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Herzensergießungen
eines
kunſtliebenden Kloſterbruders.



Berlin.:
Bey Johann Friedrich Unger.
1797.
[[4]]

An den Leſer dieſer Blätter.

In der Einſamkeit eines klöſterlichen
Lebens, in der ich nur noch zuweilen
dunkel an die entfernte Welt zurück¬
denke, ſind nach und nach folgende Auf¬
ſätze entſtanden. Ich liebte in meiner
Jugend die Kunſt ungemein, und dieſe
Liebe hat mich, wie ein treuer Freund,
bis in mein jetziges Alter begleitet: ohne
daß ich es bemerkte, ſchrieb ich aus ei¬
nem innern Drange meine Erinnerun¬
[6] gen nieder, die Du, geliebter Leſer, mit
einem nachſichtsvollen Auge betrachten
mußt. Sie ſind nicht im Ton der heu¬
tigen Welt abgefaßt, weil dieſer Ton
nicht in meiner Gewalt ſteht, und weil
ich ihn auch, wenn ich ganz aufrichtig
ſprechen ſoll, nicht lieben kann.


In meiner Jugend war ich in der
Welt und in vielen weltlichen Geſchäf¬
ten verwickelt. Mein größter Drang war
zur Kunſt, und ich wünſchte ihr mein
Leben und alle meine wenigen Talente
zu widmen. Nach dem Urtheile eini¬
ger Freunde war ich im Zeichnen nicht
ungeſchickt, und meine Kopien ſowohl,
[7] als meine eigenen Erfindungen misfie¬
len nicht ganz. Aber immer dachte ich
mit einem ſtillen, heiligen Schauer an
die großen, gebenedeyten Kunſtheiligen;
es kam mir ſeltſam, ja faſt albern vor,
daß ich die Kohle oder den Pinſel in
meiner Hand führte, wenn mir der
Nahme Raphael's oder Michel Angelo's
in das Gedächtniß fiel. Ich darf es
wohl geſtehen, daß ich zuweilen aus ei¬
ner unbeſchreiblichen wehmüthigen Inn¬
brunſt weinen mußte, wenn ich mir
ihre Werke und ihr Leben recht deutlich
vorſtellte: ich konnte es nie dahin brin¬
gen, — ja ein ſolcher Gedanke würde mir
[8] gottlos vorgekommen ſeyn, — an meinen
auserwählten Lieblingen das Gute von
dem ſogenannten Schlechten zu ſondern,
und ſie am Ende alle in Eine Reihe zu
ſtellen, um ſie mit einem kalten, kriti¬
ſirenden Blicke zu betrachten, wie es
junge Künſtler und ſogenannte Kunſt¬
freunde wohl jetzt zu machen pflegen.
So habe ich, ich will es frey geſtehn,
in den Schriften des H. von Ramdohr
nur weniges mit Wohlgefallen geleſen;
und wer dieſe liebt, mag das, was
ich geſchrieben habe, nur ſogleich aus
der Hand legen, denn es wird ihm
nicht gefallen. Dieſe Blätter, die ich
[9] anfangs gar nicht für den Druck be¬
ſtimmt, widme ich überhaupt nur jun¬
gen angehenden Künſtlern, oder Kna¬
ben, die ſich der Kunſt zu widmen ge¬
denken, und noch die heilige Ehrfurcht
vor der verfloſſenen Zeit in einem ſtil¬
len, unaufgeblähten Herzen tragen. Sie
werden vielleicht durch meine ſonſt un¬
bedeutende Worte noch mehr gerührt,
zu einer noch tiefern Ehrfurcht bewegt;
denn ſie leſen mit derſelben Liebe, mit
der ich geſchrieben habe.


Der Himmel hat es ſo gefügt, daß
ich mein Leben in einem Kloſter be¬
ſchließe: dieſe Verſuche ſind daher das
[10] einzige, was ich jetzt für die Kunſt zu
thun im Stande bin. Wenn ſie nicht
ganz mißfallen, ſo folgt vielleicht ein
zweyter Theil, in welchem ich die Be¬
urtheilungen einiger einzelnen Kunſtwerke
widerlegen möchte, wenn mir der Him¬
mel Geſundheit und Muße verleiht, meine
niedergeſchriebenen Gedanken hierüber zu
ordnen, und in einen deutlichen Vor¬
trag zu bringen. —

[]

Raphaels Erſcheinung.

Die Begeiſterungen der Dichter und Künſt¬
ler ſind von jeher der Welt ein großer An¬
ſtoß und Gegenſtand des Streites geweſen.
Die gewöhnlichen Menſchen können nicht be¬
greifen, was es damit für eine Bewandniß
habe, und machen ſich darüber durchaus ſehr
falſche und verkehrte Vorſtellungen. Daher
ſind über die inneren Offenbarungen der Kunſt¬
genies eben ſo viele Unvernünftigkeiten, in
und außer Syſtemen, methodiſch und un¬
methodiſch abgehandelt und geſchwatzt wor¬
den, als über die Myſterien unſrer heiligen
Religion. Die ſogenannten Theoriſten und
Syſtematiker beſchreiben uns die Begeiſte¬
[12] rung des Künſtlers von Hörenſagen, und
ſind vollkommen mit ſich ſelbſt zufrieden,
wenn ſie mit ihrer eiteln [und] profanen Phi¬
loſophaſterey umſchreibende Worte zuſam¬
mengeſucht haben, für etwas, wovon ſie
den Geiſt, der ſich in Worte nicht faſſen
läßt, und die Bedeutung nicht kennen. Sie
reden von der Künſtlerbegeiſterung, als von
einem Dinge, das ſie vor Augen hätten; ſie
erklären es, und erzählen viel davon; und
ſie ſollten billig das heilige Wort auszuſpre¬
chen erröthen, denn ſie wiſſen nicht, was
ſie damit ausſprechen.


Mit wie unendlich vielen unnützen Wor¬
ten haben ſich nicht die überklugen Schrift¬
ſteller neuerer Zeiten bey der Materie von
den Idealen in den bildenden Künſten ver¬
ſündigt! Sie geſtehen ein, daß der Mahler
und Bildner zu ſeinen Idealen auf einem
außerordentlicheren Wege, als dem Wege
[13] der gemeinen Natur und Erfahrung gelan¬
gen müſſe; ſie geben zu, daß dies auf eine
geheimnißvolle Weiſe geſchehe: und doch
bilden ſie ſich und ihren Schülern ein, ſie
wüßten das Wie; — denn es ſcheint, als
würden ſie ſich ſchämen, wenn irgend etwas
in der Seele des Menſchen verſteckt und
verborgen liegen ſollte, worüber ſie wißbe¬
gierigen jungen Leuten nicht Auskunft geben
könnten.


Andre ſind nun gar in der That ungläu¬
bige und verblendete Spötter, welche das
Himmliſche im Kunſtenthuſiasmus mit Hohn¬
lachen gänzlich abläugnen, und durchaus
keine beſondere Auszeichnung oder Weihe
gewiſſer ſeltener und erhabener Geiſter an¬
nehmen wollen, weil ſie ſich ſelber allzu ent¬
fernt von ihnen fühlen. Dieſe liegen indeſ¬
ſen ganz außer meinem Wege, und ich rede
mit ihnen nicht.


[14]

Aber die Afterweiſen, auf welche ich deu¬
tete, wünſche ich zu belehren. Sie verwahr¬
loſen die jungen Gemüther ihrer Schüler,
indem ſie ihnen ſo kühn und leichtſinnig ab¬
geſprochene Meynungen über göttliche Dinge
beybringen, als wären es menſchliche, und
ihnen dadurch den Wahn einpflanzen, als
ſtände es in ihrer Macht, dreiſt zu ergrei¬
fen, was die größeſten Meiſter der Kunſt, —
ich darf es frey heraus ſagen, — nur durch
göttliche Eingebung erlangt haben.


Man hat ſo manche Anekdoten aufgezeich¬
net und immer wieder erzählt, ſo manche
bedeutende Wahlſprüche von Künſtlern auf¬
behalten und immer wiederhohlt; und wie
iſt es möglich geweſen, daß man ſie ſo bloß
mit oberflächlicher Bewunderung anhörte, daß
keiner darauf kam, aus dieſen ſprechenden
Zeichen das Allerheiligſte der Kunſt, worauf
ſie hindeuteten, zu ahnden? und nicht auch
[15] hier, wie in der übrigen Natur, die Spur
von dem Finger Gottes anzuerkennen?


Ich, für mein Theil, habe von jeher die¬
ſen Glauben bey mir gehegt; aber mein
dunkler Glauben iſt jetzt zur hellſten Über¬
zeugung aufgeklärt worden. Glücklich bin
ich, daß der Himmel mich auserſehen hat,
ſeinen Ruhm durch einen einleuchtenden Be¬
weis ſeiner unerkannten Wunder auszubrei¬
ten: es iſt mir gelungen, einen neuen Altar
zur Ehre Gottes aufzubauen. —


Raphael, welcher die leuchtende Sonne
unter allen Mahlern iſt, hat uns in einem
Briefe von ihm an den Grafen von Caſtig¬
lione folgende Worte, die mir mehr werth
ſind als Gold, und die ich nie ohne ein ge¬
heimes dunkles Gefühl von Ehrfurcht und
[Anbetung] habe leſen können, hinterlaſſen,
worin er ſagt:


»Da man ſo wenig ſchöne weibliche Bil¬
[16] »dungen ſieht, ſo halte ich mich an ein
»gewiſſes Bild im Geiſte, welches in
»meine Seele kommt.« *)
Über dieſe bedeutungsvollen Worte nun iſt
mir neulich ganz unerwartet, zu meiner in¬
nigen Freude, ein helles Licht aufgeſteckt
worden.


Ich durchſuchte den Schatz von alten
Handſchriften in unſerm Kloſter, und fand,
unter manchem nichtsnützigen beſtäubten Per¬
gament, einige Blätter von der Hand des
Bramante, von denen es nicht zu begreifen
iſt, wie ſie an dieſen Ort gekommen ſind.
Auf dem einen Blatte ſtand folgendes ge¬
ſchrieben, wie ich es, ohne weiteren Um¬
ſchweif, zu deutſch hier herſetzen will:


»Zu meinem eigenen Vergnügen, und
um[17] um es mir genau aufzubewahren, will ich
hier einen wunderbaren Vorfall aufzeichnen,
welchen der theure Raphael, mein Freund,
mir unter dem Siegel der Verſchwiegenheit
vertraut hat. Als ich ihm vor einiger Zeit
meine Bewunderung wegen ſeiner über alles
ſchön gemahlten Madonnen und heiligen Fa¬
milien aus vollem Herzen zu erkennen gab,
und mit recht vielen Bitten in ihn drang,
mir doch zu ſagen, von woher er denn in
aller Welt die unvergleichliche Schönheit,
die rührenden Mienen und den unübertreff¬
lichen Ausdruck in ſeinen Bildern der hei¬
ligen Jungfrau entlehnt habe; ſo ward er,
nachdem er mich eine Zeitlang mit ſeiner,
ihm eigenen, jünglinghaften Schaamhaftig¬
keit und Verſchloſſenheit hingehalten hatte,
endlich ſehr bewegt, fiel mir mit Thränen
um den Hals, und entdeckte mir ſein Ge¬
heimniß. Er erzählte mir, wie er von ſei¬
B[18] ner zarten Kindheit an, immer ein beſondres
heiliges Gefühl für die Mutter Gottes in
ſich getragen habe, ſo daß ihm zuweilen
ſchon beym lauten Ausſprechen ihres Na¬
mens ganz wehmüthig zu Muthe geworden
ſey. Nachher, da ſein Sinn ſich auf das
Mahlen gerichtet habe, ſey es immer ſein
höchſter Wunſch geweſen, die Jungfrau Ma¬
ria recht in ihrer himmliſchen Vollkommen¬
heit zu mahlen; aber er habe es ſich noch
immer nicht getraut. In Gedanken habe
ſein Gemüth beſtändig an ihrem Bilde, Tag
und Nacht, gearbeitet; allein er habe es ſich
gar nicht zu ſeiner Befriedigung vollenden
können; es ſey ihm immer geweſen, als wenn
ſeine Phantaſie im Finſtern arbeitete. Und
doch wäre es zuweilen wie ein himmliſcher
Lichtſtrahl in ſeine Seele gefallen, ſo daß er
die Bildung in hellen Zügen, wie er ſie ge¬
wollt, vor ſich geſehen hätte; und doch wäre
[19] das immer [nur] ein Augenblick geweſen, und
er habe die Bildung in ſeinem Gemüthe
nicht feſthalten können. So ſey ſeine Seele
in beſtändiger Unruhe herumgetrieben; er
habe die Züge immer nur umherſchweifend
erblickt, und ſeine dunkle Ahndung hätte
ſich nie in ein klares Bild auflöſen wollen.
Endlich habe er ſich nicht mehr halten kön¬
nen, und mit zitternder Hand ein Gemählde
der heiligen Jungfrau angefangen; und wäh¬
rend der Arbeit ſey ſein Inneres immer mehr
erhitzt worden. Einſt, in der Nacht, da er,
wie es ihm ſchon oft geſchehen ſey, im
Traume zur Jungfrau gebetet habe, ſey er,
heftig bedrängt, auf einmal aus dem Schlafe
aufgefahren. In der finſteren Nacht ſey ſein
Auge von einem hellen Schein an der Wand,
ſeinem Lager gegenüber, angezogen worden,
und da er recht zugeſehen, ſo ſey er gewahr
geworden, daß ſein Bild der Madonna, das,
B 2[20] noch unvollendet, an der Wand gehangen,
von dem mildeſten Lichtſtrahle, und ein ganz
vollkommenes und wirklich lebendiges Bild
geworden ſey. Die Göttlichkeit in dieſem
Bilde habe ihn ſo überwältigt, daß er in
helle Thränen ausgebrochen ſey. Es habe
ihn mit den Augen auf eine unbeſchreiblich
rührende Weiſe angeſehen, und habe in je¬
dem Augenblick geſchienen, als wolle es ſich
bewegen; und es habe ihn gedünkt, als be¬
wege es ſich auch wirklich. Was das wun¬
derbarſte geweſen, ſo ſey es ihm vorgekom¬
men, als wäre dies Bild nun grade das,
was er immer geſucht, obwohl er immer nur
eine dunkle und verwirrte Ahndung davon
gehabt. Wie er wieder eingeſchlafen ſey,
wiſſe er ſich durchaus nicht zu erinnern. Am
andern Morgen ſey er wie neugebohren auf¬
geſtanden; die Erſcheinung ſey ſeinem Ge¬
müth und ſeinen Sinnen auf ewig feſt ein¬
[21] geprägt geblieben, und nun ſey es ihm ge¬
lungen, die Mutter Gottes immer ſo, wie
ſie ſeiner Seele vorgeſchwebt habe, abzubil¬
den, und er habe immer ſelbſt vor ſeinen
Bildern eine gewiſſe Ehrfurcht gefühlt. —
Das erzählte mir mein Freund, mein theurer
Raphael, und es iſt mir dieſes Wunder ſo
wichtig und merkwürdig geweſen, daß ich es
für mich, zu meiner Ergötzung niedergeſchrie¬
ben habe.« —


So iſt der Inhalt des unſchätzbaren Blat¬
tes, welches in meine Hände fiel. Wird man
nun deutlich vor Augen ſehen, was der gött¬
liche Raphael unter den merkwürdigen Wor¬
ten verſteht, wenn er ſagt:
»Ich halte mich an ein gewiſſes Bild
»im Geiſte, welches in meine Seele
»kommt.«

Wird man, durch dieſes offenbare Wunder
der himmliſchen Allmacht belehrt, verſtehen,
[22] daß ſeine unſchuldige Seele in dieſen ein¬
fachen Worten einen ſehr tiefen und großen
Sinn ausſprach? Wird man nun nicht end¬
lich begreifen, daß all' das profane Geſchwätz
über Begeiſterung des Künſtlers, wahre Ver¬
ſündigung ſey, — und überführt ſeyn, daß
es dabey doch geradezu auf nichts anderes,
als den unmittelbaren göttlichen Beyſtand
ankomme?


Aber ich füge nichts mehr hinzu, um je¬
den, über dieſen ſo wichtigen Gegenſtand der
ernſten Betrachtung, ſeinem eigenen Nach¬
denken zu überlaſſen.


[23]

Sehnſucht nach Italien.

Durch einen ſeltſamen Zufall hat ſich fol¬
gendes kleine Blatt bis jetzt bey mir aufbe¬
wahrt, das ich ſchon in meiner frühen Ju¬
gend niederſchrieb, als ich vor dem Wunſche,
endlich einmal Italien, das gelobte Land
der Kunſt, zu ſehen, keine Ruhe finden
konnte.


Bey Tage und in der Nacht denkt meine
Seele nur an die ſchönen, hellen Gegenden,
die mir in allen Träumen erſcheinen, und
mich rufen. Wird mein Wunſch, meine Sehn¬
ſucht immer vergebens ſeyn? So mancher
reiſt hin und kömmt zurück, und weiß dann
nicht wo er geweſen iſt, und was er geſehen
[24] hat, denn keiner liebt ſo innig das Land mit
ſeiner einheimiſchen Kunſt.


Warum liegt es ſo fern von mir, daß es
mein Fuß nicht in einigen Tagereiſen errei¬
chen kann? daß ich dann vor den unſterb¬
lichen Werken der großen Künſtler nieder¬
knie, und ihnen alle meine Bewunderung
und Liebe bekenne? daß ihre Geiſter es hö¬
ren, und mich als den getreuſten Schüler
bewillkommen? —


Wenn zufällig von meinen Freunden die
Landkarte aufgeſchlagen wird, muß ich ſie
immer mit Rührung betrachten; ich durch¬
wandre mit meinem Geiſte Städte, Flecken
und Dörfer, — ach! und fühle nur zu bald,
daß alles nur Einbildung ſey.


Wünſch' ich mir doch kein glänzendes
Glück dieſer Erde; aber ſoll es mir auch
nicht einmal vergönnt ſeyn, dir, o heilige
Kunſt, ganz zu leben?


[25]
Soll ich in mir ſelbſt verſchmachten,

Und in Liebe ganz vergehn?

Wird das Schickſal mein nicht achten,

Dieſes Sinnen, dieſes Trachten

Stets mit Mißvergnügen ſehn?
Bin ich denn ſo ganz verloren,

Den Verſtoßnen zugeweiht?

O beglückt, wer auserkohren,

Für die Künſte nur gebohren,

Ihnen Herz und Leben weiht!
Ach mein Glück liegt wohl noch ferne,

Kömmt noch lange mir nicht nah!

Freilich zweifelt' ich ſo gerne, —

Doch noch oft drehn ſich die Sterne, —

Endlich, endlich iſt es da!
Dann ohne Säumen,

Nach langen Träumen,

Nach tiefer Ruh,

Durch Wies' und Wälder,

Durch blüh'nde Felder

Der Heimath zu!
[26]
Mir dann entgegen

Fliegen mit Seegen

Genien, bekränzt

Strahlenumglänzt!

Sie führen den Müden

Dem ſüßen Frieden,

Den Freuden, der Ruh,

Der Kunſtheimath zu!
[27]

Der merkwürdige Tod
des
zu ſeiner Zeit weit berühmten alten Mahlers
Franceſco Francia,
des Erſten aus der Lombardiſchen Schule.

So wie die Epoche des Wiederauflebens
der Wiſſenſchaften und der Gelehrſamkeit
die vielumfaſſendſten, als Menſchen merk¬
würdigſten, und am Geiſte kräftigſten ge¬
lehrten Männer hervorbrachte; ſo ward auch
die Periode, da die Kunſt der Mahlerey
aus ihrer lange ruhenden Aſche, wie ein
Phönix, hervorging, durch die erhabenſten
und edelſten Männer in der Kunſt bezeich¬
net. Sie iſt als das wahre Heldenalter
der Kunſt anzuſehen, und man möchte (wie
Oſſian) ſeufzen, daß die Kraft und Größe
dieſer Heldenzeit nun von der Erde entflohen
[28] iſt. Viele ſtanden an vielen Orten auf, und
erhoben ſich ganz durch eigene Stärke: ihr
Leben und ihre Arbeiten hatten Gewicht, und
waren der Mühe werth, in ausführlichen
Chroniken, wie wir ſie noch von den Hän¬
den damaliger Verehrer der Kunſt beſitzen,
der Nachwelt aufbewahrt zu werden; und
ihr Geiſt war ſo ehrwürdig, als es uns noch
ihre bärtigen Häupter ſind, die wir in den
ſchätzbaren Sammlungen ihrer Bildniſſe mit
Ehrfurcht betrachten. Es geſchahen unter ih¬
nen ungewöhnliche, und vielen jetzt unglaub¬
liche Dinge, weil der Enthuſiasmus, der itzt
nur in wenigen einzelnen Herzen, wie ein
ſchwaches Lämpchen flimmert, in jener gol¬
denen Zeit alle Welt entflammte. Die ent¬
artete Nachkommenſchaft bezweifelt oder be¬
lacht ſo manche bewährte Geſchichte aus die¬
ſen Zeiten als Mährchen, weil der göttliche
Funken ganz aus ihrer Seele gewichen iſt.


[29]

Eine der merkwürdigſten Geſchichten die¬
ſer Art, die ich nie ohne Staunen habe le¬
ſen können, und bey der mein Herz doch nie
in Verſuchung zu zweifeln geführt ward, iſt
die Geſchichte von dem Tode des uralten
Mahlers Franceſco Francia, welcher
der Ahnherr und Stammvater der Schule
war, die ſich in Bologna und der Lombar¬
dey bildete.


Dieſer Franceſco war von geringen Hand¬
werksleuten gebohren, hatte ſich aber durch
ſeinen unermüdeten Fleiß und ſeinen immer
hinaufſtrebenden Geiſt, zu dem höchſten Gi¬
pfel des Ruhmes aufgeſchwungen. In ſeiner
Jugend war er zuerſt bey einem Goldarbei¬
ter, und er bildete ſo künſtliche Sachen in
Gold und Silber, daß ſie jeden, der ſie ſah,
in Erſtaunen ſetzten. Auch grub er lange
Zeit die Stempel zu allen Denkmünzen, und
alle Fürſten und Herzoge der Lombardey ſetz¬
[30] ten eine Ehre darin, ſich von ſeinem Griffel
auf ihren Münzen abbilden zu laſſen. Denn
es war damals noch die Zeit, da alle Vor¬
nehmen des Landes und alle Mitbürger den
vaterländiſchen Künſtler durch ihren ewigen,
lautſchallenden Beyfall ſtolz zu machen ver¬
mochten. Unendlich viele fürſtliche Perſonen
kamen durch Bologna, und verſäumten nicht,
ihr Bildniß von Franceſco zeichnen, und
nachher in Metall ſchneiden und prägen zu
laſſen.


Aber Franceſco's ewig beweglicher, feuri¬
ger Geiſt ſtrebte nach einem neuen Felde der
Arbeit, und je mehr ſeine heiße Ehrbegier
geſättigt ward, deſto ungeduldiger ward er,
ſich eine ganz neue, noch unbetretene Bahn
zum Ruhme aufzuſchließen. Schon vierzig
Jahre alt, trat er in die Schranken einer
neuen Kunſt; er übte ſich mit unbezwing¬
licher Geduld im Pinſel, und richtete ſein
[31] ganzes Nachdenken auf das Studium der
Kompoſition im Großen, und des Effektes
der Farben. Und es war außerordentlich,
wie ſchnell es ihm gelang, Werke hervorzu¬
bringen, die ganz Bologna in Verwunde¬
rung ſetzten. Er ward in der That ein vor¬
züglicher Mahler; denn wenn er auch meh¬
rere Mitſtreiter hatte, und ſelbſt der gött¬
liche Raphael zu der Zeit in Rom arbei¬
tete, ſo konnte man immer mit Recht auch
ſeine Werke zu den vornehmſten rechnen.
Denn allerdings iſt die Schönheit in der
Kunſt nicht etwas ſo armes und dürftiges,
daß eines Menſchen Leben ſie erſchöpfen
könnte; und ihr Preis iſt kein Loos, das
nur allein auf Einen Auserwählten fällt: ihr
Licht zerſpaltet ſich vielmehr in tauſend Strah¬
len, deren Wiederſchein auf mannigfache
Weiſe von den großen Künſtlern, die der
[32] Himmel auf die Welt geſetzt hat, in unſer
entzücktes Auge zurückgeworfen wird.


Franceſco lebte grade unter der erſten
Generation der edlen italieniſchen Künſtler,
welche um ſo größere und allgemeinere Ach¬
tung genoſſen, da ſie auf den Trümmern der
Barbarey ein ganz neues, glänzendes Reich
ſtifteten; und in der Lombardey war grade
Er der Stifter, und gleichſam der erſte Fürſt
dieſer neugegründeten Herrſchaft. Seine ge¬
ſchickte Hand vollendete eine unzählbare Men¬
ge von herrlichen Gemählden, die nicht nur
durch die ganze Lombardey, (in welcher keine
Stadt von ſich nachſagen laſſen wollte, daß
ſie nicht wenigſtens eine Probe ſeiner Arbeit
beſäße,) ſondern auch in die andern Gegen¬
den von Italien gingen, und allen Augen,
die ſo glücklich waren ſie zu betrachten, ſei¬
nen Ruhm laut verkündigten. Die italieni¬
ſchen Fürſten und Herzoge waren eiferſüchtig,
Bilder[33] Bilder von ihm zu beſitzen; und von allen
Seiten ſtröhmten ihm Lobſprüche zu. Rei¬
ſende verpflanzten ſeinen Namen aller Or¬
ten wo ſie hingelangten, und der ſchmeichel¬
hafte Wiederhall ihrer Reden tönte in ſein
Ohr zurück. Bologneſer, die Rom beſuchten,
prieſen ihren vaterländiſchen Künſtler dem
Raphael, und dieſer, der auch einiges von
ſeinem Pinſel geſehen und bewundert hatte,
bezeugte ihm in Briefen, mit der ihm eigen¬
thümlichen ſanften Leutſeligkeit, ſeine Ach¬
tung und Zuneigung. Die Schriftſteller der
Zeit konnten ſich nicht enthalten, ſein Lob
in alle ihre Werke einzuflechten; ſie richten
die Augen der Nachwelt auf ihn, und er¬
zählen mit wichtiger Miene, daß er wie ein
Gott verehrt ſey. Einer von ihnen *)ſogar
iſt kühn genug, zu ſchreiben, daß Raphael,
auf den Anblick ſeiner Madonnen, die Trocken¬
C[34] heit, die ihm noch von der Schule von Pe¬
rugia angeklebt, verlaſſen, und einen größe¬
ren Styl angenommen habe.


Was konnten dieſe wiederhohlten Schläge
anders für eine Wirkung auf das Gemüth
unſers Franceſco haben, als daß ſein lebhaf¬
ter Geiſt ſich zu dem edelſten Künſtlerſtolze
empor hob, und er an einen himmliſchen
Genius in ſeinem Inneren zu glauben an¬
fing. Wo findet man jetzt dieſen erhabenen
Stolz? Vergebens ſucht man ihn unter den
Künſtlern unſrer Zeiten, welche wohl auf
ſich eitel
, aber nicht ſtolz auf ihre Kunſt
ſind.


Raphael war der einzige, den er von
allen ihm gleichzeitigen Mahlern allenfalls
für ſeinen Nebenbuhler gelten ließ. Er war
indeß nie ſo glücklich geweſen, ein Bild von
ſeiner Hand zu ſehen, denn er war in ſei¬
nem Leben nie weit von Bologna gekom¬
[35] men. Doch hatte er, nach vielen Beſchrei¬
bungen, ſich in der Idee von der Manier
des Raphaels ein feſtes Bild gemacht, und
ſich, beſonders auch durch deſſen beſcheidenen
und ſehr gefälligen Ton gegen ihn in ſeinen
Briefen, feſt überzeugt, daß er ſelber ihm
in den meiſten Stücken gleich komme, und
es in manchen wohl noch weiter gebracht
habe. Seinem hohen Alter war es vorbe¬
halten, mit ſeinen eigenen Augen ein Bild
von Raphael zu ſehen.


Ganz unerwartet empfing er einen Brief
von ihm, worin jener ihm die Nachricht er¬
theilte, er habe eben ein Altargemählde von
der heiligen Cäcilia vollendet, welches für
die Kirche des heiligen Johannes zu Bologna
beſtimmt ſey; und dabey ſchrieb er, er werde
das Stück an ihn, als ſeinen Freund, ſen¬
den, und bat, daß er ihm den Gefallen er¬
zeigen möchte, es auf ſeiner Stelle gehörig
C 2[36] aufrichten zu laſſen, auch, wenn es auf der
Reiſe irgendwo beſchädigt ſey, oder er ſonſt
im Bilde ſelbſt irgend ein Verſehen oder ei¬
nen Fehler wahrnähme, überall als Freund
zu beſſern und nachzuhelfen. Dieſer Brief,
worin ein Raphael demüthig ihm den Pin¬
ſel in die Hände gab, ſetzte ihn außer ſich
ſelbſt, und er konnte die Ankunft des Bil¬
des nicht erwarten. Er wußte nicht, was
ihm bevorſtand!


Einſt, als er von einem Ausgange nach
Hauſe kam, eilten ſeine Schüler ihm entge¬
gen, und erzählten ihm mit großer Freude,
das Gemählde vom Raphael ſey indeß an¬
gekommen, und ſie hätten es in ſeinem Ar¬
beitszimmer ſchon in das ſchönſte Licht ge¬
ſtellt. Franceſco ſtürzte, außer ſich, hinein. —


Aber wie ſoll ich der heutigen Welt die
Empfindungen ſchildern, die der außeror¬
dentliche Mann beym Anblick dieſes Bildes
[37] ſein Inneres zerreißen fühlte. Es war ihm,
wie einem ſeyn müßte, der voll Entzücken
ſeinen von Kindheit an von ihm entfernten
Bruder umarmen wollte, und ſtatt deſſen
auf einmal einen Engel des Lichts vor ſeinen
Augen erblickte. Sein Inneres war durch¬
bohrt; es war ihm, als ſänke er in voller
Zerknirſchung des Herzens vor einem höhe¬
ren Weſen in die Kniee.


Vom Donner gerührt ſtand er da; und
ſeine Schüler drängten ſich um den alten
Mann herum, und hielten ihn, fragten ihn,
was ihn befallen habe? und wußten nicht
was ſie denken ſollten.


Er hatte ſich etwas erhohlt, und ſtarrte
immerfort das über alles göttliche Bild an.
Wie war er auf einmal von ſeiner Höhe ge¬
fallen! Wie ſchwer mußte er die Sünde
büßen, ſich allzu vermeſſen bis an die Sterne
erhoben, und ſich ehrſüchtig über Ihn, den
[38] unnachahmlichen Raphael, geſetzt zu haben.
Er ſchlug ſich vor ſeinen grauen Kopf, und
weinte bittere, ſchmerzende Thränen, daß er
ſein Leben mit eitelm, ergeizigen Schweiße
verbracht, und ſich dabey nur immer, thörich¬
ter gemacht habe, und nun endlich, dem
Tode nahe, mit geöffneten Augen auf ſein
ganzes Leben als auf ein elendes, unvollen¬
detes Stümperwerk zurückſehen müſſe. Er
hob mit dem erhobenen Antlitz der heiligen
Cäcilia auch ſeine Blicke empor, zeigte dem
Himmel ſein wundes, reuiges Herz, und be¬
tete gedemüthigt um Vergebung.


Er fühlte ſich ſo ſchwach, daß ſeine Schü¬
ler ihn ins Bett bringen mußten. Beym
Herausgehen aus dem Zimmer fielen ihm ei¬
nige ſeiner Gemählde, und beſonders ſeine
ſterbende Cäcilia, welche noch dort hing, in
die Augen; und er verging faſt vor Schmerz.


Von der Zeit an war ſein Gemüth in
[39] beſtändiger Verwirrung, und man bemerkte
faſt immer eine gewiſſe Abweſenheit des Gei¬
ſtes bey ihm. Die Schwächen des Alters
und die Ermattung des Geiſtes, welcher ſo
lange in immer angeſtrengter Thätigkeit bey
der Schöpfung von ſo tauſenderley Geſtal¬
ten geweſen war, traten hinzu, um das Haus
ſeiner Seele von Grund aus zu erſchüttern.
Alle die unendlich mannigfaltigen Bildungen,
die ſich von jeher in ſeinem mahleriſchen
Sinn bewegt hatten, und in Farben und
Linien auf der Leinwand zur Wirklichkeit
übergegangen waren, fuhren jetzt, mit ver¬
zerrten Zügen, durch ſeine Seele, und wa¬
ren die Plagegeiſter, die ihn in ſeiner Fie¬
berhitze ängſtigten. Ehe ſeine Schüler es
ſich verſahen, fanden ſie ihn todt im Bette
liegen. —


So ward dieſer Mann erſt dadurch recht
groß, daß er ſich ſo klein gegen den himm¬
[40] liſchen Raphael fühlte. Auch hat ihn der
Genius der [Kunſt], in den Augen der Ein¬
geweihten, längſt heilig geſprochen, und ſein
Haupt mit dem Strahlenkreiſe umgeben, der
ihm als einem ächten Märtyrer des Kunſt¬
enthuſiasmus gebührt. —


Die obige Erzählung von dem Tode des
Franceſco Francia hat uns der alte Vaſari
überliefert, in welchem der Geiſt der Urvä¬
ter der Kunſt noch wehte.


Diejenigen kritiſchen Köpfe, welche an
alle außerordentliche Geiſter, als an überna¬
türliche Wunderwerke, nicht glauben wollen
noch können, und die ganze Welt gern in
Proſa auflöſen möchten, ſpotten über die
Mährchen des alten ehrwürdigen Chroniſten
der Kunſt, und erzählen dreiſt, Franceſco
Francia ſey an Gift geſtorben.


[41]

Der Schüler und Raphael.

