eines
Wörterbuchſchreibers.
Verlag von Hans Lüſtenöder.
1889.
[]
eines
Wörterbuchſchreibers.
Verlag von Hans Lüſtenöder.
1889.
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Aus der Werkſtatt eines Wörterbuchſchreibers.
[[IV]][[V]]
Meinem lieben „Erbfreunde“,
Herrn
SanitätsrathDr.Eduard Mayer
in Halle a/S.
‘Ἦ ῥά μοι ξεῖνος πατρώϊός ἐσσι παλαιός.
.... ὄφρα καὶ οἵδε
γνῶσιν, ὅτι ξεῖνοι πατρώϊοι εὐχόμεθ' εἶναι.’
[[VI]][VII]
Vorwort.
Seit einiger Zeit iſt der Abenheim’ſche Verlag —
und damit ſind auch einige Bücher von mir, inſonder-
heit auch mein „Ergänzungs-Wörterbuch der deutſchen
Sprache“, — in die Hände eines andern Beſitzers über-
gegangen. Dieſer, Herr Hans Lüſtenöder in Berlin,
hat nun bei mir angefragt, ob ich nicht meine Schrift:
„Aus der Werkſtatt eines Wörterbuchſchreibers“, welche
ich in der Vorrede zu dem genannten Ergänzungs-
Wörterbuche als eine in nicht allzulanger Friſt zu ver-
öffentlichende angekündigt und welche er gern in ſeinem
Verlage zu meinem ſiebzigſten Geburtstage mit einem
Bildnis von mir und mit einem ſich auf meine, des
Wörterbuchſchreibers, Thätigkeit beziehenden Spruche
in meiner Handſchrift erſcheinen laſſen möchte, über-
laſſen könne und wolle.
[VIII]
Auf dieſe Anfrage muſste ich erwiedern, daſs ich
auf ein ſo freundliches Entgegenkommen ſehr gern und
bereitwillig eingehen würde, wenn es mir bei den be-
reits übernommenen Verpflichtungen nicht gradezu un-
möglich wäre, die gewünſchte Schrift rechtzeitig für das
Erſcheinen zu dem angegebnen Zeitpunkte fertig zu
ſtellen. „Sie wiſſen wohl,“ — ſchrieb ich —, „daſs
ich die den Anfang meiner Schrift bildenden beiden
erſten Plaudereien 1888 in dem Maiheft der von Paul
Lindau herausgegebnen Monatsſchrift: ‚Nord und Süd‘
veröffentlicht habe; aber ich muſs hinzufügen, daſs ich
zu der weitern Ausarbeitung des Übrigen bisher die
Zeit noch nicht gefunden habe und auch jetzt noch
nicht finden kann. Da Sie nun aber Gewicht auf
den angegebnen Zeitpunkt legen, ſo möchte ich Ihnen
einen Vorſchlag machen. Die in Lindau’s ‚Nord und
Süd‘ erſchienenen beiden erſten Plaudereien bilden ja
auch ſchon an und für ſich ein kleines, einigermaßen
in ſich abgeſchloſſenes Ganze, als welches ich ſie eben
auch den Leſern jener Zeitſchrift bieten konnte. Laſſen
Sie uns alſo dieſe beiden Plaudereien als eigenes
Büchlein in einem Neudruck veröffentlichen. Ihrem
Wunſche gemäß will ich gern für ein demnächſt auf-
zunehmendes Lichtbild von mir Sorge tragen, das als
Grundlage meines dem Büchlein beizugebenden Bild-
[IX] niſſes dienen kann, und auch ein Spruch dazu —
ganz wie Sie ihn wünſchen — liegt ſchon in Bereit-
ſchaft. In einem Vorwort aber“ — ich dachte dabei
an das, auf welchem jetzt das Auge des geneigten
Leſers ruht — „will ich als eine kleine Zugabe einen
Bericht über die eigenthümlichen Umſtände hinzufügen,
durch welche der angeſponnene Faden meiner Plau-
dereien am Schluſs der zweiten abgeriſſen worden iſt,
einen Bericht, für den ich auf die Theilnahme der
Leſer rechnen zu dürfen glaube, und außerdem will
ich mittheilen, in welcher Beziehung der meinem Bilde
beizugebende Spruch zu meinem Wörterbuch ſteht.
Zu Weiterem fehlt mir, wie geſagt, augenblicklich
die nöthige Muße und damit auch die rechte Stim-
mung. Wollte ich jetzt daran gehen, Ihrem Wunſche
gemäß die Plaudereien fortzuführen und zum Abſchluſs
zu bringen: ich müſste — ſelbſt wenn bei der äußerſten
Anſpannung meiner Kräfte es mir gelänge, die Friſt
inne zu halten — doch immer befürchten, etwas Über-
haſtetes und nicht voll Ausgereiftes darzubieten; und
Das möchte ich niemals und unter keiner Bedingung,
natürlich am wenigſten aber zu dem Eintritt in einen
für mich ſo bedeutſamen Lebensabſchnitt.
Laſſen wir es alſo zunächſt bei der Buchausgabe
der bereits veröffentlichten beiden Plaudereien und
[X] warten wir den Erfolg ab. Iſt dieſer der von uns
gewünſchte und gehoffte, ſo wird, falls ein gütiges
Geſchick mir weiter Leben und Kraft bewahrt, es mir
ſicher an dem Willen und an der Luſt nicht fehlen,
an den abgeriſſenen Faden neu anzuknüpfen und ihn
fort und bis zu Ende zu ſpinnen. Mit der Zeit wird
ſich dazu dann auch die nöthige Muße und damit
auch die jetzt fehlende richtige Stimmung finden.“
In ſeiner Antwort hierauf hat Herr Lüſtenöder
meinen Vorſchlag angenommen, da er — obgleich er
es anders gewünſcht hätte — doch die volle Berech-
tigung meiner Auseinanderſetzung nicht in Abrede
ſtellen könne. Und ſo erſcheint denn dieſes Büchlein
zu der von dem Verleger gewünſchten Zeit, wenn
auch zunächſt noch nicht in dem von ihm gewünſchten
Umfange.
Ich laſſe nun ohne Weiteres die oben angekün-
digten, dem Verleger für die Buchausgabe verſprochenen
Zugaben folgen.
Habent sua fata libelli oder, wie es in Goethe’s
Sprüchen heißt, auch Bücher haben ihr Erlebtes. Das
iſt mir bei keiner meiner Schriften ſo auffällig und
eindringlich zum Bewuſſtſein gekommen, wie bei der
vorliegenden, die zum Abſchluſs und bis zum Ende zu
bringen, mir bis heute noch nicht vergönnt war.
[XI]
Der Herausgeber einer neu zu begründenden
Zeitſchrift hatte mich um einen Beitrag erſucht und
dazu hatte ich die im raſchen Zuge unmittelbar hinter
einander niedergeſchriebenen beiden erſten Plaudereien
beſtimmt. Ich rechnete auf ſofortigen Abdruck und
meine Abſicht war, unmittelbar nachdem mir die ge-
druckten Bogen zugegangen ſein würden, die im Kopf
ziemlich fertige Fortſetzung ununterbrochen hinter ein-
ander niederzuſchreiben; aber Woche auf Woche und
nachher Monat auf Monat verging, ohne daſs mir
die Aushängebogen zugeſandt wurden. Auf meine
Mahnung empfing ich die Mittheilung, daſs unvorher-
zuſehende Hinderniſſe, namentlich eine ſchwere Erkran-
kung des Herausgebers, das Erſcheinen der neuen
Zeitſchrift um ein viertel Jahr hinausgeſchoben hätten,
und daran ſchloſs ſich die Bitte, mich demgemäß zu
gedulden. Das wiederholte ſich mehrmals, da die
Krankheit des Herausgebers ſich ſehr in die Länge
zog. Endlich aber wurde ſie doch gehoben und nun
erfolgte die öffentliche Ankündigung der neuen Zeit-
ſchrift und namentlich auch meines dabei in erſter
Stelle genannten Aufſatzes.
„Endlich!“ — dachte ich bei mir — und: „Was
lange währt, wird gut“. Die angekündigte Zeit des
Erſcheinens rückt näher und näher; da erhalte ich
[XII] urplötzlich — es war grade an meinem Geburtstag —
als eine keineswegs angenehme Überraſchung eine
Drahtbotſchaft, ich möchte meinen Aufſatz doch ſchleu-
nigſt noch einmal einſenden, da er auf räthſelhafte
und unerklärliche Weiſe in der Druckerei ſpurlos ver-
ſchwunden und trotz des eifrigſten Nachſuchens nicht
wieder aufzufinden ſei.
Darauf muſste ich aber antworten: Ich kann den
Aufſatz — namentlich ſo urplötzlich — nicht noch ein-
mal einſenden, da ich weder eine Abſchrift noch einen
Entwurf beſitze, und ſo erſchien denn der erſte Band
der Zeitſchrift ohne meinen Aufſatz, aber mit der —
den Uneingeweihten wohl ſchwer verſtändlichen — Be-
merkung im Briefkaſten:
„Die verehrten Leſer, welchen wir im erſten
Bande eine Arbeit des .... Sprachforſchers Daniel
Sanders verſprachen, bitten wir um Entſchuldigung,
daſs wir die Erfüllung dieſes Verſprechens beſon-
derer Gründe halber aufſchieben muſsten.“
Ein zweiter Band der Zeitſchrift aber iſt niemals
erſchienen; und die Leſer werden begreiflich finden, daſs
ich nicht daran dachte, die verlorene Arbeit, deren Er-
ſcheinen ſich ſo viele widrige Zwiſchenfälle in den Weg
geſtellt hatten, noch einmal zu ſchreiben und zu Ende
zu führen, zumal ich durch andere inzwiſchen auf-
[XIII] genommene Arbeiten mehr als hinreichend in Anſpruch
genommen war. „Es hat eben nicht ſein ſollen!“ —
dachte ich bei mir ſelbſt, bis mir — wiederum ganz
unerwartet — die Nachricht zuging, mein Aufſatz habe
ſich in der Druckerei, eben ſo urplötzlich, wie er ab-
handen gekommen, wieder angefunden; und einige
Zeit darauf hatte ich ihn wirklich wieder in meinen
Händen. Da beſchloſs ich denn, ihn ganz unverändert
— ſo wie er den Leſern von „Nord und Süd“ im
Maiheft 1888 vorgelegt worden iſt — zu veröffent-
lichen und abzuwarten, ob ich ſpäter Zeit und Stim-
mung finden würde, ihn fort und zu Ende zu führen,
und Das will und muſs ich auch jetzt noch abwarten,
wo die beiden Plaudereien aufs Neue in dieſer Buch-
ausgabe veröffentlicht werden.
Schließlich nun noch über den Spruch unter meinem
Bildnis!
Als der Verleger mir ſeinen Wunſch zu erkennen
gab, dem Buche das Bild des Siebzigjährigen bei-
zugeben mit einem Spruche in meiner Handſchrift,
der ſich auf meine langjährige raſtloſe Wirkſamkeit
in der „Werkſtatt des Wörterbuchſchreibers“ bezöge,
dachte ich im erſten Augenblick an den 134ſten Spruch
im 10ten Buche von Rückert’s „Weisheit des Brah-
manen“:
[XIV]
Dann aber ſagte ich mir ſofort, nicht bloß, daſs
dieſer ſechszeilige Spruch ſchon durch ſeinen Umfang
nicht zu der von dem Verleger gewählten Buchgröße
paſſe, ſondern auch, daſs er leicht eine falſche Meinung
über den Werth erwecken könne, welcher nach meiner
Schätzung der Thätigkeit des Wörterbuchſchreibers zu-
kommt.
