[][][][][[I]]
Geſchichte
des

Fraͤuleins von Sternheim.


Von einer Freundin derſelben aus Original-
Papieren und andern zuverlaͤßigen Quellen
gezogen.



[figure]

Erſter Theil.


Leipzig,:
bey Weidmanns Erben und Reich.1771.

[[II]][[III]]
An
D. F. G. R. V.
*******


Er ſchrecken Sie nicht, meine
Freundin, anſtatt der Hand-
ſchrift von Jhrer Sternheim eine ge-
druckte Copey zu erhalten, welche Jh-
nen auf einmal die ganze Verraͤtherey
entdeckt, die ich an Jhnen begangen
habe. Die That ſcheint beym erſten
Anblick unverantwortlich. Sie ver-
trauen mir unter den Roſen der Freund-
ſchaft ein Werk Jhrer Einbildungs-
kraft und Jhres Herzens an, welches
bloß zu Jhrer eigenen Unterhaltung
aufgeſetzt worden war. „Jch ſende es
a 2„Jhnen
[IV] „Jhnen, (ſchreiben Sie mir) damit Sie
„mir von meiner Art zu empfinden,
„von dem Geſichtspunct, woraus ich
„mir angewoͤhnt habe, die Gegenſtaͤn-
„de des menſchlichen Lebens zu beur-
„theilen, von den Betrachtungen, wel-
„che ſich in meiner Seele, wenn ſie leb-
„haft geruͤhrt iſt, zu entwickeln pfle-
„gen, Jhre Meynung ſagen, und mich
„tadeln, wo Sie finden, daß ich un-
„recht habe. Sie wiſſen, was mich
„veranlaßt hat, einige Nebenſtunden,
„die mir von der Erfuͤllung weſentli-
„cher Pflichten uͤbrig blieben, dieſer
„Gemuͤths-Erhohlung zu wiedmen.
„Sie wiſſen, daß die Jdeen, die ich
„in dem Charakter und in den Hand-
„lungen des Fraͤuleins von Sternheim
„und ihrer Aeltern auszufuͤhren geſucht
„habe, immer meine Lieblings-Jdeen
„geweſen ſind; und womit beſchaͤfftigt
„man ſeinen Geiſt lieber als mit dem,
„was man liebt? Jch hatte Stunden,
„wo
[V] „wo dieſe Beſchaͤfftigung eine Art von
„Beduͤrfniß fuͤr meine Seele war.
„So entſtund unvermerkt dieſes kleine
„Werk, welches ich anfieng und fortſetz-
„te, ohne zu wiſſen, ob ich es wuͤrde zum
„Ende bringen koͤnnen; und deſſen Un-
„vollkommenheiten ſie ſelbſt nicht beſ-
„ſer einſehen koͤnnen als ich ſie fuͤhle.
„Aber es iſt nur fuͤr ſie und mich —
„und, wenn Sie, wie ich hoffe, die Art
„zu denken und zu handeln dieſer Toch-
„ter meines Geiſtes gutheiſſen, fuͤr
„unſre Kinder beſtimmt. Wenn dieſe
„durch ihre Bekanntſchaft mit jener
„in tugendhaften Geſinnungen, in ei-
„ner wahren, allgemeinen, thaͤtigen
„Guͤte und Rechtſchaffenheit geſtaͤrket
„wuͤrden, — welche Wolluſt fuͤr das
„Herz Jhrer Freundin;“ — So
ſchrieben Sie mir, als Sie mir Jh-
re Sternheim anvertrauten; — und
nun, meine Freundinn, laſſen Sie uns
ſehen, ob ich Jhr Vertrauen beleidiget,
a 3ob
[VI] ob ich wirklich ein Verbrechen began-
gen habe, da ich dem Verlangen nicht
widerſtehen konnte, allen tugendhaf-
ten Muͤttern, allen liebenswuͤrdigen
jungen Toͤchtern unſrer Nation ein Ge-
ſchenke mit einem Werke zu machen,
welches mir geſchickt ſchien, Weisheit
und Tugend, — die einzigen großen
Vorzuͤge der Menſchheit, die einzigen
Quellen einer wahren Gluͤckſeligkeit —
unter Jhrem Geſchlechte, und ſelbſt
unter dem meinigen, zu befoͤrdern.


Jch habe nichts vonnoͤthen, Jhnen
von dem ausgebreiteten Nutzen zu ſpre-
chen, welchen Schriften von derjeni-
gen Gattung, worunter Jhre Stern-
heim gehoͤrt, ſtiften koͤnnen, wofern
ſie gut ſind. Alle Vernuͤnftigen ſind
uͤber dieſen Punct Einer Meynung,
und es wuͤrde ſehr uͤberfluͤßig ſeyn,
nach allem, was Richardſon, Fielding
und ſo viele Andere hieruͤber geſagt ha-
ben, nur ein Wort zur Beſtaͤtigung
einer
[VII] einer Wahrheit, an welcher niemand
zweiſelt, hinzu zu ſetzen. Eben ſo ge-
wiß iſt es, daß unſre Nation noch weit
entfernt iſt, an Original-Werken die-
ſer Art, welche zugleich unterhaltend
und geſchickt ſind, die Liebe der Tu-
gend zu befoͤrdern, Ueberfluß zu ha-
ben. Sollte dieſe gedoppelte Be-
trachtung nicht hinlaͤnglich ſeyn, mich
zu rechtfertigen? Sie werden, hoffe
ich, verſucht werden, dieſer Meynung
zu ſeyn, oder wenigſtens mir deſto
leichter verzeihen, wenn ich Jhnen
ausfuͤhrlicher erzaͤhle, wie der Gedan-
ke, Sie in eine Schriftſtellerin zu
verwandeln, in mir entſtanden iſt.


Jch ſetzte mich mit allem Phlegma,
welches Sie ſeit mehrern Jahren an
mir kennen, hin, Jhre Handſchrift
zu durchleſen. Das Sonderbare, ſo
Sie gleich in den erſten Blaͤttern der
Mutter Jhrer Heldin geben, war,
meinem beſondern Geſchmack nach,
a 4geſchick-
[VIII] geſchickter mich wider ſie als zu ihrem
Vortheil einzunehmen. Aber ich las
fort, und alle meine kaltbluͤtige Phi-
loſophie, die ſpaͤte Frucht einer viel-
jaͤhrigen Beobachtung der Menſchen
und ihrer grenzenloſen Thorheit, konn-
te nicht gegen die Wahrheit und
Schoͤnheit Jhrer moraliſchen Schilde-
rungen aushalten; mein Herz er-
waͤrmte ſich; ich liebte Jhren Stern-
heim, ſeine Gemahlin, ſeine Tochter,
und ſogar — ſeinen Pfarrer, einen
der wuͤrdigſten unter allen Pfarrern,
die ich jemals kennen gelernt habe.
Zwanzig kleine Mißtoͤne, welche der
ſonderbare und an das Enthuſiaſtiſche
angrenzende Schwung in der Den-
kungsart Jhrer Sternheim mit der
meinigen macht, verlohren ſich in der
angenehmſten Uebereinſtimmung ihrer
Grundſaͤtze, ihrer Geſinnungen und
ihrer Handlungen mit den beſten Em-
pfindungen und mit den lebhafteſten
Ueber-
[IX] Ueberzeugungen meiner Seele. Moͤch-
ten doch, ſo dacht’ ich bey hundert
Stellen, moͤchten meine Toͤchter ſo
denken, ſo handeln lernen, wie So-
phie Sternheim! Moͤchte mich der
Himmel die Gluͤckſeligkeit erfahren
laſſen, dieſe ungeſchminkte Aufrichtig-
keit der Seele, dieſe ſich immer glei-
che Guͤte, dieſes zarte Gefuͤhl des
Wahren und Schoͤnen, dieſe aus ei-
ner innern Quelle ſtammende Ausuͤ-
bung jeder Tugend, dieſe ungeheuchel-
te Froͤmmigkeit, welche anſtatt der
Schoͤnheit und dem Adel der Seele
hinderlich zu ſeyn, die der ihrigen
ſelbſt die ſchoͤnſte und beſte aller Tugen-
den iſt, dieſes zaͤrtliche, mitleidsvolle,
wohlthaͤtige Herz, dieſe geſunde, un-
verfaͤlſchte Art von den Gegenſtaͤnden
des menſchlichen Lebens und ihrem
Werthe, von Gluͤck, Anſehen und
Vergnuͤgen zu urtheilen, — Kurz,
alle Eigenſchaften des Geiſtes und
a 5Her-
[X] Herzens, welche ich in dieſem ſchoͤnen
moraliſchen Bilde liebe, dereinſt in
dieſen liebenswuͤrdigen Geſchoͤpfen aus-
gedruͤckt zu ſehen, welche ſchon in ih-
rem kindiſchen Alter die ſuͤßeſte Wolluſt
meiner itzigen, und die beſte Hoffnung
meiner kuͤnftigen Tage ſind; Jndem
ich ſo dachte, war mein erſter Einfall,
eine ſchoͤne Abſchrift von Jhrem Ma-
nuſcripte machen zu laſſen, um in ei-
nigen Jahren unſrer kleinen Sophie
(denn Sie ſind ſo guͤtig, ſie auch die
Jhrige zu nennen) ein Geſchenke da-
mit zu machen; — und wie erfreute
mich der Gedanke, die Empfindungen
unſrer vieljaͤhrigen, wohlgepruͤften und
immer lauter befundenen Freundſchaft
auch durch dieſes Mittel auf unſre Kin-
der fortgepflanzt zu ſehen! An
dieſen Vorſtellungen ergoͤtzte ich mich
eine Zeitlang, als mir, eben ſo na-
tuͤrlicher weiſe, der Gedanke aufſtei-
gen mußte: Wie manche Mutter, wie
mancher
[XI] mancher Vater lebt itzt in dem weiten
Umfange der Provinzen Germaniens,
welche in dieſem Augenblicke aͤhn-
liche Wuͤnſche zum Beſten eben ſo
zaͤrtlich geliebter, eben ſo hoff-
nungsvoller Kinder thun! Wuͤr-
de ich dieſen nicht Vergnuͤgen ma-
chen, wenn ich ſie an einem Gute,
welches durch die Mittheilung nichts
verliehrt, Antheil nehmen ließe?
Wuͤrde das Gute, welches durch das
tugendhafte Beyſpiel der Familie
Sternheim gewuͤrkt werden kann,
nicht dadurch uͤber Viele ausgebreitet
werden? Jſt es nicht unſre Pflicht,
in einem ſo weiten Umfang als moͤg-
lich Gutes zu thun? Und wie viele
edelgeſinnte Perſonen wuͤrden nicht
durch dieſes Mittel den wuͤrdigen Cha-
racter des Geiſtes und des Herzens
meiner Freundin kennen lernen, und,
wenn Sie und ich nicht mehr ſind, ihr
Andenken ſegnen! — Sagen Sie
mir,
[XII] mir, meine Freundin, wie haͤtte ich,
mit dem Herzen, welches Sie nun ſo
viele Jahre kennen, und unter allen
meinen aͤußerlichen und innerlichen
Veraͤnderungen immer ſich ſelbſt gleich
befunden haben, ſolchen Vorſtellungen
widerſtehen koͤnnen? Es war al-
ſo ſogleich bey mir beſchloſſen, Co-
peyen fuͤr alle unſre Freunde und
Freundinnen, und fuͤr alle, die es ſeyn
wuͤrden, wenn ſie uns kennten, ma-
chen zu laſſen; ich dachte ſo gut von
unſern Zeitgenoſſen, daß ich eine große
Menge ſolcher Copeyen noͤthig zu ha-
ben glaubte; und ſo ſchickte ich die
meinige an meinen Freund Reich,
ihm uͤberlaſſend, deren ſo viele zu ma-
chen, als ihm ſelbſt belieben wuͤrde.
Doch nein! So ſchnell gieng es nicht
zu. Bey aller Waͤrme meines Her-
zens blieb doch mein Kopf kalt genug,
um alles in Betrachtung zu ziehen,
was vermoͤgend ſchien, mich von mei-
nem
[XIII] nem Vorhaben abzuſchrecken. Nie-
mals, daß ich wuͤßte, hat mich das
Vorurtheil fuͤr diejenige, die ich liebe,
gegen ihre Maͤngel blind gemacht.
Sie kennen dieſe Eigenſchaft an mir,
und ſie ſind eben ſo wenig faͤhig zu er-
warten, oder nur zu wuͤnſchen, daß
man ihnen ſchmeicheln ſoll, als ich ge-
neigt bin, gegen meine Empfindung
zu reden. Jhre Sternheim, ſo lie-
benswuͤrdig ſie iſt, hat als ein Werk
des Geiſtes, als eine dichteriſche Com-
poſition, ja nur uͤberhaupt als eine
deutſche Schrift betrachtet, Maͤngel,
welche den Auspfeiffern nicht verbor-
gen bleiben werden. Doch dieſe ſind
es nicht, vor denen ich mich in Jhrem
Namen fuͤrchte. Aber die Kunſtrich-
ter auf der einen Stite, und auf der
andern die ekeln Kenner aus der Claſſe
der Weltleute, — ſoll ich Jhnen ge-
ſtehen, meine Freundin, daß ich nicht
gaͤnzlich ohne Sorgen bin, wenn ich
daran
[XIV] daran denke, daß Jhre Sternheim
durch meine Schuld dem Urtheil ſo
vieler Perſonen von ſo unterſchiedli-
cher Denkensart ausgeſtellt wird?
Aber hoͤren Sie, was ich mir ſelbſt
ſagte, um mich wieder zu beruhigen.
Die Kunſtrichter haben es, in Abſicht
alles deſſen, was an der Form des
Werkes und an der Schreibart zu ta-
deln ſeyn kann, lediglich mit mir zu
thun. Sie, meine Freundin, dachten
nie daran, fuͤr die Welt zu ſchreiben,
oder ein Werk der Kunſt hervorzubrin-
gen. Bey aller Jhrer Beleſenheit in
den beſten Schriftſtellern verſchiedener
Sprachen, welche man leſen kann oh-
ne gelehrt zu ſeyn, war es immer Jhre
Gewohnheit, weniger auf die Schoͤn-
heit der Form als auf den Werth des
Jnhalts aufmerkſam zu ſeyn; und
ſchon dieſes einzige Bewußtſeyn wuͤrde
Sie den Gedanken fuͤr die Welt zu
ſchreiben allezeit haben verbannen heiſ-
ſen.
[XV] ſen. Mir, dem eigenmaͤchtigen Her-
ausgeber Jhres Manuſcripts, waͤre es
alſo zugekommen, den Maͤngeln abzu-
helfen, von denen ich ſelbſt erwarte,
daß ſie den Kunſtrichtern, wo nicht an-
ſtoͤßig ſeyn, doch den Wunſch, ſie nicht
zu ſehen, abdringen koͤnnten. Doch,
indem ich von Kunſtrichtern rede, den-
ke ich an Maͤnnern von feinem Ge-
ſchmack und reifem Urtheil; an Rich-
ter, welche von kleinen Flecken an ei-
nem ſchoͤnen Werke nicht beleidiget
werden, und zu billig ſind, von einer
freywillig hervorgekommenen Frucht
der bloßen Natur und von einer durch
die Kunſt erzogenen, muͤhſam gepfle-
geten Frucht (wiewohl, was den Ge-
ſchmack anbetrifft, dieſe nicht ſelten jener
den Vorzug laſſen muß) einerley Voll-
kommenheit zu fodern. Solche Ken-
ner werden vermuthlich, eben ſo wohl
wie ich, der Meynung ſeyn, daß eine
moraliſche Dichtung, bey welcher es
mehr
[XVI] mehr um die Ausfuͤhrung eines gewiſ-
ſen lehrreichen und intereſſanten Haupt-
charakters, als um Verwicklungen und
Entwicklungen zu thun iſt, und wobey
uͤberhaupt die moraliſche Nuͤtzlichkeit
der erſte Zweck, die Ergoͤtzung des Le-
ſers hingegen nur eine Nebenabſicht
iſt, einer kuͤnſtlichen Form um ſo eher
entbehren koͤnne, wenn ſie innerliche
und eigenthuͤmliche Schoͤnheiten fuͤr
den Geiſt und das Herz hat, welche
uns wegen des Mangels eines nach
den Regeln der Kunſt ausgelegten
Plans und uͤberhaupt alles deſſen, was
unter der Benennung Autors-Kuͤn-
ſte
begriffen werden kann, ſchadlos
halten. Eben dieſe Kenner werden,
(oder ich muͤßte mich ſehr betruͤgen) in
der Schreibart des Fraͤuleins von
Sternheim eine gewiſſe Originalitaͤt
der Bilder und des Ausdrucks und
eine ſo gluͤckliche Richtigkeit und Ener-
gie des letztern, oft gerade in Stellen,
mit
[XVII] mit denen der Sprachlehrer vielleicht
am wenigſten zufrieden iſt, bemerken,
welche die Nachlaͤßigkeit des Stils,
das Ungewoͤhnliche einiger Redensar-
ten und Wendungen, und uͤberhaupt
den Mangel einer vollkommnern Ab-
glaͤttung und Rundung, — einen
Mangel, dem ich nicht anders als auf
Unkoſten deſſen, was mir eine weſent-
liche Schoͤnheit der Schreibart meiner
Freundin ſchien, abzuhelfen gewußt
haͤtte, — reichlich zu verguͤten ſchei-
nen. Sie werden die Beobachtung
machen, daß unſre Sternheim, un-
geachtet die Vortheile ihrer Erziehung
bey aller Gelegenheit hervorſchim-
mern, dennoch ihren Geſchmack und
ihre Art zu denken, zu reden und zu
handeln, mehr der Natur und ihren
eigenen Erfahrungen und Bemerkun-
gen, als dem Unterricht und der Nach-
ahmung zu danken habe; daß es eben
daher komme, daß ſie ſo oft anders
denkt und handelt als die meiſten Per-
bſonen
[XVIII] ſonen ihres Standes; daß dieſes Ei-
gene und Sonderbare ihres Chara-
cters, und vornehmlich der individuelle
Schwung ihrer Einbildungskraft na-
tuͤrlicher weiſe auch in die Art ihrer Ge-
danken einzukleiden oder ihre Empfin-
dungen auszudruͤcken einen ſtarken
Einfluß haben muͤſſe; und daß es eben
daher komme, daß ſie fuͤr einen Ge-
danken, den ſie ſelbſt gefunden hat,
auch ſelbſt auf der Stelle einen eigenen
Ausdruck erfindet, deſſen Staͤrke der
Lebhaftigkeit und Wahrheit der an-
ſchauenden Begriffe angemeſſen iſt,
aus welchen ſie ihre Gedanken entwi-
ckelt: — und ſollten die Kenner nicht
geneigt ſeyn mit mir zu finden, daß
eben dieſe voͤllige Jndividualiſirung
des Charakters unſrer Heldin einen der
ſeltenſten Vorzuͤge dieſes Werkes aus-
macht, gerade denjenigen, welchen
die Kunſt am wenigſten, und gewiß
nie ſo gluͤcklich erreichen wuͤrde, als
es hier, wo die Natur gearbeitet hat,
geſchehen
[XIX] geſchehen iſt? Kurz, ich habe eine ſo
gute Meynung von der ſeinen Empfin-
dung der Kunſtrichter, daß ich ihnen
zutraue, ſie werden die Maͤngel, wo-
von die Rede iſt, mit ſo vielen, und
ſo vorzuͤglichen Schoͤnheiten verwebt
finden, daß ſie es mir verdenken wuͤr-
den, wenn ich das Privilegium der
Damen, welche keine Schriftſtellerin-
nen von Profeſſion ſind, zum Vor-
theil meiner Freundin geltend machen
wollte. Und ſollten wir uns etwan
vor dem feinen und verwoͤhnten Ge-
ſchmacke der Weltleute mehr zu fuͤrch-
ten haben als vor den Kunſtrichtern?
Jn der That, die Singularitaͤt unſrer
Heldin, ihr Enthuſiasmus fuͤr das
ſittliche Schoͤne, ihre beſondern Jdeen
und Launen, ihre eine wenig eigenſinni-
ge Praͤdilection fuͤr die Milords und
alles was ihnen gleich ſieht und aus
ihrem Lande kommt, und, was noch
aͤrger iſt als dies alles, der beſtaͤn-
dige Contraſt, den ihre Art zu em-
b 2pfinden,
[XX] pfinden, zu urtheilen und zu handeln
mit dem Geſchmack, den Sitten
und Gewohnheiten der großen Welt
macht, — ſcheint ihr nicht die guͤnſtig-
ſte Aufnahme in der letztern vorherzu-
ſagen. Gleichwohl gebe ich noch nicht
alle Hoffnung auf, daß ſie nicht, eben
darum, weil ſie eine Erſcheinung iſt,
unter dem Namen der liebenswuͤrdi-
gen Grillenfaͤngerin,
anſehnliche Er-
oberungen ſollte machen koͤnnen. Jn
der That, bey aller ihrer moraliſchen
Sonderlichkeit, welche zuweilen nahe
an das Uebertriebene, oder was einige
Pedanterey nennen werden, zu gren-
zen ſcheint, iſt ſie ein liebenswuͤrdiges
Geſchoͤpfe; und wenn auf der einen
Seite ihr ganzer Charakter mit allen ih-
ren Begriffen und Grundſaͤtzen als eine
in Handlung geſetzte Satyre uͤber das
Hofleben und die große Welt angeſehen
werden kann: ſo iſt auf der andern eben
ſo gewiß, daß man nicht billiger und
nachſichtlicher von den Vorzuͤgen und
von
[XXI] von den Fehlern der Perſonen, welche
ſich in dieſem ſchimmernden Kreiſe be-
wegen, urtheilen kann als unſre Heldin.
Man ſieht, daß ſie von Sachen ſpricht,
welche ſie in der Naͤhe geſehen hat,
und daß die Schuld weder an ihrem
Verſtand noch an ihrem Herzen liegt,
wenn ſie in dieſem Lande, wo die
Kunſt die Natur gaͤnzlich verdrungen
hat, alles unbegreiflich findet, und
ſelbſt allen unbegreiflich iſt.