Zu jener Zeit, als die bewundernde Welt
noch Raphael unter ſich leben ſah, — deſ¬
ſen Name nicht leicht über meine Lippen
geht, ohne daß ich ihn unwillkührlich den
Göttlichen nenne, — zu Zeit, — o wie
gern gäb' ich alle Klugheit und Weisheit
der ſpätern Jahrhunderte hin, um in jenem
geweſen zu ſeyn! — lebte in einem kleinen
Städtchen des Florentiniſchen Gebiets ein
junger Menſch, den wir Antonio nennen
wollen, welcher ſich in der Mahlerkunſt übte.
Er hatte von Kindheit auf, einen recht eifri¬
gen Trieb zur Mahlerey, und zeichnete als
Knabe ſchon alle Heiligenbilder ämſig nach,
die ihm in die Hände fielen. Aber bey aller
Stetigkeit ſeines Eifers [und] ſeiner recht ei¬
ſernen Begier, irgend etwas Vortreffliches
[42] hervorzubringen, beſaß er zugleich eine ge¬
wiſſe Blödigkeit und Eingeſchränktheit des
Geiſtes, bey welcher die Pflanze der Kunſt
immer einen unterdrückten und gebrechlichen
Wuchs behält, und nie frey und geſund zum
Himmel emporſchießen kann: eine unglück¬
liche Conſtellation der Gemüthskräfte, welche
ſchon manche Halbkünſtler auf die Welt ge¬
ſetzt hat.


Antonio hatte ſich ſchon nach verſchiede¬
nen Meiſtern ſeiner Zeit geübt, und es war
ihm ſo weit gelungen, daß ihm ſelber die
Ähnlichkeit ſeiner Nachahmungen ungemeines
Vergnügen machte, und er über ſeine all¬
mähligen Fortſchritte ſehr genaue Rechnung
hielt. Endlich ſah er einige Zeichnungen und
Gemählde Raphaels; er hatte ſeinen Namen
ſchon oft mit großen Lobeserhebungen aus¬
ſprechen hören, und er ſchickte ſich den Au¬
genblick an, nach den Werken dieſes hoch¬
[43] geprieſenen Mannes zu arbeiten. Als er
aber mit ſeinen Kopieen gar nicht zu Stande
kommen konnte, und nicht wußte, woran es
lag, legte er ungeduldig den Pinſel aus der
Hand, beſann ſich was er thun wollte, und
ſetzte endlich folgendes Schreiben auf:


»An den allervortrefflichſten Mahler,
Raphael von Urbino.«


»Vergebt mir, daß ich nicht weiß, wie
ich Euch anreden ſoll, denn Ihr ſeyd ein un¬
begreiflicher und außerordentlicher Mann;
und ich bin überdies gar nicht geübt, die
Feder zu führen. Ich habe auch lange bey
mir überlegt, ob es wohl ſchicklich ſey, daß
ich Euch ſchriebe, ohne Euch von Perſon je¬
mals geſehn zu haben. Aber da man ja
überall von Eurer leutſeligen und freund¬
lichen Gemüthsart reden hört, ſo habe ich
mich es endlich unterſtanden.«
[44] »Doch ich will Euch Eure koſtbare Zeit
nicht mit vielen Worten rauben, denn ich
kann mir denken, wie fleißig Ihr ſeyn müßt;
ſondern ich will nur gleich mein Herz vor
Euch aufſchließen, und Euch meine Bitte
recht angelegentlich vortragen.«


»Ich bin ein junger Anfänger in der vor¬
trefflichen Mahlerkunſt, welche ich über alles
liebe, und welche mein ganzes Herz erfreut,
ſo daß ich faſt nicht glauben kann, daß,
wenn ich, (wie es natürlich iſt,) Euch und
andre berühmte Meiſter dieſer Zeiten aus¬
nehme, irgend jemand anders ſolche inner¬
liche Liebe, und ſo einen unaufhörlichen
Drang zu der Kunſt trüge. Ich beſtrebe
mich aufs allerbeſte, dem Ziel, das ich in
der Entfernung vor mir ſehe, immer ein we¬
nig näher zu rücken; ich bin keinen Tag, ja,
ich möchte beynahe ſagen, keine Stunde müßig;
und ich merke, daß ich jeden Tag, ſo wenig
[45] es auch ſeyn mag, weiter komme. Nun habe
ich mich ſchon nach vielen unſrer heutiges
Tages berühmten Männer wohl geübt; aber
da ich angefangen habe, Eure Arbeiten
nachzumahlen, iſt es mir geweſen, als wenn
ich gar nichts wüßte, und noch einmal von
vorn anfangen ſollte. Ich habe doch ſchon
ſo manchen Kopf auf der Tafel zu Stande
gebracht, woran weder in den Umriſſen, noch
in den Lichtern und Schatten etwas Falſches
oder Unrechtliches gefunden werden mochte;
aber wenn ich die Köpfe Eurer Apoſtel und
Jünger Chriſti, ſo wie Eurer Madonnen
und Chriſtkindlein, auch Zug für Zug auf
meine Tafel übertrage, mit ſolcher Pünkt¬
lichkeit, daß mir die Augen brechen möch¬
ten, — und ich denn das Ganze überſehe,
und es mit dem Original vergleiche, ſo bin
ich erſchrocken, daß es himmelweit davon ent¬
fernt, und ein ganz anderes Geſicht iſt. Und
[46] doch ſehen Eure Köpfe, wenn man ſie zum
erſtenmal betrachtet, beynahe leichter aus,
als andre; denn ſie haben ein gar zu natür¬
liches Anſehen, und es iſt, als wenn man
darin die Perſonen, die es ſeyn ſollen, gleich
erkennte, und als wenn man ſie ſchon leben¬
dig geſehen hätte. Auch finde ich bey Euch
nicht eben ſolche ſchwere und außerordent¬
liche Verkürzungen der Glieder, womit wohl
andre Meiſter heutiges Tages die Vollkom¬
menheit ihrer Kunſt zu zeigen, und uns arme
Schüler zu quälen pflegen.«


»Darum, ſo viel ich auch immer nachge¬
grübelt habe, weiß ich mir doch durchaus
das Beſondere nicht zu erklären, was Eure
Bilder an ſich haben, und kann gar nicht
ergründen, worin es eigentlich liegt, daß
man Euch nicht recht nachahmen, und Euch
nie ganz und gar erreichen kann. O leiſtet
mir hierin Euren Beyſtand, — ich bitte Euch
[47] dringend und flehentlich darum; und ſagt
mir, (denn Ihr könnt es gewiß am beſten,)
was ich thun muß, um Euch nur einiger¬
maßen ähnlich zu werden. O wie tief will
ich mir das einprägen! wie eifrig will ich es
befolgen! — Ich bin, — vergebt mir, —
manchmal wohl gar darauf gefallen. Ihr
müßtet irgend ein Geheimniß bey Eurer Ar¬
beit beſitzen, wovon ſich kein anderer Menſch
einen Begriff machen könnte. Gar zu gern
möchte ich Euch nur einen halben Tag lang
bey der Arbeit zuſehen; doch Ihr laßt viel¬
leicht keinen dazu. Oder, wenn ich ein großer
Herr wäre, würde ich Euch tauſend und
tauſend Goldſtücke für Euer Geheimniß an¬
bieten.«


»Ach habt Nachſicht mit mir, daß ich
mich unterſtehe, ſo vielerley vor Euch zu
ſchwatzen. Ihr ſeyd ein außerordentlicher
[48] Mann, der wohl auf alle andre Menſchen
mit Verachtung herunterſehen muß.«


»Ihr arbeitet wohl Tag und Nacht, um
ſo herrliche Sachen zuwege zu bringen; und
in Eurer Jugend ſeyd Ihr ſicher in einem
Tage ſo weit gekommen, als ich nicht in ei¬
nem Jahre. Nun, ich will doch auch ins¬
künftige meine Kräfte anſtrengen, ſo viel
ich nur immer vermögend bin.«


»Andere, die heller ſehen als ich, loben
ja auch den Ausdruck in Euren Bildern über
alles, und wollen behaupten, daß niemand
ſo gut wie Ihr, gleichſam die Beſchaffenheit
des Gemüths in den Perſonen vorzuſtellen
wiſſe, ſo daß man aus ihren Mienen und
Gebehrden ſo zu ſagen ihre Gedanken erra¬
then könnte. Doch, auf dieſe Sachen ver¬
ſtehe ich mich nur noch wenig.«


»Ich muß aber endlich aufhören Euch
läſtig zu fallen. Ach was würde es mir für
ein[49] ein erquickender Troſt ſeyn, wenn Ihr auch
nur mit wenigen Worten Euren Rath er¬
theilet


Eurem
Euch über alles verehrenden
Antonio.«

So lautete Antonio's Sendſchreiben an
Raphael; — und dieſer ſchrieb ihm lächelnd
folgende Antwort:


»Mein guter Antonio,«


»Es iſt ſchön, daß Du ſo große Liebe zu
der Kunſt trägſt, und Dich ſo fleißig übeſt;
Du haſt mich ſehr damit erfreut. Aber was
Du von mir zu wiſſen verlangſt, kann ich
Dir leider nicht ſagen; nicht, weil es ein
Geheimniß, das ich nicht verrathen wollte, —
denn ich wollte es Dir und einem jeden von


Grunde des Herzens gern mittheilen, ſon¬
dern weil es mir ſelber unbekannt iſt.«


»Ich ſehe Dir an, daß Du mir das nicht
D[50] glauben willſt; und doch iſt es ſo. So we¬
nig als einer Rechenſchaft geben kann, wo¬
her er eine rauhe oder eine liebliche Stimme
habe, ſo wenig kann ich Dir ſagen, warum
die Bilder, unter meiner Hand, grade eine
ſolche und keine andere Geſtalt annehmen.«


»Die Welt ſucht viel Beſonderes in mei¬
nen Bildern; und wenn man mich auf dies
und jenes Gute darin aufmerkſam macht, ſo
muß ich manchmal ſelber mein Werk mit
Lächeln betrachten, daß es ſo wohl gelun¬
gen iſt. Aber es iſt wie in einem angeneh¬
men Traum vollendet, und ich habe wäh¬
rend der Arbeit immer mehr an den Gegen¬
ſtand gedacht, als daran, wie ich ihn vor¬
ſtellen möchte.«


»Wenn Du das, was Du etwa an mei¬
nen Arbeiten Eigenthümliches findeſt, nicht
recht begreifen und nachahmen kannſt, ſo ra¬
the ich Dir, lieber Antonio, Dir ſonſt einen
[51] oder den andern der mit Recht berühmten
Meiſter jetziger Zeiten zum Muſter zu er¬
wählen; denn ein jeder hat etwas Nachah¬
mungswürdiges, und ich habe mich mit Nutzen
nach ihnen gebildet, und nähre mein Auge
noch immer mit ihren mannigfachen Vorzüg¬
lichkeiten. Daß ich nun jetzt aber gerade
dieſe und keine andre Art zu mahlen habe,
wie denn ein jeder ſeine eigene zu haben
pflegt, das ſcheint meiner Natur von jeher
ſchon ſo eingepflanzet; ich habe es nicht
durch ſauren Schweiß errungen, und es läßt
ſich nicht mit Vorſatz auf ſo etwas ſtudieren.
Fahre indeſſen fort, Dich mit Liebe in der
Kunſt zu üben, und lebe wohl.«

D 2[52]

Ein Brief
des
jungen Florentiniſchen Mahlers
Antonio
an ſeinen Freund Jacobo in Rom.

Geliebter Bruder,


Wundre Dich nicht, daß ich Dir ſo lange
nicht geſchrieben, denn allerhand Beſchäfti¬
gungen haben mir meine Zeit unglaublich
verkürzt. Aber jetzt will ich Dir öfter ſchrei¬
ben, weil ich Dir als meinem liebſten Freunde
meine Gedanken und Empfindungen mitzu¬
theilen wünſche. Du kennſt meine Klagen,
daß ich mich ſonſt immer als ein ganz un¬
würdiger, verlorner Schüler der edlen Mah¬
lerkunſt fühlte; jetzt aber hat meine Seele
einen wunderbaren, unbegreiflichen Schwung
[53] erhalten, ſo daß ich freyer und dreiſter Athem
hohle, und nicht mehr mit ſo demuthsvollem
Erröthen vor den Bildern der großen Mei¬
ſter da ſtehe.


Und wie ſoll ich Dir nun ſchildern, wie
und wodurch ſich dieſes ereignet hat? Der
Menſch iſt ſehr arm, lieber Jacobo; denn
wenn er auch einen recht koſtbaren Schatz
im Buſen trägt, ſo muß er ihn wie ein Gei¬
ziger verſchließen, und kann ſeinem Freunde
nichts davon mittheilen oder zeigen. Thrä¬
nen, Seufzer, ein Händedruck ſind dann
unſre ganze Sprache. So iſt es jetzt mit
mir, und darum möcht' ich Dich jetzt vor
mir haben, um Deine liebe Hand zu neh¬
men, und ſie auf mein pochendes Herz zu
legen. — Ich weiß nicht, ob andre Men¬
ſchen ſchon ſo empfunden haben wie ich, —
ob es ſchon andern gegönnt war, durch die
Liebe einen ſo ſchönen Weg zur Anbetung
[54] der Kunſt zu finden. Denn wenn ein Wort
meine Gefühle ausdrücken ſoll, ſo muß es
Liebe ſeyn, die jetzt mein Herz und meinen
Geiſt regiert.


Es iſt mir zu Muthe, als wenn ein Vor¬
hang von meinem Leben hinweggezogen wäre,
und ich nun erſt das zu ſehn bekäme, was
die Menſchen immer die Natur und die
Schönheit der Welt nennen. Alle Berge,
alle Wolken, der Himmel und ſein Abend¬
roth ſind jetzt anders und näher zu mir her¬
abgezogen; mit Liebe und unausſprechlicher
Sehnſucht möcht' ich jetzt Raphael umfan¬
gen, der nun unter den Engeln wohnt, weil
er für uns und dieſe Erde zu gut und zu
erhaben war: heiße Thränen der Begeiſte¬
rung, der reinſten Ehrfurcht treten in mein
irdiſches Auge, und machen meinen Sinn
himmliſchtrunken, wenn ich jetzt vor ſeinen
Werken ſtehe, und ſie mir tief in Sinn und
[55] Herz einpräge. Ich kann nun wohl ſagen,
daß ich nun erſt fühle, was die Kunſt von
allem übrigen Treiben und Arbeiten der ſterb¬
lichen Menſchen unterſcheidet; ich bin reiner
und heiliger geworden, und darum bin ich
nun erſt zu den heiligen Altären gelaſſen.
Wie bet' ich jetzt die Mutter Gottes und die
erhabenen Apoſtel in jenen begeiſterten Bil¬
dern an, die ich ſonſt nur mit kaltem Auge
und halbgeübtem Pinſel Zug für Zug nach¬
zeichnen wollte: — jetzt ſtehn mir die Thrä¬
nen in den Augen, meine Hand zittert, mein
innerſtes Herz iſt bewegt, ſo daß ich (möcht'
ich ſagen) faſt ohne Bewußtſeyn die Farben
auf die Leinwand trage, und dennoch geräth
es mir ſo, daß ich hernach damit zufrieden
bin. O wenn doch jetzt Raphael noch lebte,
daß ich ihn ſehn, ihn ſprechen, ihm meine
Gefühle ſagen könnte! Er muß ſie gekannt
haben, denn ich finde ſie, ich finde mein
[56] ganzes Herz in ſeinen Werken wieder: alle
ſeine Madonnen ſehn meiner geliebten Ama¬
lia ähnlich.


Auch fall' ich jetzt von ſelbſt auf große
und recht dreiſte Erfindungen: ich habe ſchon
einiges angefangen, und in manchen Stun¬
den, wenn ich von der Mahlzeit aufſtehe,
oder eben ein gleichgültiges Geſpräch geführt
habe, erſtaune ich ſelbſt vor meinem verwe¬
genen Unternehmen. Aber innerlich treibt
mich dann mein Genius wieder an, ſo daß
ich bey alle dem nicht den Muth verliere.


Wie unähnlich die zugeſchloſſene Knoſpe
der prächtigen Lilie iſt, die wie ein großer
ſilberner Stern auf ihrem dunkeln Stengel
nach der Sonne blickt: ſo unähnlich bin ich
mir ſelbſt, gegen meinen vormaligen Zuſtand.
Ich will noch vieles und mit unermüdeten
Kräften arbeiten.


Wenn ich ſchlafe, iſt der Name Amalie
[57] wie ein goldenes, ſchützendes Zelt über mir
ausgeſpannt. Oft wache ich auf, weil ich
dieſen Namen mit ſüßem Klange ausſprechen
höre, als wenn mich eines von den Raphael¬
ſchen Engelskindern neckend und liebkoſend
riefe. Rieſelnde Töne ſchütten dann nach
und nach die Lücke wieder zu, und holdſe¬
lige Träume laſſen ſich wieder mit leiſen
Flügeln auf meine Augen herab. —


Ach, Jacobo, glaube mir, jetzt bin ich
erſt recht Dein Freund, aber ſpotte nicht
über


Deinen
glücklichen Antonio.


Jacob's Antwort.


Dein lieber Brief, mein ſehr theurer An¬
tonio, hat eine freudige Rührung in mir ver¬
urſacht. Ich brauche Dir nicht Glück zu
[58] wünſchen, denn Du biſt jetzt wahrhaft glück¬
lich, und es ſey ferne von mir, daß ich über
Dich ſpotten könnte, denn dann verdiente
ich nicht die Gnade des Himmels, der mich
zum Werkzeug ſeiner Verherrlichung, zum
Künſtler auserkohren.


Ich begreife recht gut Deinen Trieb zur
Arbeit und Deine ſtets rege Erfindſamkeit.
Ich lobe, ja ich beneide Dich; aber Du wirſt
es mir nicht übel deuten, wenn ich außer¬
dem noch einige Worte hinzufüge: denn da
ich ſo manches Jahr, ſo manche Erfahrung
vor Dir voraus habe, möchte ich dadurch
vielleicht ein Recht zum Reden haben.


Was Du mir da von der Kunſt ſchreibſt,
will mir nicht ſo durchaus gefallen. Schon
mancher iſt Deinen Weg gegangen, aber ich
glaube nicht, daß der große Künſtler da ſtehn
bleiben muß, wo Du jetzt ſtehſt. Die Liebe
eröffnet uns freilich die Augen über uns ſel¬
[59] ber und über die Welt, die Seele wird ſtil¬
ler und andächtiger, und aus allen Winkeln
des Herzens brechen tauſend glimmende Em¬
pfindungen in hellen Flammen hervor: man
lernt dann die Religion und die Wunder des
Himmels begreifen, der Geiſt wird demüthi¬
ger und ſtolzer, und die Kunſt redet uns be¬
ſonders mit allen ihren Tönen bis in das
innerſte Herz hinein. Aber nun kömmt der
Künſtler gar zu leicht in Gefahr, ſich in
jedem Kunſtwerke zu ſuchen, alle ſeine Em¬
pfindungen werden nach einer Richtung hin¬
ausſchweifen, und ſo opfert er denn ſein
mannigfaltiges Talent einem einzigen Ge¬
fühle auf. Hüte Dich davor, lieber Anto¬
nio, weil Du ſonſt zur engſten und am En¬
de unbedeutendſten Manier geführt werden
kannſt. Jedes ſchöne Werk muß der Künſt¬
ler in ſich ſchon antreffen, aber nicht ſich
mühſam darin aufſuchen; die Kunſt muß
[60] ſeine höhere Geliebte ſeyn, denn ſie iſt himm¬
liſchen Urſprungs; gleich nach der Religion
muß ſie ihm theuer ſeyn; ſie muß eine reli¬
giöſe Liebe werden, oder eine geliebte Reli¬
gion, wenn ich mich ſo ausdrücken darf: —
nach dieſer darf dann wohl die irdiſche Liebe
folgen. Dann weht ein herrlicher, labender
Wind alle Empfindungen, alle ſchöne Blu¬
men in dieſes eroberte Land hinein, das mit
Morgenroth überzogen, und von heiliger
Wonne durchklungen iſt.


Deute mir dieſe meine Worte nicht übel,
mein ungemein geliebter Antonio: meine Ver¬
ehrung der Kunſt ſpricht ſo aus mir, und
ſo wirſt Du denn alles zum Beſten ausle¬
gen. — Lebe wohl.


[61]

Das Muſter
eines
kunſtreichen und dabey tiefgelehrten Mahlers,
vorgeſtellt in dem Leben
des

Leonardo da Vinci,
berühmten Stammvaters der Florentiniſchen Schule.

Das Zeitalter der Wiederaufſtehung der
Mahlerkunſt in Italien hat Männer ans
Licht gebracht, zu denen die heutige Welt
billig wie zu Heiligen in der Glorie hinauf¬
ſehen ſollte. Von ihnen möchte man ſagen,
daß ſie zuerſt die wilde Natur durch ihre
Zauberkünſte bezwungen und gleichſam be¬
ſchworen, — oder auch, daß ſie zuerſt aus
der verworrenen Schöpfung den Funken der
Kunſt herausgeſchlagen hätten. Ein jeder
von dieſen prangte mit eigenen, nahmhaften
[62] Vollkommenheiten, und es ſind im Tempel
der Kunſt für viele von ihnen Altäre er¬
richtet.


Ich habe mir aus dieſen für jetzt den
berühmten Stammvater der Florentiniſchen
Schule, den nie genug geprieſenen Leonar¬
do da Vinci
auserwählt, um ihn, wem
daran gelegen iſt, als das Muſter in einem
wahrhaft gelehrten und gründlichen Studium
der Kunſt, und als das Bild eines unermüd¬
lichen, und dabey geiſtreichen Fleißes, dar¬
zuſtellen. An ihm mögen die lehrbegierigen
Jünger der Kunſt erſehen, daß es nicht da¬
mit gethan ſey, zu einer Fahne zu ſchwören,
nur ihre Hand in gelenkiger Führung des
Pinſels zu üben, und mit einem leichten und
flüchtigen After-Enthuſiasmus ausgerüſtet,
gegen das tiefſinnige und auf das wahre
Fundament gerichtete Studium zu Felde zu
ziehen. Ein ſolches Beyſpiel wird ſie beleh¬
[63] ren, daß der Genius der Kunſt ſich nicht
unwillig mit der ernſthaften Minerva zuſam¬
men paart; und daß in einer großen und
offenen Seele, wenn ſie auch auf Ein Haupt¬
beſtreben gerichtet iſt, doch das ganze, viel¬
fachzuſammengeſetzte Bild menſchlicher Wiſ¬
ſenſchaft ſich in ſchöner und vollkommener
Harmonie abſpiegelt. —


Der Mann, von dem wir reden, erblickte
das Licht der Welt in dem Flecken Vinci,
welcher unten im Arno-Thale, unweit der
prächtigen Stadt Florenz, belegen iſt. Seine
Geſchicklichkeit und ſein Witz, die er von der
Natur zum Erbtheil bekommen hatte, ver¬
riethen ſich, wie es bey ſolchen auserleſenen
Geiſtern zu geſchehen pflegt, ſchon in ſeiner
zarten Jugend, und ſahen durch die bunten
Figuren, die ſeine kindiſche Hand ſpielend
herausbrachte, deutlich hervor. Dies iſt wie
das erſte Sprudeln einer kleinen, muntern
[64] Quelle, welche nachher zum mächtigen und
bewunderten Strohme wird. Wer es kennt,
hält das Gewäſſer in ſeinem Laufe nicht zu¬
rück, weil es ſonſt durch Wall und Dämme
bricht; ſondern läßt ihm ſeinen freyen Wil¬
len. So that Leonardo's Vater, indem er
den Knaben ſeiner ihm von Natur einge¬
pflanzten Neigung überließ, und ihn der
Lehre des ſehr berühmten und verdienten
Mannes, Andrea Verocchio zu Florenz,
übergab.


Aber ach! wer kennt und wer nennt un¬
ter uns noch dieſe Namen, die damals wie
funkelnde Sterne am Himmel glänzten? Sie
ſind untergegangen, und es wird nichts mehr
von ihnen gehört, — man weiß nicht ob ſie
jemals waren.


Und dieſer Andrea Verocchio war keiner
der gemeinſten. Er war dem heiligen Tri¬
folium aller bildenden Künſte, der Mahler¬
Bild¬[65] Bildner- und Baukunſt ergeben, — wie es
denn dazumal nichts ungewöhnliches war,
daß für eine ſolche dreyfache Liebe und Fä¬
higkeit, eines Menſchen Geiſt Raum ge¬
nug hatte. Außerdem aber war er in den
mathematiſchen Erkenntniſſen bewandert, und
auch ein eifriger Freund der Muſik. Es mag
wohl ſeyn, daß deſſen Vorbild, welches ſich
früh in die weiche Seele Leonardo's ein¬
drückte, viel auf ihn gewirkt hat; indeß
mußten die Keime doch auf dem Grunde ſei¬
ner Seele liegen. Aber wer mag überhaupt
bey der Geſchichte der Ausbildung eines
fremden Geiſtes alle die feinen Fäden zwi¬
ſchen Urſachen und Wirkungen auffinden, da
die Seele während ihrer Handlungen ſich
dieſes Zuſammenhanges ſelbſt nicht einmal
immer bewußt iſt.


Zu Erlernung jeder bildenden Kunſt, ſelbſt
wenn ſie ernſthafte oder trübſelige Dinge
E[66] abſchildern ſoll, gehört ein lebendiges und
aufgewecktes Gemüth; denn es ſoll ja durch
allmählige mühſame Arbeit endlich ein voll¬
kommenes Werk, zum Wohlgefallen aller
Sinne, hervorgebracht werden, und traurige
und in ſich verſchloſſene Gemüther haben
keinen Hang, keine Luſt, keinen Muth und
keine Stetigkeit hervorzubringen. Solch ein
aufgewecktes Gemüth beſaß der Jüngling
Leonardo da Vinci; und er übte ſich nicht
nur mit Eifer im Zeichnen und im Setzen
der Farben, ſondern auch in der Bildhauerey,
und zur Erhohlung ſpielte er auf der Geige,
und ſang artige Lieder. Wohin alſo ſein
vielbefaſſender Geiſt ſich auch wandte, ſo
ward er immer von den Muſen und Gra¬
zien, als ihr Liebling, in ihrer Atmosphäre
ſchwebend getragen, und berührte nie, auch
in den Stunden der Erhohlung nicht, den
Boden des alltäglichen Lebens. Von allen
[67] Beſchäftigungen aber lag die Mahlerey ihm
zunächſt am Herzen; und zu ſeines Lehrers
Beſchämung brachte er es darin nach kurzer
Zeit ſo weit, daß er ihn ſelbſt übertraf. Ein
Beweis, daß die Kunſt ſich eigentlich nicht
lernt, und nicht gelehrt wird, ſondern daß
ihr Strohm, wenn er nur auf eine kurze
Strecke geführt und gerichtet iſt, unbeherrſcht
aus eigener Seele quillt.


Da ſeine Einbildung ſo fruchtbar und
reich an allerley bedeutenden und ſprechen¬
den Bildern war, ſo zeigte ſich in ſeiner leb¬
haften Jugend, wo alle Kräfte ſich mit Ge¬
walt in ihm hervordrängten, ſein Geiſt nicht
in gewöhnlichen, unſchmackhaften Nachah¬
mungen, ſondern in außerordentlichen, rei¬
chen, ja faſt ausſchweifenden und ſeltſamen
Vorſtellungen. So mahlte er einſt unſre er¬
ſten Vorältern im Paradieſe, welches er
durch alle mögliche Arten wunderbarer und
E 2[68] fremdgeſtalteter Thiere, und durch eine un¬
endliche, mühſame Verſchiedenheit der Pflan¬
zen und Bäume, ſo bereicherte und aus¬
ſchmückte, daß man über die Mannigfaltig¬
keit erſtaunen mußte, und ſeine Augen nicht
von dem Bilde abziehen konnte. Noch wun¬
derbarer war der Meduſenkopf, den er einſt
auf ein hölzernes Schild für einen Bauern
mahlte: er ſetzte ihn aus den Gliedern aller
nur erſinnlichen häßlichen Gewürme und
gräulicher Unthiere zuſammen, ſo daß man
gar nichts Erſchrecklicheres ſehen mochte. Die
Erfahrenheit der Jahre ordnete nachher die¬
ſen wilden, üppigen Reichthum in ſeinem
Geiſte.


Aber ich will zur Hauptſache eilen, und
verſuchen, ob ich eine Abſchilderung von
dem vielumfaſſenden Eifer dieſes Mannes
geben kann.


In der Mahlerey trachtete er mit uner¬
[69] müdlicher Begier nach immer höheren Voll¬
kommenheiten, und nicht in einer, ſondern
in allen Arten; und mit dem Studium der
Geheimniſſe des Pinſels verband er die fleißig¬
ſte Beobachtung, die, als ſein Genius, ihn
durch alle Scenen des gewöhnlichen Lebens
leitete, und ihn auf allen ſeinen Wegen, wo
andre es nicht ahndeten, die ſchönſten Früchte
für ſein Lieblingsfach einſammeln ließ. Alſo
war er ſelber das größeſte Beyſpiel zu den
Lehren, die er in ſeinem vortrefflichen Werke
von der Mahlerey ertheilt, daß nämlich ein
Mahler ſich allgemein machen ſolle, und
nicht alle Dinge nach einem einzigen ange¬
wöhnten Handgriff, ſondern ein jedes nach
ſeiner beſonderen Eigenthümlichkeit darſtellen
müſſe; — und denn, daß man ſich nicht an
einen Meiſter hängen, ſondern ſelbſt frey
die Natur in allem ihren Weſen erforſchen
ſolle, indem man ſonſt ein Enkel, nicht aber
[70] ein Sohn der Natur genannt zu werden
verdiene.


Aus eben dieſer Schrift, der einzigen un¬
ter ſeinen gelehrten Arbeiten, die zu den
Augen der Welt gelangt iſt, und die man
mit Recht das goldene Buch des Leonardo
nennen könnte, wird uns offenbar, wie tief¬
ſinnig er immer die Lehren und Regeln der
Kunſt mit dem Ausüben derſelben verknüpfte.
Die Beſchaffenheit des menſchlichen Körpers
hatte er in allen nur erſinnlichen Wendun¬
gen und Stellungen, bis auf das kleinſte,
ſo in ſeiner Gewalt, als wenn er ihn ſelber
geſchaffen hätte; und immer ging er gerade¬
zu auf den beſtimmten Sinn und die kör¬
perliche ſowohl als geiſtige Bedeutung los,
die in jeder Figur liegen ſollte. Denn billig
muß, wie auch er ſelbſt in ſeinem Buche zu
verſtehen giebt, ein jedes Kunſtwerk eine
doppelte Sprache reden, eine des Leibes und
[71] eine der Seele. An einigen Orten in ſeinem
Buche giebt er Anleitung, wie man eine
Schlacht, einen Seeſturm, eine große Ver¬
ſammlung mahlen ſolle; und da iſt ſeine
Einbildung ſo thätig und wirkſam, daß ſie
ſchnell die deutlichſten und ſprechendſten Züge
in Worten zu einem, auffallenden Ganzen
zuſammenträgt.


Leonardo wußte, daß der Kunſtgeiſt eine
Flamme von ganz anderer Natur iſt, als
der Enthuſiasmus der Dichter. Es iſt nicht
darauf angeſehen, etwas ganz aus eigenem
Sinne zu gebähren; der Kunſtſinn ſoll viel¬
mehr ämſig außer ſich herumſchweifen, und
ſich um alle Geſtalten der Schöpfung mit
behender Geſchicklichkeit herumlegen, und die
Formen und Abdrücke davon in der Schatz¬
kammer des Geiſtes aufbewahren; ſo daß
der Künſtler, wenn er die Hand zur Arbeit
anſetzt, ſchon eine Welt von allen Dingen
[72] in ſich finde. Leonardo ging nie, ohne ſeine
Schreibtafeln bey ſich zu tragen; ſein begie¬
riges Auge fand überall ein Opfer für ſeine
Muſe. Dann kann man ſagen, daß man
vom Kunſtſinne ganz durchglüht und durch¬
drungen ſey, wenn man ſo alles um ſich her
ſeiner Hauptneigung unterthänig macht. Je¬
den kleinen Theil des menſchlichen Körpers,
der ihm an irgend einem Vorübergehenden
wohlgefiel, jede flüchtige reizende Stellung
und Wendung haſchte er auf, und trug es
ſeinem Schatze bey. Es gefielen ihm vor¬
züglich wunderliche Angeſichter mit beſonde¬
ren Haaren und Bärten; weswegen er ſol¬
chen Leuten manchmal lange nachging, daß
er ſie feſt in ſeinen Sinn faßte, da er ſie
alsdann zu Hauſe ſo natürlich, als ob ſie
ihm gegenwärtig geſeſſen hätten, hinmahlte.
Auch wann zwey Perſonen, ohne daß ſie
einen Zuſchauer zu haben glaubten, ganz
[73] unbefangen und ihrem Willen überlaſſen, mit
einander ſprachen, oder wann ein heftiges
Gezänk entſtand, oder ihm ſonſt menſchliche
Affekten und Gemüthsbewegungen in ihrem
vollen Leben und ihrer ganzen Kraft in den
Weg kamen, ſo verſäumte er niemals, ſich
die Umriſſe und die Zuſammenfügung der
Theile zum Ganzen wohl zu merken. Auch
betrachtete er, was manchem lächerlich vor¬
kommen mag, oft lange und ganz in ſich
verloren, altes Gemäuer, worauf die Zeit
mit allerley wunderbaren Figuren und Far¬
ben geſpielt hatte, oder vielfarbige Steine
mit irgend ſeltſamen Zeichnungen. Daraus
ſprang ihm dann, während des unverrück¬
ten Anſchauens, manche ſchöne Idee von
Landſchaften, oder Schlachtgewimmel, oder
fremden Stellungen und Geſichtern hervor.
Darum giebt er auch in ſeinem Buche ſelbſt
die Regel, dergleichen zur Ergetzung fleißig
[74] zu betrachten, weil der Geiſt durch derglei¬
chen verwirrte Dinge zu Erfindungen aufge¬
muntert werde. — Man ſieht, wie der un¬
gemeine und von keinem nach ihm erreichte
Geiſt des Leonardo, aus allen Dingen, auch
den geringgeachteſten und kleinſten, Gold
zu ziehen wußte.


In der Wiſſenſchaft ſeiner Kunſt war
vielleicht nie ein Mahler erfahrner und ge¬
lehrter als er. Die Kenntniß der inneren
Theile des menſchlichen Körpers und des
ganzen Räder- und Hebelwerks dieſer Ma¬
ſchine, — die Kenntniß des Lichts und der
Farben, und wie beyde auf einander wirken,
und ſich eines mit dem andern vermählt, —
die Lehre von den Verhältniſſen, nach wel¬
chen die Dinge in der Entfernung kleiner
und ſchwächer erſcheinen; — alle dieſe Wiſ¬
ſenſchaften, welche in der That zu dem wah¬
ren, urſprünglichen Fundamente der Kunſt
[75] gehören, hatte er bis in ihre tiefſten Ab¬
gründe durchdrungen.


