensehen.
Da nämlich nach dem Untergang der aus Thon und Eisen
gemischten Reiche, und des Hornes, das die Gottesläste-
rungen ausstoſsen und gegen die Heiligen streiten sollte,
alsbald das Kommen des Menschensohns in den Wolken
und der Eintritt des ewigen Reichs der Heiligen geweis-
sagt, diese Erfolge aber nach der Überwindung des Antio-
chus keineswegs sofort eingetreten waren: so war man ver-
anlaſst, mit diesem himmlischen Reiche auch die ihm un-
mittelbar vorangestellten Drangsale durch das gemischte
Reich und das Horn, worunter namentlich die Entweihung
des Heiligthums genannt war, erst noch einmal von der
Zukunft zu erwarten. Schwerer zu erklären ist, wie die
vorausgesagte Entweihung des Tempels und Verwüstung
der Stadt zur Erwartung einer völligen Zerstörung werden
konnte. Zwar lieſs sich das hebräische מְשֹׁמֵם bei Daniel
und ἐρήμωσις der LXX. in dieser Bedeutung fassen: aber
es fragt sich, welches Interesse die Juden zu Jesu Zeit
haben konnten, gerade das Schrecklichste aus dem Pro-
pheten herauszulesen? Bei der abgöttischen Anhänglichkeit
und Ehrfurcht des Juden für seinen Tempel ist es nicht
begreiflich, wie er, ohne durch einen Text gezwungen zu
16)
[365]Erstes Kapitel. §. 112.
sein, sich dazu verstehen konnte, eine Zerstörung seines
hochgeachteten Heiligthums als bevorstehend zu denken 17).
Nur in einer dem Judenthum und namentlich dem Tempel-
dienst feindlichen Partei, scheint es, konnte sich vor der
wirklichen Zerstörung des Tempels, — bei den Juden
selbst erst mit diesem Erfolg — eine solche Auslegung der
Danielischen Stelle bilden. Zu Jesu Lebzeiten aber war
sein und seiner Anhänger Gegensaz gegen den Tempeldienst
noch nicht entwickelt, da ja er selbst sich vielmehr des
Tempels gegen Entweihungen annahm (Matth. 21, 12 f.
parall.), und nach seiner Himmelfahrt die Jünger im Tem-
pel sich versammelten (Luc. 24, 53.). Von hier aus also
kann die Vermuthung entstehen, es mögen diese Reden in
der Bestimmtheit, wie sie jezt vor uns liegen, nicht von
Jesu selbst, noch aus seiner Zeit, herrühren, sondern spä-
ter in einer Periode entstanden sein, in welcher jener Ge-
gensaz entwickelt oder die Zerstörung des Tempels bereits
erfolgt war.
Daſs die Weissagungen, wie wir sie im ersten Evan-
gelium lesen, noch vor dem Falle des jüdischen Heiligthums
aufgezeichnet sein müssen, hat man daraus geschlossen,
daſs diesem Evangelium zufolge unmittelbar nach diesem
Ereigniſs die Zukunft Christi eintreten soll, was, nachdem
der Tempel bereits zerstört war, nicht mehr ebenso erwar-
tet werden konnte 18). Vergleicht man die Darstellung im
dritten Evangelium, so ist hier nicht allein das εὐϑέως ver-
mieden, sondern auch zwischen die Zerstörung Jerusalems
und die Zeichen der Ankunft des Messias ausdrücklich eine
Zwischenzeit eingeschoben, während welcher Ἱερουσαλὴμ
ἔςαι πατουμένη ὑπὸ ἐϑνῶν, ἄχρι πληρωϑῶσι καιροὶ ἐϑνῶν
(21, 24.). Dazu kommt, daſs das Gemälde der Verwü-
stung, soweit es Jerusalem betrifft, bei Lukas weit be-
[366]Dritter Abschnitt.
stimmter als bei Matthäus gehalten ist. Zwar, daſs dem
Tempel die Zerstörung bevorstehe, ist bei beiden schon in
der ersten kurzen Antwort Jesu an die Jünger auf's Be-
stimmteste erklärt. Aber im Verlauf der entwickelnden
Rede heiſst es nun bei Matthäus bloſs, wenn das von Da-
niel vorausgesetzte βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως an heiliger
Stätte stehe, dann solle man schleunige Flucht ergreifen,
denn es trete eine beispiellose ϑλίψις ein (24, 15—22.).
Ganz anders Lukas: das geheimniſsvolle Zeichen aus Da-
niel hat er in die klar ausgesprochene Umzingelung Jeru-
salems durch feindliche Heere verwandelt; die alsdann nö-
thige Flucht durch die bevorstehende ἐρήμωσις der Stadt
motivirt; die eintretenden Drangsale als Rache über das
jüdische Volk näher bestimmt; diesem blutige Niederlage
und Zerstreuung unter alle Völker, der Stadt Besiznahme
durch die Heiden vorhergesagt (21, 20—24.). Dasselbe
Verhältniſs zwischen den beiden Evangelien findet bei der
Wehklage Jesu über Jerusalem statt, deren, in der Form,
wie sie Lukas wiedergiebt, bereits Erwähnung geschehen
ist. Bei Matthäus schlieſst das den Reden über die Parusie
unmittelbar vorangehende 23te Kapitel V. 37. mit einer An-
rede an Jerusalem, in welcher Jesus klagt, daſs diese
Stadt seine treuen Bemühungen um sie undankbar zurück-
gewiesen habe, wofür ihr nun auch ἐρήμωσις ihres οἶκος,
Verödung ihres Heiligthums, bevorstehe. Während den
gleichen Ausspruch Lukas früher, 13, 34 f., stellt, legt
er Jesu, wie er am Schluſs seiner lezten Festreise Jeru-
salem erblickt, eine Anrede in den Mund, welche nur als
die bestimmtere Ausführung jenes Ausspruchs erscheinen
kann, indem hier, wie schon oben angegeben, von einem
um Jerusalem aufzuführenden χάραξ, von περικυκλοῦν, συν-
έχειν πάντοϑεν, ἐδαφιοῦν, die Rede ist (19, 41 ff.). Da so-
mit Lukas einerseits dasjenige, was in der Weissagung des
Matthäus nicht in Erfüllung gehen zu wollen schien (das
εὐϑέως) beseitigt, andrerseits das Ungenaue derselben in
[367]Erstes Kapitel. §. 112.
Übereinstimmung mit dem Erfolge näher bestimmt hat: so
wird man nicht umhinkönnen, mit geprüften Kritikern in
dem Unterschied dieser beiden Darstellungen den eines va-
ticinium ante und post eventum zu finden 19). Scheinen
wir hiedurch in die Annahme, welche wir eben vermei-
den wollten, daſs nämlich vor der wirklichen Zerstörung
Jerusalems und des Tempels eine solche Katastrophe ge-
weissagt worden sei, in Bezug auf die Darstellung des er-
sten Evangeliums zurückzufallen: so bleibt es uns doch un-
benommen, die Entstehung des Orakels in seiner Form bei
Matthäus so nahe als möglich an die Zerstörung Jerusa-
lems hinanzurücken, und uns zu denken, wie der Verfas-
ser des Buchs Daniel mitten unter den Kämpfen seiner Na-
tion mit Antiochus Epiphanes, doch da es sich für die Israë-
liten schon zum Sieg zu wenden begann, den baldigen
Sturz des Tyrannen, die Ankunft des Menschensohns in
den Wolken, und den Eintritt des ewigen Reichs der Hei-
ligen geweissagt hatte 20): ebenso seien mitten unter der
Bedrängniſs des jüdischen Kriegs und der Belagerung der
Stadt, doch da die Sache der Juden sich schon zum Unter-
gange neigte, und namentlich der Tempel, als der den
Römern wohlbekannte Herd des jüdischen Nationalgefühls,
verloren gegeben werden muſste, die vorliegenden Orakel
mit dem Troste des sogleich nach der gegenwärtigen Drang-
sal eintretenden messianischen Reiches in der Form, wie
das erste Evangelium sie giebt, entstanden, und hierauf
nach dem Erfolg in der Art, wie wir sie jezt im dritten
Evangelium lesen, umgebildet worden: so daſs wir also
bei Lukas ein vaticinium post eventum, bei Matthäus aber
nicht sowohl eines ante eventum, als in eventu vor uns hätten.
Eine andere Einwendung gegen die Ächtheit der syn-
optischen Reden über die Parusie hat auf unsrem Stand-
[368]Dritter Abschnitt.
punkt nicht dieselbe Kraft, die sie auf dem jezt gewöhnli-
chen der vergleichenden Evangelienkritik hat, nämlich das
Fehlen jeder ausführlichen Schilderung der künftigen Par-
usie Jesu im johanneischen Evangelium 21). Zwar die
Grundbestandtheile der Lehre von der Wiederkunft Chri-
sti sind auch im vierten Evangelium nicht zu verkennen 22).
Jesus schreibt sich in demselben das einstige Gericht und
die Auferweckung der Todten zu (Joh. 5, 21—30.), wel-
che leztere als Moment der Zukunft Christi in den eben
erwogenen synoptischen Reden nicht hervortritt, aber sonst
im N. T. nicht selten in jenem Zusammenhang vorkommt
(z. B. 1 Kor. 15, 23. 1 Thess. 4, 16.). Wenn Jesus im
vierten Evangelium bisweilen leugnet, zum Gericht in die
Welt gekommen zu sein (3, 17. 8, 15. 12, 47.), so gilt
dieſs theils nur von seiner ersten Anwesenheit, theils wird
es durch entgegengesezte Äusserungen, wo er vielmehr be-
hauptet, zum Gerichtigekommen zu sein, (9, 39 vgl. 8, 16.),
auf den Sinn eingeschränkt, daſs nur ein liebloses, par-
tikularistisches Richten seine Sache nicht sei. Wenn fer-
ner der johanneische Jesus von dem Glaubenden sagt: ου
κρίνεται (3, 18. 5, 24.), so ist dieſs in demselben Sinn zu
verstehen, wie wenn es von dem Ungläubigen heiſst: ἤδη
κέκριται (3, 18.), daſs nämlich die Anweisung des verdien-
ten Looses für jeden nicht erst dem künftigen Gericht am
Ende der Dinge aufbehalten sei, sondern mit seiner in-
nern Beschaffenheit schon jezt jeder das ihm gebührende
Schicksal in sich trage, und wie Jesus in demselben Evan-
gelium ein andermal durch die Versicherung, denjenigen,
welcher sein Wort gehört habe, ohne zu glauben, richte
nicht er, sondern ὁ λόγος, ὃν ἐλάλησα, κρινεῖ αὐτὸν ἐν τῇ
[369]Erstes Kapitel. §. 112.
ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ (12, 48.), nur so viel ausdrücken will, daſs
die Verdammniſs der Ungläubigen nicht ein willkührlicher
subjektiver Akt seiner Person, sondern ein nothwendiger,
objektiver der Sache selbst sei. Dadurch ist ein bevorste-
hender solenner Gerichtsakt, an welchem das jezt erst an
sich Vorhandene zur feierlichen Offenbarung gelangt, nicht
ausgeschlossen, wie denn in der zulezt angeführten Stelle
die Zuerkennung der Verdammniſs, und sonst auch die Er-
theilung der Seligkeit (5, 28 f. 6, 39 f. 54.), an den jüngsten
Tag und die Auferstehung geknüpft wird. Ebenso sagt
ja auch bei Lukas Jesus in demselben Zusammenhang, in
welchem er seine Wiederkunft als eine noch bevorstehen-
de äussere Katastrophe beschreibt, 17, 20 f., das Reich Got-
tes komme nicht μετὰ παρατηρήσεως·ουδὲ ἐροῦσιν· ἰδοὺ ὧδε,
ἢ ἰδοὺ ἐκεῖ· ἰδοὺ γὰρ, ἡ βασιλεία τοῦ ϑεοῦ ἐντὸς ὑμῶν ἐςίν. —
Auch daſs seine Wiederkunft in Kurzem bevorstehe, soll
nach einer gewissen Deutung seiner Worte der johannei-
sche Jesus geäussert haben. Die schon erwähnten Aus-
sprüche in den Abschiedsreden nämlich, wo Jesus seinen
Jüngern verspricht, sie nicht verwaist zurückzulassen, son-
dern, hingegangen zum Vater, in Kurzem (16, 16.) wie-
der zu ihnen zu kommen (14, 3. 18.), sind nicht selten auch
von der Wiederkunft Christi am Ende der Tage verstan-
den worden 23); aber wenn man von dieser nämlichen
Wiederkunft Jesum sagen hört, daſs er bei derselben nur
seinen Jüngern, nicht aber der Welt sich offenbaren wer-
de (14, 19. vgl. 22.): so kann man unmöglich an die Wie-
derkunft zum Gericht denken, wo Jesus sich Guten und
Bösen ohne Unterschied zu offenbaren gedachte. Beson-
ders räthselhaft ist noch im Anhang des vierten Evange-
liums, K. 21, von dem Kommen Jesu die Rede. Auf die
Frage des Petrus, was es mit dem Apostel Johannes wer-
den solle, erwiedert hier Jesus: ἐὰν αὐτὸν ϑέλω μένειν,
Das Leben Jesu II. Band. 24
[370]Dritter Abschnitt.
ἕως ἔρχομαι, τί πρὸς σέ; (V. 22.) was, wie hinzugesezt
wird, die Christen so verstanden, als sollte Johannes gar
nicht sterben, indem sie das ἔρχεσϑαι auf die lezte Wie-
derkunft Christi bezogen, bei welcher die sie Erlebenden,
ohne den Tod zu schmecken, verwandelt werden sollten
(1 Kor. 15, 51 f.). Aber, sezt der Verfasser berichtigend
hinzu, Jesus habe nicht gesagt, der Jünger werde nicht
sterben, sondern nur, wenn er wolle, daſs er bleibe, bis
er komme, was es den Petrus angehe? Hiedurch kann
der Evangelist zweierlei berichtigen wollen. Entweder
schien es ihm unrichtig, das Bleiben, bis Jesus komme, ge-
radezu mit nicht sterben zu identificiren, d. h. also das
Kommen, von welchem hier Jesus sprach, für das lezte,
welches dem Tod ein Ende machen sollte, zu nehmen, und
dann müſste er sich ein unsichtbares Kommen Christi, et-
wa in der Zerstörung Jerusalems, darunter gedacht haben 24).
Oder hielt er es für irrig, was Jesus nur hypothetisch ge-
sagt hatte: wenn er auch etwa das Angegebene wollte, so
gienge das doch den Petrus nichts an, kategorisch zu fas-
sen, als ob es Jesu wirklicher Wille gewesen wäre, wo-
bei dann das ἔρχομαι seine gewöhnliche Bedeutung be-
hielte 25).
Finden sich hienach allerdings die Grundzüge der Leh-
re von der Parusie auch im vierten Evangelium Jesu in
den Mund gelegt, so finden wir doch nirgends etwas von
der ausführlichen sinnlichen Schilderung des äussern Her-
gangs bei derselben, und der mit ihr zusammenhängenden
Vorgänge, wie wir sie in den synoptischen Evangelien le-
sen. Dieses Verhältniſs macht bei der gewöhnlichen An-
sicht von dem Ursprung der Evangelien, namentlich des
vierten, nicht wenig Schwierigkeit. Wenn Jesus wirklich
so ausführlich und feierlich, wie ihn die Synoptiker davon
[371]Erstes Kapitel. §. 112.
reden lassen, von seiner Wiederkunft gesprochen, und die
richtige Erkenntniſs und Beobachtung der Zeichen dersel-
ben als etwas so Wichtiges behandelt hat: so ist es unbe-
greiflich, wie der Verfasser des vierten Evangeliums das
Alles übergehen konnte, wenn er anders ein unmittelba-
rer Schüler Jesu war. Das gewöhnliche Reden, er habe
dieſs aus den Synoptikern oder der mündlichen Verkündi-
gung als bekannt vorausgesezt, reicht hier um so weniger
aus, je mehr alles, was Weissagung ist, namentlich einer
so ersehnten und gefürchteten Katastrophe, der Miſsdeu-
tung bloſssteht, wie wir aus der zulezt erwähnten Berich-
tigung sehen, welche der Verfasser von Joh. 21. an der
Meinung seiner Zeitgenossen über die dem Johannes von
Jesu gegebene Verheiſsung anzubringen für nöthig fand.
Hier also ein verständigendes Wort zu reden, wie zweck-
mäſsig und verdienstlich wäre es gewesen, besonders da
die Darstellung des ersten Evangeliums, welche sogleich
auf die Zerstörung des Tempels das Ende der Dinge fol-
gen lieſs, je näher jenes Ereigniſs kam, und noch mehr als
es vorüber war, immer bedenklicher und anstössiger wer-
den muſste, und wer war eher im Stande, eine solche Be-
richtigung zu geben, als der Lieblingsjünger, zumal wenn
er nach Marc. 13, 3. der einzige Evangelist war, der den
Erörterungen Jesu über diesen Gegenstand angewohnt hat-
te? Daher sucht man auch hier einen besondern Grund
seines Stillschweigens in der angeblichen Bestimmung sei-
nes Evangeliums für nichtjüdische, idealisirende Gnostiker,
für deren Standpunkt jene Schilderungen nicht gepaſst ha-
ben, und deſshalb weggelassen worden seien 26). Allein
gerade solchen Lesern gegenüber wäre es eine pflichtwi-
drige Nachgiebigkeit, eine Bestärkung in ihrer idealisiren-
den Richtung gewesen, wenn Johannes ihnen zulieb die
reale Seite an der Wiederkunft Christi hätte zurücktre-
24 *
[372]Dritter Abschnitt.
ten lassen. Dem Hang dieser Leute, das äusserlich Ge-
schichtliche des Christenthums zu verflüchtigen, muſste der
Apostel dadurch entgegentreten, daſs er eben diese Seite
gebührend hervorhob; wie er in seinem Brief ihrem Do-
ketismus gegenüber die Leiblichkeit Jesu premirt, so muſs-
te er im Gegensaz gegen ihren Idealismus an der Wieder-
kunft Christi die äusseren Momente ihres Eintritts mit be-
sonderem Fleiss hervorkehren. Statt dessen spricht er
selbst fast wie ein Gnostiker, und sucht die Wiederkunft
Christi von der Bedeutung eines äussern, zukünftigen Vor-
gangs immer wieder in das Innere und die Gegenwart zu-
rückzurufen. Es ist also nicht so übertrieben, wie Ols-
hausen meint, wenn Fleck behauptet, daſs die synoptische
und die johanneische Darstellung der Lehre Jesu von sei-
ner Wiederkunft sich ausschlieſsend zu einander verhal-
ten 27); sondern, wenn der Verfasser des vierten Evange-
liums ein Apostel ist, so können die Reden, welche die
drei ersten Evangelisten Jesu über seine Parusie in den
Mund legen, nicht so von ihm gesprochen worden sein,
und umgekehrt. Doch, wie gesagt, dieses Arguments kön-
nen wir uns nicht bedienen, da wir die Voraussetzung ei-
nes apostolischen Ursprungs für das vierte Evangelium
längst aufgegeben haben. Auf unserem Standpunkt kön-
nen wir uns nun aber das Verhältniſs der johanneischen
Darstellung zur synoptischen vollkommen erklären. In Pa-
lästina, wo sich die in den drei ersten Evangelien aufge-
zeichnete Tradition bildete, wurde frühzeitig die daselbst
verbreitete Lehre von einer feierlichen Ankunft des Mes-
sias in ihrer ganzen palästinischen Sinnlichkeit in die christ-
liche Verkündigung aufgenommen, und nach der Zerstö-
rung Jerusalems noch näher bestimmt: wogegen in dem
hellenistisch-theosophischen Kreise, in welchem das vierte
Evangelium entstand, diese Idee ihr sinnliches Gewand ab-
[373]Erstes Kapitel. §. 112.
streifte, und die Wiederkunft Christi zu dem zwischen ei-
nem realen und idealen, gegenwärtigen und künftigen Vor-
gang schwebenden Mittelding wurde, wie sie im vierten
Evangelium erscheint.
Können nach dem Obigen die ausführlichen Reden,
welche die drei ersten Evangelisten Jesu über seine Par-
usie in den Mund legen, nicht von ihm selber herrühren:
so fragt sich, ob er nicht doch im Allgemeinen gehofft und
verheiſsen hat, einst als Messias herrlich zu erscheinen?
Hielt er sich in irgend einem Abschnitt seines Lebens für
den Messias, woran nicht zu zweifeln ist, und bezeichnete
er sich als den υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου, so muſste er, scheint es,
auch das Kommen in den Wolken erwarten, welches die-
sem bei Daniel zugeschrieben ist: nur fragt es sich, ob
er dieſs als eine Verherrlichung gedacht habe, welche noch
während seines Lebens eintreten würde, oder als etwas,
das ihm erst nach seinem Tode bevorstände? Nach Aus-
sprüchen wie Matth. 10, 23. 16, 28. könnte man das Er-
stere vermuthen; dabei bleibt jedoch immer möglich, daſs,
wenn ihm später sein Tod gewiſs wurde, seine Vorstel-
lung die leztere Form annahm, aus welcher heraus dann
Matth. 26, 64. gesprochen wäre.
[374]Dritter Abschnitt
Zweites Kapitel.
Anschläge der Feinde Jesu; Verrath des
Judas; leztes Mahl mit den Jüngern.
§. 113.
Entwicklung des Verhältnisses Jesu zu seinen Feinden.
Als die Feinde Jesu erscheinen in den drei ersten Evan-
gelien am häufigsten die Φαρισαῖοι καὶ γραμματεῖς1), wel-
che in ihm den verderblichsten Feind ihres Satzungswe-
sens erkannten, und neben diesen beiden die ἀρχιερεῖς und
πρεσβύτεροι, welche als Häupter des äusseren Tempelcul-
tus und der auf diesen gegründeten Hierarchie mit demje-
nigen, der bei jeder Gelegenheit auf den inneren Gottes-
dienst des Gemüths als die Hauptsache hinwies, sich nicht
befreunden konnten. Sonst treten wohl auch die Σαδδου-
καῖοι unter den Gegnern Jesu auf (Matth. 16, 1. 22, 23 ff.
parall. vgl. Matth. 16, 6 ff. parall.), deren Materialismus
Manches an seinen Ansichten zuwider sein muſste, und die
Herodische Partei (Marc. 3, 6. Matth. 22, 16. parall.),
welche, wie dem Täufer, so auch seinem Nachfolger ab-
hold war. Das vierte Evangelium, obwohl es einigemale
die ἀρχιερεῖς und Φαρισαῖοι nennt, bezeichnet die Feinde
Jesu doch am häufigsten durch den allgemeinen Ausdruck:
οἱ Ἰουδαῖοι, was vom späteren, christlichen Standpunkt aus
gesprochen ist.
Übereinstimmend berichten sämmtliche vier Evangeli-
sten, daſs die bestimmteren Anschläge der pharisäisch-hier-
[375]Zweites Kapitel. §. 113.
archischen Partei gegen Jesum von einem Verstoſs dessel-
ben gegen die den Sabbat betreffenden Satzungen ihren
Anfang genommen haben. Als Jesus den Menschen mit
der vertrockneten Hand am Sabbat wiederhergestellt hatte,
sezt Matthäus hinzu: οἱ δὲ Φαρισαῖοι συμβουλιον ἐλαβον
κατ̕ αὐτοῦ, ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν (12, 14. vgl. Marc. 3, 6.
Luc. 6, 11.), und ebenso bemerkt Johannes bei der sabbat-
lichen Heilung am Teich Bethesda: καὶ διὰ τοῦιο ἐδίωκον
τὸν Ἰ. οἱ Ἰουδαῖοι, und fährt, nachdem er noch einen Aus-
spruch Jesu gemeldet, fort: διὰ τοῦτο ου͑͂ν μᾶλλον ἐζήτουν αὐ-
τὸν οἱ Ἰουδαῖοι ἀποκτεῖναι (5, 16. 18.).
Sogleich nach diesem Anfangspunkt aber gehen die
synoptische und die johanneische Darstellung des fraglichen
Verhältnisses auseinander. Bei den Synoptikern giebt den
nächsten Anstoſs die Vernachlässigung des Waschens vor
Tisch von Seiten Jesu und seiner Jünger und die schar-
fen Ausfälle, welche er, darüber zur Rede gestellt, ge-
gen den kleinlichten Satzungsgeist und die damit verbun-
dene Heuchelei und Verfolgungssucht der Pharisäer und
Gesezkundigen macht, wo es dann am Ende heiſst, sie ha-
ben tiefen Groll gegen ihn gefaſst, und ihn auszuholen, ihm
verfängliche Reden abzulocken gesucht, um Grund zur An-
klage gegen ihn zu gewinnen (Luc. 11, 37—54. vgl. Matth.
15, 1 ff. Marc. 7, 1ff.). Auf seiner lezten Reise nach Je-
rusalem lieſsen die Pharisäer Jesu eine Warnung vor He-
rodes zukommen (Luc. 13, 31.), die wahrscheinlich nur
den Zweck hatte, ihn aus der Gegend wegzubringen. Den
nächsten Hauptanstoſs nimmt die hierarchische Partei an
der auffallenden Huldigung, welche Jesu bei'm Einzug in
Jerusalem vom Volke dargebracht wird, und an der Tem-
pelreinigung, zu welcher er sofort schreitet: doch etwas Ge-
waltsames gegen ihn zu unternehmen, hielt sie sein star-
ker Anhang unter dem Volk noch zurück (Matth. 21, 15 f.
Marc. 11, 18. Luc. 19, 39. 47 f.), was auch der einzige
Grund war, warum sie nach der scharfen Zeichnung durch
[376]Dritter Abschnitt.
das Gleichniſs von den Weingärtnern sich seiner Person
nicht bemächtigte (Matth. 21, 45 f. parall.). Nach diesen
Vorgängen bedurfte es kaum mehr der antipharisäischen
Rede Matth. 23, um kurz vor dem Pascha die Hohenprie-
ster, Schriftgelehrten und Ältesten, d. h. das Synedrium,
in den Palast des Hohenpriesters zu einer Berathung zu-
sammenzuführen, ἵνα τὸν Ἰ. δόλῳ κρατήσωσι καὶ ἀποκτεί-
νωσιν (Matth. 26, 3 ff. parall.).
Auch im vierten Evangelium zwar wird der groſse An-
hang Jesu unter dem Volk einigemale als der Grund be-
zeichnet, warum ihn seine Feinde haben wollen festnehmen
lassen (7, 32. 44. vgl. 4, 1 ff.), und sein feierlicher Einzug
in Jerusalem erbittert sie auch hier (12, 19.); bisweilen wird
ihrer Mordanschläge ohne Angabe einer Veranlassung ge-
dacht (7, 1. 19. 25. 8, 40.): aber den Hauptanstoſs geben
in diesem Evangelium die Aussagen Jesu über seine höhere
Würde. Schon bei jener Sabbatheilung reizte das haupt-
sächlich die Juden auf, daſs Jesus dieselbe durch Beru-
fung auf die ununterbrochene Thätigkeit Gottes, als seines
Vaters, rechtfertigte, worin nach ihrer Meinung ein blas-
phemisches ἴσον ἑαυτὸν ποιεῖν τῷ ϑεῷ lag (5, 18.); wenn
er von seiner göttlichen Sendung sprach, suchten sie ihn
zu greifen (7, 30. vgl. 8, 20.); auf die Behauptung, vor
Abraham sei er, hoben sie Steine gegen ihn auf (8, 59.);
dasselbe thaten sie, als er äusserte, er und der Vater seien
Eins (10, 31.), und wie er behauptete, der Vater sei in
ihm, und er im Vater, suchten sie sich abermals seiner
zu bemächtigen (10, 39.). Was aber den Ausschlag giebt
nach der Darstellung des vierten Evangeliums, und die
feindliche Partei zu förmlicher Beschluſsnahme gegen Je-
sum veranlaſst, ist die Auferweckung des Lazarus. Als
diese That den Pharisäern gemeldet wurde, veranstalteten
sie und die Hohenpriester eine Synedriumssitzung, in wel-
cher sie in Erwägung zogen, wenn Jesus fortfahre, so
viele σημεῖα zu thun, werde ihm zulezt Alles anhängen,
[377]Zweites Kapitel. §. 113.
und dann die Römer zerstörend einschreiten; worauf der
Hohepriester Kaiphas den verhängniſsvollen Ausspruch that,
es sei besser, daſs Ein Mensch für das Volk sterbe, als
daſs das ganze Volk zu Grunde gehe. Nun war sein Tod
beschlossen, und es wurde jedem zur Pflicht gemacht, sei-
nen Aufenthaltsort anzuzeigen, um sich seiner Person be-
mächtigen zu können (11, 46.).
In Bezug auf diese Differenz bemerkt die neuere Kri-
tik, daſs wir aus den synoptischen Berichten die tragische
Wendung des Schicksals Jesu gar nicht begreifen würden,
und nur Johannes einen Blick in die stufenweise Steige-
rung der Spannung zwischen der hierarchischen Partei
und Jesu uns eröffne, kurz, daſs namentlich auch in die-
sem Stück die Darstellung des vierten Evangeliums als eine
pragmatische sich zeige, was die der übrigen nicht sei 2).
Allein, was hier an stufenweisem Fortschreiten die johan-
neische Erzählung voraushaben soll, ist schwer einzusehen,
da ja gleich die erste bestimmtere Angabe über das sich
bildende Miſsverhältniſs (5, 18.) in dem ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν
τῷ ϑεῷ das Höchste des Anstoſses, in dem ἐζήτουν αὐτὸν
ἀποκτεῖναι aber das Höchste der Feindseligkeit enthält, so
daſs Alles, was weiter von der Feindschaft der Ἰουδαῖοι er-
zählt wird, bloſse Wiederholung ist, und nur der Syne-
driumsbeschluſs Kap. 11. als Fortschritt zum Bestimmteren
sich darstellt. In diesem Sinne fehlt aber auch der syn-
optischen Darstellung der Fortschritt nicht, von dem un-
bestimmten ἐνεδρεύειν und διαλαλεῖν, τί ἂν ποιήσειαν τῷ
Ἰησοῦ (Luc. 11, 54. 6, 11.), oder, wie es bei Matthäus
(12, 14.) und Markus (3, 6.) bestimmter lautet, συμβου-
λιον λαμβάνειν ὅπως αὐτὸν ἀπολέσωσιν, bis zu dem in Be-
zug auf Art (δόλῳ) und Zeit (μὴ ἐν τῇ ἑορτῇ) nunmehr
genau bestimmten Beschlusse (Matth. 26, 4 f. parall.). —
[378]Dritter Abschnitt.
Näher wird nun aber den drei ersten Evangelisten beson-
ders das zum Vorwurf gemacht, daſs sie in der Auferwe-
ckung des Lazarus diejenige Begebenheit übergangen ha-
ben, welche für die lezte Wendung des Schicksals Jesu
entscheidend geworden sei 3). Müssen dagegen wir, mit
Rücksicht auf das obige Resultat unsrer Kritik dieser Wun-
dererzählung, vielmehr die Synoptiker loben, daſs sie nicht
eine Begebenheit zum Wendepunkt des Schicksals Jesu
machen, welche gar nicht wirklich vorgefallen ist: so be-
urkundet sich der vierte Evangelist auch durch die Art,
wie er den dadurch veranlaſsten Mordbeschluſs berichtet,
keineswegs als einen solchen, dessen Auktorität uns die
Wahrheit seiner Erzählung verbürgen könnte. Das zwar,
daſs er, ohne Zweifel nach einer abergläubischen Zeitvor-
stellung 4), dem Hohenpriester die Gabe der Prophetie zu-
schreibt, und seinen Ausspruch für eine Weissagung auf
den Tod Jesu hält, dieſs würde für sich noch keineswegs
beweisen, daſs er nicht ein Augenzeuge und Apostel könnte
gewesen sein 5).. Das aber ist mit Recht bedenklich gefun-
den worden, daſs unser Evangelist den Kaiphas als ἀρχιε-
ρεὺς τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου bezeichnet (11, 49.), also vorauszu-
setzen scheint, diese Würde sei, wie manche römische Ma-
gistraturen, eine jährige gewesen, da sie doch ursprüng-
lich eine lebenslängliche war, und auch in jener Zeit der
römischen Oberherrschaft nicht regelmäſsig jährlich, son-
dern so oft es der Willkühr der Römer gefiel, abwechselte.
Auf die Auktorität des vierten Evangeliums hin gegen die
sonstige Sitte und unerachtet des Stillschweigens des Jose-
phus anzunehmen, Hannas und Kaiphas haben vermöge ei-
ner Privatübereinkunft jährlich gewechselt 6), dazu mag
[379]Zweites Kapitel. §. 113.
sich, wer Lust hat, entschlieſsen; ἐνιαυτοῦ unbestimmt für
χρόνου zu nehmen 7), ist wegen der doppelten Wiederho-
lung desselben Ausdrucks V. 51. und 18, 13. unzulässig;
daſs in jener Zeit das Hohepriesterthum so häufig wech-
selte, und einige Hohepriester nicht länger als ein Jahr in
ihrer Stelle belassen wurden 8), berechtigte unsern Schrift-
steller nicht, den Kaiphas als Hohenpriester eines Jahrs zu be-
zeichnen, welcher gerade vielmehr eine Reihe von Jahren,
namentlich während der ganzen Dauer von Jesu öffentli-
cher Wirksamkeit, jene Stelle bekleidete; daſs aber endlich
Johannes soll sagen wollen, im Todesjahr Jesu sei Kaiphas
Hoherpriester gewesen, ohne dadurch frühere und spätere
Jahre auszuschlieſsen, in welchen er dieses Amt gleich-
falls bekleidet habe 9) geht ebensowenig. Denn wenn
die Zeit, in welche eine Begebenheit fällt, als ein gewisses
Jahr bezeichnet wird, so muſs dieſs darin seinen Grund
haben, daſs entweder die Begebenheit, deren Zeit bestimmt
werden soll, oder das Datum, nach welchem man dieselbe
bestimmen will, mit dem Jahreswechsel zusammenhängt.
Entweder muſs also der Erzähler im vierten Evangelium
der Meinung gewesen sein, von Jesu Tod, zu welchem
sie damals den Anschlag machten, sei auf jenes ganze Jahr,
aber weiter nicht, eine Fülle von Geistesgaben, unter wel-
chen auch die prophetische Gabe des damaligen Hohenprie-
sters, ausgeflossen 10): oder, wenn dieſs eine gesuchte Er-
klärung ist, so muſs er den Kaiphas als Hohenpriester eben
nur jenes Jahrgangs sich vorgestellt haben. Wenn also
Lücke schlieſst, da nach Josephus der damalige Hoheprie-
ster dieses Amt zehn Jahre hintereinander verwaltet habe,
so könne Johannes mit dem ἀρχιερεὺς τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου
[380]Dritter Abschnitt.
nicht gemeint haben, das hohepriesterliche Amt sei damals
jährig gewesen: so kehrt sich dieser Schluſs, da das Zu-
tageliegen dieser Meinung in den Worten des Evangeliums
sicherer ist, als daſs dessen Verfasser Johannes gewesen,
in den der Probabilien um: da das vierte Evangelium hier
eine Vorstellung von der Dauer des Hohenpriesteramtes
zeige, die man in Palästina nicht haben konnte, so könne
der Verfasser desselben kein Palästinenser gewesen sein 11).
Auch von den weiteren Angaben über die Punkte,
durch welche Jesus der Hierarchie seines Volkes anstöſsig
geworden sei, sind nur diejenigen glaublich, welche die
Synoptiker allein oder mit Johannes gemein haben: die
dem lezteren eigenthümlichen nicht. Von dem Gemein-
schaftlichen war der Anstoſs an seinem feierlichen Einzug
und der starken Anhänglichkeit des Volks an ihn, die sich
dabei zeigte, ebenso natürlich, als die Erbitterung über sein
Reden und Thun gegen die Sabbatsvorschriften, worin im-
mer lezteres bestanden haben mag; dagegen ist die Art,
wie dem vierten Evangelium zufolge die Juden an den Äus-
serungen Jesu über sich als Sohn Gottes Anstoſs genom-
men haben sollen, nach einer früheren Auseinandersetzung 12)
ebenso undenkbar, als es in der Ordnung ist, daſs die Po-
lemik gegen den Pharisäismus, welche ihm die drei ersten
Evangelien leihen, die Getroffenen verdrieſsen muſste. So
ist über die Ursachen und Motive der Reaktion, welche
gegen Jesum sich bildete, in der johanneischen Darstellung
kein neuer und tieferer Aufschluſs zu holen: aber was
die Synoptiker bieten, reicht auch vollkommen hin, jene
Erscheinung zu begreifen.
§. 114.
Jesus und sein Verräther.
Unerachtet im Rathe der Hohenpriester und Ältesten
[381]Zweites Kapitel. §. 114.
beschlossen worden war, die Festzeit erst vorübergehen zu
lassen, weil eine in diesen Tagen an Jesu verübte Gewalt-
that unter der Masse ihm günstiger Festbesucher leicht ei-
nen Aufstand erregen konnte (Matth. 26, 5. Marc. 14, 2.):
so wurde diese Rücksicht doch durch die Leichtigkeit über-
wogen, mit welcher einer seiner Jünger ihn in ihre Hän-
de zu liefern sich anheischig machte. Judas nämlich, oh-
ne Zweifel von seiner Abstammung aus der [judäische] Stadt
Kerioth (Jos. 15, 25.) Ἰσκαριώτης genannt, gieng den Syn-
optikern zufolge wenige Tage vor dem Paschafest zu den
Vorstehern der Priesterschaft, und erbot sich, Jesum ih-
nen in der Stille zu überliefern, wofür sie ihm Geld, nach
Matthäus dreissig Silbersekel (ἀργύρια), versprachen (Matth.
26, 14 ff. parall.). Von einer solchen vorläufigen Verhand-
lung des Judas mit den Feinden Jesu meldet das vierte
Evangelium nicht nur nichts, sondern scheint auch sonst
die Sache so darzustellen, als hätte Judas erst bei der lez-
ten Mahlzeit den Entschluſs gefaſst und sogleich ausge-
führt, Jesum an die Priesterschaft zu verrathen. Dassel-
be εἰσελϑεῖν des Satan in Judas nämlich, welches Lukas
(22, 3.) vor seinen ersten Gang zu den Hohenpriestern, und
ehe noch zum Paschafest Anstalt gemacht ist, sezt, läſst
der Verfasser des vierten Evangeliums bei diesem Mahle
eintreten, ehe Judas die Gesellschaft verlieſs (13, 27.):
zum Beweis, wie es scheint, daſs nach der Ansicht dieses
Evangelisten Judas erst jezt den verrätherischen Gang ge-
macht hat. Zwar schon vor dem Mahle, bemerkt derselbe
(13, 2.), habe der Teufel dem Judas in's Herz gegeben
gehabt, Jesum zu verrathen, und dieses τοῦ διαβόλου βεβλη-
κότος εἰς τὴν καρδίαν wird gemeiniglich dem εἰσῆλϑε σατα-
νᾶς bei Lukas gleichgesezt, und von dem Entschlusse zum
Verrath verstanden, in dessen Folge Judas zu den Hohen-
priestern gegangen sei: allein, war er schon damals mit
denselben einig geworden, so war der Verrath bereits voll-
zogen, und man weiſs dann kaum, was das εἰσῆλϑεν εἰς
[382]Dritter Abschnitt.
αὐτὸν ὁ σατανᾶς bei'm lezten Mahle noch bedeuten soll, da
das Hinausführen derer, welche Jesum greifen sollten, kein
neuer Teufelsentschluſs, sondern nur die Vollziehung des
bereits gefaſsten war. Der Ausdruck bei Johannes V. 27.
bekommt im Unterschied von V. 2. nur dann einen ganz
passenden Sinn, wenn man das βάλλειν εἰς τὴν καρδίαν
von dem Aufsteigen des Gedankens, das εἰσελϑεῖν aber von
dem Reifen desselben zum Entschluſs versteht, also nicht
voraussezt, daſs Judas schon vor dem Mahle den Hohen-
priestern eine Zusage gemacht habe 1). Stehen sich aber
auf diese Weise die Angabe der Synoptiker, daſs Judas
schon einige Zeit vor der Ausführung seines Verraths mit
den Feinden Jesu in Unterhandlung gestanden, und die jo-
hanneische, daſs er erst unmittelbar vor der That sich
mit ihnen in Verbindung gesezt habe, entgegen: so ent-
scheidet sich zwar Lücke in der Art für den Johannes,
daſs er behauptet, erst nach dem Aufbruch vom lezten
Mahl (Joh. 13, 30.) habe Judas den Gang zu den Hohen-
priestern gemacht, welchen die Synoptiker (Matth. 26,
14 f. parall.) vor das Mahl versetzen 2): aber er thut dieſs
nur der vorausgesezten Auctorität des Johannes zulieb;
denn wenn auch, wie er bemerkt, bei eben einbrechender
Nacht Judas mit den Priestern noch recht gut unterhan-
deln konnte: so ist doch, die Sache ohne Voraussetzung
betrachtet, die Wahrscheinlichkeit ohne Vergleichung mehr
auf Seiten der Synoptiker, welche der Sache doch einige
Zeit lassen, als des Johannes, bei welchem Alles Knall
und Fall geht, und Judas, allerdings wie besessen, nach
[383]Zweites Kapitel. §. 114.
Einbruch der Nacht noch davonrennt, um mit den Prie-
stern zu unterhandeln, und unmittelbar darauf zur That
zu schreiten.
Über die Motive, welche den Judas bewogen haben,
sich mit den Feinden Jesu gegen ihn zu verbinden, erfah-
ren wir aus den drei ersten Evangelien nur, daſs er von
den Hohenpriestern Geld bekommen habe. Dieſs würde,
besonders nach der Erzählung bei Matthäus, wo Judas,
ehe er den Verrath zusagt, die Frage macht: τί ϑέλετέ μοι
δοῦναι; für Hab- und Gewinnsucht als Triebfeder sprechen.
Bestimmteres Licht wirft hierauf noch die Angabe des
vierten Evangeliums (12, 4 ff.), schon bei dem Bethanischen
Mahle habe Judas sich über die Salbung, als eine unnö-
thige Verschwendung, geärgert; er habe nämlich den Beu-
tel geführt, sei aber an demselben zum Dieb geworden;
wornach also anzunehmen wäre, daſs die Habsucht des
Judas, durch das, was er der Gesellschaftscasse abstehlen
konnte, nicht mehr befriedigt, durch die Überlieferung Je-
su an die reiche und mächtige Priesterpartei nachhal-
tigeren Gewinn zu machen gehofft habe. Man wird es
dem Verfasser des vierten Evangeliums Dank wissen müs-
sen, daſs er uns durch die Aufbewahrung dieser Notizen,
welche den übrigen Evangelisten fehlen, die That des Ju-
das einigermaſsen begreiflich gemacht hat, — sobald sich
seine Angaben als historisch begründet zeigen. Hier ist
nun aber in Bezug darauf, daſs gerade Judas jene Rüge
ausgesprochen habe, schon oben ausgeführt worden, wie
unwahrscheinlich es sei, daſs die Sage diesen Zug verlo-
ren haben sollte 3): wie wahrscheinlich dagegen eine sa-
genhafte Entstehung desselben ist, erhellt leicht. Das Be-
thanische Mahl stand in der evangelischen Überlieferung
dem Ausgang des Lebens Jesu durch den Verrath des Ju-
das nahe: wie leicht konnte einem der Gedanke aufsteigen
[384]Dritter Abschnitt.
jener engherzige Tadel edler Freigebigkeit könne nur von
dem habsüchtigen Judas ausgegangen sein? Daſs der Tadel
zugleich auf Verkaufen der Salbe zum Besten der Armen
drang, konnte im Munde des Judas nur ein Vorwand ge-
wesen sein, hinter welchem sich sein Eigennuz versteckte:
eignen Vortheil aber konnte er von dem Verkauf jener Sal-
be nur dann erwarten, wenn er sich erlaubte, von dem er-
lösten Gelde etwas zu unterschlagen, und dieſs konnte er
wiederum nur, wenn er Cassenführer war. Zeigt sich so
auch von dem Zuge, daſs Judas κλέπτης ἦν καὶ τὸ γλωσ—
σόκομον εἶχε, eine unhistorische Entstehung als möglich: so
ist nun zu untersuchen, ob sich Gründe zu der Annahme
finden, daſs es sich wirklich so verhalte?
Hier muſs ein andrer Punkt hinzugenommen werden,
in welchem die Synoptiker und Johannes differiren, näm-
lich das Vorherwissen Jesu von des Judas Verrätherei.
Bei den Synoptikern zeigt Jesus diese Kunde erst am lez-
ten Mahle, also zu einer Zeit, wo die That des Judas ei-
gentlich schon geschehen war, und noch kurz vorher, wie
es scheint, ahnte Jesus noch so wenig davon, daſs einer
der Zwölfe ihm verloren gehen würde, daſs er ihnen al-
len, wie sie da waren, bei der Palingenesie ein Sitzen auf
12 Richterstühlen verhieſs (Matth. 19, 28.). Nach Johan-
nes dagegen versichert Jesus schon um die Zeit des vor-
lezten Pascha, also ein Jahr vor dem Erfolg, einer von
den Zwölfen sei ein διάβολος, womit er, laut der Be-
merkung des Evangelisten, den Judas, als seinen künf-
tigen Verräther, meinte (6, 70.); denn, wie kurz vorher
(V. 64.) bemerkt war, ᾔδει ἐξ ἀρχῆς ὁ Ἰησοῦς, — τίς ἐςιν
ὁ παραδώσων αὐτόν. Hienach hätte also Jesus von Anfang
seiner Bekanntschaft mit dem Judas gewuſst, daſs dieser
ihn verrathen würde, und nicht bloſs diesen äussern Erfolg
hätte er vorhergesehen, sondern, da er ja wuſste, was im
Menschen war (Joh. 2, 25.), so hätte er auch die Triebfe-
dern des Judas durchschaut, daſs er nämlich aus Habsucht
[385]Zweites Kapitel. §. 114.
und Geldgier jene That begehen würde. Und dabei soll er
ihn zum Casseführer gemacht, d. h. ihn auf einen Posten
gestellt haben, auf welchem sein Hang, sich auf jede, wenn
auch unrechte Art Gewinn zu schaffen, die reichste Nah-
rung bekommen muſste? er soll ihn durch Gelegenheit zum
Dieb gemacht, und sich, wie absichtlich, an ihm einen Ver-
räther groſs gezogen haben? Schon vom ökonomischen
Standpunkt aus betrachtet: wer vertraut denn einem eine
Casse an, von dem er weiſs, daſs er sie bestiehlt? dann
pädagogisch: wer stellt den Schwachen auf einen Plaz,
der gerade seine schwache Seite so beständig in Anspruch
nimmt, daſs vorauszusehen ist, er müsse früher oder spä-
ter unterliegen? Nein in der That, so hat Jesus mit den
ihm zunächst anvertrauten Seelen nicht gespielt, so nicht
das Gegentheil von dem ihnen erwiesen, was er sie beten
lehrte: μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμὸν (Matth. 6, 13.), daſs
er den Judas, von welchem er vorauswuſste, er werde aus
Gewinnsucht sein Verräther werden, zum Casseführer er-
nannt haben könnte; oder wenn er ihn dazu machte, so
kann er jenes Vorherwissen nicht gehabt haben.
Um in dieser Alternative zu einer Entscheidung zu
gelangen, müssen wir jenes Vorherwissen für sich nehmen,
und sehen, ob es abgesehen von dem Cassenamt des Judas
wahrscheinlich ist oder nicht? Auf die Frage nach der
psychologischen Möglichkeit wollen wir uns nicht einlassen,
da es ja immer frei steht, sich auf die göttliche Natur in
Jesu zu berufen; aber von der moralischen Möglichkeit
wird es sich fragen, ob es bei jener Voraussicht zu recht-
fertigen sei, daſs Jesus den Judas unter die Zwölfe ge-
wählt, und in diesem Kreise behalten habe? Da durch
diese Berufung sein Verrath als solcher erst möglich wur-
de, so scheint Jesus, wenn er diesen vorherwuſste, und
den Judas doch berief, ihn absichtlich in jene Sünde hin-
eingezogen zu haben. Man wendet ein, durch den Um-
gang mit Jesu sei dem Judas ja auch die Möglichkeit ge-
Das Leben Jesu II. Band. 25
[386]Dritter Abschnitt.
geben worden, jenem Abgrund zu entgehen 4): aber Jesus
hatte ja vorausgesehen, daſs sich diese Möglichkeit nicht
verwirklichen würde; man sagt weiter, auch in andern
Kreisen würde das in Judas gelegene Böse sich, nur in
andrer Form, entwickelt haben, was schon stark determi-
nistisch klingt; so wie vollends die Behauptung, es sei kei-
ne wahre Hülfe für den Menschen, wenn das Böse, wozu
der Keim in ihm liegt, nicht zur Ausbildung komme, auf
Consequenzen zu führen scheint, wie sie Röm. 3, 8. 6, 1 f.
verworfen sind. Und auch nur von der gemüthlichen Sei-
te angesehen, — wie konnte Jesus es ertragen, einen Men-
schen, von welchem er wuſste, daſs er sein Verräther
werden, und alle Unterweisung an ihm fruchtlos bleiben
würde, die ganze Zeit seines öffentlichen Lebens hin-
durch um sich zu haben? muſste ihm durch denselben
nicht jede Stunde traulichen Zusammenseins mit den Zwöl-
fen verkümmert werden? Gewiſs triftige Gründe müſsten
es gewesen sein, um deren willen Jesus sich dieses Widri-
ge und Harte aufgelegt hätte. Solche Grunde und Zwecke
konnten sich entweder auf den Judas beziehen, und hier
also in der Absicht bestehen, ihn zu bessern, welche aber
durch die bestimmte Voraussicht seines Verbrechens zum
Voraus abgeschnitten war; oder sie bezogen sich auf Je-
sum selbst und sein Werk, so daſs er die Überzeugung
gehabt hätte, wenn die Erlösung durch seinen Tod zu Stan-
de kommen solle, müsse auch einer sein, der ihn verra-
the 5). Allein zu jenem Zwecke war nach christlicher Vor-
aussetzung nur der Tod Jesu ein unentbehrliches Mittel:
ob dieser aber mittelst eines Verraths, oder wie sonst, her-
beigeführt wurde, hatte für den Erlösungszweck kein Mo-
ment, und daſs es den Feinden Jesu auch ohne den Judas
[387]Zweites Kapitel. §. 114.
früher oder später gelungen sein würde, ihn in ihre Ge-
walt zu bekommen, ist unleugbar; daſs aber der Verrä-
ther unentbehrlich gewesen, um Jesu Tod eben am Pascha-
fest, das sein typisches Vorbild enthält, zu Stande zu
bringen 6): — mit solchen Spielereien wird man uns doch
heutiges Tags nicht mehr hinhalten wollen.
Läſst sich somit auf keine Weise eine genügende Ab-
sicht ausfindig machen, welche Jesum bewegen konnte, in
der Person des Judas wissentlich seinen Verräther an sich
zu ziehen und um sich zu behalten: so scheint entschieden,
daſs er ihn als solchen nicht im Voraus gekannt haben
kann. Schleiermacher, um nicht durch Leugnung dieses
Vorherwissens der johanneischen Auctorität zu nahe zu tre-
ten, zweifelt lieber daran, daſs Jesus die Zwölfe rein
selbstständig ausgewählt habe, und indem nun dieser Kreis
sich mehr durch freies Anschlieſsen der Jünger von selbst
gebildet haben soll, so könne Jesus leichter darüber ge-
rechtfertigt werden, daſs er den sich zudrängenden Judas
nicht zurückwies, als wenn er ihn aus freier Wahl zu
sich gezogen hätte 7). Allein die Auctorität des Johannes
wird hiedurch doch verlezt, da ja gerade er Jesum zu den
Zwölfen sagen läſst: ουχ ὑμεῖς με ἐξελέξασϑε, ἀλλ̕ ἐγὼ ἐξε—
λεξάμην ὑμᾶς (15, 16. vgl. 6, 70.); übrigens einen bestimm-
ten Wahlakt auch weggedacht, so brauchte es doch, da-
mit einer beständig um Jesum bleiben durfte, seiner Erlaub-
niſs und Bestätigung, und schon diese konnte er mensch-
licherweise einem Manne nicht geben, von welchem er wuſste,
daſs er durch dieses Verhältniſs zu ihm der schwärzesten
Frevelthat entgegenreife; sich aber ganz, wie man sagt, in den
Standpunkt Gottes zu versetzen, und um der Möglichkeit
der Besserung willen, von der er doch vorauswuſste, daſs
25 *
[388]Dritter Abschnitt.
sie nie zur Wirklichkeit werden würde, den Judas in sei-
ner Gesellschaft zu lassen, das wäre eine göttliche Un-
menschlichkeit, nichts Gottmenschliches, gewesen. So
schwer es hienach hält, die Angabe des vierten Evange-
liums, daſs Jesus von Anfang an den Judas als seinen Ver-
räther gekannt habe, als historisch festzuhalten: so leicht
entdeckt sich, was auch ohne geschichtlichen Grund zu ei-
ner solchen Darstellung bewegen konnte. Daſs der von
einem seiner eignen Schüler an Jesu begangene Verrath
ihm in den Augen seiner Feinde zum Nachtheil gereichte,
ist natürlich, wenn wir auch nicht von Celsus wüſsten,
daſs er in der Rolle eines Juden Jesu vorwarf, ὅτι ὑφ̕
ὦν ὠνόμαζε μαϑητῶν προυδόϑη, zum Beweis, daſs er we-
niger als jeder Räuberhauptmann die Seinigen an sich zu
fesseln vermocht habe 8). Wie nun die aus dem schmähli-
chen Tode Jesu zu ziehende üble Folgerung durch die
Behauptung, er habe seinen Tod lange vorhergewuſst, am
besten abgeschnitten zu werden schien: ebenso das, was
man aus dem Verrath des Judas Schlimmes gegen Jesum
ableitete, durch die Angabe, daſs er von Anfang an den
Verräther durchschaut habe, und dem, was ihm dieser be-
reitete, hätte entgehen können, mithin mit Freiheit und
aus höheren Rücksichten sich seiner Treulosigkeit ausge-
sezt habe 9); womit zugleich noch der Vortheil zu gewin-
nen war, der in jeder angeblich eingetroffenen Voraussa-
gung für den Vorausverkündigenden liegt, und welchen
der vierte Evangelist naiv seinen Jesus aussprechen läſst,
wenn er ihm nach der Bezeichnung des Verräthers bei'm
lezten Mahle die Worte leiht: ἀπ̕ ἄρτι λέγω ὑμῖν πρὸ τοῦ
γενέσϑαι, ἵνα, ὅταν γένηται, πιςεύσητε, ὅτι ἐγώ εἰμι (13,
19.) — in der That das beste Motto zu allen vaticiniis
post eventum. Diese beiden Zwecke wurden desto voll-
[389]Zweites Kapitel. §. 114.
kommener erreicht, je weiter zurück im Leben Jesu dieses
Vorherwissen gesezt wurde, woraus sich also erklärt, wa-
rum der Verfasser des vierten Evangeliums, nicht zufrie-
den damit, daſs nach der gewöhnlichen Darstellung Jesus
bei'm lezten Mahl den Verrath des Judas vorherverkündigt
haben sollte, sein Wissen um denselben schon in die An-
fänge des Zusammenseins Jesu mit Judas verlegte 10).
Ist hiemit ein so frühes Wissen Jesu um die Ver-
rätherei des Judas als unhistorisch beseitigt, so wäre Raum
für die Angabe gemacht, daſs Judas den Beutel der Ge-
sellschaft Jesu geführt habe, was sich nur mit jenem Vor-
auswissen nicht zu vertragen schien, wogegen nun, wenn
sich Jesus überhaupt in Judas irrte, er in eben diesem Irr-
thum ihm auch die Casse anvertraut haben könnte. Allein
durch die Nachweisung, daſs die johanneische Darstellung
in Bezug auf das Wissen Jesu um seinen Verräther eine
gemachte sei, ist die Glaubwürdigkeit derselben in dieser
Sache so erschüttert, daſs man auch zu jener Angabe kein
rechtes Vertrauen fassen kann. Hat der Verfasser des
vierten Evangeliums das Verhältniſs zwischen Jesu und
Judas an der Jesum betreffenden Seite ausgemalt: so wird
er schwerlich die Seite des Judas unverziert gelassen ha-
ben; hat er die Thatsache, daſs Jesus verrathen worden
[390]Dritter Abschnitt.
ist, dadurch eingeleitet, daſs er Jesum dieſs Schicksal vor-
hersehen lieſs, so mag leicht das Andere, daſs er den Ju-
das seine Gewinnsucht durch untreue Führung des Beutels
voraus schon zeigen läſst, nur Einleitung dazu sein, daſs
Judas Jesum verrathen hat. Doch, müssen wir auch die
johanneischen Winke über den Charakter und die Motive
des Judas aufgeben: immerhin behalten wir auch in den
oben dargelegten Angaben der Synoptiker die bestimmte-
ste Hinweisung auf Habsucht als Grundtriebfeder seiner That.
§. 115.
Verschiedene Ansichten über den Charakter des Judas und die
Motive seines Verraths.
Von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten hat es sol-
che gegeben, welche mit dieser Ansicht der N. T.lichen
Schriftsteller von dem Beweggrund des Judas und mit ih-
rem durchaus verwerfenden Urtheil über denselben (vgl.
A. G. 1, 16 ff.) nicht übereinstimmen zu können glaubten,
und zwar können wir sagen, daſs diese Abweichung theils
aus übertriebenem Supranaturalismus, theils aus einem ra-
tionalistischen Hange hervorgegangen ist.
Ein überspannter Supranaturalismus konnte von dem
im N. T. selbst an die Hand gegebenen Gesichtspunkt aus,
daſs der Tod Jesu, im göttlichen Weltplan beschlossen,
zum Heil der Menschheit gedient habe, nun auch den Ju-
das, durch dessen Verrath der Tod Jesu herbeigeführt wor-
den ist, nur als ein Werkzeug in der Hand der Vorsehung,
als einen Mitarbeiter an der Erlösung der Menschheit be-
trachten. In dieses Licht konnte er dadurch gestellt wer-
den, daſs man ihm ein Wissen um jenen göttlichen Rath-
schluſs lieh, und die Vollziehung desselben als bewuſsten
Zweck seines Verrathes sezte. Diese Betrachtungsweise
finden wir wirklich bei der gnostischen Partei der Kaini-
ten, welche den alten Häresiologen zufolge den Judas für
denjenigen hielten, welcher sich über die beschränkte jü-
[391]Zweites Kapitel. §. 115.
dische Ansicht der übrigen Jünger zur Gnosis erhoben, und
dieser gemäſs Jesum verrathen habe, weil er erkannte, daſs
durch seinen Tod das Reich der die Welt beherrschenden
niederen Geister gestürzt werden würde 1). Andere in der
älteren Kirche räumten zwar ein, daſs Judas Jesum aus
Gewinnsucht verrathen habe; doch soll er nicht erwartet
haben, daſs Jesus getödtet werden würde, sondern der
Meinung gewesen sein, er werde, wie schon öfters, so
auch dieſsmal, durch seine übernatürliche Macht seinen
Feinden entgehen 2); eine Ansicht, welche bereits den
Übergang zu den neueren Rechtfertigungen des Verräthers
bildet.
Wie die bezeichnete supranaturalistische Erhebung des
Judas bei den Kainiten zunächst von ihrer Opposition ge-
gen das Judenthum ausgieng, kraft deren sie sich zum
Grundsaz gemacht hatten, alle von den jüdischen Verfas-
sern des alten, oder den judaisirenden des neuen Testa-
ments getadelte Personen zu ehren und umgekehrt: so ver-
spürte der Rationalismus, besonders in seinem ersten Un-
willen über die lange Knechtschaft der Vernunft in den
Fesseln der Auetorität, einen gewissen Reiz in sich, wie
[392]Dritter Abschnitt.
die von der orthodoxen Ansicht seiner Meinung nach zu
sehr vergötterten biblischen Personen ihres Nimbus zu ent-
kleiden, so die in eben dieser Ansicht verdammten oder
zurückgesetzten zu vertheidigen und zu heben. Daher, was
das A. T. betrifft, die Erhebung Esau's über Jakob, Saul's
über Samuel; im neuen der Martha über die Maria, die
Lobreden auf den zweifelnden Thomas, und nun sogar die
Apologie des Verräthers Judas. Den Einen war er ein
Verbrecher aus beleidigter Ehre: die Art, wie Jesus ihn
bei der Bethanischen Mahlzeit gezüchtigt, die Zurücksezung
überhaupt, die er im Vergleich mit andern Jüngern erfuhr,
verwandelte seine Liebe zu dem Lehrer in Haſs und Rach-
gier 3). Andere haben sich mehr der von Theophylakt auf-
behaltenen Vermuthung angeschlossen, daſs Judas gehofft
haben möge, Jesus werde auch dieſsmal seinen Feinden
entgehen. Dieſs faſsten die Einen noch supranaturalistisch
so, als hätte Judas erwartet, Jesus werde sich durch An-
wendung seiner Wunderkraft in Freiheit setzen 4); conse-
quenter auf ihrem Standpunkt muthmaſsten Andere, Judas
möge wohl erwartet haben, wenn Jesus gefangen wäre,
werde ein Volksaufstand zu seinen Gunsten ausbrechen und
ihn befreien 5). Judas wird hienach als ein solcher vor-
gestellt, der, darin übrigens den andern Jüngern gleich,
das Messiasreich irdisch und politisch sich dachte, und
daher unzufrieden war, daſs Jesus die Gunst des Volks so
lange nicht benüzte, um sich zum messianischen Herrscher
aufzuwerfen. Veranlaſst nun entweder durch Bestechungs-
[393]Zweites Kapitel. §. 115.
versuche des Synedriums, oder durch das Gerücht von des-
sen Plane, Jesum nach dem Fest insgeheim zu verhaften,
habe Judas diesem Anschlag, der Jesum verderben muſste,
zuvorzukommen, und eine Verhaftung noch während des
Fests zu Stande zu bringen gesucht, wo er gewiſs hoffen
zu können glaubte, Jesum durch einen Volksaufstand befreit,
ebendamit aber genöthigt zu sehen, sich endlich dem Volk
in die Arme zu werfen, und zur Gründung seiner Herr-
schaft den entscheidenden Schritt zu thun. Da er Jesum
von der Nothwendigkeit seiner Gefangennehmung, und
daſs er in drei Tagen sich wieder erheben werde, spre-
chen hörte, habe er dieſs als Zeichen der Einstimmung Je-
su in seinen Plan genommen, in diesem Wahne dessen
übrige abmahnende Reden theils überhört, theils falsch ge-
deutet, namentlich das ὃ ποιεῖς, ποίησον τάχιον als eine
wirkliche Ermunterung Jesu zur Ausführung seines Vor-
habens aufgefaſst. Die 30 Silberlinge habe er von den
Priestern genommen, entweder um seine wahre Absicht
hinter den Schein der Habsucht zu verbergen, und ihnen
dadurch jeden Verdacht zu benehmen, oder habe er neben
der Erhebung zu einer der ersten Stellen im Reich seines
Meisters, die er erwartete, auch jenen kleinen Vortheil
noch mitnehmen wollen. Aber Judas habe sich in zwei
Punkten verrechnet: einmal, indem er nicht bedach-
te, daſs nach der durchschmausten Paschanacht das Volk
nicht frühe zu einem Aufstand wach sein würde; zweitens,
indem er nicht erwog, daſs das Synedrium eilen würde,
Jesum in die Hände der Römer zu bringen, denen ein
Volksaufstand ihn schwerlich zu entreissen im Stande war.
So soll nun Judas entweder ein verkannter braver Mann
(Schmidt); oder ein Getäuschter sein, der aber kein gemei-
ner Charakter, vielmehr in seiner Verzweiflung noch ein
Trümmer apostolischer Gröſse war (Hase); oder soll er,
zwar durch ein schlechtes Mittel, doch einen guten Zweck
haben erreichen wollen (Paulus).
[394]Dritter Abschnitt.
Gegen die zuerst ausgeführte Ansicht nun, welche den
Verrath des Judas aus gekränktem Ehrgeiz ableitet, ist in
Bezug auf den Verweis bei'm Bethanischen Mahle, auf den
man so groſses Gewicht legt, schon bei andrer Gelegen-
heit die Bemerkung der neuesten Kritik gekehrt worden,
daſs die Milde jenes Verweises, wie sie namentlich aus
der Vergleichung mit der weit schärferen Zurechtweisung
des Petrus, Matth. 16, 23, erhelle, in gar keinem Verhält-
niſs zu dem Groll stände, den er in Judas erregt haben
soll 6); daſs dieser aber sonst Zurücksetzung gegen seine
Mitjünger erfahren habe, davon fehlt uns jede Spur. Die
andre Ansicht, welche dem Judas die Hoffnung auf Befrei-
ung Jesu unterlegt, fuſst hauptsächlich darauf, daſs er,
nachdem ihm die Ablieferung Jesu an die Römer und die
Unvermeidlichkeit seines Todes zu Ohren gekommen, in
Verzweiflung gerathen sei, als Beweis, daſs er einen ent-
gegengesetzten Erfolg erwartet hatte. Allein nicht bloſs der
unglückliche Erfolg, wie Paulus meint, sondern ebenso
auch der glückliche, oder das Gelingen des Verbrechens,
„zeigt dasselbe, welches man sich vorher unter tausend
Entschuldigungsgründen verschleierte, in seiner schwarzen,
eigenthümlichen Gestalt.“ Das real gewordene Verbrechen
wirft die Maske ab, die man dem nur erst idealen, im Ge-
danken vorhandenen, leihen konnte, und so wenig die
Reue manches Mörders, wenn er den Gemordeten vor sich
liegen sieht, beweist, daſs er den Mord nicht wirklich be-
absichtigt habe: ebenso wenig kann die des Judas, als er
Jesum ohne Rettung sah, beweisen, daſs er nicht voraus-
berechnet hatte, es werde Jesum das Leben kosten. Un-
möglich aber, sagt man ferner, kann Habsucht die Triebfe-
der des Judas gewesen sein; denn wenn es ihm um Ge-
winn zu thun war, so konnte ihm nicht entgehen, daſs
die fortdauernde Cassenführung in der Gesellschaft Jesu
[395]Zweites Kapitel. §. 115.
ihm mehr abwerfen würde, als die elenden 30 Silberlinge,
unsres Gelds 20—25 Thaler, die er bekam, was bei den
Juden die Vergütung für einen verlezten Sklaven, ein Tag
lohn auf 4 Monate war. Allein eben die 30 Silberlinge
sucht man vergeblich bei allen Berichterstattern ausser Mat-
thäus. Johannes schweigt völlig über einen dem Judas
von den Priestern zu Theil gewordnen Lohn; Markus und
Lukas sprechen unbestimmt von ἀργύριον, das sie ihm ver-
sprochen haben, und auch den Petrus läſst die Apostelge-
seichte (1, 18.) nur von einem μισϑὸς reden, der dem Ju-
das zu Theil geworden sei. Matthäus aber, der allein jene
bestimmte Summe hat, läſst uns zugleich keinen Zweifel
über den historischen Werth seiner Angabe. Er citirt nämlich,
nachdem er das Ende des Judas berichtet (27, 9 f.), eine
Stelle aus Zacharias (11, 12 f.; aus Irrthum schreibt er Jere-
mias), in welcher ebenfalls 30 Silberlinge als Preiſs vor-
kommen, zu welchem einer angeschlagen worden sei. Zwar
sind in der Prophetenstelle die 30 Silberlinge kein Kauf-
preiſs, sondern ein Lohn, der damit Bezahlte ist der Je-
hova's Person vorstellende Prophet, und durch die geringe
Summe wird die Geringschätzung angezeigt, welche die
Juden gegen so viele göttliche Wohlthaten sich zu Schul-
den kommen lieſsen 7). Wie leicht aber konnte ein christ-
licher Leser durch diese Stelle, in welcher von einem
schmählich geringen Preiſse (ironisch אֶדֶר הַיְקׇר) die Rede
war, um welchen die Israëliten einen im Orakel Redenden
angeschlagen haben, an seinen Messias erinnert werden,
der um ein seinem Werthe gegenüber jedenfalls geringes
Geld seinen Feinden verkauft worden war, und er konnte
nun aus dieser Stelle heraus den Preiſs bestimmen, der
dem Judas für die Überlieferung Jesu bezahlt worden war.
Hienach geben die τριάκοντα ἀργύρια durchaus keinen Punkt
ab, auf den sich derjenige stützen könnte, welcher bewei-
[396]Dritter Abschnitt.
sen will, der geringe Lohn könne es nicht gewesen sein,
was den Judas zum Verräther machte; denn wie gering
oder bedeutend der Lohn war, welchen Judas bekam, wis-
sen wir geschichtlich gar nicht.
Da alle andern Gründe, welche für edlere Triebfedern
des Judas sprechen sollen, noch schwächer als die unter-
suchten sind: so finden wir uns immer wieder auf die Ge-
winnsucht zurückgewiesen, welche uns durch die evange-
lischen Nachrichten an die Hand gegeben ist, und sollte
diese als Motiv zu einem solchen Schritte nicht genügen,
so ist es besser gethan, die Unmöglichkeit, hierüber in's
Klare zu kommen, offen zu bekennen, als durch luftiges
Pragmatisiren die mangelhaften Data aufzuputzen 8).
§. 116.
Bestellung des Paschamahls.
Am ersten Tag der ungesäuerten Brote, an dessen
Abend das Paschalamm geschlachtet werden muſste, also
den Tag vor dem eigentlichen Feste, welches aber an dem-
selben Abend noch seinen Anfang nahm, d. h. den 14ten
Nisan, soll Jesus, nach den zwei ersten Evangelien auf
eine von den Jüngern an ihn gerichtete Anfrage, nach Mat-
thäus unbestimmt, welche und wie viele, nach Markus zwei
Jünger, welche Lukas als den Petrus und Johannes be-
zeichnet, zur Stadt geschickt haben (vielleicht von Betha-
nien aus), um für die Festmahlzeit ein Lokal zu bestellen,
und die weiteren Anordnungen zu treffen (Matth. 26, 17 ff.
parall.). Was Jesus diesen Jüngern für eine Weisung ge-
geben, darin stimmen die drei Berichterstatter nicht ganz
überein. Nach allen schickt er sie zu einem Manne, bei
welchem sie nur im Auftrag des διδάσκαλος ein Lokal zur
Paschafeier begehren dürften, um sogleich eines eingeräumt
zu kekommen; aber theils wird dieses Lokal von den bei-
[397]Zweites Kapitel. §. 116.
den andern näher als von Matthäus bezeichnet, nämlich
als ein groſses oberes Zimmer, welches bereits mit Polstern
versehen, und zum Empfang von Gästen zugerichtet sei,
theils wird namentlich die Art, wie sie den Eigenthümer
desselben auffinden sollten, von jenen anders als von die-
sem angegeben. Matthäus nämlich läſst Jesum nur sagen,
sie sollten hingehen πρὸς τὸν δεῖνα, die übrigen aber, sie
würden, in die Stadt getreten, einem Menschen begegnen,
welcher ein κεράμιον ὕδατος trage, dem sollten sie in das
Haus, in welches er gehe, folgen, und daselbst mit dem
Hausherrn unterhandeln.
In dieser Erzählung hat man eine Menge von Anstös-
sen gefunden, welche Gabler in einer eigenen Abhandlung
zusammengestellt hat 1). Schon das ist aufgefallen, daſs
Jesus erst am lezten Tage an die Bestellung des Mahles
denken soll, ja nach den beiden ersten Evangelisten noch
durch die Jünger daran erinnert werden muſs, da doch
bei dem groſsen Andrang von Menschen in der Paschazeit
(2,700,000 nach Josephus 2)) die städtischen Lokale
bald vergeben waren, und die meisten Fremden vor der
Stadt unter Zelten campiren muſsten. Um so sonderbarer
ist dann, daſs demunerachtet die Boten Jesu das verlangte
Zimmer nicht schon besetzt finden, sondern der Eigenthü-
mer, als hätte er Jesu Bestellung geahnt, es für ihn auf-
gehoben, und bereits für ein Gastmahl zugerichtet hatte.
Und dessen versieht sich Jesus so gewiſs, daſs er den Haus-
eigenthümer nicht erst fragen läſst, ob er bei ihm ein Lo-
kal zur Paschamahlzeit bekommen könne, sondern ohne
Weiteres, wo das für ihn geeignete Lokal sei? oder nach
Matthäus ihm nur ansagen läſst, bei ihm werde er das Pa-
scha essen; wozu noch kommt, daſs nach Markus und Lu-
[398]Dritter Abschnitt.
kas Jesus sogar dieſs weiſs, was für ein Zimmer und in
welchem Theil des Hauses ihnen eingeräumt werden würde.
Besonders auffallend ist nun aber nach diesen beiden die
Art, wie die Jünger den Weg zu dem betreffenden Hause
finden sollen. Lautet nämlich bei Matthäus das ὑπάγετε
εἰς τὴν πόλιν πρὸς τὸν δεῖνα einfach so, als hätte zwar Je-
sus den Namen dessen, zu dem sie gehen sollten, genannt,
der Referent aber ihn nicht mehr angeben wollen oder
können: so bezeichnet bei den beiden andern Berichter-
stattern Jesus den Jüngern das Haus, in das sie zu gehen
hätten, durch einen Wasserträger, dem sie begegnen wür-
den. Wie konnte nun Jesus in Bethanien, oder wo er
war, diesen zufälligen Umstand vorherwissen, wenn an-
ders nicht vorher verabredet worden war, daſs um diese
Zeit ein Knecht aus jenem Hause mit einem Krug Wasser
sich zeigen, und auf die Boten Jesu warten sollte? Auf
eine vorhergegangene Verabredung schien den rationalisti-
schen Erklärern Alles in unsrer Erzählung hinzuweisen,
und durch diese Voraussetzung zugleich alle Schwierigkei-
ten derselben sich zu lösen. Die so spät erst ausgeschick-
ten Jünger konnten nur dann noch ein Lokal unbesezt fin-
den, wenn dieſs von Jesu vorher bestellt worden war, nur
dann konnte er dem Hausbesitzer so kategorisch sich an-
sagen lassen, wenn er mit ihm schon früher Abrede ge-
nommen hatte; aus einer solchen erklärt sich auch Jesu
genaue Kenntniſs von dem Lokal, und endlich, wovon aus-
gegangen wurde, seine Gewiſsheit, daſs die Jünger einem
Wasserträger aus jenem Hause begegnen würden. Den Um-
schweif dieser Bezeichnung des Hauses, der durch einfa-
che Nennung des Namens vom Eigenthümer zu vermeiden
war, soll Jesus gemacht haben, um das Lokal des abzu-
haltenden Mahles nicht vor der Zeit dem Verräther bekannt
werden zu lassen, der sonst vielleicht schon dort ihn auf
störende Weise überfallen haben würde 3).
[399]Zweites Kapitel. §. 116.
Allein diesen Eindruck macht die evangelische Erzäh-
lung durchaus nicht. Von einer Verabredung, vorgängigen
Bestellung, hat sie nichts; vielmehr scheint das εὐρον καϑ-
ὼς εἴρηκεν αὐτοῖς bei Markus und Lukas darauf hinwei-
sen zu sollen, daſs Jesus Alles, wie es sich später wirk-
lich fand, vorauszusagen im Stande war; eine furchtsame
Vorsicht ist nirgends angedeutet, vielmehr weist Alles auf
eine wundersame Voraussicht hin. Näher ist hier, wie
oben bei der Bestellung des Reitthieres zum Einzug in
Jerusalem, das zwiefache Wunder vorhanden, daſs ei-
nerseits für Jesu Bedürfnisse Alles bereit ist, und der
Gewalt seines Namens Niemand zu wiederstehen vermag;
andrerseits aber Jesus in entfernte Verhältnisse einen
Blick zu werfen, und das Zufälligste vorherzusagen im
Stande ist 4). Es muſs befremden, daſs diese so unab-
weisbar sich darbietende supranaturalistische Auffassung
des vorliegenden Berichts dieſsmal selbst Olshausen zu
umgehen sucht, mit Gründen, durch welche die meisten
Wundergeschichten umzustoſsen wären, und welche man
sonst nur von Rationalisten zu hören gewohnt ist. Dem
unparteiischen Ausleger, sagt er 5), gebe die Erzählung
nicht das Geringste an die Hand, das die wunderhafte
Auffassung rechtfertigte — man glaubt sich bereits in Pau-
lus Commentar versetzt; wollten die Referenten ein Wun-
der erzählen, so hätten sie ausdrücklich bemerken müssen,
es habe keine Verabredung stattgefunden — ganz das ra-
tionalistische Begehren, wenn eine Heilung als wunderba-
re anerkannt werden sollte, so müſste die Anwendung na-
[400]Dritter Abschnitt.
türlicher Mittel ausdrücklich geleugnet sein; auch ein Zweck
dieses Wunders sei nicht einzusehen, insbesondere eine
Glaubensstärkung der Jünger sei damals nicht nöthig, und
nach den früheren erhabeneren Wundern durch dieses we-
niger bedeutende nicht zu erreichen gewesen — Gründe,
durch welche ebenso namentlich auch die ganz ähnliche
Erzählung von der Vorherbezeichnung des Esels bei'm Ein-
zug, welche doch Olshausen als wunderbar festhält, aus
dem Kreise des Übernatürlichen ausgeschlossen werden
würde.
Eben dieser früheren Erzählung nun aber ist die ge-
genwärtige so auffallend analog, daſs über die historische
Realität der einen nicht anders als über die der andern geur-
theilt werden kann. Hier wie dort hat Jesus ein Bedürfniſs,
für dessen schleunige Befriedigung von Gott so gesorgt
ist, daſs Jesus die Art dieser Befriedigung auf's Genauste
vorherweiſs; hier bedarf er einen Spcisesaal, wie dort ein
Reitthier; hier wie dort sendet er zwei Jünger aus, um
die Bestellung zu machen; hier giebt er ihnen einen be-
gegnenden Wasserträger als Kennzeichen für das Haus
an, wie dort der angebundene Esel das Zeichen war;
hier wie dort weist er die Jünger an, dem Eigenthümer
nur ihn, hier als διδάσκαλος, wie dort als κύριος, zu nen-
nen, um sogleich die unweigerliche Gewährung seines Ver-
langens auszuwirken; beidemale entspricht der Erfolg sei-
ner Voraussage genau. Auch bei dieser Erzählung, wie
bei der früheren, fehlt der hinreichende Zweck, welchem
zulieb ein solches mehrfaches Wunder könnte veranstaltet
worden sein; wogegen der Grund ebenso leicht wie bei
jener in die Augen fällt, vermöge dessen sich in der ur-
christlichen Sage die Wundererzählung ausgebildet ha-
ben mag.
Was schlieſslich das Verhältniſs der Evangelien in
dieser Erzählung betrifft, so wird gewöhnlich die des Mat-
thäus tief unter die der zwei andern Synoptiker gesezt, und
[401]Zweites Kapitel. §. 116.
als die spätere und abgeleitete betrachtet 6). Vor Allem soll
der Umstand mit dem Wasserträger, welchen jene beiden
geben, dem ursprünglichen Faktum angehören, in der Sage
aber, bis sie an Matthäus kam, verloren gegangen, und
nun das räthselhafte ὑπάγετε πρὸς τὸν δεῖνα an seine Stel-
le gesetzt worden sein. Allein, wie wir gefunden haben,
ist der δεῖνα vielmehr unverfänglich, der Wasserträger
aber im höchsten Grade räthselhaft 7). Noch weniger läſst
sich darin, daſs Matthäus die abgeschickten Jünger nicht
wie Lukas als den Petrus und Johannes bezeichnet, eine
Spur finden, daſs die Erzählung des dritten Evangeliums
die ursprünglichere sei. Denn wenn Schleiermacher sagt,
dieser Zug habe wohl im Hindurchgehen [durch] mehrere
Hände verloren gehen, nicht leicht aber durch eine spätere
Hand hinzukommen können, so ist die leztere Behauptung
ohne Grund. So unwahrscheinlich es ist, daſs zu einer
so rein ökonomischen Bestellung Jesus gerade die beiden er-
sten Apostel verwendet haben sollte, so leicht läſst sich
denken, daſs zuerst unbestimmt, wie wir bei Matthäus
lesen, eine Sendung der oder einiger Jünger erzählt wur-
de, deren Zahl hierauf, vielleicht aus der Erzählung von
der Sendung nach dem Esel, auf zwei festgesezt, und die-
se Stellen endlich, da es von einer Auswahl zu einem Ge-
schäft von späterhin hoher Bedeutung — der Bereitung des
lezten Mahles Jesu — sich handelte, durch die beiden ersten
Apostel ausgefüllt wurden. So daſs hier selbst Markus
sich der ursprünglichen Wahrheit wieder mehr genähert
zu haben scheint, indem er die von Lukas an die Hand
gegebenen Namen der beiden Jünger in seine Erzählung
nicht aufnahm.
Das Leben Jesu II. Band. 26
[402]Dritter Abschnitt.
§. 117.
Abweichende Angaben über die Zeit des lezten Mahles Jesu.
Meldet der vierte Evangelist von der bisher bespro-
chenen Bestellung der Paschamahlzeit nichts, so weicht
er auch in Bezug auf das Mahl selbst auffallend von den
übrigen ab. Abgesehen nämlich von der durchgehenden
Differenz im Inhalt der Scene, von welcher erst später
die Rede werden kann, scheint er, was die Zeit des Mah-
les betrifft, es mit eben der Bestimmtheit als eine vor dem
Pascha gehaltene Mahlzeit zu geben, wie die Synoptiker
als das Paschamahl selbst.
Wenn diesen zufolge der Tag, an welchem die Jün-
ger von Jesu zur Bestellung des Mahles angewiesen wur-
den, bereits ἡ πρώτη τῶν ἀζύμων war, ἐν ᾐ ἐδει ϑύεσϑαι
τὸ πάσχα (Matth. 26, 17. parall.): so kann das darauf
gefolgte Mahl kein anderes als eben das Paschamahl ge-
wesen sein; wenn ferner die Jünger Jesum fragen: ποῦ
ϑέλεις ἑτοιμάσωμέν σοι φαγεῖν τὸ πάσχα (ebendas.); wenn
es hierauf von denselben heiſst: ἡτοίμασαν τὸ πάσχα
(Matth. V. 19. parall.), und sofort von Jesu: ὀψίας γενομέ-
ης ἀνέκειτο μειὰ τὼν δώδεκα (V. 20.): so wäre das Mahl,
zu welchem man sich hier niederlieſs, schon überflüssig als
das Paschamahl bezeichnet, wenn auch nicht Lukas (22,
15.) Jesum dasselbe mit den Worten eröffnen lieſse: ἐπιϑυ-
μίᾳ ἐπεϑύμησα τοῦιο τὸ πάσχα φαγεῖν μεϑ̕ ὑμῶν. — Wenn
dagegen das vierte Evangelium seine Erzählung von dem
lezten Mahle mit der Zeitbestimmung: πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς
τοῦ πάσχα, eröffnet (13, 1.), so scheint das δεῖπνον, dessen
es unmittelbar darauf (V. 2.) gedenkt, ebenfalls noch vor
das Paschafest zu fallen, zumal in der ganzen johannei-
schen Schilderung dieses Abends, welche namentlich in
Bezug auf die an das Mahl sich knüpfenden Reden höchst
ausführlich ist, jede Erwähnung und selbst jede Anspie-
lung darauf, daſs hier das Paschamahl gefeiert werde,
[403]Zweites Kapitel. §. 117.
fehlt. Wenn ferner die Aufforderung Jesu an den Verrä-
ther nach dem Essen, was er thue, schnell zu thun, von
den Jüngern dahin miſsverstanden wird, ὅτι λέγει αὐιῷ·
ἀγόρασον, ὦν χρείαν ἔχομεν εἰς τὴν ἑορτήν (V. 29.): so be-
zogen sich die Festbedürfnisse doch hauptsächlich auf das
Paschamahl, und kann folglich die so eben vollendete Mahl-
zeit nicht wohl schon das Paschamahl gewesen sein. Wenn
es dann (18, 28.) weiter heiſst, am folgenden Morgen seien
die Juden nicht in das heidnische Prätorium gegangen,
ἵνα μὴ μιανϑῶσιν, ἀλλ̕ ἵνα φάγωσι τὸ πάσχα: so scheint
auch hienach die Paschamahlzeit noch bevorgestanden zu
haben. Dazu kommt, daſs (19, 14.) eben dieser folgende
Tag, an welchem Jesus gekreuziget wurde, als παρασκευὴ
τοῦ πάσχα bezeichnet wird, d. h. als derjenige Tag, an des-
sen Abend erst das Paschalamm verzehrt werden sollte
auch, wenn von dem zweiten Tag nach jener Mahlzeit, wel-
chen Jesus im Grabe zubrachte, gesagt wird: ἦν γὰρ με-
γάλη ἡ ἡμέρα ἐκείνου τοῦσαββάτου (19, 31.): so scheint die-
se besondere Feierlichkeit eben daher gerührt zu haben,
daſs auf jenen Sabbat der erste Paschatag fiel, also das
Osterlamm nicht schon am Abend der Gefangennehmung
Jesu gefeiert worden war, sondern erst am Abend seines
Begräbnisses gehalten wurde.
Diese Abweichungen sind so bedeutend, daſs manche
Ausleger, um die Evangelisten nicht in Widerspruch mit-
einander kommen zu lassen, auch hier die alte probate
Auskunft angewendet haben, sie reden gar nicht von der-
selben Sache, Johannes meine eine ganz andre Mahlzeit
als die Synoptiker. Das johanneische δεῖπνον ist hienach
ein gewöhnliches Abendessen, ohne Zweifel in Bethanien;
bei diesem nahm Jesus die Fuſswaschung vor, sprach vom
Verräther, und fügte, nachdem dieser die Gesellschaft ver-
lassen, noch andere Reden tröstenden und ermahnenden
Inhalts hinzu, bis er endlich am Morgen des 14ten Nisan
durch die Worte: ἐγείρεσϑε, ἄγωμεν ἐντεῦϑεν (14, 31.), die
26 *
[404]Dritter Abschnitt.
Jünger zum Aufbruch von Bethanien und zum Gang nach
Jerusalem ermahnte. Hier fallen nun die Synoptiker ein,
indem sie ihn auf dem Wege nach Jerusalem die zwei
Jünger zur Bestellung des Mahls aussenden lassen, hierauf
das Paschamahl einfügen, von welchem Johannes schweigt,
und seinerseits erst wieder mit den nach dem Paschamahl
gehaltenen Reden (15, 1 ff.) eingreift 1). Diesem Versuch
gegenüber, durch Beziehung der beiderseitigen Erzählun-
gen auf ganz verschiedene Vorfälle den Widerspruch zu
vermeiden, kehrt sich nun aber die in mehreren Zügen
unverkennbare Identität beider Mahlzeiten heraus. Abge-
sehen nämlich von einzelnen Stücken, die sich gleicherwei-
se in beiden Relationen finden, will offenbar Johannes wie
die Synoptiker das lezte Mahl schildern, welches Jesus
mit seinen Schülern gehalten hat. Darauf deutet schon die
Einleitung der johanneischen Erzählung hin: denn der Be-
weis, der ihr zufolge hier gegeben werden soll, wie Je-
sus die Seinigen εἰς τέλος geliebt habe, lieſs sich am pas-
sendsten aus seinem lezten geselligen Zusammensein mit
denselben entnehmen. Ebenso weisen die nach dem Mahle
geführten Reden auf unmittelbar bevorstehenden Abschied
hin, und an die Mahlzeit und die Reden schlieſst sich auch
bei Johannes unmittelbar der Hingang nach Gethsemane
und die Gefangennehmung Jesu an. Freilich sollen dieser
Ansicht zufolge die zulezt genannten Vorgänge nur an die-
jenigen Gespräche sich unmittelbar anknüpfen, welche bei
dem späteren, von Johannes übergangenen, Mahle geführt
worden sind (Kap. 15—17.): allein, daſs zwischen 14, 31.
und 15, 1. der Verfasser des vierten Evangeliums auf be-
wuſste Weise das ganze Paschamahl ausgelassen habe,
dieſs, obwohl es das wunderliche ἐγείρεσϑε, ἄγωμεν ἐν-
τεῦϑεν nicht übel zu erklären scheinen könnte, wird wohl
[405]Zweites Kapitel. §. 117.
Niemand mehr im Ernst behaupten wollen. Doch, dieſs
auch zugegeben, so sagt ja schon 13, 38. Jesus dem Petrus
seine Verleugnung mit der Zeitbestimmung: ουμὴ ἀλέκτωρ
φωνήσῃ, voraus, wie er nur bei der lezten Mahlzeit sprechen
konnte, und nicht, wie hier vorausgesezt wird, bei einer
früheren 2).
Dieser Ausweg also muſs verlassen, und zugestan-
den werden, daſs sämmtliche Evangelisten von der gleichen
Mahlzeit, der lezten, welche Jesus mit seinen Jüngern hielt,
reden wollen. Und hiebei schien die Billigkeit, die man
jedem Autor schuldig ist, und besonders den biblischen
schuldig zu sein glaubte, den Versuch zu erfordern, ob
nicht, ungeachtet sie Einen und denselben Vorgang in meh-
reren Beziehungen äusserst abweichend darstellen, dennoch
beide Theile recht haben könnten. Es müſste sich also,
was die Zeit betrifft, zeigen lassen, entweder, daſs auch
die drei ersten Evangelisten wie der vierte nicht ein Pa-
schamahl, oder, daſs auch dieser wie jene ein solches ge-
ben wolle. Ein altes Fragment 3) hat die Aufgabe auf
dem ersteren Wege zu lösen versucht, indem es leugnet,
daſs Matthäus das lezte Mahl Jesu auf den Abend des
14ten Nisan, als die eigentliche Zeit für das Paschamahl,
und sein Leiden auf den 15ten Nisan, als den ersten Tag
des Paschafestes, setze; allein es ist nicht abzusehen, wie
die ausdrücklichen Hinweisungen auf das Pascha in den
Synoptikern beseitigt werden sollen. Weit allgemeiner ist
daher in neuern Zeiten der Versuch gemacht werden, den
Johannes auf die Seite der übrigen herüberzuziehen 4).
Sein πρὸ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα (13, 1.) glaubte man durch
die Beobachtung beseitigen zu können, wie ja an diese
[406]Dritter Abschnitt.
Worte nicht unmittelbar das δεῖπνον, sondern nur die Be-
merkung sich anschlieſse, daſs Jesus gewuſst habe, nun
sei seine Stunde gekommen, und daſs er die Seinigen bis
an's Ende geliebt habe; erst im folgenden Vers sei dann
vom Mahle die Rede, auf welches also jene Zeitbestimmung
sich nicht beziehe. Worauf soll sie sich dann aber bezie-
hen? auf das Wissen, daſs seine Stunde gekommen sei?
dieſs ist nur eine Nebenbemerkung; oder auf die bis zum
Ende bewahrte Liebe? zu dieser aber kann eine so spe-
cielle Zeitbestimmung nur dann gehören, wenn sie als ein
äusserer Liebesbeweis gemeint ist, und als solcher bethä-
tigte sie sich eben bei jenem Mahle, welches also immer
der Punkt bleibt, der durch jene Tagsbestimmung fixirt
werden soll. Daher vermuthet man ferner, das πρὸ τῆς
ἑορτῆς sei aus Anbequemung an die Griechen geredet, für
welche Johannes geschrieben habe: weil diese den Tag
nicht wie die Juden mit dem Abend begannen: so sei ih-
nen das am Anfang des ersten Paschatags gehaltene Mahl
als eine Mahlzeit am Vorabend des Pascha erschienen.
Allein welcher verständige Schriftsteller, wenn er einen
möglichen Miſsverstand des Lesers vermuthet, schreibt
dann lieber gleich so, wie der Leser ihn miſsverstehen
wird? — Schwieriger noch ist 18, 28, wo die Juden am
Morgen nach Jesu Gefangennehmung das Prätorium nicht
betreten, um sich nicht zu verunreinigen, ἀλλ̕ ἵνα φάγωσι
τὸ πάσχα. Doch glaubte man nach Stellen, wie 5 Mos.
13, 1. 2., wo sämmtliche in der Paschazeit zu schlachten-
de Opfer durch den Ausdruck פֶּסַח bezeichnet sind, τὸ
τάσχα hier von den übrigen während der Paschawoche
darzubringenden Opfern, namentlich von der gegen Ende
des ersten Festtags zu verzehrenden Chagiga, verstehen
zu dürfen. Allein schon Mosheim hatte richtig bemerkt,
daraus, daſs bisweilen das Paschalamm einschlieſslich der
übrigen in der Paschazeit zu bringenden Opfer durch πά-
σχα bezeichnet werde, folge keineswegs, daſs auch diese
[407]Zweites Kapitel. §. 117.
übrigen Opfer mit Ausschluſs des Paschalamms so genannt
werden können 5). Dagegen suchten nunmehr die Freun-
de jener Ansicht zu ihrer Deutung der johanneischen No-
tiz durch die Bemerkung zu nöthigen, daſs an der Pa-
schamahlzeit, die in den Spätabend, also schon in den
Anfang des folgenden Tages fiel, das Betreten eines heid-
nischen Hauses am Morgen, als eine nur den laufenden
Tag hindurch dauernde Verunreinigung, nicht verhindert
haben würde: wohl aber am Genusse der Chagiga, welche
am Nachmittag, also noch an demselben Tag mit der am
Morgen zugezogenen Verunreinigung, gegessen wurde, so
daſs also nur diese, nicht jene gemeint sein könne. Allein
theils wissen wir nicht, ob der Eintritt in ein heidnisches
Haus nur für den Tag verunreinigte, theils waren, wenn
sich dieſs auch so verhielt, die Juden durch eine Verun-
reinigung am Morgen doch an der Selbstvornahme der vor-
bereitenden Geschäfte, die in den Nachmittag des 14ten
Nisan fielen, wie am Schlachten der Lämmer im Tempel-
vorhof, verhindert. — Um endlich auch die Stelle 19, 14. in
ihrem Sinn zu deuten, nehmen die Harmonisten παρασκευὴ
τοὺ πάσχα von dem Rüsttag auf den Sabbat in der Oster-
woche, eine Gewaltsamkeit, welche wenigstens in 19, 31,
wo die παρασκευὴ als Rüsttag auf den Sabbat bezeichnet
ist, keine Hülfe findet, weil hieraus nur erhellt, daſs der
Evangelist die Vorstellung hat, der erste Paschatag sei da-
mals auf den Sabbat gefallen 6).
Im Gefühl der Unmöglichkeit, die Vereinigung der Syn-
optiker mit Johannes in dieser einfachen Weise zu Stan-
de zu bringen, haben andere Ausleger eine complicirtere
[408]Dritter Abschnitt.
Auskunft ergriffen. Der Schein, als ob die Evangelisten
das lezte Mahl Jesu auf verschiedene Tage verlegten, soll
darin seine Wahrheit haben, daſs wirklich damals entwe-
der die Juden oder Jesus das Paschamahl auf einen andern
Tag verlegt hatten. Die Juden, sagen die einen, um der
Unbequemlichkeit auszuweichen, welche darin lag, daſs in
jenem Jahre der erste Paschatag auf den Freitag fiel, also
zwei Tage hintereinander als Sabbate hätten gefeiert wer-
den müssen, haben das Paschamahl auf den Freitag Abend
verlegt, weſswegen sie am Tag der Kreuzigung sich noch
vor Verunreinigung in Acht zu nehmen hatten; Jesus aber,
streng am Gesetze haltend, habe es zur gehörigen Zeit, am
Donnerstag Abend, gefeiert, so daſs sowohl die Synopti-
ker recht haben, wenn sie das lezte Mahl Jesu als ein
wirkliches Paschaessen beschreiben, als auch Johannes,
wenn er die Juden erst Tags darauf dem Osterlamm ent-
gegensehen lasse 7). Indeſs hätte in diesem Fall Markus
mit seiner Angabe, daſs an dem Tag, ὅτε τὸ πάσχα ἔϑυον
(V. 12.), auch Jesus es habe zurichten lassen, doch nicht
recht; was aber die Hauptsache ist, so gieng es zwar in
gewissen Fällen an, das Pascha einen Monat später, dann
aber auch am 15ten desselben, zu feiern, von einer Verle-
gung auf einen späteren Tag desselben Monats hingegen
findet sich nirgends eine Spur. — Lieber wandte man sich
daher auf die andre Seite, und nahm an, Jesus habe das
Pascha auf einen früheren Tag verlegt. Aus rein persön-
lichem Bedürfniſs, meinten Einige, in der Voraussicht,
daſs er um die eigentliche Zeit des Paschamahls schon im
Grabe ruhen werde, oder doch seines Lebens bis dahin
nicht mehr sicher sei, habe er in ähnlicher Weise, wie
von jeher diejenigen Juden, welche an der Festreise ge-
hindert waren, und wie die jetzigen Juden alle, ohne ein
geopfertes Lamm, mit bloſsen Surrogaten desselben, ein
[409]Zweites Kapitel. §. 117.
πάσχα μνημονευτικὸν gefeiert 8). Allein erstlich hätte so
Jesus nicht, wie Lukas sagt, das Pascha an dem Tag, ἐν ῇ
ἔδει ϑύεσϑαι τὸ πάσχα, auch gefeiert, dann aber hält, wer
die bloſse Gedächtniſsfeier begeht, mit Aufgebung der für
das Pascha bestimmten Örtlichkeit (Jerusalem) doch die
Zeit desselben (Abend vom 14ten auf den 15ten Nisan)
unverbrüchlich fest: wogegen Jesus dasselbe gerade umge-
kehrt, zwar an dem gewöhnlichen Ort, aber zu ungewöhn-
licher Zeit, gefeiert haben müſste, was ohne Beispiel ist.
Gegen diesen Vorwurf des Unerhörten und Eigenmächtigen
hat man die von Jesu angeblich vorgenommene Verlegung
dadurch zu schützen gesucht, daſs man ihn mit einer gan-
zen Partei seiner Volksgenossen das Pascha früher als die
übrigen feiern lieſs. Wie nämlich von der jüdischen Par-
tei der Karäer oder Scripturarier bekannt ist, daſs sie von
den Rabbaniten oder Traditionariern namentlich auch in
der Bestimmung des Neumonds abweichen, indem sie be-
haupten, die Art der lezteren, den Neumond nach dem
astronomischen Calcul festzusetzen, sei eine Neuerung, wo-
gegen sie, der alten, gesezlichen Sitte getreu, denselben
nach der empirischen Beobachtung der Phase des Neulichts
bestimmen: so sollen schon zu Jesu Zeit die Sadducäer,
von welchen die Karäer abstammen sollen, den Neu-
mond und mit ihm das von demselben abhängige Oster-
fest anders als die Pharisäer bestimmt, und Jesus, als Geg-
ner der Tradition und Freund der Schrift, sich hierin an
sie angeschlossen haben 9). Allein abgesehen davon, daſs
der Zusammenhang der Karäer mit den alten Sadducäern
eine bloſse Vermuthung ist, so ist es ja eben der gegrün-
dete Vorwurf der Karäer, daſs die Bestimmung des Neu-
monds durch den Calcul erst nach der Zerstörung des Tem-
pels durch die Römer aufgekommen sei: so daſs also zur
[410]Dritter Abschnitt.
Zeit Jesu eine solche Abweichung noch gar nicht stattge-
funden haben kann; ohnehin vom Paschafest findet aus je-
ner Zeit sich keine Spur, daſs es von verschiedenen Par-
teien an verschiedenen Tagen gefeiert worden wäre 10).
Angenommen jedoch, jene Differenz in der Bestimmung
des Neumonds habe schon damals [obgewaltet], so würde die
Festsetzung desselben nach der Phase, welcher Jesus ge-
folgt sein soll, eher ein späteres als ein früheres Pascha
zur Folge gehabt haben; weſswegen denn wirklich Einige
vermutheten, Jesus möge sich vielmehr an den astronomi-
schen Calcul gehalten haben 11).
Ausser dem, was sich auf diese Weise gegen jeden
einzelnen der Versuche, die Angaben der Evangelisten über
die Zeit des lezten Mahles Jesu gütlich zu vereinigen, sa-
gen läſst, entscheidet gegen alle zusammen ein Umstand,
welchen erst die neueste Kritik gehörig hervorgehoben hat.
Es verhält sich nämlich mit diesem Widerstreite nicht so,
daſs unter gröſstentheils harmonirenden Stellen nur etwa
Eine Äusserung von scheinbar entgegengeseztem Sinne vor-
käme, wobei man dann sagen könnte, der Verfasser habe
sich hier eines ungenauen Ausdrucks bedient, der aus den
übrigen Stellen zu erklären sei: sondern alle Zeitbestim-
mungen der Synoptiker sind von der Art, daſs nach ihnen
Jesus das wahre Pascha noch mitgefeiert haben müſste,
alle johanneischen dagegen so, daſs er es nicht mitge-
feiert haben kann 12). Da sich auf diese Weise zwei un-
ter sich differirende Gesammtheiten evangelischer Stellen
gegenüberstehen, die auf zwei verschiedene Grundansich-
ten der Referenten über die Sache hinweisen: so kann es,
wie Sieffert sehr wahr bemerkt, nicht mehr als wissen-
schaftliche Auslegung, sondern nur als unwissenschaftliche
[411]Zweites Kapitel. §. 117.
Willkühr und Eigensinn betrachtet werden, wenn man auf
Nichtanerkennung der Differenz zwischen den synoptischen
Evangelien und dem vierten bestehen will.
So hat sich denn die neuere Kritik dazu verstehen müs-
sen, auf einer oder der andern Seite einen Irrthum anzu-
nehmen, und zwar war es, ausser den gangbaren Vorur-
theilen für das johanneische Evangelium, ein bedeutender
Grund, welcher zu nöthigen schien, den Irrthum auf die
Seite der Synoptiker zu verlegen. Schon jenes alte, an-
geblich Apollinarische Fragment wendet gegen die Mei-
nung, daſs Jesus τῇ μεγάλῃ ἡμέρᾳ τῶν ἀζύμων ἔπαϑεν, ein,
daſs sie ἀσύμφωνος τῷ νόμῳ sei, und so ist auch neuerlich
wieder bemerkt worden, der auf das lezte Mahl Jesu fol-
gende Tag werde von allen Seiten so werktäglich behan-
delt, daſs sich nicht denken lasse, er sei der erste Pa-
schatag, und folglich das Mahl am Abend vorher das Pa-
schamahl gewesen. Jesus feire ihn nicht, indem er, was
in der Paschanacht verboten war, sich aus der Stadt ent-
ferne; seine Freunde nicht, indem sie seine Bestattung
noch zu besorgen anfangen, und sie nur wegen Anbruchs
des nächsten Tags, des Sabbats, unvollendet lassen; noch
weniger die Mitglieder des Synedriums, indem sie nicht
nur ihre Diener aus der Stadt zur Verhaftung Jesu sen-
den, sondern auch persönlich Gerichtssitzung, Verhör, Ur-
theil und Klage bei dem Procurator vornehmen; überhaupt
zeige sich durchaus nur die Furcht, den folgenden Tag,
der am Abend nach der Kreuzigung anbrach, zu entheili-
gen, nirgends eine Sorge für den laufenden: lauter Zei-
chen, daſs die synoptische Darstellung jenes Mahls als ei-
nes Pascha ein späterer Irrthum sei, da in der übrigen
Erzählung dieser Evangelisten selbst das Richtige, daſs Je-
sus den Tag vor dem Pascha gekreuzigt worden, noch un-
verkennbar durchscheine 13). Diese Bemerkungen sind al-
[412]Dritter Abschnitt.
lerdings von Gewicht. Zwar die erste könnte man durch
den Widerstreit der jüdischen Bestimmungen über jenen
Punkt vielleicht entkräften 14); der lezten und stärksten
die Thatsache entgegenhalten, daſs Verhören und Richten
an Sabbaten und Festen bei den Juden nicht nur erlaubt,
sondern für solche Tage wegen des Volksandrangs selbst
ein gröſseres Gerichtslokal vorhanden gewesen sei, wie
denn auch nach dem N. T. selbst die Juden an der ἡμέρα
μεγάλη des Laubhüttenfests Diener ausschickten, um Je-
sum zu greifen (Joh. 7, 44 f.), und am Feste der Tem-
pelweihe ihn steinigen wollten (Joh. 10, 31.), Herodes aber
während der ἡμέραι τῶν ἀζύμων den Petrus gefangen se-
zen läſst, und vielleicht in eben diesen Tagen Jakobus den
älteren hatte hinrichten lassen (A. G. 12, 2 f.) 15). Daſs
Jesu Hinrichtung am Paschafest habe vorgenommen werden
dürfen, dafür beruft man sich theils darauf, daſs die Exe-
cution durch römische Soldaten geschehen, übrigens auch
nach jüdischer Sitte üblich gewesen sei, die Hinrichtung
bedeutender Verbrecher auf eine Festzeit zu versparen, um
durch dieselbe auf eine desto gröſsere Menge Eindruck zu
machen 16). Allein nur so viel ist erweislich, daſs während
der Festzeit, also bei'm Pascha an den fünf mittleren, we-
niger feierlichen Tagen, Verbrecher verurtheilt und hinge-
richtet werden konnten, nicht aber, daſs dieſs auch am
ersten und lezten Paschatag, welche Sabbatsrang hatten,
[413]Zweites Kapitel. §. 117.
zulässig gewesen sei17); wie denn auch nach dem Talmud
Jesus am ערב פםח d. h. am Vorabend des Pascha, gekreu-
zigt worden ist 18). Ein Anderes wäre es, wenn, wie Dr.
Baur nachzuweisen sucht, in dem Wesen und der Bedeu-
tung des Pascha als eines Sühnfestes die Hinrichtung von
Verbrechern, als blutige Sühne für das Volk, gelegen hät-
te, und die von den Evangelisten angemerkte Sitte, auf
das Fest einen Gefangenen loszulassen, zu der Hinrichtung
eines andern nur als die Kehrseite, wie die beiden Böcke
und Sperlinge jüdischer Sühn- und Reinigungsopfer, sich
verhielte 19).
Leicht konnte freilich die urchristliche Tradition auch
auf unhistorischem Wege dazukommen, Jesu leztes Mahl
mit dem Osterlamm, und seinen Todestag mit dem Pascha-
fest zu combiniren. Da nämlich schon in der apostolischen
Zeit der Tod Jesu mit der Schlachtung des Paschalamms
verglichen wurde (1. Kor. 5, 7.), das christliche Abend-
mahl aber von selbst an die Paschamahlzeit erinnerte: so
lag es nahe genug, die Hinrichtung Jesu auf den ersten
Paschatag zu verlegen, und seine lezte Mahlzeit, bei wel-
cher er das Abendmahl gestiftet haben sollte, als das Pa-
schamahl zu betrachten. Freilich, wenn der Verfasser des
ersten Evangeliums als Apostel und Selbsttheilnehmer an
dem lezten Mahle Jesu vorausgesezt wird, bleibt es schwer
zu erklären, wie er zu einem solchen Irrthum kommen
konnte. Wenigstens reicht es nicht hin, sich mit Theile
darauf zu berufen, je mehr das lezte mit ihrem Meister
gehaltene Mahl den Jüngern über alle Paschamahle gegan-
gen sei, desto weniger sei ihnen auf die Zeit desselben, ob
es am Paschaabend selbst, oder einen Tag früher gehalten
[414]Dritter Abschnitt.
worden war, angekommen 20). Denn der erste Evangelist
läſst dieſs nicht etwa nur unbestimmt, sondern er spricht
ausdrücklich von einem Paschamahl, und so konnte sich
ein wirklicher Theilnehmer desselben, wenn er auch noch
so lange Zeit nach jenem Abend schrieb, unmöglich täu-
schen. Die Augenzeugenschaft des ersten Evangelisten al-
so wird man bei dieser Ansicht aufgeben, und ihn sammt
den beiden mittleren aus der Tradition schöpfen lassen
müssen 21). Der Anstoſs daran, daſs sämmtliche Synopti-
ker, also alle diejenigen, welche uns die vulgäre Evange-
lientradition der ersten Zeit aufbehalten haben, in einem
solchen Irrthum übereinstimmen sollen 22), läſst sich viel-
leicht durch die Bemerkung aus dem Wege räumen, daſs,
so allgemein in den judenchristlichen Gemeinden, in wel-
chen doch die evangelische Überlieferung sich ursprünglich
gebildet hat, das jüdische Pascha noch mitgefeiert wurde,
so allgemein sich auch der Versuch darbieten muſste, dem-
selben durch die Beziehung auf den Tod und das lezte
Mahl Jesu eine christliche Bedeutung zu geben.
Ebensowohl aber lieſse sich, die Richtigkeit der syn-
optischen Zeitbestimmung vorausgesezt, denken, wie Jo-
hannes irrig dazukommen konnte, den Tod Jesu auf den
Nachmittag des 14ten Nisan, und seine lezte Mahlzeit auf
den Abend vorher zu verlegen. Wenn nämlich dieser
Evangelist in dem Umstand, daſs dem gekreuzigten Chri-
stus die Beine nicht zerschlagen wurden, eine Erfüllung
des ὀςοῦν ου συντριβήσεται αὐτῷ (2 Mos. 12, 46.) findet:
so konnte ihn diese Beziehung des Todes Jesu auf das
Osterlamm zu der Vorstellung veranlassen, daſs um die-
selbe Zeit, in welcher die Paschalämmer geschlachtet wur-
[415]Zweites Kapitel. §. 118.
den, am Nachmittag des 14ten Nisan, Jesus am Kreuze
gelitten und den Geist aufgegeben habe 23), also die am
Abend vorher gefeierte Mahlzeit noch nicht das Pascha-
mahl gewesen sei 24).
Ist auf diese Weise eine mögliche Veranlassung zum
Irrthum auf beiden Seiten vorhanden, und findet die inne-
re Schwierigkeit der synoptischen Zeitbestimmung, die
vielfache Verletzung des ersten Paschatags, theils in den
angeführten Bemerkungen einigermaſsen ihre Erledigung,
theils in der Zusammenstimmung dreier Evangelisten ein
Gegengewicht: so ist vor der Hand nur der unauflösliche
Widerstreit der beiderseitigen Darstellungen anzuerkennen,
eine Entscheidung aber, welche die richtige sei, noch nicht
zu wagen.
§. 118.
Differenzen in Betreff der Vorgänge beim lezten Mahle Jesu.
Doch nicht allein in Bezug auf die Zeit des lezten
Mahles Jesu, sondern auch auf dasjenige, was bei demsel-
ben vorgegangen sein soll, gehen die Evangelisten von
einander ab. Die Hauptdifferenz findet zwischen den syn-
optischen und dem vierten Evangelium statt; näher aber-
verhält es sich so, daſs nur Matthäus und Markus genau
zusammenstimmen, Lukas schon ziemlich abweicht, doch
im Ganzen mit seinen beiden Vorgängern immer noch ein-
stimmiger ist, als mit seinem Nachfolger.
Gemeinsam ist sämmtlichen Evangelisten, ausser dem
Mahle selbst, daſs über demselben von dem bevorstehenden
Verrath des Judas gesprochen wird, und daſs während
oder nach demselben Jesus dem Petrus seine Verleugnung
vorherverkündigt. Aber abgesehen davon, daſs bei Johan-
[416]Dritter Abschnitt.
nes die Bezeichnung des Verräthers eine andere und ge-
nauere, auch von einem Erfolg begleitet ist, von welchem
die übrigen nichts wissen; daſs ferner bei demselben nach
dem Mahle gedehnte Abschiedsreden sich finden, welche
den andern fehlen: so ist der Hauptunterschied der, daſs,
während den Synoptikern zufolge Jesus bei dieser lezten
Mahlzeit das Abendmahl eingesezt hat, er bei Johannes
vielmehr eine Fuſswaschung mit den Jüngern vornimmt.
Die drei Synoptiker unter sich haben die Stiftung des
Abendmahls sammt der Verkündigung des Verraths und der
Verleugnung gemein; aber Abweichung findet zwischen
den beiden ersten und dem dritten schon in der Anord-
nung dieser Stücke statt, indem bei jenen die Verkündi-
gung des Verraths, bei diesem die Stiftung des Abendmahls
voransteht; die Vorhersagung der Verleugnung des Petrus
aber nach Lukas, wie es scheint, noch im Speisesaal, nach
den beiden andern aber erst auf dem Hinweg zum Oelberg
vor sich geht. Dann aber bringt Lukas auch einige Stücke
bei, welche die beiden ersten Evangelisten entweder gar
nicht, oder nicht in diesem Zusammenhang haben: in ganz
anderem Zusammenhang steht bei ihnen der Rangstreit und
die Verheiſsung des Sitzens auf Thronen; wogegen die
Rede von den Schwertern vergeblich bei ihnen gesucht wird.