Ich verkenne einerſeits nicht und habe nie ver-
kannt, wie unendlich höher das oft wie mühelos mit
der Gewalt und Schnelle des Blitzes zu Tage tretende
Thun der von göttlichem Geiſte erleuchteten und durch-
drungenen wahren Wortſchöpfer ſteht als die mühe-
volle, ſtill und langſam, aber ſtetig wirkende Arbeit
der kleinern Geiſter, welche die von der Geſammtheit
aller ſchöpferiſchen Geiſter eines Volkes in den Wör-
tern ſeiner Sprache niedergelegten Schätze möglichſt
vollſtändig und erſchöpfend zu ſammeln, überſichtlich
zu ordnen und den über die ungeahnte und in der
ſtetigen Fortentwicklung gradezu unerſchöpflichen Fülle
[XV] ſeines unermeſslichen Reichthums ſtaunenden Blicken
des Volkes zu erſchließen bemüht ſind; aber ich bin
andrerſeits doch auch, ſo ſehr ich mir in aller Be-
ſcheidenheit bewuſſt bin, nicht zu den ſchöpferiſchen
Mehrern unſerer Sprache zu gehören, weit davon
entfernt, von der meinem innern Trieb angemeſſenen
Thätigkeit und Wirkſamkeit eines Sammlers, Ordners,
Hüters und Wächters des deutſchen Sprachſchatzes ge-
ringſchätzig zu denken; und ſo hätte ich denn zur Ver-
hütung von Miſsverſtändniſſen jenem oben angeführten
ſechszeiligen Spruche aus Rückert’s „Weisheit des
Brahmanen“ etwa einen andern aus derſelben Quelle
geſchöpften, den 15ten des dritten Buches, hinzufügen
müſſen:
oder ich hätte auch, falls mir der Raum dafür zu
Gebote geſtanden hätte, eingedenk des Wortes, welches
Leſſing am Schluſſe ſeiner „hamburgiſchen Dramaturgie“
ausgeſprochen, daſs ſeines Fleißes ſich Jedermann
[XVI] rühmen dürfe, vielleicht die beiden letzten Versgebinde
aus Schiller’s „Idealen“ wählen dürfen:
Doch alle dieſe ſich mir aufdrängenden und doch
ſchon aus Rückſicht auf den Raum unausführbaren
Erwägungen waren unnöthig, da vor faſt 24 Jahren,
in demſelben Augenblicke, wo ich das letzte Wort meines
großen „Wörterbuches der deutſchen Sprache“ nieder-
geſchrieben, ich im Rückblick auf die abgeſchloſſene
[XVII] Arbeit und die Zeit, in welcher dieſer Abſchluſs er-
folgte, unter die letzte Zeile meiner Handſchrift für mich
die Bemerkung geſetzt:
„beendet den 11. Juli 1865, Nachmittag 5 Minuten
vor halb 2 Uhr.
EST DEUS IN NOBIS, AGITANTE CALESCI-
MVS ILLO.“
Ich entſinne mich des Augenblicks noch ſehr genau,
es war in der glühendſten Mittagshitze des brennend
heißen Sommertages. Wohl empfand ich hohe Freude
darüber, daſs nach jahrelanger raſtloſer, mühevoller
Arbeit das Werk, zu welchem der Gott in meiner
Bruſt mich nicht nur angeregt, ſondern auch mir die
Ausdauer und die Kraft verliehen, zum glücklichen
Abſchluſs gediehen ſei; aber in das Gefühl dieſer
Freude miſchte ſich doch — wohl mit unter dem Ein-
fluſs der drückenden Schwüle — zunächſt nicht (wie
ich es mir vorher wiederholt ausgemalt) das Wohl-
gefühl der wohlverdienten Muße, die ich mir nun
einige Zeit hindurch gönnen könnte, ſondern ein ge-
wiſſes beklemmendes Angſtgefühl, ähnlich, wie es der
Chor in Schiller’s „Braut von Meſſina“ ausſpricht:
2
[XVIII]
Nun, auch darüber bin ich ſehr bald hinweg-
gekommen, da es mir auch ſeitdem niemals an Be-
ſchäftigung und Arbeit gefehlt hat, die Schwere des
Daſeins und das ermüdende Gleichmaß der Tage zu
ertragen.
Nun aber muſs ich noch auf den oben angegebenen
bekannten, oft und viel angeführten lateiniſchen Vers
aus Ovid’s „Faſten“ oder „Feſtkalender“ (Buch VI,
V. 5) zurückkommen. In welcher Beziehung ich dieſen
Vers ſeinem Inhalt nach zu meinen Arbeiten auf dem
Gebiete unſerer Mutterſprache aufgefaſſt ſehen möchte,
bedarf keiner Erörterung, nur will ich für den des
Latein unkundigen Leſer eine deutſche Überſetzung hin-
zufügen:
aber, daſs der lateiniſche Vers auch zugleich ein ſoge-
nanntes Chronoſtichon oder Eteoſtichon iſt, d. h. in
ſeinen Zahlbuchſtaben das Jahr ergiebt, in welchem
ich mein Wörterbuch der deutſchen Sprache zum Ab-
ſchluß gebracht, würden vielleicht die wenigſten Leſer
bemerken, wenn ich hier nicht eigens auf dieſe in
[XIX] früheren Zeiten vielgeübte Zahlſpielerei aufmerkſam
machte und ſie in der nachfolgenden Darſtellungsweiſe
veranſchaulichte:
Und hiermit empfehle ich mich nun dem Wohl-
wollen der geneigten Leſer, bis ich — wenn es ihrem
Wunſche ſo entſpricht und ich die Zeit dazu finde —
an den abgeriſſenen Faden meiner Plaudereien an-
knüpfend, ſpäter einmal ihn vielleicht werde fortſpinnen
und zu Ende führen können. Gott befohlen!
Altſtrelitz (Meklbg.), am Pfingſt-
ſonntag, den 9. Juni 1889.
Dan. Sanders.
2*
In dem kurzen Vorwort, das ich meinem 1885 voll-
ſtändig erſchienenen „Ergänzungs-Wörterbuch der
deutſchen Sprache“ vorgeſetzt, habe ich mich auf das
unumgänglich Nothwendige beſchränkt, hier, wie bei
meinem zwanzig Jahr früher vollendeten dreibändigen
„Wörterbuch der deutſchen Sprache“, den mir für die
Ausarbeitung beider Werke als Richtſchnur dienenden
und nach Kräften getreulich durchgeführten Satz auf
die Vorrede ausdehnend, daſs grade derartige Nach-
ſchlagebücher am beſten und ſicherſten für ſich ſelbſt
ſprechen, wenn ſie nämlich den Nachſchlagenden die
geſuchte Auskunft in überſichtlicher Weiſe jedes Mal
möglichſt leicht und ſchnell und dabei möglichſt voll-
ſtändig und erſchöpfend finden laſſen, und daſs ſie ihrem
Zweck und ihrer Beſtimmung auch am beſten und
ſicherſten entſprechen, je weniger der Verfaſſer darin
mit ſeinen beſonderen Anſichten und Meinungen her-
vortritt und je mehr ſeine Perſon hinter dem für ſich
[2] ſelbſt ſprechenden ſachlichen Inhalt zurücktritt oder am
beſten verſchwindet.
In dem Vorwort zu dem zuletzt erſchienenen Er-
gänzungs-Wörterbuch jedoch habe ich geglaubt, mir
wenigſtens die mehr perſönliche Bemerkung geſtatten
zu dürfen:
Was ich noch weiter über das vorliegende Werk
und über deutſche Wörterbücher überhaupt zu ſagen
habe, überſchreitet bei Weitem den Raum einer
Vorrede; und ich verſpare es mir für eine eigene
Schrift, die ich, etwa unter dem Titel: „Aus der
Werkſtatt eines Wörterbuchſchreibers“ in nicht all-
zulanger Friſt zu veröffentlichen gedenke,
und es iſt mir zu meiner Freude und Genugthuung,
wie in öffentlichen Beſprechungen, ſo auch in Briefen
von den verſchiedenſten Seiten die Aufforderung zu-
gegangen, die angekündigte Schrift, der man geſpannt
und erwartungsvoll entgegenſehe, möglichſt bald er-
ſcheinen zu laſſen. So erſuche ich denn den geneigten
Leſer, in meine, des Wörterbuchſchreibers, Werkſtatt
einzutreten und ſich hier meine Mittheilungen und
Plaudereien gefallen zu laſſen.
[3]
I.
Ich bitte, machen Sie es Sich gefälligſt zunächſt in
dieſem Zimmer vor der eigentlichen Werkſtatt bequem
und laſſen Sie mich Ihnen hier in einer einleitenden
Plauderei berichten, wie ich dazu gekommen, ein deutſcher
Wörterbuchſchreiber zu werden.
Ob überhaupt jemals Jemand bei der Berufs-
wahl von vorn herein zu dem Entſchluſs gekommen
iſt, ein Wörterbuchſchreiber zu werden, — ich weiß
es nicht und ich bezweifle es; jedenfalls bei mir iſt es
nicht der Fall geweſen, ſo wenig wie bei den Brüdern
Jakob und Wilhelm Grimm und bei Littré.
Dieſer letztere eröffnet ſeine bekannte anmuthige
Plauderei: „Wie ich mein Wörterbuch der franzöſiſchen
Sprache zu Stande gebracht habe“ mit den allerdings
auf die Spitze getriebenen Worten:
„Nichts hatte mich eigentlich zu einer Unter-
nehmung der Art vorbereitet“
und Jakob Grimm, in der Vorrede zu dem von ihm
und ſeinem Bruder Wilhelm begonnenen „Deutſchen
Wörterbuch“, berichtet, als ihnen die erſte Anregung
zu dem genannten Werke 1837, wo ſie ihres Amtes
[4] in Göttingen entſetzt wurden, durch den Antrag der
Weidmann’ſchen Buchhandlung gegeben worden, ihre
unfreiwillige Muße durch die Abfaſſung eines neuen
großen Wörterbuches der deutſchen Sprache auszu-
füllen, da hätten ſie zunächſt einerſeits ſich dagegen
als gegen etwas ihnen Fremdes und fern Liegendes
geſträubt — „den Gedanken, den unermeſſenen Wort-
vorrath der deutſchen Sprache ſelbſt einzutragen, hatten
wir nie gehegt und ſchon der mühſamen Zurüſtungen
ſich zu unterfangen, konnte den für die Ausdauer un-
entbehrlichen Muth auf die Probe ſtellen“, ſo lauten
Jakob Grimm’s Worte —, andererſeits aber hätte
auch der in dem Vorſchlag liegende unwiderſtehliche
Reiz allen von vorn herein klar erkannten oder nur
dunkel geahnten Schwierigkeiten die Spitze geboten,
ſo daſs ſchließlich die beiden Brüder „williges und
beherztes Entſchluſſes ohne langes Fackeln das dar-
gereichte Geſchäft übernahmen.“
Soll ich nun aber weiter von mir ſelbſt berichten,
wie ich allmählich dazu gekommen, ein deutſcher Wörter-
buchſchreiber zu werden, ſo muſs ich ſchon ein wenig
weiter ausholen.
Ich habe das Glück gehabt, meine erſte Jugend-
bildung in der Schule meines Geburtsortes Altſtrelitz
zu empfangen, an deren Spitze damals als Leiter
[5]Dr. J. Lehfeldt (ſpäter mit ſeinem Schwager Dr. Moritz
Veit, Begründer und Beſitzer der Veit’ſchen Verlags-
buchhandlung) und neben ihm als zweiter Lehrer
J. Zedner (ſpäter Bibliothekar an dem brittiſchen
Muſeum in London) ſtanden. So weit ich aus meiner
Erinnerung über mich ſelbſt in jenen Kinderjahren
urtheilen kann, war ich ein Knabe, der allerdings das
in der Schule Gelehrte ziemlich ſchnell, leicht und ſicher
erfaſste, aber namentlich bei den häuslichen Arbeiten
ſich gar manche Flüchtigkeiten und Nachläſſigkeiten zu
Schulden kommen ließ und der nach Kinderart viel
mehr ans Spielen und Tollen als ans Lernen dachte.