Wie aber ſchon erwähnt iſt, ſo war er
nicht bloß ein großer Mahler, ſondern auch
ein guter Bildhauer, wie auch ein anſehn¬
licher Baumeiſter. Er war in allen Zweigen
der mathematiſchen Wiſſenſchaften erfahren;
ein tiefer Kenner der Muſik, ein angenehmer
Sänger und Spieler auf der Geige, und ein
ſinnreicher Dichter. Kurz, wenn er in den fa¬
belhaften Zeiten gelebt hätte, ſo wäre er un¬
fehlbar für ein Sohn des Apollo gehalten wor¬
den. Ja, er hatte ſeine Luſt daran, ſich in aller¬
ley Fertigkeiten, wenn ſie auch ganz außer
ſeinem Wege lagen, hervorzuthun. So war
er im reiten und regieren der Pferde, ſo wie
auch in der Führung des Degens ſo wohl
geübt, daß ein Unwiſſender hätte meynen
ſollen, er habe ſein ganzes Leben hindurch
dieſem allein obgelegen. Mit wunderbaren
[76] mechaniſchen Kunſtſtücken, und mit den ge¬
heimen Kräften der Naturkörper war er ſo
vertraut, daß er einſt, bey einer feyerlichen
Gelegenheit, die Figur eines Löwen von
Holz machte, welcher ſich ſelbſt bewegte; und
ein andermal hatte er aus einem gewiſſen
dünnen Zeuge kleine Vögel gebildet, welche
von ſelbſt frey in die Luft emporſchwebten.
So hatte ſein Geiſt einen angebohrnen Reiz,
immer etwas Neues zu erſinnen, der ihn in
beſtändiger Thätigkeit und Anſtrengung er¬
hielt. Alle ſeine Talente aber wurden durch
edle und einnehmende Sitten, wie Edelge¬
ſteine durch eine goldene Einfaſſung erhöht.
Und damit der außerordentliche Mann auch
den gemeinſten und blödeſten Augen hervor¬
ſtechend und ausgezeichnet erſcheinen möchte,
ſo hatte die freygebige Natur ihn ausdrück¬
lich mit einer wunderbaren Leibesſtärke, und
zu allem dem endlich mit einer ſehr ehrwür¬
[77] digen Bildung, und einem Geſichte, das
man lieben und verehren mußte, begabt.


Der forſchende Geiſt der ernſthaften Wiſ¬
ſenſchaften ſcheinet dem bildenden Geiſte der
Kunſt ſo ungleichartig, daß man faſt, dem
erſten Anblicke nach, zwey verſchiedene Gat¬
tungen von Weſen für beyde glauben möchte.
Und in der That ſind nur wenige Sterbliche
ſo eingerichtet, daß ſie dieſem zwiefachen
Genius opfern könnten. Welcher aber in
ſeiner eigenen Seele die Heimath aller der
Erkenntniſſe und Kräfte, worin ſonſt viele
ſich theilen, findet, und weſſen Geiſt, mit
gleichem Eifer und Glücke, durch Schlüſſe
der Vernunft Wahrheiten ausrechnet, und
Einbildungen ſeines inneren Sinnes durch
Mühſamkeit der Hand in ſichtbare Darſtel¬
lungen hervordrängt: — ein ſolcher muß der
ganzen Welt Erſtaunen und Bewunderung
abnöthigen. Und wenn er überdies nicht
[78] bloß einer einzigen Kunſt ergeben iſt, ſon¬
dern mehrere in ſich vereinigt, ihre geheime
Verwandtſchaft fühlt, und die göttliche Flam¬
me, die in allen weht, in ſeinem Inneren
empfindet; ſo iſt dieſer Mann von der Hand
des Himmels gewiß auf eine wunderbare
Weiſe vor andern Menſchen hervorgehoben,
und es werden viele mit ihren Gedanken
nicht einmal an ihn heranreichen können. —


Der Hof des mayländiſchen Herzogs,
Lodovico Sforza, war der Hauptſchauplatz,
wo Leonardo da Vinci, als oberſter Vorſte¬
her der Akademie, ſeine vielfachen Geſchick¬
lichkeiten entfaltete. Hier zeigte er ſich in
vortrefflichen Gemählden und Bildwerken;
hier verbreitete er ſeinen guten Geſchmack in
Gebäuden; er war förmlich unter der Zahl
der Tonkünſtler als Spieler auf der Geige
angeſtellt; er führte mit tiefer Einſicht den
ſchweren Bau eines Waſſerkanals über Berge
[79] und Thäler, — und ſo ſtellte er bloß in ſei¬
ner Perſon faſt eine ganze Akademie aller
menſchlichen Erkenntniſſe und Fertigkeiten
vor. Ehe er den Bau des Kanals übernahm,
begab er ſich nach Valverola, dem Landſitz
eines ſeiner angeſehenen Freunde, und legte
ſich dort, unter Begünſtigung der ländlichen
Muſe, mit großem Fleiß auf das Mathe¬
matiſche der Baukunſt. Auf dieſem ſtillen
Landſitz brachte er nachher etliche Jahre zu,
lag mit philoſophiſchem Geiſte den mathe¬
matiſchen, und allen nur irgend zu einer
gründlichen Theorie der bildenden Künſte ge¬
hörigen Studien ob, und verlor ſich ganz
in tiefſinnige Spekulationen. Das Gepräge
der in ſich gekehrten Weisheit trug er auch
in ſeinem Äußeren. indem er ſich Haar und
Bart ſo lang hatte wachſen laſſen, daß er
das Anſehen eines Einſiedlers hatte; — wie
denn einige in ſeinem unermüdeten Fleiß
[80] auch den Bewegungsgrund finden wollen,
daß er zeitlebens unverheirathet blieb. —
Während des Aufenthaltes in ſeiner länd¬
lichen Einſamkeit trug er nun auch die Re¬
ſultate ſeines Studiums, durch ſeinen Geiſt
[geſteigert] und geläutert, und mit ſeinen eige¬
nen ſehr ſcharfſinnigen Gedanken und Beob¬
achtungen verſetzt, in ausführlichen Werken
zuſammen, welche ſich, von ſeiner eigenen
theuren Hand geſchrieben, noch itzt in dem
großen ambroſianiſchen Bücherſchatze zu May¬
land befinden.


Aber ach! es iſt auch dieſe, wie ſo manche
andre uralte, mit ehrwürdigem Staube be¬
deckte Handſchrift in den Bücherſchätzen der
Großen, ein unangerührtes Heiligthum, vor
welchem die unverſtändigen Söhne unſers
Zeitalters, höchſtens mit einer leeren Ehr¬
furchtsbezeugung, vorübergehn. Das Ma¬
nuſcript wartet noch auf denjenigen, welcher
den[81] den Geiſt des alten Mahlers, der darin ver¬
zaubert ſchläft, daraus erwecken, und aus
den lange getragenen Banden erlöſen ſoll.


Alle die Schönheiten und das Vortreff¬
liche in den vielen Gemählden unſers Leo¬
nardo aus einander zu ſetzen, iſt meine Feder
nicht im Stande. Sein berühmteſtes Bild
iſt wohl die Vorſtellung des heiligen Abend¬
mahles in dem Refektorium der Dominika¬
ner zu Mayland. Man bewundert darin
den ſeelenvollen Ausdruck in den Köpfen der
Jünger Chriſti, wie jeder den Herrn zu fra¬
gen ſcheinet: Herr! bin ich's? Die alten
Anekdotenſammler der Kunſt erzählen, daß
Leonardo, nachdem er die übrigen Figuren
vollendet, eine Weile gezögert, und immer
bey ſich überlegt und nachgedacht, oder, (um
vielleicht eigentlicher zu reden,) auf glückliche
Eingebungen geharret habe, wie er das ver¬
rätheriſche Geſicht des Judas, und das er¬
F[82] habene Antlitz Jeſu, recht vollkommen aus¬
drücken ſolle; worauf der Prior des Kloſters
einen einleuchtenden Beweis ſeines Unver¬
ſtandes gegeben, indem er ihn, wie einen
Tagelöhner, über ſein Zögern zur Rede ge¬
ſtellt habe.


Noch eines Gemähldes des Leonardo muß
ich, eines merkwürdigen Umſtandes halber,
gedenken. Ich meyne das Bildniß der Liſa
del Giocondo, (der Gemahlinn des Fran¬
ceſco,) an welchem er vier Jahre arbeitete,
ohne durch die ſorgfältigſte und feinſte Aus¬
arbeitung jedes Härchens, den Geiſt und
das Leben des Ganzen zu erſticken. So oft
nun die edle Frau ihm zum Mahlen ſaß,
rief er allemal einige Perſonen herzu, die ſie
durch eine angenehme und muntre Muſik
auf Inſtrumenten, mit der menſchlichen Stim¬
me begleitet, aufheitern mußten. Ein ſehr
ſinnreicher Einfall, wegen deſſen ich den
[83] Leonardo immer bewundert habe. Er wußte
nur zu wohl, daß bey Perſonen, welche zum
Mahlen ſitzen, ſich gewöhnlich eine trockene
und leere Ernſthaftigkeit auf ihrem Geſichte
einzufinden pflegt, und daß eine ſolche Mie¬
ne, wenn ſie im Gemählde in bleibenden
Zügen feſtgehalten wird, ein ungefälliges oder
wohl gar finſteres Anſehen gewinnt. Dage¬
gen kannte er die Wirkung einer fröhlichen
Muſik, wie ſie ſich in den Mienen des Ge¬
ſichts abſpiegelt, wie ſie alle Züge auflöſt,
und in ein liebliches, reges Spiel ſetzt. So
trug er die ſprechenden Reize des Antlitzes
lebendig auf die Tafel über, und wußte
bey Ausübung der einen Kunſt ſich der an¬
dern ſo glücklich als Gehülfinn zu bedienen,
daß dieſe auf jene ihren Wiederſchein warf.


Wie viele geſchickte Mahler aus des Leo¬
nardo Schule ausgegangen, und wie ange¬
ſehen und allgemein verehrt er in ſeinem Le¬
F 2[84] ben war, läßt ſich gedenken. Als er einſt
in einem Kloſter vor Florenz nur den Ent¬
wurf zu einem großen Altarblatte gemacht
hatte, ward der Ruf dieſes Entwurfs ſo
groß, daß zwey Tage lang eine Menge
Volks aus der Stadt dahin wallfahrtete,
und man hätte meynen ſollen, es würde ein
Feſt oder eine Proceſſion gehalten.


In Florenz hatte Leonardo da Vinci ſich
wieder aufgehalten, ſeitdem, in den kriege¬
riſchen Zeiten von Italien, der Herzog Lo¬
dovico Sforza von Mayland eine gänzliche
Niederlage erlitten hatte, und die Akademie
zu Mayland ganz zerſtiebt war. In ſeinem
hohen Alter ward er noch von König Franz
dem Erſten, aus Florenz nach Frankreich
berufen.


Der Monarch ſchätzte ihn über alles hoch,
und empfing den alten fünf und ſiebzigjäh¬
rigen Mann mit beſonderer Freundlichkeit
[85] und Achtung. Allein es war ihm nicht be¬
ſchieden, ſein Leben in dem ihm neuen Lande
noch hoch zu bringen. Die Beſchwerlichkei¬
ten der Reiſe und die Verſchiedenheit der
Landesart mußten ihm die Krankheit zuge¬
zogen haben, die ihn nicht lange nach ſeiner
Ankunft befiel. Der König beſuchte ihn
fleißig in ſeiner Krankheit, und bezeigte ſich
ſehr beſorgt um ihn. Als er einſt auch zu
ihm kam, an ſein Lager trat, und der alte
Mann ſich im Bette aufrichten wollte, um
dem Könige für ſeine Gnade zu danken,
ward er unvermerkt von einer Schwachheit
überfallen, — der König unterſtützte ihn mit
ſeinen Armen, — aber der Athem ging ihm
aus, — und der Geiſt, der ſo viele und
große Dinge gewirkt hatte, welche noch jetzt
in ihrer Vollkommenheit beſtehen, war durch
einen einzigen Hauch, wie ein Blatt von
der Erde, weggeweht. —


[86]

Wenn der Glanz der Kronen das Licht
iſt, welches das Gedeihen der Künſte vor¬
züglich befördert, ſo kann man die Scene,
die an dem Ende von Leonardo's Leben
ſteht, gewiſſermaßen als eine Apotheoſe des
Künſtlers anſehen; in den Augen der Welt
wenigſtens mußte es für alle Thaten des
großen Mannes ein würdiger Lohn erſchei¬
nen, in den Armen eines Königs zu er¬
blaſſen. ——

Man wird mich nun vielleicht fragen:
Ob ich denn nun dieſen hier ſo hochgeprieſe¬
nen Leonardo da Vinci als den vortrefflich¬
ſten, und als das Haupt aller Mahler auf¬
ſtellen, und alle Schüler auffordern wollte,
daß ſie gerade ſo zu werden ſtreben ſollten,
wie er?


Aber anſtatt zu antworten, frage ich wie¬
der: Ob es denn nicht erlaubt ſey, ſeinen
Blick einmal abſichtlich auf den großen und
[87] betrachtungswürdigen Geiſt eines einzigen
Mannes zu beſchränken, um ſeine eigenthüm¬
lichen Vortrefflichkeiten einmal recht für ſich,
in ihrem Zuſammenhange zu überſchauen? —
und ob man wohl ſo dreiſt, mit der an¬
maßenden Strenge eines Richteramtes, die
Künſtler nach Maaß und Gewicht ihrer Ver¬
dienſte in Reih' und Glied ſtellen könne,
wie die Lehrer der Moral tugend- und la¬
ſterhafte Menſchen, nach genauen Regeln
des Ranges, über- und untereinander zu
ſetzen ſich vermeſſen?


Ich meyne, man könne Geiſter von ſehr
verſchiedener Beſchaffenheit, die beyde große
Eigenſchaften haben, beyde bewundern. Die
Geiſter der Menſchen ſind eben ſo unendlich¬
mannigfaltig, als es ihre Geſichtsbildungen
ſind. Und nennen wir nicht das ehrwürdige,
faltenreiche, weisheitsvolle Antlitz des Grei¬
ſes eben ſo wohl ſchön, als das unbefan¬
[88] gene, Empfindung-athmende, zauberhafte
Geſicht der Jungfrau?


Allein bey dieſer bildlichen Vorſtellung
möchte mir jemand ſagen: Wenn aber das
Loſungswort Schönheit ertönt, drängt ſich
dir da nicht unwillkührlich aus innerer Seele
das letztere Bild, das Bild der Venus Ura¬
nia in deinem Buſen hervor?


Und hierauf weiß ich freylich nichts zu
antworten.


Wer bey meinem zwiefachen Bilde, wie
ich, an den Geiſt des Mannes, den wir
eben geſchildert haben, und an den Geiſt
desjenigen, den ich den Göttlichen zu nen¬
nen pflege, gedenkt, wird in dieſer Gleich¬
nißrede vielleicht Stoff zum Nachſinnen fin¬
den. Dergleichen Phantaſeyen, die uns in
den Sinn kommen, verbreiten oftmals auf
wunderbare Weiſe ein helleres Licht über ei¬
nen Gegenſtand, als die Schlußreden der
[89] Vernunft; und es liegt neben den ſogenann¬
ten höheren Erkenntnißkräften ein Zauber¬
ſpiegel in unſrer Seele, der uns die Dinge
manchmal vielleicht am kräftigſten dargeſtellt
zeigt. —


[90]

Zwey Gemähldeſchilderungen.

Ein ſchönes Bild oder Gemählde iſt, mei¬
nem Sinne nach, eigentlich gar nicht zu be¬
ſchreiben; denn in dem Augenblicke, da man
mehr als ein einziges Wort darüber ſagt,
fliegt die Einbildung von der Tafel weg,
und gaukelt für ſich allein in den Lüften.
Drum haben die alten Chronikenſchreiber der
Kunſt mich ſehr weiſe gedünket, wenn ſie
ein Gemählde bloß: ein vortreffliches, ein
unvergleichliches, ein über alles herrliches
nennen; indem es mir unmöglich ſcheint,
mehr davon zu ſagen. Indeſſen iſt es mir
beygefallen, ein paar Bilder einmal auf die
folgende Art zu ſchildern, wovon ich die
zwey Proben, die mir von ſelbſt in den
Sinn gekommen ſind, um der eignen Art
willen, ohne daß ich dieſe Art für etwas ſehr
[91] Vorzügliches halten mag, doch zu Jeder¬
manns Anſicht herſetzen will.


Erſtes Bild.

Die heilige Jungfrau mit dem Chriſtuskinde,
und der kleine Johannes.


Maria.

Warum bin ich doch ſo überſelig,

Und zum allerhöchſten Glück erleſen,

Das die Erde jemals tragen mag?

Ich verzage bey dem großen Glücke,

Und ich weiß nicht Dank dafür zu ſagen,

Nicht mit Thränen, nicht mit lauter Freude.

Nur mit Lächeln und mit tiefer Wehmuth

Kann ich auf dem Götterkinde ruhen,

Und mein Blick vermag es nicht, zum Himmel,

Und zum güt'gen Vater aufzuſteigen.

Nimmer werden meine Augen müde,

Dieſes Kind, das mir im Schooße ſpielet,

Anzuſehn mit tiefer Herzensfreude.
[92]
Ach! und welche fremde, große Dinge,

Die das unſchuldvolle Kind nicht [ahndet],

Leuchten aus den klugen blauen Augen,

Und aus all' den kleinen Gaukeleyen!

Ach! ich weiß nicht was ich ſagen ſoll!

Dünkt michs doch, ich ſey nicht mehr auf dieſer Erde,

Wenn ich in mir recht lebendig denke:

Ich, ich bin die Mutter dieſes Kindes.

Das Jeſuskind.

Hübſch und bunt iſt die Welt um mich her!

Doch iſt's mir nicht wie den andern Kindern,

Doch kann ich nicht recht ſpielen,

Nichts feſt angreifen mit der Hand,

Nicht lautjauchzend frohlocken.

Was ſich lebendig

Vor meinen Augen regt und bewegt,

Kommt mir vor, wie vorbeygehend Schattenbild

Und artiges Blendwerk.

Aber innerlich bin ich froh,

Und denke mir innerlich ſchönere Sachen,

Die ich nicht ſagen kann.
[93]

Der kleine Johannes.

Ach! wie bet' ich es an, das Jeſuskindlein!

Ach wie lieblich und voller Unſchuld

Gaukelt es in der Mutter Schooß! —

Lieber Gott im Himmel, wie bet' ich heimlich zu Dir,

Und danke Dir,

Und preiſe Dich um Deine große Gnade,

Und flehe Deinen Segen herab auch für mich!

Zweytes Bild.

Die Anbetung der drey Weiſen aus dem
Morgenlande.


Die drey Weiſen.

Siehe! aus dem fernen Morgenlande

Kommen wir, vom ſchönen Stern geführet,

Wir, drey Weiſen aus dem fernen Lande,

Wo die Sonn' in ihrer Pracht hervorgeht.

Lange Jahre haben wir nach Weisheit,

Nach der Weisheit Urquell hingetrachtet,

Haben viel erdacht in unſerm Geiſte;
[94]
Und dabey hat uns der Herr der Dinge

Kron' und Zepter gnädiglich verliehen,

Und bey unſrer langen Geiſtesarbeit

Uns mit ſilberweißem Haupt geſegnet.

Doch, wir kommen jetzt dahergezogen,

Aus dem Lande, wo die Sonn' emporſteigt,

Um die ganze Weisheit unſrer Jahre,

Unſre ganze Wiſſenſchaft und Kenntniß,

Ach! vor Dir, Du wunderbares Kindlein,

Demuthvoll hier in den Staub zu legen,

Und in unſern goldnen Königsmänteln,

Und mit unſern ſilberweißen Häuptern,

Ehrfurchtsvoll uns hier vor Dir zu beugen,

Hier zu huldigen und anzubeten.

Und zum Zeichen unſrer tiefen Ehrfurcht

Bringen wir Dir Myrrhen, Gold und Weihrauch,

Als ein würdig Opfer unſrer Andacht,

Wie wir es zu geben nur vermögen.

Maria.

Ach! preiſe, meine Seele, den Herrn!

Daß er mich ſo herrlich gemacht hat,

So hoch erhoben vor allem Volke!
[95]
Daß ich das Kindlei[n] gebohren habe,

Das mir im Schooße ſpielet,

Das die Weiſen anzubeten

Aus dem fernen Morgenlande herziehn!

Ach! mein Auge vermag's nicht zu ertragen,

Und mein Herz bricht!

Alle tiefe Weisheit ihrer Jahre

Legen ſie vor dem Kindlein in den Staub:

Ihre Kniee gebeugt,

Ihre Häupter zur Erde geneigt,

Und am Boden liegen die goldnen Königsmäntel.

Gold, und Weihrauch, und Myrrhen

Bringen ſie zum Opfer;

Ach! dem Kind' ein groß und herrlich Opfer! —

O wie ſelig iſt die Mutter innerlich!

Aber ich vermag den weiſen Männern

Nicht für ihre große Huld zu danken,

Nicht den Blick zum Himmel aufzuheben.

Aber herrliche und große Dinge

Stehen innerlich mir im Gemüthe.

Das Jeſuskindlein.

Schön muß wohl das ferne Land ſeyn,

Wo die helle Sonn' emporſteigt;
[96]
Denn wie herrlich ſind die Männer!

Aber wie ſo alt und prächtig?

Ach! das iſt die tiefe Weisheit,

Daß ſie goldne Königsmäntel,

Silberweiße Häupter haben.

Und recht wunderbare Dinge

Haben ſie mir hergetragen!

Und doch knie'n ſie vor mir nieder, —

Seltſam ſcheinen mir die Männer,

Und ich weiß mir nicht zu ſagen,

Wie ich ſie recht nennen ſoll.
Einige[97]

Einige Worte
über
Allgemeinheit, Toleranz
und
Menſchenliebe
in der Kunſt
.

Der Schöpfer, welcher unſre Erde und al¬
les was darauf iſt gemacht hat, hat das
ganze Erdenrund mit ſeinem Blick umfaßt,
und den Strohm ſeines Segens über den
ganzen Erdkreis ausgegoſſen. Aber aus ſei¬
ner geheimnißvollen Werkſtatt hat Er tau¬
ſenderley unendlich-mannigfaltige Keime der
Dinge über unſre Kugel hergeſtreut, die un¬
endlich-mannigfaltige Früchte tragen, und
zu Seiner Ehre zu dem größeſten, bunteſten
Garten hervorſchießen. Auf wunderbare Weiſe
führt Er ſeine Sonne um den Erdball in
G[98] gemeſſenen Kreiſen herum, daß ihre Strah¬
len in tauſend Richtungen zur Erde kommen,
und unter jedem Himmelsſtriche das Mark
der Erde zu verſchiedenartigen Schöpfungen
auskochen und hervortreiben.


Mit gleichem Auge ruht Er in einem
großen Moment auf dem Werk ſeiner Hän¬
de, und empfängt mit Wohlgefallen das
Opfer der ganzen lebendigen und lebloſen
Natur. Das Brüllen des Löwen iſt Ihm ſo
angenehm wie das Schreyen des Rennthiers;
und die Aloe duftet Ihm eben ſo lieblich als
Roſe und Hyacinthe.


Auch der Menſch iſt in tauſendfacher Ge¬
ſtalt aus Seiner ſchaffenden Hand gegan¬
gen: — die Brüder eines Hauſes kennen
ſich nicht, und verſtehen ſich nicht; ſie reden
verſchiedene Sprachen, und ſtaunen über ein¬
ander: — aber Er kennt ſie alle, und freuet
ſich aller; mit gleichem Auge ruht Er auf
[99] ſeiner Hände Werk, und empfängt das Opfer
der ganzen Natur.


Auf mancherley Weiſe hört Er die Stim¬
men der Menſchen von den himmliſchen
Dingen durcheinander reden, und weiß daß
alle, — alle, wär' es auch wider ihr Wiſſen
und Willen, — dennoch Ihn, den Unnenn¬
baren, meynen.


So hört Er auch die innere Empfindung
der Menſchen in verſchiedenen Zonen und in
verſchiedenen Zeitaltern verſchiedene Spra¬
chen reden, und hört, wie ſie mit einander
ſtreiten und ſich nicht verſtehen: aber dem
ewigen Geiſte löſt ſich alles in Harmonie
auf; er weiß, daß ein jeder die Sprache re¬
det, die Er ihm angeſchaffen hat, daß ein
jeder ſein Inneres äußert wie er kann und
ſoll; — wenn ſie in ihrer Blindheit unter
einander ſtreiten, ſo weiß und erkennet Er,
daß für ſich ein jeglicher Recht hat; er ſieht
G 2[100] mit Wohlgefallen auf jeden und auf alle,
und freut ſich des bunten Gemiſches.


Kunſt iſt die Blume menſchlicher Em¬
pfindung zu nennen. In ewig wechſelnder
Geſtalt erhebt ſie ſich unter den mannigfal¬
tigen Zonen der Erde zum Himmel empor,
und dem allgemeinen Vater, der den Erd¬
ball mit allem was daran iſt, in ſeiner Hand
hält, duftet auch von dieſer Saat nur ein
vereinigter Wohlgeruch.


Er erblickt in jeglichem Werke der Kunſt,
unter allen Zonen der Erde, die Spur von
dem himmliſchen Funken, der, von Ihm aus¬
gegangen, durch die Bruſt des Menſchen
hindurch, in deſſen kleine Schöpfungen über¬
ging, aus denen er dem großen Schöpfer
wieder entgegenglimmt. Ihm iſt der go¬
thiſche Tempel ſo wohlgefällig als der Tem¬
pel des Griechen; und die rohe Kriegsmuſik
der Wilden iſt Ihm ein ſo lieblicher Klang,
als kunſtreiche Chöre und Kirchengeſänge.


[101]

Und wenn ich nun von Ihm, dem Un¬
endlichen, durch die unermeßlichen Räume
des Himmels, wieder zur Erde gelange, und
mich unter meinen Mitbrüdern umſehe, —
ach! ſo muß ich laute Klagen erheben, daß
ſie ihrem ewigen großen Vorbilde im Him¬
mel ſo wenig ähnlich zu werden ſich beſtre¬
ben. Sie zanken mit einander, und verſte¬
hen ſich nicht, und ſehen nicht, daß ſie alle
nach demſelben Ziele eilen, weil jeder mit
feſtem Fuße auf ſeinem Standort ſtehen
bleibt, und ſeine Augen nicht über das
Ganze zu erheben weiß.


Blöden Menſchen iſt es nicht begreiflich,
daß es auf unſerer Erdkugel Antipoden gebe,
und daß ſie ſelber Antipoden ſind. Sie den¬
ken ſich den Ort, wo ſie ſtehen, immer als
den Schwerpunkt des Ganzen, — und ih¬
rem Geiſte mangeln die Schwingen, das
ganze Erdenrund zu umfliegen, und das in
[102] ſich ſelbſt gegründete Ganze mit einem
Blicke zu umſpielen.


Und eben ſo betrachten ſie ihr Gefühl
als das Centrum alles Schönen in der Kunſt,
und ſprechen, wie vom Richterſtuhle, über Al¬
les das entſcheidende Urtheil ab, ohne zu
bedenken, daß ſie niemand zu Richtern ge¬
ſetzt hat, und daß diejenigen, die von ihnen
verurtheilt ſind, ſich eben ſowohl dazu auf¬
werfen könnten.


Warum verdammt ihr den Indianer nicht,
daß er indianiſch, und nicht unſre Sprache
redet? —


Und doch wollt ihr das Mittelalter ver¬
dammen, daß es nicht ſolche Tempel baute,
wie Griechenland? —


O ſo ahndet euch doch in die fremden
Seelen hinein, und merket, daß ihr mit eu¬
ren verkannten Brüdern die Geiſtesgaben
aus derſelben Hand empfangen habt! Be¬
[103] greifet doch, daß jedes Weſen nur aus den
Kräften, die es vom Himmel erhalten hat,
Bildungen aus ſich herausſchaffen kann, und
daß einem jeden ſeine Schöpfungen gemäß
ſeyn müſſen. Und wenn ihr euch nicht in
alle fremde Weſen hineinzufühlen, und
durch ihr Gemüth hindurch ihre Werke zu
empfinden vermöget; ſo verſuchet wenig¬
ſtens, durch die Schlußketten des Verſtan¬
des mittelbar an dieſe Überzeugung heranzu¬
reichen. —


Hätte die ausſäende Hand des Himmels
den Keim deiner Seele auf die afrikaniſchen
Sandwüſten fallen laſſen, ſo würdeſt du al¬
ler Welt das glänzende Schwarz der Haut,
das dicke, ſtumpfe Geſicht, und die kurzen,
krauſen Haare, als weſentliche Theile der
höchſten Schönheit angepredigt, und den er¬
ſten weißen Menſchen verlacht oder gehaßt
haben. Wäre deine Seele einige hundert
[104] Meilen weiter nach Oſten, auf dem Boden
von Indien aufgegangen, ſo würdeſt du in
den kleinen, ſeltſamgeſtalteten, vielarmigen
Götzen den geheimen Geiſt fühlen, der, un¬
ſern Sinnen verborgen, darinnen weht, und
würdeſt, wenn du die Bildſäule der medi¬
cäiſchen Venus erblickteſt, nicht wiſſen was
du davon halten ſollteſt. Und hätte es Dem¬
jenigen, in deſſen Macht du ſtandeſt und
ſtehſt, gefallen, dich unter die Schaaren ſüd¬
licher Inſulaner zu werfen, ſo würdeſt du in
jedem wilden Trommelſchlag, und den rohen,
gellenden Schlägen der Melodie, einen tie¬
fen Sinn finden, von dem du jetzt keine
Sylbe faſſeſt. Würdeſt du aber in irgend
einem dieſer Fälle, die Gabe der Schöpfung
oder die Gabe des Genuſſes der Kunſt, aus
einer andern Quelle, als aus der ewigen
und allgemeinen, der du auch jetzt alle deine
Schätze verdankeſt, empfangen haben? —


[105]

Das Einmaleins der Vernunft folgt un¬
ter allen Nationen der Erde denſelben Ge¬
ſetzen, und wird nur hier auf ein unendlich
größeres, dort auf ein ſehr geringes Feld
von Gegenſtänden angewandt. — Auf ähn¬
liche Weiſe iſt das Kunſtgefühl nur ein
und derſelbe himmliſche Lichtſtrahl, welcher
aber, durch das mannigfach-geſchliffene Glas
der Sinnlichkeit unter verſchieden Zonen ſich
in tauſenderley verſchiedene Farben bricht.


Schönheit: ein wunderſeltſames Wort!
Erfindet erſt neue Worte für jedes einzelne
Kunſtgefühl, für jedes einzelne Werk der
Kunſt! In jedem ſpielt eine andere Farbe,
und für ein jedes ſind andere Nerven in
dem Gebäude des Menſchen geſchaffen.


Aber ihr ſpinnt aus dieſem Worte, durch
Künſte des Verſtandes, ein ſtrenges Sy¬
ſtem, und wollt alle Menſchen zwingen,
[106] nach euren Vorſchriften und Regeln zu füh¬
len, — und fühlet ſelber nicht.


Wer ein Syſtem glaubt, hat die
allgemeine Liebe aus ſeinem Herzen ver¬
drängt! Erträglicher noch iſt Intoleranz des
Gefühls, als Intoleranz des Verſtandes; —
Aberglaube beſſer als Syſtemglaube. —


Könnt ihr den Melancholiſchen zwingen,
daß er ſcherzhafte Lieder und muntern Tanz
angenehm finde? Oder den Sanguiniſchen,
daß er ſein Herz den tragiſchen Schreckniſ¬
ſen mit Freude darbiete?


O laſſet doch jedes ſterbliche Weſen und
jedes Volk unter der Sonne bey ſeinem
Glauben und ſeiner Glückſeligkeit! und freuet
euch, wenn andere ſich freuen, — wenn ihr
euch auch über das, was ihnen das liebſte
und wertheſte iſt, nicht mit zu freuen verſteht.


Uns, Söhnen dieſes Jahrhunderts, iſt der
Vorzug zu Theil geworden, daß wir [auf]
[107] dem Gipfel eines hohen Berges ſtehen, und
daß viele Länder und viele Zeiten unſern
Augen offenbar, um uns herum und zu un¬
ſern Füßen ausgebreitet liegen. So laſſet
uns denn dieſes Glück benutzen, und mit hei¬
tern Blicken über alle Zeiten und Völker
umherſchweifen, und uns beſtreben, an al¬
len ihren mannigfaltigen Empfindungen und
Werken der Empfindung immer das Menſch¬
liche
herauszufühlen. — —


Jegliches Weſen ſtrebt nach dem Schön¬
ſten: aber es kann nicht aus ſich heraus¬
gehen, und ſieht das Schönſte nur in ſich.
So wie in jedes ſterbliche Auge ein anderes
Bild des Regenbogens kommt, ſo wirft ſich
jedem, aus der umgebenden Welt, ein an¬
deres Abbild der Schönheit zurück. Die all¬
gemeine, urſprüngliche Schönheit aber, die
wir nur in Momenten der verklärten An¬
ſchauung nennen, nicht in Worte auflöſen
[108] können, zeigt ſich Dem, der den Regenbo¬
gen, und das Auge, das ihn ſiehet, gemacht
hat.


Ich habe meine Rede angefangen von
Ihm, und ich kehre wieder zu Ihm zurück: —
wie der Geiſt der Kunſt, — wie aller Geiſt
von Ihm ausgeht, und durch die Atmos¬
phäre der Erde, Ihm zum Opfer wieder
entgegendringt. —


[109]

Ehrengedächtniß
unſers
ehrwürdigen Ahnherrn
Albrecht Dürers
.
Von einem kunſtliebenden Kloſterbruder.