Vergeben Sie mir, meine Freundin,
daß ich Jhnen ſo viel uͤber einen Punct,
woruͤber Sie Urſache haben ſehr ruhig
zu ſeyn, vorſchwatze. Es giebt Per-
ſonen, bey denen gar niemals eine
Frage ſeyn ſoll, ob ſie auch gefallen
werden; und ich muͤßte mich außeror-
dentlich irren, wenn unſre Heldin
nicht in dieſe Claſſe gehoͤrte. Die
naive Schoͤnheit ihres Geiſtes, die
Reinigkeit, die unbegrenzte Guͤte ihres
Herzens, die Richtigkeit ihres Ge-
ſchmacks, die Wahrheit ihrer Urtheile,
b 3die
[XXII] die Scharfſinnigkeit ihrer Bemerkun-
gen, die Lebhaftigkeit ihrer Einbildungs-
kraft und die Harmonie ihres Ausdrucks
mit ihrer eigenen Art zu empfinden und
zu denken, kurz, alle ihre Talente und
Tugenden ſind mir Buͤrge dafuͤr, daß
ſie mit allen ihren kleinen Fehlern ge-
fallen wird; daß ſie Allen gefallen
wird, welche dem Himmel einen ge-
ſunden Kopf und ein gefuͤhlvolles Herz
zu danken haben; — und wem woll-
ten wir ſonſt zu gefallen wuͤnſchen? —
Doch der liebſte Wunſch unſrer Hel-
din iſt nicht der Wunſch der Eitelkeit;
nuͤtzlich zu ſeyn, wuͤnſchte ſie; Gutes
will ſie thun; und Gutes wird ſie
thun, und dadurch den Schritt recht-
fertigen, den ich gewaget habe, ſie
ohne Vorwiſſen und Erlaubniß ihrer
liebenswuͤrdigen Urheber in in die Welt
einzufuͤhren. Jch bin, u. ſ. w.


Der Herausgeber.


Geſchichte[[1]]

Geſchichte
des

Fraͤuleins von Sternheim.



Sie ſollen mir nicht danken, meine
Freundinn, daß ich ſo viel fuͤr
Sie abſchreibe. Sie wiſſen, daß ich
das Gluͤck hatte, mit der vortrefflichen
Dame erzogen zu werden, aus deren Le-
bensbeſchreibung ich Jhnen Auszuͤge und
Abſchriften von den Briefen mittheile,
welche Mylord Seymour von ſeinen en-
gliſchen Freunden und meiner Emilia ſam-
melte. Glauben Sie, es iſt ein Vergnuͤ-
gen fuͤr mein Herz, wenn ich mich mit
etwas beſchaͤfftigen kann, wodurch das
Agehei-
[2] geheiligte Andenken der Tugend und Guͤte
einer Perſon, welche unſerm Geſchlechte
und der Menſchheit Ehre gemacht, in
mir erneuert wird.


Der Vater meiner geliebten Lady
Sidney
war der Oberſte von Stern-
heim,
einziger Sohn eines Profeſſors in
W., von welchem er die ſorgfaͤltigſte Er-
ziehung genoß. Edelmuth, Groͤße des
Geiſtes, Guͤte des Herzens, waren die
Grundzuͤge ſeines Charakters. Auf der
Univerſitaͤt L. verband ihm die Freund-
ſchaft mit dem juͤngern Baron von P. ſo
ſehr, daß er nicht nur alle Reiſen mit
ihm machte, ſondern auch aus Liebe zu
ihm mit in Kriegsdienſte trat. Durch
ſeinen Umgang und durch ſein Beyſpiel
wurde der vorher unbaͤndige Geiſt des
Barons ſo biegſam und wohldenkend, daß
die ganze Familie dem jungen Mann dank-
te, der ihren geliebten Sohn auf die Wege
des Guten gebracht hatte. Ein Zufall
trennte ſie. Der Baron mußte nach dem
Tode ſeines aͤltern Bruders die Kriegs-
dienſte verlaſſen, und ſich zu Ueberneh-
mung
[3] mung der Guͤther und Verwaltung derſel-
ben geſchickt machen. Sternheim, der
von Officiren und Gemeinen auf das voll-
kommenſte geehrt und geliebt wurde, blieb
im Dienſte, und erhielt darinn von dem
Fuͤrſten die Stelle eines Oberſten, und
den Adelſtand. „Jhr Verdienſt, nicht
„das Gluͤck hat Sie erhoben,“
ſagte
der General, als er ihm im Namen des
Fuͤrſten in Gegenwart vieler Perſonen,
das Oberſten-Patent und den Adelsbrief
uͤberreichte; und nach dem allgemeinen
Zeugniſſe waren alle Feldzuͤge Gelegen-
heiten, wo er Großmuth, Menſchenliebe
und Tapferkeit in vollem Maaß ausuͤbte.


Bey Herſtellung des Friedens war
ſein erſter Wunſch, ſeinen Freund zu ſe-
hen, mit welchem er immer Briefe gewech-
ſelt hatte. Sein Herz kannte keine an-
dere Verbindung. Schon lange hatte er
ſeinen Vater verlohren; und da dieſer
ſelbſt ein Fremdling in W. geweſen war,
ſo blieben ſeinem Sohne keine nahe Ver-
wandte von ihm uͤbrig. Der Oberſte
von Sternheim gieng alſo nach P., um
A 2daſelbſt
[4] daſelbſt das ruhige Vergnuͤgen der Freund-
ſchaft zu genießen. Der Baron P., ſein
Freund, war mit einer liebenswuͤrdigen
Dame vermaͤhlt, und lebte mit ſeiner
Mutter und zwoen Schweſtern auf den
ſchoͤnen Guͤthern, die ihm ſein Vater zu-
ruͤck gelaſſen, ſehr gluͤcklich. Die Fami-
lie von P., als eine der angeſehenſten in
der Gegend, wurde von dem zahlreichen
benachbarten Adel oͤfters beſucht. Der
Baron P. gab wechſelsweiſe Geſellſchaft
und kleine Feſte; die einſamen Tage wur-
den mit Leſung guter Buͤcher, mit Be-
muͤhungen fuͤr die gute Verwaltung der
Herrſchaft, und mit edler anſtaͤndiger
Fuͤhrung des Hauſes zugebracht.


Zuweilen wurden auch kleine Concerte
gehalten, weil die juͤngere Fraͤulein das
Clavier, die aͤltere aber die Laute ſpielte,
und ſchoͤn ſang, wobey ſie von ihrem
Bruder mit etlichen von ſeinen Leuten
accompagnirt wurde. Der Gemuͤthszu-
ſtand des aͤltern Fraͤuleins ſtoͤrte dieſes
ruhige Gluͤck. Sie war das einzige Kind,
welches der Baron P. mit ſeiner erſten
Gemahlin
[5] Gemahlin, einer Layd Watſon, die er
auf einer Geſandtſchaft in England geheu-
rathet, erzeugt hatte. Dieſes Fraͤulein
ſchien zu aller ſanften Liebenswuͤrdigkeit
einer Englaͤnderin, auch den melancholi-
ſchen Charakter, der dieſe Nation bezeich-
net, von ihrer Mutter geerbt zu haben.
Ein ſtiller Gram war auf ihrem Geſichte
verbreitet. Sie liebte die Einſamkeit,
verwendete ſie aber allein auf fleißiges Le-
ſen der beſten Buͤcher; ohne gleichwohl
die Gelegenheiten zu verſaͤumen, wo ſie,
ohne fremde Geſellſchaft, mit den Perſo-
nen ihrer Familie allein ſeyn konnte.


Der Baron, ihr Bruder, der ſie zaͤrt-
lich liebte, machte ſich Kummer fuͤr ihre
Geſundheit, er gab ſich alle Muͤhe, ſie
zu zerſtreuen, und die Urſache ihrer ruͤh-
renden Traurigkeit zu erfahren.


Etlichemal bat er ſie, ihr Herz einem
treuen zaͤrtlichen Bruder zu entdecken.
Sie ſah ihn bedenklich an, dankte ihm
fuͤr ſeine Sorge, und bat ihn mit thraͤ-
nenden Augen, ihr ihr Geheimniß zu
laſſen, und ſie zu lieben. Dieſes machte
A 3ihn
[6] ihn unruhig. Er beſorgte, irgend ein be-
gangener Fehler moͤchte die Grundlage
dieſer Betruͤbniß ſeyn; beobachtete ſie in
allem auf das genauſte, konnte aber kei-
ne Spur entdecken, die ihn zu der ge-
ringſten Beſtaͤrkung einer ſolchen Beſorg-
niß haͤtte leiten koͤnnen.


Jmmer war ſie unter ſeinen oder ih-
rer Mutter Augen, redete mit niemand
im Hauſe, und vermied alle Arten von
Umgang. Einige Zeit uͤberwand ſie ſich,
und blieb in Geſellſchaft; und eine ruhige
Munterkeit machte Hoffnung, daß der
melancholiſche Anfall voruͤber waͤre.


Zu dieſem Vergnuͤgen der Familie
kam die unvermuthete Ankunft des Ober-
ſten von Sternheim, von welchem dieſe
ganze Familie ſo viel reden gehoͤrt, und
in ſeinen Briefen die Vortrefflichkeit ſei-
nes Geiſtes und Herzens bewundert hatte.
Er uͤberraſchte ſie Abends in ihrem Gar-
ten; die Entzuͤckung des Barons, und die
neugierige Aufmerkſamkeit der uͤbrigen,
iſt nicht zu beſchreiben. Es waͤhrte auch
nicht lange, ſo floͤßte ſein edles liebrei-
ches
[7] ches Betragen dem ganzen Hauſe eine
gleiche Freude ein.


Der Oberſte wurde als ein beſonderer
Freund des Hauſes bey allen Bekannten
vom Adel aufgefuͤhrt, und kam in alle
ihre Geſellſchaften.


Jn dem Hauſe des Barons machte er
die Erzaͤhlung ſeines Lebens, worinn er
ohne Weitlaͤuftigkeit das Merkwuͤrdige
und Nuͤtzliche was er geſehen, mit vieler
Anmuth und mit dem maͤnnlichen Tone,
der den weiſen Mann und den Menſchen-
freund bezeichnet, vortrug. Jhm wurde
hingegen das Gemaͤhlde vom Landleben
gemacht, wobey bald der Baron von den
Vortheilen, welche die Gegenwart des
Herrn den Unterthanen verſchafft, bald
die alte Dame von demjenigen Theil der
laͤndlichen Wirthſchaft, der die Familien-
mutter angeht, bald die beyden Fraͤulein
von den angenehmen Ergoͤtzlichkeiten ſpra-
chen, die das Landleben in jeder Jahrs-
zeit anbietet. Auf dieſe Abſchilderung
folgte dieſe Frage:


A 4Mein
[8]

Mein Freund, wollten Sie nicht die
uͤbrigen Tage ihres Lebens auf dem Lan-
de zubringen?


„Ja, lieber Baron! aber es muͤßte auf
meinen eignen Guͤthern und in der Nach-
barſchaft der Jhrigen ſeyn.“


Das kann leicht geſchehen, denn es
iſt eine kleine Meile von hier ein artiges
Guth zu kaufen; ich habe die Erlaubniß
hinzugehen, wenn ich will; wir wollen
es Morgen befehen.


Den Tag darauf ritten die beyden
Herren dahin, in Begleitung des Pfar-
rers von P., eines ſehr wuͤrdigen Man-
nes, von welchem die Damen die Be-
ſchreibung des ruͤhrenden Auftritts erhiel-
ten, der zwiſchen den beyden Freunden
vorgefallen war.


Der Baron hatte dem Oberſten das
ganze Guth gewieſen, und fuͤhrte ihn
auch in das Haus, welches gleich an dem
Garten und ſehr artig gelegen war. Hier
nahmen ſie das Fruͤhſtuͤck ein.


Der Oberſte bezeugte ſeine Zufrieden-
heit uͤber alles was er geſehen, und fragte
den
[9] den Baron: ob es wahr ſey, daß man
dieſes Guth kaufen koͤnne?


Ja, mein Freund; gefaͤllt es Jhnen?


Vollkommen; es wuͤrde mich von
nichts entfernen, was ich liebe.


O wie gluͤcklich bin ich, theurer
Freund, ſagte der Baron, da er ihn um-
armte; ich habe das Guth ſchon vor drey
Jahren gekauft, um es Jhnen anzubie-
ten; ich habe das Haus ausgebeſſert, und
oft in dieſem Cabinette fuͤr Jhre Erhal-
tung gebetet. Nun werde ich den Fuͤh-
rer meiner Jugend zum Zeugen meines
Lebens haben!


Der Oberſte wurde außerordentlich
geruͤhrt; er konnte ſeinen Dank und ſeine
Freude uͤber das edle Herz ſeines Freun-
des nicht genug ausdruͤcken; er verſicher-
te ihn, daß er ſein Leben in dieſem Hauſe
zubringen wuͤrde; aber zugleich verlangte
er zu wiſſen, was das Guth gekoſtet habe.
Der Baron mußte es ſagen, und es auch
durch die Kaufbriefe beweiſen. Der Er-
trag belief ſich hoͤher, als es nach dem An-
kaufsſchilling ſeyn ſollte. Der Baron
A 5ver-
[10] verſicherte aber, daß er nichts als ſeine
eigne Auslage annehmen wuͤrde.


Mein Freund, (ſagte er) ich habe
nichts gethan, als ſeit drey Jahren alle
Einkuͤnfte des Guths auf die Verbeſſe-
rung und Verſchoͤnerung deſſelben verwen-
det. Das Vergnuͤgen des Gedankens:
du arbeiteſt fuͤr die Ruhetage des Beſten
der Menſchen; hier wirſt du ihn ſehen,
und in ſeiner Geſellſchaft die gluͤcklichen
Zeiten deiner Jugend erneuern; ſein
Rath, ſein Beyſpiel, wird zu der Zufrie-
denheit deiner Seele und dem Beſten dei-
ner Angehoͤrigen beytragen — Dieſe
Gedanken haben mich belohnt.


Wie ſie nach Hauſe kamen, ſtellte
der Baron den Oberſten als einen neuen
Nachbar ſeiner Frau Mutter und ſeinen
Schweſtern vor. Alle wurden ſehr froh
uͤber die Verſicherung, ſeinen angenehmen
Umgang auf immer zu genießen.


Er bezog ſein Haus ſogleich, als er
Beſitz von der kleinen Herrſchaft genom-
men hatte, die nur aus zweyen Doͤrfern
beſtund. Er gab auch ein Feſtin fuͤr die
kleine
[11] kleine Nachbarſchaft, fieng gleich darauf
an zu bauen, ſetzte noch zween ſchoͤne Fluͤ-
gel an beyden Seiten des Hauſes, pflanzte
Alleen und einen artigen Luſtwald, alles
in engliſchem Geſchmack. Er betrieb die-
ſen Bau mit dem groͤßten Eifer. Gleich-
wohl hatte er von Zeit zu Zeit eine duͤſtre
Miene, die der Baron wahrnahm, ohne
anfangs davon etwas merken zu laſſen,
bis er in dem folgenden Herbſt einer Ge-
muͤthsveraͤnderung des Oberſten uͤberzeugt
zu ſeyn glaubte, bey welcher er nicht laͤn-
ger ruhig ſeyn konnte. Sternheim kam
nicht mehr ſo oft, redete weniger, und
gieng bald wieder weg. Seine Leute be-
dauerten die ungewoͤhnliche Melancholie,
die ihren Herrn befallen hatte.