Wenn ich gefragt wurde, was ich dereinſt werden
wolle, lautete die Antwort: „Natürlich Kaufmann, wie
mein Vater.“ Und was hätte der Knabe anders ant-
worten können und ſollen, der mit vollſtem Rechte in
ſeinem Vater das beſte Muſterbild ſah und verehrte,
wie er ihn in der ganzen Stadt, bei Hoch und Niedrig,
bei Arm und Reich verehrt ſah? Kannten dieſen doch
Alle hier als den beſten Sohn gegen ſeine armen
Eltern, als den gütigſten und liebevollſten Vater gegen
ſeine beiden Kinder, meinen um zwei Jahr ältern Bruder
und mich, deſſen Geburt meiner Mutter das Leben
gekoſtet hatte. Kannte doch die ganze Stadt ihn als
bieder und rechtſchaffen, als anſpruchs- und bedürfnis-
[6] los für ſich, als milde und freigebig gegen Noth-
leidende, als nach Kräften hilfsbereit gegen Alle in
allen Lagen. Ich bin auf meinem Lebenswege ſehr
vielen Männern begegnet, die meinen Vater an Gaben
des Geiſtes und an geiſtiger Ausbildung weit, weit
überragt haben, aber keinem einzigen, der ihn an
Herzensbildung, an Wohlwollen gegen alle Menſchen,
an Bieder- und Gradſinn übertroffen hätte, keinem,
in dem mehr die Goethe’ſche Forderung verkörpert zu
Tage getreten wäre:
Als Kind hätte ich natürlich Das, was ich hier
über meinen Vater geſagt, nicht in Worte zu faſſen
vermocht und auch von Andern habe ich, ſo viel ich
weiß, es ſo im Zuſammenhang nicht gehört, ſondern
mehr nur gelegentlich in einzelnen zerſtreuten und ab-
geriſſenen Ausrufen und Andeutungen; aber gefühlt
habe ich es, ſo lange ich denken kann, wie im eigenen
Herzen, ſo in dem von allen Bewohnern unſeres
Städtchens gegen meinen Vater unwillkürlich ſich kund-
[7] gebenden Benehmen deutlich ausgeſprochen. Und heute
glaube ich, zu erkennen, daſs ich, wenn ich als Kind
auf die Frage: „Was willſt du werden?“ die zuver-
ſichtliche Antwort gab: „Natürlich Kaufmann, wie mein
Vater“, eigentlich und im Grunde nicht den Wunſch
damit ausdrücken wollte, den Beruf meines Vaters
zu ergreifen, ſondern vielmehr — obgleich mir Das
auch im ſpäteren Lebensalter noch lange nicht zum
klaren Bewuſſtſein gekommen — den Wunſch, ich
möchte, es ſei, in welchem Beruf es wolle, meinem
Vater, wenn nicht gleich, doch einigermaßen ähnlich
werden, wie in der That mein Bruder, der meines
Vaters Geſchäft übernommen und noch heute fort-
führt, ihm ähnlich geworden iſt.
Doch Dem ſei, wie ihm wolle, meine Umgebung
und ich ſelbſt faſsten meinen wieder und immer wie-
der ausgeſprochenen Wunſch, einmal Kaufmann, wie
mein Vater, zu werden, ſo, wie er nach dem Wort-
laut allerdings einzig und allein aufzufaſſen war: nur
mein Vater ſelbſt hatte, beſtimmt durch das Urtheil
meiner beiden oben genannten Lehrer über meine Be-
gabung, einen andern Lebensberuf für mich ins Auge
gefaſſt, und wünſchte, daſs ich ſtudieren ſolle. Ich be-
wundere noch heute den erzieheriſchen Scharfblick meiner
beiden Lehrer, die trotz meiner oben erwähnten Flüchtig-
[8] keit und des Mangels an dem zum erfolgreichen Stu-
dium ſo unumgänglich nothwendigen ernſten und aus-
dauerndem Fleiße, von welchem ſie doch wohl einen,
wenn auch höchſt winzigen und noch ſehr eingehüllten
und verſteckten Keim bei mir muſsten entdeckt haben,
mich meinem Vater wiederholt als zum Studium ge-
eignet und berufen, bezeichnet hatten.
Die Sache kam für mich zum erſten Mal zur
Sprache, als meine beiden mehr genannten Lehrer von
der Schule abgingen und ich gleichzeitig auf eine andere
Lehranſtalt geſchickt werden ſollte. Als ich bei dieſer
Gelegenheit meinen Wunſch ausſprach, Kaufmann zu
werden, ſagte mir mein Vater in ſeiner gewohnten
liebevollen Weiſe und auch mir vollkommen einleuchtend:
„Bei einem zwölfjährigen Knaben iſt es natürlich
noch nicht an der Zeit, über ſeinen Lebenberuf zu ent-
ſcheiden. Es iſt mein Wunſch, daſs du ſtudierſt, und
ich werde dich deſshalb nach Neuſtrelitz aufs Gymna-
ſium geben, wo du, wie ich höre, nach Tertia kommen
wirſt. Sei dort recht fleißig und, wenn du dann nach
Sekunda gekommen und in dieſer Klaſſe ein Jahr ge-
weſen ſein wirſt, iſt es immer noch Zeit genug, eine
Berufswahl für dich zu treffen.“
So kam ich denn auf das Neuſtrelitzer Gymna-
ſium nach Tertia. Vor meinen neuen Mitſchülern hatte
[9] ich eine tüchtige Grundlage im Engliſchen und im
Franzöſiſchen voraus, welche beiden Sprachen auf der
Altſtrelitzer Schule mit als Hauptgegenſtände behandelt
worden waren, während auf dem Gymnaſium damals
vom Engliſchen überhaupt nicht die Rede war und im
Franzöſiſchen auch nur Privatunterricht ertheilt wurde,
an welchem nur Einzelne theilnahmen, und auch dieſe
meiſtens mehr, um allerlei Ungehörigkeiten und Unfug
zu treiben, als um wirklich die Sprache zu erlernen.
Dagegen war in der Altſtrelitzer Schule das Griechiſche
gar nicht gelehrt worden, allerdings hatte mein Vater
mir in der letzten Zeit bei einem tüchtigen Primaner
Privatunterricht im Griechiſchen ertheilen laſſen; aber
Das, was ich mir hier in den verhältnismäßig we-
nigen Stunden hatte aneignen können, reichte doch
für das in Tertia Geforderte nicht aus und hier
hatten meine neuen Mitſchüler einen bedeutenden Vor-
ſprung vor mir. Das fühlte und merkte ich bald und
ich ſagte mir, daſs ich ſehr tüchtig nacharbeiten müſſe,
um ſie hier einzuholen und dann, gleichen Schritt mit
ihnen haltend, vorwärts zu kommen. Ich ſagte mir,
daſs ich es müſſe, und, weil ich es muſste, wollte ich
es auch und in der That war ich nach nicht gar
langer Zeit auch hier mit in der Reihe und konnte
ohne Schwierigkeit mit fortſchreiten. Dieſer zum erſten
[10] Mal mir deutlich erkennbar durch ernſten Willen
errungene Fortſchritt kam mir auch ferner für mein
ganzes Leben zu Gute. Ich hatte zum erſten Mal
nicht bloß begriffen, ſondern auch an mir ſelbſt er-
probt, daſs der Menſch, was er ſeinen Fähigkeiten
gemäß ernſtlich will, auch wirklich kann und wie viel
ein ſolcher ernſtlicher Wille und, ihm entſprechend, un-
verrückt aufs Ziel blickende, ſtetig und unverdroſſen
ſchrittweiſe vorrückende Arbeit vermag.
Von einem Lehrfach muſs ich nun noch beſon-
ders ſprechen, von der Mathematik. Es herrſchte da-
mals — und herrſcht vielleicht noch — bei den Schü-
lern und auch bei einem großen Theil der Lehrer die
Anſicht, es bedürfe für dieſes Fach einer ganz beſon-
deren eigengearteten Anlage und, wem dieſe einmal
von der Natur verſagt ſei, Der komme auch bei an-
geſtrengtem Fleiße darin niemals recht vorwärts. Nach
meiner Überzeugung war es eben dieſe faſt als ein
keines Beweiſes bedürfender Grundſatz geltende An-
ſicht, welche in der That viele durchaus begabte
Schüler verhinderte, ſich in den erſten Anfängen
gründlich und lückenlos zu befeſtigen, um dann auf
der ſo gewonnenen feſten Grundlage ſchritt- und
ſtufenweiſe ſicher immer weiter fortbauen zu können,
was freilich bei dieſer aus folgerechten Schlüſſen und
[11] Ketten von Schlüſſen beſtehenden Wiſſenſchaft vor
Allem ganz unerläſslich iſt. Wenn ihnen dann aber
bei dem ihnen zugemutheten Fortſchreiten zum Be-
wuſſtſein kam, daſs die ihnen als bündig vorgetra-
genen Schluſsfolgerungen für ſie ſo zu ſagen in der
Luft ſchwebten und darum haltlos ſofort in ſich zu-
ſammenſtürzten, ſo ſuchten ſie den gut zu machenden
Fehler nicht darin, daſs ſie verſäumt hatten, die noth-
wendige Grundlage in ſich feſt zu legen, ſondern in
einem ihnen angeborenen Mangel der beſonderen und
eigenartigen Begabung für Mathematik. Doch Dem
ſei, wie ihm wolle, jedenfalls war damals auf dem
Neuſtrelitzer Gymnaſium die Zahl der Schüler, die in
der Mathematik wirklich Genügendes leiſteten, eine
nur ſehr mäßige und, da ich fortwährend an der
Spitze derſelben ſtand, ſo galt ich bald nach dem da-
mals dort herrſchenden Sprachgebrauch als „der
Mathematiker“ κατ' ἐξοχήν.
Ich komme nun auf die Wahl meines Lebens-
berufes zurück. Nachdem ich ein Jahr in Sekunda
geweſen, fragte mich mein Vater, ob ich nun noch
nicht dem Gedanken an das Studium, für welches
auch meine jetzigen Lehrer mich geeignet und berufen
hielten, mehr Geſchmack abgewonnen hätte. Ich erklärte
meinem Vater, daſs ich allerdings noch immer lieber
[12] Kaufmann werden als ſtudieren, aber auch ohne Wider-
ſtreben und bereitwillig mich ſeiner Beſtimmung fügen
würde, wenn er das Studium für mich vorzöge. Ähnliches
wiederholte ſich dann noch öfter, namentlich, als ich nach
Prima verſetzt worden, und ſchließlich, als ich ein gutes
Zeugnis der Reife für die Hochſchule in der Taſche hatte.
Ich erfuhr nun, daſs es immer meines Vaters
Lieblingswunſch geweſen, mich dereinſt als einen tüch-
tigen Arzt zu ſehen. Sehr begreiflich; denn mein Vater
war von der Natur mit einem ſcharfen und klaren
ärztlichen Blick ausgerüſtet und er hatte ſich im innigen
Umgange mit einem befreundeten Arzte*) und einem
befreundeten Apotheker**) auch eine unverächtliche ärzt-
liche Kenntnis angeeignet und ich bin überzeugt, daſs
er, wenn es die Verhältniſſe in ſeiner Jugend ihm ge-
ſtattet hätten, zu ſtudieren, gewiſs ein ſehr tüchtiger
Arzt geworden wäre. Als ich nun aber meinem Vater
ſagte, daſs ich zu dem Beruf eines Arztes in mir durch-
aus keine Neigung verſpürte, wohl aber eine beſtimmt
[13] ausgeſprochene zu dem eines Lehrers und Jugend-
bildners, war er auch damit ſofort zufrieden und ein-
verſtanden und ſo bezog ich denn die Hochſchule mit
dem auch von meinem Vater gut geheißenen Vorſatz,
mich für den jetzt erwählten Beruf möglichſt vielſeitig
aus- und vorzubilden, wobei mein Hauptaugenmerk
einerſeits auf Mathematik und Naturwiſſenſchaften,
andererſeits auf Sprachen gerichtet war.
Ich darf ſagen, daſs ich auf der Hochſchule, wie
ich es ſchon auf dem Gymnaſium gethan, meine Zeit
gehörig ausgenutzt. Zu beſonderer Freude und zum
großen Vortheil für meine Beſchäftigung mit dem
Griechiſchen gereichte mir der rege freundſchaftliche Ver-
kehr mit den damals in Berlin ſtudierenden Griechen,
aus deren Munde ich gelegentlich eine ziemlich anſehn-
liche Menge von Volks-Liedern und -Sagen hervor-
zulocken und aufzuzeichnen wuſste. Ich fand Gelegen-
heit, noch vor dem Abſchluſs meiner Studentenzeit
wenigſtens einen Theil davon in Überſetzungen in
einem Büchlein zu veröffentlichen, das ich in Gemein-
ſchaft mit zwei auf der Hochſchule gewonnenen Freun-
den, Moritz Carriere (jetzt in München) und dem treff-
lichen, leider zu früh dahingeſchiedenen Heinr. Bernh.
Oppenheim, unter dem Titel: „Neugriechiſche Volks-
und Freiheitslieder. Zum Beſten der unglücklichen
3
[14] Candioten. Grünberg und Leipzig, 1842. Verlag von
W. Levyſohn“ herausgab. Kurz darauf, nachdem ich
auch die Doktorwürde erworben, wurde mir in meiner
Vaterſtadt die Leitung derſelben Schule übertragen, in
der ich ſelbſt, wie oben berichtet, meine erſte Jugend-
bildung empfangen hatte.