In seiner Abweichung von den beiden ersten Evan-
gelisten hat der dritte einige Annäherung an den vier-
ten. Gemeinsam nämlich ist dem Lukas und Johannes,
daſs, wie dieser in der Fuſswaschung eine auf Rangstreit
sich beziehende symbolische Handlung nebst angehängten
Demuthsreden hat: so Lukas wirklich einen Rangstreit und
darauf bezügliche Reden meldet, welche nicht ganz ohne
Analogie mit den johanneischen sind; daſs ferner auch bei
ihm wie bei Johannes die Reden vom Verräther das Mahl
nicht eröffnen, sondern erst nach einer symbolischen Hand-
lung eintreten; endlich daſs auch er die Verleugnung des
Petrus noch im Lokal der Mahlzeit verkündigt werden läſst.
[417]Zweites Kapitel. §. 118.
Am meisten Schwierigkeit macht hier natürlich die
Differenz, daſs bei Johannes die von den Synoptikern ein-
stimmig berichtete Einsetzung des Abendmahls fehlt, und
an ihrer Statt eine ganz andere Handlung Jesu, eine Fuſs-
waschung, gemeldet wird. Freilich, wenn man sich durch
den ganzen bisherigen Verlauf der evangelischen Geschich-
te mit der Annahme hindurchgeholfen hat, Johannes habe
den Zweck gehabt, die übrigen Evangelien zu ergänzen,
so kommt man auch über diese Schwierigkeit so gut oder
so schlecht wie über die andern alle hinweg. Die Ein-
setzung des Abendmahls, heiſst es, fand Johannes bei den
drei ersten Evangelisten auf eine Weise erzählt schon vor,
welche mit seiner eigenen Erinnerung völlig übereinstimm-
te, weſswegen er sich denn nicht bewogen fand, sie zu
wiederholen 1). Allein, wenn wirklich der vierte Evange-
list von den schon in den drei ersten Evangelien aufge-
zeichneten Geschichten nur diejenigen noch einmal erzäh-
len wollte, an deren Darstellung er etwas zu berichtigen
oder zu ergänzen fand: warum erzählt er dann die Spei-
sungsgeschichte, an der er nichts irgend Erhebliches zu
bessern weiſs, noch einmal, die Stiftung des Abendmahls
dagegen nicht, bei welcher ihn doch schon die Differen-
zen der Synoptiker in Anordnung der Scene und Fassung
der Worte Jesu, hauptsächlich aber der Umstand, daſs
sie, nach seiner Darstellung irrig, jene Einsetzung am Pa-
schaabend vorgehen lassen, zur Mittheilung eines authen-
tischen Berichts hätte veranlassen müssen? Mit Rücksicht
auf diese Schwierigkeit giebt man nun wohl die Behaup-
tung auf, der Verfasser des vierten Evangeliums habe eine
Kenntniſs von den drei ersten, und die Absicht, sie zu
ergänzen und zu berichtigen, gehabt: doch aber soll er
die vulgäre mündliche Evangelientradition gekannt und bei
seinen Lesern vorausgesezt, und in dieser Rücksicht die
Das Leben Jesu II. Band. 27
[418]Dritter Abschnitt.
Stiftung des Abendmahls, als allgemein bekannte Geschich-
te, übergangen haben 2). Allein dieser Zweck einer evan-
gelischen Schrift, nur das minder Bekannte zu erzählen,
das Bekannte aber zu übergehen, läſst sich eigentlich gar
nicht denken. Die schriftliche Aufzeichnung geht ja aus
von Miſstrauen gegen die mündliche Überlieferung; sie will
diese nicht bloſs ergänzen, sondern auch befestigen, und
so kann sie gerade die Hauptpunkte, welche, wie sie als
die meistbesprochenen der Entstellung am meisten ausge-
sezt sind, so die genaueste Aufbewahrung wünschenswerth
machen, am wenigsten übergehen: ebenso demnach auch Jo-
hannes die Stiftung des Abendmahls nicht, an dessen Ein-
setzungsworten, wenn wir die verschiedenen N. T.lichen
Relationen vergleichen, frühzeitig entweder Zusätze oder
Weglassungen müssen gemacht worden sein. Aber, sagt
man weiter, die Stiftung des Abendmahls zu erzählen,
war für den Zweck des johanneischen Evangeliums von
keiner Bedeutung 3). Wie? für den allgemeinen Zweck
desselben, seine Leser zu überzeugen, ὅτι Ἰησοῦς ἐςιν ὁ
Χριςὸς, ὁ υἱὺς τοῦ ϑεοῦ (20, 31.), sollte die Mittheilung ei-
ner Scene nicht von Belang gewesen sein, in welcher er
als Stifter einer καινὴ διαϑήκη erscheint? und für den be-
sonderen Zweck des betreffenden Abschnitts, Jesu bis an's
Ende sich gleich gebliebene Liebe ins Licht zu setzen
(13, 1.), sollte es nichts ausgetragen haben, zu erwähnen,
wie er seinen Leib und sein Blut den Seinen als Speise
und Trank dargeboten, und damit seinen Worten Joh. 6.
Realität gegeben habe? Doch, dem Johannes soll es hier
wie überall vorzugsweise nur um die tieferen Reden Jesu
zu thun gewesen sein, und deſswegen soll er die Einsetzung
des Abendmahls übergangen, und erst mit den auf die Fuſs-
waschung bezüglichen Reden seine Erzählung begonnen ha-
[419]Zweites Kapitel. §. 118.
ben 4). Allein diese Demuthsreden kann nur ein verhär-
tetes Vorurtheil für das vierte Evangelium für tiefer aus-
geben, als dasjenige, was Jesus bei Einsetzung des Abend-
mahls von dem Genusse seines Leibes und Blutes im Brot
und Weine sagt.
Die Hauptsache ist nun aber, daſs uns die Harmoni-
sten nachweisen, wo denn Johannes, wenn er doch selbst
voraussetzen soll, Jesus habe bei dieser lezten Mahlzeit das
Abendmahl gestiftet, dieses übersprungen habe, — daſs
sie uns in der johanneischen Darstellung dieses lezten
Abends die Fuge zeigen, in welche sich jener Vorgang ein-
passen läſst. Sehen wir uns in den Commentaren um, so
scheint mehr als Eine Stelle sich zu solcher Einschiebung
vortrefflich zu eignen. Olshausen meint, am Ende des
13ten Kapitels, nach der Verkündigung der Verleugnung
des Petrus, sei die Stiftung des Abendmahls hineinzuden-
ken: mit dieser habe sich die Mahlzeit geschlossen, und
die folgenden Reden von 14, 1. an habe Jesus nach dem
Aufbruch vom Tische stehend im Saale noch gesprochen 5).
Allein hier scheint sich Olshausen, um zwischen 13, 38.
und 14, 1. einen Ruhepunkt zu bekommen, der Täuschung
hinzugeben, als ob das ἐγείρεσϑε, ἄγωμεν ἐντεῦϑεν, bei
welchem er Jesum vom Tische sich erheben und das folgen-
de noch stehend sprechen läſst, schon hier, am Ende des
13ten Kapitels, stände, da es doch erst am Ende des 14ten
sich findet. An unsrer Stelle ist kein Raum, um eine Sce-
ne wie das Abendmahl einzuschalten. Jesus hatte von sei-
nem Hingang, wohin ihm die Seinigen nicht folgen könn-
ten, gesprochen, und das vermessene Erbieten des Petrus,
das Leben für ihn zu lassen, durch die Voraussage seiner
Verleugnung zurückgewiesen: nun, 14, 1 ff., beruhigt er
die hiedurch erschütterten Gemüther wieder, indem er sie
27 *
[420]Dritter Abschnitt.
auf den Glauben und die segensreichen Wirkungen seines
Hingangs verweist. — Durch den festen Zusammenhalt die-
ser Redetheile zurückgewiesen, rücken andre Ausleger
weiter hinauf, und glauben nach dem Abgang des Verrä-
thers, 13, 30, die schicklichste Stelle zur Einschiebung des
Abendmahls zu finden, indem der Hingang des Judas, um
seinen Verrath zu vollenden, leicht die Todesgedanken in
Jesu rege machen konnte, welche der Stiftung des Abend-
mahls zum Grunde liegen 6). Allein nicht nur wenn man
mit Lücke u. A. das ὅτε ἐξῆλϑε zu dem folgenden λέγει ὁ
Ἰησοῦς zieht, sondern auch ohne dieſs hat das νῦν ἐδοξάσϑη
ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου κ. τ. λ. (V. 31.), und was Jesus wei-
terhin (V. 33.) von seinem baldigen Hingang spricht, sei-
ne nächste Beziehung unverkennbar auf den Weggang des
Judas. Denn wenn das δοξάζειν im vierten Evangelium im-
mer die Verherrlichung Jesu bedeutet, welcher ihn sein Lei-
den entgegenführt, so war eben mit dem Gang des verlore-
nen Jüngers zu denen, welche Leiden und Tod über Je-
sum brachten, seine Verherrlichung und sein baldiger Min-
gang entschieden. — Hängen auf diese Weise die Verse 31
—33. untrennbar mit V. 30. zusammen: so kann man sich
bewogen finden, mit dem Abendmahl wieder etwas herab-
zurücken, und es dahin zu stellen, wo dieser Zusammen-
hang ein Ende zu haben scheinen kann: und so läſst denn
Lücke die Einsetzung desselben zwischen V. 33. und 34.
in der Art fallen, daſs, nachdem Jesus V. 31 — 33. die
durch das Hinausgehen des Verräthers zerstreuten und er-
schrockenen Gemüther beruhigt und auf das Abendmahl
vorbereitet habe, er nun V. 34 f. an die Austheilung dessel-
ben das neue Gebot der Liebe knüpfe. Allein, wie sonst
schon bemerkt worden ist 7), wenn V. 36. Petrus mit Be-
ziehung auf V. 33. Jesum fragt, wo er denn hingehe? so
[421]Zweites Kapitel. §. 118.
kann unmöglich nach jenem Ausspruch Jesu V. 33. das
Abendmahl eingesezt worden sein, weil sonst Petrus das
ὑπάγω durch das σῶμα διδόμενον und αἷμα ἐκχυνόμενον er-
klärt, jedenfalls aber sich eher zu einer Frage über die
Bedeutung dieser lezteren Ausdrücke veranlaſst finden muſs-
te. — Man muſs daher abermals aufwärts gehen, nur noch
weiter als Paulus gethan hat; hier aber bietet sich, da
von V. 30. bis hinauf zu V. 18. in Einem Zuge vom Ver-
räther die Rede ist, das Gespräch über diesen aber sich
wiederum untrennbar an die Fuſswaschung und die Deu-
tung derselben schlieſst, bis zum Anfang des Kapitels kei-
ne Stelle dar, an welcher die Abendmahlsstiftung einge-
fügt werden könnte. Hier jedoch soll sie sich nach ei-
nem der neuesten Kritiker auf eine Weise einreihen las-
sen, welche den Verfasser des Evangeliums von dem Vor-
wurf ganz befreie, durch eine [scheinbar] continuirlich fort-
schreitende, und doch das Abendmahl überspringende Dar-
stellung den Leser irre gemacht zu haben. Denn gleich
von Anfang mache sich Johannes gar nicht anheischig, vom
Mahle selbst und was dabei vorgefallen, etwas zu erzäh-
len, sondern nur was nach dem Mahle sich begeben, wol-
le er berichten; wie denn das δείπνουγενομένου nach seiner
natürlichsten Bedeutung heiſse: nachdem die Mahlzeit vor-
über war, das ἐγείρεται ἐκ τοῦ δείπνου aber deutlich zeige,
daſs die Fuſswaschung etwas erst nach dem Essen Vorge-
nommenes gewesen sei 8). Allein, wenn es von Jesu nach
vollbrachter Fuſswaschung heiſst: ἀναπεσὼν πάλιν (V. 12.),
so war folglich die Mahlzeit noch nicht vorüber, als er
sich zur Fuſswaschung erhob, und das ἐγείρεται ἐκ του δείπνου
will sagen, daſs er aus dem Mahle heraus, das Essen,
oder wenigstens das vorläufige zu Tische Sitzen unterbre-
chend, zu jenem Geschäfte aufgestanden sei. Das δείπου
γενομένου aber heiſst so wenig: nachdem ein Mahl gehal-
[422]Dritter Abschnitt.
ten war, als τοῦ Ἰ. γενομένουἐν Βηϑανίφ (Matth. 26, 6.) sa-
gen will: nachdem Jesus in Bethanien gewesen war, son-
dern, indem uns durch jene Wendung Johannes den Ver-
lauf der Mahlzeit selbst 9), wie Matthäus durch diese die
Dauer des Bethanischen Aufenthalts Jesu, vorführt, so
macht er sich damit anheischig, uns alles, was während
jener Mahlzeit Merkwürdiges vorfiel, zu berichten, und
wenn er nun die bei derselben vorgefallene Stiftung des
Abendmahls nicht meldet, so bleibt dieſs ein Sprung, der
ihm den Vorwurf zuzieht, lückenhaft erzählt, und gerade
das Wichtigste übergangen zu haben.
Wie sich also im Allgemeinen kein Grund denken
lieſs, warum Johannes, wenn er einmal von diesem lez-
ten Abend sprach, die Stiftung des Abendmahls übergan-
gen haben sollte: so findet sich auch im Einzelnen keine
Stelle, wo sie in den Verlauf seiner Darstellung eingescho-
ben werden könnte, und es bleibt somit nichts übrig, als
die Annahme, er erzähle sie nicht, weil er nichts von der-
selben gewuſst habe. Nämlich von dem Abendmahl als
christlichem Ritus wuſste er wohl, wie sein 6tes Kapitel
zeigt, und muſste davon wissen, da es, wie wir aus den
paulinischen Briefen abnehmen können, schon in der er-
sten Zeit allgemein in der Christenheit verbreitet war: das
aber kann ihm unbekannt gewesen sein, daſs und unter
welchen Umständen Jesus das Abendmahl förmlich einge-
sezt haben sollte. Einen so hochgehaltenen Gebrauch auf
die Auctorität Jesu selbst zurückzuführen, lag zwar auch
ihm nahe, nur that er dieſs aus Unbekanntschaft mit je-
ner synoptischen Stiftungsscene, so wie aus Vorliebe für
das Geheimniſsvolle, vermöge welcher er Jesu gerne Aus-
sprüche in den Mund legte, die, für den Augenblick un-
verständlich, erst aus dem späteren Erfolge Licht bekommen
haben sollten, nicht so, daſs er Jesum wirklich schon den
[423]Zweites Kapitel. §. 118.
Ritus einsetzen, sondern nur so, daſs er ihn dunkle Wor-
te von der Nothwendigkeit, sein Fleisch zu essen und sein
Blut zu trinken, sprechen lieſs, welche, nur aus dem nach
seinem Tode in der Gemeinde aufgekommenen Abendmahls-
ritus verständlich, als indirekte Stiftung von diesem ange-
sehen werden konnten.
Daſs, so wenig als Johannes von der Einsetzung des
Abendmahls, die Synoptiker von der Fuſswaschung etwas
gewuſst haben können, weil sie derselben keine Erwäh-
nung thun, dieſs kann theils wegen der minderen Wich-
tigkeit der Sache und der hier mehr fragmentarischen
Darstellung dieser Evangelisten nicht so bestimmt behaup-
tet werden, theils hat, wie oben bemerkt, Lukas in dem
Rangstreit V. 24 ff. etwas, das mit jener Fuſswaschung,
als Anlaſs derselben, zusammenzuhängen, manchen Erklä-
rern geschienen hat 10). Ist nun aber in Bezug auf diesen
Rangstreit bereits oben dargelegt, wie er, in den Zusam-
menhang der vorliegenden Scene nicht passend, nur einer
zufälligen Ideenassociation des Erzählers seine Stelle ver-
danke 11): so könnte die Fuſswaschungsscene bei Johan-
nes nur die sagenhafte Ausführung einer synoptischen De-
muthsrede zu sein scheinen. Wenn nämlich bei Matthäus
(20, 26 ff.) Jesus seine Jünger ermahnt, wer unter ihnen
groſs sein wolle, der solle der andern διάκονος sein, gleich-
wie er nicht gekommen sei, διακονηϑῆναι, ἀλλὰ διακονῆ-
σαι, und wenn er dieſs hier bei Lukas (22, 27.) in der
Frage ausdrückt: τίς γὰρ μείζων; ὁ ἀνακείμενος, ἢ ὁ δια-
κονῶν; und mit der Hinweisung verbindet: ἐγὼ δέ εἰμι ἐν
μέσῳ ὑμῶν ὡς ὁ διακονῶν: so könnte zwar sehr wohl Je-
sus selbst für gut gefunden haben, diesen Ausspruch durch
ein wirkliches διακονεῖν inmitten seiner, die Rolle der ἀνα-
κείμενοι spielenden Jünger zu veranschaulichen, ebensogut
[424]Dritter Abschnitt.
aber könnte man, sofern die Synoptiker von einem solchen
Vornehmen schweigen, die Vermuthung fassen, es möge,
sei es die Sage, wie sie dem vierten Evangelisten zu Oh-
ren kam, oder er selbst, aus jenem Diktum dieses Faktum
herausgesponnen haben 12). Und ohne daſs ihm gerade,
der Darstellung des Lukas gemäſs, jener Ausspruch Jesu
als während der lezten Mahlzeit gethan zugekommen zu
sein brauchte, ergab es sich aus dem ἀνακεῖσϑαι und δια-
κονεῖν von selbst, daſs die Versinnlichung dieses Verhält-
nisses an ein Mahl geknüpft wurde, welches dann aus
leicht denkbaren Gründen am schicklichsten das lezte ge-
wesen zu sein scheinen konnte.
Daſs hierauf nach der Darstellung bei Lukas Jesus
die Jünger als solche anredet, welche bei ihm in seinen
Bedrängnissen beharrt haben, und ihnen dafür verheiſst,
daſs sie mit ihm in seinem Reich zu Tische sitzen, und auf
Thronen die 12 Stämme Israëls richten sollen (V. 28—30.),
das scheint in den Zusammenhang einer Scene nicht zu
passen, in welcher er unmittelbar vorher einem der Zwölfe
den Verrath, unmittelbar nachher einem andern die Ver-
leugnung vorhergesagt haben soll, und in einen Zeitpunkt,
in welchem die eigentlichen πειρασμοὶ erst bevorstanden.
So wie nach einer früheren Betrachtung die Scene bei Lu-
kas von vorne herein angelegt ist, dürfen wir den Grund
der Einschaltung dieses Redestücks schwerlich in etwas
Anderem, als in einer zufälligen Ideenassociation, suchen,
vermöge welcher etwa der Rangstreit der Jünger den Re-
ferenten an den ihnen von Jesu verheiſsenen Rang, und
die Rede vom Aufwartenden und zu Tische Sitzenden an
das ihnen versprochene zu Tische Sitzen im messianischen
Reiche erinnern mochte.
In Bezug auf das folgende Gespräch, wo Jesus sei-
[425]Zweites Kapitel. §. 119.
nen Jüngern bildlich sagt, von nun an würde es Noth
thun, sie kauften sich Schwerter, so feindlich werde man
ihnen von allen Seiten entgegentreten, sie aber ihn eigent-
lich verstehen, und auf zwei in der Gesellschaft vorräthige
Schwerter verweisen, möchte ich am liebsten Schleierma-
cher'n beistimmen, welcher der Meinung ist, um das in der
folgenden Erzählung vorkommende Hauen des Petrus mit
dem Schwert zu bevorworten, habe der Referent dieses
Redestück hiehergestellt 13).
Die übrigen Differenzen in Bezug auf das lezte Mahl
werden im Verlauf der folgenden Untersuchungen zur Spra-
che kommen.
§. 119.
Verkündigung des Verraths und der Verleugnung.
Wenn mit der Angabe, daſs Jesus von jeher seinen
Verräther gekannt und durchschaut habe, der vierte Evan-
gelist allein steht: so stimmen darin alle viere zusammen,
daſs er bei seinem lezten Mahle vorhergesagt habe, einer
seiner Jünger werde ihn verrathen.
Doch findet zuerst schon darin eine Differenz statt,
daſs, während den beiden ersten Evangelisten zufolge die
Reden vom Verräther die Scene eröffnen, und namentlich
der Stiftung des Abendmahls vorangehen (Matth. 26, 21 ff.
Marc. 14, 18 ff.): Lukas erst nach eingenommenem Mahl
und gestifteter Gedächtniſsfeier (22, 21 ff.) Jesum von dem
bevorstehenden Verrathe sprechen läſst; bei Johannes geht
das auf den Verräther sich Beziehende während und nach
der Fuſswaschung vor (13, 10—30.). Die an sich unbe-
deutende Frage, welcher Evangelist hier recht habe, ist
den Theologen aus dem Grund überaus wichtig, weil je
nach der Entscheidung derselben sich die andere Frage zu
beantworten scheint, ob auch der Verräther das Abend-
[426]Dritter Abschnitt.
mahl noch mitgenossen habe? Weder mit der Idee des
Abendmahls, als des Mahls der innigsten Liebe und Ver-
einigung, schien sich die Theilnahme eines so fremdarti-
gen Glieds an demselben zu vertragen, noch auch mit der
Liebe und Barmherzigkeit des Herrn das, daſs er sollte
einen Unwürdigen zur Erhöhung seiner Schuld das Abend-
mahl haben mitgenieſsen lassen 1). Diesem gefürchteten
Umstand glaubte man dadurch zu entgehen, daſs man,
der Anordnung des Matthäus und Markus folgend, die Be-
zeichnung des Verräthers der Stiftung des Abendmahls
vorangehen lieſs, und da man nun aus Johannes wuſste,
daſs, nachdem er sich entdeckt und bezeichnet sah, Judas
aus der Gesellschaft gegangen sei: so glaubte man anneh-
men zu dürfen, daſs erst nach dieser Entfernung des Ver-
räthers Jesus die Einsetzung des Abendmahls vorgenommen
habe. Allein diese Abhülfe kommt nur durch unerlaubte
Vermischung des Johannes mit den Synoptikern zu Stande.
Denn von einer Entfernung des Judas aus der Gesellschaft
weiſs eben nur der vierte Evangelist, und er allein hat
auch diese Annahme nöthig, weil nach ihm Judas erst jezt
seine Unterhandlungen mit den Feinden Jesu anknüpft,
also, um mit ihnen einig zu werden, und Bedeckung von
ihnen zu erhalten, eine etwas längere Zeit brauchte: bei
den Synoptikern dagegen ist keine Spur, daſs der Verrä-
ther die Gesellschaft verlassen hätte, es ist Alles so erzählt,
wie wenn er erst bei dem allgemeinen Aufbruch, statt di-
rekt in den Garten, zu den Hohenpriestern gegangen wäre,
von welchen er dann, da die Unterhandlungen schon vor-
her angeknüpft waren, unverzüglich die nöthige Mannschaft
zur Verhaftung Jesu erhalten konnte. Mag also in Anord-
nung der Scene Lukas oder Matthäus recht haben: nach
sämmtlichen Synoptikern hat Judas, der ihnen zufolge sich
2)
[427]Zweites Kapitel. §. 119.
gar nicht vor der Zeit aus der Gesellschaft entfernte, das
Abendmahl mitgenossen.
Aber auch in der Art und Weise, wie Jesus seinen
Verräther bezeichnet haben soll, weichen die Evangelisten
nicht unbedeutend von einander ab. Bei Lukas giebt Jesus
nur kurz die Versicherung, daſs die Hand seines Verräthers
mit ihm über Tische sei, worauf die Jünger unter sich fra-
gen, wer es wohl sein möge, der so etwas zu thun im
Stande wäre? Bei Matthäus und Markus sagt er zuerst,
einer der Anwesenden werde ihn verrathen, und als von
den Jüngern ihn jeder einzeln fragt, ob er es sei? erwie-
dert er: der mit ihm in die Schüssel tauche; bis endlich
nach einem über den Verräther ausgesprochenen Wehe dem
Matthäus zufolge auch Judas jene Frage thut, worauf ihm
Jesus eine bejahende Antwort giebt. Bei Johannes deu-
tet Jesus zuerst während und nach der Fuſswaschung an,
daſs nicht alle anwesenden Jünger rein seien, daſs viel-
mehr die Schrift erfüllt werden müsse: der mit mir das
Brot iſst, erhebt die Ferse gegen mich. Dann sagt er ge-
radezu, einer von ihnen werde ihn verrathen, und als die
Jünger forschend einander anblicken, wen er wohl meine,
läſst Petrus durch den zunächst an Jesu liegenden Johan-
nes fragen, wer es sei? worauf Jesus erwiedert, der, wel-
chem er den Bissen eintauche und gebe, was er sofort dem
Judas thut, mit beigefügter Erinnerung, die Ausführung
seines Vorhabens zu beschleunigen; worauf dieser die Ge-
sellschaft verläſst.
Die Harmonisten sind auch hier schnell damit fertig
gewesen, die verschiedenen Scenen ineinander einzuschie-
ben und miteinder verträglich zu machen. Da soll Jesus
auf die Frage der einzelnen Jünger, ob sie es seien, zu-
erst mit lauter Stimme erklärt haben, einer seiner Tisch-
genossen werde ihn verrathen (Matth.); hierauf soll Jo-
hannes leise gefragt haben, wer es näher sei, und Jesus
ihm ebenso leise die Antwort ertheilt: der, dem er den
[428]Dritter Abschnitt.
Bissen gebe (Joh.); dann soll auch Judas, gleichfalls lei-
se, gefragt haben, ob er es sei, und Jesus ebenso seine
Frage bejaht haben (Matth.); endlich aber soll auf eine
antreibende Mahnung Jesu der Verräther aus der Gesell-
schaft gegangen sein (Joh.) 3). Allein daſs die zwischen
Jesus und Judas gewechselte Frage und Antwort, welche
Matthäus mittheilt, leise gesprochen worden sei, davon be-
merkt der Evangelist nichts, auch läſst es sich nicht wohl
denken, wenn man nicht das Unwahrscheinliche vorausse-
zen will, daſs Judas auf der andern Seite wie Johannes
auf der einen neben Jesu gelegen habe; war aber die Ver-
handlung laut, so konnten die Jünger nicht, wie Johannes
erzählt, das ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον auf so wunderliche
Weise miſsverstehen, — und mit einer stotternden Frage von
Seiten des Judas und leichthin gesprochenen Antwort Jesu
wird man sich nicht im Ernst beruhigen können 4). Auch
das ist nicht wahrscheinlich, daſs Jesus, nachdem er schon
die Erklärung gegeben: der mit mir in die Schüssel
taucht, wird mich verrathen, zur bestimmteren Bezeich-
nung des Verräthers nun noch selbst ihm einen Bissen ein-
getaucht haben sollte: sondern beides ist wohl dasselbe,
nur verschieden referirt. Erkennt man aber einmal dieſs
mit Paulus und Olshausen an, so hat man bereits dem ei-
nen oder andern Bericht so viel vergeben, daſs man sich
auch über die Schwierigkeit, welche in der ausdrücklichen
Antwort liegt, die Matthäus Jesum dem Verräther geben
läſst, nicht mit Zwang hinüberhelfen, sondern eingestehen
sollte, hier zwei abweichende Berichte vor sich zu ha-
ben, deren einer nicht darauf berechnet ist, durch den
andern ergänzt zu werden.
Ist man mit Sieffert und Fritzsche zu dieser Einsicht
gekommen: so fragt sich nur noch, welchem von beiden
[429]Zweites Kapitel. §. 119.
Berichten als dem ursprünglichen der Vorzug zu geben sei?
Sieffert hat diese Frage mit groſser Entschiedenheit zu
Gunsten des Johannes beantwortet, nicht bloſs, wie er be-
hauptet, vermöge des Vorurtheils für die angebliche Au-
genzeugenschaft dieses Evangelisten, sondern auch, weil
sich seine Erzählung in diesem Abschnitt durch innere
Wahrheit und malerische Anschaulichkeit auf's Unverkenn-
barste vor der des Matthäus auszeichne, welcher leztern
die Spuren der Autopsie auch hier durchaus fehlen. Wäh-
rend nämlich Johannes das Genaueste über die Art zu sa-
gen wisse, wie Jesus den Verräther bezeichnet habe: klinge
die Erzählung des ersten Evangeliums so, als ob seinem
Verfasser nur die allgemeine Notiz, daſs Jesus seinen Ver-
räther auch persönlich bezeichnet habe, zugekommen ge-
wesen wäre 5). Wenn in dieser Hinsicht allerdings von
der runden Antwort, die Jesus bei Matthäus (V. 25.) dem
Judas giebt, nicht geleugnet werden kann, daſs sie ganz
darnach aussieht, nach jener Notiz auf ziemlich trockene
Weise gemacht zu sein, und in sofern der verblümteren,
also doch immer wahrscheinlicheren Art, wie Johannes
diese Bezeichnung wendet, nachsteht: so ist dagegen zwi-
schen dem ὁ ἐμβάψας oder ἐμβαπτόμενος μετ̕ ἐμοῦ bei den
zwei ersten Evangelisten, und dem johanneischen ᾦ ἐγὼ
βάψας τὸ ψωμίον ἐπιδώσω, das Verhältniſs ein ganz an-
deres; hier nämlich ist offenbar die gröſsere Bestimmtheit
der Bezeichnung, mithin die geringere Wahrscheinlichkeit
des Berichts, auf Seiten des vierten Evangeliums. Bei
Lukas bezeichnet Jesus den Verräther nur als einen der
mit ihm bei Tische Sitzenden, und auch von dem ὁ ἐμβά-
ψας κ. τ. λ. bei Matthäus und Markus ist die Deutung,
welche Kuinöl und Henneberg6) von demselben geben: ei-
[430]Dritter Abschnitt.
ner von meinen Tischgenossen, unbestimmt welcher, —
so irreleitend nicht, wie Olshausen sie dafür ausgiebt.
Denn auch auf die Frage der einzelnen Jünger: bin ich's?
konnte ja Jesus theils immer noch eine ausweichende Ant-
wort zu geben für gut finden, theils verhielt sich zu dem
früheren: εἷς ἐξ ὑμῶν παραδώσει με (V. 21.), nach Kuin-
öl's richtiger Bemerkung jene Antwort auch in diesem Sin-
ne als angemessene Steigerung, indem sie das den Verrath
noch besonders gravirende Moment der Tischgenossenschaft
hervorhob. Wenn auch die Verfasser der beiden ersten
Evangelien den fraglichen Ausdruck bereits so verstanden,
als ob gerade Judas mit Jesu die Hand in die Schüssel ge-
taucht, und somit jene Äusserung ihn persönlich bezeich-
net hätte: so zeigt doch die Parallele bei Lukas, und bei
Markus das dem ὁ ἐμβαπτόμενος vorgesezte εἷς ἐκ τῶν δώ-
δεκα, daſs ursprünglich jenes nur Epexegese von diesem
war, wenn es gleich vermöge des Wunsches, eine recht
bestimmte Vorherbezeichnung des Verräthers von Seiten Je-
su zu haben, frühzeitig in jenem andern Sinne genommen
wurde. Haben wir aber so einmal eine sagenhafte Steige-
rung der Bestimmtheit jener Bezeichnung: so ist auch die
Art, wie das vierte Evangelium den Verräther bezeichnet
werden läſst, in diese Reihe zu ziehen, und zwar müſste
sie nach Sieffert die ursprüngliche gewesen sein, von wel-
cher alle übrigen ausgegangen wären. Nun aber ist sie,
wenn wir das σὺ εἶπας des Matthäus zum Voraus preiſsge-
ben, die bestimmteste Bezeichnungsweise, zu welcher sich
der Ausdruck: meiner Tischgenossen einer, nur als ganz
unbestimmt verhält, und auch der Wink: derjenige, wel-
cher jezt eben mit mir in die Schüssel taucht, war noch
weniger direkt, als wenn Jesus selbst ihm den Bissen ein-
tauchte und reichte. Ist es denn nun im Geist der alten
Sage, die bestimmteste Bezeichnung, wenn Jesus eine sol-
che gegeben hatte, fallen zu lassen, und auf unbestimmte-
re zu reduciren, also das Wunder des Vorherwissens Je-
[431]Zweites Kapitel. §. 119.
su zu verringern? Gewiſs vielmehr das Umgekehrte: so
daſs Matthäus neben dem unhistorischen Bestimmten doch
zugleich noch das ursprüngliche Unbestimmte aufbewahrt,
Johannes dagegen dieses ganz verloren, und nur jenes be-
halten hat.
Geben wir auf diese Weise dasjenige, was von per-
sönlicher Bezeichnung des Verräthers durch Jesum erzählt
wird, als post eventum gebildet, auf, so bleibt uns doch
die allgemeine Voraussicht und Vorhersage Jesu noch, daſs
überhaupt einer seiner Schüler und Tischgenossen ihn ver-
rathen werde. Doch auch schon dieſs hat Schwierigkei-
ten. Daſs Jesus auf den im Kreise seiner Vertrautesten
brütenden Verrath von Andern aufmerksam gemacht wor-
den wäre, davon findet sich in den Evangelien keine Spur:
nur aus der Schrift scheint er auch dieses Verhängniſs her-
ausgelesen zu haben. Wiederholt erklärt Jesus, durch
den ihm bevorstehenden Verrath werde die Schrift erfüllt
(Joh. 13, 18. 17, 12. vgl. Matth. 26, 24. parall.), und im
vierten Evangelium (13, 18.) führt er als diese γραφὴ aus
Ps. 41, 10. die Worte an: ὁ τρώγων μετ̕ ἐμοῦ τὸν ἄρτον,
ἐπῇρεν ἐτ̕ ἐμὲ τὴν πτέρναν αὑτοῦ. Die Psalmstelle bezieht
sich entweder auf die bekannten treulosen Freunde Davids,
Ahitophel und Mephiboseth, oder, wenn der Psalm nicht
Davidisch ist, auf Unbekannte, die mit dem Dichter des-
selben in ähnlichem Verhältniſs standen 7). Von messiani-
scher Beziehung ist so wenig eine Spur, daſs selbst Tho-
luck und Olshausen den angegebenen Sinn als den ur-
sprünglichen anerkennen. Nun soll aber nach dem Lezte-
ren in dem Schicksal Davids sich das des Messias abspie-
geln; nach dem Ersteren sogar David selbst auf göttlichen
Antrieb oft Ausdrücke von sich gebraucht haben, welche
specielle Hinweisungen auf die Schicksale Jesu enthielten.
Wenn aber Tholuck dazusezt, David selbst habe in der
[432]Dritter Abschnitt.
Begeisterung diesen tieferen Sinn seiner Aussprüche nicht
immer ganz begriffen: was ist dieſs anders, als ein Zuge-
ständniſs, daſs durch die Deutung auf Christum solchen
Stellen ein anderer Sinn gegeben werde, als den der Ver-
fasser ursprünglich in dieselben gelegt hat? Daſs nun Je-
sus aus dieser Psalmstelle vor dem Erfolg durch natürli-
che Überlegung sollte herausgelesen haben, ihm stehe Ver-
rath durch einen Freund bevor, ist um so undenkbarer,
als sich keine Spur findet, daſs der Psalm unter den Ju-
den messianisch gedeutet worden wäre: daſs aber das Gött-
liche in Jesu ihm eine solche Deutung an die Hand gege-
ben habe, ist deſswegen unmöglich, weil es eine falsche
Deutung ist. Vielmehr nach dem Erfolg erst wurde der
Psalmstelle eine Beziehung auf den Verrath des Judas ge-
geben. Das durch den gewaltsamen Tod des Messias über-
raschte Gemüth seiner ersten Anhänger muſs man sich
in ängstlicher Geschäftigkeit denken, dieses Schicksal des-
selben zu begreifen, was aber bei jüdisch Gebildeten nicht
hieſs, es mit Bewuſstsein und Vernunft, sondern mit der
Schrift in Einklang bringen. So fanden sie nicht nur sei-
nen Tod, sondern auch, daſs er durch die Treulosigkeit
eines seiner Freunde zu Grunde gehen würde, und selbst
das weitere Schicksal und Ende des Verräthers (Matth.
27, 9 f. A. G. 1, 20.) im A. T. vorhergesagt, und um für
den Verrath eine A. T.liche Auctorität zu finden, bot sich
am meisten jene Stelle aus Ps. 41, wo der Verfasser über
Miſshandlung durch einen seiner Vertrautesten Klage führt.
Diese Belege aus dem A. T. konnten die Schreiber der N.-
T.lichen Geschichte entweder als ihre und Anderer Reflexio-
nen bei Meldung des Erfolgs hinzusetzen, wie die Verfasser
des ersten Evangeliums und der Apostelgeschichte, wo sie
das Ende des Judas referiren: oder, was noch schlagen-
der war, sie konnten sie Jesu selbst schon vor dem Er-
folg in den Mund legen, wie der Verfasser des vierten
Evangeliums hier thut. Der Psalmist hatte mit seinem
[433]Zweites Kapitel. §. 119.
אׂכֵﬥ ﬥחְמִי einen solchen gemeint, der überhaupt das
Brot mit ihm zu theilen pflege: leicht aber konnte es als
die Bezeichnung eines solchen angesehen werden, der jezt
eben mit dem in der Weissagung Gemeinten esse, und
so wurde als Scene der Vorherbezeichnung ein Mahl Jesu
mit seinen Jüngern, und wegen der Nähe des Erfolgs am
schicklichsten das lezte, gewählt. An die Worte der Psalm-
stelle übrigens band man sich in der Art, wie man Jesum
den Verräther bezeichnen lieſs, weiter nicht, sondern nahm
statt des ὁ τρώγων μετ̕ ἐμοῦ τὸν ἄρτον entweder das syno-
nyme μετ̕ ἐμοῦ ἐπὶ τῆς τραπέζης, wie Lukas, oder, da den
Synoptikern zufolge dieses lezte Mahl ein Paschamahl war,
so wählte man mit Bezug auf die dem Paschamahl eigen-
thümliche Tunke das ὁ ἐμβαπτόμενος μετ̕ ἐμοῦ εἰς τὸ τρυ-
βλίον, wie Markus und Matthäus. Dieſs, zuerst ganz syn-
onym dem ὁ τρώγων κ. τ. λ., als Bezeichnung irgend ei-
nes seiner Tischgenossen, wurde bald, da man eine per-
sönliche Bezeichnung haben wollte, durch Miſsverstand so
gewendet, als ob Judas zufällig zugleich mit Jesu in die
Schüssel gegriffen hätte, und endlich wurde, um die Be-
zeichnung möglichst unmittelbar zu machen, der von Ju-
das zugleich mit Jesu in die Schüssel getauchte Bissen
vom vierten Evangelisten in einen solchen verwandelt, den
Jesus dem Verräther eingetaucht und gegeben habe.
Auch sonst ist in der johanneischen Darstellung die-
ser Scene Manches, was gar nicht natürlich, wie Sieffert
will, sondern vielmehr gemacht erscheint. Die Art, wie
Petrus sich der Vermittlung des Schooſsjüngers bedienen
muſs, um von Jesu einen näheren Wink über den Verrä-
ther herauszubringen, wie sie den Synoptikern fremd ist,
so gehört sie auch nur zu der unhistorischen Wendung,
welche, wie oben auseinandergesezt, das vierte Evangelium
dem Verhältniſs der beiden Apostel giebt. Die unter ei-
ner Handlung der Freundschaft, wie das Reichen des Bis-
sens, verborgene Bezeichnung im schlimmen Sinne ferner
Das Leben Jesu II. Band. 28
[434]Dritter Abschnitt.
hat immer etwas Unwahres und Widriges, was man auch
von zum Grunde liegenden Absichten, den Verräther noch zu
rühren u. dergl., erdenken mag. Endlich auch das ὃ ποιεῖς,
ποίησον τάχιον, man mag es zu mildern suchen, wie man will 8),
ist doch immer hart, und mit einem gewissen Troz dem herein-
brechenden Schicksal gegenüber gesprochen, und ehe ich die
Worte durch irgend eine Künstelei als von Jesu gesprochene
rechtfertige, stimme ich lieber dem Verfasser der Probabilien
bei, welcher in denselben das Bestreben des vierten Evan-
gelisten sieht, die gewöhnliche Darstellung, welcher zu-
folge Jesus den Verrath vorauswuſste und nicht hinderte,
durch die Wendung, er habe den Verräther sogar zur
Beschleunigung seines Vorhabens aufgefordert, zu über-
bieten 9).
Wie dem Judas den Verrath, so soll Jesus dem Pe-
trus die Verleugnung vorhergesagt haben, und zwar mit
der besonders genauen Zeitbestimmung, daſs, ehe am näch-
sten Frühmorgen der Hahn (nach Markus zweimal) krähe,
Petrus ihn dreimal verleugnet haben werde (Matth. 26,
33 ff. parall.), was den Evangelien zufolge auf's Genauste
eingetroffen ist. Nicht mit Unrecht ist hier von rationa-
listischer Seite bemerkt worden, die Erstreckung der Se-
hergabe auf solche Nebenzüge, wie der Hahnenschrei, müs-
se Befremden erregen; ebenso, daſs Jesus, statt zu war-
nen, vielmehr den Erfolg wie unvermeidlich vorhersage 10),
was allerdings ganz nach der Art des tragischen Fatums
der Griechen lautet, wo der Mensch in das ihm vom Ora-
[435]Zweites Kapitel. §. 119.
kel Vorhergesagte, indem er es vermeiden will, dennoch
hineingeräth. Freilich, wenn dann Paulus weder das ου
φωνήσει σήμερον ἀλέκτωρ, noch das ἀπαρνεῖσϑαι, noch das
τρὶς in der genauen, wörtlichen Bedeutung gesprochen wis-
sen will, sondern der ganzen Rede nur den ungefähren
und problematischen Sinn giebt: so leicht zu erschüttern
sei die vermeinte Festigkeit des Jüngers, daſs zwischen
jezt und dem nächsten Morgen schon Ereignisse eintreten
können, die ihn veranlassen würden, mehr als Einmal an
ihm irre und ihm untreu zu werden: so ist dieſs nicht
die rechte Art, die Schwierigkeit des evangelischen Be-
richts aus dem Wege zu räumen; die Jesu in den Mund
gelegten Worte stimmen mit dem nachherigen Erfolg so
genau überein, daſs hier an ein bloſs zufälliges Zusammen-
treffen nicht gedacht werden kann. Sondern in diesem
Zusammenhang von lauter vaticiniis post eventum werden
wir auch hier annehmen müssen, daſs, nachdem wirklich
Petrus in jener Nacht Jesum mehrmals verleugnet hatte,
die Vorherverkündigung davon Jesu in den Mund gelegt
wurde, mit der üblichen Zeitbestimmung vom Hahnen-
schrei 11), und mit der Reduktion auf die runde Zahl von
drei Verleugnungsfällen. Daſs diese Zeit- und Zahlbe-
stimmung in der evangelischen Überlieferung stehend blieb
(ausser daſs Markus, ohne Zweifel durch eine willkührli-
che Künstelei, um dem τρὶς der Verleugnung gegenüber
auch den Hahnenschrei durch eine Zahl zu bestimmen, von
einem zweimaligen Rufen des Hahns spricht), dieſs scheint
sich aus der Anschaulichkeit und Behaltbarkeit jener früh-
zeitig gewählten Ausdrücke, die sich ganz zu einer ste-
henden Bestimmung eigneten, ohne allzu groſse Schwierig-
keit zu erklären.
Daſs endlich Jesus auch den übrigen Jüngern vor-
aussagt, sie werden in der bevorstehenden Nacht alle an
28 *
[436]Dritter Abschnitt.
ihm irre werden, ihn verlassen und sich zerstreuen (Matth.
26, 31. parall. vgl. Joh. 16, 32.), hat wohl ebensowenig
Anspruch, als wirkliche Weissagung festgehalten zu wer-
den, zumal hier die zwei ersten Evangelisten in dem γέ-
γραπται γάρ· πατάξω τὸν ποιμένα, καὶ διασκορπισϑήσουται
τὰ πρόβατα τῆς ποίμνης, die A. T.liche Stelle (Zach. 13,
7.) selber an die Hand geben, welche, zunächst von den
Anhängern Jesu zur eigenen Verständigung über den Tod
ihres Meisters und dessen zunächst traurige Folgen auf-
gesucht, bald Jesu selbst als Vorhersagung dieser Erfolge
in den Mund gelegt wurde.
§. 120.
Die Einsetzung des Abendmahls.
Bei dem lezten Mahle war es, nach dem Bericht der
drei ersten Evangelisten, mit welchem auch der Apostel
Paulus (1 Kor. 11, 23 ff.) zusammenstimmt, daſs Jesus dem
ungesäuerten Brot und dem Weine, was nach der Sit-
te des Paschafestes 1) er als Familienhaupt unter seine
Schüler zu vertheilen hatte, eine Beziehung auf seinen na-
he bevorstehenden Tod gegeben hat. Während des Essens
nämlich soll er einen Brotkuchen genommen, nach gespro-
chenem Dankgebet ihn gebrochen und seinen Jüngern ge-
reicht haben, mit der Erklärung: τοῦτό ἐςι τὸ σῶμά μου,
wozu Paulus und Lukas noch setzen: τὸ ὑπὲρ ὑμῶν διδό-
μενον oder κλώμενον, — und ebenso hierauf, bei Paulus
und Lukas nach dem Essen, soll er ihnen einen Becher
Weins mit den Worten hingegeben haben: τοῦτό ἐςι τὸ αἷμά
μου, τὸ τῆς καινῆς διαϑήκης, oder, nach Paulus und Lu-
kas: ἡ καινὴ διαϑήκη ἐν τῷ αἵματί μου τὸ περὶ πολλῶν,
oder ὑπὲρ ὑμῶν, ἐκχυνόμενον, wozu Matthäus noch sezt:
[437]Zweites Kapitel. §. 120.
εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν, Paulus aber, was er und Lukas auch
schon oben bei'm Brote hatten: τοῦτο ποιεῖτε (Paulus bei'm
Wein ὁσάκις ἂν πίνητε) εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν).
Der Streit der Confessionen über die Bedeutung die-
ser Worte, ob sie eine Verwandlung von Brot und Wein
in den Leib und das Blut Christi, oder ein Vorhandensein
von Leib und Blut Christi mit und unter jenen Elementen,
oder endlich dieſs ausdrücken, daſs Brot und Wein Chri-
sti Leib und Blut bedeuten sollen, ist als obsolet zu be-
zeichnen, und sollte wenigstens exegetisch deſswegen nicht
mehr nachgeführt werden, weil er auf einer unrichtigen
Disjunktion beruht. Nur in der Übertragung in das ab-
straktere Bewuſstsein des Abendlandes und der neuern Zeit
zerfällt dasjenige, was der alte Orientale sich unter sei-
nem τοῦιό ἐςι dachte, in jene verschiedenen Möglichkeiten
der Bedeutung, welche wir, wenn wir den ursprünglichen
Gedanken in uns nachbilden wollen, gar nicht auf diese
Weise trennen dürfen. Erklärt man die fraglichen Worte
von Verwandlung: so ist das zu viel und zu bestimmt;
nimmt man sie von einer Existenz cum et sub specie etc.:
so ist dieſs zu künstlich; übersezt man aber: dieſs bedeutet:
so hat man zu wenig und zu nüchtern gedacht. Den Schrei-
bern unsrer Evangelien war das Brot im Abendmahl der
Leib Christi; aber hätte man sie gefragt, ob also das Bro-
verwandelt sei? so würden sie es verneint; hätte man ih-
nen von einem Genuſs des Leibes mit und unter der Gestalt
des Brots gesprochen: so würden sie dieſs nicht verstan-
den; hätte man geschlossen, daſs mithin das Brot den
Leib bloſs bedeute: so würden sie sich dadurch nicht be-
friedigt gefunden haben.
Hierüber also verlohnt es sich nicht, weiter zu strei-
ten; eher kann die Frage interessiren, ob Jesus jene ei-
genthümlich bedeutsame Brot- und Weinaustheilung nur
als einen Akt des Abschieds von seinen Jüngern, oder ob
er dieselbe in der Absicht vorgenommen habe, daſs sie
[438]Dritter Abschnitt.
auch nach seinem Hingang von seinen Anhängern zum An-
denken an ihn gefeiert werden sollte? Hätten wir bloſs die
Berichte der beiden ersten Evangelisten — dieſs geben hier
selbst orthodoxe Theologen zu 2) — so wäre kein entschei-
dender Grund zu der lezteren Annahme vorhanden: allein
entscheidend scheint bei Paulus und Lukas der Zusaz: τοῦτο
ποιεῖτε εἰς τὴν ἐμὴν ἀνάμνησιν, welchem zufolge Jesus of-
fenbar die Absicht hatte, ein Gedächtniſsmahl zu stiften,
das nach Paulus die Christen feiern sollten,ἄχρις οὖ ἂν
ἔλϑη. Allein eben von diesen Zusätzen hat man neuerlich
vermuthet, sie möchten nicht ursprünglich Worte Jesu ge-
wesen sein, sondern bei der Abendmahlsfeier in der ersten
Gemeinde möge der austheilende Vorsteher die Gemeinde-
glieder aufgefordert haben, dieses Mahl auch ferner zum
Andenken Christi zu wiederholen, und aus diesem urchrist-
lichen Ritual seien dann die Worte zu der Rede Jesu ge-
schlagen worden 3). Gegen diese Vermuthung sollte man
nicht mit Olshausen die Auctorität des Apostels Paulus in
der Überspannung geltend machen, daſs laut seiner Versi-
cherung: παοέλαβον ἀπὸ τοῦ Κυρίου, er hier aus einer un-
mittelbaren Offenbarung Christi, ja daſs Christus selbst
hier aus ihm spreche: da doch, wie selbst Süskind zugege-
ben, und neuerlich Schulz auf's Bündigste bewiesen hat 4),
παραλαμβάνειν ἀπό τινος nicht ein unmittelbares Bekom-
men von einem, sondern nur ein mittelbares Überkommen
von einem her, also durch Überlieferung, bedeuten kann.
Hat aber Paulus jenen Zusaz nicht von Jesu selbst gehabt:
so glaubt zwar Süskind beweisen zu können, er müsse
ihm von einem Apostel mitgetheilt oder mindestens bestä-
tigt worden sein, und meint in der Weise seiner Schule
[439]Zweites Kapitel. §. 120.
durch eine Reihe abstrakter Disjunktionen sichere Mauth-
linien ziehen zu können, welche das Eindringen einer un-
historischen Sage in diesem Stücke verhindern sollen: al-
lein die strenge Urkundlichkeit unsrer Tage darf von einer
werdenden Religionsgesellschaft nicht erwartet werden, de-
ren an verschiedenen Orten befindliche Theile noch keinen
geordneten Zusammenhang und meistens nur mündlichen
Verkehr hatten. Hienach das τοῦτο ποιεῖτε κ. τ. λ. für ei-
nen späteren Zusaz zu den Worten Jesu zu halten, dazu
darf man sich allerdings nicht durch falsche Gründe bewe-
gen lassen, wie daſs es gegen die Demuth Jesu verstoſsen
haben würde, sich selbst eine Gedächtniſsfeier zu stiften 5)
u. dergl.: wohl aber wird neben dem Stillschweigen der
beiden ersten Evangelisten das in Betracht kommen, daſs,
wie überhaupt eine Gedächtniſsfeier natürlicher aus dem
Bedürfniſs der Zurückbleibenden, als aus dem Plane des
Scheidenden hervorgeht, so auch jene Worte weit eher dar-
nach lauten, das Bewuſstsein der ersten Gemeinde, als eine
Verordnung Jesu auszusprechen.
Demnach soll nun bei'm Anblick des gebrochenen Brots
und ausgegossenen Weines Jesum eine Ahnung seines na-
hen gewaltsamen Todes angewandelt, er soll in jenem ein
Bild seines hinzurichtenden Leibes, in diesem seines zu
vergieſsenden Blutes erblickt, und diesen augenblicklichen
Eindruck gegen seine Jünger ausgesprochen haben 6). Ei-
nen solchen tragischen Eindruck aber konnte Jesus nur be-
kommen, wenn er seinen gewaltsamen Tod mit Bestimmt-
heit in der Nähe sah. Er müſste also namentlich um den
Verrath des Judas gewuſst haben, der sein Ende beschleu-
nigte: aber eben hievon haben wir uns kritisch noch nicht
überzeugen können, sondern eine Zurücktragung aus dem
[440]Dritter Abschnitt.
Erfolg vermuthen müssen. Spricht nun Jesus bei der
Darreichung des Brotes und Kelches so bestimmt von dem,
was ihm bevorstand, als ob es schon geschehen wäre: wie,
wenn wir hier wirklich nur die Worte von solchen hät-
ten, denen der Tod Jesu ein schon Geschehenes war, und
welche nun ihre Gedanken über denselben dem scheiden-
den Meister in den Mund legten? Wein und Brot hatte
Jesus, wenn er wirklich noch das Pascha mit seinen Jün-
gern feierte, sammt dem Fleisch des Lamms ihnen ausge-
theilt, und nach jüdischer Sitte erklärende Worte dazu ge-
sprochen, welche der Erinnerung an den Auszug aus Ägyp-
ten gewidmet waren 7). Als nun so überraschend schnell
auf jenes Pascha der gewaltsame Tod Jesu gefolgt war: da
wurde seinen Anhängern am Paschafest eben das das Wich-
tigste, daſs es Jesus noch kurz vor seinem Tode mit ihnen
gefeiert hatte; die Erklärungen, welche er ihnen nach der
Sitte des Festes von dem alten Ursprung desselben gegeben
hatte, fielen hinweg, und an ihre Stelle traten Erklärun-
gen, welche gleichsam den neuen, christlichen Ursprung
dieser Feier, nämlich den Tod Jesu, betrafen. Der ersten
Christengemeinde war hinfort das am Pascha gebrochene
Brot nicht mehr Erinnerung an die Drangsal ihrer Väter
in Ägypten, sondern an die Leiden ihres Messias, ebenso
war der Becher ein כום הברכה für sie insofern, als sie in
seinem rothen Weine das vergossene Blut ihres Messias er-
[441]Zweites Kapitel. §. 120.
blickten, und diese Deutungen wurden Jesu statt derjeni-
gen, welche er der Sitte gemäſs bei jenem lezten Mahl
gegeben hatte, in den Mund gelegt. Daſs zur Vergegen-
wärtigung des Leibes Jesu nicht das Paschalamm, sondern
das Brot genommen wurde, hatte seinen Grund vielleicht
in der Scheue, dem Hauptbestandtheil des Paschamahls sei-
ne jüdische Bedeutung zu nehmen, so wie in der frühzei-
tig hervortretenden Neigung, dieses Gedächtniſsmahl vom
Pascha zu lösen, und in öfterer Wiederholung zu begehen.
Daſs aber bei dem das Blut Jesu vorstellenden Weine die
Bezeichnung: τὸ αἷμα τῆς καινῆς διαϑήκης gewählt wurde,
hat seinen Grund in der Rücksicht auf die Stelle 2. Mos.
24, 8, wo Moses von dem Blut, mit welchem er zur Ab-
schlieſsung des Bundes zwischen Jehova und dem Volk in
Bezug auf das Sinaitische Gesez die Israëliten besprengte,
sagt: ἰδοὺ τὸ αἷμα τῆς διαϑήκης, ἧς διέϑετο Κύριος πρὸς
ὑμᾶς περὶ πάντων τῶν λόγων τουτων (LXX.).
Doch daſs Jesus bei jenem Mahle bereits sein unmit-
telbar bevorstehendes Ende vorhergesehen, scheint die Ver-
sicherung zu beweisen, welche er nach sämmtlichen syn-
optischen Berichten seinen Jüngern giebt, daſs er von dem
Gewächs des Weinstocks nicht mehr trinken werde, bis
er es neu genieſsen werde im Reich seines Vaters. Sehen
wir jedoch, wie bei Lukas dieser Versicherung in Bezug
auf den Wein die Erklärung Jesu vorangeht, das Pascha
werde er nicht mehr genieſsen bis zur Erfüllung im Got-
tesreich, so ist wohl ursprünglich auch unter dem γέννημα
τῆς ἀμπέλου nicht Wein überhaupt, sondern speciell der
Paschatrunk verstanden gewesen, wovon man auch bei Mat-
thäus und Markus in dem τουτου, welches sie zu γεννήματος
setzen, eine Spur entdecken kann. Von Mahlzeiten im
messianischen Reich sprach Jesus, gemäſs den Vorstellun-
gen seiner Zeit, öfters, und so mag er erwartet haben,
daſs in demselben namentlich das Paschamahl mit besonde-
rer Feierlichkeit werde begangen werden. Wenn er nun
[442]Dritter Abschnitt.
versichert, dieses Mahl nicht mehr in diesem, sondern erst
in jenem Äon wieder zu genieſsen: so liegt darin erstens
nicht, wie, wenn er von Essen und Trinken überhaupt
spräche, daſs schon in den nächsten Tagen, sondern nur,
daſs vor Ablauf eines Jahrs das Verweilen in dieser vor-
messianischen Weltordnung für ihn ein Ende haben wer-
de; dieses Ende aber, zweitens, muſs er sich keineswegs
durch seinen Tod, sondern kann sich dasselbe auch durch
den Eintritt des messianischen Reichs herbeigeführt gedacht
haben, und die bestimmte Versicherung, welche die Evan-
gelisten ihm in den Mund legen, kann vielleicht nur ein
Wunsch gewesen sein. Wie nämlich die späteren Juden
bei der Paschamahlzeit sprachen: dieſs Pascha feiern wir
praesenti anno heic, futuro in terra Israël8): so konnte
vor der Zerstörung des Tempels und der Zerstreuung des
Volks der messianisch-gesinnte Israëlit bei'm Pascha wün-
schen, es nur dieſsmal noch im עולם הזה, das nächstemal
im Reiche des Messias zu feiern 9).
[443]Drittes Kapitel
Drittes Kapitel.
Gang nach dem Oelberg, Gefangenneh-
mung, Verhör, Verurtheilung und
Kreuzigung Jesu.
§. 121.
Jesu Seelenkampf im Garten.
Den synoptischen Berichten zufolge gieng Jesus sogleich
nach Beendigung des Mahles und Absingung des Hallel, wie
er überhaupt während dieser Festzeit ausserhalb Jerusa-
lems zu übernachten pflegte (Matth. 21, 17. Luc. 22, 39.), hin-
aus an den Oelberg, in ein χωρίον (bei Joh. κῆπος), Gethsema-
ne genannt (Matth. 26, 30. 36. parall.), wohin ihn Johan-
nes, mit der ausdrücklichen Erwähnung, daſs es über den
Bach Kidron gegangen sei, erst nach einer langen Reihe
von Abschiedsreden (Kap. 14—17.), auf welche wir später
zu reden kommen werden, aufbrechen läſst. Während an
die Ankunft Jesu im Garten Johannes unmittelbar die Ge-
fangennehmung knüpft: schieben die Synoptiker noch die-
jenige Scene dazwischen, welche man als den Seelenkampf
Jesu zu bezeichnen pflegt.
Ihre Berichte hierüber sind nicht gleichlautend. Nach
Matthäus und Markus nimmt Jesus, indem er die übrigen
Jünger zurückbleiben heiſst, seine drei Vertrautesten, den
Petrus und die Zebedaiden, mit sich, wird von Bangigkeit
und Zagen überfallen, erklärt den Dreien, bis zum Tode
betrübt zu sein, und reiſst sich auch von ihnen, indem er
sie wach zu bleiben ermahnt, los, um für sich ein Gebet
verrichten zu können, in welchem er, das Angesicht auf
die Erde gebeugt, in der bekannten Weise um Abwendung
[444]Dritter Abschnitt.
des Leidenskelchs fleht, übrigens Alles dem Willen seines
Vaters anheimstellt. Wie er wieder zu den Jüngern kommt,
findet er sie schlafend, ermahnt sie abermals zur Wach-
samkeit, entfernt sich dann noch einmal und wiederholt
das vorige Gebet, worauf er seine Jünger wieder schla-
fend antrifft. Zum drittenm I entfernt er sich nun, um
das Gebet zu wiederholen, und wiederkommend findet er
zum drittenmal die Jünger schlafend, erweckt sie aber
jezt, um dem nahenden Verräther entgegenzugehen. — Von
den beiden Dreizahlen, welche in dieser Erzählung der bei-
den ersten Evangelisten eine Rolle spielen, hat Lukas nichts,
sondern nach ihm entfernt sich Jesus von sämmtlichen Jün-
gern, nachdem er sie zur Wachsamkeit ermahnt, ungefähr
auf eines Steinwurfs Weite, und betet knieend, nur Ein-
mal, aber fast mit denselben Worten, wie ihn die beiden
andern beten lassen, kehrt dann zu den Jüngern zurück
und erweckt sie, weil Judas mit der Schaar sich nähert.
Dafür hat nun aber Lukas in der einzigen Gebetsscene,
von welcher er weiſs, zwei Umstände, die den übrigen Be-
richterstattern fremd sind, daſs nämlich während des Ge-
bets, unmittelbar ehe der heftigste Seelenkampf eintrat,
ein Engel erschienen sei, Jesum zu stärken, während der
darauf gefolgten ἀγωνία aber Jesus Schweiſs, wie zur Er-
de fallende Blutstropfen, vergossen habe.
Von jeher ist an diesem Vorgang in Gethsemane An-
stoſs genommen worden, weil in demselben Jesus eine
Schwäche und Todesfurcht zu zeigen scheint, welche man
ihm unangemessen glauben könnte. Ein Celsus und Ju-
lian haben, in Rücksicht ohne Zweifel auf die groſsen Mu-
ster eines sterbenden Sokrates und anderer heidnischen
Weisen, das Zagen Jesu vor dem Tode geschmäht 1); ein
[445]Drittes Kapitel. §. 121.
Vanini sein eigenes Benehmen bei bevorstehender Hinrich-
tung kühn über das von Jesu gestellt 2), und im evange-
lium Nicodemi schlieſst der Satan aus dieser Scene, daſs
Christus ein bloſser Mensch gewesen 3). Die Ausflucht des
Apokryphums, die Betrübniſs Jesu sei nur Verstellung ge-
wesen, um dem Teufel zum Kampf mit ihm Muth zu ma-
chen 4), ist nur das Eingeständniſs, daſs es eine wirkliche
Betrübniſs jener Art bei Jesu nicht zu denken weiſs. Da-
her berief man sich auf den Unterschied der beiden Na-
turen in Christo, und schrieb die Betrübniſs und die Bitte
um Abnahme des ποτήριον der menschlichen, die Ergebung
in das ϑέλημα des Vaters aber der göttlichen Natur zu 5).
Da jedoch dieſs theils eine unzulässige Trennung im We-
sen Jesu zu setzen, theils das Zagen auch nur seiner
menschlichen Natur vor bevorstehenden körperlichen Lei-
den ihm nicht wohl anzustehen schien: so gab man seiner
Bangigkeit einen geistigen Bezug, und machte sie zu einer
sympathetischen, indem es nun die Ruchlosigkeit des Ju-
das, die Gefahr, welche seinen Jüngern drohte, und das
Schicksal, welches seinem Volke bevorstand, gewesen sein
1)
[446]Dritter Abschnitt.
soll, was ihm solche Traurigkeit verursachte 6). Seine
Spitze erreichte dieses Streben, den Schmerz Jesu von al-
ler sinnlichen Beimischung und Beziehung auf seine eigene
Person zu reinigen, in der kirchlich gewordenen Ansicht,
daſs Jesus in das Mitgefühl der Sündenschuld der ganzen
Menschheit versezt gewesen sei, und Gottes Zorn über die-
selbe stellvertretend empfunden habe 7); wobei nach der
Ansicht von Einigen sogar der Teufel selbst mit Jesu ge-
rungen haben soll 8).
Doch von einem solchen Grunde der Bangigkeit Je-
su steht nichts im Texte, vielmehr, wie sonst (Matth. 20,
22 f. parall.), so muſs auch hier das ποτήριον, um dessen
Abnahme Jesus bittet, von seinem eigenen körperlichen
Leiden und Tode verstanden werden. Zugleich liegt jener
kirchlichen Ansicht eine unbiblische Vorstellung von der
Stellvertretung zum Grunde. Jesu Leiden ist allerdings
auch schon in der Vorstellung der Synoptiker ein stell-
vertretendes für die Sünden Vieler; allein die Stellvertre-
tung besteht nach ihnen nicht darin, daſs Jesus unmittel-
bar diese Sünden und das ihretwegen der Menschheit ge-
bührende Leiden zu empfinden bekäme: sondern für jene
Sünden, und um ihre Strafe aufzuheben, wird ihm ein per-
sönliches Leiden aufgelegt. Wie ihn also am Kreuze nicht
[447]Drittes Kapitel. §. 121.
direkt die Sünden der Welt, und der auf diese sich be-
ziehende Zorn Gottes, sondern die ihm beigebrachten Wun-
den, sammt seiner ganzen jammervollen Lage, in welche
er freilich um der Sünden der Menschheit willen versezt
war, schmerzten: so war es der Vorstellung der Evangeli-
sten zufolge auch in Gethsemane nicht unmittelbar das Ge-
fühl des Elends der Menschheit, sondern das Vorgefühl
seines eigenen, allerdings an der Stelle der Menschheit zu
übernehmenden Leidens, was ihn in jene Bangigkeit ver-
sezte.
Von der unhaltbar befundenen kirchlichen Ansicht des
Seelenkampfs Jesu ist man in neuerer Zeit einerseits in
rohen Materialismus zurückgefallen, indem man die Stim-
mung, welche man ethisch rechtfertigen zu können ver-
zweifelte, zu einer rein physischen machte, und Jesu in
Gethsemane eine Übelkeit zustossen lieſs 9); eine Ansicht,
welche Paulus mit einer Strenge, die er nur fleissiger auch
gegen seine eigenen Erklärungen hätte kehren sollen, für
eine unschickliche, textwidrige Umdeutung erklärt, dabei
aber dennoch die Heumann'sche Hypothese nicht unwahr-
scheinlich findet, daſs zu dem innern Schmerz eine leib-
liche Erkältung in dem vom Kidron durchschnittenen Thal-
grund wenigstens hinzugekommen sei 10). Von der andern
Seite hat man der Scene mit moderner Empfindsamkeit auf-
zuhelfen gesucht, und das Freundschaftsgefühl, den Tren-
nungsschmerz, die Abschiedsgedanken, als dasjenige betrach-
tet, was Jesu Inneres so zerrissen habe 11); oder ein trü-
bes Gemisch von dem Allem, von selbstischem und theil-
nehmendem, sinnlichem und geistigem Schmerz vorausge-
sezt 12). Paulus deutet das εἰ δυνατόν ἐςι, παρελϑέτω τὸ
[448]Dritter Abschnitt.
ποτήριον als rein moralische Ängstlichkeit Jesu, ob es
wirklich Gottes Wille sei, daſs er sich dem nächstbevor-
stehenden Angriff hingebe, ob es nicht vielmehr gottgefäl-
liger wäre, dieser Gefahr noch auszuweichen: er macht
zur bloſsen Anfrage an Gott, was offenbar die dringendste
Bitte ist.
Während Olshausen sich in die kirchliche Ansicht zu-
rückwirft, und den Machtspruch thut, die Ansicht, als
hätte das äusserliche, körperliche Leiden den Kampf in Jesu
hervorgerufen, müsse als eine das Wesen seiner Erschei-
nung vernichtende entfernt werden: haben Andere richti-
ger anerkannt, daſs hier allerdings der zum Affekt ge-
wordene Wunsch, des bevorstehenden furchtbaren Leidens
überhoben zu sein, die Schauer der sinnlichen Natur vor
ihrer Vernichtung, sich zeigen 13). Was nun aber auch
von jeher bemerkt worden ist, um eine solche Weichheit
der Stimmung Jesu von jedem Vorwurfe zu befreien: daſs
die schleunige Überwindung der widerstrebenden Sinnlich-
keit jeden Schein des Sündhaften wieder entferne 14);
daſs das Beben der sinnlichen Natur vor ihrer Vernichtung
zu ihren wesentlichen Lebensäusserungen gehöre 15); daſs,
je reiner die menschliche Natur in einem sei, desto em-
pfindlicher sie gegen Schmerz und Vernichtung sich ver-
halte 16); daſs das Durchempfinden und Überwinden des
Schmerzes gröſser sei als eine stoische Unempfindlichkeit
gegen denselben 17): immer bleibt doch die auch von Ols-
hausen getheilte Bedenklichkeit, daſs ein solches Zagen vor
körperlichem Schmerz und Tod Jesum unter einen Sokra-
tes und manche Andere herunterzusetzen scheinen könnte.
[449]Drittes Kapitel. §. 121.
Deſswegen sollte wohl derjenige auf den Dank besonders
der Orthodoxen rechnen dürfen, der es unternimmt, die
Glaubwürdigkeit der betreffenden Erzählungen kritisch zu
untersuchen.
Auch hier indessen dürfen wir die Kritik nicht erst an-
fangen, welche vielmehr, namentlich durch die eigenthümli-
che Darstellung des dritten Evangeliums, schon längst her-
vorgerufen worden ist. Der stärkende Engel hat, wie aus
dogmatischen Gründen der alten Kirche, so der neueren
Auslegung aus kritischen Gründen, zu schaffen gemacht.
Ein altes Scholion, in Betracht, ὅτι τῆς ἰσχύος τοῦ ἀγγέλου
ουκ ἐπεδέετο ὁ ὑπὸ πάσης ἐπουρανίου δυνάμεως φόβῳ καὶ τρό-
μῳ προςκυνουμενος καὶ δοξαζόμενος, faſst das dem Engel
zugeschriebene ἐνισχύειν als ein für stark Erklären, d. h.
als Darbringung einer Doxologie 18); wogegen Andere lie-
ber, als Jesum einer Stärkung durch einen Engel bedürf-
tig sein zu lassen, den ἄγγελος ἐνισχύων zum bösen Engel
machen, welcher gegen Jesum Gewalt brauchen wollte 19).
Wenn nun auch die Orthodoxen durch die Unterscheidung
des Standes der Erniedrigung und Entäusserung bei Christo
von dem Stande seiner Erhöhung, oder auf ähnliche Wei-
se, den Stachel der dogmatischen Bedenklichkeit längst ab-
gestumpft haben: so hat sich an deren Stelle nur um so
entschiedener ein kritisches Bedenken ausgebildet. In Er-
wägung des Verdachts, welchen nach früheren Bemerkun-
gen angebliche Angelophanien jederzeit gegen sich haben,
hat man auch in dem hier erscheinenden Engel bald einen
Menschen 20), bald ein Bild für die von Jesu wiederge-
wonnene Ruhe 21) finden wollen. Doch der eigentliche
Ort für den kritischen Angriff auf die Engelerscheinung
Das Leben Jesu II. Band. 29
[450]Dritter Abschnitt.
war durch den Umstand angezeigt, daſs Lukas der einzige
ist, von welchem wir dieselbe erfahren 22). Sind laut der
gewöhnlichen Voraussetzung das erste und vierte Evange-
lium apostolischen Ursprungs: warum schweigt dann Mat-
thäus, der doch im Garten war, von dem Engel, warum
besonders Johannes, der unter den Dreien in der Nähe
Jesu sich befand? Sagt man: weil sie, schlaftrunken, wie
sie waren, und immerhin in einiger Entfernung, noch dazu
bei Nacht, ihn nicht bemerkten, so fragt sich, woher Lu-
kas die Notiz bekommen haben soll 23)? Daſs, sofern die
Jünger die Erscheinung nicht selbst beobachtet hatten, Je-
sus ihnen noch in jener Nacht von derselben sollte erzählt
haben, ist wegen der gespannten Stimmung jener Stun-
den, und der unmittelbar nach der Zurückkunft Jesu zu
seinen Jüngern erfolgten Annäherung des Judas wenig
wahrscheinlich; ebenso, daſs er in den Tagen der Auf-
erstehung es ihnen sollte mitgetheilt, und diese Kunde
nun nur dem dritten Evangelisten, an welchen sie doch
bloſs mittelbar gelangte, der Aufzeichnung werth geschie-
nen haben. Da auf diese Weise Alles gegen den histori-
schen Charakter der Engelerscheinung sich vereinigt: war-
um sollten wir nicht auch sie, wie alle, namentlich in der
Kindheitsgeschichte Jesu uns vorgekommenen Erscheinun-
gen dieser Art, mythisch fassen? Schon Gabler hat die
Ansicht vorgetragen, daſs man in der ältesten Gemeinde
den schnellen Übergang von der heftigsten Gemüthsbewe-
gung zu der ruhigsten Ergebung, welcher in jener Nacht
an Jesu bemerklich war, sich der jüdischen Denkweise ge-
mäſs durch die Dazwischenkunft eines stärkenden Engels
erklärt, und diese Erklärung sich in die Erzählung ge-
[451]Drittes Kapitel. §. 121.
mischt haben möge, und Schleiermacher findet als das
Wahrscheinlichste, daſs man diese, von Jesu selbst als
schwer bezeichneten Augenblicke zeitig durch Engelerschei-
nungen hymnisch verherrlicht, und der Referent im drit-
ten Evangelium dieses ursprünglich bloſs poëtisch Gemeinte
geschichtlich genommen habe 24). Ob diese Auffassung ge-
nügt, ob sie nicht etwas als geschichtlich zum Grunde legt,
was selbst noch zum Mythischen gerechnet werden muſs,
kann sich erst weiter unter zeigen.
Nicht minder anstöſsig als die Stärkung durch den
Engel ist schon frühzeitig der andere dem Lukas eigen-
thümliche Zug, der blutige Schweiſs, gefunden worden.
Wenigstens scheint es dieser vor Allem gewesen zu sein,
welcher die Weglassung der ganzen Einschaltung bei Lu-
kas V. 43. und 44. aus mehreren alten Evangelienexempla-
ren veranlaſst hat. Denn wie die Orthodoxen, welche nach
Epiphanius 25) die Stelle ausmerzten, hauptsächlich den
tiefsten Grad der Bangigkeit, der sich in dem Blutschweiſs
ausdrückt, gescheut zu haben scheinen: so können beson-
ders die doketisch Gesinnten unter denen, welche die Stel-
le nicht lasen 26), nur jenen Schweiſs perhorrescirt haben.
Erhob man auf diese Weise früher aus dogmatischen Rück-
sichten gegen die Schicklichkeit des Blutschweiſses Jesu
Zweifel: so hat man dieſs in neuerer Zeit aus physiologi-
schen Gründen gegen die Möglichkeit desselben gethan.
Zwar werden für das Vorkommen von blutigem Schweiſs
von Aristoteles 27) bis auf die neueren Naturforscher herun-
ter 28) Auctoritäten aufgeführt: aber man findet eine sol-
che Erscheinung immer nur als höchste Seltenheit und als
29 *
[452]Dritter Abschnitt.
Symptom bestimmter Krankheiten erwähnt. Daher macht
Paulus auf das ὡσεὶ aufmerksam, welchem zufolge hier
nicht geradezu von einem Blutschweiſs, sondern nur von
einem mit Blut vergleichbaren Schweiſs die Rede sei: die-
se Vergleichung aber bezieht er nur auf die dichte Tro-
pfenbildung, und auch Olshausen stimmt ihm so weit bei,
daſs die rothe Farbe des Schweiſses nicht nothwendig in der
Vergleichung enthalten sei. Allein im Zusammenhang einer
Erzählung, welche ein Vorspiel des blutigen Todes Jesu ge-
ben will, wird es doch immer das Natürlichste bleiben,
die Vergleichung des Schweiſses mit Blutstropfen in ihrem
vollen Sinne zu nehmen. — Ferner kehrt nun aber hier
noch gewichtiger als bei der Engelserscheinung die Fra-
ge zurück, wie Lukas zu dieser Notiz gekommen ist, oder,
um alle Fragen, die sich hier ganz wie oben gestalten,
zu übergehen, wie die Jünger aus der Entfernung und in
der Nacht das Herabfallen blutiger Tropfen vom Leibe Je-
su bemerken konnten? Zwar soll nach Paulus nicht ge-
sagt sein, daſs der Schweiſs herabgefallen sei, sondern,
indem das καταβαίνοντες statt auf ἱδρὼς vielmehr auf die
nur zur Vergleichung herbeigezogenen ϑρόμβοι αἵματος sich
beziehe, so sei nur gemeint, daſs ein Schweiſs, so dicht
und schwer wie fallende Blutstropfen, auf Jesu Stirne ge-
standen habe. Allein ob es heiſst: der Schweiſs fiel wie
Blutstropfen auf die Erde, oder: er war wie auf die Erde
fallende Blutstropfen, wird wohl ziemlich auf Eines hin-
auslaufen; wenigstens wäre die Vergleichung eines auf
der Stirne stehenden Schweiſses mit zur Erde träufelndem
Blute ungeschickt, vollends wenn mit dem Fallen auch die
Farbe des Bluts aus der Vergleichung wegbleiben, und von
dem ὡσεὶ ϑρόμβοι αἵματος καταβαίνοντες εἰς τὴν γῆν ei-
gentlich nur das ὡσεὶ ϑρόμβοι einen bestimmten Sinn haben
soll. Nehmen wir also, da wir den Umstand weder be-
greifen, noch uns denken können, woher der Referent ei-
ne historische Kunde von demselben haben sollte, lieber
[453]Drittes Kapitel. §. 121.
auch diesen Zug mit Schleiermacher als einen poëtischen,
welchen der Evangelist geschichtlich genommen, oder bes-
ser als einen mythischen, dessen Entstehung sich leicht
aus dem Trieb erklären läſst, das Vorspiel des Leidens
Jesu am Kreuze, was dieser Kampf im Garten war, da-
durch zu vervollständigen, daſs nicht bloſs das psychische
Moment jenes Leidens in der Bekümmerniſs, sondern auch
das physische in dem Blutschweiſs sollte vorgebildet ge-
wesen sein.
Dieser Eigenthümlichkeit des Lukas gegenüber ist sei-
nen beiden Vorgängern, wie gesagt, die doppelte Dreizahl,
der Jünger, und der Entfernungen und Gebete Jesu, eigen.
Können wir hier an der ersteren keinen besondern An-
stoſs nehmen, so hat doch die zweite etwas Befremden-
des. Man hat zwar ein so unstetes Hinundhergehen, ein
so schnell wechselndes Sichentfernen und Wiederkommen,
ganz der Stimmung angemessen gefunden, in welcher Je-
sus damals war 29), und ebenso in der Wiederholung des
Gebets eine sachgemäſse Steigerung, eine immer vollstän-
digere Ergebung in den Willen des Vaters nachgewie-
sen 30). Allein daſs die beiden Referenten die Gänge Je-
su zählen, von ἐκ δευτέρου und ἐκ τρίτου sprechen, zeigt
schon, daſs ihnen gerade an der Dreizahl besonders viel
gelegen war; wenn dann Matthäus zwar dem zweiten Ge-
bet einen von dem des ersten etwas verschiedenen Aus-
druck zu geben weiſs, beim dritten aber Jesum nur τὸν
αὐτὸν λόγον wiederholen läſst, was Markus schon bei'm
zweiten Male thut: so wird vollends deutlich, daſs sie in
Verlegenheit waren, die beliebte Dreizahl der Gebete mit
gehörigem Inhalt auszufüllen. Nach Olshausen soll Mat-
thäus mit seinen drei Akten dieses Kampfs schon deſshalb
gegen Lukas recht haben, weil diese drei auf Jesum mit-
[454]Dritter Abschnitt.
telst der Furcht gemachten Angriffe den drei Angriffen
mittelst der Lust in der Versuchungsgeschichte parallel
stehen. Diese Parallele ist gegründet, nur führt sie auf das
entgegengesezte Resultat von demjenigen, welches Olshau-
sen aus ihr ziehen will. Denn was ist nun wahrscheinli-
cher: daſs in beiden Fällen die dreimalige Wiederholung
des Angriffs ihren objektiven Grund in einer verborgenen
Gesezmäſsigkeit des Geisterreichs gehabt habe 31), mithin
als wirklich historisch anzusehen sei; oder daſs ihr bloſs
subjektiver Grund in der Manier der Sage liege, und dem-
nach das Vorkommen dieser Zahl uns hier so sicher wie
oben bei der Versuchungsgeschichte auf etwas Mythisches
hinweise?
Rechnen wir also Engel, Blutschweiſs, und die drei-
malige Wiederholung der Entfernung und des Gebets Jesu
als mythische Zuthaten ab: so bliebe vorläufig als histori-
scher Kern das Faktum, daſs Jesus an jenem Abend im
Garten in ein heftiges Zagen hineingerathen sei, und Gott
um Abwendung seines Leidens. mit Vorbehalt jedoch der
Unterwerfung unter seinen Willen, gebeten habe: wobei
es indeſs unter Voraussetzung der gewöhnlichen Ansicht
vom Verhältniſs unserer Evangelien nicht wenig befremden
muſs, daſs dem johanneischen Evangelium selbst diese Grund-
züge der in Rede stehenden Geschichte fehlen.
§. 122.
Verhältniss des vierten Evangeliums zu den Vorgängen in Geth-
semane. Die johanneischen Abschiedsreden und die Scene
bei Anmeldung der Hellenen.
Das Verhalten des Johannes zu den bisher erwogenen
Erzählungen der Synoptiker hat zunächst die zwei Seiten,
daſs er erstlich von dem, was diese geben, nichts hat, und
[455]Drittes Kapitel. §. 122.
zweitens statt dessen etwas hat, was mit dem von den Syn-
optikern Erzählten unvereinbar scheint.
Was die erste, negative, Seite betrifft, so ist bei der
gewöhnlichen Voraussetzung über den Verfasser des vier-
ten Evangeliums und die Richtigkeit des synoptischen Be-
richtes zu erklären, wie es kommt, daſs Johannes, der
doch den beiden ersten Evangelien zufolge einer der drei
gewesen ist, welche Jesus als die näheren Zeugen seines
Kampfes mit sich nahm, den ganzen Vorgang mit Still-
schweigen übergeht? Auf seine Schläfrigkeit während des-
selben darf man sich nicht berufen, da, wenn diese ein
Hinderniſs war, sämmtliche Evangelisten, nicht Johannes
allein, von der Sache schweigen müſsten. Daher zieht man
auch hier das Vulgäre heran, er übergehe die Scene, weil
er sie schon bei den Synoptikern sorgfältig genug darge-
stellt gefunden habe 1). Allein zwischen den beiden ersten
Synoptikern und dem dritten findet ja eine so bedeutende
Differenz statt, daſs sie den Johannes, wenn er auf ihre
Darstellungen Rücksicht nahm, auf's Dringendste auffordern
muſste, in diesem Streit ein vermittelndes Wort zu spre-
chen. Wenn aber auch nicht aus den vor ihm liegenden
Arbeiten seiner Vorgänger, so soll Johannes doch haben
voraussetzen können, daſs aus der evangelischen Tradition
jene Geschichte seinen Lesern hinlänglich bekannt sein wer-
de 2). Doch, da aus dieser Tradition die so sehr abwei-
chenden Darstellungen der Synoptiker hervorgegangen sind,
so muſs in ihr selbst schon frühzeitig ein Schwanken ge-
wesen, und die Sache bald so bald anders erzählt worden,
folglich auch von hier aus an den Verfasser des vierten
Evangeliums die Aufforderung ergangen sein, diese schwan-
kenden Erzählungen durch seine Auctorität zu berichtigen.
Daher hat man neuestens auf etwas ganz Besonderes ge-
[456]Dritter Abschnitt.
rathen, daſs nämlich Johannes die Vorgänge in Gethsema-
ne deſswegen übergehe, um nicht durch Erwähnung des
stärkenden Engels der ebionitischen Meinung Vorschub zu
thun, das Höhere in Christo sei ein Engel gewesen, der
sich mit ihm bei der Taufe verbunden habe, und damals,
vor dem Antritt des Leidens, wie man glauben konnte,
wieder von ihm geschieden sei 3). Allein, auch abgesehen
davon, daſs wir diese Hypothese schon sonst als unzurei-
chend gefunden haben, die Auslassungen im johanneischen
Evangelium zu erklären, so muſste Johannes, wenn er ei-
ne engere Beziehung Jesu auf Engel vermeiden wollte,
auch noch andere Stellen aus seinem Evangelium weglas-
sen: vor allen, worauf Lücke aufmerksam macht 4), 1, 52.
den Ausspruch von den über ihm auf- und absteigenden
Engeln, dann aber auch das, zwar nur als Vermuthung
etlicher Umstehenden gegebene, ἄγγελος αὐτῷ λελάληκεν
12, 29. Nahm er aber aus irgend einem Grunde an dem
Engel im Garten ganz besondern Anstoſs: so konnte doch
hierin nur ein Grund liegen, mit Matthäus und Markus
die Dazwischenkunft des Engels, nicht aber die ganze, von
der Angelophanie wohl trennbare Geschichte wegzulassen.
Will sich nun schon das Fehlen der Begebenheit bei
Johannes nicht erklären lassen: so wächst die Schwierig-
keit, wenn wir dasjenige erwägen, was derselbe statt die-
ser Scene im Garten über die Stimmung Jesu in den lez-
ten Stunden vor seiner Gefangennehmung mittheilt. Näm-
lich an der gleichen Stelle zwar, welche die Synoptiker
dem Seelenkampf anweisen, hat Johannes nichts, indem er
nach Jesu Ankunft im Garten sogleich die Verhaftung er-
folgen läſst: aber unmittelbar vorher, bei und nach dem
lezten Mahl, hat er Reden, von einer Stimmung beseelt,
auf welche dergleichen Scenen, wie sie laut der synopti-
[457]Drittes Kapitel. §. 122.
schen Berichte im Garten vorgegangen sein sollen, nicht
wohl gefolgt sein können. In den Abschiedsreden bei Jo-
hannes nämlich, Kap. 14—17, spricht Jesus ganz wie ei-
ner, der das bevorstehende Leiden innerlich schon völlig
überwunden hat; von einem Standpunkt, welchem der Tod
in den Strahlen der auf ihn folgenden Herrlichkeit ver-
schwimmt; mit einer göttlichen Ruhe, die in der Gewiſs-
heit ihrer Unerschütterlichkeit heiter ist: wie konnte ihm
unmittelbar darauf diese Ruhe in der heftigsten Gemüths-
bewegung, diese Heiterkeit in Todesbetrübniſs untergehen,
und er aus dem schon gewonnenen Sieg wieder zum schwan-
kenden Kampf, in welchem er der Stärkung durch einen En-
gel bedurfte, zurücksinken? In jenen Abschiedsreden ist
er es durchaus, welcher aus der Fülle seiner inneren Klar-
heit und Sicherheit die zagenden Freunde beruhigt: und
nun soll er bei den schlaftrunkenen Schülern geistigen Bei-
stand gesucht haben, indem er sie mit ihm zu wachen bat;
dort ist er der heilsamen Wirkungen seines bevorstehenden
Todes so gewiſs, daſs er die Jünger versichert, es sei gut,
daſs er hingehe, sonst käme der παράκλητος nicht zu ih-
nen: nun soll er hier wieder gezweifelt haben, ob sein
Tod auch wirklich des Vaters Wille sei; dort zeigt er
ein Bewuſstsein, welches in der Nothwendigkeit des To-
des dadurch, daſs es diese begreift, die Freiheit wieder-
findet, so daſs sein Sterbenwollen mit dem göttlichen Wil-
len, daſs er sterben solle, eins ist: hier gehen diese bei-
den Willen so auseinander, daſs sich der subjektive unter
den absoluten zwar freiwillig, aber doch nur schmerzhaft,
beugt. Und diese beiden so entgegengesetzten Stimmungen
sind nicht etwa durch eine zwischeneingetretene schrecken-
de Begebenheit, sondern nur durch den geringen Zeitraum
getrennt, welcher während des Gangs aus Jerusalem über
den Kidron nach dem Oelberg verlief: ganz als wäre Je-
su in jenem Bache, wie den Seelen im Lethe, alle Erinnerung
an die vorangegangenen Reden und Stimmungen versunken.
[458]Dritter Abschnitt.
Man beruft sich zwar auf den Wechsel der Stimmun-
gen, welcher natürlich, je näher dem entscheidenden Mo-
ment, desto schneller werde 5); auf die Thatsache, daſs
nicht selten im Leben gläubiger Personen eine plözliche
Entziehung der höheren Lebenskräfte, eine Gottverlassen-
heit, eintrete, welche den doch erfolgenden Sieg erst wahr-
haft groſs und bewundernswerth mache 6). Allein diese
leztere Ansicht verräth ihren ungeistigen Ursprung aus ei-
nem imaginirenden Denken (welchem die Seele etwa wie
ein See erscheinen kann, der, je nachdem die zuführen-
den Kanäle verschlossen, oder deren Schleusen geöffnet
werden, ebbt oder fluthet) sogleich durch die Widersprü-
che, in welche sie nach allen Seiten sich verwickelt. Der
Sieg Christi über die Todesfurcht soll erst dadurch seine
rechte Bedeutung gewinnen, daſs, während ein Sokrates
nur siegen konnte, indem er im vollen Besiz seiner gei-
stigen Kraftfülle blieb, Christus über die ganze Macht
der Finsterniſs auch in der Verlassenheit von Gott und
der Fülle seines Geistes, durch seine bloſse menschliche
ψυχὴ, zu siegen im Stande war —: ist dieſs nicht der
roheste Pelagianismus, der grellste Widerspruch gegen
Kirchenlehre wie gegen gesunde Philosophie, welche glei-
cherweise darauf bestehen, daſs ohne Gott der Mensch
nichts Gutes thun, nur durch seinen Harnisch die Pfeile
des Bösewichts zurückschlagen könne? Um diesem Wi-
derspruch gegen die Ergebnisse eines wirklichen Denkens
zu entgehen, muſs jenes phantasirende Denken einen Wi-
derspruch mit sich selbst hinzufügen, sofern nun in dem
stärkenden Engel (welcher beiläufig auch gegen allen Wort-
verstand der Stelle zu einer bloſs innerlichen Erscheinung,
die Jesus hatte, umgedeutet wird) dem in der höchsten
Verlassenheit ringenden Jesu ein Zufluſs geistiger Kräfte
[459]Drittes Kapitel. §. 122.
zu Theil geworden sein soll, so daſs er also doch nicht,
wie vorher gerühmt worden war, ohne, sondern mit Hül-
fe göttlicher Kräfte gesiegt hätte: wenn nämlich nach Lu-
kas der Engel vor dem lezten, heftigsten Momente des
Kampfs, um Jesum für denselben zu stärken, erschienen
sein soll. Doch ehe man so offenbar sich selbst wider-
spricht, widerspricht man lieber versteckt dem Text, und
so verdreht nun Olshausen die Stellung der Momente, in-
dem er ohne Weiteres annimmt, die Stärkung sei nach
dem dreimaligen Gebete, also nach bereits errungenem Sie-
ge, eingetreten, zu welchem Behuf dann das nach Erwäh-
nung des Engels stehende καὶ γενόμενος ἐν ἀγωνίᾳ ἐκτενέςε-
ρον προσηύχετο mit höchster Willkühr als Plusquamper-
fectum gedeutet wird.
Doch auch abgesehen von dieser sinnlichen Ausmalung
des Grundes, welcher den schnellen Wechsel in Jesu Stim-
mung herbeigeführt haben soll, ist die Annahme eines solchen
auch an sich von vielen Schwierigkeiten gedrückt. Näher
nämlich wäre, was hier bei Jesu stattfände nicht ein blo-
ser Wechsel, sondern ein Rückfall der bedenklichsten Art.
Namentlich in dem sogenannten hohenpriesterlichen Gebete,
Joh. 17, hatte Jesus seine Rechnung mit dem Vater völlig
abgeschlossen; jedes Zagen in Bezug auf das, was ihm be-
vorstand, lag hier bereits so weit hinter ihm, daſs er über
sein eigenes Leiden kein Wort verlor, und nur der Drang-
sale gedachte, welche seinen Freunden drohten; den Haupt-
inhalt seiner Unterhaltung mit dem Vater bildete die Herr-
lichkeit, in welche er sofort einzugehen, und die Selig-
keit, welche er den Seinigen erworben zu haben hoffte:
so daſs sein Hingang zum Schauplaz der Gefangennehmung
ganz den Charakter hat, dem innerlich und wesentlich be-
reits Vollzogenen nur noch die äussere Verwirklichung als
accidentelle Beigabe hinzuzufügen. Wenn nun Jesus nach
diesem Abschlusse die Rechnung mit Gott noch einmal er-
öffnete, wenn er, nachdem er sich schon Sieger gemeint,
[460]Dritter Abschnitt.
noch einmal in ängstlichen Kampf zurücksank: müſste er
da nicht sich fragen lassen: warum hast du, statt in eiteln
Hoffnungen der Herrlichkeit zu schwelgen, dich nicht lie-
ber bei Zeit mit dem ernsten Gedanken des bevorstehenden
Leidens beschäftigt, um dir durch solche Vorbereitung die
gefährliche Überraschung durch das Herannahen desselben
zu ersparen? warum hast du Triumph gerufen, ehe du
gekämpft hattest, um dann bei Annäherung des Kampfs
mit Beschämung um Hülfe rufen zu müssen? In der That,
nach der in jenen Abschiedsreden, und besonders im Schluſs-
gebet, ausgesprochenen Gewiſsheit des bereits errungenen
Siegs wäre das Herabsinken in eine Stimmung, wie sie die
Synoptiker schildern, ein sehr demüthigender Rückfall ge-
wesen, welchen Jesus nicht vorausgesehen haben könnte,
sonst würde er sich vorher nicht so selbstgewiſs ausgespro-
chen haben, welcher demnach beweisen würde, daſs er
sich über sich selbst getäuscht, daſs er sich für stärker
genommen hätte, als er sich wirklich fand, und daſs er
jene zu hohe Meinung von sich nicht ohne einige Vermes-
senheit ausgesprochen hätte. Wer nun dieſs dem sonstigen,
ebenso besonnenen als bescheidenen Wesen Jesu nicht an-
gemessen findet, der wird sich zu dem Dilemma gedrun-
gen fühlen, daſs entweder die johanneischen Abschiedsre-
den, und namentlich das Schluſsgebet, oder aber die Vor-
gänge in Gethsemane nicht historisch sein können.
Schade, daſs bei der Entscheidung hierüber die Theo-
logen mehr von dogmatischen Vorurtheilen, als von kriti-
schen Gründen ausgegangen sind. Usteri's Behauptung we-
nigstens, daſs nur die johanneische Darstellung der Stim-
mung Jesu in seinen lezten Stunden die richtige, die der
Synoptiker aber unhistorisch sei 7), wird man nur aus der
Anhänglichkeit ihres Urhebers an die Paragraphen der
[461]Drittes Kapitel. §. 122.
Schleiermacher'schen Dogmatik erklärlich finden, in wel-
cher der Begriff der Unsündlichkeit Christi auf eine Weise
gespannt wird, die selbst das Kleinste von Kampf aus-
schlieſst; denn daſs, abgesehen von solchen Voraussetzun-
gen, die johanneische Darstellung der lezten Stunden Jesu
eine natürlichere und sachgemäſsere wäre, möchte schwer
nachzuweisen sein. Eher könnte umgekehrt Bretschneider
recht zu haben scheinen, wenn er für die Synoptiker die
gröſsere Natürlichkeit und innere Wahrheit der Schilde-
rung in Anspruch nimmt 8): wenn nur nicht die Art, wie
ihm an den von Johannes in diesen Zeitpunkt gestellten
Reden hauptsächlich das Dogmatische und Metaphysische
zuwider ist, an den Ursprung seiner ganzen Polemik ge-
gen den Johannes aus dem Widerwillen seiner kritischen
Reflexionsphilosophie gegen den speculativen Gehalt des
vierten Evangeliums erinnerte.
Ganz übrigens hat, wie auch die Probabilien bemer-
ken, Johannes die Beängstigung Jesu in Bezug auf seinen
bevorstehenden Tod nicht übergangen, nur daſs er sie
schon an einer früheren Stelle, Joh. 12, 27 ff., eingefügt
hat. Bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse (da die
von Johannes beschriebene Scene unmittelbar nach dem
Einzug Jesu in Jerusalem vorgeht, als ihn mitten unter
der Menge einige zum Fest gekommene Hellenen, ohne
Zweifel Proselyten des Thors, zu sprechen wünschten) und
des Hergangs selbst, findet doch zwischen diesem Vorfall
und dem, welchen die Synoptiker in den lezten Abend des
Lebens Jesu und in die Einsamkeit des Gartens versetzen,
eine auffallende Übereinstimmung statt. Wie Jesus hier
seinen Jüngern erklärt:
περίλυπός ἐςιν ἡ ψυχή μου ἕως ϑα-
[462]Dritter Abschnitt.
νάτου(Matth. 26, 38.): so sagt er dort: νῦν ἡ ψυχή μου τε-
τάρακται
(Joh. 12, 27.); wie er hier betet,
ἵνα, εἰ δυνα-
τόν ἐςι, παρέλϑῃ ἀπ̕ αὐτοῦ ἡ ὥρα
(Marc. 14, 35.): so bit-
tet er dort: ‘πάτερ, σῶσόν με ἐκ τῆς ὥρας ταύτης’ (Joh.
ebds.); wie er aber hier sich durch die Restriktion:
ἀλλ̕
ουτί ἐγὼ ϑέλω, ἀλλὰ τί σύ
, beruhigt (Marc. 14, 36.): so
dort durch die Reflexion:
ἀλλὰ διὰ τοῦτο ἦλϑον εἰς τὴν ὥραν
ταύτην
(Joh. ebendas.); endlich, wie hier ein
ἄγγελος ἐνι-
σχύων
Jesu erscheint (Luc. 22, 43.): so ereignet sich auch
dort etwas, das einige der Umstehenden zu der Äusserung
veranlaſst: ‘ἄγγελος αὐτῷ λελάληκεν’ (Joh. V. 29.). Durch
diese Ähnlichkeit bewogen, haben neuere Theologen den
Vorgang Joh. 12, 27 ff. mit dem in Gethsemane für iden-
tisch erklärt; wobei es nur darauf ankam, auf welche von
beiden Seiten der Vorwurf ungenauer Erzählung und na-
mentlich unrichtiger Stellung fallen sollte.
Der Richtung der neueren Evangelienkritik gemäſs ist
zunächst den Synoptikern aufgebürdet worden, in dieser
Sache sich geirrt zu haben. Die wahre Veranlassung des
Seelenkampfs Jesu sollte nur bei Johannes zu finden sein,
in der Annäherung jener Hellenen nämlich, welche ihm
durch Philippus und Andreas den Wunsch zu erkennen
gaben, ihn zu sehen. Diese haben ihm ohne Zweifel An-
träge machen wollen, Palästina zu verlassen, und unter
den auswärtigen Juden fortzuwirken; ein solcher Antrag
habe einen Reiz für ihn enthalten, sich der drohenden Ge-
fahr zu entziehen, und dieſs ihn auf einige Augenblicke
in einen Zustand von Zweifel und innerem Kampf gesezt,
welcher jedoch damit geendigt habe, daſs er die Hellenen
nicht vor sich lieſs 9). Das heiſst nun nichts Anderes, als
mit einem, durch doppeltes, kritisches wie dogmatisches
[463]Drittes Kapitel. §. 122.
Vorurtheil geschärften Gesicht zwischen den Zeilen des
Textes gelesen; denn von einem solchen Antrag, den die
Hellenen beabsichtigt hätten, ist bei Johannes keine Spur:
da es doch, gesezt auch, der Evangelist habe von dem
Plan der Hellenen durch diese selber nichts gewuſst, den
Reden Jesu anzumerken sein müſste, daſs sich seine Ge-
müthsbewegung auf einen solchen Antrag bezog. Nach dem
Zusammenhang der johanneischen Darstellung hatte das Be-
gehren der Hellenen keinen andern Grund, als daſs sie
durch den feierlichen Einzug und das viele Reden der Leute
von Jesu begierig geworden waren, den gefeierten Mann
zu sehen und kennen zu lernen, und die Gemüthsbewe-
gung, in welche Jesus bei diesem Anlaſs hineingerieth,
hieng mit ihrem Begehren nur so zusammen, daſs Jesus
dadurch veranlaſst wurde, an die baldige Verbreitung sei-
nes Reichs in der Heidenwelt, und an die unerläſsliche
Bedingung von dieser, an seinen Tod, zu denken. Je ver-
mittelter und entfernter aber hienach die Vorstellung sei-
nes bevorstehenden Todes Jesu vor die Seele trat: desto
weniger ist zu begreifen, wie sie ihn so stark erschüttern
konnte, daſs er sich gedrungen fühlte, den Vater um Ret-
tung aus dieser Stunde anzuflehen, und wenn er einmal
im Vorgefühl des Todes im Innersten erbebt haben soll, so
scheinen die Synoptiker dieses Zagen an eine richtigere
Stelle, in die unmittelbarste Nähe des beginnenden Lei-
dens, zu verlegen. Auch das fällt bei der johanneischen
Darstellung weg, was die Synoptiker zur Rechtfertigung
der Bangigkeit Jesu an die Hand geben, daſs in der Ein-
samkeit des Gartens und der Nacht, deren Schauer ihn
überfielen, sich eine solche Gemüthsbewegung eher begrei-
fen, und ihre unverholene Äusserung im Kreise von lauter
Vertrauten und Würdigen sich wohl rechtfertigen zu las-
sen scheint. Denn nach Johannes befiel jene Erschütterung
Jesum am hellen Tage, mitten unter dem zuströmenden
Volke, wo man sonst leichter die Fassung behält, oder vor
[464]Dritter Abschnitt.
welchem man doch, des möglichen Miſsverständnisses we-
gen, stärkere Gemüthsbewegungen in sich verschlieſst.
Weit eher wird man daher der Ansicht Theile's zustim-
men können, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums
die von den Synoptikern richtig eingefügte Begebenheit an
einen falschen Ort gestellt habe 10). Da Jesus zur Einlei-
tung einer Antwort an die Hellenen, welche den durch
den Einzug Verherrlichten sprechen wollten, gesagt hatte:
ja, die Stunde meiner Verherrlichung ist da, aber der Ver-
herrlichung durch den Tod (12, 23. f.): so habe dieſs den
Erzähler verleitet, statt die wirkliche Antwort Jesu an die
Hellenen sammt dem weiteren Verfolg anzugeben, vielmehr
Jesum sich ausführlich über die innere Nothwendigkeit sei-
nes Todes verbreiten zu lassen, wo er dann fast unbewuſst
auch die Schilderung des inneren Kampfs, den Jesus rück-
sichtlich seiner freiwilligen Aufopferung zu bestehen hatte,
eingeflochten habe, welchen er deſswegen später, an sei-
ner eigentlichen Stelle, übergehe. Eigen ist hiebei nur,
daſs Theile der Meinung ist, eine solche Umstellung habe
dem Apostel Johannes selbst begegnen können. Daſs sich
ihm der Vorgang in Gethsemane, da er während desselben
schlaftrunken gewesen, nicht tief eingeprägt habe, und
daſs derselbe überdem durch den schnell darauf erfolgten
Kreuzestod in den Hintergrund seines Bewuſstseins gerückt
worden sei, dadurch könnte man etwa erklärt finden,
wenn er ihn ganz übergangen, oder nur summarisch dar-
gestellt hätte, keineswegs aber, daſs er ihn an unrechter
Stelle eingefügt hat. So viel muſste er doch, wenn er un-
erachtet seiner damaligen Schläfrigkeit von dem Vorgang
Notiz genommen hatte, behalten, daſs jene eigenthümliche
Stimmung Jesum hart vor dem Anfang seines Leidens, und
in Nacht und Einsamkeit befallen habe: wie konnte er je-
[465]Drittes Kapitel. §. 122.
mals seine Erinnerung so weit verleugnen, daſs er die Sce-
ne in weit früherer Zeit, am hellen Tag und unter vielem
Volke vorgehen lieſs? Um nicht auf diese Weise die Ächt-
heit des johanneischen Evangeliums zu gefährden, bleiben
Andere dabei, mit Berufung darauf, daſs eine solche Stim-
mung im lezten Abschnitte des Lebens Jesu mehrmals ha-
be vorkommen können, die Identität der beiden Scenen
zu leugnen 11).
Allerdings finden zwischen der synoptischen Darstel-
lung des Seelenkampfs Jesu und der johanneischen, auch
ausser der verschiedenen äusseren Stellung, im Inhalt bei-
der Vorgänge noch bedeutende Differenzen statt, indem
namentlich die johanneische Erzählung Züge enthält, wel-
che in den Berichten der drei ersten Evangelisten über
den Vorfall in Gethsemane keine Analogie finden. Wenn
nämlich zwar das Flehen des johanneischen Jesus um Ret-
tung aus dieser Stunde bei den Synoptikern vollkommen
anklingt: so fehlt es doch für die bei Johannes hinzuge-
fügte Bitte: πάτερ, δόξασόν σου τὸ ὄνομα (12, 28.), an ei-
ner Parallele; ferner, wenn zwar in beiden Darstellungen
von einem Engel die Rede ist, so ist doch von einer Him-
melsstimme, welche im vierten Evangelium die Meinung,
es sei ein Engel im Spiel gewesen, veranlaſst, bei den Syn-
optikern keine Spur. Sondern solche Himmelsstimmen fin-
den wir in diesen Evangelien nur bei der Taufe und wie-
der in der Verklärungsgeschichte, an welche leztere auch
die Bitte des johanneischen Jesus: πάτερ, δόξασόν σουτὸ
ὄνομα, erinnern kann. In der synoptischen Beschreibung
der Verklärung zwar findet sich der Ausdruck: δόξα und
δοξάζειν nicht, dagegen läſst der zweite Brief Petri Jesu
bei der Verklärung τιμὴν καὶ δόξαν zu Theil werden, und
die Himmelsstimme aus der μεγαλοπρεπὴς δόξα erschallen
(1, 17 f.). So bietet sich denn zu den beiden bisdaher be-
Das Leben Jesu II. Band. 30
[466]Dritter Abschnitt.
trachteten Erzählungen noch eine dritte als Parallele dar,
indem die Scene Joh. 12, 27 ff., wie einerseits durch die
Bekümmerniſs und den Engel mit dem Vorgang in Geth-
semane, so andrerseits durch die Bitte um Verklärung und
die gewährende Himmelsstimme mit der Verklärungsge-
schichte zusammenhängt. Und nun sind zwei Fälle mög-
lich: entweder ist die johanneische Erzählung die einfa-
che Wurzel, aus welcher auf traditionellem Wege durch
Scheidung der in ihr enthaltenen Elemente die beiden syn-
optischen Anekdoten von der Verklärung und dem Seelen-
kampf hervorgewachsen sind: oder sind diese lezteren die
ursprünglichen Gestaltungen, aus deren Auflösung und Ver-
schwemmung in der Sage die johanneische Erzählung als
gemischtes Produkt zusammengeflossen ist; worüber nur
die Beschaffenheit der drei Anekdoten entscheiden kann.
Daſs nun die synoptischen Erzählungen von der Verklä-
rung und dem Seelenkampf klare Gemälde mit bestimmt
ausgebildeten Zügen sind, kann für sich nichts beweisen,
da, wie wir zur Genüge gefunden haben, eine aus sagen-
haftem Boden erwachsene Erzählung ebensogut, als eine rein
historische, jene Eigenschaften besitzen kann. Wäre also
die johanneische Darstellung jenes Auftritts nur minder
klar und bestimmt gehalten, so könnte sie deſswegen doch
für den ursprünglichen, einfachen Bericht gehalten wer-
den, aus welchem sich durch die ausschmückende und ma-
lende Arbeit der Überlieferung jene farbigeren Gebilde
herausentwickelt hätten. Nun aber fehlt es der johannei-
schen Erzählung nicht bloſs an Bestimmtheit, sondern an
Übereinstimmung mit den umgebenden Verhältnissen und
mit sich selbst. Wo Jesu Antwort auf das Gesuch der
Hellenen bleibt, und wo diese selber hinkommen, weiſs
Niemand; die plözliche Beklemmung Jesu und die Bitte
um eine Ehrenerklärung von Seiten Gottes sind nicht ge-
hörig motivirt. Ein solches Gemisch unzusammengehöri-
ger Theile ist aber immer das Kennzeichen eines secundä-
[467]Drittes Kapitel. §. 122.
ren Produkts, eines zusammengeschwemmten Conglomerats:
und so scheint denn der Schluſs gerechtfertigt, daſs in der
johanneischen Erzählung die beiden synoptischen Anekdo-
ten von der Verklärung und vom Seelenkampf zusammen-
geflossen seien. Hatte dem Verfasser des vierten Evange-
liums die Sage, wie es scheint, schon ziemlich verwa-
schen und nur in unbestimmten Umrissen, von jenen bei-
den Vorfällen Kunde zugeführt: so konnten ihm leicht,
wie sein Begriff von δοξάξειν diese Zweiseitigkeit von Lei-
den und Herrlichkeit hat, beide sich vermengen; was er
in der Erzählung des Seelenkampfs von einer Anrede Jesu
an den Vater vernommen hatte, konnte er mit der göttli-
chen Stimme aus der Verklärungsgeschichte als Antwort
darauf verbinden; dieser Stimme, deren näherer Inhalt,
wie die Synoptiker ihn geben, ihm nicht berichtet war,
gab er aus der allgemeinen Vorstellung von dieser Begeben-
heit, als einer Jesu zu Theil gewordenen δόξα, den In-
halt: καὶ ἐδόξασα, καὶ πάλιν δοξάσω, und um auf diese
göttliche Erwiederung zu passen, muſste der Anrede Jesu
ausser der Bitte um Rettung noch die um Verklärung hin-
zugefügt werden; der stärkende Engel, von welchem der
vierte Evangelist vielleicht auch etwas vernommen hatte,
wurde als Ansicht der Leute von dem Ursprung der Him-
melsstimme mit aufgenommen; in Betreff des Zeitpunkts
wurde zwischen dem der Verklärung und dem des Seelen-
kampfs die ungefähre Mitte gehalten, wobei die Wahl der
Verhältnisse aus Unkenntniſs der ursprünglichen übel ausfiel.
Sehen wir von hier auf die Frage zurück, von wel-
cher wir ausgegangen sind, ob wir eher die johanneischen
Abschiedsreden Jesu als historisch festhalten, und dagegen
die synoptische Darstellung der Scene in Gethsemane auf-
geben wollen, oder umgekehrt: so werden wir vermöge
des Ergebnisses unsrer eben geführten Untersuchung zu
der lezteren Annahme geneigter sein. Die Schwierigkeit,
welche schon darin liegt, daſs man kaum begreift, wie
30 *
[468]Dritter Abschnitt.
Johannes diese langen Reden Jesu genau behalten konnte,
hat Paulus durch die Vermuthung zu lösen geglaubt, daſs
der Apostel wohl schon am nächsten Sabbat, während Je-
sus im Grabe lag, die Gespräche des vorigen Abends sich
in die Erinnerung zurückgerufen, und sie vielleicht auch
niedergeschrieben habe 12). Allein in jener Zeit der Nie-
dergeschlagenheit, welche auch Johannes theilte, wäre er
wohl nicht im Stande gewesen, diese Reden wiederzuge-
ben, ohne ihr eigenthümliches Colorit der ruhigsten Heiter-
keit zu verwischen; sondern, wie der Wolfenbüttler sagt,
wenn die Evangelisten in den paar Tagen nach Jesu Tode
die Erzählung von seinen Reden und Thaten hätten zu Pa-
pier bringen sollen, so würden, da sie selber keine Hoff-
nung mehr hatten, auch alle verheiſsenden Reden aus ih-
ren Evangelien weggeblieben sein 13). Daher hat auch Lü-
cke, in Betracht der eigenthümlich johanneischen Ausdrucks-
weise, welche sich namentlich in dem Schluſsgebet findet,
die Behauptung, daſs Jesus mit denselben Worten gespro-
chen habe, welche ihm Johannes in den Mund legt, oder
die Behauptung der Authentie dieser Reden im engsten
Sinn, aufgegeben, aber nur um ihre Authentie im weiteren
Sinn, die Ächtheit des Gedankeninhalts, desto fester zu
halten 14). Doch auch gegen diesen hat der Verfasser der
Probabilien seinen Angriff gewendet, indem er namentlich
in Bezug auf Kap. 17. fragt, ob es denkbar sei, daſs Je-
sus in der Erwartung des gewaltsamsten Todes nichts An-
gelegeneres zu thun gehabt habe, als mit Gott von seiner
Person, seinen bisherigen Leistungen, und der zu erwarten-
den Herrlichkeit sich zu unterhalten? und ob es deſswe-
gen nicht vielmehr alle Wahrscheinlichkeit habe, daſs die-
ses Gebet nur aus dem Sinne des Schriftstellers geflos-
[469]Drittes Kapitel. §. 122.
sen sei, welcher durch dasselbe theils seine Lehre von Je-
sus als dem fleischgewordenen λόγος bestätigen, theils das
Ansehen der Apostel befestigen wollte 15)? In dieser Aus-
stellung liegt das Richtige, daſs das fragliche Schluſsgebet
nicht als ein unmittelbarer Erguſs, sondern als Produkt
der Reflexion, eher als eine Rede über Jesum, denn als
eine Rede von ihm erscheint. Überall zeigt sich in dem-
selben das Denken eines solchen, der schon weit vorwärts
im Erfolge steht, und deſswegen die Gestalt Jesu bereits
in fernem, verklärendem Duft erblickt, ein Zauber, wel-
chen er dadurch vermehrt, daſs er seine, auf der Höhe
einer fortgeschrittenen Entwicklung der christlichen Ge-
meinde entsprungenen Gedanken von dem Gründer dersel-
ben schon vor ihrer eigentlichen Entstehung ausgesprochen
sein läſst. Aber auch in den vorhergehenden Abschiedsre-
den erscheint Manches aus dem Erfolg heraus gesprochen.