Der Baron wurde um ſo viel mehr
bekuͤmmert, als ſein Herz von der zuruͤck-
gefallnen Traurigkeit ſeiner aͤltern Schwe-
ſter beklemmt war. Er gieng zum Ober-
ſten, fand ihn allein und nachdenkend,
umarmte ihn mit zaͤrtlicher Wehmuth, und
rief aus: — „O mein Freund! wie
nichtig ſind auch die edelſten, die lauter-
ſten
[12] ſten Freuden unſers Herzens! — Lange
fehlte mir nichts als Jhre Gegenwart;
nun ſeh’ ich Sie; ich habe Sie in meinen
Armen, und ſehe Sie traurig! Jhr Herz,
Jhr Vertrauen iſt nicht mehr fuͤr mich;
haben Sie vielleicht der Freundſchaft zu
viel nachgegeben, indem Sie hier einen
Wohnſitz nehmen?“ — Liebſter beſter
Freund! quaͤlen Sie ſich nicht; Jhr Ver-
gnuͤgen iſt mir theurer als mein eignes,
ich nehme das Guth wieder an; es wird
mir werth ſeyn, weil es mir Jhr ſchaͤtz-
bares Andenken, und ihr Bild an allen
Orten erneuern wird.“


Hier hielt er inne; Thraͤnen fuͤllten
ſein Auge, welches auf dem Geſicht ſeines
Freundes geheftet war — Er ſah die
groͤßte Bewegung der Seele in demſelben
ausgedruͤckt.


Der Oberſte ſtund auf, und umfaßte
den Baron. „Edler P. glauben Sie ja
nicht, daß meine Freundſchaft, mein
Vertrauen gegen Sie vermindert ſey;
noch weniger denken Sie, daß mich die
Entſchließung gereue, meine Tage in Jh-
rer
[13] rer Nachbarſchaft hinzubringen. — O
Jhre Nachbarſchaft iſt mir lieber, als Sie
ſich vorſtellen koͤnnen! — Jch habe eine
Leidenſchaft zu bekaͤmpfen, die mein Herz
zum erſtenmal angefallen hat. Jch hoffte,
vernuͤnftig und edelmuͤthig zu ſeyn; aber
ich bin es noch nicht in aller der Staͤrke,
welche der Zuſtand meiner Seele erfodert.
Doch iſt es nicht moͤglich, daß ich mit Jh-
nen davon ſpreche; mein Herz und die Ein-
ſamkeit ſind die einzigen Vertrauten, die
ich haben kann.


Der Baron druͤckte ihn an ſeine
Bruſt; ich weiß, ſagte er, daß Sie in
allem wahrhaft ſind, ich zweifle alſo nicht
an den Verſicherungen Jhrer alten Freund-
ſchaft. Aber warum kommen Sie ſo ſel-
ten zu mir? warum eilen Sie ſo kalt
wieder aus meinem Hauſe?


„Kalt, mein Freund! Kalt eile ich
aus Jhrem Hauſe? O P.; Wenn Sie
das brennende Verlangen kennten, das
mich zu Jhnen fuͤhrt; das mich Stunden
lang an meinem Fenſter haͤlt, wo ich das
geliebte Haus ſehe, in welchem alle mein
Wuͤnſchen
[14] Wuͤnſchen, all mein Vergnuͤgen wohnt;
Ach P.! —“


Der Baron P. wurde unruhig, weil
ihm auf einige Augenblicke der Gedanke
kam, ſein Freund moͤchte vielleicht ſeine
Gemahlin lieben, und meide deswegen
ſein Haus, weil er ſich zu beſtreiten ſuche.
Er beſchloß, achtſam und zuruͤckhaltend
zu ſeyn. Der Oberſte hatte ſtill geſeſſen,
und der Baron war auch aus ſeiner Faſ-
ſung. Endlich fieng der letztere an:
Mein Freund, Jhr Geheimniß iſt mir hei-
lig; ich will es nicht aus Jhrer Bruſt er-
preſſen. Aber Sie haben mir Urſache
gegeben zu denken, daß ein Theil dieſes
Geheimniſſes mein Haus angehe: Darf
ich nicht nach dieſem Theile fragen?


Nein! Nein, fragen Sie nichts, und
uͤberlaſſen Sie mich mir ſelbſt — Der
Baron ſchwieg, und reiſte traurig und
tiefſinnig fort.


Den andern Tag kam der Oberſte,
bat den Baron um Vergebung, daß er
ihn geſtern ſo trocken heimreiſen laſſen, und
ſagte, daß es ihn den ganzen Abend ge-
quaͤlt
[15] quaͤlt haͤtte. Lieber Baron, ſetzte er hin-
zu, Ehre und Edelmuth binden meine
Zunge! Zweifeln Sie nicht an meinem
Herzen, und lieben Sie mich!


Er blieb den ganzen Tag in P., —
Fraͤulein Sophie und Fraͤulein Charlotte
wurden von ihrem Bruder gebeten, alles
zu Ermunterung ſeines Freundes beyzu-
tragen. Der Oberſte hielt ſich aber mei-
ſtens um die alte Dame und die Gemah-
lin des Barons auf. Abends ſpielte
Fraͤulein Charlotte die Laute, der Baron
und zween Bediente accompagnirten ſie,
und Fraͤulein Sophie wurde ſo inſtaͤndig
gebeten, zu ſingen, daß ſie endlich nach-
gab.


Der Oberſte ſtellte ſich in ein Fenſter,
wo er bey halb zugezogenem Vorhang das
kleine Familien-Concert anhoͤrte, und ſo
eingenommen wurde, nicht wahrzuneh-
men, daß die Gemahlin ſeines Freundes
nahe genug bey ihm ſtund, um ihn ſagen
zu hoͤren: „O Sophie, warum biſt du
die Schweſter meines Freundes? warum
beſtreiten die Vorzuͤge deiner Geburt die
edle
[16] edle, die zaͤrtliche Neigung meines Her-
zens! —“


Die Dame wurde beſtuͤrzt; und um
die Verwirrung zu vermeiden, in die er
gerathen ſeyn wuͤrde, wenn er haͤtte den-
ken koͤnnen, ſie habe ihn gehoͤrt, entfernte
ſie ſich; froh, ihrem Gemahl die Sorge
benehmen zu koͤnnen, die ihn wegen der
Schwermuth des Oberſten plagte. —
So bald alles ſchlafen gegangen war, re-
dete ſie mit ihm von dieſer Entdeckung.
Der Baron verſtund nun, was ihm der
Oberſte ſagen wollte, da er ſich wegen
des vermeynten Kaltſinns vertheidigte,
deſſen er beſchuldigt wurde. Waͤre Jh-
nen der Oberſte als Schwager eben ſo
lieb, wie er es Jhnen als mein Freund
iſt? — fragte er ſeine Gemahlin.


„Gewiß, mein Liebſter! Sollte denn
das Verdienſt des rechtſchaffnen Mannes
nicht ſo viel Werth haben, als die Vor-
zuͤge des Namens und der Geburt!


Werthe edle Helfte meines Lebens,
rief der Baron, ſo helfen Sie mir die
Vor-
[17] Vorurtheile bey meiner Mama, und bey
Sophien uͤberwinden! —


„Jch fuͤrchte die Vorurtheile nicht ſo
ſehr, als eine vorgefaßte Neigung, die
unſre liebe Sophie in ihrem Herzen naͤhrt.
Jch kenne den Gegenſtand nicht, aber ſie
liebt, und liebt ſchon lange. Kleine
Aufſaͤtze von Betrachtungen, von Kla-
gen gegen das Schickſal, gegen Tren-
nung, — die ich in ihrem Schreibetiſche
gefunden habe, uͤberzeugten mich davon.
Jch habe ſie beobachtet, aber weiter nichts
entdecken koͤnnen.“ Jch will mit ihr re-
den, ſagte der Baron, und ſehen, ob ihr
Herz nicht durch irgend eine Luͤcke auszu-
ſpaͤhen iſt.


Den Morgen darauf gieng der Ba-
ron zu Fraͤulein Sophie, und nach vielen
freundlichen Fragen um ihre Geſund-
heit, nahm er ihre Haͤnde in die ſeinigen.
Liebe theure Sophie, ſprach er, du giebſt
mir Verſicherung deines Wohlſeyns;
aber warum bleibt dir die leidende Miene?
warum der Ton des Schmerzens; warum
Bder
[18] der Hang zur Einſamkeit! warum ent-
fliehen dieſem edeln guͤtigen Herzen ſo viele
Seufzer? — O wenn du wuͤßteſt; wie
ſehr du mich dieſe lange Zeit deiner Me-
lancholie durch bekuͤmmert haſt; du wuͤr-
deſt mir dein Herz nicht verſchloſſen haben!


Hier wurde ihre Zaͤrtlichkeit uͤberwaͤl-
tiget. — Sie zog ihre Haͤnde nicht weg,
ſie druͤckte ihres Bruders ſeine an ihre
Bruſt, und ihr Kopf ſank auf ſeine Schul-
ter. „Bruder, du brichſt mein Herz! ich
kann den Gedanken nicht ertragen, dir
Kummer gemacht zu haben! Jch liebe dich
wie mein Leben; ich bin gluͤcklich, ertrage
mich, und rede mir niemals vom Hey-
rathen.“


Warum das, mein Kind? Du wuͤrdeſt
einen rechtſchaffenen Mann ſo gluͤcklich
machen!


„Ja, ein rechtſchaffener Mann wuͤr-
de auch mich gluͤcklich machen; aber ich
kenne —“ Thraͤnen hinderten ſie, mehr
zu ſagen. —


O Sophie — hemme die aufrichtige
Bewegung deiner Seele nicht; ſchuͤtte
ihre
[19] ihre Empfindungen in den treuen Buſen
deines Bruders aus — Kind! ich glau-
be, es giebt einen Mann, den du liebſt,
mit dem dein Herz ein Buͤndniß hat. —


„Nein, Bruder! mein Herz hat kein
Buͤndniß —“


Jſt dieſes wahr, meine Sophie?


„Ja, mein Bruder, ja — —“


Hier ſchloß ſie der Baron in ſeine
Arme. — Ach wenn du die entſchloßne,
die wohlthaͤtige Seele deiner Mutter haͤt-
teſt! —


Sie erſtaunte. „Warum, mein Bru-
der? was willſt du damit? bin ich uͤbel-
thaͤtig geweſen?“


Niemals, meine Liebe, niemals —
aber du koͤnnteſt es werden, wenn Vor-
urtheile mehr als Tugend und Vernunft
bey dir gaͤlten.


„Bruder, du verwirreſt mich! in was
fuͤr einem Falle ſollte ich der Tugend und
Vernunft entſagen?“


Du mußt es nicht ſo nehmen! Der
Fall, den ich denke, iſt nicht wider Tu-
gend und Vernunft; und doch koͤnnten
B 2beyde
[20] beyde ihre Anſpruͤche bey dir verlieh-
ren? —


„Bruder, rede deutlich; ich bin ent-
ſchloſſen nach meinen geheimſten Empfin-
dungen zu antworten.“ —


Sophie, die Verſicherung, daß dein
Herz ohne Buͤndniß ſey, erlaubt mir,
dich zu fragen: was du thun wuͤrdeſt,
wenn ein Mann, voll Weisheit und Tu-
gend, dich liebte, um deine Hand baͤte,
aber nicht von altem Adel waͤre? —


Sie gerieth bey dieſem letzten Wort
in Schrecken, ſie zitterte, und wußte ſich
nicht zu faſſen. Der Baron wollte ihr
Herz nicht lange quaͤlen, ſondern fuhr
fort: wenn dieſer Mann der Freund waͤre,
dem dein Bruder die Guͤte und Gluͤckſe-
ligkeit ſeines Herzens zu danken haͤtte, —
Sophie; was wuͤrdeſt du thun?


Sie redete nicht, ſondern ward nach-
denkend und wechſelsweiſe roth und blaß.


Jch beunruhige dich, meine Schwe-
ſter; der Oberſte liebt dich. Dieſe Lei-
denſchaft macht ſeine Schwermuth; denn
er zweifelt, ob er werde angenommen wer-
den.
[21] den. Jch bekenne dir freymuͤthig, daß
ich wuͤnſchte, alle ſeine mir erwieſne
Wohlthaten durch dich zu vergelten.
Aber wenn dein Herz darwider iſt, ſo ver-
giß alles was ich dir ſagte.


Das Fraͤulein bemuͤhete ſich einen
Muth zu faſſen; ſchwieg aber eine gute
Weile; endlich fragte ſie den Baron:
„Bruder, iſt es gewiß, daß der Oberſte
mich liebt?“ — Der Baron erklaͤrte ihr
hierauf alles was er durch ſeine Unterre-
dungen mit dem Oberſten, und endlich
durch die Wuͤnſche, welche ſeine Gemah-
lin gehoͤrt hatte, von ſeiner Liebe wußte.


„Mein Bruder, ſprach Sophie, ich
bin freymuͤthig, und du verdienſt alle
mein Vertrauen ſo ſehr, daß ich nicht
lange warten werde, dir zu ſagen, daß
der Oberſte der einzige Mann auf Erden
iſt, deſſen Gemahlin ich zu werden
wuͤnſche.


Der Unterſchied der Geburt iſt dir al-
ſo nicht anſtoͤßig?


„Gar nicht; ſein edles Herz, ſeine
Wiſſenſchaft, und ſeine Freundſchaft fuͤr
B 3dich,
[22] dich, erſetzen bey mir den Mangel der
Ahnen.“


Edelmuͤthiges Maͤdchen! du machſt
mich gluͤcklich durch deine Entſchließung,
liebſte Sophie! — Aber warum bateſt
du mich, dir nichts vom Heyrathen zu
ſagen?


„Weil ich fuͤrchtete, du redeteſt von
einem andern“ ſagte ſie, mit leiſem Ton,
indem ihr gluͤhendes Geſicht auf der
Schulter ihres Bruders lag —


Er umarmte ſie, kuͤßte ihre Hand;
dieſe Hand, ſagte er, wird ein Segen
fuͤr meinen Freund ſeyn! von mir wird
er ſie erhalten! Aber, mein Kind, die Ma-
ma und Charlotte werden dich beſtreiten;
wirſt du ſtandhaft bleiben?


„Bruder, du ſollſt ſehen, daß ich ein
Englaͤndiſches Herz habe. — Aber da
ich alle deine Fragen beantwortete, ſo
muß ich auch eine machen: Was dachteſt
du von meiner Traurigkeit, weil du mich
ſo oft fragteſt? —“


Jch
[23]

Jch dachte, eine heimliche Liebe, und
ich fuͤrchtete mich vor dem Gegenſtand,
weil du ſo verborgen wareſt.


„Mein Bruder glaubte alſo nicht,
daß die Briefe ſeines Freundes, die er
uns vorlas, und alles uͤbrige, was er
von dem theuren Mann erzaͤhlte, einen
Eindruck auf mein Herz machen koͤnnte?“


Liebe Sophie, es war alſo das Ver-
dienſt meines Freundes, was dich ſo be-
unruhigte? — Gluͤcklicher Mann, den
ein edles Maͤdchen wegen ſeiner Tugend
liebt! — Gott ſegue meine Schweſter
fuͤr ihre Aufrichtigkeit! nun kann ich das
Herz meines Freundes von ſeinem nagen-
den Kummer heilen.


„Thu’ alles mein Bruder, was ihn be-
friedigen kann; nur ſchone meiner dabey!
du weiſt, daß ein Maͤdchen nicht unge-
beten lieben darf.“


Sey ruhig, mein Kind; deine Ehre
iſt die meinige.


Hier verließ er ſie, gieng zu ſeiner
Gemahlin und theilte ihr das Vergnuͤgen
dieſer Entdeckung mit. Sodann eilte er
B 4zum
[24] zum Oberſten, welchen er traurig und
ernſthaft fand. — Mancherley Unterre-
dungen, die er anfieng, wurden kurz beant-
wortet. Eine toͤdtliche Unruhe war in
allen ſeinen Gebehrden. — Habe ich Sie
geſtoͤrt, Herr Oberſter? ſagte der Baron
mit der Stimme der zaͤrtlichſten Freund-
ſchaft eines jungen Mannes gegen ſeinen
Fuͤhrer, indem er den Oberſten zugleich
bey der Hand faßte.


„Ja, lieber Baron, Sie haben mich in
der Entſchließung geſtoͤrt, auf einige Zeit
weg zu reiſen.“


Weg zu reiſen? und — allein? —


„Lieber P., ich bin in einer Gemuͤths-
verfaſſung, die meinen Umgang unange-
nehm macht; ich will ſehen, was die Zer-
ſtreuung thun kann.“


Mein beſter Freund! darf ich nicht
mehr in ihr Herz ſehen? kann ich nichts
zu ihrer Ruhe beytragen?


„Sie haben genug fuͤr mich gethan!
Sie ſind die Freude meines Lebens. —
Was mir itzt mangelt, muß die Klugheit
und die Zeit beſſern.“


Stern-
[25]

Sternheim, Sie ſagten letzt von ei-
ner zu bekaͤmpfenden Leidenſchaft. — Jch
kenne Sie; Jhr Herz kann keine unan-
ſtaͤndige, keine boͤſe Leidenſchaft naͤhren;
es muß Liebe ſeyn, was die Quaal Jhrer
Tage macht!


„Niemals P., niemals ſollen Sie wiſ-
ſen, was meinen itzigen Kummer ver-
urſacht.“


Rechtſchaffner Freund, ich will Sie
nicht laͤnger taͤuſchen; ich kenne den Ge-
genſtand Jhrer Liebe; Jhre Zaͤrtlichkeit
hat einen Zeugen gefunden; ich bin gluͤck-
lich: Sie lieben meine Sophie! — Der
Baron hielt den Oberſten, der ganz außer
ſich war, umarmt; er wollte ſich loswin-
den; es war ihm bange.


„P., was ſagen Sie? was wollen
Sie von mir wiſſen?“


Jch will wiſſen; ob die Hand meiner
Schweſter ein gewuͤnſchtes Gluͤck fuͤr Sie
waͤre?


„Unmoͤglich, denn es waͤre fuͤr Sie
alle ein Ungluͤck.“


B 5Jch
[26]

Jch habe alſo Jhr Geſtaͤndniß; aber
wo ſoll das Ungluͤck ſeyn?


„Ja, Sie haben mein Geſtaͤndniß;
Jhre Fraͤulein Schweſter iſt das erſte
Frauenzimmer, welches die beſte Neigung
meiner Seele hat; aber ich will ſie uͤber-
winden; man ſoll Jhnen nicht vorwerfen,
daß ſie Jhrer Freundſchaft die ſchuldi-
ge Achtung fuͤr Jhre Voreltern aufge-
opfert haben. Fraͤulein Sophie ſoll
durch mich keinen Anſpruch an Gluͤck und
Vorzug verliehren. Schwoͤren Sie mir,
kein Wort mit ihr davon zu reden; oder
Sie ſehen mich heute zum letztenmal!“


Sie denken edel, mein Freund; aber
Sie ſollen nicht ungerecht werden. Jhre
Abreiſe wuͤrde nicht allein mich, ſondern
Sophien und meine Gemahlin betruͤben.
Sie ſollen mein Bruder ſeyn! —


„P., Sie martern mich mit dieſem
Zuſpruch mehr, als mich die Unmoͤglich-
keit marterte, die meinen Wuͤnſchen ent-
gegen iſt.“


Freund! Sie haben die freywillige,
die zaͤrtliche Zuſage meiner Schweſter —
Sie
[27] Sie haben die Wuͤnſche meiner Gemahlin
und die meinige. Wir haben alles be-
dacht, was Sie bedenken koͤnnen, — ſoll
ich Sie bitten der Gemahl von Sophien
von P. zu werden? —


„O Gott! wie hart beurtheilen Sie
mein Herz! Sie glauben alſo, daß es ei-
genſinniger Stolz ſey, der mich unſchluͤſ-
ſig macht?“


Jch antworte nichts, umarmen Sie
mich und nennen Sie mich ihren Bru-
der! morgen ſollen Sie es ſeyn! Sophie
iſt die Jhrige. Sehen Sie ſie nicht als
das Fraͤulein von P., ſondern als ein lie-
benswuͤrdiges und tugendhaftes Frauen-
zimmer an, deſſen Beſitz alle Jhre kuͤnfti-
gen Tage begluͤcken wird; und nehmen
Sie dieſen Segen von der Hand Jhres
treuen Freundes mit Vergnuͤgen an!