In dieſem Amte, dem ich mich mit Luſt und Liebe,
mit dem größten Eifer und mit der vollſten Hingebung
widmete, habe ich dann nahe zehn der ſchönſten Jahre
meines Lebens, bis zum Eingehen der trefflich ge-
deihenden Schule, zugebracht. In dieſer ganzen Zeit
bildete meine Schule und die Sorge für die mir an-
vertraute Jugend den Mittelpunkt meines Denkens,
Lebens, Webens, Wirkens und Schaffens. Die wenigen
mir frei bleibenden Stunden wurden zum größten Theil
durch ſchriftſtelleriſche Thätigkeit ausgefüllt. So erſchien
1844 mein „Volksleben der Neugriechen, dargeſtellt und
erklärt aus Liedern, Sprichwörtern und Kunſtgedichten“
in Mannheim bei Baſſermann und ferner war ich als
Mitarbeiter an verſchiedenen Zeitſchriften thätig, na-
mentlich an dem Herrig’ſchen „Archiv für das Studium
der neueren Sprachen“, an den (Berliner) „Jahr-
büchern für wiſſenſchaftliche Kritik“, wie an den da-
mals von Fleckeiſen und Klotz geleiteten „Jahrbüchern
für Philologie und Pädagogik“.
[15]
Für dieſe letzte Zeitſchrift hatte ich auch eine ein-
gehende Beurtheilung des Grimm’ſchen „deutſchen
Wörterbuches“ beſtimmt, von welchem eben die beiden
erſten Lieferungen erſchienen waren. Meine Arbeit
wurde mir, nachdem ſie ungebührlich lange Zeit zu-
rückgehalten worden war, unter einem nichtigen und
leicht durchſichtigen Vorwande zurückgeſchickt und ich
ließ ſie nun als eigenes Heft in Hamburg bei Hoff-
mann und Campe erſcheinen, wo ſchon früher die von
Adolf Glaßbrenner und mir gemeinſchaftlich verfaſsten
„Xenien der Gegenwart“ erſchienen waren. Meine Be-
urtheilung erregte Aufſehen, ſie wurde vielfach heftig
angegriffen und geſchmäht, aber, da ich nirgend einen
Tadel ausgeſprochen, ohne ihn ſachlich auf gute, ein-
leuchtende und ſchwer widerlegbare Gründe geſtützt zu
haben, ſo wurde meines Wiſſens nirgend auch nur
der Verſuch einer wirklichen Widerlegung gemacht
und manche unabhängigen Blätter hatten den Muth,
unverblendet, durch die — wie auch ich rückhaltlos
ausgeſprochen hatte — mit vollſtem Recht gefeierten
Namen, die Stichhaltigkeit meiner gegen das Grimm’-
ſche Wörterbuch gemachten Ausſtellungen anzuerkennen.
Inzwiſchen waren zwei neue Lieferungen des Grimm’-
ſchen Wörterbuches erſchienen, die zu einer weiteren
Beleuchtung und Beurtheilung anzuregen, wohl geeignet
3*
[16] waren, und ſo ließ ich denn auf die Aufforderung
meines Verlegers dem erſten Hefte ein zweites folgen,
das die gleiche Aufnahme fand.
Die beiden Hefte hatten auf mich unter Anderen
auch das Augenmerk der J. J. Weber’ſchen Verlags-
buchhandlung in Leipzig gerichtet, die ſeit Jahren den
Wunſch und die Abſicht gehegt, ein deutſches Wörter-
buch nicht für den ausſchließlichen Kreis der Sprach-
gelehrten, ſondern zum Gebrauch für alle gebildeten
und bildungsbefliſſenen Deutſchen zu verlegen. Durch
die Vermittelung des Verlagsbuchhändlers Otto Wigand
in Leipzig ging mir die Anfrage zu, ob ich geneigt
wäre, die Ausarbeitung eines derartigen Werkes zu
übernehmen. Es war eben damals die Schule, an
deren Spitze ich bis dahin als Leiter geſtanden hatte,
eingegangen, aber gleichzeitig war mir von Frank-
furt a. M. aus die Leitung einer ähnlichen, nur viel
größeren Anſtalt angetragen worden, und ſo war ich
denn vor eine für mein künftiges Leben ausſchlag-
gebende und entſcheidende Zwiewahl geſtellt. Beide
ſich mir ſo eröffnenden Ausſichten hatten für mich ihr
ſehr An- und Verlockendes. Leichter, bequemer und
ſicherer war für mich jedenfalls die Frankfurter Stel-
lung, in der ich auf der bereits von mir bis dahin
mit gutem und anerkanntem Erfolge beſchrittenen Bahn
[17] nur gleichmäßig fortzuſchreiten hatte; außerdem bot ſie
nicht nur mir ſelbſt für meine Lebenszeit ein ſicheres
Auskommen, ſondern auch eine Verſorgung für meine
Hinterbliebenen. Andrerſeits aber war, während ich
mich eingehend mit der Beurtheilung des Grimm’ſchen
Werkes beſchäftigt hatte, vor meinen Geiſt in immer
ſchärferen, beſtimmteren und klareren Umriſſen, das
Bild eines deutſchen Wörterbuches getreten, wie ich
es nach Maßgabe meiner Kräfte zu Nutzen und
Frommen meines Volkes ihm als eine hoffentlich will-
kommene Gabe darbringen zu können hoffen durfte,
und dieſes Bild ſtimmte im Großen und Ganzen mit
dem Bilde überein, das ſich unabhängig von mir die
Weber’ſche Verlagsbuchhandlung für das von ihr lange
gewünſchte und geplante Wörterbuch entworfen hatte,
ein Werk, zu deſſen Ausführung nach vielfachen, oft
wiederholten und erneuerten Fehlverſuchen ſie endlich
in mir den rechten Mann gefunden zu haben hoffte
oder, wie ſie ſagte, überzeugt war, wie denn auch alle
Einzelheiten, die ich in ſpäteren Verhandlungen bei
der näheren Auseinanderſetzung und Entwickelung
meines Planes ihr darlegte, ſchließlich ihre volle Zu-
ſtimmung und Billigung fanden. Der Gedanke, ein
für mein Volk nützliches Werk ſchaffen zu können,
hatte es mir angethan und fiel bei meinem Hin- und
[18] Herwägen ſchwer in die Wagſchale zu Gunſten des
Wörterbuches, während für die Gegenſchale ſich die
Erwägung geltend machte, daſs ich nach den bis-
herigen Erfahrungen und Erfolgen ganz zweifellos
mich der Frankfurter Stelle vollkommen gewachſen
fühlen durfte, daſs ich in derſelben nur eine mir
ihrer Art nach bereits bekannte und jedenfalls weit
weniger ſchwere und drückende Laſt auf die Schulter
nahm und daſs ſie, wie geſagt, mir und den Meinen
eine ſichere Zukunft verbürgte. Ich habe lange hin-
und hergeſchwankt und in jener Zeit gründlich das
horaziſche:
erkennen und würdigen gelernt, und, als ich mich
ſchließlich entſcheiden muſste, entſchied ich mich, zwar
nicht leichten Herzens, aber doch getroſten Muthes
für das Wörterbuch.
Bei einem derartigen Entſchluſs wirken in der
Regel eine Menge verſchiedenartige, dem Menſchen
ſelbſt nicht alle zum klaren Bewuſſtſein kommende
[19] Gründe zuſammen und gewiſs war es auch bei mir
der Fall; ſchwerlich hätte ich ſie damals alle namhaft
machen können und kann es heute noch weniger. Doch
glaube ich, daſs zu den ausſchlaggebenden Etwas ge-
hörte, das manchen Andern grade eher zurückge-
ſchreckt hätte.
Αὐτὸς γὰϱ ἐφέλκεται ἄνδϱα σίδηϱος, das Schwert ſelbſt
ziehet den Mann an, wie es bei Vater Homer heißt.
Ich muſste von vorn herein ſehr wohl und hatte es
mir von vorn herein ſehr klar gemacht, daſs, ſobald
ich die Verpflichtung übernahm, das Wörterbuch nach
dem von mir entworfenen und feſtgeſetzten Plan inner-
halb eines beſtimmten abſehbaren Zeitraums voll-
ſtändig von A bis Z auszuarbeiten, ich mir damit
eine Bürde auflud, die ungebeugt und ungebrochen
bis ans Endziel zu tragen, nicht allzuviele Schultern
kräftig und ſtark genug ſein würden; aber ich hatte
bei meinem bisherigen Wirken erprobt, daſs ich meiner
Kraft ein nicht gewöhnliches Maß von Arbeit zu-
muthen dürfte; ich wuſste, daſs ich in Dem, was ich
ernſtlich wollte, nicht leicht ermatten, daſs es mir an
unverdroſſenem Fleiß und zäher Ausdauer nicht fehlen
würde, und ſo durfte nach redlicher Selbſtprüfung ich
hoffen, daſs mit Gottes Hilfe bei voller Anſpannung
meiner ganzen Arbeitskraft ich das Werk, deſſen
[20] Schwierigkeit mich eben reizte, in der feſtgeſetzten Friſt
glücklich werde zu Ende führen können. Gott hat mir
beigeſtanden und der Erfolg hat bewieſen, daſs mein
allerdings kühnes Vertrauen auf die eigene Kraft doch
kein vermeſſenes geweſen.
Die freundlichen Leſer, die bis hierher meinen
Mittheilungen gefolgt, wiſſen nun, wie ich keineswegs
von vorn herein aus eigenem, innerem Triebe, —
ſondern vielmehr allmählich durch die Beſtimmung
und die Einwirkung anderer Perſonen und der Ver-
hältniſſe zu einem deutſchen Wörterbuchſchreiber ge-
worden. Macht doch in der Regel überhaupt nicht
der Menſch die Verhältniſſe, ſondern die Verhältniſſe
machen ihn.
Ich weiß ſehr wohl, daſs ich in dieſer meiner
erſten Mittheilung mich etwas kürzer hätte faſſen
können; aber, wenn ich hier von der Freiheit der
Plauderei Gebrauch — doch hoffentlich keinen Miſs-
brauch — gemacht, ſo leitete mich dabei nicht bloß
der leicht begreifliche Wunſch, die ſich hier ungeſucht
bietende und gern ergriffene Gelegenheit zu benutzen
und meinem trefflichen Vater ein kleines Gedächtnis
zu ſtiften, ſondern ich hoffte auch zugleich, durch meine
Erzählung manchen Eltern einen bei der Berufswahl
ihrer Kinder beherzigenswerthen Wink und Rath zu geben.
[21]
Ich habe im Leben nur zu oft geſehen, daſs
liebevolle Eltern auf die Antwort, welche ein Kind
auf die Frage: „Was willſt du werden?“ giebt, zumal
wenn es heranwachſend dieſelbe mit einer gewiſſen
Zähigkeit feſthält und wiederholt, ein gar zu großes
und unverhältnismäßiges Gewicht legen, als ſpräche
ſich in einer ſolchen Antwort in der That immer eine
beſtimmte Neigung und eine beſondere Begabung für
den von dem Kinde genannten Beruf aus. Man
ſollte doch aber wohl erwägen, daſs, wenn ein Knabe
auf die Frage, was er werden wolle, den Beruf
ſeines Vaters nennt, ſich darin oft nur der kindiſche
oder kindliche Nachahmungstrieb äußert, daſs der
Knabe, der erhitzt und aufgeregt durch das Leſen
ſeines Robinſon und wunderbarer, abenteuerlicher
Seereiſen, es als ſeinen höchſten Wunſch bezeichnet,
ein Seemann zu werden, meiſt nicht die geringſte
Ahnung von dieſem Berufe, ſeinen Beſchwerden und
Gefahren hat, — daſs überhaupt Kinder über einen
Beruf faſt immer nur nach Äußerlichkeiten urtheilen
und urtheilen können, ohne die Licht- und Schatten-
ſeiten zu kennen und ohne zu einem wirklichen Urtheil
über ihre Befähigung für den Beruf irgend berechtigt
zu ſein. Sorgfältige Eltern und Erzieher werden in
der Regel beſſer und richtiger erkennen, wozu ein Kind
[22] wirklich befähigt und berufen iſt, und, wenn ſie unter
Berückſichtigung aller einſchlägigen Verhältniſſe es dazu
hinleiten und vernünftig des Kindes Wahl lenken und
beſtimmen, ſo verfahren ſie liebevoller und erweiſen
dem Kinde eine größere Wohlthat, als wenn ſie den
oft unverſtändigen Wunſch eines unreifen Knaben als
ausſchlag- und maßgebend anſehen und ihn, weil er
es urtheillos und unbedacht wünſcht, einen Beruf er-
greifen laſſen, der nicht für ihn und für den er nicht
paſſt und den ergriffen zu haben, er im ſpäteren Leben
oft bitter bereut.
II.
„Du haſt die Leſer in deine Werkſtatt eintreten heißen,
um ihnen dort Mittheilungen aus der Werk-
ſtatt zu machen, aber, was wir bisher von dir gehört,
war doch eigentlich nur ein Bericht, wie du überhaupt
dazu gekommen, ein Wörterbuch zu ſchreiben. So
führe uns doch endlich in deiner Werkſtatt ſelbſt
umher, zeige und erkläre uns deren Einrichtung,
[23] dein Handwerkszeug u. ſ. w. Du haſt zu deinem Werk
offenbar mancherlei Stoff gebraucht. Wer hat ihn
dir geliefert oder woher haſt du ihn genommen?