Nürnberg! du vormals weltberühmte Stadt!
Wie gerne durchwanderte ich deine krummen
Gaſſen; mit welcher kindlichen Liebe betrachtete
ich deine altväteriſchen Häuſer und Kirchen,
denen die feſte Spur von unſrer alten va¬
terländiſchen Kunſt eingedrückt iſt! Wie in¬
nig lieb' ich die Bildungen jener Zeit, die
eine ſo derbe, kräftige und wahre Sprache
führen! Wie ziehen ſie mich zurück in jenes
graue Jahrhundert, da du, Nürnberg, die
lebendigwimmelnde Schule der vaterländi¬
ſchen Kunſt warſt, und ein recht fruchtbarer,
überfließender Kunſtgeiſt in deinen Mauern
[110] lebte und webte: — da Meiſter Hans Sachs
und Adam Kraft, der Bildhauer, und vor
allen, Albrecht Dürer mit ſeinem Freunde,
Wilibaldus Pirkheimer, und ſo viel andre
hochgelobte Ehrenmänner noch lebten! Wie
oft hab' ich mich in jene Zeit zurückge¬
wünſcht! Wie oft iſt ſie in meinen Gedan¬
ken wieder von neuem vor mir hervorgegan¬
gen, wenn ich in deinen ehrwürdigen Bücher¬
ſälen, Nürnberg, in einem engen Winkel,
beym Dämmerlicht der kleinen, rundſcheibi¬
gen Fenſter ſaß, und über den Folianten
des wackern Hans Sachs, oder über ande¬
rem alten, gelben, wurmgefreſſenen Papier
brütete; — oder wenn ich unter den kühnen
Gewölben deiner düſtern Kirchen wandelte,
wo der Tag durch buntbemahlte Fenſter all
das Bildwerk und die Mahlereyen der alten
Zeit wunderbar beleuchtet! — —


Ihr wundert euch wieder, und ſehet mich
[111] an, ihr Engherzigen und Kleingläubigen! O
ich kenne ſie ja, die Myrthenwälder Ita¬
liens, — ich kenne ſie ja, die himmliſche
Gluth in den begeiſterten Männern des be¬
glückten Südens: — was ruft ihr mich hin,
wo immer Gedanken meiner Seele wohnen,
wo die Heimath der ſchönſten Stunden mei¬
nes Lebens iſt! — ihr, die ihr überall Grän¬
zen ſehet, wo keine ſind! Liegt Rom und
Deutſchland nicht auf einer Erde? Hat der
himmliſche Vater nicht Wege von Norden
nach Süden, wie von Weſten nach Oſten
über den Erdkreis geführt? Iſt ein Men¬
ſchenleben zu kurz? Sind die Alpen unüber¬
ſteiglich? — Nun ſo muß auch mehr als
eine Liebe in der Bruſt des Menſchen woh¬
nen können. — —


Aber jetzt wandelt mein traurender Geiſt
auf der geweiheten Stätte vor deinen
Mauern, Nürnberg; auf dem Gottesacker,
[112] wo die Gebeine Albrecht Dürers ruhen, der
einſt die Zierde von Deutſchland, ja von
Europa war. Sie ruhen, von wenigen be¬
ſucht, unter zahlloſen Grabſteinen, deren je¬
der mit einem ehernen Bildwerk, als dem
Gepräge der alten Kunſt, bezeichnet iſt, und
zwiſchen denen ſich hohe Sonnenblumen in
Menge erheben, welche den Gottesacker zu
einem lieblichen Garten machen. So ruhen
die vergeſſenen Gebeine unſers alten Albrecht
Dürers, um deſſentwillen es mir lieb iſt, daß
ich ein Deutſcher bin.


Wenigen muß es gegeben ſeyn, die Seele
in deinen Bildern ſo zu verſtehen, und das
Eigne und Beſondere darin mit ſolcher In¬
nigkeit zu genießen, als der Himmel es mir
vor vielen andern vergönnt zu haben ſchei¬
net; denn ich ſehe mich um, und finde we¬
nige, die mit ſo herzlicher Liebe, mit ſolcher
Verehrung vor dir verweilten, als ich.


Iſt[113]

Iſt es nicht, als wenn die Figuren in
dieſen deinen Bildern wirkliche Menſchen
wären, welche zuſammen redeten? Ein jeg¬
licher iſt ſo eigenthümlich geſtempelt, daß
man ihn aus einem großen Haufen heraus¬
kennen würde; ein jeglicher ſo aus der
Mitte der Natur genommen, daß er ganz
und gar ſeinen Zweck erfüllt. Keiner iſt mit
halber Seele da, wie man es öfters bey ſehr
zierlichen Bildern neuerer Meiſter ſagen möch¬
te; jeder iſt im vollen Leben ergriffen, und
ſo auf die Tafel hingeſtellt. Wer klagen ſoll,
klagt; wer zürnen ſoll, zürnt; und wer be¬
ten ſoll, betet. Alle Figuren reden, und re¬
den laut und vernehmlich. Kein Arm bewegt
ſich unnütz, oder bloß zum Augenſpiel und
zur Füllung des Raums; alle Glieder, alles
ſpricht uns gleichſam mit Macht an, daß
wir den Sinn und die Seele des Ganzen
recht feſt im Gemüthe faſſen. Wir glauben
H[114] alles, was der kunſtreiche Mann uns dar¬
ſtellt; und es verwiſcht ſich nie aus unſerm
Gedächtniß.


Wie iſt's, daß mir die heutigen Künſtler
unſers Vaterlands ſo anders erſcheinen, als
jene preiswürdigen Männer der alten Zeit,
und du vornehmlich, mein geliebter Dürer?
Wie iſt's, daß es mir vorkommt, als wenn
ihr alle die Mahlerkunſt weit ernſthafter,
wichtiger und würdiger gehandhabt hättet,
als dieſe zierlichen Künſtler unſrer Tage?
Mich dünkt, ich ſehe euch, wie ihr nachden¬
kend vor eurem angefangenen Bilde ſtehet, —
wie die Vorſtellung, die ihr ſichtbar machen
wollt, ganz lebendig eurer Seele vorſchwebt, —
wie ihr bedächtlich überlegt, welche Mienen
und welche Stellungen den Zuſchauer wohl
am ſtärkſten und ſicherſten ergreifen, und
ſeine Seele beym Anſehen am mächtigſten
bewegen möchten, — und wie ihr dann, mit
[115] inniger Theilnahme und freundlichem Ernſt,
die eurer lebendigen Einbildung befreunde¬
ten Weſen, auf die Tafel treu und langſam
auftraget. — Aber die Neueren ſcheinen
gar nicht zu wollen, daß man ernſthaft an
dem, was ſie uns vorſtellen, Theil nehmen
ſolle; ſie arbeiten für vornehme Herren, welche
von der Kunſt nicht gerührt und veredelt,
ſondern aufs höchſte geblendet und gekitzelt
ſeyn wollen; ſie beſtreben ſich, ihr Gemählde
zu einem Probeſtück von recht vielen lieb¬
lichen und täuſchenden Farben zu machen;
ſie prüfen ihren Witz in Ausſtreuung des
Lichtes und Schattens; — aber die Men¬
ſchenfiguren ſcheinen öfters bloß um der Far¬
ben und um des Lichtes willen, wahrlich ich
möchte ſagen, als ein nothwendiges Übel im
Bilde zu ſtehen.


Wehe muß ich rufen über unſer Zeital¬
ter, daß es die Kunſt ſo bloß als ein leicht¬
H 2[116] ſinniges Spielwerk der Sinne übt, da ſie
doch wahrlich etwas ſehr Ernſthaftes und Er¬
habenes iſt. Achtet man den Menſchen nicht
mehr, daß man ihn in der Kunſt vernach¬
läßigt, und artige Farben und allerhand
Künſtlichkeit mit Lichtern, der Betrachtung
würdiger findet? —


In den Schriften des von unſerm Albrecht
ſehr hochgeſchätzten und vertheidigten Mar¬
tin Luthers
, worin ich, wie ich nicht un¬
gern geſtehe, einiges aus Wißbegier wohl
geleſen habe, und in welchen viel Gutes
verborgen ſeyn mag, habe ich über die Wich¬
tigkeit der Kunſt eine merkwürdige Stelle
gefunden, die mir jetzt lebhaft ins Gemüth
kommt. Denn es behauptet dieſer Mann
irgendwo ganz dreiſt und ausdrücklich: daß
nächſt der Theologie, unter allen Wiſſen¬
ſchaften und Künſten des menſchlichen Gei¬
ſtes, die Muſik den erſten Platz einnehme.


[117]

Und ich muß offenherzig bekennen, daß die¬
ſer kühne Ausſpruch meine Blicke ſehr auf
den ausgezeichneten Mann hingerichtet hat.
Denn die Seele, aus welcher ein ſolcher
Ausſpruch kommen konnte, mußte für die
Kunſt grade diejenige tiefe Verehrung em¬
pfinden, welche, ich weiß nicht woher, in ſo
wenigen Gemüthern wohnt, und welche,
nach meinem Bedünken, doch ſo ſehr natür¬
lich und ſo bedeutend iſt.


Wenn nun die Kunſt, (ich meyne, ihr
Haupt- und weſentlicher Theil,) wirklich von
ſolcher Wichtigkeit iſt; ſo iſt es ſehr unwür¬
dig und leichtſinnig, ſich von den ſprechen¬
den und lehrreichen Menſchenfiguren unſers
alten Albrecht Dürers hinwegzuwenden, weil
ſie nicht mit der gleißenden äußeren Schön¬
heit, welche die heutige Welt für das Ein¬
zige und Höchſte in der Kunſt hält, ausge¬
ſtattet ſind. Es verräth nicht ein ganz ge¬
[118] ſundes und reines Gemüth, wenn ſich je¬
mand vor einer geiſtlichen Betrachtung, welche
an ſich triftig und eindringend iſt, die Oh¬
ren zuhält, weil der Redner ſeine Worte
nicht in zierlicher Ordnung ſtellet, oder weil
er eine üble, fremde Ausſprache, oder ein
ſchlechtes Spiel mit Händen an ſich hat.
Hindern mich aber dergleichen Gedanken,
dieſe äußere, und ſo zu ſagen, bloß kör¬
perliche Schönheit der Kunſt, wo ich ſie
finde, nach Verdienſt zu ſchätzen und zu be¬
wundern?


Auch wird dir das, mein geliebter Albrecht
Dürer, als ein grober Verſtoß angerechnet,
daß du deine Menſchenfiguren nur ſo be¬
quem neben einander hinſtellſt, ohne ſie künſt¬
lich durch einander zu verſchränken, daß ſie
ein methodiſches Gruppo bilden. Ich liebe
dich in dieſer deiner unbefangenen Einfalt,
und hefte mein Auge unwillkührlich zuerſt
[119] auf die Seele und tiefe Bedeutung dei¬
ner Menſchen, ohne daß mir dergleichen Ta¬
delſucht nur in den Sinn kommt. Viele Per¬
ſonen aber ſcheinen von derſelben, wie von
einem böſen, quälenden Geiſte, ſo geplagt,
daß ſie dadurch zu verachten und zu verhöh¬
nen angereizt werden, ehe ſie ruhig betrach¬
ten können, — und am allerwenigſten über
die Schranken der Gegenwart ſich in die
Vorzeit hinüberzuſetzen vermögen. Gern will
ich euch zugeben, ihr eifrigen Neulinge, daß
ein junger Schüler jetzt klüger [und] gelehrter
von Farben, Licht und Zuſammenfügung der
Figuren reden mag, als der alte Dürer es
verſtand; ſpricht aber ſein eigener Geiſt aus
dem Knaben, oder nicht vielmehr die Kunſt¬
weisheit und Erfahrung der vergangenen Zei¬
ten? Die eigentliche, innere Seele der Kunſt
faſſen nur einzelne auserwählte Geiſter auf
einmal
, mag auch ſchon die Führung des
[120] Pinſels noch ſehr mangelhaft ſeyn; alle die
Außenwerke der Kunſt hingegen werden nach
und nach, durch Erfindung, Übung und
Nachdenken zur Vollkommenheit gebracht.
Es iſt aber eine ſchnöde und betrauernswer¬
the Eitelkeit, die das Verdienſt der Zeiten
ihrem eigenen ſchwachen Haupte zur Krone
aufſetzt, und ihre Nichtigkeit unter erborg¬
tem Glanze verſtecken will. Hinweg, ihr
weiſen Knaben, von dem alten Künſtler von
Nürnberg! — und daß keiner verſpottend
ihn zu richten ſich vermeſſe, der noch kin¬
diſch darüber naſerümpfen kann, daß er
nicht Tizian und Correggio zu Lehrmeiſtern
hatte, oder, daß man zu ſeiner Zeit ſo ſelt¬
ſam altfränkiſche Kleidung trug!


Denn auch um deßwillen wollen die heu¬
tigen Lehrer ihn, ſo wie manchen andern
guten Mahler ſeines Jahrhunderts, nicht
ſchön und edel nennen, weil ſie die Ge¬
[121] ſchichte aller Völker, und wohl ſelbſt die
geiſtlichen Hiſtorien unſerer Religion in die
Tracht ihrer Zeiten kleiden. Allein ich denke
dabey, wie doch ein jeder Künſtler, der die
Weſen vergangener Jahrhunderte durch ſeine
Bruſt gehen läßt, ſie mit dem Geiſt und
Athem ſeines Alters beleben muß; und wie
es doch billig und natürlich iſt, daß die
Schöpfungskraft des Menſchen alles Fremde
und Entfernte, und alſo auch ſelbſt die himm¬
liſchen Weſen, ſich liebend nahe bringt, und
in die wohlbekannten und geliebten Formen
ſeiner Welt und ſeines Geſichtskreiſes
hüllt.


Als Albrecht den Pinſel führte, da war
der Deutſche auf dem Völkerſchauplatz un¬
ſers [Welttheils] noch ein eigenthümlicher und
ausgezeichneter Charakter von feſtem Be¬
ſtand; und ſeinen Bildern iſt nicht nur in
Geſichtsbildung und im ganzen Äußeren,
[122] ſondern auch im inneren Geiſte, dieſes ernſt¬
hafte, grade und kräftige Weſen des deut¬
ſchen Charakters treu und deutlich einge¬
prägt. In unſern Zeiten iſt dieſer feſtbe¬
ſtimmte deutſche Charakter, und eben ſo die
deutſche Kunſt, verloren gegangen. Der
junge Deutſche lernt die Sprachen aller Völ¬
ker Europa's, und ſoll prüfend und richtend
aus dem Geiſte aller Nationen Nahrung
ziehen; — und der Schüler der Kunſt wird
belehrt, wie er den Ausdruck Raphaels, und
die Farben der venezianiſchen Schule, und
die Wahrheit der Niederländer, und das
Zauberlicht des Correggio, alles zuſammen
nachahmen, und auf dieſem Wege zur al¬
les übertreffenden Vollkommenheit gelangen
ſolle. — O traurige Afterweisheit! O blin¬
der Glaube des Zeitalters, daß man jede
Art der Schönheit, und jedes Vorzügliche
aller großen Künſtler der Erde, zuſammen¬
[123] ſetzen, und durch das Betrachten aller, und
das Erbetteln von ihren mannigfachen großen
Gaben, ihrer aller Geiſt in ſich vereinigen,
und ſie alle beſiegen könne! — Die Periode
der eigenen Kraft iſt vorüber; man will durch
ärmliches Nachahmen und klügelndes Zuſam¬
menſetzen das verſagende Talent erzwingen,
und kalte, geleckte, charakterloſe Werke ſind
die Frucht. — Die deutſche Kunſt war ein
frommer Jüngling in den Ringmauern einer
kleinen Stadt unter Blutsfreunden häuslich
erzogen; — nun ſie älter iſt, iſt ſie zum all¬
gemeinen Weltmanne geworden, der mit den
kleinſtädtiſchen Sitten zugleich ſein Gefühl
und ſein eigenthümliches Gepräge von der
Seele weggewiſcht hat.


Ich möchte um Alles nicht, daß der zau¬
berhafte Correggio, oder der prächtige Paolo
Veroneſe, oder der gewaltige Buonarotti,
eben ſo gemahlt hätten als Raphael. Und
[124] eben auch ſtimme ich keinesweges in die Re¬
densarten derer mit ein, welche ſprechen:
»Hätte Albrecht Dürer nur in Rom eine
»zeitlang gehauſet, und die ächte Schönheit
»und das Idealiſche vom Raphael abgelernt,
»ſo wäre er ein großer Mahler geworden;
»man muß ihn bedauern, und ſich nur wun¬
»dern, wie er es in ſeiner Lage noch ſo weit
»gebracht hat.« Ich finde hier nichts zu
bedauern, ſondern freue mich, daß das Schick¬
ſal dem deutſchen Boden an dieſem Manne
einen ächt-vaterländiſchen Mahler gegönnt
hat. Er würde nicht er ſelber geblieben ſeyn;
ſein Blut war kein italieniſches Blut. Er
war für das Idealiſche und die erhabene Ho¬
heit eines Raphaels nicht gebohren; er hatte
daran ſeine Luſt, uns die Menſchen zu zei¬
gen, wie ſie um ihn herum wirklich waren,
und es iſt ihm gar trefflich gelungen.


Dennoch aber fiel es mir, als ich in mei¬
[125] nen jüngern Jahren die erſten Gemählde
vom Raphael ſowohl, als von dir, mein
geliebter Dürer, in einer herrlichen Bilder¬
gallerie ſah, wunderbar in den Sinn, wie
unter allen andern Mahlern, die ich kannte,
dieſe beyden eine ganz beſonders nahe Ver¬
wandſchaft zu meinem Herzen hätten. Bey
beyden gefiel es mir ſo ſehr, daß ſie ſo ein¬
fach und grade, ohne die zierlichen Um¬
ſchweife anderer Mahler, uns die Menſch¬
heit in voller Seele, ſo klar und deutlich
vor Augen ſtellen. Allein ich getraute mich
damals nicht, meine Meynung jemanden zu
entdecken, weil ich glaubte, daß jeder mich
verlachen würde, und wohl wußte, daß die
Mehreſten in dem alten deutſchen Mahler
nichts als etwas ſehr Steifes und Trockenes
erkennen. Ich war indeß an dem Tage, da
ich jene Bildergallerie geſehen hatte, ſo voll
von dieſem neuen Gedanken, daß ich damit
[106[126]] einſchlief, und mir in der Nacht ein ent¬
zückendes Traumgeſicht vorkam, welches mich
noch feſter in meinem Glauben beſtärkte
Es dünkte mich nämlich, als wenn ich, nach
Mitternacht, von dem Gemach des Schloſ¬
ſes, worin ich ſchlief, durch die dunklen Säle
des Gebäudes, ganz allein mit einer Fackel
nach der Bildergallerie zuginge. Als ich an
die Thür kam, hörte ich drinnen ein leiſes
Gemurmel; — ich öffnete ſie, — und [plötz¬
lich]
fuhr ich zurück, denn der ganze große
Saal war von einem ſeltſamen Lichte er¬
leuchtet, und vor mehreren Gemählden ſtan¬
den ihre ehrwürdigen Meiſter in leibhafter
Geſtalt da, und in ihrer alten Tracht, wie
ich ſie in Bildniſſen geſehen hatte. Einer
von ihnen, den ich nicht kannte, ſagte mir,
daß ſie manche Nacht vom Himmel herun¬
terſtiegen, und hier und dort auf Erden in
Bilderſälen bey der nächtlichen Stille um¬
[107[127]] herwankten, und die noch immer geliebten
Werke ihrer Hand betrachteten. Viele ita¬
lieniſche Mahler erkannt' ich; von Nieder¬
ländern ſah ich ſehr wenige. Ehrfurchtsvoll
ging ich zwiſchen ihnen durch; — und ſiehe!
da ſtanden, abgeſondert von allen, Raphael
und Albrecht Dürer Hand in Hand leib¬
haftig vor meinen Augen, und ſahen in
freundlicher Ruhe ſchweigend ihre beyſam¬
menhängenden Gemählde an. Den gött¬
lichen Raphael anzureden hatte ich nicht den
Muth; eine heimliche ehrerbietige Furcht ver¬
ſchloß mir die Lippen. Aber meinen Albrecht
wollte ich ſo eben begrüßen, und meine Liebe
vor ihm ausſchütten; — allein in dem Au¬
genblick verwirrte ſich mit einem Getöſe Al¬
les vor meinen Augen, und ich erwachte mit
heftiger Bewegung.


Dieſes Traumgeſicht hatte meinem Ge¬
müth innige Freude gemacht, und dieſe ward
[128] noch vollkommener, als ich bald nachher in
dem alten Vaſari las, wie die beyden herr¬
lichen Künſtler auch bey ihren Lebzeiten wirk¬
lich, ohne ſich zu kennen, durch ihre Werke,
Freunde geweſen, und wie die redlichen und
treuen Arbeiten des alten Deutſchen vom
Raphael mit Wohlgefallen angeſehen wären,
und er ſie ſeiner Liebe nicht unwerth geach¬
tet hätte.


Das aber kann ich freylich nicht ver¬
ſchweigen, daß mir nachher bey den Wer¬
ken der beyden Mahler immer ſo wie in je¬
nem Traum zu Muthe war, daß ich näm¬
lich bey denen des Albrecht Dürer wohl
manchmal mich daran verſuchte, ihr ächtes
Verdienſt jemanden zu erklären, und über
ihre Vortrefflichkeiten mich in Worte auszu¬
breiten wagte; bey den Werken Raphaels
aber, immer von der himmliſchen Schönheit
ſo überfüllt und bedrängt ward, daß ich
nicht[129] nicht wohl darüber reden, noch jemanden
deutlich auseinanderſetzen konnte, woraus mir
überall das Göttliche hervorleuchte.


Aber ich will jetzt meine Blicke von dir
nicht abwenden, mein Albrecht. Vergleichung
iſt ein gefährlicher Feind des Genuſſes; auch
die höchſte Schönheit der Kunſt übt nur
dann, wie ſie ſoll, ihre volle Gewalt an
uns aus, wenn unſer Auge nicht zugleich
ſeitwärts auf andere Schönheit blickt. Der
Himmel hat ſeine Gaben unter die großen
Künſtler der Erde ſo vertheilet, daß wir
durchaus genöthiget werden, vor einem jeg¬
lichen ſtille zu ſtehen, und jeglichem ſeinen
Antheil unſrer Verehrung zu opfern.


Nicht bloß unter italieniſchem Himmel,
unter majeſtätiſchen Kuppeln und korinthi¬
ſchen Säulen; — auch unter Spitzgewölben,
kraus-verzierten Gebäuden und gothiſchen
Thürmen, wächſt wahre Kunſt hervor.


I[130]

Friede ſey mit deinen Gebeinen, mein
Albrecht Dürer! und möchteſt du wiſſen, wie
ich dich lieb habe, und hören, wie ich unter
der heutigen, dir fremden Welt, der Herold
deines Namens bin. — Geſegnet ſey mir
deine goldene Zeit, Nürnberg! die einzige
Zeit, da Deutſchland eine eigene vaterländi¬
ſche Kunſt zu haben ſich rühmen konnte. —
Aber die ſchönen Zeitalter ziehen über die
Erde hinweg, und verſchwinden, wie glän¬
zende Wolken über das Gewölbe des Him¬
mels wegziehn. Sie ſind vorüber, und ihrer
wird nicht gedacht; nur wenige rufen ſie
aus innerer Liebe in ihr Gemüth zurück, aus
beſtäubten Büchern, und bleibenden Werken
der Kunſt.


[131]

Von
zwey wunderbaren Sprachen
,
und
deren geheimnißvoller Kraft
.

Die Sprache der Worte iſt eine große Ga¬
be des Himmels, und es war eine ewige
Wohlthat des Schöpfers, daß er die Zunge
des erſten Menſchen löſte, damit er alle
Dinge, die der Höchſte um ihn her in die
Welt geſetzt, und alle geiſtigen Bilder, die
er in ſeine Seele gelegt hatte, nennen, und
ſeinen Geiſt in dem mannigfaltigen Spiele
mit dieſem Reichthum von Namen üben
konnte. Durch Worte herrſchen wir über
den ganzen Erdkreis; durch Worte erhan¬
deln wir uns mit leichter Mühe alle Schätze
der Erde. Nur das Unſichtbare, das
I 2[132]über uns ſchwebt, ziehen Worte nicht in
unſer Gemüth herab.


Die irdiſchen Dinge haben wir in unſrer
Hand, wenn wir ihre Namen ausſprechen; —
aber wenn wir die Allgüte Gottes, oder
die Tugend der Heiligen nennen hören, wel¬
ches doch Gegenſtände ſind, die unſer ganzes
Weſen ergreifen ſollten, ſo wird allein unſer
Ohr mit leeren Schallen gefüllt, und unſer
Geiſt nicht, wie es ſollte, erhoben.


Ich kenne aber zwey wunderbare
Sprachen
, durch welche der Schöpfer den
Menſchen vergönnt hat, die himmliſchen
Dinge in ganzer Macht, ſo viel es nämlich,
(um nicht verwegen zu ſprechen,) ſterblichen
Geſchöpfen möglich iſt, zu faſſen und zu
begreifen. Sie kommen durch ganz andere
Wege zu unſerm Inneren, als durch die
Hülfe der Worte; ſie bewegen auf ein¬
mal
, auf eine wunderbare Weiſe, unſer
[133] ganzes Weſen, und drängen ſich in jede
Nerve und jeden Blutstropfen, der uns an¬
gehört. Die eine dieſer wundervollen Spra¬
chen redet nur Gott; die andere reden nur
wenige Auserwählte unter den Menſchen,
die er zu ſeinen Lieblingen geſalbt hat. Ich
meyne: die Natur und die Kunſt. —


Seit meiner frühen Jugend her, da ich
den Gott der Menſchen zuerſt aus den ur¬
alten heiligen Büchern unſerer Religion ken¬
nen lernte, war mir die Natur immer das
gründlichſte und deutlichſte Erklärungsbuch
über ſein Weſen und ſeine Eigenſchaften.
Das Säuſeln in den Wipfeln des Waldes,
und das Rollen des Donners, haben mir
geheimnißvolle Dinge von ihm erzählet, die
ich in Worten nicht aufſetzen kann. Ein ſchö¬
nes Thal, von abentheuerlichen Felſengeſtal¬
ten umſchloſſen, oder ein glatter Fluß, wor¬
in gebeugte Bäume ſich ſpiegeln, oder eine
[134] heitere grüne Wieſe von dem blauen Him¬
mel beſchienen, — ach dieſe Dinge haben in
meinem inneren Gemüthe mehr wunderbare
Regungen zuwege gebracht, haben meinen
Geiſt von der Allmacht und Allgüte Gottes
inniger erfüllt, und meine ganze Seele weit
mehr gereinigt und erhoben, als es je die
Sprache der Worte vermag. Sie iſt, dünkt
mich, ein allzu irdiſches und grobes Werk¬
zeug, um das Unkörperliche, wie das Kör¬
perliche, damit zu handhaben.


Ich finde hier einen großen Anlaß, die
Macht und Güte des Schöpfers zu preiſen.
Er hat um uns Menſchen eine unendliche
Menge von Dingen umhergeſtellt, wovon
jedes ein anderes Weſen hat, und wovon
wir keines verſtehen und begreifen. Wir
wiſſen nicht, was ein Baum iſt; nicht, was
eine Wieſe, nicht, was ein Felſen iſt; wir
können nicht in unſerer Sprache mit ihnen
[135] reden; wir verſtehen nur uns untereinander.
Und dennoch hat der Schöpfer in das Men¬
ſchenherz eine ſolche wunderbare Sympathie
zu dieſen Dingen gelegt, daß ſie demſelben,
auf unbekannten Wegen, Gefühle, oder Ge¬
ſinnungen, oder wie man es nennen mag,
zuführen, welche wir nie durch die abgemeſ¬
ſenſten Worte erlangen.


Die Weltweiſen ſind, aus einem an ſich
löblichen Eifer für die Wahrheit, irre ge¬
gangen; ſie haben die Geheimniſſe des Him¬
mels aufdecken, und unter die irdiſchen Din¬
ge, in irdiſche Beleuchtung ſtellen wollen,
und die dunkeln Gefühle von denſelben,
mit kühner Verfechtung ihres Rechtes, aus
ihrer Bruſt verſtoßen. — Vermag der ſchwache
Menſch die Geheimniſſe des Himmels aufzu¬
hellen? Glaubt er verwegen ans Licht zie¬
hen zu können, was Gott mit ſeiner Hand
bedeckt? Darf er wohl die dunkeln Ge¬
[136] fühle
, welche wie verhüllte Engel zu uns
herniederſteigen, hochmüthig von ſich wei¬
ſen? — Ich ehre ſie in tiefer Demuth; denn
es iſt große Gnade von Gott, daß er uns
dieſe ächten Zeugen der Wahrheit herabſen¬
det. Ich falte die Hände, und bete an. —


Die Kunſt iſt eine Sprache ganz ande¬
rer Art, als die Natur; aber auch ihr iſt,
durch ähnliche dunkle und geheime Wege,
eine wunderbare Kraft auf das Herz des
Menſchen eigen. Sie redet durch Bilder der
Menſchen, und bedienet ſich alſo einer Hie¬
roglyphenſchrift, deren Zeichen wir dem Äußern
nach, kennen und verſtehen. Aber ſie ſchmelzt
das Geiſtige und Unſinnliche, auf eine ſo
rührende und bewundernswürdige Weiſe, in
die ſichtbaren Geſtalten hinein, daß wie¬
derum unſer ganzes Weſen, und alles, was
an uns iſt, von Grund auf bewegt und er¬
ſchüttert wird. Manche Gemählde aus der
[137] Leidensgeſchichte Chriſti, oder von unſrer
heiligen Jungfrau, oder aus der Geſchichte
der Heiligen, haben, ich darf es wohl ſa¬
gen, mein Gemüth mehr geſäubert, und
meinem inneren Sinne tugendſeligere Geſin¬
nungen eingeflößet, als Syſteme der Moral
und geiſtliche Betrachtungen. Ich denke un¬
ter andern noch mit Inbrunſt an ein über
alles herrlich gemahltes Bild unſers heiligen
Sebaſtian, wie er nackt an einen Baum ge¬
bunden ſteht, ein Engel ihm die Pfeile aus
der Bruſt zieht, und ein anderer Engel vom
Himmel einen Blumenkranz für ſein Haupt
bringt. Dieſem Gemählde verdanke ich ſehr
eindringliche und haftende chriſtliche Geſin¬
nungen, und ich kann mir jetzt kaum daſ¬
ſelbe lebhaft vorſtellen, ohne daß mir die
Thränen in die Augen kommen.


Die Lehren der Weiſen ſetzen nur unſer
Gehirn, nur die eine Hälfte unſeres Selbſt,
[138] in Bewegung; aber die zwey wunderbaren
Sprachen, deren Kraft ich hier verkündige,
rühren unſre Sinne ſowohl als unſern Geiſt;
oder vielmehr ſcheinen dabey, (wie ich es
nicht anders ausdrücken kann,) alle Theile
unſers (uns unbegreiflichen) Weſens zu ei¬
nem einzigen, neuen Organ zuſammenzu¬
ſchmelzen, welches die himmliſchen Wunder,
auf dieſem zwiefachen Wege, faßt und be¬
greift.


Die eine der Sprachen, welche der Höchſte
ſelber von Ewigkeit zu Ewigkeit fortredet,
die ewig lebendige, unendliche Natur, zie¬
het uns durch die weiten Räume der Lüfte
unmittelbar zu der Gottheit hinauf. Die
Kunſt aber, die, durch ſinnreiche Zuſam¬
menſetzungen von gefärbter Erde und etwas
Feuchtigkeit, die menſchliche Geſtalt in ei¬
nem engen, begränzten Raume, nach inne¬
rer Vollendung ſtrebend, nachahmt, (eine Art
[139] von Schöpfung, wie ſie ſterblichen Weſen
hervorzubringen vergönnt ward,) — ſie ſchließt
uns die Schätze in der menſchlichen Bruſt
auf, richtet unſern Blick in unſer Inneres,
und zeigt uns das Unſichtbare, ich meyne
alles was edel, groß und göttlich iſt, in
menſchlicher Geſtalt. —


Wenn ich aus dem Gottgeweiheten Tem¬
pel unſers Kloſters von der Betrachtung
Chriſti am Kreuz, ins Freye hinaustrete, und
der Sonnenſchein vom blauen Himmel mich
warm und lebendig umfängt, und die ſchöne
Landſchaft mit Bergen, Gewäſſer und Bäu¬
men mein Auge rührt; ſo ſehe ich eine ei¬
gene Welt Gottes vor mir hervorgehen, und
fühle auf eigene Weiſe große Dinge in mei¬
nem Inneren ſich erheben. — Und wenn
ich aus dem Freyen wieder in den Tempel
trete, und das Gemählde von Chriſto am
Kreuze mit Ernſt und Innigkeit betrachte;
[140] ſo ſehe ich wiederum eine andre ganz eigene
Welt Gottes vor mir hervorgehen, und fühle
auf andre, eigene Weiſe ſich große Dinge in
meinem Inneren erheben. —


Die Kunſt ſtellet uns die höchſte menſch¬
liche Vollendung dar. Die Natur, ſo viel
davon ein ſterbliches Auge ſieht, gleichet ab¬
gebrochenen Orakelſprüchen aus dem Munde
der Gottheit. Iſt es aber erlaubt, alſo von
dergleichen Dingen zu reden, ſo möchte man
vielleicht ſagen, daß Gott wohl die ganze
Natur oder die ganze Welt auf ähnliche
Art, wie wir ein Kunſtwerk, anſehen möge.


[141]

Von den Seltſamkeiten
des
alten Mahlers
,
Piero di Coſimo,
aus der Florentiniſchen Schule.