„Sophie mein? mit einer freywilligen
Zaͤrtlichkeit mein? Es iſt genug; Sie ge-
ben alles; ich kann nichts thun, als auf
alles freywillig entſagen?“


Entſagen? — nach der Verſiche-
rung, daß Sie geliebt ſind? — O mei-
ne
[28] ne Schweſter, wie uͤbel bin ich mit deinem
vortrefflichen Herzen umgegangen! —


„P., was ſagen Sie! und wie koͤn-
nen Sie mein Herz durch einen ſolchen
Vorwurf zerreiſſen? Wenn Sie edelmuͤ-
thig ſind: ſoll ich es nicht auch ſeyn?
ſoll ich die Augen uͤber die Mienen des be-
nachbarten Adels zuſchlieſſen?


Sie ſollen es, wenn die Frage von
Jhrer Freude und Jhrem Gluͤck iſt.


„Was wollen Sie dann, daß ich
thun ſoll?


Daß Sie mich mit dem Auftrage zu-
ruͤck reiſen laſſen, mit meiner Mutter von
meinem Wunſche zu ſprechen, und daß
Sie zu uns kommen wollen, wenn ich
Jhnen ein Billet ſchicke.


Der Oberſte konnte nicht mehr reden;
er umarmte den Baron. Dieſer gieng
zuruͤck, gerade zu ſeiner Frau Mutter,
bey welcher die beyden Fraͤulein und ſeine
Gemahlin waren. Er fuͤhrte die aͤltere
Fraͤulein in ihr Zimmer, weil er ihr den
Bericht von ſeinem Beſuch allein machen
wollte, und bat ſie, ihn eine Zeitlang
bey
[29] bey der Frau Mutter und Charlotten zu
laſſen. Hier that er einen foͤrmlichen An-
trag fuͤr ſeinen Freund. Die alte Dame
wurde betroffen; er ſah es, und ſagte:
Theure Frau Mutter! alle Jhre Bedenk-
lichkeiten ſind gegruͤndet. Der Adel ſoll
durch adeliche Verbindungen fortgefuͤhrt
werden. Aber die Tugenden des Stern-
heim ſind die Grundlagen aller großen
Familien geweſen. Man hatte nicht un-
recht zu denken, daß große Eigenſchaften
der Seele bey Toͤchtern und Soͤhnen erb-
lich ſeyn koͤnnten, und daß alſo jeder
Vater fuͤr einen edlen Sohn eine edle Toch-
ter ſuchen ſollte. Auch wollt’ ich, der
Einfuͤhrung der Heyrathen außer
Stand
nicht gerne das Wort reden.
Aber hier iſt ein beſonderer Fall; ein Fall,
der ſehr ſelten erſcheinen wird: Stern-
heims Verdienſte, mit dem Charakter ei-
nes wirklichen Oberſten, der ſchon als
adelich anzuſehen iſt, rechtfertigen die
Hoffnung, die ich ihm gemacht habe.


Jn Wahrheit, mein Sohn, ich habe
Bedenklichkeiten. Aber der Mann hat
meine
[30] meine ganze Hochachtung erworben. Jch
wuͤrde ihn gern gluͤcklich ſehen.


Meine Gemahlin: was ſagen Sie?


Daß bey einem Mann, wie dieſer iſt,
eine gerechte Ausnahme zu machen ſey.
Jch werde ihn gerne Bruder nennen.


Jch nicht, ſagte Fraͤulein Char-
lotte. —


„Warum, meine Liebe?“


Weil dieſe ſchoͤne Verbindung auf Un-
koſten meines Gluͤcks gemacht wird.


„Wie das, Charlotte?“


Wer wird denn unſer Haus zu einer
Vermaͤhlung ſuchen, wenn die aͤltere Toch-
ter ſo verſchleudert iſt?


„Verſchleudert? bey einem Mann von
Tugend und Ehre, bey dem Freunde dei-
nes Bruders?“


Vielleicht haſt du noch einen Univer-
ſitaͤtsfreund von dieſer Tugend, der ſich
um mich melden wird, um ſeiner aufkei-
menden Ehre eine Stuͤtze zu geben, und
da wirſt du auch Urſachen zu deiner Ein-
willigung bereit haben?


Char-
[31]

Charlotte, meine Tochter! was fuͤr
eine Sprache?


Jch muß ſie fuͤhren, weil in der gan-
zen Familie niemand auf mich und ſeine
Voreltern denkt.


So, Charlotte; und wenn man an
die Voreltern denkt, muß man den Bru-
der und einen edelmuͤthigen Mann belei-
digen? — ſagte die junge Frau von P.


Jch habe Jhre Ausnahme ſchon ge-
hoͤrt, die Sie fuͤr den edelmuͤthigen Mann
machen. Andre Familien werden auch
Ausnahmen haben, wenn ihr Sohn
Charlotten zur Gemahlin haben wollte.


„Charlotte, wer dich um Sternheims
willen verlaͤßt, iſt deiner Hand und einer
Verbindung mit mir nicht werth. Du
ſiehſt, daß ich auf die boͤſe juͤngere Schwe-
ſter noch ſtolz bin, wenn ich ſchon die gu-
te aͤltere an einen Univerſitaͤtsfreund ver-
ſchleudere.“


Freylich muß die juͤngere Schweſter
boͤſe ſeyn, wenn ſie ſich nicht zum Schul-
denabtrag will gebrauchen laſſen!


„Wie
[32]

„Wie unvernuͤnftig boshaft meine
Schweſter ſeyn kann! Du haſt nichts von
meinen Antraͤgen zu beſorgen. Jch wer-
de fuͤr niemand als einen Sternheim re-
den, und fuͤr dieſen iſt ein Gemuͤthscha-
rakter, wie der deinige, nicht edel genug,
wenn du auch eine Fuͤrſtin waͤreſt.“


Gnaͤdige Mama; Sie hoͤren zu, wie
ich wegen des elenden Kerls gemißhandelt
werde?


Du haſt die Geduld deines Bruders
gemißbraucht. Kannſt du deine Einwen-
dungen nicht ruhiger vorbringen?


Sie wollte eben reden; aber der Bru-
der fiel ihr ins Wort: Charlotte, rede
nicht mehr; der Ausdruck elender Kerl
hat dir deinen Bruder genommen! Die
Sachen meines Hauſes gehen dich nichts
mehr an. Dein Herz entehrt die Ahnen,
auf deren Namen du ſtolz biſt! O wie
klein wuͤrde die Anzahl des Adels werden,
wenn ſich nur die dazu rechnen duͤrften,
die ihre Anſpruͤche durch die Tugenden der
edlen Seele des Stifters ihres Hauſes
beweiſen koͤnnten!


Lieber
[33]

Lieber Sohn, werde nicht zu eifrig, es
waͤre wuͤrklich nicht gut, wenn unſre
Toͤchter ſo leicht geneigt waͤren, außer
Stand zu heyrathen.


„Das iſt nicht zu befuͤrchten. Es
giebt ſelten eine Sophie, die einen Mann
nur wegen ſeiner Klugheit und Großmuth
liebt.“


Fraͤulein Charlotte entfernte ſich.


Haſt du aber nicht ſelbſt einmal deine
dir ſo lieben Englaͤnder angefuͤhrt, welche
die Heyrath außer Stand den Toͤchtern
viel weniger vergeben als den Soͤhnen,
weil die Tochter ihren Namen aufgeben,
und den von ihrem Manne tragen muß,
folglich ſich erniedriget?


„Diß bleibt alles wahr, aber in Eng-
laud wuͤrde mein Freund tauſendmal von
dieſem Grundſatz ausgenommen werden,
und das Maͤdchen, das ihn liebte, wuͤrde
den Ruhm eines edeldenkenden Frauen-
zimmers erhalten.“


Jch ſehe wohl, mein Sohn, daß dieſe
Verbindung eine ſchon beſchloſſene Sache
iſt. Aber haſt du auch uͤberlegt, daß
Cman
[34] man ſagen wird, du opferſt deine Schwe-
ſter einer uͤbertriebenen Freundſchaft auf,
und ich handle als Stiefmutter, da ich mei-
ne Einwilligung gebe?


„Liebe Mama! laſſen Sie es immer
geſchehen, unſer Beweggrund wird uns
beruhigen, und das Gluͤck meiner Schwe-
ſter wird, neben den Verdienſten meines
Freundes, allein ſo deutlich in die Augen
glaͤnzen, daß man aufhoͤren wird, uͤbel
zu denken.“


Hierauf wurde Fraͤulein Sophie von
ihrem Bruder geholt. Sie warf ſich ih-
rer Frau Mutter zu Fuͤßen; die gute Da-
me umarmte ſie: Liebe Fraͤulein Tochter,
ſprach ſie, Jhr Bruder hat mich verſichert,
daß dieſes Band nach Jhren Wuͤnſchen
waͤre, ſonſt haͤtte ich nicht eingewilliget.
Es iſt wahr, es fehlt dem Manne nichts
als eine edle Geburt. Aber, Gott ſegne
Sie beyde!


Jndeſſen war der Baron fort, er holte
den Oberſten, welcher halb außer ſich in
das Zimmer trat, aber gleich zu der alten
Dame gieng, ihr mit gebognem Knie die
Haͤnde
[35] Haͤnde kuͤßte, und mit maͤnnlichem An-
ſtand ſagte:


Gnaͤdige Frau! glauben Sie immer,
daß ich Jhre Einwilligung als eine herab-
laſſende Guͤte anſehe; bleiben Sie aber
auch verſichert, daß ich dieſer Guͤte nie-
mals unwuͤrdig ſeyn werde.


Sie war ſo liebreich zu ſagen: Es er-
freuet mich, Herr Oberſter, daß Jhre
Verdienſte in meinem Hauſe eine Beloh-
nung gefunden haben. Er kuͤßte hierauf
die Haͤnde der Gemahlin ſeines Freundes;
wie viel Dank und Verehrung, rief er
aus, bin ich der großmuͤthigen Vorſpre-
cherin der Angelegenheiten meines Her-
zens ſchuldig?


„Nichts, Herr Oberſter! ich bin ſtolz,
zu dem Gluͤck Jhres Herzens etwas bey-
zutragen; Jhre bruͤderliche Freundſchaft
ſoll meine Belohnung ſeyn.“


Er wollte mit ſeinem Freunde reden;
aber dieſer wieß ihn an Fraͤulein Sophie.
Bey dieſer kniete er ſtillſchweigend, und
endlich ſprach der edle Mann: Gnaͤdiges
C 2Fraͤulein!
[36] Fraͤulein! mein Herz iſt zu Verehrung der
Tugend gebohren; wie war es moͤglich,
eine vortreffliche Seele wie die Jhrige mit
allen aͤuſſerlichen Annehmlichkeiten beglei-
tet zu ſehen, ohne daß meine Empfindun-
gen lebhaft genug wurden, Wuͤnſche zu
machen? Jch haͤtte dieſe Wuͤnſche erſtickt;
aber die treue Freundſchaft Jhres Bru-
ders hat mir Muth gegeben, um Jhre
Zuneigung zu bitten. Sie haben mich
nicht verworfen. Gott belohne Jhr lieb-
reiches Herz, und laſſe mich die Tugend
niemals verliehren, die mir Jhre Achtung
erworben hat! —


Fraͤulein Sophie antwortete nur mit
einer Verbeugung, und reichte ihm die
Hand mit dem Zeichen aufzuſtehen; dar-
auf naͤherte ſich der Baron, und fuͤhrte
beyde an ſeinen Haͤnden zu ſeiner Frau
Mutter.


Gnaͤdige Mama, ſagte er, die Natur
hat Jhnen an mir einen Sohn gegeben,
von welchem Sie auf das Vollkommenſte
geehrt und geliebt werden; das Schickſal
giebt
[37] giebt Jhnen an meinem Freunde einen
zweyten Sohn, der aller Jhrer Achtung
und Guͤte wuͤrdig iſt. — Sie haben oft
gewuͤnſcht, daß unſre Sophie gluͤcklich ſeyn
moͤge. Jhre Verbindung mit dem geiſt-
vollen rechtſchaffenen Mann wird dieſen
muͤtterlichen Wunſch erfuͤllen. Legen Sie
Jhre Hand auf die Haͤnde Jhrer Kinder;
ich weiß, daß der muͤtterliche Segen ih-
ren Herzen heilig und ſchaͤtzbar iſt.


Die Dame legte ihre Hand auf, und
ſagte: Meine Kinder! wenn Euch Gott
ſo viel Gutes und Vergnuͤgen ſchenkt,
als ich von ihm fuͤr Euch erbitten wer-
de, ſo wird Euch nichts mangeln. Und
nun umarmte der Baron den Ober-
ſten als ſeinen Bruder, und auch die
gluͤckliche Braut, welcher er fuͤr die Ge-
ſinnungen, die ſie gegen ſeinen Freund
bezeugt hatte, zaͤrtlich dankte. Der
Oberſte ſpeiſte mit ihnen. Fraͤulein
Charlotte kam nicht zur Tafel. Die
Trauung geſchah ohne vieles Gepraͤnge.


C 3Etliche
[38]

Etliche Tage nach der Hochzeit ſchrieb
Frau von Sternheim
an
Jhre Frau Mutter.


Da mich das ſchlimme Wetter und eine
kleine Unpaͤßlichkeit abhalten, meiner gnaͤ-
digen Mama ſelbſt aufzuwarten, ſo will
ich doch meinem Herzen das edle Vergnuͤ-
gen nicht verſagen, mich ſchriftlich mit
Jhnen zu unterhalten.


Die Geſellſchaft meines theuren Ge-
mahls und die Ueberdenkung der Pflich-
ten, welche mir in dem neuen Kreiſe mei-
nes Lebens angewieſen ſind, halten mich
in Wahrheit fuͤr alle andre Zeitvertreibe
und Vergnuͤgungen ſchadlos; aber ſie er-
neuern auch mit Lebhaftigkeit alle uͤbri-
gen edlen Empfindungen, die mein Herz
jemals genaͤhrt hat. Unter dieſe gehoͤrt
auch die dankvolle Liebe, welche Jhre
Guͤte ſeit ſo vielen Jahren von mir ver-
dient hat, da ich in Jhrer vortrefflichen
Seele alle treue und zaͤrtliche Sorgfalt
gefunden
[39] gefunden habe, die ich nur immer von
meiner wahren Mutter haͤtte genießen koͤn-
nen. Und doch muß ich bekennen, daß
Jhre gnaͤdige Einwilligung in mein Buͤnd-
niß mit Sternheim die groͤßte Wohlthat
iſt, die Sie mir erzeigt haben. Da-
durch iſt das ganze Gluͤck meines Lebens
befeſtiget worden; welches ich in nichts
anderm ſuche noch erkenne, als in Um-
ſtaͤnden zu ſeyn, worinn man nach ſeinem
eignen Charakter und nach ſeinen Neigun-
gen leben kann. Dieſes war mein
Wunſch, und dieſen hab’ ich von der
Vorſehung erhalten. — Einen nach ſei-
nem Geiſt und Herzen aller meiner Vereh-
rung wuͤrdigen Mann; und mittelmaͤßi-
ges, aber unabhaͤngiges Vermoͤgen, deſ-
ſen Groͤße und Ertrag hinreichend iſt, un-
ſer Haus in einer edlen Genuͤgſamkeit und
ſtandesgemaͤß zu erhalten, dabey aber
auch unſern Herzen die Freude giebt, viele
Familien des arbeitſamen Landmanns
durch Huͤlfe zu erquicken, oder durch
kleine Gaben aufzumuntern.


C 4Erlau-
[40]

Erlauben Sie, daß ich eine Unterre-
dung wiederhole, welche der theure Mann
mit mir gehalten, deſſen Namen ich trage.


Nachdem meine gnaͤdige Mama, mein
Bruder, meine Schweſter und meine
Schwaͤgerin abgereiſet waren, empfand
ich ſo zu ſagen das erſte mal die ganze
Wichtigkeit meiner Verbindung.


Die Veraͤnderung meines Nahmens
zeigte mir zugleich die Veraͤnderung mei-
ner Pflichten, die ich alle in einer Reyhe
vor mir ſah. Dieſe Betrachtungen, wel-
che meine ganze Seele beſchaͤfftigten, wur-
den, denke ich, durch die aͤußerlichen Ge-
genſtaͤnde lebhafter. Ein anderer Wohn-
platz; alle, mit denen ich von jugendauf
gelebt, von mir entfernt; die erſte Be-
wegung uͤber ihre Abreiſe u. ſ. w.


Alles dieſes gab mir, ich weiß nicht
welch ein ernſthaftes Anſehen, das dem
Auge meines Gemahls merklich wurde.


Er kam mit dem Ausdruck einer ſanf-
ten Freudigkeit in ſeinem Geſichte zu mir
in mein Cabinett, wo ich gedankenvoll
ſaß; blieb in der Mitte des Zimmers ſte-
hen,
[41] hen, betrachtete mich mit zaͤrtlicher Un-
ruhe, und ſagte:


Sie ſind nachdenklich, liebſte Gemah-
lin! darf ich Sie ſtoͤren?