Welche Anordnung haſt du getroffen, um aus der —
wie man ſich ohne Weiteres denken kann — ver-
wirrenden, kaum zu bewältigenden und zu überſehen-
den Fülle des Stoffes den für die Verarbeitung im
Augenblick grade erforderlichen und nothwendigen
immer gleich zur Hand zu haben? Und wenn du
dann alle grade nöthigen Stoffe zur Hand hatteſt,
welches Verfahrens bedienteſt du dich, um aus den
vielerlei verſchiedenartigen, die doch wohl jedenfalls
noch einer Vorbereitung und Vorbearbeitung bedurften,
auf deinem — darf ich ſagen? — Webſtuhle ein gleich-
mäßiges Geſpinnſt und Gewebe herzuſtellen, das ſich
im gehörigen Verhältnis dem Ganzen deines Wörter-
buches richtig einfügte? u. ſ. w. Siehſt du, Herr Wörter-
buchſchreiber, Das ſind Fragen, auf die wir von dir
gehörige Antwort und Auskunft haben möchten.“
Wenn ſo oder in ähnlicher Weiſe ein minder ge-
duldiger Leſer das Wort nimmt, ſo muſs ich ihm frei-
lich vollkommen Recht geben; aber er wird mir wohl
auch zugeſtehen, daſs ſich nicht alle ſeine Fragen gleich-
zeitig und auf einmal beantworten laſſen, und ich hoffe,
er und alle meine Leſer räumen mir bereitwillig das
[24] Recht ein, bei meinen weitern Plaudereien gelegentlich
und, ohne daſs ich mich an eine allzuſtrenge Ordnung
und Reihenfolge binde, eine Frage nach der anderen,
bald mehr, bald minder eingehend zu beantworten,
etwa wie es der Werkführer thut, wenn er werthe
Gäſte in der Werkſtatt umherführt und an irgend
einen Gegenſtand, der ſich ihnen grade zum Anblick
darbietet, Mittheilungen anknüpft, von denen er an-
nimmt, daſs ſie den Antheil der den Werkraum Durch-
muſternden erregen könnten.
Treten wir alſo nun in die Arbeitsſtätte ſelbſt
ein und ſprechen wir zunächſt von den erſten und
nothwendigſten Hilfsmitteln des Wörterbuchſchreibers.
Sie denken Sich ohne Weiteres und begreifen
ſofort, daſs er ſich, wenn es ſich nicht etwa um eine
Sprache handelt, in der es überhaupt noch kein Wörter-
buch giebt, zunächſt alle ſeine ſelbſtändigen Vorgänger
möglichſt vollſtändig zu verſchaffen ſuchen wird, da es
ſich eigentlich doch nur darum handeln kann, den be-
reits von dieſen zuſammengebrachten und in beſtimmter
Ordnung eingereiheten Stoff zu ergänzen, zu vervoll-
ſtändigen, zu erweitern, zu berichtigen u. ſ. w., indem
man Fehlendes hinzufügt, namentlich überſehene oder
neu hinzugekommene Wörter, Wortverbindungen,
Redensarten und eigenartige Anwendungen, wie auch
[25] den früheren Sammlern entgangene oder erſt nach
ihrer Zeit ausgebildete eigenthümliche und beſondere
Bedeutungen von Wörtern ein- und nachträgt, irrige
und falſche oder doch aus einſeitigen, beſchränkten und
unzureichenden Beobachtungen abgezogene Bemer-
kungen, Regeln und Vorſchriften über den Sprach-
gebrauch verbeſſert und umgeſtaltet u. ä. m.
Nehmen nun ſchon die Wörterbücher meiner ſelb-
ſtändigen Vorgänger in meiner Werkſtatt einen immer-
hin anſehnlichen Raum ein, ſo verſchwinden ſie doch
gegen die übrigen Bücher und Schriften, aus welchen
ich den im heutigen Gebrauch lebenden Wortſchatz
unſerer unerſchöpflich reichen Mutterſprache möglichſt
vollſtändig zu gewinnen und mit den nöthigen Be-
legen in mein Wörterbuch einzutragen befliſſen war.
„Wörterbuch der deutſchen Sprache. Mit Be-
legen von Luther bis auf die Gegenwart“, hatte ich
auf den Titel meines Werkes geſetzt und ſo handelte
es ſich alſo um das Schriftthum von reichlich vierte-
halb Jahrhunderten. Natürlich iſt Das nicht ſo zu
verſtehen, als ob ich — oder als ob überhaupt irgend
Jemand — alles das in dieſem weiten Zeitraume in
deutſcher Sprache Erſchienene oder auch nur das von
dem Erſchienenen in irgend einem Abdruck Erhaltene
— in ſtetigem Rückblick auf das daraus für das
[26] Wörterbuch zu Gewinnende — von A bis Z hätte durch-
leſen, ausziehen und ausnützen können. Es bleibt
immerhin noch eine Rieſenaufgabe, wenn man aus
dieſem ungeheuren Wuſt auch nur die hervorragen-
deren Schriften auswählt, die durch ihre Bedeutſam-
keit und ihren inneren Werth es verdienen, als gültige
Zeugen und Gewährsmänner für das Vorkommen von
Ausdrücken, Redewendungen und Redensarten, Wort-
fügungen und Wortbedeutungen aufgerufen zu werden
oder die ſelbſt nachweisbar auf die Aus- und Fort-
bildung der Sprache einen namhaften und beachtens-
werthen Einfluſs geübt. Es ſoll damit durchaus nicht
geſagt ſein, daſs nicht auch in den unbeachtet ge-
bliebenen Schriften ſich manches für das Wörterbuch
Beachtenswerthe und wohl zu Verwerthende findet,
aber welcher Bergmann würde daran gehen, Schutt-
halden auszuklauben, ſo lange ſich ihm noch reiche und
ergiebige edle Erzadern zur Ausbeutung darbieten?
Dazu kommt noch, daſs Demjenigen, welcher die Fülle
der mit gutem Bedacht ausgewählten Schriften ſorg-
ſam und getreulich zur möglichſt vollſtändigen und er-
ſchöpfenden Ausnutzung für das Wörterbuch durch-
muſtert, faſt ganz von ſelbſt der Zufall auch eine nicht
geringe Anzahl anderer, urſprünglich nicht mitgewählter
Schriften in die Hände ſpielt, in denen er mit geſchärftem
[27] Blick oft ſehr wohl verwerthbare und werthvolle Be-
lege entdeckt, die er, ſich ſeines guten Finderglückes
freuend, in die für das Wörterbuch angelegten Vor-
rathsbehälter einträgt. Auch hatte ich mich des Glückes
zu erfreuen, daſs, ſowohl bei meinem Wörterbuche der
deutſchen Sprache, wie ſpäterhin bei meinem Ergän-
zungs-Wörterbuche, perſönlich mir ganz Fernſtehende mir
unaufgefordert und aus eigenem Antriebe reiche Bei-
ſteuern von höchſt erwünſchten Belegſtellen zuſandten,
die zur weſentlichen Bereicherung meiner eigenen
Sammlungen dienten. Beſonders hervorheben muſs ich
es, daſs ich bei den von mir ausgewählten Schriften
mich durchaus nicht bloß auf die wiſſenſchaftlichen und
ſchönwiſſenſchaftlichen beſchränkt, ſondern ganz eigens
und gefliſſentlich auch die fachwiſſenſchaftlichen mit in
den Kreis hineingezogen, wie ich es denn in noch
weiterem Umfange als eine meiner Hauptaufgaben
anſah, in meinem Wörterbuche nicht nur die Bücher-
ſprache, ſondern zugleich auch die Sprache des gewöhn-
lichen Lebens, des Handels und Wandels, des allge-
meinen Verkehrs, der Handwerke, Künſte, Fabriken und
der verſchiedenen Berufsarten mit aufzunehmen, zu wür-
dern und zu erklären, wofür, wo die Bücher nicht aus-
reichten, aus mündlicher Unterhaltung mir Belehrung und
Auskunft zu verſchaffen, ich mir angelegen ſein ließ.
[28]
Welche Maſſe von Büchern mir den Stoff ge-
liefert, mag man annähernd erkennen, wenn man ſich
die Mühe nehmen will, das am Schluſs meines „Wörter-
buches der deutſchen Sprache“ (in der zweiten Hälfte
des zweiten Bandes, S. 1816 ff.) enthaltene und hier
30 Spalten, jede zu etwa 80 Zeilen, füllende „Quellen-
verzeichnis“ etwas genauer anzuſehen. Abſichtlich
ſind darin, wie dort eigens hervorgehoben iſt, Werke,
aus denen nur vereinzelte Belegſtellen entnommen ſind,
nicht beſonders — und eben ſo wenig die in den
Sammelwerken enthaltenen Schriftſteller einzeln — auf-
geführt. Man erwäge dabei, was in einem der-
artigen Quellenverzeichnis oft eine oder zwei Zeilen
für eine Fülle des durchzuarbeitenden Stoffes in ſich
ſchließen, was es Beiſpiels halber beſagen will, wenn
es hier heißt:
„Goethe, J. W., 1749—1832. Sämmtliche Werke
in 40 Bdn. ꝛc. — oder:
„Luther, Mart., 1483—1546. Die Bibel nach
der letzten von Luther ſelbſt revidierten Ausg., ge-
druckt zu Wittenberg durch Hans Lufft. 1545. —
Bücher und Schriften nach der Jenaer Folio-Aus-
gabe, angeführt nach Band und Blattzahl“ u. A. m.
Die für das „Ergänzungs-Wörterbuch“ hinzu-
gekommenen Schriften würden außerdem für ſich
[29] noch einen ziemlich bedeutenden Umfang in Anſpruch
nehmen.
Dieſe große Menge von Schriften aus mehr als
viertehalb Jahrhunderten war natürlich niemals gleich-
zeitig auf einem Haufen in meiner Werkſtatt oder, wie
man ſonſt mein mäßig großes Arbeitszimmer nennen
will. Sie hätten darin, ſo ſehr es auch zu Zeiten mit
Büchern angefüllt und überfüllt war, nimmermehr zu-
gleich Raum gefunden. Vielmehr behielt ich in meinem
eigentlichen Arbeitsraume größtentheils nur die Bücher,
die ich eben unausgeſetzt und fortwährend gleich zur
Hand haben wollte und muſste; die übrigen Bände
wanderten, ſobald die daraus für das Wörterbuch zu
benutzenden Belegſtellen möglichſt vollſtändig entnommen
waren, hinaus, um anderen eben ſo für das Wörter-
buch auszuziehenden Platz zu machen.
Diejenigen, die bis hierher meiner Plauderei zu
folgen die Freundlichkeit und Geduld gehabt, werden
daraus, denke ich, eine genügende Überſicht gewonnen
haben über die Menge von Schriften, aus denen ich
den im Wörterbuch weiter zu verarbeitenden Stoff ge-
zogen. Ich möchte hier nun die Mittheilung anreihen,
auf welche Weiſe dieſer Stoff aus den Schriften aus-
gezogen worden und wie dann die auf ſolche Weiſe
aus den verſchiedenen Werken zuſammengebrachte Fülle
4
[30] der ſpäter als Beiſpiele und Belege zu benutzenden
Stellen, wenn auch nicht endgültig, ſo doch wenigſtens
vorläufig in einer einigermaßen überſichtlichen und die
Möglichkeit einer weiteren Ordnung gewährenden An-
ordnung zuſammengeſtellt und eingefacht worden ſind.
Ich glaube, ich komme am ſchnellſten und kürzeſten
zum Ziel und mache mich auch den meiner Plauderei
Folgenden am deutlichſten, wenn ich ſie einlade, gemein-
ſam mit mir etwa das erſte kleine Gedicht unter
Goethe’s Liedern in möglichſter Vollſtändigkeit für das
Wörterbuch auszuziehen. Ich darf, wie bisher, auch
hier wohl von der Freiheit der Plauderei Gebrauch
machen, gelegentlich einzelne mir wünſchenswerth oder
nothwendig erſcheinende Abſchweifungen einzuflechten.