Die Natur, die ewig ämſige Arbeiterinn,
fertigt, mit immer geſchäftigen Händen, Mil¬
lionen Weſen alles Geſchlechtes, und wirft
ſie ins irdiſche Leben hinein. Mit leichtem,
ſpielendem Scherze miſcht ſie, ohne hinzu¬
ſehn, die Stoffe, wie ſie ſich nun ſchicken
mögen, auf mannigfache Weiſe zuſammen,
und überläßt ein jedes Weſen, das ihrer
Hand entfällt, ſeiner Luſt und ſeiner Qual.
Und eben ſo wie ſie manchmal in den Rei¬
chen des Lebloſen muthwillig ſeltſame und
monſtröſe Geſtalten unter die Menge wirft;
ſo bringt ſie auch unter den Menſchen alle
[142] Jahrhunderte einige Seltenheiten hervor,
welche ſie zwiſchen Tauſende gewöhnlicher
Art verſteckt. Aber dieſe ſeltſamen Geiſter
vergehen gleich den allergemeinſten: die
wißbegierige Nachwelt ſammelt aus Schrif¬
ten die einzeln geſtammelten Laute zuſammen,
die ſie uns ſchildern ſollen; allein wir gewin¬
nen kein faßliches Bild, und lernen ſie nie¬
mals völlig verſtehen. Konnten doch auch
die, welche ſie mit Augen ſahen, ſie nicht
völlig begreifen, ja ſie begriffen ſich ſelber
kaum. Wir können ſie, wie im Grunde Al¬
les in der Welt, nur bloß mit leerer Ver¬
wunderung
betrachten. —


Dieſe Gedanken ſind bey mir rege ge¬
worden, indem ich in den Hiſtorien der al¬
ten Mahler auf den wunderbaren Piero di
Coſimo
geſtoßen bin. Die Natur hatte
ſein Inneres mit einer immer gährenden
Phantaſie erfüllt, und ſeinen Geiſt mit ſchwe¬
[143] ren und düſtern Gewitterwolken bezogen, ſo
daß ſein Gemüth immer in unruhiger Arbeit
war, und unter ausſchweifenden Bildern
umhertrieb, ohne jemals ſich in einfacher und
heiterer Schönheit zu ſpiegeln. Alles an
ihm war außerordentlich und ungewöhnlich;
die alten Schriftſteller wiſſen nicht kräftige
Worte genug zuſammenzuhäufen, um uns ei¬
nen Begriff von dem Unmäßigen und Unge¬
heuren in ſeinem ganzen Weſen zu geben.
Und doch finden wir bey ihnen nur wenige
einzelne, zum Theil ſogar unerheblich ſchei¬
nende Züge aufgezeichnet, welche uns den
Abgrund ſeiner Seele keinesweges gründlich
kennen lehren, noch zu einem vollendeten,
harmoniſchen Bilde zuſammenfließen; aus
welchen wir aber dennoch das Tieferliegende
wohl ohngefähr ahnden können.


Piero di Coſimo trug ſchon in ſeiner Ju¬
gend einen lebendigen, immer beweglichen
[144] Geiſt, und eine überfüllte Einbildungskraft
in ſich herum, wodurch er ſich früh vor ſei¬
nen Mitſchülern auszeichnete. Seine Seele
erfreute ſich nie, ſtill auf einem Gedanken
oder einem Bilde zu ruhen; immer zog ein
Schwarm von fremden, ſeltſamen Ideen
durch ſein Gehirn, und entrückte ihn aus
der Gegenwart. Manchmal, wenn er bey
der Arbeit ſaß, und dabey zugleich etwas
erzählte oder auseinanderſetzte, hatte ihn
ſeine immer für ſich allein umhertummelnde
Phantaſie unvermerkt auf ſo entlegene Hö¬
hen entführet, daß er auf einmal ſtockte,
der Zuſammenhang der gegenwärtigen Dinge
ſich vor ſeinen Augen verwirrte, und er als¬
dann ſeine Rede wieder von vorn anheben
mußte. Menſchliche Geſellſchaft war ihm
zuwider; am beſten gefiel er ſich in einer
trüben Einſamkeit, wo er in ſich gekehrt
ſeine umherſchweifenden Einbildungen ver¬
folgte,[145] folgte, wohin ſie ihn führten. Immer war
er allein in einem verſchloſſenen Gemach,
und führte eine ganz eigene Lebensart. Er
nährte ſich mit immer gleicher, einförmiger
Speiſe, die er ſich ſelber, zu jeder Zeit des
Tages, da er Luſt hatte, bereitete. Er litt
nicht, daß ſein Zimmer gereinigt ward; auch
widerſetzte er ſich gegen das Beſchneiden der
Fruchtbäume und Rebſtöcke in ſeinem Gar¬
ten; denn er wollte überall die wilde, ge¬
meine und ungeſäuberte Natur ſehen, und
hatte ſeine Luſt an dem, was andern Sin¬
nen zuwider iſt. So hatte er auch einen ge¬
heimen Reiz, bey allen Mißgeburten in der
phyſiſchen Natur, bey allen monſtröſen Thie¬
ren und Pflanzen, lange zu verweilen; er
ſah ſie mit unverrückter Aufmerkſamkeit an,
um ihre Häßlichkeit recht zu genießen; er
wiederholte ſich ihr Bild nachher immerfort
in Gedanken, und konnte es, ſo widrig es
K[146] ihm auch am Ende ward, nicht aus dem
Kopf bringen. Von ſolchen mißgeſchaffenen
Dingen hatte er nach und nach, mit der
ſchärfſten Ämſigkeit, ein ganzes Buch zuſam¬
mengezeichnet. Oft auch heftete er ſeine Au¬
gen ſtarr auf alte, befleckte, buntfärbige
Mauern, oder auf die Wolken am Himmel,
und ſeine Einbildung ergriff aus allen ſolchen
Spielen der Natur mancherley abentheuer¬
liche Ideen zu wilden Schlachten mit Pfer¬
den, oder zu großen Gebirgslandſchaften mit
fremdartigen Städten. — Große Freude em¬
pfand er an einem recht heftigen Platzregen,
der von den Dächern herab praſſelnd auf
das Pflaſter ſtürzte; — dagegen fürchtete er
ſich wie ein Kind vor dem Donner, und
hüllte ſich, wenn ein Gewitter am Himmel
tobte, eng in ſeinen Mantel ein, verſchloß
die Fenſtern, und kroch in einen Winkel des
Hauſes, bis es vorüber war. Halb verrückt
[147] machte ihn das Schreyen kleiner Kinder, das
Klockengeläut, und das Singen der Mön¬
che. — In ſeinen Reden war er bunt und
außerordentlich; ja, zuweilen ſagte er ſo vor¬
trefflich-komiſche Sachen, daß die es hörten,
ſich vor Lachen nicht halten konnten. In
Summa, er war ſo beſchaffen, daß die Leute
ſeiner Zeit ihn für einen höchſt verwirrten,
und beynahe wahnſinnigen Kopf ausgaben.


Sein Geiſt, der unaufhörlich, wie ſieden¬
des Waſſer im Keſſel, kochte, und Schaum
und Blaſen auftrieb, hatte ganz vorzügliche
Gelegenheit, ſich bey den Mummereyen und
muthwilligen Aufzügen, welche zur Zeit des
Carnavals in Florenz gehalten wurden, in
allerhand neuen und fremden Erfindungen
zu zeigen, ſo daß dieſe Feſtlichkeit durch ihn
erſt eigentlich das ward, was ſie vorher nie
geweſen war. Unter allen den außerordent¬
lichen und vielbewunderten feyerlichen Auf¬
K 2[148] zügen aber, welche er anordnete, zeichnete
ſich einer ſo beſonders und eigen aus, daß
wir eine kurze [Erzählung] davon herſetzen
wollen. Die Veranſtaltungen dazu waren
insgeheim gemacht, und ganz Florenz ward
alſo dadurch auf das Äußerſte überraſcht
und erſchüttert.


In der beſtimmten Nacht nämlich, indem
das Volk, der ausgelaſſenſten Freude Preis
gegeben, jauchzend in den Straßen der Stadt
umherſchwärmte, — ward der Haufen auf
einmal vor Schrecken auseinander geſprengt,
und ſah ſich mit Beſtürzung und Erſtaunen
um. Es näherte ſich durch die dämmernde
Nacht, ſchwer und langſam, ein ſchwarzer,
ungeheurer Wagen, von vier ſchwarzen Büf¬
feln gezogen, und mit Todtenbeinen und
weißen Kreuzen bezeichnet, — und auf dem
Wagen ſtolzierte eine mächtig-große Sieger¬
geſtalt des Todes, mit der fürchterlichen
[149] Senſe bewaffnet, zu deren Füßen lauter
Särge aus dem Wagen herumſtanden. Aber
der langſame Zug hielt an:— und bey dem
dumpfen Dröhnen von ſeltſamen Hörnern,
deren banger, ſchauerlicher Ton Mark und
Gebein durchzitterte, — und bey dem zau¬
berhaften Schein entfernter Fackeln, — ſtie¬
gen, — wobey alles Volk von einem ſtillen
Grauen ergriffen ward, — aus den ſich öff¬
nenden Särgen, langſam, weiße Gerippe
mit halbem Leibe hervor, ſetzten ſich auf den
Sarg, und erfüllten die Luft mit einem fin¬
ſtern, hohlen Geſange, der, von den Hör¬
nertönen durchmiſcht, das Blut in den Adern
gerinnen machte. Sie ſangen darin von
den Schreckniſſen des Todes, und daß alle,
die jetzt lebendig ſie anſchauten, bald auch
ſolche Knochengeſtalten ſeyn würden, wie ſie.
Rings um den Wagen herum, und hinter
dem Wagen, drängte ſich ein großer, ver¬
[150] worrener Troß von Todten, mit Larven
gleich Todtenſchädeln auf dem Haupt, ſchwarz
behangen, mit weißen Gebeinen und weißen
Kreuzen bezeichnet, und auf hageren Pfer¬
den ſitzend, — und jeglicher hatte ein Ge¬
folge von vier andern ſchwarzen Reitern,
mit Fackeln, und einer ungeheuren ſchwar¬
zen Fahne mit Todtenſchädeln und Gebeinen
und weißen Kreuzen bezeichnet; — auch von
dem Wagen ſchleppten zehn große ſchwarze
Fahnen herunter; — und während des lang¬
ſam-ſchleichenden Zuges ſang das ganze
Todtenheer, mit dumpf-bebender Stimme,
einen Pſalm Davids ab. —


Es iſt ſehr merkwürdig, daß dieſer uner¬
wartete Todtenaufzug, ſo viel Schrecken er
auch anfangs verbreitete, doch von ganz
Florenz mit dem größten Wohlgefallen be¬
trachtet ward. Schmerzliche und widrige
Empfindungen greifen mit Macht durch die
[151] Seele, halten ſie feſt, und zwingen ſie
gleichſam zur Theilnahme und zum Beha¬
gen; und wenn ſie überdies mit einem ge¬
wiſſen poetiſchen Schwunge die Phan¬
taſie anfallen und aufregen, ſo können ſie
das Gemüth in einer hohen und begeiſterten
Spannung erhalten. Daneben möcht' ich
auch noch ſagen, daß ſolchen ausgezeichne¬
ten Geiſtern, wie dieſer Piero di Coſimo
war, vom Himmel eine wunderbare geheime
Gewalt eingepflanzt zu ſeyn ſcheinet, durch
die fremden und außerordentlichen Dinge,
welche ſie thun, die Köpfe, auch des gemei¬
nen großen Haufens, einzunehmen. —


Obwohl Piero von ſeiner unruhigen fin¬
ſtern Phantaſie unaufhörlich geneckt, umher¬
gejagt und ermüdet ward; ſo hatte der Him¬
mel ihm doch ein hohes Alter beſchieden; ja,
wie er dem achtzigſten Jahre nahe kam,
ward ſein Geiſt von immer wilderen Phan¬
[152] taſtereyen verfolgt. Er quälte ſich bey der
großen körperlichen Schwäche und allem
Elend des Alters dennoch immer für ſich al¬
lein, und wies alle Geſellſchaft und mitlei¬
dige Hülfe ungeſtüm von ſich. Dann wollte
er noch arbeiten, und konnte doch nicht,
weil ihm die Hände gelähmt waren und be¬
ſtändig zitterten; dann kam er in die äußerſte
Bosheit, und wollte ſeinen Händen Gewalt
anthun; aber indem er ſo ergrimmt für ſich
murmelte, fiel ihm wieder der Mahlerſtock
oder gar der Pinſel auf die Erde, daß es
ein Jammer anzuſehen war. Er konnte ſich
mit dem Schatten zanken, und über eine
Fliege in Zorn gerathen. Daß er ſeinem
Ende nahe wäre, wollte er noch immer nicht
glauben. Er redete ſehr viel davon, was es
für ein Elend ſey, wenn eine langſame
Krankheit mit tauſend Martern den Körper
recht nach und nach aufzehre, daß ein Bluts¬
[153] tropfen näch dem andern abſterbe. Er fluchte
auf Ärzte, Apotheker und Krankenwärter,
und beſchrieb, was es fürchterlich ſey, wenn
einem nicht Speiſe, nicht Schlaf gegönnt
werde, wenn man ſein Teſtament machen
müßte, wenn man die Anverwandten um
das Bett herum weinen ſähe. Dagegen
pries er denjenigen glücklich, der auf dem
Hochgericht mit einem Streich aus der Welt
gehe; und was es ſchön wäre, vor ſo vie¬
lem Volk, und unter den Tröſtungen und
Gebeten des Prieſters und den Fürbitten
von Tauſenden, zu den Engeln im Para¬
dieſe hinaufzuſteigen. In ſolchen Gedanken
ſchwärmte er unaufhörlich fort: — bis man
endlich eines Morgens, ganz unerwartet,
ihn unten an der Treppe in ſeinem Hauſe
todt liegen fand. —


Dies ſind die ſonderbaren Züge von dem
Geiſte dieſes Mahlers, welche ich dem Gior¬
[154] gio Vaſari
treulich nacherzählt habe. Was
ihn als Mahler betrifft, ſo berichtet uns der¬
ſelbe Autor von ihm, daß er am liebſten
wilde Bacchanale und Orgia, fürchterliche
Ungeheuer, oder ſonſt irgend ſchreckhafte Vor¬
ſtellungen gemahlt habe; rühmt ihn indeß
wegen des höchſt mühſeligen und eigenſinni¬
gen Fleißes in ſeinen Bildern. Wie denn
derſelbe Vaſari, in dem Leben eines andern
ebenfalls ſchwermüthigen Mahlers*), die
Bemerkung macht, daß dergleichen tiefſinnige
und melancholiſche Geiſter ſich oftmals durch
eine beſondere, eiſerne Geduld und Ämſig¬
keit im Arbeiten auszuzeichnen pflegten.


Dem ſey nun wie ihm wolle, ſo kann ich
nicht glauben, daß dieſer Piero di Coſimo
ein wahrhaft-ächter Künſtlergeiſt geweſen ſey.
Ich finde zwar eine gewiſſe Übereinſtimmung
[155] zwiſchen ihm [und] dem großen Leonardo
da Vinci
, (welchen jener auch in der Mah¬
lerey ſich zum Muſter nahm;) denn beyde
wurden von einem immer lebendigen, viel¬
ſinnigen Geiſte umhergetrieben, — jener aber
in finſtre Wolkenregionen der Luft, — dieſer
unter die ganze wirkliche Natur und unter
das ganze Gewimmel der Erde.


Der Künſtlergeiſt ſoll, wie ich meyne,
nur ein brauchbares Werkzeug ſeyn, die
ganze Natur in ſich zu empfangen, und,
mit dem Geiſte des Menſchen beſeelt, in
ſchöner Verwandlung wiederzugebähren. Iſt
er aber aus innerem Inſtinkte, und aus
überflüßiger, wilder und üppiger Kraft, ewig
für ſich in unruhiger Arbeit; ſo iſt er nicht
immer ein geſchicktes Werkzeug, — vielmehr
möchte man dann ihn ſelber eine Art von
Kunſtwerk der Schöpfung nennen.


In dem tobenden und ſchäumenden Meere
[156] ſpiegelt ſich der Himmel nicht; — der klare
Fluß iſt es, worin Bäume und Felſen und
die ziehenden Wolken und alle Geſtirne des
Firmamentes ſich wohlgefällig beſchauen. —


[157]

Wie und auf welche Weiſe man
die
Werke der großen Künſtler der Erde
eigentlich betrachten,
und
zum Wohl ſeiner Seele gebrauchen müſſe.

Immerfort höre ich die kindiſche und leicht¬
ſinnige Welt klagen, daß Gott nur ſo we¬
nige
recht große Künſtler auf die Erde ge¬
ſetzt habe; ungeduldig ſtarrt der gemeine
Geiſt in die Zukunft, ob der Vater der Men¬
ſchen nicht bald einmal ein neues Geſchlecht
von hervorglänzenden Meiſtern werde aufer¬
ſtehen laſſen. Ich ſage euch aber, es hat
die Erde der vortrefflichen Meiſter nicht zu
wenige getragen; ja es ſind ihrer einige ſo
beſchaffen, daß ein ſterbliches Weſen ſein
ganzes Leben hindurch an einem einzelnen
[158] zu ſchauen und zu begreifen hat; aber wahr¬
lich! viel, viel zu wenige ſind derer, welche
die Werke dieſer (aus edlerem Thone geform¬
ten) Weſen, innig zu verſtehen, und, (was
daſſelbe iſt,) inniglich zu verehren im Stande
ſind.


Bilderſäle werden betrachtet als Jahr¬
märkte, wo man neue Waaren im Vorüber¬
gehen beurtheilt, lobt und verachtet; und es
ſollten Tempel ſeyn, wo man in ſtiller und
ſchweigender Demuth, und in herzerhebender
Einſamkeit, die großen Künſtler, als die
höchſten unter den Irdiſchen, bewundern,
und mit der langen, unverwandten Betrach¬
tung ihrer Werke, in dem Sonnenglanze der
entzückendſten Gedanken und Empfindungen
ſich erwärmen möchte.


Ich vergleiche den Genuß der edleren
Kunſtwerke dem Gebet. Der iſt dem Him¬
mel nicht wohlgefällig, welcher zu ihm re¬
[159] det, um nur der täglichen Pflicht entledigt
zu werden, Worte ohne Gedanken herzählt,
und ſeine Frömmigkeit prahlend nach den
Kugeln ſeines Roſenkranzes abmißt. Der
aber iſt ein Liebling des Himmels, welcher
mit demüthiger Sehnſucht auf die auser¬
wählten Stunden harrt, da der milde himm¬
liſche Strahl freywillig zu ihm herabfährt,
die Hülle irdiſcher Unbedeutenheit, mit wel¬
cher gemeiniglich der ſterbliche Geiſt überzo¬
gen iſt, ſpaltet, und ſein edleres Innere auf¬
löſt und auseinanderlegt; dann knieet er nie¬
der, wendet die offene Bruſt in ſtiller Ent¬
zückung gegen den Himmelsglanz, und ſätti¬
get ſie mit dem ätheriſchen Licht; dann ſteht
er auf, froher und wehmüthiger, volleren
und leichteren Herzens, und legt ſeine Hand
an ein großes gutes Werk. — Das iſt die
wahre Meynung, die ich vom Gebet hege.


Eben ſo nun, meyne ich, müſſe man mit
[160] den Meiſterſtücken der Kunſt umgehen, um
ſie würdiglich zum Heil ſeiner Seele zu
nutzen. Es iſt frevelhaft zu nennen, wenn
jemand in einer irdiſchen Stunde, von dem
ſchallenden Gelächter ſeiner Freunde hinweg¬
taumelt, um in einer nahen Kirche, aus Ge¬
wohnheit, einige Minuten mit Gott zu re¬
den. Ein ähnlicher Frevel iſt es, in einer
ſolchen Stunde die Schwelle des Hauſes zu
betreten, wo die bewundernswürdigſten Schö¬
pfungen, die von Menſchenhänden her¬
vorgebracht werden konnten, als eine ſtille
Kundſchaft von der Würde dieſes Geſchlech¬
tes, für die Ewigkeit aufbewahret werden.
Harret, wie beym Gebet, auf die ſeligen
Stunden, da die Gunſt des Himmels euer
Inneres mit höherer Offenbarung erleuchtet;
nur dann wird eure Seele ſich mit den Wer¬
ken der Künſtler zu Einem Ganzen vereini¬
gen. Ihre Zaubergeſtalten ſind ſtumm und
ver¬[161] verſchloſſen, wenn ihr ſie kalt anſeht; euer
Herz muß ſie zuerſt mächtiglich anreden,
wenn ſie ſollen zu euch ſprechen, und ihre
ganze Gewalt an euch verſuchen können.


Kunſtwerke paſſen in ihrer Art ſo wenig,
als der Gedanke an Gott in den gemeinen
Fortfluß des Lebens; ſie gehen über das Ordent¬
liche und Gewöhnliche hinaus, und wir müſ¬
ſen uns mit vollem Herzen zu ihnen erhe¬
ben, um ſie in unſern, von den Nebeln der
Atmoſphäre allzuoft getrübten Augen, zu
dem zu machen, was ſie, ihrem hohen We¬
ſen nach, ſind.


Buchſtaben leſen kann ein jeglicher ler¬
nen; von gelehrten Chroniken kann ein jeg¬
licher ſich die Hiſtorien vergangener Zeiten
erzählen laſſen, und ſie wieder erzählen;
auch kann ein jeglicher das Lehrgebäude ei¬
ner Wiſſenſchaft ſtudieren; und Sätze und
Wahrheiten faſſen; — denn, Buchſtaben ſind
L[162] nur dazu da, daß das Auge ihre Form er¬
kenne; und Lehrſätze und Begebenheiten ſind
nur ſo lange ein Gegenſtand unſrer Beſchäf¬
tigung, als das Auge des Geiſtes daran ar¬
beitet, ſie zu faſſen und zu erkennen; ſobald
ſie unſer eigen ſind, iſt die Thätigkeit unſers
Geiſtes zu Ende, und wir weiden uns dann
nur, ſo oft es uns behagt, an einem trägen
und unfruchtbaren Überblick unſrer Schätze. —
Nicht alſo bey den Werken herrlicher Künſt¬
ler. Sie ſind nicht darum da, daß das Auge
ſie ſehe; ſondern darum, daß man mit ent¬
gegenkommendem Herzen in ſie hineingehe,
und in ihnen lebe und athme. Ein köſtliches
Gemählde iſt nicht ein Paragraph eines Lehr¬
buchs, den ich, wenn ich mit kurzer Mühe
die Bedeutung der Worte herausgenommen
habe, als eine unnütze Hülſe liegen laſſe:
vielmehr währt bey vortrefflichen Kunſtwer¬
ken der Genuß immer, ohne Aufhören, fort.
[163] Wir glauben immer tiefer in ſie einzudrin¬
gen, und dennoch regen ſie unſere Sinne
immer von neuem auf, und wir ſehen keine
Gränze ab, da unſre Seele ſie erſchöpft
hätte. Es flammt in ihnen ein ewig bren¬
nendes Lebensöhl, welches nie vor unſern
Augen verliſcht.


Mit Ungeduld fliege ich über den erſten
Anblick hinweg; denn die Überraſchung des
Neuen, welche manche nach immer abwech¬
ſelnden Vergnügungen haſchende Geiſter wohl
zum Hauptverdienſte der Kunſt erklären wol¬
len, hat mir von jeher ein nothwendiges
Übel des erſten Anſchauens geſchienen. Der
ächte Genuß erfordert eine ſtille und ruhige
Faſſung des Gemüths, und äußert ſich nicht
durch Ausrufungen und Zuſammenſchlagen
der Hände, ſondern allein durch innere Be¬
wegungen. Es iſt mir ein heiliger Feyertag,
an welchem ich mit Ernſt und mit vorberei¬
L 2[164] tetem Gemüth an die Betrachtung edler
Kunſtwerke gehe; ich kehre oft und unauf¬
hörlich zu ihnen zurück, ſie bleiben meinem
Sinne feſt eingeprägt, und ich trage ſie, ſo
lange ich auf Erden wandle, in meiner Ein¬
bildungskraft, zum Troſt und zur Erweckung
meiner Seele, gleichſam als geiſtige Amu¬
lete mit mir herum, und werde ſie mit ins
Grab nehmen.


Weſſen feinere Nerven einmal beweglich,
und für den geheimen Reiz, der in der Kunſt
verborgen liegt, empfänglich ſind, deſſen
Seele wird oft da, wo ein anderer gleich¬
gültig vorübergeht, innig gerührt; er wird
des Glückes theilhaftig, in ſeinem Leben häu¬
figere Anläſſe zu einer heilſamen Bewegung
und Aufregung ſeines Inneren zu finden.
Ich bin mir bewußt, daß öfters, wenn ich,
(mit anderen Gedanken beſchäftigt,) durch
irgend ein ſchönes und großes Säulenportal
[165] ging, die mächtigen, majeſtätiſchen Säulen,
mit ihrer lieblichen Erhabenheit, unwillkühr¬
lich meine Blicke zu ſich wendeten, und mein
Inneres mit einer eigenen Empfindung er¬
füllten, daß ich mich innerlich vor ihnen
beugte, und mit aufgelöſtem Herzen und mit
reicherer Seele weiter ging.


Das Hauptſächlichſte iſt, daß man nicht
mit verwegenem Muth über den Geiſt erha¬
bener Künſtler ſich hinwegzuſchwingen, und
auf ſie herabſehend, ſie zu richten ſich ver¬
meſſe: ein thörichtes Unternehmen des eiteln
Stolzes der Menſchen: Die Kunſt iſt über
dem Menſchen: wir können die herrlichen
Werke ihrer Geweiheten nur bewundern und
verehren, und, zur Auflöſung und Reinigung
aller unſrer Gefühle, unſer ganzes Gemüth
vor ihnen aufthun.


[166]

Die Größe
des
Michel' Angelo Buonarotti
.

Wohl ein jeglicher Menſch, der ein fühlen¬
des und liebendes Herz in ſeiner Bruſt trägt,
hat im Reiche der Kunſt irgend einen beſon¬
dern Lieblingsgegenſtand; und ſo habe auch
ich den meinigen, zu welchem mein Geiſt ſich
oft unwillkührlich, wie die Sonnenblume zur
Sonne, hinwendet. Denn öfters, wenn ich in
meiner Einſamkeit betrachtend da ſitze, ſo iſt
es, als ſtände hinter mir ein guter Engel,
der mir unverſehens die Säkula der alten
Mahler von Italien, wie ein großes, frucht¬
reiches epiſches Gedicht mit einer gedrängten
Schaar lebendiger Figuren, vor meinen Au¬
gen aufſteigen ließe. Immer von neuem
zeigt ſich mir dieſe herrliche Erſcheinung, und
[167] immer von neuem wird mein Blut dabey
auf das innigſte erwärmt. Es iſt doch eine
köſtliche Gabe, die der Himmel uns verlie¬
hen hat, zu lieben und zu verehren; dieſes
Gefühl ſchmelzt unſer ganzes Weſen um,
und bringt das wahre Gold daraus zu Tage.


Mein Blick fällt diesmal auf den großen
Michel' Angelo Buonarotti, einen
Mann, über welchen ſchon ſo mancher ſeine
unbehülfliche Verwunderung, oder ſeinen vor¬
witzigen Hohn und Tadel vorgebracht hat.
Ich kann aber nicht mit vollerem Herzen
von ihm zu reden anheben, als es ſein
Freund und Landsmann Giorgio Vaſari
in dem Eingange zu ſeiner Lebensbeſchrei¬
bung gethan hat, welcher von Wort zu
Wort alſo lautet:


»Während daß ſo viele ſinnreiche und
vortreffliche Köpfe, nach den Vorſchriften
des berühmten Giotto und ſeiner Nachfolger,
[163] der Welt Proben von dem Talente zu zei¬
gen ſtrebten, welches durch den wohlthäti¬
gen Einfluß der Geſtirne und durch die glück¬
liche Complexion ihrer Geiſteskräfte in ihrem
Innern erzeugt war, und ſich alle beeifer¬
ten, durch die Vortrefflichkeit der Kunſt die
Herrlichkeit der Natur nachzuahmen, um ſo
viel möglich den höchſten Gipfel der Wiſſen¬
ſchaft, welchen man wohl ausſchließlich »Er¬
kenntniß« nennen mag, zu erreichen, obwohl
all' ihr Ringen vergeblich war; — unterdeſ¬
ſen wandte der gütige Regierer aller Dinge
ſein Auge gnädiglich auf die Erde hin, und
indem er nun wahrnahm all' die eitle An¬
ſtrengung ſo unendlich vieler mühſeliger Ver¬
ſuche, die unabläßig-heiße Lernbegier ohne
die geringſten Früchte, und die eingebildeten
Meynungen der Menſchen, ſo entfernt von
der Wahrheit, als Finſterniß vom Licht; —
da beſchloß er, um uns aus ſolchen Irrthü¬
[169] mern zu reißen, einen Geiſt auf die Erde
herabzuſchicken, welcher durchaus, in jeg¬
lichem Theile aller Kunſt, durch eigene Kraft
ſollte Meiſter werden. Er ſollte der Welt
ein Vorbild aufſtellen, was Vollkommenheit
ſey in der Kunſt des Zeichnens, der Umriſſe,
und der Lichter und Schatten, (welche den
Bildern die Rundung geben;) und wie man
als Bildhauer mit Einſicht arbeiten müſſe,
und auf welche Weiſe man Gebäuden Fe¬
ſtigkeit, Bequemlichkeit, ſchöne Verhältniſſe,
Annehmlichkeit und Reichthum an allerley
Zierrathen der Baukunſt zu geben habe.
Überdas aber wollte der Himmel ihm die
wahre Tugendweisheit zur Begleitung, und
die ſüße Kunſt der Muſen zur Zierde geben,
auf daß die Welt ihn vor allen bewundern
und erwählen ſollte zum Spiegel und Mu¬
ſter im Leben, in Werken, in Heiligkeit der
Sitten, ja in allem irdiſchen Wandel, und
[170] er von uns vielmehr für ein himmliſches
Weſen als für ein irdiſches geachtet werden
möchte. Und weil Gott ſah, daß in jenen
beſondern Künſten, nämlich der Mahler-,
Bildhauer- und Baukunſt, als in Dingen
von ſo vieler Ämſigkeit und Übung, die Ein¬
gebohrnen des Toſcaniſchen Gebietes ſeit je¬
her unter allen ſich vornehmlich hervorge¬
than haben und meiſterlich geworden ſind,
(denn ſie ſind zu Anſtrengung und eifriger
Geiſtesarbeit jeder Art, vor allen andern
Nationen Italiens vorzüglich geneigt;) —
ſo wollte er ihm Florenz als die würdigſte
Stadt von allen zur Heimath anweiſen, da¬
mit die verdiente Krone aller Tugenden ihm
von einem Mitbürger aufs Haupt geſetzt
werden könnte.« —


Mit ſolcher Verehrung redet der alte
Vaſari von dem großen Michel' Angelo, und
drängt am Ende ſeine allgemeine Bewunde¬
[171] rung, auf eine ſchöne und menſchliche Weiſe,
in ein herzliches patriotiſches Gefühl zuſam¬
men, und freut ſich inniglich, daß dieſer
Mann, den er wie einen Herkules unter den
Helden der Kunſt verehrt, mit ihm denſelben
kleinen Raum der Erde zur Heimath gehabt
hat. Er beſchreibt das Leben des Buona¬
rotti am aller ausführlichſten, und thut oft
recht gutmüthig-ſtolz darauf, daß er ſeiner
vertrauteſten Freundſchaft genoſſen.


Doch wir wollen uns nicht an dem bloßen
Anſtaunen dieſes großen Mannes begnügen,
ſondern vielmehr in ſeinen inneren Geiſt hin¬
eingehen, uns in den eigenthümlichen Cha¬
rakter ſeiner Werke hineinſchmiegen. Es iſt
nicht genug, ein Kunſtwerk zu loben: »es
iſt ſchön und vortrefflich,« denn dieſe
allgemeinen Redensarten gelten auch von
den verſchiedenartigſten Werken; — wir müſ¬
ſen uns jedem großen Künſtler hingeben, mit
[172]ſeinen Organen die Dinge der Natur an¬
ſchauen und ergreifen, und in ſeiner Seele
ſprechen können: »Das Werk iſt in ſeiner
Art richtig und wahr


Die Mahlerey iſt eine Poeſie mit Bil¬
dern der Menſchen. So wie nun die Poe¬
ten ihre Gegenſtände mit ganz verſchiedenen
Empfindungen beſeelen, je nachdem ihnen
vom Schöpfer ein verſchiedener Geiſt einge¬
haucht iſt; ſo auch in der Mahlerey. Einige
Dichter beleben ihr ganzes Werk innerlich
mit einer ſtillen und geheimen poetiſchen
Seele; bey andern aber bricht die überfließen¬
de, üppige dichteriſche Kraft in jedem Mo¬
mente der Darſtellung hervor.


Dies iſt dieſelbe Verſchiedenheit, welche
ich zwiſchen dem göttlichen Raphael und
dem großen Buonarotti finde: jenen möchte
ich den Mahler des neuen, dieſen des alten
Teſtamentes nennen; denn auf jenem, — ich
[173] wage den kühnen Gedanken auszuſprechen, —
ruhet der ſtille göttliche Geiſt Chriſti, — auf
dieſem, der Geiſt der inſpirirten Propheten,
des Moſes und der übrigen Dichter des
Morgenlandes. Hier iſt nichts zu loben
und zu tadeln
, ſondern ein jeglicher iſt
was er iſt.


So wie die inſpirirten Orientaliſchen Dich¬
ter, von der inwohnenden, mit Gewalt ſich
regenden himmliſchen Kraft, zu außerordent¬
lichen Phantaſieen getrieben wurden, und
aus innerlichem Drange die Worte und Aus¬
drücke der irdiſchen Sprache durch lauter
feurige Bilder gleichſam in die Höhe zwan¬
gen; ſo ergriff auch die Seele des Michel'
Angelo immer mit Macht das Außerordent¬
liche und Ungeheure, und drückte in ſeinen
Figuren eine angeſpannte, übermenſchliche
Kraft aus. Er verſuchte ſich gern an erha¬
benen, furchtbaren Gegenſtänden; er wagte
[174] in ſeinen Bildern die kühnſten und wildeſten
Stellungen und Gebehrden; er drängte Muſ¬
keln auf Muſkeln, und wollte in jede Nerve
ſeiner Figuren die hohe poetiſche Kraft ſtem¬
peln, wovon er erfüllt war. Er ergründete
das innerliche Triebwerk der Menſchenma¬
ſchine bis in die verborgenſten Wirkungen;
er ſpürte die härteſten Schwierigkeiten in
der Mechanik des menſchlichen Körpers auf,
um ſie zu bekämpfen, und um die üppige
Fülle ſeiner Geiſteskraft auch in den körper¬
lichen Theilen der Kunſt auszulaſſen und zu
befriedigen: — grade ſo wie Dichter, in de¬
nen ein nicht zu löſchendes lyriſches Feuer
brennt, ſich an großen und ungeheuren
Ideen nicht genügen, ſondern vornehmlich
auch in dem ſichtbaren, ſinnlichen Werkzeuge
ihrer Kunſt, in Ausdruck und Worten, ihre
kühne und wilde Stärke abzudrücken ſtre¬
ben. Die Wirkung iſt, an beyden Orten,
[175] groß und herrlich: der innere Geiſt des Gan¬
zen leuchtet dann auch aus jedem der einzel¬
nen äußeren Theile hervor. —


Alſo erſcheint mir der vielbeurtheilte Buo¬
narotti, und wer ihn in dieſer Geſtalt, un¬
ter den alten Mahlern ins Auge faßt, der
mag wohl mit Erſtaunen und Bewunderung
fragen: Wer mahlte vor ihm, wie er? Wo¬
her nahm er die ganz neue Größe, von wel¬
cher vorher kein Auge jemals wußte? Und
wer hat ihn auf die vorher unbekannten
Wege gebracht?