Der ganze Ton derselben erklärt sich doch am natürlich-
sten, wenn die Reden Werk eines solchen sind, welchem
der Tod Jesu bereits ein Vergangenes war, dessen Schreck-
lichkeit in den segensreichen Folgen und der andächtigen
Betrachtungsweise der Gemeinde sich gelind aufgelöst hat-
te. Im Einzelnen ist, abgesehen von dem über die Wieder-
kunft Gesagten, auch diejenige Wendung der christlichen
Sache, welche man als Sendung des heiligen Geistes zu
bezeichnen pflegt, in den Äusserungen über den Paraklet
und dessen über die Welt zu haltendes Gericht (14, 16 ff.
25 f. 15, 26. 16, 7 ff. 13 ff.) mit einer Bestimmtheit voraus-
gesagt, welche auf die Zeit nach dem Erfolge hinzuwei-
sen scheint.
Indem aber auch von dem nächstbevorstehenden Er-
folge, dem Leiden und Tod Jesu, das bestimmte Voraus-
wissen in diesen Abschiedsreden liegt (13, 18 ff. 33. 38.
14, 30 f. 16, 5 ff. 16. 32 f.), tritt die johanneische Darstel-
[470]Dritter Abschnitt.
lung mit der synoptischen auf Einen Boden, da auch die-
se auf der Voraussetzung der genauesten Voraussicht der
Stunde und des Augenblicks, wann das Leiden eintreten
werde, ruht. Nicht allein bei'm lezten Mahle und bei'm
Hinausgehen an den Ölberg zeigte sich dieses Vorherwis-
sen nach den drei ersten Evangelien, indem, wie im vier-
ten, dem Petrus eine Verleugnung, ehe der Hahn krähen
werde, vorhergesagt wird; nicht nur beruht der ganze
Seelenkampf im Garten auf der Voraussicht des in den
nächsten Augenblicken bevorstehenden Leidens: sondern
am Ende dieses Kampfes weiſs Jesus sogar auf die Minu-
te hin zu sagen, daſs jezt der Verräther heranrücke (Matth.
26, 45 f.). Zwar behauptet Paulus, Jesus habe die Trup-
pe der Häscher von ferne schon aus der Stadt heranrücken
sehen, was allerdings, da sie Fackeln hatten, von einem
Garten am Ölberg aus vielleicht möglich war; allein ohne
vorher von den Planen seiner Feinde unterrichtet zu sein,
konnte Jesus nicht wissen, daſs es auf ihn abgesehen sei,
und jedenfalls berichten es die Evangelisten als Probe des
übernatürlichen Wissens Jesu. Vom höheren Princip in
ihm kann nun aber, wenn dem Obigen zufolge nicht das
Vorherwissen der Katastrophe überhaupt und ihrer einzel-
nen Momente, dann auch nicht das ihres Zeitpunkts, aus-
gegangen sein; daſs ihm aber auf natürlichem Wege, durch
geheime Freunde im Synedrium, oder wie sonst, die Kun-
de von dem vernichtenden Schlage zugekommen wäre, wel-
chen die jüdischen Herrscher mit Hülfe eines seiner Jün-
ger in der nächsten Nacht gegen ihn zu führen beabsichtig-
ten, davon haben wir keine Spur in unsern Berichten,
und sind also auch nicht befugt, dergleichen etwas voraus-
zusetzen. Sondern so, wie es uns die Referenten als Be-
weis seines höheren Wissens geben, müssen wir es ent-
weder hinnehmen, oder, wenn wir dieſs nicht können, so
folgt vorerst nur das Negative, daſs sie uns hier mit Un-
recht eine solche Probe erzählen, woran dann zunächst
[471]Drittes Kapitel. §. 122.
nicht das Positive grenzt, daſs jenes Wissen wohl nur ein
natürliches gewesen, sondern das, daſs die evangelischen
Erzähler ein Interesse gehabt haben müssen, eine überna-
türliche Kunde Jesu von seinem bevorstehenden Leiden zu
behaupten, ein Interesse, welches schon oben auseinander-
gesezt worden ist.
Was nun aber der Grund war, das Vorherwissen zu
einem wirklichen Vorgefühl zu steigern, und so die Scene
in Gethsemane auszubilden, liegt gleichfalls nahe. Einer-
seits nämlich giebt es keine augenscheinlichere Probe, daſs
von einem Erfolg oder Zustand ein Vorherwissen stattge-
funden hat, als wenn es bis zur Lebendigkeit eines Vor-
gefühls gestiegen ist, andrerseits muſs das Leiden um so
furchtbarer erscheinen, wenn es schon im bloſsen Vorge-
fühl dem dazu Bestimmten Angst bis zum blutigen Schweiſs
und die Bitte um Enthebung auspreſst. Ferner zeigte sich
das Leiden Jesu in höherem Sinn als ein freiwilliges, wenn
er, ehe es äusserlich an ihn kam, sich innerlich in dassel-
be ergab; und endlich muſste es der urchristlichen An-
dacht erwünscht sein, den eigentlichen Kern dieses Lei-
dens den profanen Augen, welchen er am Kreuze ausge-
sezt war, zu entziehen, und als ein Mysterium in den engeren
Kreis einiger Geweihten zu verlegen. Zur Ausstattung
dieser [Scene] bot sich neben der Schilderung des Schmer-
zens und Gebets, welche sich von selbst ergab, theils das
von Jesu selber (Matth. 20, 22 f.) zur Bezeichnung seines
Leidens gebrauchte Bild eines ποτήριον, theils A. T. liche
Stellen in Klagepsalmen, 42, 6. 12. 43, 5., wo in der LXX.
die ψυχὴ περίλυπος vorkommt, wobei das ἕως ϑανάτου Jon.
4, 9. um so näher lag, da Jesus hier wirklich dem Tode
entgegengieng. Frühzeitig muſs diese Darstellung entstan-
den sein, weil sich schon im Hebräerbrief (5, 7.) eine An-
spielung, ohne Zweifel auf diese Scene, findet. — Es war al-
so zu wenig gesagt, wenn Gabler die Engelserscheinung
für mythis he Einkleidung der Thatsache erklärte, daſs
[472]Dritter Abschnitt.
Jesus sich im tiefsten Schmerze jener Nacht plözlich ge-
stärkt gefühlt habe: da vielmehr jener ganze Seelenkampf,
weil auf unerweislichen Voraussetzungen ruhend, aufge-
geben werden muſs.
Hiemit fällt das oben gestellte Dilemma weg, indem
wir nicht bloſs eine von beiden, sondern beide Darstellun-
gen der lezten Stunden Jesu vor seiner Gefangennehmung
als unhistorisch bezeichnen müssen. Nur so viel bleibt von
einem Unterschied des geschichtlichen Werths zwischen
der synoptischen Erzählung und der johanneischen, daſs,
während jene, so zu sagen, eine mythische Bildung erster
Potenz ist, diese die zweite Potenz traditioneller Gestal-
tung zeigt, — oder näher ist jene schon eine Bildung
zweiten, und somit diese des dritten Grades. Ist nämlich
die den Synoptikern und dem Johannes gemeinsame Dar-
stellung, daſs Jesus sein Leiden vorhergewuſst habe, die
erste Umgestaltung, welche die fromme Sage mit der wirk-
lichen Geschichte Jesu vornahm: so ist die Angabe der
Synoptiker, er habe sein Leiden sogar vorherempfunden,
die zweite Stufe des Mythischen; daſs er es aber, obwohl
er es vorhergewuſst, und auch früher einmal (Joh. 12,
27 ff.) vorhergeschmeckt, doch schon lange zum Voraus
völlig überwunden, und demselben, als es unmittelbar be-
vorstand, mit unerschütterter Ruhe in's Auge geblickt ha-
be, — diese Darstellung des johanneischen Evangeliums
ist die dritte und höchste Stufe andächtiger, aber unge-
schichtlicher, Verschönerung.
§. 123.
Gefangennehmung Jesu.
Genau zusammentreffend mit der Erklärung Jesu an
die schlafenden Jünger, daſs eben jezt der Verräther nache,
soll, während er noch redete, Judas mit einer bewaffneten
Macht herangerückt sein (Matth. 26, 47. parall. vol. Joh.
(S, 3.). Diese Schaar kam den Synoptikern zufolge von
[473]Drittes Kapitel. §. 123.
den Hohenpriestern und Ältesten, und war nach Lukas von
den ςρατηγοῖς τοῦ ἱεροῦ angeführt, also wahrscheinlich eine
Abtheilung Tempelsoldaten, an welche sich übrigens, aus
der Bezeichnung als ὄχλος und ihrer theilweisen Bewaff-
nung mit ξύλοις zu schlieſsen, noch anderes Gesindel
tumultuarisch angeschlossen zu haben scheint; der Darstel-
lung bei Johannes zufolge, welcher neben den ὑπηρέταις
τῶν ἀρχιερέων καὶ φαρισαίων von einer σπεῖρα und einem
χιλίαρχος, ohne Erwähnung tumultuarischer Bewaffnung,
spricht, scheint es, als hätten sich die jüdischen Obern
auch eine Abtheilung römischen Militärs zur Unterstützung
ausgebeten gehabt 1).
Während sofort nach den drei ersten Evangelisten Ju-
das vortritt und Jesum küſst, um ihn durch dieses verab-
redete Zeichen der anrückenden Schaar als denjenigen kennt-
lich zu machen, welchen sie zu greifen hätte: geht laut
des vierten Evangeliums umgekehrt Jesus ihnen, wie es
scheint, vor den Garten hinaus (ἐξελϑὼν), entgegen, und
bezeichnet sich selbst als denjenigen, welchen sie suchen.
Diese abweichenden Darstellungen zu vereinigen, haben
Einige den Hergang sich so gedacht, daſs, um eine Ver-
haftung seiner Jünger zu verhüten, Jesus gleich zuerst dem
Haufen entgegengegangen sei, und sich zu erkennen gege-
ben habe; hierauf erst sei Judas hervorgetreten, und habe
ihn durch den Kuſs bezeichnet 2). Allein, hatte sich Je-
sus bereits selbst zu erkennen gegeben, so konnte Judas
den Kuſs ersparen; denn daſs die Leute der Angabe Jesn,
er sei es, den sie suchen, nicht geglaubt, und noch auf
die Bekräftigung derselben durch den Kuſs des bestoche-
nen Jüngers gewartet haben, kann nicht gesagt werden,
wenn nach der Angabe des vierten Evangeliums jenes ἐγά
εἰμι so starken Eindruck auf sie machte, daſs sie zu Bo-
[474]Dritter Abschnitt.
den sanken. Deſswegen haben Andere die Ordnung der
Scenen in der Art umgekehrt, daſs zuerst Judas, voran-
tretend, Jesum durch den Kuſs bezeichnet, dann aber,
noch ehe der Haufe in den Garten eindringen konnte, Je-
sus zu ihnen hinaustretend sich zu erkennen gegeben ha-
be 3). Allein, wenn ihn Judas bereits durch den Kuſs be-
zeichnet, und er den Zweck des Kusses so gut verstanden
hatte, wie es sich in seiner Erwiederung auf denselben
Luc. V. 48. ausspricht: so brauchte er sich nicht noch be-
sonders zu erkennen zu geben, da er schon kenntlich ge-
macht war; es zum Schutze der Jünger zu thun, wer eben-
so überflüssig, da er an dem verrätherischen Kusse mer-
ken muſste, es sei darauf abgesehen, ihn aus seinem Ge-
folge herauszufangen; that er es bloſs um seinen Muth zu
zeigen, so war dieſs fast etwas schauspielerisch; überhaupt
aber kommt dadurch, daſs Jesus zwischen den Judaskuſs
und das gewiſs unmittelbar darauf erfolgte Eindringen der
Schaar hinein dieser noch mit Fragen und Anreden entge-
gengetreten sein soll, in sein Benehmen eine Hast und Eil-
fertigkeit, welche ihm unter diesen Umständen so übel an-
steht, daſs die Evangelisten schwerlich beabsichtigen, ihm
eine solche zuzuschreiben. Man sollte demnach anerken-
nen, daſs von den beiden Darstellungen keine darauf be-
rechnet ist, durch die andere ergänzt zu werden 4), indem
jede die Art, wie Jesus erkannt wurde, und wie Judas
dabei thätig war, auf andere Weise faſst. Daſs Judas
[475]Drittes Kapitel. §. 123.
ὁδηγὸς τοῖς συλλαβοῦσι τὸν Ἰησοῦν gewesen (A. G. 1, 16.),
darin stimmen alle Evangelien zusammen. Nun aber, wäh-
rend nach der synoptischen Darstellung zum Geschäft des
Judas ausser der Ortsbezeichnung auch noch die Bezeich-
nung der Person gehört, welche durch den Kuſs geschieht:
läſst Johannes die Thätigkeit des Verräthers mit der Be-
zeichnung des Orts ihr Ende erreichen, und ihn nach der
Ankunft an Ort und Stelle müſsig bei den Übrigen stehen
(εἱςήκει δὲ καὶ Ἰουδας — μετ̕ αὐτῶν. V. 5.). Warum die jo-
hanneische Darstellung dem Judas das Geschäft der per-
sönlichen Bezeichnung Jesu nicht ertheilt, ist leicht zu se-
hen: damit nämlich Jesus nicht als ein Überlieferter, son-
dern als ein sich selbst Überliefernder, somit sein Leiden
in höherem Grad als frei übernommenes erscheinen möchte.
Man darf sich nur erinnern, wie von jeher die Gegner des
Christenthums Jesu seinen Weggang aus der Stadt in den
abgelegenen Garten als schimpfliche Flucht vor seinen Fein-
den aufrechneten 5), um es begreiflich zu finden, daſs früh-
zeitig unter den Christen eine Neigung entstand, die Art,
wie er sich bei seiner Verhaftung benahm, noch in höhe-
rem Grade, als dieſs in der gewöhnlichen Evangelientradi-
tion der Fall war, im Lichte einer freiwilligen Hingabe er-
scheinen zu lassen.
Reiht sich nun bei den Synoptikern an den Judaskuſs
eine einschneidende Frage Jesu an den Verräther, so schlieſst
sich bei Johannes an das von Jesu gesprochene: ἐγώ εἰμι
die Erwähnung, daſs vor diesem Machtworte die zu seiner
Verhaftung gekommene Schaar zurückgewichen und zu Bo-
den gefallen sei, so daſs Jesus seine Erklärung wiederho-
len, und die Leute gleichsam ermuthigen muſste, ihn zu
greifen. Hierin will man neuerdings kein Wunder mehr
[476]Dritter Abschnitt.
erblicken, sondern psychologisch soll der Eindruck Jesu
auf diejenigen unter der Schaar, welche ihn schon sonst
öfters gesehen und gehört hatten, gewirkt haben; wobei
man sich auf die Beispiele aus dem Leben eines Marius,
eines Coligny u. A. beruft 6). Allein weder nach der syn-
optischen Darstellung, laut deren es der Bezeichnung Jesu
durch den Kuſs, noch auch nach der johanneischen, nach
welcher es der Erklärung Jesu, daſs er es sei, bedurfte,
war Jesus dem Haufen genauer, am wenigsten auf eine
tiefere Weise, bekannt; jene Beispiele aber beweisen nur,
daſs bisweilen der gewaltige Eindruck eines Mannes mör-
derische Hände Einzelner oder Weniger gelähmt hat, nicht
aber, daſs ein ganzes Detachement von Gerichtsdienern und
Soldaten nicht bloſs zurückgewichen, sondern zu Boden
gefallen wäre. Was soll es nützen, wenn Lücke zuerst
Einige, dann den ganzen Haufen, niederstürzen läſst, wo-
durch es vollends unmöglich wird, sich die Sache auf ernst-
hafte Weise vorzustellen? Wir kehren daher zu den Alten
zurück, welche hier allgemein ein Wunder anerkannten.
Der Christus, welcher durch ein Wort seines Mundes die
feindlichen Schaaren niederwirft, ist kein anderer, als der-
jenige, welcher nach 2. Thess. 2, S. den Antichrist ἀνα-
λώσει τῷ πνεύματι τοῦ ςόματος αὑτοῦ, d. h. aber nicht der
historische, sondern der Christus der jüdischen und ur-
christlichen Phantasie. Der Verfasser des vierten Evange-
liums insbesondere, der so oft bemerkt hatte, wie die Feinde
Jesu und ihre Schergen ausser Stands gewesen seien, Hand
an ihn zu legen, weil seine Stunde noch nicht gekommen
gewesen sei (7, 30. 32. 44 ff. S, 20.), war veranlaſst, nun,
als die Stunde erschienen war, den wirklich gemachten
Versuch zunächst noch einmal auf recht eklatante Weise
miſslingen zu lassen, zumal dieſs ganz mit dem Interesse
[477]Drittes Kapitel. §. 123.
zusammenstimmte, welches in der Beschreibung dieser gan-
zen Scene ihn beherrscht, die Verhaftung Jesu rein als
Akt seines freien Willens darzustellen. Indem Jesus die
Soldaten durch die Macht seines Wortes niederwirft, giebt
er ihnen eine Probe, was er vermöchte, wenn es ihm um
Befreiung zu thun wäre, und wenn er sich nun unmittel-
bar darauf greifen läſst, so erscheint dieſs als die freiwil-
ligste Hingabe. So giebt Jesus im vierten Evangelium eine
faktische Probe jener Macht, welche er im ersten nur mit
Worten ausdrückt, wenn er zu einem seiner Jünger sagt:
δοκεῖς, ὅτιουδύναμαι ἄρτι παρακαλέσαι τὸν πατέρα μου,
καὶ παραςήσει μοι πλείους ἢ δώδεκα λεγεῶνας ἀγγέλων (V. 53.);
Nachdem hierauf der Verfasser des vierten Evangeliums
einen früher richtig auf die geistige Bewahrung seiner Schü-
ler bezogenen Ausspruch Jesu (17, 12.), daſs er keinen der
ihm von Gott Anvertrauten verloren habe, sehr unrichtig
in der Sorgfalt erfüllt gefunden, welche Jesus angewen-
det habe, daſs seine Jünger nicht mit ihm verhaftet wür-
den, stimmen nun sämmtliche Evangelisten darin zusam-
men, daſs, als die Soldaten Hand an Jesum zu legen an-
fiengen, einer seiner Anhänger das Schwert gezogen, und
des Hohenpriesters Knecht ein Ohr abgehauen habe, was
von Jesu miſsbilligt worden sei. Doch haben Lukas und
Johannes jeder einen eigenthümlichen Zug. Abgesehen da-
von, daſs beide das von den Vormännern unbestimmt ge-
lassene Ohr als das rechte näher bestimmen, nennt der lez-
tere nicht bloſs den verwundeten Knecht mit Namen, son-
dern bemerkt auch, daſs der hauende Jünger Petrus ge-
wesen sei. Warum die Synoptiker den Petrus nicht nen-
nen, hat man auf verschiedene Weise zu erklären versucht.
Daſs sie den zur Zeit der Abfassung ihrer Evangelien noch
lebenden Apostel nicht durch Nennung seines Namens ha-
ben compromittiren wollen 7), gehört zu den mit Recht
[478]Dritter Abschnitt.
verschollenen Fiktionen einer falsch pragmatisirenden Exe-
gese; daſs sie aber auch sonst die Namen meistens über-
gehen 8), ist in dieser Allgemeinheit nicht einmal von Mat-
thäus wahr, welcher wohl unberühmte, gleichgültige Per-
sonen ungenannt läſst, wie einen Jairus, einen Bartimäus:
daſs aber aus einer Petrusanekdote, welche so sehr in die
Rolle dieses Apostels paſste, der wirkliche Matthäus, oder
auch nur die vulgäre Evangelientradition, so frühzeitig und
allgemein den Namen verloren haben sollte, wird man nicht
sehr glaublich finden. Weit eher könnte ich mir das Um-
gekehrte denkbar machen, daſs die Anekdote ursprünglich
ohne Namensangabe umgelaufen wäre (und warum sollte
nicht auch ein sonst minder ausgezeichneter unter den An-
hängern Jesu — denn nach den Synoptikern scheint es
nicht einmal nothwendig einer der Zwölfe gewesen sein
zu müssen — dessen Name daher eher zu vergessen war,
Muth und Übereilung genug gehabt haben, in jenem Zeit-
punkt das Schwert zu ziehen?), ein späterer Referent aber
eine solche Handlungsweise dem raschen Charakter des
Petrus besonders angemessen gefunden, und sie deſswegen
aus eigener Combination ihm zugeschrieben hätte. Dann
brauchen wir uns auch nicht für die Möglichkeit, daſs Jo-
hannes den Namen des Knechts wissen konnte, auf seine
Bekanntschaft im hohenpriesterlichen Hause zu berufen 9),
so wenig Markus, um zur Kenntniſs des Namens von je-
nem Blinden zu gelangen, einer besondern Bekanntschaft
in Jericho bedurfte.
Lukas hat bei dieser Schwertscene das Eigenthümli-
che, daſs nach ihm Jesus das Ohr des Knechts, wie es
scheint durch ein Wunder, wieder geheilt hat. Während
Olshausen die zufriedene Anmerkung macht, dieser Um-
stand erkläre am besten, wie Petrus sich unverlezt zu-
[479]Drittes Kapitel. §. 123.
rückziehen konnte — das Erstaunen über die Heilung wer-
de die allgemeine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen
haben: verfolgt Paulus selbst bis nach Gethsemane den
Herrn mit natürlicher Erklärung seiner Wunder. Jesus
soll das verwundete Ohr durch Befühlung (ἁψάμενος) un-
tersucht, und sofort angegeben haben, was zum Behuf der
Heilung zu thun sei (ἰάσατο αὐτόν): hätte er ihn durch
ein Wunder geheilt, so müſste doch auch ein Erstaunen
der Anwese den gemeldet sein. Solche Quälerei ist dieſs-
mal besonders unnöthig, da das Alleinstehen des Lukas
mit dem fraglichen Zug und der ganze Zusammenhang
der Scene uns deutlich genug sagt, was wir von der Sache
zu halten haben. Jesus, der so vieles Leiden, an welchem
er unschuldig war, durch seine Wunderkraft gehoben hat-
te, der sollte ein Leiden, welches einer von seinen Jüngern
aus Anhänglichkeit an ihn, also mittelbar er selbst, verur-
sacht hatte, ungeheilt gelassen haben? Dieſs muſste man
bald undenkbar finden, und so dem Schwertstreich des
Petrus eine Wunderheilung von Seiten Jesu — die lezte
in der evangelischen Geschichte — sich anschlieſsen.
Hieher, unmittelbar vor seine Abführung, stellen die
Synoptiker den Vorwurf, welchen Jesus den zu seiner
Gefangennehmung Gekommenen machte, daſs sie ihn, der
ihnen durch sein tägliches öffentliches Auftreten im Tem-
pel die beste Gelegenheit gegeben habe, sich seiner auf die
einfachste Weise zu bemächtigen, — ein schlimmes An-
zeichen für die Reinheit ihrer Sache — mit so vielen Um-
ständen, wie einen Räuber hier aussen aufsuchen. Das vier-
te Evangelium läſst ihn etwas Ähnliches später zu Annas
sagen, dessen Erkundigung nach seinen Schülern und sei-
ner Lehre er auf die Öffentlichkeit seines ganzen Wirkens, auf
sein Lehren in Tempel und Synagoge, verweist (18, 20 f.).
Wie wenn er von Beidem vernommen hätte, sowohl daſs
Jesus so etwas dem Hohenpriester, als daſs er es bei sei-
ner Gefangennehmung gesagt habe, läſst Lukas die Ho-
[480]Dritter Abschnitt.
henpriester und Ältesten selbst bei der Verhaftung gegen-
wärtig sein, und Jesum hier auf jene Weise zu ihnen
sprechen, was gewiſs nur Irrthum ist 10).
Nach den zwei ersten Evangelisten fliehen nun alle
Jünger, wobei Markus den speciellen Zug hat, daſs ein
Jüngling, der eine Leinwand um den bloſsen Leib ge-
worfen hatte, als man ihn greifen wollte, mit Zurück-
lassung der Leinwand nackt davongeflohen sei. Abge-
sehen von den müssigen Vermuthungen älterer und selbst
neuerer Erklärer, wer dieser Jüngling gewesen sein mö-
ge, hat man mit Unrecht aus dieser Notiz auf nahe Gleich-
zeitigkeit des Markusevangeliums geschlossen, weil eine sol-
che kleine, namenlose Anekdote nur in der Nähe der Per-
sonen und Begebenheiten habe interessiren können 11): da
doch dieser Zug selbst uns, in der weitesten Zeitferne,
noch eine lebendige Anschauung von dem panischen Schre-
eken und der schnellen Flucht der Anhänger Jesu giebt,
und also dem Markus, woher er ihn auch bekommen, und
wie spät auch geschrieben haben mag, willkommen sein
muſste.
§. 124.
Jesu Verhör vor dem Hohenpriester.
Von dem Orte der Gefangennehmung lassen die Syn-
optiker Jesum zum Hohenpriester, dessen Namen, Kaiphas,
jedoch hier nur Matthäus nennt, Johannes aber zu Annas,
dem Schwiegervater des damaligen Hohenpriesters, und
von diesem erst zu Kaiphas, geführt werden (Matth. 26,
57 ff. parall. Joh. 18, 12 ff.). Und zwar wird, wie es
scheint, von dem Verhör bei Kaiphas, welches den Syn-
optikern zufolge das Entscheidende war, im vierten Evan-
gelium nichts erzählt, nur aus der Verhandlung vor Annas
[481]Drittes Kapitel. §. 124.
wird einiges Nähere mitgetheilt. Nichts lag daher der Har-
monistik näher, als die Annahme, wie sie sich z. B. schon
bei Euthymius findet, Johannes habe vermöge seines Er-
gänzungszwecks das von den Synoptikern übergangene Ver-
hör vor Annas nachgeholt, das vor Kaiphas aber, weil es
von seinen Vorgängern ausführlich genug beschrieben war,
übergangen 1). Diese Ansicht, daſs Johannes und die Syn-
optiker von ganz verschiedenen Verhören reden, wird auch
dadurch bestätigt, daſs der Inhalt des Verhörs auf beiden
Seiten ein ganz verschiedener ist. Während nämlich bei
dem, welches die Synoptiker beschreiben, nach Matthäus
und Markus zuerst die falschen Zeugen gegen Jesum auf-
treten, hierauf der Hohepriester ihn fragt, ob er sich wirk-
lich für den Messias ausgebe, und auf die Bejahung da-
von ihn der Blasphemie und des Todes schuldig erklärt,
woran sich Miſshandlungen schlieſsen: so wird in dem von
Johannes geschilderten Verhör Jesus nur nach seinen Jün-
gern und nach seiner Lehre gefragt, worauf er sich auf
die Öffentlichkeit seines Wirkens beruft, und nachdem er
hierüber von einem Diener miſshandelt worden war, ohne
daſs ein Urtheil gefällt wäre, weiter geschickt.
Doch, wenn gleich der eigentliche, Jesum betreffende
Inhalt der beiden Verhöre ein verschiedener ist, scheint
die Identität einer nebenherspielenden Begebenheit sie wie-
der zu identificiren, indem sowohl Johannes als die Syn-
optiker, jeder Theil während des von ihm beschriebenen
Verhörs, Jesum von Petrus verleugnet werden läſst. Um
dem Widerspruch zu entgehen, daſs die Verleugnung des
Petrus nach den drei ersten Evangelien während des Ver-
hörs vor Kaiphas, nach dem vierten bei Annas vorgefal-
len sein müſste, hat man in der Darstellung des lezteren
Evangeliums Spuren zu entdecken gewuſst, welche darauf
zu deuten schienen, daſs auch sein Bericht von einem Ver-
Das Leben Jesu II. Band. 31
[482]Dritter Abschnitt.
hör bei Kaiphas zu verstehen sei. Gleich von Anfang näm-
lich, nachdem von Annas, als dem πενϑερὸς τοῦ Καΐάφα,
die Rede gewesen, fand man es sonderbar, daſs nun eine
nähere Bezeichnung des lezteren, als Urhebers von jenem
verhängniſsvollen Rath, Joh. 11, 50, folge, wenn doch so-
fort nicht ein von ihm, sondern von dem ersteren vorge-
nommenes Verhör erzählt werden sollte. Dann sei auch
in der Beschreibung des Verhörs selbst durchaus vom Pa-
laste und von Fragen τοῦ ἀρχιερέως die Rede, wie doch
Johannes sonst nirgends den Annas, sondern nur den Kai-
phas nenne. Daſs aber auf diese Weise schon von V. 15.
an von etwas bei Kaiphas Vorgegangenem die Rede sein
sollte, scheint wegen V. 24. unmöglich, weil es hier erst
heiſst, Annas habe Jesum zu Kaiphas geschickt, so daſs er
also bis dahin bei Annas gewesen sein muſs. Schnell be-
sonnen sezte man daher den 24ten Vers dahin, wo man ihn
brauchte, nämlich hinter V. 13, und schob die Schuld,
daſs er jezt weit später gelesen wird, auf die Nachläs-
sigkeit der Abschreiber 2). Da diese Umstellung, in ihrer
Verlassenheit von kritischen Auctoritäten, als die willkühr-
lichste Gewalthülfe erscheinen muſste, so hat man sofort
versucht, ob sich nicht der Notiz V. 24, ohne sie wirk-
lich aus ihrem Orte zu rücken, doch eine solche Deutung
geben lieſse, daſs sie dem Sinne nach hinter V. 13. zu ste-
hen käme, d. h. man nahm das ἀπέςειλεν als Plusquamper-
fekt, und stellte sich vor, Johannes wolle hier nachholen,
was er bei V. 13. zu bemerken vergessen, daſs nämlich
Annas Jesum alsbald zu Kaiphas geschickt habe, folglich
das beschriebene Verhör von diesem vorgenommen worden
sei 3). Hiebei muſs man die allgemeine Möglichkeit einer
solchen enallage temporum zugeben, aber ebenso muſs
darauf beharrt werden, daſs dieselbe nicht ohne Andeu-
[483]Drittes Kapitel. §. 124.
tung im Zusammenhang sein darf. So, wenn hier etwa
V. 23. auf Einmal Kaiphas als gegenwärtig genannt wäre,
und nun V. 24. folgte: ἀπέςειλε γὰρ κ. τ. λ., so stände
einer solchen Auffassung nichts im Wege: nun aber ist
sie durch nichts der Art unterstüzt. Überhaupt, wie Ols-
hausen richtig bemerkt, wer sich dem Eindruck der jo-
hanneischen Erzählung allein überlieſse, würde nie auf eine
andere Ansicht kommen können, als daſs sie ein Verhör
vor Annas geben wolle; nur die Vergleichung der Synop-
tiker kann auf eine andere Deutung führen: zu einem so
schlechten Schriftsteller aber wird man doch den Johannes
nicht machen wollen, daſs er durch seine Darstellung un-
vermeidliche Miſsverständnisse veranlaſst haben sollte, die
nur durch Zuhülfenehmen anderer Berichterstatter über
denselben Gegenstand zu lösen wären.
Es bleibt also dabei: Johannes erzählt ein anderes
Verhör als die Synoptiker, jener eines vor Annas, diese
eines vor Kaiphas. Ἀρχιερεὺς konnte er den gewesenen
Hohenpriester, der zugleich der Schwiegervater des regie-
renden war, so gut nennen als Lukas, 3, 2; die ausführ-
liche Bezeichnung des Kaiphas aber konnte bei dessen erst-
maliger Wiedererwähnung nach dem berühmten Rathschlag
passend scheinen, auch wenn unmittelbar darauf nicht et-
was bei ihm Vorgefallenes zu berichten war. Warum man
Jesum zuerst zu Annas führte, läſst sich aus dem Einfluſs
erklären, welchen dieser Mann, auch laut A. G. 4, 6, nach
seinem Rücktritt von der hohenpriesterlichen Stelle noch im-
mer ausgeübt zu haben scheint. Daſs nun aber der vierte
Evangelist von dem Verhör vor Kaiphas nichts Näheres
angiebt, ist um so auffallender, da in dem vor Annas, nach
seiner eigenen Darstellung, nichts entschieden worden ist,
mithin die Gründe und der Akt der Verurtheilung Jesu
durch das jüdische Gericht in seinem Evangelium durchaus
fehlen. Dieſs aus dem Ergänzungszweck erklären, heiſst
dem Johannes ein gar zu verkehrtes Verfahren zur Last
31 *
[484]Dritter Abschnitt.
legen, da, wenn er das übergieng, was die Andern schon
hatten, ohne anzudeuten, daſs er es nur deſswegen weg-
lieſs, er berechnen konnte, dadurch nur Verwirrung, und
gegen sich den Schein eines falschen Berichts, zuwege zu
bringen. Die Meinung, daſs das Verhör vor Annas das
Hauptverhör gewesen sei, und deſswegen das andre über-
gangen werden dürfe, kann er auch nicht wohl gehabt
haben, da er keinen Beschluſs, der in jenem gefaſst wor-
den wäre, anzugeben weiſs; wuſste er aber endlich das
Verhör vor Kaiphas als das Hauptverhör, und gab doch
keine nähere Auskunft darüber, so ist freilich auch dieſs
kein geschicktes Verfahren zu nennen.
In der Darstellung des Verhörs bei Kaiphas finden
zwischen den beiden ersten Synoptikern und dem dritten
mehrfache Abweichungen statt. Während nach jenen bei-
den, als man Jesum in den hohenpriesterlichen Palast brach-
te, die Schriftgelehrten und Ältesten bereits versammelt
waren, und nun noch in der Nacht über ihn Gericht hiel-
ten, wobei zuerst Zeugen auftraten, dann der Hoheprie-
ster ihm die entscheidende Frage vorlegte, auf deren
Beantwortung hin die Versammlung ihn des Todes schul-
dig erklärte: wird nach der Darstellung im dritten Evan-
gelium Jesus die Nacht über im Palast des Hohenpriesters
nur einstweilen verwahrt und von der Dienerschaft miſs-
handelt, bis erst mit Tagesanbruch das Synedrium sich ver-
sammelt, und nun, ohne daſs vorher Zeugen auftreten,
der Hohepriester durch jene entscheidende Frage die Ver-
urtheilung beschleunigt. Daſs nun die Mitglieder des ho-
hen Raths schon in der Nacht, während Judas mit der
Wache ausgerückt war, zur Empfangnahme Jesu sich ver-
sammelt haben, könnte man unwahrscheinlich finden, und
insofern die Darstellung des dritten Evangeliums vorziehen
wollen, welches sie erst bei Tagesanbruch zusammenkom-
men läſst 4): wenn sich Lukas nur nicht diesen Vortheil
[485]Drittes Kapitel. §. 124.
dadurch selbst wieder entzöge, daſs er die Hohenpriester
und Ältesten bei der Gefangennehmung im Garten zugegen
sein läſst, ein Eifer, der sie wohl auch getrieben haben
würde, sich alsbald zur schleunigen Beschluſsnahme zu-
sammenzuthun. Indeſs auch bei Matthäus und Markus ist
das wunderlich, daſs, nachdem sie uns das ganze Verhör
sammt der Beschluſsnahme erzählt haben, sie doch noch (27, 1.
und 15, 1.) sagen: πρωΐας δὲ γενομένης συμβουλιον ἐλαβον, so
daſs es scheint, die Synedristen haben, wenn nicht gar sich
am Morgen wieder versammelt, da sie doch die ganze
Nacht beisammen gewesen waren, doch jezt erst einen Be-
schluſs gegen Jesum gefaſst, der schon in der nächtlichen
Versammlung gefaſst worden war 5). Daſs Lukas die Ver-
handlung mit den ψευδομάρτυρες übergeht, erklärt Schleier-
macher aus dem Umstand, daſs der Verfasser dieses Stücks
im dritten Evangelium zwar vom Garten herein dem Zuge,
der Jesum geleitete, gefolgt, vom hohenpriesterlichen Pa-
last aber mit den meisten Übrigen ausgeschlossen worden
sei, mithin das in diesem Vorgefallene nur vom Hörensagen
erzähle. Allein ein so nahes Verhältniſs des Berichterstat-
ters in diesem Abschnitt des Lukasevangeliums zur Thatsa-
che kann, um aus dem Folgenden nichts zu anticipiren,
auch nur um des Einen Zugs willen von der Heilung des ver-
wundeten Knechts nicht angenommen werden. Sondern in
der Überlieferung, bis sie zu ihm gelangte, muſs jene
Notiz abhanden gekommen sein, von welcher schon oben
bei einer andern Gelegenheit hat gehandelt werden müssen 6).
Wie Jesus auf die Aussage der falschen Zeugen nichts
erwiederte, fragte ihn den beiden ersten Evangelisten zu-
folge der Hohepriester, im dritten Evangelium ohne jene
Veranlassung das Synedrium, ob er wirklich der Messias
(der Sohn Gottes) zu sein behaupte? was er nach jenen
[486]Dritter Abschnitt.
beiden ohne Weiteres durch σὺ εἰπας und ἐγ῎ εἰμι bejaht,
und hinzusezt, daſs sie von jezt an, oder demnächst (ἀπ̕
ἄρτι), des Menschen Sohn zur Rechten der göttlichen Macht
sitzen, und in den Wolken des Himmels kommen sehen
würden; nach Lukas hingegen erklärt er zuerst, daſs ihn
seine Antwort doch nichts nützen werde, fügt übrigens
hinzu, von jezt an werde des Menschen Sohn zur Rech-
ten der göttlichen Macht sitzen, worauf ihn Alle gespannt
fragen, ob er demnach der Sohn Gottes sei? was er be-
jaht. Hier spricht also Jesus die Erwartung aus, durch
seinen Tod nunmehr zu der Herrlichkeit des messianischen
Sitzens zur Rechten Gottes, nach Ps. 110, 1, den er schon
Matth. 22, 44. auf den Messias gedeutet hatte, einzugehen.
Wie lange er auch vielleicht seine messianische Verherrli-
chung sich ohne Vermittlung durch den Tod gedacht ha-
ben mag, weil eine solche Vermittlung in den Vorstel-
lungen der Zeit ihm nicht scheint an die Hand gegeben
gewesen zu sein: jezt, gefangen, von seinen Anhängern
verlassen, dem erbitterten Synedrium gegenüber, muſste
er einsehen, daſs, wenn er überhaupt noch die Überzeu-
gung von seiner Messianität festhalten wollte, er zu seiner
messianischen Verherrlichung nur durch den Tod eingehen
könne; so daſs vielleicht eben jene lezte Noth des gefan-
genen Jesus die Geburtsstunde der Idee eines sterbenden
Messias war. Wenn den zwei ersten Evangelisten zufolge
Jesus zu dem καϑήμενον ἐκ δεξιῶν τῆς δυνάμεως noch καὶ
ἐρχόμενον ἐπττῶν νεφελῶν τοῦουρανοῦ sezt, so sagt er, wie
schon früher, seine baldige Parusie, und zwar hier be-
stimmt als Wiederkunft, voraus. Nach Olshausen soll das
ἀπ̕ ἄρτι des Matthäus nur auf καϑήμενον κ. τ. λ. bezogen
werden, weil es zu ἐρχόμενον κ. τ. λ. nicht passen würde,
indem sich nicht denken lasse, wie Jesus sich damals schon
als demnächst Kommenden habe darstellen können: eine
lediglich dogmatische Bedenklichkeit, welche auf unsrem
Standpunkt nicht stattfindet, auf keinem aber die gramma-
[487]Drittes Kapitel. §. 124.
tische Auslegung so weit, wie hier bei Olshausen, verder-
ben sollte. Auf die gedachte Erklärung Jesu zerreiſst nach
Matthäus und Markus der Hohepriester seine Kleider, er-
klärt Jesum der Blasphemie für überwiesen, und die Ver-
sammlung erkennt ihn des Todes schuldig, wie auch nach
Lukas die Versammelten bemerken, nun brauche es kein
weiteres Zeugniſs mehr, da die verbrecherische Aussage
von Jesu selbst vor ihren Ohren gethan worden sei.
Hieran schlieſst sich dann bei den beiden ersten Evan-
gelisten die Miſshandlung Jesu, welche Lukas schon vor
das Verhör, Johannes in das Verhör des Annas verlegt, —
wahrscheinlicher, weil man nicht mehr genau wuſste, wo
diese Miſshandlungen vorgefallen waren, als weil sie zu
verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Verhältnis-
sen wiederholt worden wären. Die Verübung dieser Miſs-
handlungen wird bei Johannes und Lukas ausdrücklich
dort einem ὑπηρέτης, hier den ἄνδρες συνέχοντες τὸν Ἰ. zu-
geschrieben; dagegen müssen bei Markus, wenn er im
Folgenden die ὑπηρέτας von ihnen unterscheidet, die τινὲς
ἐμπτύοντες einige von den πάντες sein, welche ihn eben
vorher verurtheilt hatten, und auch bei Matthäus, der, oh-
ne ein neues Subjekt zu setzen, nur durch τότε ἤρξαντο
fortfährt, sind es offenbar die Synedristen selbst, welche
sich jene unwürdigen Handlungen erlauben, was Schleier-
macher mit Recht unwahrscheinlich gefunden, und insofern
die Darstellung des Lukas der des Matthäus vorgezogen
hat 7). Die Miſshandlung besteht bei Johannes in einem
Backenstreich (ῥάπισμα), welchen ein Diener, wegen einer
vermeintlich unbescheidenen Rede gegen den Hohenprie-
ster, Jesu giebt; bei Matthäus und Markus ist es Ver-
speiung des Angesichts (ἐνέπτυσαν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ),
Schläge auf den Kopf und Backenstreiche, wozu, auch
nach Lukas, das kam, daſs er bei verhülltem Haupt ge-
[488]Dritter Abschnitt.
schlagen und höhnend aufgefordert wurde, seinen messia-
nischen Seherblick durch Angabe des Thäters zu beurkun-
den 8). Nach Olshausen hat der Geist der Weissagung
es nicht unter seiner Würde gehalten, diese Rohheiten im
Einzelnen vorherzuverkündigen, und zugleich die Gemüths-
verfassung zu zeichnen, welche der Heilige Gottes der un-
heiligen Menge entgegenstellte. Richtig wird hiezu Jes.
50, 6 f. angeführt (LXX): τὸν νῶτόν μουδέδωκα εἰς μάςι-
γας, τὰς δὲ σιαγόνας μου εἰς ῥαπίσματα, τὸ δὲ πρόσωπόν
μουουκ ἀπέςρεψα ἀπὸ αἰσχύνης ἐμπτυσμάτων κ. τ. λ., vgl.
Mich. 4, 14, und für die Art, wie Jesus das Alles ertrug,
die bekannte Stelle Jes. 53, 7, wo vom Knecht Gottes das
Schweigen unter den Miſshandlungen hervorgehoben wird.
Allein, daſs Jes. 50, 4 ff. eine Weissagung auf den Mes-
sias sei, ist ebenso gegen den Zusammenhang des Abschnitts,
wie bei Jes. 53. 9): folglich müſste das Zusammentreffen des
Erfolgs mit diesen Stellen entweder menschlich beabsich-
tigt, oder rein zufällig gewesen sein. So wenig nun die
Diener und Soldaten bei ihren Miſshandlungen die Absicht
gehabt haben werden, Weissagungen an Jesu in Erfüllung
gehen zu lassen: so wenig wird man diesem selbst das
Affektirte zuschreiben wollen, aus dieser Absicht geschwie-
gen zu haben; aus dem bloſsen Zufall aber ein solches, aller-
dings, wie Olshausen sagt, in's Einzelne gehendes, Zusam-
mentreffen herzuleiten, ist immer miſslich. So wahrschein-
lich es also auch der rohen Sitte jener Zeit zufolge ist,
daſs der gefangene Jesus miſshandelt, und unter Andrem
auch so miſshandelt worden ist, wie die Evangelisten es
beschreiben: so läſst sich doch kaum verkennen, daſs ihre
Schilderungen nach Weissagungen gemacht sind, welche
man, da Jesus einmal als Leidender und Miſshandelter ge-
[489]Drittes Kapitel. §. 125.
geben war, auf ihn bezog; ebenso, wie angemessen es auch
dem Charakter Jesu ist, diese Miſshandlungen geduldig er-
tragen, und unbefugte Fragen mit edlem Schweigen zurück-
gewiesen zu haben: so hätten doch schwerlich die Evan-
gelisten dieſs so oft und angelegentlich hervorgehoben 10),
wenn es ihnen nicht darum zu thun gewesen wäre, da-
durch A. T.liche Orakel als erfüllt zu zeigen.
§. 125.
Die Verleugnung des Petrus.
Bei der Abführung Jesu aus dem Garten lassen die
zwei ersten Evangelisten im Augenblick zwar alle Jünger
die Flucht ergreifen, doch folgt auch bei ihnen, wie bei
den übrigen, Petrus von ferne, und weiſs sich mit dem
Zuge Eingang in den Hof des hohenpriesterlichen Palasts
zu verschaffen. Während den Synoptikern zufolge Petrus
allein es ist, der diese Probe von Muth und Anhänglichkeit
an Jesum, die ihm aber bald genug zur tiefsten Demüthi-
gung ausschlagen sollte, ablegt: gesellt ihm das vierte Evan-
gelium den Johannes bei, und zwar so, daſs es dieser ist,
welcher durch seine Bekanntschaft mit dem Hohenpriester
dem Petrus Zutritt zu dessen Palast verschafft — eine Ab-
weichung, die mit dem ganzen eigenthümlichen Verhältniſs,
in welches dieses Evangelium den Petrus zu Johannes sezt,
schon früher erwogen worden ist 1).
Sämmtlichen Evangelisten zufolge war es in dieser αὐλὴ,
daſs Petrus, eingeschüchtert durch die bedenkliche Wen-
[490]Dritter Abschnitt.
dung der Sache Jesu und die hohenpriesterliche Diener-
schaft, die ihn umgab, den entstandenen und wiederholt
geäusserten Verdacht, daſs er zu den Anhängern des ver-
hafteten Galiläers gehöre, durch wiederholte Versicherun-
gen, ihn nicht zu kennen, niederzuschlagen suchte. Doch,
wie bereits angedeutet, schon in Bezug auf den Inhaber
dieses Lokals findet eine Abweichung zwischen dem vier-
ten Evangelium und den übrigen statt, indem die Verleug-
nung nach diesen im Palast des regierenden Hohenpriesters,
Kaiphas, vorgeht, nach jenem im Palaste des Annas we-
nigstens begonnen, und wahrscheinlich auch fortgesezt wird.
Entschieden fällt bei Johannes die erste Verleugnung (18,
17.), wenn wir die im lezten §. beurtheilten Ausgleichungs-
versuche als abgethan betrachten, während des Verhörs
vor Annas, da sie nach der Notiz, daſs Jesus zu Annas
(V. 13.), und vor der, daſs er zu Kaiphas geführt worden
sei (V. 24.), steht; da nun aber die zwei weiteren Akte
der Verleugnung auf die Erwähnung der Abführung zu
Kaiphas erst folgen (V. 25—27.), und unmittelbar nach
ihnen die Ablieferung an den Pilatus erzählt wird (V. 28.):
so scheinen der zweite und dritte Verleugnungsakt auch
nach Johannes während des Verhörs vor Kaiphas, in des-
sen Palaste, vorgegangen zu sein. Allein diese Verschie-
denheit der Lokalität für die erste Verleugnung und die
beiden folgenden, welche ein theilweises Zusammentreffen
des vierten Evangeliums mit den übrigen wäre, hat in der
johanneischen Darstellung selbst ein Hinderniſs. Nachdem
die erste, schon an der Pforte des Palastes von Annas vor-
gefallene Verleugnung gemeldet ist, heiſst es, die Diener-
schaft habe sich der Kälte wegen ein Kohlenfeuer ange-
macht, ἠν δὲ καὶ μετ̕ αὐτῶν ὁ Πέτρος ἑςὼς καὶ ϑερμαινό-
μενος (V. 18.). Wenn nun später die Erzählung von der
zweiten und dritten Verleugnung fast mit den nämlichen
Worten: ἦν δὲ Σίμων Πέτρος ἑςὼς καὶ ϑερμαινόμενος (V. 25.)
sich eröffnet: so kann man nicht anders denken, als durch
[491]Drittes Kapitel. §. 125.
jene erste Erwähnung des Kohlenfeuers, und daſs Petrus
zu demselben getreten, solle der Umstand eingeleitet wer-
den, daſs die zweite und dritte Verleugnung an diesem
Feuer, also gleichfalls noch im Hause des Annas, vorge-
fallen sei. Zwar sprechen die Synoptiker (Marc. V. 54.
Luc. V. 55.) auch im Hofe des Kaiphas von einem Feuer,
an welchem Petrus (nur hier sitzend, wie bei Johannes
stehend) sich gewärmt habe: doch daraus folgt nicht, daſs
auch Johannes im Hofe des regierenden Hohenpriesters ein
ähnliches Feuer sich gedacht habe, wie er nur bei Annas
eines solchen gedenkt. Wer daher die Vermuthung des
Euthymius zu künstlich findet, daſs die Wohnungen des
Annas und Kaiphas vielleicht einen gemeinschaftlichen Hof-
raum gehabt, und folglich Petrus nach der Abführung Jesu
vom ersteren zum lezteren an demselben Feuer habe ste-
hen bleiben können, der nimmt lieber an, die zweite und
dritte Verleugnung sei dem Johannes zufolge nicht nach,
sondern eben während der Abführung Jesu von Annas zu
Kaiphas geschehen 2).
Bleibt somit die Differenz der Evangelien in Bezug auf
die Örtlichkeit der Verleugnung eine totale, so haben die
Einen zu Gunsten des Johannes sich dahin entschieden,
daſs die versprengten Jünger über diese Scenen nur frag-
mentarische Nachrichten gehabt, und der in Jerusalem nicht
einheimische Petrus selbst nicht gewuſst habe, in welchen
Palast er zu seinem Unglück hineingekommen war, son-
dern er, und nach ihm die ersten Evangelisten, haben ge-
meint, die Verleugnungen seien im Hofe des Kaiphas vor-
gefallen, was jedoch der in der Stadt und dem hohenprie-
sterlichen Palast bekanntere Johannes berichtige 3). Al-
lein auch das Unglaubliche zugegeben, daſs Petrus irrig
[492]Dritter Abschnitt.
gemeint haben sollte, im Palaste des Kaiphas geleugnet zu
haben, so hätte doch gewiſs Johannes, der in diesen Ta-
gen um den Petrus war, seine Aussage gleich damals be-
richtigt, so daſs jene irrige Meinung sich gar nicht hätte
fixiren können. Umgekehrt, den Synoptikern recht gege-
ben hat man aus Respect vor Johannes immer nur so, daſs
man durch eine jener Künsteleien diesen gütlich auf ihre
Seite zu ziehen, und auch das von ihm Berichtete als et-
was im Lokal des Kaiphas Vorgefallenes darzustellen suchte.
Statt dessen müſste aber vielmehr, wer den Synoptikern
recht geben wollte, den Johannes; des Irrthums beschuldi-
gen, wie, wer ihm beistimmt, die Synoptiker; ein Dilem-
ma, in welchem uns für die eine oder andere Seite zu ent-
scheiden, wir nicht die erforlichen Mittel haben.
In Bezug auf die einzelnen Akte der Verleugnung stim-
men sämmtliche Evangelisten darin zusammen, daſs es de-
ren, gemäſs der Vorhersage Jesu, drei gewesen seien; aber
in der Beschreibung derselben weichen sie von einander ab.
Zuerst Orte und Personen betreffend, geschieht nach Jo-
hannes die erste Verleugnung bereits bei'm Eintritt des Pe-
trus gegen eine παιδίσκη ϑυρωρός (V. 17.): bei den Syn-
optikern erst im innern Hofraum, wo Petrus am Feuer
saſs, gegen eine παιδίσκη (Matth. V. 69 f. parall.). Die
zweite geschieht nach Johannes (V. 25.) und auch nach
Lukas, der wenigstens keine Veränderung des Standpunkts
anmerkt (V. 58.), am Feuer: bei Matthäus (V. 71.) und
Markus (V. 68 ff.), nachdem Petrus in den vorderen Hof
(πυλων, προαύλιον) hinausgegangen war; ferner nach Jo-
hannes gegen mehrere, nach Lukas gegen Einen Mann;
nach Matthäus gegen eine andere, nach Markus gegen die-
selbe Magd, vor welcher er das erstemal geleugnet hatte.
Die dritte Verleugnung geschah nach Matthäus und Mar-
kus, die keine Ortsveränderung gegen die zweite bemer-
ken, gleichfalls im vorderen Hof: nach Lukas und Johan-
nes, sofern sie gleichfalls keines Lokalwechsels gedenken,
[493]Drittes Kapitel. §. 125.
ohne Zweifel noch im inneren, am Feuer; ferner nach
Matthäus und Markus gegen mehrere Umstehende: nach
Lukas gegen Einen: nach Johannes bestimmt gegen einen
Anverwandten des im Garten verwundeten Knechts. — Was
für's Andere die Reden betrifft, welche bei dieser Gele-
genheit gewechselt werden, so sind die Anreden der Leute
bald an Petrus selbst, bald an die Umstehenden gerichtet,
um sie auf ihn aufmerksam zu machen, und lauten die bei-
den ersten Male ziemlich gleich dahin, daſs auch er einer
von den Anhängern des eben Verhafteten zu sein scheine;
nur bei'm drittenmal, wo die Leute ihren Verdacht gegen
Petrus motiviren wollen, gebrauchen sie nach den Synop-
tikern als Beweisgrund seinen galiläischen Dialekt, bei Jo-
hannes beruft sich der Verwandte des Malchus darauf, ihn
im Garten bei Jesu gesehen zu haben; wo die erstere Mo-
tivirung ebenso natürlich, als die zweite, sammt der Be-
zeichnung dessen, der sie vorbrachte, als eines Verwand-
ten jenes Malchus, künstlich und gemacht klingt, um die
Beziehung jenes Schwertstreichs auf Petrus recht fest in
die Erzählung zu verweben. In den Antworten des Petrus
findet die Abweichung statt, daſs er nach Matthäus schon
die zweite, nach Markus erst die dritte, bei den beiden
andern gar keine seiner Verleugnungen durch einen Schwur
bekräftigt; bei Matthäus ist dann an der dritten Verleug-
nung die Steigerung dadurch hervorgebracht, daſs zu dem
ὀμνύειν noch das καταναϑεματίζειν gefügt ist, was den an-
dern gegenüber allerdings als übertreibende Darstellung
erscheinen kann.
Diese so verschieden erzählten Verleugnungen derge-
stalt ineinander einzuschieben, daſs kein Evangelist einer
unrichtigen, ja auch nur ungenauen Darstellung beschuldigt
werden müſste, war nun ganz ein Geschäft für die Harmo-
nisten. Nicht nur die älteren, supranaturalistischen Aus-
leger, wie Bengel, haben sich diesem Geschäft unterzo-
gen, sondern auch neuestens noch hat sich Paulus viele
[494]Dritter Abschnitt.
Mühe gegeben, die verschiedenen, von den Evangelisten
erzählten Verleugnungsakte in schickliche Ordnung und
pragmatischen Zusammenhang zu bringen. Nach ihm ver-
leugnet Petrus den Herrn
- 1) vor der Pförtnerin (1te Verleugnung bei Johannes);
- 2) vor mehreren am Feuer Stehenden (2te bei Joh.);
- 3) vor einer Magd am Feuer (1te bei den Synoptikern);
- 4) vor einem, der nicht näher bezeichnet wird (2te
bei Lukas); - 5) bei'm Hinausgehen in den vordern Hof vor einer
Magd (2te bei Matthäus und Markus. Aus dieser
Verleugnung müſste Paulus consequenterweise zwei
machen, da die Magd, welche die Umstehenden
auf den Petrus aufmerksam macht, nach Markus
dieselbe mit No. 3., nach Matthäus aber eine andere
war); - 6) vor dem Verwandten des Malchus (dritte bei Joh.);
- 7) vor einem, der ihn am galiläischen Dialekt erkennen
will (dritte bei Lukas), welchem sofort - 8) mehrere Andere beistimmen, gegen welche sich Pe-
trus noch stärker betheuert, Jesum nicht zu kennen
(dritte bei Matthäus und Markus).
Indeſs durch solche vom Respect vor der Glaubwür-
digkeit der Evangelisten eingegebene Auseinanderhaltung
ihrer Berichte kam man in Gefahr, die noch wichtigere
Glaubwürdigkeit Jesu anzutasten; denn dieser hatte von
dreimaligem Verlengnen gesprochen: nun aber soll Petrus,
je nachdem man mehr oder minder consequent im Ausein-
anderhalten ist, 6—9 mal verleugnet haben. Die ältere
Exegese half sich durch den Kanon: abnegatio ad plures
plurium interrogationes facta uno paroxysmo, pro una
numeratur4). Allein auch die Zulässigkeit einer solchen
Zählung eingeräumt, so müſsten, da jeder der vier Referen-
[495]Drittes Kapitel. §. 125.
ten zwischen den einzelnen von ihm berichteten Verleug-
nungen meistens gröſsere oder kleinere Zwischenzeiten be-
merklich macht, allemal gerade die von verschiedenen Evan-
gelisten erzählten, also eine von Matthäus berichtete mit
einer von Markus u. s. f., in Einem Zuge geschehen sein:
was eine durchaus willkührliche Voraussetzung ist. Daher
hat man sich neuerlich lieber darauf berufen, daſs das τρὶς
im Munde Jesu nur eine runde Zahl für ein wiederholtes
Verleugnen gewesen sei, und daſs Petrus, einmal in die
Verlegenheit vermeintlicher Nothlügen versunken, seine Be-
theurungen eher gegen 6—7, als bloſs gegen drei argwöh-
nisch Fragende wiederholt haben möge5). Allein, wenn
man auch nach Lukas (V. 59 f.) die Zeitdistanz von der
ersten Verleugnung bis zur lezten zu mehr als einer Stun-
de anschlägt, so ist doch ein solches Fragen aller Leute
an allen Enden und Ecken, und daſs bei diesem so allge-
meinen Verdacht Petrus doch frei ausgieng, höchst unwahr-
scheinlich, und wenn die Erklärer die Stimmung des Pe-
trus während dieser Scene als eine völlige Betäubung be-
schreiben 6), so geben sie hiemit vielmehr die Stimmung
an, in welche der Leser hineingeräth, der in ein solches
Gedränge von immer sich wiederholenden Fragen und Ant-
worten gleichen Inhalts, dem sinn- und endlosen Fort-
schlagen einer in Unordnung gekommenen Uhr vergleich-
bar, sich hineinversetzen soll. Mit Recht hat Olshausen
die Bemühung, dergleichen Differenzen wegzuschaffen, als
eine unbelohnende von der Hand gewiesen: doch sucht er
theils selbst unmittelbar darauf an einigen Punkten dieser
Erzählung die Abweichungen auf gezwungene Weise aus-
zugleichen, theils, wenn er darauf besteht, daſs gerade
drei Verleugnungen vorgefallen, so hat doch wieder Pau-
lus das Richtigere gesehen, wenn er das absichtliche Be-
[496]Dritter Abschnitt.
streben der Evangelisten bemerklich macht, eben eine drei-
fache Ableugnung herauszubringen. Dieses Streben haben
sie zunächst mit Rücksicht auf die Vorhersagung Jesu:
allein, daſs dieser gerade so bestimmt von drei Verleugnungs-
fällen gesprochen haben sollte, ist ebenso unwahrschein-
lich, als daſs er, wenn er den Ausdruck: τρὶς, gebrauchte,
dieſs bloſs sprüchwörtlich gemeint habe. Sondern beide
Dreizahlen sind wohl auch hier, wie sonst so oft, in der
Sage entstanden, so daſs, was an jenem Abend vielleicht
zu wiederholten Malen (nur nicht 8—9 mal) vorgekommen
war, auf dreimal fixirt, und demgemäſs auch Jesu eine
Vorherverkündigung eben dieser Zahl von Verleugnungen
in den Mund gelegt wurde.
Den Endpunkt und gleichsam die Katastrophe der
ganzen Verleugnungsgeschichte führt nach allen Berichten
der Vorhersagung Jesu gemäſs das Krähen des Hahns her-
bei. Nach Markus kräht derselbe schon nach der ersten
Verleugnung (V. 68.), und dann nach der dritten zum zwei-
tenmal: bei den übrigen nur Einmal, nach dem lezten Ver-
leugnungsakt. Während mit diesem Datum Johannes sei-
ne Darstellung beschlieſst, fügen Matthäus und Markus
noch hinzu, daſs Petrus bei dem Hahnenschrei sich der
Voraussagung Jesu erinnert und geweint habe; Lukas aber
hat die eigenthümliche Ausführung, daſs bei'm Krähen des
Hahns Jesus sich umgewendet, und den Petrus angesehen
habe, worauf dieser, der Voraussage Jesu eingedenk, in
bitteres Weinen ausgebrochen sei. Da nun aber nach den
beiden ersten Evangelisten Petrus nicht in demselben Lo-
kal mit Jesu, sondern ἔξω (Matth. V. 69.) oder κάτω (Marc.
V. 66.) ἐν τῇ αὐλῇ, also Jesus innen oder oben im Palast
war, so muſs man fragen, wie denn Jesus die Verleugnun-
gen des Petrus habe mit anhören, und hierauf ihn ansehen
können? Auf das Leztere bekommt man gewöhnlich die
Antwort, Jesus sei jezt eben aus dem Palast des Annas
in den des Kaiphas abgeführt worden, und habe im Vor-
[497]Drittes Kapitel. §. 125.
übergehen den schwachen Jünger bedeutend angesehen 7).
Allein von einem solchen Abführen weiſs Lukas nichts;
auch lautet sein ςραφεὶς ὁ Κύριος ἐνέβλεψε τῷ Πέτρῳ nicht
sowohl, wie wenn Jesus im Gehen, als wie wenn er,
abgewendet stehend, sich nach Petrus umgesehen hätte;
endlich aber ist durch jene Voraussetzung noch nicht er-
klärt, wie Jesus zur Kenntniſs von den Verleugnungen
des Jüngers gekommen war, da er bei dem Getümmel die-
ses Abends doch nicht wohl, wie Paulus meint, im Zim-
mer den auf dem Hof lautredenden Petrus hören konnte.
Freilich findet sich jene ausdrückliche Unterscheidung des
Ortes, wo Jesus, von dem wo Petrus war, bei Lukas
nicht, sondern nach ihm könnte auch Jesus einige Zeit im
Hof sich haben aufhalten müssen: allein theils ist hier die
Darstellung der andern an sich wahrscheinlicher, theils
macht auch die eigene Erzählung des Lukas von den Ver-
leugnungen von vorne herein nicht den Eindruck, als ob
Jesus in unmittelbarer Nähe gewesen wäre. Man hätte
sich übrigens die Hypothesen zur Erklärung jenes Blicks
ersparen können, wenn man auf den Ursprung dieses Zugs
einen kritischen Blick gerichtet hätte. Schon die Unklar-
heit, mit welcher der in der ganzen früheren Verhandlung
hinter die Scene gerückte Jesus hier auf einmal einen Blick
in dieselbe wirft, hätte, zusammengenommen mit dem Still-
schweigen der übrigen Evangelisten, ein Fingerzeig sein
sollen, wie es mit dieser Notiz steht. Dann, wenn hinzu-
gesezt wird, als Jesus den Petrus anblickte, habe sich die-
ser des Worts erinnert, welches Jesus früher über seine
bevorstehende Verleugnung zu ihm gesprochen hatte: so
hätte man bemerken können, wie der Blick Jesu nichts
Andres ist, als die zur äussern Anschauung gemachte Er-
innerung des Petrus an die Worte seines Meisters. Zeigt
die hierin einfachste johanneische Erzählung nur objektiv
Das Leben Jesu II. Band. 32
[498]Dritter Abschnitt.
das Eintreffen der Verheiſsung Jesu durch das Krähen des
Hahnes an; fügen die zwei ersten Evangelisten hiezu auch
den subjektiven Eindruck, welchen dieses Zusammentref-
fen auf den Petrus machte: so wendet Lukas dieſs wieder
objektiv, und läſst die schmerzhafte Erinnerung an die
Worte des Meisters als einen durchbohrenden Blick von
diesem in das Innere des Jüngers dringen.
§. 126.
Der Tod des Verräthers.
Auf die Nachricht, daſs Jesus zum Tode verurtheilt
sei, läſst das erste Evangelium (27, 3 ff.) den Judas, von
Reue ergriffen, zu den Hohenpriestern und Ältesten eilen,
um die 30 Silberlinge, mit der Erklärung, daſs er einen
Unschuldigen verrathen habe, ihnen zurückzugeben. Als
aber diese höhnisch alle Verantwortlichkeit für jene That
auf ihn allein schieben: geht Judas, nachdem er das Geld
im Tempel hingeworfen, von Verzweiflung getrieben, weg,
und erhängt sich. Die Synedristen hierauf kaufen um das
von Judas zurückgegebene Geld, welches sie als Blutgeld
nicht in den Tempelschaz legen zu dürfen glauben, einen
Töpfersacker, zum Begräbniſs für Fremde. Hiezu bemerkt
der Evangelist zweierlei: erstlich, daſs eben dieser Art der
Erwerbung wegen das Grundstück bis auf seine Zeit Blut-
acker genannt worden sei, und zweitens, daſs durch die-
sen Gang der Sache eine alte Weissagung sich erfüllt ha-
be. — Während die übrigen Evangelisten über das Ende
des Judas schweigen, finden wir dagegen in der Apostel-
geschichte (1, 16 ff.) einen Bericht über dasselbe, welcher
von dem des Matthäus in mehreren Stücken abweicht.
Petrus, wo er die Ergänzung der apostolischen Zwölfzahl
durch die Wahl eines neuen Mitgliedes in Antrag bringt,
findet angemessen, zuvor an die Art, wie die Lücke im
Apostelkreise entstanden war, d. h. an den Verrath und das
Ende des Judas, zu erinnern; und sagt in lezterer Bezie-
[499]Drittes Kapitel. §. 126.
hung, der Verräther habe für den Lohn seiner Schandthat
ein Grundstück sich erworben, sei aber jählings herabge-
stürzt, und mitten entzweigeborsten, so daſs alle Einge-
weide herausgetreten seien; das Grundstück aber habe
man, weil die Sache in ganz Jerusalem bekannt gewor-
den, ἀκελδαμὰ, d. h. Blutland, geheiſsen. Wozu dann der
Referent den Petrus bemerken läſst, daſs dadurch zwei
Psalmstellen in Erfüllung gegangen seien.
Zwischen diesen beiden Berichten findet eine doppelte
Abweichung statt: die eine über die Todesart des Judas,
die andere darüber, wann und von wem das Grundstück
erworben worden sei. Was das Erstere betrifft, so ist es
nach Matthäus Judas selbst, welcher aus Reue und Ver-
zweiflung Hand an sich legt: wogegen in der A. G. von
keiner Reue des Verräthers die Rede ist, und sein Tod
nicht als Selbstmord, sondern als zufälliger, oder näher
vom Himmel zur Strafe verhängter Unglücksfall erscheint;
ferner ist es bei Matthäus der Strick, durch welchen er
sich den Tod giebt: nach der Darstellung des Petrus ist
es ein Sturz, der durch ein gräſsliches Bersten des Lei-
bes seinem Leben ein Ende macht. Wie thätig von jeher
die Harmonisten gewesen sind, diese Abweichungen auszu-
gleichen, mag man bei Suicer1) und Kuinöl nachlesen:
hier sollen nur kurz die Hauptversuche aufgeführt wer-
den. Da die bezeichnete Abweichung ihren Hauptsiz in
den Worten ἀπήγξατο bei Matthäus, und πρηνὴς γενόμενος
bei Lukas hat: so lag es am nächsten, zuzusehen, ob nicht
der eine dieser Ausdrücke auf die Seite des andern zu
ziehen wäre. Dieſs hat man mit ἀπήγξατο auf verschie-
dene Weise versucht, indem dieses Wort bald nur die
Beängstigungen des bösen Gewissens 2), bald eine Krank-
32 *
[500]Dritter Abschnitt.
heit in Folge derselben 3), bald jeden aus Schwermuth und
Verzweiflung gewählten Tod bedeuten sollte 4), wozu dann
erst das πρηνὴς γενόμενος κ. τ. λ. der Apostelgeschichte das
Genauere nachbringe, daſs die Todesart, zu welcher den
Judas das böse Gewissen und die Verzweiflung trieb, der
Sturz von steiler Höhe herunter gewesen sei. Andere
haben umgekehrt das πρηνὴς γενόμενος dem ἀπήγξατο an-
zupassen gesucht, in der Art, daſs es nichts Anderes aus-
drücken sollte, als dasjenige als Zustand, was das ἀπήγξατο
als Handlung: wenn dieses durch se suspendit, so sollte
jenes durch suspensus übersezt werden 5). — Der offenba-
ren Gewaltsamkeit dieser Versuche gegenüber haben An-
dere mit Schonung der natürlichen Bedeutung der beider-
seitigen Ausdrücke die abweichenden Berichte durch die
Annahme vereinigt, daſs Matthäus einen früheren, die A. G.
einen späteren Moment in dem Hergang bei dem Ende des
Judas berichte. Und zwar hielten einige der älteren Er-
klärer beide Momente so weit auseinander, daſs sie in dem
ἀπήγξατο nur einen miſslungenen Versuch zum Selbstmord
sahen, welchen Judas, indem der Baumast, an den er
sich hängen wollte, sich bog, oder aus sonst einer Ursa-
che, überlebte, bis später die Strafe des Himmels durch
das πρηνὴς γενόμενος ihn ereilte 6). Allein, da Matthäus
sein ἀπήγξατο offenbar in der Meinung und Absicht sezt,
von dem Verräther das Lezte zu berichten: so hat man in
neuerer Zeit die beiden Momente, in deren Bericht sich
das erste Evangelium und die A. G. theilen sollen, näher
zusammengezogen, und angenommen, Judas habe sich auf
[501]Drittes Kapitel. §. 126.
einer Höhe an einem Baume aufhängen wollen, da aber
der Strick riſs, oder der Baumast brach, sei er über schrof-
fe Klippen und spitze Gesträuche, die seinen Leib zer-
fleischten, bis in's Thal heruntergestürzt 7). Doch schon
der Verfasser einer Abhandlung über die lezten Schicksale
des Judas in Schmidt's Bibliothek 8) hat es auffallend ge-
funden, wie getreulich sich nach dieser Annahme die bei-
den Erzähler in die Nachricht getheilt haben müſsten, in-
dem nicht etwa der eine das Unbestimmte, der andere das
Bestimmtere berichte, sondern beide erzählen bestimmt,
nur der eine den ersten Theil der Begebenheit ohne den
zweiten, der andere den zweiten, ohne den ersten zu be-
rühren, und Hase behauptet mit Recht, beide Berichter-
statter haben jeder nur den von ihm aufgenommenen That-
bestand gekannt, da sie sonst die andere Hälfte nicht hät-
ten auslassen können 9).
Nachdem wir so an der ersten Differenz die Vereini-
gungsversuche haben scheitern sehen, fragt sich nun, ob
die andere, die Erwerbung des Grundstücks betreffende,
sich leichter beilegen läſst. Sie besteht darin, daſs bei Mat-
thäus erst nach des Judas Entleibung die Synedristen für
das von ihm zurückgelassene Geld einen Acker (und zwar
von einem Töpfer — eine Bestimmung, die in der A. G.
fehlt) erkaufen: wogegen nach der A. G. Judas selbst
noch das Grundstück für sich erwirbt, und auf demselben
vom jähen Tode ereilt wird; so daſs nach diesem Bericht
[502]Dritter Abschnitt.
das Grundstück von dem darauf vergossenen Blute des
Verräthers, nach jenem von dem am Kaufpreiſs desselben
klebenden Blute Jesu ἀγρὸς oder χωρίον αἵματος genannt
worden zu sein scheint. Hier ist nun die Ausdruckswei-
se des Matthäus so bestimmt, daſs an ihr nicht wohl zu
Gunsten der andern Nachricht gedeutelt werden kann: wohl
aber hat das ἐκτήσατο in der A. G. eingeladen, es nach
Matthäus umzudeuten. Durch den Verrätherlohn, soll die
Stelle der A. G. sagen wollen, erwarb er einen Acker:
nicht unmittelbar, sondern mittelbar, indem er durch die
Zurückgabe des Geldes Veranlassung zum Ankauf eines
Grundstücks gab; nicht für sich, sondern für das Syne-
drium oder das allgemeine Beste 10). Doch so viele Stel-
len man auch aufführen mag, in welchen das κτᾶσϑαι in
der Bedeutung: für einen Andern erwerben: vorkommt,
so muſs doch in diesem Falle nothwendig die andre Per-
son, für welche einer erwirbt, angegeben oder angedeutet
sein, und wenn dieſs, wie in der Stelle der A. G., nicht
der Fall ist, so bleibt es bei der Bedeutung: für sich selbst
erwerben 11). Dieſs hat Paulus gefühlt, und daher der
Sache die Wendung gegeben, von Judas, der durch den
schauderhaften Sturz auf eine Leimengrube der Anlaſs ge-
worden sei, daſs dieses Grundstück den Synedristen ver-
kauft wurde, habe Petrus wohl ironisch sagen können, er
habe noch im Tode durch den Fall seines Leichnams ein
schönes Besizthum sich angeeignet 12). Doch diese Deu-
tung ist theils an sich geschraubt, theils zeigt das γενηϑή-
τω ἡ ἔπαυλις αὐτοῦ ἔρημος, welches der Petrus der A. G. im
Folgenden aus den Psalmen anführt, daſs er sich das Grund-
stück als wirkliches Eigenthum des Judas gedacht habe, wel-
ches zur Strafe durch seinen Tod verödet worden sei.
[503]Drittes Kapitel. §. 126.
Da sich hienach weder die eine noch die andre Dif-
ferenz auf gütlichem Wege ausgleichen läſst, so hat schon
Salmasius eine wirkliche Abweichung der beiden Berichte
zugestanden, und Hase glaubt diese Erscheinung, ohne
den apostolischen Ursprung der beiden Angaben zu gefähr-
den, aus der gewaltigen Bewegung jener Tage erklären zu
können, in welcher nur das Faktum des Selbstmords von
Judas bekannt geworden, über den näheren Hergang des-
selben aber verschiedene Gerüchte geglaubt worden seien.
Allein in der A. G. ist von einem Selbstmord gar nicht
die Rede, und daſs nun zwei Apostel, wie Matthäus und
Petrus, wenn das erste Evangelium von jenem, die Rede
in der A. G. aber von diesem herrühren soll, über den
in ihrer nächsten Nähe erfolgten Tod ihres ehmaligen Mit-
apostels so sehr im Dunkeln geblieben wären, daſs der ei-
ne ihn eines zufälligen, der andre eines selbstgewählten
Todes sterben lieſs, ist schwer zu glauben. Daſs daher
nur eine der beiden Relationen als apostolisch festgehalten
werden könne, hat der Verfasser der schon erwähnten Ab-
handlung in Schmidt's Bibliothek richtig eingesehen. Und
zwar ist er bei der Wahl zwischen beiden von dem an
und für sich richtigen Grundsaz ausgegangen, daſs die
minder auf Verherrlichung eingerichtete Erzählung die glaub-
würdigere sei; weſswegen er denn der Darstellung der
A. G., welche den verherrlichenden Zug der Reue des
Judas und seines Bekenntnisses von Jesu Unschuld nicht
hat, vor der des ersten Evangeliums den Vorzug giebt.
Doch wie es immer ist bei zwei sich widersprechenden
Berichten, daſs der eine den andern nicht nur durch sein
Stehen ausschlieſst, sondern auch durch sein Fallen miterschüt-
tert: so haben wir auch hier, wenn diejenige Darstellung der
Sache, welche das Ansehen des Apostels Matthäus für sich gel-
tend macht, aufgegeben ist, keine Bürgschaft mehr für die
andere, welche sich dem Apostel Petrus in den Mund legt.
Dürfen wir somit beide Berichte auf einen Fuſs be-
[504]Dritter Abschnitt.
handeln, nämlich als Sagen, von welchen erst auszumachen
ist, wie weit ihr geschichtlicher Kern, und wie weit das
traditionell Aufgetragene geht: so müssen wir die Anhalts-
punkte betrachten, an welche die Erzählungen sich knü-
pfen. Hier zeigt sich ein beiden gemeinsamer, neben zwei
andern, deren einen jede für sich eigen hat. Gemeinschaft-
lich ist beiden Relationen das Datum, daſs es in oder bei
Jerusalem ein Grundstüek gegeben habe, das ἀγρὸς oder
χωρίον αἵματνς, in der Ursprache nach der Angabe der
A. G. ἀκελδαμὰ, hieſs. Da in dieser Notiz zwei sonst so
ganz auseinandergehende Berichte zusammentreffen, und
überdieſs der Verfasser des ersten Evangeliums sich darauf
beruft, daſs noch zu seiner Zeit jener Name des Ackers
vorhanden gewesen sei: so darf die Existenz eines so be-
nannten Grundstücks wohl nicht bezweifelt werden. Daſs
es eine wirkliche Beziehung auf den Verräther Jesu ge-
habt habe, ist schon weniger gewiſs, da unsre beiden Re-
lationen diese Beziehung verschieden angeben: der eine
den Judas selbst das Gut erwerben, der andere es erst
nach seinem Tod um die 30 Silberlinge gekauft werden
läſst. Wir können daher nur so viel sagen, daſs die ur-
christliche Sage jenem Blutacker frühzeitig eine Beziehung
auf den Verräther gegeben haben muſs. Warum aber in
verschiedener Weise, davon ist der Grund in dem andern
Anhaltspunkt unsrer Erzählungen zu suchen, in den A.-
T. lichen Stellen nämlich, welche die Referenten, jeder
übrigens andere, als erfüllt durch das Schicksal des Judas
anführen.
In der Stelle der A. G. wird Ps. 69, 26. und Ps. 109, 8.
in dieser Weise angeführt. Der leztere ist ein Psalm, wel-
chen die ersten Christen aus den Juden gar nicht umhin
konnten, auf das Verhältniſs des Judas zu Jesu zu bezie-
hen. Denn nicht nur spricht der Verfasser (angeblich Da-
vid, ohne Zweifel aber ein weit späterer 13)) von vorne her-
[505]Drittes Kapitel. §. 126.
ein von solchen, die falsch und giftig wider ihn reden,
und ihm für seine Liebe Haſs zurückgeben, sondern von
V. 6. an, wo die Verwünschungen angehen, wendet er
sich gegen eine einzelne Person, so daſs die jüdischen Aus-
leger an Doëg, Davids Verleumder bei Saul, dachten, und
ebenso natürlich die Christen an den Judas. Aus diesem
Psalm ist hier derjenige Vers herausgelesen, welcher, von
der Übertragung des Amts an einen andern handelnd, ganz
auf den Fall des Judas zu passen schien. Der andre Psalm
redet zwar unbestimmter von solchen, die den Verfasser
ohne Ursache hassen und verfolgen: doch ist er, ebenfalls
angeblich Davidisch, dem andern an Inhalt und Manier so
ähnlich, daſs er als Parallele zu jenem gelten, und wenn
aus jenem, dann auch aus diesem Verwünschungen auf den
Verräther angewendet werden konnten 14). Hatte nun
Judas wirklich um seinen Verräthersold ein Gut gekauft,
welches hernach wegen seines auf demselben erfolgten
gräſslichen Endes öde liegen blieb: so ergab es sich von
selbst, aus diesem Psalm gerade diejenige Stelle, welche
den Feinden Verödung ihrer ἔπαυλις anwünscht, auf ihn
zu beziehen. Wie es jedoch bei der Abweichung des Mat-
thäus zweifelhaft ist, ob Judas selbst sich jenes Grundstück
erkauft habe und auf demselben verunglückt sei: so war
auch schwerlich den Juden das Stück Land, auf welchem
der Verräther Jesu geendet hatte, so abscheulich, um es
als Blutland öde liegen zu lassen, sondern diese Benen-
nung hatte wohl einen andern, nicht mehr zu ermittelnden,
Ursprung gehabt, und die Christen haben sie in ihrem Sin-
ne umgedeutet, so daſs wir nicht aus einem wirklichen
Besizthum des Judas die Anwendung der Psalmstelle und
die Benennung jenes öden Platzes, sondern aus diesen bei-
[506]Dritter Abschnitt.
den Momenten die Sage von einem Besiz des Judas ablei-
ten müssen. Waren nämlich die genannten beiden Psal-
men einmal auf den Verräther Jesu bezogen, und in de-
ren einem ihm Verödung seiner ἔπαυλις (LXX) gewünscht:
so muſste er vorher im Besiz einer solchen gewesen sein,
und diese, dachte man sich, wird er wohl um den Lohn
seines Verraths erkauft haben. Oder vielmehr, daſs man
aus jenen Psalmen gerade die Verödung der ἔπαυλις be-
sonders hervorhob, scheint in der nahe liegenden Voraus-
setzung seinen Grund gehabt zu haben, daſs eben an et-
was, das er sich um sein Sündengeld erworben, der Fluch
sich geäussert haben werde: etwas Erwerbliches aber ist
unter dem, was die gedachten Psalmen aufführen, nur die
ἔπαυλις. Dieser Wendung der Sache kam nun auf erwünsch-
te Weise das in der Nähe Jerusalems gelegene ἀκελδα-
μὰ entgegen, welches, je weniger man den wahren Ur-
sprung seiner Benennung und des an ihm haftenden Ab-
scheus kannte, desto leichter sich dazu hergab, von der
urchristlichen Sage für sich verwendet, und als die ἔπαυλις
ἠρημωμένη des Verräthers betrachtet zu werden.
Statt dieser Psalmstellen führt das erste Evangelium
als erfüllt durch das endliche Benehmen des Judas eine
Stelle angeblich aus Jeremias an, für welche sich aber
nur bei Zacharias, 11, 12 f., etwas Entsprechendes findet,
weſswegen man jezt ziemlich allgemein eine Verwechslung
der Namen von Seiten des Evangelisten voraussezt 15). Wie
Matthäus durch den Grundgedanken dieser Stelle — einen
unbillig geringen Preiſs für den im Orakel Redenden —
zu einer Anwendung auf den Verrath des Judas, der um
ein schnödes Geld seinen Meister gleichsam verkauft hatte,
sich veranlaſst finden konnte, ist schon oben auseinander-
gesezt 16). Nun war in der Prophetenstelle dem Urheber
[507]Drittes Kapitel. §. 126.
des Orakels von Jehova befohlen, das schlechte Geld, womit
er abgelohnt worden war, in das Gotteshaus, und zwar
אֶל־הַיּוֺצֵר, zu werfen, und er bemerkt, daſs er dieſs ge-
than habe. Der Hinwerfende ist im Orakel dieselbe Per-
son mit dem Sprechenden, also mit dem des geringen Prei-
ses werth Geachteten, weil hier das Geld nicht Kaufpreiſs,
sondern Lohn ist, folglich eben von dem so schlecht Be-
lohnten eingenommen wird, und nur von diesem wieder
hingeworfen werden kann: in der Anwendung des Evan-
gelisten dagegen, wo das Geld ein Kaufpreiſs ist, war ein
anderer als der so gering Angeschlagene als derjenige zu
denken, welcher das Geld eingenommen und wieder hin-
geworfen habe. War der um so geringen Preiſs Verkaufte
Jesus: so konnte der, welcher das Geld eingezogen hatte
und wieder hinwarf, nur sein Verräther sein. Daher heiſst
es nun von diesem, er habe die ἀργίρια ἐν τῷ ναιῷ hinge-
worfen, entsprechend dem וָאַשְׁלׅיךְ אֹתוֺ בֵית יְהוָֺה in der Pro-
phetenstelle, obwohl gerade diese Worte in der höchst ent-
stellenden Anführung des Matthäus fehlen. Nun aber stand
neben dem בֵית יְהוָֺה, wohin das Geld geworfen worden
war, noch der Beisaz: אֶל־הַיּוֺצֵר Die LXX. übersezt: εἰς
το χωνευτήριον, in den Schmelzofen; jezt vermuthet man
mit Grund, es sei אֶל־הַיּוֺצָר, in den Schatz, zu lesen 17);
der Verfasser unsres Evangeliums blieb bei der wörtlichen
Übersetzung durch κεραμεύς. Was aber der Töpfer hier
thun, warum ihm das Geld gegeben werden sollte, muſste
ihm zunächst ebenso unverständlich sein, wie uns, wenn
wir bei der gewöhnlichen Lesart bleiben. Nun fiel ihm aber
der Blutacker ein, welchem, wie wir aus der A. G. sehen,
die christliche Sage eine Beziehung auf den Judas gegeben
hatte, und so ergab sich die willkommene Combination, je-
[508]Dritter Abschnitt.
ner Acker sei es wohl gewesen, für welchen dem κεραμεὺς
die 30 Silberlinge erlegt werden muſsten. Da aber der
Töpfer nicht im Tempel zu denken war, und doch laut
der Prophetenstelle die Silberlinge in den Tempel gewor-
fen worden waren: so wurde das Hinwerfen in den Tem-
pel von dem Abgeben an den Töpfer getrennt. Muſste je-
nes dem Judas zugeschrieben werden, hatte er also einmal
das Geld aus der Hand gegeben: so konnte nicht mehr er
selbst das Grundstück von dem Töpfer kaufen, sondern
dieſs muſsten mit dem hingeworfenen Gelde Andere thun.
Wer diese gewesen sein muſsten, ergab sich von selbst:
warf Judas das Geld hin, so wird er es denen hingewor-
fen haben, von welchen er es erhalten hatte; warf er es
in den Tempel, so fiel es dessen Vorstehern in die Hände,
auf beide Weise also den Synedristen. Der Zweck, wel-
chen diese bei dem Ankauf des Grundstücks gehabt haben
muſsten, ergab sich vielleicht aus der wirklichen Benützung
jenes öden Platzes. Sollte endlich Judas den Lohn seines
Verraths von sich geworfen haben: so konnte dieſs, muſste
man schlieſsen, nur aus Reue geschehen sein, und wie
wird sich diese ferner geäussert haben? Daſs er sich zum
Guten zurückgewendet hätte, davon wuſste man nichts:
folglich wird die Reue in ihm zur Verzweiflung geworden
sein, und er das Ende des aus Davids Geschichte bekann-
ten Verräthers Ahitophel genommen haben, von welchem
es 2. Sam. 17, 23. heiſst: ἀνέςη καὶ ἀπῆλϑεν — καὶ ἀπήγ-
ξατο, wie von Judas hier: ἀνεχώρησε καὶ ἀπελϑὼν ἀπήγξατο.
Eine auf den Papias zurückgeführte Überlieferung
scheint sich mehr nur an die Relation der Apostelgeschichte
anzuschlieſsen. Ökumenius führt aus dem genannten Tra-
ditionensammler an, daſs Judas zum abschreckenden Bei-
spiel der Gottlosigkeit dermaſsen am Leibe aufgeschwollen
sei, daſs er, wo ein Wagen durchfahren konnte, nicht
mehr durchkam, und endlich, von einem Wagen gequetscht,
[509]Drittes Kapitel. §. 126.
zerborst und alle Eingeweide ausschüttete 18). Die lezte
Angabe ist ohne Zweifel ein Miſsverstand der alten Sage;
denn der durchfahrende Wagen war ursprünglich in keine
unmittelbare Berührung mit dem Leib des Judas gebracht,
sondern nur als Maaſs für dessen Dicke gebraucht, und
dieſs wurde später irrig so aufgefaſst, als ob ein vorüber-
fahrender Wagen den aufgeschwollenen Judas zerquetscht
hätte. Wirklich finden wir daher nicht allein bei Theo-
phylakt und in einem alten Scholion 19) ohne bestimmte
Zurückführung auf den Papias, sondern auch in einer Ca-
tene mit genauer Anführung seiner ἐξηγήσεις, die Sache
ohne jenen Zusaz erzählt 20). Das ungeheure Anschwel-
len des Judas, von welchem in diesen Stellen die Rede
ist, sollte wohl ursprünglich nur eine Erklärung für
das Zerplatzen und Ausschütten der Eingeweide sein, und
ebenso könnte man die Wassersucht, in welche Theophy-
lakt ihn verfallen läſst, wiederum nur als eine Erklärung
[510]Dritter Abschnitt.
dieses Anschwellens betrachten: indessen, wenn man in
dem, A. G. 1, 20. auf den Judas angewendeten Ps. 109.
unter andern Vorwürfen auch den liest: εἰσῆλϑεν (nach
dem Hebräischen vielleicht besser εἰσελϑέτω, sc. ἡ κατάρα)
ὡσεὶ ἵδωρ εἰς τὰ ἔγκατα αὐτοῦ (V. 18. LXX.): so könnte
doch möglicherweise die νόσος ὑδερικὴ auch aus dieser
Stelle geholt sein, wie der Zug der monströsen Beschrei-
bung, welche der angebliche Papias von dem Zustande des
Judas macht, daſs er nämlich wegen ungeheuren Anschwel-
lens der Augenlieder das Tageslicht nicht mehr habe sehen
können, an V. 24. des andern Judaspsalms erinnern dürfte,
wo unter den Verwünschungen namentlich auch die vor-
kommt: σκοτισϑήτωσαν οι ὀφϑαλμοὶ αὐτῶν τοῦ μὴ βλέπειν,
eine Verhinderung am Sehen, welche, einmal den ge-
schwollenen Leib des Judas vorausgesezt, als Zuschwellen
der Augenlieder sich gestalten muſste. Hat so die an
A. G. 1. sich anschlieſsende Tradition ihre Ansicht von dem
Ende des Judas hauptsächlich nach Ausdrücken der be-
zeichneten beiden Psalmen weitergebildet, und ist in jener
Stelle der A. G. selbst die Angabe von dem Verhältniſs des
Judas zu dem Landgut ebendaher entnommen: so liegt die
Vermuthung nicht allzufern, daſs auch schon, was die A. G.
über das Ende des Verräthers sagt, aus derselben Quelle
geflossen sein möge. Daſs er eines frühzeitigen Todes ge-
storben, kann historisch sein: aber auch wenn nicht, so
war ein früher Tod schon Ps. 109, in demselben Sten Vers,
welcher die Verleihung der ἐπισκοπὴ an einen Andern ent-
hielt, in den Worten: γενηϑήτωσαν αἱ ἡμέραι αὐτοῦ ὀλίγαι,
ihm verkündigt, und fast möchte man glauben, daſs auch
der Tod durch einen jähen Fall aus Ps. 69, 23., wo es
heiſst: γενηϑήτω ἡ τράπεζα αὐτῶν — εἰς σκάνδαλον (לְמוֺקֵשׁ),
entstanden sei.
Schwerlich also wissen wir von Judas auch nur soviel
gewiſs, daſs er auf gewaltsame Weise vor der Zeit um's
Leben gekommen: sondern wenn er, wie nach seinem Aus-
[511]Drittes Kapitel. §. 127.
tritt aus der Gesellschaft Jesu natürlich war, für diese in
die Dunkelheit zurücktrat, in welcher die historische Kun-
de von seinem weiteren Schicksal erlosch: so konnte die
christliche Sage ungehindert alles das an ihm in Erfüllung
gehen lassen, was die Weissagungen und Vorbilder des
A. T. dem falschen Freunde des Davidssohnes drohten, und
konnte selbst an eine bekannte unheilige Stätte in der Nähe
Jerusalems das Andenken seines Verbrechens knüpfen.
§. 127.
Jesus vor Pilatus und Herodes.
Nach sämmtlichen Evangelisten war es Morgens, als
die jüdischen Obern Jesum, nachdem sie ihn des Todes
schuldig erkannt hatten 1), (fesseln — nach Joh. 18, 12. war
er schon im Garten bei der Gefangennehmung gefesselt wor-
den; Lukas erwähnt des Bindens gar nicht und) zu dem
römischen Procurator Pontius Pilatus führen lieſsen (Matth.
27, 1 ff. parall. Joh. 18, 28.). Hiezu nöthigte sie nach
Joh. 18, 31. der Umstand, daſs dem Synedrium die Befug-
niſs, Todesstrafen (ohne römische Genehmigung) zu voll-
ziehen, abgenommen war 2): jedenfalls indeſs muſste dieſs-
[512]Dritter Abschnitt.
mal die jüdische Regierung wünschen, die Römer in die
Sache zu ziehen, weil nur deren Macht ihr gegen einen
ϑόρυβος ἐν τῷ λαῷ, den sie von einer Hinrichtung Jesu
während der Festzeit befürchtete (Matth. 26, 5. parall.),
Sicherheit gewähren konnte.
Bei'm Prätorium angekommen, blieben, nach der Dar-
stellung des vierten Evangeliums, die Juden aus Scheue
vor levitischer Verunreinigung aussen, Jesus aber wurde
in das Innere des Gebäudes geführt, so daſs Pilatus ab-
wechslungsweise, wenn er mit den Juden verhandeln woll-
te, herauskommen, wenn er aber Jesum inquirirte, hin-
eingehen muſste (18, 28 ff.). Die Synoptiker stellen im
Verfolg Jesum mit Pilatus und den Juden in Einem und
demselben Lokal vor, da bei ihnen Jesus die Anklagen der
Juden unmittelbar hört, und vor Pilatus beantwortet. Da
sie, wie Johannes, die Verurtheilung unter freiem Himmel
vorgehen lassen (nach derselben lassen sie ja Jesum in
das Prätorium hineingeführt werden, Matth. 27, 27., und
Matthäus wie Johannes 19, 13., läſst den Pilatus das βῆμα
besteigen, V. 19., welches nach Josephus 3) unter freiem
Himmel stand), ohne im Verhältniſs zum Verhör einer
Ortsveränderung zu gedenken: so haben sie sich wahr-
scheinlich die ganze Verhandlung, aber, abweichend von
Johannes, auch Jesum selbst, auf jenem Vorplaz gedacht.
[513]Drittes Kapitel. §. 127.
Die erste Frage des Pilatus an Jesum ist nach allen.
Evangelien: σὺ εἰ ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων, d. h. der Mes-
sias? Bei den zwei ersten Evangelisten ist diese Frage ohne
Einleitung durch eine Klage der Juden (Matth. V. 11.
Marc. V. 2.); bei Johannes fragt Pilatus, aus dem Präto-
rium heraustretend, die Juden, was sie gegen Jesum zu
klagen hätten (18, 19.)? worauf sie ihm mit einem kaum
begreiflichen Troz erwiedert haben sollen: εἰ μὴ οὖτος ἦν
κακοποιὸς, ουκ ἄν σοι παρεδώκαμεν αὐτὸν, wodurch sie kei-
neswegs sich versprechen konnten, dem Römer die Bestä-
tigung auf die schnellste Weise abzudringen 4), sondern
nur ihn zu erbittern. Nachdem ihnen Pilatus hierauf mit
ebenso unglaublicher Gelindigkeit zur Antwort gegeben:
so mögen sie ihn nehmen und nach ihrem Gesez richten —
indem er an ein todeswürdiges Verbrechen nicht gedacht
zu haben scheint —, und die Juden ihm ihre Incompetenz
zur Vollziehung von Todesstrafen entgegengehalten haben:
geht der Procurator hinein, und legt Jesu gleich die be-
stimmte Frage vor, ob er der König der Juden sei? wel-
che somit hier gleichfalls nicht gehörig eingeleitet ist. Nur
bei Lukas ist dieſs der Fall, welcher zuerst die Anklagen
der Synedristen gegen Jesum aufführt, daſs er das Volk
aufwiegle, und zur Verweigerung der Steuer an den Cä-
sar reize, indem er sich für χριςὸν βασιλέα ausgebe (23, 2.).
Begriffe man auf diese Weise aus der Relation des
Lukas, wie Pilatus sofort die Frage an Jesum richten
konnte, ob er der König der Juden sei? so ist bei ihm um
so dunkler, wie auf die bejahende Antwort Jesu hin Pila-
tus ohne Weiteres den Anklägern erklären konnte, an dem
Beklagten keine Schuld zu finden. Er muſste doch erst
den Grund oder Ungrund der Anklage auf Volksaufwiege-
lung untersuchen, und auch über den Sinn, in welchem
sich Jesus für den βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων ausgab, sich mit
Das Leben Jesu II. Band. 33
[514]Dritter Abschnitt.
ihm verständigen, ehe er sein ουδεν εὑρίσκω αἴτιον ἐν τῷ
ἀνϑρώπῳ τουτῳ aussprechen konnte. Bei Matthäus und
Markus folgt zwar auf die Bejahung Jesu, der König der
Juden zu sein, noch sein den Pilatus befremdendes Schwei-
gen gegenüber den gehäuften Anklagen der Synedristen,
auch wird hierauf nicht eine bestimmte Erklärung, daſs an
Jesu keine Schuld zu finden sei, sondern bloſs der Versuch
des Procurators gemeldet, Jesum durch die Zusammenstel-
lung mit Barabbas in Freiheit zu setzen: doch auch nur,
was ihn zu diesem Versuch bewog, geht aus den genann-
ten Evangelien nicht hervor. Hinlänglich klar dagegen wird
dieser Punkt im vierten Evangelium. Nach der Frage des
Pilatus, ob er wirklich der Judenkönig sei, befremdet
zwar die Gegenfrage Jesu, ob er dieſs von sich selbst,
oder auf Eingebung Anderer rede? Man kann einen Be-
klagten, möge er immer sich unschuldig wissen, zu einer
solchen Frage nicht befugt finden, weſswegen man denn
auch auf allerlei Arten versucht hat, derselben einen er-
träglicheren Sinn zu geben; allein, um bloſs eine Zurück-
weisung der Beschuldigung als einer widersinnigen zu sein 5),
ist die Frage Jesu zu bestimmt: als Erkundigung aber, ob
der Procurator das βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων im römischen
(ἀφ̕ ἑαυτοῦ) oder im jüdischen Sinne (ἄλλοι σοι εἶπον)
meine 6), zu unbestimmt. Auch faſst es Pilatus nicht so,
sondern als unbefugte Frage, auf welche es noch sehr milde
ist, daſs er zunächst zwar ungeduldig die zweite Gegen-
frage macht, ob er denn ein Jude sei, um durch sich selbst
von einem so specifisch jüdischen Verbrechen Notiz haben zu
können? hierauf aber gutwillig erklärt, die Juden und de-
ren Obere seien es ja, durch welche er ihm überliefert
worden, er möge also über das ihm von diesen zur Last
gelegte Vergehen sich näher aussprechen. Auf dieses nun
[515]Drittes Kapitel. §. 127.
aber giebt ihm Jesus eine Antwort, welche, zusammenge-
nommen mit dem Eindruck seiner ganzen Erscheinung, dem
Procurator allerdings die Überzeugung von seiner Unschuld
beibringen konnte. Er erwiedert nämlich, seine βασιλεία
sei nicht ἐκ τοῦ κόσμου τουτου, und führt den Beweis hiefür
aus dem ruhigen, passiven Verhalten seiner Anhänger bei
seiner Gefangennehmung (V. 36.). Auf die weitere Frage
des Pilatus, da Jesus sich hiemit eine βασιλεία, wenn
gleich keine irdische, zugeschrieben hatte, ob er also doch
für einen König sich ausgebe? erwiedert er, allerdings sei
er das, doch nur insofern er zum Zeugniſs der Wahrheit
geboren sei; worauf von Seiten des Pilatus das bekannte:
τί ἐςιν ἀλήϑεια; erfolgt. Ob nun gleich an dieser lezteren
Wendung das eigenthümlich johanneische Colorit im Ge-
brauch des Begriffs von ἀλήϑεια, wie weiter oben das Un-
gefügige in der Gegenfrage Jesu, auffällt: so begreift man
doch nach dieser Darstellung, wie Pilatus sofort hinaus-
treten, und den Juden erklären konnte, keine Schuld an
ihm zu finden. Doch könnte leicht ein andrer Punkt gegen
diesen Bericht des Johannes bedenklich machen. Wenn
ihm zufolge das Verhör Jesu im Innern des Prätoriums vor
sich gieng, welches kein Jude betreten mochte: wer soll
dann das Gespräch des Procurators mit Jesu gehört, und
als Gewährsmann dem Verfasser des vierten Evangeliums
zugebracht haben? Die Ansicht älterer Erklärer, daſs Je-
sus selbst nach der Auferstehung den Jüngern diese Ver-
handlungen erzählt habe, ist als abenteuerlich aufgegeben;
die neuere, daſs vielleicht Pilatus selbst die Quelle der
Nachrichten über das Verhör gewesen sei, ist kaum min-
der unwahrscheinlich, und ehe ich mir, wie Lücke, damit
hälfe, daſs Jesus am Eingang des Prätoriums stehen ge-
blieben sei, und somit die aussen Zunächststehenden bei
einiger Aufmerksamkeit und Stille (?) die Unterredung
haben hören können, würde ich mich noch lieber auf die
Umgebungen des Procurators, der schwerlich mit Jesu al-
33 *
[516]Dritter Abschnitt.
lein war, berufen. Leicht könnten wir indeſs hier ein Ge-
spräch haben, das nur der eignen Combination des Evan-
gelisten seinen Ursprung verdankt, und in diesem Falle
dürfte man sich dann nicht so viele Mühe in Bezug auf
den eigentlichen Sinn der Frage des Pilatus: was ist Wahr-
heit? geben, da dieſs nur die beliebte dialogische Figur
des vierten Evangeliums wäre, bei tiefen Eröffnungen von
Seiten Jesu die Zuhörer Fragen entweder des Miſsverstands
oder des gar nicht Verstehens machen zu lassen; wie 12, 34.
die Juden fragen: τίς ἐςιν οὖτος ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου so
hier Pilatus: τί ἐςιν ἀλήϑεια7);
Vor der Diversion mit Barabbas, welche nun bei den
übrigen folgt, hat Lukas ein eigenthümliches Zwischen-
spiel. Auf die Erklärung des Pilatus nämlich, an dem
Beklagten keine Schuld zu finden, bleiben hier die Hohen-
priester sammt ihrem Anhang unter der Menge dabei,
Jesus rege das Volk auf durch seine Wirksamkeit als
Lehrer von Galiläa bis Jerusalem; Pilatus faſst Galiläa
in's Ohr, fragt, ob der Beklagte ein Galiläer sei? und wie
dieſs bestätigt wird, ergreift er es als eine willkommene
Gelegenheit, sich des unwillkommenen Handels zu entle-
digen, schickt also dem Tetrarchen von Galiläa, dem zur
Festzeit in Jerusalem anwesenden Herodes Antipas, Jesum
zu, mit der Nebenabsicht vielleicht, was wenigstens der
Erfolg war, den kleinen Fürsten durch solchen Respect
vor seinem Forum sich zu verbinden. Herodes, heiſst es,
sei darüber erfreut gswesen, weil er nach dem Vielen, was
er schon von Jesu gehört hatte, längst wünschte, ihn zu
sehen, in der Hoffnung, er würde vielleicht ein Wunder
zum Besten geben. Der Tetrarch habe nun verschiedene
Fragen an ihn gerichtet, auch die Synedristen harte Kla-
gen gegen ihn erhoben, Jesus aber keine Antwort gege-
ben; worauf dann Herodes mit seinen Soldaten sich zum
[517]Drittes Kapitel. §. 127.
Spotte gewendet, und endlich Jesum in einem Prachtgewand
zu Pilatus zurückgeschickt habe (23, 4 ff.). Diese Erzäh-
lung des Lukas hat, sowohl in ihr selbst, als in ihrem
Verhältniſs zu den übrigen Evangelien, mehreres Befremd-
liche. Gehörte wirklich Jesus als Galiläer unter die Ge-
richtsbarkeit des Herodes, wie Pilatus durch die Übergabe
des Beklagten an ihn anzuerkennen scheint: wie kam es,
daſs Jesus, nicht nur der sündlose des orthodoxen Systems,
sondern auch der gegen die bestehende Obrigkeit unter-
würfige der Geschichte vom Zinsgroschen, ihm die schul-
dige Antwort versagte? wie, daſs ihn Herodes ohne Wei-
teres wieder von seinem Forum zurückschickte? Mit Ols-
hausen zu sagen, es habe sich im Verhör bei Herodes er-
geben, daſs Jesus nicht in Nazaret und Galiläa, sondern
in Bethlehem, also in Judäa, geboren war, ist theils eine
unerlaubte Bezugnahme auf die Geburtsgeschichte, von de-
ren Angaben sich im ganzen seitherigen Verlauf des Lu-
kasevangeliums keine Spur mehr gefunden hat, theils wür-
de wohl eine so ganz zufällige Geburt in Judäa, wie sie
Lukas darstellt, während die Eltern Jesu vor- und nachher,
und auch Jesus selber, in Galiläa ansässig blieben, Jesum
zu keinem Judäer gemacht haben; hauptsächlien aber
muſs man fragen, durch wen denn die judäische Abkunft
Jesu an den Tag gekommen sein soll, da es von Jesu heiſst,
er habe keine Antwort gegeben, den Juden aber jene Ab-
kunft nach Allem, was wir wissen, unbekannt war? Eher
mag man das Stillschweigen Jesu aus der unwürdigen, nicht
den Ernst des Richters, sondern bloſse Neugier verrathen-
den Art der Fragen des Herodes, und die Zurücksendung
an Pilatus daraus erklären, daſs doch nicht allein die Ver-
haftung, sondern auch ein Theil der Wirksamkeit Jesu in
das Gebiet des Pilatus gefallen war. Warum aber berich-
ten die übrigen Evangelisten von dieser ganzen Zwischen-
scene nichts? Namentlich wenn man den Verfasser des
vierten Evangeliums als den Apostel Johannes sich denkt,
[518]Dritter Abschnitt.
ist schwer einzusehen, wie man diese Auslassung erklären
will. Die gewöhnliche Hülfe, er habe die Abführung zu
Herodes aus den Synoptikern und überhaupt als bekannt
vorausgesezt, schlägt hier nicht an, da ja nur der Eine
Lukas die Geschichte meldet, sie also nicht sehr verbrei-
tet gewesen zu sein scheint; die Vermuthung, sie mö-
ge ihm wohl zu unerheblich gewesen sein 8), verliert da-
durch ihren Boden, daſs Johannes auch das Verhör bei
Annas, das doch ebenso wenig entscheidend war, zu be-
schreiben nicht verschmäht; überhaupt ist, wie auch Schlei-
ermacher zugesteht, die johanneische Erzählung dieser
Vorgänge so zusammenhängend, daſs sich nirgends eine Fu-
ge zeigen will, um eine solche Zwischenscene einzuschie-
ben. Flüchtet sich daher auch Schleiermacher zulezt zu
der Vermuthung, es möge wohl dem Johannes die Abfüh-
rung Jesu zu Herodes entgangen sein, weil sie auf einer
entgegengesezten Seite, als wo der Jünger stand, durch ei-
me Hinterthüre, geschehen sei, dem Lukas aber eine Kun-
de von derselben zugekommen, weil sein Gewährsmann
ebenso eine Bekanntschaft im Hause des Herodes gehabt
habe, wie Johannes in dem des Annas: so ist jene erstere
Vermuthung eben nur eine Hinterthüre, die leztere aber ei-
ne verzweifelte Fiktion. Setzen wir freilich den Verfas-
ser des vierten Evangeliums nicht als Apostel voraus: so
verlieren wir die Unterlage, um gegen die Erzählung des
Lukas den Hebel anzusetzen, welche jedenfalls, da schon
Justin von der Abführung zu Herodes weiſs 9), von sehr
frühem Ursprung ist. Immerhin indessen bleibt theils das
Stillschweigen der übrigen Evangelisten in einem Abschnitt,
wo sonst über die Hauptstadien der Entwicklung von Je-
su Sache Übereinstimmung zu herrschen pflegt, theils die
innere Schwierigkeit der Erzählung so bedenklich, daſs die
[519]Drittes Kapitel. §. 127.
Vermuthung offen bleiben muſs, die Anekdote sei aus dem
Bestreben entstanden, Jesum vor alle möglicherweise in Je-
rusalem zusammenzubringende Richterstühle zu stellen, von
allen nicht hierarchischen Behörden ihn zwar verächtlich be-
handelt, aber doch seine Unschuld laut oder stillschweigend
anerkannt werden, ihn selbst aber vor allen seine gleich-
mäſsige Haltung und Würde behaupten zu lassen. Wäre
dieſs von der vorliegenden Erzählung, mit welcher der drit-
te Evangelist allein steht, anzunehmen: so würde sich eine
ähnliche Vermuthung auch für das Verhör vor Annas er-
geben, mit welchem wir den vierten Evangelisten allein-
stehend gefunden haben.
Nachdem er Jesum von Herodes zurückgesandt be-
kommen hatte, berief nun dem Lukas zufolge Pilatus die
Synedristen und das Volk wieder zu sich, und erklärte,
auf das mit dem seinigen übereinstimmende Urtheil des
Herodes gestüzt, Jesum mit einer Züchtigung loslassen zu
wollen, wozu er die Sitte, am Paschafest einen Gefange-
nen frei zu lassen 10), benützen konnte. Dieser bei Lu-
kas etwas verkürzte Umstand tritt bei den übrigen, na-
mentlich bei Matthäus, deutlicher heraus. Da nämlich die
Befugniſs, sich einen Gefangenen loszubitten, dem ὄχλος
zukam: so suchte Pilatus, wohl wissend, daſs nur der
Neid der Groſsen Jesum verfolgte, die bessere [Stimmung]
des Volks für ihn zu benützen, und um dasselbe zur Be-
freiung Jesu eigentlich zu nöthigen, stellte er ihn, den er,
zum Theil zwar aus Spott gegen die Juden, zum Theil
aber um sie von seiner Hinrichtung, als für sie selbst schimpf-
lich, abzubringen, Messias oder Judenkönig nannte, zur
[520]Dritter Abschnitt.
Auswahl mit einem δέσμιος ἐπίσημος, Barabbas 11), zu-
sammen, welchen Johannes als λῃςὴς, Markus und Lukas
aber als einen solchen, der wegen Aufruhrs und Mords
verhaftet war, bezeichnen. Der Plan schlug aber fehl, da
das Volk, subornirt, wie die zwei ersten Evangelisten an-
merken, von seinen Oberen, mit groſser Einstimmigkeit die
Freigebung des Barabbas, und für Jesum die Kreuzigung
verlangte.
Als ein besonderes Gewicht, das bei Pilatus noch in
die Wagschale Jesu fiel, und ihn bewog, den Versuch
mit Barabbas auf's Nachdrücklichste geltend zu machen,
wird von Matthäus das angeführt, daſs, wie der Procura-
tor auf dem Richterstuhl saſs, seine Gemahlin 12) ihn in
Folge eines ängstigenden Traumes warnen lieſs, sich ja
nichts gegen jenen Gerechten zu Schulden kommen zu las-
sen (27, 19.). Nicht allein Paulus, sondern auch Olshau-
sen erklärt diesen Traum als natürliches Ergebniſs aus dem-
jenigen, was die Frau des Pilatus von Jesu und seiner am
vorigen Abend erfolgten Gefangennehmung gehört haben
mochte; wozu man noch die Notiz des Evangel. Nicodemi
als erklärende Vermuthung ziehen kann, daſs dieselbe eine
ϑεοσεβὴς und ἰουδαΐζουσα gewesen sei 13). Indessen, wie
[521]Drittes Kapitel. §. 127.
immer im N. T., namentlich im Matthäusevangelium, Träu-
me als höhere Schickung betrachtet werden: so ist auch
dieser gewiſs in der Ansicht des Referenten non sine nu-
mine gewesen, und es muſs sich daher ein Grund seiner
Zuschickung denken lassen. Sollte der Traum wirklich
den Tod Jesu hintertreiben, so müſste man vom orthodoxen
Standpunkt aus, auf welchem dieser Tod zur Seligkeit der
Menschen nothwendig war, auf die Vermuthung einiger
Alten kommen, der Teufel möge es gewesen sein, welcher
der Frau des Procurators jenen Traum eingab, um den
Versöhnungstod zu verhindern 14); sollte der Tod Jesu
nicht verhindert werden, so könnte der Zweck des Trau-
mes nur auf Pilatus oder seine Gattin gehen. Allein dem
Pilatus konnte eine so spät kommende Warnung wohl nur
die Schuld vermehren, ohne ihn von dem bereits halb ge-
thanen Schritt zurückbringen zu können; daſs aber seine
Gattin durch den Traum bekehrt worden sei, wie Manche
angenommen haben 15), ist theils nirgendsher bekannt,
theils spricht sich in der Erzählung nicht dieser Zweck
aus. Sondern, wie schon die Figur des Pilatus in der
evangelischen Erzählung so gehalten ist, daſs dem blinden
Hasse der Volksgenossen Jesu das unparteiische Urtheil
eines Heiden gegenüberstehen soll: so wird nun auch sei-
ner Gattin ein Zeugniſs für Jesum abgewonnen, um, wie
nach Matth. 21, 16. aus dem Munde der νηπίων καὶ ϑη-
λαζόντων, so nunmehr aus dem Munde eines schwachen
Weibes, ihm ein Lob zu bereiten, welches, zur Mehrung
seines Gewichts, aus einem bedeutungsvollen Traume ab-
[522]Dritter Abschnitt.
geleitet wird. Je mehr man, um diesen wahrscheinlich
zu machen, auch aus der Profangeschichte dergleichen
Träume anführt, welche einer blutigen Katastrophe be-
ängstigend und warnend vorangeschritten sind 16): desto
mehr wird der Verdacht angeregt, daſs, wie die meisten
von diesen, so auch der Traum in unsrer Stelle nach dem
Erfolge gemacht sein möge, um dessen tragische Wirkung
zu erhöhen.