Das kleine zwölfzeilige Gedicht, das in der von
mir zu Grunde gelegten vierzigbändigen Ausgabe ſich
im erſten Bande, Seite 10 findet, hat den Titel: „Vor-
klage“ und lautet:
[31]
Sehen wir uns nun das Gedicht in Bezug auf
die daraus für das Wörterbuch zu gewinnende Aus-
beute recht ſorgfältig an, ſo drängt ſich uns gleich bei
der Überſchrift die Frage auf: warum hat der Dichter
dieſe Überſchrift gewählt? und in welchem Sinne iſt
das Wort „Vorklage“ hier zu faſſen? Laſſen wir zu-
nächſt die Antwort auf ſich beruhen und ſchreiben wir
auf einen Zettel:
Vorklage. G. 1, 10 (d. h. ſo viel wie: Goethe,
Band 1, Seite 10).
Davon, daſs das mittlere Versgebinde in ſeiner
Reimſtellung mit den beiden anderen nicht überein-
ſtimmt, ſehen wir hier natürlich ab, als ohne Belang
für das Wörterbuch, und machen uns zunächſt den
Gedankengang des Dichters klar.
Er iſt zu dem Entſchluſs gekommen, ſeine bisher
zerſtreuten Lieder zu ſammeln; aber nun kommt ihm
ein Bedenken: er fühlt, ſeine bei den verſchiedenſten
Gelegenheiten entſtandenen Lieder waren der ungeſucht
hervorbrechende Ausdruck ſeiner jedesmaligen augen-
blicklichen Stimmung, er hat darin nicht ſeine Ge-
4*
[32] danken in wohlgeordneter Faſſung ausgeſprochen, ſon-
dern, von ſeinen Gefühlen leidenſchaftlich erregt und
überwältigt, ſie, ſeiner kaum ſelbſt vollbewuſſt, gleich-
ſam ſtammelnd hervorgeſtoßen; und darum nahm ſich
ſchon das einzelne Lied, wie es ſchriftlich aufgezeichnet
worden, ſeltſam und befremdlich genug aus. Das
Befremden muſs ſich aber noch in hohem Grade ſtei-
gern, wenn die bei den verſchiedenſten, zeitlich weit
aus einander liegenden Gelegenheiten und unter den
widerſprechendſten und wechſelndſten Stimmungen ent-
ſtandenen Lieder, zu einem Buche vereinigt, unver-
mittelt neben einander —, als ſtänden ſie, eine hinter
einander fortlaufende Reihe bildend, in unmittelbarem
Zuſammenhange, — wenn ſie, ſag’ ich, ſo mit all
ihren Widerſprüchen dem Leſer vor die Augen kom-
men; aber der Dichter weiß ſich über die ihm auf-
ſteigenden Zweifel hinwegzuhelfen und ermannt ſich zu
dem Entſchluſſe, ohne langes Bedenken ſein kleines
Buch fertig zu ſtellen. Sei doch, ſagt er, die ganze
Welt in ſich voller Widerſprüche: warum ſolle denn
nicht auch ſein Büchlein ſich widerſprechen dürfen?
Damit iſt auch der Titel des von dem Dichter
ſeinem Liederbuch voraufgeſchickten Gedichtes erklärt,
in welchem er Das, was die Leſer ſeinem Buche vor-
werfen können, es ſelbſt beklagend, bereitwillig zugeſteht,
[33] aber nach Möglichkeit zu entſchuldigen ſucht, ſo der An-
klage und Beſchuldigung ſeitens der Leſer zuvorkom-
mend und vorbauend.
Gehen wir nun aber ins Einzelne und fragen
uns, für welche im Wörterbuch zu behandelnden Aus-
drücke zunächſt die beiden erſten Zeilen des Gedichtes
paſſende und verwerthbare Beiſpiele oder Belege lie-
fern können. Zuerſt finden wir: „ausnehmen“, als
rückbezügliches Zeitwort, in der Wendung: „Etwas
nimmt ſich ſo und ſo aus.“ Wir ſetzen alſo auf einen
auszufüllenden Zettel als Stichwort oben:
Ausnehmenrefl. [d. h. verbum reflexivum oder
rückbezügliches Zeitwort]
und darunter die Belegſtelle:
Wie nimmt ein leidenſchaftlich Stammeln | ge-
ſchrieben ſich ſo ſeltſam aus! G. 1, 10.
Dieſelbe Belegſtelle ſetzen wir auf einen folgenden
Zettel, nur daſs wir diesmal nicht ausnehmen durch
Unterſtreichen hervorheben, ſondern „leidenſchaftlich“,
das wir auch als doppelt unterſtrichenes Stichwort zur
Überſchrift wählen, mit hinzugefügtem a. [d. h. Adjectiv
und Adverb oder: Eigenſchafts- und Umſtandswort].
Auf dem folgenden Zettel geſtaltet ſich die Über-
ſchrift etwa ſo: Schreibentr. [d. h. verbum transitivum
oder zielendes Zeitwort], im Gegenſatz zu ſprechen ꝛc.
[34] und auf einem weiteren Zettel fügen wir zu dem Stich-
wort ꝛc. ſeltſam außer der Bezeichnung a. (ſ. o.) etwa
noch einige erklärende oder ſinnverwandte Ausdrücke,
wie: „befremdend, befremdlich, ſonderbar, eigenartig,
eigenthümlich“.
Da ich planmäßig in meinem Wörterbuch die
Formwörter nur kurz berührt habe, ihre ausführliche
Erörterung einem eigenen Buche vorbehaltend, ſo bin
ich auch hier über das an der Spitze des Gedichtes
ſtehende ausrufende Fürwort „wie“ hinweggegangen,
obgleich für das Wörterbuch der Formwörter unter
dieſem Stichwort die beiden erſten Verſe wohl als
Beleg verzeichnet zu werden verdient hätten, in ſo
fern der Ausruf eine verſchiedene Abſchattung des
Sinnes zeigt, je nachdem das ſich anſchließende Ad-
verb unmittelbar auf das „wie“ folgt oder — wie
in dem Gedichte — davon getrennt iſt, vgl.: „Wie
(ſo) ſeltſam nimmt ſich das Stammeln aus!“ und:
„Wie nimmt es ſich (ſo) ſeltſam aus!“
Doch für uns hier kommt es ja überhaupt nicht
darauf an, ob wir aus einem Gedichte für das Wörter-
buch einen Zettel mehr oder weniger gewinnen, ſon-
dern vielmehr nur, beiſpielsweiſe zu zeigen, wie ſich
die auszuziehenden Zettel geſtalten. So übergehe ich
denn auch unter den aus dem dritten und vierten
[35] Verſe für das Wörterbuch zu gewinnenden Zetteln
diejenigen, an deren Spitze als Stichwörter „nun“
und „gar“ zu ſetzen wären, und begnüge mich, hier
folgende Stichwörter herzuſetzen: Hausn.: von Haus
zu Haus = von einem Haus zum andern [gehend]
ꝛc. — loſea. — Blattn. zum Schreiben, zu Aufzeich-
nungen dienendes — oder: damit verſehenes, beſchrie-
benes; — ſammelntr.
Die aus dem zweiten Versgebinde zu gewinnen-
den Belegſtellen ſtehen bezüglich unter den Stich-
wörtern: langa.;weita.;Streckef.;Lebenn.;
ſtehenintr[ansit].; von (oder aus) einander ſtehen,
entfernt ſein ꝛc. — kommenintr.: Einem in die Hand
(vergl. in Jemandes Hand) kommen; Deckef.: eines
Buches = Umſchlag, Einband, Deckel; guta.: der
gute Leſer, vergl. gütig, geneigt, wohlwollend. —
Leſerm.;Handf.: Einem in die Hand kommen
(ſ. d.).
Schließlich finden ſich die aus den letzten 4 Zeilen
zu ziehenden Zettel unter den Stichwörtern: ſchämen,
refl., mit Genit. — Gebrechenn., vgl. Fehler, Mangel,
Unvollkommenheit ꝛc. — vollendentr.;ſchnella. =
ohne langes Bedenken ꝛc., vgl. ſchnell entſchloſſen ꝛc.;
— Buchn.;[Welt]f.;volla. (voller, im Poſitiv);
Widerſpruchm.;widerſprechenintr.
[36]
In dem Goethe’ſchen Gedicht wird das geſchrie-
bene Lied dem ſich der Bruſt unwillkürlich, wenn auch
in geſtammelten Lauten, entringenden entgegenge-
ſtellt. Das erinnert mich an ein Rückert’ſches Sinn-
gedicht, aus welchem wir noch einige weitere Beleg-
ſtellen für das Wörterbuch ausheben und auf Zetteln
verzeichnen wollen. Das Gedicht findet ſich als
Rückert’s Beiſteuer in dem 1840 von Dr. Heinrich
Meyer herausgegebenen Guttenbergs-Album S. 106
und lautet:
[37]
Man ſieht ſofort, daſs ich zunächſt die Verſe 10
bis 15 im Auge hatte, und dieſe liefern uns auch für
unſere Sammlung Zettel, je mit den an die Spitze zu
ſtellenden zielenden Zeitwörtern: ſingen; ſprechen;
ſchreiben; drucken als Stichwörtern. Andere daraus
für das Wörterbuch zu verwerthende Zettel führen als
Überſchrift die Stichwörter: Fittigm.;Kielm.blei-
benintr.;Krampfm.(Todeskrampf); durchzuckentr.
— Zettel, die ſich aus andern Verſen des Gedichtes
für das Wörterbuch gewinnen laſſen, fallen z. B. unter
die Stichwörter: Jahrhundertn. und ſchwinden,intr.
(V. 1). — ſchwarza. und Kunſtf. (V. 2). — Gewinnm.
und bringentr. (V. 3). — Bücherhaufenm.;großa.
(größer machen, vgl. vergrößern) (V. 4). — Wiſſen-
ſchaftf., im Gegenſatz zur Poeſie, vgl.: ſchöne Wiſſen-
ſchaften, und dankenintr. (V. 5). — Erweitrungf.
und Geiſtesſchrankef. (V. 6). — Weltverbreitungf.
und Gedankem. (V. 7). — gedankenvolla. (V. 8).
Ferner z. B.: Todm., Mehrzahl: die Tode (V. 18).
— Druckerſchwärzef. (V. 19). — huldigenintr.
(V. 20). — entſchuldigentr., refl.: ſich entſchuldigen
[38] = ſein Nicht-Erſcheinen, ſein Ausbleiben entſchuldigen
(V. 21).
Aus dem Geſagten wird, denke ich, vollſtändig
klar geworden ſein, auf welche Weiſe die Zettel für
das Wörterbuch aus den Schriften ausgezogen und
hergeſtellt werden, — natürlich nicht, um ſammt und
ſonders vollſtändig an ihrer Stelle ins Wörterbuch
aufgenommen zu werden, ſondern vielmehr, um die
nothwendige oder doch wünſchenswerthe Fülle des
Stoffes zu bieten, aus welcher dann jedes Mal nur
die bedeutſamſten, beweiskräftigſten und ſchlagendſten
Belege auszuheben und auszuwählen ſind. Die an-
deren Zettel ſind darum doch nicht nutzlos, ſie liefern
die Beiſpiele für die keiner beſondern Belege bedür-
fenden und doch ſo nothwendigen, möglichſt vollſtändig
aufzuführenden allgemein üblichen Bedeutungen, An-
wendungen, Verbindungen und Fügungen der einzelnen
Wörter; und eine reiche Fülle, ſelbſt Überfülle von
Zetteln erweiſt ſich als vortheilhaft, weil in einer der-
artigen Zettelwirthſchaft auch bei der aufmerkſamſten
Sorgfalt und größten Achtſamkeit man kaum je ganz
wird vermeiden können, daſs ſich Manches — ver-
zettele, ſei es, daſs einzelne Zettel ganz verloren gehen
oder doch wenigſtens verkramt werden, in ein falſches
Fach hineingerathen oder Ähnliches mehr, ſo daſs,
[39] wenn nicht mehrere Zettel für Ein und Dasſelbe vor-
handen ſind, die Gefahr nahe liegt, etwas Beachtens-
und Erwähnenswerthes an der richtigen Stelle zu
überſehen und auszulaſſen. Daſs ſich in der Her-
ſtellung der Zettel manche Abkürzungen und Verein-
fachungen bei der Ausführung faſt von ſelbſt ergeben,
mag hier wenigſtens im Vorübergehen erwähnt werden.
Aber wie werden nun dieſe Zettel, jeder an der
gehörigen Stelle, untergebracht, ſo daſs man bei der
Ausarbeitung eines beſtimmten Wortes die dafür ge-
ſammelten und zu verwerthenden Aufzeichnungen alle
überſichtlich zur Hand hat?
Die erſte vorläufige Sonderung und Ordnung der
Zettel geſchieht nach dem Anfangsbuchſtaben der Stich-
wörter. Man braucht ein beſonderes Behältnis für
A als Anfangsbuchſtaben, ein anderes für B u. ſ. w.