Jch konnte nicht antworten, reichte
ihm aber meine Hand. Er kuͤßte ſie,
und nachdem er ſich einen Stuhl zu mir
geruͤckt hatte, fieng er an:


Jch verehre Jhre ganze Familie; doch
muß ich ſagen, daß mir der Tag lieb iſt,
wo alle Geſinnungen meines Herzens al-
lein meiner Gemahlin gewidmet ſeyn koͤn-
nen. Goͤnnen Sie mir Jhr Vertrauen,
ſo wie Sie mir Jhre Hochachtung ge-
ſchenkt haben; und glauben Sie, daß Sie
mit dem Mann, den Sie andern ſo
edelmuͤthig vorgezogen haben, nicht un-
gluͤcklich ſeyn werden. Jhr vaͤterlich
Haus iſt nicht weit von uns entfernt, und
in dieſem hier wird Jhr wohlgeſinntes
Herz ſein Vergnuͤgen finden, mich, meine
und Jhre Bediente, meine und Jhre Un-
terthanen gluͤcklich zu machen. Jch weiß,
daß Sie ſeit vielen Jahren bey Jhrer Frau
Mutter die Stelle einer Hauswirthin ver-
C 5ſehen
[42] ſehen haben. Jch werde Sie bitten, die-
ſes Amt, mit allem was dazu gehoͤrt, auch
in dieſem Hauſe zu fuͤhren. Sie werden
mich dadurch ſehr verbinden; indem ich
geſinnet bin, alle meine Muße fuͤr das
Beſte unſrer kleinen Herrſchaft zu verwen-
den. Jch ſetze dieſes nicht allein darinn,
Guͤte und Gerechtigkeit auszuuͤben, ſon-
dern auch in der Unterſuchung: ob nicht
die Umſtaͤnde meiner Unterthanen in an-
drer Austheilung der Guͤther, in Beſor-
gung der Schulen, des Feldbaues und
der Viehzucht zu verbeſſern ſeyen? Jch
habe mir von allen dieſen Theilen einige
Kenntniß erworben; denn in dem gluͤckli-
chen Mittelſtande der menſchlichen Geſell-
ſchaft, worinn ich gebohren wurde, ſieht
man die Anbauung des Geiſtes, und die
Ausuͤbung der meiſten Tugenden nicht nur
als Pflichten, ſondern auch als den Grund
unſers Wohlergehens an; und ich werde
mich dieſer Vortheile allezeit dankbarlich
erinnern, weil ich Jhnen das unſchaͤtz-
bare Gluͤck Jhrer Liebe ſchuldig bin. Waͤ-
re ich mit dem Rang und Vermoͤgen ge-
bohren
[43] bohren worden, die ich itzt beſitze, ſo waͤ-
re vielleicht mein Eifer, mir einen Nah-
men zu machen, nicht ſo groß geweſen.
Was ich aber in dem Schickſal meiner
verfloßnen Jahre am meiſten liebe, iſt der
Vater, den es mir gab; weil es gewiß in
andern Umſtaͤnden keinen ſo treuen und
weiſen Fuͤhrer meiner Jugend gehabt haͤt-
te, als er fuͤr mich war. Er verbarg
mir aus weiſer Ueberlegung und Kenntniß
meines Gemuͤths, (vielleicht des ganzen
menſchlichen Herzens uͤberhaupt) den groͤß-
ten Theil ſeines Reichthums; einmal um
der Nachlaͤſſigkeit vorzubeugen, mit wel-
cher einzige und reiche Soͤhne den Wiſſen-
ſchaften obliegen; und dann die Verfuͤh-
rung zu vermeiden, denen dieſe Art jun-
ger Leute ausgeſetzt iſt; und weil er dach-
te, wann ich einmal die Kraͤfte meiner
Seele, fuͤr mich und Andere, wohl zu ge-
brauchen gelernt haͤtte, ſo wuͤrde ich einſt
auch von den Gluͤcksguͤthern einen klu-
gen und edeln Gebrauch zu machen wiſſen.
Daher ſuchte mich mein Vater zuerſt, durch
Tugend und Kenntniſſe, moraliſch gut
und
[44] und gluͤcklich zu machen, ehe er mir die
Mittel in die Haͤnde gab, durch welche
man alle Gattungen von ſinnlichem Wohl-
ſtand und Vergnuͤgen fuͤr ſich und Andre
erlangen und austheilen kann. Die Lie-
be und Uebung der Tugend und der Wiſ-
ſenſchaften, ſagte er, geben ihrem Be-
ſitzer eine von Schickſal und Menſchen
unabhaͤngige Gluͤckſeligkeit, und machen
ihn zugleich durch das Beyſpiel, das ſei-
ne edle und gute Handlungen geben,
durch den Nutzen und das Vergnuͤgen, das
ſein Rath und Umgang ſchaffen, zu einem
moraliſchen Wohlthaͤter an ſeinen Neben-
menſchen. Durch ſolche Grundſaͤtze und
eine darauf gegruͤndete Erziehung machte
er mich zu einem wuͤrdigen Freund Jhres
Bruders; und wie ich mir ſchmeichle, zu
dem nicht unwuͤrdigen Beſitzer Jhres Her-
zens. Die Haͤlfte meines Lebens iſt vor-
bey. Gott ſey Dank, daß ſie weder mit
ſonderbaren Ungluͤcksfaͤllen noch Verge-
hungen wider meine Pflichten bezeichnet
iſt! — Der geſegnete Augenblick, wo
das edle guͤtige Herz der Sophie P., zu
meinem
[45] meinem Beſten geruͤhrt war, iſt der Zeit-
punkt, in welchem der Plan fuͤr das wah-
re Gluͤck meiner uͤbrigen Tage vollfuͤhrt
wurde. Zaͤrtliche Dankbarkeit und Ver-
ehrung wird die ſtete Geſinnung meiner
Seele fuͤr Sie ſeyn.


Hier hielt er inne, kuͤßte meine beyden
Haͤnde, und bat mich um Vergebung,
daß er ſo viel geredet haͤtte.


Jch konnte nichts anders als ihn ver-
ſichern, daß ich mit Vergnuͤgen zugehoͤrt,
und ihn baͤte fortzufahren, weil ich glaub-
te, er haͤtte mir noch mehr zu ſagen.


Jch moͤchte Sie nicht gerne ermuͤden,
liebſte Gemahlin; aber ich wuͤnſche, daß
Sie mein ganzes Herz ſehen koͤnnten. —
Jch will alſo, weil Sie es zu wuͤnſchen
ſcheinen, nur noch einige Punkte beruͤhren.


Jch habe mir angewoͤhnt, in allen
Stuͤcken, die ich in Erlernung der Wiſſen-
ſchaften oder in meinen Militaͤr-Dienſten
zu erſteigen hatte, mich ſorgfaͤltig nach
allen Pflichten umzuſehen, die ich darinn
in Abſicht auf mich ſelbſt, meine Obern
und die uͤbrigen zu erfuͤllen verbunden
war.
[46] war. Nach dieſer Kenntniß theilte ich
meine Aufmerkſamkeit und meine Zeit ab.
Mein Ehrgeiz trieb mich, alles was ich
zu thun ſchuldig war, ohne Aufſchub und
auf das Vollkommenſte zu verrichten.
War es geſchehen, ſo dachte ich auch an
die Vergnuͤgungen, die meiner Gemuͤths-
art die gemaͤßeſten waren. Gleiche Ueber-
legungen habe ich uͤber meine itzigen Um-
ſtaͤnde gemacht; und da finde ich mich
mit vierfachen Pflichten beladen. Die er-
ſte, gegen meine liebenswuͤrdige Gemah-
lin, welche mir leicht iſt, weil immer
mein ganzes Herz zu ihrer Ausuͤbung be-
reit ſeyn wird. — Die zwote gegen Jhre
Familie und den uͤbrigen Adel, denen ich,
ohne jemals ſchmeichleriſch und unterwuͤr-
fig zu ſeyn, durch alle meine Handlungen
den Beweis zu geben ſuchen werde, daß
ich der Hand von Sophien P., und der
Aufnahme in die freyherrliche Claſſe nicht
unwuͤrdig war. Die dritte Pflicht geht
die Perſonen von demjenigen Stande an,
aus welchem ich herausgezogen bin.
Dieſe will ich niemals zu denken veran-
laſſen,
[47] laſſen, daß ich meinen Urſprung vergeſſen
habe. Sie ſollen weder Stolz noch nie-
dertraͤchtige Demuth bey mir ſehen.
Viertens treten die Pflichten gegen meine
Untergebene ein, fuͤr deren Beſtes ich auf
alle Weiſe ſorgen werde, um ihrem Herzen
die Unterwuͤrfigkeit, in welche ſie das
Schickſal geſetzt hat, nicht nur ertraͤglich,
ſondern angenehm zu machen, und mich ſo
zu bezeugen, daß ſie mir den Unterſchied,
welchen zeitliches Gluͤck zwiſchen mir und
ihnen gemacht hat, gerne goͤnnen ſollen.


Der rechtſchaffene Pfarrer in P. will
mir einen wackern jungen Mann zum
Seelſorger in meinem Kirchſpiele ſchaffen,
mit welchem ich gar gerne einen ſchon lang
gemachten Wunſch fuͤr einige Abaͤnderun-
gen in der gewoͤhnlichen Art, das Volk zu
unterrichten, veranſtalten moͤchte. Jch
habe mich gruͤndlich von der Guͤte und
dem Nutzen der großen Wahrheiten un-
ſrer Religion uͤberzeugt; aber die wenige
Wirkung, die ihr Vortrag auf die Herzen
der groͤßten Anzahl der Zuhoͤrer macht,
gab mir eher einen Zweifel in die Lehrart,
als
[48] als den Gedanken ein, daß das menſchliche
Herz durchaus ſo ſehr zum Boͤſen geneigt
ſey, als manche glauben. Wie oft kam
ich von Anhoͤrung der Canzelrede eines
beruͤhmten Mannes zuruͤck, und wenn ich
dem moraliſchen Nutzen nachdachte, den
ich daraus gezogen, und dem, welchen der
gemeine Mann darinn gefunden haben
koͤnnte, ſo fand ich in Wahrheit viel Lee-
res fuͤr den letztern dabey; und derjenige
Theil, welchen der Prediger dem Ruhme
der Gelehrſamkeit oder dem ausfuͤhrlichen
aber nicht allzuverſtaͤndlichen Vortrag
mancher ſpeculativer Saͤtze gewldmet
hatte, war fuͤr die Beſſerung der mei-
ſten verlohren, und das gewiß nicht aus
boͤſem Willen der letztern.


Denn wenn ich, der von Jugend auf
meine Verſtandskraͤfte geuͤbt hatte, und
mit abſtracten Jdeen bekannt war, Muͤhe
hatte, nuͤtzliche Anwendungen davon zu
machen; wie ſollte der Handwerksmann
und ſeine Kinder damit zu rechte kommen?
Da ich nun weit von dem unfreundlichen
Stolz entfernt bin, der unter Perſonen
von
[49] von Gluͤck und Rang den Satz erdacht hat,
„man muͤſſe dem gemeinen Mann weder
„aufgeklaͤrte Religionsbegriffe geben, noch
„ſeinen Verſtand erweitern;“ ſo wuͤnſche
ich, daß mein Pfarrer, aus wahrer Guͤte
gegen ſeinen Naͤchſten, und aus Empfin-
dung des ganzen Umfangs ſeiner Oblie-
genheiten, zuerſt bedacht waͤre, ſeiner an-
vertrauten Gemeine das Maaß von Er-
kenntniß
beyzubringen, welches ihnen zu
freudiger und eifriger Erfuͤllung ihrer
Pflichten gegen Gott, ihre Obrigkeit,
ihren Naͤchſten und ſich ſelbſt
noͤthig
iſt. Der geringe Mann iſt mit der nehm-
lichen Begierde zu Gluͤck und Vergnuͤgen
gebohren, wie der groͤßere, und wird,
wie dieſer, von den Begierden oft auf Ab-
wege gefuͤhrt. Daher moͤchte ich ihnen
auch richtige Begriffe von Gluͤck und
Vergnuͤgen
geben laſſen. Den Weg
zu ihren Herzen,
glaube ich, koͤnne man
am eheſten durch Betrachtungen uͤber die
phyſicaliſche Welt finden, von der ſie am
erſten geruͤhrt werden, weil jeder Blick ihrer
Augen, jeder Schritt ihrer Fuͤße ſie dahin
Dleitet.
[50] leitet. — Waͤren erſt ihre Herzen durch
Erkaͤnntniß der wohlthaͤtigen Hand ihres
Schoͤpfers geoͤffnet, und durch hiſtoriſche
Vergleichungen von ihrem Wohnplatz und
ihren Umſtaͤnden mit dem Aufenthalt und
den Umſtaͤnden andrer Menſchen, die
eben ſo, wie ſie, Geſchoͤpfe Gottes ſind,
zufrieden geſtellt; ſo zeigte man ihnen auch
die moraliſche Seite der Welt, und
die Verbindlichkeiten, welche ſie darinn zu
einem ruhigen Leben fuͤr ſich ſelbſt, zum
Beſten der ihrigen, und zur Verſicherung
eines ewigen Wohlſtandes zu erfuͤllen ha-
ben. Wenn mein Pfarrer nur mit dem
guten Bezeugen der letzten Lebenstage ſei-
ner Pfarrkinder zufrieden iſt, ſo werde ich
ſehr unzufrieden mit ihm ſeyn. Und wenn
er die Beſſerung der Gemuͤther nur durch
ſo genannte Geſetz- und Strafpredig-
ten
erhalten will, ohne den Verſtand zu
oͤffnen und zu uͤberzeugen, ſo wird er
auch nicht mein Pfarrer ſeyn. — Wenn
er aufmerkſamer auf den Fleiß im Kirchen-
gehen iſt, als auf die Handlungen des
taͤglichen Lebens; ſo werde ich ihn fuͤr kei-
nen
[51] nen wahren Menſchenfreund und fuͤr kei-
nen guten Seelſorger halten.


Auf die Schule, die gute Einrichtung
derſelben, und die angemeſſene Belohnung
des Schulmeiſters, werde ich alle Sorge
tragen; mit der noͤthigen Nachſicht ver-
bunden, welche die Schwachheit des kind-
lichen Alters erfodert. Es ſoll darinn ein
doppelter Catechismus gelehrt werden;
nehmlich der von den Chriſtenpflichten,
wie er eingefuͤhrt iſt, und bey jedem
Hauptſtuͤck eine deutliche, einfache An-
wendung dieſer Grundſaͤtze auf ihr taͤgli-
ches Leben; und dann ein Catechismus
von gruͤndlicher Kenntniß des Feld- und
Gartenbaues, der Viehzucht, der Beſor-
gung der Gehoͤlze und Waldungen, und
dergleichen, als Pflichten des Berufs und
der Wohlthaͤtigkeit gegen die Nachkom-
menſchaft. Ueberhaupt wuͤnſche ich, mei-
ne Unterthanen erſt gut gegen ihren
Naͤchſten
zu ſehen, ehe ſie einen An-
ſpruch an das Lob der Froͤmmigkeit
machen.


D 2Dem
[52]

Dem Beamten, den ich hier angetrof-
fen, werde ich ſeinen Gehalt und die Be-
ſorgung der Rechnung laſſen; aber zur
Juſtitzverwaltung und Aufſicht auf die
Befolgung der Geſetze und auf Policey
und Arbeitſamkeit, werde ich den wackern
jungen Mann gebrauchen, deſſen Bekannt-
ſchaft ich in P. gemacht habe. Dieſem,
und mir ſelbſt will ich ſuchen, das Ver-
trauen
meiner Unterthanen zu erwerben,
um alle ihre Umſtaͤnde zu erfahren, und
als wahrer Vater und Vormuͤnder ih-
re Angelegenheiten beſorgen zu koͤnnen.
Guter Rath, freundliche Ermah-
nung,
auf Beſſerung, nicht auf Un-
terdruͤckung
abzielende Strafen, ſollen
die Huͤlfsmittel dazu ſeyn; und mein Herz
muͤßte ſich in ſeiner liebreichen Hoffnung
ſehr traurig betrogen finden, wenn die ſorg-
faͤltige Ausuͤbung der Pflichten des Herrn
auf meiner, und eine gleiche Bemuͤhung des
Pfarrers und der Beamten auf ihrer Seite,
nebſt dem Beyſpiel der Guͤte und Wohl-
thaͤtigkeit, nicht einen heilſamen Einfluß auf
die Gemuͤther meiner Untergebenen haͤtte.


Hier
[53]

Hier hoͤrte er auf, und bat mich um
Vergebung, ſo viel und ſo lange geredt
zu haben.


Sie muͤſſen muͤde worden ſeyn, theure
Sophie, ſagte er, indem er einen ſeiner
Arme um mich ſchlang.


Was blieb mir in der vollen Regung
meines Herzeus uͤbrig zu thun, als ihn
mit Freudenthraͤnen zu umarmen? —


Muͤde, mein liebſter Gemahl? Wie
koͤnnte ich muͤde werden, uͤber die gluͤck-
liche Ausſicht in meine kuͤnftigen Tage,
die von Jhrer Tugend und Menſchenliebe
bezeichnet ſeyn werden? —


Geliebte Frau Mutter, wie geſegnet
iſt mein Looß? Gott erhalte Sie noch lan-
ge, um ein Zeuge davon zu ſeyn. —



Niemand war gluͤcklicher als Sternheim
und ſeine Gemahlin, deren Fußtapfen
von ihren Unterthanen verehrt wurden.
Gerechtigkeit und Wohlthaͤtigkeit wurde
in dem kleinen Umkreis ihrer Herrſchaft in
gleichem Maaße ausgeuͤbt. Alle Proben
D 3von
[54] von Landbau-Verbeſſerung wurden auf
herrſchaftlichen Guͤthern zuerſt gemacht;
alsdann den Unterthanen gelehrt, und
dem Armen, der ſich am erſten willig zur
Veraͤnderung zeigte, der noͤthige Aufwand
umſonſt dazu gereicht; — weil Herr von
Sternheim wohl einſah, daß der Land-
mann auch das Nuͤtzlichſte, wenn es Geld-
auslagen, und die Miſſung eines Stuͤcks
Erdreichs erforderte, ohne ſolche Auf-
munterungen niemals eingehen werde.
Aber was ich ihnen Anfangs gebe, ſagte
er, traͤgt mir mit der Zeit der vermehrte
Zehnte ein, und die guten Leute werden
durch die Erfahrung am beſten uͤberzeugt,
daß es wohl mit ihnen gemeynt war.


Jch kann nicht umhin (ungeachtet es
mich von dem Hauptgegenſtand meiner
Erzaͤhlung noch weiter entfernt) Jhnen
zu einer Probe der gemeinnuͤtzlichen und
wohlthaͤtigen Veranſtaltungen, in deren
Erfindung und Ausfuͤhrung dieſes vor-
treffliche Paar einen Theil ſeiner Gluͤck-
ſeligkeit ſetzte, einige Nachricht von dem
Armenhauſe zu S** zu geben, welches
nach
[55] nach meinem Begriff ein Muſter guter
Einrichtung iſt; und ich kann es nicht
beſſer thun, als indem ich Jhnen einen
Auszug eines Schreibens des Baron von
P., an ſeine Frau Mutter uͤber dieſen
Gegenſtand mittheile.