Es iſt in der Welt der Künſtler gar kein
höherer, der Anbetung würdigerer Gegen¬
ſtand, als: — ein urſprünglich Original! —
Mit ämſigem Fleiße, treuer Nachahmung,
klugem Urtheil zu arbeiten, — iſt menſch¬
lich
; — aber das ganze Weſen der Kunſt
mit einem ganz neuen Auge zu durchblicken,
[176] es gleichſam mit einer ganz neuen Hand¬
habe zu erfaſſen, — iſt göttlich.


Indeſſen iſt es das Schickſal der Origi¬
nale, eine elende Schaar von Nachbetern
hervorzubringen, und Michel' Angelo weiſ¬
ſagte dies von ſich ſelber, wie es nachmals
zutraf. Ein Original ſchwingt ſich mit ei¬
nem kühnen Sprunge auf einmal bis an die
Gränze des Kunſtgebiets, ſteht kühn und
feſt da, und zeigt das Außerordentliche und
Wundervolle. Es giebt aber für den blöden
Geiſt des Menſchen faſt nichts Außerordent¬
liches und Wundervolles, an deſſen Gränze
nicht ganz nahe Thorheit und Abgeſchmackt¬
heit läge. Die jämmerlichen Nachbeter, de¬
nen die eigene Kraft zum feſten Stande
mangelt, irren blind umher, und was ſie
nachbilden, iſt, wenn es mehr als ſchwaches
Schattenbild ſeyn ſoll, verzerrte Übertrei¬
bung.


Die[177]

Die Zeit des Michel' Angelo, die An¬
fangs-Epoche der italieniſchen Mahlerey, iſt
überhaupt allein das Zeitalter der Mahler¬
originale. Wer mahlte vor Correggio, wie
Correggio? vor Raphael, wie Raphael? —
Allein es iſt, als wenn die allzufreygebige
Natur in dieſer Zeit ſich an Kunſtgenie arm
geſchenkt hätte; denn die beſten ſpäteren
Meiſter, bis auf die neueſten Zeiten, haben
faſt alle kein anders Ziel gehabt, als irgend
einen der erſten Ur- und Normalkünſtler,
oder auch gar mehrere zuſammen, nachzuah¬
men, und ſind auch nicht leicht auf andre
Weiſe groß geworden, als indem ſie vor¬
trefflich nachgeahmt
haben. Selbſt der
hohe und wohlverdiente Ruhm, welchen die
Reformatorſchule der Caracci ſich erworben
hat, iſt auf kein anderes Verdienſt gegrün¬
det, als daß ſie die in Verfall gerathene
Nachahmung jener alten Ahnherren, durch
M[178] würdige Beyſpiele wieder in die Höhe brachte.
Und wen ahmten jene Ahnherren ſelber nach?
Sie ſchöpften die ganze neue Herrlichkeit aus
ſich ſelber.


[179]

Brief
jungen deutſchen Mahlers
in Rom

an ſeinen Freund in Nürnberg.

Theurer Bruder und Genoſſe,


Lange iſt es ſchon, ich weiß es wohl, daß
ich Dir nicht geſchrieben habe, ſo oft ich
auch mit inniger Liebe an Dich dachte; denn
es giebt Stunden im Leben, in denen den
beflügelten Gedanken alles Äußere zu lang¬
ſam von Statten geht, wo die Seele ſich
ſelbſt mit Vorſtellungen abarbeitet, und eben
deswegen äußerlich nichts geſchieht. Eine
ſolche Epoche habe ich jetzt erlebt, und nun,
da ich innerlich wieder etwas zur Ruhe bin,
nehme ich auch ſogleich die Feder, um Dir,
geliebter Sebaſtian, meinem wertheſten Ju¬
M 2[180] gendfreunde, zu berichten, wie es mir er¬
gangen, und was ſich mit mir zugetragen
hat.


Soll ich Dir weitläuftig ſchreiben, wie
das gelobte Land Italia beſchaffen ſey, und
mich in unzuſammenhängende Bewunderun¬
gen ergießen? Es finden da keine Worte
ihren rechten Platz, denn wie mag ich, der
Sprache ſo ganz unkundig, Dir den hellen
Himmel, die weiten paradieſiſchen Ausſich¬
ten, durch die die erquickende Luft ſpielend
ziehet, würdig darſtellen? Weiß ich doch
kaum in meinem eigenthümlichen Handwerke
Farben und Striche aufzufinden, um das,
was ich innerlich ſehe und faſſe, auf die
Leinwand hinzuzeichnen.


So verſchieden aber auch alles hier ſeyn
mag, was Himmel und Erde betrifft, ſo läßt
es ſich doch noch eher ahnden und glauben,
als dasjenige, was ich Dir von der Kunſt
[181] zu ſagen habe. Ihr mögt da in Deutſch¬
land fleißig zuſammen mahlen, lieber Seba¬
ſtian, Du und unſer überaus theurer Lehrer
Albrecht Dürer; aber wenn ihr hieher plötz¬
lich verſchlagen würdet, ſo würdet ihr wahr¬
lich wie zwey Geſtorbene ſeyn, die ſich im
Himmel noch nicht zurecht zu finden wiſ¬
ſen. Da ſeh' ich in Gedanken den künſtlichen
Meiſter Albrecht auf ſeinem Schemel ſitzen,
und mit einer kindiſchen, faſt rührenden Äm¬
ſigkeit an einem feinen Stückchen Holze
ſchnitzeln, wie er die Erfindung und Aus¬
führung wohl überlegt, und das angefan¬
gene Kunſtſtück zu wiederhohlten Mahlen be¬
trachtet; ich ſehe ſeine weite ausgetäfelte
Stube und die runden Scheiben, [und] Dich
mit dem unermüdlichen getreuen Fleiße vor
einer Kopey, und wie die jüngern Schüler
ab- und zugehen, und der alte Meiſter Dü¬
rer manches kluge und manches luſtige Wort
[182] fallen läßt; dann ſehe ich unſre Hausfrau
hereintreten, oder den wohlberedten Wili¬
bald Pirkheimer, der die Gemählde und
Zeichnungen betrachtet, und mit Albrecht ei¬
nen lebhaften Diſput anfängt; — und wenn
ich mir dies alles eigentlich in meinen Ge¬
danken vorſtelle, ſo kann ich ordentlich nicht
recht begreifen, wie ich hieher gekommen bin,
und wie hier alles ſo anders iſt.


Erinnerſt Du Dich noch der Zeit, als
wir zuerſt bey unſerm Meiſter in die Lehre
gegeben wurden, und wir es gar nicht be¬
greifen konnten, daß aus den Farben, die
wir rieben, ein Geſicht oder ein Baum her¬
vorgehen ſollte? Mit welchem Erſtaunen
betrachteten wir dann den Meiſter Albrecht,
der immer alles ſo wohl anzuwenden wußte,
und nie über die Ausführung ſeiner größten
Sachen in Verlegenheit kam! Ich war oft
wie im Traum, wenn ich aus der Mahler¬
[183] ſtube ging, um ihm Wein oder Brot einzu¬
kaufen, und ich meynte ſogar in manchen
Stunden, wenn alle die übrigen unkünſt¬
lichen Menſchen, Handwerker oder Bauern,
an mir vorübergingen, er müſſe wohl gar
ein Zauberer ſeyn, daß ſich das Lebloſe ſo
auf ſeinen Ruf zurechtfinde, und gleichſam
lebendig werde.


Aber was würde ich erſt geſagt oder ge¬
fühlt haben, hätte man mir damals die ver¬
klärten Angeſichter Raphaels vor die kindi¬
ſchen Augen gehalten? Ach, lieber Seba¬
ſtian, wenn ich ſie verſtanden hätte, ſo wäre
ich gewiß in meine Kniee geſunken, und
hätte meine ganze junge Seele in Andacht,
Thränen und Anbetung aufgelöſt; denn bey
unſerm großen Dürer findet man doch noch
das Irdiſche heraus, man begreift es doch,
wie ein künſtlicher und wohlgeübter Mann
auf dieſe Geſichter und Erfindungen verfal¬
[184] len konnte; — wenn wir recht mit den Au¬
gen in das Gemählde einwurzeln, ſo können
wir faſt die gefärbten Figuren wieder ver¬
treiben, und das leere, einfache Bret darun¬
ter entdecken: — aber bey dieſem Meiſter,
mein Theurer, iſt alles ſo wunderbar einge¬
richtet, daß Du ganz vergiſſeſt, daß es Far¬
ben und eine Mahlerkunſt giebt, und Dich
nur innerlich vor den himmliſchen, und doch
ſo herz-menſchlichen Geſtalten mit der wärm¬
ſten Liebe demüthigſt, und ihnen Dein Herz
und Deine Seele zueigneſt. — Glaube nicht,
daß ich aus jugendlichem Eifer übertreibe;
Du kannſt es Dir nicht vorſtellen und nicht
faſſen, wenn Du nicht ſelber kommſt und
ſiehſt.


Überhaupt, lieber Sebaſtian, iſt dieſe Er¬
de durch die Kunſt ein gar herrlicher und
lieblicher Aufenthalt; ich habe es erſt jetzt
empfunden, wie ein unſichtbares Weſen in
[185] unſerm Herzen wohnt, das allgewaltig von
den großen Kunſtwerken angezogen wird. —
Und wenn ich Dir alles geſtehen ſoll, mein
theurer Jugendfreund, (wie ich es denn muß,
denn ich fühle mich mit Gewalt dazu hinge¬
zogen,) ſo liebe ich jetzt ein Mädchen, die
meinem Herzen über alles geht, und ich
werde von ihr wieder geliebt. Mein Sinn
taumelt alſo in einem ewigen Frühlingsglanze
umher, und ich möchte in manchen Stunden
des Entzückens ſagen, daß die Welt und die
Sonne des Himmels ihren Glanz von mir
erborgten, wenn es nicht zu frech wäre, ſeine
Freude auf dieſe Art ausſprechen zu wollen.
Mit inniger Rührung habe ich ſeit lange
ihre Züge in den beſten Gemählden aufge¬
ſucht, und ſie immer bey meinen liebſten
Meiſtern gefunden. Ich bin mit ihr verlobt,
und in wenigen Tagen werden wir unſre
Hochzeit feyern; Du ſiehſt alſo, daß ich nicht
[186] Luſt habe nach unſerm Deutſchlande zurück¬
zukehren, ich hoffe Dich aber bald hier in
Rom zu umarmen.


Beſchreiben kann ich Dir es nicht, wie
Mariens Herz immer um das Wohl meiner
Seele beſorgt war, als ſie hörte, daß auch
ich der neuen Lehre zugethan ſey. Sie bat
mich oft inbrünſtig, zum alten, wahren Glau¬
ben zurückzukehren, und ihre liebevollen Re¬
den brachten oft meine ganze Phantaſie, und
alles, was ich für meine Überzeugungen hielt,
in Unordnung. — Von dem, was ich Dir
nun ſchreiben werde, ſage nichts unſerm viel¬
geliebten Meiſter Dürer; denn ich weiß, daß
es nur ſein Herz kränken würde, und es
könnte doch weder mir noch ihm weiter
fruchten.


Ich ging neulich in die Rotonda, weil
ein großes Feſt war, und eine prächtige la¬
teiniſche Muſik ſollte aufgeführt werden, oder
[187] eigentlich anfangs nur um meine Geliebte
dort unter der betenden Menge wieder zu
ſehen, und mich an ihrer himmliſchen An¬
dacht zu beſſern. Der herrliche Tempel, die
wimmelnde Menge Volks, die nach und nach
hereindrang, und mich immer enger umgab, die
glänzenden Vorbereitungen, das alles ſtimmte
mein Gemüth zu einer wunderbaren Auf¬
merkſamkeit. Mir war ſehr feyerlich zu Mu¬
the, und wenn ich auch, wie es einem bey
ſolchem Getümmel zu gehen pflegt, nichts
deutlich und hell dachte, ſo wühlte es doch
auf eine ſo ſeltſame Art in meinem Innern,
als wenn auch in mir ſelber etwas Beſonde¬
res vorgehen ſollte. Auf einmal ward alles
ſtiller, und über uns hub die allmächtige
Muſik, in langſamen, vollen, gedehnten Zü¬
gen an, als wenn ein unſichtbarer Wind
über unſern Häuptern wehte: ſie wälzte ſich
in immer größeren Wogen fort, wie ein
[188] Meer, und die Töne zogen meine Seele
ganz aus ihrem Körper heraus. Mein Herz
klopfte, und ich fühlte eine mächtige Sehn¬
ſucht nach etwas Großem und Erhabenen,
was ich umfangen könnte. Der volle latei¬
niſche Geſang, der ſich ſteigend und fallend
durch die ſchwellenden Töne der Muſik durch¬
drängte, gleich wie Schiffe, die durch Wel¬
len des Meeres ſeegeln, hob mein Gemüth
immer höher empor. Und indem die Muſik
auf dieſe Weiſe mein ganzes Weſen durch¬
drungen hatte, und alle meine Adern durch¬
lief, — da hob ich meinen in mich gekehr¬
ten Blick, und ſah um mich her, — und der
ganze Tempel ward lebendig vor meinen Au¬
gen, ſo trunken hatte mich die Muſik ge¬
macht. In dem Moment hörte ſie auf,
ein Pater trat vor den Hochaltar, erhob
mit einer begeiſterten Gebehrde die Hoſtie,
und zeigte ſie allem Volke, — und alles
[189] Volk ſank in die Kniee, und Poſaunen, und
ich weiß ſelbſt nicht was für allmächtige
Töne, ſchmetterten und dröhnten eine erha¬
bene Andacht durch alles Gebein. Alles,
dicht um mich herum, ſank nieder, und eine
geheime, wunderbare Macht zog auch mich
unwiderſtehlich zu Boden, und ich hätte mich
mit aller Gewalt nicht aufrecht erhalten kön¬
nen. Und wie ich nun mit gebeugtem Haupte
kniete, und mein Herz in der Bruſt flog,
da hob eine unbekannte Macht meinen Blick
wieder; ich ſah um mich her, und es kam
mir ganz deutlich vor, als wenn alle die
Katholiken, Männer und Weiber, die auf
den Knieen lagen, und, den Blick bald in
ſich gekehrt, bald auf den Himmel gerichtet,
ſich inbrünſtig kreuzten, und ſich vor die
Bruſt ſchlugen und die betenden Lippen rühr¬
ten, als wenn alle um meiner Seelen Se¬
ligkeit zu dem Vater im Himmel beteten,

[190] als wenn alle die Hunderte um mich herum
um den einen Verlorenen in ihrer Mitte
flehten, und mich in ihrer ſtillen Andacht
mit unwiderſtehlicher Gewalt zu ihrem Glau¬
ben hinüberzögen. Da ſah ich ſeitwärts nach
Marien hin, ihr Blick begegnete dem meini¬
gen, und ich ſah eine große, heilige Thräne
aus ihrem blauen Auge dringen. Ich wußte
nicht wie mir war, ich konnte ihren Blick
nicht aushalten, ich wandte den Kopf ſeit¬
wärts, mein Auge traf auf einen Altar, und
ein Gemählde Chriſti am Kreuze ſah mich
mit unausſprechlicher Wehmuth an, — und
die mächtigen Säulen des Tempels erhoben
ſich anbetungswürdig, wie Apoſtel und Hei¬
lige, vor meinen Augen, und ſchauten mit
ihren Kapitälern voll Hoheit auf mich her¬
ab, — und das unendliche Kuppelgewölbe
beugte ſich wie der allumfaſſende Himmel
[191] über mir her, und ſegnete meine frommen
Entſchließungen ein.


Ich konnte nach der geendigten Feyer¬
lichkeit den Tempel nicht verlaſſen; ich warf
mich in einer Ecke nieder und weinte, und
ging dann mit zerknirſchtem Herzen vor al¬
len Heiligen, vor allen Gemählden vorüber,
und es war mir, als dürfte ich ſie nun erſt
recht betrachten und verehren.


Ich konnte der Gewalt in mir nicht wi¬
derſtehen: — ich bin nun, theurer Sebaſtian,
zu jenem Glauben hinübergetreten, und ich
fühle mein Herz froh und leicht. Die Kunſt
hat mich allmächtig hinübergezogen, und
ich darf wohl ſagen, daß ich nun erſt die
Kunſt ſo recht verſtehe und innerlich faſſe.
Kannſt Du es nennen, was mich ſo ver¬
wandelt, was wie mit Engelsſtimmen in
meine Seele hineingeredet hat, ſo gieb ihm
einen Namen, und belehre mich über mich
[192] ſelbſt; ich folgte bloß meinem innerlichen
Geiſte, meinem Blute, von dem mir jetzt
jeder Tropfen geläuterter vorkömmt.


Ach! glaubte ich denn nicht ſchon ehe¬
mals die heiligen Geſchichten und die Wun¬
derwerke, die uns unbegreiflich ſcheinen?
Kannſt Du ein hohes Bild recht verſtehen,
und mit heiliger Andacht es betrachten, ohne
in dieſem Momente die Darſtellung zu glau¬
ben
? Und was iſt es denn nun mehr, wenn
dieſe Poeſie der göttlichen Kunſt bey mir
länger wirkt?


Dein Herz wird ſich dem meinigen gewiß
nicht abwenden, das iſt nicht möglich, Se¬
baſtian, und ſo laß uns denn zu demſelben
Gotte beten, daß er unſer Gemüth hin¬
führo immer mehr erleuchte, und die wahre
Frömmigkeit auf uns herniedergieße: nicht
wahr, Freund meiner Jugend, das übrige
ſoll und kann uns nicht trennen?


Lebe[193]

Lebe recht wohl, und grüße herzlich un¬
ſern Meiſter. Wenn Du auch nicht meiner
Meynung biſt, wird Dir dieſer Brief doch
gewiß Freude machen, denn Du erfährſt daß
ich glücklich bin.


N[194]

Die Bildniſſe der Mahler.

Die Muſe tritt mit einem jungen Künſtler
in den Gemähldeſaal.


Die Muſe.

Wandle hier mit ſtillem, heiterm Ernſte,

Freundlich beygeſellt den großen Meiſtern,

Die mit Liebe deinen Buſen füllen:

Ruhe hier, nach ihren theuren Werken,

Im Beſchauen ihrer Häupter aus.

Der Jüngling.

Wie fühl' ich mich hingezogen!

Wie pocht mein Herz

Den ſüßen, labenden Blicken entgegen!

Ach! wie demüthigt ihr mich,

Daß ihr alle ſo ernſt nach mir,

Wie nach Einem Mittelpunkte ſchaut.

Wie fühl' ich mich verwandt zu euch,

Und wie entfremdet!
[195]
Kühn möcht' ich jetzt den Pinſel faſſen,

Und herrliche, große Geſtalten

Mit feſter Hand, mit dreiſten Farben zeichnen: —

Und dennoch wag' ich's kaum

Den großen Ahnherrn hier ins Angeſicht zu blicken.

Wie unter Geiſtern bin ich feſtgebannt, —

Und wunderbare Lichter fallen

Von allen Bildern hier

In meinen dämmernden, ahndungsvollen Sinn. —

Wie nannte ſich dieſer Greis,

Der mit freundlichen Blicken

Gedankenſchwer in ſeiner eignen Größe ruht?

Die Muſe.

Dieſe theuren langen Silberhaare,

Die ſo ſchön ins Haar des Bartes fallen,

Zierten einſt den alten weiſen Mahler

Aus Toscana, meinen Leonardo,

Der die große Schule dort gegründet.

Der Jüngling.

Geprieſen ſey die Hand, die uns dies theure Haupt

In ämſ'ger Arbeit aufbewahrt.
N 2[196]
Er iſt's! ich ſeh' ihn, wie er ſinnt,

Und freundlich in die große weite Natur ſchaut,

Und wie er raſtlos wieder

Nach neuer Erkenntniß trachtet. —

Doch wer iſt dieſer Mann,

In Blick und Stellung ihm faſt ähnlich,

Doch ernſt, und tiefer in ſich ſelbſt verſchloſſen.

Die Muſe.

Albrecht Dürer, der ſich mir ergeben,

Heilig betend ſich an mich gedränget,

Als im fernen wüſten Norden keiner,

Mich und meine Kunſt geachtet: fromm und

Einfach war ſein Wandel, Kindern ähnlich.

Wie er ſelbſt, ſind alle ſeine Bilder.

Der Jüngling.

Ja, ich erkenne den ſtillen Fleiß,

Die heilige Demuth des Hochbelobten,

Die innere Arbeit des thätigen Geiſtes. —

Doch deute mir den Namen dieſes,
[197]
Vor deſſen wildem Blick ich heimlich im Innern

Zuſammenſchaudre, wenn ihn mein Auge trifft!

Die Muſe.

Dieſer iſt der Stolz des Vaterlandes,

Schönſtes Kleinod von Toscana; — Staunen

Seiner Nachwelt: ſieh' die Kraft des großen

Michel' Angelo Buonarotti.

Der Jüngling.

Ha! der Gewaltige, ſtark wie ein Löwe!

Der mit Erhabenheiten, mit dem Grauſen ſpielte. —

Aber die Sehnſucht drängt mich fern und ferner, —

Raſtlos irr' ich mit meinem Blick umher,

Und immer find' ich nicht was ich ſuche.

Keine Stirn iſt edel und ſo begeiſtert,

Kein Auge ernſt genug und tief erforſchend: —

Abſeits und einſam, mit langem Barte,

Wunderbarem Heiligenſchein um graue Locken,

Hängt vielleicht der göttliche Raphael.
[198]

Die Muſe.

Dieſer Jüngling hier war Raphael.

Der Jüngling.

Dieſer Jüngling? — Unerforſchlich, Gott!

Sind Deine Wege,

Unerforſchlich die tiefen Wunder der Kunſt!

Dieſes heitre, unbefangne Auge

Sah auf ſelbſterſchaffne Chriſtusbilder,

Madonnen, Heilige und Apoſtel,

Und alte Weiſen, und wilde Schlachten! —

Ach! er ſcheint nicht älter als ich ſelber.

Über kleine frohe Spiele ſcheint er ſinnend,

Und das Sinnen wieder ſcheint ihm Spiel.

Wie ich mich ihm ſo nah, ach! ſo vertraulich fühle!

Wie kein Ernſt, kein hoher Greiſesſtolz

Mich Armen rückwärts hält, — wie ich ihm an die

Bruſt

Mit Weinen ſinken möchte, und in Freude vergehn!

Ach! er würde mich gern in ſeine Arme nehmen,

Und freundlich mich über meine Bewunderung,

Über mein Glück zu tröſten ſuchen. —
[199]
Nein, ich laſſe den Thränen ihren Lauf; —

In der ſchönſten Bildung hat ſich in dir

Die himmliſche Kunſt den Menſchenkindern offen¬

bart. —
[200]

Die Mahlerchronik.

Als ich in meiner Jugend mit unruhigem
Geiſte hier und dort umherzog, und überall
begierig aufſchaute, wo von Kunſtſachen et¬
was zu ſehen war, befand ich mich auch
einmal auf einem fremden gräflichen Schloſ¬
ſe, wo ich drey Tage lang mich an den vie¬
len Gemählden nicht ſatt ſehen konnte. Ich
wollte ſie alle auswendig lernen, und er¬
hitzte mein Blut dabey ſo ſehr, daß mir die
tauſend mannigfaltigen Bilder den Kopf ganz
verwirrten. Am dritten Tage kam ein alter
Mann, ein reiſender italieniſcher Pater im
Schloſſe an, deſſen Namen ich bis auf dieſe
Stunde nicht erfahren habe; auch habe ich
ſeit dem Tage nie wieder von ihm gehört.
Er war ein grundgelehrter Mann, und hatte
ſo viel Dinge in ſeinem Kopfe, daß ich er¬
[201] ſtaunen mußte; im Äußern glich er einem
Weltweiſen aus dem ſechszehnten Jahrhun¬
dert. Obwohl ich nun noch ſo jung war,
ließ er ſich doch gar freundlich ins Geſpräch
mit mir ein, (denn er mußte irgend etwas,
das ihm gefiel, an mir finden,) und ging
mit mir den ganzen Tag in den Bilderſälen
umher.


Da er meinen großen Eifer in Betrach¬
tung der Gemählde wahrnahm, fragte er
mich: Ob ich denn auch die Meiſter zu nen¬
nen wüßte, welche dieſes und jenes Stück
gemacht hätten? Ich antwortete, daß ich
die berühmteſten wohl kennte. Darauf fragte
er mich wieder: Ob ich denn nicht mehr von
ihnen wüßte, als die Namen? Wie er
merkte, daß ich wirklich nicht viel mehr
wußte, nahm er das Wort, und ſprach zu
mir:


»Du haſt bisher die ſchönen Bilder an¬
[202] geſtaunt, mein lieber Sohn, als wären es
Wunderwerke, vom Himmel auf die Erde
heruntergefallen. Aber bedenke, daß dies
Alles Werk von Menſchenhänden iſt, — daß
manche Künſtler ſchon in Deinen Jahren ganz
vortreffliche Sachen zu Stande brachten.
Was meynſt Du nun? Sollteſt Du nicht
Luſt empfinden, von den Männern, welche
ſich in der Mahlerey hervorgethan haben,
etwas mehreres zu erfahren? Es giebt uns
wunderbare Gedanken ein, wenn wir be¬
trachten, wie ihre Werke in immer gleicher
ewiger Herrlichkeit glänzen; die Schöpfer
dieſer Werke aber, im Leben und Sterben,
Menſchen wie wir andre geweſen ſind, in
denen nur, ſo lange ſie lebten, ein beſondres
himmliſches Feuer brannte. Dergleichen Be¬
trachtungen verſetzen uns in eine wehmüthige
und träumeriſche Stimmung, in welcher im¬
mer allerhand gute Ideen uns vorüberzuzie¬
hen pflegen.«
[203] Ich erinnere mich der Worte des lieben,
redſeligen alten Mannes noch ſehr genau,
und mit dem herzlichſten Vergnügen; drum
will ich noch mehr davon aufzuzeichnen
ſuchen.


Er fuhr, wie er ſah, daß ich ſtill und
begierig zuhörte, ungefähr alſo fort:


»Ich habe mit Freude bemerkt, mein
Sohn, daß Dein Gemüth ſehr zu dem vor¬
trefflichen Raphael hinhängt. Wenn Du
nun vor einem recht herrlichen Bilde ſeiner
Hände da ſtehſt, jeden ſeiner Pinſelſtriche
mit Ehrfurcht betrachteſt, und denkſt: Hätt'
ich den heiligen Mann doch im Leben ge¬
ſehn! wie hätt' ich ihn anbeten wollen! —
und nun hörteſt Du dabey die alten Lebens¬
beſchreiber der Mahler folgendermaßen von
ihm erzählen: — Dieſer Raphael Sanzio
war das einzige Kind ſeiner Ältern; herzlich
liebte ihn der Vater, und wollte ausdrück¬
[204] lich, daß ihn die Mutter mit eigener Milch
groß ſäugte, damit er nicht unter die gemei¬
nen Leute käme; und da er heran wuchs,
half er als ein zarter Knabe dem Vater bey
der Arbeit, und der Vater war froh, daß er
ſeine Sachen ſo gut machte; um ihn aber
was rechtes lernen zu laſſen, nahm er Ab¬
rede mit Meiſter Pietro von Perugia, daß
er ihn in die Lehre nähme, und führte ihn
ſelber mit großen Freuden nach Perugia hin,
wo Pietro den Knaben gar freundlich auf¬
nahm; aber die Mutter hatte beym Abſchied
viel Thränen vergoſſen, und konnte ſich
kaum von dem Kinde losreißen, denn auch
ſie liebte es herzinniglich: — — ſage mir,
wie wird Dir zu Muth, wenn Du das an¬
hörſt? Iſt Dir nicht lieblich und wohl da¬
bey, dieſe Dinge zu vernehmen? — — Und
dies war eben derſelbe Menſch, der nach
kurzen ſieben und dreyßig Jahren, von aller
[205] Welt betrauert, kalt und bleich im Sarge
lag. — Der Leichnam lag in ſeinem Ar¬
beitszimmer, und ein köſtliches Leichengedicht,
das göttliche Gemählde von der Transfigu¬
ration, ſtand neben dem Sarge auf der
Stafeley. — Dies Gemählde, worin wir
noch jetzt das Elend der Erde, den Troſt ed¬
ler Männer, und die Glorie des Himmel¬
reichs in ſo herrlicher Vereinigung dargeſtellt
ſehn, — und der Meiſter, von dem es er¬
dacht und ausgeführt war, kalt und bleich
daneben.« —


Mich reizten dieſe Sachen außerordent¬
lich, und ich bat den fremden Mann, mir
noch mehr von Raphael zu erzählen.


»Das ſchönſte, was ich Dir von ihm ſa¬
gen kann,« antwortete er, »iſt, daß er als
Menſch eben ſo edel und liebenswürdig war,
wie als Künſtler. Er hatte nichts von dem
finſtern und ſtolzen Weſen anderer Künſtler,
[206] welche manchmal mit Fleiß allerhand Selt¬
ſamkeiten annehmen; ſein ganzes Leben und
Weben auf Erden war einfach, ſanft und
heiter, wie ein fließender Bach. Seine Ge¬
fälligkeit ging ſo weit, daß wenn fremde,
auch ganz unbekannte Mahler ihn um Zeich¬
nungen von ſeiner Hand erſuchten, er ſeine
Arbeit liegen ließ, und ſie zuerſt befriedigte.
So half er ſehr vielen aus, und belehrte ſie
wie ein Vater, höchſt liebreich. Seine Vor¬
trefflichkeit in der Kunſt verſammelte eine
Menge Mahler um ihn her, die ſich beei¬
ferten ſeine Schüler zu ſeyn, obwohl ſie den
Lehrjahren ſelber zum Theil ſchon entwach¬
ſen waren. Sie begleiteten ihn, wenn er
an den Hof ging, aus ſeinem Hauſe, und
machten ein großes Gefolge aus. So viele
Mahler von verſchiedenen Sinnen aber hät¬
ten gewiß nicht ohne Uneinigkeit und Zwie¬
tracht mit einander gelebt, hätte nicht der
[207] Geiſt ihres großen Meiſters auf eine zauber¬
hafte Weiſe ſie wie eine Sonne des Frie¬
dens beſchienen, und alle Flecken von ihrer
Seele getilgt. So wurden ſie von ſeinem
Geiſte, wie von ſeinem Pinſel beſiegt. —
Noch findet ſich in dem Leben Raphaels eine
ſchöne Wundergeſchichte, und das iſt dieſe.
Er mahlte einen vortrefflichen kreuztragen¬
den Chriſtus mit vielen Figuren, welcher
für ein Kloſter in Palermo beſtimmt war.
Aber das Schiff, worin das Bild hinge¬
bracht werden ſollte, litt heftigen Sturm
und Schiffbruch; Menſchen und Waaren
gingen zu Grunde; — nur dies Gemählde, —
es war eine beſondere Fügung der Vor¬
ſicht, — dies Gemählde ward von freund¬
lichen Wellen bis in den Hafen von Genua
getragen, wo man es völlig unverſehrt aus
ſeinem Kaſten herausnahm. Alſo bewie¬
ſen ſelbſt die wilden Elemente dem heiligen
[208] Manne ihre Ehrfurcht. Es ward darauf
nach Palermo gebracht, und iſt dort, wie
der alte Vaſari ſich ausdrückt, für ein eben
ſo großes Kleinod der Inſel Sicilien geach¬
tet, als der Berg Ätna.« —


Ich freute mich über die herrlichen Ge¬
ſchichten immer inniger, drückte dem Pater
die Hände, und fragte ſehr begierig: Aber
woher habt Ihr alle dieſe Sachen erfahren?


»Wiſſe, mein Sohn,« antwortete er, »es
haben mehrere verdiente Männer Chroniken
der Kunſtgeſchichte geführt, und die Leben
der Mahler ausführlich beſchrieben, von de¬
nen der älteſte, und zugleich wohl der vor¬
nehmſte, Giorgio Vaſari mit Namen
heißt. Wenige leſen dieſe Bücher heutiges
Tages, obwohl viel Geiſt und Menſchen¬
weisheit darinnen verborgen liegt. Bedenk'
einmal, was es ſchön iſt, die Männer, die
Du nach ihrer verſchiedenen Art den Pinſel
zu[209] zu führen kenneſt, nun auch nach ihren ver¬
ſchiedenen Charaktern und Sitten kennen zu
lernen. Beydes fließt Dir dann in ein
Bild zuſammen: und wenn Du die mit ganz
trockenen Worten erzählten Geſchichten mit
dem rechten, innigen Gefühle faſſeſt, ſo
wird eine herrliche Erſcheinung, nämlich der
Künſtlercharakter
vor Dir aufſteigen,
der, wie er ſich ſo mannigfaltig in den tau¬
ſend verſchiedenen einzelnen Menſchen zeigt,
Dir ein ganz neues, liebliches Schauſpiel
gewähren wird. Jeder Charakter wird Dir
ein eigenes Gemählde ſeyn, und Du wirſt
eine herrliche Gallerie von Bildniſſen zum
Spiegel Deines Geiſtes um Dich her ver¬
ſammelt haben.«


Dies verſtand ich damals noch nicht recht,
wiewohl es nachher, nachdem ich die gedach¬
ten Bücher geleſen habe, ganz meine eigene
Meynung geworden iſt. — Indeſſen lag ich
O[210] dem guten alten Pater ſehr dringend an,
mir immer noch mehr ſchöne Geſchichten aus
der Mahlerchronika zu erzählen. »Ich will
mich beſinnen,« ſagte er mit lächelndem
Munde, »ich rede gern von den alten Mah¬
lergeſchichten.« Und nun erzählte er mir
fürwahr eine ganze Menge der ſchönſten Hi¬
ſtorien; denn er hatte alle Bücher, die je
von der Kunſt geſchrieben ſind, oftmals ge¬
leſen, und wußte das Beſte daraus im Kopfe.
Mir waren ſeine Erzählungen ſo eindring¬
lich, daß ich ſie faſt noch mit ſeinen Worten
bis jetzt behalten habe, und ich will ein
Theil davon zur Luſt wieder erzählen.