Der Umfang dieſer Behältniſſe iſt verſchieden, ähnlich
wie der für die Fächer in einem Setzkaſten, und richtet
ſich danach, wie häufig ein beſtimmter Buchſtabe im
Anfange deutſcher Wörter etwa auftritt. Man ſieht
von vorn herein, daſs man für C und Q als An-
fangsbuchſtaben mit einem geringen Raum ausreicht,
daſs dagegen S einen ganz unverhältnismäßig großen
Raum in Anſpruch nimmt, ſo daſs man ſich veranlaſſt
findet, wenn nicht von vorn herein, doch jedenfalls
[40] ſehr bald Unterabtheilungen zu machen und ſtatt eines
einzigen Behälters für S mehrere zu wählen, etwa
einen eigenen für Sa und eigene andere für Sch,
Se, Si, Sk, So, Sp, St, Su u. ä. m.
Hätte ich mich nun dafür entſchieden, wie es die
Grimm und die meiſten Verfaſſer deutſcher Wörter-
bücher gethan, die aufzunehmenden Wörter — gleich-
viel, ob es Grundwörter oder Zuſammenſetzungen ſind
— unterſchiedlos und gleichmäßig hinter einander, rein
nach ihrer Reihenfolge im Abece, aufzuführen, ſo würde
z. B. der erſte der hier von uns gewonnenen Zettel,
mit dem Stichworte: Vorklage in das Behältnis für
V gelegt worden ſein, der zweite mit dem Stichworte:
ausnehmen in das für A u. ſ. w. Ich aber bin nach
allſeitiger Prüfung und Erwägung aller einſchlägigen
Verhältniſſe zu der unerſchütterlichen Überzeugung ge-
langt, daſs nach der Eigenart unſerer Sprache eine
innere Vollſtändigkeit des Wörterbuches nur erreichbar
iſt, wenn hier die Zuſammenſetzungen unter den Grund-
wörtern behandelt werden, allerdings aber — ſo weit
ſie eine beſondere Beſprechung erheiſchen — der
ſchnellen Überſichtlichkeit halber ſtreng nach der Reihen-
folge des Abece. Darauf werde ich an anderer Stelle
noch ausführlich und eingehend zurückkommen. Jeden-
falls aber folgt daraus, daſs nach der Anordnung, die
[41] ich für das Wörterbuch als die zweckmäßigſte erkannt
und gewählt, Vorklage unter Klage, ausnehmen
unter nehmen zu behandeln iſt und daſs demgemäß
hier die beiden Zettel bezüglich nicht in die Behälter
für V und A, ſondern in die für K und N zu legen
ſind. Ähnliches gilt für alle Zuſammenſetzungen über-
haupt, auch da, wo das Grundwort allein an und
für ſich wenig oder nicht üblich iſt. Sehen wir uns
z. B. die Zuſammenſetzungen in unſerer bisherigen
kleinen Zettelſammlung an. Wir werden hier aus
dem Goethe’ſchen Gedicht Gebrechen als zuſammen-
geſetzt aus brechen (mit der Vorſilbe ge-) in das
Behältnis für B legen, Widerſpruch nach dem
Grundwort Spruch in das Fach für Sp und eben ſo
widerſprechen nach dem Grundwort ſprechen;
ferner aus dem Rückert’ſchen Gedicht: Jahrhun-
dertn. nach dem Grundwort: das Hundert in den
Behälter für H; Gewinnm. nach dem allerdings
für ſich allein nur ſelten noch vorkommenden Grund-
wort: der Winn dem W zutheilen; Bücherhaufen
(Grundwort: Haufen) dem H, Erweit(e)rung nebſt
erweitern (Grundwort: weitern) dem W, Geiſtes-
ſchranke (Grundwort: Schranke) dem Sch. Ferner
iſt für Weltverbreitung das Grundwort: Ver-
breitung, das nach der Einrichtung meines Wörter-
[42] buches unter verbreiten zu beſprechen iſt, wie dieſes
ſelbſt wieder unter dem Grundworte breiten. Dem-
gemäß legen wir den Zettel mit dem Belege für
Weltverbreitung in das für B beſtimmte Behält-
nis u. ſ. w.
Wie nun die weitere Sonderung und Vertheilung
der Zettel vor ſich geht, begreift ſich ohne Weiteres.
Nimmt man z. B. das geräumige Behältnis vor,
welches alle für die Ausarbeitung des Buchſtaben A
im Wörterbuch beſtimmten Zettel in ſich ſchließt, ſo
richtet man bei den Stichwörtern das Augenmerk auf
die dem A unmittelbar folgenden Buchſtaben. Man
hat eine genügende Anzahl kleinerer Behälter, die den
Anfängen: A, Aa, Ab, Ach, Ack, Ad, Ae, Af, Ag,
Ah, Ai, Ak, Al u. ſ. w. entſprechen. In dieſe ordnet
man ohne Schwierigkeit ſämmtliche Zettel für A ein.
Die weitere Sonderung erfolgt in ganz gleicher Weiſe,
nur daſs man jetzt das Augenmerk bezüglich auf den
dritten ꝛc. der Anfangsbuchſtaben im Stichworte richtet,
und ſo gewinnt man z. B. aus dem Behälter für Aa
die weiter geordneten Zettel für Aa, Aach, Aak,
Aal, aalen, aalicht, Aam, Aap, Aar, aaſen,
Aaſer, aashaft, aaſig u. ſ. w.
Kommen wir nun zu den mit Ab beginnenden
Zetteln, ſo tritt hier beſonders ſcharf der Unterſchied
[43] in der Anordnungsweiſe der Zuſammenſetzungen bei
mir und bei Andern hervor.
Da, wo die Zuſammenſetzungen mit den Grund-
wörtern unterſchiedlos, als wären ſie gleichberechtigt,
in ganz gleicher Reihe nach der Folge des Abece auf-
marſchieren, folgen unmittelbar auf Ab (als Adverb),
die mit dieſer Vorſilbe gebildeten Zuſammenſetzungen,
die bei mir den bezüglichen Grundwörtern zugeordnet
ſind. So folgen dort auch auf das Hauptwort Abend
die Zuſammenſetzungen, in welchen dieſes Wort als
Beſtimmungswort die erſte Hälfte bildet. In dem
Grimm’ſchen Wörterbuch z. B. ſind derartiger Zu-
ſammenſetzungen etwa 100 aufgeführt. Welche Will-
kürlichkeit und Lückenhaftigkeit aber hierbei herrſcht,
zeigt ſich unwiderleglich, wenn man ſieht, daſs ich in
meiner kritiſchen Beleuchtung des Grimm’ſchen Wörter-
buchs (Heft I, S. 24 ff. und Heft II, S. 229 ff.) und in
meinem Programm eines neuen deutſchen Wörterbuches
S. 17 eine größere Zahl eben ſo zur Aufnahme be-
rechtigter, aber bei Grimm fehlender derartiger Zu-
ſammenſetzungen habe nachtragen können. In meiner
Zettelſammlung haben dieſe mehr als 200 mit „Abend“
beginnenden Zuſammenſetzungen ihre Stelle nicht unter
„Abend“ gefunden, ſondern, wie geſagt, jedes Mal
unter dem betreffenden Grundworte. Sehen wir uns
[44] im Grimm’ſchen Wörterbuch wenigſtens die erſten vier
der unmittelbar hinter „Abend“, eben ſo wie dieſes, als
eigene, ſelbſtändige Artikel aufgeführten Wörter an.
Da treffen wir zuerſt:
ABENDANDACHT, f. seine abendandacht halten.
Das iſt Alles, was der Nachſchlagende hier findet, und,
wenn er über die Bedeutung des Wortes Weiteres er-
fahren will, bleibt ihm Nichts übrig, als das Wort
Andacht nachzuſchlagen. Hier findet er denn auch in
der That unter Anderem:
„Zumal wird unter Andacht das Gebet ver-
ſtanden, ſeine Andacht verrichten, ſolche Gebete heißen
Morgen- und Abendandachten“.
Iſt es da nicht viel einfacher, gleich eine Anord-
nung zu treffen, nach welcher der Nachſchlagende von
vorn herein weiß, daſs er die Auskunft über Abend-
andacht unter dem Grundwort Andacht zu ſuchen
hat, welches, als ſelbſt zuſammengeſetzt, er in D unter
dem „außer in Zuſammenſetzungen ungewöhnlichen“
weiblichen Hauptwort Dacht findet, wie Das in meinem
Wörterbuch der Fall iſt? Auf dieſe Weiſe gewinnt
man nicht nur an Raum und erſpart gleichzeitig dem
Suchenden die Mühe eines vergeblichen und unnützen
Nachſchlagens, ſondern es fällt auch auf das geſuchte
Wort durch die Stelle, an der es beiſpielsweiſe neben
[45] anderen ähnlichen und in unerſchöpflicher Anzahl nach
Ähnlichkeit zu bildenden Zuſammenſetzungen ſteht, ſo-
fort die richtige und gehörige Beleuchtung, ſ. mein
Wörterbuch, wo unter Andacht in der engern Be-
deutung: Gebet, anbetende Verehrung, Religions-
übung u. ſ. w. beiſpielsweiſe meiner Zettelſammlung
auch folgende Belege entnommen ſind: Den … Kopf
eines Jupiters … Meine Morgen-A. an ihn richten.
Goethe 23, 181 … Gebetformel zu Morgen- und
Abend-A—en. Klencke, Parnaſs zu Braunſchweig
1, 15 ꝛc. Nach dieſer Anordnung begreift man an
dieſer Stelle ſofort, ohne daſs es beſonders einer
Einzel-Ausführung und -Aufzählung bedürfte, daſs
ſich zahlreiche ähnliche Zuſammenſetzungen bilden laſſen,
z. B.: Mittags-, Veſper-, Sonntags-, Werktags-,
Feſt-, Oſter-, Weihnachts-Andacht u. ſ. w. und
welches ihre Bedeutung iſt. Wenn aber dieſe und
ähnliche Zuſammenſetzungen nach ihren Anfangsbuch-
ſtaben in alphabetiſcher Reihe aus einander geriſſen und
zerſtreut ſämmtlich — eben ſo wie Abendandacht —
im Wörterbuch aufgeführt werden ſollen: wie will
man da auf eine auch nur einigermaßen erſchöpfende
Vollſtändigkeit rechnen? (So fehlen z. B. in den bis
jetzt erſchienenen Bänden des Grimm’ſchen Wörter-
buches: Dinstags-, Feſt-, Freitags-, Karfreitags-
5
[46]Andacht) und, wenn willkürlich nur die von den
Sammlern zufällig aufgezeichneten Zuſammenſetzungen
dieſer Art dem Wörterbuch einverleibt werden, iſt dieſe
die Auskunftſuchenden in andern Fällen zum vergeb-
lichen Nachſchlagen verlockende Weiſe nicht die un-
nützeſte Raumverſchwendung?
Auf Abendandacht folgt im Grimm’ſchen
Wörterbuch:
„ABENDBESUCH, m. nnl. [= neuniederländiſch]
avondbezoek, den man abends macht oder empfängt.“
Bei mir ſteht dies Wort nicht als eigener, beſon-
derer Artikel, ſondern unter Beſuch (ſ. Such) in der
Bedeutung Viſite ꝛc. (mit einem Belege aus Goethe),
als Beiſpiel der Zuſammenſetzungen, von denen ich hier
mit Rückſicht auf den Raum nur die andern mit dem
Buchſtaben A beginnenden herſetzen will: Abſchieds-,
Anſtands-, Antritts-Beſuch. Dieſe gewiſs eben ſo
zur Aufnahme berechtigten Zuſammenſetzungen fehlen
im Grimm’ſchen Wörterbuch. Es wird vergönnt ſein,
aus dem Vorwort zu meinem Ergänzungs-Wörterbuch
hier einen Satz zu wiederholen. „Ich habe,“ heißt
es dort, „in Betreff der Zuſammenſetzungen, die aus
dem Weſen unſerer Sprache ſelbſt geſchöpfte und durch
den Erfolg meines großen Wörterbuches bewährte
Anordnungsweiſe feſt haltend, von vorn herein auf
[47] eine rein äußerliche und dabei doch nie ganz zu er-
reichende Vollſtändigkeit verzichten können, mich auf
eine ſorgfältige Auswahl wirklich bezeichnender und
maßgebender Zuſammenſetzungen beſchränkend, nach
deren Ähnlichkeit man jedes Mal leicht unzählige
andere wird bilden und verſtehen können. In einer
die Grundwörter und die Zuſammenſetzungen durch
einander wirrenden und ſie, als wären ſie gleich
berechtigt, nach ihrer Reihenfolge im Abece hinter
einander aufführenden Anordnung hätte die innere
Vollſtändigkeit in den Zuſammenſetzungen ſelbſt nicht
auf dem Drei- und Vierfachen des Umfanges erreicht
werden können.“ Hinzufügen möchte ich nur noch,
daſs, wenn man einmal bei der Entwerfung des
Planes und Grundriſſes zu einem Bau für die licht-
volle Anordnung Sorge zu tragen, verſäumt hat, es
ein vergebliches Bemühen iſt, hintennach das Licht —
und ſei es in Scheffelſäcken — von außen hineintragen
zu wollen.