Wie getreu erfuͤllt mein Freund das Ver-
ſprechen, welches ich Jhnen fuͤr das Gluͤck
unſrer Sophie gemacht haͤbe! — Wie
angenehm iſt der Eintritt in dieſes Haus,
worinn die edelſte Einfalt und ungezwun-
genſte Ordnung der ganzen Einrichtung ein
Anſehn von Groͤße geben! Die Bedienten
mit freudiger Ehrerbietung und Emſigkeit
auf Ausuͤbung ihrer Pflichten bedacht! —
Der Herr und die Frau mit dem Ausdruck
der Gluͤckſeligkeit, die aus Guͤte und Klug-
heit entſpringt; beyde, mich fuͤr meine
entſchloſſene Verwendung fuͤr ihr Buͤnd-
niß ſegnend! Und wie ſehr unterſcheiden
ſich die zwey kleinen Doͤrfer meines Bru-
ders von allen groͤßern und volkreichern,
die ich bey meiner Zuruͤckreiſe von Hofe
D 4geſehen
[56] geſehen habe! Beyde gleichen durch die
muntre und emſige Arbeitſamkeit ihrer
Einwohner, zween wohlangelegten Bie-
nenſtoͤcken; und Sternheim iſt reichlich
fuͤr die Muͤhe belohnt, die er ſich gegeben,
eine ſchicklichere Eintheilung der Guͤther
zu machen, durch welche jeder von den Un-
terthanen juſt ſo viel bekommen hat, als
er Kraͤfte und Vermoͤgen hatte anzubauen.
Aber die Verwendung des neu erkauften
Hofguths von dem Grafen A., welches ge-
rade zwiſchen den zweyen Doͤrfern liegt,
diß wird ein ſegensvoller Gedanke in
der Ausfuͤhrung ſeyn!


Er iſt zu einem Armenhauſe fuͤr ſeine
Unterthanen zugerichtet worden. Auf ei-
ner Seite; unten, die Wohnung fuͤr ei-
nen wackern Schulmeiſter, der zu alt ge-
worden, dem Unterricht der Kinder noch
nuͤtzlich vorzuſtehen, und nun zum Ober-
aufſeher uͤber Ordnung und Arbeit beſtellt
wird; oben, die Wohnung des Arztes,
welcher fuͤr die Kranken des Armenhauſes
und der beyden Doͤrfer ſorgen muß.
Arbeiten ſollen alle nach Kraͤften, zur
Sommers-
[57] Sommerszeit in einer nahe daran ange-
legten Saͤmerey und einem dazu gehoͤri-
gen Gemuͤsgarten. Beyder Ertrag iſt
fuͤr die Armen beſtimmt. An Regen- und
Wintertagen ſollen die Weibsleute Flachs,
und die dazu taugliche Maͤnner, Wolle
ſpinnen, welche auch fuͤr ihr und anderer
Nothleidenden Leinen und Kleidung ver-
wandt wird. Sie bekommen gut gekoch-
tes geſundes Eſſen. Der Hausmeiſter be-
tet Morgens und Abends mit ihnen. Die
Weibesperſonen arbeiten in einer, und die
Mannsperſonen in der andern Stube,
welche beyde durch Einen Ofen erwaͤrmt
werden. Jn der von den Weibsleuten
ißt man; denn weil dieſe den Tiſch decken,
und fuͤr die Naͤharbeit und die Waͤſche
ſorgen muͤſſen, ſo iſt ihre Stube groͤßer.
Diejenige arme Wittwe, oder alte ledige
Weibsperſon, welche das beſte Zeugniß
von Fleiß und gutem Wandel in den Doͤr-
fern hatte, wird Oberaufſeherin und An-
ordnerin, ſo wie es der arme Mann, der
ein ſolches Zeugniß hat, unter den Maͤn-
nern iſt. Zu ihrem Schlafplatz iſt der
D 5obere
[58] obere Theil des Hauſes in zween verſchied-
ne Gaͤnge durch eine volle Mauer getheilt,
auf deren jedem fuͤnf Zimmer ſind, jedes
mit zween Betten, und allen Nothduͤrf-
tigkeiten fuͤr jedes insbeſondere; auf einer
Seite gegen den Garten, die Maͤnner;
und auf der gegen das Dorf, die Weiber;
je zwey in einem Gemach, damit, wenn
einem was zuſtoͤßt, das andere Huͤlfe lei-
ſten oder ſuchen kann. Von der Mitte
des Fenſters an, geht eine hoͤlzerne Schied-
wand von der Decke bis auf den Boden,
etliche Schuh lang uͤber die Laͤnge der
Bettſtellen, ſo daß beyde auf eine gewiſſe
Art allein ſeyn koͤnnen, und auch, wenn
eines krank wird, das Andre ſeinen Theil
geſunde Luft beſſer erhalten kann. Auf
dieſe zween Gaͤnge fuͤhren zwo verſchiedne
Stiegen, damit keine Unordnung entſte-
hen moͤge.


Unter dem guten Hausmeiſter ſtehen
auch die Knechte, die den Bau des Feld-
guths beſorgen muͤſſen; und da ihnen ein
beſſerer Lohn, als ſonſt wo beſtimmt iſt,
ſo nimmt man auch die beſten und des
Feld-
[59] Feldbaues verſtaͤndigſten Arbeiter, wobey
zugleich auf ſolche, die einen guten Ruf
haben, vorzuͤglich geſehen wird.


Fremden Armen ſoll ein maͤßiges All-
moſen abgereicht, und dabey Arbeit ange-
boten werden, wofuͤr ſie Taglohn bekom-
men, und eine Stunde fruͤher aufhoͤren
duͤrfen, um das naͤchſte fremde Dorf, ſo
fuͤnf viertel Stunden davon liegt, noch bey
Tag erreichen zu koͤnnen. Sternheim hat
auf ſeine Koſten einen ſchnurgeraden Weg
mit Baͤumen umpflanzt dahin machen laſ-
ſen: ſo wie er auch von dem einen ſeiner
Doͤrfer zum andern gethan hat. Nachts
muͤſſen die beſtellten Waͤchter der beyden
Ortſchaften wechſelsweiſe bis ans Ar-
menhaus gehen, und die Stunden aus-
rufen. Meine Schweſter will ein klein
Findelhaus fuͤr arme Waiſen dabey ſtif-
ten, um Segen fuͤr das Kind zu ſam-
meln, welches ſie unter ihrem liebreichen
wohlthaͤtigen Herzen traͤgt. Mein Ge-
danke, gnaͤdige Mama, iſt, in meiner
groͤßern und weitlaͤuftigern Herrſchaft
auch eine ſolche Armenanſtalt zu machen,
und
[60] und wo moͤglich, mehrere Edelleute, ein
gleiches zu thun, zu uͤberreden.


Fremde und einheimiſche Bettler be-
kommen bey keinem Bauren nichts.
Dieſe geben bloß nach Vermoͤgen und
freyem Willen, nach jeder Erndte ein All-
moſen in das Haus, und ſo werden alle
Armen menſchlich und ohne Mißbrauch
der Wohlthaͤter verſorgt. Auf Saͤufer.
Spieler, Ruchloſe und Muͤßiggaͤnger,
iſt eine Strafe, theils an Frohnarbeit,
theils an Geld gelegt, welches zum Nu-
tzen des Armenhauſes beſtimmt iſt. —
Kuͤnftigen Monat werden vier Manns-
und fuͤnf Weibsperſonen das Haus bezie-
hen, meine Schweſter faͤhrt alle Tage hin,
um die voͤllige Einrichtung zu machen.
Jn der Sonntagspredigt wird der Pfar-
rer uͤber die Materie von wahrem Allmo-
ſen und von wuͤrdigen Armen eine Rede
halten, und der ganzen Gemeinde die
Stiftung und die Pflichten derer, welche
darinn aufgenommen werden, vorleſen.
Sodann ruft er die Angenommene mit ih-
ren Namen vor dem Altar, und redt ihnen
ins
[61] ins beſondere zu, uͤber die rechte Anwen-
dung dieſer Wohlthat, und ihr Verhalten
in den letzten und ruhigen Tagen ihres Le-
bens gegen Gott und ihren Naͤchſten; dem
Hausmeiſter, dem Arzt und der Hausmei-
ſterin desgleichen, uͤber ihre obliegenden
Pflichten. Zu dieſem Vorgang werden
wir alle von P. aus kommen, ich bins
gewiß.



Der benachbarte Adel ehrte und liebte
den Oberſten Sternheim ſo ſehr, daß man
ihn bat auf einige Zeit junge Edelleute in
ſein Haus zu nehmen, welche von ihren
Reiſen zuruͤck gekommen waren, und nun
vermaͤhlt werden ſollten, um den Stamm
fortzufuͤhren. Da wollte man ſie die
wahre Landwirthſchaft eines Edelmanns
einſehen und lernen laſſen. Unter dieſen
war der junge Graf Loͤbau, welcher in
dieſem Hauſe die Gelegenheit hatte, das
endlich ruhig gewordene Fraͤulein Char-
lotte P. kennen zu lernen und ſich mit ihr
zu verbinden.


Herr
[62]

Herr von Sternheim nahm die edle
Beſchaͤfftigung, dieſen jungen Herren rich-
tige Begriffe von der Regierung der Unter-
thanen zu geben, recht gerne auf ſich.
Seine Menſchenliebe erleichterte ihm dieſe
Muͤhe durch den Gedanken: vielleicht gebe
ich ihnen den ſo noͤthigen Theil von Mit-
leiden gegen Geringe und Ungluͤckliche,
deren hartes muͤhſeliges Leben durch die
Unbarmherzigkeit und den Stolz der Groſ-
ſen ſo oft erſchwert und verbittert wird.
Ueberzeugt, daß das Beyſpiel mehr wuͤrkt,
als weitlaͤuftige Geſpraͤche, nahm er ſeine
junge Leute uͤberall mit ſich, und, wie
es der Anlaß erfoderte, handelte er vor
ihnen. Er machte ihnen die Urſachen
begreiflich, warum er dieſes verordnet,
jenes verboten, oder dieſe, oder jene an-
dere Entſcheidung gegeben; und je nach
der Kenntniß, die er von den Guͤthern
eines jeden hatte, fuͤgte er kleine Anwen-
dungen fuͤr ſie ſelbſt hinzu. Sie waren
Zeugen von allen ſeinen Beſchaͤfftigungen,
und nahmen Antheil an ſeinen Ergoͤtzlich-
keiten; bey Gelegenheit der letztern, bat
er
[63] er ſie oft inſtaͤndig, die Jhrigen ja nie-
mals auf Unkoſten ihrer armen Untertha-
nen zu ſuchen; wozu vornehmlich die Jagd
einen großen Anlaß gebe. Er nannte ſie
ein anſtaͤndiges Vergnuͤgen, welches aber
ein liebreicher, menſchlicher Herr allezeit
mit dem Beſten ſeiner Unterthanen zu
verbinden ſuche. Auch die Liebe zum Leſen
war eine von den Neigungen, die er ihnen
zu geben ſuchte, und beſonders gab ihm
die Geſchichte Gelegenheit von der mora-
liſchen Welt, ihren Uebeln und Veraͤnde-
rungen zu reden, die Pflichten der Hof- und
Kriegsdienſte auszulegen, und ihren Geiſt
in der Ueberlegung und Beurtheilung zu
uͤben. Die Geſchichte der moraliſchen
Welt, ſagte er, macht uns geſchickt mit
den Menſchen umzugehen, ſie zu beſſern,
zu tragen und mit unſerm Schickſal zufrie-
den zu ſeyn; aber die Beobachtung der
phyſicaliſchen Welt macht uns zu guten
Geſchoͤpfen, in Abſicht auf unſern Urhe-
ber. Jndem ſie uns unſre Unmacht zeigt,
hingegen ſeine Groͤße, Guͤte und Weis-
heit bewundern lehrt, lernen wir ihn auf
eine
[64] eine edle Art lieben und verehren; außer
dem, daß uns dieſe Betrachtungen ſehr
gluͤcklich uͤber mancherley Kummer und
Verdruͤßlichkeiten troͤſten und zerſtreuen, die
in der moraliſchen Welt uͤber dem Haupte
des Großen und Reichen oft in groͤßerer
Menge gehaͤuft ſind, als in der Huͤtte
des Bauren, den nicht viel mehr Sorgen,
als die fuͤr ſeine Nahrung druͤcken.


So wechſelte er mit Unterredungen und
Beyſpiel ab. Jn ſeinem Hauſe ſahen ſie,
wie gluͤcklich die Vereinigung eines recht-
ſchaffenen Mannes mit einer tugendhaften
Frau ſeye. Zaͤrtliche, edle Achtung war
in ihrem Bezeugen; und die Dienerſchaft
ehrfurchtsvoll, und bereit, ihr Leben fuͤr
die eben ſo gnaͤdige als ernſtliche Herr-
ſchaft zu laſſen.


Sternheim hatte auch die Freude, daß
alle dieſe junge Herren erkenntliche und er-
gebene Freunde von ihm wurden, welche
in ihrem Briefwechſel ſich immer bey ihm
Raths erholten. Der Umgang mit dem
verehrungswuͤrdigen Baron P., der Jh-
nen
[65] nen oͤfters kleine Feſte gab, hatte viel zu
ihrer Vollkommenheit beygetragen.


Seine Gemahlin hatte ihm eine Toch-
ter gegeben, welche ſehr artig heran wuchs
und von ihrem neunten Jahr an (da
Sternheim das Ungluͤck hatte, ihre Mut-
ter in einem Wochenbette zugleich mit dem
neugebohrnen Sohne zu verliehren) der
Troſt ihres Vaters und ſeine einzige Freu-
de auf Erden war, nachdem auch der
Baron P. durch einen Sturz vom Pferde
in ſo ſchlechte Geſundheitsumſtaͤnde gera-
then, daß er wenige Monate darauf ohne
Erben verſtorben war. Dieſer hatte in
ſeinem Teſtamente nicht nur ſeine vortreff-
liche Frau wohl bedacht, ſondern nach
den Landesrechten, die Graͤfin von Loͤbau
ſeine juͤngere Schweſter, und die junge So-
phie von Sternhein, als die Tochter der
aͤltern Schweſter, zu Haupterben eingeſetzt;
welches zwar dem Grafen und der Graͤ-
fin als unrecht vorkam, aber dennoch Be-
ſtand hatte.


Die alte Frau von P., von Kummer
uͤber den fruͤhen Tod ihres Sohnes bey-
Enahe
[66] nahe ganz niedergedruͤckt, nahm ihren
Wohnplatz bey dem Herrn von Sternheim,
und diente dem jungen Fraͤulein zur Auf-
ſicht. Der Oberſte machte ihr durch ſeine
ehrerbietige Liebe und ſein Beyſpiel der ge-
duldigſten Unterwerfung viele Erleichte-
rung in ihrem Gemuͤthe. Der edel-
denkende Pfarrer und ſeine Toͤchter
waren beynahe die einzige Geſellſchaft,
in welcher ſie Vergnuͤgen fanden. Gleich-
wohl genoß das Fraͤulein von Stern-
heim die vortrefflichſte Erziehung fuͤr ih-
ren Geiſt und fuͤr ihr Herz. Eine Toch-
ter des Pfarrers, die mit ihr gleiches
Alter hatte, wurde ihr zugegeben, theils
einen Wetteifer im Lernen zu erregen,
theils zu verhindern, daß die junge Dame
nicht in ihrer erſten Jugend lauter duͤſtre
Eindruͤcke ſammeln moͤchte; welches bey
ihrer Großmutter und ihrem Vater leicht
haͤtte geſchehen koͤnnen. Denn beyde
weinten oft uͤber ihren Verluſt, und dann
fuͤhrte Herr von Sternheim das zwoͤlf jaͤh-
rige Fraͤulein bey der Hand zu dem Bild-
niß ihrer Mutter, und ſprach von ihrer Tu-
gend
[67] gend und Guͤte des Herzens mit ſolcher Ruͤh-
rung, daß das junge Fraͤulein knieend bey
ihm ſchluchzte, und oft zu ſterben muͤnſchte,
um bey ihrer Frau Mutter zu ſeyn. Dieſes
machte den Oberſten fuͤrchten, daß ihre em-
pfindungsvolle Seele einen zu ſtarken Hang
zu melancholiſcher Zaͤrtlichkeit bekommen,
und durch eine allzuſehr vermehrte Reiz-
barkeit der Nerven unfaͤhig werden moͤch-
te, Schmerzen und Kummer zu ertragen.
Daher ſuchte er ſich ſelbſt zu bemeiſtern
und ſeiner Tochter zu zeigen, wie man
das Ungluͤck tragen muͤſſe, welches die
Beſten am empfindlichſten ruͤhrt; und
weil das Fraͤulein eine große Anlage von
Verſtand zeigte, beſchaͤftigte er dieſen mit
der Philoſophie, nach allen ihren Theilen,
mit der Geſchichte und den Sprachen, von
denen ſie die engliſche zur Vollkommenheit
lernte. Jn der Muſik brachte ſie es, auf
der Laute und im Singen, zur Vollkom-
menheit. Das Tanzen, ſo viel eine Da-
me davon wiſſen ſoll, war eine Kunſt,
welche eher von ihr eine Vollkommenheit
erhielt, als daß ſie dem Fraͤulein welche
E 2haͤtte
[68] haͤtte geben ſollen; denn, nach dem Aus-
ſpruch aller Leute, gab die unbeſchreib-
liche Anmuth, welche die junge Dame in
allen ihren Bewegungen hatte, ihrem Tan-
zen einen Vorzug, den der hoͤchſte Grad
der Kunſt nicht erreichen konnte.


Neben dieſen taͤglichen Uebungen, er-
lernte ſie mit ungemeiner Leichtigkeit, alle
Frauenzimmerarbeiten, und von ihrem
ſechszehnten Jahre an, bekam ſie auch
die Fuͤhrung des ganzen Hauſes, wobey
ihr die Tag- und Rechnungsbuͤcher ihrer
Frau Mutter zum Muſter gegeben wur-
den. Angebohrne Liebe zur Ordnung
und zum thaͤtigen Leben, erhoͤht durch ei-
ne enthuſiaſtiſche Anhaͤnglichkeit fuͤr das
Andenken ihrer Mutter, deren Bild ſie
in ſich erneuern wollte, brachten ſie auch
in dieſem Stuͤcke zu der aͤußerſten Voll-
kommenheit. Wenn man ihr von ihrem
Fleiß und von ihren Kenntniſſen ſprach,
war ihre beſcheidene Antwort: willige
Faͤhigkeiten, gute Beyſpiele und liebreiche
Anfuͤhrung haben mich ſo gut gemacht,
als tauſend andre auch ſeyn koͤnnten,
wenn
[69] wenn ſich alle Umſtaͤnde ſo zu ihrem Be-
ſten vereinigt haͤtten, wie bey mir. —


Uebrigens war zu allem, was Englaͤn-
diſch hieß, ein vorzuͤglicher Hang in ihrer
Seele, und ihr einziger Wunſch war, daß
ihr Herr Vater einmal eine Reiſe dahin
machen, und ſie den Verwandten ihrer
Großmutter zeigen moͤchte.


So bluͤhte das Fraͤulein von Stern-
heim bis nach ihrem neunzehnten Jahre
fort, da ſie das Ungluͤck hatte, ihren
wuͤrdigen Vater an einer auszehrenden
Krankheit zu verliehren, der mit kum-
mervollem Herzen ſeine Tochter dem Gra-
fen Loͤbau und dem vortrefflichen Pfarrer
in S., als Vormuͤndern empfahl. An
den letztern hat er einige Wochen vor
ſeinem Tode folgenden Brief geſchrieben.


Herr von St.
an
den Pfarrer zu S**.