Wie nun die Juden auf wiederholtes Befragen des Pi-
latus die Loslassung für Barabbas, für Jesum aber die Kreu-
zigung, stürmisch und beharrlich verlangen: lassen die bei-
den mittleren Evangelisten ihn in ihr Begehren sofort wil-
ligen, Matthäus aber schiebt noch eine Ceremonie und ei-
ne Wechselrede dazwischen (27, 24 ff.). Nach ihm näm-
lich läſst sich Pilatus Wasser geben, wascht sich damit
die Hände vor dem Volk, und erklärt sich für unschuldig
am Blute dieses Gerechten. Die Handwaschung als Rein-
erklärung von einer Blutschuld war specifisch jüdische
Sitte, nach 5. Mos. 21, 6 f. 17). Man hat unwahrschein-
lich gefunden, daſs der Römer diese jüdische Gewohnheit
hier nachgeahmt habe, und deſswegen sich darauf berufen,
wie jedem, der seine Unschuld feierlich erklären will,
nichts leichter, als eine solche Handwaschung, einfallen
könne 18). Allein, am ohne Anhalt an einer gewohnten
Sitte eine symbolische Handlung gleichsam im Augenblick
zu erfinden, oder auch nur in einen fremden Volksge-
brauch sieh hineinzuwerfen, dazu gehört, daſs dem, wel-
cher eine solche Handlung vornimmt, an demjenigen, was
er durch dieselbe bezeichnen will, ungemein viel gelegen
[523]Drittes Kapitel. §. 127.
sei. So ungemein viel aber konnte nicht sowohl dem Pi-
latus daran gelegen sein, seine Unschuld an der Hinrich-
tung Jesu zu bezeugen, als vielmehr den Christen daran,
auf diese Weise die Unschuld ihres Messias bezeugen zu
lassen; woraus der Verdacht erwächst, daſs vielleicht erst
ihnen die Handwaschung des Pilatus ihre Entstehung ver-
danken möge. Diese Vermuthung bestätigt sich, wenn wir
den Ausspruch erwägen, mit welchem Pilatus jene sym-
bolische Handlung begleitet haben soll: ἀϑῶός εἰμι ἀπὸ
τοῦ αἵματος τοῦ δικαίου τουτου. Denn, „daſs der Richter öf-
fentlich und emphatisch den, welchen er doch der härte-
sten Bestrafung hingab, einen δίκαιος genannt haben soll-
te“, findet auch Paulus so in sich widersprechend, daſs
er hier, gegen die sonstige Weise seiner Auslegung, an-
nimmt, der Erzähler interpretire selbst, was Pilatus seiner
Meinung nach bei der Handwaschung gedacht haben müs-
se. Zu verwundern ist, daſs ihm das ebenso Unwahrscheiu-
liche nicht auffällt, was den Juden bei dieser Gelegenheit
in den Mund gelegt ist. Nachdem nämlich Pilatus sich
für unschuldig an dem Blut Jesu erklärt, und durch das
hinzugefügte: ὑμεῖς ὄψεσϑε, die Verantwortung auf die
Juden übergewälzt hatte, soll nach Matthäus πᾶς ὁ λαὸς
gerufen haben: τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ̕ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα
ἡμῶν. Allein dieſs ist doch augenscheinlich nur vom Stand-
punkt der Christen aus gesprochen, die in dem Unglück,
welches bald nach Jesu Tode in immer verstärkten Schlä-
gen über die jüdische Nation hereinbrach, nichts Andres,
als die Blutschuld von der Hinrichtung Jesu her erblick-
ten: so daſs also diese ganze dem ersten Evangelium ei-
genthümliche Episode im höchsten Grade verdächtig ist.
Nach Matthäus und Markus lieſs nun Pilatus Jesum
geisseln, um ihn sofort zur Kreuzigung abführen zu las-
sen. Die Geisselung erscheint hier ganz so, wie nach rö-
mischer Sitte das virgis caedere dem securi percutere,
[524]Dritter Abschnitt.
und bei Sclaven die Geisselung der Kreuzigung, voranzugehen
pflegte 19). Bei Lukas erscheint sie ganz anders. Während es
dort heiſst: τὸν δὲ Ἰ. φραγελλώσας παρέδωκεν ἵνα ςαυρω-
ϑῇ: erbietet sich hier Pilatus wiederholt, V. 16 und 22:
παιδεύσας αὐτὸν ἀπολύσω, d. h. wie dort das Geisseln als
einleitendes Accidens der Hinrichtung erscheint: so hier als
ableitendes Surrogat derselben; Pilatus will durch diese
Züchtigung den Hass der Feinde Jesu befriedigen, und sie
bewegen, von dem Verlangen seiner Hinrichtung abzuste-
hen. Während es aber bei Lukas zur wirklichen Geisse-
lung nicht kommt, weil auf den wiederholten Vorschlag
des Pilatus die Juden in keiner Weise eingehen wollen:
so läſst dieser bei Johannes Jesum wirklich geisseln, stellt
ihn sofort mit dem Purpurkleid und Dornenkranz dem
Volke vor, und versucht, ob nicht sein kläglicher Anblick,
mit der wiederholten Erklärung seiner Unschuld verbun-
den, einen Eindruck auf die erbitterten Gemüther machen
möchte; aber auch dieſs ist vergebens (19, 1 ff.). Es be-
steht somit zwischen den Evangelisten in Betreff der Geis-
selung Jesu ein Widerspruch, welchen man nicht mit
Paulus dadurch ausgleichen darf, daſs man das τὸν Ἰ. φρα-
γελλὠσας παρέδωκεν ἵνα ςαυρωϑῇ bei Matthäus und Mar-
kus so umschreibt: Jesus, den er schon vorher hatte geis-
sein lassen, um ihn zu retten, hatte dieſs vergeblich er-
duidet, indem er nun doch zur Kreuzigung hingegeben
wurde. Sondern, die Differenz der Berichte zugebend,
muſs man nur fragen, welcher von beiden die gröſsere hi-
storische Wahrscheinlichkeit für sich habe? Wiewohl sich
nun freilich nicht nachweisen läſst, daſs Geisselung vor
der Kreuzigung ausnahmslose römische Sitte gewesen wä-
re: so ist es doch andrerseits auch einzig aus harmoni-
stischem Bestreben, wenn behauptet wird, daſs nur, wenn
[525]Drittes Kapitel. §. 127.
einer besonders hart gestraft werden sollte, vor der Kreu-
zigung noch die Geisselung verhängt worden sei 20), und
folglich Pilatus, der gegen Jesum nicht grausam sein woll-
te, ihn nur in der besondern Absicht, welche Lukas und
Johannes melden, und welche auch bei ihren beiden Vor-
männern hinzuzudenken sei, könne haben geisseln lassen.
Weit wahrscheinlicher ist es vielmehr, daſs in der Wirk-
lichkeit zwar die Geisselung nur so, wie die zwei ersten
Evangelisten berichten, als Vorspiel zur Hinrichtung, vor-
genommen worden ist, die christliche Sage aber, wie ihr
zum Zeugniſs gegen die Juden am Charakter des Pilatus
diejenige Seite besonders willkommen war, vermöge wel-
cher er Jesum zu retten sich auf verschiedene Weise be-
strebt haben soll, so nun auch die Notiz von der Geisse-
lung benüzt habe, um an ihr einen neuen Befreiungsver-
such des Pilatus zu gewinnen. Diese Benützung erscheint
im dritten Evangelium nur erst als eine begonnene, indem
hier das Geisselnlassen bloſse Erbietung des Pilatus ist:
wogegen im vierten die Geisselung wirklich vollzogen, und
zu einem weiteren Akt des Drama verwendet wird.
An die Geisselung schlieſst sich bei den zwei ersten
Evangelisten und dem vierten die Miſshandlung und Ver-
spottung Jesu durch die Soldaten, welche ihm ein Pur-
purkleid umlegten, einen Kranz von Dorngesträuch ihm auf
das Haupt sezten 21), nach Matthäus ihm auch einen Rohr-
stab in die Hand gaben, und in dieser Vermummung ihn
theils als Judenkönig begrüſsten, theils schlugen und miſs-
[526]Dritter Abschnitt.
handelten 22). Lukas weiſs hier von keiner Verhöhnung
durch die Soldaten, wohl aber hat er in seiner Erzählung
von der Abführung Jesu zu Herodes etwas Ähnliches, in-
dem er hier den Herodes σὺν τοῖς ςρατεύμασιν αὐτοῦ Jesum
verspotten, und ihn in einer ἐσϑὴς λαμπρὰ zu Pilatus zu-
rücksenden läſst. Manche nehmen an, dieſs sei dasselbe Pur-
purgewand, welches nachher die Soldaten des Pilatus Je-
su zum zweitenmal angezogen haben; aber vielmehr drei-
mal müſste, wenn wir den Johannes dazunehmen, und zu-
gleich keinen der Synoptiker des Irrthums beschuldigen wol-
len, mit Jesu diese Vermummung vorgenommen worden
sein: zuerst bei Herodes (Lukas); hierauf ehe Pilatus Je-
sum den Juden vorführte, um durch das: ἴδε ὁ ἄνϑρωπος,
ihr Mitleid rege zu machen (Joh.); endlich noch einmal,
nachdem er den Soldaten zur Kreuzigung überlassen war
(Matth. und Markus). Dieſs ist nun ebenso unwahrschein-
lich, als es wahrscheinlich ist, daſs die Evangelisten eine
und dieselbe Vermummung, von der sie gehört, an ver-
schiedene Orte und Zeiten verlegt und verschiedenen Per-
sonen zugeschrieben haben.
Während bei den zwei ersten Evangelisten vor der
Geisselung Jesu die Gerichtsverhandlung bereits geschlos-
sen ist, bei'm dritten auf die Nichtannahme des παιδεύσας
αὐτὸν ἀπολύσω von Seiten der Juden Pilatus Jesum zur
Kreuzigung hingiebt: spinnt sich im vierten Evangelium
die Gerichtsscene folgendermaſsen noch weiter. Als auch die
Vorstellung des gegeisselten und vermummten Jesus nichts
fruchtet, sondern beharrlich seine Kreuzigung verlangt
wird, ruft der Procurator entrüstet den Juden zu, so mö-
gen sie selbst ihn hinnehmen und kreuzigen, denn er fin-
de keine Schuld an ihm. Die Juden erwiedern, nach ih-
[527]Drittes Kapitel. §. 127.
rem Gesez müsse er sterben, da er sich selbst zum νἱὸς
ϑεοῦ gemacht habe; eine Bemerkung, welche dem Pilatus
abergläubische Furcht einjagt, weſswegen er Jesum noch-
mals in das Prätorium hineinführt, und nach seiner (ob
wirklich himmlischen?) Abkunft fragt, worauf ihm aber Je-
sus keine Antwort giebt, und, als ihm der Procurator mit
der ihm zustehenden Gewalt über sein Leben Schrecken
einjagen will, ihn auf die höhere Macht, die ihm diese
Gewalt gegeben habe, verweist. Zwar strebte in Folge
dieser Reden Pilatus (noch angelegentlicher als bisher),
Jesum zu befreien: endlich aber fanden nun die Juden das
rechte Mittel, ihn nach ihrem Willen zu stimmen, indem
sie die Bemerkung hinwarfen, wenn er Jesum loslasse,
der sich dem Cäsar als Usurpator gegenüberstellte, sei er
kein φίλος τοῦΚαίσαρος. So, durch eine mögliche An-
schwärzung bei Tiberius eingeschüchtert, besteigt er den
Richterstuhl, und greift, da er seinen Willen nicht durch-
setzen kann, zum Hohn gegen die Juden, in der Frage,
ob sie denn wollen, daſs er ihren König kreuzigen solle?
worauf sie aber, die zulezt mit so sichtbarem Erfolg an-
genommene Stellung behauptend, erklären, von keinem Kö-
nig, als von dem Cäsar, wissen zu wollen. Jezt willigt
der Procurator darein, Jesum zur Kreuzigung führen zu
lassen, zu welchem Behuf man ihm, wie die zwei ersten
Evangelisten bemerken, den Purpurmantel auszog, und sei-
ne eigenen Kleider wieder anlegte.
§. 128.
Die Kreuzigung.
Schon über den Hingang Jesu zum Ort der Kreuzi-
gung differiren die Synoptiker und Johannes, indem dem
lezteren zufolge Jesus das Kreuz selber dahin trug (19, 17.),
während die ersteren melden, man habe es an seiner statt
einem Simon von Cyrene aufgelegt (Matth. 27, 32. parall.).
Die Commentatoren zwar, wie wenn es sich von selbst ver-
[528]Dritter Abschnitt.
stände, vereinigen diese Angaben dahin: zuerst habe Je-
sus selbst das Kreuz zu tragen versucht, hierauf aber, als
es sich zeigte, daſs er zu erschöpft war, habe man es dem
Simon aufgeladen 1). Allein wenn Johannes sagt: καὶ βα-
ςάζων τὸν ςαυρὸν αὑτοῦ ἐξῆλϑεν εἰς — Γολγαϑᾶ· ὅπου αὐτὸν
ἐςαύρωσαν: so sezt er offenbar nicht voraus, daſs auf dem
Weg dahin Jesu das Kreuz abgenommen worden wäre 2).
Es scheint aber die von den Synoptikern so einstimmig ge-
gebene Notiz von dem untergeschobenen Simon um so we-
niger abgewiesen werden zu können, je weniger sich ein
Anlaſs, aus dem sie erdichtet worden sein könnte, auffin-
den läſst. Wohl aber könnte dieser individuelle Zug im
Kreise der der Entstehung des vierten Evangeliums unbe-
kannt geblieben sein, und der Verfasser desselben sich ge-
dacht haben, daſs der allgemeinen Sitte zufolge Jesus selbst
das Kreuz werde haben tragen müssen. Sämmtliche Syn-
optiker bezeichnen jenen Simon als einen Κυρηναῖος, d. h.
wahrscheinlich einen, aus der libyschen Stadt Cyrene, wo
viele Juden wohnten 3), zum Fest nach Jerusalem Gekom-
menen. Nach allen wurde er auf gewaltsame Weise zum
Tragen des Kreuzes gebracht, was aber weder für, noch
gegen die Annahme, daſs er Jesu günstig gewesen, benüzt
werden kann 4). Nach Lukas und Markus kam der Mann
gerade ἀπ̕ ἀγροῦ, und wie er am Kreuzigungszug vorüber-
gehen wollte, verwendete man ihn zur Unterstützung Jesu.
Markus bezeichnet ihn noch bestimmter als πατὴρ Ἀλεξάν-
δρου καὶ Ῥουφου, ohne Zweifel, weil dieſs in der ersten Ge-
meinde bekannte Männer waren (vgl. A. G. 19, 33. Röm.
16, 13. 1. Tim. 1, 20. 2. Tim. 4, 14.) 5), an welche er,
[529]Drittes Kapitel. §. 128.
es ist nicht zu entscheiden, ob mit oder ohne geschichtli-
chen Grund, den Simon anknüpft.
Auf dem Hinweg zum Richtplaz, meldet Lukas, sei
eine groſse Volksmasse, namentlich auch Weiber, wehkla-
gend Jesu nachgefolgt, deren Klagen er aber auf sie selbst
und ihre Kinder verwiesen habe, mit Hinsicht auf die
schrecklichen Zeiten, welche bald über sie hereinbrechen
würden (23, 27 ff.). Die Züge sind theils aus der Rede
über die Parusie, Luc. 21, 23, entlehnt, da, wie dort den
Schwangeren und Säugenden in jener Zeit Wehe gerufen
war, so hier gesagt wird, es kommen ἡμέραι, in welchen
αἱ ςεῖραι, καὶ κοιλίαι αἳ οὐκ ἐγέννησαν, καὶ μαςοὶ οἳ οὐκ ἐϑή-
λασαν, werden glücklich gepriesen werden; theils ist aus
Hosea 10, 8. geborgt, denn das τότε ἄρξονται λέγειν τοῖς
ὄρεσι κ. τ. λ. ist beinahe wörtlich die alexandrinische Über-
setzung jener Stelle.
Den Plaz der Hinrichtung nennen sämmtliche Evange-
listen Golgatha, das chaldäische נֻּלְנַּלְתָּא, und erklären diese
Bezeichnung durch κρανίου τόπος oder κρανίον (Matth. V. 33.
parall.). Der letzteren Bezeichnung nach könnte es schei-
nen, der Ort sei von seiner schädelförmigen Figur so ge-
nannt gewesen; wogegen die erstere Erklärung und wohl
auch die Natur der Sache wahrscheinlicher macht, daſs
er seiner Bestimmung als Richtplaz und den daselbst be-
findlichen Gerippen und Schädeln der Hingerichteten seine
Benennung verdankte. Wo dieser Plaz gelegen habe, ist
nicht bekannt, doch ohne Zweifel ausserhalb der Stadt;
auch daſs er ein Hügel gewesen, wird nur vermuthet 6).
Den Hergang nach der Ankunft Jesu auf dem Richt-
plaz erzählt Matthäus (V. 34 ff.) in etwas sonderbarer Fol-
ge. Zuerst erwähnt er des Jesu angebotenen Tranks; dann,
daſs, nachdem sie ihn an das Kreuz geschlagen, die Sol-
Das Leben Jesu II. Band. 34
[530]Dritter Abschnitt.
daten seine Kleider vertheilt haben; hierauf, wie sie sich
niedersezten, um ihn zu bewachen; nach diesem die dem
Kreuz gegebene Überschrift, und nun erst wird, und zwar
nicht als Nachholung, sondern durch eine Partikel der Zeit-
folge (τότε) die Notiz angeknüpft, daſs man mit ihm zwei
Räuber gekreuzigt habe. Während Markus dem Matthäus
folgt, nur daſs er statt der Angabe der Bewachung des
Kreuzes eine Zeitbestimmung hat, berichtet Lukas richti-
ger zuerst die Kreuzigung der beiden Verbrecher mit Jesu,
dann erst die Kleiderverloosung, und in ähnlicher Abfolge
auch Johannes. Deſswegen aber die Verse bei Matthäus
umzustellen (34. 37. 38. 35. 36.), wie schon vorgeschlagen
wurde7), ist unerlaubt, und man muſs vielmehr auf dem
Verfasser des ersten Evangeliums hier die Beschuldigung
liegen lassen, daſs er über dem Bestreben, von den Haupt-
vorgängen bei der Kreuzigung Jesu nur keinen zu überge-
hen, die natürliche Zeitfolge vernachlässigt habe 8).
Was die Art der Kreuzigung betrifft, ist jezt kaum
mehr etwas streitig, als nur die Frage, ob dem Gekreu-
zigten ausser den Händen auch die Füſse angenagelt wor-
den seien? Die Bejahung dieser Frage liegt ebenso im
Interesse der orthodoxen, wie die Verneinung in dem der
rationalistischen Ansicht. Von Justin dem Märtyrer an 9)
bis auf Hengstenberg10) und Olshausen finden die Ortho-
doxen in den angenagelten Füſsen Jesu eine Erfüllung der
Weissagung Ps. 22, 17, wo die LXX. ὤρυξαν χεῖράς μου
καὶ πόδας übersezt: allein im Grundtext ist schwerlich von
Durchbohren, in keinem Fall von einer Kreuzigung die
Rede; auch wird die Stelle im N. T. nirgends auf Chri-
[531]Drittes Kapitel. §. 128.
stum angewendet. Den Rationalisten hingegen wird es
theils leichter, den Tod Jesu für bloſsen Scheintod zu er-
klären, theils nur dann möglich, zu begreifen, wie er nach
der Auferstehung sogleich wieder gehen konnte, wenn an
den Füſsen keine Verwundung stattgefunden hatte: allein
vielmehr, wenn es sich geschichtlich ergäbe, daſs wirklich
auch die Füſse Jesu angenagelt waren, müſste gefolgert
werden, daſs die Wiederbelebung und das Wandeln nach
derselben entweder auf übernatürliche Weise, oder gar
nicht, geschehen sei. Neuestens stehen sich besonders
zwei gelehrte und gründliche Untersuchungen dieses Punk-
tes, von Paulus und von Bähr, jene gegen, diese für die
Annagelung der Füſse, gegenüber 11). Aus der evangeli-
schen Erzählung kann die erstere Ansicht vor Allem das
für sich geltend machen, daſs weder jene Psalmstelle, die
doch unter Voraussetzung einer Fuſsannagelung dem Prag-
matismus der Evangelisten so nahe lag, irgendwo benüzt,
noch in der Auferstehungsgeschichte neben den Nägelmah-
len in den Händen und der Seitenwunde einer Wunde in
den Füſsen gedacht ist (Joh. 20, 20. 25. 27.): wogegen die
andere Ansicht sich nicht ohne Grund darauf beruft, daſs
Luc. 24, 39. Jesus die Jünger auffordert: ἴδετε τὰς χεῖ-
ράς μου καὶ τοὺς πόδας μου, wo zwar, daſs die Füſse durch-
bohrt gewesen, nicht gesagt, aber auch schwer zu begrei-
fen ist, wie, bloſs um von der Realität seines Körpers
überhaupt zu überzeugen, Jesus gerade die Füſse vorge-
zeigt haben soll. Daſs unter den Kirchenvätern auch sol-
che, welche, vor Constantin lebend, die Kreuzigung noch
aus eigener Anschauung kennen konnten, wie Justin und
Tertullian, die Füſse Jesu angenagelt werden lassen, ist
von Gewicht, und wenn man auch aus der Bemerkung des
lezteren: qui (Christus) solus a populo tam insigniter
34 *
[532]Dritter Abschnitt.
crucifixus est12), schlieſsen könnte, der Psalmstelle zu-
lieb haben diese Väter angenommen, Christus sei ausnahms-
weise mit Durchbohrung auch der Füſse gekreuzigt wor-
den: so wird doch, wenn er vorher die Durchbohrung
der Hände und Füſse die propria atrocia crucis nannte,
klar, daſs jene Worte nicht eine ausgezeichnete Art der
Kreuzigung, sondern die so auffallend mit der Weissagung
zusammentreffende Todesart der Kreuzigung bedeuten. Un-
ter den Stellen der Profanscribenten ist die wichtigste die
Plautinische, wo, allerdings als ausnahmsweise verschärfte
Kreuzigung, offigantur bis pedes, bis brachia vorkommt13).
Hier fragt es sich: soll das Ungewöhnliche in dem bis be-
stehen, so daſs als das auch sonst Übliche die einfache
Anheftung sowohl von Füſsen als Händen vorausgesetzt wird;
oder soll das bis offigere der Hände, d. h. daſs beide Hän-
de angenagelt wurden, das Gewöhnliche gewesen, das An-
nageln beider Füſse aber als ausserordentliche Verschär-
fung hinzugekommen sein? wovon jeder das Erstere den
Worten angemessener finden wird. Hienach scheint sich
mir dermalen das Übergewicht der historischen Gründe auf
Seiten derer zu neigen, welche behaupten, daſs Jesu am
Kreuz beides, Hände und Füſse, angenagelt worden seien.
Noch vor der Kreuzigung war es laut der beiden er-
sten Evangelisten, daſs Jesu ein Getränk angeboten wur-
de, welches Matthäus (V. 34.) als ὄξος μετὰ χολῆς μεμιγ-
μένον, Markus (V. 23.) als ἐσμυρνισμένον οἶνον bezeichnet,
das aber beiden zufolge Jesus, bei Matthäus nachdem er
es vorher gekostet, nicht zu sich nehmen mochte. Da man
nicht begreift, zu welchem Zwecke man unter den Essig
Galle gemischt haben möge, so erklärt man gewöhnlich die
χολὴ des Matthäus, aus dem ἐσμυρνισμένον des Markus,
von bittern vegetabilischen Ingredienzien, wie namentlich
[533]Drittes Kapitel. §. 128.
Myrrhe, und liest dann auch statt ὄξος entweder gerade-
zu οἶνον, oder versteht doch jenes von saurem Wein 14),
um so das betäubende Getränk aus Wein und starken Spe-
cereien herauszubringen, welches nach jüdischer Sitte den
Hinzurichtenden zur Abstumpfung des Schmerzgefühls ge-
reicht zu werden pflegte 15). Allein wenn auch der Text
diese Lesart, und die Worte diese Erklärungen zulieſsen,
so würde doch wohl Matthäus gegen die Hinausdeutung
der wirklichen Galle und des Essigs aus seiner Erzählung
sehr protestiren, weil ihm dadurch die Erfüllung der Wor-
te des auch sonst messianisch gebrauchten Unglückspsalms
69, V. 22. (LXX): καὶ ἔδωκαν εἰς τὸ βρῶμά μου χολὴν, καὶ
εἰς τὴν δίψαν μου ἐπότισάν με ὄξος, verloren gienge. Diesem
Orakel gemäſs meint Matthäus unstreitig wirkliche Galle
mit Essig, und aus der Vergleichung des Markus darf nur
die Frage genommen werden, ob es wahrscheinlicher sei,
daſs der Vorgang, wie ihn Markus darstellt, das Ursprüng-
liche gewesen, was erst Matthäus zu genauerer Ähnlichkeit
mit der Weissagung umgeformt, oder ob Matthäus ursprüng-
lich den Zug aus der Psalmstelle geschöpft, Markus aber
ihn hinterher zu gröſserer geschichtlicher Wahrscheinlich-
keit umgebildet habe?
Um hierüber entscheiden zu können, müssen wir auch
die beiden andern Evangelisten mit in die Betrachtung
ziehen. Von einer Tränkung Jesu mit Essig nämlich mel-
den alle viere, und auch jene beiden, welche den mit Gal-
le vermischten Essig, oder den Myrrhenwein, als den er-
sten Trank, der Jesu geboten wurde, haben, wissen spä-
ter noch von einer Tränkung mit bloſsem Essig zu sagen.
[534]Dritter Abschnitt.
Nach Lukas war das ὄξος προσφέρειν eine Verhöhnung,
welche die Soldaten gegen Jesum, wie es scheint, nicht
sehr lange nach der Kreuzigung, noch vor der Finsterniſs,
vornahmen (V. 36 f.); nach Markus reichte kurz vor dem
Ende, drei Stunden nach Entstehung der Finsterniſs, ei-
ner der Umstehenden auf den Ruf Jesu: mein Gott u. s. w.,
ihm, gleichfalls in spöttischer Absicht, mittelst eines auf
ein Rohr gesteckten Schwammes Essig dar (V. 36.); nach
Matthäus bot ihm einer der Umstehenden auf eben jenen
Ruf hin und auf dieselbe Weise den Essig, aber in guter
Absicht, wie man daraus sieht, daſs die Spötter ihn davon
abhalten wollten (V. 48 f.) 16); wogegen es bei Johannes
auf den ausdrücklichen Ruf: διψῶ, ist, daſs einige einen
Schwamm in ein in der Nähe stehendes Gefäſs mit Essig
tauchten, und auf einem Ysopstengel zum Munde Jesu
brachten (V. 29.). Man hat daher drei verschiedene Ver-
suche, Jesum zu tränken, angenommen: den ersten vor der
Kreuzigung, mit dem betäubenden Tranke (Matth. und
Markus), den zweiten nach der Kreuzigung, wo ihm die
Soldaten zum Hohne von ihrem gewöhnlichen Getränk, ei-
ner Mischung aus Essig und Wasser, posca genannt 17),
boten (Lukas), und endlich die dritte Tränkung, welche
auf den klagenden Ruf Jesu erfolgte (Matth. Mark. und
Joh.) 18). Allein, will man einmal Ungleichlautendes aus-
einanderhalten, so muſs man auch folgerecht verfahren:
soll die von Lukas berichtete Tränkung von der des Mat-
thäus und Markus wegen einer Zeitdifferenz verschieden
sein, so ist die des Matthäus von der des Markus durch
eine Differenz der Absicht verschieden, und wiederum ist
das, was Johannes berichtet, nicht dasselbe mit dem was
die beiden ersten Synoptiker, da es ja auf einen ganz an-
[535]Drittes Kapitel. §. 128.
dern Ruf Jesu erfolgt. So bekämen wir im Ganzen fünf
Tränkungen, und könnten wenigstens nicht wohl begreifen,
warum Jesus, nachdem ihm schon dreimal Essig zum Mun-
de geführt war, noch zum viertenmal zu trinken verlangt
hätte. Müssen wir demnach auf Vereinfachung bedacht
sein: so ist aber keineswegs nur die Tränkung bei den
zwei ersten Evangelisten und dem vierten wegen des Zu-
sammentreffens der Zeit und der Art der Darreichung für
Eine zu erklären, sondern ebenso die des Markus (und
mittelst dieser die übrigen) mit der des Lukas wegen Gleich-
heit der höhnischen Absicht. So bleiben uns zwei Trän-
kungen, die eine vor der Kreuzigung, die andre nach der-
selben, und beide haben, die erstere an der jüdischen Sit-
te mit dem betäubenden Trank für Hinzurichtende, die an-
dre an der römischen, vermöge welcher die Soldaten zu
Expeditionen, dergleichen auch die Vollziehung der Hin-
richtung eine war, ihre posca mit sich zu führen pflegten,
einen historischen, an der Weissagung Ps. 69. aber einen
prophetischen Haltpunkt. Beide Haltpunkte wirken entge-
gengesezt: der prophetische erregt Verdacht, ob auch wirk-
lich der Erzählung etwas Geschichtliches zum Grunde lie-
ge; der historische macht es zweifelhaft, daſs die ganze
Sache nur aus Weissagungen sollte herausgesponnen sein.
Doch überblicken wir noch einmal die verschiedenen
Berichte, so sind ihre Abweichungen ganz von der Art,
wie sie aus verschiedener Anwendung der Psalmstelle ent-
stehen konnten. Da in derselben von Galleessen und
Essigtrinken die Rede war, so scheint die Sage zunächst
das Erstere, als undenkbar, bei Seite gelassen, und die
Erzählung gebildet zu haben, die wir bei allen vier Evan-
gelisten finden, daſs Jesus am Kreuz mit Essig getränkt
worden sei. Dieſs konnte man entweder als Handlung des
Mitleids, wie Matthäus und Johannes, oder des Spottes,
mit Markus und Lukas, betrachten. Da auf diese Weise
zwar das ἐπότισάν με ὄξος, noch nicht aber auch das
[536]Dritter Abschnitt.
εἰς τὴν δίψαν μου des Orakels ausdrücklich erfüllt war, so
hielt es der Verfasser des vierten Evangeliums für wahr-
scheinlich, daſs Jesus auch wirklich die Empfindung des
Durstes geäussert, d. h. διψῶ gerufen habe; ein Ruf, den
er ausdrücklich als Erfüllung der γραφὴ, worunter ohne
Zweifel die genannte Psalmstelle (vgl. Ps. 22, 16.) ver-
standen ist, bezeichnet, und zwar, indem er das ἵνα τε-
λειωϑῇ ἡ γραφὴ durch εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς, ὅτι πάντα ἤδη τε-
τέλεςαι einleitet, so scheint er fast sagen zu wollen, die
Erfüllung der Weissagung sei die eigene Absicht Jesu bei
jenem Ausruf gewesen: allein mit solchem typologischen
Spiel wird kein am Kreuz im Todeskampf Begriffener sich
abgeben, sondern nur sein in ruhiger Lage befindlicher
Biograph. Indeſs, auch hiedurch war immer nur die eine
Hälfte jenes messianischen Verses, die auf den Essig be-
zügliche, erfüllt: die von der Galle handelnde, welche als
Inbegriff aller Bitterkeit zu einer Beziehung auf den lei-
denden Messias ganz besonders geeignet schien, war noch
übrig. Zwar, daſs χολὴ als βρῶμα gegeben worden sei,
was die Psalmstelle strenggenommen verlangte, blieb als un-
denkbar bei Seite gestellt: wohl aber schien es dem ersten
Evangelisten, oder wem er hier folgt, thunlich, die Galle
als Ingredienz unter den Essig zu mischen, eine Mischung,
welche dann freilich Jesus, des übeln Geschmacks wegen,
nicht trinken konnte. Der zweite Evangelist, mehr auf
den pragmatischen als auf den prophetischen Zusammen-
hang bedacht, machte dann, mit Beziehung auf eine jüdi-
sche Sitte, aus dem Essig mit Galle bittern Myrrhenwein,
und lieſs Jesum diesen, ohne Zweifel aus Scheue vor Be-
räubung, ausschlagen. Da aber diesen beiden Evangelisten
neben der Erzählung von dem mit Galle gemischten Essig
auch noch die ursprüngliche, von bloſsem Essig, zugekom-
men war: so wollten sie diese durch jene nicht verdrän-
gen lassen, und stellten daher beide nebeneinander. Hie-
mit soll keineswegs geleugnet werden, daſs Jesu vor der
[537]Drittes Kapitel. §. 128.
Kreuzigung ein solcher Mischtrank, und nachher noch Es-
sig möge gereicht worden sein, da jenes, wie es scheint, ge-
wöhnlich, und dieses bei dem Durst, welcher die Gekreu-
zigten plagt, natürlich war: nur so viel soll gesagt sein,
daſs die Evangelisten diesen Umstand, und zwar in so ver-
schiedenen Wendungen, nicht deſswegen erzählen, weil sie
historisch wuſsten, er sei auf diese oder jene Weise wirk-
lich vorgekommen, sondern weil sie dogmatisch überzeugt
waren, er müsse jener Weissagung zufolge, die sie aber ver-
schiedentlich anwandten, sich ereignet haben.
Während oder unmittelbar nach der Kreuzigung läſst
Lukas Jesum sprechen: πάτερ, ἄφες αὐτοῖς· οὺ γὰρ οἴδασι
τί ποιοῦσι (V. 34.), eine Fürbitte, die man bald auf die
Soldaten, die ihn kreuzigten, beschränkt 19), bald auf die
eigentlichen Urheber seines Todes, die Synedristen und Pi-
latus, ausdehnt 20). So angemessen eine solche Bitte den
sonstigen Grundsätzen Jesu über Feindesliebe ist (Matth.
5, 44.), und so viele innere Glaubwürdigkeit von dieser
Seite die Notiz des Lukas hat: so ist doch, zumal er mit
derselben allein steht, darauf aufmerksam zu machen, daſs
möglicherweise dieser Zug aus dem für messianisch gehal-
tenen Abschnitt Jes. 53. genommen sein könnte, wo es im
lezten Vers, in demselben, aus welchem auch das μετὰ
ἀνόμων ἐλογίσϑη entlehnt ist, heiſst: וְלַפּשְׁעִים יַפְנִּיעַ, was
zwar die LXX. unrichtig durch διὰ τὰς ἀνομίας αὐτῶν παρ-
εδόϑη, aber bereits das Targum Jonathan durch pro pec-
catis (sollte heiſsen peccatoribus) deprecatus est wie-
dergiebt.
Daſs mit Jesu zugleich δύο κακοῦργοι, welche Mat-
thäus und Markus als λῃςὰς bezeichnen, in der Art ge-
kreuzigt worden seien, daſs sein Kreuz in der Mitte stand,
darin stimmen die Evangelisten zusammen, und Markus,
[538]Dritter Abschnitt.
wenn sein 28ter Vers ächt ist, sieht darin eine wörtliche
Erfüllung des jesaianischen: μετὰ ἀνόμων ἐλογίσϑη, welches
nach Luc. 22, 37. Jesus schon am Abend vorher als eine
demnächst an ihm zu erfüllende Weissagung angeführt hatte.
Von dem weiteren Verhalten dieser Mitgekreuzigten berich-
tet uns Johannes nichts; die beiden ersten Synoptiker las-
sen sie Schmähungen gegen Jesum ausstoſsen (Matth.
27, 44. Marc. 15, 32.): wogegen Lukas erzählt, nur der
eine von ihnen habe sich dieſs erlaubt, sei aber von dem
andern zurechtgewiesen worden (23, 39 ff.). Um diese Dif-
ferenz auszugleichen, haben die Erklärer die Voraussetzung
gemacht, zuerst mögen wohl beide Verbrecher Jesum ge-
schmäht haben, dann aber durch die ausserordentliche Fin-
sterniſs der eine umgestimmt worden sein 21); neuere ha-
ben sich auf eine enallage numeri berufen 22): gewiſs aber
nur diejenigen recht gesehen, welche eine wirkliche Diffe-
renz zwischen Lukas und seinen Vormännern zugaben 23).
Offenbar haben von dem Genaueren, was jener über das
Verhältniſs der beiden Mitgekreuzigten zu Jesu zu berich-
ten weiſs, die zwei ersten Evangelisten nichts gewuſst. Nä-
her erzählt nämlich Lukas, als der eine der beiden Ver-
brecher Jesum durch die Aufforderung höhnte, wenn er
wirklich der Messias sei, sich und sie zu befreien, habe
ihm der andere solchen Hohn gegen einen, mit dem er
doch das gleiche Schicksal, und zwar als Schuldiger mit
dem Unschuldigen, theile, ernstlich verwiesen, Jesum aber
gebeten, wenn er in seiner βασιλεία kommen werde, sei-
ner zu gedenken; worauf ihm Jesus das Versprechen ge-
geben habe, noch heute werde er mit ihm ἐν τῷ παραδεί-
σψ sein. An dieser Scene ist von vorn herein nichts An-
stöſsiges, bis zu der Anrede des zweiten Mitgekreuzigten
[539]Drittes Kapitel. §. 128.
an Jesum. Denn um von einem am Kreuz Hängendenein
einstiges Kommen zur Errichtung des Messiasreichs zu er-
warten, dazu gehörte das ganze System von einem ster-
benden Messias, welches die Apostel vor der Auferstehung
nicht begriffen, und welches somit ein λῃςὴς vor ihnen
gefaſst haben müſste. Dieſs ist so unwahrscheinlich, daſs
es kein Wunder ist, wenn Manche in der Bekehrung des
Räubers am Kreuz ein Wunder haben sehen wollen 24),
und es wird durch die Annahme, welche die Erklärer zu
Hülfe rufen, der Mensch werde wohl kein gemeiner, son-
dern ein politischer Verbrecher, vielleicht einer der συ-
ςασιαςῶν des Barabbas, gewesen sein 25), nur noch un-
denkbarer. Denn war er ein zum Aufruhr geneigter Is-
raëlit, der auf Befreiung seines Volks vom römischen Jo-
che hinarbeiten wollte: so war gewiſs auch seine Idee
vom Messias am weitesten davon entfernt, einen politisch
so ganz vernichteten, wie Jesus damals war, als solchen
anzuerkennen. Man darf aber nur ein Auge für Sagen-
bildung haben, so wird man sie hier besonders kenntlich
wiederfinden. Zwei Übelthäter waren mit Jesu gekreuzigt,
so viel hatte die Geschichte, oder auch dieſs schon die
Weissagung Jes. 53, 12, an die Hand gegeben. Sie hiengen
zunächst als stumme Personen da, wie wir sie im vierten
Evangelium finden, in dessen Entstehungsgebiet nur die
einfache Nachricht, daſs sie mit Jesu gekreuzigt worden,
gedrungen war. So unbenüzt aber konnte sie die Sage in
die Länge unmöglich lassen: sie öffnete ihnen den Mund,
und da sie übrigens nur von Schmähungen der Umgeben-
den zu berichten hatte, so lieſs sie in den allgemeinen Hohn
[540]Dritter Abschnitt.
gegen Jesum auch die beiden Übelthäter, zunächst ohne
nähere Angabe ihrer Reden, einstimmen (Matth. und Mar-
kus). Doch die Mitgekreuzigten lieſsen sich noch besser
benützen. Hatte ein Pilatus Zeugniſs für Jesum abgelegt,
zeugte bald darauf ein römischer Centurio, ja die ganze
wunderbar aufgeregte Natur für ihn: so werden auch sei-
ne beiden Leidensgenossen, wiewohl Verbrecher, gegen den
Eindruck seiner Gröſse nicht ganz verschlossen geblieben
sein, sondern, wenn zwar der eine, der ursprünglichen
Gestaltung der Sage gemäſs, lästerte, so muſste wohl der
andere sich in entgegengeseztem Sinn geäussert, und Glau-
ben an Jesus als den Messias bewiesen haben (Lukas).
Ganz im Geist der jüdischen Denk- und Redeweise ist dann
seine Anrede an Jesum und dessen Antwort; denn das Pa-
radies war nach damaliger Vorstellung derjenige Theil der
Unterwelt, welcher die Seelen der Frommen in der Zwi-
schenzeit zwischen ihrem Tod und der Auferstehung be-
herbergen sollte; um eine Stelle im Paradies und ein gnädi-
ges Andenken im künftigen Äon bittet der Israëlite Gott,
und so hier den Messias 26), und von einem ausgezeich-
net frommen Manne glaubte man, daſs er den in seiner
Sterbestunde Anwesenden mit sich in das Paradies einfüh-
ren könne 27).
Dem Kreuz Jesu wurde nach römischer Sitte 28) eine
ἐπιγραφὴ (Marc. Luc.), ein τίτλος (Joh.), angeheftet, der
τὴν αἰτίαν αὐτοῦ (Matth. Marc.) enthielt, welche nach sämmt-
lichen Evangelisten durch die Worte: ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰου-
[541]Drittes Kapitel. §. 128.
δαίων bezeichnet war. Lukas und Johannes melden, daſs
diese Aufschrift in drei Sprachen zu lesen gewesen sei,
und der leztere giebt noch die Notiz, daſs die jüdischen
Obern den Spott, der in dieser Fassung der Überschrift
gegen ihre Nation lag, wohl gefühlt, und deſshalb den
Pilatus, jedoch vergeblich, um Abänderung derselben ge-
beten haben (V. 21 f.).
Von den Soldaten, welche Jesum gekreuzigt hatten,
deren Zahl Johannes auf vier angiebt, berichten die Evan-
gelisten einstimmig, daſs sie die Kleider Jesu mit Anwen-
dung des Looses unter sich vertheilt haben. Nach dem
römischen Gesez de bonis damnatorum29) fielen die Klei-
dungsstücke der Hingerichteten als spolia den Vollstreckern
des Urtheils zu, und insofern hat jene Angabe der Evan-
gelisten einen historischen Anhaltspunkt. Doch, wie die
meisten Züge dieser lezten Scene im Leben Jesu, hat sie
auch einen prophetischen. Bei Matthäus zwar ist die An-
führung der Stelle Ps. 22, 19. ohne Zweifel eingeschoben,
sicher ächt dagegen dasselbe Citat bei Johannes (19, 24.):
ἵνα ἡ γραφὴ πληρωϑῇ ἡ λέγουσα (wörtlich nach der LXX).
διεμερίσαντο τὰ ἱμάτιά μου ἑαυτοῖς, καὶ ἐπὶ τὸν ἱματισμόν
μουἔβαλον κλῆρον. Auch hier hat nach der Versicherung
der orthodoxen Ausleger der Verfasser des Psalms, David,
nach einer höheren Leitung, im Zustand der Begeisterung
solche bildliche Ausdrücke gewählt, welche bei Christo in
eigentlichem Sinne zugetroffen sind 30). Vielmehr aber
gab David, oder wer sonst der Urheber des Psalms ist,
als ein Mann von dichterischem Geist jene Ausdrücke nur
bildlich, im Sinne von gänzlichem Unterliegen; aber die
kleinlichte, prosaische Auslegungsweise der späteren Ju-
[542]Dritter Abschnitt.
den, welche die Evangelisten ohne ihre Schuld theilten,
und von welcher sich die orthodoxen Theologen, aber
durch eigne Schuld, nach 18 Jahrhunderten noch immer
nicht frei gemacht haben, glaubte jene Worte eigentlich
nehmen, und in diesem Sinn als am Messias erfüllt nach-
weisen zu müssen. — Ob nun die Evangelisten die Klei-
derverloosung mehr aus historischen Nachrichten, die ih-
nen zu Gebote standen, oder aus der prophetischen Stelle,
welche sie verschiedentlich auslegten, geschöpft haben,
muſs aus der Vergleichung ihrer Berichte sich ergeben.
Diese weichen darin von einander ab, daſs, während den
Synoptikern zufolge sämmtliche Kleider durch das Loos
vertheilt wurden, was schon aus dem διεμερίσαντο τὰ ἱμά-
τια αὐτοῦ, βάλλοντες κλῆρον bei Matthäus (V. 35.) und der
ähnlichen Wendung des Lukas (V. 34.), am entschieden-
sten aber aus dem Zusaz des Markus: τίς τί ᾄρῃ (V. 24.),
erhellt: bei Johannes die übrigen Stücke ohne Loos ver-
theilt, und nur um das Unterkleid geloost wird (V. 23 f.).
Diese Abweichung wird gewöhnlich viel zu leicht genom-
men, und stillschweigend so behandelt, als ob die Dar-
stellung der Synoptiker zur johanneischen sich nur wie die
unbestimmtere zur bestimmteren verhielte. Kuinöl über-
sezt mit Rücksicht auf den Johannes das Matthäische
διεμερίζοντο βάλλοντες geradezu durch: partim divide-
bant, partim in sortem conjiciebant; allein so läſst sich
nicht theilen, sondern das διεμερίζοντο giebt an, was, das
βάλλοντες κλ., wie sie es gethan haben: ohnehin über das
τίς τί ᾄρῃ schweigt Kuinöl still, weil hierin unverkennbar
liegt, daſs sie um mehrere Stücke geloost haben, während
sich nach Johannes das Loos nur auf Ein Kleidungsstück
bezog. Fragt es sich nun, welche von beiden widerspre-
chenden Angaben die richtige sei, so wird auf dem jetzi-
gen Standpunkt der vergleichenden Evangelienkritik die
Antwort ohne Zweifel so lauten, daſs der Augenzeuge Jo-
hannes das Richtige gebe, den Synoptikern aber sei nur
[543]Drittes Kapitel. §. 128.
das Unbestimmte zu Ohren gekommen, daſs bei der Ver-
theilung der Kleider Jesu die Soldaten das Loos in An-
wendung gebracht haben, und dieſs haben sie aus Unkennt-
niſs der näheren Verhältnisse so verstanden, als ob über
sämmtliche Kleidungsstücke Jesu das Loos geworfen wor-
den wäre. Allein, wenn schon der Umstand, daſs gerade
Johannes allein es ist, der die Psalmstelle ausdrücklich
anführt, eine vorzügliche Berücksichtigung derselben von
seiner Seite beweist, so ist überhaupt diese Abweichung
der Evangelisten eine solche, welche einer verschiedenen
Auslegung jener Stelle auf's Genaueste entspricht. Wenn
der Psalm von einem Vertheilen der Kleider und Verloo-
sen des Gewandes redet, so ist im Sinne des hebräischen
Parallelismus das zweite nur nähere Bestimmung des er-
sten, und in richtigem Verständniſs hievon setzen die Syn-
optiker das eine der beiden Verba in's Participium. Wer
aber entweder diese Eigenheit des hebräischen Sprachge-
brauchs nicht berücksichtigte, oder ein Interesse hatte, je-
den einzelnen Zug der Weissagung als besonders erfüll-
ten herauszuheben, der konnte jene näher bestimmende
copula als hinzufügend fassen, und so in dem Verloosen
einen von dem Vertheilen verschiedenen Akt finden. Dann
muſste auch der ἱματισμὸς (לְבוּשׁ), welcher ursprünglich
ein synonymum von ἱμάτια (בְּגָדִים) war, ein von diesen
verschiedenes Kleidungsstück werden, dessen nähere Be-
stimmung, weil sie im Wort auf keine Weise lag, dem
Belieben überlassen blieb. Der vierte Evangelist bestimmte
es als χιτὼν, und weil er seinen Lesern auch einen Grund
schuldig zu sein glaubte, warum auf dieses Stück ein von
der Vertheilung der übrigen so verschiedenes Verfahren
angewendet worden sei, brachte er heraus, der Grund,
warum man das Unterkleid lieber verloosen als zertheilen
wollte, werde wohl gewesen sein, daſs es keine das Zer-
trennen begünstigenden Nähte gehabt (ἄῤῥαφος), aus Einem
[544]Dritter Abschnitt.
Stück gewoben (ὑφαντὸς δἰ ὅλου) gewesen sei 31). Da ha-
ben wir also bei dem vierten Evangelisten ganz dasselbe
Verfahren, wie wir es in der Geschichte des Einzugs auf
Seiten des ersten gefunden haben: beidemale die Verdopp-
lung eines ursprünglich einfachen Zugs aus falscher Fas-
sung der copula im hebräischen Parallelismus; nur ist der
erste Evangelist an jener Stelle darin noch weniger willkühr-
lich, als hier der vierte, daſs er uns wenigstens mit der Auf-
spürung des Grundes verschont, warum damals für Einen Rei-
ter zwei Esel haben requirirt werden müssen. Je mehr sich
auf diese Weise die Darstellung des bezeichneten Punkts
bei den Evangelisten abhängig zeigt von der Art, wie je-
der jene vermeintlich prophetische Psalmstelle verstand: de-
sto weniger scheint eine sichere historische Kunde an ih-
rer Darstellung Theil gehabt zu haben, und wir wissen
demnach nicht, ob bei der Vertheilung der Kleider Jesu
das Loos angewendet, ja ob überhaupt unter dem Kreuze
Jesu eine Kleidertheilung vorgenommen worden ist; so
zuversichtlich sich Justin gerade auch für diesen Zug auf
die Akten des Pilatus beruft, welche er nie gesehen hatte32).
Von dem Benehmen der bei'm Kreuze Jesu anwesen-
den Juden meldet uns Johannes nichts; Lukas läſst das
Volk zuschauend dastehen, und nur die ἄρχοντες und die
Soldaten Jesum durch die Aufforderung, sich zu retten,
wenn er der Messias sei, wozu von Seiten der lezteren
noch das Anbieten des Essigs kommt, verhöhnen (V. 35 ff.);
Matthäus und Markus haben von einem Spott der Solda-
ten hier nichts, dafür aber lassen sie ausser den ἀρχιερεῖς,
γραμματεῖς und πρεσβύτεροι noch die παραπορευόμενοι Lä-
[545]Drittes Kapitel. §. 128.
sterungen gegen Jesum ausstoſsen (V. 39 ff. 29 ff.). Die
Äusserungen dieser Leute beziehen sich theils auf frühere
Reden und Thaten Jesu, wie der Spott: ὁ καταλύων τὸν
ναὸν καὶ ἐν τρισὶν ἡμέραις οἰκοδομῶν, σῶσον σεαυτὸν (Matth.
Mark.) auf die gleichlautende Rede, die man Jesu zu-
schrieb, der Vorwurf aber: ἄλλους ἔσωσεν, ἑαυτὸν οὐ δύναται
σῶσαι oder σωσάτω ἑαυτὸν (bei allen dreien) auf seine Hei-
lungen sich bezieht. Theils aber ist das Benehmen der
Juden gegen den Gekreuzigten nach demselben Psalm ge-
zeichnet, von welchem Tertullian mit Recht sagt, daſs er
totam Christi passionem in sich enthalte 33). Wenn wir
nämlich bei Matthäus und Markus lesen: οἱ δὲ παρα-
πορευόμενοι ἐβλασφήμουν (Lukas von den ἄρχοντες: ἐξε-
μυκτήριζον) αὐτὸν, κινοῦντες τὰς κεφαλὰς αὑτῶν καὶ λέγον-
τες· so ist dieſs doch gewiſs nichts Anderes, als was Ps.
22, 8. (LXX.) steht: πάντες οἱ ϑεωροῦντές με ἐξεμυκτήρι-
σάν με, ἐλάλησαν ἐν χείλεσιν, ἐκίνησαν κεφαλὴν, und hierauf
bei Matthäus die den Synedristen geliehenen Worte: πέ-
ποιϑεν ἐπὶ τὸν ϑεὸν, ῥυσάσϑω νῦν αὐτὸν, εἰ ϑέλει αὐτὸν,
sind ganz dieselben mit den Worten des folgenden Verses
in jenem Psalm: ἤλπισεν ἐπὶ Κύριον, ῥυσάσϑω αὐτόν· σω-
σάτω αὐτὸν, ὅτι ϑέλει αἰτόν. Kann nun zwar jenes Spot-
ten und Kopfschütteln der Feinde Jesu, unerachtet die
Zeichnung desselben nach einer A. T.lichen Stelle abge-
schattet ist, dennoch gar wohl wirklich so vor sich gegan-
gen sein: so verhält es sich dagegen mit dieser den Spöt-
tern geliehenen Rede anders. Worte, die, wie die ange-
gebenen, im A. T. den Feinden des Frommen in den Mund
gelegt sind, konnten die Synedristen nicht adoptiren, oh-
ne damit sich selbst als Gottlose hinzustellen, wovor sie
sich wohl gehütet haben werden. Nur die christliche Sage,
wenn sie einmal den Psalm auf das Leiden Jesu, und na-
mentlich auf seine lezten Stunden, anwandte, konnte auch
Das Leben Jesu II. Band. 35
[546]Dritter Abschnitt.
diese Worte den jüdischen Obern in den Mund legen, und
darin die Erfüllung einer Weissagung finden.
Daſs von den Zwölfen einer bei der Kreuzigung Jesu
zugegen gewesen wäre, davon melden die zwei vorderen
Evangelisten nichts; sie erwähnen bloſs mehrerer galiläischen
Frauen, von welchen sie drei namhaft machen, nämlich
Maria Magdalena, Maria, die Mutter des kleinen Jako-
bus und des Joses, und Matthäus die Mutter der Zebe-
daiden, nach der gewöhnlichen Ansicht dieselbe, welche
Markus Salome nennt (Matth. V. 55 f. Marc. V. 40 f.):
die Zwölfe scheinen sich nach ihnen von ihrer Flucht bei
Jesu Gefangennehmung noch nicht wieder gesammelt ge-
habt zu haben 34). Bei Lukas dagegen sind unter den
πάντες οἱ γνωςοὶ αὐτοῦ, welche er der Kreuzigung zusehen
läſst (V. 49.), wohl auch die Zwölfe mitzubegreifen: das
vierte Evangelium aber nennt von den Jüngern ausdrück-
lich denjenigen, ὸν ἠγάπα ὁ Ἰ., d. h. den Johannes, als
anwesend, und unter den Frauen, neben Maria Magdalena
und der von Klopas benannten, statt der Mutter der Ze-
bedaiden die eigene Mutter Jesu. Und zwar, während
nach allen übrigen Berichten die Bekannten Jesu μακρόϑεν
stehen, müſsten dem vierten Evangelium zufolge Johannes
und die Mutter Jesu in der nächsten Nähe des Kreuzes
gestanden haben, da nach dessen Bericht Jesus vom Kreuz
herunter den Johannes zum Stellvertreter in dem kindlichen
Verhältniſs zu seiner Mutter beruft (V. 25 ff.). Wenn Olshau-
sen den Widerspruch, welcher zwischen der synoptischen
Angabe und der johanneischen Voraussetzung von der Stel-
lung der Bekannten Jesu zu seinem Kreuze stattfindet,
durch die Vermuthung zu heben meint, daſs dieselben An-
fangs zwar ferne gestanden, späterhin aber einige nahe
an das Kreuz herangetreten seien: so ist hiegegen zu be-
[547]Drittes Kapitel. §. 128.
merken, daſs die Synoptiker gerade am Schluſs der Kreu-
zes- und Todesscene, unmittelbar vor der Kreuzabnahme,
jener Stellung der Angehörigen Jesu gedenken, also vor-
aussetzen, daſs sie dieselbe bis zum Ende der Scene ein-
genommen haben, was wir der furchtsamen Stimmung der
Jünger in jenen Tagen, und namentlich der weiblichen
Schüchternheit, ganz angemessen finden müssen. Könnte
man zwar von der mütterlichen Zärtlichkeit vielleicht den
Heroismus eines näheren Hinzutretens erwarten: so macht
dagegen das völlige Schweigen der Synoptiker, als der In-
terpreten der gewöhnlichen evangelischen Tradition, die
historische Realität jenes Zuges zweifelhaft. Die Synopti-
ker können weder von der Anwesenheit der Mutter Jesu
bei'm Kreuz etwas gewuſst haben: sonst würden sie vor
allen andern Frauen sie als die Hauptperson namhaft ma-
chen; noch scheint von einem engeren Verhältniſs dersel-
ben zu Johannes etwas bekannt gewesen zu sein: wenig-
stens läſst die Apostelgeschichte (1, 13 f.) die Mutter Jesu
mit den Zwölfen überhaupt, seinen Brüdern und den
Frauen zusammensein. Wie aber die Kunde von jener rüh-
renden Gegenwart und diesem merkwürdigen Verhältniſs
verloren gehen konnte, begreift sich wenigstens nicht so
leicht, als wie sie in dem Kreise, aus welchem das vierte
Evangelium hervorgegangen ist, hat entstehen können.
Müssen wir uns nach früher erwogenen Spuren diesen
Kreis als einen solchen denken, in welchem der Apostel
Johannes besondere Verehrung genoſs, weſswegen ihn denn
unser Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Ver-
trauten Jesu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger
macht: so konnte zur Besiegelung dieses Verhältnisses
nichts Schlagenderes gefunden werden, als die Angabe, daſs
Jesus die theuerste Hinterlassenschaft, seine Mutter (in
Beziehung auf welche, wie auf den angeblichen Lieblings-
jünger, ohnehin die Frage nahe lag, ob sie denn in dieser
lezten Noth von der Seite Jesu gewichen seien?), dem Jo-
35 *
[548]Dritter Abschnitt.
hannes gleichsam leztwillig übergeben, diesen somit an sei-
ne Stelle gesezt, ihn zum vicarius Christi gemacht habe.
Ist die Anrede Jesu an die Mutter und den Jünger
dem vierten Evangelium eigenthümlich: so findet sich um-
gekehrt der Ausruf: ἠλὶ, ἠλὶ, λαμὰ σαβαχϑανί; nur in den
zwei ersten Evangelien (Matth. V. 46. Marc. V. 34.). Die-
ser Ausruf und der innere Zustand, aus welchem er her-
vorgegangen, wird, wie der Seelenkampf in Gethse-
mane, von der kirchlichen Ansicht als ein Theil des stell-
vertretenden Leidens Jesu gefaſst. Da man sich jedoch
auch hier das Auffallende nicht verbergen konnte, welches
darin liegt, daſs das bloſs äusserliche, körperliche Leiden
Jesum bis zum Gefühl der Gottverlassenheit niedergedrückt
haben sollte, während es vor und nach ihm solche gege-
ben hat, welche unter ebenso groſsen Martern doch die
Fassung und Stärke des Geistes beibehalten haben: so hat
die kirchliche Ansicht auch hier zu dem körperlichen Lei-
den als den eigentlichen Grund jener Stimmung Jesu ein
Zurückweichen Gottes von seinem Innern, eine Empfin-
dung des göttlichen Zorns, hinzugefügt, was an der Stelle
der Menschen, die es eigentlich als Strafe verdient hätten,
über ihn verhängt worden sei 35). Wie aber bei den kirch-
lichen Voraussetzungen über die Person Christi ein Zurück-
weichen Gottes von seinem Innern gedacht werden kann,
mögen die Vertheidiger dieser Ansicht selbst zusehen. Soll
es die menschliche Natur in ihm gewesen sein, die sich so
verlassen fühlte: so wäre ihre Einheit mit der göttlichen
unterbrochen, also die Grundlage der Persönlichkeit Chri-
sti nach jenem System aufgehoben gewesen; oder die gött-
liche: so hätte sich die zweite Person in der Gottheit von
der ersten losgerissen; der aus beiden Naturen bestehen-
de Gottmensch aber kann es ebensowenig gewesen sein,
[549]Drittes Kapitel. §. 128.
was sich gottverlassen fühlte, da dieser ja eben die Ein-
heit und Unzertrenntheit des Göttlichen und Menschlichen
ist. So durch den Widerspruch dieser supranaturalisti-
schen Erklärung zu der natürlichen Ableitung jenes Aus-
rufs aus dem Gefühl des äusseren Leidens zurückgewor-
fen, und doch von der Annahme, daſs durch dieses Jesus
so tief sollte gebeugt gewesen sein, abgestossen, hat man
dem Ausruf einen milderen Sinn unterzulegen versucht.
Da es die Anfangsworte des für diesen lezten Abschnitt im
Leben Jesu classischen Ps. 22. sind, dieser Psalm aber mit
klagender Schilderung tiefsten Leidens zwar beginnt, doch
im Verlauf zu froher Hoffnung der Rettung sich aufschwingt:
so hat man angenommen, die Worte, welche Jesus unmit-
telbar ausspricht, geben nicht seine ganze Empfindung,
sondern, indem er den ersten Vers ausspreche, citire er
damit den ganzen Psalm, namentlich auch seinen freudi-
gen Schluſs, gleich als wollte er sagen: auch ich zwar,
wie der Verfasser jenes Psalms, scheine jezt von Gott ver-
lassen, aber an mir, wie an ihm, wird sich nur um so
mehr die Hülfe Gottes verherrlichen 36). Allein, that Je-
sus jenen Ausruf in Bezug auf die Umstehenden, um sie
der baldigen Wendung seines Schicksals zu versichern:
so hätte er es auf die zweckwidrigste Weise angegriffen,
wenn er gerade diejenigen Worte des Psalms ausgespro-
chen hätte, welche vom tiefsten Elend handeln, und er
hätte statt des ersten Verses eher einen der Verse vom
10ten bis 12ten, oder vom 20ten bis zum Ende anführen
müssen; wollte er aber durch jenen Ruf nur seiner eignen
Empfindung Luft machen: so würde er nicht diesen Vers
gewählt haben, wenn nicht eben das in diesem, sondern
das in den folgenden ausgesprochene Gefühl sein eigenes
in diesem Augenblick gewesen wäre. War es aber sein
[550]Dritter Abschnitt.
eigenes, und, nach Beseitigung übernatürlicher Erklärungs-
gründe, aus seiner damaligen äussern Calamität hervorge-
gangen: so konnte derjenige, welcher, wie die Evange-
lien von Jesu berichten, das Leiden und Sterben längst in
seinen Messiasbegriff aufgenommen, mithin als göttliche
Führung begriffen hatte, das nunmehr wirklich eingetre-
tene schwerlich als eine Gottverlassenheit beklagen, son-
dern der Gedanke würde sehr nahe liegen, Jesus habe sich
in früher gehegten Erwartungen durch die unglückliche
Wendung seines Schicksals getäuscht gefunden, und so in
Durchführung seines Plans von Gott verlassen geglaubt 37).
Doch auf solche Vermuthungen hätten wir dann erst uns
einzulassen, wenn jener Ausruf Jesu historisch sicher be-
gründet wäre. In dieser Hinsicht würde uns zwar das
Stillschweigen des Lukas und Johannes nicht so sehr an-
fechten, daſs wir zu Erklärungen desselben unsre Zuflucht
nähmen, wie die: Johannes habe den Ausruf verschwie-
gen, um nicht der gnostischen Ansicht Vorschub zu thun,
als hätte der leidensunfähige Äon Jesum damals schon ver-
lassen gehabt 38); wohl aber macht das Verhältniſs der
Worte Jesu zum 22ten Psalm diesen Zug verdächtig. War
nämlich der Messias einmal als leidender aufgefaſst, und
wurde jener Psalm gleichsam als ein Programm seines Lei-
dens benüzt, wozu es keineswegs des Anlasses bedurfte,
daſs Jesus am Kreuz eine Stelle desselben wirklich ange-
führt hatte: so muſsten die Anfangsworte des Psalms, wel-
che das Gefühl des tiefsten Leidens aussprechen, sich ganz
besonders eignen, dem gekreuzigten Messias in den Mund
gelegt zu werden. In diesem Fall könnte dann auch die
auf jenen Ausruf Jesu sich beziehende Spottrede 39) der
[551]Drittes Kapitel. §. 128.
Umstehenden, ὅτι Ἠλίαν φωνεῖ οὖτος u. s. w., nur so ent-
standen sein, daſs dem Wunsch, für diese Scene dem
Psalm gemäſs verschiedene Spottreden zu bekommen, der
Gleichklang des ἠλὶ in dem Jesu geliehenen Ausruf mit
dem auf den Messias bezogenen Elias entgegengekommen
wäre.
Über den lezten Laut, welcher von dem sterbenden
Jesus vernommen wurde, differiren die Evangelisten. Nach
den beiden ersten war es bloſs eine φωνὴ μεγάλη, mit
welcher er verschied (V. 50. 37.); nach Lukas das Gebet:
πάτερ, εἰς χεῖράς σου παραϑήσομαι τὸ πνεῦμά μου (V. 46.);
nach Johannes das kurze τετέλεςαι, worauf er das Haupt
neigte und verschied (V. 30.). Hier lassen sich die zwei
ersten Evangelisten mit je einem oder dem andern der fol-
genden durch die Annahme vereinigen: was jene unbe-
stimmt als lauten Schrei bezeichnen, und was man nach
ihrer Darstellung für einen unartikulirten Schmerzenslaut
halten könnte, davon geben diese näher die Worte an.
Schwerer hingegen fällt die Vereinigung der zwei lezten
Evangelien miteinander. Denn soll nun Jesus zuerst sei-
ne Seele Gott befohlen, und hierauf noch: es ist vollbracht!
gerufen haben, oder umgekehrt: so ist beides gleichsehr
gegen die Absicht der Evangelisten, da des Lukas καὶ ταῦ-
39)
[552]Dritter Abschnitt.
τα εἰπὼν ἐξέπνευσεν, nicht mit Paulus durch „bald nach-
dem er dieses gesprochen, verschied er“ wiedergegeben
werden kann, und Johannes schon dem Worte nach einen
lezten, abschlieſsenden Ausruf geben will, welchen aber
der eine so, der andre anders dachte. Dem Lukas scheint
die für das Sterben Jesu gewöhnliche Formel: παρέδωκε
τὸ πνεῦμα, zu einer ausdrücklichen Übergabe des Geistes
an Gott von Seiten Jesu geworden zu sein, und mit Rück-
icht auf die Stelle Ps. 31, 6. (LXX): (κύριε) εἰς χεῖράς
σου παραϑήσομαι τὸ πνεῦμά μου — eine Stelle, die sich we-
gen der genauen Ähnlichkeit dieses Psalms mit dem 22ten
leicht darbot, sich zu jenem Ruf ausgebildet zu haben.
Wogegen der Verfasser des vierten Evangeliums mehr aus
der Situation Jesu heraus ihm einen Ausruf geliehen zu
haben scheint, indem er ihn durch das τετέλεςαι die Voll-
endung seines Werks, oder die Erfüllung sämmtlicher
Weissagungen (mit Ausnahme natürlich dessen, was sich
erst noch in der Auferstehung vollenden und erfüllen soll-
te) aussprechen läſst.
Doch nicht bloſs diese lezten, sondern auch schon die
früheren Reden Jesu am Kreuz lassen sich nicht so, wie
man gemeiniglich glaubt, ineinanderschieben. Man zählt
gewöhnlich sieben Worte Jesu am Kreuze: allein so viele
hat kein einzelner Evangelist, sondern die beiden ersten
haben nur Eines: den Ruf ἠλὶ, ἠλὶ κ. τ. λ.; Lukas hat drei:
die Bitte für die Feinde, die Verheiſsung an den Mitge-
kreuzigten, und die Übergabe des Geistes in des Vaters
Hände; Johannes hat gleichfalls drei, aber andere: die
Anrede an Mutter und Jünger, das διψῶ, und das τετέλε-
ςαι. Hier lieſsen sich die Fürbitte, die Verheiſsung, und
die Anempfehlung der Mutter wohl in solcher Aufeinan-
derfolge denken: aber das διψῶ und das ἠλὶ verwickeln
sich bereits, indem nach beiden Ausrufungen das Gleiche,
die Tränkung mit Essig durch einen auf ein Rohr gesteck-
ton Schwamm, erfolgt sein soll. Nimmt [man] hiezu die
[553]Drittes Kapitel. §. 128.
Verwicklung des τετέλεςαι und des πάτερ κ. τ. λ.: so soll-
te man wohl einsehen und zugestehen, daſs keiner der
Evangelisten bei den Worten, welche er Jesu am Kreuz
in den Mund legt, auf diejenigen, welche der andre ihm
leiht, gerechnet, und von denselben etwas gewuſst habe;
vielmehr mahlt diese Scene jeder auf seine Weise, je nach-
dem er oder die ihm zu Gebot stehende Sage nach dieser
oder jener Weissagung oder sonstigen Rücksicht die Vor-
stellung von derselben ausgebildet hatte.
Eigenthümliche Schwierigkeit macht hier noch die
Stundenzählung. Nach sämmtlichen Synoptikern fand ἀπὸ
ἕκτης ὥρας ἕως ὥρας ἐννάτης (nach unsrer Rechnung von
Mittags 12 bis Nachmittags 3 Uhr) die Finsterniſs statt;
nach Matthäus und Markus war es um die leztere Stun-
de, daſs Jesus über Gottverlassenheit klagte und bald dar-
auf den Geist aufgab; nach Markus war es ὥρα τρίτη
(Vorm. 9 Uhr) gewesen, als sie Jesum kreuzigten (V. 25.).
Dagegen hat nach Johannes (19, 14.) um die sechste Stun-
de, wo nach Markus Jesus bereits drei Stunden am Kreu-
ze hieng, Pilatus erst über ihn zu Gericht gesessen. Dieſs
ist, wenn nicht, wie zu Hiskias Zeiten, der Sonnenzeiger
rückwärts gegangen sein soll, ein Widerspruch, der
sich weder durch gewaltsame Änderung der Lesart, noch
durch Berufung auf das ὡσεὶ bei Johannes, oder auf die
Unfähigkeit der Jünger, unter so schmerzvollen Eindrü-
cken die Stunde genau zu beobachten, heben läſst; höch-
stens vielleicht dadurch, wenn sich beweisen lieſse, daſs
das vierte Evangelium durchaus von einer andern Stunden-
zählung als die übrigen ausgehe 40).
[554]Dritter Abschnitt
Viertes Kapitel.
Tod und Auferstehung Jesu.
§. 129.
Die Naturerscheinungen bei'm Tode Jesu.
Der Tod Jesu war nach den evangelischen Berichten
von ausserordentlichen Erscheinungen begleitet. Schon drei
Stunden vorher soll eine Finsterniſs sich verbreitet, und
bis zu seinem Verscheiden gedauert haben (Matth. 27, 45.
parall.); im Augenblick des Todes sei der Vorhang im
Tempel von oben an bis unten aus zerrissen, die Erde ha-
be gebebt, die Felsen sich gespalten, die Gräber sich auf-
gethan, und viele Leiber heiliger Verstorbenen seien aufer-
standen, in die Stadt gekommen, und Vielen erschienen
(Matth. V. 51 ff. parall.). In diese Nachrichten theilen
sich übrigens die Evangelien sehr ungleich: nur das erste
enthält sie alle; das zweite und dritte bloſs die Finster-
niſs und den zerrissenen Vorhang; das vierte aber weiſs
von allen diesen Zeichen nichts.
Nehmen wir sie einzeln nach der Reihe vor, so kann
zuerst das σκότος, welches, während Jesus am Kreuze hieng,
entstanden sein soll, keine gewöhnliche, durch Dazwi-
sehenkunft des Mondes vermittelte Sonnenfinsterniſs gewe-
sen sein 1), da es ja am Pascha, also um die Zeit des Voll-
[555]Viertes Kapitel. §. 129.
monds, war. Indem nun aber auch die Evangelien nicht
bestimmt von einer ἔκλειψις τοῦἡλίου sprechen, sondern die
beiden ersten nur überhaupt von σκότος, wozu das dritte
etwas genauer: καὶ ἐσκοτίσϑη ὁ ἥλιος sezt, was aber gleich-
falls von jeder Art der Verdunkelung des Sonnenlichts ge-
sagt werden kann: so lag es nahe, statt einer astronomi-
schen an eine atmosphärische Ursache dieser Finsterniſs
zu denken, und sie von verdunkelnden Dämpfen in der
Luft, wie sie zumal vor Erdbeben herzugehen pflegen,
abzuleiten 2). Daſs solche Verdunkelungen der Luft über
ganze Länder sich ausbreiten können, ist richtig; aber wenn
auch die ὅλη oder πᾶσα ἡ γῆ, über welche sich diese Finster-
niſs erstreckt haben soll, nicht mit Fritzsche als der ganze
Erdkreis genommen wird, so zeigt doch der Zusammen-
hang, in welche sie die Evangelisten stellen, deutlich genug,
daſs sie sich etwas Wunderbares dachten; wobei dann aber
das Suchen nach einem denkbaren Grund und Zweck des
Wunders in die Frage nach seiner historischen Realität sich
verwandeln muſs. Für diese beriefen sich die Kirchenvä-
ter auf Zeugnisse heidnischer Schriftsteller, von welchen
namentlich Phlegon in seinen χρονικοῖς jene Finsterniſs
angemerkt haben sollte 3): allein wenn man die bei Euse-
bius wahrscheinlich aufbewahrte Stelle des Phlegon ver-
gleicht, so ist in dieser nur die Olympiade, schwerlich das
Jahr, in keinem Fall die Jahrszeit und der Tag dieser
Finsterniſs bestimmt 4). Neuere berufen sich auf ähnliche
Fälle aus der alten Geschichte, von welchen namentlich
Wetstein eine reiche Sammlung angelegt hat. Er bringt
aus griechischen und römischen Schriftstellern die Notizen
von den Sonnenfinsternissen bei, welche bei der Wegnah-
[556]Dritter Abschnitt.
me des Romulus, bei'm Tode Cäsars 5), und ähnlichen Er-
eignissen, stattgefunden; er führt Stellen an, welche die
Vorstellung aussprechen, daſs Sonnenfinsternisse den Sturz
von Reichen, den Tod von Königen bedeuten; endlich weist
er A. T.liche (Jes. 50, 3. Joël 3, 20. Amos 8, 9. vgl. Jer.
15, 9.) und rabbinische Stellen nach, in welchen theils die
Verfinsterung des Tageslichts als das göttliche Trauerco-
stüm beschrieben 6), theils der Tod groſser Lehrer mit dem
plözlichen Untergang der Sonne am Mittag verglichen 7),
theils die Ansicht vorgetragen wird, daſs bei dem Tode
hoher hierarchischen Beamten, wenn ihnen die lezte Eh-
re nicht erwiesen werde, die Sonne sich zu verfinstern
pflege 8). Aber statt Stützen der Glaubwürdigkeit der
evangelischen Erzählung zu sein, sind diese Parallelen eben-
so viele Prämissen zu dem Schlusse, daſs wir auch hier
nur eine aus verbreiteten Vorstellungen entsprungene christ-
liche Sage haben, welche den tragischen Tod des Messias
von der ganzen Natur durch ihr solennes Trauercostüm
mitfeiern lassen wollte 9).
Das zweite Prodigium ist das Zerreissen des Tem-
pelvorhangs, ohne Zweifel des inneren, vor dem Allerhei-
ligsten, indem das diesen bezeichnende פָּרֹכֶת von der LXX.
durch καταπέτασμα wiedergegeben zu werden pflegt. Auch
dieſs Zerreissen des Vorhangs glaubte man als natürliches
[557]Viertes Kapitel. §. 129.
Ereigniſs deuten zu können, indem man es als Wirkung
der Erderschütterung ansah. Allein von dieser ist, wie
schon Lightfoot richtig bemerkt, eher begreiflich, wie sie
feste Körper, dergleichen die nachher erwähnten πέτραι
sind, als wie sie einen dehnbaren, freihängenden Vorhang
zu zerreissen im Stande war. Daher soll nun nach Paulus
Annahme der Vorhang im Tempel ausgespannt, unten und
auf den Seiten befestigt gewesen sein. Allein theils ist
dieſs bloſse Vermuthung, theils, wenn das Erdbeben die
Wände des Tempels so stark erschütterte, daſs ein, ob
auch ausgespannter, doch immer noch dehnbarer Vorhang
zerriſs: so wäre von solcher Erschütterung wohl eher et-
was am Gebäude eingefallen, wie nach dem Hebräerevan-
gelium geschehen sein soll 10): wenn man nicht mit Kuin-
öl die weitere Vermuthung hinzufügen will, der Vorhang
sei vor Alter mürbe, und daher auch durch eine kleine Er-
schütterung zu zerreissen gewesen. Daſs in keinem Fall
unsre Berichterstatter an einen solchen Causalzusammen-
hang gedacht haben, beweist des zweiten und dritten Evan-
gelisten Schweigen von dem Erdstoſs, und bei dem er-
sten das, daſs er desselben erst nach dem Zerreissen des
Vorhangs gedenkt. Müssen wir demnach dieses Ereigniſs,
wenn es sich wirklich zugetragen haben soll, als wunder-
bares festhalten: so müſste der göttliche Zweck bei dessen
Hervorbringung dieser gewesen sein, auf die jüdischen
Zeitgenossen einen starken Eindruck von der Bedeutsam-
keit des Todes Jesu hervorzubringen, und den ersten Ver-
kündigern des Evangeliums etwas an die Hand zu geben,
worauf sie sich in ihren Beweisführungen stützen könnten.
Allein, wie auch Schleiermacher herausgehoben hat, nir-
[558]Dritter Abschnitt.
gends sonst im N. T., weder in den apostolischen Brie-
fen, noch in der A. G., noch im Brief an die Hebräer, auf
dessen Wege es fast nicht umgangen werden konnte, ge-
schieht dieses Faktums eine Erwähnung: sondern bis auf
diese trockene synoptische Notiz ist jede Spur desselben
verloren, was schwerlich der Fall sein könnte, wenn es
wirklich einen Stüzpunkt apostolischer Beweisführung ge-
bildet hätte. Es müſste also die göttliche Absicht bei
Veranstaltung dieses Wunders durchaus verfehlt worden
sein, oder, da dieſs undenkbar ist, so kann es nicht
um dieses Zweckes willen, d. h. aber, da sich ein andrer
nicht denken läſst, gar nicht geschehen sein. In anderer
Weise kommt freilich ein eigenthümliches Verhältniſs Jesu
zum jüdischen Tempelvorhang im Hebräerbrief zur Spra-
che. Während vor Christo nur die Priester in das Heili-
ge, in das Allerheiligste aber nur der Hohepriester Ein-
mal des Jahrs mit dem Sühnungsblute Zutritt gehabt habe,
sei Christus als ewiger Hoherpriester mittelst seines eignen
Blutes εἰς τὸ ἐσώτερον τοῦ καταπετάσματος, in das Aller-
heiligste des Himmels, eingegangen, womit er der πρόδρο-
μος der Christen geworden sei, und auch ihnen den Zu-
gang dahin eröffnet, eine αἰώνιον λύτρωσιν gestiftet habe
(6, 19 f. 9, 6—12. 10, 19 f.). Diese Metaphern findet auch
Paulus unsrer Erzählung so verwandt, daſs er es möglich
findet, diese zu den Fabeln zu rechnen, welche nach dem
Henke'schen Programm e figurato genere dicendi abzulei-
ten sind; wenigstens sei die Sache, wenn auch wirklich
vorgefallen, doch den Christen vorzüglich wegen jener, den
Bildern des Hebräerbriefs verwandten symbolischen Be-
deutsamkeit wichtig gewesen, daſs nämlich durch Christi
Tod der Vorhang des jüdischen Cultus zerrissen, der
Zutritt zu Gott ohne Priester durch προσκυνεῖν ἐν πνεύ-
ματι jedem eröffnet sei. Ist aber, wie gezeigt, die histo-
rische Wahrscheinlichkeit des fraglichen Ereignisses so
schwach, dagegen die Anlässe, aus welchen die Erzählung
[559]Viertes Kapitel. §. 129.
ohne historischen Grund sich bilden konnte, so bedeutend:
so ist es folgerichtiger, mit Schleiermacher den Vorgang
als geschichtlichen ganz aufzugeben, in Erwägung, daſs
„sobald man anfieng, das Verdienst Christi unter den im
Brief an die Hebräer herrschenden Bildern darzustellen,
ja schon bei den ersten, leisesten Übergängen zu dieser
Lehrweise, bei der ersten Aufnahme der Heiden, die man
zum jüdischen Cultus nicht verpflichtete, und die also auch
ohne Antheil an den jüdischen Sühnungen blieben, solche
Darstellungen in die christlichen Hymnen [und die evan-
gelischen Erzählungen] kommen muſsten 11).“
Über das folgende: ἡ γῆ ἐσείσϑη, καὶ αι πέτραι ἐσχίσ-
ϑησαν, kann nur im Zusammenhang mit dem Vorhergehen-
den geurtheilt werden. Ein Erdbeben, welches Felsen zer-
reiſst, ist als natürliche Erscheinung möglich: nicht sel-
ten aber kommt es auch als mythische Ausschmückung ei-
nes groſsen Todesfalles vor, wie Virgil bei Cäsars Tode
nicht allein die Sonne sich verfinstern, sondern auch von
ungewohnter Erschütterung die Alpen erzittern läſst 12).
Da wir nun die vorhergemeldeten Prodigien nur aus die-
sem lezteren Gesichtspunkt haben fassen können, und da
überdieſs gegen die historische Begründung der jezt vorlie-
genden Züge ihr alleiniges Vorkommen bei Matthäus spricht:
so werden wir auch sie nur so ansehen, wie Fritzsche
sagt: ‘Messiae obitum atrocibus ostentis, quibus, quantus
vir quummaxime exspirâsset, orbi terrarum indicaretur,
illustrem esse oportebat.’
Das lezte, gleichfalls dem ersten Evangelium eigen-
thümliche Wunderzeichen bei'm Tode Jesu ist die Eröff-
nung der Gräber, der Hervorgang vieler Todten aus den-
selben, und deren Erscheinung in Jerusalem. Diesen Vor-
gang sich denkbar zu machen, fällt besonders schwer. An
[560]Dritter Abschnitt.
sich schon ist weder klar, wie es diesen althebräischen
ἁγίοις13) nach dieser Auferstehung ergangen sein soll 14)
noch auch ist über den Zweck einer so ausserordentli-
chen Veranstaltung etwas Genügendes auszumitteln 15).
Rein in den Auferweckten selbst scheint der Zweck nicht
gelegen zu haben, da sich sonst kein Grund denken lies-
se, warum sie alle eben im Momente des Todes Jesu aufer-
weckt wurden, und nicht jeder in dem durch den Gang sei-
ner eigenen Entwicklung bedingten Zeitpunkte. War aber
die Ueberzeugung Anderer der Zweck: so wäre dieser
noch weniger erreicht worden als bei dem Wunder des
zerrissenen Vorhangs, da auf die Erscheinung der Heili-
gen nicht nur in den apostolischen Briefen und Reden jede
Berufung fehlt, sondern auch unter den Evangelisten Mat-
thäus mit seiner Erwähnung derselben allein steht. Eine
besondere Schwierigkeit erwächst aus der wunderlichen
Stellung, welche zwischen den scheinbar zusammengehöri-
gen Momenten der Begebenheit die Zeitbestimmung μετὰ
τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ einnimmt. Denn wenn man diese Worte
zum Vorhergehenden zieht, also die verstorbenen From-
men im Augenblick des Todes Jesu nur wiederbelebt wer-
den, aus den Gräbern aber erst nach seiner Auferstehung
gehen läſst: so wäre dieſs eine Qual für Verdammte, nicht
ein Lohn für Heilige gewesen; verbindet man dagegen jene
[561]Viertes Kapitel. §. 129.
Zeitbestimmung mit dem Folgenden, so daſs die Aufer-
weckten zwar gleich nach ihrer bei'm Tode Jesu erfolg-
ten Wiederbelebung auch aus den Gräbern hervorgegan-
gen sein, aber erst nach seiner Auferstehung sollen in die
Stadt haben gehen dürfen: so sucht man von dem Lezte-
ren vergeblich irgend einen Grund. Diese Schwierigkei-
ten zu vermeiden, ist es eine grobe Gewalthülfe gewesen,
die ganze Stelle ohne kritische Gründe für eingeschoben
zu erklären 16); feiner ist die Art, wie die rationalisti-
schen Erklärer durch Beseitigung des Wunderbaren in dem
Ereigniſs auch die übrigen Schwierigkeiten wegzuräumen
suchen. Wie bei'm Zerreissen des Vorhangs wird auch
hier meistens an das Erdbeben angeknüpft: durch dieses
sollen mehrere Grabmäler, namentlich auch von Prophe-
ten, geöffnet worden sein, in welchen man, sei es, daſs
sie verschüttet, oder verwest, oder von wilden Thieren ge-
raubt worden waren, keine Leichen mehr gefunden habe.
Als nun nach Jesu Auferstehung die ihm Geneigten unter
den Bewohnern Jerusalems voll von Auferstehungsgedanken
gewesen, so haben diese Gedanken, zusammen mit den leer-
gefundenen Gräbern, Träume und Visionen in ihnen er-
regt, in welchen sie die in jenen Gräbern beigesezt ge-
wesenen frommen Vorfahren zu sehen geglaubt haben 17).
Allein die leergefundenen Gräber hätten auch mit der
Kunde von Jesu Auferstehung zusammen schwerlich sol-
che Träume hervorgebracht, wenn nicht schon vorher un-
ter den Juden die Erwartung geherrscht hätte, der Mes-
sias werde die verstorbenen frommen Israëliten auferwe-
cken. War aber diese Erwartung vorhanden, so konnte
aus derselben, eher als Träume, vielmehr die Sage von
Das Leben Jesu II. Band. 36
[562]Dritter Abchnitt.
einer bei'm Tode Jesu geschehenen Auferstehung der Hei-
ligen hervorgehen, weſswegen Hase mit Recht die Voraus-
setzung von Träumen fallen läſst, und allein mit den leer-
gefundenen Gräbern auf der einen und jener jüdischen
Erwartung auf der andern Seite auszureichen sucht 18).
Näher angesehen indeſs, wenn einmal diese Vorstellung
vorhanden war, so bedurfte es keiner wirklichen Eröff-
nung der Gräber, um einem solchen Mythus Entstehung
zu geben, und so hat Schneckenburger die leergefundenen
Gräber aus seiner Rechnung weggelassen 19). Wenn nun
aber er statt dessen von visionären Erscheinungen spricht,
welche, durch Jesu Auferstehung angeregt, seine Anhänger
in Jerusalem gehabt haben: so ist dieſs ebenso einseitig, wie
wenn Hase, die Träume weglassend, an der Graböffnung
festhält; da, wenn einmal das eine, dann auch das andere
dieser engverbundenen Momente als historisch aufgegeben
werden muſs.
Freilich ist hiegegen nicht ohne Schein bemerkt wor-
den, daſs zur Erklärung des Entstehens eines solchen My-
thus die angeführte jüdische Erwartung nicht ausreiche 20).
Die Erwartung war näher diese. Vom Apostel Paulus
(1 Thess. 4, 16. vrgl. 1 Kor. 15, 22. f.) und bestimmter aus der
Apokalypse (20, 4. f.) wissen wir, daſs die ersten Christen
bei der Wiederkunft Christi eine Auferstehung der From-
men erwarteten, welche mit Christo 1000 Jahre regieren
sollten; erst nach dieser Zeit sollten dann auch die übri-
gen auferstehen, und von dieser zweiten Auferstehung
wurde jene als ἡ ἀνάςασις ἡ πρώτη, oder τῶν δικαίων (Luc.
14, 14.) wofür Justin ἡ ἁγία ἀνάςασις hat 21) unterschie-
den. Doch dieſs ist schon die christianisirte Form der
[563]Viertes Kapitel. §. 129.
jüdischen Vorstellung; diese bezog sich nicht auf die Wie-
derkunft, sondern auf die erste Ankunft des Messias, und
erwartete bei dieser nur die Auferstehung der Israëli-
ten 22). In die Zeit der ersten Parusie des Messias ver-
legt nun zwar auch die Nachricht bei Matthäus jene
Auferweckung: aber warum sie dieselbe gerade an seinen
Tod knüpft, dafür liegt allerdings in der jüdischen Er-
wartung an und für sich kein Grund, und in der Modifi-
cation, welche die Anhänger Jesu an dieser Erwartung
anbrachten, hätte, wie es scheint, eher ein Anlaſs gelegen,
die Auferweckung der Frommen mit seiner Auferste-
hung zu verbinden, zumal die Anknüpfung an seinen Tod
mit der sonstigen urchristlichen Vorstellung in Wider-
spruch zu kommen scheint, welcher zufolge Jesus πρωτότοκος
ἐκ τῶν νεκρῶν (Kol. 1, 18. Offenb. 1, 5), ἀπαρχὴ τῶν κεκοιμη-
μένων (1 Kor. 15, 20.) ist. Doch wir wissen ja nicht, ob
diese Vorstellung die allgemeine war, und wenn die Ei
nen der eminenten Würde Jesu schuldig zu sein glaub-
ten, ihn als den ersten der Auferstandenen zu betrachten,
so bieten sich doch auch Gründe dar, welche Andere be-
wegen konnten, schon bei seinem Tod einige Fromme auf-
erstehen zu lassen. Einmal der äussere: da unter den
Prodigien bei Jesu Tod auch ein Erdbeben hervorgehoben
ist, und in der Beschreibung seiner Heftigkeit dem πέτραι
ἐσχίσϑησαν sich leicht das auch sonst bei Schilderung hef-
tiger Erdbeben vorkommende 23)μνημεῖα ἀνεῴχϑησαν bei-
gesellen konnte: so war bier ein einladender Anknüpfungs-
punkt für die Auferstehung der Frommen gegeben. Aber
auch aus dem Innern der Vorstellung vom Tode Jesu her-
aus, wie sie sich frühzeitig in der christlichen Gemeinde
ausbildete, daſs nämlich derselbe das eigentlich erlösende
36 *
[564]Dritter Abschnitt.
Moment seiner Wirksamkeit ausmache, und namentlich durch
den daran geknüpften Hinabgang zum Hades (1 Petr. 3, 19. f.)
die früher Verstorbenen aus demselben befreit worden
seien 24), konnte sich ein Anlaſs ergeben, gerade durch
den Tod Jesu die Bande des Grabes für die alten Frommen
gesprengt werden zu lassen. Ohnehin wurde durch diese
Stellung noch entschiedener als durch eine Verbindung
mit Jesu Wiederbelebung die Auferweckung der Gerech-
ten nach jüdischer Vorstellung in die erste Parusie des
Messias gesezt, eine Vorstellung, welche in judaisirenden
Kreisen der ersten Christenheit gar wohl noch in einer solchen
Erzählung nachklingen konnte, während ein Paulus und
auch der Verfasser der Apokalypse bereits auch die ἀνάςασις
ἡ πρώτη in die zweite, erst zu erwartende Ankunft des
Messias verlegten. Mit Rücksicht auf diese Vorstellung
scheint es dann, daſs, wahrscheinlich vom Verfasser des
ersten Evangeliums selbst, das μετὰ τὴν ἔγερσιν αὐτοῦ als
Restriction angebracht wurde.
Ihre Beschreibung der Vorgänge bei dem Tode Jesu
schlieſsen die Synoptiker mit einer Angabe des Eindrucks,
welchen dieselben, zunächst auf den wachhabenden römi-
schen Centurio, gemacht haben. Nach Lukas (V. 47.)
war dieser Eindruck durch τὸ γενόμενον, d. h., da er die
Finsterniſs schon früher, zulezt aber nur das Verschei-
den Jesu mit lautem Gebet gemeldet hat, durch eben die-
ses leztere hervorgebracht, wie denn Markus, den Lukas
gleichsam auslegend, den Hauptmann dadurch, daſs Jesus
οὓτω κράξας ἐξέπνευσεν, zu dem Ausruf: ὁ ἄνϑρωπος οὖτος
υἱὸς ἦν ϑεοῦ, veranlaſst werden läſst (V. 39.). Bei Lukas
nun, der als die lezten Laute Jesu ein Gebet giebt, ist
wohl etwa zu begreifen, wie durch dieses erbauliche Ende
der Hauptmann zu einer vortheilhaften Ansicht von Jesu
[565]Viertes Kapitel. §. 130.
gebracht werden mochte: wie hingegen aus dem Verschei-
den mit lautem Geschrei auf die Würde eines Gottessohns
geschlossen werden konnte, will auf keine Weise einleuch-
ten. Die passendste Beziehung aber giebt dem Ausruf
des Centurio Matthäus, welcher denselben durch das Erd-
beben und die übrigen Vorfälle bei'm Tode Jesu veran-
laſst sein läſst: wenn nur nicht die historische Realität dieser
Rede des Hauptmanns mit der ihrer angeblichen Veran-
lassungen stände und fiele. In der Angabe der Worte
des Centurio hingegen hat hinwiederum Lukas die histo-
rische Wahrscheinlichkeit besser, als seine beiden Vor-
männer, beobachtet. Denn Jesum als υἱὸς ϑεοῦ erklärt im
jüdischen Sinne hat der römische Krieger schwerlich: er
konnte es nur im Sinne der heidnischen Götterzeugungen;
in diesem Sinne aber melden die Evangelisten wenig-
stens seinen Ausspruch nicht, sondern sie wollen hier
selbst einen Heiden für die Messianität Jesu zeugen las-
sen: wogegen, daſs er, wie Lukas berichtet, Jesum als
ἄνϑρωπος δίκαιος bezeichnet hätte, an sich wohl möglich
wäre, wenn nicht mit der ganzen Darstellung der Kreu-
zigungs- und Todesscene auch dieser Schluſsstein dersel-
ben verdächtig würde — zumal bei Lukas, der zu dem
Eindruck auf den Hauptmann noch den auf die übrige
Volksmenge fügt, und diese mit Zeichen der Reue und
Trauer in die Stadt zurückkehren läſst, ein Zug, welcher
nicht sowohl anzugeben scheint, was die Juden wirklich
empfunden und gethan, als was sie nach christlicher An-
sicht hätten thun und empfinden sollen.
§. 130.
Der Lanzenstich in die Seite Jesu.
Während die Synoptiker Jesum von der ὥρα ἐννάτη,
d. h. Nachmittags 3 Uhr, wo er verschied, bis zu der ὀψία,
d. h. wohl bis gegen 6 Uhr Abends, am Kreuze hängen
lassen, ohne daſs weiter etwas mit ihm vorgienge: schiebt
[[566]]Dritter Abschnitt.
der vierte Evangelist eine merkwürdige Zwischenscene ein.
Nach ihm baten nämlich die Juden, um zu verhüten, daſs
nicht durch das Hängenbleiben der Gekreuzigten der be-
vorstehende besonders heilige Sabbat entweiht würde, den
Procurator, es möchte durch Zerschlagung der Beine ihr
Tod beschleunigt, und sie sofort abgenommen werden.
Die hiezu beauftragten Soldaten vollzogen dieſs an den bei-
den neben Jesu gekreuzigten Verbrechern: wie sie aber
an Jesu die Zeichen des bereits eingetretenen Todes bemerk-
ten, hielten sie bei ihm ein solches Vornehmen für über-
flüssig, und begnügten sich, in seine Seite einen Speerstich
zu machen, worauf Blut und Wasser herausfloſs (19, 31
—37.).
Diese Thatsache wird gewöhnlich als Hauptbeleg für
die Wirklichkeit des Todes Jesu angesehen, und im Ver-
hältniſs zu ihr der aus den Synoptikern zu führende Be-
weis für unzulänglich gehalten. Nach derjenigen Rech-
nung nämlich, welche den längsten Zeitraum giebt, der des
Markus, hieng Jesus von der dritten bis neunten, also 6
Stunden, am Kreuze, ehe er starb; wenn, wie Manchen
wahrscheinlich gewesen ist, bei den beiden andern Synop-
tikern die mit der sechsten Stunde eingetretene Finsterniſs
zugleich den Anfang der Kreuzigung bezeichnet, so hieng
nach ihnen Jesus nur drei Stunden lebend am Kreuze,
und wenn wir bei Johanne die jüdische Stundenzählung
voraussetzen, und ihm die gleiche Ansicht vom Zeitpunkt
des Todes Jesu zuschreiben: so müſste, da er um die
sechste Stunde den Pilatus erst das Urtheil sprechen läſst,
Jesus nach nicht viel über zwei Stunden Kreuzigung be-
reits gestorben sein. So schnell aber tödtet die Kreuzigung
sonst nicht: was theils aus der Natur dieser Strafe, wel-
che nicht durch starke Verwundung ein schnelles Verblu-
ten, sondern mehr nur durch Ausspannung der Glieder
ein allmähliges Erstarren hervorbringt, sich ergiebt; theils
aus den eigenen Angaben der Evangelisten erhellt, nach
[567]Viertes Kapitel. §. 130.
welchen Jesus unmittelbar vor dem Augenblick, den sie
für den lezten hielten, noch Kraft zum lauten Rufen hat-
te, auch die beiden Mitgekreuzigten nach jener Zeit noch
am Leben waren; theils endlich durch Beispiele von sol-
chen zu belegen ist, welche mehrere Tage lebend am Kreuz
zugebracht haben, und erst durch Hunger u. dgl. allmählig ge-
tödtet worden sind 1). Daher haben Kirchenväter und ältere
Theologen die Ansicht aufgestellt, Jesu Tod, der auf na-
türlichem Wege noch nicht so bald erfolgt sein würde, sei
auf übernatürliche Weise, entweder durch ihn selber, oder
durch Gott, beschleunigt worden 2); Ärzte und neuere
Theologen haben sich auf die gehäuften körperlichen und
Seelenleiden berufen, welche Jesus den Abend und die
Nacht vor seiner Kreuzigung zu dulden hatte 3): doch auch
sie lassen noch die Möglichkeit offen, daſs, was den
Evangelisten der Eintritt des Todes schien, nur eine durch
Stockung des Blutumlaufs herbeigeführte Ohnmacht gewe-
sen sei, und erst der Speerstich in die Seite den Tod Je-
su entschieden habe.
Doch eben über diesen Speerstich, über den Ort, an
welchem, das Instrument, durch welches, und die Art und
Weise, wie er beigebracht worden, über seinen Zweck und
seine Wirkung, waren von jeher die Meinungen sehr ver-
schieden. Das Instrument bezeichnet der Evangelist als
eine λόγχη, was ebensogut den leichteren Wurfspieſs, als
die schwere Lanze bedeuten kann: so daſs wir über den
Umfang der Wunde im Ungewissen bleiben. Die Art, wie
die Wunde beigebracht wurde, beschreibt er durch νύσσειν:
dieſs bedeutet aber bald eine tödtliche Verwundung, bald
[568]Dritter Abschnitt.
ein leichtes Ritzen, ja einen Stoſs, der nicht einmal Blut
giebt; wir wissen also nicht, wie tief die Wunde gieng:
wiewohl, wenn Jesus nach der Auferstehung den Thomas
in die Nägelmahle zwar den Finger, in, oder auch nur an
die Seitenwunde aber die Hand legen läſst (Joh. 20, 27.),
der Stich eine bedeutende Wunde gemacht zu haben scheint.
Doch dabei kommt es vor Allem noch auf die Stelle der
Verwundung an. Diese bestimmt Johannes als die πλευρὰ,
wo freilich, wenn der Stich an der linken Seite zwischen
den Ribben bis in das Herz drang, der Tod unausbleiblich
erfolgen muſste: allein jener Ausdruck kann ebensowohl
die rechte Seite als die linke, und an beiden jeden Ort von
der Schulter bis zur Hüfte bedeuten. Die meisten dieser
Punkte würden sich freilich von selbst bestimmen, wenn
die Absicht des Kriegers mit dem Lanzenstich gewesen
wäre, Jesum, sofern er noch nicht gestorben wäre, zu töd-
ten; denn in diesem Falle würde er ohne Zweifel am tödt-
lichsten Plaz und so tief wie möglich gestochen haben.
Allein diese Absicht ist zweifelhaft, und der Zusammen-
hang der Stelle scheint eher dafür zu sprechen, daſs der
Soldat durch den Stich vorerst nur erforschen wollte, ob
der Tod wirklich schon eingetreten sei, was er aus dem
Hervorflieſsen von Blut und Wasser aus der Wunde sicher
abnehmen zu können glaubte.
Aber freilich über diese Folge des Speerstichs ist
man am allerwenigsten einig. Die Kirchenväter haben, in
Betracht, daſs aus Leichen kein Blut mehr flieſse, in dem
aus Jesu Leichnam hervorgequollenen αἷμα καὶ ὕδωρ ein
Wunder, ein Zeichen seiner höhern Natur, gefunden 4).
[569]Viertes Kapitel. §. 130.
Neuere, von der gleichen Erfahrung ausgehend, haben in
dem Ausdruck eine Hendiadys gesehen, und denselben von
noch flüssigem Blute, einem Zeichen des noch nicht, oder
doch eben erst erfolgten Todes, verstanden 5). Da jedoch
das Blut für sich schon ein Flüssiges ist, so kann das zu
αἷμα gesezte ὕδωρ nicht bloſs den flüssigen Zustand von
jenem bedeuten, sondern muſs eine besondere Beimischung
bezeichnen, welche das aus der Wunde Jesu flieſsende
Blut enthielt. Um sich diese zu erklären, und zugleich
die möglichst sichere Todesprobe zu bekommen, sind An-
dere auf den Einfall gerathen, das dem Blute beigemisch-
te Wasser sei wohl aus dem von der Lanze getroffenen
Herzbeutel gekommen, in welchem sich, namentlich bei sol-
chen, die unter starker Beängstigung sterben, eine Quan-
tität Flüssigkeit sammeln soll 6). Allein ausserdem, daſs
das Eindringen der Lanze in das Pericardium bloſse Vor-
aussetzung ist, so ist theils, wo keine Wassersucht statt-
findet, das Quantum jener Flüssigkeit so gering, daſs
ihr Ausfluſs nicht in die Augen fiele; theils ist es nur ein
einziger kleiner Fleck vorn an der Brust, wo das Pericar-
dium so getroffen werden kann, daſs eine Entleerung nach
aussen möglich ist: in allen andern Fällen würde, was
ausflieſst, in das Innere der Brusthöhle sich ergieſsen 7).
Ohne Zweifel geht vielmehr der Evangelist von der bei
jeder Aderlässe zu machenden Erfahrung aus, daſs das
Blut, sobald es aufgehört hat, im Lebensprocesse begriffen
zu sein, sich in Blutkuchen, placenta, und Blutwasser,
serum, zu zersetzen anfängt, und will nun daraus, daſs
am Blute Jesu sich bereits diese Scheidung gezeigt habe,
4)
[570]Dritter Abschnitt.
dessen wirklich erfolgten Tod beweisen 8). Ob nun aber
dieses Ausflieſsen von Blut und Wasser in bemerkbarer
Sonderung eine mögliche Todesprobe ist, ob Hase und Wi-
ner recht haben, wenn sie behaupten, bei tieferen Ein-
schnitten in Leichen quelle bisweilen das so zersezte Blut
heraus, oder die Kirchenväter, wenn sie dieſs für so un-
erhört hielten, daſs sie es bei Jesu als ein Wunder anse-
hen zu müssen glaubten, ist noch eine andere Frage. Mir
hat ein ausgezeichneter Anatom den Stand der Sache fol-
gendermaſsen angegeben. Für gewöhnlich pflegt binnen
einer Stunde nach dem Tod das Blut in den Gefäſsen zu
gerinnen, und sofort bei Einschnitten nichts mehr auszu-
flieſsen; nur ausnahmsweise, bei gewissen Todesarten,
wie Nervenfieber, Erstickung, behält das Blut im Leich
nam seine Flüssigkeit. Wollte man nun den Tod am Kreuz
etwa unter die Kategorie der Erstickung stellen, — was
jedoch wegen der langen Zeit, welche die Gekreuzigten
oft noch am Leben blieben, und bei Jesu insbesondere
weil er ja bis zulezt gesprochen haben soll, unthunlich
scheint, oder wollte man annehmen, so bald schon nach
dem Augenblick des Todes sei der Stich in die Seite erfolgt,
daſs er das Blut noch flüssig fand, — was den Berichten
unangemessen ist, welchen zufolge Jesus schon Nachmit-
tags drei Uhr gestorben war, die Leichen aber erst Abends
6 Uhr abgenommen sein muſsten: so wäre, wenn der Stich
ein gröſseres Blutgefäſs traf, Blut, aber ohne Wasser, aus
geflossen; war aber der Tod Jesu vor etwa einer Stunde
erfolgt, und sein Leichnam im gewöhnlichen Zustand: so
floſs gar nichts aus. Also entweder Blut, oder nichts:
Wasser und Blut in keinem Fall, weil sich serum und pla-
centa in den Gefäſsen des Leichnams gar nicht so sondert,
wie im Geschirr nach der Aderlässe. Schwerlich also hat
der Urheber dieses Zugs im vierten Evangelium das αἷμα
[571]Viertes Kapitel. §. 130.
καὶ ὕδωρ selbst aus der Seite Jesu als Zeichen des erfolg-
ten Todes kommen sehen: sondern weil er bei Blutlässen
schon jene Scheidung im ersterbenden Blute gesehen hat-
te, und ihm anlag, eine sichere Probe für den Tod Jesu
zu bekommen, lieſs er aus dessen verwundetem Leichnam
jene geschiedenen Bestandtheile kommen.
Daſs sich dieſs mit Jesu wirklich zugetragen habe,
und sein Bericht davon, als auf Autopsie gegründet, zu-
verlässig sei, versichert übrigens der Evangelist aufs An-
gelegentlichste (V. 35.). Nach Einigen deſswegen, um do-
ketische Gnostiker, welche die wahre Leiblichkeit Jesu
leugneten, zu widerlegen 9): allein wozu dann die Erwäh-
nung des ὕδωρ? Nach Andern wegen der merkwürdigen
Erfüllung zweier Weissagungen durch jenes Vornehmen mit
der Leiche Jesu 10): aber, wie Lücke selber sagt, wenn
allerdings auch sonst Johannes selbst in Nebenpunkten ei-
ne Erfüllung der Schrift sucht, so legt er doch nirgends
ein so ausserordentliches Gewicht darauf, wie er hier nach
dieser Auffassung thun würde. Daher scheint es immer
noch die natürlichste Annahme zu sein, daſs Johannes
durch jene Versicherungen die Wahrheit des Todes Jesu
bekräftigen wolle 11), die Hinweisung auf die Schrifterfül-
lung aber nur als weiteren, erläuternden Zusaz beifüge.
Der Mangel einer historischen Spur, daſs schon zur Zeit
der Abfassung des johanneischen Evangeliums der Verdacht
eines Scheintods Jesu rege gewesen, beweist bei der Man-
gelhaftigkeit der Nachrichten, die uns über jene Zeit zu
Gebote stehen, nicht, daſs ein so nahe liegender Verdacht
nicht wirklich in dem Kreise, in welchem das genannte
Evangelium entstand, zu bekämpfen gewesen ist, und daſs
dasselbe nicht, wie zur Mittheilung von Auferstehungs-
[572]Dritter Abschnitt.
proben, so auch eine Todesprobe mitzutheilen veranlaſst
gewesen sein kann 12). Ist doch auch schon im Evange-
lium des Markus ein ähnliches Bestreben sichtbar. Wenn
dieser von Pilatus, als Joseph sich den Leichnam Jesu aus-
bat, sagt: ἐϑαύμασεν, εἰ ἤδη τέϑνηκε (V. 44.): so lautet
dieſs ganz, als wollte er dem Pilatus eine Verwunderung
leihen, die er von manchen seiner Zeitgenossen über den
so gar schnell erfolgten Tod Jesu muſste äussern hören,
und wenn er sofort den Procurator von dem Centurio si-
chere Kundschaft einziehen läſst, daſs Jesus πάλαι ἀπέ-
ϑανε: so scheint er mit der Bedenklichkeit des Pilatu. zu-
gleich die seiner Zeitgenossen beschwichtigen zu wollen;
wobei er aber von einem Lanzenstich nichts gewuſst ha-
ben kann, sonst hätte er ihn, als die sicherste Bürgschaft
des wirklich erfolgten Todes, nicht unerwähnt gelassen:
so daſs die Darstellung bei Johannes als weitere Ausbil-
dung eines schon bei Markus sichtbaren Triebs der Sage
erscheint.
Diese Ansicht von der johanneischen Erzählung wird
auch noch durch die Anführung A. T.licher Weissagungen
bestätigt, welche der Referent in diesem Vorgang erfüllt
sieht. Durch den Lanzenstich sieht er Zach. 12, 10. er-
füllt, wo das von Johannes richtig und besser als von der
LXX. übersezte: וְהִבִּיטוּ אַלַי אֵת אֲשֶׁר דָּקָרוּ von Jehova zu
den Israëliten geredet ist, in dem Sinne, daſs sie an ihn,
den sie so schwer gekränkt, sich einst wieder wenden wür-
den 13). Ist schon das דָּקַר, durchbohren, etwas, das, ei-
gentlich gefaſst, eher gegen einen Menschen, als gegen Je-
hova scheint unternommen werden zu können, und wird
diese Deutung durch die abweichende Lesart: אֵלָיו, un-
terstüzt: so muſste das Folgende in dieser Auffassung be-
[573]Viertes Kapitel. §. 130.
stärken, da nun in der dritten Person fortgefahren wird:
und sie werden um ihn klagen, wie um ein einziges Kind
und um einen Erstgeborenen. Daher wurde diese Stelle
von den Rabbinen auf den Messias ben Joseph gedeutet,
welcher im Krieg vom Schwert durchbohrt werden soll-
te 14), und von Christen konnte sie, wie so manche Stel-
len in Unglückspsalmen, auf ihren Messias bezogen wer-
den, indem das Durchbohren zunächst vielleicht entweder
tropisch, oder von dem Durchnageln der Hände (und Füſse)
bei der Kreuzigung verstanden wurde (vgl. Offenb. 1, 7.),
bis es endlich einer, der eine zuverlässigere Todesprobe,
als die Kreuzigung an sich ist, zu haben wünschte, als
ein besondres Durchbohren mit der Lanze faſste.
Ist aus den zusammentreffenden Interessen, eine To-
desprobe, und eine buchstäbliche Erfüllung der Weissa-
gung zu gewinnen, der Zug mit dem Lanzenstich hervor-
gegangen: so gehört das Übrige nur zur Motivirung die-
ses Zuges. Ein Stich als Todesprobe war nur nöthig, wenn
Jesus frühzeitig vom Kreuz abgenommen werden sollte,
was nach jüdischem Gesez (5. Mos. 21, 22. Jos. 8, 29. 10,
26 f. — eine Ausnahme 2. Sam. 21, 6 ff.) 15) jedenfalls vor
Nacht, insbesondere aber dieſsmal, was Johannes allein
heraushebt, vor Anbruch des Paschafestes, geschehen muſs-
te. War Jesus ungewöhnlich schnell gestorben, und soll-
ten doch auch die beiden mit ihm Gekreuzigten abgenom-
men werden, so muſste man bei diesen den Tod gewalt-
sam beschleunigen, was etwa durch das crurifragium ge-
schehen konnte, welches sich auch sonst, theils in Verbin-
dung mit der Kreuzigung, theils als Todesstrafe für sich
findet 16). Da dieſs an dem bereits gestorbenen Jesus nicht
[574]Dritter Abschnitt.
zu geschehen brauchte, so gab dieſs zur Anwendung des
ὀ;ςοῦν οὺ συντρίψετε ἀπ̕ αὐτοῦ aus dem Pascharitual, 2 Mos.
12, 42. LXX., um so mehr Veranlassung, als, wie schon
früher bemerkt, der getödtete Jesus mit dem Paschalamm
verglichen zu werden pflegte.
§. 131.
Begräbniss Jesu.
Während der Leichnam Jesu nach römischer Sitte am
Kreuz hätte hängen bleiben müssen, bis Witterung, Vögel
und Verwesung ihn verzehrten 1); nach jüdischer aber
vor Abend abgenommen auf dem unehrlichen Begräbniſs-
plaz der Hingerichteten verscharrt worden wäre 2) erbat
sich den evangelischen Nachrichten zufolge ein angesehe-
ner Anhänger des Getödteten vom Procurator seinen Leich-
nam, der ihm nach römischem Gesez 3) nicht verweigert,
sondern alsbald verabfolgt wurde (Matth. 27, 57. parell.).