In Bezug auf das nun im Grimm’ſchen Wörter-
buch folgende „Abendbetglocke“ könnte ich nur das
Geſagte mit anderen Beiſpielen wiederholen und eben
ſo bei dem darauf folgenden:
ABENDBLATT, n. abends ausgegebne zeitung,
schw. [= ſchwediſch] aftonbladet [lies: aftonblad], dem
5*
[48] ich zunächſt einfach aus der ausführlichen Behandlung
des Wortes Blatt in meinem Wörterbuch folgende
Stelle gegenüberſtellen möchte:
„Blätter, öffentliche Blätter: Zeitungen, Zeit-
ſchriften: Die Nachricht hat in allen Blättern ge-
ſtanden. Er redigiert ein kritiſches Blatt. Blätter
für litterariſche Unterhaltung. Wer hätte auf
deutſche Blätter Acht, | Morgens, Abends und
Mitternacht. G[oethe] 3, 129, und viele Zuſammen-
ſetzungen, welche Zeit des Erſcheinens, Inhalt,
Leſerkreis, Zweck, Preis angeben, z. B.: Die Morgen-,
die Abend-, die Nachmittags- und Mitternachtsblätter.
Immermann M. 1, 140; Tagesblätter (Börne 2, 108);
Wochenblättlein (Hebel 3, 204); Sonntags-B.; Zeit-
(Immermann 12, 141), Zeitungsblatt (Freiligrath 1, 109),
Amts-, Bezirks-, Kreis-, Provinzial-, Volks-, Schul-,
Ergänzungs-, Unterhaltungs-, Konverſations-, Mode-,
Haupt-, Bei- (Auerbach Leb. 1, 105), Partei-, Pfennig-,
Rieſen-B. (Kohl Engl. 2, 13, von ſehr großem Format)
u. ä. m.“
Da aber, möchte man weiter fragen, Abendblatt
im Grimm’ſchen Wörterbuch unter einem eigenen Stich-
wort behandelt iſt, warum fehlt denn z. B. Abend-
zeitung und das doch wohl eine beſondere Beſprechung
herausfordernde: Abendpoſt, vgl. in meinem Wörter-
[49] buch unter dem Grundworte Poſt, das Folgende:
„.... auch als Titel von Zeitſchriften, z. B. Oſt-
deutſche P., redigiert von Kuranda ꝛc. (ſ. Schnell-,
Morgen-P.) … Zuſammenſetzungen (vgl. entſprechend
die von ‚Zug‘ in Beziehung auf Eiſenbahnen), z. B.
nach der Zeit, beziehungsweiſe des Abgangs- oder der
Ankunft: Die Zehnuhr-, Früh-, Morgen-, Abend-,
Mittags-P. Die Montags-P., z. B. auch als Titel
von Zeitungen ꝛc.“
An dieſen Bemerkungen zu den erſten vier mit
Abend als Beſtimmungswort gebildeten Zuſammen-
ſetzungen des Grimm’ſchen Wörterbuches kann ich es
hier um ſo füglicher genug ſein laſſen, als ſich doch
noch wohl in einer ſpäteren Plauderei von den ins
Wörterbuch aufzunehmenden Zuſammenſetzungen zu
ſprechen, Anlaſs und Gelegenheit findet.
Ich bemerke alſo hier nur, auf die Ordnung der
geſammelten Zettel zurückkommend, daſs plangemäß die
mit dem Beſtimmungswort Abend beginnenden Zu-
ſammenſetzungen nicht unter Abend, ſondern unter
das jedesmalige Grundwort einzuordnen ſind. Da-
gegen finden ſich in dem für Abend beſtimmten Fach
eine Menge Zettel zuſammen, bei deren Stichwörtern
Abend das Grundwort der Zuſammenſetzung iſt. Die
Verarbeitung all dieſer Zettel giebt ein gutes Beiſpiel
[50] dafür ab, wie es durch die Zuſammenordnung des
Zuſammengehörigen möglich wird, auf einem ver-
hältnismäßig ſehr geringen Raum die maſſenhaft vor-
liegenden und nach Ähnlichkeit ins Unendliche zu ver-
mehrenden Zuſammenſetzungen in einer das Weſent-
liche möglichſt erſchöpfenden Weiſe zu behandeln. Und
ſo laſſe ich denn zum Schluſs dieſer zweiten Plauderei
aus meinem Wörterbuch nachſtehende unter Abend
ſich findende Stellen hier folgen und für ſich ſprechen:
„Abendm. …: 3) Wie der Beginn der Nacht,
ſo namentlich bei Feſten oder in Verbindung mit
‚heilig‘ der Vorabend, Tag vorher. Sprichwort: Ge-
winnen iſt der Abend vom Verlieren. Leſſing 11, 653 ꝛc.
Gewöhnlich: Der heilige A., Chriſt-, Weihnachts-, Jo-
hannis-A. ꝛc.
Anm. In Zuſammenſetzungen bleibt Tag weg;
der Thomastag iſt z. B. der 21. December; Thomas-
tag Abend der Abend des 21. Dec., aber: Am S.
Thomasabend, den 20. Dec. Stumpf, Schweiz. Chron.
726 a; S. Katharinen-, S. Mathis-, Palm-, Feſt-Abend.
Eben ſo verſchieden Sonntagabend, Ende des Sonn-
tags; Sonnabend, der Tag vorher und dazu: Sonn-
abend A., ähnlich wie Weihnachtsnacht ꝛc.“
In dem eigenen Abſatz aber, der dann die Zu-
ſammenſetzungen bringt, heißt es weiter, wobei die in
[51] eckigen Klammern beigefügten Zahlen auf das Voran-
gegangene zurückweiſen:
„Zuſammenſetzungen mit den Namen aller Feſte [3],
Wochentage, Monate, Jahreszeiten: Pfingſt-, Mittwoch-,
December-, Frühlings- ꝛc., ferner [2] und nach der
Art, wie — und dem Ort, wo man Abende zubringt
ꝛc., z. B.: Ball-; Beicht-; Boſton-; Erden- [auf der Erde
zugebrachter] Salis 40; Erzähl-; Gebirgs-; Gewitter-;
Himmels-: Erſt am H. [als es am Himmel Abend
wurde] Schubart 3, 54; Kneip-; Leſe-; Nebel-; Schau-
ſpiel-; Spiel-; Theater-; Thee-; Trink-; Zank-; Zauber-
[zaubervoller A.] Hölderlin, Hyper. 233 u. v. a.“
Es lagen in dem für Abend und die Zuſammen-
ſetzungen dienenden Zettelfach mir noch Belegſtellen
für ſehr viele andere, ähnliche Zuſammenſetzungen
vor; aber es war niemals meine Abſicht geweſen, die
geſammelten Zettel auch ſämmtlich vollſtändig ins
Wörterbuch aufzunehmen, ſondern vielmehr, aus dieſer
Überfülle unter Ausſcheidung des Entbehrlichen eine
genügende Auswahl des Nothwendigen zu treffen und
alſo z. B. für die Zuſammenſetzungen beſtimmte Ver-
treter auszuheben, nach denen der Nachſchlagende ohne
Weiteres das Vorkommen und die Bedeutung von
zahlreichen ähnlichen entnimmt, wie in dem vorliegen-
den Falle z. B. zu Pfingſt- auch Oſter- ꝛc., zu Mitt-
[52] woch- auch Dinstag- ꝛc., zu December- auch Ja-
nuar- ꝛc., zu Frühlings- auch Lenz-, Herbſt- ꝛc.,
ferner zu Ball- auch Tanz-, zu Boſton- auch Whiſt-,
Skat-, Schach- ꝛc. Abend u. ſ. w., und bei den aus-
gewählten Vertretern wurde auch nur in einzelnen
wenigen Fällen, wo es der Nachſchlagende vielleicht
beſonders wünſchen zu können ſchien, die genaue Be-
legſtelle aus den Zetteln hinzugefügt. So konnte an
dieſer Stelle über ſehr viele Zuſammenſetzungen mit
dem Grundwort Abend, die bei einer anderen An-
ordnung, wenn man auch nur annähernd eine einiger-
maßen erſchöpfende Vollſtändigkeit erreichen wollte,
einen ungemein großen Raum erfordert hätten, in
wenigen Zeilen das Nöthige geſagt werden. Freilich
blieben, nachdem durch die zuſammenfaſſende Be-
ſprechung eine große Anzahl der Zuſammenſetzungen
von Abend erledigt war, immerhin noch einzelne zu-
rück, die noch eine beſondere Beſprechung oder we-
nigſtens beſondere Bemerkungen nothwendig machten,
und dieſe noch nicht erledigten Zuſammenſetzungen
findet man denn auch durch beſonderen Druck hervor-
gehoben, überſichtlich nach der Reihenfolge des Abece
geordnet, in meinem Wörterbuch einzeln beſprochen.
Ich will mit Rückſicht auf den Raum daraus
nur ſehr Weniges herſetzen. Eine Bedeutung des
[53] Wortes Sommerabend iſt durch das Vorangegangene
bereits erledigt. Darum ſteht unter dieſem Wort auch
die Hinweiſung: „ſ. o.“, aber mit der Hinzufügung:
„auch der Punkt am Himmel, wo die Sonne beim
Anfang des Sommers untergeht“, und danach genügt
kurz darauf bei Winterabend der Hinweis: ſiehe
Sommer-A., wie andrerſeits (ſ. o.) unter Sonnabend
der bloße in eckige Klammern geſetzte Hinweis aus-
reicht: [3 und Anm.].
Man erſieht aus dem Geſagten, welche Vortheile
die von mir gewählte Anordnungsweiſe, die Zuſammen-
ſetzungen unter ihrem Grundworte zu behandeln in
Bezug auf Kürze und innere Vollſtändigkeit gewährt,
aber außerdem ſchützt ſie auch den Wörterbuchſchreiber,
weil er mit dem Grundworte zugleich die ganze Fülle
der Zuſammenſetzungen überblickt, weit mehr vor der
Gefahr, Sachen, welche eine Beſprechung verdienen
oder erheiſchen, zu überſehen und an der gehörigen
Stelle unbeſprochen zu laſſen.
So iſt es z. B. ſehr auffällig und befremdend,
daſs unter Abend in dem Grimm’ſchen Wörterbuch
die Verbindung „der heilige Abend“ im Sinne von
Vorabend (la veille) ganz unerwähnt geblieben iſt,
zumal doch ſchon Friſch, Adelung, Campe ꝛc. dieſe
Anwendung aufgeführt haben und außerdem (ſ. o.)
[54] dazu Leſſing noch ausdrücklich auf das Sprichwort hin-
gewieſen hatte: „Gewinnen iſt der Abend von Ver-
lieren“. Einer ſolchen Auslaſſung würde aber Jakob
Grimm viel weniger ausgeſetzt geweſen ſein, wenn
ihm mit den Belegen für Abend zugleich auch z. B.
die für Weihnachts-, Chriſt-, Thomas-, Andreas-,
ꝛc. Abend vorgelegen hätten, wie denn z. B. im 2. Bd.
des Grimm’ſchen Wörterbuches Spalte 620 aufgeführt iſt:
„CHRISTABEND, m. dies ante festum Christi na-
tale proximus. Kristabend. myst. 27, 3.“
Hiermit aber will ich, um nicht durch übermäßige
Länge der einzelnen Plaudereien zu ermüden und die
Geduld auf eine allzuharte Probe zu ſtellen, dieſe meine
zweite Plauderei ſchließen.
Appendix A
[]Appendix B
Druck von Oscar Brandſtetter in Leipzig.
[][][]
Dr. Eduard Mayer in Halle, dem ich dieſe Plaudereien ge-
widmet,
„daſs auch die Andern
Schaun, daſs wir Freunde zu ſein aus Väterzeiten uns rühmen“.
Vermögen oder nicht, eh’ ihr die Laſt
Zu tragen übernehmt. Überſetzung von Wieland.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bp1d.0