Bald werde ich mit der beſten Haͤlfte
meines Lebens wieder vereinigt werden.
E 3Mein
[70] Mein Haus und die Gluͤcksumſtaͤnde mei-
ner Sophie ſind beſtellt; diß war das
letzte und geringſte, was mir fuͤr ſie zu
thun uͤbrig geblieben iſt. Jhre gute und
geſegnete Erziehung, als die erſte und
wichtigſte Pflicht eines treuen Vaters,
habe ich nach dem Zeugniß meines Her-
zens niemals verabſaͤumt. Jhre mit der
Liebe zur Tugend gebohrne Seele laͤßt mich
auch nicht befuͤrchten, daß Sie, in mei-
ne Stelle eintretender vaͤterlicher Freund,
den Sorgen und Verdruͤßlichkeiten ausge-
ſetzt ſeyn werden, welche gemeindenkende
Maͤdchen in ihren Familien machen. Be-
ſonders wird die Liebe, bey aller der Zaͤrt-
lichkeit, die ſie von ihrer wuͤrdigen Mut-
ter geerbt hat, wenig Gewalt uͤber ſie er-
halten; es muͤßte denn ſeyn, daß das
Schickſal einen nach ihrer Phantaſie tu-
gendhaften Mann
*) in die Gegend ihres
Aufent-
[71] Aufenthalts fuͤhrte. Was ich Sie, mein
theurer Freund, zu beſorgen bitte, iſt,
daß das edeldenkende Herz des beſten Maͤd-
chens durch keine Scheintugend hinge-
riſſen werde. Sie faßt das Gute an ih-
rem Nebenmenſchen mit ſo vielem Eifer auf,
und ſchluͤpft dann uͤber die Maͤngel mit
ſo vieler Nachſicht hinweg, daß ich nur
daruͤber
mit Schmerzen auf ſie ſehe.
Ungluͤcklich wird keine menſchliche Seele
durch ſie gemacht werden; denn ich weiß,
daß ſie dem Wohl ihres Naͤchſten tau-
ſendmal das Jhrige aufopfern wuͤrde, ehe
ſie nur ein minutenlanges Uebel auf
andre legte, wenn ſie auch das Gluͤck ih-
res ganzen eignen Lebens damit erkau-
fen koͤnnte. Aber da ſie lauter Empfin-
dung iſt, ſo haben viele, viele, die elen-
de Macht, ſie zu kraͤnken.
Jch habe
bis itzt meine Furcht vor dem Gemuͤths-
charakter der Graͤfin Loͤbau geheim gehal-
ten; aber der Gedanke, meine Sophie
E 4bey
*)
[72] bey ihr zu wiſſen, macht mich ſchaudern;
Die aͤußerliche Sanftmuth und Guͤte die-
ſer Frau, ſind nicht in ihrem Herzen;
der bezaubernd angenehme Witz, der fei-
ne gefaͤllige Ton, den ihr der Hof gegeben,
verbergen viele moraliſche Fehler Jch
wollte meiner Tochter niemals Mißtrauen
in dieſe Dame beybringen, weil ich es
fuͤr unedel, und auch, ſo lang ich meiner
Geſundheit genoß, fuͤr unnoͤthig hielt.
Aber wenn meine theure Frau Schwieger-
mutter auch unter der Laſt von Alter und
Kummer erliegen ſollte, ſo nehmen Sie
meine Sophie in ihren Schutz! Gott
wird Jhnen dieſe Sorge erleichtern helfen,
indem ich hoffe, daß er das letzte Gebet
eines Vaters erhoͤren wird, der fuͤr ſein
Kind nicht Reichthum, nicht Groͤße, ſon-
dern Tugend und Weisheit erbittet.
Vorſehen und verhindern kann ich nichts
mehr. Alſo uͤbergebe ich ſie der goͤttli-
chen Guͤte, und der treuen Hand eines
verſuchten Freundes. — Doch trenne ich
mich leichter von der ganzen Erde als von
dem Gedanken an meine Tochter. Jch er-
innere
[73] innere mich hier an eine Unterredung zwi-
ſchen uns, von der Staͤrke der Eindruͤcke,
die wir in unſrer Jugend bekommen. Jch
empfinde wuͤrklich ein Stuͤck davon mit
aller der Macht, die die Umſtaͤnde dazu
beytragen. Mein Vater hatte mir zwo
Sachen ſehr eingepraͤgt, nehmlich die Ge-
wißheit des Wiedervergeltungsrechts

und den Lehrſatz der Wohlthaͤtigkeit
unſers Beyſpiels.
Die Gruͤnde, welche
er dazu anfuͤhrte, waren ſo edel, ſein
Unterricht ſo liebreich, daß es nothwen-
diger Weiſe in meiner empfindlichen Seele
haften mußte. Von dem erſten bin ich
ſeit langer Zeit wieder eingenommen, weil
er mir oft ſagte, daß der Kummer oder
das Vergnuͤgen, die ich ihm geben wuͤrde,
durch meine Kinder an mir wuͤrde geraͤcht
oder belohnt werden; Gott ſey Dank,
daß ich durch meine Auffuͤhrung gegen
meinen ehrwuͤrdigen Vater den Segen
verdient habe, ein gehorſames tugend-
volles Kind zu beſitzen, welches mich an
dem Ende meines Lebens das Gluͤck der
Erinnerung genießen laͤßt, daß ich die
E 5letzten
[74] letzten Tage meines Vaters mit dem voll-
kommenſten Vergnuͤgen gekroͤnt habe, das
ein treues vaͤterliches Herz empfinden
kann, nehmlich zu ſagen — „Du haſt
„mich durch keine boͤſe Neigung, durch
„keinen Ungehorſam jemals gekraͤnkt,
„deine Liebe zur Tugend, dein Fleiß, dei-
„nen Verſtand zu uͤben und nuͤtzlich zu
„machen, haben mein Herz, ſo oft ich dich
„anſah, mit Freude erfuͤllt. Gott ſegne
„dich dafuͤr; und belohne dein Herz fuͤr
„die Erquickung, die dein Anblick deinem
„ſterbenden Vater durch die Verſicherung
„giebt, daß ich meinen Nebenmenſchen an
„meinem Sohn einen rechtſchaffnen Mit-
„buͤrger zuruͤcklaſſe.“ Dieſes Vergnuͤgen,
mein Freund, fuͤhle ich itzt auch, indem
ich meiner Tochter das nehmliche Zeu-
gniß geben kann, in der ich noch eine
traurige Gluͤckſeligkeit mehr genoſſen ha-
be. Jch ſage, traurige Gluͤckſeligkeit,
weil ſie als das wahre Bild meiner
ſeligen Gemahlin, das Andenken mei-
ner hoͤchſtgluͤcklichen Tage und den
Schmerz ihres Verluſts bey jedem Anblick
in
[75] in mir erneuerte. Wie oft riß mich der
Jammer von dem Tiſch oder aus der Ge-
ſellſchaft fort, wenn ich in den zwey letz-
tern Jahren (da ſie den ganzen Wuchs
ihrer Mutter hatte, und Kleider nach mei-
nem Willen trug) den eignen Ton der
Stimme, die Gebehrden, die ganze Guͤte
und liebenswuͤrdige Froͤhlichkeit ihrer
Mutter an ihr ſah!


Gott gebe, daß dieſes Beyſpiel des
Wiedervergeltungsrechts von meiner Toch-
ter bis auf ihre ſpaͤteſte Enkel fortgepflanzt
werde; denn ich habe ihr eben ſo viel da-
von geſprochen, als mein Vater mir!



Mit lebhafter Wehmuth erinnere ich
mich der letzten Stunden dieſes edeln
Mannes, und ſeiner Unterredungen waͤh-
rend den Tagen ſeiner zunehmenden Krank-
heit. Das theure Fraͤulein konnte wenig
weinen, ſie lag auf ihren Knieen neben
dem Bette ihres Vaters; aber der Aus-
druck des tiefſten Schmerzens, war in ih-
rem
[76] rem Geſicht und in ihrer Stellung. Die
Augen ihres Vaters auf ſie geheftet —
eine Hand in den Jhrigen; ein Seufzer
des Vaters — Meine Sophie! und
dann die Arme des Fraͤuleins gegen den
Himmel ausgebreitet, ohne einen Laut —
aber eine troſtloſe bittende Seele in allen
ihren Zuͤgen! O dieſer Anblick des feyer-
lichen Schmerzens, der kindlichen Liebe,
der Tugend, der Unterwerfung, zerriß
uns allen das Herz.


„Sophie, die Natur thut uns kein Un-
„recht, ſechzig Jahre ſind nicht zu fruͤh.
„Der Tod iſt kein Uebel fuͤr mich; er ver-
„einigt meinen Geiſt mit ſeinem liebreichen
„Schoͤpfer, und mein Herz mit deiner
„wuͤrdigen Mutter ihrem! Goͤnne mir
„dieſes Gluͤck auf Unkoſten des Vergnuͤ-
„gens, das dir das laͤngere Leben deines
„Vaters gegeben haͤtte.“


Sie uͤberwand ihren Kummer; ſie
ſelbſt war es, welche ihren Herrn Vater
aufs ſorgfaͤltigſte und ruhigſte pflegte.
Er ſah dieſe Ueberwindung, und bat ſie,
ihm in den letzten Tagen den Troſt zu ge
ben,
[77] ben, die Frucht ſeiner Bemuͤhungen fuͤr
Sie in der Faſſung ihrer Seele zu zeigen.
Sie that alles. „Beſter Vater! Sie ha-
„ben mich leben gelernt, Sie lernen mich
„auch ſterben; Gott mache Sie zu mei-
„nem Schutzgeiſt, und zum Zeugen aller
„meiner Handlungen und Gedanken! Jch
„will Jhrer wuͤrdig ſeyn!


Wie er dahin war, und ſein ganzes
Haus voll weinender Unterthanen, ſein
Sterbezimmer voll knieender ſchluchzender
Hausbedienten waren, das Fraͤulein vor
ſeinem Bette die kalten Haͤnde kuͤſſend
nichts ſagen konnte, bald knieend, bald
ſich erhebend die Haͤnde rang — O
meine Freundin! wie leicht grub ſich das
Andenken dieſes Tages in mein Herz! Wie
viel Gutes kann eine empfindende Seele
an dem Sterbebette des Gerechten ſam-
meln! —


Mein Vater ſah ſtillſchweigend zu; er
war ſelbſt ſo ſtark geruͤhrt, daß er nicht
gleich reden konnte. Endlich nahm er
das Fraͤulein bey der Hand: Gott laſſe
Sie die Erbin der Tugend Jhres Herrn
Vaters
[78] Vaters ſeyn, zu deren Belohnung er nun
gegangen iſt! Erhalten Sie in dieſen ge-
ruͤhrten Herzen (wobey er auf uns wies)
das geſegnete Andenken Jhrer verehrungs-
wuͤrdigen Aeltern, durch die Bemuͤhung
in ihren Fußſtapfen zu wandeln!


Die alte Dame war auch da, und die-
ſer bediente ſich mein Vater zum Vor-
wand, das Fraͤulein aus dem Zimmer zu
bringen, indem er ſie bat, ihre Frau
Großmutter zur Ruhe zu fuͤhren. Wie
das Fraͤulein anfieng zu gehen, machten
wir alle Platz. Sie ſah uns an, und
Thraͤneu rollten uͤber ihre Backen; da
draͤngten ſich alle, und kuͤßten ihre Haͤnde,
ihre Kleider; und gewiß, es war nicht
die Bewegung ſich der Erbin zu empfehlen,
ſondern eine Bezeugung der Ehrfurcht fuͤr
den Ueberreſt des beſten Herrn, den wir
in ihr ſahen.


Mein Vater und der Beamte ſorgten
fuͤr die Beerdigung.


Niemals iſt ein ſolches Leichbegaͤngniß ge-
weſen. Es war vom Herrn von Sternheim
befohlen, daß es Nachts und ruhig ſeyn
ſollte:
[79] ſollte: weil er ſeine Sophie mit der Mar-
ter verſchonen wollte, ihn beyſetzen zu ſe-
hen. Aber die Kirche war voller Leute;
alle feyerlich angezogen, der Chor be-
leuchtet, wie es die traurige Urſache er-
foderte; alle wollten ihren Herrn, ihren
Wohlthaͤter noch ſehen. Greiſe, Juͤng-
linge, weinten, ſegneten ihn, und kuͤßten
ſeine Haͤnde und Fuͤße, das Leichentuch,
den Deckel des Sarges, — und erbaten
von Gott, er moͤchte an der Tochter alles
das Gute, ſo ihnen der Vater bewieſen,
belohnen!


Noch lange Zeit hernach war alles
traurig zu S., und das Fraͤulein ſo ſtill,
ſo ernſthaft, daß mein Vater ihrenthal-
ben in Sorgen gerieth; beſonders da auch
die alte Dame, welche gleich geſagt hatte,
daß ihr dieſer Fall das Herz gebrochen
haͤtte, von Tag zu Tag ſchwaͤchlicher
wurde. Das Fraͤulein wartete ſie mit
einer Zaͤrtlichkeit ab, welche die Dame
ſagen machte: „Sophie, die Sanftmuth,
„die Guͤte deiner Mutter, iſt ganz in dei-
„ner Seele! Du haſt den Geiſt deines Va-
„ters,
[80] „ters, du biſt das gluͤckſeligſte Geſchoͤpf
„auf der Erde, weil die Vorſicht die Tu-
„genden deiner Aeltern in dir vereiniget
„hat! Du biſt nun dir ſelbſt uͤberlaſſen,
„und faͤngſt den Gebrauch deiner Unab-
„haͤngigkeit mit Ausuͤbung der Wohlthaͤ-
„tigkeit an deiner Großmutter an. Denn
„es iſt eine edlere Wohlthat, das Alter
„zu beleben, und liebreich zu beſorgen,
„als den Armen Gold zu ſchenken.“


Sie empfahl ſie auch dem Grafen und
der Graͤfin von Loͤbau auf das eifrigſte,
als ſie von ihnen noch vor ihrem Ende ei-
nen Beſuch erhielt. Dieſe beyden Perſo-
nen waren dem Anſehen nach, gegen das
Fraͤulein ſehr verbindlich, und wollten ſie
ſogleich mit ſich nehmen; aber ſie bat ſich
aus, ihr Trauerjahr in unſerm Hauſe zu
halten.


Jn dieſer Zeit bildete ſich die vertraute
Freundſchaft, welche ſie in der Folge alle-
zeit mit meiner Schweſter Emilia unter-
hielt. Mit dieſer gieng ſie oft in die Kir-
che zum Grabſtein ihrer Aeltern, knieete
da, betete, redete von ihnen. — „Jch
„habe
[81] „habe keine Verwandten mehr, als dieſe
„Gebeine, ſagte ſie. Die Graͤfin Loͤbau
„iſt nicht meine Verwandtin; ihre Seele
„iſt mir fremde, ganz fremde, ich liebe ſie
„nur, weil ſie die Schweſter meines
„Oheims war.“ Mein Vater ſuchte ihr
dieſe Abneigung, als eine Ungerechtigkeit,
zu benehmen, und war uͤberhaupt bemuͤht,
alle Theile ihrer Erziehung mit ihr zu er-
neuern, und beſonders auch ihr Talent
fuͤr die Muſik zu unterhalten. Er ſagte
uns oft: Daß es gut und wahr waͤre,
daß die Tugenden alle an einer Kette gien-
gen, und alſo die Beſchaffenheit auch mit
dabey ſey. Und was wuͤrde auch aus
der Fraͤulein von Sternheim geworden
ſeyn, wenn ſie ſich aller ihrer Vorzuͤge in
der Vollkommenheit bewußt geweſen waͤre,
worinn ſie ſie beſaß?


Der Sternheimiſche Beamte, ein recht-
ſchaffener Mann, heyrathete um dieſe
Zeit meine aͤlteſte Schweſter; und ſein
Bruder, ein Pfarrer, der ihn beſuchte,
nahm meine Emilia mit ſich; mit dieſer
fuͤhrte unſer Fraͤulein einen Briefwechſel,
Fwelcher
[82] welcher mir Gelegenheit geben wird, ſie
kuͤnftig oͤfter ſelbſt reden zu laſſen.



Aber vorher muß ich Jhnen noch das
Bild meiner jungen Dame mahlen. Sie
muͤſſen aber keine vollkommene Schoͤnheit
erwarten. Sie war etwas uͤber die mitt-
lere Groͤße; vortrefflich gewachſen; ein
laͤnglich Geſicht voll Seele; ſchoͤne brauue
Augen, voll Geiſt und Guͤte, einen ſchoͤ-
nen Mund, ſchoͤne Zaͤhne. Die Stirne
hoch, und, um ſchoͤn zu ſeyn, etwas zu
groß, und doch konnte man ſie in ihrem
Geſichte nicht anders wuͤnſchen. Es
war ſo viel Anmuth in allen ihren Zuͤgen,
ſo viel edles in ihren Gebehrden, daß ſie,
wo ſie nur erſchien, alle Blicke auf ſich
zog. Jede Kleidung ließ ihr ſchoͤn, und
ich hoͤrte Milord Seymour ſagen, daß in
jeder Falte eine eigne Grazie ihren Wohn-
platz haͤtte. Die Schoͤnheit ihrer licht-
braunen Haare, welche bis auf die Erde
reichten, konnte nicht uͤbertroffen werden.
Jhre Stimme war einnehmend, ihre Aus-
druͤcke
[83] druͤcke fein, ohne geſucht zu ſcheinen.
Kurz, ihr Geiſt und Charakter waren,
was ihr ein unnachahmlich edles und
ſanftreizendes Weſen gab. Denn ob ſie
gleich bey ihrer Kleidung die Beſcheiden-
heit in der Wahl der Stoffe auf das aͤußer-
ſte trieb, ſo wurde ſie doch hervorgeſucht,
wenn die Menge von Damen noch ſo groß
geweſen waͤre.


So war ſie, als ſie von ihrer Tante
an den Hof nach D. gefuͤhret wurde.


Unter den Zubereitungen zu dieſer Rei-
ſe, wozu ſie mein Vater mit bereden half,
muß ich nur eine anmerken. Sie hatte
die Bildniſſe ihres Herrn Vaters und ih-
rer Frau Mutter in Feuer gemahlt, und
zu Armbaͤndern gefaßt, welche ſie nie-
mals von den Haͤnden ließ. Dieſe wollte
ſie umgefaßt haben, und es mußte ein
Goldarbeiter kommen, mit welchem ſie ſich
allein deredete.