Dieser Mann, welchen alle Evangelien Joseph nennen und
von Arimathäa stammen lassen, war nach Matthäus ein
reicher Mann und Schüler Jesu, doch dieſs, wie Johannes
hinzufügt, bloſs heimlich, gewesen; die beiden mittleren
Evangelisten bezeichnen ihn als ein ehrenwerthes Mitglied
des hohen Raths, als welches er übrigens, wie Lukas be-
merkt, zu der Verurtheilung Jesu seine Stimme nicht ge-
geben hatte, und lassen ihn messianischen Erwartungen
zugethan sein. Daſs wir hier eine allmählig in's Bestimm-
tere ausgearbeitete Personalbezeichnung haben, fällt in
die Augen. Im ersten Evangelium ist Joseph ein Schüler
Jesu — und das muſs wohl derjenige gewesen sein, der
sich unter so ungünstigen Umständen nicht scheute, seines
Leichnams sich anzunehmen; daſs er nach demselben Evan-
[575]Viertes Kapitel. §. 131.
gelium ein ἄνϑρωπος πλου̍σιος gewesen sein soll, läſst schon
an Jes. 53, 9. denken, wo es heiſst: וַיִּתֵּן אֶת־רְשָׁעִים קִבְרוֺ
וְאֶת־עָשִׁיר בְּמֹתָיו was möglicherweise von einem Begräbniſs
bei Reichen verstanden, und so die Quelle wenigstens von
diesem Prädikat des Joseph von Arimathäa werden konn-
te. Daſs er messianischen Ideen ergeben war, was Lukas
und Markus hinzufügen, folgte aus seinem Verhältniſs zu
Jesu von selbst; daſs er ein βουλευτὴς gewesen, was die-
selben Evangelisten versichern, ist freilich eine neue No-
tiz: daſs er aber als solcher nicht in die Verurtheilung
Jesu eingestimmt haben konnte, ergab sich wieder von
selbst; endlich, daſs er seine Anhänglichkeit an Jesum
bisher geheim gehalten, was Johannes anmerkt, hängt mit
der eigenthümlichen Stellung zusammen, welche dieser
Evangelist gewissen vornehmen Anhängern, wie nament-
lich dem im Folgenden dem Joseph beigesellten Nikode-
mus, zu Jesu giebt: so daſs nicht eben angenommen wer-
den muſs, was jeder folgende Evangelist weiter als der
vorhergehende giebt, beruhe auf eben so vielen histori-
schen Notizen, die er vor den übrigen voraus hatte.
Während die Synoptiker die Bestattung Jesu durch
Joseph allein verrichten, und nur noch die Frauen zu-
sehen lassen, führt Johannes als Gehülfen dabei, wie
gesagt, den Nikodemus auf, eine Notiz, über deren Ver-
läſslichkeit schon oben, wo Nikodemus zum erstenmal
vorkam, gehandelt worden ist 4). Dieser bringt zum Be-
huf der Einbalsamirung Jesu Specereien, nämlich eine Mi-
schung von Myrrhen und Aloë, in der Quantität von un-
gefähr 100 Pfunden, herbei. Vergeblich hat man sich be-
müht, dem von Johannes hier gebrauchten λίτρα die Be-
deutung des lateinischen libra zu entziehen und die eines
kleineren Gewichts unterzuschieben 5): indeſs möge für
[576]Dritter Abschnitt.
jene auffallend groſse Quantität einstweilen die Bemerkung
Olshausen's genügen, daſs das Übermaſs natürlicher Aus-
druck der Verehrung jener Männer für Jesum gewesen
sei. Im vierten Evangelium vollziehen nun gleich nach
der Kreuzabnahme die beiden Männer die Einbalsamirung
nach jüdischer Sitte, indem sie den Leichnam mit den
Specereien in Leintücher wickeln; bei Lukas sorgen die
Frauen nach ihrer Heimkehr vom Grabe Jesu für Spece-
reien und Salben, um nach dem Sabbat die Einbalsami-
rung vorzunehmen (23, 56. 24, 1.); bei Markus kaufen sie
die ἀρώματα erst nach Verfluſs des Sabbats (16, 1.); bei
Matthäus aber ist von einer Einbalsamirung des Leichnams
Jesu gar nicht, sondern nur von Einwickelung in reine
Leinwand die Rede (27, 59.).
Hier hat man zuerst die Differenz zwischen Markus
und Lukas in Bezug auf die Zeit des Einkaufs der Spe-
cereien dadurch ausgleichen zu können gemeint, daſs man
den einen von beiden Referenten auf die Seite des andern
herüberzog. Am leichtesten schien Markus nach Lukas
umgedeutet werden zu können, durch die Annahme einer
enallage temporum, indem sein vom Tag nach dem Sab-
bat gesagtes ἠγόρασαν, als Plusquamperfectum genommen,
dasselbe zu sagen schien, wie des Lukas Angabe, daſs die
Frauen schon vom Begräbniſsabend her die Specereien in
Bereitschaft gehabt haben 6). Allein gegen diese Ausglei-
chung ist bereits vom Wolfenbüttler Fragmentisten mit
siegreichem Unwillen bemerkt worden, daſs der zwischen
eine Zeitbestimmung und die Angabe eines Zwecks hin-
eingestellte Aorist unmöglich etwas Anderes, als das um
jene Zeit zu diesem Zweck Geschehene, also hier das zwi-
schen διαγενομένου τοῦ σαββάτου und ἵνα ἐλϑοῦσαι ἀλείψωσιν
αὐτὸν gestellte ἠγόρασαν ἀρώματα nur einen nach Verfluſs
des Sabbats vorgenommenen Einkauf bedeuten könne 7).
[577]Viertes Kapitel. §. 131.
Daher hat Michaelis, welcher die Widerspruchslosigkeit
der Begräbniſs- und Auferstehungsgeschichte gegen die
Angriffe des Fragmentisten zu retten unternahm, sich auf
die andere Seite geschlagen, und den Lukas dem Markus
zu conformiren gesucht. Wenn Lukas schreibt: ὑποςρέ-
ψασαι δὲ ἡτοίμασαν ἀρώματα καὶ μῦρα: so soll er damit
nicht sagen wollen, daſs sie unmittelbar nach der Rück-
kehr, also noch am Begräbniſsabend, diese Einkäufe ge-
macht hätten, vielmehr durch den Zusaz: καὶ τὸ μὲν σάβ-
βατον ἡσύχασαν κατὰ τὴν ἐντολὴν, gebe er selbst zu verste-
hen, daſs es erst nach Verfluſs des Sabbats geschehen sei, da
zwischen ihrer Rückkehr vom Grab und dem Anbruch des
Sabbats mit 6 Uhr Abends keine Zeit zum Einkaufen mehr
übrig gewesen war 8). Allein, wenn Lukas zwischen
ὑποςρέψασαι und ἡσύχασαν sein ἡτοίμασαν stellt: so kann
dieſs ebensowenig etwas erst nach der Sabbatruhe Vorge-
fallenes bedeuten, als bei Markus das auf ähnliche Art
in die Mitte gestellte ἠγόρασαν etwas, das vor dem Sab-
bat wäre geschehen gewesen. Man hat daher neuerlich
zwar eingesehen, daſs man jedem dieser beiden Evangeli-
sten in Betreff des Ankaufs der Specereien seinen eige-
nen Sinn lassen müsse: doch glaubte man den Schein des
Irrthums auf der einen oder andern Seite durch die An-
nahme entfernen zu können, die noch vor dem Sabbat
bereiteten Specereien haben nicht zugereicht, und deſswe-
gen die Frauen dem Markus zufolge wirklich nach dem
Sabbat noch weitere dazugekauft 9). Das müſste aber
doch ein ungeheurer Specereiverbrauch gewesen sein, wenn
zuerst der von Nikodemus herbeigebrachte Centner nicht
gereicht, und deſswegen die Frauen noch Abends vor dem
7)
Das Leben Jesu II. Band. 37
[578]Dritter Abschnitt.
Sabbat weitere Specereien bereit gelegt hätten, dann aber
wäre auch dieſs als zu wenig befunden worden, und sie
hätten am Morgen nach dem Sabbat noch etwas Weiteres
dazugekauft.
So nämlich müſste man doch consequenterweise auch den
zweiten Widerspruch lösen, welcher zwischen den zwei
mittleren Evangelisten zusammen und dem vierten statt-
findet, daſs nämlich nach diesem Jesus bei seiner Grable-
gung mit 100 Pfund Salben einbalsamirt worden, nach je-
nen dagegen die Einbalsamirung bis nach dem Sabbat vor-
behalten war. Nun waren aber der Materie nach die 100
Pfund Myrrhen und Aloë mehr als genug: was fehlte, und
nach dem Sabbat nachgeholt werden sollte, könnte nur
etwa die Form gewesen sein, d. h. daſs die Specereien noch
nicht auf die rechte Weise an dem Leichnam angebracht
waren, weil hierin der Anbruch des Sabbats unterbro-
chen hatte 10). Allein, wenn wir den Johannes hören, so
war die Beisetzung Jesu am Abend seines Todes καϑως
ἔϑος ἐςὶ τοῖς Ἰουδαίοις ἐνταφιάζειν, d. h. rite, in aller
Form, vorgenommen worden, indem der Leichnam μετὰ
τῶν ἀρωμάτων in ὀϑόνια gebunden wurde (V. 40.), was
eben das Ganze der jüdischen Einbalsamirung war, wel-
cher somit nach Johannes auch in Betreff der Form nichts
mehr fehlte 11); abgesehen davon, daſs, wenn doch die
Weiber nach Markus und Lukas neue Specereien kaufen
und in Bereitschaft stellen, die Einbalsamirung des Niko-
demus auch materiell unvollständig gewesen sein müſste.
Da somit an der Bestattung Jesu, wie sie Johannes er-
zählt, objektiv nichts gefehlt haben kann: so soll sie doch
subjektiv für die Weiber eine nicht vorgenommene gewe-
sen sein, d. h. sie sollen nicht gewuſst haben, daſs Jesus
[579]Viertes Kapitel. §. 131.
bereits durch Nikodemus und Joseph einbalsamirt war 12).
Man erstaunt über eine solche Behauptung, da man doch
bei den Synoptikern ausdrücklich liest, daſs die Frauen
bei der Bestattung Jesu zugegen gewesen seien, und nicht
bloſs den Ort (ποῦ τίϑεται, Markus), sondern auch die Art,
wie er beigesezt wurde (ὡς ἐτέϑη, Lukas) mit angesehen
haben.
Die dritte diesen Punkt betreffende Abweichung, wel-
che zwischen Matthäus und den übrigen insofern stattfin-
det, als jener überhaupt von keiner Einbalsamirung, we-
der vor noch nach dem Sabbat, weiſs, hat man, weil sie
bloſs im Schweigen eines Referenten besteht, bisher wenig
berücksichtigt, und selbst der Wolfenbüttler gab zu, daſs in
der von Matthäus gemeldeten Einwickelung in reine Lein-
wand die jüdische Einbalsamirung bereits mitenthalten
sei. Allein dieſsmal möchte doch wohl ex silentio ein Ar-
gument sich ziehen lassen. Wenn man in der Erzählung
von der Bethanischen Salbung das Wort Jesu liest, durch
ihre That habe die Frau die Salbung seines Leibes zum
Begräbniſs anticipirt (Matth. 26, 12. parell.): so hat dieſs
zwar allerdings in allen Relationen seinen Sinn, einen
ganz besonders treffenden aber doch bei Matthäus, nach
dessen weiterer Erzählung bei'm Begräbniſs Jesu keine
Salbung stattfand, und nur hieraus scheint sich auch das
besondere Gewicht, welches die evangelische Tradition
auf jene Handlung der Frau legte, genügend zu erklären.
War dem als Messias Verehrten bei seinem Begräbniſs im
Drang der ungünstigen Umstände die gebührende Ehre der
Einbalsamirung nicht geworden: so muſste freilich der
Blick seiner Anhänger mit besonderem Wohlgefallen auf
einer Begebenheit aus dem lezten Abschnitt seines Lebens
ruhen, wo eine demuthsvolle Verehrerin, wie wenn sie
37 *
[580]Dritter Abschnitt.
geahnet hätte, daſs dem Todten diese Ehre versagt sein
werde, sie dem Lebenden erwiesen hatte. Von hier aus
würde sich dann auch die verschiedene Darstellung der
lezten Salbung bei den übrigen Evangelisten in das Licht
einer stufenweisen Entwickelung der Sage stellen. Bei
Markus und Lukas steht es noch, wie bei Matthäus, fest,
daſs der Leichnam Jesu nicht wirklich einbalsamirt wor-
den ist: so war ihm aber doch, sagte man über das erste
Evangelium hinausschreitend, die Einbalsamirung zuge-
dacht, dem Hingang der Frauen zu seinem Grab am Mor-
gen nach dem Sabbat lag diese Absicht zum Grunde, de-
ren Ausführung nur seine Auferstehung zuvorkam. Im
vierten Evangelium dagegen floſs jene bei dem Lebenden
anticipirte, und diese dem Todten zugedachte Salbung in
eine mit dem Todten vorgenommene zusammen, neben
welcher übrigens, nach der Art der Sagenbildung, die
Beziehung auch der früheren Salbung auf das Begräbniſs
Jesu stehen blieb.
Der Leichnam Jesu wurde sofort nach sämmtlichen
Referenten in einer Felsengruft beigesezt, welche mit ei-
nem groſsen Stein verschlossen wurde. Matthäus bezeich-
net dieses Grabmal als καινὸν, was Lukas und Johannes
genauer dahin bestimmen, daſs noch Niemand in demsel-
ben beigesezt gewesen sei. Beiläufig gesagt, hat man ge-
gen diese Neuheit des Grabes ebenso Ursache, miſstrau-
isch zu sein, wie bei der Geschichte des Einzugs Jesu gegen
den ungerittenen Esel, da hier wie dort die Versuchung
unwiderstehlich nahe lag, auch ohne historischen Grund
das heilige Behältniſs des Leibes Jesu als ein noch durch
keine Leiche verunreinigtes vorzustellen. Auch in Bezug
auf dieses Grabmal indeſs zeigt sich eine Abweichung der
Evangelisten. Nach Matthäus war es das Eigenthum des
Joseph, welches er selbst hatte in Felsen hauen lassen,
und auch die beiden andern Synoptiker, indem sie den
Joseph ohne Weiteres über das Grab verfügen lassen, schei-
[581]Viertes Kapitel. §. 131.
nen von der gleichen. Voraussetzung auszugehen. Nach
Johannes hingegen war nicht das Eigenthumsrecht des Jo-
seph auf das Grab der Grund, warum man Jesum in das-
selbe legte, sondern, weil die Zeit drängte, legte man
ihn in die frische Gruft, welche in einem benachbarten
Garten sich befand. Auch hier hat die Harmonistik auf
beiden Seiten ihre Künste versucht. Matthäus sollte zur
Übereinstimmung mit Johannes gebracht werden durch die
Observation, daſs eine Handschrift seines Evangeliums das
zu μνημείῳ gesezte αὑτοῦ weglasse, eine alte Übersetzung
aber statt ὃ ἐλατόμησεν — ὃ ἦν λετατομημένον gelesen ha-
be 13): als ob nicht diese Änderungen wahrscheinlich
selbst schon dem harmonistischen Bestreben ihr Dasein zu
verdanken hätten! Daher hat man, auf die andere Seite
sich wendend, bemerkt, die johanneischen Worte schlieſsen
gar nicht aus, daſs nicht Joseph könnte der Eigenthümer
der Gruft gewesen sein, da ja beide Gründe, die Nähe,
und daſs das Grab dem Joseph gehörte, zusammengewirkt
haben können 14). Vielmehr aber schlieſst die Nähe als her-
ausgehobener Beweggrund das Eigenthumsverhältniſs aus:
ein Haus, in welches ich bei einfallendem Regen der Nä-
he wegen trete, ist nicht mein eigenes, ich müſste denn
Besitzer mehrerer Häuser, eines nahen und eines ent-
fernteren, sein, von welchen das leztere meine eigentli-
che Wohnung wäre, und ebenso ein Grab, in welches
einer einen Verwandten oder Freund, der für sich kein
Grabmal hat, der Nähe wegen legt, kann nicht sein eige-
nes sein, er müſste denn mehrere Gräber besitzen, und
den Todten bei besserer Muſse in ein anderes bringen
wollen, was aber in unserm Falle, da das nahe Grab durch
seine Neuheit zur Beisetzung Jesu in demselben vor allen
andern sich eignete, nicht wohl denkbar ist. Bleibt so
[582]Dritter Abschnitt.
auch hier der Widerspruch, so scheint im Innern beider
entgegengesezten Angaben kein Grund zur Entscheidung
für die eine oder andere zu liegen 15).
§. 132.
Die Wache am Grabe Jesu.
Am folgenden Tag, als am Sabbat 1), sollen nun nach
Matthäus (27, 62 ff.) die Hohenpriester und Pharisäer bei
Pilatus zusammengekommen sein, und ihn, mit Rücksicht
auf die Voraussage Jesu, er werde nach dreien Tagen auf-
erstehen, gebeten haben, eine Wache an sein Grab zu stel-
len, damit nicht seine Anhänger von der durch jene Vor-
aussage erregten Erwartung Gelegenheit nehmen, seinen
Leichnam zu stehlen, und ihn sofort für auferstanden aus-
zugeben. Pilatus gewährt ihre Bitte, und so gehen sie hin,
versiegeln den Stein, und stellen die Wache vor das Grab.
Als nun (dieſs muſs hier anticipirt werden) die Auferste-
hung Jesu erfolgte, sezte die mit derselben verbundene
Engelerscheinung die Wächter so in Furcht, daſs sie ὡσεὶ
νεκροὶ wurden, übrigens doch sofort in die Stadt eilten,
und den Hohenpriestern die Anzeige von dem Vorfall mach-
ten. Diese, nachdem sie sich in einer Versammlung darü-
[583]Viertes Kapitel. §. 132.
ber berathen, bestachen die Soldaten, daſs sie vorgeben
sollten, die Jünger haben bei Nacht den Leichnam gestoh-
len; woher sich, wie der Referent hinzusezt, dieses Ge-
rücht verbreitete, und bis auf seine Zeit erhielt (28, 4, 11 ff.).
Bei dieser, dem ersten Evangelium eigenthümlichen
Erzählung hat man allerlei Bedenken gefunden, welche der
Wolfenbüttler Fragmentist und nach ihm Paulus am scharf-
sinnigsten in's Licht gestellt haben 2). Die Schwierigkei-
ten liegen zuvörderst darin, daſs weder die erforderlichen
Bedingungen dieses Vorgangs, noch seine nothwendigen
Folgen in der übrigen N. T.lichen Geschichte gegeben sind.
In ersterer Hinsicht ist es nicht zu begreifen, wie die Syn-
edristen zu der Notiz kommen konnten, daſs drei Tage
nach seinem Tode Jesus wieder in das Leben zurückkeh-
ren solle: da selbst bei seinen Jüngern von einer solchen
Kunde keine Spur sich findet. Sie sagen: ἐμνήσϑημεν ὅτι
ἐκεῖνος ὁ πλάνος εἶπεν ἔτι ζῶν κ. τ. λ. Soll dieſs heiſsen,
sie erinnern sich, ihn selber davon reden gehört zu haben:
so sprach laut der evangelischen Nachrichten Jesus seinen
Feinden gegenüber nie bestimmt von seiner Auferstehung;
die bildlichen Reden aber, welche seinen vertrauten Schü-
lern unverständlich blieben, konnten die an seine Denk-
und Ausdrucksweise weniger gewöhnten jüdischen Hierar-
chen gewiſs noch weniger verstehen. Wollen aber die Syn-
edristen bloſs sagen, sie haben von Andern gehört, daſs
Jesus jenes Versprechen gegeben habe: so könnte diese
Nachricht nur von den Jüngern ausgegangen sein; aber
diese, welche weder vor noch nach dem Tode Jesu eine
Ahnung von bevorstehender Wiederbelebung hatten, konn-
ten auch in Andern diese Vorstellung nicht erregen — ab-
gesehen davon, daſs wir die Jesu geliehenen Vorherverkün-
digungen seiner Auferstehung sämmtlich als unhistorisch
[584]Dritter Abschnitt.
haben von der Hand weisen müssen. Wie aber bei den
Feinden Jesu diese Kenntniſs, so ist bei seinen Freunden,
den Aposteln und übrigen Evangelisten ausser Matthäus,
ihr Schweigen von einem ihrer Sache so günstigen Umstand
nicht zu begreifen. Zwar das ist zu modern, was der
Wolfenbüttler den Jüngern anmuthet, sie hätten sich dar-
über, daſs eine Bewachung des Grabes angeordnet worden,
alsbald Brief und Siegel von Pilatus erbitten müssen: doch
so viel bleibt, daſs es auffallen muſs, in der apostolischen
Verkündigung nirgends eine Berufung auf eine so schla-
gende Thatsache zu finden, und auch in den Evangelien,
ausser dem ersten, jede Spur davon zu vermissen. Man
hat dieſs Stillschweigen daraus zu erklären versucht, daſs
ja durch die Bestechung der Wache von Seiten des Syne-
driums die Berufung auf sie eine fruchtlose geworden sei3):
allein um solcher offenbaren Lüge willen giebt man die
Wahrheit nicht sogleich auf, und jedenfalls in der Ver-
antwortung der Anhänger Jesu vor dem Synedrium muſs-
te die Erwähnung jener Thatsache eine schlagende Waffe
sein. Halb verloren giebt man schon, wenn man sich da-
hin zurückzieht, die Jünger haben wohl von dem wahren
Hergang nicht sogleich, sondern erst spät, als die Wächter
anfiengen, denselben auszuschwatzen, Kenntniſs bekom-
men 4). Denn brachten die Wächter im Augenblick auch
bloſs das Mährchen von dem Diebstahl vor, und gaben al-
so zu, daſs sie bei'm Grabe aufgestellt gewesen: so konn-
ten die Anhänger Jesu sich den wahren Thatbestand schon
construiren, und sich dreist auf die Wächter berufen, wel-
che von etwas ganz Anderem, als einem Leichendiebstahl,
müſsten Zeugen gewesen sein. Doch damit man nicht
etwa die Ungültigkeit des Arguments aus der bloſs negati-
[585]Viertes Kapitel. §. 132.
ven Thatsache des Stillschweigens anrufe, so wird von
einem Theil der Anhängerschaft Jesu, nämlich von den
Frauen, etwas positiv erzählt, was sich mit der Wache
am Grabe nicht verträgt. Nicht bloſs wollen nämlich die
Frauen, welche am Morgen nach dem Sabbat zum Grabe
giengen, die Salbung vollenden, was sie nicht hoffen konn-
ten, thun zu dürfen, wenn sie wuſsten, daſs eine Wache
vor das Grab gestellt, und dieses noch dazu versiegelt
war 5): sondern nach Markus besteht ihre ganze Bedenk-
lichkeit während des Hinausgehens darin, wer ihnen wohl
den Stein vom Grabe wälzen werde? zum deutlichen Be-
weis, daſs sie von den Wächtern nichts wuſsten, welche
entweder einen auch noch so leichten Stein wegzunehmen
ihnen nicht gestattet, oder, wenn dieſs, dann wohl auch den
schwereren ihnen hülfreich weggewälzt, in jedem Fall al-
so die Bedenklichkeit wegen der Schwere des Steins über-
flüssig gemacht haben würden. Daſs aber die Aufstellung
der Wache den Weibern sollte unbekannt geblieben sein,
ist bei dem Aufsehen, welches alles das Ende Jesu Betref-
fende in Jerusalem machte (Luc. 24, 18.), sehr unwahr-
scheinlich.
Doch auch innerhalb der Erzählung ist Alles voll
von Schwierigkeiten, indem nach dem Ausdruck von Pau-
lus keine einzige der in derselben anftretenden Personen
ihrem Charakter gemäſs handelt. Schon daſs Pilatus den
jüdischen Obern ihr Gesuch um eine Wache — ich will
nicht sagen, ohne Weigerung, aber so ganz ohne Spott,
gewährt haben soll, muſs nach seinem bisherigen Beneh-
men gegen sie auffallen 6); obwohl dieſs von Matthäns in
[586]Dritter Abschnitt.
seiner summarischen Darstellung auch nur übergangen sein
könnte. Befremdender ist, daſs die Wächter zu der bei
der Strenge römischer Kriegszucht sehr gefährlichen Lüge,
sie haben ihren Dienst durch Schlafen versäumt, sich so
leicht hergaben, zumal sie bei dem gespannten Verhältniſs
des Synedriums zum Procurator nicht wissen konnten,
wie viel ihnen die von dem ersteren zugesagte Vermittlung
nützen würde. Am undenkbarsten aber ist das angebliche
Benehmen der Synedristen. Zwar die Schwierigkeit, wel-
che darin liegt, daſs sie am Sabbat zu dem heidnischen
Procurator giengen, sich am Grabe verunreinigten, und ei-
ne Wache ausrücken lieſsen, hat der Wolfenbüttler auf
die Spitze gestellt; aber ihr Benehmen, als die vom Grab
zurückgekehrte Wache die Auferstehung Jesu meldete, ist
in der That ein unmögliches. Sie glauben der Aussage
der Soldaten, daſs Jesus auf wundervolle Weise aus sei-
nem Grabe auferstanden sei. Wie konnte dieſs der hohe
Rath, der eines guten Theils aus Sadducäern bestand,
glaublich finden? Nicht einmal die Pharisäer in demselben,
welche in thesi die Möglichkeit der Auferstehung behaup-
teten, konnten bei der geringen Meinung, die sie von Jesu
hatten, an die seinige zu glauben geneigt sein, zumal die
Aussage im Munde der weggelaufenen Wächter ganz wie
eine zur Entschuldigung eines Dienstfehlers ersonnene Lü-
ge lautete. Statt daſs somit die wirklichen Synedristen bei
einer solchen Aussage der Soldaten erbittert gesagt haben
würden: ihr lügt! ihr habt geschlafen und ihn stehlen las-
sen, aber das werdet ihr theuer bezahlen müssen, wenn es
erst vom Procurator untersucht werden wird, — statt des-
sen bitten sie dieselben noch schön: lügt doch, ihr habt
geschlafen und ihn stehlen lassen, bezahlen sie noch dazu
theuer für diese Lüge, und versprechen, sie bei'm Procura-
6)
[587]Viertes Kapitel. §. 132.
tor zu entschuldigen. Man sieht, dieſs ist ganz aus der
christlichen Voraussetzung von der Realität der Auferste-
hung Jesu gesprochen, eine Voraussetzung, welche aber
ganz mit Unrecht auf die Mitglieder des Synedriums über-
getragen wird. Auch darin liegt eine, nicht bloſs vom
Fragmentisten aufgesuchte, sondern selbst von orthodoxen
Auslegern 7) anerkannte Schwierigkeit, daſs das Syne-
drium in einer ordentlichen Versammlung und nach förm-
licher Berathung sich entschlossen haben soll, die Soldaten
zu bestechen, und ihnen eine Lüge in den Mund zu geben.
Daſs auf diese Weise ein Collegium von 70 Männern ein
Falsum zu begehen amtlich beschlossen haben sollte, ist,
wie Olshausen richtig sagt, zu sehr gegen das Decorum,
das natürliche Anstandsgefühl, einer solchen Versammlung.
Die Auskunft, es sei eine bloſse Privatversammlung gewe-
sen, da ja nur von den ἀρχιερεῖς und πρεσβύτεροι, nicht
auch von den γραμματεῖς gesagt sei, sie haben die Solda-
ten zu bestechen den Beschluſs gefaſst 8), liefe auf das
Wunderliche hinaus, daſs bei dieser Zusammenkunft die
γραμματεῖς, bei dem kurz vorher in derselben Angelegen-
heit gemachten Gang zum Procurator aber, wo die Schrift-
gelehrten durch die ihre Mehrheit bildenden Pharisäer ver-
treten sind, die πρεσβύτεροι gefehlt haben müſsten: woraus
aber vielmehr erhellt, daſs das Synedrium, weil, es jedes-
mal durch vollständige Aufzählung seiner Bestandtheile zu
bezeichnen, unbequem war, nicht selten durch Erwähnung
nur einiger oder Eines von denselben angezeigt wurde. Bleibt
es somit dabei, daſs nach Matthäus der hohe Rath in förmli-
cher Sitzung die Bestechung der Wächter beschlossen ha-
ben müſste: so konnte eine solche Niederträchtigkeit doch
wohl nur die Erbitterung der ersten Christen, unter denen
unsre Anekdote entstanden ist, dem Collegium als solchem
zutrauen.
[588]Dritter Abschnitt.
Diese Schwierigkeiten der vorliegenden Erzählung des
ersten Evangeliums hat man schon so drückend gefunden,
daſs man sie durch die Annahme einer Interpolation zu
entfernen suchte 9), was neuerlich dahin gemildert worden
ist, daſs die Anekdote zwar nicht vom Apostel Matthäus
selbst, doch auch nicht von einer unsrem Evangelium sonst
fremden Hand herrühren, sondern von dem griechischen
Übersetzer des hebräischen Matthäus eingeschoben sein
sollte 10). Gegen das Erstere ist der Mangel jeder kriti-
schen Begründung entscheidend; die Berufung der andern
Ansicht auf den unapostolischen Charakter der Anekdote
würde eine Ausscheidung derselben aus dem Context der
übrigen Erzählung nur dann begründen, wenn der apo-
stolische Ursprung des Übrigen schon bewiesen wäre; Man-
gel an Zusammenhang mit dem Übrigen aber findet so we-
nig statt, daſs vielmehr Paulus recht hat mit der Bemer-
kung, ein Interpolator (oder einschiebender Übersetzer)
würde sich schwerlich die Mühe gegeben haben, sein Ein-
schiebsel an drei Orte (27, 62—66. 28, 4. 11—15.) zu ver-
theilen, sondern er hätte es an Einer, höchstens zwei Stel-
len zusammengedrängt. Auch so leichten Kaufs läſst sich
die Sache nicht abmachen, wie Olshausen will, daſs näm-
lich die ganze Erzählung apostolisch, und im Übrigen rich-
tig sein soll, nur darin habe der Evangelist geirrt, daſs er
die Bestechung im vollen Rath beschlossen werden lasse,
da die Sache wahrscheinlich von Kaiphas allein unter der
Hand abgemacht worden sei: als ob diese Rathsversamm-
lung die einzige Schwierigkeit der Erzählung wäre, und
als ob, wenn in Bezug auf sie, dann nicht auch in andern
Beziehungen Irrthümer sich eingeschlichen haben könn-
ten 11).
[589]Viertes Kapitel. §. 132.
Mit Recht macht Paulus darauf aufmerksam, wie
Matthäus selbst durch seine Notiz: καὶ διεφημίσϑη ὁ λό-
γος οὖτος παρὰ Ἰουδαίοις μέχρι τῆς σήμερον, auf ein verläum-
derisches jüdisches Gerücht als die Quelle seiner Erzäh-
lung hinweise. Wenn nun aber Paulus der Meinung ist,
die Juden selbst haben ausgesprengt, sie hätten eine Wa-
che an Jesu Grab gestellt, diese aber seinen Leichnam steh-
len lassen: so ist dieſs ebenso verkehrt, wie wenn Hase
vermuthet, das bezeichnete Gerücht sei zuerst von den
Freunden Jesu ausgegangen, und hernach von seinen Fein-
den modificirt worden. Denn was die erstere Annahme
betrifft, so hat schon Kuinöl richtig darauf hingewiesen,
daſs Matthäus bloſs die Aussage vom Leichendiebstahl, nicht
die ganze Erzählung von Aufstellung einer Wache, als jü-
disches Gerücht bezeichne; auch läſst sich kein Grund den-
ken, warum die Juden sollten ausgesprengt haben, es sei
am Grabe Jesu eine Wache aufgestellt gewesen. Wenn
Paulus sagt, man habe dadurch die Behauptung, der Leib
Jesu sei von seinen Jüngern gestohlen worden, den Leicht-
gläubigen um so glaublicher machen wollen: so müſsten
das allerdings sehr Leichtgläubige gewesen sein, die nicht
bemerkt hätten, daſs eben durch die aufgestellte Wache
die Entfernung des Leichnams Jesu mittelst eines Diebstahls
unwahrscheinlich werde. Paulus scheint sich die Sache etwa
so vorzustellen: die Juden haben für die Behauptung eines
Diebstahls gleichsam Zeugen stellen gewollt, und hiezu die
aufgestellten Wächter fingirt. Aber daſs die Wächter mit
offenen Augen ruhig zugesehen hätten, wie die Anhänger
Jesu dessen Leichnam wegnahmen, konnte doch den Ju-
den Niemand glauben; sahen sie aber nichts davon, weil
sie schliefen, so gaben sie auch keine Zeugen ab, indem
sie dann nur durch einen Schluſs zu dem Resultat kom-
men konnten, der Leichnam möge gestohlen worden sein:
das aber konnte man ohne sie ebensogut. Keineswegs also
kann die Wache schon zum jüdischen Grundstock der vor-
[590]Dritter Abschnitt.
liegenden Sage gehört haben, sondern das unter den Ju-
den verbreitete Gerücht bestand, wie auch der Text sagt,
nur darin, daſs die Jünger den Leichnam gestohlen haben
sollten. Indem die Christen diese Verläumdung zu wider-
legen wünschten, bildete sich unter ihnen die Sage von ei-
ner am Grab Jesu aufgestellten Wache, und nun konnten
sie jener Verläumdung dreist durch die Frage entgegentre-
ten: wie kann der Leichnam entwendet worden sein, da
ihr ja eine Wache am Grab aufgestellt, und den Stein ver-
siegelt hattet? Und weil, wie wir im Verlauf der Unter-
suchung es selbst erprobt haben, einer Sage erst dann ih-
re Grundlosigkeit völlig nachgewiesen ist, wenn es gelingt,
zu zeigen, wie sie auch ohne historischen Grund sich bil-
den konnte: so versuchte man von christlicher Seite, ne-
ben der Aufstellung des vermeintlich wahren Thatbestan-
des, zugleich die Genesis der falschen Sage nachzuweisen,
indem man die verbreitete jüdische Lüge aus einer Anstif-
tung des Synedriums und seiner mit der Wache vorgenom-
menen Bestechung herleitete. Gerade das Umgekehrte von
dem ist also wahr, was Hase sagt, die Sage sei wohl un-
ter den Freunden Jesu entstanden, und von seinen Fein-
den modificirt worden: die Freunde hatten nur dann erst
Veranlassung, eine Wache zu erdichten, wenn die Feinde
vorher von einem Diebstahl gesprochen hatten.
§. 133.
Erste Kunde der Auferstehung.
Daſs die erste Kunde von dem eröffneten und leeren
Grab Jesu am zweiten Morgen nach seinem Begräbniſs
durch Frauenmund an die Jünger gekommen, darin stim-
men die vier Evangelisten überein: aber in allen näheren
Umständen weichen sie auf eine Weise von einander ab,
welche der Polemik eines Wolfenbüttler Fragmentisten den
reichsten Stoff geboten, und dagegen den Harmonisten und
Apologeten vollauf zu thun gegeben hat, ohne daſs bis jezt
[591]Viertes Kapitel. §. 133.
eine befriedigende Vermittlung zwischen beiden Parteien
zu Stande gekommen wäre.
Sehen wir von der an die Abweichungen der Begräb-
niſsgeschichte sich anschlieſsenden Differenz in Angabe des
Zweckes ab, welchen die Frauen bei ihrem Gang zum
Grabe hatten, indem sie nach den beiden mittleren Evan-
gelisten eine Salbung mit dem Leichnam Jesu vorzuneh-
men gedachten, nach den beiden andern nur einen Besuch
am Grabe machen wollten, — so findet zuerst in Bezug
auf die Zahl der Frauen, welche diesen Gang machen, die
manchfachste Abweichung statt. Nach Lukas sind es un-
bestimmt viele, nämlich nicht allein diejenigen, welche er
23, 55. als συνεληλυϑυῖαι τῷ Ἰ. ἐκ τῆς Γαλιλαίας bezeich-
net, und von welchen er 24, 10. Maria Magdalena, Johan-
na und Maria Jakobi namhaft macht, sondern auch noch
τινὲς σὺν αὐταῖς (24, 1.). Bei Markus sind es bloſs drei
Frauen, nämlich zwei von denen, die auch Lukas nennt,
die dritte aber, statt der Johanna, Salome (16, 1.). Mat-
thäus hat diese dritte, über welche die zwei mittleren
Evangelisten differiren, gar nicht, sondern bloſs die beiden
Marien, über welche sie einig sind (28, 1.). Johannes
endlich hat nur die Eine von diesen, die Magdalenerin
(20, 1.). — Die Zeit, in welcher die Frauen zum Grabe
gehen, wird gleichfalls nicht ganz gleichförmig bestimmt;
denn wenn auch des Matthäus ὀψὲ σαββάτων, τῇ ἐπιφωσ-
κου̍σῃ εἰς μίαν σαββάτων keine Differenz macht 1), so ist
doch der Zusaz des Markus: ἀνατείλαντος τοῦ ἡλίου mit dem
johanneischen σκοτίας ἔτι οὓσης und dem ὄρϑρου βαϑέως des
Lukas im Widerspruch. — Über den Zustand, in welchem
die Frauen zuerst das Grab erblickten, scheint wenigstens
zwischen Matthäus und den drei übrigen eine Abweichung
stattzufinden. Nach diesen sehen sie, wie sie näher kom-
[592]Dritter Abschnitt.
men, und nach dem Grabe hinblicken, den Stein bereits
durch unbekannte Hand von demselben abgewälzt: woge-
gen die Erzählung des ersten Evangelisten ganz so lautet,
als hätten sie selbst noch die Abwälzung durch einen En-
gel mitangesehen. — Manchfaltiger werden die Abwei-
chungen in Bezug auf dasjenige, was die Frauen weiter
am Grabe sahen und erfuhren. Nach Lukas gehen sie in
das Grab hinein, finden den Leib Jesu nicht, und indem
sie hierüber betroffen sind, stehen zwei Männer in strah-
lenden Gewändern bei ihnen, welche ihnen seine Aufer-
stehung verkündigen. Bei Markus, der sie gleichfalls in
die Gruft hineingehen läſst, sehen sie nur Einen Jüngling
in weiſsem Kleide auf der rechten Seite nicht stehen, son-
dern sitzen, der ihnen dieselbe Kunde ertheilt. Bei Matthäus
bekommen sie diese Nachricht ehe sie in das Grab hineingehen
von dem Engel, der nach Abwälzung des Steins sich auf den-
selben gesezt hatte. Nach Johannes endlich läuft Maria
Magdalena, sobald sie den Stein abgenommen sieht, ohne
eine Engelerscheinung gehabt zu haben, in die Stadt zu-
rück. — Auch das Verhältniſs, in welches die Jünger
Jesu zu der ersten Kunde von seiner Auferstehung gesezt
werden, ist in den verschiedenen Evangelien ein verschie-
denes. Nach Markus sagen die Frauen aus Furcht Nie-
mand etwas von der gehabten Engelerscheinung; nach Jo-
hannes weiſs Maria Magdalena dem Johannes und Petrus,
zu welchen sie vom Grabe hinweg eilt, nichts zu sagen,
als daſs Jesus daraus weggenommen sei; nach Lukas be-
richten die Frauen den Jüngern überhaupt, nicht bloſs
zweien derselben, die gehabte Erscheinung; nach Mat-
thäus aber kam ihnen, wie sie zu den Jüngern eilen woll-
ten, Jesus selbst noch in den Weg, und sie konnten auch
dieſs schon den Jüngern mittheilen. Daſs einer von die-
sen auf die Nachricht der Frauen selbst zum Grab gegan-
gen wäre, davon sagen die zwei ersten Evangelien nichts;
nach Lukas gieng Petrus hinaus, fand es leer, und kehrte
[593]Viertes Kapitel. §. 133.
verwundert wieder um, und aus Luc. 24, 24. ist zu erse-
hen, daſs noch andere Jünger ausser ihm in ähnlicher
Weise dahin gegangen waren; nach dem vierten Evan-
gelium war Petrus von Johannes begleitet, welcher sich
hiebei von der Auferstehung Jesu überzeugte. Diesen Gang
machte dem Lukas zufolge Petrus, nachdem er bereits
durch die Weiber von der Engelerscheinung benachrich-
tigt war: laut des vierten Evangeliums aber giengen die
beiden Jünger zum Grabe, ehe ihnen Maria Magdalena
von einer solchen hatte sagen können; denn erst, als die-
se mit denselben Beiden den zweiten Gang zum Grabe ge-
macht hatte, und die Apostel wieder umgekehrt waren,
sah sie nach dem vierten Evangelium, sich in das Grab-
mal bückend, zwei Engel in weissen Kleidern, oben und
unten an der Stelle, wo Jesus gelegen hatte, sitzen, wel-
che sie fragten, warum sie weine? und als sie sich um-
wendete, erblickte sie gar Jesum selbst, wovon auch bei
Markus, V. 9, eine abgerissene Notiz sich findet, mit dem
Beisaz, daſs sie diese Nachricht seinen ehemaligen Beglei-
tern gebracht habe.
Die meisten von diesen Enantiophanieen glaubte man
auch hier durch Auseinanderhaltung des verschieden Lau-
tenden zu lösen, indem man statt Einer manchfaltig dar-
gestellten, eine Manchfaltigkeit verschiedener Scenen her-
ausbrachte; wozu dann noch die gewöhnlichen grammati-
schen u. a. Kunststücke der Harmonistik kamen. Damit
Markus dem σκοτίας ἔτι οὓσης bei Johannes nicht wider-
spräche, entblödete man sich nicht, sein ἀνατείλαντος τοῦ
ἡλίου durch orituro sole zu übersetzen 2); damit Matthäus
nicht im Widerspruch gegen die übrigen zu sagen schie-
ne, die Weiber haben die Abwälzung des Steins durch den
Engel mitangesehen: so sollte καὶ ἰδοὺ eine Nachholung von
etwas früher Geschehenem einleiten, und ἀπεκύλισε für
Das Leben Jesu II. Band. 38
[594]Dritter Abschnitt.
das Plusquamperfektum stehen, 3) eine Ausflucht, welche
zwar Lessing noch gestatten wollte, die neueste Kritik aber
nicht mehr gestatten will 4). — In Bezug auf die Zahl und den
Gang der Frauen wurde zunächst geltend gemacht, daſs
auch nach Johannes, ob er gleich die Magdalena allein
namhaft mache, mit dieser noch mehrere Frauen zum
Grab gegangen sein müssen, da er sie ja nach ihrer Rück-
kehr von demselben zu den beiden Jüngern sagen läſst: οὐκ
οἴδαμεν, ποῦ ἔϑηκαν αὐτὸν, 5) ein Plural, der allerdings
auf verschwiegene weitere Personen deutet, mit welchen
Magdalena, sei es am Grab selbst, oder auf dem Rück-
weg, ehe sie zu den Aposteln kam, über den Gegenstand
verhandelt hatte. So gieng also, sagt man, Magdalena
mit andern Weibern, von denen die übrigen Evangelisten,
dieser mehrere, jener wenigere, namhaft machen, zum
Grabe: da sie aber zurückkommt, ohne daſs sie, wie die
übrigen Frauen, einen Engel gesehen hatte, so wird nun
angenommen, sie sei, sobald sie den Stein weggewälzt
sah, allein zurückgelaufen, was man durch ihre heftige
Gemüthsart, als einer ehedem Dämonischen, motivirt 6).
Während sie zur Stadt zurückeilte, hatten nun die übri-
gen Frauen die Erscheinungen, von welchen die Synopti-
ker sprechen. — Allen, wird behauptet, erschienen die En-
gel innerhalb des Grabs; denn daſs einer aussen auf dem
Stein gesessen, ist bei Matthäus nur Plusquamperfektum:
als die Frauen kamen, hatte er sich bereits in das Grab
zurückgezogen, da ja nach ihrer Unterhaltung mit ihm die
[595]Viertes Kapitel. §. 133.
Frauen als ἐξελϑοῦσαι ἐκ τοῦ μνημείου bezeichnet werden 7):
wobei nur übersehen ist, daſs zwischen der ersten Anrede
des Engels und dem ἐξελϑοῦσαι seine Aufforderung an
die Frauen steht, mit ihm (in das Grab) zu kommen,
und den Ort zu betrachten, wo Jesus gelegen hatte. —
Wenn nach den beiden ersten Evangelisten die Frauen nur
Einen, nach dem dritten aber zwei Engel sehen: so behilft
sich selbst Calvin mit der ärmlichen Auskunft der Synek-
doche, so daſs zwar sämmtliche Evangelisten von zwei
Engeln wissen, Matthäus und Markus aber nur desjenigen
von ihnen, der das Wort führte, Erwähnung thun sollen.
Andere lassen verschiedene Frauen hier Verschiedenes se-
hen: die einen, von welchen Matthäus und Markus spre-
chen, sahen nur Einen Engel, die andern, von welchen
Lukas erzählt, und welche früher oder auch später als
die vorgenannten kamen, sahen zwei 8); allein Lukas läſst
dieselben beiden Marien den Aposteln von einer Erschei-
nung zweier Engel referiren, welche nach seinen Vormän-
nern nur Einen Engel gesehen hatten. — Auch den Rück-
weg sollen die Frauen in getrennten Gruppen gemacht ha-
ben, so daſs denen, von welchen Matthäus spricht, Jesus
begegnen konnte, ohne von denen des Lukas gesehen zu
werden, und die des Markus vor Schrecken Anfangs Nie-
mand etwas sagen, die übrigen aber, und auch jene selbst
später, die Jünger in Kenntniſs setzen konnten 9). — Auf
die durch mehrere Frauen erhaltene Nachricht hin geht
dem Lukas zufolge Petrus zum Grab, findet es leer, und
38 *
[596]Dritter Abschnitt.
kehrt verwundert wieder um. Aber schon geraume Zeit
vor den übrigen Weibern war nach dieser Hypothese Mag-
dalena zurückgelaufen, und hatte den Petrus und Johan-
nes mit herausgeführt. Es müſste also zuerst auf die un-
vollständige Kunde der Magdalena vom leeren Grabe hin
Petrus mit Johannes hinausgegangen sein, hernach auf die
Nachricht der Frauen von der Engelerscheinung noch ein-
mal allein: wobei besonders auffallend wäre, daſs, wäh-
rend sein Begleiter gleich bei'm ersten Gange zum Glauben
an Jesu Wiederbelebung gelangte, er selbst durch den
zweiten Gang nicht weiter als bis zur Verwunderung es
gebracht haben sollte. Überdieſs sind, wie der Wolfenbütt-
ler Fragmentist schon gut herausgehoben hat, die Erzäh-
lungen des dritten Evangeliums von dem Gang des Petrus
allein, und des vierten von dem des Petrus und Johannes
so auffallend selbst bis auf die Worte einander ähnlich 10),
daſs die meisten Ausleger hier bloſs Einen Gang, nur bei
Lukas den Begleiter des Petrus verschwiegen, finden, wo-
für sie sich auf Luc. 24, 24. berufen können. Ist aber
der durch Magdalena's Zurückkunft veranlaſste Gang der
[597]Viertes Kapitel. §. 133.
beiden Apostel mit dem durch die Rückkehr der Weiber
veranlaſsten des Petrus ein und derselbe: dann ist auch
die Rückkehr der Frauen keine doppelte; sind sie aber
miteinander umgekehrt: so sollten sie auch das Gleiche ge-
sehen haben, und da die Evangelisten sie Verschiedenes
sehen lassen, so ist dieſs ein Widerspruch. — Nachdem
nun die beiden Apostel umgekehrt sind, ohne einen Engel
gesehen zu haben, erblickt die zurückgebliebene Maria, wie
sie in das Grab hineinsieht, auf Einmal deren zwei. Welch
wunderliches Versteckspielen der Engel nach der harmoni-
stischen Zusammenfügung dieser Erzählungen! Zuerst zeigt
sich dem einen Trupp der Weiber nur Einer; dann einem
andern deren zwei; vor den Jüngern hierauf verbergen
sich beide; nach deren Abgang aber kommen beide wie-
der zum Vorschein. Um dieſs unterbrechende Verschwin-
den zu entfernen, hat Paulus die der Magdalena zu Theil
gewordene Erscheinung vor die Ankunft der beiden Jün-
ger gestellt: aber durch diese gewaltsame Umstellung der
vom Berichterstatter gewählten Ordnung nur ein Bekennt-
niſs der Unmöglichkeit abgelegt, die Erzählungen der ver-
schiedenen Evangelisten auf diese Weise ineinander einzu-
schieben. — Hierauf, wie sich Magdalena vom Hineinse-
hen in das Grab aufrichtet und umschaut, sieht sie Jesum
hinter sich stehen. Nach Matthäus erschien Jesus der
Magdalena und der andern Maria, als diese bereits auf
dem Rückweg in die Stadt begriffen, mithin vom Grabe
entfernt waren. So wäre also Jesus zuerst der Maria
Magdalena allein hart am Grabe, hierauf ihr in Gesell-
schaft einer andern Frau auf dem Wege erschienen. Um
das Zwecklose dieser in so kurzer Frist wiederholten Er-
scheinung Jesu vor derselben Person zu vermeiden, hat
man die obige Behauptung benüzt, von den Frauen, von
welchen Matthäus spreche, habe sich Magdalena schon
früher getrennt gehabt 11): allein dann wäre es, da Mat-
[598]Dritter Abschnitt.
thäus ausser der Magdalena nur noch die andere Maria
hat, nur eine einzige Frau gewesen, welcher auf dem Rück-
weg Jesus erschien: während doch Matthäus durchaus von
mehreren spricht (ἀπήντησεν αὐταῖς u. s. f.).
Um diesem unsteten Hinundherrennen der Jünger und
Frauen, dem phantasmagorischen Erscheinen, Verschwin-
den und Wiedererscheinen der Engel, und der zwecklosen
Häufung der Erscheinungen Jesu vor derselben Person,
wie sie bei dieser harmonistischen Methode herauskommt,
zu entgehen, müssen wir jeden Evangelisten für sich be-
trachten, dann bekommen wir von jedem ein ruhiges Bild
mit einfachen, würdigen Zügen: Einen Gang der Frauen,
oder nach Johannes zwei; Eine Engelerscheinung; Eine
Erscheinung Jesu nach Johannes und Matthäus, und Ei-
nen Gang Eines oder zweier Jünger nach Lukas und Jo-
hannes.
Doch zu jenen materiellen Schwierigkeiten der har-
monistischen Einschiebungsmethode gesellt sich noch die
formelle Frage, wie es denn unter den Voraussetzungen jener
Ansicht komme, daſs aus der Fülle des Geschehenen jeder Re-
ferent ein andres Stück für sich herausgeschnitten, von den
vielen Gängen und Erscheinungen keiner alle, und fast
keiner dieselben wie sein Nachbar, sondern meistens nur
jeder Eine, und jeder wieder eine andere zur Darstellung
ausgewählt habe? Die plausibelste Antwort auf diese Fra-
ge hat Griesbach in einem eigenen Programm über diesen
Gegenstand gegeben 12), indem er annahm, jeder Evange-
list gebe die Art und Weise wieder, wie ihm gerade zu-
erst die Auferstehung Jesu bekannt geworden war. Johan-
nes habe die erste Nachricht durch Maria Magdalena er-
halten, und so erzähle er auch nur, was er von dieser er-
[599]Viertes Kapitel. §. 133.
fahren habe; dem Matthäus (denn die Jünger haben, als
festbesuchende Fremde, ohne Zweifel in verschiedenen
Quartieren der Stadt gewohnt) sei die erste Kunde durch
diejenigen Weiber zugekommen, welchen auf dem Rück-
weg vom Grabe Jesus selbst erschienen war, und so thei-
le er denn nur das von diesen Erlebte mit. Doch hier
scheitert diese Erklärung bereits daran, daſs theils bei
Matthäus unter den Frauen, welche auf dem Rückweg die
Christophanie haben, auch Magdalena ist, theils bei Johannes
Magdalena nach ihrem zweiten Gang, auf welchem ihr Jesus
erschienen war, nicht mehr zu Johannes und Petrus allein, son-
dern zu den μαϑηταῖς überhaupt gieng, und ihnen die gehabte
Erscheinung und den erhaltenen Auftrag mittheilte: so daſs
also Matthäus in jedem Fall auch von der Erscheinung Je-
su vor Magdalena wissen muſste 13). Wenn dann ferner
nach dieser Hypothese Markus die Auferstehungsgeschich-
te so, wie er sie im Hause seiner zu Jerusalem lebenden
Mutter (A. G. 12, 12.), Lukas, wie er sie von der bei ihm
allein genannten Johanna erfahren hatte, erzählen soll:
so muſs man sich über die Zähigkeit verwundern, mit wel-
cher hienach jeder an der zufällig zuerst vernommenen
Erzählung hängen geblieben wäre, da doch gerade über
die Auferstehung Jesu der Austausch der Erzählungen un-
ter seinen Anhängern der lebhafteste sein, und so die Vor-
stellungen über das erste Bekanntwerden derselben sich
ausgleichen muſsten. Diese Schwierigkeit zu heben, hat Gries-
bach weiter angenommen, die Jünger haben wohl im Sinne
gehabt, die unzusammenstimmenden Berichte der Frauen zu
vergleichen und in Ordnung zu bringen, als aber der wie-
derbelebte Jesus selbst in ihre Mitte getreten sei, haben
sie dieſs unterlassen, weil sie nun nicht mehr auf die Aus-
sagen der Weiber, sondern auf die selbstgehabten Erschei-
nungen ihren Glauben gegründet haben: allein eben, je
[600]Dritter Abschnitt.
mehr auf diese Weise die Nachrichten der Weiber in den
Hintergrund traten, desto weniger ist zu begreifen, wie
fernerhin jeder so starr an demjenigen hängen bleiben
konnte, was ihm zufällig zuerst diese oder jene Frau be-
richtet hatte.
Es ist also die Abweichung der evangelischen Erzäh-
lungen hier von der Art, daſs immer der Urheber der ei-
nen von den in der andern gemeldeten Umständen nichts
gewuſst haben kann. Da aber diese Umstände den Apo-
steln vollständig bekannt gewesen sein müssen: so können
wenigstens nicht zwei Berichte unter unsern vieren aposto-
lischen Ursprungs sein, sondern wir müssen entweder einen
als apostolisch zum Grunde legen, und nach ihm die übri-
gen, als sagenhaft, berichtigen, oder alle zusammen in die
Kategorie schwankender Sagen verweisen 14).
Aus der Zahl derjenigen Berichte über das erste Kund-
werden der Auferstehung Jesu, welche auf den Rang aut-
optischer Urkunden Anspruch haben, ist der des ersten
Evangeliums durch die neuere Kritik weggeräumt worden 15),
ohne daſs wir uns über diese Ungunst, wie in andern Fäl-
len, als über eine ungerechte, beklagen könnten. Denn in
mehrerlei Beziehungen zeigt sich dieſsmal die Erzählung
des ersten Evangeliums um eine Stelle weiter vorwärts in
der Ausbildung der Tradition, als die der übrigen Evan-
gelien. Einmal, daſs die wunderbare Eröffnung des Gra-
bes von den Frauen noch mitangesehen worden, wofern dieſs
Matthäus sagen will, dieſs konnte sich, wenn es wirklich der
Fall gewesen war, schwerlich so, wie bei den übrigen Evange-
listen, wieder verlieren, wohl aber sich nach und nach frei
in der Überlieferung bilden; ferner, daſs die Abwälzung des
Steins durch den Engel geschehen sei, beruht offenbar nur auf
[601]Viertes Kapitel. §. 133.
der Combination eines solchen, welcher die Frage, wie denn
wohl der groſse Stein vom Grabe gekommen, und die Wächter
bei Seite geschafft worden seien, nicht besser beantworten
zu können glaubte, als wenn er zu Beidem den Engel be-
nüzte, welchen ihm die umlaufenden Erzählungen von der
den Frauen zu Theil gewordenen Erscheinung boten, wo-
zu er ferner das Erdbeben, als weitere Verherrlichung der
Scene, sezte. Aber auch ausserdem ist in der Erzählung
des Matthäus noch ein Zug, der nichts weniger als histo-
risch klingen will. Nachdem den Frauen bereits der En-
gel die Auferstehung Jesu verkündigt, und sie mit dem
Auftrag an die Jünger gesendet hatte, daſs sie nach Ga-
liläa gehen sollen, dort werde ihnen der Auferstandene er-
scheinen: begegnet ihnen dieser selbst, und wiederholt den
Auftrag an die Jünger. Dieſs ist ein wunderlicher Über-
fluſs. Zum Inhalt des Auftrags, den die Engel den Frauen
gegeben, hatte Jesus nichts mehr hinzuzufügen; mithin
müſste er denselben nur noch haben bekräftigen und glaub-
hafter machen wollen. Allein bei den Frauen bedurfte es
weiterer Beglaubigung nicht, denn sie waren ja schon
durch die Nachricht des Engels χαρᾶς μεγάλης voll, also
gläubig; bei den Jüngern aber reichte auch jene Bekräf-
tigung nicht hin, denn sie blieben selbst auf den Bericht
derjenigen, welche Jesum gesehen zu haben versicher-
ten, bis sie ihn selbst zu sehen bekamen, ungläubig.
Es scheinen sich also hier zweierlei Relationen über die
erste Kunde der Auferstehung in einander verwickelt zu
haben, von welchen die eine die Weiber durch Engel, die
andre durch Jesum selbst von seiner Wiederbelebung in
Kenntniſs gesezt und an die Jünger abgeschickt werden
lieſs — die leztere offenbar die spätere.
Der dem Berichte des Matthäus entzogene Vorrang der
Autopsie wird auch hier wie sonst dem johanneischen zu-
erkannt. So charakteristische Züge, sagt Lücke, wie, daſs
bei'm Gang zum Grabe der ἄλλος μαϑητὴς schneller als Pe-
[602]Dritter Abschnitt.
trus gegangen, und vor ihm an Ort und Stelle gekommen
sei, beurkunden die Ächtheit des Evangeliums auch dem
Zweifelsüchtigsten. Allein hier hat Lücke, bei uns wenig-
stens, ganz die unrechte Saite angeschlagen. Denn eben
diesen Zug haben wir oben als einen von denjenigen uns
gemerkt, welche dem eigenthümlichen Bestreben des vier-
ten Evangeliums angehören, den Johannes über den Pe-
trus zu stellen 16). Wir haben dieſs hier genauer zu be-
trachten, indem wir den Bericht des Lukas über den Gang
des Petrus mit dem Berichte des vierten Evangeliums über
den Gang der beiden Jünger vergleichen. Nach Lukas
(24, 12.) läuft Petrus zum Grabe: nach Johannes (20, 3 ff.)
Petrus und der Lieblingsjünger zusammen, doch so, daſs
der leztere schneller läuft, und zuerst zum Grabe kommt.
Im dritten Evangelium bückt sich Petrus in das Grab hin-
ein, und sieht die leeren Tücher: im vierten thut Johan-
nes dieſs, und sieht dasselbe. Nun von einem Hineinge-
hen in die Gruft hat der dritte Evangelist gar nichts: der
vierte aber läſst zuerst den Petrus hineingehen und die
Tücher genauer besichtigen, dann auch den Johannes, und
diesen mit dem Erfolge, daſs er an die Wiederbelebung
Jesu zu glauben anfängt 17). Daſs hier von Einem und
demselben Vorfall die Rede sei, ist oben durch die genaue
Analogie selbst des Ausdrucks wahrscheinlich gemacht wor-
den. Es fragt sich also nur, welches wohl die ursprüng-
liche, dem Faktum nähere Erzählung gewesen sei? Wenn
die des Johannes: dann müſste sich also dessen Name all-
mählig aus der Überlieferung verloren haben, und der Gang
dem Einen Petrus zugeschrieben worden sein, was sich
bei dem alle andern verdunkelnden Ansehen des Petrus
gar wohl denken lieſse. Hiebei würde man, diese beiden
[603]Viertes Kapitel. §. 133.
parallelen Erzählungen für sich betrachtet, sich beruhigen
können: allein im Zusammenhang mit der ganzen verdäch-
tigen Stellung, welche das vierte Evangelium dem Johan-
nes, gegenüber von Petrus, ertheilt, muſs auch hier das
umgekehrte Verhältniſs der beiden Berichte wahrscheinli-
cher werden. Wie bei dem Gang in den hohenpriesterli-
chen Palast, so wird auch bei dem zum Grabe Jesu nur
allein im vierten Evangelium dem Petrus Johannes beige-
geben; wie er dort den Petrus einführt, so läuft er ihm
hier voran, und wirft den ersten Blick in das Grab, was
wiederholt hervorgehoben wird. Daſs sofort Petrus zuerst
in das Grab hineingeht, ist nur der Schein eines Vorzugs,
der ihm aus Rücksicht auf die vulgäre Vorstellung von
ihm eingeräumt wird; denn nach ihm geht ja auch Johan-
nes hinein, und zwar mit einem Erfolg, wie Petrus sich
dessen nicht rühmen konnte, daſs er nämlich an die Auf-
erstehung Jesu — als der Erste — gläubig wurde. Aus
diesem Bestreben, den Johannes zum Erstgebornen der
Gläubigen an Jesu Auferstehung zu machen, erklärt sich
dann auch die Abweichung, daſs nach dem Bericht des ein-
zigen vierten Evangeliums Magdalena, noch ehe sie einen
Engel gesehen, zu den beiden Jüngern zurückeilt. Denn
hätte sie schon vorher eine Engelerscheinung gehabt, wel-
cher sie dann so wenig als die Frauen bei Matthäus miſs-
traut haben würde, so wäre ja sie die erste Gläubige ge-
wesen, und hätte vor Johannes einen Vorzug gewonnen:
was nun dadurch vermieden ist, daſs sie bloſs mit der
Wahrnehmung des leeren Grabs und der hiedurch erreg-
ten Unruhe zu den beiden Jüngern kommt. Auch das er-
klärt sich unter dieser Voraussetzung, daſs das vierte
Evangelium die vom Grab zurückkehrende Frau nicht zu
den Jüngern überhaupt, sondern nur zu Petrus und Jo-
hannes gehen läſst. Da nämlich die der ursprünglichen
Erzählung nach an sämmtliche Jünger gebrachte Nach-
richt nach Lukas zunächst nur den Petrus zu einem Gang
[604]Dritter Abschnitt.
an das Grab veranlaſste, wie denn auch nach Markus
(V. 7.) die Botschaft der Frauen ganz besonders für Pe-
trus bestimmt war: so konnte sich leicht die Vorstellung
bilden, die Nachricht sei nur an diesen gekommen, wel-
chem dann der vierte Evangelist seinen Zwecken gemäſs
noch den Johannes beigesellen muſste. Daſs derselbe Evan-
gelist statt der mehreren Frauen nur die Eine Magdalena
hat, dieſs könnte freilich unter andern Umständen als
das Ursprüngliche angesehen werden, woraus die synopti-
sche Darstellung durch Generalisirung entstanden wäre:
ebensogut jedoch können die übrigen Frauen als minder
bekannt hinter Magdalena zurückgetreten sein. — Nun
erst, nachdem die beiden Jünger bei'm Grab gewesen wa-
ren, und sein Johannes Glauben gewonnen hatte, konnte
der Verfasser des vierten Evangeliums die Erscheinung
der Engel und Jesu selbst einfügen, welche den Weibern
zu Theil geworden sein sollte, und welche entweder er,
oder schon die ihm zu Gebote stehende Tradition auf die
Eine Maria Magdalena beschränkt hatte. Die Ausmalung
der Scene, mit dem anfänglichen Nichterkennen u. s. f.,
macht der geistreichen und gefühlvollen Manier des Ver-
fassers Ehre: indeſs findet sich auch hier ein ähnlicher un-
historischer Überfluſs, wie bei Matthäus. Denn hier ha-
ben die Engel der Magdalena nicht, wie bei den übrigen
Evangelisten den Frauen, die Auferstehung Jesu zu ver-
kündigen, und ihr einen Aufschluſs zu geben, sondern sie
fragen sie nur: τί κλαίεις; worauf sie ihnen das Ver-
schwinden des Leichnams Jesu klagt, aber, ohne weitern
Aufschluſs abzuwarten, wendet sie sich sofort um, und
sieht Jesum stehen. Wie also bei Matthäus die Erschei-
nung Jesu, welche doch noch nicht die eigentliche und
rechte sein soll, eine überflüssige Zugabe zu der Engeler-
scheinung ist: so hier die Engelerscheinung eine müſsig
prunkende Einleitung zur Erscheinung Jesu.
Sehen wir hierauf den dritten Bericht, den des Mar-
[605]Viertes Kapitel. §. 133.
kus, darauf an, ob nicht er vielleicht der dem Faktum
nächste sein möchte: so ist er auf eine Weise in sich zer-
rissen und aus ungefügigen Bestandtheilen zusammenge-
sezt, daſs an ein solches Verhältniſs nicht zu denken ist.
Nachdem nämlich bereits erzählt war, daſs am Frühmor-
gen des Tags nach dem Sabbat die Frauen zum Grabe
Jesu gekommen, und durch einen Engel von seiner Aufer-
stehung benachrichtigt worden seien, aus Furcht aber
Niemand etwas von der gehabten Erscheinung gesagt ha-
ben (16, 1—8.): wird nun (V. 9.), als ob weder von der
Auferstehung, noch von der Zeit derselben, die Rede ge-
wesen wäre, fortgefahren: ἀναςὰς δὲ πρωῒ πρώτῃ σαββά-
των ἐφάνη πρῶτον Μαρίᾳ τῇ Μαγδαληνῇ. Dieser Zug paſst
auch deſshalb zu der vorangegangenen Erzählung nicht,
weil diese gar nicht auf eine der Magdalena besonders
zugedachte Erscheinung eingerichtet ist, sondern, da sie
mit zwei andern Frauen durch einen Engel von Jesu Auf-
erstehung benachrichtigt wird, so konnte ihr vorher Jesus
noch nicht erschienen sein, nachher aber, auf dem Weg
zur Stadt, war sie mit den übrigen Frauen zusammen,
wo sie dann wirklich nach Matthäus miteinander die Chri-
stophanie hatten. Ob man deſswegen den Schluſs des
Markusevangeliums, von V. 9. an, als einen späteren Zu-
saz ansehen darf 18), ist zwar wegen des Mangels an hin-
reichenden kritischen Gründen zweifelhaft; in jedem Fall
aber haben wir hier einen Bericht, welchen der Verfas-
ser aus verschiedenartigen Elementen der umgehenden Sa-
ge, welche er nicht zu beherrschen wuſste, ohne klare
Anschauung von dem Hergang der Sache und der Aufein-
anderfolge der Momente, eilfertig zusammengesezt hat.
In der Erzählung des Lukas wäre zwar übrigens kein
besonderer Anstoſs: doch aber hat sie ein verdächtiges
Element, die Engelerscheinung, und zwar in der Zwei-
[606]Dritter Abschnitt.
zahl, mit den übrigen gemein. Was sollten die Engel bei
dieser Scene? Matthäus sagt uns: den Stein von der Gruft
wälzen; wogegen schon Celsus bemerkt hat, daſs nach der
orthodoxen Voraussetzung der Gottessohn hiezu keiner sol-
chen Hülfe benöthigt sein konnte: 19) nur etwa schicklich
mochte er sie finden. Bei Markus und Lukas erscheinen
die Engel mehr nur als diejenigen, welche den Weibern
Nachricht und Aufträge ertheilen sollten: allein da nach
Matthäus und Johannes unmittelbar darauf Jesus selber
erschien und jene Aufträge wiederholte, so war die Be-
stellung durch Engel überflüssig. Es bleibt daher nichts
übrig, als zu sagen: die Engel gehörten zur Verherrli-
chung der groſsen Scene, als himmlische Dienerschaft,
welche dem Messias die Thür aufzuthun hatte, durch
welche er ausgehen wollte; als Ehrenwache an der Stelle,
welche der Getödtete so eben lebendig verlassen hatte.
Hier ist nun aber eben die Frage: giebt es einen solchen
Prunk in dem wirklichen Haushalt Gottes, oder nur in
der kindlichen Vorstellung, welche sich die Vorzeit von
demselben machte?
Man hat sich daher verschiedentlich Mühe gegeben,
die Engel der Auferstehungsgeschichte in natürliche Er-
scheinungen zu verwandeln. Gieng man hiebei von dem
Bericht des ersten Evangeliums aus, und erwog, daſs dem
Engel eine ἰδέα ὡς ἀςραπὴ, als Wirkung die Abwälzung
des Steins und die Betäubung der Hüter zugeschrieben,
auch mit seiner Erscheinung eine Erderschütterung in Ver-
bindung gesezt wird: so lag es nicht mehr fern, entwe-
der an einen Bliz zu denken, welcher mit erschütterndem
Schlage den das Grabmal schlieſsenden Stein auf die Seite
geschmettert und die Hüter zu Boden geworfen habe;
[607]Viertes Kapitel. §. 133.
oder an ein Erdbeben, welches, begleitet von aus der Erde
schlagenden Flammen dieselben Wirkungen hervorgebracht
habe, wobei denn das Feurige und Übermächtige der Er-
scheinung von den wachhabenden Soldaten für einen En-
gel gehalten worden sei 20). Allein theils der Umstand,
daſs der Engel sich auf den abgewälzten Stein gesezt,
theils und noch mehr die Notiz, daſs er mit den Wei-
bern geredet haben soll, macht diese Hypothese unzu-
reichend. Man hat sie deſswegen durch die Annahme zu
ergänzen gesucht, der hohe Gedanke, Jesus sei auferstan-
den, welcher aus Veranlassung des leergefundeneu Grabs
in den Frauen entstand, und allmählig der anfänglichen
Zweifel Meister wurde, sei von den Frauen nach orienta-
lischer Denk- und Redeweise einem Engel zugeschrieben
worden 21). Wie aber, daſs in sämmtlichen Evangelien
die Engel als gekleidet in weisse, strahlende Gewänder
dargestellt werden? soll auch das orientalische Bilderrede
sein? Der Orientale kann wohl etwa einen guten Gedan-
ken, der ihm kommt, als einen bezeichnen, den ihm ein
Engel zugeflüstert habe: aber nun noch die Kleidung und
das Aussehen dieses Engels zu beschreiben, das geht über
das Maaſs des bloſsen Bildes auch im Orient hinaus. Bei
der Beschreibung im ersten Evangelium könnte man etwa
den angeblichen Bliz zu Hülfe nehmen und vermuthen, was
den Frauen bei'm Anblick desselben durch den Sinn fuhr,
das haben sie einem Engel zugeschrieben, welchen sie mit
Rücksicht auf jenen Bliz als einen glänzend gekleideten
schilderten. Allein nach den übrigen Evangelisten sa-
hen die Weiber die Abwälzung des Steins ex hypothesi
durch den Bliz nicht mehr mit an, sondern, wie sie in
das Grab giengen oder schauten, erschienen ihnen ganz
[608]Dritter Abschnitt.
ruhig die weissen Gestalten. Hienach muſs es etwas im
Grabe gewesen sein, was in ihnen den Gedanken an weiſs-
gekleidete Engel erregte; im Grabe aber lagen nach Lukas
und Johannes die weissen Leintücher, in welche der Leich-
nam Jesu gewickelt gewesen war: diese, welche von den
ruhigeren und beherzteren Männern einfach als solche er-
kannt wurden, konnten, sagt man, von furchtsamen und
aufgeregten Weibern in der dunkeln Gruft bei täuschen-
der Morgendämmerung gar wohl für Engel gehalten wer-
den 22). Doch wie sollten die Frauen, welche doch
erwarten muſsten, einen weiſseingewickelten Todten in
der Gruft zu finden, durch den Anblick jener Tücher auf
so ganz besondere Gedanken gekommen sein, und zwar
gerade darauf, was ihnen damals am fernsten lag, dieſs
mögen wohl Engel sein, welche die Auferstehung ihres
hingerichteten Lehrers ihnen ankündigen wollen? — Wie
sonderbar aber, muſste man von anderer Seite her den-
ken, hier so viele künstliche Vermuthungen aufzustellen,
was wohl die Engel gewesen sein mögen, da doch unter
den vier Berichten zwei uns ausdrücklich sagen, was sie
gewesen sind, nämlich natürliche Menschen, wenn ja
Markus seinen Engel als νεανίσκον, Lukas die seinigen als
ἄνδρας δύο bezeichnet 23). Wer sollen nun aber diese
Männer gewesen sein? Hier ist wieder Thür und Thor
geöffnet für die Annahme von geheimen Verbündeten Jesu,
welche dieſsmal selbst den Jüngern unbekannt gewesen
sein müssten: es werden dieselben gewesen sein, welche
bei der sogenannten Verklärungsgeschichte mit ihm zusam-
menkamen, vielleicht Essener, welche sich weiſs zu klei-
den pflegten — und was dergleichen aus der Mode ge-
[609]Viertes Kapitel. §. 134.
kommene Vermuthungen eines Bahrdtisch-Venturini'schen
Pragmatismus mehr sind. Oder will man lieber ein rein
zufälliges Zusammentreffen postuliren; oder endlich mit
Paulus die Sache in einem Dunkel lassen, aus welchem,
sobald man es durch bestimmte Gedanken aufzuhellen ver-
sucht, doch immer wieder die Gestalten der geheimen Ver-
bündeten hervortreten? Der richtige Sinn wird auch hier
vielmehr die Gestalten der jüdischen Volksvorstellung er-
kennen, durch welche die urchristliche Tradition die Auf-
erstehung ihres Messias verherrlichen zu müssen glaubte;
eine Ansicht, durch welche sich zugleich die Differenzen
in Zahl und Erscheinungsweise jener überirdischen We-
sen von selbst auf die kunstloseste Weise lösen 24). Eben
hiemit ist aber auch anerkannt, daſs wir in sämmtlichen
evangelischen Darstellungen dieser ersten Kunde der Auf-
erstehung nur traditionelle Berichte vor uns haben.
§. 134.
Galiläische und judäische, paulinische und apokryphische Er-
scheinungen des Auferstandenen.
Wohl die bedeutendste von allen in der Auferstehungs-
geschichte vorkommenden Differenzen betrifft die Frage,
welches der von Jesu beabsichtigte Hauptschauplaz seiner
Erscheinungen nach der Auferstehung gewesen sei? Die
beiden ersten Evangelien lassen Jesum noch vor seinem
Das Leben Jesu II. Band. 39
[610]Dritter Abschnitt.
Tode bei'm Hinausgang an den Ölberg den Jüngern die
Zusage machen: μειὰ τὸ ἐγερϑῆναί με προάξω ὑμᾶς εἰς
τὴν Γαλιλαίαν (Matth. 26, 32. Marc. 14, 28.); dieselbe
Versicherung giebt am Auferstehungsmorgen der Engel den
Weibern mit dem Zusaz: ἐκεῖ αὐτὸν ὄψεσϑε (Matth. 28,
7. Marc. 16, 7.), und bei Matthäus ertheilt über alles die-
ses Jesus in eigener Person den Weibern den Auftrag,
den Jüngern zu sagen: ἵνα ἀπέλϑωσιν εἰς τὴν Γαλιλαίαν,
κᾀκεῖ με ὄψονται (28, 10.). Bei Matthäus wird sofort
wirklich die Abreise der Jünger nach Galiläa, und die
Erscheinung, welche sie dort von Jesu hatten (die einzige
den Jüngern zu Theil gewordene, deren Matthäus gedenkt),
gemeldet; Markus bricht, nachdem er die Bestürzung be-
schrieben, in welche die Engelerscheinung die Frauen ver-
sezt habe, auf die schon erwähnte räthselhafte Art ab,
hängt einige Erscheinungen Jesu an, welche, da zwischen
der ersten, die als unmittelbar nach der Auferstehung er-
folgt, nothwendig in Jerusalem zu denken ist, und den
folgenden keine Ortsveränderung bemerkt, und der Zusam-
menhang mit der früheren Weisung nach Galiläa aufgeho-
ben ist, sämmtlich als Erscheinungen in und um Jerusa-
lem betrachtet werden müssen. Johannes weiſs von einer
Weisung der Jünger nach Galiläa nichts, und läſst Jesum
am Abend des Auferstehungstages und acht Tage später
den Jüngern in Jerusalem sich zeigen; doch wird in dem
angehängten Schluſskapitel eine Erscheinung am galiläischen
See beschrieben. Bei Lukas dagegen ist nicht bloſs von
einer galiläischen Erscheinung keine Spur, und Jerusalem
mit der Umgegend zum alleinigen Schauplaz der Christo-
phanieen, welche dieses Evangelium hat, gemacht, sondern
es wird auch Jesu, wie er am Abend nach der Auferste-
hung den versammelten Jüngern in Jerusalem erscheint,
die Weisung in den Mund gelegt: ὑμεῖς δὲ καϑίσατε ἐν
τῇ πόλει (was die A. G. 1, 4. bestimmter negativ durch
ἀπὸ Ἱεροσολύμων μὴ χωρίζεσϑαι ausdrückt), ἕως οὖ ἐνδύ-
[611]Viertes Kapitel. §. 134.
σησϑε δύναμιν ἐξ ὕψους (24, 49.). Hier muſs zweierlei ge-
fragt werden: 1) wie kann Jesus die Jünger zu einer
Reise nach Galiläa angewiesen, und ihnen doch zugleich
geboten haben, bis Pfingsten in Jerusalem zu bleiben? und
2) wie konnte er sie darauf verweisen, in Galiläa sich ih-
nen zu zeigen, wenn er doch im Sinn hatte, noch am
nämlichen Tag ihnen in und bei Jerusalem zu erscheinen?
Den ersteren Widerspruch, welcher zunächst zwi-
schen Matthäus und Lukas stattfindet, hat Niemand schär-
fer hingestellt, als der Wolfenbüttler Fragmentist. Ist es
wahr, schreibt er, was Lukas sagt, daſs Jesus gleich am
ersten Tage seiner Auferstehung seinen Jüngern in Jeru-
salem erschienen ist, und befohlen hat, da zu bleiben, und
nicht von da weg zu gehen bis Pfingsten: so ist es falsch,
daſs er ihnen befohlen habe, in derselben Zeit nach dem
äussersten Galiläa zu wandern, um ihnen da zu erscheinen,
und umgekehrt 1). Die Harmonisten gaben sich zwar die
Miene, als wäre dieser Einwurf unbedeutend, und bemerk-
ten nur kurz, die Anweisung, in einer Stadt zu bleiben,
sei kein Stadtarrest, und schlieſse also Spaziergänge und
Nebenreisen nicht aus, sondern nur die Verlegung des
Wohnsitzes von Jerusalem weg und das Ausgehen in alle
Welt zur Predigt des Evangeliums habe Jesus den Jün-
gern bis zu jenem Termin verbieten wollen 2). Allein ein
Spaziergang ist die Reise von Jerusalem nach Galiläa doch
wohl nicht, sondern der weiteste Zug, den der Jude im
Inland machen konnte; ebenso wenig war es für die Apo-
stel eine Nebenreise, vielmehr eine Rückreise in ihre Hei-
math; was aber Jesus durch jene Weisung den Jüngern
untersagen wollte, kann weder das Ausgehen in alle Welt
zur Verkündigung des Evangeliums gewesen sein, wozu
sie vor der Ausgieſsung des Geistes gar keinen Trieb in
39 *
[612]Dritter Abschnitt.
sich verspürten; noch die Verlegung des Wohnsitzes von
Jerusalem weg, wo sie nur als festbesuchende Fremde sich
aufhielten: sondern eben von der Reise muſs sie Jesus ha-
ben zurückhalten wollen, welche zu machen ihnen am
nächsten lag, d. h. von der Rückkehr in ihre Heimath Ga-
liläa nach Verfluſs der Festtage. Überdieſs — worüber auch
Michaelis gesteht, sich wundern zu müssen — wenn Lu-
kas durch jenes Verbot Jesu die Reise nach Galiläa nicht
ausschlieſsen will, warum erwähnt er derselben mit kei-
nem Wort? und ebenso, wenn Matthäus sich bewuſst war,
daſs seine Hinweisung nach Galiläa sich mit dem Befehl,
in der Hauptstadt zu bleiben, vertrage, warum hat er die-
sen, sammt den jerusalemischen Erscheinungen, übergan-
gen? gewiſs ein deutlicher Beweis, daſs jeder von beiden
einer andern Grundansicht vom Schauplaz der Erscheinun-
gen des auferstandenen Jesus gefolgt ist.
In diesem Gedränge, zwei an demselben Tag gegebene
entgegengesezte Befehle zusammenzureimen, bot die Ver-
gleichung der Apostelgeschichte eine erwünschte Hülfe durch
Unterscheidung der Zeiten dar. Hier findet sich nämlich
der Befehl Jesu, Jerusalem nicht zu verlassen, in seine
lezte Erscheinung, 40 Tage nach der Auferstehung, un-
mittelbar vor der Himmelfahrt, verlegt; am Schlusse des
Lukasevangeliums ist es gleichfalls die lezte mit der Him-
melfahrt schlieſsende Zusammenkunft, in welcher jener
Befehl ertheilt wird, und wenn man nun gleich, die ge-
drängte Darstellung des Evangeliums für sich genommen,
glauben müſste, das Alles sei noch am Tage der Auferste-
hung selbst vorgegangen: so ersehe man doch, heiſst es,
aus der A. G. desselben Verfassers, daſs zwischen V. 43
und 44. im lezten Kapitel seines Evangeliums die 40 Tage
von der Auferstehung bis zur Himmelfahrt mitten inne lie-
gen. Hiemit aber verschwinde auch der scheinbare Wider-
spruch jener beiden Weisungen: denn gar wohl könne,
wer zuerst zwar zu einer Reise nach Galiläa angewiesen
[613]Viertes Kapitel. §. 134.
hatte, 40 Tage später, nachdem diese Reise gemacht und
man in die Hauptstadt zurückgekehrt war, nunmehr jede
weitere Entfernung von da verboten haben 3). Allein so
wenig der zu befahrende Widerspruch verschiedener N. T.-
lichen Schriftsteller ein Grund sein darf, von der natürli-
chen Deutung ihrer Aussprüche abzugehen, so wenig kann
man hiezu durch die Furcht berechtigt sein, es möchte
sonst ein und derselbe Autor in verschiedenen Schriften
sich widersprechen, da, wenn die eine etwas später als
die andere geschrieben ist, der Schriftsteller in der Zwi-
schenzeit über Manches anders berichtet worden sein kann,
als er es bei Abfassung der ersten Schrift war. Daſs dieſs
in Bezug auf die Begebenheiten vor und zunächst nach der
Auferstehung bei Lukas wirklich der Fall war, werden
wir z. B. aus der Vergleichung von Luc. 24, 53. mit A. G.
1, 13. später noch sehen: womit denn jeder Grund ver-
schwindet, zwischen das ἔφαγεν V. 43. und εἶπε δὲ V. 44.
gegen den Augenschein eines unmittelbaren Zusammen-
hangs beinahe 6 Wochen Zwischenzeit einzuschieben, eben-
so aber auch die Möglichkeit, die entgegengesezten Befehle
Jesu bei Matthäus und Lukas durch Unterscheidung der
Zeiten zu vereinigen.
Indeſs, gesezt auch, dieser Widerspruch lieſse sich
auf irgend eine Weise heben, so würden dennoch, selbst
ohne jenen ausdrücklichen Befehl, welchen Lukas meldet,
auch die bloſsen Fakta, wie sie bei ihm und seinem Vor-
mann und Nachfolger erzählt sind, mit der Weisung, wel-
che Jesus bei Matthäus den Jüngern ertheilt, unvereinbar blei-
ben. Denn haben ihn, fragt der Wolfenbüttler, die sämmt-
lichen Jünger zu zweien Malen in Jerusalem gesehen, ge-
sprochen, betastet und mit ihm gespeist: wie kann es sein,
daſs sie, um ihn zu sehen, die weite Reise nach Galiläa haben
[614]Dritter Abschnitt.
thun müssen 4)? Die Harmonisten erwiedern zwar dreist,
damit, daſs Jesus den Jüngern sagen lasse, in Galiläa wer-
den sie ihn sehen, sei keineswegs gesagt, daſs sie ihn sonst
nirgends, namentlich nicht in Jerusalem, sehen würden 5).
Allein, so wenig, wer zu mir sagt: geh' nach Rom, dort
wirst du den Pabst sehen, meinen kann, der Pabst werde
zwar zuvor noch durch meinen jetzigen Aufenthaltsort kom-
men, und da von mir gesehen werden können, hernach
aber soll ich auch noch nach Rom gehen, um ihn dort
wieder zu sehen: so wenig würde der Engel bei Matthäus
und Markus, wenn er von der jerusalemischen Erscheinung
noch am nämlichen Tage etwas geahnt hätte, den Jüngern
gesagt haben: geht nach Galiläa, dort wird sich euch Je-
sus zeigen, sondern: seid nur getrost, hierselbst in Jerusa-
lem werdet ihr ihn vor Abend noch zu sehen bekommen.
Wozu die Verweisung auf das Entferntere, wenn ein gleich-
artiges Näheres dazwischenlag? und wozu eine Bestellung
der Jünger nach Galiläa durch die Weiber, wenn Jesus
vorhersah, am nämlichen Tage noch die Jünger persön-
lich zu sprechen? Mit Recht beharrt die neuere Kritik
auf dem, was schon Lessing geltend gemacht hat 6), daſs
kein Vernünftiger seinen Freunden durch eine dritte Per-
son eine spätere Zusammenkunft zu freudigem Wiederse-
hen an einem entfernten Ort anberaumen lasse, wenn er
noch an demselben Tag und öfters am gegenwärtigen Or-
te sie zu sehen gewiſs sei7). Kann mithin der Engel und
Jesus selbst, als sie am Morgen durch die Frauen die Jün-
ger nach Galiläa beschieden, noch nichts davon gewuſst
[615]Viertes Kapitel. §. 134.
haben, daſs er am Abend desselben Tags bei und in Jeru-
salem sich ihnen zeigen werde: so muſs er also am Mor-
gen noch im Sinne gehabt haben, sogleich nach Galiläa
zu gehen, im Verlaufe des Tags aber auf andre Gedanken
gekommen sein. Von jenem anfänglichen Vorsaz findet
sich nach Paulus8) auch bei Lukas eine Spur, in der Wan-
derung Jesu nach dem in der Richtung gegen Galiläa hin
gelegenen Emmaus; als Grund der Abänderung des Plans
aber vermuthet derselbe Ausleger, welchem hierin Olshau-
sen beistimmt9), den Unglauben der Jünger, wie er sich
Jesu namentlich bei Gelegenheit des Gangs nach Emmaus
zu erkennen gegeben hatte. Wie sich eine solche irrige
Berechnung von Seiten Jesu mit der orthodoxen Ansicht
von seiner Person vertrage, möge hiebei Olshausen zuse-
hen; aber auch rein menschlich betrachtet, liegt kein ge-
nügender Grund jener Umstimmung vor. Namentlich seit
Jesus von den beiden Emmauntischen Jüngern erkannt wor-
den war, durfte er gewiſs sein, daſs das Zeugniſs der Män-
ner die Aussage der Weiber so beglaubigen würde, um
die Jünger wenigstens mit glimmenden Funken des Glau-
bens und der Hoffnung nach Galiläa zu führen. Überhaupt
aber, wenn eine Umstimmung, und eine Verschiedenheit
des Plans Jesu vor und nach derselben stattfand: warum
giebt dann kein Evangelist von einem solchen Wendepunkt
Nachricht, sondern spricht Lukas so, wie wenn er von
dem ursprünglichen Plan; Matthäus, wie wenn er von ei-
ner späteren Abänderung desselben nichts wüſste; Johan-
nes, als ob der Hauptschauplaz der Erscheinungen des Auf-
erstandenen Jerusalem gewesen, und er nur nachträglich
auch einmal nach Galiläa gekommen wäre; endlich Mar-
kus so, daſs man wohl sieht, er hat die anfängliche Wei-
sung nach Galiläa, welche er aus Matthäus, und die fol-
[616]Dritter Abschnitt.
genden Erscheinungen in Jerusalem und der Umgegend,
welche er aus Lukas, und woher sonst noch, schöpfte,
auf keine Weise zu vereinigen gewuſst oder auch nur ge-
sucht, sondern sie roh und widersprechend, wie er sie
fand, zusammengestellt?
Muſs man demnach mit der neuesten Kritik des Mat-
thäusevangeliums den Widerspruch zwischen diesem und
den übrigen in Bezug auf die Lokalität der Erscheinungen
Jesu nach der Auferstehung anerkennen: so fragt es sich,
ob man derselben auch darin beistimmen kann, daſs sie
ohne Weiteres die Darstellung des ersten Evangeliums ge-
gen die der übrigen aufgiebt?10) Stellen wir, abgesehen
von vorausgeseztem apostolischen Ursprung des einen oder
andern Evangeliums, die Frage: welche der beiden abwei-
chenden Darstellungen eignet sich mehr dazu, als traditio-
nelle Um- und Weiterbildung der andern angesehen zu
werden? so können wir hier, ausser der allgemeinen Be-
schaffenheit der Erzählungen, noch auf einen einzelnen
Punkt sehen, an welchem beide sich auf charakteristische
Weise berühren. Dieſs ist die Anrede der Engel an die
Frauen, in welcher nach sämmtlichen Synoptikern Gali-
läa's erwähnt wird, aber auf verschiedene Weise. Bei
Matthäus sagt der Engel, wie schon erwähnt, von Jesu:
ποοάγει ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν — ἰδοὺ εἶπον ὑμῖν (28, 7.).
Bei Markus sagt er dasselbe, nur daſs er statt des lezte-
ren Zusatzes, durch welchen bei Matthäus der Engel seine
eignen Worte den Frauen einprägen will, den Zusaz hat:
καϑὼς εἶπεν ὑμῖν, mit welchem er sie auf die frühere Vor-
hersage Jesu über diesen Gegenstand zurückweist. Ver-
gleichen wir zunächst diese beiden Darstellungen: so könnte
leicht das bekräftigende εἶπον ὑμῖν überflüssig und nichts-
sagend erscheinen, und dagegen die Zurückweisung auf
[617]Viertes Kapitel. §. 134.
Jesu frühere Vorhersagung durch εἶπεν passender, und
darauf könnte man die Vermuthung begründen, daſs hier
vielleicht Markus das Richtige und Ursprüngliche, Mat-
thäus aber ein nicht ohne Miſsverständniſs Abgeleitetes ha-
be 11). Ziehen wir nun aber auch den Bericht des Lukas
in die Vergleichung herein: so wird auch hier, wie bei
Markus, durch ein μνήσϑητε, ὡς ἐλάλησεν ὑμῖν ἔτι ὢν ἐν
τῇ Γαλιλαίᾳ, λέγων κ. τ. λ. auf eine frühere Vorhersage
Jesu zurückgewiesen, aber nicht auf eine nach Galiläa
weisende, sondern auf eine in Galiläa gegebene. Hier fragt
sich: ist es wahrscheinlicher, daſs das ursprünglich zur
Bestimmung des Lokals, in welchem die Weissagung der
Auferstehung gegeben wurde, hinzugesezte Galiläa später
irrig als Bestimmung desjenigen Lokals, wo der Aufer-
standene erscheinen wollte, umgedeutet worden ist, oder
umgekehrt? Dieſs muſs sich darnach entscheiden, in wel-
cher von beiden Stellungen die Erwähnung Galiläa's inni-
ger in den Zusammenhang paſst. Daſs nun bei Verkün-
digung der Auferstehung Alles darauf ankam, ob und wo
der Auferstandene zu sehen sei, erhellt von selbst; weni-
ger lag, wenn auf eine frühere Weissagung zurückgewie-
sen werden sollte, daran, wo diese gegeben worden war.
Hienach könnte man schon von dieser Vergleichung der
Stellen aus es wahrscheinlicher finden, daſs es ursprüng-
lich geheiſsen haben möge, der Engel habe die Jünger
nach Galiläa gewiesen, um dort den Auferstandenen zu
sehen (Matth.); hierauf aber, als die Erzählungen von ju-
däischen Erscheinungen Jesu die galiläischen verdrängt
hatten, habe man das Galiläa in der Engelrede dahin um-
gestellt, daſs es nun hieſs, schon in Galiläa habe Jesus sei-
ne Auferstehung vorhergesagt (Lukas); worauf dann Mar-
kus vermittelnd eingetreten zu sein scheint, indem er mit
[618]Dritter Abschnitt.
Lukas das ειπον, in εἶπεν verwandelt, auf Jesum bezog,
Galiläa aber mit Matthäus als Schauplaz nicht der frühe-
ren Vorhersagung, sondern der bevorstehenden Erschei-
nung Jesu beibehielt.
Ziehen wir hierauf die allgemeine Beschaffenheit der
beiden Erzählungen und die Natur der Sache in Betracht,
so stehen der Annahme, daſs Jesus nach seiner Auferste-
hung den Jüngern wirklich mehreremale in und bei Jeru-
salem erschienen sei, die Kunde hievon aber aus der Tra-
dition, wie sie dem ersten Evangelium zum Grunde lag,
sich verloren habe, dieselben Schwierigkeiten entgegen,
und die entgegengesezte hat eben so viel für sich, wie wir
dieſs bei einer früheren Untersuchung in Bezug auf die
mehreren Festreisen und judäischen Aufenthalte Jesu ge-
funden haben 12). Daſs die jerusalemischen Erscheinun-
gen des Auferstandenen in Galiläa, wo dieser Vorausse-
tzung nach die Matthäustradition sich bildete, unabsicht-
lich, also durch völliges Verschwinden der Kunde von
denselben, in Vergessenheit gekommen wären, läſst sich
bei der Wichtigkeit gerade dieser Erscheinungen, welche,
wie die vor den versammelten Eilfen und vor Thomas, die
sichersten Zeugnisse für die Realität der Auferstehung
enthielten, und bei dem organisirenden Einfluſs der Ge-
meinde in Jerusalem, nicht wohl denken; daſs man aber
in Galiläa von den judäischen Erscheinungen Jesu zwar
gewuſst, der Verfasser des ersten Evangeliums aber sie
absichtlich verschwiegen haben sollte, um seiner Provinz
allein die Ehre derselben zu erhalten, dieſs sezt einen ga-
liläischen Particularismus, eine Opposition der dortigen
Christen gegen die Gemeinde zu Jerusalem voraus, wovon
uns jede geschichtliche Spur abgeht. Das andre Mögliche
hingegen, daſs vielleicht, nachdem ursprünglich bloſs ga-
liläische Erscheinungen des Auferstandenen bekannt ge-
[619]Viertes Kapitel. §. 134.
wesen waren, in der Überlieferung allmählig immer mehr
judäische und jerusalemische hinzugefügt, und durch diese
endlich jene ganz verdrängt worden sein mögen, läſst sich
durch mancherlei Gründe zur Wahrscheinlichkeit erheben.
Schon der Zeit nach war die Kunde von der Auferste-
hung Jesu um so schlagender, je unmittelbarer seine Er-
scheinungen auf Begräbniſs und Wiederbelebung gefolgt
waren: sollte er aber erst in Galiläa erschienen sein, so
fand eine solche unmittelbare Aufeinanderfolge nicht statt;
ferner war es eine natürliche Vorstellung, daſs sich die
Auferstehung Jesu an Ort und Stelle seines Todes durch
Erscheinungen documentirt haben müsse; endlich aber der
Vo wurf, daſs Jesus nach seiner angeblichen Wiederbele-
bung nur den Seinigen, und zwar in einem Winkel von
Galiläa, erschienen sei, war dadurch einigermaſsen zurück-
gewiesen, wenn man sich darauf berufen konnte, daſs er
vielmehr in der Hauptstadt, mitten unter seinen ergrimm-
ten Feinden, aber freilich von diesen weder zu sehen noch
zu greifen, als Auferstandener gewandelt habe. Hatte
man aber einmal mehrere Erscheinungen Jesu nach Judäa
und Jerusalem verlegt, so verloren die galiläischen ihre
Wichtigkeit, und konnten hinfort entweder in der unter-
geordneten Weise, wie im vierten Evangelium, nachge-
tragen werden, oder auch, wie im dritten, ganz ausfallen.
Da diesem, vom Standpunkt möglicher Sagenbildung aus
sich ergebenden Resultat hier nicht wie oben in der Un-
tersuchung über den Schauplaz der Wirksamkeit des le-
benden Jesus vom Gesichtspunkt der Verhältnisse und Ab-
sichten Jesu aus ein umgekehrtes sich entgegensezt: so
brauchen wir hier die Entscheidung nicht dahingestellt zu
lassen, sondern dürfen im Widerspruch gegen die jetzige
Kritik zu Gunsten des ersten Evangeliums entscheiden,
dessen Bericht über das Erscheinen des Auferstandenen
ohnehin als der einfachere und minder schwierige sich
empfehlen wird.
[620]Dritter Abschnitt.
Was nun die Erscheinungen des auferstandenen Jesus
im Einzelnen betrifft, so hat deren das erste Evangelium
zwei: eine am Auferstehungsmorgen vor den Frauen (28,
9. f.), und eine, unbestimmt wann, vor den Eilfen in Ga-
liläa (28, 16. ff.). Markus hat, in übrigens bloſs summa-
rischer Angabe, drei: die erste, welche am Morgen der
Auferstehung der Maria Magdalena (16, 9. f.), eine an-
dere, welche zwei auf's Land gehenden Jüngern (16, 12.),
und eine dritte, welche den zu Tische sitzenden Eilfen,
ohne Zweifel in Jerusalem, zu Theil geworden ist (16, 14.).
Lukas erzählt zwar nur zwei Erscheinungen: die vor den
Emmauntischen Jüngern am Auferstehungstag (24, 13. ff.)
und die lezte, vor den Eilfen und andern Jüngern zu Je-
rusalem, nach 24, 36. ff. am Abend desselben Tags, nach
A. G. 1, 4. ff. vierzig Tage später; aber wenn den Emma-
untischen Wanderern bei ihrem Eintritt zu den Aposteln
diese, noch ehe Jesus in ihre Mitte getreten ist, entgegen-
rufen: ἠγέρϑη ὁ Κύριος ὄντως, καὶ ὤφϑη Σίμωνι (24, 34.):
so wird hier eine dritte Erscheinung vorausgesezt, welche
dem Petrus allein zu Theil geworden war. Johannes hat
vier dergleichen Erscheinungen: die erste, welche der Maria
Magdalena am Grabe zu Theil wurde (20, 14. ff.); die
zweite, welche die Jünger zu Jerusalem bei verschlosse-
nen Thüren hatten (20, 19. ff.); die dritte, acht Tage spä-
ter, ebenfalls in Jerusalem, bei welcher Thomas sich
überzeugte (20, 26. ff.); die vierte, unbestimmt wann, am
galiläischen See (21.). Hier ist nun aber auch eine Nach-
richt des Apostels Paulus zu berücksichtigen, welcher
1 Kor. 15, 5. ff., wenn man die ihm selbst zu Theil ge-
wordene Christophanie abrechnet, fünf Erscheinungen des
Auferstandenen aufzählt, ohne sie jedoch näher zu be-
schreiben: zuerst eine dem Kephas gewordene; dann eine
vor den Zwölfen; hierauf eine vor mehr als fünfhundert
Brüdern auf einmal; weiter eine vor Jakobus, und endlich
eine vor sämmtlichen Aposteln.
[621]Viertes Kapitel. §. 134.
Wie fügen wir nun diese verschiedenen Erscheinun-
gen in einander ein? Den Anspruch darauf, die erste zu
sein, macht bei Johannes, und ausdrücklicher noch bei
Markus, die der Maria Magdalena zu Theil gewordene. —
Die zweite müsste das Zusammentreffen Jesu mit den vom
Grab zurückkehrenden Weibern, bei Matthäus, gewesen
sein; da aber unter diesen Magdalena gleichfalls war, und
keine Spur vorhanden ist, daſs sie schon vorher den Auf-
erstandenen hätte gesehen gehabt: so können, wie bereits
bemerkt, diese beiden Erscheinungen nicht auseinanderge-
halten werden, sondern wir haben über Eine und dieselbe
eine schwankende Relation. Daſs Paulus, welcher in der
angeführten Stelle spricht, als wollte er alle Erscheinun-
gen des wiederbelebten Christus aufzählen, von denen er
wuſste, die bezeichnete übergeht, kann man daraus erklä-
ren, daſs er Weiber nicht als Zeugen aufführen wollte.
Da die Ordnung, in welcher er seine Christophanien wie-
dergiebt, der Reihe von εἶτα und ἔπειτα und dem Schluſs
mit ἔσχατον nach zu urtheilen, die Zeitfolge zu sein
scheint 13): so wäre nach ihm die Erscheinung vor Ke-
phas die erste einem Manne zu Theil gewordene gewesen.
Dieſs würde sich mit der Darstellung des Lukas gut ver-
tragen, bei welchem den Emmauntischen Wanderern bei ih-
rem Eintritt die Jünger zu Jerusalem mit der Nachricht
entgegenkommen, daſs Jesus wirklich auferstanden und
dem Simon erschienen sei, was möglicherweise noch vor
dem Zusammentreffen mit jenen beiden der Fall gewesen
sein könnte. — Als die nächste Erscheinung müſste aber
hierauf nach Lukas die zulezt genannte gezählt werden,
welche Paulus nicht erwähnen würde, etwa weil er nur
die Aposteln zu Theil gewordenen, und von den übrigen
bloſs solche, welche vor gröſseren Massen erfolgt waren,
aufzuführen gedachte, oder wahrscheinlicher, weil er von
[622]Dritter Abschnitt.
derselben nichts wuſste. Markus 16, 12. f. meint offenbar
dieselbe Erscheinung; der Widerspruch, daſs, während
bei Lukas die versammelten Jünger den von Emmaus Kom-
menden mit dem gläubigen Ruf: ἠγέρϑη ὁ Κύριος κ. τ. λ.
entgegentreten, bei Markus die Jünger auch auf die Nach-
richt jener beiden hin noch nicht geglaubt haben sollen,
rührt wohl nur von einer Übertreibung des Markus her,
welcher den Contrast der überzeugendsten Erscheinungen
Jesu mit dem fortdauernden Unglauben der Jünger nicht
aus den Händen lassen will. — An die Emmauntische schlieſst
sich bei Lukas unmittelbar die Erscheinung Jesu in der
Versammlung der ἕνδεκα und anderer an. Diese hält man
gemeiniglich für identisch mit der paulinischen Erschei-
nung vor den δώδεκα, und mit dem, was Johannes berich-
tet, daſs am Abend nach der Auferstehung Jesus bei ver-
schlossenen Thüren zu den Jüngern, in deren Versamm-
lung übrigens Thomas fehlte, eingetreten sei. Hiegegen
darf man zwar das ἕνδεκα des Lukas, da doch nach Jo-
hannes nur zehn Apostel dabei gewesen sind, ebenso we-
nig urgiren, als bei Paulus das δώδεκα, wo doch in jedem
Fall Judas abgerechnet werden muſs; auch scheint die bei
den beiden Evangelisten ganz gleiche Beschreibung des Her-
beikommens Jesu durch ἕςη ἐν μέσῳ αὐτῶν und ἕςη εἰς
τὸ μέσον, und die Anführung des Gruſses: εἰρήνη ὑμῖν,
auf Identität beider Erscheinungen hinzuweisen; indeſs,
wenn man bedenkt, wie das Betasten des Leibes Jesu,
welches bei Johannes erst in die acht Tage spätere Er-
scheinung fällt, und das Essen vom Bratfisch, welches Jo-
hannes erst bei der noch späteren galiläischen Erscheinung
hat, von Lukas in jene jerusalemische am Tag der Aufer-
stehung verlegt wird: so erhellt, daſs — wie man nun sa-
gen will — entweder der dritte Evangelist hier mehrere
Vorgänge in Einen zusammengezogen, oder der vierte Ei-
nen in mehrere auseinander geschlagen hat. Diese jerusa-
lemische Erscheinung vor den Aposteln könnte aber, wie
[623]Viertes Kapitel. §. 134.
oben bemerkt, nach Matthäus gar nicht stattgehabt haben,
da dieser Evangelist die ἕνδεκα, um Jesum zu sehen, nach
Galiläa wandern läſst. Markus und Lukas knüpfen an
dieselbe die Himmelfahrt an, schlieſsen also alle späteren
Erscheinungen aus. — Der Apostel Paulus hat als die
nächste Erscheinung die vor 500 Brüdern, welche man ge-
wöhnlich mit derjenigen für identisch hält, die Matthäus
auf einen Berg in Galiläa verlegt 14): allein bei dieser
sind nur die ἕνδεκα als gegenwärtig angegeben, und auch
die Gespräche, welche Jesus mit ihnen führt, scheinen,
als vorwiegend amtliche Instruktionen, mehr für diesen en-
geren Kreis zu passen. — Demnächst führt Paulus eine dem
Jakobus zu Theil gewordene Erscheinung auf, von der
auch im Hebräerevangelium des Hieronymus sich eine apo-
kryphische Nachricht findet, nach welcher sie aber die
erste von allen gewesen sein müſste 15). — Hierauf wäre
für jene Erscheinung Raum, bei welcher dem vierten Evan-
gelium zufolge acht Tage nach der Auferstehung Jesu Tho-
[624]Dritter Abschnitt.
mas überzeugt worden sein soll; womit Paulus genau über-
einstimmen würde, wenn wirklich sein τοῖς ἀποςόλοις πᾶ-
σιν (V. 7.), vor welchen er seine fünfte Erscheinung vor-
gehen läſst, von einer Plenarversammlung der Eilfe, im
Unterschied von der früheren, bei welcher Thomas gefehlt
hatte, zu verstehen wäre: was aber, weil Paulus auch
diese als eine Erscheinung vor τοῖς δώδεκα bezeichnet hat-
te, unmöglich angeht, sondern der Apostel versteht sowohl
unter δώδεκα als unter οἱ ἀπόςολοι πάντες die sämmtli-
chen, damals übrigens um Einen Mann unvollzähligen Apo-
stel im Gegensaz gegen die einzelnen Individuen (Kephas
und Jakobus), von welchen er beidemale unmittelbar vor-
her als von solchen gesprochen hatte, denen eine Christo-
phanie zu Theil geworden. Soll aber dennoch die fünfte
paulinische Erscheinung Jesu mit der dritten johannei-
schen identisch sein: so würde nur um so deutlicher er-
hellen, daſs die vierte paulinische, vor den 500 Brüdern,
nicht die galiläische des Matthäus sein kann. Da nämlich
bei Johannes die dritte in Jerusalem statt fand, die vierte
aber in Galiläa: so müſsten also Jesus und die Zwölfe nach
den ersten jerusalemischen Erscheinungen nach Galiläa ge-
gangen und auf dem Berge zusammengekommen sein; hier-
auf hätten sie sich wieder nach Jerusalem begeben, wo
Jesus sich dem Thomas zeigte; dann wieder nach Galiläa,
wo die Erscheinung am See erfolgte; endlich zur Himmel-
fahrt wieder nach Jerusalem. Um dieſs zwecklose Hin-
undherwandern zu vermeiden, und doch jene beiden Er-
scheinungen combiniren zu können, verlegt Olshausen die
Erscheinung vor Thomas nach Galiläa: ein unerlaubter
Gewaltstreich, da nicht nur zwischen dieser und der vor-
hergehenden, eingestandnermaſsen jerusalemischen, Erschei-
nung keiner Ortsveränderung gedacht, sondern der Ver-
sammlungsort ganz auf dieselbe Weise beschrieben ist, ja
der Zusaz: τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων, nur an die Hauptstadt
denken läſst, weil in dem von priesterlichem Haſs gegen
[625]Viertes Kapitel. §. 134.
Jesum weniger inficirten Galiläa sich der Grund jenes Ver-
schlieſsens, der φόβος τῶν Ἰουδαίων, nicht ebenso denken
läſst. — Erst da also, wo mit der acht Tage nach der
Auferstehung erfolgten die frühern judäischen Erscheinun-
gen zu Ende sind, bekämen wir Raum, die galiläischen
des Matthäus und Johannes einzufügen. Mit diesen hat
es nun aber die eigene Bewandtniſs, daſs jede von beiden
die erste, und die des Matthäus noch ausserdem zugleich
die lezte zu sein den Anspruch macht 16). Durch seine
ganze Darstellung nicht nur, sondern ausdrücklich durch den
Zusaz: οὖ ἐτάξατο αὐτοῖς ὁ Ἰ. zu dem galiläischen ὄρος, auf
welches die Eilfe giengen, bezeichnet Matthäus diese Er-
scheinung als diejenige, auf welche Jesus am Auferste-
hungsmorgen, zuerst durch den Engel, dann persönlich,
verwiesen hatte; nun aber verabredet man nicht eine zweite
Zusammenkunft in einer Gegend, indem man die erste un-
bestimmt läſst: folglich muſs, da ein unvorhergesehenes
früheres Zusammentreffen bei der evangelischen Vorstellung
von Jesu sich nicht denken läſst, jene Zusammenkunft, weil
die verabredete, auch die erste galiläische gewesen sein.
Kann somit die Erscheinung am See Tiberias bei Johan-
nes unmöglich vor die auf dem Berg bei Matthäus ge-
sezt werden: so will die leztere jene ebensowenig nach
sich dulden, da sie einen förmlichen Abschied Jesu von
seinen Jüngern enthält; auch wüſste man gar nicht, wie man
die johanneische Erscheinung nach der eigenen Angabe
des Evangelisten als die dritte φανέρωσις des auferstande-
nen Christus vor seinen μαϑηταῖς (21, 14.) herausbrin-
gen wollte, wenn auch noch jene des ersten Evange-
liums ihr vorangegangen sein sollte. Indeſs, auch wenn
man jene voranstellt, bleibt die Verlegenheit mit die-
ser johanneischen Erzählung groſs genug. Zwar die Er-
scheinungen vor den Weibern dürfen wir abrechnen, weil
Das Leben Jesu II. Band. 40
[626]Dritter Abschnitt.
Johannes selbst die der Magdalena zu Theil gewordene
wohl erzählt, aber nicht zählt: nun aber, wenn wir die
dem Kephas gewordene als die erste zählen, und die Em-
mauntische als die zweite: so würde zwischen diese und
die vor den Eilfen am Abend des Auferstehungstags in
Jerusalem diese galiläische als die dritte fallen, was eine
ganz unmöglich schnelle Ortsveränderung voraussetzen wür-
de; ja, wenn jene Erscheinung vor den versammelten Eil-
fen diejenige ist, bei welcher nach Johannes Thomas fehl-
te: so fiele die dritte Erscheinung bei Johannes vor seine
erste. Vielleicht aber, wenn wir den Ausdruck: ἐφανε-
ρώϑη τοῖς μαϑηταῖς αὑτοῦ betrachten, dürfen wir nur sol-
che Erscheinungen von Johannes gezählt uns denken, wel-
che vor mehreren Jüngern zugleich sich ereigneten, so daſs
also die Erscheinungen vor dem einzigen Petrus und Ja-
kobus abzurechnen wären. Dann wäre als die erste zu
zählen die den beiden Emmauntischen Jüngern geworde-
ne, als die zweite die vor den versammelten Eilfen am Abend
des Auferstehungstags: so daſs nunmehr in die acht Tage
zwischen dieser und der vor Thomas die Reise nach Ga-
liläa zwar etwas bequemer fiele, aber auch so die drit-
te Erscheinung bei Johannes wenigstens vor seine zweite.
Es erschienen also wohl dem Verfasser des vierten Evan-
geliums zwei Jünger, wie die, denen Jesus auf dem Weg
nach Emmaus begegnete, als eine zu geringe Zahl, um ei-
ne nur so vielen zu Theil gewordne Christophanie als ein
φανεροῦσϑαι τοῖς μαϑηταῖς zu zählen. Dann wäre also der
Eintritt in die Jüngerversammlung am Abend die erste Er-
scheinung; hierauf wären die 500 Brüder, welchen sich
Jesus auf Einmal zeigte, gewiſs zahlreich genug, um in
Anschlag gebracht zu werden: so daſs also nach dieser,
dann aber immer wieder vor der dem Thomas und den
ἀποςόλοις πᾶσι gewordenen, welche Johannes als die zwei-
te zählt, seine dritte, die galiläische, eingeschoben werden
müſste. Vielleicht aber ist jene Erscheinung Jesu vor den
[627]Viertes Kapitel. §. 134.
Fünfhunderten später zu setzen, so daſs nach jenem Ein-
tritt Jesu in die Jüngerversammlung zunächst die Scene
mit Thomas, nach dieser die am galiläischen See, und hier-
auf erst der den Fünfhunderten gewährte Anblick folgen
würde. Dann aber müſste, wenn doch die Erscheinung
vor Thomas dieselbe sein soll mit der fünften bei'm Apo-
stel Paulus, dieser die beiden lezten Erscheinungen, wel-
che er aufzählt, umgestellt haben, wozu doch kein Grund
vorhanden war: vielmehr lag es näher, die Erscheinung
vor 500 Brüdern, als die gewichtigste, zulezt zu stellen.