Als wir in dem Bilderſaal, wo wir uns
befanden, auf ein Gemählde von dem vor¬
trefflichen Domenichino trafen, ſagte er
mir, daß dieſer Mahler ein merkwürdiges
Beyſpiel von einem heißen Eifer in der
Kunſt abgebe, und fuhr, um dies zu bewei¬
ſen, alſo fort:
[211] »Ehe dieſer Meiſter ein Gemählde an¬
fing, dachte er eine lange Zeit vorher dar¬
über nach, und blieb wohl manchmal ganze
Tage lang allein in ſeinem Gemach, bis das
Bild in allen kleinſten Theilen vollendet vor
ſeiner Seele ſtand. Dann war er vergnügt,
und ſagte: nun iſt die Hälfte der Arbeit ge¬
than. Und hatte er einmal zum Pinſel ge¬
griffen, ſo blieb er wieder den ganzen Tag
bey der Stafeley angeheftet, und mochte
ſich kaum ein paar Minuten zum Eſſen ab¬
brechen. Er mahlte mit größtem Fleiß und
Vollendung, und überall legte er tiefen Aus¬
druck hin. Als einer ihn einmal bereden
wollte, ſich nicht ſo abzuquälen, ſondern die
leichtere Manier anderer Mahler zu ergrei¬
fen, antwortete er ganz kurz: Ich arbeite
bloß für mich, und die Vollkommenheit der
Kunſt. Er konnte nicht begreifen, wie an¬
dre Mahler die größten und wichtigſten
O 2[212] Sachen mit ſo weniger Theilnahme arbeiten
mochten, daß ſie während des Mahlens im¬
merfort mit ihren Bekannten ſchwatzen konn¬
ten. Drum hielt er dieſe auch für bloße
Handarbeiter, die das innere Heiligthum der
Kunſt nicht kennten. Er ſelber war, wenn
er mahlte, immer mit ſo lebendiger Seele
in ſeinem Gegenſtande drinnen, daß er in
ſich ſelbſt die Empfindungen und Affekten
fühlte, die er vorſtellen wollte, und ſich un¬
willkührlich darnach gebehrdete. Manchmal,
wenn er eine trauernde Figur im Sinn hatte,
hörte man ihn in ſeinem Arbeitszimmer mit
unterdrückter, ächzender Stimme wehklagen;
oder wenn es ein freudiges Geſicht ſeyn
ſollte, ſo war er munter, und ſprach lebhaft
mit ſich allein. Er mahlte darum in einem
abgelegenen Gemach, und ließ keinen, auch
von ſeinen Schülern nicht, hinzu, um nicht
in ſeinen Entzückungen geſtört, und für när¬
[213] riſch verlacht zu werden. In ſeinen jüngern
Jahren war er auch einmal in ſo einer ent¬
zückten Stunde, als ſich ein recht rührendes
Schauſpiel ereignete. Der vortreffliche An¬
nibale Caracci kam eben, ihn zu beſuchen:
wie er aber die Thür öffnete, ſah er ihn
ganz aufgebracht vor der Stafeley ſtehn,
voller Wuth und Zorn, und mit einer dro¬
henden Gebehrde. Er blieb ſtill an der Thür,
und ward gewahr, daß ſein Freund bey dem
Bilde von der Marter des heiligen Andreas
beſchäftigt war, und eben einen trotzigen
Kriegsknecht mahlte, der dem Apoſtel droht.
Mit inniger Freude und Verwunderung ſah
er ihm eine ganze Zeitlang zu, und regte
ſich nicht; — aber endlich konnte er ſich nicht
länger halten: — »Ich danke Dir!« rief er
aus, ſtürzte auf ihn zu, und fiel ihm mit
klopfendem Herzen um den Hals.« —


»Dieſer Annibale Caracci war ſelbſt
[214] ein gar herrlicher, kräftiger Mann, der die
ſtumme Größe der Kunſt recht inniglich
fühlte, und es beſſer achtete, ſelber große
Werke hervorzubringen, als mit zierlichen,
leichten Worten um große Werke der Kunſt
herumzuſpielen. Sein Bruder Agoſtino
dagegen war, neben ſeiner Kunſt, ein feiner
Weltmann, ein Litteratus und Sonnetten¬
dichter, der über Kunſtſachen gern viel Worte
machte. Als nun beyde von Rom zurückge¬
kommen waren, und wieder in ihrer Akade¬
mie in Bologna ſaßen und arbeiteten, fing
dieſer Agoſtino einſtmals an, die merkwür¬
dige antike Gruppe des Laokoon gar weit¬
läuftig zu beſchreiben, und alle die einzelnen
Schönheiten mit gar zierlichen Reden her¬
auszuſtreichen. Wie nun ſein Bruder Anni¬
bale ganz kalt und träumeriſch daneben ſtand,
als wenn er es nicht verſtände, ward jener
ungehalten, und fragte: ob er denn nichts
[215] davon fühlte? Das verdroß ihn innerlich;
ſtillſchweigend nahm er eine Kohle, ging an
die Wand, und zeichnete ſchnell aus dem
Kopf die ganze Gruppe vom Laokoon den
Umriſſen nach ſo treu und richtig hin, daß
man ſie vor Augen zu ſehen glaubte. Dann
trat er lächelnd von der Wand zurück, —
alle Anweſende aber erſtaunten, und Ago¬
ſtino gab ſich für überwunden, und erkannte
ihn als den Sieger im Wettſtreit.« —


Als der fremde Mann dieſe Geſchichten
erzählt hatte, kam ich auf andre Dinge mit
ihm zu reden, und fragte ihn unter andern:
ob er nicht auch Geſchichten von Knaben
wüßte, die von früher Jugend an einen
beſondern Hang zur Mahlerkunſt gehabt
hätten?


»O ja,« ſagte der fremde Mann lächelnd,
»es wird uns von mehreren Knaben berich¬
tet, die in ganz ſchlechtem Stande gebohren
[216] und erzogen, und daraus gleichſam vom
Himmel zur Mahlerkunſt berufen wurden.
Davon fallen mir mehrere Exempel ein.
Gleich einer der allerälteſten Mahler von
Italien, Giotto, war in der Jugend nichts
weiter als ein Hirtenjunge, der die Schafe
hütete. Er hatte ſeine Freude daran, ſeine
Schafe auf Steinen oder im Sande abzu¬
zeichnen; dabey betraf ihn einmal Cimabue,
der Urvater aller Mahler, und nahm ihn
mit ſich, da der Knabe denn bald ſeinen
Lehrmeiſter überſah. Wenn ich nicht irre, ſo
werden uns ganz ähnliche Geſchichten vom
Domenico Beccafumi, und auch von
dem geſchickten Bildhauer Contucci er¬
zählt, der als Knabe das Vieh, das er wei¬
den mußte, in Thon nachbildete. So war
auch der bekannte Polidoro da Cara¬
vaggio
anfangs weiter nichts, als ein Bur¬
ſche, der den Maurern am Vatikan den
[217] Mörtel zutrug; dabey aber ſah er den Schü¬
lern Raphaels, die eben dort arbeiteten,
fleißig zu, bekam eine unwiderſtehliche Luſt
zum Mahlen, und lernte gar ſchnell und
eifrig. — Ja, es fällt mir noch ein ſehr ar¬
tiges Exempel ins Gedächtniß, von dem al¬
ten franzöſiſchen Mahler Jacob Callot;
der hatte als Knabe viel von den herrlichen
Sachen in Italien reden hören, und bekam,
da er das Zeichnen über alles liebte, eine
Wuth das herrliche Land zu ſehn. Als ein
Knabe von eilf Jahren lief er heimlich dem
Vater fort, ohne einen Kreuzer Geld in der
Taſche, und wollte geradesweges nach Rom.
Er mußte ſich bald aufs Betteln legen, und
wie er auf ſeinem Wege einen Trupp Zi¬
geuner antraf, ſchlug er ſich dazu, und wan¬
derte mit ihnen bis Florenz, wo er wirklich
bey einem Mahler in die Lehre kam. Dann
ging er nach Rom; hier aber ſahen ihn fran¬
[218] zöſiſche Kaufleute aus ſeiner Vaterſtadt,
welche die Noth und Angſt der Aeltern um
ihn wußten, und ihn mit Gewalt mit ſich
zurücknahmen. Als der Vater ihn wieder
hatte, wollte er ihn zwingen, ſich fleißig an
die Studia zu halten; allein das war alles
verlorene Mühe. Im vierzehnten Jahre lief
er zum zweytenmal fort nach Italien; aber
ſein Unſtern wollte, daß er in Turin auf
der Straße ſeinem ältern Bruder begegnen
mußte, der ihn von neuem zu dem Vater
zurückſchleppte. Endlich ſah dieſer ein, daß
kein Mittel half, und gab ihm nun von
freyen Stücken die Erlaubniß, zum dritten¬
mal nach Italien zu gehn, wo er ſich denn
auch zu einem wackern Künſtler bildete. Bey
allen ſeinen jugendlichen Streifereyen war
er immer ohne Gefahr geblieben, und hatte
ſeine ganze Unſchuld der Seele behalten;
denn er mußte unter beſonderer Obhut des
[219] Himmels ſtehen. Noch iſt merkwürdig von
ihm, daß er als Knabe immer um zweyer¬
ley zu Gott betete, nämlich: daß er, er
werde was er wolle, ſich in ſeinem Thun
vor allen andern auszeichnen möchte; — und
dann, daß er nicht über drey und vierzig
Jahre alt würde. Und was wunderbar iſt,
ſo ſtarb er wirklich im drey und vierzigſten
Jahre.« —


Der alte Pater hatte dieſe Geſchichten
mit vielem Antheil erzählt. Dann ging er
ſinnend auf und nieder, und ich ſah ihm an,
daß er in angenehmen Träumen unter dem
Haufen der alten Mahler umherirrte. Ich
ließ ihn gern in ſeinen Betrachtungen, und
freute mich, daß er ſich noch auf mehr Sa¬
chen beſinnen würde, denn die Erinnerungen
ſchienen ihm immer lebendiger zu werden.
Und wirklich fing er nach einer kleinen
Weile wieder alſo an:
[220] »Da kommen mir noch ein paar ſchöne
Anekdoten ins Gedächtniß, die, auf zwie¬
fache verſchiedene Weiſe, bezeugen, was für
eine mächtige Gottheit die Kunſt für den
Künſtler iſt, und mit welcher Gewalt ſie ihn
beherrſcht. — Es war einmal ein alter Flo¬
rentiniſcher Mahler, mit Namen Mariotto
Albertinelli
, ein eifriger Künſtler, aber
ein gar unruhiger und ſinnlicher Menſch.
Er ward des unſichern und mühſeligen Stu¬
diums an den mechaniſchen Theilen der Kunſt,
und der häßlichen Feindſchaften und Verfol¬
gungen der Nebenkünſtler endlich ganz über¬
drüßig, und weil er gern gut leben mochte,
ſo entſchloß er ſich ein luſtigeres Gewerbe
zu ergreifen, und legte ein Gaſthaus an.
Herzlich vergnügt war er, wie die Sache im
Gange war, und ſagte öfters zu ſeinen
Freunden: »Seht! das iſt ein beſſer Hand¬
werk! Nun quäl' ich mich nicht mehr um
[221] die Muskeln gemahlter Menſchen, ſon¬
dern ſpeiſe und ſtärke lebendige, und,
was das beſte iſt, bin vor dem abſcheulichen
Anfeinden und Verläumden ſicher, ſo lang'
ich nur guten Wein im Faſſe habe.« — Aber
was geſchah? Wie er eine Zeitlang dies Le¬
ben geführt hatte, ſtellte ſich ihm die gött¬
liche Erhabenheit der Kunſt auf einmal wie¬
der ſo lebhaft vor Augen, daß er plötzlich
ſein Gaſthaus aufgab, und eifrig, als ein
Bekehrter, ſich der Kunſt von neuem in die
Arme warf.« —


Die andre Geſchichte iſt dieſe. Der
wohlbekannte und berühmte Parmeggiano
mahlte als ein junger Mann in Rom ſehr
vortreffliche Sachen für den Pabſt, und zwar
grade zu der Zeit, als der deutſche Kaiſer
Karl der Fünfte die Stadt belagerte. Deſ¬
ſen Truppen nun brachen in die Thore ein,
und plünderten alle Häuſer, der Großen
[222] wie der Geringen. Parmeggiano aber ach¬
tete auf nichts weniger als auf den Kriegs¬
lärm und Tumult, und blieb ruhig bey ſeiner
Arbeit. Auf einmal brechen etliche Kriegs¬
männer ins Gemach herein, und ſiehe! er
bleibt immer noch feſt und ämſig an ſeiner
Stafeley. Da erſtaunten dieſe wilden Men¬
ſchen, die ſelbſt Tempel und Altar nicht ge¬
ſchont hatten, über den großen Geiſt des
Mannes ſo ſehr, daß ſie ihn, als wär' er
ein Heiliger, nicht anzurühren wagten, und
ihn ſogar gegen die Wuth anderer beſchütz¬
ten.« —


»Wie wunderbar iſt das alles,« rief
ich; »aber nun bitt' ich euch noch um ein
einziges,« fuhr ich zu dem lieben fremden
Manne fort, — »ſagt mir, ob es wahr iſt,
was ich einſt hörte, daß die älteſten Mah¬
ler von Italien ſo gottesfürchtige Männer
geweſen ſind, und die heiligen Geſchichten
[223] immer mit rechter Gottesfurcht gemahlt ha¬
ben? Mehrere Leute, die ich darum be¬
fragte, lachten mich aus, und ſagten, das
ſey eitel Einbildung und ein artig-erfunde¬
nes Mährchen.«


»Nein, mein Sohn,« verſetzte der liebe
Mann zu meinem Troſt, »das iſt keine poe¬
tiſche Erfindung, ſondern, wie ich Dir aus
den alten Büchern bezeugen kann, die lau¬
tere Wahrheit. Dieſe ehrwürdigen Männer,
von denen mehrere ſelbſt Geiſtliche und Klo¬
ſterbrüder waren, widmeten die von Gott
empfangene Geſchicklichkeit ihrer Hand auch
bloß göttlichen und heiligen Geſchichten, und
brachten ſo einen ernſthaften und heiligen
Geiſt, und ſo eine demüthige Einfalt in ihre
Werke, wie es ſich zu geweiheten Gegen¬
ſtänden ſchickt. Sie machten die Mahlerkunſt
zur treuen Dienerinn der Religion, und
wußten nichts von dem eitlen Farbenprunk
[224] der heutigen Künſtler: ihre Bilder, in Ka¬
pellen und an Altären, gaben dem, der da¬
vor kniete und betete, die heiligſten Geſin¬
nungen ein. Einer der alten Männer, Lip¬
po Dalmaſio
, war wegen ſeiner herrlichen
Madonnen berühmt, wovon Pabſt Grego¬
rius der Dreyzehnte eine vorzügliche in ſei¬
nem Gemache zur Privatandacht bey ſich
hatte. Ein andrer, Fra Giovanni Ange¬
lico da Fieſole
, Mahler und Dominika¬
nermönch zu Florenz, war wegen ſeines
ſtrengen und gottesfürchtigen Lebens beſon¬
ders berühmt. Er kümmerte ſich gar nicht
um die Welt, ſchlug ſogar die Würde eines
Erzbiſchoffs aus, die der Pabſt ihm antrug,
und lebte immer ſtill, ruhig, demüthig und
einſam. Jedesmal, bevor er zu mahlen an¬
fing, pflegte er zu beten; dann ging er ans
Werk, und führte es aus, wie der Himmel
es ihm eingegeben hatte, ohne weiter darüber
zu[225] zu klügeln und zu kritiſiren. Das Mahlen
war ihm eine heilige Bußübung; und manch¬
mal, wenn er Chriſti Leiden am [Kreuz]
mahlte, ſah man während der Arbeit große
Thränen über ſein Geſicht fließen. — Das
Alles iſt nicht ein ſchönes Mährchen, ſon¬
dern die reine Wahrheit.« —


Den Beſchluß machte der Pater mit ei¬
ner recht ſeltſamen Geſchichte, welche eben¬
falls in jene alte Periode der religiöſen Mah¬
lerkunſt fällt.


»Einer der frühſten Mahler,« erzählte
er, »welcher uns Spinello genannt wird,
mahlte in ſeinem Alter für die Kirche S.
Agnolo zu Arezzo ein ſehr großes Altarblatt,
worauf er den Lucifer und den Sturz der
böſen Engel vorſtellte: in der Luft den En¬
gel Michael, wie er mit dem ſiebenköpfigen
Drachen kämpft, und unten den Lucifer in
der Geſtalt des ſcheußlichſten Ungeheuers.


P[226]

Von dieſer gräulichen Teufelsgeſtalt war
nun ſein Kopf ſo eingenommen, daß, wie
erzählt wird, der böſe Geiſt ihm grade ſo
geſtaltet im Traume erſchien, und ihn fürch¬
terlich fragte: warum er ihn in dieſer ſchänd¬
lichen, beſtialiſchen Bildung vorgeſtellt, und
an welchem Ort er ihn in dieſer Unform ge¬
ſehn habe? Der Mahler erwachte aus dem
Traum an allen Gliedern zitternd, — er
wollte um Hülfe rufen, und konnte vor
Schrecken keinen Laut hervorbringen. Von
der Zeit an war er immer halb von ſich,
und behielt einen ſtieren Blick; auch ſtarb er
nicht lange darauf. Das wunderbare Ge¬
mählde aber iſt noch heutiges Tages an ſei¬
ner alten Stelle zu ſehen.« — —


Der fremde Pater ging bald darauf fort,
und reiſte weiter, ohne daß ich einmal Ab¬
ſchied von ihm nehmen konnte. Mir war
wie im Traum, als ich alle die ſchönen Hi¬
[227] ſtorien gehört hatte; — ich war in eine ganz
neue, wunderbare Welt eingeführt. Begie¬
rig fragte ich überall nach, um alle die Bü¬
cher von Lebensgeſchichten der Mahler, be¬
ſonders auch das Werk des Giorgio Vaſari
zu bekommen; ich las ſie mit Liebe und Ei¬
fer, und ſiehe! ich fand in dieſen Büchern
alle die Hiſtorien aufgezeichnet, die der frem¬
de Pater erzählt hatte. Dieſer mir unver¬
geßliche Mann iſt es geweſen, der mich auf
das Studium der Künſtlergeſchichte ge¬
leitet hat, welches dem Verſtande, dem Her¬
zen und der Phantaſie ſo viel Nahrung giebt,
und ich habe ihm darum gar viele glückliche
Stunden zu verdanken.


P 2[228]

Das merkwürdige muſikaliſche Leben
des
Tonkünſtlers
Joſeph Berglinger
.

In zwey Hauptſtücken.


Erſtes Hauptſtück.

Ich habe mehrmals mein Auge rückwärts
gewandt, und die Schätze der Kunſtgeſchichte
vergangener Jahrhunderte zu meinem Ver¬
gnügen eingeſammelt; aber jetzt treibt mich
mein Gemüth, einmal bey den gegenwärti¬
gen Zeiten zu verweilen, und mich an der
Geſchichte eines Künſtlers zu verſuchen, den
ich ſeit ſeiner frühen Jugend kannte, und
der mein innigſter Freund war. Ach leider
biſt du bald von der Erde weggegangen,
mein Joſeph! und nicht ſo leicht werd' ich
[229] deinesgleichen wieder finden. Aber ich will
mich daran laben, der Geſchichte deines Gei¬
ſtes, von Anfang an, ſo wie du mir oft¬
mals in ſchönen Stunden ſehr ausführlich
davon erzählt haſt, und ſo wie ich ſelbſt
dich innerlich kennen gelernt habe, in mei¬
nen Gedanken nachzugehen, und denen, die
Freude daran haben, deine Geſchichte erzäh¬
len. —


Joſeph Berglinger ward in einem
kleinen Städtchen im ſüdlichen Deutſchlande
gebohren. Seine Mutter mußte die Welt
verlaſſen, indem ſie ihn darein ſetzte; ſein
Vater, ſchon ein ziemlich bejahrter Mann,
war Doktor der Arzneygelehrſamkeit, und
in dürftigen Vermögensumſtänden. Das
Glück hatte ihm den Rücken gewandt; und
es koſtete ihn ſauren Schweiß, ſich und ſechs
Kinder, (denn Joſeph hatte fünf weibliche
Geſchwiſter,) durch das Leben zu bringen,
[230] zumal da ihm nun eine verſtändige Wirth¬
ſchafterinn mangelte.


Dieſer Vater war urſprünglich ein weicher
und ſehr gutherziger Mann, der nichts lie¬
ber thun mochte, als helfen, rathen und
Allmoſen geben, ſo viel er nur vermögend
war; der nach einer guten That beſſer ſchlief
als gewöhnlich; der lange, mit herzlicher
Rührung und Dank gegen Gott, von den
guten Früchten ſeines Herzens zehren konn¬
te, und ſeinen Geiſt am liebſten mit rühren¬
den Empfindungen nährte. Man muß in
der That allemal von tiefer Wehmuth und
herzlicher Liebe ergriffen werden, wenn man
die beneidenswerthe Einfachheit dieſer See¬
len betrachtet, welche in den gewöhnlichen
Äußerungen des guten Herzens einen ſo un¬
erſchöpflichen Abgrund von Herrlichkeit fin¬
den, daß dies völlig ihr Himmel auf Erden
iſt, wodurch ſie mit der ganzen Welt ver¬
[231] ſöhnt, und immer in zufriedenem Wohlbe¬
hagen erhalten werden. Joſeph hatte ganz
dieſe Empfindung, wenn er ſeinen Vater be¬
trachtete; — aber ihn hatte der Himmel
nun einmal ſo eingerichtet, daß er immer
nach etwas noch Höherem trachtete; es
genügte ihm nicht die bloße Geſundheit
der Seele, und daß ſie ihre ordentlichen Ge¬
ſchäfte auf Erden, als arbeiten und Gutes
thun, verrichtete; — er wollte, daß ſie auch
in üppigem Übermuthe dahertanzen, und
zum Himmel, als zu ihrem Urſprunge, hin¬
aufjauchzen ſollte.


Das Gemüth ſeines Vaters war aber
auch noch aus andern Dingen zuſammenge¬
ſetzt. Er war ein ämſiger und gewiſſenhafter
Arzt, der Zeit ſeines Lebens an nichts als
an der Kenntniß der ſeltſamen Dinge, die
im menſchlichen Körper verborgen liegen,
und an der weitläuftigen Wiſſenſchaft aller
[232] jammervollen menſchlichen Gebrechen und
Krankheiten, ſeine Luſt gehabt hatte. Die¬
ſes eifrige Studium nun war ihm, wie es
öfters zu geſchehen pflegt, ein heimliches,
nervenbetäubendes Gift geworden, das alle
ſeine Adern durchdrang, und viele klingende
Saiten des menſchlichen Buſens bey ihm
zernagte. Dazu kam der Mißmuth über das
Elend ſeiner Dürftigkeit, und endlich das
Alter. Alles dieſes zehrte an der urſprüng¬
lichen Güte ſeines Gemüths; denn bey nicht
ſtarken Seelen geht alles, womit der Menſch
zu ſchaffen hat, in ſein Blut über, und ver¬
wandelt ſein Inneres, ohne daß er es ſel¬
ber weiß.


Die Kinder des alten Arztes wuchſen bey
ihm auf, wie Unkraut in einem verwilderten
Garten. Joſephs Schweſtern waren theils
kränklich, theils von ſchwachem Geiſte, und
führten ein kläglich einſames Leben in ihrer
dunklen kleinen Stube.


[233]

In dieſe Familie konnte niemand weni¬
ger paſſen, als Joſeph, der immer in ſchö¬
ner Einbildung und himmliſchen Träumen
lebte. Seine Seele glich einem zarten Bäum¬
chen, deſſen Samenkorn ein Vogel in das
Gemäuer öder Ruinen fallen ließ, wo es
zwiſchen harten Steinen jungfräulich hervor¬
ſchießet. Er war ſtets einſam und ſtill für
ſich, und weidete ſich nur an ſeinen inneren
Phantaſeyen; drum hielt der Vater auch ihn
ein wenig verkehrt und blödes Geiſtes. Sei¬
nen Vater und ſeine Geſchwiſter liebte er
aufrichtig; aber ſein Inneres ſchätzte er über
alles, und hielt es vor andern heimlich und
verborgen. So hält man ein Schatzkäſtlein
verborgen, zu welchem man den Schlüſſel
niemanden in die Hände giebt.


Seine Hauptfreude war von ſeinen früh¬
ſten Jahren an, die Muſik geweſen. Er
hörte zuweilen jemanden auf dem Claviere
[234] ſpielen, und ſpielte auch ſelber etwas. Nach
und nach bildete er ſich durch den oft wie¬
derholten Genuß auf eine ſo eigene Weiſe
aus, daß ſein Inneres ganz und gar zu
Muſik ward, und ſein Gemüth, von dieſer
Kunſt gelockt, immer in den dämmernden
Irrgängen poetiſcher Empfindung umher¬
ſchweifte.


Eine vorzügliche Epoche in ſeinem Leben
machte eine Reiſe nach der biſchöflichen Re¬
ſidenz, wohin ein begüterter Anverwandter,
der dort wohnte, und der den Knaben lieb¬
gewonnen hatte, ihn auf einige Wochen mit¬
nahm. Hier lebte er nun recht im Himmel:
ſein Geiſt ward mit tauſendfältiger ſchöner
Muſik ergötzt, und flatterte nicht anders als
ein Schmetterling in warmen Lüften umher.


Vornehmlich beſuchte er die Kirchen, und
hörte die heiligen Oratorien, Cantilenen und
Chöre mit vollem Poſaunen- und Trompe¬
[235] tenſchall unter den hohen Gewölben ertönen,
wobey er oft, aus innerer Andacht, demü¬
thig auf den Knieen lag. Ehe die Muſik
anbrach, war es ihm, wenn er ſo in dem
gedrängten, leiſe murmelnden Gewimmel der
Volksmenge ſtand, als wenn er das gewöhn¬
liche und gemeine Leben der Menſchen, als
einen großen Jahrmarkt, unmelodiſch durch¬
einander und um ſich herum ſummen hörte;
ſein Kopf ward von leeren, irdiſchen Klei¬
nigkeiten betäubt. Erwartungsvoll harrte er
auf den erſten Ton der Inſtrumente; — und
indem er nun aus der dumpfen Stille, mäch¬
tig und langgezogen, gleich dem Wehen eines
Windes vom Himmel hervorbrach, und die
ganze Gewalt der Töne über ſeinem Haupte
daherzog, — da war es ihm, als wenn auf
einmal ſeiner Seele große Flügel ausge¬
ſpannt, als wenn er von einer dürren Haide
aufgehoben würde, der trübe Wolkenvor¬
[236] hang vor den ſterblichen Augen verſchwände,
und er zum lichten Himmel emporſchwebte.
Dann hielt er ſich mit ſeinem Körper ſtill
und unbeweglich, und heftete die Augen un¬
verrückt auf den Boden. Die Gegenwart
verſank vor ihm; ſein Inneres war von al¬
len irdiſchen Kleinigkeiten, welche der wahre
Staub auf dem Glanze der Seele ſind, ge¬
reinigt; die Muſik durchdrang ſeine Nerven
mit leiſen Schauern, und ließ, ſo wie ſie
wechſelte, mannigfache Bilder vor ihm auf¬
ſteigen. So kam es ihm bey manchen fro¬
hen und herzerhebenden Geſängen zum Lobe
Gottes ganz deutlich vor, als wenn er den
König David im langen königlichen Mantel,
die Krone auf dem Haupt, vor der Bundes¬
lade lobſingend hertanzen ſähe; er ſah ſein
ganzes Entzücken und alle ſeine Bewegun¬
gen, und das Herz hüpfte ihm in der Bruſt.
Tauſend ſchlafende Empfindungen in ſeinem
[237] Buſen wurden losgeriſſen, und bewegten ſich
wunderbar durcheinander. Ja bey manchen
Stellen der Muſik endlich ſchien ein beſon¬
derer Lichtſtrahl in ſeine Seele zu fallen; es
war ihm, als wenn er dabey auf einmal
weit klüger würde, und mit helleren Augen
und einer gewiſſen erhabenen und ruhigen
Wehmuth, auf die ganze wimmelnde Welt
herabſähe.


So viel iſt gewiß, daß er ſich, wenn die
Muſik geendigt war, und er aus der Kirche
herausging, reiner und edler geworden vor¬
kam. Sein ganzes Weſen glühte noch von
dem geiſtigen Weine, der ihn berauſcht hat¬
te, und er ſah alle Vorübergehende mit an¬
dern Augen an. Wenn er dann etwa ein
paar Leute auf dem Spatziergange zuſam¬
menſtehn und lachen, oder ſich Neuigkeiten
erzählen ſah, ſo machte das einen ganz eig¬
nen widrigen Eindruck auf ihn. Er dachte:
[238] du mußt Zeitlebens, ohne Aufhören in die¬
ſem ſchönen poetiſchen Taumel bleiben, und
dein ganzes Leben muß eine Muſik ſeyn.


Wenn er dann aber zu ſeinem Anver¬
wandten zum Mittagseſſen ging, und es ſich
in einer gewöhnlich-luſtigen und ſcherzenden
Geſellſchaft hatte wohl ſchmecken laſſen, —
dann war er unzufrieden, daß er ſo bald
wieder ins proſaiſche Leben hinabgezogen
war, und ſein Rauſch ſich wie eine glänzende
Wolke verzogen hatte.


Dieſe bittere Mißhelligkeit zwiſchen ſei¬
nen angebohrnen ätheriſchen Enthuſiasmus,
und dem irdiſchen Antheil an dem Leben ei¬
nes jeden Menſchen, der jeden täglich aus
ſeinen Schwärmereyen mit Gewalt herab¬
ziehet, quälte ihn ſein ganzes Leben hin¬
durch. —


Wenn Joſeph in einem großen Concerte
war, ſo ſetzte er ſich, ohne auf die glänzende
[239] Verſammlung der Zuhörer zu blicken, in ei¬
nen Winkel, und hörte mit eben der An¬
dacht zu, als wenn er in der Kirche wäre, —
eben ſo ſtill und unbeweglich, und mit ſo
vor ſich auf den Boden ſehenden Augen.
Der geringſte Ton entſchlüpfte ihm nicht,
und er war von der angeſpannten Aufmerk¬
ſamkeit am Ende ganz ſchlaff und ermüdet.
Seine ewig bewegliche Seele war ganz ein
Spiel der Töne; — es war als wenn ſie
losgebunden vom Körper wäre und freyer
umherzitterte, oder auch als wäre ſein Kör¬
per mit zur Seele geworden, — ſo frey
und leicht ward ſein ganzes Weſen von den
ſchönen Harmonieen umſchlungen, und die
feinſten Falten und Biegungen der Töne
drückten ſich in ſeiner weichen Seele ab. —
Bey fröhlichen und entzückenden vollſtimmi¬
gen Symphonieen, die er vorzüglich liebte,
kam es ihm gar oftmals vor, als ſäh' er ein
[240] munteres Chor von Jünglingen und Mäd¬
chen auf einer heitern Wieſe tanzen, wie ſie
vor- und rückwärts hüpfen, und wie ein¬
zelne Paare zuweilen Pantomimen zu ein¬
ander ſprachen, und ſich dann wieder unter
den frohen Haufen miſchten. Manche Stel¬
len in der Muſik waren ihm ſo klar und
eindringlich, daß die Töne ihm Worte zu
ſeyn ſchienen. Ein andermal wieder wirkten
die Töne eine wunderbare Miſchung von
Fröhlichkeit und Traurigkeit in ſeinem Her¬
zen, ſo daß Lächeln und Weinen ihm gleich
nahe war; eine Empfindung, die uns auf
unſerm Wege durch das Leben ſo oft be¬
gegnet, und die keine Kunſt geſchickter iſt
auszudrücken, als die Muſik. Und mit wel¬
chem Entzücken und Erſtaunen hörte er ein
ſolches Tonſtück an, das mit einer muntern
und heitern Melodie, wie ein Bach, anhebt,
aber ſich nach und nach unvermerkt und
wunder¬[241] wunderbar in immer trüberen Windungen
fortſchleppt, und endlich in heftig-lautes
Schluchzen ausbricht, oder wie durch wilde
Klippen mit ängſtigendem Getöſe daher¬
rauſcht. — Alle dieſe mannigfaltigen Em¬
pfindungen nun drängten in ſeiner Seele
immer entſprechende ſinnliche Bilder und
neue Gedanken hervor: — eine wunderbare
Gabe der Muſik, — welche Kunſt wohl
überhaupt um ſo mächtiger auf uns wirkt,
und alle Kräfte unſers Weſens um ſo allge¬
meiner in Aufruhr ſetzt, je dunkler und ge¬
heimnißvoller ihre Sprache iſt. —


Die ſchönen Tage, die Joſeph in der
biſchöflichen Reſidenz verlebt hatte, waren
endlich vorüber, und er mußte wieder nach
ſeiner Vaterſtadt in das Haus ſeines Vaters
zurückkehren. Wie traurig war der Rück¬
weg! Wie kläglich und niedergedrückt fühl¬
te er ſich wieder in einer Familie, deren
Q[242] ganzes Leben und Weben ſich nur um die
kümmerliche Befriedigung der nothwendig¬
ſten phyſiſchen Bedürfniſſe drehte, und bey
einem Vater, der ſo wenig in ſeine Neigun¬
gen einſtimmte! Dieſer verachtete und ver¬
abſcheute alle Künſte als Dienerinnen ausge¬
laſſener Begierden und Leidenſchaften, und
Schmeichlerinnen der vornehmen Welt. Schon
von jeher hatte er es mit Mißvergnügen ge¬
ſehen, daß ſein Joſeph ſich ſo ſehr an die
Muſik gehängt hatte; und nun, da dieſe
Liebe in dem Knaben immer höher wuchs,
machte er einen anhaltenden und ernſtlichen
Verſuch, ihn von dem verderblichen Hange
zu einer Kunſt, deren Ausübung nicht viel
beſſer als Müſſiggang ſey, und die bloß die
Lüſternheit der Sinne befriedige, zur Medi¬
cin, als zu der wohlthätigſten, und für das
Menſchengeſchlecht allgemein-nützlichſten Wiſ¬
ſenſchaft zu bekehren. Er gab ſich viele
[243] Mühe, ihn ſelber in den Anfangsgründen
zu unterweiſen, und gab ihm Hülfsbücher
in die Hände.