Es bliebe also nichts übrig, als zu sagen, Johannes habe
unter den μαϑηταῖς immer nur eine gröſsere oder kleine-
re Versammlung von Aposteln verstanden, unter den Fünf-
hunderten aber seien keine Apostel gewesen, deſswegen
habe er auch diese übergangen, und so mit Recht die Er-
scheinung am See Tiberias als die dritte gezählt: wenn
diese nämlich vor der auf dem galiläischen Berge stattge-
funden haben könnte, was nach dem Obigen undenkbar
ist. Es bleibt also nichts übrig, als zu bekennen, der vier-
te Evangelist zähle nur diejenigen Erscheinungen Jesu
vor seinen Jüngern, welche er selbst erzählt hatte, und
davon wird der Grund schwerlich gewesen sein, daſs ihm
die übrigen aus irgend welchen Ursachen minder bedeu-
tend schienen, sondern, daſs er nichts von denselben wuſs-
te. Wie denn auch wiederum Matthäus mit seiner lez-
ten galiläischen Erscheinung nichts von den jerusalemischen
des Johannes gewuſst haben kann; denn wenn sich in der
ersten von diesen beiden zehn Apostel, in der zweiten aber
selbst Thomas von der Realität der Auferstehung Jesu über-
zeugt hatten: so konnten nicht bei jener späteren Erschei-
nung auf dem galiläischen Berge noch einige von den Eil-
fen Zweifel haben (οἱ δὲ ἐδίςασαν V. 17.). Endlich aber,
wenn Jesus hier seinen Jüngern schon die lezten Befehle,
lehrend und taufend in alle Welt zu gehen, und die Zusa-
ge, alle Tage bis zum Ende des gegenwärtigen Äon bei ih-
40 *
[628]Dritter Abschnitt.
nen zu sein, was ganz Worte eines Scheidenden sind, ge-
geben hatte: so kann er nicht später noch einmal, wie die
Apostelgeschichte im Eingang meldet, bei Jerusalem ihnen
die lezten Aufträge ertheilt, und Abschied von ihnen ge-
nommen haben. Nach dem Schluſs des Lukasevangeliums
fällt dieser Abschied im Gegentheil viel früher, als er nach
Matthäus zu denken wäre, und der Schluſs des Markus-
evangeliums legt dem noch am Tag der Auferstehung zu
Jerusalem von seinen Jüngern Scheidenden zum Theil die-
selben Worte in den Mund, welche nach Matthäus in Ga-
liläa, und jedenfalls später als am Auferstehungstag, ge-
sprochen sind. Darauf, daſs die zwei Bücher des Ei-
nen Lukas in Bezug auf den Zeitraum, während dessen
Jesus nach seiner Auferstehung noch erschien, so weit von
einander abgehen, daſs das eine diesen Zeitraum als ein-
tägig, das andere als vierzigtägig bestimmt, kann erst tie-
fer unten nähere Rücksicht genommen werden.
Wenn so die verschiedenen evangelischen Referenten
der Erscheinungen Jesu nach seiner Auferstehung nur in
wenigen derselben zusammenstimmen; wenn die Lokalbe-
zeichnung des einen die von den übrigen berichteten Er-
scheinungen ausschlieſst; die Zeitbestimmung eines andern
für die Erzählungen der übrigen keine Frist läſst; die Zäh-
lung eines Dritten ohne alle Rücksicht auf die andern an-
gelegt ist; endlich unter mehreren von verschiedenen Re-
ferenten berichteten Erscheinungen jede die lezte sein will,
und doch mit den übrigen nichts gemein hat: so müſste
man absichtlich blind sein wollen, wenn man nicht aner-
kennen würde, daſs keiner der Berichterstatter das, was
der andere berichtet, kannte und voraussezte, daſs je-
der die Sache wieder anders gehört hatte, daſs somit
über die Erscheinungen des auferstandenen Jesus frühzei-
tig nur schwankende und vielfach variirte Gerüchte im Um-
lauf waren 17).
[629]Viertes Kapitel. §. 135.
Dadurch wird übrigens die Stelle aus dem ersten Ko-
rintherbrief nicht erschüttert, welcher, unzweifelhaft ächt,
etwa um das Jahr 59 nach Christo, mithin noch keine 30
Jahre nach seiner Auferstehung, geschrieben ist 18). Die-
ser Nachricht müssen wir das glauben, daſs viele zur Zeit
der Abfassung des Briefs noch lebende Mitglieder der er-
sten Gemeinde, namentlich die Apostel, überzengt waren,
Erscheinungen des auferstandenen Christus gehabt zu haben.
Da jedoch Paulus keine dieser Erscheinungen näher beschreibt,
so ist aus ihm über die Abweichung der Evangelisten, nament-
lich in Hinsicht der Lokalität, keine Entscheidung zu ent-
nehmen.
§. 135.
Die Qualität des Leibs und Wandels Jesu nach der Auferstehung.
Wie haben wir uns nun aber diese Fortsetzung des
Lebens Jesu nach der Auferstehung, und namentlich die
Beschaffenheit seines Leibes in dieser Periode, vorzustel-
len? Zu dem Ende müssen wir die einzelnen Erzählun-
gen von den Erscheinungen des Auferstandenen noch ein-
mal durchsehen. Nach Matthäus begegnet (ἀπήντησεν) Je-
sus am Auferstehungsmorgen den vom Grabe zurückeilen-
den Weibern, sie erkennen ihn, umfassen verehrungsvoll
seine Füſse, worauf er zu ihnen spricht. Bei der zweiten
Zusammenkunft auf dem galiläischen Berge sehen ihn die
Jünger (ἰδόντες), doch zweifeln einige noch, und auch hier
spricht Jesus zu ihnen. Von der Art, wie er kam und
gieng, wird hier nichts Näheres gesagt. Bei Lukas gesellt
sich Jesus zu zwei Jüngern, die auf dem Weg von Jeru-
salem in das benachbarte Dorf Emmaus waren (ἐγγίσας
συνεπορεύετο αὐτοῖς); diese erkennen ihn unterwegs nicht,
was Lukas einem durch höhere Einwirkung in ihnen her-
[630]Dritter Abschnitt.
vorgebrachten subjektiven Hinderniſs (οἱ ὀφϑαλμοὶ αὐτῶν
ἐοὐρατοῦντο, τοῦ μὴ ἐπιγνῶναι αὐτὸν), und erst Markus, der
dieses Ereigniſs in wenige Worte zusammendrängt, einer
objektiven Veränderung seiner Gestalt zuschreibt (ἐν ἑτέρᾳ
μορφῇ). Auf dem Weg unterhält sich Jesus mit den bei-
den, begleitet sie nach der Ankunft im Dorf auf ihre Ein-
ladung in ihr Quartier, sezt sich mit ihnen zu Tische und
übernimmt nach seiner Gewohnheit das Brechen und Ver-
theilen des Brotes. In diesem Augenblick weicht von den
Augen der Jünger der wunderbare Bann, und sie erken-
nen ihn 1): aber in demselben Moment wird er ihnen plöz-
lich unsichtbar (ἄφαντος ἐγένετο ἀπ̕ αὐτῶν). Ebenso plöz-
lich, wie er hier verschwand, scheint er sich unmittelbar
nachher in der Versammlung der Jünger gezeigt zu haben,
wenn es heiſst, er sei mit Einem Male in ihrer Mitte ge-
standen (ἔςη ἐν μέσῳ αὐτῶν), und sie, hierüber erschrocken,
haben geglaubt, einen Geist zu sehen. Um ihnen diese
ängstigende Meinung zu benehmen, zeigte ihnen Jesus
seine Hände und Füſse, und forderte sie zum Betasten
auf, damit sie durch die Wahrnehmung seines σάρκα καὶ
ὀςέα enthaltenden Leibes sich überzeugen könnten, daſs
er kein Gespenst sei; auch lieſs er sich ein Stück Brat-
fisch und etwas von einem Honigkuchen geben, und ver-
zehrte es vor ihren Augen, worauf sich Petrus in der
A. G. einmal zu berufen scheint, wenn er sich und die
übrigen Jünger Jesu als solche bezeichnet, οἵτινες συνε-
φάγομεν καὶ συνεπίομεν αὐτῷ μετὰ τὸ ἀναςῆναι αὐτὸν ἐκ
νεκρῶν (10, 41.). Die dem Simon zu Theil gewordene Er-
scheinung läſst Lukas durch ὤφϑη bezeichnen, was auch
Paulus im ersten Korintherbrief für alle dort aufgezählten
[631]Viertes Kapitel. §. 135.
Christophanieen gebraucht, und sämmtliche Erscheinungen
des Auferstandenen während der vierzig Tage faſst Lukas
A. G. 1, 3. in dem Ausdruck ὀπτανόμενος, A. G. 10, 40.
durch ἐμφανῆ γενέσϑαι, zusammen; ähnlich wie Markus
die Erscheinung vor Magdalena durch ἐφάνη, die vor den
wandernden Jüngern und vor den Eilfen durch ἐφανερώ-
ϑη, Johannes aber die Erscheinung am See Tiberias durch
ἐφανέρωσεν ἑαυτὸν bezeichnet, und sämmtliche Christopha-
nieen, die er erzählt hat, unter den Ausdruck ἐφανερώϑη
faſst. Bei Markus und Lukas kommt hierauf als Schluſs
des irdischen Wandels des Auferstandenen dieſs hinzu, daſs
er vor den Augen der Jünger weggenommen, und (durch
eine Wolke, nach A. G. 1, 9.) zum Himmel emporgetragen
wurde. — Im vierten Evangelium steht Jesus zuerst, als
Maria Magdalena sich vom Grabe umwendet, hinter ihr,
doch erkennt sie ihn auch auf eine Anrede hin nicht, son-
dern hält ihn für den Gärtner, bis er sie (mit dem ihr so
wohl bekannten Tone) bei Namen nennt. Wie sie ihm
hierauf ihre Verehrung bezeigen will, hält sie Jesus durch
die Worte μή μου ἅπτου ab, und sendet sie mit Botschaft
zu den Jüngern. Die zweite johanneische Erscheinung Je-
su fiel unter besonders merkwürdigen Umständen vor. Die
Jünger waren aus Furcht vor den feindlich gesinnten Ju-
den bei verschlossenen Thüren versammelt: da kam auf
einmal Jesus, stellte sich in ihre Mitte, begrüſste sie, und
zeigte ihnen — wahrscheinlich bloſs dem Gesicht — seine
Hände und seine Seite, um sich als den Gekreuzigten kennt-
lich zu machen. Als Thomas, der damals nicht zugegen
gewesen war, durch den Bericht seiner Mitjünger von der
Realität dieser Erscheinung sich nicht überzeugen lieſs,
und zu dem Ende die Wundenmale Jesu selbst zu sehen
und zu betasten verlangte: gewährte ihm Jesus bei einer
acht Tage darauf unter denselben Umständen wiederholten
Erscheinung auch dieſs, indem er ihn die Nägelmale in
seinen Händen und die Stichwunde in seiner Seite befüh-
[632]Dritter Abschnitt.
len lieſs. Endlich bei der Erscheinung am galiläischen
See stand Jesus in der Morgendämmerung, unerkannt von
den im Schiff befindlichen Jüngern, am Ufer, fragte sie
um ein Gericht Fische, und wurde hierauf an dem reichen
Fischzug, den er ihnen gewährte, von Johannes erkannt,
doch so, daſs die an's Land gestiegenen Jünger nicht wag-
ten, ihn zu fragen, ob er es wirklich sei. Hierauf v er-
theilte er Brot und Fische unter sie, wovon er ohne Zwei-
fel selbst auch mitgenoſs, und hatte hernach mit Johannes
und Petrus eine Unterredung 2).
[633]Viertes Kapitel. §. 135.
Sind nun die beiden Hauptvorstellungen, die man von
dem Leben Jesu nach seiner Auferstehung haben kann,
die, daſs man dasselbe entweder als ein natürliches, voll-
kommen menschliches, demgemäſs auch seinen Leib fort-
während den physischen und organischen Gesetzen unter-
worfen, sich denkt, oder daſs man sein Leben bereits als
ein höheres, übermenschliches, und seinen Leib als einen
übernatürlichen, verklärten, sich vorstellt: so sind die zu-
sammengestellten Berichte von der Art, daſs zunächst jede
der beiden Vorstellungsweisen sich auf gewisse Züge in
denselben berufen kann. Die menschliche Gestalt mit ihren
natürlichen Gliedmaſsen, die Möglichkeit, an derselben
wieder erkannt zu werden, die Fortdauer der Wundenma-
le, das menschliche Reden, Gehen, Brotbrechen: das Alles
scheint für ein völlig natürliches Leben Jesu auch nach
der Auferstehung zu sprechen. Könnte man doch noch
Zweifel hegen, und vermuthen, es möge wohl auch eine
höhere, himmlische Leiblichkeit ein solches Aussehen sich
geben und solche Funktionen verrichten können: so wer-
den doch alle Bedenklichkeiten durch die zwei weiteren
Züge niedergeschlagen, daſs Jesus nach der Auferstehung
irdische Nahrung genossen und sich hat betasten lassen.
Wenn dergleichen wohl in alten Mythen auch höhe-
ren Wesen zugeschrieben sein mag, wie das Essen
den drei himmlischen Gestalten, von welchen Abraham
einen Besuch erhält (1. Mos. 18, 8.), die Tastbarkeit
dem mit Jakob ringenden Gott (1. Mos. 32, 24 ff.): so
muſs doch darauf beharrt werden, daſs in der Wirklich-
keit Beides nur bei Wesen mit materiellem, organischem
Leibe vorkommen kann. Daher finden denn nicht allein
die rationalistischen, sondern auch orthodoxe Ausleger in
2)
[634]Dritter Abschnitt.
diesen Zügen den unumstöſslichen Beweis, daſs Leib und
Leben Jesu nach der Auferstehung noch immer als natür-
lich menschliche gedacht werden müssen 3). Diese Behaup-
tung unterstüzt man noch durch die Bemerkung, daſs in
dem Befinden des Auferstandenen sich ganz derjenige Fort-
schritt zeige, welcher bei der allmähligen natürlichen Ge-
nesung eines schwer Verwundeten zu erwarten sei. In
den ersten Stunden nach der Auferstehung müsse er sich
noch in der Nähe des Grabes halten; am Nachmittag rei-
chen seine Kräfte zu einem Gang nach dem benachbarten
Emmaus; erst später finde er sich im Stande, die weitere
Reise nach Galiläa zu unternehmen. Dann auch in dem
Betastenlassen finde der bemerkenswerthe Fortschritt statt,
daſs am Auferstehungsmorgen zwar Jesus der Maria Mag-
dalena verbiete, ihn anzurühren, weil sein verwundeter
Leib noch zu leidend und empfindlich war: acht Tage
später aber, nachdem seine Heilung weiter fortgeschritten
war, fordre er selber den Thomas zur Berührung seiner
Wunden auf. Selbst auch das, daſs Jesus nach seiner
Auferstehung so selten und kurz mit seinen Jüngern zu-
sammen war, zeugt nach diesen Erklärern dafür, daſs er
seinen natürlichen menschlichen Leib aus dem Grabe wie-
dergebracht hatte, indem eben ein solcher von der Verwun-
dung und Qual am Kreuze her sich so schwach fühlen
muſste, um nach kurzen Momenten der Thätigkeit immer
wieder längere Zwischenperioden ruhiger Zurückgezogen-
heit nöthig zu haben.
Da indeſs, wie wir gesehen haben, die N. T.lichen
Erzählungen ebenso auch Züge enthalten, welche die ent-
gegengesezte Vorstellung von der Leiblichkeit Jesu nach der
Auferstehung begünstigen: so muſs die bisher dargelegte
[635]Viertes Kapitel. §. 135.
Ansicht es über sich nehmen, auch diese, ihr scheinbar
feindlichen Züge so zu deuten, daſs sie ihr nicht mehr
widersprechen. Hier nun scheinen schon die Ausdrücke,
durch welche die Erscheinungen Jesu eingeführt zu wer-
den pflegen, namentlich ὤφϑη, wodurch auch die Erschei-
nung im feurigen Busch, 2 Mos. 3, 2. LXX; ὀπτανόμενος,
wie die Erscheinung des Engels Tob. 12, 19.; ἐφάνη, wie
die Engelerscheinungen Matth. 1. und 2. bezeichnet sind, auf
etwas Übermenschliches hinzuweisen. Bestimmter aber steht
dem natürlichen Gehen und Kommen, welches bei einigen
Scenen vorausgesezt werden kann, in andern ein plözli-
ches Erscheinen und Verschwinden; der Annahme eines
gewöhnlichen menschlichen Körpers das öftere Nichter-
kanntwerden, ja die ausdrückliche Erwähnung einer ἑτέρα
μορφὴ, entgegen: hauptsächlich aber scheint der Betast-
barkeit des Leibes Jesu die Eigenschaft zu widerstreben,
welche ihm Johannes, dem ersten Eindruck seiner Worte
zufolge, leiht, durch verschlossene Thüren einzugehen.
Allein, daſs Maria Magdalena Jesum Anfangs für den
κηπουρὸς hielt, davon glauben selbst solche Ausleger, wel-
che sich sonst vor dem Wunderbaren keineswegs scheuen,
den Grund darin suchen zu dürfen, daſs Jesus von dem
Gärtner, der wohl in der Nähe der Gruft seine Wohnung
gehabt haben möge, sich einen Anzug habe geben lassen;
wozu sowohl hier als bei dem Gang nach Emmaus die
Entstellung des Angesichts Jesu durch die Qualen der
Kreuzigung beigetragen haben möge, und eben nur dieses
beides soll auch durch die ἑτέρα μορφὴ bei Markus aus-
gedrückt werden 4). Denselben Emmauntischen Jüngern
habe sich Jesus sofort in der freudigen Bestürzung, wel-
che das plözliche Wiedererkennen des Todtgeglaubten ver-
[636]Dritter Abschnitt.
ursachte, leicht auf die natürlichste Weise unbemerkt ent-
ziehen können, was dann von ihnen, denen die ganze
Sache mit Jesu Wiederbelebung ein Wunder war, für
ein überirdisches Verschwinden gehalten worden sei 5).
Auch in dem ἔςη ἐν μέσῳ αὐτῶν oder εἰς τὸ μέσον liege,
zumal bei Johannes, wo das ordentliche ἦλϑεν und ἔρχεται
dabeistehe, nichts Übernatürliches, sondern nur die über-
raschende Ankunft eines Solchen, von dem man gerade ge-
sprochen hat, ohne ihn zu erwarten, und für ein πνεῦμα
haben ihn die Versammelten gehalten, nicht weil er auf
wunderbare Weise eingetreten war, sondern weil sie an
die wirkliche Wiederbelebung des Gestorbenen nicht glau-
ben konnten 6). Selbst der Zug endlich, von welchem
man meinen sollte, er sei gegen die Ansicht von dem Le-
ben des Auferstandenen als einem natürlich menschlichen
entscheidend, das ἔρχεσϑαι ϑυρῶν κεκλεισμένων bei Johan-
nes, ist längst sogar von orthodoxen Theologen so gedeutet
worden, daſs es jener Ansicht nicht mehr entgegen ist.
Abgesehen von Erklärungen, wie die Heumann'sche, die
ϑῦραι seinen nicht die des Versammlungshauses der Jün-
ger, sondern überhaupt die Thüren in Jerusalem, und die
Angabe, daſs sie verschlossen gewesen, sei eine Bezeich-
nung derjenigen Stunde in der Nacht, in welcher man die
Thüren zu schlieſsen gepflegt habe, der φόβος τῶν Ἰουδαίων
aber gebe nicht den Grund des Thürschlieſsens, sondern
des Zusammenseins der Jünger an, — so bezeichnet selbst
Calvin die Meinung, daſs der Leib des Auferstandenen
per medium ferrum et asseres hindurchgedrungen sei, als
pueriles argutiae, zu welchen der Text keine Veranlas-
sung gebe, welcher nicht sage, Jesus sei per januas clau-
sas eingedrungen, sondern nur, er sei plözlich unter seine
Jünger getreten, cum clausae essent januae7). Dennoch
[637]Viertes Kapitel. §. 135.
hält Calvin den Eintritt Jesu, von welchem hier Johan-
nes spricht, als ein Wunder fest, welches dann näher
dahin zu bestimmen wäre, Jesus sei eingetreten, cum fo-
res clausae fuissent, sed quae Domino veniente subito
patuerunt ad nutum divinae majestatis ejus8). Wäh-
rend neuere Orthodoxe nur das Unbestimmte festhalten, daſs
bei diesem Eintritt Jesu etwas Wunderbares — unausgemacht,
welcher Art — stattgefunden habe 9): hat der Rationalis-
mus aus demselben das Wunderbare vollends ganz zu ver-
bannen gewuſst. Die verschlossenen Thüren seien Jesu
von Menschenhänden geöffnet worden, was Johannes nur
deſswegen zu berichten unterlasse, weil es sich von selbst
verstehe, ja abgeschmackt gewesen wäre, wenn er gesagt
hätte: sie machten ihm die Thüren auf, und er gieng
hinein 10).
Allein bei dieser Deutung des ἔρχεται τῶν ϑυρῶν κε-
κλεισμένων sind die Theologen keineswegs unbefangen gewe-
sen. Am wenigsten Calvin; denn wenn er sagt, die Pa-
pisten behaupten ein wirkliches Durchdringen des Leibes
Jesu durch geschlossene Thüren deſswegen, ut corpus
Christi immensum esse nulloque loco contineri obtine-
ant: so sträubt er sich mithin gegen jene Auslegung der
johanneischen Worte nur deſswegen so, um der ihm an-
stöſsigen Lehre von der Ubiquität des Leibes Jesu keine
Stütze zu geben. Die neueren Ausleger dagegen hatten
das Interesse, dem Widerspruch auszuweichen, welcher
nach unsern Einsichten darin liegt, daſs ein Körper zu-
gleich aus fester Materie bestehen, und doch durch andre
feste Materie ungehindert sollte hindurchgehen können;
allein, da wir nicht wissen, ob dieſs auch auf dem Stand-
[638]Dritter Abschnitt.
punkt der N. T.lichen Schriftsteller ein Widerspruch war,
so giebt uns die Scheue vor einem solchen kein Recht, je-
ner Deutung, sofern sie als die textgemäſse sich zeigen
sollte, uns zu entziehen. Hier könnte man nun allerdings
das τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων zunächst lediglich als Bezeich-
nung des ängstlichen Zustandes fassen, in welchen die
Jünger durch die Hinrichtung Jesu versezt waren. Doch,
schon daſs diese Notiz bei der Erscheinung Jesu vor Tho-
mas wiederholt ist, erregt Bedenken, da, wenn durch die-
selbe weiter nichts, als das Angegebene, gesagt sein soll,
es sich kaum verlohnte, sie zu wiederholen 11). Wenn
nun bei diesem zweiten Fall jener Grund, warum die Thü-
ren verschlossen waren, weggelassen, dagegen mit dem
τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων das ἐρχεται unmittelbar verbunden
ist: so wird der Schein zur Wahrscheinlichkeit, daſs durch
jene Notiz zugleich die Art des Kommens Jesu näher be-
stimmt werden solle 12). Ist ferner mit der wiederhol-
ten Angabe, Jesus sei bei verschlossenen Thüren gekom-
men, wiederholt das ἔςη εἰς τὸ μέσον verbunden, was,
auch in Verbindung mit ἦλϑεν, wozu es sich als nähere
Bestimmung verhält, immer ein plözliches Dastehen Jesu,
ohne daſs man ihn hatte kommen sehen, ausdrückt: so er-
hellt aus diesen Zügen zusammen unleugbar wenigstens so
viel, daſs hier von einem Kommen ohne die gewöhnli-
chen Vermittlungen, mithin von einem wunderbaren, die
Rede ist. Daſs aber dieses Wunder nicht in einem Drin-
gen durch die Dielen der Thüre bestanden habe, dafür
berufen sich auch die Wunderfreunde unter den Auslegern
sehr zuversichtlich darauf, daſs es ja nirgends heiſse, er
sei διὰ τῶν ϑυρῶν κεκλεισμένων hereingekommen 13). Al-
lein das wollen die Evangelisten auch gar nicht bestimmen,
[639]Viertes Kapitel. §. 135.
daſs Jesus, wie Michaelis sich ausdrückt, gerade durch
die Poren des Holzes an der Thüre in das Zimmer ge-
drungen sei, sondern ihre Meinung ist nur, die Thüren
seien verschlossen gewesen und geblieben, und doch habe
Jesus auf Einmal im Zimmer gestanden, welchem also
Wände, Thüren, kurz alle materiellen Zwischenlagen, kein
Hinderniſs gewesen seien, hereinzukommen. Statt ihrer un-
billigen Forderung an uns also, ihnen im Texte des Jo-
hannes eine Bestimmung nachzuweisen, welche dieser gar
nicht geben will, müssen wir vielmehr von ihnen verlangen,
uns zu erklären, warum er das wunderbare Aufgehen
der Thüren, wenn er ein solches voraussezte, nicht her-
vorgehoben hat? In dieser Hinsicht ist es sehr unglücklich,
daſs Calvin sich auf A. G. 12, 6. ff. beruft, wo von Pe-
trus erzählt werde, er sei aus dem verschlossenen Kerker
entkommen, ohne daſs jemand daran denke, die Thüren
seien verschlossen geblieben, und er durch die Bretter hin-
durchgedrungen. Natürlich nicht, weil hier von der ei-
sernen Gefängniſspforte, welche zur Stadt führte, ausdrück-
lich gesagt wird: ἥτις αὐτομάτη ἠνοίχϑη αὐτοῖς (V. 10),
eine Bemerkung, welche, weil sie eine schöne Anschauung
des Wunders giebt, gewiſs auch unser Evangelist nicht
beidemale weggelassen haben würde, wenn er an ein wun-
derbares Aufspringen der Thüre gedacht hätte. — So we-
nig aber in dieser johanneischen Erzählung das Überna-
türliche sich beseitigen oder vermindern läſst: so wenig
will die natürliche Erklärung der Ausdrücke genügen, mit
welchen Lukas das Kommen und Gehen Jesu bezeichnet.
Denn wenn nach diesem Evangelisten sein Kommen ein
ἵςασϑαι ἐν μέσῳ τῶν μαϑητῶν, sein Gehen ein ἄφαντος
γίνεσϑαι ἀπ̕ αὐτῶν war: so läſst das Zusammentreffen die-
ser Züge, miteingerechnet noch der Schrecken der Jün-
ger und ihren Wahn, er sei ein Gespenst, schwerlich an
etwas Anderes, als an ein wunderbares Erscheinen den-
ken. Ohnehin, wenn man sich das zwar etwa noch vorstel-
[640]Dritter Abschnitt.
len könnte, wie Jesus in ein von Menschen erfülltes Zimmer
auf natürliche Weise unbemerkt hineinkommen konnte: so
läſst sich doch das auf keine Weise anschaulich machen,
wie es ihm sollte möglich gewesen sein, den zwei Emma-
untischen Jüngern, mit welchen er, wie es scheint, allein
zu Tische saſs, unbemerkt und ohne daſs sie ihm nachge-
hen konnten sich zu entziehen 14).
Daſs Markus unter der ἑτέρα μορφὴ eine wunderbar
veränderte Gestalt verstehe, hätte man niemals leugnen
sollen 15); doch hat dieſs weniger Gewicht, weil es nur
des Referenten eigene Erklärung des Umstandes ist, wel-
chen Lukas, aber anders erklärt, an die Hand gab, daſs
die beiden Wanderer Jesum nicht erkannt haben. Daſs
Maria Magdalena Jesum für den Gärtner hielt, war nach
der Ansicht des Evangelisten schwerlich Folge entlehnter
Gärtnerkleider: sondern, daſs sie ihn nicht kannte, wird
man sich dem Geist der Erzählung gemäſs entweder durch
ein κρατεῖσϑαι der Augen Magdalena's, oder aus einer
ἑτέρα μορφὴ Jesu erklären müssen; daſs sie ihn aber für
den Gärtner ansah, kam dann einfach daher, daſs sie ihn
im Garten traf. Auch eine Entstellung Jesu durch die
Qualen der Kreuzigung, und ein allmähliges Heilen seiner
Wunden anzunehmen, sind wir durch die evangelischen
Nachrichten nicht berechtigt. Das johanneische μή μου ἅπτου,
wenn es Abwehr einer schmerzlichen Berührung sein soll-
te, stünde im Widerspruch nicht bloſs mit Matthäus, nach
welchem Jesus an demselben Auferstehungsmorgen durch
die Frauen seine Füſse umfassen lieſs, sondern auch mit
Lukas, welchem zufolge er noch am nämlichen Tage die
Jünger auffordert, ihn zu betasten, und es früge sich als-
dann, welche Darstellung die richtige wäre? Aber es
liegt ja im Zusammenhang gar nichts, was darauf hin-
[641]Viertes Kapitel. §. 135.
wiese, daſs Jesus sich das ἅπτεσϑαι eben als etwas Schmerz-
haftes verbitte, sondern dieſs kann aus verschiedenen
Gründen geschehen sein: aus welchem, ist bei der Dun-
kelheit der Stelle bis jezt nicht zur Entscheidung ge-
bracht 16).
Die wunderlichste Verkehrung aber ist es, wenn ge-
sagt wird, die seltenen und kurzen Zusammenkünfte Jesu
mit seinen Jüngern nach der Auferstehung beweisen, daſs
er für längere und häufigere Anstrengungen noch zu
schwach, also ein natürlich Genesender, gewesen sei. Eben
wenn er auf diese Weise körperlicher Pflege bedürftig
war, so sollte er nicht selten, sondern immer bei seinen
Jüngern gewesen sein, welche die nächsten waren, von
denen er eine solche Pflege zu erwarten hatte. Denn wo
soll er nun in den langen Zwischenzeiten zwischen seinen
Erscheinungen sich aufgehalten haben? in der Einsamkeit?
im Freien? in der Wüste und auf Bergen? Das war kein
Aufenthalt für einen Kranken, und es bleibt nichts übrig,
als er müſste bei geheimen Verbündeten, von welchen
selbst seine Jünger nichts wuſsten, verborgen gewesen
sein. Ein solches Geheimhalten seines eigentlichen Aufent-
halts aber selbst vor seinen Schülern, denen er nur sel-
ten, und mit Absicht plözlich sich einstellend und wieder
entfernend, sich zeigte, wäre ein Spielen unter der Decke,
ein falscher Schein des Übernatürlichen gewesen, welchen
er ihnen vorgemacht hätte, der uns Jesum und seine
ganze Sache in einem Lichte erscheinen lieſse, welches
dem Gegenstand selbst, wie er in den Quellen vor
uns liegt, fremd, nur durch die Blendlaterne moderner,
übrigens bereits wieder verschollener Vorstellungen auf
denselben geworfen ist. Die Ansicht der Evangelisten ist
keine andere, als daſs der Auferstandene nach jenen kur-
Das Leben Jesu II. Band. 41
[642]Dritter Abschnitt.
zen Erscheinungen unter den Seinigen sich wie ein höhe-
res Wesen in die Unsichtbarkeit zurückgezogen habe, und
aus dieser wieder, wo und wann er es zweckmäſsig fand,
hervorgetreten sei.
Endlich, wie will man sich bei der Voraussetzung,
daſs Jesus durch die Auferstehung in ein rein natürliches
Leben zurückgekehrt sei, das Ende desselben denken?
Consequenterweise muſs man ihn, sei es längere 17) oder
kürzere Zeit nach seiner Wiederbelebung eines natürlichen
Todes sterben lassen, wie auch Paulus andeutet, daſs der
allzu heftig afficirte Leib Jesu, unerachtet er sich von der
todtähnlichen Erstarrung am Kreuz wieder erholt hatte,
doch durch natürliches Kränkeln und verzehrendes Fieber
vollends aufgerieben worden sei 18). Daſs dieſs wenigstens
die Ansicht der Evangelisten vom Ende ihres Christus nicht
sei, ist offenbar, da ihn die einen von ihnen wie einen
Unsterblichen von den Jüngern Abschied nehmen, die an-
dern ihn sichtbar in den Himmel sich erheben lassen. Vor
der Himmelfahrt also spätestens müſste, wenn bis dahin
Jesus einen natürlich menschlichen Leib beibehalten hatte
eine Veränderung mit demselben vorgegangen sein, welche,
ihn zum Aufenthalt in den himmlischen Regionen befähigte,
es müſste die Schlacke der groben Leiblichkeit nieder-
gefallen, und nur etwa der feinste Extrakt derselben mit-
emporgestiegen sein. Davon aber, daſs von dem zum Him-
mel sich erhebenden Jesus irgend ein materieller Überrest
zurückgeblieben, melden die Evangelisten nichts, und da
es die zuschauenden Jünger doch bemerkt haben müſsten,
so bleibt für diese Ansicht am Ende nichts, als die Aus-
kunft jenes Theologen aus der Tübinger Schule, das Resi-
[643]Viertes Kapitel. §. 135.
duum von Jesu Leiblichkeit sei jene Wolke gewesen, die
ihn bei der Himmelfahrt umhüllte, in welche sich, was
materiell an ihm war, aufgelöst habe und gleichsam ver-
pufft sei 19). Da somit die Evangelisten das Ende des ir-
dischen Wandels Jesu nach der Auferstehung weder als
einen natürlichen Tod sich vorstellen, noch bei der Him-
melfahrt irgend einer mit seinem Körper vorgegangenen
Veränderung gedenken, überdieſs aus der Zeit zwischen
der Auferstehung und Himmelfahrt Dinge von Jesu berich-
ten, welche von einem natürlichen Leib undenkbar sind:
so können sie sich sein Leben seit der Auferstehung nicht
als ein natürliches, sondern nur als ein übernatürliches,
und seinen Leib nicht als einen organisch ‒ materiellen,
sondern nur als einen verklärten vorgestellt haben.
Dieser Vorstellung widersprechen auf dem Stand-
punkt der Evangelisten auch diejenigen Züge nicht, wel-
che die Freunde der rein natürlichen Ansicht vom Leben
des Auferstandenen für sich geltend zu machen pflegen.
Daſs Jesus aſs und trank, das sezte in dem bezeichneten
Vorstellungskreise so wenig ein wirkliches Bedürfniſs bei
ihm voraus, als das Mahl, welches Jehova mit zwei En-
geln bei Abraham einnahm: Essenkönnen ist hier kein Be-
weis für Essenmüssen. Daſs er sich betasten lieſs, war
der einzig mögliche Beweis gegen die Vermuthung, ein
körperloses Gespenst möge den Jüngern erschienen sein;
auch Götterwesen erschienen in alterthümlicher, nicht
bloſs griechischer, sondern (nach der oben angeführten
Stelle, 1 Mos. 32, 24.) auch hebräischer Vorstellung, bis-
weilen betastbar, im Unterschied von wesenlosen Schatten,
unerachtet sie sonst an die Gesetze der Materialität so we-
41 *
[644]Dritter Abschnitt.
nig gebunden sich zeigten, als der betastbare Jesus, wenn
er doch plözlich verschwinden, und in verschlossene Zim-
mer ohne Hinderniſs eindringen konnte 20).
Eine ganz andere Frage ist, ob auch auf unserem,
durch genauere Naturkenntniſs gebildeten Standpunkt jene
beiderlei Züge sich vertragen? Und da werden wir frei-
lich sagen müssen: ein Leib, der sichtbare Speise genieſst,
muſs auch selbst ein sichtbarer sein; der Genuſs der Spei-
se sezt einen Organismus voraus, der Organismus aber ist
organisirte Materie, und diese hat die Eigenschaft nicht,
in beliebigem Wechsel verschwinden und wieder sichtbar
werden zu können. Ganz besonders aber, wenn der Leib
Jesu sich betasten lieſs, und Fleisch und Knochen zu füh-
len gab, so zeigte er damit die Widerstandskraft der
Materie, und zwar wie sie ihr als fester eigenthümlich
ist: wenn er dagegen in verschlossene Häuser und Zimmer,
ungehindert durch dazwischenliegende Wände und Thüren,
einzugehen im Stande war, so bewies er hiedurch, daſs
eben diese Widerstandskraft der festen Materie ihm nicht
zukam; indem er also nach den evangelischen Berichten
dieselbe Eigenschaft um dieselbe Zeit gehabt und nicht ge-
habt haben müſste: so zeigt sich die evangelische Darstel-
lung der Leiblichkeit Jesu nach der Auferstehung als eine
in sich widersprechende. Und zwar ist dieser Wieder-
spruch nicht etwa von der Art, daſs er sich unter die ver-
schiedenen Berichterstatter vertheilte, sondern der Be-
richt Eines und desselben Evangelisten schlieſst jene wider-
sprechenden Züge in sich. Der kurze Bericht des Mat-
thäus zwar enthält in dem ἐκράτησαν αὐτοῦ τοὺς πόδας (V. 9.)
[645]Viertes Kapitel. §. 136.
nur das Moment der Betastbarkeit, ohne daſs ebenso ein
entgegengeseztes hervorgehoben wäre; bei Markus umge-
kehrt spricht sein ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ (V. 12.) für etwas Über-
natürliches, ohne daſs andrerseits auch wieder das Gegen-
theil bestimmt vorausgesezt würde: dagegen spricht bei
Lukas das Sichbetastenlassen und Essen ebenso bestimmt
für organische Materialität, als das plözliche Erscheinen
und Verschwinden gegen eine solche; ganz besonders hart
aber stoſsen die Glieder dieses Widerspruchs im vierten
Evangelium zusammen, wo Jesus, unmittelbar nachdem er
in das verschlossene Gemach unberührt durch Wände und
Thüren eingedrungen ist 21), sich von dem zweifelnden
Thomas berühren läſst.
§. 136.
Die Debatte über die Realität des Todes und der Aufer-
stehung Jesu.
Der Saz: ein Todter ist wiederbelebt worden, ist
aus zwei so widersprechenden Bestandtheilen zusammen-
gesezt, daſs immer, wenn man den einen festhalten will,
der andere zu verschwinden droht. Ist er wirklich wie-
der zum Leben gekommen, so liegt es nahe, zu denken,
er werde nicht ganz todt gewesen sein; war er aber wirk-
lich todt, so hält es schwer, zu glauben, daſs er wieder
lebendig geworden sei.
Bei einer richtigen Ansicht über das Verhältniſs von
Seele und Leib, welche diese beiden nicht abstrakt ausein-
[646]Dritter Abschnitt.
anderhält, sondern sie zugleich in ihrer Identität, die Seele
als die Innerlichkeit des Leibs, den Leib als die Äusserlich-
keit der Seele begreift, weiſs man schon gar nicht, wie
man sich die Wiederbelebung eines Todten nur vorstellen,
geschweige denn sie verstehen solle. Haben die Kräfte
und Thätigkeiten des Leibes einmal aufgehört, in denjenigen
regierenden Mittelpunkt zusammenzulaufen, welchen wir die
Seele nennen, deren Thätigkeit, oder vielmehr sie selbst,
in der ununterbrochenen Niederhaltung aller andern im
Körper möglichen Processe unter der höheren Einheit
des organischen Lebensprocesses, welche bei'm Menschen
zugleich die Basis des Geistigen ist, besteht: so tre-
ten in den verschiedenen Theilen des Körpers jene andern,
niedrigern Principien als herrschend auf, deren Geschäft
in seiner Fortsetzung die Verwesung ist. Haben diese ein-
mal die Herrschaft angetreten: so werden sie nicht geneigt
sein, sie an den vorigen Herrn, die Seele, zurückzugeben;
oder vielmehr ist dieſs deſswegen unmöglich, weil, ganz
abgesehen von der Frage über die Unsterblichkeit des mensch-
lichen Geistes, mit ihrer Herrschaft und Thätigkeit, wel-
che ihre Existenz ist, die Seele als solche zu sein aufhört,
mithin bei einer Wiederbelebung, selbst wenn man sich
auf ein Wunder berufen wollte, dieſs geradezu in der Er-
schaffung einer neuen Seele bestehen müſste.
Nur der populärgewordene Dualismus in Bezug auf
das Verhältniſs von Leib und Seele begünstigt die Mei-
nung von der Möglichkeit einer eigentlichen Wiederbele-
bung. Da wird die Seele in ihrem Verhältniſs zum Kör-
per wie der Vogel vorgestellt, welcher, wenn auch eine
Weile aus dem Käfig entflogen, doch wieder eingefangen
und in denselben zurückgebracht werden kann, und an der-
gleichen Bilder hält sich ein imaginirendes Denken, um die
Vorstellung der Wiederbelebung festzuhalten. Doch selbst
auf dem Standpunkte dieses Dualismus versteckt sich die
Undenkbarkeit eines solchen Vorgangs mehr, als daſs sie
[647]Viertes Kapitel. §. 136.
sich eigentlich verringerte. Denn so gleichgültig und un-
lebendig, wie bei einer Schachtel und deren Inhalt, darf
man sich doch das Zusammensein des Leibs und der Seele
auch bei der abstraktesten Trennung nicht denken, son-
dern die Gegenwart der Seele bringt im Körper Wirkun-
gen hervor, welche hinwiederum die Möglichkeit jener Ge-
genwart der Seele in ihm bedingen. Sobald also die Seele
den Körper verlassen hat, werden in diesem diejenigen
Thätigkeiten stille stehen, welche nach der dualistischen
Vorstellungsweise die unmittelbarsten Äusserungen des Ein-
flusses der Seele waren, ebendamit werden die Organe
dieser Thätigkeiten, Gehirn, Blut u. s. f., zu stocken und
starr zu werden beginnen, und zwar wird diese Verände-
rung mit dem Augenblick des wirklichen Todes ihren An-
fang nehmen. Könnte es also auch der entflohenen Seele
einfallen, oder sie durch einen Andern dazu genöthigt wer-
den, ihren vorigen Wohnsiz, den Körper, wieder aufzu-
suchen: so würde sie ihn doch nach den ersten Augenbli-
cken schon in seinen edelsten Theilen unbewohnbar und
für ihren Dienst untauglich finden. Wiederherstellen aber,
wie ein krankes Glied, könnte sie die unbrauchbar gewor-
denen unmittelbarsten Organe ihrer Wirksamkeit auf kei-
ne Weise, da sie, um irgend etwas im Körper zu wirken,
des Dienstes eben dieser Organe bedarf: sie müſste also,
ob auch wieder in den Leib zurückgebannt, denselben
doch geradezu vermodern lassen, weil sie keinen Einfluſs
auf ihn auszuüben im Stande wäre; oder es müſste zu
dem Wunder ihrer Zurückführung in den Körper das zwei-
te einer Restaurirung ihrer abgestorbenen körperlichen Or-
gane hinzukommen — ein unmittelbares Eingreifen Gottes
in den gesezlichen Verlauf des Naturlebens, wie es geläu-
terten Ansichten von dem Verhältniſs Gottes zur Welt wi-
derspricht.
Sehr bestimmt hat daher die neuere Bildung in Be-
zug auf Jesum das Dilemma aufgestellt, daſs er entweder
[648]Dritter Abschnitt.
nichtwirklich gestorben, oder nicht wirklich auferstan-
den sei.
Der Rationalismus hat sich vorwiegend der ersteren
Annahme zugewendet. Die kurze Zeit, welche Jesus am
Kreuze hieng, zusammengenommen mit der sonst bekann-
ten Langsamkeit des Kreuzestodes, die ungewisse Beschaf-
fenheit und Wirkung des Lanzenstichs (welchen wir nicht
einmal für historisch halten konnten), schienen die Wirk-
lichkeit des Todes zweifelhaft zu machen. Daſs die Voll-
strecker der Kreuzigung, wie die Jünger selbst, keinem
solchen Zweifel Raum geben, würde sich ausser der all-
gemeinen Schwierigkeit, tiefe Ohnmachten und synkoptische
Erstarrungen vom wirklichen Tode zu unterscheiden, aus
dem niedrigen Stande der medicinischen Kenntnisse in je-
ner Zeit erklären; wogegen wenigstens Ein Beispiel, daſs
ein vom Kreuz Abgenommener wieder genas, ein erfolg-
tes Wiederaufleben auch bei Jesu denkbar zu machen
schien. Dieses Beispiel findet sich bei Josephus, welcher
berichtet, daſs von drei gekreuzigten Bekannten, die er
von Titus losgebeten habe, nach der Abnahme vom Kreuze
zwei gestorben, einer aber mit dem Leben davongekom-
men sei. 1). Wie lange diese Leute am Kreuz gehangen
hatten, bemerkt Josephus nicht; doch da er sie mit sei-
ner Expedition nach Thekoa in der Art in Verbindung
bringt, daſs er sie bei seiner Rückkehr von da erblickt
[649]Viertes Kapitel. §. 136.
habe, so müssen sie wohl eben während dieser Expedition
gekreuzigt worden sein, und da diese, vermöge der gerin-
gen Entfernung des genannten Orts von Jerusalem, mög-
licherweise in Einem Tage beendigt sein konnte, so hat-
ten sie wohl nicht über Einen Tag, vielleicht noch kürzer,
am Kreuz gehangen. Wenn nun von drei Gekreuzigten,
welche schwerlich viel länger gehangen hatten, als Jesus,
der nach Markus von Morgens 9 Uhr bis Abends gegen 6 Uhr
am Kreuze sich befand, und welche, wie es scheint, noch
mit den Zeichen des Lebens herabgenommen wurden, bei
der sorgfältigsten ärztlichen Pflege nur Einer davon kam:
wie unwahrscheinlich muſs es werden, daſs Jesus, welcher
bereits mit allen Zeichen des Todes vom Kreuze genom-
men worden war, ohne Anwendung ärztlicher Mittel ganz
von selbst wieder zum Leben gekommen sei? 2)
Diese beiden Momente: ein Rest des bewuſsten Le-
bens, und sorgfältige ärztliche Behandlung, haben indeſs
nach einer gewissen Ansicht auch bei Jesus nicht gefehlt,
wenn sie gleich von den Evangelisten verschwiegen wer-
den. Hienach hat Jesus, weil er keinen andern Weg sah,
die herrschende Messiasidee von ihren sinnlich-politischen
Beimischungen zu reinigen, sich der Kreuzigung ausge-
sezt, dabei aber sich darauf verlassen, durch ein frühzei-
tiges Neigen des Hauptes seine baldige Abnahme vom
Kreuz zu bewirken, und hernach von heilkundigen Män-
nern unter seinen geheimen Verbündeten wiederhergestellt
zu werden, um zugleich durch den Schein einer Wieder-
belebung das Volk zu begeistern 3). Von dieser Absicht-
lichkeit haben Andere wenigstens Jesum freigesprochen,
Bogen 41. ist S. 649 u. 650 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.
[650]Dritter Abschnitt.
und ihn wirklich in todähnlichen Schlummer versinken
lassen, seinen Anhängern aber von vorn herein den Plan
zugeschrieben, den durch einen Trank scheintodt gemach-
ten und frühe vom Kreuz abgenommenen in das Leben
zurückzurufen 4). Allein von allem dem deuten die Quel-
len nichts an, und es zu vermuthen, haben wir keinen
Grund. Verständige Freunde der natürlichen Erklärung,
welchen dergleichen Ausgeburten eines zügellosen Prag-
matisirens zuwider sind, haben daher zur Erklärung von
Jesu Wiederbelebung, statt eines Rests von bewuſstem Le-
ben in ihm, mit der Lebenskraft sich begnügt, welche
auch nach dem Schwinden des Bewuſstseins im Innersten
des jugendkräftigen Körpers Jesu zurückgeblieben war,
und statt absichtlicher Pflege durch Menschenhände auf den
wohlthätigen Einfluſs aufmerksam gemacht, welchen die um
seinen Leib gelegten zum Theil wohl öligten Substanzen
auf Heilung seiner Wunden, und, zusammengenommen
mit der von dem Dufte der Specereien geschwängerten
Luft in der Höhle, auf Wiedererweckung des Gefühls und
Bewuſstseins Jesu gehabt haben müssen 5); wozu man wohl
auch noch als entscheidendes Moment die Erschütterung und
den Blizstrahl fügte, welcher am Auferstehungsmorgen das
Grabmal Jesu eröffnet habe 6). Hiegegen haben jedoch
Andere darauf aufmerksam gemacht, wie die kalte Luft
in einer Höhle am wenigsten etwas Belebendes haben
konnte; wie starke Arome in einem verschlossenen Raume
vielmehr betäubend und erstickend wirken 7); die gleiche
Wirkung müſste ein in die Gruft schlagender Blizstrahl
[651]Viertes Kapitel. §. 136.
gehabt haben, wenn dieser nicht bloſse Erdichtung ratio-
nalistischer Ausleger wäre.
Unerachtet aller dieser Unwahrscheinlichkeiten jedoch,
welche die Ansicht gegen sich hat, daſs Jesus aus einem
bloſsen Scheintode durch natürliche Ursachen wieder zum
Leben gekommen sei, bleibt sie doch insoweit möglich,
daſs, wenn uns die Wiederbelebung Jesu sicher verbürgt
wäre, wir aus der Entschiedenheit des Erfolgs die Lücken
der Berichte über den Hergang der Sache ergänzen, und
der bisher vorgetragenen Ansicht, mit Abweisung jedoch
aller bestimmten Vermuthungen, beitreten könnten. Ver-
bürgt wäre uns die Auferstehung Jesu, wenn sie von un-
parteiischen Zeugen auf bestimmte und zusammenstimmen-
de Weise beurkundet wäre. Aber eben die Unparteilich-
keit der angeblichen Zeugen für die Auferstehung Jesu ha-
ben die Gegner des Christenthums von Celsus bis auf den
Wolfenbüttler Fragmentisten herab in Anspruch genom-
men. Nur seinen Anhängern habe sich Jesus gezeigt:
warum nicht auch seinen Feinden, um auch sie zu über-
zeugen, und durch ihr Zeugniſs der Nachwelt jede Ver-
muthung einer absichtlichen Täuschung von Seiten seiner
Jünger zu benehmen? 8) So wenig ich nun auch von den
Erwiederungen der Apologeten auf diesen Einwand halten
kann, von dem Origeneischen ἐφείδετο γὰρ καὶ τοῦ κατα-
δικάσαντος καὶ τῶν ἐπηρεασάντων ὁ χριςὸς, ἵνα μὴ παταχ-
ϑῶσιν ἀορασίᾳ9) an, bis auf die Meinungen der Neueren,
Bogen 41. ist S. 651 u. 652 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.
[652]Dritter Abschnitt.
welche durch das Schwanken zwischen der Behauptung,
durch eine solche Erscheinung wären die Feinde Jesu zum
Glauben gezwungen worden, und der andern, sie würden
auch auf eine solche hin nicht geglaubt haben, sich selbst
widerlegen 10): so kann doch jenem Einwurf das entge-
gengehalten werden, daſs die Anhänger Jesu durch ihre
Hoffnungslosigkeit, welche, wie sie aus der Zusammenstim-
mung der Berichte erhellt, so der Natur der Sache voll-
kommen angemessen ist, hier zum Range unparteiischer
Zeugen sich erheben. Hätten sie eine Auferstehung Jesu
erwartet, und sollten wir diese nun allein auf ihr Zeug-
niſs hin glauben: so wäre allerdings die Möglichkeit, und
vielleicht Wahrscheinlichkeit, wenn nicht eines absichtli-
chen Betrugs, doch unwillkührlicher Selbsttäuschung von
ihrer Seite vorhanden; diese verschwindet aber in dem
Grade, als die Jünger Jesu nach seinem Tode alle Hoff-
nung verloren haften. Zwar rührt nun nach den Ergeb-
nissen unsrer bisherigen Untersuchungen keines der Evan-
gelien unmittelbar von einem Jünger Jesu her: doch, da
aus den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte
gewiſs ist, daſs die Apostel selbst die Überzeugung hatten,
den Auferstandenen gesehen zu haben, so könnten wir uns
an den N. T.lichen Zeugnissen für die Auferstehung immer-
hin genügen lassen, wenn nur diese Zeugnisse theils be-
stimmt genug wären, theils unter einander, und jedes mit sich
selbst, zusammenstimmten. Nun aber ist das in sich einstim-
mige und auch sonst gewichtigste Zeugniſs des Paulus so
allgemein und unbestimmt, daſs es für sich uns über die sub-
jektive Thatsache, die Jünger seien von der Auferstehung
Jesu überzeugt gewesen, nicht hinausführt; die bestimm-
teren Erzählungen der Evangelien dagegen, in welchen die
[653]Viertes Kapitel. §. 136.
Auferstehung Jesu als objektive Thatsache erscheint, sind
ihrer aufgezeigten Widersprüche wegen nicht als Zeug-
nisse zu gebrauchen, überhaupt ist ihr Bericht über den
Wandel Jesu nach seiner Auferstehung kein in sich zu-
sammenhängender, der uns eine klare historische An-
schauung der Sache gäbe, sondern ein fragmentarischer 11),
der uns mehr eine Reihe von Visionen, als eine fortlau-
fende Geschichte zur Anschauung bringt.
Vergleicht man mit diesem Bericht über die Wieder-
belebung Jesu den bestimmten in sich einstimmigen über
seinen Tod: so muſs man in dem oben gestellten Dilemma
auf die andre Seite sich neigen, und eher die Realität der
Auferstehung, als die des Todes in Anspruch zu nehmen
sich veranlaſst finden. Auf diese Seite ist daher schon Cel-
sus getreten, indem er die angeblichen Erscheinungen Jesu
nach der Auferstehung entweder aus Selbsttäuschung sei-
ner Anhänger, namentlich der Weiber, im Traum oder
Wachen, oder was ihm noch wahrscheinlicher war, aus ab-
sichtlichem Betrug ableitete 12), und Neuere, wie na-
mentlich der Wolfenbüttler Fragmentist, haben sich an die
jüdische Beschuldigung bei Matthäus angeschlossen, daſs
die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen, und hernach
die Erzählungen von seiner Auferstehung und den Erschei-
nungen nach derselben auf übel zusammenstimmende Weise
Bogen 41. ist S. 653 u. 654 auszuschneiden u. dieses Blatt einzubinden.
[654]Dritter Abschnitt.
fingirt haben 13). Dieser Verdacht ist schon durch die
Bemerkung des Origenes niedergeschlagen, daſs eine selbst-
erfundene Lüge die Jünger unmöglich zu einer so stand-
haften Verkündigung der Auferstehung Jesu unter den
gröſsten Gefahren hätte begeistern können 14), und mit
Recht bestehen noch jezt die Apologeten darauf, daſs der
ungeheure Umschwung von der tiefen Niedergeschlagenheit
und gänzlichen Hoffnungslosigkeit der Jünger bei dem Tode
Jesu zu der Glaubenskraft und Begeisterung, mit welcher
sie am folgenden Pfingstfest ihn als Messias verkündigten,
sich nicht erklären lieſse, wenn nicht in der Zwischen-
zeit etwas ganz ausserordentlich Ermuthigendes vorgefal-
len wäre, und zwar näher etwas, das sie von der Wie-
derbelebung des gekreuzigten Jesus überzeugte 15). Daſs
aber dieses Überzeugende gerade eine wirkliche Erschei-
nung des Auferstandenen, daſs es überhaupt ein äusserer
Vorgang gewesen sein müsse, ist damit noch keineswegs be-
wiesen. Man könnte, wenn man auf supranaturalem Boden
bleiben wollte, etwa mit Spinoza eine im Innern der Jün-
ger auf wunderbare Weise bewirkte Vision annehmen,
welche den Zweck gehabt hätte, ihnen nach ihrer Fas-
sungskraft und der Vorstellungsweise ihrer Zeit anschau-
lich zu machen, daſs Jesus durch sein tugendhaftes Le-
ben vom geistigen Tode auferstanden sei, und denen, wel-
che seinem Beispiel folgen, eine ähnliche Auferstehung
verleihe 16). Um aus dem Zauberkreis des Supranatura-
[655]Viertes Kapitel. §. 136.
lismus in Betreff dieser Erscheinungen herauszukommen,
haben Andere nach natürlichen äusseren Veranlassungen
gesucht, welche die Meinung erregen konnten, Jesus
sei auferstanden und als Auferstandener gesehen worden.
Den ersten Anstoſs, vermuthete man, habe das gegeben,
daſs am zweiten Morgen nach dem Begräbniſs sein Grab
leer gefunden wurde, dessen Leintücher zuerst für Engel,
dann für eine Erscheinung des Auferstandenen selbst gehal-
ten worden seien 17): allein, wenn der Leib Jesu nicht
neubelebt aus dem Grabe hervorgegangen ist, wie soll er
denn herausgekommen sein? Da müſste man ja wieder
an Diebstahl denken: wenn man nicht aus der Andeutung
bei Johannes, daſs Jesus der Eile wegen in ein fremdes
Grab gelegt worden, die Vermuthung herleiten will, daſs
vielleicht der Eigenthümer der Gruft den Leichnam habe
entfernen lassen, was aber die Jünger nachträglich hätten
erfahren müssen, und was in jedem Fall an der vereinzel-
ten Angabe des vierten Evangeliums eine zu schwache
Grundlage hat.
Ungleich fruchtbarer ist die Hinweisung auf die pau-
linische Stelle 1. Kor. 15, 5 ff, als den geeignetsten Aus-
16)
[656]Dritter Abschnitt.
gangspunkt in dieser Sache, und den Schlüssel zur Ver-
ständigung über alle Erscheinungen Jesu nach seiner Auf-
erstehung 18). Wenn nämlich Paulus dort die ihm zu
Theil gewordene Christophanie mit den Erscheinungen Je-
su in den Tagen nach seiner Auferstehung in Eine Reihe
stellt, so berechtigt dieſs, sofern sonst nichts im Wege steht,
zu dem Schlusse, daſs, so viel der Apostel wuſste, jene
früheren Erscheinungen von derselben Art, wie die ihm
gewordene, gewesen seien. Von dieser lezteren nun aber,
wie sie uns die Apostelgeschichte (9, 1 ff. 22, 3 ff. 26, 12 ff.)
erzählt, ist es nach den Analysen von Eichhorn19) und
Ammon20) nicht wohl mehr möglich, sie als äussere, objek-
tive Erscheinung des wirklichen Christus festzuhalten, und
selbst Neander21) getraut sich bloſs, eine innere Einwir-
kung Christi auf das Gemüth des Paulus sicher zu behaup-
ten, die Annahme einer äusseren Erscheinung aber hängt
er nur sehr bittweise hinten an, und auch jene innere Ein-
wirkung macht er dadurch selbst überflüssig, daſs er die
Momente namhaft macht, welche auf natürliche Weise ei-
ne solche Revolution in der Gesinnung des Mannes her-
vorbringen konnten: die günstigen Eindrücke, welche er
da und dort vom Christenthum, von der Lehre, dem Le-
ben und Benehmen seiner Anhänger, namentlich auch durch
den Märtyrertod des Stephanus, bekommen hatte, und wel-
che sein Gemüth in eine Spannung und in einen innern
Kampf versetzten, den er wohl einige Zeit gewaltsam, und
vielleicht selbst durch verdoppeltes Eifern gegen die neue
Sekte, unterdrücken konnte, der sich aber zulezt in einer
[657]Viertes Kapitel. §. 136.
entscheidenden geistigen Krisis entladen muſste, von wel-
cher es uns bei einem Orientalen nur gar nicht wundern
darf, daſs sie die Gestalt einer Christophanie annahm.
Haben wir hiemit an dem Apostel Paulus ein Beispiel, daſs
starke Eindrücke von der jungen Christengemeinde ein feu-
riges Gemüth, das ihr längere Zeit entgegengestrebt hatte,
bis zur Christophanie und völligen Sinnesänderung steigern
konnten: so wird wohl auch der gewaltige Eindruck der
groſsartigen Persönlichkeit Jesu im Stande gewesen sein,
seine unmittelbaren Schüler im Kampfe mit den Zweifeln
an seiner Messianität, welche sein Tod in ihnen erregt
hatte, zu ähnlichen Gesichten zu begeistern. Wer zur Er-
klärung der paulinischen Christophanie noch ein äusseres
Naturphänomen, wie Bliz und Donnerschlag, zu Hülfe neh-
men zu müssen und zu dürfen glaubt, der mag auch die
Erklärung der Erscheinungen, welche früher die unmittel-
baren Schüler Jesu von dem Auferstandenen zu haben
glaubten, durch Voraussetzung ähnlicher Ereignisse sich
zu erleichtern suchen 22). Nur, wie die Eichhorn'sche Er-
klärung des Vorgangs mit Paulus daran scheiterte, daſs
sie alle und jede Züge der N. T.lichen Erzählung, wie die
Blindheit des Paulus und deren Heilung, die Vision des
Ananias u. s. f., als historische festhielt, und diese begreif-
lich nur sehr gezwungen in natürliche Erfolge umdeuten
konnte: so würde freilich derjenige die psychologische Er-
klärung der Erscheinungen des auferstandenen Jesus selbst
sich unmöglich machen, welcher alle evangelischen Erzäh-
lungen von denselben, namentlich von den Proben, welche
Thomas durch Betastung angestellt, und der Auferstandene
selbst durch Genuſs von Nahrung abgelegt haben soll, als
historische anerkennen wollte, worauf aber diese Erzählun-
gen ihrer aufgezeigten Widersprüche wegen nicht den min-
Das Leben Jesu II. Band. 42
[658]Dritter Abschnitt.
desten Anspruch haben. Die zwei ersten Evangelien, und
der Hauptgewährsmann in dieser Sache, der Apostel Pau-
lus, erzählen uns von dergleichen Proben nichts, und es
ist ganz natürlich, daſs die Christophanieen, welche, so wie
sie den Frauen und Aposteln wirklich vorgeschwebt hat-
ten, mehr das visionäre Gepräge derjenigen gehabt haben
mögen, welche Paulus auf dem Wege nach Damaskus hat-
te, einmal in die Tradition aufgenommen, sich vermöge des
apologetischen Bestrebens, alle Zweifel an der Realität der-
selben abzuschneiden, immer mehr consolidirten, von stum-
men Erscheinungen zu redenden, von geisterhaften zu es-
senden, von sichtbaren zu handgreiflichen wurden.
Hier kehrt sich jedoch ein Unterschied heraus, wel-
cher den Vorgang mit Paulus zur Erklärung jener frühe-
ren Erscheinungen mit Einem Male unbrauchbar zu ma-
chen scheint. Dem Apostel Paulus nämlich war die Vor-
stellung, daſs Jesus auferstanden und mehreren Personen
erschienen sei, als Glaube der Sekte, die er verfolgte, ge-
geben, er hatte sie nur noch in seine Überzeugung aufzu-
nehmen, und durch die Phantasie bis zur eigenen Erfah-
rung zu beleben: die älteren Jünger hingegen hatten le-
diglich den Tod ihres Messias als Faktum vor sich, die
Ansicht einer Auferstehung desselben konnten sie nir-
gendsher nehmen, sondern muſsten dieselbe, nach unserer
Vorstellung von der Sache, erst produciren; eine Aufga-
be, welche über alle Vergleichung hinaus schwieriger zu
sein scheint, als die, welche sich später dem Apostel Pau-
lus stellte. Um hierüber richtig urtheilen zu können, müs-
sen wir uns noch genauer in die Lage und Stimmung der
Jünger Jesu nach seinem Tode hineindenken. Er hatte
während seines mehrjährigen Zusammenseins mit ihnen im-
mer mehr und entschiedener den Eindruck des Messias
auf sie gemacht: sein Tod aber, den sie mit ihren Mes-
siasbegriffen nicht reimen konnten, hatte diesen Eindruck
für den Augenblick wieder vernichtet. Wie sich nun, nach-
[659]Viertes Kapitel. §. 136.
dem der erste Schrecken vorüber war, der frühere Ein-
druck wieder zu regen begann: entstand in ihnen von selbst
das psychologische Bedürfniſs, den Widerspruch der lez-
ten Schicksale Jesu mit ihrer früheren Ansicht von ihm
aufzulösen, in ihren Begriff vom Messias das Merkmal des
Leidens und Todes mitaufzunehmen. Da aber Begreifen
bei den Juden jener Zeit eben nur hieſs, etwas aus den
heiligen Schriften ableiten: so waren sie an diese gewie-
sen, ob nicht in ihnen vielleicht Andeutungen eines lei-
denden und sterbenden Messias sich fänden. Dergleichen
Andeutungen muſsten sich den Jüngern Jesu, welche sie
zu finden wünschten, so fremd auch die Idee eines solchen
Messias dem A. T. ist, dennoch in allen denjenigen poëti-
schen und prophetischen Stellen darbieten, welche, wie
Jes. 53, Ps. 22, die Männer Gottes als geplagt und ge-
beugt bis zum Tode darstellten. Das ist es auch, was Lu-
kas als das Hauptgeschäft des auferstandenen Jesus bei
seinen Zusammenkünften mit den Jüngern heraushebt, daſs
er ἀρξάμενος ἀπὸ Μωσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν,
διηρμήνευεν αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς τὰ περὶ αὑτοῦ,
daſs nämlich ταῦτα ἔδει παϑεῖν τὸν Χριςόν (24, 26 f. 44 ff.).
Hatten sie auf diese Weise Schmach, Leiden und Tod in
ihre Messiasidee aufgenommen: so war ihnen der schmach-
voll getödtete Jesus nicht verloren, sondern geblieben, er
war durch den Tod nur in seine messianische δόξα einge-
gangen (Luc. 24, 26.), in welcher er unsichtbar mit ihnen
war πάσας τὰς ἡμέρας, ἕως τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος
(Matth. 28, 20.). Aus dieser Herrlichkeit aber, in welcher
er lebte, wie konnte er es unterlassen, den Seinigen Kun-
de von sich zu geben? und wie konnten sie, wenn ihnen
der Sinn für die bisher verborgene Lehre der Schrift vom
sterbenden Messias aufgieng, und in ungewohnter Begei-
sterung ihre καρδία καιομένη war (Luc. 24, 32.), umhin,
dieſs als Einwirkung ihres verherrlichten Christus auf sie,
als ein von ihm ausgehendes διανοίγειν τὸν νοῦν (V. 45.), ja
42 *
[660]Dritter Abschnitt.
als ein Reden mit ihnen aufzufassen? wie denkbar end-
lich ist es, daſs diese Eindrücke bisweilen bei Einzelnen,
namentlich Frauen, und bei ganzen Versammlungen bis
zur wirklichen Vision sich steigerten, eine Höhe des from-
men Enthusiasmus, welche auch sonst bei religiösen Ge-
sellschaften, besonders gedrückten und verfolgten, vorzu-
kommen pflegt. Sollte aber der gekreuzigte Messias wahr-
haft in die höchste Form des seligen Lebens eingegangen
sein: so durfte er seinen Leib nicht im Grabe gelassen
haben, und wenn nun gerade in solchen A. T.lichen Stel-
len, welche eine vorbildliche Beziehung auf das Leiden des
Messias zulieſsen, zugleich die Hoffnung sich ausgespro-
chen fand: ὅτι οὐκ ἐγκαταλείψεις τὴν ψυχήν μου εἰς ᾅδου,
οὐδὲ δωσεις τὸν ὅσιόν σου
ἰδεῖν διαφϑοράν (Ps. 16, 10. A. G.
2, 27.); wenn Jes. 53, 10. dem zur Schlachtbank Geführ-
ten, Getödteten und Begrabenen nachher noch ein langes
Leben verheiſsen war: was lag den Jüngern näher, als
ihre frühere jüdische Vorstellung, ὅτι ὁ Χριςὸς μένει εἰς
τὸν αἰῶνα (Joh. 12, 34.), die ihnen im Tode Jesu unter-
gegangen war, durch Vermittlung des Gedankens einer
wirklichen Wiederbelebung des Getödteten wiederherzu-
stellen, und zwar, da es messianisches Attribut war, einst
die Todten leiblich zu erwecken, ihn gleichfalls in Form
der ἀνάςασις in das Leben zurückkehren zu lassen?
Indeſs, wenn doch der Leichnam Jesu an einem be-
kannten Platze beigesezt war, und an diesem (sofern wir
weder einen Diebstahl, noch eine zufällige Entfernung des-
selben postuliren mögen) aufgesucht und nachgewiesen
werden konnte, ist es schwer zu begreifen, wie die Jün-
ger in Jerusalem selbst, und nicht volle zwei Tage nach
der Beerdigung, meinen und aussagen konnten, Jesus sei
auferstanden, ohne durch den Augenschein am Grabe sich
selbst zu widerlegen, und von ihren Widersachern (de-
nen sie freilich erst an Pfingsten etwas von der Auferste-
hung ihres Messias eröffnet zu haben scheinen) widerlegt
[661]Viertes Kapitel. §. 136.
zu werden 23). Hier ist es nun, wo der mit Unrecht zu-
rückgesezte Bericht des ersten Evangeliums lösend und be-
friedigend eintritt. Auch nach diesem Evangelium erscheint
zwar der Auferstandene einmal noch in Jerusalem, aber
nur den Weibern, und so sehr bloſs auf eine folgende Zu-
sammenkunft, und zwar auf überflüssige Weise, vorbereitend,
daſs schon oben diese Erscheinung bezweifelt, und nur als ei-
ne spätere Umgestaltung der Sage von der Engelserscheinung,
welche Matthäus neben ihr noch aufnahm, hingestellt wur-
de 24). Die Eine Haupterscheinung Jesu nach der Aufer-
stehung fällt bei Matthäus nach Galiläa, wohin ein En-
gel und Jesus selbst am lezten Abend seines Lebens und
am Auferstehungsmorgen auf's Angelegentlichste verweisen,
und wohin auch das vierte Evangelium im Nachtrag eine
φανέρωσις des Wiederbelebten verlegt. Daſs sich die durch
den Schrecken über die Hinrichtung ihres Messias ver-
sprengten Jünger in ihre Heimath Galiläa zurückzogen,
wo sie nicht, wie in der Hauptstadt Judäa's, dem Siz der
Feinde ihres gekreuzigten Christus, nöthig hatten, διὰ τὸν
φόβον τῶν Ἰουδαίων die Thüren zu verschlieſsen, war na-
türlich; hier war der Ort, wo sie allmählig wieder
freier aufathmen, und ihr darniedergeschlagener Glaube
an Jesum sich wieder in den ersten Regungen erheben
konnte; hier aber auch, wo kein im Grabe nachzuweisen-
der Leichnam die kühnen Voraussetzungen widerlegte,
konnte sich allmählig die Vorstellung von der Auferstehung
Jesu bilden, und bis diese Überzeugung den Muth und die
Begeisterung seiner Anhänger so weit gehoben hatte, daſs
sie es wagten, in der Hauptstadt mit derselben aufzutre-
ten, war es nicht mehr möglich, durch den Leichnam Je-
su sich selbst zu überführen, oder von Andern überführt
zu werden.
[662]Dritter Abschnitt.
Nach der Apostelgeschichte zwar sind die Jünger schon
am nächsten Pfingstfest, sieben Wochen nach dem Tode
Jesu, mit der Verkündigung seiner Auferstehung in Jeru-
salem hervorgetreten, und auf die eigene Überzeugung von
derselben bereits am zweiten Morgen nach seiner Grable-
gung, durch Erscheinungen, die sie hatten, gekommen.
Allein wie lange wird es noch anstehen, bis die Art, wie
die A. G. den ersten Hervortritt der Jünger Jesu mit
Verkündigung der neuen Lehre gerade auf das Fest der
Verkündigung des alten Gesetzes verlegt, als eine solche
erkannt wird, welche lediglich auf dogmatischem Grunde
ruht, mithin historisch werthlos, uns auf keine Weise
bindet, jene Zeit der stillen Vorbereitung in Galiläa so
kurz zu setzen? Was aber das Andere betrifft — wenn
sich auch die Stimmung der Jünger erst nach Verfluſs eini-
ger Zeit bis zu der Höhe erhoben hatte, welche dazu ge-
hörte, daſs dieser oder jener Einzelne und ganze begei-
sterte Versammlungen den erstandenen Christus sich auf
visionre Weise vergegenwrtigten: so muſste man sich
doch denken, daſs er, καϑότι οὐκ ἦν δυνατὸν κρατεῖσϑαι
αὐτὸν ὑπὸ τοῦ ϑανάτου (A. G. 2, 24.), nur kurze Zeit im
Grabe zugebracht habe. Zur näheren Bestimmung dieses
Zeitraums, wenn man sich nicht damit begnügen will, daſs
die solenne Dreizahl von Tagen am nächsten lag, mochte
sich, mag es nun historisch sein oder nicht, daſs Jesus
am Abend vor einem Sabbat begraben worden, die Vor-
stellung bieten, daſs er im Grab nur eine Sabbatruhe ge-
halten habe, also πρωῒ ποώτη σαββάτων auferstanden sei,
was mit der runden Zahl von drei Tagen durch die be-
kannte Zählung vereinigt werden konnte 25).
[663]Viertes Kapitel. §. 136.
Hatte sich auf diese Weise die Vorstellung einer Auf-
erstehung Jesu gebildet, so konnte diese nicht so einfach
vor sich gegangen sein, sondern muſste mit allem Geprän-
ge, welches die jüdische Vorstellungsweise bot, umgeben
und verherrlicht werden. Der Hauptzierrath, welcher zu
diesem Behuf zu Gebote stand, waren Engel: diese muſs-
ten daher das Grab Jesu eröffnet, nachdem er hervorge-
stiegen war, an der leeren Stätte Wache gehalten, und
den Weibern, welche, gleichsam als der beweglichere
Vortrab der Anhängerschaft Jesu, und weil ohne Zweifel
Weiber die ersten Visionen gehabt hatten, zuerst zum
Grabe gehen muſsten, von dem Vorgefallenen Nachricht
gegeben haben. Da es Galiläa war, wo ihnen später Je-
sus erschien, so wurde die Reise der Jünger dahin, wel-
che nichts Anderes, als ihre durch Furcht beschleunigte
Rückkehr in die Heimath war, von der Weisung eines
Engels abgeleitet, ja Jesus selbst muſste schon vor seinem
Tode, und, wie Matthäus gar zu eifrig hinzufügt, auch
nach der Auferstehung noch einmal, die Jünger dahin ge-
wiesen haben. Je weiter sich aber diese Erzählungen in
der Überlieferung fortpflanzten, desto mehr muſste die
Verschiedenheit der Lokalität der Auferstehung selbst und
der Erscheinungen des Auferstandenen als unbequem ver-
schwinden, und, da die Örtlichkeit des Todes und der
Auferstehung feststand, die Erscheinungen allmählig in
dieselbe Lokalität mit der Auferstehung, nach Jerusalem,
verlegt werden, welches als der glänzendere Schauplaz und
als Siz der ersten christlichen Gemeinde besonders dazu
geeignet war.
[664]Dritter Abschnitt
Fünftes Kapitel.
Die Himmelfahrt.
§. 137.
Die lezten Anordnungen und Verheissungen Jesu.
Bei der lezten Zusammenkunft mit seinen Jüngern,
welche nach Markus und Lukas mit der Himmelfahrt
schloſs, lassen die drei ersten Evangelisten (der vierte hat
etwas Ähnliches schon bei der ersten Zusammenkunft) Je-
sum leztwillige Verordnungen und Verheissungen geben,
welche sich auf die Stiftung und Verbreitung des messia-
nischen Reichs auf Erden bezogen. — Was die Verord-
nungen betrifft, so ernennt bei Lukas, 24, 47. f. A. G. 1,
8.) Jesus scheidend seine Jünger zu Zeugen seiner Mes-
sianität, und beauftragt sie, von Jerusalem an bis an die
Enden der Erde in seinem Namen μετάνοιαν καὶ ἄφεσιν
ἁμαρτιῶν zu verkündigen. Bei Markus (16, 15. f.) weist
er sie an, in alle Welt auszugehen, und die frohe Bot-
schaft des durch ihn gestifteten Messiasreichs aller Crea-
tur zu bringen; wer glaube und sich taufen lasse, wer-
de gerettet, wer aber nicht glaube, (im bevorstehenden
messlanischen Gericht) verurtheilt werden. Bei Matthäus
(28, 19. f.) werden die Jünger ebenfalls beauftragt, πάντα
[τἆ] ἔϑνη zu Schülern Jesu zu machen, und dabei wird die
Taufe nicht bloſs beiläufig, wie bei Markus, erwähnt, son-
dern als ausdrückliche Verordnung Jesu hervorgehoben,
und noch dazu als Taufe εἰς τὸ ὄνομα τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ
υΐοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος näher bestimmt.
Was hiebei der universellen Tendenz, welche Jesus
seiner Taufe und seinem Reiche gegeben haben soll, im
[665]Fünftes Kapitel. §. 137.
Wege steht, und wie sie limitirt werden muſs, ist schon
früher bemerklich gemacht worden 1). Aber auch der zulezt
angegebenen näheren Bestimmung der Taufe steht das ent-
gegen, daſs sie im ganzen N. T. einzig in der angeführ-
ten Stelle des ersten Evangeliums anzutreffen ist, während
in den apostolischen Briefen und der A. G. die Taufe nur als
βαπτίζειν εἰς Χριςὸν Ἰησοῦν oder εἰς τὸ ὄνομα τοῦ Κυρίου
Ἰησοῦ und auf ähnliche Weise bezeichnet wird (A. G. 2,
38. 8, 16. 10, 48. 19, 5. Röm. 6, 3. Gal. 3, 27.), und
erst bei Kirchenschriftstellern, wie Justin 2), dieselbe drei-
fache Beziehung auf Gott, Jesum und den Geist sich
findet. Auch lautet die Formel bei Matthäus schon so
ganz wie aus dem kirchlichen Ritual, daſs es nicht wenig
Wahrscheinlichkeit hat, sie aus diesem in Jesu Mund
übergetragen zu denken. Deſswegen aber diese Stelle als
Interpolation aus dem Text zu werfen 3), ist man nicht
berechtigt, da, wenn man Alles dasjenige in den Evange-
lien, was Jesu nicht begegnet, von ihm nicht so gethan
und gesprochen sein kann, für eingeschoben erklären woll-
te, der Interpolationen leicht zu viele werden dürften.
Insofern ist mit Recht von Anderen die Ächtheit der Tauf-
formel vertheidigt worden 4); aber indem ihre Gründe für
die Behauptung, dieselbe sei schon von Jesu selbst auf
diese Weise vorgetragen worden, nicht ausreichen: ver-
einigen sich beide Ansichten in der dritten, daſs diese nä-
here Bestimmung der Taufe zwar dem ursprünglichen Con-
text des ersten Evangeliums angehöre, ohne jedoch schon
von Jesu so vorgetragen worden zu sein. Überhaupt, sei
[666]Dritter Abschnitt.
es, daſs laut des vierten Evangeliums die Jünger schon zu
Lebzeiten Jesu tauften, oder daſs sie erst nach seinem Tod
diesen Ritus zum Zeichen der Aufnahme in die neue mes-
sianische Gesellschaft machten: jedenfalls war es ganz in
der Art der Sage, die Anweisung dazu, wie zum Aus-
gang in alle Welt, dem scheidenden Christus als lezte
Willenserklärung in den Mund zu legen.
Die Verheissungen, welche Jesus scheidend den Sei-
nigen giebt, beschränken sich bei Matthäus, wo sie aus-
schlieſslich an die Eilfe gerichtet sind, einfach darauf, daſs
er, dem als Messias alle Gewalt im Himmel und auf Er-
den übertragen worden, auch während des gegenwärtigen
αἰὼν immer unsichtbar bei ihnen sei, bis er mit der συντέ-
λεια desselben in beständige sichtbare Gemeinschaft mit ih-
nen treten werde: ganz der Ausdruck des Bewuſstseins,
wie es sich nach Ausgleichung der Schwankungen, welche
der Tod Jesu erregt hatte, in der ersten Gemeinde bil-
dete. — Bei Markus erscheinen die lezten Verheissungen
Jesu aus der Volksmeinung genommen, wie sie zur Zeit
der Abfassung dieses Evangeliums über die wunderbaren
Gaben der Christen gangbar war. Von den σημείοις, wel-
che den Gläubigen überhaupt hier verheiſsen sind, mag
das λαλεῖν γλώσσαις καιναῖς im Sinne von 1 Kor. 14., nur
nicht in dem bereits mythischen von A. G. 2. 5), in der
ersten Gemeinde wirklich vorgekommen sein, ebenso das
δαιμόνια ἐκβάλλειν, und auch daſs Kranke durch den Glau-
ben an die Kraft der ἐπίϑεσις χειρῶν eines Christen gena-
sen, läſst sich auf natürliche Weise denken: dagegen hat
das ὄφεις αἴρειν (vgl. Luc. 10, 19.) und der Genuſs tödtli-
cher Getränke, ohne Schaden zu nehmen, wohl immer nur
in der abergläubischen Volksmeinung eine Stelle gehabt,
und am wenigsten hätte Jesus auf dergleichen Dinge als
[667]Fünftes Kapitel. §. 137.
Zeichen seiner Jüngerschaft einen Werth gelegt. — Bei
Lukas ist der Gegenstand der lezten Verheissung Jesu die
δύουαμις ἐξ ὕψμις, welche er, gemäſs der ἐπαγγελία τοῦ
πατρὸς, den Aposteln schicken, und deren Mittheilung
sie in Jerusalem abwarten sollten (24, 49.), und A. G. 1,
5. ff. bestimmt Jesus diese Kraftmittheilung näher als eine
Taufe mit dem πνεῦμα ἅγιον, welche nach wenigen Tagen
den Jüngern zu Theil werden, und sie zur Verkündigung
des Evangeliums befähigen werde. — Mit diesen Stellen
des Lukas, welche die Mittheilung des heiligen Geistes in
die Tage nach der Himmelfahrt setzen, scheint die Nach-
richt des vierten Evangeliums im Widerspruch zu stehen,
daſs Jesus schon in den Tagen seiner Auferstehung, und
zwar bei der ersten Erscheinung im Kreise der Eilfe, ih-
nen den heiligen Geist mitgetheilt habe. Joh. 20, 22. f.
lesen wir nämlich, daſs Jesus, bei verschlossenen Thüren
erscheinend, die Jünger angeblasen und gesprochen habe:
λάβετε πνεῦμα ἅγιον, womit er die Befugniſs, Sünden zu
erlassen und zu behalten, verbunden habe.
Hätte man über die Mittheilung des πνεῦμα bloſs diese
Stelle, so würde jedermann glauben, die Jünger haben
es schon damals von dem persönlich gegenwärtigen Jesus,
und nicht erst später nach seiner Erhebung zum Himmel,
mitgetheilt bekommen. Aber in harmonistischem Interesse
hat schon Theodor von Mopsvestia, wie jezt Tholuck, ge-
schlossen, das λάβετεbei Johannes müsse in der Bedeu-
tung von λήψεσϑε genommen werden, weil ja nach Lukas
der heilige Geist den Jüngern erst später, am Pfingstfest,
mitgetheilt worden sei. Allein, wie wenn er einer solchen
Verdrehung vorbeugen wollte, fügt der johanneische Jesus
seinen Worten die sinnbildliche Handlung des Anhauchens
hinzu, welche aufs Unverkennbarste das λαμβάνειν des
πνεῦμα als ein gegenwärtiges darstellt 6). Die Ausleger
[668]Dritter Abschnitt.
freilich wissen auch dieses Anblasen zu eludiren, indem
sie ihm den Sinn unterlegen: so gewiſs sie Jesus jezt an-
hauche, so gewiſs sollen sie künftig den heiligen Geist be-
kommen 7). Allein das Anblasen ist eben so entschie-
den Symbol einer gegenwärtigen Mittheilung, als die Hand-
auffegung, und wie also diejenigen, auf welche die Apostel
die Hände legten, auf der Stelle vom πνεῦμα erfüllt wurden:
so muſs sich dieser Stelle zufolge der Verfasser des vierten
Evangeliums gedacht haben, die Apostel haben eben damals
von Jesu den Geist mitgetheilt bekommen. Um nun weder
gegen den klaren Sinn des Johannes leugnen zu müssen,
daſs wirklich schon nach der Auferstehung eine Geistes-
mittheilung an die Jünger stattgefunden, noch auch mit
Lukas in Widerspruch zu kommen, welcher die Ausgies-
sung des Geistes später sezt, nehmen jezt die Ausleger
gewöhnlich Beides an, daſs sowohl damals als später den
Aposteln πνεῦμα verliehen, die frühere Mittheilung am
Pfingstfest nur vermehrt und vollendet worden sei. 8) Oder
näher, indem schon Matth. 10, 20. von dem πνεῦμα τοῦ πατρὸς
die Rede ist, welches die Apostel bei ihrer ersten Missions-
reise unterstützen sollte: so wird angenommen, einige hö-
here Kraft haben sie schon vor jener Reise, bei Lebzeiten
Jesu, bekommen; hier, nach der Auferstehung, habe er
ihnen diese Kraft erhöht; die ganze Fülle des Geistes aber
sei erst am Pfingstfest über sie ausgegossen worden 9).
Aber was nun die Unterschiede dieser Stufen gewesen seien,
und worin namentlich die dieſsmalige Vermehrung der Geistes-
gaben bestanden haben solle, ist, wie schon Michaelis be-
merkt hat, nicht abzusehen. War den Aposteln das er-
stemal die Wunderkraft (Matth. 10, 1. 8.) nebst der Gabe
der Parrhesie vor Gericht (V. 20.) mitgetheilt worden, so
[669]Fünftes Kapitel. §. 137.
könnte es nur etwa noch die richtigere Einsicht in die
Geistigkeit seines Reichs gewesen sein, was ihnen Jesus
durch das Anblasen verlieh: allein diese hatten sie ja un-
mittelbar vor der Himmelfahrt noch nicht, wo sie nach
A. G. 1, 6. fragten, ob mit der Geistesmittheilung in den
nächsten Tagen die Wiederherstellung des Reichs Israël
verbunden sein werde? Nimmt man aber an, nicht neue
Vermögen seien den Jüngern bei jeder folgenden Geistes-
mittheilung verliehen, sondern das mit allen Vermögen schon
in ihnen Vorhandene nur erhöht worden: so muſs es doch
auffallen, daſs kein Evangelist neben einer früheren Mit-
theilung noch einer späteren Vermehrung gedenkt, son-
dern, ausser einer beiläufigen Erwähnung des apologetischen
πνεῦμα bei Lukas (12, 12.), welche, weil sie hier nicht,
wie bei Matthäus, mit einer Aussendung zusammenhängt,
nur als Hinweisung auf die Zeit nach der späteren Aus-
gieſsung des Geistes erscheinen kann, gedenkt jeder bloſs
Einer solchen, und läſst diese die erste und lezte sein:
zum deutlichen Beweis, daſs jene Zusammenstellung dreier
derselben, als verschiedener Stufen, nur durch das har-
monistische Bestreben in die Urkunden hineingetragen ist.
Drei verschiedene Ansichten also über die Mittheilung
des πνεῦμα an die Jünger Jesu finden sich im N. T., wel-
che in zweifacher Hinsicht einen Klimax bilden. Der Zeit
nach nämlich sezt Matthäus die Mittheilung am frühsten:
noch in die Periode des natürlichen Lebens Jesu; Lukas
am spätesten: in die Zeit nach seinem völligen Abschied
von der Erde; Johannes in eine mittlere Zeit: in die Tage
der Auferstehung. Die Fassung des Faktums dieser Mit-
theilung aber ist bei Matthäus die einfachste, am wenig-
sten sinnliche, indem er keinen besondern und äusserlich
anschaulichen Mittheilungsakt hat; Johannes hat bereits
einen solchen in der Handlung des Anblasens; bei Lukas
in der A. G. ist das sanfte Anhauchen zum heftigen Stur-
me geworden, der das Haus bewegt, und mit welchem
[670]Dritter Abschnitt.
sich noch andere wunderbare Erscheinungen verbinden.
Von diesen beiden Stufenreihen steht die eine zur histori-
schen Wahrscheinlichkeit in umgekehrtem Verhältniſs als
die andere. Daſs so früh, wie Matthäus berichtet, das
πνεῦμα, welches, übernatürlich oder natürlich gefaſst,
doch immer die begeisternde Kraft des christlich modifi-
cirten Messianismus ist, den Anhängern Jesu zu Theil ge-
worden sei, wird durch seine eigene weitere Darstellung
widerlegt, laut welcher sie eben jene christliche Modifica-
tion, das Moment des Leidens und Todes im Begriff des
Messias, noch lange nach jener Aussendung Matth. 10.
nicht begriffen hatten, und da jene Instruktionsrede auch
sonst Bestandtheile enthält, welche erst auf spätere Zeiten
und Verhältnisse passen, so kann leicht auch die fragliche
Verheiſsung aus dem späteren Erfolg in jene frühe Zeit
zurückgetragen sein. Erst nach dem Tod und der Auf-
erstehung Jesu läſst sich die Entwicklung dessen, was das
N. T. das πνεῦμα ἅγιον nennt, in den Jüngern denken,
und insofern steht die johanneische Darstellung der Wahr-
heit näher, als die des Matthäus; doch, da gewiſs nicht
schon zwei Tage nach dem Kreuzestode Jesu der im vori-
gen §. beschriebene Umschwung in der Stimmung seiner
Anhänger erfolgt war, so trifft auch der Bericht des Jo-
hannes die Wahrheit nicht so nahe, wie der des Lukas,
welcher doch wenigstens 50 Tage zur Ausbildung der
neuen Ansichten in den Jüngern Frist giebt. — Umgekehrt
stellen sich die Erzählungen zur geschichtlichen Wahrheit
durch den andern Klimax. Denn je sinnlicher uns die
Mittheilung einer geistigen Kraft, je mirakulöser die Aus-
bildung einer Stimmung, welche auf natürliche Weise ent-
stehen konnte, je momentaner endlich die Entstehung ei-
ner Tüchtigkeit, welche nur allmählig sich ausgebildet
haben kann, dargestellt ist: desto weiter liegt eine solche
Darstellung von der Wahrheit ab, und in dieser Hinsicht
stünde ihr also Matthäus am nächsten, Lukas am entfern-
[671]Fünftes Kapitel. §. 137.
testen. Erkennen wir somit in der Darstellung des lezteren
die am weitesten fortgeschrittene Tradition, so kann es Wun-
der nehmen, wie hienach die Überlieferung in entgegenge-
sezter Weise gewirkt haben müſste: in Bezug auf die Be-
stimmung der Art und Form jener Mittheilung von der
Wahrheit entfernend, in Betreff der Zeitbestimmung aber
dem Richtigen annähernd. Doch dieſs erklärt sich, sobald
man bemerkt, daſs auch zu den Änderungen in der Zeit-
bestimmung die Tradition nicht durch kritisches Forschen
nach Wahrheit, welches freilich an ihr befremden müſste,
sondern durch dieselbe Tendenz, jene Mittheilung als ein-
zelnen Wunderakt hinzustellen, verleitet wurde, wie zu
der andern Abänderung. Sollte nämlich Jesus durch ei-
nen besondern Akt seinen Jüngern das πνεῦμα verliehen
haben: so muſste es angemessen erscheinen, diesen Akt in
den Stand seiner Verherrlichung, d. h. also entweder mit Jo-
hannes in die Zeit nach der Auferstehung, oder noch bes-
ser mit Lukas auch noch nach der Himmelfahrt zu ver-
setzen, wie ja das vierte Evangelium ausdrücklich bemerkt,
zu Jesu Lebzeiten habe es noch kein πνεῦμα ἅγιον gege-
ben, ὅτι Ἰησοῦς ἐδέπω ἐδοξάσϑη (7, 39).
Diese Fassung der Ansicht des vierten Evangeliums
über die Mittheilung des Geistes an die Jünger bewährt
sich als die richtige noch dadurch, daſs sie auf eine frü-
her unentschieden gelassene Dunkelheit in diesem Evange-
lium ein unerwartetes Licht zurückwirft. In den Abschieds-
reden Jesu nämlich konnte der Streit nicht geschlichtet
werden, ob das, was Jesus dort von seiner Wiederkunft
sagt, auf die Tage seiner Auferstehung, oder auf die Aus-
gieſsung des Geistes zu beziehen sei, weil für das Erstere
die Beschreibung jener Wiederkunft als eines Wiederse-
hens, für das Leztere die Bemerkung, daſs sie in jener
Zeit ihn nichts mehr fragen, ihn ganz verstehen würden, gleich
entscheidend zu sprechen schien: ein Zwiespalt, der aufs
Erwünschteste geschlichtet ist, wenn nach der Ansicht des
[672]Dritter Abschnitt.
Referenten die Geistesmittheilung in die Tage der Aufer-
stehung fiel. Zunächst zwar sollte man freilich denken,
diese Mittheilung, zumal mit derselben bei Johannes die
förmliche Ernennung der Jünger zu seinen Abgesandten
und die Ertheilung der Vollmacht zur Vergebung und Be-
haltung der Sünden verbunden ist (vgl. Matth. 18, 18.),
möge sich eher an den Schluſs, als für den Anfang der
Erscheinungen des Auferstandenen, und in eine Plenar-
versammlung der Apostel eher, als in eine, wo Thomas
fehlte, geeignet haben; allein deſswegen mit Olshausen
anzunehmen, der Evangelist hänge nur der Kürze wegen
die Geistesmittheilung gleich der ersten Erscheinung an,
während sie eigentlich in eine spätere Zusammenkunft ge-
höre, bleibt immer eine unerlaubte Willkühr, statt deren
man vielmehr anerkennen muſs, daſs der Verfasser des
vierten Evangeliums diese erste Erscheinung Jesu als
die Haupterscheinung, die nach acht Tagen nur als eine
Nachholung zu Gunsten des Thomas angesehen hat. Die
Erscheinung Kap. 21. ist ohnehin ein Nachtrag, der dem
Verfasser, als er das Evangelium schrieb, entweder noch
nicht bekannt, oder doch nicht gegenwärtig war.
§. 138.
Die sogenannte Himmelfahrt als übernatürliches und als na-
türliches Ereigniss.
Über die Himmelfahrt Jesu haben wir im N. T. drei
Berichte, welche in Hinsicht der Ausführlichkeit und An-
schaulichkeit eine Stufenreihe bilden. Markus, in seinem
lezten Abschnitt überhaupt sehr kurz und abgebrochen,
sagt nur, nachdem Jesus zum leztenmal mit seinen Jün-
gern gesprochen hatte, sei er in den Himmel aufgehoben
worden (ἀνελήφϑη) und habe sich zur Rechten Gottes ge-
sezt (16, 19.). Kaum anschaulicher heiſst es im Lukas-
evangelium: Jesus habe seine Jünger ἐξω ἕως εἰς Βηϑανίαν
hinausgeführt, und während er hier mit aufgehobenen
[673]Fünftes Kapitel. §. 138.
Händen ihnen den Segen ertheilte, habe er sich von ihnen
entfernt (διέςη), und sei zum Himmel erhoben worden (ἀνε-
φέρετο), worauf die Jünger anbetend niedergefallen, und
sofort mit Freuden nach Jerusalem umgekehrt seien (24,
50 ff.). Im Eingang der Apostelgeschichte führt dieſs Lu-
kas weiter aus. Auf dem Ölberg, wo Jesus seinen Jün-
gern die lezten Befehle und Verheiſsungen gab, wurde er
vor ihren Augen aufgehoben (ἐπήρϑη), und eine Wolke
nahm ihn auf, die ihn ihren Blicken entzog. Die Jünger
schauten ihm nach, wie er auf der Wolke in den Himmel
hinein sich entfernte: da standen plözlich zwei Männer in
weiſsen Gewändern bei ihnen, und brachten sie von ihrem
Nachsehen durch die Versicherung ab, daſs der ihnen
entnommene Jesus auf dieselbe Weise, wie er so eben in
den Himmel sich erhoben, wieder vom Himmel kommen
werde; worauf sie befriedigt nach Jerusalem umkehrten
(1, 1—12.).
Der erste Eindruck dieser Erzählung ist offenbar,
daſs sie einen wunderbaren Vorgang, eine wirkliche Er-
hebung Jesu in den Himmel, als den Wohnsiz Gottes, und
eine Bestätigung desselben durch Engel berichten wolle,
wie ältere und neuere Orthodoxe mit Recht behaupten.
Es fragt sich nur, ob sie uns auch über die Schwierig-
keiten hinüberhelfen können, welche es hat, einen solchen
Vorgang sich denkbar zu machen. Die eine Hauptschwie-
rigkeit ist, wie ein tastbarer Leib, welcher noch σάρκα καὶ
ὀςέα hat, und materielle Nahrung genieſst, für einen über-
irdischen Aufenthalt tauge, wie er sich auch nur dem Ge-
sez der Schwere so weit zu entziehen vermöge, um eines
Aufsteigens durch die Lüfte fähig zu sein? und wie Gott
eine so widernatürliche Fähigkeit dem Leib Jesu durch ein
Wunder habe geben mögen 1)? Das Einzige, was man
Das Leben Jesu II. Band. 43
[674]Dritter Abschnitt.
hier etwa noch sagen kann, ist, die gröberen Theile, wel-
che der Leib Jesu auch nach der Auferstehung noch hat-
te, seien vor der Himmelfahrt noch entfernt worden, und
nur das feinste Extrakt seiner Körperlichkeit als Hülle
der Seele mit gen Himmel gefahren 2). Allein da die Jün-
ger, welche bei der Himmelfahrt Jesu zugegen waren,
nichts davon bemerkten, daſs von seinem Leib ein Resi-
duum zurückgeblieben wäre: so führt dieſs entweder auf
die oben erwähnte Absurdität einer Verdunstung des Leibs
Jesu in Form der Wolke, oder auf den Olshausen'schen
Läuterungsproceſs, welcher auch nach der Auferstehung
noch nicht, sondern erst im Augenblick der Himmelfahrt
vollendet gewesen sei; ein Proceſs, welcher nur wunder-
lich schnell in dieser lezten Zeit mit retrograden Bewe-
gungen gewechselt haben müſste, wenn doch Jesus bei'm
Eindringen in das verschlossene Versammlungszimmer der
Jünger einen immateriellen, unmittelbar hierauf, als Tho-
mas ihn befühlte, einen materiellen, endlich bei der Him-
melfahrt wieder einen immateriellen Leib gehabt haben
sollte. — Die andere Schwierigkeit liegt darin, daſs nach
richtiger Weltvorstellung der Siz Gottes und der Seligen,
zu welchem Jesus sich erhoben haben soll, keineswegs im
oberen Luftraum, überhaupt an keinem bestimmten Orte
zu suchen ist, sondern dieſs gehört nur zur kindlich be-
schränkten Vorstellungsweise der alten Welt. Wer zu
Gott und in den Bezirk der Seligen kommen will, der, das
wissen wir, macht einen überflüssigen Umweg, wenn er
zu diesem Behuf in die höheren Luftschichten sich empor-
schwingen zu müssen meint, und diesen wird Jesus, je
vertrauter er mit Gott und göttlichen Dingen war, gewiſs
nicht gemacht haben, noch Gott ihn denselben haben ma-
chen lassen 3). Man müſste also nur etwa eine göttliche
[675]Fünftes Kapitel. §. 138.
Accommodation an die damalige Weltvorstellung annehmen,
und sagen, um die Jünger von dem Zurückgang Jesu in
die höhere Welt zu überzeugen, habe Gott, obgleich diese
Welt der Wirklichkeit nach keineswegs im oberen Luft-
raum zu suchen sei, doch das Spectakel einer solchen Er-
hebung veranstaltet: was aber Gott zum täuschenden Schau-
spieler machen heiſst.
Als einen Versuch, solchen Schwierigkeiten und Un-
gereimtheiten uns zu entheben, müssen wir die natürliche
Erklärung dieses Faktums willkommen heiſsen 4). Sie un-
terscheidet in den evangelischen Erzählungen von der Him-
melfahrt das Angeschaute von dem durch Raisonnement
Erschlossenen. Freilich, indem es in der A. G. heiſst:
βλεπόντων αὐτῶν ἐπήρϑη: so scheint hier eben die Erhe-
bung in den Himmel als angeschautes Faktum dargestellt
zu werden. Hier soll nun aber ἐπήρϑη nicht eine Erhe-
bung über den Boden, sondern nur dieſs bedeuten, daſs
Jesus, um die Jünger zu segnen, sich hoch aufgerichtet
habe, und ihnen dadurch erhabener erschienen sei. So-
fort wird aus dem Schluſs des Lukasevangeliums das διέςη
herübergeholt, in der Bedeutung, daſs Jesus, indem er sich
von seinen Jüngern verabschiedete, sich entfernter von ih-
nen gestellt habe. Hierauf sei in ähnlicher Weise, wie auf
dem Verklärungsberg, ein Gewölk zwischen Jesum und
die Jünger getreten, und habe ihn, in Verbindung mit den
zahlreichen Olbäumen des Bergs, ihren Blicken entzogen,
was sie dann auf die Versicherung zweier unbekannten
Männer hin für eine Aufnahme Jesu in den Himmel gehal-
ten haben. Allein, wenn Lukas in der A. G. das ἐπήρϑη
unmittelbar mit der Angabe verbindet: καὶ νεφέλη ὑπέλα-
βεν αὐτὸν: so soll doch wohl jene Erhebung die Einleitung
zu dem Aufgenommenwerden durch die Wolke sein, was
43 *
[676]Dritter Abschnitt.
sie nicht ist, wenn sie nur ein Sichaufrichten, sondern
nur, wenn sie eine Erhebung über den Boden war, da
nur in diesem Falle eine Wolke sich ihm tragend und ver-
hüllend unterschieben konnte, was in ὑπέλαβεν enthalten
ist. Ebenso, wenn im Lukasevangelium das διέςη ἀπ̕ αὐ-
τῶν als etwas ἐν τῷ εὐλογεῖν αὐτὸν αὐτοὺς Vorgegangenes
dargestellt wird, so wird doch Niemand, während er ei-
nem Andern den Segen ertheilt, von ihm weggehen: wo-
gegen es sehr passend erscheint, daſs Jesus während der
Ertheilung des Segens an die Jünger in die Höhe gehoben
wurde, und so noch von oben herab die segnenden Hände
über sie breitete. Die natürliche Erklärung des Verschwin-
dens in der Wolke fällt hiemit von selbst hinweg; in der
Voraussetzung aber, daſs die zwei Weiſsgekleideten natür-
liche Menschen gewesen seien, tritt schlieſslich noch ein-
mal besonders stark die Bahrdtisch-Venturinische, von Pau-
lus nur verdeckte, Ansicht hervor, daſs mehrere Haupt-
epochen im Leben Jesu, besonders seit seiner Kreuzigung,
durch geheime Verbündete bewirkt gewesen seien. Und
Jesus selbst, wie soll es ihm denn dieser Vorstellung ge-
mäſs nach jener lezten Entfernung von seinen Jüngern
weiter ergangen sein? Wollen wir mit Bahrdt eine Es-
senerloge träumen, in welche er sich nach vollbrachtem
Werk zurückgezogen habe? und mit Brennecke dafür,
daſs Jesus noch längere Zeit im Stillen zum Besten der
Menschheit fortgewirkt habe, auf seine Erscheinung zum
Behuf der Bekehrung des Paulus uns berufen, welche
doch, die Erzählung der A. G. geschichtlich genommen,
mit Umständen und Wirkungen verbunden war, die kein
natürlicher Mensch, wenn auch Mitglied eines geheimen
Ordens, hervorbringen konnte. Oder will man mit Pau-
lus annehmen, bald nach dieser lezten Zusammenkunft sei
der angegriffene Leib Jesu den erhaltenen Verletzungen
erlegen: so kann dieſs doch nicht wohl in den nächsten
Augenblicken, nachdem er so eben noch rüstig mit seinen
[677]Fünftes Kapitel. §. 139.
Jüngern zusammen gewesen war, geschehen sein, so daſs
die zwei hinzutretenden Männer Zeugen seines Verschei-
dens gewesen wären, welche übrigens auch in diesem Fall
gar nicht der Wahrheit gemäſs gesprochen hätten; lebte
er aber noch längere Zeit, so müſste er die Absicht gehabt
haben, von jenem Zeitpunkt an bis zu seinem Ende in
der Verborgenheit einer geheimen Gesellschaft zu leben,
der dann wohl auch die zwei Weiſsgekleideten angehör-
ten, welche den Jüngern, ohne Zweifel mit seinem Vor-
wissen, seine Erhebung zum Himmel einredeten, — eine
Vorstellung, von welcher sich auch hier, wie immer, der
gesunde Sinn mit Widerwillen abwendet.
§. 139.
Das Ungenügende der Nachrichten über Jesu Himmelfahrt.
Deren mythische Auffassung.
Am wenigsten unter allen N. T. lichen Wunderge-
schichten war bei der Himmelfahrt ein solcher Aufwand un-
natürlichen Scharfsinns nöthig, da die historische Geltung
dieser Erzählung so besonders schwach verbürgt ist. Mat-
thäus und Johannes, der gewöhnlichen Vorstellung nach die
beiden Augenzeugen unter den Evangelisten, erwähnen
ihrer nicht; nur Markus und Lukas berichten dieselbe;
während auch in den übrigen N. T. lichen Schriften be-
stimmte Hinweisungen auf sie fehlen. Doch eben dieses
Fehlen der Himmelfahrt im übrigen N. T. leugnen die or-
thodoxen Ausleger. Wenn Jesus Lei Matthäus (26, 64.)
vor Gericht versichere, von jezt an werde man des Men-
schen Sohn zur Rechten der Kraft Gottes sitzen sehen: so
sei hiebei doch wohl auch eine Erhebung dahin, mithin
eine Himmelfahrt, vorausgesezt; wenn er bei Johannes (3,
13.) sage, keiner sei in den Himmel gestiegen, ausser dem
vom Himmel gekommenen Menschensohn, und ein ander-
mal (6, 62.) die Jünger darauf verweise, daſs sie ihn einst
dahin würden aufsteigen sehen, wo er vorher gewesen sei;
[678]Dritter Abschnitt.
ferner, wenn er am Morgen nach der Auferstehung erklä-
re, noch nicht zu seinem Vater aufgestiegen zu sein, aber
demnächst sich dahin zu erheben (20, 17.): so könne es
deutlichere Hinweisungen auf die Himmelfahrt nicht wohl
geben; ebenso, wenn die Apostel in den Akten so oft von
Erhöhung Jesu zur Rechten Gottes sprechen (2, 33. 5, 31.
vgl. 7, 56.), und Paulus ihn als ἀναβὰς ὑπεράνω πάντων
τῶν οὐρανῶν (Eph. 4, 10.), Petrus als πορευϑεὶς εἰς οὐρανὸν
darstelle (1 Petr. 3, 22.): so könne kein Zweifel sein,
daſs sie nicht alle von seiner Himmelfahrt gewuſst ha-
ben 5). Alle diese Stellen jedoch, mit Ausnahme etwa der
einzigen Joh. 6, 62., welche von einem ϑεωρεῖν ἀναβαί-
νοντα τὸν υἱὸν τοῦ ἀνϑρώπου spricht, enthalten nur überhaupt
eine Erhebung in den Himmel, ohne Andeutung, daſs sie
ein äusseres, sichtbares, und zwar von den Jüngern mitan-
geschautes Faktum gewesen. Vielmehr, wenn wir 1 Kor.
15, 5 ff. finden, wie Paulus die ihm zu Theil gewordene
Erscheinung Jesu, welche lange nach der voraussezlichen
Himmelfahrt stattfand, mit den Christophanieen vor dieser
Epoche so ohne alle Unterbrechung oder Andeutung ir-
gend eines Unterschieds zusammenstellt: so muſs man
zweifeln, nicht bloſs, ob alle Erscheinungen, die er ausser
der seinigen aufzählt, vor die Himmelfahrt fallen 6), son-
dern, ob der Apostel überhaupt von einer Himmelfahrt
als äusserem, den irdischen Wandel des Auferstandenen
beschlieſsenden Faktum etwas gewuſst haben könne? In
Bezug auf den Verfasser des vierten Evangeliums aber
zwingt uns bei seiner Bildersprache das ϑεωρῆτε schwer-
lich, ihm ein Wissen um die sichtbare Himmelfahrt Jesu
[679]Fünftes Kapitel. §. 139.
zuzuschreiben, da er von einer solchen am Schlusse seines
Evangeliums nichts erzählt.
Die Ausleger freilich haben sich alle ersinnliche Mü-
he gegeben, das Fehlen einer Erzählung von der Himmel-
fahrt im ersten und vierten Evangelium auf eine, der Au-
ctorität dieser Schriften, wie der historischen Geltung jenes
Faktums, unschädliche Weise zu erklären. Die Himmel-
fahrt Jesu zu erzählen, soll den Evangelisten, welche sie
verschweigen, theils als unnöthig, theils als unmöglich er-
schienen sein. Als unnöthig entweder an und für sich, we-
gen der minderen Wichtigkeit des Ereignisses 7), oder mit
Rücksicht auf die evangelische Überlieferung, durch wel-
che sie allgemein bekannt war 8); Johannes insbesondre
soll sie aus Markus und Lukas voraussetzen 9); oder end-
lich sollen sie dieselbe, als nicht mehr zum irdischen Le-
ben Jesu gehörig, in ihren Schriften, die nur der Beschrei-
bung dieses Lebens gewidmet waren, übergangen haben 10).
Allein zum Leben Jesu, und zwar namentlich zu dem räth-
selhaften, wie er es nach der Rückkehr aus dem Grabe
geführt haben soll, gehörte die Himmelfahrt so nothwen-
dig als Schluſspunkt, daſs dieselbe, gleichviel, ob allgemein
bekannt oder nicht, ob wichtig oder unwichtig, schon um
des ästhetischen Interesses willen, das auch der ungebildete
Schriftsteller hat, seiner Erzählung einen Schluſs zu ge-
ben, von jedem Evangelienschreiber, der von derselben
wuſste, am Ende seines Berichts, wenn auch noch so sum-
marisch, erwähnt werden muſste, um den sonderbaren Ein-
[680]Dritter Abschnitt.
druck zu vermeiden, welchen das erste, und noch mehr
das vierte Evangelium, als in's Unbestimmte auslaufende
Erzählungen, machen. Daher sollen nun der erste und
der vierte Evangelist einen Bericht über die Himmelfahrt
Jesu auch gar nicht für möglich gehalten haben, indem
die Augenzeugen, so lange sie ihm auch nachsahen, doch
nur sein Emporschweben auf der Wolke, nicht aber sei-
nen Eingang in den Himmel und sein Plaznehmen zur
Rechten Gottes haben mit ansehen können 11). Allein in
der Vorstellungsweise der alten Welt, welcher der Him-
mel näher war als uns, galt ein Auffahren in die Wolken
schon für eine wirkliche Himmelfahrt, wie wir an Romu-
lus und Elias sehen.
Das hienach unleugbare Nichtwissen der genannten
Evangelien um die Himmelfahrt nun aber mit der neueren
Kritik des ersten Evangeliums diesem als Zeichen nicht
apostolischen Ursprungs zum Vorwurf zu machen 12), ist
hier um so weniger am Ort, da das fragliche Ereigniſs
nicht bloſs durch das Stillschweigen zweier Evangelisten,
sondern auch durch die Nichtübereinstimmung derer, die
es berichten, verdächtig wird. Markus stimmt nicht mit
Lukas, ja dieser nicht mit sich selbst überein. Nach dem
Bericht des ersteren hat es den Anschein, als hätte Je-
sus unmittelbar von dem Mahle, bei welchem er den Eil-
fen erschien, also von einem Hause in Jerusalem aus, sich
in den Himmel erhoben; denn das ἀνακειμένοις — ἐφανε-
ρώϑη· καὶ ὠνείδισε — καὶ εἶπεν —. Ὁ μὲν οὖν Κύριος, μετὰ
τὸ λαλῆσαι αὐτοῖς, ἀνελήφϑη κ. τ. λ. hängt unmittelbar
zusammen, und es läſst sich hier nur mit Gewalt eine
Ortsveränderung und Zwischenzeit einschieben 13). Frei-
lich ist eine Himmelfahrt vom Zimmer aus nicht gut sich
[681]Fünftes Kapitel. §. 139.
vorzustellen, daher läſst sie Lukas im Freien vor sich ge-
hen. Die Differenz in der Ortsangabe, daſs er im Evan-
gelium Jesum mit den Jüngern ἕως εἰς Βηϑανίαν hinausge-
hen läſst, in den Akten aber die Scene auf das ὄρος τὸ
καλου̍μενον ἐλαιῶνα verlegt, kann dem Lukas nicht als Wi-
derspruch angerechnet werden, da Bethanien am Ölberg
lag; wohl aber die bedeutende Abweichung in der Zeit-
angabe, daſs in seinem Evangelium, wie bei Markus, es
den Anschein hat, als wäre die Himmelfahrt noch am
nämlichen Tag mit der Auferstehung erfolgt: wogegen in
der A. G. ausdrücklich bemerkt ist, daſs beide Erfolge
durch eine Frist von 40 Tagen getrennt gewesen. Es ist
schon angemerkt worden, daſs die leztere Zeitbestimmung
dem Lukas in der Zwischenzeit zwischen der Abfassung
des Evangeliums und der A. G. zugekommen sein muſs.
Von je mehreren Erscheinungen des Auferstandenen man
sich erzählte, und an je verschiedenere Orte man sie ver-
legte, desto weniger reichte fernerhin die kurze Frist ei-
nes Tags für den irdischen Wandel des Auferstandenen
zu; daſs aber die nothwendig gewordene längere Zeit ge-
rade auf 40 Tage festgesezt wurde, hatte in der Rolle sei-
nen Grund, welche bekanntlich diese Zahl in der jüdi-
schen und bereits auch in der christlichen Sage spielte.
Wie das Volk Israël 40 Jahre in der Wüste, Moses 40
Tage auf dem Sinai gewesen war, er und Elias 40 Tage
gefastet, und Jesus selbst vor der Versuchung so lange in
der Wüste ohne Nahrung sich aufgehalten hatte, wie
alle diese geheimniſsvollen Mittelzustände und Durchgangs-
perioden durch die Zahl 40 bestimmt waren: so bot sie
sich ganz besonders auch zur Bestimmung der mysteriösen
Zwischenzeit zwischen Jesu Auferstehung und Himmelfahrt
dar 14).
[682]Dritter Abschnitt.
Was die Schilderung des Vorgangs selber betrifft, so
könnte man das Schweigen des Markus und Lukas im
Evangelium von Wolke und Engeln lediglich der Kürze ih-
rer Erzählungen zuschreiben wollen; doch da Lukas am
Schlusse seines Evangeliums das Verhalten der Jünger,
wie sie dem in den Himmel entrückten Jesus fuſsfällige Vereh-
rung gebracht und mit groſser Freude sich nach der Stadt
zurückbegeben haben, umständlich genug erzählt: so wür-
de er ohne Zweifel die ihnen durch Engel zu Theil ge-
wordne Kunde als nächsten Grund ihrer Freude bemerk-
lich gemacht haben, wenn er schon bei Abfassung seiner
ersten Schrift etwas von derselben gewuſst hätte, welche
sich hiernach vielmehr allmählig in der Überlieferung aus-
gebildet zu haben scheint, um auch diesem lezten Punkt
des Lebens Jesu seine Ehre anzuthun, und das unzuläng-
liche menschliche Zeugniſs über seine Erhebung in den
Himmel durch zweier himmlischen Zeugen Mund bekräf-
tigt werden zu lassen. Endlich auch in der Angabe über
die Rückkehr der Jünger und was sie nach derselben vor-
genommen, findet eine Discrepanz der Berichte statt. Un-
gerechnet nämlich, daſs man nach dem Schlusse des Mar-
kus: ἐκεῖνοι δὲ ἐξελϑόντες ἐκήρυξαν κ. τ. λ., glauben könnte,
die Jünger seien unmittelbar von dem Schauspiel der
Himmelfahrt zur Verkündigung in alle Welt ausgegangen,
was doch vielleicht nur ein Schein ist, der aus der Kürze
und Abgebrochenheit des Schlusses am zweiten Evange-
lium entsteht: bestimmt Lukas den Aufenthalt der Jünger
von der Himmelfahrt bis zum Pfingstfest in seinen beiden
Schriften auf verschiedene Weise. Nach dem Schluſs des
Evangeliums nämlich waren die zurückgekehrten Jünger
διαπαντὸς ἐν τῷ ἱερῷ, αἰνοῦντες καὶ εὐλογοῦντες τὸν ϑεὸν:
nach dem Eingang der A. G. dagegen ἀνέβησαν εἰς ὑπε-
ρῷονοὖἦσαν καταμένοντες. Diese Abweichung könnte man
durch die Bemerkung ausgleichen wollen, daſs ja der
Aufenthalt im Tempel den im oberen Stockwerk eines
[683]Fünftes Kapitel. §. 139.
Hauses nicht ausschlieſse: aber, die meiste Zeit im Tem-
pel sein (dieſs sagt doch wohl das διαπαντὸς), und, ge-
wöhnlich im oberen Stockwerk sich aufhalten (καταμένον-
τες) schlieſst einander aus. Man kann in dieser Differenz
ein Fortschreiten der christlichen Selbstständigkeit erbli-
cken. Zunächst fand man kein Arges darin, die Jünger
nach der Rückkehr von Jesu Himmelfahrt im alten Natio-
nalheiligthum ihre andächtigen Zusammenkünfte halten zu
lassen; bald aber erschien dieſs zu jüdisch, und sie muſs-
ten zu dem Ende ein eigenes ὑπερῷον beziehen: von dem
jüdischen Tempel trennte sich der christliche Versamm-
lungssaal.
Wie hienach diejenigen, welche von einer Himmel-
fahrt Jesu wuſsten, diese in Bezug auf die näheren Um-
stände sich keineswegs auf dieselbe Weise vorstellten: so
muſs es überhaupt vom lezten Schluſs des Lebens Jesu
zweierlei Vorstellungsweisen gegeben haben, indem die Einen
diesen Schluſs als eine sichtbare Himmelfahrt dachten, die
Andern nicht 15). Wenn Matthäus Jesum vor Gericht
seine Erhebung zur Rechten der göttlichen Kraft vorher-
sagen (26, 64.), und nach seiner Auferstehung ihn versi-
chern läſst, daſs ihm nun πᾶσα ἐξουσία ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς ge-
geben sei (28, 18.), dennoch aber von einer sichtbaren Him-
melfahrt nichts hat, vielmehr Jesu die Versicherung in
den Mund legt: ἐγὼ μεϑ̕ ὑμῶν εἰμι πάσας τὰς ἡμέρας ἕως
τῆς συντελείας τοῦ αἰῶνος (V. 20.): so liegt hier offenbar
die Vorstellung zu Grunde, daſs Jesus, ohne Zweifel
schon bei der Auferstehung, unsichtbar zum Vater aufge-
stiegen, zugleich unsichtbar immer um die Seinigen sei,
und aus dieser Verborgenheit heraus sich, so oft er es
nöthig finde, in Christophanien offenbare; auch der Verfas-
[684]Dritter Abschnitt.
ser des vierten Evangeliums und die übrigen N. T.lichen
Schriftsteller setzen nur das voraus, was nach dem messia-
nischen κάϑου ἐκ δεξιῶν μου, Ps. 110, 1. vorausgesezt wer-
den muſste, daſs Jesus sich zur Rechten Gottes erhoben
habe, ohne über das Wie etwas zu bestimmen, oder sich
die Auffahrt dahin als eine sichtbare vorzustellen. Doch
muſste es der urchristlichen Phantasie sehr nahe liegen,
diese Erhebung auch zum glänzenden Schauspiele auszu-
malen. Lieſs man den Messias Jesus an einem so erhabe-
nen Ziele angekommen sein: so wollte man ihm auch auf
dem Wege dahin gleichsam nachsehen. Erwartete man seine
einstige Wiederkunft vom Himmel nach Daniel als sichtba-
res Herabkommen in den Wolken: so ergab es sich von
selbst, seinen Hingang zum Himmel als sichtbares Aufstei-
gen auf einer Wolke vorzustellen, und wenn Lukas die
beiden Weiſsgekleideten, welche nach der Wegnahme Jesu
zu den Jüngern traten, sagen läſst: οὖτος ὁ Ἰησοῦς, ὁ ἀνα-
ληφϑεὶς ἀφ̕ ὑμῶν εἰς τὸν οὐρανὸν, ου͑̍τως ἐλεύσεται, ὃν τρόπον
ἐϑεάσασϑε αὐτὸν πορευόμενον εἰς τὸν οὐρανόν (A. G. 1, 11.):
so darf man dieſs nur umkehren, um die Genesis der Vor-
stellung von der Himmelfahrt Jesu zu haben, indem nämlich
geschlossen wurde: wie Jesus dereinst vom Himmel wie-
derkommen wird: so wird er wohl auch dahin gegangen
sein 16).
Neben diesem Hauptmoment treten die A. T.lichen
Vorgänge, welche die Himmelfahrt Jesu an der Hinweg-
nahme des Henoch (1. Mos. 5, 24. vgl. Sir. 44, 16. 49,
16. Hebr. 11, 5.) und besonders an der Himmelfahrt des
Elia (2. Kön. 2, 11. vgl. Sir. 48, 9. 1. Macc. 2, 58.) hat,
sammt den griechischen und römischen Apotheosen eines
Herakles und Romulus, in den Hintergrund zurück. Ob
von den lezteren die Verfasser des zweiten und dritten
Evangeliums Kunde hatten, steht dahin; die Notiz von
[685]Fünftes Kapitel. §. 139.
Henoch ist zu unbestimmt; bei Elia aber eignete sich der
Flammenwagen mit den Feuerrossen für den milderen Geist
Christi nicht, statt dessen die Wolke aus der späteren
Darstellung der Wegnahme des Moses genommen zu sein
scheinen könnte, wenn diese nur sonst nicht zu verschie-
den wäre 17). Nur Ein Zug in der Erzählung der A. G.
erklärt sich vielleicht aus der Geschichte des Elias. Als
nämlich dieser vor seiner Hinwegnahme von seinem Die-
ner Elisa gebeten wurde, ihm sein πνεῦμα in verdoppel-
tem Maaſse zurückzulassen: knüpfte der Prophet die Ge-
währung dieses Wunsches an die Bedingung: ἐὰν ἴδῃς με
ἀναλαμβανόμενον ἀπό σου, καὶ ἔςαι σοιου͑̍τως· καὶ ἐὰν μὴ, οὐ μὴ
γένηται (V. 9. f. LXX.), woraus erhellen könnte, warum
Lukas (A. G. 1, 9.) auf das βλεπόντων αὐτῶν ἐπήρϑη Ge-
wicht legt, weil nämlich gemäſs dem Vorgang mit Elia dieſs
erfordert zu werden schien, wenn die Schüler den Geist
des Meisters bekommen sollten.
[686]
Schlussabhandlung.
Die dogmatische Bedeutung des
Lebens Jesu.
§. 140.
Nothwendiger Übergang der Kritik in das Dogma.
Durch die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung ist
nun, wie es scheint, Alles, was der Christ von seinem Je-
sus glaubt, vernichtet, alle Ermunterungen, die er aus die-
sem Glauben schöpft, sind ihm entzogen, alle Tröstungen
geraubt. Der unendliche Schaz von Wahrheit und Leben,
an welchem seit achtzehn Jahrhunderten die Menschheit
sich groſsgenährt, scheint hiemit verwüstet, das Erhaben-
ste in den Staub gestürzt, Gott seine Gnade, dem Men-
schen seine Würde genommen, das Band zwischen Him-
mel und Erde zerrissen zu sein 1). Mit Abscheu wendet
sich von so ungeheurem Frevel die Frömmigkeit ab, und
aus der unendlichen Selbstgewiſsheit ihres Glaubens heraus
thut sie den Machtspruch: eine freche Kritik möge versu-
chen, was sie wolle, dennoch bleibe Alles, was von Chri-
sto die Schrift aussage und die Kirche glaube, ewig wahr,
und dürfe kein Jota davon fallen gelassen werden. So er-
giebt sich am Schlusse der Kritik von Jesu Lebensgeschichte
die Aufgabe, das kritisch Vernichtete dogmatisch wieder-
herzustellen.
[687]Schluſsabhandlung. §. 140.
Diese Aufgabe scheint zunächst nur eine Forderung
des Gläubigen an den Kritiker zu sein, jedem dieser bei-
den für sich aber sich nicht zu stellen: der Gläubige als
solcher, scheint es, bedarf keiner Wiederherstellung des
Glaubens, weil dieser in ihm durch keine Kritik vernich-
tet worden ist; der Kritiker als solcher nicht, weil er die-
se Vernichtung ertragen kann. So gewinnt es das Anse-
hen, als ob der Kritiker, wenn er aus dem Brande, den
seine Kritik angerichtet, doch das Dogma noch retten will,
für seinen Standpunkt etwas Unwahres unternähme, so-
fern er, was ihm selbst kein Kleinod ist, aus Accommo-
dation an den Glauben als solches behandelt; in Bezug auf
den Standpunkt des Gläubigen aber etwas Überflüssiges,
indem er sich mit der Rettung von etwas bemüht, was für
den, welchem es angehört, gar nicht gefährdet ist.
Dennoch verhält es sich bei näherer Betrachtung an-
ders. Wenn gleich nicht entwickelt, so ist doch an sich
in jedem Glauben, der noch nicht Wissen ist, der Zwei-
fel mitgesezt; der gläubigste Christ hat doch die Kritik als
verborgenen Rest des Unglaubens, oder besser als negati-
ven Keim des Wissens, in sich, und nur aus dessen be-
ständiger Niederhaltung geht ihm der Glaube hervor, der
also auch in ihm wesentlich ein wiederhergestellter ist.
Ebenso aber wie der Gläubige an sich Zweifler oder Kri-
tiker, ist auch umgekehrt der Kritiker an sich der Gläu-
bige. Sofern er sich nämlich vom Naturalisten und Frei-
geist unterscheidet, sofern seine Kritik im Geiste des neun-
zehenten Jahrhunderts wurzelt und nicht in früheren, ist
er mit Achtung vor jeder Religion erfüllt, und namentlich
des Inhalts der höchsten Religion, der christlichen, als iden-
tisch mit der höchsten philosophischen Wahrheit sich be-
wuſst, und wird also, nachdem er im Verlauf der Kritik
durchaus nur die Seite des Unterschieds seiner Überzeu-
gung vom christlichen Geschichtsglauben hervorgekehrt hat,
[688]Schluſsabhandlung. §. 140.
das Bedürfniſs fühlen, nun ebenso auch die Seite der Iden-
tität zu ihrem Rechte zu bringen.
Zunächst, indem unsre Kritik zwar in aller Ausführ-
lichkeit vollzogen worden, aber nunmehr an dem Bewuſst-
sein vorübergegangen ist, fällt sie demselben wieder zur
Einfachheit des unentwickelten Zweifels zusammen, gegen
welchen sich das glaubige Bewuſstsein mit einem ebenso
einfachen Veto kehrt, und nach Zurückweisung desselben
das Geglaubte in unverkümmerter Fülle wieder ausbreitet.
Indem aber hiemit die Kritik nur beseitigt, nicht überwun-
den ist, wird das Geglaubte nicht wahrhaft vermittelt, son-
dern bleibt in seiner Unmittelbarkeit. Scheint so, indem
gegen diese Unmittelbarkeit abermals die Kritik sich keh-
ren muſs, der eben vollendete Proceſs sich zu wiederholen,
und wir zum Anfang der Untersuchung zurückgeworfen
zu sein: so thut sich doch zugleich eine Differenz hervor,
welche die Sache weiter führt. Bisher war Gegenstand
der Kritik der christliche Inhalt, wie er in den evange-
lischen Urkunden als Geschichte Jesu vorliegt: nun dieser
durch den Zweifel in Anspruch genommen ist, reflectirt er
sich in sich, sucht eine Freistätte im Innern der Glaubi-
gen, wo er aber nicht als bloſse Geschichte, sondern als
in sich reflectirte Geschichte, d. h. als Bekenntniſs und
Dogma, vorhanden ist. Erwacht daher allerdings auch ge-
gen das in seiner Unmittelbarkeit auftretende Dogma, wie
gegen jede Unmittelbarkeit, die Kritik als Negativität und
Streben nach Vermittlung: so ist diese doch nicht mehr,
wie bisher, historische, sondern dogmatische Kritik, und
erst durch beide hindurchgegangen, ist der Glaube wahr-
haft vermittelt, oder zum Wissen geworden.
Dieses zweite Stadium, welches der Glaube zu durch-
laufen hat, müſste eigentlich ebenso wie das erste Ge-
genstand eines eigenen Werkes sein: hier soll es nur in
seinen Grundzügen verzeichnet werden, um die historische
[689]Schluſsabhandlung. §. 141.
Kritik nicht ohne Aussicht auf ihr leztes Ziel abzubrechen,
welches erst jenseits der dogmatischen liegt.
§. 141.
Die Christologie des orthodoxen Systems.
Der dogmatische Gehalt des Lebens Jesu in seiner Un-
mittelbarkeit festgehalten und auf diesem Boden ausgebil-
det, ist die orthodoxe Lehre von Christo.
Ihren Grundzügen nach findet sie sich schon im N. T.
Die Wurzel des Glaubens an Jesum war die Überzeugung
von seiner Auferstehung. Der Getödtete, schien es, wenn
auch noch so groſs einst im Leben, könne der Messias
nicht gewesen sein: die wundervolle Wiederbelebung be-
wies um so stärker, daſs er es war. Durch die Aufer-
weckung aus dem Schattenreich befreit, und zugleich über
die Sphäre irdischer Menschheit hinausgehoben, war er
nun in die himmlischen Regionen versezt, hatte seinen
messianischen Siz zur Rechten Gottes eingenommen (A. G.
2, 32. ff. 3, 15. ff. 5, 30. ff. und sonst). Nun erschien
sein Tod als Haupttheil seiner messianischen Bestimmung:
nach Jes. 53. hatte er ihn für die Sünden des Volks und
der Menschheit erlitten (A. G. 8, 32. ff. vgl. Matth. 20, 28.
Joh. 1, 29. 36. 1 Joh. 2, 2.); sein am Kreuz vergossenes
Blut wirkte, wie dasjenige, welches am Versöhnungsfest
der Hohepriester gegen den Deckel der Bundeslade sprengte
(Röm. 3, 25.); er war das reine Lamm, durch dessen
Blut die Gläubigen losgekauft sind (1 Petr. 1, 18. f.); der
ewige, sündlose Hohepriester, der durch Darbringung sei-
nes eigenen Leibes mit Einemmale bewirkt hat, was die
jüdischen Priester durch unendlich wiederholte Thieropfer
nicht auszurichten im Stande waren (Hebr. 10, 10. ff. u. s.).
Aber auch von jeher schon konnte der jezt zur Rechten
Gottes erhöhte Messias kein gewöhnlicher Mensch gewe-
sen sein: nicht bloſs war er mit dem göttlichen Geiste
in höherem Maaſs, als je ein Prophet, gesalbt (A. G. 4, 27.
Das Leben Jesu II. Band. 44
[690]Schluſsabhandlung. §. 141.
10, 38.), und hatte durch Wunder und Zeichen sich als
göttlichen Gesandten erwiesen (A. G. 2, 22.), sondern, wie
man es sich nun vorstellen mochte, war er entweder überna-
türlich durch den heiligen Geist erzeugt (Matth. u. Luc. 1.),
oder als Gottes Weisheit und Wort in einen irdischen
Leib herabgekommen (Joh. 1.). Da er schon vor seinem
menschlichen Auftreten im Schooſs des Vaters, in göttlicher
Majestät, gewesen war (Joh. 17, 5.): so war sein Herab-
kommen in die Menschenwelt und besonders seine Hingabe
in den schmachvollen Tod eine Erniedrigung, die er aus
freiem Triebe zum Besten der Menschen auf sich nahm
(Phil. 2, 5 ff.). Der Auferstandene und zum Himmel Ge-
fahrene, wie er einst zur Auferweckung der Todten und
zum Gerichte wiederkehren wird (A. G. 1, 11. 17, 31.):
so nimmt er auch jezt schon als Theilhaber an der
Weltregierung (Matth. 28, 18.) der Gemeinde sich an (Röm.
8, 34. 1 Joh. 2, 1.), und wie jezt an der Weltregierung,
so hat er auch schon an der Weltschöpfung Theil genom-
men (Joh. 1, 3, 10. Kol. 1, 16.).
Welche Fülle von beseligenden und erhabenen, er-
munternden und tröstlichen Gedanken floſs der ersten Ge-
meinde aus diesen Vorstellungen über ihren Christus!
Durch die Sendung des Sohnes Gottes in die Welt, durch
seine Hingabe für die Welt in den Tod, sind Himmel und
Erde versöhnt (2 Kor. 5, 18 ff. Eph. 1, 10. Kol. 1, 20.);
durch diese höchste Aufopferung ist den Menschen die Lie-
be Gottes sicher verbürgt (Röm. 5, 8 ff. 8, 31 ff. 1 Joh.
4, 9.), und die freudigste Hoffnung ihnen eröffnet. Ist der
Sohn Gottes Mensch geworden: so sind die Menschen sei-
ne Brüder, als solche gleichfalls Kinder Gottes, und Mit-
erben Christi an dem Schatze göttlicher Seligkeit (Röm.
S, 16 f. 29.). Das knechtische Verhältniſs der Menschen
zu Gott, wie es unter dem Gesez stattfand, hat aufgehört,
an die Stelle der Furcht vor den Strafen, mit welchen
das Gesez drohte, ist Liebe getreten (Röm. 8, 15. Gal. 4,
[691]Schluſsabhandlung. §. 141.
1 ff.). Vom Fluch des Gesetzes sind die Gläubigen dadurch
losgekauft, daſs Christus sich für sie demselben hingab,
indem er eine Todesart erduldete, auf welche das Gesez
den Fluch gelegt hat (Gal. 3, 13.). Nun haben wir nicht
mehr das Unmögliche zu leisten, daſs wir alle Forderun-
gen des Gesetzes erfüllen müſsten (Gal. 3, 10 f.) — eine
Aufgabe, welche der Erfahrung zufolge kein Mensch löst
(Röm. 1, 18—3, 20.), seiner sündigen Natur nach keiner
lösen kann (Röm. 5, 12 ff.), und welche den, der sie zu
lösen strebt, nur immer tiefer in den unseligsten Kampf
mit sich selbst verwickelt (Röm. 7, 7 ff.): sondern wer an
Christum glaubt, der versöhnenden Kraft seines Todes ver-
traut, der ist von Gott begnadigt; nicht durch Werke und
eigene Leistungen, sondern umsonst durch die freie Gna-
de Gottes wird der Mensch, der sich ihr hingiebt, vor Gott
gerecht, wodurch zugleich alle Selbsterhebung ausgeschlos-
sen ist (Röm. 3, 31 ff.). Indem das mosaische Gesez, dem
er mit Christo gestorben ist, den Gläubigen nicht mehr
verbinden kann (Röm. 7, 1 ff.), indem namentlich durch
das ewige und vollgültige Opfer Christi der jüdische Opfer-
und Priesterdienst aufgehoben ist (Hebr.), ist die Schei
dewand gefallen, welche Juden und Heiden trennte: diese,
sonst fern und fremd der Theokratie, gottverlassen und
hoffnungslos in der Welt, sind zur Theilnahme an dem neuen
Gottesbunde herbeigerufen, und ihnen freier Zutritt zum
väterlichen Gott verschafft worden; so daſs nunmehr die
beiden, sonst feindlich getrennten Theile der Menschheit
in Frieden miteinander Glieder am Leibe Christi, am gei-
stigen Bau seiner Gemeinde sind (Eph. 2, 11 ff.). Jener
rechtfertigende Glaube an den Tod Christi aber ist we-
sentlich zugleich ein geistiges mit ihm Sterben, nämlich
ein Absterben der Sünde, und wie Christus aus dem Tode
zu neuem unsterblichem Leben auferstanden ist: so soll
auch der an ihn Gläubige aus dem Tod der Sünde zu ei-
nem neuen Leben der Gerechtigkeit und Heiligkeit aufer-
44 *
[692]Schluſsabhandlung. §. 141.
stehen, den alten Menschen abthun und einen neuen an-
ziehen (Röm. 6, 1 ff.). Dazu steht ihm Christus selbst mit
seinem Geiste bei, welcher diejenigen, die er beseelt, mit
geistigem Streben erfüllt und immer mehr von der Knecht-
schaft der Sünde frei macht (Röm. 8, 1 ff.). Ja nicht bloſs
geistig jezt, sondern einst auch leiblich werden diejenigen,
in welchen der Geist Christi wohnt, durch ihn belebt, in-
dem Gott durch Christum am Ende dieses Weltlaufs ihre
Leiber auferwecken wird, wie er den Leib Christi aufer-
weckt hat (Röm. 8, 11.). Christus, den die Bande des To-
des und der Unterwelt nicht halten konnten (A. G. 2, 24.),
hat beide auch für uns besiegt, und den Gläubigen die
Furcht vor diesen höchsten Mächten der Endlichkeit be-
nommen (Röm. 8, 38 f. 1 Kor. 15, 55 ff. Hebr. 2, 14 f.
Seine Auferweckung, wie sie seinem Tod erst die versöh-
nende Kraft verleiht (Röm. 4, 25.), so ist sie zugleich die
Bürgschaft unsrer eigenen künftigen Auferstehung, unsres
Antheils an Christo in einem künftigen Leben, in seinem
messianischen Reiche, zu dessen Seligkeit er bei seiner Wie-
derkunft alle die Seinigen einführen wird (1 Kor. 15.).
Inzwischen aber dürfen wir uns getrösten, an ihm einen
Fürsprecher bei Gott zu haben, der aus eigener Erfah-
rung von der Schwäche und Gebrechlichkeit der Menschen-
natur, die er selbst angezogen hatte, und in der er in al-
len Stücken versucht wurde, doch ohne Sünde, weiſs,
wie vieler Nachsicht und Nachhülfe wir bedürfen (Hebr.
2, 17 f. 4, 15 f.).
Den Reichthum dessen, was der Glaube an Christo
hatte, in bestimmte Formeln zusammenzufassen, war sei-
nen Anhängern schon frühe Bedürfniſs. Sie prieſsen ihn
als
Χριςὸς ὁ ἀποϑανὼ;ν, μᾶλλον δὲ καὶ ἐγερϑεὶς, ὃς καὶ
ἔςιν ἐν δεξιᾷ τοῦ ϑεοῦ, ὃς καὶ ἐντυγχάνει ὑπὲρ ἡμῶν (Röm.
8, 34.); oder genauer hieſs er Ἰ. Χ. ὁ κύριος, γενόμενος ἐκ
σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα, ὁρισϑεὶς υἱὸς ϑεοῦ ἐν δυνά-
μει κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης ἐξ ἀναςάσεως νεκρῶν
(Röm. 1,
[693]Schluſsabhandlung. §. 141.
3 f.), und als das ὁμολογουμένως μέγα τῆς εἰσεβείας μυςήριον
wurden die Wahrheiten hingestellt: ϑεὸς ἐφατερώϑη ἐν
σαρκὶ, ἐδικαιώϑη ἐν πνεύματι, ὤφϑη ἀγγέλοις, ἐκηρύχϑη ἐν
ἐϑνεσιν, ἐπιςεύϑη ἐν κόσμῳ, ἀνελήφϑη ἐν δόξῃ (1. Tim.
3, 16.).
Anschlieſsend an die Taufformel (Matth. 28, 19.), wel-
che durch die Zusammenstellung von Vater, Sohn und Geist
gleichsam ein Fachwerk darbot, um den neuen Glauben in
dasselbe einzuordnen, bildete sich in der Kirche der er-
sten Jahrhunderte die sogenannte regula fidei aus, welche
in verschiedenen Formen, bald summarischer, bald ausführ-
licher, populärer oder subtiler, sich bei den verschiedenen
Vätern findet 1), und nach ihrer populären Form endlich
im sogenannten apostolischen Symbol zur Ruhe kam, wel-
ches, in der Gestalt, in welcher es auch von der evange-
lischen Kirche aufgenommen worden ist, im zweiten, aus-
führlichsten, Artikel vom Sohn folgende Glaubensmomente
hervorhebt: ‘et (credo) in Jesum Christum, filium ejus
(Dei patris) unicum, Dominum nostrum; qui concep-
tus est de spiritu sancto, natus ex Maria virgine; pas-
sus sub Pontio Pilato, crucifixus, mortuus et sepultus,
descendit ad inferna; tertia die resurrexit a mortuis,
ascendit ad coelos, sedet ad dextram Dei patris omni-
potentis; inde venturus est, judicare vivos et mortuos.’
Neben dieser volksmäſsigen Form des Glaubensbekennt-
nisses in Bezug auf Christum gieng aber zugleich die Aus-
bildung einer schärferen theologischen Fassung desselben
her, veranlaſst durch die Differenzen und Streitigkeiten,
welche sich frühzeitig über einzelne Punkte desselben her-
vorthaten. Das Grundthema des christlichen Glaubens, das:
ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο, oder: ϑεὸς ἐφανερώϑη ἐν σαρκὶ, war
von allen Seiten gefährdet, indem bald die Gottheit, bald
[694]Schluſsabhandlung. §. 141.
die Menschheit, bald die wahre Vereinigung beider in An-
spruch genommen wurde. Diejenigen zwar, welche, wie
die Ebioniten, die Gottheit, oder, wie die doketischen Gno-
stiker, die Menschheit Christi durchaus aufhoben 2), schlos-
sen sich zu entschieden von der christlichen Gemeinschaft
aus, welche ihrerseits den Grundsaz festhielt: daſs ἔδει
τὸν μεσίτην ϑεοῦ τε καὶ ἀνϑρώπων διὰ ἰδίας πρὸς ἑκατέρους
οἰκειότητος εἰς φιλίαν καὶ ὁμόνοιαν τοὺς ἀμφοτέρους συναγα-
γεῖν, καὶ ϑεῷ μὲν παραςῆσαι τὸν ἄνϑρωπον, ἀνϑρώποις δὲ
γνωρίσαι τὸν ϑεόν3). Aber wenn etwa bloſs die Vollstän-
digkeit der einen oder andern Natur geleugnet wurde,
wenn Arius wohl ein göttliches, aber geschaffenes und dem
höchsten Gott untergeordnetes Wesen in Christo Mensch
geworden sein lieſs 4), wenn derselbe Christo zwar einen
menschlichen Leib zuschrieb, in welchem aber die Stelle
der Seele eben jenes höhere Wesen eingenommen habe 5),
und Apollinaris ausser dem Leib auch noch die Seele Jesu
wahrhaft menschlich sein, und nur an die Stelle des drit-
ten Princips im Menschen, des νοῦς, das göttliche Wesen
treten lieſs 6): so konnte solchen Ansichten schon eher ein
Schein des Christlichen gegeben werden. Dennoch wies
das Bewuſstsein der Kirche sowohl die arianische Vorstel-
lung von einem in Jesu Mensch gewordnen Untergott ne-
ben andern minder wesentlichen Gründen auch deſswegen
zurück, weil auf liese Weise in Christo nicht das anschau-
bare Ebenbild der Gottheit erschienen wäre 7); als die
arianisch-apollinaristische von einer der menschlichen ψυχὴ
oder des menschlichen νοῦς ermangelnden Menschennatur
Christi unter Andrem aus dem Grunde, weil nur durch
[695]Schluſsabhandlung. §. 141.
die Vereinigung mit einer ganzen und vollständigen Men-
schennatur diese nach allen Theilen habe erlöst werden
können 8).
Doch es konnte nicht bloſs die eine oder andere Seite
im Wesen Christi zurückgestellt, sondern auch in Bezug
auf ihre Vereinigung in ihm, und zwar wieder auf entge-
gengesezte Weise, gefehlt werden. Die andächtige Begei-
sterung Vieler glaubte, das neugeschlungene Band zwischen
Himmel und Erde nicht eng genug anziehen zu können:
in Christo wollten sie Gottheit und Menschheit nicht mehr
unterscheiden, und erkannten in ihm, wie er als Eine Per-
son erschienen war, auch nur Eine Natur, die des fleisch-
gewordenen Gottessohnes, an 9). Der Besonnenheit Ande-
rer war eine solche Vermischung des Göttlichen und Mensch-
lichen anstössig, es schien ihnen frevelhaft, zu sagen, daſs
eine menschliche Mutter Gott geboren habe: nur den Men-
schen habe sie geboren, welchen sich der Sohn Gottes zum
Tempel auserwählt hatte, und es seien in Christo zwei Na-
turen zwar der Verehrung nach verknüpft, aber dem We-
sen nach noch immer verschieden 10). Der Kirche schien
auf beide Weise das Mysterium der Menschwerdung ge-
fährdet: wurden beide Naturen bleibend getrennt gehalten,
so war die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen,
der innerste Lebenspunkt des Christenthums, zerstört; wur-
de eine Vermischung angenommen, so war keine von bei-
den Naturen als solche einer Vereinigung mit der andern
fähig, somit gleichfalls keine wahre Einheit beider erreicht.
Beide Meinungen wurden daher, die leztere in Eutyches,
für die erstere nicht ebenso mit Recht Nestorius, ver-
[696]Schluſsabhandlung. §. 141.
dammt, und nachdem schon im nicänischen Symbol die
wahre Gottheit Christi festgesezt worden war, nunmehr im
chalcedonensischen auch seine wahre und vollständige
Menschheit, und die Vereinigung beider Naturen in Einer
unzertrennten Person, festgestellt 11). Und als sich später
über den Willen in Christo eine ähnliche Differenz her-
vorstellte, wie über seine Natur: so wurde auf dieselbe
Weise entschieden, daſs in Christo als dem Gottmenschen
zwei unterschiedene Willen, aber nicht uneins, sondern
der menschliche dem göttlichen sich unterordnend, anzu-
nehmen seien 12).
Den Streitigkeiten über das Sein und Wesen Christi
gegenüber gieng die Entwicklung der andern Seite, der
Lehre von seinem Thun und Wirken, verhältniſsmäſsig
still und friedlich vor sich. Die umfassendste Anschauung
[697]Schluſsabhandlung. §. 141.
davon war die, daſs der Sohn Gottes durch Annahme der
Menschennatur diese geheiligt und vergöttlicht habe 13),
wobei namentlich die Ertheilung der Unsterblichkeit her-
vorgehoben wurde 14), und in gemüthlicher Weise faſste
man dieſs Verhältniſs auch so, Gott habe durch den zu-
vorkommenden Liebesbeweis, der in der Sendung seines
Sohnes liege, die Menschen auf's kräftigste zur Gegenlie-
be erweckt 15). An dieser Einen groſsen Wirkung des Er-
scheinens Christi wurden aber auch einzelne Seiten her-
vorgehoben: auf seine heilsame Lehre, sein erhabenes Bei-
spiel aufmerksam gemacht 16), besonders aber auf den ge-
waltsamen Tod, den er erduldet hatte, Gewicht gelegt.
Der Begriff der Stellvertretung, der schon im N. T. gege-
ben war, wurde weiter ausgeführt: der Tod Jesu bald
als ein Lösegeld betrachtet, welches er dem Teufel für die
durch die Sünde seiner Gewalt verfallene Menschheit ge-
geben habe, bald sollte Gott dadurch die Schuld abgetra-
gen, und er in den Stand gesezt worden sein, unbescha-
det seiner Wahrhaftigkeit die der Sünde gedrohten Stra-
fen der Menschheit zu erlassen, weil Christus sie auf sich
genommen hatte 17). Diese leztere Vorstellung wurde durch
Anselm in seiner Schrift: Cur Deus homo, zu der bekann-
ten Satisfaktionstheorie ausgebildet, durch welche zugleich
die Lehre von dem Erlösungsgeschäft Christi mit der von
[698]Schluſsabhandlung. §. 141.
seiner Person in die engste Verbindung gesezt wurde. Der
Mensch ist Gott vollständigen Gehorsam schuldig; der Sün-
der aber — und dieſs sind alle Menschen — entzieht Gott
die schuldige Leistung und Ehre. Da nun Gott eine Be-
leidigung seiner Ehre vermöge seiner Gerechtigkeit nicht
dulden kann: so muſs entweder der Mensch freiwillig Gott
wiedergeben, was Gottes ist, ja zur Genugthuung ihm
noch mehr leisten, als er ihm entzogen hat, oder muſs Gott
dem Menschen mit Gewalt nehmen, was des Menschen ist,
d. h. die Glückseligkeit, zu der er geschaffen ist, ihm zur
Strafe entziehen. Jenes zu thun ist der Mensch nicht im
Stande; denn da er alles Gute, was er thun kann, Gott
schuldig ist, um nicht in Sünde zu verfallen, so kann er
nichts Gutes übrig haben, um durch diesen Überschuſs die
begangene Sünde zu decken. Daſs andrerseits Gott durch
ewige Strafen sich Genugthuung verschaffe, dagegen ist sei-
ne unveränderliche Güte, kraft welcher er den zur Selig-
keit bestimmten Menschen auch wirklich zu dieser führen
will. Dieſs kann aber vermöge der göttlichen Gerechtig-
keit nicht geschehen, wenn nicht Genugthuung für den
Menschen geleistet, und nach Maaſsgabe dessen, was Gott
entzogen worden ist, ihm etwas gegeben wird, das gröſser
ist, als Alles ausser Gott. Dieſs aber ist nur Gott selbst,
und da andrerseits für den Menschen nur der Mensch ge-
nugthun kann: so muſs es ein Gottmensch sein, der die
Genugthuung leistet. Diese kann näher nicht in thätigem
Gehorsam, in sündlosem Leben, bestehen, weil dieſs jedes
vernünftige Wesen Gott für sich selbst schon schuldig ist;
aber den Tod, der Sünden Sold, auf sich zu nehmen, ist
der Sündlose nicht schuldig, und besteht also die Genug-
thuung für die Sünde der Menschen im Tod des Gottmen-
schen, dessen Belohnung, weil er als Eins mit Gott nicht
selbst belohnt werden kann, der Menschheit zu Gute kommt.
Dieses altkirchliche Lehrsystem über die Person und
Thätigkeit Christi gieng auch in die Bekenntniſsschriften
[699]Schluſsabhandlung. §. 141.
der lutherischen Kirche über, und wurde von den Theo-
logen derselben noch künstlicher ausgebildet 18). Die Per-
son Christi betreffend wurde an der Vereinigung der gött-
lichen und menschlichen Natur in Einer Person festgehal-
ten: im Akte derselben, der unitio personalis, welche mit
der Empfängniſs zusammenfiel, war es die göttliche Natur
des Sohnes Gottes, welche die menschliche zur Einheit ih-
rer Persönlichkeit aufnahm; der Zustand des Vereinigt-
seins, die unio personalis, sollte weder eine wesentliche,
noch auch eine bloſs accidentelle, auch keine mystische,
oder moralische, am wenigsten eine nur verbale, sondern
eine reale und übernatürliche, ihrer Dauer nach aber eine
ewige Vereinigung sein. Vermöge dieser Verbindung mit
der göttlichen kommen der menschlichen Natur gewisse
eigenthümliche Vorzüge zu, namentlich, was zunächst als
Mangel erscheint, für sich unpersönlich zu sein, und nur
in der Vereinigung mit der göttlichen Natur Persönlich-
keit zu haben; ferner Sündlosigkeit, und die Möglichkeit,
nicht zu sterben. Doch ausser diesen eigenthümlichen,
hat die menschliche Natur Christi in ihrer Vereinigung
mit der göttlichen auch gewisse von dieser geliehene Vor-
züge. Das Verhältniſs der beiden Naturen ist nämlich
nicht ein todtes und äusserliches, sondern eine gegenseiti-
ge Durchdringung, περιχώρησις, nicht die Verbindung
zweier zusammengeleimten Bretter, sondern wie von Feuer
und Metall im glühenden Eisen, oder wie im Menschen
von Leib und Seele. Diese communio naturarum äussert
sich als communicatio idiomatum, kraft welcher die mensch-
liche Natur an den Vorzügen der göttlichen, die göttliche
[700]Schluſsabhandlung. §. 141.
an den die Erlösung betreffenden Thätigkeiten der mensch-
lichen Theil nimmt. Dieses Verhältniſs spricht sich in
den propositionibus personalibus und idiomaticis aus;
jenes Sätze, in welchen das Concretum der einen Natur,
d. h. die eine Natur, sofern sie in der Person Christi be-
griffen ist, von dem der andern prädicirt wird, wie 1 Kor.
15, 47: der zweite Adam ist der Sohn des Höchsten; die-
ses Sätze, in welchen theils Bestimmungen der einen oder
andern Natur auf die ganze Person (genus idiomaticum),
theils Thätigkeiten der ganzen Person auf die eine oder
andere Natur (genus apotelesmaticum), theils endlich
Attribute der einen Natur auf die andre übergetragen wer-
den, was aber nur von der göttlichen auf die menschliche,
nicht umgekehrt, möglich ist (genus auchematicum).
In der Bewegung seiner Person mit ihren zwei Na-
turen durch die verschiedenen Momente des Erlösungs-
werks hat Christus nach dem an Phil. 2, 6 ff. anschlieſsen-
den Ausdruck der Dogmatiker einen zweifachen Zustand,
statum exinanitionis und exaltationis, durchlaufen. So-
fern seine menschliche Natur in ihrer Vereinigung mit der
göttlichen gleich bei der Empfängniſs in den Mitbesiz gött-
licher Eigenschaften kam, aber von diesen während seines
Erdenlebens keinen zusammenhängenden Gebrauch mach-
te, so wird dieses irdische Leben Jesu bis zum Tod und
Begräbniſs als ein Stand der Erniedrigung mit verschie-
denen Stationen betrachtet, wogegen mit der Auferstehung,
oder schon mit der Höllenfahrt, der Stand der Erhöhung
eintrat, welcher mit der sessio ad dextram patris seine
Vollendung erreichte.
Was das Werk Christi betrifft, so schreibt ihm die
Dogmatik unsrer Kirche ein dreifaches Amt zu. Als Pro-
phet hat er die höchste Wahrheit, den göttlichen Erlösungs-
rathschluſs, unter Bekräftigung durch Wunder, der Mensch-
heit geoffenbart, und ist für deren Verkündigung noch
immer besorgt; als Hoherpriester hat er theils in seinem
[701]Schluſsabhandlung. §. 142.
unsträflichen Wandel das Gesez an unsrer Statt erfüllt
(obedientia activa), theils in seinem Leiden und Tod die
Strafe getragen, die uns gebührte (obedientia passiva),
und vertritt uns nun fortwährend bei dem Vater; als Kö-
nig endlich regiert er die Welt und insbesondre die Kirche,
welche er aus den Kämpfen der Erde zur Herrlichkeit des
Himmels führen, und durch Auferstehung und Weltgericht
vollenden wird.
§. 142.
Bestreitung der kirchlichen Lehre von Christo.
In der Lehre von der Person Christi giengen schon
die Reformirten nicht so weit wie die Lutheraner mit, in-
dem sie deren lezte, kühnste Folgerung aus der Vereini-
gung des Göttlichen und Menschlichen in ihr, die commu-
nicatio idiomatum, nicht zugaben. Die lutherischen Dog-
matiker selbst lieſsen die Eigenschaften der menschlichen
Natur sich nicht an die göttliche, und von dieser wenig-
stens nicht alle Eigenschaften, wie z. B. nicht die Ewig-
keit, an die menschliche sich mittheilen 1); was die Re-
formirten zu der Einwendung veranlaſste: die Mittheilung
der Eigenschaften müsse eine gegenseitige und vollständige
sein, oder sei sie gar keine; übrigens werde auch schon
durch die bloſs einseitige Mittheilung von Eigenschaften ei-
ner unendlichen Natur an eine endliche diese nicht minder
in ihrem Wesen aufgehoben, als jene, wenn sie von die-
ser Eigenschaften annehmen müſste 2). Wenn sich hiege-
gen die lutherischen Dogmatiker dadurch zu decken such-
ten, daſs sie die eine Natur die Eigenschaften der andern
nur so weit mitbesitzen lieſsen, uti per suam indolem
[702]Schluſsabhandlung. §. 142.
potest3): so war hiedurch die communicatio idiomatum
in der That aufgehoben, wie sie denn auch selbst von den
orthodoxen Dogmatikern nach Reinhard fast durchaus auf-
gegeben worden ist.
Aber auch die einfache Wurzel dieses verwickelten
Idiomentausches, die Vereinigung der göttlichen und mensch-
lichen Natur zu Einer Person, traf der Widerspruch. Schon
die Socinianer leugneten sie, weil zwei Naturen, deren je-
de für sich schon eine Person ausmache, zumal wenn ih-
nen so entgegengesezte Eigenschaften zukommen, wie hier
die eine unsterblich, die andere sterblich, die eine anfangs-
los, die andere entstanden sein solle, sich nicht zu einer
Person vereinigen können 4), und ihnen stimmen die Ra-
tionalisten bei, indem sie noch besonders hervorheben,
theils daſs die kirchlichen Formeln, durch welche jene Ver-
einigung bestimmt werden solle, fast durchaus nur vernei-
nend seien, und die Sache nicht anschaulich machen, theils
daſs an einem Christus, der mit Hülfe einer einwohnenden
göttlichen Natur dem Bösen widerstanden und sich ohne
Sünde erhalten hätte, der von solcher Hülfe verlassene
Mensch kein wahrhaftes Vorbild haben könnte 5).
[703]Schluſsabhandlung. §. 142.
Das Wesentliche und Haltbare der rationalistischen
Einwürfe gegen diese Lehre hat am schärfsten Schleier-
macher zusammengestellt, und auch hierin, wie in vielen
Stücken, die negative Kritik des kirchlichen Dogma zum
Abschluſs geführt 6). Vor Allem findet er bedenklich, daſs
durch den Ausdruck: göttliche und menschliche Natur, Gött-
liches und Menschliches unter Eine Kategorie gestellt wer-
de, und zwar unter die Kategorie von Natur, was doch
wesentlich nur ein beschränktes, im Gegensaz begriffenes
Sein bedeute. Dann aber, statt daſs sonst Eine Natur vie-
len Einzelwesen oder Personen gemeinsam sei, solle hier
umgekehrt Eine Person an zwei verschiedenen Naturen
Theil haben. Sei nun Person eine stetige Lebenseinheit,
Natur aber der Inbegriff von Gesetzen, nach welchen die
Lebenszustände sich verlaufen: so sei nicht zu begreifen,
wie zwei durchaus verschiedene Systeme von Lebenszustän-
den in Einen Mittelpunkt zusammenlaufen können. Beson-
ders klar wird nach Schleiermacher diese Undenkbarkeit
in der Behauptung eines zweifachen Willens in Christo,
welchem man folgerichtig auch einen doppelten Verstand
zur Seite stellen müſste, wobei dann, wie Verstand und
Wille die Persönlichkeit constituiren, die Zerspaltung Chri-
sti in zwei Personen entschieden wäre. Zwar sollen die
5)
[704]Schluſsabhandlung. §. 142.
beiden Willen immer dasselbe wollen: allein theils giebt
dieſs nur moralische, nicht persönliche Einheit, theils ist
es von göttlichem und menschlichem Willen nicht einmal
möglich, indem ein menschlicher Wille, der wesentlich nur
Einzelnes und eines um des andern willen will, mit einem
göttlichen, dessen Gegenstand das Ganze in seiner Ent-
wicklung ist, so wenig das Gleiche wollen kann, als ein
discursiver menschlicher Verstand mit dem intuitiven gött-
lichen dasselbe denken; woraus zugleich von selbst her-
vorgeht, daſs eine Mittheilung der Eigenschaften zwischen
den beiden Naturen sich nicht annehmen läſst.
Einer ähnlichen Kritik entgieng auch die Lehre von
der Thätigkeit Christi nicht. Abgesehen von dem, was in
formeller Hinsicht gegen die Eintheilung derselben in die
drei Ämter eingewendet wurde, waren es im prophetischen
hauptsächlich die Begriffe von Offenbarung und Wunder,
die man in Anspruch nahm, weil sie weder objektiv mit
richtigen Vorstellungen von Gott und Welt in ihrem gegen-
seitigen Verhältniſs, noch subjektiv mit den Gesetzen des
menschlichen Erkenntniſsvermögens sich zu vertragen schie-
nen. Unmöglich könne der vollkommene Gott eine Natur
geschaffen haben, die von Zeit zu Zeit einer ausserordent-
lichen Nachhülfe des Schöpfers bedürfte, noch insbesonde-
re eine menschliche Natur, die nicht durch Entfaltung ih-
rer mitgegebenen Anlagen ihre Bestimmung zu erreichen
vermöchte; unmöglich könne der Unveränderliche bald auf
diese, bald auf jene Weise, das einemal mittelbar, das an-
dremal unmittelbar, auf die Welt einwirken, sondern im-
mer nur auf die gleiche, nämlich an sich und auf das Ganze
unmittelbar, für uns aber und auf das Einzelne mittelbar.
Eine Unterbrechung des Naturzusammenhangs und der
Entwicklung der Menschheit durch unmittelbares Eingrei-
fen Gottes anzunehmen, hieſse allem vernünftigen Denken
entsagen; im einzelnen Fall aber sei eine Offenbarung und
Wunder als solche nicht einmal zuverläſsig zu erkennen,
[705]Schluſsabhandlung. §. 142.
weil, um sicher zu sein, daſs gewisse Erscheinungen nicht
aus den Kräften der Natur und den Anlagen des mensch-
lichen Geistes hervorgegangen seien, eine vollständige Kennt-
niſs von diesen, und wie weit sie reichen, erfordert wür-
de, deren der Mensch sich nicht rühmen kann 7).
Doch der Hauptanstoſs wurde an dem hohenpriesterli-
chen Amte Jesu, an der Lehre von der Versöhnung, ge-
nommen. Zunächst war es die anthropopathische Färbung,
welche dem Verhältniſs Gottes zur Sünde der Menschen
im Anselmischen System gegeben war, was Einwürfe her-
vorrufen muſste. Wie es dem Menschen wohl anstehe,
Beleidigungen ohne Rache zu verzeihen: so, meinte Socin,
könne auch Gott ohne Genugthuung die Beleidigungen,
welche ihm die Menschen durch ihre Sünden zufügen,
vergeben 8). Dieser Einwurf wurde von Hugo Grotius
durch die Wendung beseitigt, daſs nicht gleichsam in Folge
persönlicher Beleidigung, sondern um die Ordnung der
moralischen Welt unverlezt zu erhalten, oder vermöge
seiner justitia rectoria, Gott die Sünden nicht ohne Ge-
nugthuung vergeben könne 9). Indeſs, die Nothwendig-
keit einer Genugthuung auch zugegeben, schien doch der
Tod Jesu eine solche nicht sein zu können. Während
Anselm, und noch entschiedener Thomas von Aquino 10),
von einer satisfactio superabundans sprachen, leugnete
Socin, daſs Christus auch nur gleichviel Strafe getragen
habe, als die Menschen verdient hätten; denn die Men-
schen hätten, jeder einzelne, den ewigen Tod verdient,
Das Leben Jesu II. Band. 45
[706]Schluſsabhandlung. §. 142.
folglich hätten ebensoviele Stellvertreter als Sünder den
ewigen Tod erleiden müssen: wogegen nun der einzige
Christus bloſs den zeitlichen Tod, überdieſs als Eingang
zur höchsten Herrlichkeit, erduldet habe, und zwar nicht
mit seiner göttlichen Natur, daſs man sagen könnte, die-
ses Leiden habe unendlichen Werth, sondern mit seiner
menschlichen. Wenn hiegegen schon früher dem Thomas
gegenüber Duns Scotus11), und nun wieder zwischen den
Orthodoxen und den Socinianern Grotius und die Arminianer
den Ausweg ergriffen, an sich zwar sei Christi Verdienst
endlich gewesen, wie das Subjekt desselben, seine mensch-
liche Natur, und daher zur Genugthuung für die Sünden
der Welt unzureichend, aber Gott habe es aus freier
Gnade für zureichend acceptirt: so folgte aus der Einräu-
mung, daſs Gott mit unzulänglicher Genugthuung sich be-
gnügen, also einen Theil der Schuld ohne Genugthuung
vergeben könne, nothwendig, daſs er auch die ganze so
zu vergeben im Stande sein müsse. Doch auch abgesehen
von allen diesen näheren Bestimmungen wurde die Grund-
vorstellung selbst, daſs Jemand für Andere Sündenstra-
fen auf sich nehmen könne, als eine rohe Übertragung
niedrigerer Verhältnisse auf höhere angegriffen. Sittliche
Verschuldungen seien keine transmissible Verbindlichkei-
ten, es verhalte sich mit ihnen nicht, wie mit Geldschul-
den, wo es dem Gläubiger gleichgültig ist, wer sie be-
zahlt, wenn sie nur überhaupt bezahlt werden; der Sün-
denstrafe sei es vielmehr wesentlich, eben nur über den
verhängt zu werden, der sich ihrer schuldig gemacht hat.
Kann hienach der sogenannte leidende Gehorsam Christi
kein stellvertretender gewesen sein: so noch weniger der
12)
[707]Schluſsabhandlung. §. 143.
thätige, da er diesen als Mensch für sich selbst schon zu
leisten schuldig war 13).
In Betreff des königlichen Amtes Christi trat die
Hoffnung auf seine einstige Wiederkunft zum Gericht im
Bewuſstsein der Gemeinde in dem Maaſse zurück, als die
Ansicht von einer gleich nach dem Tode jedes Einzelnen
vollständig eintretenden Vergeltung erstarkte, wodurch
jener allgemeine Gerichtsakt als überflüssig erscheinen
muſste 14).
§. 143.
Die Christologie des Rationalismus.
An die Stelle des kirchlichen Dogma von Christus,
seiner Person und seiner Wirksamkeit, welches sie als in
sich widersprechendes, nuzloses, ja der wahren morali-
schen Religiosität schädliches verwarfen, sezten nun die
Rationalisten eine Lehre, welche, mit Vermeidung jener
Widersprüche, Jesum doch noch als eine in gewissem
Sinne göttliche Erscheinung festhalten, ja, recht erwogen,
ihn weit erhabener hinstellen, und dabei die kräftigsten
Antriebe zu praktischer Frömmigkeit enthalten sollte 1).
Ein göttlicher Gesandter, ein besonderer Liebling und
Pflegling der Gottheit, sollte Jesus bleiben, sofern er
durch die Veranstaltung der Vorsehung mit einem ausge-
zeichneten Maaſse geistiger Vorzüge ausgerüstet, unter ein
Volk und in ein Zeitalter versezt, und sein Lebensgang so
geleitet wurde, wie es seiner Entwicklung zu dem, was
er werden sollte, am günstigsten war; sofern namentlich
gerade diejenige Todesart über ihn herbeigeführt wurde,
welche die Wiederbelebung, von der das Gedeihen seines
45 *
[708]Schluſsabhandlung. §. 143.
ganzen Werkes abhieng, möglich, und Umstände, welche
dieselbe wirklich machten. Glaubt hiemit, auf seine na-
türliche Begabung und seine äusseren Schicksale gesehen,
die rationalistische Vorstellung von Christo hinter der or-
thodoxen nicht wesentlich zurückzubleiben, indem er auch
ihr der erhabenste Mensch ist, der je auf Erden lebte,
ein Heros, in dessen Schicksalen sich die Vorsehung im
höchsten Grade verherrlichte: so glaubt sie, wenn auf die
innere Entwicklung und freie Thätigkeit Jesu gesehen
wird, die kirchliche Lehre wesentlich zu überbieten. Wäh-
rend der kirchliche Christus ein unfreies Automat sei, des-
sen Menschheit als todtes Organ des Göttlichen sich ver-
halte, sittlich vollkommen handle, weil sie nicht sündigen
könne, und ebendeſswegen weder sittliches Verdienst haben,
noch Gegenstand der Achtung und Verehrung sein könne:
habe nach rationalistischer Ansicht die Gottheit in Jesum
nur die natürlichen Bedingungen dessen, was er werden soll-
te, gelegt, daſs er es aber wirklich wurde, sei das Re-
sultat seiner freien Selbstthätigkeit gewesen. Seine be-
wunderungswürdige Weisheit habe er sich durch zweckmä-
ſsige Anwendung seiner Verstandeskräfte und gewissenhaf-
te Benützung der ihm zu Gebot stehenden Hülfsmittel, sei-
ne sittliche Gröſse durch eifrige Ausbildung seiner morali-
schen Anlagen, Bezähmung seiner sinnlichen Neigungen und
Leidenschaften, und zarte Folgsamkeit gegen die Stimme sei-
nes Gewissens, erworben, und eben nur hierauf beruhe
das Erhabene seiner Persönlichkeit, das Ermunternde sei-
nes Vorbildes.
Die Thätigkeit Jesu anlangend, hat er sich um die
Menschheit vor Allem dadurch verdient gemacht, daſs er
ihr eine Religionslehre mittheilte, welcher um ihrer Rein-
heit und Trefflichkeit willen mit Recht eine gewisse gött-
liche Kraft und Würde zugeschrieben wird, und daſs er
diese durch das glänzende Beispiel seines eigenen Wandels
auf die wirksamste Weise erläuterte und bekräftigte. Die-
[709]Schluſsabhandlung. §. 143.
ses prophetische Amt Christi ist bei Socinianern und Ra-
tionalisten der Mittelpunkt seiner Thätigkeit, auf welchen
sie alles Andere, namentlich was die Kirchenlehre unter
dem hohenpriesterlichen Amte begreift, immer wieder zu-
rückführen. Der sogenannte thuende Gehorsam hat hier
ohnehin nur als Beispiel Werth; aber auch der Tod Je-
su sollte die Sündenvergebung nur durch Vermittlung der
Besserung bewirken, entweder so, daſs er als Besiegelung
seiner Lehre, und Vorbild aufopfernder Pflichterfüllung,
den Tugendeifer belebe, oder so, daſs er als Beweis der
Liebe Gottes zu den Menschen, seiner Geneigtheit, dem
Gebesserten zu vergeben, den sittlichen Muth erhebe 2).
Wenn Christus nicht mehr gewesen ist und gethan
hat, als diese rationalistische Lehre ihn sein und thun läſst:
so sieht man nicht, wie die Frömmigkeit dazu kommt, ihn
zu ihrem besondern Gegenstand zu machen, und die Dog-
matik, eigene Sätze über ihn aufzustellen. Wirklich haben
daher consequente Rationalisten erklärt, was die orthodoxe
Dogmatik Christologie nenne, trete im rationalistischen Sy-
stem gar nicht als ein integrirender Theil desselben auf, da
dieses System zwar aus einer Religion bestehe, die Christus
gelehrt habe, nicht aber aus einer, deren Objekt er selbst
wäre. Heiſse Christologie Messiaslehre: so sei diese nur
eine Hülfslehre für die Juden gewesen; aber auch im ed-
leren Sinn, als Lehre von dem Leben, den Thaten und
Schicksalen Jesu als göttlichen Gesandten, gehöre sie nicht
zum Glaubenssystem, da allgemeine religiöse Wahrheiten
mit den Vorstellungen über die Person dessen, der sie zu-
erst ausgesprochen, ebensowenig zusammenhängen, als man
in dem System der Leibniz-Wolfischen, oder Kantischen,
oder Fichte'schen und Schelling'schen Philosophie als phi-
losophische Sätze dasjenige aufstelle, was man von der
[710]Schluſsabhandlung. §. 144.
Persönlichkeit ihrer Urheber zu halten habe. Nur zur Re-
ligionsgeschichte, nicht zur Religion könne das die Person
und Wirksamkeit Jesu Betreffende gehören, und der Re-
ligionslehre nur entweder als geschichtliche Einleitung vor-
angeschickt, oder als erläuternder Nachtrag beigegeben
werden 3).
Hiemit tritt nun aber der Rationalismus in offenen
Widerstreit mit dem christlichen Glauben, indem er dasje-
nige, was diesem der Mittelpunkt und Eckstein ist, die
Lehre von Christus, in den Hintergrund zu rücken, ja
aus der Dogmatik zu verbannen sucht. Ebendamit aber
ist auch die Unzulänglichkeit des rationalistischen Systems
entschieden, weil es das nicht leistet, was jede Glaubens-
lehre leisten soll: dem Glauben, der ihr Gegenstand ist,
erstlich den adäquaten Ausdruck zu geben, und ihn zwei-
tens mit der Wissenschaft in ein — sei es positives, oder
negatives — Verhältniſs zu setzen. Hier nun ist über dem
Bestreben, den Glauben mit der Wissenschaft in Einklang
zu bringen, der Ausdruck desselben verkümmert: denn ein
Christus, nur als ausgezeichneter Mensch, macht zwar dem
Begreifen keine Schwierigkeit, aber ist nicht derjenige,
an welchen die Kirche glaubt.
§. 144.
Eine eklektische Christologie. Schleiermacher.
Beide Übelstände zu vermeiden, und die Lehre von
Christo ohne Beeinträchtigung des Glaubens so zu fassen,
daſs die Wissenschaft ihr nicht den Krieg zu erklären
braucht 1), ist nun das Bestreben desjenigen Theologen ge-
wesen, welcher einerseits die negative Kritik des Rationa-
lismus gegen die Kirchenlehre vollständig in sich aufge-
[711]Schluſsabhandlung. §. 144.
nommen, ja noch geschärft, andrerseits aber doch noch
das Wesentliche des positiv christlichen Gehaltes, der dem
Rationalismus verloren gegangen war, festzuhalten versucht
hat, und daher Vielen in der lezten Zeit der Retter aus
der Enge des Supranaturalismus und der Leere des Ratio-
nalismus geworden ist. Jene Vereinfachung des Glaubens
bringt Schleiermacher dadurch zu Stande, daſs er weder pro-
testantisch von der Schriftlehre, noch auch katholisch von
den Bestimmungen der Kirche ausgeht, da er auf beide
Weise einen bestimmt entwickelten Inhalt bekommen würde,
der, in früheren Jahrhunderten entstanden, mit der heuti-
gen Wissenschaft sich nothwendig verwickeln müſste: son-
dern er geht vom christlichen Bewuſstsein, von der inneren
Erfahrung aus, die jeder über das, was er am Christen-
thum hat, in sich selber macht, und bekommt so einen
Stoff, der als Gefühltes ein minder Bestimmtes ist, dem
daher durch dialektische Entwicklung leichter eine Form
gegeben werden kann, welche den Forderungen der Wis-
senschaft genugthut.
Als Glied der christlichen Gemeinde — dieſs ist der
Ausgangspunkt der Schleiermacher'schen Christologie 2) —
bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigkeit und der
Mittheilung schlechthiniger Vollkommenheit bewuſst, d. h.
ich fühle in dieser Gemeinschaft die Einflüsse eines sünd-
losen und vollkommenen Princips auf mich. Diese Einflüsse
können von der christlichen Gemeinschaft nicht in der Art
ausgehen, daſs die Wechselwirkung ihrer Mitglieder sie
hervorbrächte; denn in jedem einzelnen [von diesen ist
Sünde und Unvollkommenheit gesezt, und das Zusammen-
wirken von Unreinen hat nie etwas Reines zum Resultat
gehabt. Sondern der Einfluſs eines solchen muſs es sein,
der einestheils jene Unsündlichkeit und Vollkommenheit als
persönliche Eigenschaften besaſs, und anderntheils mit der
[712]Schluſsabhandlung. §. 144.
christlichen Gemeinschaft in einem Verhältniſs steht, ver-
möge dessen diese Eigenschaften von ihm sich ihr mitthei-
len können: d. h., da vor dieser Mittheilung die christliche
Gemeinschaft als solche nicht vorhanden gewesen sein kann,
ihr Stifter war. Was wir in uns als Christen bewirkt
finden, daraus schlieſsen wir, wie immer von der Wirkung
auf die Ursache geschlossen wird, auf die Wirksamkeit
Christi zurück, und aus seiner Wirksamkeit auf seine
Person, welche die Fähigkeit gehabt haben muſs, solches
zu bewirken.
Näher ist nun, was wir in der christlichen Gemein-
schaft in uns finden, eine Kräftigung des Gottesbewuſstseins
in seinem Verhältniſs zum sinnlichen, d. h. wir finden es
uns erleichtert, die Übermacht der Sinnlichkeit in uns zu
brechen, alle Eindrücke, die wir empfangen, auf das re-
ligiöse Gefühl zu beziehen, und hinwiederum alle Thätig-
keiten aus demselben hervorgehen zu lassen. Nach dem
Obigen ist dieſs die Wirkung Christi auf uns, welcher die
Kräftigkeit seines Gottesbewuſstseins uns mittheilt, von der
Knechtschaft der Sinnlichkeit und Sünde uns befreit, und
hiemit der Erlöser ist. In dem Gefühl des gekräftigten Got-
tesbewuſstseins, welches der Christ in der Gemeinschaft
mit seinem Erlöser hat, werden die Hemmungen seines
natürlichen und geselligen Lebens nicht zugleich als Hem-
mungen des Gottesbewuſstseins empfunden; sie unterbre-
chen nicht die Seligkeit, welche er in seinem innersten re-
ligiösen Leben genieſst; was man sonst Übel und göttliche
Strafen nennt, ist es für ihn nicht, und insofern es Chri-
stus ist, der ihn durch Aufnahme in die Gemeinschaft sei-
ner Seligkeit hievon befreit, kommt diesem neben der er-
lösenden auch die versöhnende Thätigkeit zu. — Hienach
allein ist denn auch die kirchliche Lehre von dem dreifa-
ehen Amte Christi zu verstehen. Prophet ist er, sofern er
nicht anders, als durch das Wort, durch Selbstdarstel-
lung überhaupt, die Menschheit an sich ziehen konnte: so
[713]Schluſsabhandlung. §. 144.
daſs der Hauptgegenstand seiner Lehre eben seine Person
war; Hoherpriester und zugleich Opfer ist er, sofern er,
der Sündlose, aus dessen Dasein sich daher auch kein Übel
entwickeln konnte, in die Gemeinschaft des sündlichen
Lebens der Menschheit eintrat, und die in demselben er-
zeugten Übel auf sich nahm, um sofort uns in die Gemein-
schaft seines sündlosen und seligen Lebens aufzunehmen,
d. h., Sünde und Übel auch in und für uns aufzuheben,
und uns vor Gott rein darzustellen; König endlich ist er,
sofern er diese Segnungen eben in Form eines Gemeinwe-
sens, dessen Haupt er ist, an die Menschheit bringt.
Aus diesem nun, was Christus wirkt, ergiebt sich,
was er gewesen ist. Verdanken wir ihm die immer stei-
gende Kräftigung unsres Gottesbewuſstseins: so muſs dieſs
in ihm in absoluter Kräftigkeit gewesen sein, so daſs es,
oder Gott in Form des Bewuſstseins, das allein Wirksame
in ihm war, und dieſs ist der Sinn des kirchlichen Aus-
drucks, daſs Gott in Christo Mensch geworden ist. Wirkt
ferner Christus in uns die immer vollständigere Überwin-
dung der Sinnlichkeit: so muſs diese in ihm schlechthin
überwunden gewesen sein, in keinem Augenblick seines
Lebens kann das sinnliche Bewuſstsein dem Gottesbewuſst-
sein den Sieg streitig gemacht, nie ein Schwanken und
Kampf in ihm stattgefunden haben, d. h. die menschliche
Natur in ihm war unsündlich, und zwar in dem strenge-
ren Sinn, daſs er, vermöge des wesentlichen Übergewichts
der höheren Kräfte in ihm über die niederen, unmöglich
sündigen konnte. Ist er durch diese Eigenthümlichkeit sei-
nes Wesens das Urbild, welchem seine Gemeinde sich im-
mer nur annähern, nie über dasselbe hinauskommen kann:
so muſs er doch — sonst könnte zwischen ihm und uns
keine wahrhafte Gemeinschaft stattfinden — unter den ge-
wöhnlichen Bedingungen des menschlichen Lebens sich ent-
wickelt haben, das Urbildliche muſs in ihm vollkommen ge-
schichtlich geworden sein, jeder seiner geschichtlichen Mo-
[714]Schluſsabhandlung. §. 144.
mente zugleich das Urbildliche in sich getragen haben, um
dieſs ist der eigentliche Sinn der kirchlichen Formel, daſs
die göttliche und menschliche Natur in ihm zu Einer Per-
son vereinigt gewesen seien.
Nur so weit läſst sich die Lehre von Christo aus der
inneren Erfahrung des Christen ableiten, und so weit wi-
derstreitet sie, nach Schleiermacher, auch der Wissen-
schaft nicht: was im kirchlichen Dogma darüber hinaus-
geht, — und gerade das ist es, was die Wissenschaft an-
fechten muſs, — wie namentlich die übernatürliche Erzen-
gung Jesu und seine Wunder, auch die Thatsachen der
Auferstehung und Himmelfahrt, so wie die Vorhersagun-
gen von seiner Wiederkunft zum Gericht, können nicht
als eigentliche Bestandtheile der Lehre von Christo aufge-
stellt werden. Denn derjenige, von dessen Einwirkung
uns alle Kräftigung unsres Gottesbewuſstseins kommt, kann
Christus gewesen sein, auch wenn er nicht leiblich aufer-
stand und in den Himmel sich erhob u. s. f.: so daſs wir
diese Thatsachen nicht deſswegen glauben, weil sie in un-
serer inneren Erfahrung mitgesezt wären, sondern nur weil
sie in der Schrift stehen, also nicht sowohl auf religiöse
und dogmatische, als vielmehr nur auf historische Weise.
Gewiſs ist diese Christologie eine sehr schöne Ent-
wicklung, und in ihr, wie wir später sehen werden, das
Möglichste geleistet, um die Vereinigung des Göttlichen und
Menschlichen in Christo als einem Individuum anschaulich
zu machen 3); allein wenn dieselbe Beides, sowohl den
Glauben unverkürzt, als die Wissenschaft unverlezt zu er-
halten meint: so muſs gesagt werden, daſs sie sich in Bei-
dem täuscht 4).
[715]Schluſsabhandlung. §. 144.
Der Widerstreit mit der Wissenschaft knüpft sich zu-
nächst an die Formel, in Christus sei das Urbildliche zu-
gleich geschichtlich gewesen. Daſs dieſs ein gefährlicher
Punkt sei, ist Schleiermacher'n selbst nicht entgangen.
Kaum hat er den bezeichneten Saz aufgestellt, so sagt er
sich auch schon, wie schwer es zu denken ist, daſs das
Urbildliche in einem geschichtlichen Einzelwesen vollstän-
dig zur Wirklichkeit gekommen sein sollte, da wir das
Urbild sonst nie in einer einzelnen Erscheinung, sondern
nur in einem ganzen Kreise von solchen, die sich gegen-
seitig ergänzen, verwirklicht finden. Zwar soll nun die
Urbildlichkeit Christi keineswegs auf die tausenderlei Be-
ziehungen des menschlichen Lebens sich erstrecken, so daſs
er auch für alles Wissen, oder alle Kunst und Geschick-
lichkeit, die sich in der menschlichen Gesellschaft entwik-
kelt, urbildlich sein müſste, sondern nur für das Gebiet
des Gottesbewuſstseins: allein dieſs ändert, wie Schmid
mit Recht bemerkt, nichts, da auch das Gottesbewuſstsein
in seiner Entwicklung und Erscheinung den Bedingungen
der Endlichkeit und Unvollkommenheit unterworfen ist,
und wenn auch nur in diesem Gebiete das Ideal in einer
einzelnen historischen Person als wirklich anerkannt wer-
den soll, dieſs nicht geschehen kann, ohne die Gesetze
der Natur durch Annahme eines Wunders zu durchbre-
chen. Doch dieſs schreckt Schleiermacher'n keineswegs
zurück, sondern eben hier, meint er, sei der einzige Ort,
wo die christliche Glaubenslehre dem Wunder in sich Raum
geben müsse, indem die Entstehung der Person Christi
aur als Resultat eines schöpferischen göttlichen Akts be-
griffen werden könne. Zwar soll nun das Wunderbare
nur auf den ersten Eintritt Christi in die Reihe des, Da-
4)
[716]Schluſsabhandlung. §. 144.
seienden beschränkt werden, und seine ganze weitere Ent-
wicklung allen Bedingungen des endlichen Daseins unter-
worfen gewesen sein: aber dieſs Zugeständniſs kann den
Riſs, der durch jene Behauptung in die ganze wissen-
schaftliche Weltansicht gemacht ist, nicht heilen, und am
wenigsten können vage Analogieen etwas helfen, wie die:
so gut es noch jezt möglich sei, daſs Materie sich balle
und im unendlichen Raum zu rotiren beginne, müsse die
Wissenschaft auch einräumen, es gebe eine Erscheinung
im Gebiet des geistigen Lebens, die wir eben so nur als
reinen Anfang einer höheren geistigen Lebensentwicklung
erklären können 5).
Zumal man durch diese Vergleichung an das erinnert
wird, was Braniss besonders geltend gemacht hat, daſs es
den Gesetzen aller Entwicklung zuwider wäre, den An-
fangspunkt einer Reihe als ein Gröſstes zu denken, und
also hier in Christo, dem Stifter des Gesammtlebens, das
die Kräftigung des Gottesbewuſstseins zum Zwecke hat,
die Kräftigkeit desselben als schlechthinige vorzustellen,
was doch nur das unendliche Ziel der Entfaltung des von
ihm gestifteten Gesammtlebens ist. Zwar giebt auch Schleier-
macher in gewissem Sinn eine Perfektibilität des Christen-
thums zu: aber nicht über das Wesen Christi hinaus, son-
dern nur über seine Erscheinung. D. h., die Bedingtheit
und Unvollkommenheit der Verhältnisse Christi, der Spra-
che, in welcher er sich ausdrückte, der Nationalität, inner-
halb deren er stand, habe auch sein Denken und Thun
afficirt, aber nur die Aussenseite: der innere Kern des-
selben sei dennoch wahrhaft urbildlich gewesen, und wenn
nun die Christenheit in ihrer Fortentwicklung in Lehre
und Leben immer mehr jene temporellen und nationalen
Schranken niederwerfe, in welchen Jesu Thun und Reden
sich bewegte: so sei dieſs kein Hinausgehen über Christum,
[717]Schluſsabhandlung. §. 144.
sondern nur eine um so vollständigere Darlegung seines
inneren Wesens. Allein, wie Schmid gründlich nachgewie-
sen hat, ein geschichtliches Individuum ist eben nur das,
was von ihm erscheint, sein inneres Wesen wird in seinen
Reden und Handlungen erkannt, zu seiner Eigenthümlich-
keit gehört die Bedingtheit durch Zeit- und Volksverhält-
nisse mit, und was hinter dieser Erscheinung als An sich
zurückliegt, ist nicht das Wesen dieses Individuums, son-
dern die allgemeine menschliche Natur überhaupt, welche
in den Einzelnen durch Individualität, Zeit und Umstände
beschränkt, zur Wirklichkeit kommt. Über die geschicht-
liche Erscheinung Christi hinausgehen, heiſst also nicht
zum Wesen Christi sich erheben, sondern zur Idee der
Menschheit überhaupt, und wenn es Christus noch sein
soll, dessen Wesen sich darstellt, wenn mit Wegwer-
fung des Temporellen und Nationalen das Wesentliche
aus seiner Lehre und seinem Leben fortgebildet wird: so
könnte es nicht schwer fallen, durch ähnliche Abstraktion
auch einen Sokrates als denjenigen darzustellen, über wel-
chen in dieser Weise nicht hinausgegangen werden könne.
Wie aber weder überhaupt ein Individuum, noch ins-
besondre ein geschichtlicher Anfangspunkt zugleich vorbild-
lich sein kann: so will auch, Christum bestimmt als Men-
schen gefaſst, die urbildliche Entwicklung und Beschaf-
fenheit, welche ihm Schleiermacher zuschreibt, mit den
Gesetzen des menschlichen Daseins sich nicht vertragen.
Die Unsündlichkeit, als Unmöglichkeit des Sündigens ge-
faſst, wie sie in Christo gewesen sein soll, ist eine mit
der menschlichen Natur ganz unvereinbare Eigenschaft,
da dem Menschen vermöge seiner von sinnlichen wie ver-
nünftigen Antrieben bewegten Freiheit die Möglichkeit des
Sündigens wesentlich ist. Und wenn Christus sogar von
allem innern Kampf, von jeder Schwankung des geistigen
Lebens zwischen Gut und Böse, frei gewesen sein soll:
so könnte er vollends kein Mensch wie wir gewesen sein,
[718]Schluſsabhandlung. §. 144.
da die Wechselwirkung, in welcher bei'm Menschen
sowohl die innere Geisteskraft überhaupt mit der auf sie
einwirkenden Aussenwelt, als insbesondre die höhere, re-
ligiössittliche Kraft mit der sinnlichen Geistesthätigkeit
steht, nothwendig als Kampf zur Erscheinung kommt 6).
So wenig aber auf dieser Seite der Wissenschaft, so
wenig thut die in Rede stehende Christologie auf der an-
dern Seite dem Glauben genug. Um von denjenigen Punkten
abzusehen, wo sie für die kirchlichen Bestimmungen wenig-
tens annehmliche Surrogate zu bieten weiſs, über welche
sich jedoch gleichfalls streiten lieſse, ob sie völligen Er-
saz gewähren 7), tritt dieſs am schreiendsten in der Be-
hauptung hervor, die Thatsachen der Auferstehung und
Himmelfahrt gehören nicht wesentlich zum christlichen
Glauben. Während doch der Glaube an die Auferstehung
Christi der Grundstein ist, ohne welchen die christliche
Gemeinde sich nicht hätte aufbauen können, auch jezt
noch der christliche Festcyclus, die äussere Darstellung
des christlichen Bewuſstseins, keine tödtlichere Verstüm-
melung erleiden könnte, als wenn aus demselben das Oster-
fest ausgebrochen würde; überhaupt im Glauben der Ge-
meinde der gestorbene Christus nicht sein könnte, was
er ist, wenn er nicht zugleich der Wiedererstandene
wäre.
Zeigt sich an der Schleiermacher'schen Lehre von der
Person und den Zuständen Christi besonders ihre doppelte
Unzulänglichkeit, in Bezug auf Kirchenglauben und Wis-
schaft: so wird aus der Lehre von der Wirksamkeit Chri-
sti erhellen, daſs, um dem ersteren nur so weit genug zu
thun, als hier geschieht, ein solcher Widerspruch gegen
die Grundsätze der lezteren gar nicht nöthig, sondern ein
leichteres Verfahren möglich war. Nämlich bloſs auf den
[719]Schluſsabhandlung. §. 144.
Rückschluſs von der innern Erfahrung des Christen, als der
Wirkung, auf die Person Christi, als die Ursache, gegrün-
det, steht die Schleiermacher'sche Christologie auf schwa-
chen Füſsen, indem nicht bewiesen werden kann, daſs
jene innere Erfahrung nur dann sich erklären lasse, wenn
ein solcher Christus wirklich gelebt hat. Schleiermacher
selbst hat den Ausweg bemerkt, daſs man ja sagen könn-
te, nur veranlaſst durch Jesu relative Vortrefflichkeit habe
die Gemeinde ein Ideal absoluter Vollkommenheit entwor-
fen, und auf den historischen Christus übergetragen, aus
welchem sie nun fortwährend ihr Gottesbewuſstsein stärke
und neu belebe: doch diesen Ausweg soll die Bemerkung
abschneiden, die sündhafte Menschheit habe vermöge des
Zusammenhangs von Willen und Verstand gar nicht das
Vermögen, ein fleckenloses Urbild zu erzeugen. Allein,
wie treffend bemerkt worden ist, wenn Schleiermacher
für die Entstehung seines wirklichen Christus ein Wunder
postulirt: so könnten ja wir für die Entstehung des Ideals
von einem Christus in der menschlichen Seele dasselbe
Recht in Anspruch nehmen 8). Indeſs, es ist gar nicht
einmal wahr, daſs die sündhafte menschliche Natur zur
Erzeugung eines sündlosen Urbilds unfähig ist. Wird un-
ter diesem Ideal nur die allgemeine Vorstellung verstan-
den: so ist vielmehr mit dem Bewuſstsein der Unvollkom-
menheit und Sündhaftigkeit die Vorstellung des Vollkom-
menen und Sündlosen ebenso nothwendig gegeben, wie
mit dem der Endlichkeit die des Unendlichen, indem beide
Vorstellungen sich gegenseitig bedingen, die eine ohne die
andere gar nicht möglich ist. Ist aber die concrete Aus-
führung des Bildes mit den einzelnen Zügen gemeint: so
kann man zugeben, daſs einem sündhaften Individuum und
Zeitalter diese Ausmalung nicht fleckenlos gelingen kann;
allein dessen ist ein solches Zeitalter, weil es selbst nicht
[720]Schluſsabhandlung. §. 145.
darüber hinaus ist, sich nicht bewuſst, und wenn das
Bild nur skizzenhaft ausgeführt ist, und der Beleuchtung
noch viel Spielraum läſst: so kann es leicht auch von ei-
ner späteren, scharfsichtiger gewordenen Zeit, so lange
sie den guten Willen der günstigsten Beleuchtung hat, noch
als fleckenlos betrachtet werden.
Hiemit sehen wir, was an dem Vorwurf ist, der
Schleiermacher'n so ungehalten machte, daſs sein Chri-
stus kein historischer, sondern ein idealer sei: er ist un-
gerecht, wenn auf die Meinung Schleiermacher's gesehen
wird, denn er glaubte steif und fest, der Christus, wie
er ihn construirte, habe wirklich so gelebt; aber gerecht
ist er einerseits in Bezug auf den geschichtlichen Thatbe-
stand, weil ein solcher Christus immer nur in der Idee
vorhanden gewesen ist, in welchem Sinn freilich dem
kirchlichen System derselbe Vorwurf noch stärker gemacht
werden müſste, weil sein Christus noch viel weniger exi-
stirt haben kann; gerecht endlich rücksichtlich der Con-
sequenz des Systems, indem, um das zu bewirken, was
Schleiermacher ihn bewirken läſst, kein anderer Christus
nöthig, und nach den Schleiermacher'schen Grundsätzen
über das Verhältniſs Gottes zur Welt, des Übernatürli-
chen zum Natürlichen, auch kein andrer möglich ist, als
ein idealer — und in diesem Sinne trifft der Vorwurf die
Schleiermacher'sche Glaubenslehre specifisch, da nach den
Prämissen der Kirchenlehre allerdings ein historischer
Christus sowohl möglich als nothwendig war.
§. 145.
Die Christologie, symbolisch gewendet. Kant. de Wette.
Ist hiemit der Versuch gescheitert, das Urbildliche
in Christo mit dem Geschichtlichen zusammenzuhalten: so
scheiden sich diese beiden Elemente, das leztere fällt als
natürliches Residuum zu Boden, das erstere aber steigt als
reines Sublimat in den Äther der Ideenwelt empor. Ge-
[721]Schluſsabhandlung. §. 145.
schichtlich kann Jesus nichts Anderes gewesen sein, als
eine zwar sehr ausgezeichnete, aber darum doch der Be-
schränktheit alles Endlichen unterworfene Persönlichkeit:
vermöge dieser ausgezeichneten Persönlichkeit aber regte
er das religiöse Gefühl so mächtig an, daſs dieses in ihm
ein Ideal der Frömmigkeit anerkannte; wie denn über-
haupt eine historische Thatsache oder Person nur dadurch
Grundlage einer positiven Religion werden kann, daſs sie
in die Sphäre des Idealen erhoben wird 1).
Schon Spinoza hatte diese Unterscheidung gemacht in
der Behauptung, den historischen Christus zu kennen, sei
zur Seligkeit nicht nothwendig, wohl aber den idealen
die ewige Weisheit Gottes nämlich, welche sich in allen
Dingen, im Besondern im menschlichen Gemüth, und al-
lerdings in ausgezeichnetem Grad in Jesu Christo geoffen-
bart habe, und welche allein den Menschen belehre, was
wahr und falsch, gut und böse sei 2).
Auch nach Kant darf es nicht zur Bedingung der
Seligkeit gemacht werden, daſs man glaube, es habe ein-
mal einen Menschen gegeben, der durch seine Heiligkeit
und sein Verdienst sowohl für sich als auch für alle an-
dern genuggethan habe; denn davon sage uns die Ver-
nunft nichts; wohl aber sei es allgemeine Menschenpflicht,
zu dem Ideal der moralischen Vollkommenheit, welches in
der Vernunft liege, sich zu erheben, und durch dessen
Vorhaltung sich sittlich kräftigen zu lassen: nur zu diesem
Das Leben Jesu II. Band. 46
[722]Schluſsabhandlung. §. 145.
moralischen, nicht zu jenem historischen Glauben sei der
Mensch verpflichtet 3).
Auf dieses Ideal sucht nun Kant die einzelnen Züge
der biblischen und kirchlichen Lehre von Christo umzu-
deuten. Die Menschheit oder das vernünftige Weltwesen
überhaupt in seiner ganzen sittlichen Vollkommenheit ist
es allein, was eine Welt zum Gegenstande des göttlichen
Rathschlusses und zum Zweck der Schöpfung machen
kann; diese Idee der gottwohlgefälligen Menschheit ist in
Gott von Ewigkeit her, sie geht von seinem Wesen aus,
und ist insofern kein erschaffenes Ding, sondern sein ein-
geborner Sohn, das Wort, durch welches, d. h. um des-
sen willen, Alles gemacht ist, in welchem Gott die Welt
geliebt hat. Sofern von dieser Idee der moralischen Voll-
kommenheit der Mensch nicht selbst der Urheber ist, son-
dern sie in ihm Plaz genommen hat, ohne daſs man be-
griffe, wie seine Natur für sie habe empfänglich sein kön-
nen: so läſst sich sagen, daſs jenes Urbild vom Himmel
zu uns herabgekommen sei, daſs es die Menschheit ange-
nommen habe, und diese Vereinigung mit uns kann als
ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen
werden. Dieses Ideal der moralischen Vollkommenheit,
wie sie in einem von Bedürfnissen und Neigungen abhän-
gigen Weltwesen möglich ist, können wir uns nicht an-
ders vorstellen, als in Form eines Menschen, und zwar,
weil wir uns von der Stärke einer Kraft, und so auch
der sittlichen Gesinnung, keinen Begriff machen können,
als wenn wir sie mit Hindernissen ringend, und unter
den gröſsten Anfechtungen dennoch überwindend uns vor-
stellen, eines solchen Menschen, der nicht allein alle Men-
schenpflicht selbst auszuüben, und durch Lehre und Bei-
spiel das Gute in gröſstmöglichem Umfang um sich her
[723]Schluſsabhandlung. §. 145.
auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die stärksten
Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum
schmählichsten Tode um des Weltbesten willen zu über-
nehmen bereitwillig wäre.
Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Bezie-
hung vollständig in sich selbst, und es bedarf keines Bei-
spiels in der Erfahrung, um dieselbe zum verbindenden
Vorbild für uns zu machen, da sie als solches schon in
unserer Vernunft liegt. Auch bleibt dieses Urbild wesent-
lich nur in der Vernunft, weil ihm kein Beispiel in der
äusseren Erfahrung adäquat sein kann, als welche das
Innere der Gesinnung nicht aufdeckt, sondern darauf nur
mit schwankender Gewiſsheit schlieſsen läſst. Da jedoch
diesem Urbilde alle Menschen gemäſs sein sollten, und
folglich es auch können müssen: so bleibt immer möglich,
daſs in der Erfahrung ein Mensch vorkomme, der durch
Lehre, Lebenswandel und Leiden das Beispiel eines gott-
wohlgefälligen Menschen gebe; doch auch in dieser Er-
scheinung des Gottmenschen wäre nicht eigentlich das,
was von ihm in die Sinne fällt, oder durch Erfahrung
erkannt werden kann, Objekt des seligmachenden Glau-
bens, sondern das in unsrer Vernunft liegende Urbild,
welches wir jener Erscheinung unterlegten, weil wir sie
demselben gemäſs fänden, aber freilich immer nur in so-
weit, als dieſs in äusserer Erfahrung erkannt werden kann.
Weil wir alle, obwohl natürlich erzeugte Menschen, uns
verbunden und daher im Stande fühlen, selbst solche Bei-
spiele abzugeben: so haben wir keine Ursache, in jenem
musterhaften Menschen einen übernatürlich erzeugten zu
erblicken; ebensowenig hat er zu seiner Beglaubigung
Wunder nöthig, sondern neben dem moralischen Glauben
an die Idee ist nur noch die historische Wahrnehmung erfor-
derlich, daſs sein Lebenswandel ihr gemäſs sei, um ihn
als Beispiel derselben zu beglaubigen.
Derjenige nun, welcher sich einer solchen morali-
46 *
[724]Schluſsabhandlung. §. 145.
schen Gesinnung bewuſst ist, daſs er gegründetes Ver-
trauen auf sich setzen kann, er würde unter ähnlichen
Versuchungen und Leiden, wie sie an dem Urbilde der
Menschheit als Probierstein seiner moralischen Gesinnung
vorgestellt werden, diesem unwandelbar anhängig und in
treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch al-
lein ist befugt, sich für einen Gegenstand des göttlichen
Wohlgefallens zu halten. Um zu solcher Gesinnung sich
zu erheben, muſs der Mensch vom Bösen ausgehen, den
alten Menschen ausziehen, sein Fleisch kreuzigen; eine
Umänderung, welche wesentlich mit einer Reihe von
Schmerzen und Leiden verbunden ist. Diese hat der alte
Mensch als Strafen verdient: sie treffen aber den neuen,
indem der Wiedergeborene, der sie auf sich nimmt, nur
noch physisch, seinem empirischen Charakter nach, als Sin-
nenwesen, der alte bleibt, moralisch aber, als intelligib-
les Wesen, in seiner veränderten Gesinnung, ein neuer
Mensch geworden ist. Sofern er nun in der Sinnesände-
rung die Gesinnung des Sohnes Gottes in sich aufgenom-
men hat, so kann, was eigentlich ein Stellvertreten des
alten Menschen für den neuen ist, als Stellvertretung des
Sohnes Gottes, wenn man die Idee personificirt, vorge-
stellt und gesagt werden, dieser selbst trage für den Men-
schen, für alle, die an ihn praktisch glauben, als Stellver-
treter die Sündenschuld, thue durch Leiden und Tod der
höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug, und mache
als Sachverwalter, daſs sie hoffen können, vor dem Rich-
ter als gerechtfertigt zu erscheinen, indem das Leiden, wel-
ches der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im
Leben fortwährend übernehmen muſs, an dem Repräsen-
tanten der Menschheit als ein für allemal erlittener Tod
vorgestellt wird 4).
[725]Schluſsabhandlung. §. 145.
Auch Kant, wie Schleiermacher, dessen Christologie
überhaupt in manchen Beziehungen an die Kantische er-
innert 5), kommt in der Aneignung der kirchlichen Chri-
stologie nur bis zum Tod Christi: von seiner Auferstehung
und Himmelfahrt aber sagt er, sie können zur Religion
innerhalb der Grenzen der bloſsen Vernunft nicht benüzt
werden, weil sie auf Materialität aller Weltwesen führen
würden. Wie er indeſs auf der andern Seite diese That-
sachen doch wieder als Symbole von Vernunftideen, als
Bilder des Eingangs in den Siz der Seligkeit, d. h. in die
Gemeinschaft mit allen Guten, gelten läſst: so hat noch
bestimmter Tieftrunk erklärt, ohne die Auferstehung wür-
de die Geschichte Jesu sich in ein widriges Ende verlie-
ren, das Auge sich mit Wehmuth und Widerwillen von
einer Begebenheit abwenden, in welcher das Muster der
Menschheit als Opfer unheiliger Wuth fiele, und die
Scene sich mit seinem ebenso unschuldigen, als schmerzli-
chen Tod beschlöſse; es müsse der Ausgang dieser Geschich-
te mit der Erfüllung der Erwartung gekrönt sein, zu wel-
cher sich die moralische Betrachtung eines jeden unwider-
stehlich hingezogen fühle: mit dem Übergang in eine ver-
geltende Unsterblichkeit 6).
Auf ähnliche Weise schrieb de Wette, wie jeder
Geschichte, und insbesondere der Religionsgeschichte, so
auch der evangelischen, einen symbolischen, idealen Cha-
rakter zu, vermöge dessen sie Ausdruck und Abbild des
menschlichen Geistes und seiner Thätigkeiten sei. Die Ge-
schichte von der wunderbaren Erzeugung Jesu stelle den
göttlichen Ursprung der Religion dar; die Erzählungen
von seinen Wunderthaten die selbstständige Kraft des
Menschengeistes und die erhabene Lehre des geistigen
Selbstvertrauens; seine Auferstehung sei das Bild des
[726]Schluſsabhandlung. §. 145.
Siegs der Wahrheit, das Vorzeichen des künftig zu voll-
endenden Triumphs des Guten über das Böse; seine Him-
melfahrt das Symbol der ewigen Herrlichkeit der Religion.
Die religiösen Grundideen, welche Jesus in seiner Lehre
ausgesprochen, drücken sich ebenso klar in seiner Ge-
schichte aus. Sie ist Ausdruck der Begeisterung, in dem
muthvollen Wirken Jesu und der siegreichen Gewalt sei-
ner Erscheinung; der Resignation, in seinem Kampf mit
der Bosheit der Menschen, der Wehmuth seiner warnen-
den Reden, und vor Allem in seinem Tode; Christus am
Kreuz ist das Bild der durch Aufopferung geläuterten
Menschheit: wir sollen uns alle mit ihm kreuzigen, um
mit ihm zu neuem Leben aufzustehen. Endlich die Idee
der Andacht ist der Grundton der Geschichte Jesu, indem
jeder Moment seines Lebens dem Gedanken an seinen himm-
lischen Vater gewidmet ist 7).
Besonders klar hatte schon früher Horst diese sym-
bolische Ansicht von der Geschichte Jesu ausgesprochen.
Ob Alles, was von Christo erzählt wird, sagt er, genau so
als Geschichte vorgefallen ist, das kann uns jezt ziemlich
gleichgültig sein, auch können wir es nicht mehr ausmit-
teln. Ja, wenn wir es uns gestehen wollen, so ist dem
gebildeten Theil der Zeitgenossen dasjenige, was den alt-
gläubigen Christen heilige Geschichte war, nur noch Fabel:
die Erzählungen von Christi übernatürlicher Geburt, von
seinen Wundern, seiner Auferstehung und Himmelfahrt,
müssen, als den Gesetzen unsres Erkenntniſsvermögens
widersprechend, verworfen werden. Aber man fasse sie
nur nicht mehr bloſs verständig, als Geschichte, sondern
mit Gefühl und Phantasie, als Dichtung, auf: so wird
man finden, daſs nichts in diesen Erzählungen willkühr-
lich gemacht ist, sondern Alles seine Anknüpfungspunkte
[727]Schluſsabhandlung. §. 145.
in dem Tiefsten und Gottverwandten des menschlichen Ge-
müthes hat. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, läſst
sich an die Geschichte Christi Alles anknüpfen, was für
das religiöse Vertrauen wichtig, für den reinen Sinn bele-
bend, für das zarte Gefühl anziehend ist. Es ist jene
Geschichte eine heilig schöne Dichtung des allgemeinen
Menschengeschlechts, in der sich alle Bedürfnisse unseres
religiösen Triebs vereinigen, und dieſs ist eben die höchste
Ehre und der stärkste Beweis für die allgemeine Gültig-
keit des Christenthums. Die Geschichte des Evangeliums
ist im Grunde die Geschichte der idealisch gedachten all-
gemeinen Menschennatur, und zeigt uns in dem Leben des
Einzigen, was der Mensch sein soll, und mit ihm verbun-
den durch Befolgung seiner Lehre und seines Beispiels
wirklich werden kann. Dabei wird nicht geleugnet, daſs
dem Paulus, Johannes, Matthäus und Lukas das That-
sache und gewisse Geschichte war, was uns jezt nur noch
als heilige Dichtung erscheinen kann. Aber es war ihnen
auf ihrem Standpunkt aus eben dem inneren Grunde heili-
ge Thatsache und Geschichte, aus welchem es uns jezt auf
unserem Standpunkt heilige Mythe und Dichtung ist. Nur
die Ansichten sind verschieden: die menschliche Natur,
und in ihr der religiöse Trieb, bleibt immer derselbe. Jene
Männer bedurften in ihrer Welt, zur Belebung der religiösen
und moralischen Anlagen in den Menschen ihrer Zeit, Ge-
schichten und Thatsachen, deren innersten Kern aber Ideen
bildeten: uns sind die Thatsachen veraltet und zweifelhaft
geworden, und nur noch um der zum Grunde liegenden
Ideen willen die Erzählungen davon ein Gegenstand der
Verehrung 8).
Diese Ansicht traf zunächst von Seiten des kirchlichen
Bewuſstseins der Vorwurf, daſs sie statt des Reichthums
[728]Schluſsabhandlung. §. 145.
göttlicher Realität, wie sie der Glaube in der Geschichte
Christi findet, eine Sammlung leerer Ideen und Ideale un-
terschiebe, statt ein trostreiches Sein zu gewähren, es
bei'm drückenden Sollen bewenden lasse. Für die Gewiſs-
heit, daſs Gott sich einmal wirklich mit der menschlichen
Natur vereinigt hat, bietet die Anmahnung schlechten Er-
saz, daſs der Mensch göttlichen Sinnes werden solle; für
die Beruhigung, welche dem Gläubigen die durch Chri-
stum vollbrachte Erlösung gewährt, ist ihm die Veran-
schaulichung der Pflicht kein Äquivalent, sich selbst von
der Sünde loszumachen. Aus der versöhnten Welt, in
welche ihn das Christenthum versezt, wird der Mensch
durch diese Ansicht in eine unversöhnte zurückgeworfen,
aus einer seligen in eine unselige; denn wo die Versöh-
nung erst zu vollbringen, die Seligkeit erst zu erringen
ist, da ist vor der Hand noch Feindschaft und Unselig-
keit. Und zwar ist die Hoffnung, aus dieser je ganz her-
auszukommen, nach den Principien dieser Ansicht, welche
zur Idee nur eine unendliche Annäherung kennt, eine
täuschende; denn das nur im endlosen Progreſs zu Errei-
chende ist in der That ein Unerreichbares.
Doch nicht allein der Glaube, sondern auch die Wis-
senschaft in ihrer neuesten Entwicklung hat diesen Stand-
punkt unzureichend befunden. Sie hat erkannt, daſs, die
Ideen zum bloſsen Sollen machen, dem kein Sein entspre-
che, sie aufheben heiſse: wie das Unendliche als bleiben-
des Jenseits des Endlichen festhalten, es verendlichen; sie
hat begriffen, daſs das Unendliche im Setzen und Wie-
deraufheben des Endlichen sich selbst erhält, die Idee in
der Gesammtheit ihrer Erscheinungen sich verwirklicht,
daſs nichts werden kann, was nicht an sich schon ist:
also auch vom Menschen sich nicht verlangen läſst, sich
mit Gott zu versöhnen und göttlichen Sinnes zu werden,
wenn diese Versöhnung und Vereinigung nicht an sich
schon vollbracht ist.
[729]Schluſsabhandlung. §. 146.
§. 146.
Die speculative Christologie.
Schon Kant hatte gesagt, das gute Princip sei nicht
bloſs zu einer gewissen Zeit, sondern vom Ursprung
des menschlichen Geschlechts an unsichtbarerweise vom
Himmel in die Menschheit herabgekommen und Schel-
ling stellte den Saz auf: die Menschwerdung Gottes
ist eine Menschwerdung von Ewigkeit 1). Aber wäh-
rend der erstere unter jenem Ausdruck nur die morali-
sche Anlage verstanden hatte, welche mit ihrem Ideal und
ihrem Sollen von jeher dem Menschen eingepflanzt gewe-
sen sei: verstand der leztere unter dem menschgeworde-
nen Sohn Gottes das Endliche selbst, wie es im Menschen
zum Bewuſstsein kommt, und in seinem Unterschied von
dem Unendlichen, mit dem es doch Eins ist, als ein lei-
dender und den Verhältnissen der Zeit unterworfener Gott
erscheint.
In der neuesten Philosophie ist dieſs weiter so aus-
geführt worden 2). Wenn Gott als Geist ausgesprochen
wird, so liegt darin, da auch der Mensch Geist ist, be-
reits, daſs beide an sich nicht verschieden sind. Näher
ist in der Erkenntniſs Gottes als Geistes, da der Geist we-
sentlich dieſs ist, in der Unterscheidung seiner von sich
identisch mit sich zu bleiben, im Andern seiner sich selbst
zu haben, dieſs enthalten, daſs Gott nicht als sprödes
Unendliche ausser und über dem Endlichen verharrt, son-
dern in dasselbe eingeht, die Endlichkeit, die Natur und
den menschlichen Geist, nur als seine Entäusserung sezt,
aus der er ebenso ewig wieder in die Einheit mit sich
[730]Schluſsabhandlung. §. 146.
selbst zurückkehrt. So wenig der Mensch als bloſs end-
licher und an seiner Endlichkeit festhaltender Geist Wahr-
heit hat: so wenig hat Gott als bloſs unendlicher, in sei-
ner Unendlichkeit sich abschlieſsender Geist Wirklichkeit;
sondern wirklicher Geist ist der unendliche nur, wenn er
zu endlichen Geistern sich erschlieſst: wie der endliche
Geist nur dann wahrer ist, wenn er in den unendlichen
sich vertieft. Das wahre und wirkliche Dasein des Gei-
stes also ist weder Gott für sich, noch der Mensch für
sich, sondern der Gottmensch; weder allein seine Unend-
lichkeit, noch allein seine Endlichkeit, sondern die Be-
wegung des Sichhingebens und Zurücknehmens zwischen
beiden, welche von göttlicher Seite Offenbarung, von
menschlicher Religion ist.
Sind Gott und Mensch an sich Eins, und ist die Re-
ligion die menschliche Seite, das werdende Bewuſstsein
dieser Einheit: so muſs diese in der Religion auch für den
Menschen werden, in ihm zum Bewuſstsein und zur Wirk-
lichkeit kommen. Freilich, so lange der Mensch sich selbst
noch nicht als Geist weiſs, kann er auch Gott noch nicht
als Menschen wissen; ist er noch natürlicher Geist, so
wird er die Natur vergöttern; als gesezlicher Geist, der
seine Natürlichkeit nur erst auf äusserliche Weise bemei-
stert, wird er Gott als Gesezgeber sich gegenüberstellen;
aber sind nur einmal im Gedränge der Weltgeschichte
beide, jene Natürlichkeit ihres Verderbens, diese Gesez-
lichkeit ihres Unglücks, inne geworden: so wird sowohl
jene das Bedürfniſs empfinden, einen Gott zu haben, der
sie über sich erhebe, als diese einen, der sich zu ihr her-
unterlasse. Ist die Menschheit einmal reif dazu, die Wahr-
heit, daſs Gott Mensch, der Mensch göttlichen Geschlech-
tes ist, als ihre Religion zu haben: so muſs, da die Reli-
gion die Form ist, in welcher die Wahrheit für das ge-
meine Bewuſstsein wird, jene Wahrheit auf eine gemein-
verständliche Weise, als sinnliche Gewiſsheit, erscheinen,
[731]Schluſsabhandlung. §. 146.
d. h. es muſs ein menschliches Individuum auftreten, wel-
ches als der gegenwärtige Gott gewuſst wird. Sofern die-
ser Gottmensch das jenseitige göttliche Wesen und das
diesseitige menschliche Selbst in Eins zusammenschlieſst,
kann von ihm gesagt werden, daſs er den göttlichen Geist
zum Vater, und eine menschliche Mutter habe; sofern
sein Selbst sich nicht in sich, sondern in die absolute Substanz
reflektirt, nichts für sich, sondern nur für Gott sein will,
ist er der Sündlose und Vollkommene; als Mensch von
göttlichem Wesen ist er die Macht über die Natur und
Wunderthäter; aber als Gott in menschlicher Erscheinung
ist er von der Natur abhängig, ihren Bedürfnissen und
Leiden unterworfen, befindet sich im Stand der Erniedri-
gung. Wird er der Natur auch den lezten Tribut bezah-
len müssen? Hebt die Thatsache, daſs die menschliche
Natur dem Tod verfällt, nicht die Meinung wieder auf,
daſs sie an sich Eins mit der göttlichen sei? Nein: der
Gottmensch stirbt, und zeigt dadurch, daſs es Gott mit
seiner Menschwerdung Ernst ist; daſs er zu den unter-
sten Tiefen der Endlichkeit herabzusteigen nicht ver-
schmäht, weil er auch aus diesen den Rückweg zu sich
zu finden weiſs, auch in der völligsten Entäusserung mit
sich identisch zu bleiben vermag. Näher, sofern der Gott-
mensch als der in seine Unendlichkeit reflektirte Geist
den Menschen als an ihrer Endlichkeit festhaltenden ge-
genübersteht: ist hiemit ein Gegensaz und Kampf gesezt,
und der Tod des Gottmenschen als gewaltsamer, durch
der Sünder Hände, bestimmt, wodurch zu der physischen
Noth noch die moralische der Schmach und Beschuldi-
gung des Verbrechens kommt. Findet so Gott den Weg
vom Himmel bis zum Grabe: so muſs für den Menschen
auch aus dem Grabe der Weg zum Himmel zu finden sein;
das Sterben des Lebensfürsten ist das Leben des Sterbli-
chen. Schon durch sein Eingehen in die Welt als Gott-
mensch zeigte sich Gott mit der Welt versöhnt: näher
[732]Schluſsabhandlung. §. 147.
aber, indem er sterbend seine Natürlichkeit abstreifte,
zeigte er den Weg, wie er die Versöhnung ewig zu Stan-
de bringt, nämlich durch Entäusserung zur Natürlichkeit
und Wiederaufhebung derselben identisch mit sich zu blei-
ben. Insofern der Tod des Gottmenschen nur Aufhebung
seiner Entäusserung und Niedrigkeit ist, ist er in der
That Erhöhung und Rückkehr zu Gott, und so folgt auf
den Tod wesentlich die Auferstehung und Himmelfahrt.
Indem der Gottmensch, welcher während seines Le-
bens den mit ihm Lebenden sinnlich als ein Andrer gegen-
überstand, durch den Tod ihren Sinnen entnommen wird,
geht er in ihre Vorstellung und Erinnerung ein, wird so-
mit die in ihm gesezte Einheit des Göttlichen und Mensch-
lichen allgemeines Bewuſstsein, und die Gemeinde muſs die
Momente seines Lebens, welche er äusserlich durchlief, in
sich auf geistige Weise wiederholen. Im Natürlichen sich
schon vorfindend, muſs der Glaubige, wie Christus, dem
Natürlichen — aber nur innerlich, wie er äusserlich —
sterben, geistig, wie Christus leiblich, sich kreuzigen und
begraben lassen, um durch Aufhebung der Natürlichkeit
mit sich als Geist identisch zu sein, und an Christi Selig-
keit und Herrlichkeit Antheil zu bekommen.
§. 147.
Leztes Dilemma.
Hiemit scheint auf höhere Weise, aus dem Begriff
Gottes und des Menschen in ihrem gegenseitigen Verhält-
niſs heraus, die Wahrheit der kirchlichen Vorstellung von
Christus bestätigt, und so zum orthodoxen Standpunkt,
wiewohl auf umgekehrtem Wege, zurückgelenkt zu sein;
wie nämlich dort aus der Richtigkeit der evangelischen
Geschichte die Wahrheit der kirchlichen Begriffe von Chri-
sto deducirt wurde: so hier aus der Wahrheit der Begrif-
fe die Richtigkeit der Historie. Das Vernünftige ist auch
wirklich, die Idee nicht ein Kantisches Sollen bloſs, son-
[733]Schluſsabhandlung. §. 147.
dern ebenso ein Sein; als Vernunftidee nachgewiesen al-
so muſs die Idee der Einheit der göttlichen und menschli-
chen Natur auch ein geschichtliches Dasein haben. Die
Einheit Gottes mit dem Menschen, sagt daher Marheine-
ke1), ist in der Person Jesu Christi offenbar und wirk-
lich als ein Geschehensein; in ihm war, nach Rosenkranz2),
die göttliche Macht über die Natur concentrirt, er konnte
nicht anders wirken, als wunderbar, und das Wunderthun,
was uns befremdet, war ihm natürlich; seine Auferstehung,
sagt Conradi3), ist die nothwendige Folge der Vollendung
seiner Persönlichkeit, und darf so wenig befremden, daſs
es vielmehr befremden müſste, wenn sie nicht erfolgt wäre.
Allein sind denn durch diese Deduktion die Wider-
sprüche gelöst, welche an der kirchlichen Lehre von der
Person und Wirksamkeit Christi sich herausgestellt ha-
ben? Man darf nur mit dem Tadel, welchen gegen die
Schleiermacher'sche Kritik der kirchlichen Christologie
Rosenkranz in seiner Recension ausgespröchen hat, dasje-
nige vergleichen, was der leztere in seiner Encyklopädie an
die Stelle sezt: so wird man finden, daſs durch die allge-
meinen Sätze von Einheit der göttlichen und menschlichen
Natur die Erscheinung einer Person, in welcher diese
Einheit auf ausschlieſsende Weise individuell vorhanden
gewesen wäre, nicht im Mindesten denkbarer wird. Wenn
ich mir denken kann, daſs der göttliche Geist in seiner
Entäusserung und Erniedrigung der menschliche, und der
menschliche in seiner Einkehr in sich und Erhebung über
sich der göttliche ist: so kann ich mir deſswegen noch nicht
vorstellen, wie göttliche und menschliche Natur die verschie-
denen und doch verbundenen Bestandtheile einer geschicht-
lichen Person ausgemacht haben können; wenn ich den
[734]Schluſsabhandlung. §. 147.
Geist der Menschheit in seiner Einheit mit dem göttlichen
im Verlauf der Weltgeschichte immer vollständiger als die
Macht über die Natur sich bethätigen sehe: so ist dieſs
etwas ganz Anderes, als einen einzelnen Menschen für ein-
zelne willkührliche Handlungen mit solcher Macht ausge-
rüstet zu denken; vollends aus der Wahrheit, daſs die auf-
gehobene Natürlichkeit das Auferstehen des Geistes sei, wird
die leibliche Auferstehung eines Individuums niemals folgen.
Hiemit wären wir also wieder auf den Kantischen
Standpunkt zurückgesunken, den wir selbst ungenügend
befunden haben; denn wenn der Idee keine Wirklichkeit
zukommt, so ist sie leeres Sollen und Ideal. Aber heben
wir denn alle Wirklichkeit der Idee auf? Keineswegs,
sondern nur diejenige, welche aus den Prämissen nicht
folgt. Wenn der Idee der Einheit von göttlicher und mensch-
licher Natur Realität zugeschrieben wird, heiſst dieſs so-
viel, daſs sie einmal in einem Individuum, wie vorher und
hernach nicht mehr, wirklich geworden sein müsse? Das
ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein
Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle
andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von
Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel
sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie
ihren Reichthum auszubreiten. Und das soll keine wahre
Wirklichkeit der Idee sein? die Idee der Einheit von gött-
licher und menschlicher Natur wäre nicht vielmehr in un-
endlich höherem Sinn eine reale, wenn ich die ganze Mensch-
heit als ihre Verwirklichung begreife, als wenn ich ei-
nen einzelnen Menschen als solche aussondere? Eine
Menschwerdung Gottes von Ewigkeit nicht eine wahrere,
als eine in einem abgeschlossenen Punkt der Zeit?
Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daſs als
Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt,
statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht
Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum,
[735]Schluſsabhandlung. §. 147.
einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Ei-
genschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre
Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie
zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der bei-
den Naturen, der menschgewordene Gott, der zur End-
lichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlich-
keit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der
sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Gei-
stes und der Natur; sie ist der Wunderthäter: sofern im
Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer voll-
ständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum
machtlosen Material seiner Thätigkeit heruntergesezt wird;
sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwick-
lung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am
Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte
aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und
gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Na-
türlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung
ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltli-
chen Geistes ihre Einigkeit mit dem unendlichen Geiste des
Himmels hervorgeht, Durch den Glauben an diesen Chri-
stus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung,
wird der Mensch vor Gott gerecht: d. h. durch die Bele-
bung der Idee der Menschheit in sich, namentlich nach
dem Momente, daſs die Negation der Natürlichkeit, wel-
che selbst schon Negation des Geistes ist, also die Nega-
tion der Negation, der einzige Weg zum wahren geistigen
Leben für den Menschen sei, wird auch der einzelne des
gottmenschlichen Lebens der Gattung theilhaftig.
Dieſs allein ist der absolute Inhalt der Christologie:
daſs derselbe an die Person und Geschichte eines Einzel-
nen geknüpft erscheint, hat nur den subjektiven Grund,
daſs dieses Individuum durch seine Persönlichkeit und seine
Schicksale Anlaſs wurde, jenen Inhalt in das allgemeine
Bewuſstsein zu erheben, und daſs die Geistesstufe der al-
[736]Schluſsabhandlung. §. 147.
ten Welt, und des Volks zu jeder Zeit, die Idee der
Menschheit nur in der concreten Figur eines Individuums
anzuschauen vermag. In einer Zeit der tiefsten Zerrissen-
heit, der höchsten leiblichen und geistigen Noth, versinkt
ein reines, als göttlicher Gesandter verehrtes Individuum
in Leiden und Tod, und bildet sich in Kurzem der Glaube
an seine Wiederbelebung: da muſste jedem das tua res
agitur einfallen, und Christus als derjenige erscheinen,
welcher, wie Clemens von Alexandrien in etwas anderem
Sinne sagt, τὸ δρᾶμα τῆς ἀνϑρωπότητος ὑπεκρίνετο. War
in seinem Leiden die äussere Noth, welche die Mensch-
heit bedrückte, concentrirt, und die innere abgebildet: so
lag in seiner Wiederbelebung der Trost, daſs in solchem
Leiden der Geist sich nicht verliere, sondern erhalte,
durch die Negation der Natürlichkeit sich nicht verneine,
sondern in höherer Weise affirmire. Hatte Gott seinen Pro-
pheten, ja seinen Liebling und Sohn, in solches Elend da-
hingegeben um der Sünde der Menschen willen: so war
auch diese äusserste Grenze der Endlichkeit als Moment
im göttlichen Leben erkannt, und lernte der von Noth und
Sünde darniedergedrückte Mensch sich in die göttliche
Freiheit aufgenommen fühlen. — Wie der Gott des Plato
auf die Ideen hinschauend die Welt bildete: so hat der
Gemeinde, indem sie, veranlaſst durch die Person und
Schicksale Jesu, das Bild ihres Christus entwarf, unbe-
wuſst die Idee der Menschheit in ihrem Verhältniſs zur
Gottheit vorgeschwebt.
Die Wissenschaft unsrer Zeit aber kann das Bewuſst-
sein nicht länger mehr unterdrücken, daſs die Beziehung
auf ein Individuum nur zur zeit- und volksmäſsigen Form
dieser Lehre gehört. Schleiermacher hat ganz recht ge-
habt, wenn er sagte, es ahne ihm, daſs bei der speculati-
ven Ansicht für die geschichtliche Person des Erlösers
nicht viel mehr als bei der ebionitischen übrig bleibe 4).
[737]Schluſsabhandlung. §. 147.
Die sinnliche Geschichte des Individuums, sagt Hegel, ist
nur der Ausgangspunkt für den Geist. Indem der Glaube
von der sinnlichen Weise anfängt, hat er eine zeitliche
Geschichte vor sich; was er für wahr hält, ist äussere,
gewöhnliche Begebenheit, und die Beglaubigung ist die
historische, juristische Weise, ein Faktum durch sinnliche
Gewiſsheit und moralische Zuverläſsigkeit der Zeugen zu
beglaubigen. Indem nun aber der Geist von diesem Äus-
seren Veranlassung nimmt, die Idee der mit Gott einigen
Menschheit sich zum Bewuſstsein zu bringen, und nun in
jener Geschichte die Bewegung dieser Idee anschaut: hat
sich der Gegenstand vollkommen verwandelt, ist aus ei-
nem sinnlich empirischen zu einem geistigen und göttlichen
geworden, der nicht mehr in der Geschichte, sondern in
der Philosophie seine Beglaubigung hat. Durch dieses
Hinausgehen über die sinnliche Geschichte zur absoluten,
wird jene als das Wesentliche aufgehoben, zum Unterge-
ordneten herabgesezt, über welchem die geistige Wahrheit
auf eigenem Boden steht, zum fernen Traumbild, das nur
noch in der Vergangenheit, und nicht wie die Idee in dem
sich schlechthin gegenwärtigen Geiste vorhanden ist 5).