Dies war eine recht quälende und pein¬
liche Lage für den armen Joſeph. Er preßte
ſeinen Enthuſiasmus heimlich in ſeine Bruſt
zurück, um ſeinen Vater nicht zu kränken,
und wollte ſich zwingen ob er nicht neben¬
her eine nützliche Wiſſenſchaft erlernen könnte.
Aber das war ein ewiger Kampf in ſeiner
Seele. Er las in ſeinen Lehrbüchern eine
Seite zehenmal, ohne zu faſſen, was er
las; — immer ſang ſeine Seele innerlich ihre
melodiſchen Phantaſieen fort. Der Vater
war ſehr bekümmert um ihn.


Seine heftige Liebe zur Muſik nahm in
der Stille immer mehr überhand. War in
einigen Wochen kein Ton in ſein Ohr ge¬
kommen, ſo ward er ordentlich am Gemü¬
the krank; er merkte, daß ſein Gefühl zu¬
Q 2[244] ſammenſchrumpfte, es entſtand eine Leerheit
in ſeinem Innern, und er hatte eine rechte
Sehnſucht ſich wieder von den Tönen begei¬
ſtern zu laſſen. Dann konnten ſelbſt gemeine
Spieler an Feſt- oder Kirchweihtagen, mit
ihren Blasinſtrumenten ihm Gefühle ein¬
flößen, wovon ſie ſelber keine Ahndung hat¬
ten. Und ſo oft in den benachbarten Städ¬
ten eine ſchöne große Muſik zu hören war,
ſo lief er mit heißer Begierde, im heftigſten
Schnee, Sturm und Regen hinaus.


Faſt täglich rief er ſich mit Wehmuth
die herrliche Zeit in der biſchöflichen Reſi¬
denz in ſeinen Gedanken zurück, und ſtellte
ſich die köſtlichen Sachen, die er dort gehört
hatte, wieder vor die Seele. Oftmals ſagte
er ſich die auswendig-behaltenen, ſo lieb¬
lichen und rührenden Worte des geiſtlichen
Oratoriums vor, welches das erſte geweſen
war, das er gehört, und welches einen vor¬
[245] züglich tiefen Eindruck auf ihn gemacht
hatte:


Stabat Mater dolorosa

Juxta crucem lacrymosa,

Dum pendebat filius:

Contristantem et dolentem

Pertransivit gladius.
O quam tristis et afflicta

Fuit illa benedicta

Mater unigeniti:

Quae moerebat et dolebat

Et tremebat, cum videbat

Nati poenas inclyti.

Und wie es weiter heißt.


Ach aber! — wenn ihm nun ſo eine ent¬
zückte Stunde, da er in ätheriſchen Träu¬
men lebte, oder da er eben ganz berauſcht
von dem Genuß einer herlichen Muſik kam,
dadurch unterbrochen wurde, daß ſeine Ge¬
ſchwiſter ſich um ein neues Kleid zankten,
[246] oder daß ſein Vater der älteſten nicht hin¬
reichend Geld zur Wirthſchaft geben konnte,
oder der Vater von einem recht elenden,
jammervollen Kranken erzählte, oder daß ei¬
ne alte, ganz krummgebückte Bettelfrau an
die Thür kam, die ſich in ihren Lumpen vor
dem Winterfroſt nicht ſchützen konnte; —
ach! es giebt in der Welt keine ſo entſetzlich
bittere, ſo herzdurchſchneidende Empfindung,
als von der Joſeph alsdann zerriſſen ward.
Er dachte: »Lieber Gott! iſt denn das die
Welt wie ſie iſt? und iſt es denn Dein Wille,
daß ich mich ſo unter das Gedränge des
Haufens miſchen, und an dem gemeinen
Elend Antheil nehmen ſoll? Und doch ſieht
es ſo aus, und mein Vater predigt es im¬
mer, daß es die Pflicht und Beſtimmung
des Menſchen ſey, ſich darunter zu miſchen,
und Rath und Allmoſen zu geben, und ekel¬
hafte Wunden zu verbinden und, häßliche
[247] Krankheiten zu heilen! Und doch ruft mir
wieder eine innere Stimme ganz laut zu:
Nein! nein! du biſt zu einem höheren, edle¬
ren Ziel gebohren!« — Mit ſolchen Ge¬
danken quälte er ſich oft lange, und konnte
keinen Ausweg finden; allein eh' er es ſich
verſah, waren die widrigen Bilder, die ihn
gewaltſam in den Schlamm dieſer Erde her¬
abzuziehen ſchienen, aus ſeiner Seele ver¬
wiſcht, und ſein Geiſt ſchwärmte wieder un¬
geſtört in den Lüften umher.


Allmählig ward er nun ganz und gar
der Überzeugung, daß er von Gott deshalb
auf die Welt geſetzt ſey, um ein recht vor¬
züglicher Künſtler in der Muſik zu werden;
und zuweilen dachte er wohl daran, daß
der Himmel ihn aus der trüben und engen
Dürftigkeit, worin er ſeine Jugend hinbrin¬
gen mußte, zu deſto höherem Glanze her¬
vorziehen werde. Viele werden es für eine
[248] romanhafte und [unnatürliche] Erdichtung hal¬
ten, allein es iſt reine Wahrheit, wenn ich
erzähle, daß er oftmals in ſeiner Einſam¬
keit, aus inbrünſtigem Triebe ſeines Her¬
zens, auf die Kniee fiel, und Gott bat, er
möchte ihn doch alſo führen, daß er einſt
ein recht herrlicher Künſtler vor dem Him¬
mel und vor der Erde werden möchte. In
dieſer Zeit, da ſein Blut, von den immer
auf denſelben Fleck gehefteten Vorſtellungen
bedrängt, oft in heftiger Wallung war,
ſchrieb er mehrere kleine Gedichte nieder, die
ſeinen Zuſtand, oder das Lob der Tonkunſt
ſchilderten, und die er mit großer Freude,
auf ſeine kindiſch-gefühlvolle Weiſe in Mu¬
ſik ſetzte, ohne die Regeln zu kennen. Eine
Probe von dieſen Liedern iſt folgendes Ge¬
bet, welches er an diejenige unter den Hei¬
ligen richtete, die als Beſchützerinn der Ton¬
kunſt verehrt wird:


[249]
Siehe wie ich troſtlos weine

In dem Kämmerlein alleine,

Heilige Cäcilia!

Sieh' mich aller Welt entfliehen,

Um hier ſtill vor Dir zu knieen:

Ach ich bete, ſey mir nah!
Deine wunderbaren Töne,

Denen ich verzaubert fröhne,

Haben mein Gemüth verrückt.

Löſe doch die Angſt der Sinnen, —

Laß mich in Geſang zerrinnen,

Der mein Herz ſo ſehr entzückt.
Möchteſt Du auf Harfenſaiten

Meinen ſchwachen Finger leiten,

Daß Empfindung aus ihm quillt;

Daß mein Spiel in tauſend Herzen

Laut Entzücken, ſüße Schmerzen,

Beydes hebt und wieder ſtillt.
Möcht' ich einſt mit lautem Schalle

In des Tempels voller Halle
[250]
Ein erhabnes Gloria

Dir und allen Heil'gen weihen,

Tauſend Chriſten zu erfreuen:

Heilige Cäcilia!
Öffne mir der Menſchen Geiſter,

Daß ich ihrer Seelen Meiſter

Durch die Kraft der Töne ſey;

Daß mein Geiſt die Welt durchklinge,

Sympathetiſch ſie durchdringe,

Sie berauſch in Phantaſey! —

Über ein Jahr lang wohl quälte ſich und
brütete der arme Joſeph in der Einſamkeit
über einen Schritt, den er thun wollte. Eine
unwiderſtehliche Macht zog ſeinen Geiſt nach
der herrlichen Stadt zurück, die er als ein
Paradies für ſich betrachtete; denn er brannte
für Begierde, dort ſeine Kunſt von Grund
aus zu erlernen. Das Verhältniß gegen ſei¬
nen Vater aber preßte ſein Herz ganz zu¬
[251] ſammen. Dieſer hatte wohl gemerkt, daß
Joſeph ſich gar nicht mehr mit Ernſt und
Eifer in ſeiner Wiſſenſchaft anlegen wollte,
hatte ihn auch ſchon halb aufgegeben, und
ſich in ſeinen Mißmuth, der mit zunehmen¬
dem Alter immer ſtärker ward, zurückgezo¬
gen. Er gab ſich wenig mehr mit dem Kna¬
ben ab. Joſeph indeſſen verlor darum ſein
kindliches Gefühl nicht; es kämpfte ewig mit
ſeiner Neigung, und er konnte immer nicht
das Herz faſſen, in des Vaters Gegenwart
über die Lippen zu bringen, was er ihm zu
entdecken hatte. Ganze Tage lang peinigte
er ſich, alles gegen einander abzuwägen,
aber er konnte und konnte aus dem entſetz¬
lichen Abgrunde von Zweifeln nicht heraus¬
kommen, all' ſein inbrünſtiges Beten wollte
nichts fruchten: das ſtieß ihm beynahe das
Herz ab. Von dem über alles trübſeligen
und peinlichen Zuſtande, worin er ſich da¬
[252] mals befand, zeugen auch folgende Zeilen,
die ich unter ſeinen Papieren gefunden habe:


Ach was iſt es, das mich alſo dränget,

Mich mit heißen Armen eng umfänget,

Daß ich mit ihm fern von hinnen ziehen,

Daß ich ſoll dem Vaterhauſ' entfliehen?

Ach was muß ich ohne mein Verſchulden

Für Verſuchung und für Marter dulden!
Gottes Sohn! um Deiner Wunden willen,

Kannſt Du nicht die Angſt des Herzens ſtillen?

Kannſt Du mir nicht Offenbarung ſchenken,

Was ich innerlich ſoll wohl bedenken?

Kannſt Du mir die rechte Bahn nicht zeigen?

Nicht mein Herz zum rechten Wege neigen?
Wenn Du mich nicht bald zu Dir erretteſt,

Oder, in den Schooß der Erde betteſt,

Muß ich mich der fremden Macht ergeben,

Muß, geängſtigt, dem zu Willen leben,

Was mich zieht von meines Vaters Seite,

Unbekannten Mächten Raub und Beute! —
[253]

Seine Angſt ward immer größer, — die
Verſuchung nach der herrlichen Stadt zu
entfliehen, immer ſtärker. Wird denn aber,
dachte er, der Himmel dir nicht zu Hülfe
kommen? wird er dir gar kein Zeichen ge¬
ben? — Seine Leidenſchaft erreichte endlich
den höchſten Gipfel, als ſein Vater bey ei¬
ner häuslichen Mißhelligkeit ihn einmal mit
einer ganz andern Art, als gewöhnlich, an¬
fuhr, und ihm ſeitdem immer zurückſtoßend
begegnete. Nun war es beſchloſſen; allen
Zweifeln und Bedenklichkeiten wies er von
nun an die Thür; er wollte nun durchaus
nicht mehr überlegen. Das Oſterfeſt war
nahe; das wollte er noch zu Hauſe mit¬
feyern, aber ſobald es vorüber wäre, — in
die weite Welt.


Es war vorüber. Er wartete den erſten
ſchönen Morgen ab, da der helle Sonnen¬
ſchein ihn bezaubernd anzulocken ſchien; da
[254] lief er früh aus dem Hauſe fort, wie man
wohl an ihm gewohnt war, — aber dies¬
mal kam er nicht wieder. Mit Entzücken
und mit pochendem Herzen eilte er durch
die engen Gaſſen der kleinen Stadt; — ihm
war zu Muth, als wollte er über alles,
was er um ſich ſah, hinweg, in den offenen
Himmel hineinſpringen. Eine alte Ver¬
wandte begegnete ihm an einer Ecke: —
»So eilig, Vetter?« fragte ſie, — »will er
wieder Grünes vom Markt einholen für
die Wirthſchaft?« — Ja ja! rief Joſeph in
Gedanken, und lief vor Freude zitternd das
Thor hinaus.


Wie er aber eine kleine Strecke auf dem
Felde gegangen war, und ſich umſah, bra¬
chen ihm die hellen Thränen hervor. Soll
ich noch umkehren? dachte er. Aber er lief
weiter, als wenn ihm die Ferſen brennten,
und weinte immerfort, und es [lief], als wollte
[255] er ſeinen Thränen entlaufen. So ging's
nun durch manches fremde Dorf, und man¬
chen fremden Geſichtern vorbey: — der An¬
blick der fremden Welt gab ihm wieder
Muth, er fühlte ſich frey und ſtark, — er
kam immer näher, — und endlich, — güti¬
ger Himmel! welch Entzücken! — endlich
ſah er die Thürme der herrlichen Stadt vor
ſich liegen. — — —

Zweytes Hauptſtück.

Ich kehre zu meinem Joſeph zurück, wie
er, mehrere Jahre, nachdem wir ihn verlaſ¬
ſen haben, in der biſchöflichen Reſidenz Ka¬
pellmeiſter geworden iſt, und in großem
Glanze lebt. Sein Anverwandter, der ihn
ſehr wohl aufgenommen hatte, war der
Schöpfer ſeines Glücks geworden, und hatte
ihm den gründlichſten Unterricht in der Ton¬
[256] kunſt geben laſſen, auch den Vater über den
Schritt Joſephs nach und nach ziemlich be¬
ruhigt. Durch den lebhafteſten Eifer hatte
Joſeph ſich empor gearbeitet, und war end¬
lich auf die höchſte Stufe des Glücks, die
er nur je hatte erwünſchen können, gelangt.


Allein die Dinge der Welt verändern ſich
vor unſern Augen. Er ſchrieb mir einſt, wie
er ein paar Jahre Kapellmeiſter geweſen
war, folgenden Brief:


» Lieber Pater


»Es iſt ein elendes Leben, das ich füh¬
re: — je mehr Ihr mich tröſten wollt, deſto
bitterer fühl' ich es.« —


»Wenn ich an die Träume meiner Ju¬
gend zurückdenke, — wie ich in dieſen Träu¬
men ſo ſelig war! — Ich meynte, ich wollte
in einem fort umher phantaſieren, und mein
volles Herz in Kunſtwerken auslaſſen, —
aber[257] aber wie fremd und herbe kamen mir gleich
die erſten Lehrjahre an! Wie war mir zu
Muth, als ich hinter den Vorhang trat!
Daß alle Melodieen, (hatten ſie auch die
heterogenſten und oft die wunderbarſten Em¬
pfindungen in mir erzeugt,) alle ſich nun auf
einem einzigen, zwingenden mathematiſchen
Geſetze gründeten! Daß ich, ſtatt frey zu
fliegen, erſt lernen mußte, in dem unbehülf¬
lichen Gerüſt und Käfig der Kunſtgrammatik
herum zu klettern! Wie ich mich quälen
mußte, erſt mit dem gemeinen Wiſſenſchaft¬
lichen Maſchinen-Verſtande ein regelrechtes
Ding heraus zu bringen, eh' ich dran den¬
ken konnte, mein Gefühl mit den Tönen zu
handhaben! — Es war eine mühſelige Me¬
chanik. — Doch wenn auch! ich hatte noch
jugendliche Spannkraft, und hoffte und hoffte
auf die herrliche Zukunft! Und nun? —


R[268[258]]

Die prächtige Zukunft iſt eine jämmerliche
Gegenwart geworden.« —


»Was ich als Knabe in dem großen Con¬
certſaal für glückliche Stunden genoß! Wenn
ich ſtill und unbemerkt im Winkel ſaß, und
all' die Pracht und Herrlichkeit mich bezau¬
berte, und ich ſo ſehnlich wünſchte, daß ſich
doch einſt um meiner Werke willen dieſe
Zuhörer verſammeln, ihr Gefühl mir hinge¬
ben möchten! — Nun ſitz' ich gar oft in
eben dieſem Saal, und führe auch meine
Werke auf; aber es iſt mir wahrlich ſehr
anders zu Muthe. — Daß ich mir einbil¬
den konnte, dieſe in Gold und Seide ſtol¬
zierende Zuhörerſchaft käme zuſammen, um
ein Kunſtwerk zu genießen, um ihr Herz zu
erwärmen, ihre Empfindung dem Künſtler
darzubringen! Können doch dieſe Seelen
ſelbſt in dem majeſtätiſchen Dom, am hei¬
[259] ligſten Feyertage, indem alles Große und
Schöne, was Kunſt und Religion nur hat,
mit Gewalt auf ſie eindringt, können ſie
dann nicht einmal erhitzt werden, und ſie
ſollten's im Concertſaal? — Die Empfin¬
dung und der Sinn für Kunſt ſind aus der
Mode gekommen und unanſtändig gewor¬
den; — bey einem Kunſtwerk zu empfinden,
wäre grade eben ſo fremd und lächerlich, als
in einer Geſellſchaft auf einmal in Verſen
und Reimen zu reden, wenn man ſich ſonſt
im ganzen Leben mit vernünftiger und ge¬
mein-verſtändlicher Proſa behilft. Und für
dieſe Seelen arbeit' ich meinen Geiſt ab!
Für dieſe erhitz' ich mich, es ſo zu machen,
daß man dabey was ſoll empfinden können!
Das iſt die hohe Beſtimmung, wozu ich ge¬
boren zu ſeyn glaubte!«


»Und wenn mich einmal irgend einer,
R 2[260] der eine Art von halber Empfindung hat,
loben will, und kritiſch rühmt, und mir kri¬
tiſche Fragen vorlegt, — ſo möcht' ich ihn
immer bitten, daß er ſich doch nicht ſo viel
Mühe geben möchte, das Empfinden aus
den Büchern zu lernen. Der Himmel weiß
wie es iſt, — wenn ich eben eine Muſik,
oder ſonſt irgend ein Kunſtwerk, das mich
entzückt, genoſſen habe, und mein ganzes
Weſen voll davon iſt, da möcht' ich mein
Gefühl gern mit einem Striche auf eine
Tafel hinmahlen, wenn's eine Farbe nur
ausdrücken könnte. — Es iſt mir nicht mög¬
lich mit künſtlichen Worten zu rühmen, ich
kann nichts kluges herausbringen.« —


»Freilich iſt der Gedanke ein wenig trö¬
ſtend, daß vielleicht in irgend einem kleinen
Winkel von Deutſchland, wohin dies oder
jenes von meiner Hand, wenn auch lange
[261] nach meinem Tode, einmal hinkommt, ein
oder der andre Menſch lebt, in den der
Himmel eine ſolche Sympathie zu meiner
Seele gelegt hat, daß er aus meinen Melo¬
dieen grade das herausfühlt, was ich beym
Niederſchreiben empfand, und was ich ſo
gern hineinlegen wollte. Eine ſchöne Idee,
womit man ſich eine Zeitlang wohl ange¬
nehm täuſchen kann!« —


»Allein das allerabſcheulichſte ſind noch
alle die andern Verhältniſſe, worin der Künſt¬
ler eingeſtrickt wird. Von allen dem ekel¬
haften Neid und hämiſchen Weſen, von al¬
len den widrig-kleinlichen Sitten und Be¬
gegnungen, von aller der Subordination der
Kunſt unter den Willen des Hofes; — es
widerſteht mir ein Wort davon zu reden, —
es iſt alles ſo unwürdig und die menſchliche
Seele ſo erniedrigend, daß ich nicht eine
[262] Sylbe davon über die Zunge bringen kann.
Ein dreyfaches Unglück für die Muſik, daß
bey dieſer Kunſt grade ſo eine Menge Hände
nöthig ſind, damit das Werk nur exiſtirt!
Ich ſammle und erhebe meine ganze Seele,
um ein großes Werk zu Stande zu brin¬
gen; — und hundert empfindungsloſe und
leere Köpfe reden mit ein, und verlangen
dieſes und jenes.«


»Ich gedachte in meiner Jugend dem ir¬
diſchen Jammer zu entfliehen, und bin nun
erſt recht in den Schlamm hineingerathen.
Es iſt wohl leider gewiß; man kann mit al¬
ler Anſtrengung unſrer geiſtigen Fittige der
Erde nicht entkommen; ſie zieht uns mit Ge¬
walt zurück, und wir fallen wieder unter
den gemeinſten Haufen der Menſchen.« —


»Es ſind bedauernswürdige Künſtler, die
ich um mich herum ſehe. Auch die edelſten
[263] ſo kleinlich, daß ſie ſich für Aufgeblaſenheit
nicht zu laſſen wiſſen, wenn ihr Werk ein¬
mal ein allgemeines Lieblingsſtück geworden
iſt. — Lieber Himmel! ſind wir denn nicht
die eine Hälfte unſers Verdienſtes der Gött¬
lichkeit der Kunſt, der ewigen Harmonie der
Natur, und die andre Hälfte dem gütigen
Schöpfer, der uns dieſen Schatz anzuwen¬
den Fähigkeit gab, ſchuldig? Alle tauſend¬
fältigen lieblichen Melodieen, welche die man¬
nigfachſten Regungen in uns hervorbringen,
ſind ſie nicht aus dem einzigen wundervollen
Dreyklang entſproſſen, den die Natur von
Ewigkeit her gegründet hat? Die wehmuths¬
vollen, halb ſüßen und halb ſchmerzlichen
Empfindungen, die die Muſik uns einflößt,
wir wiſſen nicht wie, was ſind ſie denn an¬
ders, als die geheimnißvolle Wirkung des
wechſelnden Dur und Moll? Und müſſen
[264] wir's nicht dem Schöpfer danken, wenn er
uns nun grade das Geſchick gegeben hat,
dieſe Töne, denen von Anfang her eine Sym¬
pathie zur menſchlichen Seele verliehen iſt,
ſo zuſammenzuſetzen, daß ſie das Herz rüh¬
ren? — Wahrhaftig, die Kunſt iſt es, was
man verehren muß, nicht den Künſtler; —
der iſt nichts mehr als ein ſchwaches Werk¬
zeug.«


»Ihr ſeht, daß mein Eifer und meine
Liebe für die Muſik nicht ſchwächer iſt als
ſonſt. Nur eben darum bin ich ſo unglück¬
lich in dieſem — — doch ich will's laſſen,
und Euch mit der Beſchreibung von all' dem
widrigen Weſen um mich herum, nicht ver¬
drießlich machen. Genug, ich lebe in einer
ſehr unreinen Luft. Wie weit idealiſcher
lebte ich damals, da ich in unbefangener Ju¬
gend und ſtiller Einſamkeit die Kunſt noch
[265] bloß genoß; als itzt, da ich ſie im blen¬
dendſten Glanze der Welt, und von lauter
ſeidenen Kleidern, lauter Sternen und Kreu¬
zen, lauter kultivirten und geſchmackvollen
Menſchen umgeben, ausübe! — Was ich
möchte? — Ich möchte all' dieſe Kultur im
Stiche laſſen, und mich zu den, ſimplen
Schweizerhirten ins Gebirge hinflüchten, und
ſeine Alpenlieder, wonach er überall das Heim¬
weh bekömmt, mit ihm ſpielen.« — — —


Aus dieſem fragmentariſch-geſchriebenen
Briefe iſt der Zuſtand, worin Joſeph ſich in
ſeiner Lage befand, zum Theil zu erſehen.
Er fühlte ſich verlaſſen und einſam unter
dem Geſumme ſo vieler unharmoniſchen See¬
len um ihn her; — ſeine Kunſt ward tief
entwürdigt dadurch, daß ſie auf keinen ein¬
zigen, ſo viel er wußte, einen lebhaften Ein¬
druck machte, da ſie ihm doch nur dazu ge¬
[266] macht ſchien, das menſchliche Herz zu rüh¬
ren. In manchen trüben Stunden verzwei¬
felte er ganz, und dachte: »Was iſt die
Kunſt ſo ſeltſam und ſonderbar! Hat ſie
denn nur für mich allein ſo geheimnißvolle
Kraft, und iſt für alle andre Menſchen nur
Beluſtigung der Sinne und angenehmer Zeit¬
vertreib? Was iſt ſie denn wirklich und in
der That, wenn ſie für alle Menſchen Nichts
iſt, und für mich allein nur Etwas? Iſt es
nicht die unglückſeligſte Idee, dieſe Kunſt zu
ſeinem ganzen Zweck und Hauptgeſchäft zu
machen, und ſich von ihren großen Wirkun¬
gen auf die menſchlichen Gemüther tauſend
ſchöne Dinge einzubilden? von dieſer Kunſt,
die im wirklichen irdiſchen Leben keine andre
Rolle ſpielt, als Kartenſpiel oder jeder an¬
dre Zeitvertreib?«


Wenn er auf ſolche Gedanken kam, ſo
[267] dünkte er ſich der größte Phantaſt geweſen
zu ſeyn, daß er ſo ſehr geſtrebt hatte, ein
ausübender Künſtler für die Welt zu wer¬
den. Er gerieth auf die Idee, ein Künſtler
müſſe nur für ſich allein, zu ſeiner eignen
Herzenserhebung, und für einen oder ein
paar Menſchen, die ihn verſtehen, Künſtler
ſeyn. Und ich kann dieſe Idee nicht ganz
unrecht nennen. —


Aber ich will das Übrige von meines Jo¬
ſephs Leben kurz zuſammen faſſen, denn die
Erinnerungen daran werden mir ſehr traurig.


Mehrere Jahre lebte er als Kapellmeiſter
ſo fort, und ſeine Mißmüthigkeit, und das
unbehagliche Bewußtſeyn, daß er mit allem
ſeinen tiefen Gefühl und ſeinem innigen
Kunſtſinn für die Welt nichts nütze, und
weit weniger wirkſam ſey, als jeder Hand¬
werksmann, — nahm immer mehr zu. Oft
[268] dachte er mit Wehmuth an den reinen, idea¬
liſchen Enthuſiasmus ſeiner Knabenzeit zu¬
rück, und daneben an ſeinen Vater, wie er
ſich Mühe gegeben hatte, ihn zu einem Arzte
zu erziehen, daß er das Elend der Menſchen
mindern, Unglückliche heilen, und ſo der
Welt nützen ſollte. Vielleicht wär's beſſer
geweſen! dachte er in manchen Stunden.


Sein Vater war indeß bey ſeinem Alter
ſehr ſchwach geworden. Joſeph ſchrieb im¬
mer ſeiner älteſten Schweſter, und ſchickte
ihr zum Unterhalt für den Vater. Ihn ſel¬
ber zu beſuchen konnte er nicht übers Herz
bringen; er fühlte, daß es ihm unmöglich
war. Er ward trübſinniger; — ſein Leben
neigte ſich hinunter.


Einſt hatte er eine neue ſchöne Muſik
von ſeiner Hand im Concertſaal aufgeführt:
es ſchien das erſtemal, daß er auf die Her¬
[269] zen der Zuhörer etwas gewirkt hatte. Ein
allgemeines Erſtaunen, ein ſtiller Beyfall,
welcher weit ſchöner, als ein lauter iſt, er¬
freute ihn mit der Idee, daß er vielleicht
diesmal ſeine Kunſt würdig ausgeübt hätte;
er faßte wieder Muth zu neuer Arbeit. Als
er hinaus auf die Straße kam, ſchlich ein
ſehr armſelig gekleidetes Mädchen an ihn
heran, und wollte ihn ſprechen. Er wußte
nicht, was er ſagen ſollte; er ſah ſie an, —
Gott! rief er: — es war ſeine jüngſte
Schweſter im elendeſten Aufzuge. Sie war
von Hauſe zu Fuß hergelaufen, um ihm die
Nachricht zu bringen, daß ſein Vater todt¬
krank niederliege, und ihn vor ſeinem Ende
ſehr dringend noch einmal zu ſprechen ver¬
lange. Da war wieder aller Geſang in ſei¬
nem Buſen zerriſſen; in dumpfer Betäubung
machte er ſich fertig, und reiſte eilig nach
ſeiner Vaterſtadt.


[270]

Die Scenen, die am Todbette ſeines Va¬
ters vorfielen, will ich nicht ſchildern. Man
glaube nicht, daß es zu weitläuftigen und
wehmüthigen gegenſeitigen Erörterungen kam;
ſie verſtanden ſich ohne viele Worte ſehr in¬
niglich; — wie denn darin überhaupt die
Natur unſerer recht zu ſpotten ſcheinet, daß
die Menſchen ſich erſt in ſolchen kritiſchen
letzten Augenblicken recht verſtehen. Dennoch
ward Joſeph von Allem bis ins Innerſte
zerriſſen. Seine Geſchwiſter waren im be¬
trübteſten Zuſtande; zwey davon hatten
ſchlecht gelebt, und waren entlaufen; die äl¬
teſte, der er immer Geld ſchickte, hatte das
meiſte verthan, und den Vater darben laſ¬
ſen; dieſen ſah er endlich vor ſeinen Augen
elendiglich ſterben: — ach! es war entſetzlich,
wie ſein armes Herz durch und durch ver¬
wundet und zerſtochen ward. Er ſorgte für
[271] ſeine Geſchwiſter ſo gut er konnte, und
kehrte zurück, weil ihn Geſchäfte abriefen.


Er ſollte zu dem bevorſtehenden Oſterfeſt
eine neue Paſſionsmuſik machen, auf welche
ſeine neidiſchen Nebenbuhler ſehr begierig
waren. Helle Ströhme von Thränen brachen
ihm aber hervor, ſo oft er ſich zur Arbeit
niederſetzen wollte; er konnte ſich vor ſeinem
zerriſſenen Herzen nicht erretten. Er lag tief
daniedergedrückt und vergraben unter den
Schlacken dieſer Erde. Endlich riß er ſich
mit Gewalt auf, und ſtreckte mit dem heiße¬
ſten Verlangen die Arme zum Himmel em¬
por; er füllte ſeinen Geiſt mit der höchſten
Poeſie, mit lautem, jauchzendem Geſange
an, und ſchrieb in einer wunderbaren Be¬
geiſterung, aber immer unter heftigen Ge¬
müthsbewegungen, eine Paſſionsmuſik nie¬
der, die mit ihren durchdringenden, und
[272] alle Schmerzen des Leidens in ſich faſſenden
Melodieen, ewig ein Meiſterſtück bleiben
wird. Seine Seele war wie ein Kran¬
ker, der in einem wunderbaren Paroxismus
größere Stärke als ein Geſunder zeigt.


Aber nachdem er das Oratorium am hei¬
ligen Tage im Dom mit der heftigſten An¬
ſpannung und Erhitzung aufgeführt hatte,
fühlte er ſich ganz matt und erſchlafft. Eine
Nervenſchwäche befiel, gleich einem böſen
Thau, alle ſeine Fibern; — er kränkelte eine
Zeitlang hin, und ſtarb nicht lange darauf,
in der Blüthe ſeiner Jahre. — —


Manche Thräne hab' ich ihm geſchenkt,
und es iſt mir ſeltſam zu Muth, wenn ich
ſein Leben überſehe. Warum wollte der
Himmel, daß ſein ganzes Leben hindurch der
Kampf zwiſchen ſeinem ätheriſchen Enthu¬
ſiasmus und dem niedrigen Elend dieſer
Erde,[273] Erde, ihn ſo unglücklich machen, und endlich
ſein doppeltes Weſen von Geiſt und Leib
ganz von einanderreißen ſollte!


Wir begreifen die Wege des Himmels
nicht. — Aber laßt uns wiederum die Man¬
nigfaltigkeit der erhabenen Geiſter bewun¬
dern, welche der Himmel zum Dienſte der
Kunſt auf die Welt geſetzt hat.


Ein Raphael brachte in aller Unſchuld
und Unbefangenheit die allergeiſtreichſten
Werke hervor, worin wir den ganzen Him¬
mel ſehn; — ein Guido Reni, der ein ſo
wildes Spielerleben führte, ſchuf die ſanf¬
teſten und heiligſten Bilder; — ein Albrecht
Dürer, ein ſchlichter nürnbergiſcher Bür¬
gersmann, verfertigte in eben der Zelle,
worin ſein böſes Weib täglich mit ihm zank¬
te, mit ämſigem mechaniſchem Fleiße, gar
ſeelenvolle Kunſtwerke; — und Joſeph, in
S[274] deſſen harmoniſchen Werken ſo geheimni߬
volle Schönheit liegt, war verſchieden von
dieſen allen!


Ach! daß eben ſeine hohe Phantaſie
es ſeyn mußte, die ihn aufrieb? — Soll
ich ſagen, daß er vielleicht mehr dazu ge¬
ſchaffen war, Kunſt zu genießen als aus¬
zuüben? — Sind diejenigen vielleicht
glücklicher gebildet, in denen die Kunſt ſtill
und heimlich wie ein verhüllter Genius ar¬
beitet, und ſie in ihrem Handeln auf Erden
nicht ſtört? Und muß der Immerbegeiſterte
ſeine hohen Phantaſieen doch auch vielleicht
als einen feſten Einſchlag kühn und ſtark in
dieſes irdiſche Leben einweben, wenn er ein
ächter Künſtler ſeyn will? — Ja, iſt dieſe
unbegreifliche Schöpfungskraft nicht etwa
überhaupt ganz etwas anderes, und — wie
mir jetzt erſcheint — etwas noch Wunder¬
[275] volleres, noch Göttlicheres, als die Kraft
der Phantaſie? —


Der Kunſtgeiſt iſt und bleibet dem Men¬
ſchen ein ewiges Geheimniß, wobey er ſchwin¬
delt, wenn er die Tiefen deſſelben ergründen
will; — aber auch ewig ein Gegenſtand der
höchſten Bewunderung: wie denn dies von
allem Großen in der Welt zu ſagen iſt. — —


Ich kann aber nach dieſen Erinnerungen
an meinen Joſeph nichts mehr ſchreiben. —
Ich beſchließe mein Buch, — und möchte
nur wünſchen, daß es einem oder dem an¬
dern zur Erweckung guter Gedanken dien¬
lich wäre. —

[][][][][][]
Notes
*)

Essendo carestia di belle donne, io mi servo di certa
idea che me viene al mente.
*)

Cavazzone.
*)

Nämlich des Florentiners Giovanni Antonio
Sogliani.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp8j.0