Schon Luther hat die leiblichen Wunder gegen die geistli-
chen, als die rechten hohen Mirakel, herabgesezt: und wir
sollten uns für einige Krankenheilungen in Galiläa auf hö-
here Weise interessiren können, als für die Wunder der
Weltgeschichte, für die in's Unglaubliche steigende Ge-
walt des Menschen über die Natur, für die unwider-
stehliche Macht der Idee, welcher noch so groſse Massen
des Ideenlosen keinen Widerstand entgegenzusetzen ver-
mögen? uns sollten vereinzelte, ihrer Materie nach unbe-
deutende Begebnisse mehr sein, als das universellste Ge-
schehen, einzig deſswegen, weil wir bei diesem die Na-
türlichkeit des Hergangs, wenn nicht begreifen, doch vor-
Das Leben Jesu II. Band. 47
[738]Schluſsabhandlung. §. 147.
aussetzen, bei jenen aber das Gegentheil? Das wäre dem
besseren Bewuſstsein unserer Zeit in's Angesicht wider-
sprochen, welches Schleiermacher richtig und abschlieſsend
so ausgedrückt hat: aus dem Interesse der Frömmigkeit
könne nie mehr das Bedürfniſs entstehen, eine Thatsache
so aufzufassen, daſs durch ihre Abhängigkeit von Gott ihr
Bedingtsein durch den Naturzusammenhang aufgehoben
würde, da wir über die Meinung hinausseien, als ob die
göttliche Allmacht sich gröſser zeigte in der Unterbrechung
des Naturzusammenhangs, als in dem geordneten Verlauf
desselben 6). Ebenso, wenn wir das Menschwerden, Ster-
ben und Wiederauferstehen, das: duplex negatio affirmat,
als den ewigen Kreislauf, den endlos sich wiederholenden
Pulsschlag des göttlichen Lebens wissen: was kann an
einem einzelnen Faktum, welches diesen Proceſs dazu
bloſs sinnlich darstellt, noch besonders gelegen sein? Zur
Idee im Faktum, zur Gattung im Individuum, will unsre
Zeit in der Christologie geführt sein: eine Dogmatik, wel-
che im Locus von Christo bei ihm als Individuum stehen
bleibt, ist keine Dogmatik, sondern eine Predigt.
Aber eben die Predigt, wie diese sich dann zur Dog-
matik verhalten solle, und wie überhaupt noch eine christ-
liche Predigt möglich sei, wenn die Dogmatik jene Ge-
stalt angenommen, ist die bedenkliche Frage, die sich uns
hier schlieſslich noch entgegenstellt. Schleiermacher hat
gesagt, wenn er sich die immer mehr herannahende Kri-
sis in der Theologie denke, und stelle sich vor, er müſs-
te dann zwischen einem von beiden wählen, entweder die
christliche Urgeschichte wie jede gemeine Geschichte der
Kritik preiſszugeben, oder seinen Glauben von der Specu-
lation zu Lehen zu nehmen: so würde er für sich allein
zwar das Leztere wählen; betrachte er sich aber in der
Gemeinde, und vorzüglich als Lehrer derselben: so werde
[739]Schluſsabhandlung. §. 147.
er von dieser Seite fort und auf die entgegengesezte hin-
übergezogen. Denn der Begriff der Idee Gottes und des
Menschen, auf welchem nach der speculativen Ansicht die
Wahrheit des christlichen Glaubens beruht, sei freilich
ein köstliches Kleinod, aber nur Wenige können es be-
sitzen, und ein solcher Privilegirter wolle er nicht sein in
der Gemeinde, daſs er unter Tausenden den Grund des
Glaubens allein hätte. Hier könne ihm nur wohl sein in
der völligen Gleichheit, in dem Bewuſstsein, daſs wir alle
auf dieselbe Weise von dem Einen nehmen und dasselbe
an ihm haben. Und als Wortführer und Lehrer in der
Gemeinde könnte er sich doch unmöglich die Aufgabe stel-
len, Alt und Jung ohne Unterschied den Begriff der Idee
Gottes und des Menschen beizubringen: vielmehr müſste
er ihren Glauben als einen grundlosen in Anspruch neh-
men, und könnte ihn auch nur als einen solchen stärken
und befestigen wollen. Indem so in der gemeinsamen An-
gelegenheit der Religion eine unübersteigliche Kluft befe-
stigt werde, bedrohe uns die speculative Theologie mit
einem Gegensaz von esoterischer und exoterischer Lehre,
welcher den Äusserungen Christi, es sollen Alle von Gott
gelehrt sein, gar nicht gemäſs sei: die Wissenden haben
allein den Grund des Glaubens, die Nichtwissenden haben
nur den Glauben, und erhalten ihn nur auf dem Weg der
Überlieferung. Lasse hingegen die ebionitische Ansicht
nur wenig von Christo übrig, so sei dieſs Wenige doch
Allen gleich zugänglich und erreichbar, und wir bleiben
dabei bewahrt vor jeder immer doch in's Römische hin-
überspielenden Hierarchie der Speculation 7). Hier ist
auf gebildete Weise dasjenige ausgesprochen, was man
jezt von Vielen, nur in ihrer Art ungebildet, zu hören be-
kommt, daſs der speculative und zugleich kritische Theo-
log der Gemeinde gegenüber zum Lügner werde. Der
47 *
[740]Schluſsabhandlung. §. 147.
wirkliche Thatbestand ist hiebei dieser. Die Gemeinde
bezieht die kirchliche Christologie auf ein zu gewisser Zeit
geschichtlich dagewesenes Individuum: der speculative The-
olog auf eine Idee, die nur in der Gesammtheit der Individuen
zum Dasein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeli-
schen Erzählungen als Geschichte: dem kritischen Theolo-
gen guten Theils nur als Mythe. Soll er sich nun der
Gemeinde mittheilen, so stehen ihm vier Wege offen:
Erstlich der schon in den obigen Äusserungen Schlei-
ermacher's abgeschnittene Versuch, die Gemeinde auf sei-
nen Standpunkt zu erheben, das Geschichtliche auch für
sie in Ideen aufzulösen — ein Versuch, der nothwendig fehl-
schlagen muſs, weil der Gemeinde alle Prämissen fehlen,
durch welche in dem Theologen seine speculative Ansicht
vermittelt worden ist, den ebendeſswegen nur ein fana-
tisch gewordener Aufklärungstrieb machen könnte.
Der zweite, entgegengesezte Ausweg wäre, sich
durchaus auf den Standpunkt der Gemeinde zu versetzen,
und für die kirchliche Mittheilung sich aus der Sphäre des
Begriffs ganz in die Region der volksthümlichen Vorstel-
lung herabzulassen. Dieser Ausweg wird gewöhnlich zu
roh gefaſst und beurtheilt. Die Differenz zwischen dem
Theologen und der Gemeinde wird für eine totale angese-
hen: er müſste, meint man, auf die Frage, ob er an die
Geschichte Christi glaube, eigentlich nein sagen, sage aber
ja, und dieſs sei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm geist-
lichen Vortrag und Unterricht das Interesse ein geschicht-
liches wäre, verhielte es sich so: nun aber ist das Inter-
esse ein religiöses, es ist wesentlich Religion, was hier
mitgetheilt wird, erscheinend in Form von Geschichte, und
da kann, wer zwar an die Geschichte als solche nicht
gaubt, doch das Religiöse in ihr ebensogut anerkennen,
wie wer auch die Geschichte als solche annimmt; es ist
nur ein Unterschied der Form, von welchem der Inhalt
unberührt bleibt. Deswegen ist es ungebildet, es schlecht-
[741]Schluſsabhandlung. §. 147.
weg Lüge zu nennen, wenn ein Geistlicher z. B. von der
Auferstehung Christi predigt, indem er diese zwar als
einzelnes sinnliches Factum nicht für wirklich, aber doch
die Anschauung des geistigen Lebensprocesses, welche
darin liegt, für wahr hält. Näher jedoch ist diese Iden-
tität des Inhalts nur für denjenigen vorhanden, welcher
Inhalt und Form der Religion zu unterscheiden weiſs, d. h.
für den Theologen, nicht aber für die Gemeinde, zu wel-
cher er spricht: diese kann sich keinen Glauben an die
dogmatische Wahrheit z. B. der Auferstehung Christi den-
ken, ohne Überzeugung von ihrer historischen Wirklich-
keit, und kommt sie dahinter, daſs der Geistliche die lez-
tere nicht annimmt, und doch noch von Auferstehung pre-
digt, so muſs er ihr als Lügner erscheinen, wodurch das gan
ze Verhältniſs zwischen ihm und der Gemeinde zerrissen ist.
So für sich zwar kein Lügner, aber der Gemeinde
als solcher erscheinend und sich dessen bewuſst, müſste
der Geistliche, wenn er demunerachtet zu der Gemeinde
in der Form ihres Bewuſstseins zu reden fortfährt, am
Ende doch auch sich selbst als Lügner erscheinen, und sähe
sich somit auf den dritten, verzweifelten Ausweg hinge-
trieben, den geistlichen Stand zu verlassen. Es hälfe
nichts, zu sagen, er solle nur von der Kanzel herab, und
statt dessen auf den Katheder steigen, wo er vor solchen,
die zum Wissen bestimmt sind, seine wissenschaftliche
Ansicht nicht zurückzuhalten brauche; denn wenn derje-
nige, welchen der Gang seiner Bildung nöthigte, die geist-
liche Praxis aufzugeben, nun viele solche heranzubilden
bekäme, die durch ihn zur geistlichen Praxis unfähig
würden, so wäre dieſs aus Übel nur ärger gemacht. Den-
noch könnte es andrerseits nicht gut für die Kirche gesorgt
heiſsen, wenn alle diejenigen, welche der Kritik und Spe-
culation bis zu den oben dargelegten Ergebnissen in sich
Raum verstatten, aus ihrem Lehrstande heraustreten soll-
ten. Denn da würde sich bald kein Geistlicher mehr mit
[742]Schluſsabhandlung. §. 147.
solchen Forschungen abgeben wollen, wenn er dadurch Ge-
fahr liefe, auf Resultate geführt zu werden, welche ihn
nöthigten, aus dem geistlichen Stand zu treten; die Kri-
tik und Philosophie würde Eigenthum der Nichttheologen
werden, den Theologen aber bliebe nur der Glaube, wel-
cher dann den Angriffen der kritischen und speculativen
Laien unmöglich in die Länge widerstehen könnte. Doch
der mögliche Erfolg hat da, wo es Wahrheit gilt, kein
Gewicht, und so soll das eben Gesagte nicht gesagt sein.
Das aber bleibt doch, wenn wir auf die Sache selbst se-
hen, daſs, wen seine theologischen Studien auf einen
Standpunkt geführt haben, auf welchem er glauben muſs,
hinter die Wahrheit gekommen, in das innerste Mysterium
der Theologie eingedrungen zu sein, der sich nicht ge-
neigt oder verpflichtet fühlen kann, nun gerade die Theolo-
gie zu quittiren, daſs dieſs vielmehr für einen solchen eine
unnatürliche Zumuthung, ja geradezu unmöglich sein muſs.
Er wird also nach einem andern Ausweg suchen,
und als solcher bietet sich ein vierter, der, wie die zwei
ersten einseitig, der dritte nur eine negative Vermittlung
war, so eine positive Vermittlung zwischen den beiden
Extremen, dem Bewuſstsein des Theologen und der Ge-
meinde, ist. Er wird sich in seiner Mittheilung an die
Gemeinde zwar in den Formen der populären Vorstellung
halten, aber so, daſs er bei jeder Gelegenheit den geistigen
Inhalt, der ihm die einzige Wahrheit der Sache ist, durch-
scheinen läſst, und so die allmählige Auflösung jener For-
men auch im Bewuſstsein der Gemeinde vorbereitet. Er
wird also, um bei dem gewählten Beispiel zu bleiben, am
Osterfest zwar von dem sinnlichen Faktum der Auferste-
hung Christi ausgehen, aber als die Hauptsache jenes mit
Christo Begrabenwerden und Auferstehen hervorheben,
worauf schon der Apostel dringt. Diesen Gang nimmt ei-
gentlich jeder Prediger, auch der rechtgläubigste, so oft
er aus der evangelischen Perikope, über welche er predigt,
[743]Schluſsabhandlung. §. 147.
eine Moral zieht: auch darin ist der Übergang von etwas
äusserlich Historischem zu einem inneren, Geistigen, vor-
handen. Freilich ist der Unterschied nicht zu übersehen,
daſs der orthodoxe Prediger die sogenannte Moral derge-
stalt auf die Historie seines Textes baut, daſs diese als
geschichtliche Grundlage liegen bleibt: wogegen bei dem
speculativen Prediger der Übergang von der biblischen Ge-
schichte oder kirchlichen Lehre zu der Wahrheit, die er
daraus ableitet, die negative Bedeutung einer Aufhebung
von jener hat. Genau betrachtet jedoch fehlt auch im Über-
gang des orthodoxen Predigers vom evangelischen Text zur
Nutzanwendung dieses negative Moment nicht; indem er
von der Geschichte zur Lehre fortschreitet, sagt er damit
wenigstens so viel: mit der Geschichte ist es nicht gethan,
sie ist die Wahrheit noch nicht, sie muſs von einer ver-
gangenen zur gegenwärtigen, von einem euch fremden,
äusseren Geschehen zu eurer eigensten inneren That wer-
den: so daſs es sich mit diesem Übergang auf ähnliche Wei-
se verhält, wie mit den Beweisen für das Dasein Gottes,
wo das weltliche Dasein, von welchem ausgegangen wird,
auch scheinbar zum Grunde liegen bleibt, in der That aber
als das wahre Sein negirt, und zum Absoluten aufgehoben
wird. Immerhin indessen bleibt es noch ein merklicher
Unterschied, ob ich sage: da und sofern dieſs geschehen
ist, habt ihr das zu thun und euch dessen zu getrösten, —
oder: dieſs ist zwar erzählt als einmal geschehen, das
Wahre aber ist, daſs es immer so geschieht, und auch an
und durch euch geschehen soll. Wenigstens wird die Ge-
meinde beides nicht für dasselbe nehmen, und es kehrt
somit auch hier die Gefahr zurück, daſs sie hinter diese
Differenz komme, und der Prediger ihr, und dadurch auch
sich selbst, als Lügner erscheine.
Von hier aus kann dann der Geistliche sich wieder ge-
trieben finden, entweder direkt mit der Sprache herauszu-
gehen, und das Volk zu seinen Begriffen erheben zu wol-
[744]Schluſsabhandlung. §. 147.
len; oder, da dieſs nothwendig miſsglücken muſs, sich
behutsam ganz an die Vorstellungsweise der Gemeinde an-
zuschmiegen; oder endlich, sofern er auch hier sich leicht
verräth, am Ende doch aus der Geistlichkeit zu treten.
Hiemit ist die Schwierigkeit eingestanden, welche die
kritisch-speculative Ansicht in der Theologie für das Ver-
hältniſs des Geistlichen zur Gemeinde mit sich führt; die
Collision dargelegt, in welche der Theolog geräth, wenn
es sich fragt, was nun für ihn, sofern er auf solche An-
sichten gekommen, weiter zu thun sei? und gezeigt, wie
unsere Zeit hierüber noch nicht zur sichern Entscheidung
gekommen ist. Aber diese Collision ist nicht durch den
Fürwiz eines Einzelnen gemacht, sondern durch den Gang
der Zeit und die Entwicklung der christlichen Theologie
nothwendig herbeigeführt; sie kommt an das Individuum
heran und bemächtigt sich seiner, ohne daſs es sich ihrer
erwehren könnte. Oder vielmehr, es kann dieſs mit leich-
ter Mühe, wenn es sich nämlich des Studirens und Den-
kens enthält, oder wenn dieses nicht, doch des freien Re-
dens und Schreibens. Und deren giebt es schon genug
in unserer Zeit, und man brauchte sich nicht zu bemühen,
ihrer immer mehrere zu machen durch Verunglimpfung
derer, welche sich im Geiste der fortgeschrittenen Wissen-
schaft vernehmen lassen. Aber auch deren giebt es noch,
welche unerachtet solcher Anfechtungen doch frei bekennen,
was nicht mehr verborgen werden kann — und die Zeit
wird lehren, ob mit diesen oder mit jenen der Kirche,
der Menschheit, der Wahrheit besser gedient ist.
Appendix A Register
der erläuterten evangelischen Abschnitte.
(Die römische Ziffer bedeutet den Band, die arabische die
Seitenzahl.)
Matthäus.
- 1, 1—17 I, 105—128. 156—166.
18—25 I, 129—156. 166—191.
22 f. I, 143—151.
25. I, 180—191. - 2, 1—23. I, 220—259.
22. 23. I, 265—278. - 3, 1. I, 309—319.
2—12 I, 319—331—355—363.
13—17 I, 369. 396. - 4, 1—11 I, 396—428.
12. I, 353 f.
13—17 I, 429. 445 f. 474.
18—22 I, 520—526.
23. I, 429 ff.
24. II, 5. 88. - 5—7. I, 569—587.
- 5, 17. I, 497 ff.
- 6, 1—18 I, 495.
- 8, 1—4 II, 52—57.
5—13 II, 103—122.
14. 15 II, 50.
18—20 I, 298. - 8, 21. 22. I, 526.
23—27 II, 173—180.
28—34 II, 17 f. 25—40. - 9, 1—8 II, 88—93.
9—13 I, 541—547
14—17 I, 359—361.
18. 19. 23—26 II, 133—140.
153—156. 171—173.
20—22 II, 94—103.
27—31 II, 65—69.
32—34 I, 686 ff. II, 6.
35 I, 678.
36—38 I, 589. - 10, 1—4 I, 548—566.
5. 6. I, 502—519.
7—42 I, 587—591.
23 I, 465. 467. - 11, 1. I, 587 f. 678.
2—6 I, 331—355.
7—19 I, 359—361.
20—24 I, 591 f.
25—30 I, 592 f. - 12, 1—8 I, 495. 645 f. II, 122.
9—13 I, 495. II, 122—129.
[746]Register.
- 12, 14 II, 375 ff.
15—21 I, 476.
22—45 I, 686—692.
38. 39 II, 3—5.
39. 40 II, 334—337.
43—45 II, 7—9.
46—50 I, 692—696. - 13, 1—53 I, 593—598.
54—58 I, 446—451. - 14, 1. 2. II, 11 f.
3—12 I, 364—368.
13—21 II, 197—219.
22—33 II, 180—191.
34 I, 460.
35 I, 678.
36 II, 93 f. - 15, 1—20 I, 499 f.
21—28 I, 503 f. II, 47.
29—39 II, 198—219. - 16, 1—4 I, 689—692.
5—12 II, 213—215.
13—20 II, 469—477.
21—23 II, 303—311.
27. 28 I, 465. II, 351. - 17, 1—13 II, 252—274.
1 I, 557 f.
14—21 II, 40—47.
21 II, 7.
22. 23 II, 303 ff.
24—27 II, 194—197. - 18, 1—20 I, 613—617. 696—701.
21—35 I, 598. - 19, 1 II, 275 f.
2—12 I, 617—619.
13—15 I, 701 f.
16—26 I, 605.
27—30 I, 489 f. - 20, 1—16 I, 598 f.
17—19 II, 303 ff.
20—28 I, 697—699. - 20, 29—34 II, 60—69.
- 21, 1—11 II, 281—300.
12. 13 I, 702—709.
14—17 II, 297 f.
18—22 II, 236—251.
23—27 I, 619.
28—32 I, 599.
33—44 I, 606.
45. 46 II, 375 f. - 22, 1—14 I, 609—613.
15—46 I, 619—625. - 23, 1—36 I, 625—630.
37 I, 444. - 24, 1—51. 25, 1—13. 31—46. II,
341—373. - 25, 14—30 II, 606—609.
- 26, 1—5 II, 376.
6—13 I, 709—731.
14—16 II, 380—396.
17—19 II, 396—401.
20—29 II, 402—442.
30—35 II, 434—436.
36—46 II, 443—454.
47—56 II, 472—480.
57—68 II, 480—489.
69—75 II, 489—498. - 27, 1 II. 485.
2 II, 511.
3—10 II, 498—511.
11—31 II, 511—527.
32—50. 55. 56. II, 527—553.
50—54 II, 554—565.
57—61 II, 574—582.
62—66. 28, 4. 11—13. II,
582—590. - 28, 1—10 II, 590—609.
16. 17 II, 609—629.
18—20 II, 666 ff.
[747]Register.
Markus.
- 1, 2—8 I, 319—331. 355—363.
9—11 I, 369—396.
12. 13 I, 396—428.
14. 15 I, 429. 474.
16—20 I, 520—526.
21—28 II, 21—25.
29—31 II, 50.
32. 33 I, 682.
34 I, 475. II, 23.
40—43 II, 52—57. - 2, 1. 2 I, 682.
3—12 II, 88—93.
5 II, 83—88.
13—17 I, 541—547.
18—22 I, 360.
23—28 I, 495 ff. 645 f. - 3, 1—5 II, 122—129.
6. II, 375.
13—19 I, 548—566.
20 I, 682.
21. 31—35 I, 692—696.
22—30 I, 686 ff. - 4, 1—34 I, 596 f.
35—41 II, 173—180. - 5, 1—20 II, 25—40.
21—23. 35—43 II, 133—140.
153—173.
24—34 II, 94—103. - 6, 1—6 I, 447—451.
7—13 I, 587—591.
14—29 I, 364—368.
30—44 II, 197—219.
45—53 II, 180—191.
54—56 II, 93. - 7, 1—23 I, 628 f.
24—30 I, 503 f.
31—37 II, 69—76. - 8, 1—9 II, 198—203.
- 8, 10—13 I, 690. II, 4.
14. 15. II, 213—215
16—20 II, 199.
22—26 II, 69—76.
27—30 I, 469—477.
31 ff. II, 303 ff. - 9, 1—13 II, 252—274.
14—29 II, 40—47.
30—32 II, 303 ff.
33—50 I, 578 ff. 613 ff. 696 ff. - 10, 1—12 I, 581 f. 617—619.
13—16 I, 701 f.
17—27 I, 605.
28—31 I, 489 f.
32—34 II, 303 ff.
35—45 II, 697—699.
46—52 II, 60—69. - 11, 1—11 II, 281—300.
12—14. 20—26 II, 236—251.
15—17 I, 702—709.
18. 19. II, 375.
27—33 I, 619. - 12, 1—12 I, 606.
13—40 I, 619—625. - 13, 1—37 II, 341—373.
- 14, 1. 2. II, 377.
3—9 I, 709—731.
10. 11 II, 380—396.
12—16 II, 396—401.
17—21 II, 425—436
22—25 II, 436—442.
26—31 II, 434—436.
32—42 II, 443—454.
43—52 II, 472—480.
53—65 II, 480—489.
66—72 II, 489—498. - 15, 1—20 II, 511—527.
21—3740. 41 II, 527—553.
38. 39 II, 554—565.
42—47 II, 574—582. - 16, 1—8 II, 590—609.
9—14 II, 609—629.
15—18 II, 666—674.
19. 20 II, 674—685.
Lukas.
- 1, 5—25 I, 79—104.
26, 38 I, 129—156. 166—180.
39—56 I, 191—197.
57—80 I, 79—104. - 2, 1—5 I, 198—207.
6—20 I, 208—219.
21 I, 219 f.
22—38. 40. I, 254—265.
39 I, 265—278.
41—52 I, 279—294. - 3, 1 I, 309—319.
2—18 I, 319—331. 355—363.
21. 22 I, 369—396.
23 I, 313—319.
24—38 I, 105—128. 156—166. - 4, 1—13 I, 396—428.
14. 15 I, 429. 474.
16—30 I, 446—453.
31—37 II, 21—25.
38. 39 II, 50. - 5, 1—11 I, 532—541.
12—14 II, 52—57.
18—26 II, 88—93.
20 II, 83—88.
27—32 I, 541—547.
33—39 I, 360. - 6, 1—5 I, 495 ff 645 ff.
6—10 II, 122—129.
11 II, 375.
12—16 I, 548—566.
20—49 I, 569—587. - 7, 1—10 II, 103—122.
- 7, 11—17 II, 140—142. 153—156
162—165. 170—173.
18—23 I, 331—336.
24—35 I, 359—361.
36—50 I, 709—731. - 8, 4—15 I, 593—597.
16—18 I, 579.
19—21 I, 692. 696.
22—25 II, 173—180.
26—39 II, 25—40.
40—42. 49—56 II, 133—140.
153—155. 162. 170—173.
43—48 II, 93—103. - 9, 1—6 I, 587—591.
7—9 II, 11 f. vgl. 516.
10—17 II, 197—219.
18—21 I, 469 ff.
22 II, 304 ff.
27 II, 351.
28—36 II, 252—274.
37—43 II, 40—50.
44. 45 II, 304 ff.
46—50 I, 613—615. 696—702
51—56 I, 507 ff.
57—62 I, 526. - 10, 1. 17 I, 566—568.
2—12 I, 589 f.
13—15 I, 591 f.
22—24 I, 592 f.
25—29 I, 623—625.
30—37 I, 599.
38—42 I, 727—731. - 11, 1—4 I, 582—584.
5—8 I, 599.
9—13 I, 585.
14—32 I, 687 ff.
24—26 II, 7—9.
27. 28 I, 694—696.
29. 30 II, 334—336.
33—36 I, 579. 584 f. - 11, 37—52 I, 626—629.
53. 54 II, 375 ff. - 12, 1 I, 682.
16—21 I, 599.
22—34 I, 584 f.
35—48 II, 344.
49—59 I, 691 f. - 13, 1—5 II, 87 f.
6—9 II, 249—251.
10—17 II, 128.
18—21 I, 597 f.
23—27 I, 587 f.
28. 29 I, 502 ff.
31—33 II, 375.
34. 35 I, 444. - 14, 1—6 II, 127 f.
7—11 I, 626 f.
16—24 I, 609—613. - 15, 1—32 I, 599 f.
- 16, 1—13 I, 600—603.
14—31 I, 603—605. - 17, 6 II, 251.
11 II, 276.
12—19 II, 57—60.
20—37 II, 341 ff. - 18, 1—8 I, 599.
9—14 I, 599.
15—17 I, 701 f.
18—27 I, 605.
31—34 II, 303 ff.
35—43 II, 60—69. - 19, 1—10 I, 547 f.
11—27 I, 606—609.
28—40 II, 281—300.
42—44 II, 342. 362.
45—48 I, 702—709. - 20, 1—8 I, 358.
9—19 II, 375 f.
20—44 I, 619—622.
45—47 I, 625 f. - 21, 5—36 II, 341—373.
- 22, 1—6 II, 374—396.
7—13 II, 396—401.
14—20 II, 415 ff. 436—442.
21—23 II, 425—434.
24—38 I, 699 f. II, 423—425.
39—46 II, 443—472.
47—53 II, 472—480.
54—62 II, 489—498.
63—71 II, 480—489. - 23, 1—25 II, 511—527.
26—49 II, 527—553.
44. 45 II, 554—565.
50—56 II, 574—582. - 24, 1—12 II, 590—609.
13—49 II, 609—629.
16. 31. 39—42 II, 629—645.
25—27. 32. 45 f. II, 661 f.
47—49 II, 666—674.
50—53 II, 674—685.
Johannes.
- 1, 14 I, 155.
15. 27. 30 I, 340 ff. 483—487.
19—30. 36 I, 331—358.
29. 35 f. I, 337—339. 348 f.
II, 317 f.
31. 33 I, 325—331.
32—34 I, 369—396.
37—52 I, 520—531. - 2, 1—11 II, 219—236.
12 I, 431. 445.
13—17 I, 702—709.
18—22 II, 329—334.
23—25 I, 524. 631. - 3, 1—21 I, 631—645.
22—36 I, 341—345. - 4, 1—3 I, 437.
- 4, 4—42 I, 511—519.
26 I, 469 ff.
43—45 I, 657—660. 663 f.
46—54 II, 103—122. - 5, 1 I, 454 f.
2—16 II, 85 f. 129—133.
16. 18 II, 375—377.
17—47 I, 645—649. - 6, 1—13 II, 197—219.
14. 15 I, 491.
16—25 II, 180—191.
26—71 I, 649—652.
62 I, 484.
64. 70. 71 II, 384—389.
68. 69 I, 554. 558. - 7, 1 I, 438.
2—9 I, 186. 441.
10—13 I, 684.
14. 15 I, 300.
16—38 I, 652 f.
19 f. II, 376.
31 II, 1 ff.
33—36 I, 652 f.
39 I, 668 f.
40—46 I, 684 f.
41. 42 I, 274.
47—53 I, 631 ff. - 8, 1—11 I, 723—731.
12—59 I, 652 f.
48 f. II, 5.
57 I, 457.
58 I, 485.
59 II, 376. - 9, 1—3 II, 82—88.
4—41 II, 76—82. - 10, 1—21 I, 653 f.
17 f. II, 311.
22—29 I, 654 f.
- 10, 30—39 I, 480. 684. II, 376.
40—42 I, 432.
41 II, 3. - 11, 1—44 II, 142—173.
45—53 II, 378—380.
54 I, 432.
55—57 II, 297. 377. - 12, 1—8 I, 709 ff.
9—19 II, 281—300.
20—30 II, 461—472.
31—36 II, 304.
37—43 I, 632. 635.
44—50 I, 655—657. - 13, 1. 2 II, 402—415.
3—20 II, 415—425.
10. 18. 21—38 II, 425—436.
20 I, 660 f.
23—26 I, 59 f. - 14—17 II, 456—460. 467—472.
- 14, 18 ff. 16, 16 ff. II, 337 f.
673 f. - 14, 31 I, 661—663.
- 15, 1—5 I, 654.
- 17, 5 I, 483 f.
- 18, 1—11 II, 472—480.
12—27 II, 481—498.
28—40 II, 511—520. - 19, 1—16 II, 524—527.
17—30 II, 527—553.
31—37 II, 565—574.
38—42 II, 574—582. - 20, 1—18 II, 590—604.
19—29 II, 609—629.
21—23 II, 669—674. - 21, 1—14 I, 539—541. II, 191
—193.
15—19 II, 632 f.
20—23 II, 369 f.
[[751]]
Appendix B Druckfehler und Zusätze.
- Seite Linie statt lies
- 115 Beweiss Beweis
- 626 dem den
- 194 Abweichung Abweisung
- 254 d. Anm. έαγτὸν έαυτὸγ
- 2725 erkannt erkennt
- 311 nachfolgend nachholend
- 1021 Heikraft Heilkraft
- 1661 d. Anm. Annot. 2. d. St. Annot. z. d. St.
- 22523οὶ νον οὶνον
- 25212 welche welcher
- 25531 Mosses Moses
- 3306 und 7 Temgebäude Tempelgebäude
- 35530 Tableaus Tableau's
- 3666 vorausgesezte vorausgesagte
- 377711, 4611, 46 ff.
- 440 die Sei-
tenzahl 444440 - 62532 Erzählung Zählung
- 63015 sei habe
- 63831 wollen die Evangelisten will der Evangelist
- 6393 ihre seine
- 64212 todtähnlichen todähnlichen
- 64424 Wiederspruch Widerspruch
- 64811 geben gaben
- 66412 Lukas, 24, Lukas (24,
Zu S. 381. Lin. 7—9. Genauere Auskunft über die Abstam-
mung des Verräthers weiss Olshausen zu geben, wenn er bibl.
[[752]] Comm. 2, S. 458 Anm. sagt: „Vielleicht ist 1 Mos. 49, 17. [:Dan
wird eine Schlange sein auf dem Wege, ein Cerast auf dem Fuse-
steige, der das Pferd in die Hufen sticht, dass sein Reiter rück-
wärts fällt] der Verrath des Judas prophetisch angedeutet, wor-
nach man schliessen könnte, dass er aus dem Stamme Dan war.‟
[][][]
digung der Frage über die historische oder mythische Grund-
lage des Lebens Jesu, wie die canonischen Evangelien die-
ses darstellen, vorgehalten aus dem Bewusstsein eines Glau-
bigen, der den Supranaturalisten beigezählt wird, zur Be-
ruhigung der Gemüther von D. Joh. Christian Friedr. Steu-
del. Besonders abgedruckt aus der Tübinger Zeitschrift für
Theologie. Tübingen, bei Ludwig Friedrich Fues. 1835.“
(88 S.)
Stellen, wozu noch genommen werden kann 4 Esdr. 13, 50.
(Fabric. Cod. pseudepigr. V. T. 2, S. 286) und Sohar Exod.
fol. 3, col. 12 (bei Schöttgen, horae, 2, S. 541, auch in Ber-
tholdt's Christol. §. 33, not. 1.).
eine besondere Art von Dämonischen sind, deren Krankheit
sich nämlich nach dem Mondwechsel zu richten schien, zeigt
Matth. 17, 14 ff., wo aus einem σεληνιαζόμενος ein δαιμόνιον
ausgetrieben wird.
1, S. 191.
das vor dem Exil durch den Teufel in Form der Abgötterei,
nach demselben durch den schlimmeren des Pharisäismus
besessen gewesen.
gebraucht, und Hippokrates musste die Ableitung der Epi-
lepsie von dämonischem Einfluss bestreiten. s. bei Wetstein,
S. 282 ff.
melancholisch machte, 1. Sam. 16, 14. Ihr Einfluss auf Saul
wird durch בִּעֲתַּתּוּ, sie überfiel ihn, ausgedrückt.
Tyana und Christus, S. 144.
dessen spricht auch schon Aristoteles, de mirab. 166. ed Bekk.,
von δαίμονί τινι γενομένοις κατόχοις.
τὰ γρ καλούμενα δαιμόνια — πονηρῶν
ἐςιν ἀνϑρώπων πνεύματα, τσῖς ζῶσιν εἰσδυόμενα καὶ κτείνοντα
τοὺς βοηϑείας μὴ τυγχάνοντας.
ruft sich hiefür namentlich auf Matth. 14, 2., wo Herodes
auf das Gerücht von Jesu Wunderthaten hin sagt:
ου῟τός ἐςιν
Ἰωάννης ὁ βαπτιςὴς, αὐτὸς ἠγέρϑη ἀπὸ τῶν νεκρῶν·
worin Pau-lus die rabbinische Ansicht vom עיבור findet, vermöge des-
lenwanderung, d. h. der Versetzung abgeschiedener Seelen
in eben sich bildende Kinderleiber) zu der Seele eines Le-
benden die eines Verstorbenen als verstärkender Zusaz sich
gesellt (s. Eisenmenger, 2. S. 85 ff.). Allein, dass in dem
ἠγέρϑη nicht diese, sondern die Vorstellung einer wirklichen
Auferstehung des Täufers liege, hat u. A. Fritzsche z. d. St.
gezeigt, und wenn auch jene, so wäre doch hier von einem
ganz andern Verhältniss die Rede, als von dem der dämoni-
schen Besitzung. Hier wäre es nämlich ein guter Geist, der
in einen Propheten zur Verstärkung seiner Kraft übergegan-
gen wäre, wie nach späterer jüdischer Vorstellung Seths Seele
zu der des Moses, und wieder Moses und Aarons Seelen zu
der des Samuel sich gesellt haben (Eisenmenger, a. a. O.),
woraus aber die Möglichkeit eines Übergangs böser Seelen
in Lebende noch keineswegs folgen würde.
mentio, und umständliche Untersuchung der dämonischen Leu-
te. — Schon zu Origenes Zeit geben übrigens die Ärzte von
dem Zustand der angeblich Besessenen natürliche Erklärun-
gen, s. Orig. in Matth. 17, 15.
Umbringen ausersieht, nicht weil jene oder diese besonders
schlecht waren, sondern weil Sara's Schönheit ihn anzog,
Tob. 6, 12. 15.
p. 185.) erkennt auf ähnliche Weise der Satan den unter dem
Throne Gottes präexistirenden Messias mit Schrecken als den-
jenigen, qui me, sagt er, et omnes gentiles in infernum prae-
cipitaturus est.
mines legas a pravis daemonibus agitatos, quum primum con-
spexerint Jesum, eum Messiam esse, a nemine unquam de
hac re commonitos, statim intelligere. In qua re hac nostri
scriptores ducti sunt sententia, consentaneum esse, Satanae
satellites facile cognovisse Messiam, quippe insignia de se
supplicia aliquando sumturum.
gen z. d. St., und der unreinen Geister, s. die rabbinischen
Stellen bei Wetstein.
sessenen zuschreibt, in lichten Augenblicken als Busse für
seine Verschuldung von ihm geschehen sei, gehört zu den
Unrichtigkeiten, zu welchen Olshausen durch seinen falschen,
moralisch-religiösen Standpunkt in Betrachtung dieser Er-
scheinungen verführt wird, da doch bekannt genug ist, wie
gerade in den Paroxysmen solcher Kranken die selbstzerstö-
rende Wuth eintritt.
in Matth. p. 327.
Hase, L. J. §. 75.
fallend.
durch Apollonius von Tyana, vit. Ap. 4, 35; bei Baur S. 145.
zung von Seiten des Lukas daraus erklärt, dass sein Bericht-
erstatter vermuthlich beim Schiff beschäftigt und etwas zu-
rückgeblieben, dem Anfang der Scene mit dem Dämonischen
nicht angewohnt habe, so ist diess ein gar zu neugieriger
Scharfsinn neben der veralteten Annahme eines möglichst
unmittelbaren Verhältnisses der evangelischen Berichte zu
den Thatsachen.
ten sich, der jüdischen Vorstellung gemäss, die Dämonen
überhaupt gern an unreinen Orten auf, und in Jalkut Rube-
ni f. 10, 2. (bei Wetstein) findet sich die Notiz: Anima ido-
lolatrarum, quae venit a spiritu immundo, vocatur porcus.
1, 1, S. 51 f.
art der Wunder, in Henke's Museum 1, 3, S. 410 ff. Zu lo-
ben ist hier auch das Bewusstsein davon, dass die Darstel-
lung bei Matthäus die einfachere, die der beiden andern
Evangelisten die ausgeschmücktere ist.
βουλόμενος δὲ πεῖσαι καὶ παραςῆσαι τοῖς παρα-
τυγχάνουσιν ὁ Ἐλεάζαρος, ὅτι ταύτην ἔχει ἰσχὺν, ἐτίϑει μικρὸν
ἔμπροσϑεν ἤτοι ποτήριον πλῆρες ὕδατος ἢ ποδόνιπτρον, καὶ τῷ
δαιμονίῳ προσέταττεν ἐξιόντι τοῦ ἀνϑρώπου ταῦτ̕ ἀνατρέψαι, καὶ
παρασχεῖν ἐπιγνῶναι τοῖς ὁρῶσιν, ὅτι καταλέλοιπε τὸν ἄνϑρωπον.
1, S. 191 f. angeführten Stellen.
Wette, bibl. Dogm. §. 222, Anm. c.
psychologisch eingewirkt haben kann, lässt sich vielleicht
auch der Fieberanfall der Schwiegermutter Petri zählen, wel-
chen Jesus nach Matth. 8, 14 ff. parall. gehoben hat.
4, S. 435; Herder, von Gottes Sohn u. s. f., S. 20; Weg-
Dogm. §. 269.
Lieblinge der Gottheit galten, das Vermögen wunderbarer
Heilung, namentlich auch der Blindheit, zugeschrieben zu
werden pflegte. So erzählen uns Tacitus, Hist. 4, 81., und
Sueton, Vespas. 7, in Alexandrien habe sich an den kürzlich
Imperator gewordenen Vespasian ein Blinder, angeblich nach
einer Weisung des Gottes Serapis, mit der Bitte gewendet,
ihn durch Benetzung seiner Augen mit seinem Speichel zu
heilen, was Vespasian mit dem Erfolge gethan habe, dass der
Blinde augenblicklich das Gesicht wieder erhielt. Da Taci-
tus die Richtigkeit dieser Erzählung ganz besonders ver-
bürgt, so dürfte Paulus wohl nicht Unrecht haben, wenn er
die Sache als Veranstaltung schmeichlerischer Priester an-
sieht, welche durch subornirte Scheinkranke den Kaiser in
den Ruf des Wunderthäters, und dadurch ihren Gott, dessen
Rath den Vorgang veranlasst hatte, bei ihm in Gunst setzen
wollten. Exeg. Handb. 2, S. 56 f. Jedenfalls aber sehen wir
kus, in Ullmann's und Umbreit's Studien 1, 4, 789 ff. Vgl.
Röster, Immanuel, S. 72.
von einem Manne erwartete, welcher, wie Tacitus sich hier
über Vespasian ausdrückt, einen favor e coelis und eine in-
clinatio numinum genoss.
S. 31 ff. 216 f. Röster, Immanuel, S. 188 ff.
von Gott ausgehenden Geistesstrom bezieht.
fil. Abba: nullus aegrotus a morbo suo sanatur, doncc ipsi
omnia peccata remissa sint.
foot S. 1050): Antoninus interrogavit Rabbi (Judam): a quo-
nam tempore incipit malus affectus praevalere in homine?
an a tempore formationis ejus (in utero), an a tempore pro-
cessionis ejus (ex utero)? Dicit ei Rabbi: a tempore for-
mationis ejus.
Clavis u. d. A. nach.
p. 194.
ex. Handb. 1, b, S. 505.
auch hier wieder ein offenbares Mährchen aus Livius 2, 36,
als natürlich erklärbare Geschichte.
Köster, Immanuel, S. 201 ff.
Venturini, 2, S. 204 ff.; Köster a. a. O.
hausen z. d. St.
S. 709; Köster, Immanuel, S. 63.
Matthaei narratione, ut centurionem non ipsum venisse ad
Jesum, sed per legatos cum eo egisse tradat; quibus dissi-
dentibus pacem obtrudere, boni nego interpretis esse.
Hase, §. 68.
2, S. 285 ff.
1 Kön. 13, 4. LXX:
καὶ ἰδοὺ
ἐξηράνϑη ἡ χεὶρ αὐτοῦ, ‒‒.
6:
καὶ ἐπέςρεψε τὴν χεῖρα
τοῦ βασιλέως πρὸς αὐτὸν, καὶ
ἐγένετο καϑὼς τὸ πρότερον.
Matth. 12, 10:
καὶ ἰδοὺ ἄν-
ϑρωπος ἠν τὴν χεῖρα ἔχων ξη-
ράν
(Marc. ἐξηραμμένην).13:
τότε λέγει τῷ ἀνϑρώπῳ·
ἔκτεινον τὴν χεῖρά σου· καὶ ἐξέ-
τεινε· καὶ ἀποκατεςάϑη ὑγιὴς
ὡς ἡ ἄλλη.
bescheiden, [von den Heilungen Jesu] nicht in den ein-
zelnen Fällen eine natürliche Erklärung geben zu wol-
len, und immer bedenken, dass die Verbannung des Wun-
derbaren aus der Wirksamkeit Jesu, so lange die Evan-
gelien geschichtlich betrachtet werden, nie-
mals gelingen kann.“
Marc. 2, 9:
(τί ἐςιν εὐκοπώτερον, εἰπεῖν
-- --) ἔγειρε, ᾄρόν σουτὸν
κράββατον καὶ περιπάτει;
10:
— ἔγειρε, ᾄρον τὸν
κράββατόν σου καὶ ὕπαγε εἰς
τὸν οῖκόν σου.
12:
καὶ ἠγέρϑη εὐϑέως, καὶ
ᾄρας τὸν κράββατον ἐξῆλϑεν
ἐναντίον πάντων.
Joh. 5, 8:
ἔγειραι, ᾄρον τὸν κράββατόν σου,
καὶ περιπάτει.
9: καὶ εὐϑέως ἐγένετο ὑγιὴς
ὁ ἄνϑρωπος, καὶ ῇρε τὸν κράβ-
βατον αὑτοῦκαὶ περιεπάτει.
verba [NB.
Matthaei]: ἄρτι ἐτελεύτησεν non possunt latine reddi: jam
mortua est; nam, auctore [NB.] Luca, patri adhuc cum
Christo colloquenti nuntiabat servus, filiam jam exspirasse,
ergo [auetore Matthaeo?] nondum mortua erat, cum pater
ad Jesum accederet.
S. 316 f.
p. 347 f.
a. O. S. 132. Olshausen, 1, S. 327.
der im Evangelium erwähnten Sendung noch drei weitere
vorausgesezt zu werden.
Wiederbelebung des Lazarus, in Süskind's Magazin, 14tes
Stück, S. 93 ff.
Anm.
b, S. 46. wird diese Vermuthung nicht mehr angewendet.
Jesu, sondern nur von Johannes, so glaubte sie Dieffenbach,
in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 7 ff., auch nicht von Jo-
hannes ableiten zu können, und da er das übrige Evangelium
für johanneisch hielt, so erklärte er jene Stellen für Inter-
polationen.
Evangelium Johannis, in Bertholdt's krit. Journal, 5, S. 8 f.
thungsweise zu dieser Ansicht, 2, S. 256 f. Anmerk.
ALsch.; bei Gabler in der angef. Abhandl. S. 238 ff. und
Hase, L. J. §. 119. Einen neuen Grund, warum namentlich
Matthäus von der Auferweckung des Lazarus schweige, hat
Heydenreich (über die Unzulässigkeit der mythischen Auffas-
sung, 2tes Stück, S. 42.) ausgedacht. Der Evangelist habe
sie übergangen, weil sie mit einer Zartheit und Lebendig-
keit des Gefühls dargestellt und behandelt sein wolle, zu
welcher er sich nicht fähig gefühlt habe. Daher habe der
bescheidene Mann sich lieber gar nicht an die Geschichte
wagen wollen, als sie in seiner Erzählung an rührender Kraft
und Erhabenheit verlieren lassen. — Welche eitle Beschei-
denheit diess gewesen wäre!
hen, so werden wir in den Schleiermacher'schen Vorlesun-
gen über das Leben Jesu zur Erklärung des fraglichen Still-
schweigens darauf verwiesen werden, dass die synoptischen
Evangelien überhaupt das Verhältniss Jesu zur Bethanischen
Familie ignoriren, weil vielleicht die Apostel eine vertraute
persönliche Verbindung dieser Art nicht in die allgemeine
Tradition haben übergehen lassen wollen, aus welcher jene
Evangelisten schöpften: mit dem Verhältniss Jesu zu dieser
1834, 2, S. 110.
beziehende Faktum unbekannt geblieben. Allein was sollte
die Apostel zu einem solchen Zurückhalten bewogen haben?
sollen wir denn an geheime, oder mit Venturini an zarte
Verbindungen denken? sollte bei Jesu nicht auch ein sol-
ches Privatverhältniss des Erbaulichen viel gehabt haben?
Wirklich enthalten ja die Proben, welche uns Johannes und
Lukas von dem Verhältniss Jesu zu der bezeichneten Fami-
lie geben, dessen viel, und aus der Erzählung des Lezteren
von dem Besuch Jesu bei Martha und Maria sehen wir zu-
gleich, dass auch die apostolische Verkündigung keineswegs
abgeneigt war, etwas von jenem Verhältniss sehen zu lassen,
sofern es allgemeines Interesse gewähren konnte. In dieser
Hinsicht ragte nun aber die Auferweckung des Lazarus als
eminentes Wunder ohne Vergleichung weiter als jener Be-
such mit seinem ἑνός ἐςι χρεία über das Privatverhältniss Je-
su zur Bethanischen Familie hinaus: das vorausgesezte Stre-
ben, dieses geheim zu halten, konnte der Verbreitung von
jener nicht in den Weg treten.
7, 16: ‘καὶ ἔδωκεν αὐτὸν τῇ μητρὶ αὐτοῦ.’
ten, in welchen der Biograph Jesu arbeiten kann, in Ber-
tholdt's krit. Journal, 5, S. 237 f. Kaiser, bibl. Theol. 1,
S. 202. — Eine der Erweckung des Jünglings zu Nain auffal-
lend ähnliche Todtenerweckung weiss Philostratus von sei-
nem Apollonius zu erzählen: „Wie es nach Lukas ein Jüng-
ling, der einzige Sohn einer Wittwe, war, der schon vor
die Stadt hinausgetragen wurde: so ist es bei Philostratus
ein erwachsenes, schon dem Bräutigam verlobtes Mädchen,
dessen Bahre Apollonius begegnet. Der Befehl, die Bahre
niederzusetzen, die blosse Berührung und wenige ausgespro-
chene Worte reichen hier wie dort hin, den Todten wieder
zum Leben zu bringen“ (Baur, Apollonius v. Tyana und
Christus, S. 145). Ich möchte wissen, ob vielleicht Paulus
oder wer sonst Lust hätte, auch diese Erzählung natürlich
zu erklären; wenn man sie aber, wie man wohl nicht um-
hin kann, als Nachbildung der evangelischen fassen muss:
ter der N. T.lichen Bücher dazu, um der Consequenz aus-
zuweichen, dass ebenso die in ihnen sich findenden Todten-
erweckungen nur minder absichtlich entstandene Nachbildun-
gen jener A. T.lichen seien, welche selbst aus dem Glauben
des Alterthums an die den Tod bezwingende Kraft gottge-
liebter Männer (Herkules, Äsculap), und näher aus den jü-
dischen Begriffen von einem Propheten abzuleiten sind.
Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 197. Auch Hase, §. 74, findet die-
se Ansicht möglich.
Pythagoras erzählt ἀνέμων βιαίων χαλαζῶν τε χύσεως παραυτίκα
κατευνήσεις καὶ κυμάτων ποταμίων τε καὶ ϑαλασοίων ἀπευδιασμοὶ
πρὸς εὐμαρῆ τῶν ἑταίρων διάβασιν. Vgl. Porphyr. v. P. 29.
ders. Ausg.
238 ff.
traf, s. Storr, Opusc. acad. 3, p. 288.
Henre's neuem Magazin, 6, 2, S. 327 ff.
Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): καὶ λίαν ἐκ περισσοῦ ἐν
ἑαυτοῖς ἐξίςαντο καὶ ἐϑαύμαζον, worin man doch nicht mit
Paulus (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs-
sigen Erstaunens wird finden wollen.
tend gemachte Instanz, dass laut des ἄρτους ουκ ἐλάβομεν Matth.
16, 7. die Jünger auch nach der zweiten Speisung noch sich
nicht gemerkt hatten, wie man in der Nähe des Menschen-
sohns keine Speise für den Leib mitzunehmen brauche, be-
weist desswegen nichts, weil die Umstände hier ganz andere
waren. Dass aus der wunderbaren Sättigung des zufällig in
der Wüste verspäteten Volks die Jünger nicht den beque-
men Schluss zogen, welchen der bibl. Comm. daraus zieht,
kann ihnen nur zur Ehre gereichen.
Urspr. S. 97.
S. 311. vgl. Fritzsche, in Matth. p. 523.
S. 95 ff. Hase, §. 97.
2. Kön. 4, 43. LXX:
τί δῶ τοῦτο ἐνώπιον ἑκατὸν
ἀνδρῶν
Joh. 6, 9:
‘ἀλλὰ ταῦτα τί ἐςιν εἰς τοσουτους;’
Ebendas. V. 44:
καὶ ἔφαγον,
καὶ κατέλιπον κατὰ τὸ ῥῆμα
Κυρίου.
Matth. 14, 20:
καὶ ἔφαγον πάν-
τες καὶ ἐχορτάσϑησαν, καὶ ῇραν
τὸ περισσεῦον τῶν κλασμάτων
κ. τ. λ.
Tempore Simeonis justi benedictio erat super
duos panes pentecostales et super decem panes προϑέσεως, ut
singuli sacerdotes, qui pro rata parte acciperent quantitatem
olivae, ad satietatem comederent, imo ut adhuc reliquiae
superessent.
anno hoc facit in vitibus.
quod miserunt ministri in hydrias, in vinum conversum est
opere Domini, sic et quod nubes fundunt, in vinum conver-
titur ejusdem opere Domini.
neten Naturprocess mangelhaft und undeutlich, und weiss
sich hierüber nur dadurch einigermassen zu beruhigen, dass
ein ähnlicher Übelstand auch bei dem Speisungswunder statt-
finde.
in Süskind's Magazin, 14. Stück, S. 86 f. Olshausen a. a. O.
S. 75 f.
holt, und zu wenig im Tone der Erzählung begründet. S. 406.
et Graec. p. 123. 126. Vgl. Lücke, z. d. St.
liche Geschichte, 2, S. 61 ff.
den Johannes.
Koheleth heisst es unter Anderem: Goël primus — ascendere
fecit puteum: sie quoque Goël postremus ascendere faciet
aquas etc.
Quid arbor fecerat, fructum non afferendo? quae culpa ar-
boris infoecunditas?
Ὁ δὲ Μάρκος ἀναγράψας
τὰ κατὰ τὸν τόπον, ἀπεμφαῖνόν τι ὡς πρὸς τὸ ῥητὸν προσέϑηκε,
ποιήσας, ὅτι — ουγὰρ ἠν καιρὸς σύκων· — Εἴποι γὰρ ἄν τις·
εἰ μὴ ὁ καιρὸς σύκων ἠν, πῶς ἠλϑεν ὁ Ἰ. ὡς εὑρήσων τι ἐν αὐτῇ,
καὶ πῶς δικαίως εὶπεν αὐτῇ· μηκέτι εἰς τὸν αἰῶνα ἐκ σοῦμηδεὶς
καρπὸν φάγῃ;
vgl. Augustin a. a. O.Kuinöl, in Marc. p. 150 f.
S. 782 f.
Vergl. dagegen meine Recens, in den Jahrh. f. wiss. Kritik,
Nov. 1834.
genbaum.
1, S. 50. Sieffert, a. a. O. S. 115 ff. Olshausen, 1, S. 783 f.
a. a. O.
quod Jesus sine ratione innocentem ficum aridam reddidisse
videretur, mirisque argutiis usi sunt, ut aliquod hujus rei
consilium fuisse ostenderent. Nimirum apostoli, evangelistae
et omnes primi temporis Christiani, qua erant ingeniorum
simplicitate, quid quantumque Jesus portentose fecisse dice-
retur, curarunt tantummodo, non quod Jesu in edendo mi-
raculo consilium fuerit, subtiliter et argute quaesiverunt.
μόνον ὅρα τὸ ϑαῦμα, καὶ ϑαύμαζε τὸν ϑαυματουργόν.
gelien, S. 114.
neuesten theol. Journal, 1. Bd. 5. Stück, S. 517 ff. Vgl.
Bauer, hebr. Mythol. 2, S. 233 ff.
welchen auch Gratz, Comm. z. Matth. 2, S. 163 f. 169. bei-
stimmt.
narrationem; Gabler, a. a. O. S. 539 ff. Ruinöl, Comm. z.
Matth. p. 459 ff.
den Lukas, S. 148 f.; vgl. auch Köster, Immanuel, S. 60 f.
und zum Theil auch Paulus, ex. Handb. 2, S. 447 f.
Geschichte, 3, S. 256 ff.
S. 533.
nal 1, 3, S. 506.
weniger genügende Auskünfte bei Gabler, a. a. O. und bei
Maithaei, Religionsgl. der Apostel, 2, S. 596.
Facies justorum futuro tempore similes erunt soli et lunae,
coelo et stellis, fulguri etc.
Adami primi. Pococke, ex Nachmanide (ebendas.): Fulgida
facta fuit facies Mosis instar solis, Josuae instar lunae; quod
idem affirmarunt veteres de Adamo.
inter docendum radios ex facie ipsius, ut olim e Mosis fa-
cie, prodiisse, adeo ut non dignosceret quis, utrum dies
esset an nox.
quia Deus de facie ad faciem cum eo locutus est, vultum tam
lucentem retulit, ut Judaei vererentur accedere: quanto igi-
tur magis de ipsa divinitate hoc tenere oportet, atque Jesu
faciem ab uno orbis cardine ad alterum fulgorem diffundere
conveniebat? At non praeditus fuit ullo splendore, sed re-
liquis mortalibus fuit simillimus. Quapropter constat, non
esse in eum credendum.
lässt sich vielleicht auch die Zeitbestimmung der ἡμέραι ἕξ
ableiten, durch welche die zwei ersten Evangelisten das ge-
genwärtige Ereigniss von dem zulezt erzählten trennen. Denn
auch die eigentliche Geschichte von den Begegnissen des
Moses auf dem Berge beginnt mit der gleichen Zeitbestim-
mung, indem es heisst, nachdem 6 Tage lang die Wolke den
Berg bedeckt hatte, sei Moses zu Jehova berufen worden
(V. 16.), eine Zeitbestimmung, welche, obgleich der Aus-
gangspunkt ein ganz anderer war, für die Eröffnung der Je-
sum betreffenden Verklärungsscene beibehalten werden mochte.
vitam tuam, quemadmodum vitam tuam posuisti pro Israëlitis
in hoc mundo, ita tempore futuro, quando Eliam prophetam
stologia Jud. §. 15. not. 17; Schulz, über das Abendmahl,
S. 319. giebt wenigstens ein Mehr und Minder des Mythi-
schen in den verschiedenen evangelischen Relationen der Ver-
klärungsgeschichte zu, und Fritzsche, in Matth. p. 448 f.
u. 456, führt die mythische Ansicht von derselben nicht oh-
ne Zeichen von Beistimmung auf. Vergl. auch Kuinöl, in
Matth. p. 459, und Gratz, 2, S. 161 ff.
chuma f. 42, 1, bei Schöttgen, 1, S. 149.
seinen Sokrates dadurch, dass er auf natürlichem und ko-
mischem Grunde eine ähnliche Gruppe veranstaltet, wie die
Evangelisten hier auf tragischem und übernatürlichem. Nach
einem Trinkgelage überwacht Sokrates die Freunde, welche
schlafend um ihn liegen: wie hier die Jünger um den Herrn;
mit Sokrates wachen nur noch zwei grossartige Gestalten,
der tragische Dichter und der komische, die beiden Elemen-
te des früheren griechischen Lebens, welche Sokrates in sich
sich unterreden, die beiden Säulen des A. T.lichen Lebens,
welche Jesus in höherer Weise in sich zusammenschloss;
wie bei Plato endlich auch Agathon und Aristophanes ein-
schlafen, und Sokrates allein das Feld behält: so verschwin-
den im Evangelium Moses und Elias zulezt, und die Jünger
sehen nur noch Jesum allein.
S. 164. 214.
Marcus Matthaei 19, 1. se au-
ctoritati h. 1. adstringit, dicitque, Jesum e Galilaea (cf. 9,
33.) profectum esse per Peraeam. Sed auctore Luca 17, 11.
in Judaeam contendit per Samariam itinere brevissimo.
S. 104 ff. Dem ersteren stimmt in Beziehung auf Lukas auch
Olshausen bei a. a. O.
den Lukas, S. 244 f.
richt des Matthäus, S. 317 f.
Urspr. S. 107 f.
auch Paulus gefühlt; denn nur aus dem verzweifelnden Su-
chen nach einem reelleren und mehr specifischen Grunde ist
es zu erklären, dass er hier das einzige Mal mystisch wird,
und an die Erklärung Justins des Märtyrers (die als ὑποζύγιον
bezeichnete Eselin bedeute die Juden, der noch nicht gerit-
tene Esel die Heiden, dial. c. Tryph. 53.), den er sonst im-
mer als Urheber der verkehrten kirchlichen Bibeldeutungen
bekämpft, sich anschliessend, wahrscheinlich zu machen sucht,
Jesus habe durch Besteigung eines noch nicht gerittenen
Thiers sich als Stifter und Regenten einer neuen Religions-
gesellschaft ankündigen wollen. Exeg. Handb. 3, a, S. 116 ff.
τὸ δέ· δεσμεύων πρὸς ἄμπελον τὸν πῶλον αὐτοῦ
— σύμβολον δηλωτικὸν ὴν τῶν γενησομένων τῷ Χριςῷ καὶ τῶν
ὑπ̕ αὐτοῦ πραχϑησομένων· πῶλος γάρ τις ὄνου εἱςήκει ἔν τινι
εἰσόδῳ κώμης πρὸς ἄμπελον δεδεμένος, δν ἐκέλευσεν ἀγαγεῖν αὐ-
τῷ κ. τ. λ.
quando Messias Hierosolymam veniet ad redimendum Israëli-
tas, tunc ligat asinum suum eique insidet et Hierosolymam
venit.
setzung einer jesaianischen Stelle mit der des Zacharias. Denn
das εἴπατου τῇ ϑυγατρὶ Σιὼν ist aus Jes. 62, 11, das Weitere
aus Zach. 9, 9., wo die LXX, etwas abweichend, hat: ἰδοὺ
ὁ βασιλεύς σου ἔρχεταί σοι δίκαιος καὶ σωζων αὐτὸς πραῢς καὶ
ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον.
den theol. Studien, 1830, 1, S. 36 ff. bezieht die vorangeben-
den Verse auf die Kriegsthaten dieses Königs, also den ge-
genwärtigen wohl auf seine friedlichen Tugenden.
drasch Coheleth wird gleich Anfangs das Zacharianische pau-
per et insidens asino auf den Goël postremus bezogen. Die-
ser Esel des Messias wurde sofort mit dem des Abraham und
Moses für identisch gehalten, s. Jalkut Rubeni f. 79, 3. 4,
bei Schöttgen, 1. S. 169, vgl. Eisenmenger, entdecktes Ju-
denthum, 2, S. 697 f.
R.
Josua f. Levi duobus inter se collatis locis tanquam contra-
riis visis objecit: scribitur Dan. 7, 13: et ecce cum nubi-
bus coeli velut filius hominis venit. Et scribitur Zach. 9, 9:
pauper et insidens asino. Verum haec duo loca ita inter se
conciliari possunt: nempe, si justitia sua mereantur Israëli-
tae, Messias veniet cum nubibus coeli: si autem non mere-
antur, veniet pauper, et vehetur asino.
seines Lebens, noch von einzelnen Umständen seines Lei-
dens vorhersagte, kann erst weiter unten, in der Geschichte
jener Tage, in Betrachtung kommen.
p. 381 f.
Kaiser, bibl. Theol., 1, S. 246. Auch Fritzsche, a. a. O.,
räumt diess zum Theil ein.
Einleit. in das Evang. Johannis, S. 271 f.
660 ff. Rosenmüller, Schol. in V. T. 7, 4, S. 339 ff.
theol., p. 130. Hase, L. J. §. 106.
Göttingischen Bibliothek, 1, 4, S. 252 ff.
deutendsten Stimmen für das Vorhandensein der fraglichen
Vorstellung schon zu Lebzeiten Jesu haben abgegeben Stäud-
lin in der angef. Abh. in der Gött. Biblioth. 1, S. 233 ff. und
Hengstenberg, Christologie des A. T., 1, a, S. 270 ff. b,
S. 290 ff.; für die entgegengesezte Ansicht de Wette, in der
angef. Abh., Opusc. S. 1 ff.
Theol. §. 54.
zu finden sein; de Wette, de morte, S. 72. denkt an Jes.
9, 5, Lücke, z. d. St. an Ps. 110, 4. Dan. 7, 14. 2, 44.
in das A. T. §. 59. 3te Ausg.
Wörtliche Übers. nach Hitzig:
52, 14:
Gleichwie sich
Viele vor ihm entsetz-
ten, also entstellt, nicht
menschlich, war sein Anse-
hen, und seine Gestalt
nicht die der Menschenkin-
der u. s. f.
53, 4: Allein unsre Krank-
heiten er trug sie, und un-
sere Schmerzen lud er
sich auf, und wir achteten
ihn geschlagen, getroffen
von Gott und gequält.
Targum Jonathan:
Quemadmodum per multos
dies ipsum exspectârunt Is-
raëlitae, quorum contabuit
inter gentes adspectus et splen-
dor (et evanuit) e filiis homi-
num etc.
Idcirco pro delictis nostris
ipse deprecabitur, et ini-
quitates nostrae propter eum
condonabuntur, licet nos
reputati simus contusi, plagis
affecti et afflicti.
Auch Origenes erzählt, c. Cels. 1, 55, wie ein λεγόμενος παρὰ
Ἰουδαίοις σοφὸς seiner christlichen Deutung der jesaianischen
Stelle entgegengehalten habe: ταῦτα πεπροφητεῦσϑαι ὡς περὶ
denthum, 2, S. 758.
in seiner Bibliothek, 1, S. 24 ff. Bertholdt, Christol. Jud.
§. 13.
ἵνα πολλοὶ προσήλυτοι γέγωνται.
p. 95 f., und bei Hengstenberg, S. 292.
essent in terra sancta, per cultus religiosos et sacrificia quae
faciebant, omnes illos morbos et poenas e mundo sustule-
runt; nunc vero Messias debet auferre eas ab hominibus.
u. 8. f. S. 121 ff.
vgl. Ruinöl, Comm, in Matth. p. 444 f.
ὑγιάσει ἡμᾶς μετὰ δύο ἡμέρας· ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ ἐξα-
ναςησόμεϑα, καὶ ζησόμεϑα ἐνώπιον αὐτοῦ.
seine Auferstehung bestimmt vorhergesagt habe? in Flatt's
Magazin, 7, S. 203 ff.
in evang. suo et ipse interpres. In Porr's und Ruperti's Syl-
loge Comm. theol. 1, S. 9; Gabler, Recension des Henke'-
schen Programms im neuesten theol. Journal, 2, 1, S. 88;
Lücke, z. d. St.
Sohn nach Johannes Evang., S. 135 f.; Paulus, Comm. 4,
S. 165 f. L. J. 1, a, S. 173 f.; Lücke, z. d. St.
Fritzsche, in Matth. p. 695 ff.
Vergl. über die verschiedenen Auslegungen dieses Abschnitts
das Verzeichniss bei Schott, Commentarius in eos J. Chr.
sermones, qui de reditu ejus ad judicium — agunt, p. 73 ff.
Eckermann, Handbuch der Glaubenslehre, 2, S. 579. 3, S. 427.
437. 709 ff., und Andere, bei Schott, a. a. O.
σιλεία τῶν ουρανῶν, in Velthusen's u. A. Sammlung, 2, 461 ff.
Jahn, Erklärung der Weissagungen Jesu von der Zerstörung
Jerusalems u. s. w., in Bengel's Archiv 2, 1, S. 79 ff., und
Andere, s. bei Schott, S. 75 f.
3, a, S. 346 f. 402 f.
Schott, a. a. O. S. 127 ff.
in Matth. p. 653 ff.
Ο[ἱ] δὲ γόητες καὶ
ἀπατεῶνες ἄνϑρωποι τὸν ὄχλον ἔπειϑον αὐτοῖς εἰς τὴν ἐρημίαν
ἕπεσϑαι. Δείξειν γὰρ ἔφασαν ἐναργῆ τέρατα καὶ σημεῖα, κατὰ
τὴν τοῦ ϑεοῦ πρόνοιαν γενόμενα. Καὶ πολλοὶ πεισϑέντες τῆς
ἀφροσὑνης τιμωρίας ὑπέσχον· ἀναχϑέντας γὰρ αὐτες Φῆλιξ ἐκό-
λασεν.
lus, exeg. Handb. 3, a, S. 340 f.
Κυκλὡσασϑαί τε γὰρ τῇ ςρατιᾷ τὴν πόλιν, διὰ
τὸ μέγεϑος καὶ δυςχωρίαν ουκ εὐμαρὲς εῖναι καὶ σφαλερὸν ἄλλως
πρὸς τὰς ἐπιϑέσεις.
Schmidt, Biblioth. 1, S. 24 ff.
gedeutet, sezt er kurz hinzu: Τὸν αὐτὸν δὲ τρόπον Δανιῆλος
καὶ περὶ τῆς τῶν Ῥωμαίων ἡγεμονίας ἀνέγραψε, καὶ ὅτι ὑπ̕ αὐ-
τῶν ἐρημωϑήσεται (τὸ ἔϑνος ἡμῶν). Auf die Römer bezog er
ohne Zweifel die vierte, eiserne Monarchie, Dan. 2, 40, wie
ausser dem κρατήσει εἰς ἅπαν, was er ihr zuschreibt, beson-
ders daraus erhellt, dass er ihre Zerstörung durch einen
Stein für etwas noch Zukünftiges erklärt, Antiq. 10, 10, 4:
ἐδήλωσε δὲ καὶ περὶ τοῦ λίϑου Δανιῆλος τῷ βασιλεῖ, ἀλλ̕ ἐμοὶ μὲν
ουκ ἔδοξε τουτο ἱςορεῖν, τὰ παρελϑόντα καὶ τὰ γεγενημένα συγγρά-
φειν,ου τὰ μέλλοντα ὀφείλοντι
. Den Stein nämlich deutet Daniel2, 44. auf das himmlische Rönigreich, welches das eiserne
zerstören, selbst aber ewig bleiben werde, — ein messiani-
scher Zug, auf welchen sich Josephus nicht weiter einlassen
will. Dass nach richtiger Auslegung die eisernen Schenkel
des Bildes das macedonische, die aus Thon und Eisen ge-
nen Reiche, also namentlich das syrische, bezeichnen, darüber
vgl. de Wette, Einl. in das A. T. §. 254.
erläutert bei Schott, Commentarius etc. p. 364 ff., vgl. Lücke,
z. dens.
S. 133. 159. 2, S. 402.
N. T. 2, S. 215.
Mahle weg zum erstenmal zu den Hohenpriestern gegangen
sei, hat auch Lightfoot anerkannt (horae, p. 465.), aber mit
desswegen das von Johannes erzählte Mahl für ein früheres
als das synoptische gehalten.
458 ff.
hausen, 2, S. 387 unten und 388 oben sagt.
nen Verräther, aber doch ein bedeutsames Zusammentreffen
mit demselben, im apokryphischen evangelium infantiae ara-
bicum c. 35., bei Fabricius 1, p. 197 f., bei Thilo, 1, p. 108 f.
gesezt. Hier wird ein dämonischer Knabe, der im Anfall mit
den Zahnen um sich biss, zu dem Kinde Jesus gebracht, er
beisst nach ihm, und weil er es mit den Zähnen nicht errei-
chen kann, versezt er ihm einen Schlag auf die rechte Seite,
worauf das Jesuskind weint, der Satan aber einem wüthen-
den Hunde ähnlich aus dem Knaben fährt. Hic autem puer,
qui Jesum percussit et ex quo Satanas sub forma canis exi-
vit, fuit Judas Ischariotes, qui illum Judaeis prodidit.
Judam proditorem — solum prae ce-
teris cognoscentem veritatem perfecisse proditionis myste-
rium, per quem et terrena et coelestia omnia dissoluta di-
cunt.
Epiphan. 38, 3: Einige Kainiten sagen, Judas habeJesum als einen πονηρὸν verrathen, weil er das gute Gesez
auflösen wollte; ἄλλοι δὲ τῶν αὐτῶν, ουχί, φασιν, ἀλλὰ ἀγαϑὸν
αὐτὸν ὄντα παρέδωκε κατὰ τὴν ὲπουράνιον γνῶσιν. ἔγνωσαν γάρ,
φησιν, οἱ ἄρχοντες, ὅτι, ἐὰν ὁ Χριςὸς παραδοϑῇ ςαυρῷ, κενοῦται
αὐτῶν ἡ ἀσϑενὴς δύναμις. καὶ τοῦτό, φησι, γνοὺς ὸ Ἰουδας, ἔσπευσε
καὶ πάντα ἐκίνησεν, ὥςε παραδοῦναι αὐτὸν, ἀγαϑὸν ἔργον ποιήσας
ἡμῖν εἰς σωτηρίαν. καὶ δεῖ ἡμᾶς ἐπαινεῖν καὶ ἀποδιδόναι αὐτῷ
τὸν ἔπαινον, ὅτι δι' αὐτοῦ κατεσκευάσϑη ἡμῖν ἡ τοῦ ςαυροῦσωτη-
ρἰα καὶ ἡ διὰ τῆς τοιαύτης ὑποϑέσεως τῶν [ἄνω] ἀποκάλυφις.
Messias.
S. 18 ff.; vgl. denselben in Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S.
163 ff.
L. J. §. 132.
neuesten theol. Journal, 2, 5, S. 441 ff.
stehende Leiden, giebt Beza, zu Matth. 26, 18., als Zweck
dieser Vorherbezeichnung an, ut magis ac magis intellige-
rent discipuli, nihil temere in urbe magistro eventurum, sed
quae ad minutissimas usque circumstantias penitus perspecta
haberet.
den Lukas, S. 280.
hardt's neuem krit. Journal, 2, S. 169. Anm.
273 ff., auch Venturini, 3, S. 634 ff.
Paschal. ed. du Fresne. Paris 1688. p. 6 f. praef.
intell. p. 22. not. 1.
und bei Sieffert, über den Urspr. S. 127 ff.
Paschate primo te-
netur quispiam ad pernoctationem. Gloss.: Paschatizans tene-
tur ad pernoctandum in Hierosolyma nocte prima. Dagegen
Tosaphoth ad tr. Pesachin 8: In Paschate Aegyptiaco dici-
tur: nemo exeat — usque ad mane. Sed sic non fuit in se-
quentibus generationibus, — quibus comedebatur id uno loco
et pernoctabant in alio.
Vgl. Schneckenburger, Beiträge, S. 9.lus, a. a. O. S. 492. und Tholuck, a. a. O.
Tübinger Zeitschrift f. Theol. 1832, 1, S. 90 ff.
Evang. Matth. in der Tüb. Zeitschrift, 1834, 2, S. 98.
4ten Evangelium geben die Probabilien, S. 100 ff.
Entstehung dieser Anekdote vermuthen.
z. d. St.
visse proditionis consilium, nec impedivisse; ipsum vero ex-
citâsse Judam ad proditionem, nemo eorum dicit, neque con-
venit hoc Jesu.
L. J. §. 137.
Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 511 ff.
einen mnemonischen Ritus angeordnet? in s. Magazin 11, S. 1 ff.
S. 61.
sie fragen werden, was sie da feiern, sollen sie antworten:
es ist das Paschaopfer Jehova's, der die Kinder Israël ver-
schonte in Ägypten, u. s. f. Diess wurde nun zum Ritual
bei der Paschafeier, (s. Lightfoot, p. 475 f.:)
admovetur ite-
rum mensa, et tum dicit ille (pater familiâs): hoc est Pa-
scha, quod comedimus ideo, quia Deus transiit per domos
patrum nostrorum in Aegypto. — Elevat manu sua azyma et
dicit: azyma haec comedimus, quia non erat spatium fari-
nae conspersae patrum nostrorum ut fermentaretur etc.
et de Paschate tractatus.
eine Beziehung zum Messias gesezt, und die Befreiung Israëls
durch ihn eben in der Paschanacht erwartet. Tanchuma
p. 75, 1 (bei Wetstein): XV die Nisan natus est Isaacus,
eo liberati sunt ex Aegypto, et eodem liberabuntur ex scr-
vitute regnorum. Vgl. Schemoth R. 18. und Rosch haschana
f. 11, 1. bei Wetstein zu Matth. 26, 26. und Rittangel bei
Paulus, a. a. O. S. 515.
ὀδύρεται, καὶ τὸν τοῦ ὀλέϑρου φόβον εὔχεται παραδραμεῖν, λέγων
κ. τ. λ.; — Julian in einem Fragment Theodor's von Mops
Lu-
cilius Vanini — dum in patibulum trahitur — Christo illudit
in haec eadem verba: illi in extremis prae timore imbellis
sudor: ego imperterritus morior.
ἐγὼ γὰρ οἰδα,
ὅτι ἄνϑρωπός ἐςι, καὶ ἤκουσα αὐτοῦ λέγοντος· ὅτι περιλυπός ἐςιν
ἡ ψυχή μου ἕως ϑανάτου.
εἰ δὲ λέγεις,
ὅτι ἤκουσας αὐτοῦφοβουμένου τὸν ϑάνατον, παίζων σε καὶ γελῶν ἔφη
τοῦτο, ϑέλων, ἵνα σε ἁρπάσῃ ἐν χειρὶ δυνατῇ
.ἀλλὰ καὶ τοιαῦτα προσεύχεταί, φησιν, ὁ Ἰ., οἷα ἄϑλιος ἄνϑρω-
πος, συμφορὰν φέρειν εὐκόλωςουδυνάμενος, καὶ ὑπ̕ ἀγγέλου, ϑεὸς
ὢν, ἐνισχύεται.
more patiendi, qui ad hoc venerat, ut pateretur, sed propter
infelicissimum Judam, et scandalum omnium apostolorum, et
rejectionem populi Judaeorum, et eversionem miserae Hieru-
salem.
Non —
mortem horruit simpliciter, quatenus transitus est e mundo,
sed quia formidabile Dei tribunal illi erat ante oculos, judex
ipse incomprehensibili vindicta armatus, peccata vero nostra,
quorum onus illi erat impositum, sua ingenti mole eum pre-
mebant.
Vgl. Luther's Hauspostille, die erste Passionspredigt.9, S. 1012 ff.
S. 61. Hasert, ebendas. 3, 1, S. 66 ff
theol. Journal, 1, 2, S. 109 ff. 3, S. 217 ff.
p. 121 f.
werden muss.
— ostenditur, p. 57 ff.
doch Olshausen endlich den Verf. der Probabilien aus der
Reihe derer wegstreichen, welche die synoptische Erzählung
vom Kampf in Gethsemane mit Rücksicht auf das Stillschwei-
gen des Augenzeugen Johannes für irrig halten (2, S. 428.)!
Seelenkampf Jesu in Gethsemane, in Tzschirner's Magazin
f. christl. Prediger, 1, 2, S. 1 ff.
Engelhardt's n. kr. Journal, 2, S. 359 ff.
neischen Evangelium daraus erklären, dass er gar zu bekannt
gewesen sei, und wie hiezu als Analogie das anführen, dass
Johannes auch die Verhandlung des Verräthers mit dem Syn-
edrium übergehe? da zwar diese Verhandlung als etwas
hinter der Scene Vorgegangenes wohl übergangen werden
konnte, keineswegs aber etwas, das, wie jener Kuss, so
ganz im Vordergrund und Mitteipunkt der Handlung gesche-
hen war.
ἐπειδὴ
ἡμεῖς ἐλέγξαντες αὐτὸν καὶ καταγνόντες ἠξιοῦμεν κολάζεσϑαι,
κρυπτόμενος μὲν καὶ διαδιδράσκων ἐπονειδιςότατα ἑάλω.
S. 319.
Nachlässigkeit seiner Darstellung, da ohne jene Notiz das
προφήτευσον κ. τ. λ. keinen rechten Sinn hat.
Matth. 27, 12: ἐδὲν ἀπεκρίνατο.
Matth. 27, 14. vgl. Marc. 15, 5: καὶ ουκ ἀπεκρίνατο αὐτῷ πρὸς
ουδὲ ἓν ῥῆμα, ὥςε ϑαυμάζειν τὸν ἡγεμόνα λίαν.
Luc. 23, 9: αὐτὸς δὲουδὲν ἀπεκρίνατο αὐτῷ.
Joh. 19, 9: ὁ δὲ Ἰ. ἀπόκρισιν ουκ ἔδωκεν αὐτῷ.
S. 445.
Kuinöl, in Matth. p. 743 ff.
ἀλλ̕ἐπεβίω, κατενεχϑεὶς πρὸ τοῦ ἀποπνιγῆναι. Vgl. Theophy-
lakt zu Matth. 27, und ein Schol. Ἀπολιναρίου bei Matthaki.
747 f., und mit halber Beistimmung Olshausen, 2, S. 455 f.
Selbst Fritzsche ist durch den langen Weg bis zu diesen
lezten Kapiteln des Matthäus so matt gemacht, dass er sich
bei dieser Ausgleichung beruhigt, und unter Voraussetzung
derselben behauptet, dass die beiden Berichte amicissime
conspiriren.
angewendet, wie V. 5. Joh. 15, 25; V. 10. Joh. 2, 17, und
Joh 19, 28 f., wahrscheinlich V. 22.
Gesenius, im Lex., vgl. Rosenmüller's Scholia in V. T. 7, 4,
S. 320 ff.
τοῦτο δὲ σαφέςερον ἱςορεῖ, Παπίας, ὁ Ἰωάτνου
τοῦ ἀποςόλου μαϑητής· μέγα ἀσεβείας ὑπόδειγμα ἐν τουτῳ τῷ κόσμῳ
περιεπάτησεν Ἰουδας. Πρησϑεὶς γὰρ ἐπὶ τοοοῦτον τὴν σάρκα, ὥςε
μὴ δύνασϑαι διελϑεῖν, ἁμάξης ῥᾳδίως διερχομένης, ὑπὸ τῆς ἁμάξης
ἐπιέσϑη, ὥςε τὰ ἔγκατα αὐτοῦ ἐκκενωϑῆναι.
gens sehr ähnlich der des Oekumenius, und überbietet sie
zum Theil noch: τοῦτο δὲ σαφέςερον ἱςορεῖ Παπίας, ὁ Ἰωάννου
μαϑητὴς, λέγων οὑ̍τωςἐν τῷ τετάρτῳ τῆς ἐξηγήσεως τῶν κυριακῶν
λόγων· μέγα δὲ ἀσεβείας ὑπόδειγμα ἐν τουτῳ τῷ κόσμῳ περιεπά-
τησεν ὁ Ἰουδας· πρησϑεὶς ἐπὶ τοσοῦτον τῆν σάρκα, ὥςε μηδὲ ὁπόϑεν
ἅμαξα ῥᾳδίως διέρχεται, ἐκεῖνον δύνασϑαι διελϑεῖν, ἀλλὰ μηδε
αὐτὸν μὸνον τὸν ὄγκον τῆς κεφαλῆς αὐτοῦ τὰ μὲν γὰρ βλέφαρα
τῶν ὀφϑαλμῶν αὐτοῦ(Cod. Venet.: φασὶ τοσοῦτον ἐξοιδῆσαι, ὡς
αὐτὸν μὲν καϑόλου τὸ φῶς μὴ βλέπειν) μηδὲ ὑπὸ ἰατροῦ διόπτρας
ὀφϑῆναι δύνασϑαι κ. τ. λ. Μετὰ πολλὰς δὲ βασάνους καὶ τιμωρίας
ἐν ἰδίῳ, φασὶ, χωρίῳ τελευτήσαντος κ. τ. λ.
judicia de capitalibus finiunt eodem die, si sint ad absolu-
tionem; si vero sint ad damnationem, finiuntur die soquen-
te — wäre diess Verfahren ungesezlich gewesen.
spricht für diesen Stand der Dinge nur noch eine dunkle
und schwankend ausgelegte Tradition, Avoda Zara f. 8, 2
(Lightfoot, p. 1123 f.):
Rabh Cahna dicit, cum aegrotaret R.
Ismaël bar Jose, miserunt ad eum, dicentes: dic nobis, o
Domine, duo aut tria, quae aliquando dixisti nobis nomine
patris tui. Dicit iis — — quadraginta annis ante excidium
templi migravit Synedrium et sedit in tabernis. Quid sibi
vult haec traditio? Rabh Isaac, bar Abdimi dicit: non ju-
dicârunt judicia mulctativa. Dicit R. Nachman bar Isaac:
non judicârunt judicia capitalia — womit noch die Notiz bei
Josephus, Antiq. 20, 9, 1., verglichen werden kann, dass es
ουκ ἐξὸν ῆν Ἀνάνῳ (dem Hohenpriester) χωρὶς τῆς ἐκείνου (des
Procurators) γνώμης καϑίσαι συνέδριον. Dagegen könnte zwar
die ohne Zuziehung der Römer erfolgte Hinrichtung des Ste-
phanus, A. G. 7, zu sprechen scheinen: allein diess war ein
tumultuarischer Akt, unternommen vielleicht im Vertrauen
auf die Abwesenheit des Pilatus. Vgl. über diesen Punkt
Lücke, 2, S. 631 ff.
N. T. nichts wissen würden, römischen oder jüdischen Ur-
sprungs war; vgl. Fritzsche und Paulus z. d. St. Baur,
über die ursprüngliche Bedeutung des Passahfestes u. s. f.
Tüb. Zeitschr. f. Theol. 1832, 1, S. 94.
Ἰησοῦς Βαραββᾶς, was hier nur desswegen bemerkt wird, weil Ols-
hausen es „merkwürdig“ gefunden hat. Indem nämlich bar Abba
Sohn des Vaters bedeutet, so ruft Olshausen aus: Alles,
was an dem Erlöser Wesen war, erschien bei dem Mörder
als Carricatur! und findet den Vers anwendbar: ludit in hu-
manis divina potentia rebus. Wir können in dieser Olshau-
sen'schen Betrachtung nur einen lusus humanae impotentiae
finden.
bern heisst sie Procula, Πρόκλη. Vgl. hierüber Thilo, Cod.
Apecr. N. T., p. 522, Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 640 f.
ἐν ὀνείροις αὐτὀ καταταράττων καὶ παύειν πειρᾶται τὰ κατὰ τὸν
ςαυρόν. Vgl. Thilo, p. 523. Die Juden im Evang. Nicod.,
c. 2. p. 524, erklären den Traum für ein Zauberstück von
Jesu: γόης ἐςὶ — ἰδοὺ ὀνειρόπεμπτω ἔπεμψε πρὸς τὴν γυναῖκά σου.
Traum von Cäsar's Gernahlin in der Nacht vor seiner Ermor-
dung erinnern.
führten Stellen.
es alle Wahrscheinlichkeit, dass der ςέφανος ἐξ ἀκανϑῶν nicht
ein Kranz aus spitzen Dornen war, sondern von dem näch-
sten besten Heckengesträuch genommen, um durch die vilis-
sima corona, spineola (Plin. H. N. 21, 10.) Jesum zu ver-
höhnen.
ten zu verhöhnen, führt aus Philo, in Flaccum, Wetstein
an, p. 533 f.
Significat Joannes, Jesum suam
crucem portavisse, donec ad calvariae locum pervenisset.
d. A. Golgatha.
Valckenaer's scholae in II. quosd. N. T. 2, p. 31.
in Matth. p. 814.
Tholuck's liter. Anzeiger für christl. Theol. 1835, No. 1—6.
Dixit R. Chaja,
f. R. Ascher, dixisse R. Chasdam: exeunti, ut capite plecta-
tur, dant bibendum granum turis in poculo vini, ut aliene-
tur mens cjus, sec. d. Prov. 31, 6: date siceram pereunti
et vinum amaris anima.
richten von den beiden Mitgekreuzigten finden sich im evang.
infant. arab. c. 23, bei Thilo, p. 92 f., vgl. die Anm. p. 143;
im ev. Nicod. c. 9. 10, Thilo, p. 581 ff. c. 26, p. 766 ff.
da por-
tionem meam in horte Edenis, et memento mei in seculo fu-
turo, quod absconditum est justis.
Andere Stellen s. beiebendems., p. 819.
Quo die Rabbi mo-
riturus erat, venit vox de coelo, dixitque: qui praesens
aderit morienti Rabbi, ille intrabit in paradisum.
berichtigung von Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 761, zu ver-
gleichen ist.
dischen Hohenpriesters von dieser Beschaffenheit war. Jo-
seph. antiq. 3, 7, 4. — Die richtige Ansicht von obiger Diffe-
renz ist bereits in den Probabilien aufgestellt, p. 80 f.
Verleugnung aller Jünger nach der Kreuzigung Jesu.
sen z. d. St.
2, S. 154. Anm.
S. 153.
heimlicher Schauder über die Gemüther ausgebreitet, und
die Spötter bei dem Gedanken gebebt haben, Elias möchte
im Wetter erscheinen. Allein wenn sofort unter dem Vor-
wand, zusehen zu wollen, εἰ ἔρχεται Ἠλίας, σώσων αὐτὸν, ei-
ner, der Jesu zu trinken geben will, davon abgemahnt wird,
so ist doch hiedurch jener Vorwand deutlich genug als ein
höhnischer bezeichnet, und gehört also der Schauder und
das Beben nur der unwissenschaftlichen Stimmung des bibl.
Commentators an, in welcher er sich namentlich der Lei-
densgeschichte, als einem mysterium tremendum gegenüber
befindet, und welche ihn auch schon in Pilatus eine Tiefe
finden liess, die ihm die Evangelisten nirgends geben.
Studien, 1830, 1. S. 106 ff. Vgl. über die verschiedenen Aus-
gleichungsversuche Lücke z. d. St. des Joh.
haupten: ἔκλειψις ἡλίου γέγονε κατὰ τὸ εἰωϑός. c. 11, p. 592
bei Thilo.
Senatu pridie Idus Martiarum, solis fuisse defectum ab ho-
ra sexta usque ad noctem.
Cum insignis Rabbinus fato con-
cederet, dixit quidam: iste dies gravis est Israëli, ut cum
sol occidit ipso meridie.
Dixerunt doctores: quatuor de causis sol
deficit: prima, ob patrem domus judicii mortuum, cui exe-
quiae non fiunt ut decet etc.
evangelio autem, quod hebraicis literis scriptum est, legimus,
non velum templi scissum, sed superliminare templi mirae
magnitudinis corruisse.
ist zu denken. Im evang. Nicodemi, c. 17, sind es allerdings
auch Verehrer Jesu, welche bei dieser Gelegenheit auferste-
hen, nämlich Simeon (aus Luc. 2.) und seine beiden Söhne;
die Mehrzahl aber bilden auch nach diesem Apocryphum,
wie nach der ἀναφορὰ Πνλάτου (Thilo, p. 810.), nach Epipha-
nius, orat. in sepulcrum Chr. 275, Ignat. ad Magnes. 9. u.
A. (vgl. Thilo, p. 780 ff.) A. T.liche Personen, wie Adam und
Eva, die Patriarchen und Propheten.
Repertorium, 9, S. 139.
klärung eine mythische nennt.
p. 570 ff., und in Bertholdt's Christol. §. 35.
cap. 18 ff.
ex. Handb. 3, b, S. 781 ff.; Winer, bibl. Realwörterbuch 1,
S. 672 ff.; und Hase, §. 144.
αἷμα πήγνυται, καὶ ὕδωρ καϑαρὸν οὐκ ἀποῤῥεῖ̕ τοῦ δε κατὰ τὸν
Ἰησοῦν νεκροῦ σώματος, τὸ παράδοξον, καὶ περὶ τὸ νεκρὸν σῶμα
ῆν αἷμα καὶ ὕδωρ ἀπὸ τῶν πλευρῶν προχυϑέν. Vgl. Euthymius
z. d. St.: ἐκ νεκροῦ γὰρ ἀνϑρώπου, κᾄν μυριάκις νύξῃ τις, οὐκ
κον, ὅτι ὑπὲρ ἄνϑρωπον ὁ νυγείς.
§. 17, not. 12.
p. 499.
auch Lessing's Duplik.
schen dieser Auskunft und der vorigen die Wahl.
κῆπος, wo Jesus, nach Johannes, begraben wurde, und des
Gartens Gethsemane, wo er gefangen worden war, scheint
die Angabe des evang. Nicodemi geflossen zu sein, Jesus sei
gekreuzigt worden ἐν τῷ κήπῳ, ὅπου ἐπιάσϑη. C. 9, p. 580.
bei Thilo.
wunderliche Umschreibung des Sabbats, da es eine Verkeh-
rung ist, einen feierlichen Tag als den Tag nach dem Vor-
tag zu bezeichnen: doch muss man bei dieser Deutung blei-
ben, so lange man derselben nicht auf natürlichere Weise,
als Schneckenburger in seiner Chronologie der Leidenswoche,
Beiträge S. 3 ff., auszuweichen weiss.
S. 837 ff. Vgl. Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 253.
Olshausen, 2, S. 506.
sagt, die Wache habe ja nicht den Befehl gehabt, die voll-
ständige Bestattung Jesu zu hindern.
lich zu Muth, dass er den Pilatus bei dieser Mittheilung
ert werden lässt, S. 505.
1834, 2, S. 100 f. vgl. 123.
S. 102 f.
S. 62 f. Vgl. den Wolfenbüttler Fragmentisten in Lessing's
viertem Beitrag, S. 472 ff., und Lessing's Duplik, Werke,
Carlsr. Ausg. 24. Thl. S. 137 f.
Zahl der Engel betreffenden Differenz, und Origenes verwies
ihn darauf, dass die Evangelisten verschiedene Engel mei-
nen: Matthäus und Markus den, der den Stein abgewälzt
hatte, Lukas und Johannes diejenigen, welche als Berichter-
statter für die Frauen aufgestellt waren. c. Cels. 5, 56.
fene Tabelle hieher:
- „1) Luc. 24, 12: Petrus lief zum Grabe, ἔδραμεν.
Joh. 20, 4: Petrus und Johannes liefen, ἔτρεχον. - 2) Luc. V. 12: Petrus kuckte hinein, παρακύψας.
Joh. V. 5: Johannes kuckte hinein, παρακύψας. - 3) Luc. V. 12: Petrus sahe die Tücher allein liegen, βλέ-
πει τὰ ὀϑόνια κείμενα μόνα.
Joh. V. 6. 7: Petrus sahe die Tücher liegen, und das
Schweisstuch nicht mit den Tüchern lie-
gen: ϑεωρεῖ τὰ ὀϑόνια κείμενα, καὶ τὸ σου-
δάριον οὐ μετὰ τῶν ὀϑονίων κείμενον. - 4) Luc. V. 12: Petrus gieng heim, ἀπῆλϑε πρὸς ἑαυτόν.
Joh. V. 10: Petrus und Johannes giengen wieder heim,
ἀπῆλϑον πάλιν πρὸς ἑαυτου̍ς.“
Domini narrationes hauserint. Opusc. acad. ed. Gabler,
Vol. 2, p. 241 ff.
a. O. S. 61 ff.
ᾔδεισαν τὴν γραφὴν κ. τ. λ. nicht widerspricht, das Richtige
bei Lücke z. d. St.
ἐδύνατο ἀνοῖξαι τὸν τάφον, ἀλλ̕ ἐδεήϑη ἄλλου ἀποκινήσοντος τὴν
πέτραν.
in Matth. p. 799.
In Eichhorn's a. Bibl. 6, S. 700 ff. Kuinöl, a. a. O.
in Schmidt's Bibl. 2, S. 545 f.; auch Bauer, hebr. Mythol.
2, S. 259.
poris Christianis tam dignus videri poterat, qui de Messia
in vitam reverso nuntium ad homines perferret, quam ange-
lus, Dei minister, divinorumque consiliorum interpres et ad-
jutor. — Dann über die Differenzen in Bezug auf die Anzahl
der Engel u. s. f.: Nimirum insperato Jesu Messiae in vi-
tam reditui miracula adjecere alii alia, quae Evangelistae re-
ligiose, quemadmodum ab suis auctoribus acceperant, literis
mandârunt.
Anwendung auf die Leidens- und Auferstehungsgesch. Chri-
sti, herausgegeben von Steiner, S. 314.
S. 17 f.
a. a. O.
für die ursprüngliche Lesart hält.
latur secundum Hebraeos, — post resurrectionem Salvatoris
refert: Dominus autem, postquam dedisset sindonem servo
sacerdotis (wahrscheinlich in Bezug auf die Wache am Grab,
welche hier aus einer römischen zu einer priesterlichen ge-
macht wäre; s. Credner, Beiträge zur Einleitung in das
N. T. S. 406 f.) ivit ad Jacobum et apparuit ei. Juraverat
enim Jacobus, se non comesturum panem ab illa hora, qua
biberat calicem Domini, donec videret eum resurgentem a
dormientibus (wie undenkbar ein solches Gelübde bei der
Hoffnungslosigkeit der Jünger, darüber vergl. Michaelis,
S. 122.). Rursusque post paululum: Afferte, ait Dominus,
mensam et panem. Statimque additur: Tulit panem et be-
nedixit ac fregit, et dedit Jacobo justo et dixit ei: frater mi,
comede panem tuum, quia resurrexit filius hominis a dor-
mientibus.
in den Händen gewesen seien, an welchen hier Jesus er-
kannt wurde (Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 882. Kuinöl, in
Luc. p. 734.), ist ohne alle Andeutung im Text.
hannes betrifft, ist schon oben die Rede gewesen. Den Pe-
trus anlangend bezieht sich die dreimal wiederholte Frage
Jesu: ἀγαπᾷς oder φιλεῖς με; der gewöhnlichen Ansicht nach
auf seine Verleugnung; dem ὅτε ἦς νεώτερος, ἐζώννυες σεαυ-
τὸν καὶ περιεπάτεις ὅπου ἤϑελες· ὅταν δὲ γηράσῃς, ἐκτενεῖς τὰς
χεῖράς σου καὶ ἄλλος σε ζώσει καὶ οἴσει ὅπουοὐ ϑέλεις(V. 18 f.)
aber wird vom Evangelisten selbst die Deutung gegeben, Je-
sus habe es zu Petrus gesprochen, σημαίνων, ποίῳ ϑανάτῳ
δοξάσει τὸν ϑεόν. Diess müsste auf die Kreuzigung gehen,
was der kirchlichen Sage zufolge (Tertull. de praescr. haer.
36. Euseb. H. E. 2, 25.) die Todesart des Petrus war, und
auf welche im Sinne des Evangelisten auch das ἀκολοὐϑει μοι
V. 20 und 22. (d. h. folge mir in der gleichen Todesart)
hinzuweisen scheint. Allein gerade der Hauptzug bei dieser
Deutung, das ἐκτενεῖς τὰς χεῖρας, ist hier so gestellt, dass
die Beziehung auf die Kreuzigung unmöglich wird, nämlich
vor die Abführung, wohin man nicht will; umgekehrt das Gür-
ten, was doch nur das Binden zum Behuf der Abführung bedeu-
ten kann, sollte vor dem Ausstrecken der Hände am Kreuze
stehen. Sieht man von der Deutung ab, welche der Refe-
rent, wie auch Lücke (S. 703.) zugesteht, ex eventu, den
Worten Jesu giebt: so scheinen diese nichts als den Ge-
meinplaz von der Hülflosigkeit des Alters im Gegensaz zu
der Rüstigkeit der Jugend zu enthalten, worüber auch das
οἴσει ὅπου οὐϑέλεις nicht hinausgeht. Der Verf. von Joh. 21.
aber, dem die Worte, sei es als Ausspruch Jesu, oder wie
Evangeliums als verdeckte Weissagung auf den Kreuzestod
des Petrus verwenden zu können.
Vgl. Hase, L. J. §. 149. — Michaelis, a. a. O. S. 251 f.
Tholuck, S. 352.
881. Eine ähnliche natürliche Erklärung hat neuestens Lü-
cke von Hug angenommen.
S. 835. Vgl. Lücke, 2, S. 683 ff.
welcher leztere eine Änderung der Lesart nöthig findet.
stehung noch 27 Jahre leibhaftig auf Erden gelebt, und zum
Wohle der Menschheit in der Stille fortgewirkt habe. 1819.
thäus und Johannes nicht ebenso wie die zwei Evangelisten
Markus und Lukas die Himmelfahrt ausdrücklich erzählt?
In Süskind's Magazin, 17, S. 165 ff.
lung drückt Origenes gut aus, wenn er, c. Cels. 2, 62. von
Jesu sagt: καὶ ἦν γε μετὰ τὴν ἀνάςασιν αὑτοῦ ὡσπερεὶ ἐν με-
ϑορίῳ τινὶ τῆς παχύτητος τοῦ πρὸ του πάϑοῦς σώματος, καὶ τοῦ
γυμνὴν τοιου̍του σώματος φαίνεσϑαι ψυχήν.
gen, fanden manche Kirchenväter und orthodoxe Theologen
das nicht recht vereinbar, dass zum Behuf der Auferstehung
Jesu vorher der Stein vom Grabe gewälzt worden sein solle,
und behaupteten daher: resurrexit Christus clauso sepulcro,
sive nondum ab ostio sepulcri revoluto per angelum lapide.
Quenstedt, theol. didact. polem. 3, p. 542.
καὶ χιλίοις ἱππεῦσιν εἰς κώμην τινὰ Λεκώαν λεγομένην, πρὸς κα-
τανόησιν, εἰ τόπος ἐπιτήδειός ἐςι χάρακα δέξασϑαι, ὡς ἐκεῖϑεν
ὑποςρέφων εἶδον πολλοὺς αἰχμαλώτους ἀνεςαυρωμένους, καὶ τρεῖς
γνωρίσας συνήϑεις μοι γενομέτους, ἤλγησα τὴν ψυχὴν, καὶ μετὰ
δακρύων προσελϑὼν Τίτῳ εἰπον. Ὁ δ̕ εὐϑὺς ἐκέλευσεν καϑαι-
ρεϑέκτας αὐτοὺς ϑεραπείας ἐπιμελεςάτης τυχεῖν. καὶ οἱ μὲν δύο
τελευτῶσιν ϑεραπευόμενοι, ὁ δὲ τρίτος ἔζησεν. Aus dieser Stelle
argumentirt besonders Paulus, ex. Handb. 3, b, S. 786, und
im Anhang, S. 929 ff.
ze, in Ullmann's und Umbrett's Studien, 1832, 3, S. 625 ff.
Hug, Beiträge zur Geschichte des Verfahrens bei der Todes-
strafe der Kreuzigung, Freiburger Zeitschr. 7, S. 144 ff.
gen Paulus, ex. Handb. 3, b, 793 f.
ren), in der Abh.: Joseph und Nikodemus. Vgl. dagegen
Klaiber's Studien der würtemb. Geistlichkeit, 2, 2, S. 84 ff.
τως τὰ γεγραμμένα κακολογῶν, φησὶν, ὅτι ἐχρῆν, εἴπερ ὄντως
ϑείαν δύναμιν ἐκφῇναι ἤϑελεν ὁ Ἰ., αὐτοῖς τοῖς ἐπηρεάσασι καὶ
τῷ καταδικάσαντι καὶ ὅλως πᾶσιν ὀφϑῆναι. — 67: οὐ γὰρ — ἐπὶ
τοῦτ̕ ἐπέμφϑη τὴν ἀρχὴν, ἵνα λάϑῃ. Vgl. den Wolfenbüttler,
bei Lessing, S. 450. 60. 92 ff. Woolston, Disc. 6. Spinoza,
ep. 23. ad Oldenburg. p. 558 f. ed. Gfrörer.
nes gegen den Celsus, z. d. angef. St. Michaelis, Anm. zum
fünften Fragment, S. 407.
Hände Jesu, und überhaupt seine Erscheinungen nach der Auf-
erstehung) γυνὴ πάροιςρος, ὡς φατὲ, καὶ εἴ τις ἄλλος τῶν ἐκ
τῆς αὐτῆς γοητείας, ἤτοι κατά τινα διάϑεσιν ὀνειρώξας, ἢ κατὰ
τὴν αὐτοῦ βου̍λησιν δόξῃ πεπλανημένῃ φαντασιωϑεὶς, ὅπερ δὴ μυ-
ρίοις συμβέβηκεν· ἢ, ὅπερ μᾶλλον, ἐκπλῆξαι τοὺς λοιποὺς τῇ τερα-
τείᾳ ταύτῃ ϑελήσας, καὶ διὰ τοῦ τοιούτου ψεύσματος ἀφορμὴν ἄλ-
λοις ἀγύρταις παρασχεῖν.
Disc. 8.
einen Gekreuzigten voraus? In s. Studien, 1832, 3, S. 589 f.
(Röhr) Briefe über den Rationalismus, S. 28. 236. Paulus,
ex. Handb. 3, b, S. 826 f. Hase, §. 146.
Apostolos omnes omnino credidisse, quod
Christus a morte resurrexerit, et ad coelum revera ascende-
2, 4, S. 545 ff.
rit — ego non nego. Nam ipse etiam Abrahamus credidit,
quod Deus apud ipsum pransus fuerit — cum tamen haec et
plura alia hujusmodi apparitiones seu revelationes fuerint,
captui et opinionibus eorum hominum accommodatae, quibus
Deus mentem suam iisdem revelare voluit. Concludo itaque
Christi a mortuis resurrectionem revera spiritualem, et so-
lis fidelibus ad eorum captum revelatam fuisse, nempe quod
Christus aeternitate donatus fuit, et a mortuis (mortuos hic
intelligo eo sensu, quo Christus dixit: sinite mortuos sepe-
lire mortuos suos) surrexit, simulatque vita et morte singu-
laris sanctitatis exemplum dedit, et eatenus discipulos suos
a mortuis suscitat, quatenus ipsi hoc vitae ejus et mortis
exemplum sequuntur.
Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 258 f.
theol.
durch die Apostel, 1, S. 75 ff.
a. a. O.
fisch von Einfluss auf diese Zeitbestimmung gewesen, wel-
cher freilich nur in Einem Evangelium in Beziehung mit der-
selben gesezt wird? und die, übrigens im N. T. gar nicht
ὑγιάσει ἡμᾶς μετὰ δύο ἡμέ-
ρας· ἐν τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ ἐξαναςησόμεϑα, καὶ ζησόμεϑα ἐνώ-
πιον αὐτοῦ —?
Christ. p. 262.
formel, 1794, fand allgemeine Zustimmung.
gang 1830, 2, S. 75 ff.
S. 268. Olshausen, 2.
Vorrede zu Griesbach's opusc. acad. p. XCVI. Vgl. Kuinöl,
in Marc. p. 222.
und Theologie, S. 161.
1, b, S. 318 ff.
Vgl. Griesrach, locorum N. T. ad ascensionem Christi in
coelum spectantium sylloge. In s. opusc. acad. ed. Gabler,
Vol. 2, S. 484 ff.
schreibt in Matth. p. 835: Matthacus Jesu in coelum abitum
non commemoravit, quippe nemini ignotum.
Himme fahrt Jesu ausdrücklich miterzählt? in Flatt's Maga-
zin, 8, S. 67.
ex. Handb. 3, b, S. 923. scheint mir zu künstlich.
historia biblica. In s. opusc. nov. p.43 ff.; auch Kaiser,
bibl. Theol. 1, S. 83 ff.
ὑπὲρ αὐτοῦ ςάντος ἀφανίζεται κατά τινος φάραγγος, er habe aber
absichtlich geschrieben, er sei gestorben, damit man nicht
seiner Trefflichkeit wegen behaupten möchte, er habe sich
πρὸς τὸ ϑεῖον begeben. Philo aber, de Vita Mosis, Opp. ed.
Mangey, Vol. 2, p. 179, lässt bloss die Seele des Moses
sich in den Himmel erheben.
Bereitschaft haben, sehen hier, dass ich das selber weiss,
und nicht erst durch sie daran erinnert zu werden brauche.
Prax. 2, de veland. virg. 1. Orig. de principp. procem. 4.
τὸ γὰρ ἀπρόσληπτον ἀϑεράπευτον· ὅ δε ἥνωται τῷ ϑεῷ, τοῦτο
καὶ σώζεται.
συμφώνως ἅπαντες ἐκδιδὰσκομεν, τέλειον τὸν αὐτὸν ἐν ϑεότητι,
καὶ τέλειον τὸν αὐτὸν ἐν ἀνϑρωπότητι, ϑεὸν ἀληϑῶς καὶ ἄνϑρω-
πον ἀληϑῶς τὸν αὐτὸν ἐκ ψυχῆς λογικῆς καὶ σώματος ὁμοου̍σιον
τῷ πατρὶ κατὰ τὴν ϑεότητα, καὶ ὁμοου̍σιον τὸν αὐτὸν ἡμῖν κατὰ
τὴν ἀνϑρωπότητα, κατὰ πάντα ὅμοιον ἡμῖν χωρὶς ἁμαρτίας· πρὸ
αἰώνων μὲν ἐκ τοῦ πατρὸς γεννηϑέντα κατὰ τὴν ϑεότητα, ἐπ̕
ἐσχἀτων δὲ τῶνημερῶν τὸν αὐτὸν δἰ ἡμᾶς καὶ διὰ τὴν ἡμετέ-
ραν σωτηρίαν ἐκ Μαρίας τῆς παρϑένου τῆς ϑεοτόκου κατὰ τὴν ἀν-
ϑρωπότητα, ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν Χριςὸν, υἱὸν, κύριον, μονογενῆ,
ἐκ δύο φύσ[ε]ων ἀσυγχύτως, ἀτρέπτως, ἀδιαιρέτως, ἀχωρίςως γνω-
ριζάμενον· οὺδαμοῦ τῆς τῶν φύσεων διαφορᾶς ἀνῃρημένης διὰ τὴν
ἕνωσιν, σωζομένης δὲ μᾶλλον τῆς ἰδιὀτητος ἑκατέρας φύσεως, καὶ
εἰς ἓν πρόσωπον καὶ μίαν ὑπόςασιν συντρεχούσης· οὐκ εἰς δύο
πρόσωπα μεριζόμενον ἢ διαιρούμενον, ἀλλ̛ ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν υἱὸν
καὶ μονογενῆ, ϑεὸν λόγον, κύριον Ἰ. Χ.
δύο φυσικὰ ϑελήματα οὐχ ὑπεναντία, — ἀλλ̛ ἑπόμενον τὸ ἀνϑρώ-
πινον αὐτοῦ ϑέλημα — καὶ ὑποτασσόμενον τῷ ϑείῳ αὐτοῦ καὶ
πανσϑενεῖ ϑελήματ[ι].
ποιηϑῶμεν. Hilar. Pictav. de trin. 2, 24: humani generis
causa Dei filius natus ex virgine est — ut homo factus ex
virgine naturam in se carnis acciperet, perque hujus admix-
tionis societatem sanctificatum in eo universi generis humani
corpus existeret. Andere Äusserungen der Art s. bei Mün-
scher, §. 97. Anm. 10.
761 ff. ed. Hase. Chemniz, de duabus naturis in Christo li-
bellus, und loci theol., loc. 2, de filio. Gerhard, II. th. 1,
p. 640 ff. (ed. 1615.). Quenstedt, theol. didact. pol. P. 3.
c. 3. Vgl. de Wette, bibl. Dogm. §. 64 ff.
bei Gerhard, a. a. O. p. 719 ff.
§. 71 f.
den Reformirten gegen die Lutheraner geltend gemachten
Grundsaz: nulla natura in se ipsam recipit contradictoria.
Planck, Gesch. des protest. Lehrb. Bd. VI. S. 782.
Pol. 1, p. 784. Catech. Racov. Q. 96 ff. Vgl. Marheineke,
instit. symb. §. 96. Auch Spinoza, ep. 21. ad Oldenburg.
Opp. ed. Gfrörer, p. 556, sagt:
quod quaedam ecclesiae his
addunt, quod Deus naturam humanam assumpserit, monui
expresse, me, quid dicant, nescire; imo, ut verum fatear,
non minus absurde mihi loqui videntur, quam si quis mihi
diceret, quod circulus naturam quadrati induerit.
der, Inst. theol. §. 128. Bretschneider, Handb. der Dogm.
macher'sche Kritik als vollkommen berechtigt anerkenne, stel-
le ich mich in direkten Widerspruch mit dem Urtheil von
Rosenkranz, welcher (Jahrb. für wiss. Kritik, 1831. Dec.
S. 935—41.) „
“ Die Verwechslung, auf wel-seinen Unwillen nicht zurückhalten kann über
die theologisch seichte und philologisch kleinlichte Manier,
mit welcher Schleiermacher in diesem Lehrstück das Haupt-
dogma des christlichen Glaubens von der Menschwerdung
Gottes zu untergraben sucht.
cher dieses Urtheil beruht, wird sich weiter unten aufdecken.
blossen Vernunft, 2tes Stück, 2ter Absch. b).
23. ad Oldenburg. p. 558 f. Briefe über den Rat., 4ter, 5ter,
6ter, 12ter. Wegscheider, §§. 11. 12. Schleiermacher, §§.
14. 47.
F. Socinum.
zen der blossen Vernunft, 2tes Stück, 1ter Abschn., c).
S. 372 ff. Wegscheider, §§. 128. 133. 140.
S. 353, systematische Entwicklung, §. 107.
Zweites Sendschreiben. Studien, 2, 3, S. 481 ff.
welcher a. a. O. die Schleiermacher'sche Christologie eine
gequälte Entwicklung nennt.
des Schleiermacher'schen Systems zum Bewusstsein gekom-
Schmid, über Schl. Glaubensl. S. 263 ff. Baur, die christl.
Gnosis, S. 626 ff., und die angef. Recens. von Rosenkranz.
— dico,
ad salutem non esse omnino necesse, Christum secundum
carnem noscere; sed de aeterno illo filio Dei, h. e. Dei ae-
terna sapientia, quae sese in omnibus rebus, et maxime in
mente humana, et omnium maxime in Christo Jesu manife-
stavit, longe aliter sentiendum. Nam nemo absque hac ad
statum beatitudinis potest pervenire, utpote quae sola docet,
quid verum et falsum, bonum et malum sit.
Stück, 1te Abthl. VII.
Dogmatik, §. 255; kirchliche, §. 64 ff.
6, S. 454 ff. vgl. Henke's Museum, 3, S. 455.
S. 192.
lesungen über die Philos. der Relig. 2, S. 234 ff. Marhei-
neke, Grundlehren der christl. Dogmatik, S. 174 ff. Rosen-
kranz, Encyklopädie der theol. Wissenschaften, S. 38 ff. 148 ff.
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- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpb7.0