Die Bildniſſe kamen wieder mit Bril-
lianten beſetzt, und zween Tage vor der
Abreiſe nahm ſie meine Emilia, und gieng
zum Grab ihrer Altern, wo ſie einen fey-
F 2erlichen
[84] erlichen Abſchied von den geliebten Gebei-
nen nahm, Geluͤbde der Tugend erneuer-
te, und endlich ihre Armbaͤnder loß mach-
te, an welchen ſie die Bildniſſe hatte hohl
faſſen laſſen, ſo daß ſie mitten ein verbor-
genes Schloß hatten. Dieſes machte ſie
auf, und fuͤllte den kleinen Gaum mit
Erde, die ſie in der Gruft zuſammen faß-
te. Thraͤnen rollten uͤber ihre Wangen,
indem ſie es that, und meine Emllia ſag-
te: Liebes Fraͤulein, was thun Sie?
Warum dieſe Erde? — Meine Emilie,
antwortete ſie, ich thue nichts, als was
bey dem weiſeſten und edelſten Volke fuͤr
eine Tugend geachtet wurde; den Staub
der Rechtſchaffenen zu ehren; und ich
glaube, es war ein empfindendes Herz,
wie das meinige, welches in ſpaͤtern Zeiten
die Achtung der Reliquien anfieng. Die-
ſer Staub, meine Liebe, der die geheiligte
Ueberbleibſel meiner Aeltern bedeckte, iſt
mir ſchaͤtzbarer, als die ganze Welt, und
wird in meiner Entfernung von hier, das
Liebſte ſeyn, was ich beſitzen kann.


Meine
[85]

Meine Schweſter kam in Sorgen dar-
uͤber und ſagte uns, es haͤtte ſie eine Ahn-
dung von Ungluͤck befallen; ſie fuͤrchte
das Fraͤulein nicht mehr zu ſehen. Mein
Vater beruhigte uns, und dennoch wurde
auch er beſtuͤrzt, da er erfuhr, das Fraͤu-
lein ſey in den Doͤrfern, die ihr gehoͤrten,
von Haus zu Haus gegangen, haͤtte al-
len Leuten liebreich zugeſprochen, ſie be-
ſchenkt, zu Fleiß und Rechtſchaffenheit er-
mahnt, die Allmoſen fuͤr Wittwen, Wai-
ſen, Alte und Kranke vermehrt, dem
Schulmeiſter eifrig zugeredet, ſeine Be-
ſoldung verbeſſert, und Preiße fuͤr die
Kinder ausgeſetzt, meinen Schwager, den
Amtmann, mit einer Tabatiere, und mei-
ne Schweſter mit einem Ring zum Anden-
ken beſchenkt, und den erſten um wahre
Guͤte und Gerechtigkeit fuͤr ihre Untertha-
nen gebeten. Wir weinten alle uͤber die-
ſe Beſchreibung. Mein Vater ſprach uns
Muth ein, indem er ſagte: Alle melancho-
liſchzaͤrtliche Charakter haͤtten die Art, ih-
ren Handlungen eine gewiſſe Feyerlichkeit
zu geben, es waͤre ihm lieb, daß ſie mit
F 3ſo
[86] ſo ſtarken Eindruͤcken des wahren Edeln
und Guten in die große Welt traͤte, wor-
inn doch manche vor dieſen Empfindun-
gen geſchwaͤcht werden duͤrften, alſo, daß
durch eine unmerkliche Miſchung von
Leichtſinn und glaͤnzender Munterkeit und
die Vermehrung ihrer Kenntniß vom
menſchlichen Herzen der Enthuſiasmus
ihrer Seele gemildert und in den gehoͤri-
gen Schranken wuͤrde gehalten werden.


Meine Emilia bekam ihr Bildniß und
ein artiges Kaͤſtgen, worinn Geld zu ei-
ner Hausſteuer war. Jhren Bedienten
ließ ſie zuruͤck, weil er verheyrathet war,
und der Graf von Loͤbau geſchrieben hat-
te, daß ſeine Leute zu ihren Dienſten ſeyn
ſollten.


Etliche Tage hernach kam der Graf,
ihr Oncle, ſie abzuhohlen, und ich be-
gleitete ſie, wie ſie ſich ausgebeten hatte.
Der Abſchied von meinem Vater war ruͤh-
rend. Sie haben ihn gekannt, den ehr-
wuͤrdigen Mann, Sie wiſſen, daß er alle
Hochach-
[87] Hochachtung, alle Liebe verdient. Wir
reiſeten erſt auf das Loͤbauiſche Guth, und
von da mit der Graͤfin nach D.; wo ſich
nun der fatale Zeitpunkt anfaͤngt, wor-
inn Sie dieſe liebenswuͤrdigſte junge Da-
me in Schwierigkeiten und Umſtaͤnde ver-
wickelt ſehen werden, die den ſchoͤnen
Plan eines gluͤcklichen Lebens, den Sie
Sich gemacht hatte, auf einmal zerſtoͤr-
ten, aber durch die Probe, auf welche ſie
ihren innerlichen Werth ſetzten, ihre Ge-
ſchichte fuͤr die Beſten unſers Geſchlechts
lehrreich machen. Jch glaube, daß ich
am beſten thun werde, wenn ich hier, an-
ſtatt die Erzaͤhlung fortzuſetzen, Jhnen
eine Reihe von Originalbriefen, oder Ab-
ſchriften, welche in der Folge in die Haͤnde
meines geliebten Fraͤuleins gekommen ſind,
vorlege, aus denen Sie, theils den Cha-
rakter ihres Geiſtes und Herzens, theils
die Geſchichte ihres Aufenthalts in D.
weit beſſer als durch einen bloßen Auszug
werden kennen lernen.


F 4Fraͤu-
[88]

Fraͤulein von Sternheim
an
Emilien.


Jch bin nun vier Tage hier, meine
Freundin, und in Wahrheit nach allen
meinen Empfindungen, in einer ganz
neuen Welt. Das Geraͤuſch von Wagen
und Leuten, habe ich erwartet; doch
plagte es mein an die laͤndliche Ruhe ge-
woͤhntes Ohr, die erſten Tage uͤber gar
ſehr. Was mir noch beſchwerlicher fiel,
war, daß meine Tante den Hoffriſeur
rufen ließ, meinen Kopf nach der Mode
zuzurichten. Sie hatte die Guͤtigkeit,
ſelbſt mit in mein Zimmer zu kommen,
wo ſie meine Haare loßband, und ihm
ſagte: Monſieur le Beau, dieſer Kopf
kann ihrer Kunſt Ehre machen; wenden
ſie alles an; aber haben ſie ja Sorge,
daß dieſe ſchoͤnen Haare durch kein heiſſes
Eiſen verletzet werden?


Dieſe Schmeicheley meiner Tante
nahm ich noch mit Vergnuͤgen an; aber
der Friſeur aͤrgerte mich mit ſeinen Lob-
ſpruͤchen.
[89] ſpruͤchen. Es duͤnkte meinem Stolze, der
Menſch haͤtte mich ſorgfaͤltig bedienen,
und ſtillſchweigend bewundern ſollen.
Aber der Schneider und die Putzmacherin
waren noch unertraͤglicher. Fragen Sie
meine Roſine uͤber ihr albernes Geſchwaͤtz,
und uͤber die etwas boshafte Anmerkung,
die mir einfiel: Die Eitelkeit der Damen
in D. muͤßte ſehr heißhungrig ſeyn, weil
ſie dieſe Leute gewoͤhnt haͤtten, ihr ei-
ne ſo grobe und mir ſehr unſchmackhafte
Nahrung zu bringen. Das Lob des
Schloͤſſers, welches der ſchoͤnen Mont-
baſon
ſo viel beſſer gefiel, als der Hof-
leute ihres, war von einer ganz andern
Art, weil es das Gepraͤge einer wahren
Empfindung hatte, die durch den Anblick
dieſer ſchoͤnen Frau in ihm entſtund, da
er ganz mit ſeiner Arbeit beſchaͤfftigt, un-
gefehr aufſah, als eben die Dame bey ſei-
ner Werkſtatt vorbey fuhr. Aber was
heißt der Beyfall derer, welche ihren Nu-
tzen von mir ſuchen? Und wie froh bin
ich, mit keiner beſondern Schoͤnheit be-
zeichnet zu ſeyn; weil ich dieſe Art
F 5von
[90] von Ekel fuͤr allgemeinem Lob in mir
fuͤhle.


Dieſen Nachmittag habe ich etliche Da-
men und Cavaliere geſehen, denen meine
Tante ihre Ankunft hatte wiſſen laſſen,
indem ſie die Unterlaſſung ihres eignen
Beſuchs mit dem Vorwand einer großen
Muͤdigkeit von der Reiſe entſchuldigte.
Wiewohl die wahre Urſache nichts anders
war, als daß die Hof- und Stadtkleider
noch nicht fertig ſind, in welchen ich mei-
ne Erſcheinung machen ſoll. Vielleicht
ſtutzen Sie uͤber das Wort Erſcheinung,
aber es wurde heute von einem witzigen
Kopf in der That ſehr richtig gebraucht,
wiewohl er es nur auf mein Kleid und
meine erſte Reiſe in die Stadt anwandte.
Sie wiſſen, Emilia, daß mein theurer
Papa mich immer in den Kleidern meiner
Mama ſehen wollte, und daß ich ſie auch
am liebſten trug. Dieſe ſind hier alle
aus der Mode, und ich konnte nach dem
Ausſpruch meiner Tante (der ich dieſes
Stuͤck von Herrſchaft uͤber meinen Ge-
ſchmack gerne einraͤume) kein anderes als
das
[91] das von weiſſem Tafft tragen, welches ſie
mir zu Ende der Trauer hatte machen laſ-
ſen. Ende der Trauer, meine Emilia!
O glauben Sie es nicht ſo woͤrtlich; die
aͤußerlichen Kennzeichen davon habe ich
abgelegt; aber ſie hat ihren alten Sitz in
dem Grunde meines Herzens behalten,
und ich glaube, ſie hat einen Bund mit
der geheimen Beobachterin unſrer Hand-
lungen (ich meine das Gewiſſen) gemacht:
denn bey der Menge Stoffe und Putzſachen,
die mir letzhin vorgeleget wurden, und
wovon dieſes zur naͤchſten Galla, jenes
auf den bevorſtehenden Ball, ein anderes
zur Aſſemblee beſtimmt war, wendete ſich,
indem ich das eine und andere betrachtete
unter der Bewegung meiner Haͤnde, das
Bild meiner Mama an dem Armband, und
indem ich, im Zurechtemachen, meine Au-
gen darauf heftete, und ihre feine Bil-
dung mit dem ſimpelſten Aufſatz und An-
zug gezieret ſah, uͤberfiel mich der Ge-
danke, wie unaͤhnlich ich ihr in kurzer
Zeit in dieſem Stuͤck ſeyn werde! Gott
verhuͤte, daß dieſe Unaͤhnlichkeit ja nie-
mals
[92] mals weiter als auf die Kleidung gehe! —
die ich als ein Opfer anſehe, welches
auch die Beſten und Vernuͤnftigſten der
Gewohnheit, den Umſtaͤnden und ihrer
Verhaͤltniß mit andern, bald in dieſem,
bald in jenem Stuͤcke bringen muͤſſen.
Dieſer Gedanke duͤnke mich ein gemein-
ſchaftlicher Wink der Trauer und des Ge-
wiſſens zu ſeyn. Aber ich komme von
meiner Erſcheinung ab. Doch Sie, mein
vaͤterlicher Freund, haben verlangt, ich
ſoll, wie es der Anlaß gebe, das was mir
begegnet und meine Gedanken dabey auf-
ſchreiben, und das will ich auch thun.
Jch werde von andern wenig reden, wenn
es ſich nicht beſonders auf mich bezieht.
Alles was ich an ihnen ſelbſt ſehe, befrem-
det mich nicht, weil ich die große Welt
aus dem Gemaͤhlde kenne, welches mir
mein Papa und meine Großmama davon
gemacht haben.


Jch kam alſo in das Zimmer zu meiner
Tante, da ſchon etliche Damen und Ca-
valiere da waren. Jch hatte mein weiſ-
ſes Kleid an, welches mit blauen Jtalieni-
ſchen
[93] ſchen Blumen garnirt worden war; mein
Kopf nach der Mode in D. gar ſchoͤn geputzt.
Meinen Anſtand und meine Geſichtsfarbe
weis ich nicht; doch mag ich blaß ausgeſe-
hen haben; weil kurz nach dem mich die Graͤ-
fin als ihre geliebte Nichte vorgeſtellt hat-
te, ein von Natur artig gebildeter junger
Mann mit einem verkehrt lebhaften Weſen
ſich naͤherte, und, Bruſt und Achſeln mit ei-
ner ſeltſamen Beugung gegen meine Tante,
den Kopf aber ſeitwaͤrts gegen mich mit ei-
ner Art Erſchrockenheit gewendet, ausrief:
Meine gnaͤdige Graͤfin, iſt es wirklich ihre
Niece? — „Und warum wollen Sie mei-
nem Zeugniß nicht glauben?“ — Der
erſte Anblick ihrer Geſtalt, die Kleidung
und der leichte Sylphidengang, haben
mich auf den Gedanken gebracht, es waͤre
die Erſcheinung eines liebenswuͤrdigen
Hausgeſpenſtes. — Armer F**, ſagte
eine Dame; und Sie fuͤrchten ſich viel-
leicht vor Geſpenſtern?


Vor den haͤßlichen, verſetzte der witzige
Herr, habe ich natuͤrlichen Abſcheu, aber
mit denen, welche dem Fraͤulein von Stern-
heim
[94] heim gleichen, getraue ich mir ganze
Stunden allein hinzubringen.


„So, und Sie braͤchten mit dieſem
ſchoͤnen Einfall mein Haus in den Ruf,
daß es darinn ſpuͤke!“


Das moͤchte ich wohl; um alle uͤbrige
Cavaliere abzuhalten, hieher zu kommen;
aber dann wuͤrde ich auch den reizenden
Geiſt zu beſchwoͤreen ſuchen, daß er ſich
wegtragen ließe. —


„Gut, Graf F**, gut, das iſt artig
geſagt! Wurde in dem Zimmer von allen
wiederhohlt.


„Nun meine Nichte, wuͤrden Sie ſich
beſchwoͤren laſſen?“


Jch weis ſehr wenig von der Geiſter-
welt, antwortete ich; doch glaube ich,
daß fuͤr jedes Geſpenſt, eine eigne Art
von Beſchwoͤrung gewaͤhlt werden muͤſſe,
und die Entſetzung, die ich dem Grafen
bey meiner Erſcheinung verurſachte, laͤßt
mich denken, daß ich unter dem Schutz
eines maͤchtigern Geiſtes bin, als der iſt,
der beſchwoͤren lernt.


Vortreff-
[95]

Vortrefflich, vortrefflich; Graf F**.
Wie weiter? rief der Oberſte von Sch***.


Jch habe doch mehr errathen, als Sie
alle, antwortete der Graf; denn wenn
gleich das Fraͤulein kein Geiſt iſt, ſo ſehe
ich doch, daß ſie unendlich viel Geiſt ha-
ben muͤſſe.


Das moͤgen Sie errathen haben, und
das war vermuthlich auch der Grund,
warum Sie in dieſes Schrecken geriethen,
ſagte das Fraͤulein von C**, Hofdame
bey der Prinzeſſin von W***, die bisher
ſehr ſtille geweſen war.


Sie mißhandeln mich immer, meine
ungnaͤdige C**. Denn Sie wollen doch
damit ſagen, der kleine Geiſt haͤtte ſich
vor dem groͤßern zu fuͤrchten angefangen.


Ja, dachte ich, in dieſem Scherz iſt
in Wahrheit viel Ernſt. Jch bin wuͤrk-
lich eine Gattung von Geſpenſtern, nicht
nur in dieſem Hauſe, ſondern auch fuͤr
die Stadt und den Hof. Jene kommen,
wie ich, mit der Kenntniß der Menſchen
unter ſie, und verwundern ſich uͤber
nichts was ſie ſehen und hoͤren, machen
aber,
[96] aber, wie ich, Vergleichungen zwiſchen die-
ſer Welt, und der, woher ſie kommen, und
jammern uͤber die Sorgloſigkeit, womit
die Zukunft behandelt wird; die Men-
ſchen aber bemerken an ihnen, daß dieſe
Geſchoͤpfe, ob ſie wohl ihre Form haben,
dennoch ihrem innerlichen Weſen nach,
nicht unter ſie gehoͤren.


Das Fraͤulein von C** ließ ſich hier-
auf in eine Unterredung mit ihr ein, an
deren Ende ſie mir viele Achtung bewies,
und den hoͤflichen Wunſch aͤußerte, oͤfters
in meiner Geſellſchaft zu ſeyn. Sie iſt
ſehr liebenswuͤrdig, etwas groͤßer als ich,
wohl gewachſen, ein großes Anſehen in ih-
rem Gang und der Bewegung ihres Kopfs;
ein laͤnglicht Geſicht, nach allen Theilen
ſchoͤn gebildet, blonde Haare und die vor-
trefflichſte Geſichtsform; einnehmende Zuͤ-
ge von Sanftmuth: nur manchmal duͤnk-
te mich, waͤren ihre freymuͤthige ganz
liebreiche Augen, zu lang und zu bedeu-
tend auf die Augen der Mannsleute ge-
heftet geweſen. Jhr Verſtand iſt liebens-
wuͤrdig, und alle ihre Ausdruͤcke ſind mit
dem
[97] dem Merkmal des gutgeſinnten Herzens
bezeichnet. Sie war in der ganzen Ge-
ſellſchaft die Perſon, die mir am beſten
gefiel, und ich werde mir das Anerbieten
ihrer Freundſchaft zu nutze machen.


Endlich kam die Graͤfin F*** fuͤr wel-
che mir meine Tante viele Achtung zu ha-
ben empfohlen hatte, weil ihr Gemahl
meinem Oncle in ſeinem Proceſſe viele
Dienſte leiſten koͤnne. Jch that alles,
aber doch fuͤhlte ich einen Unmuth uͤber
die Vorſtellung, daß die Gefaͤlligkeit der
Nichte gegen die Frau des Miniſters die
Gerechtſamen des Oheims ſollte ſtuͤtzen
helfen. An ſeinem Platze wuͤrde ich we-
der meine noch des Miniſters Frau in die-
ſe Sache mengen, ſondern eine maͤnnliche
Sache mit Maͤnnern behandeln. Der Mi-
niſter, den ſeine Frau fuͤhrt, ſteht mir
auch nicht an; doch iſt alles dieſes eine
eingefuͤhrte Gewohnheitsſache, woruͤber
der eine nichts klagt, und der andre
nicht ſtutzig wird.


Das Fraͤulein C*** und die Graͤfin
F*** blieben beym Abendeſſen. Die Un-
Gterredun-
[98] terredungen waren belebt, aber ſo ver-
flochten, daß ich keinen Auszug machen
kann. Die Frau von F*** ſchmeichelte
mir bey allen Gelegenheiten, ich mochte
reden oder vorlegen. Wenn ſie im Sinn
hat, ſich dadurch bey mir beliebt zu ma-
chen, ſo verfehlt ſie ihren Zweck. Denn
dieſe Frau werde ich nimmer lieben, wenn
ich der Stimme meines Herzens folge;
und dann glaube ich nicht, daß mich eine
Pflicht verbinde, meine Abneigung gegen
ſie zu uͤberwinden, wie ich bey meiner
Tante gethan habe; wiewohl auch dieſe
manchmal aufwachte. Aber das Fraͤulein
C** werde ich lieben. Sie war mit mir
auf meinem Zimmer, wo wir ſo freundlich
redeten, als kennnten wir uns viele Jahre
her. Sie ſprach viel von ihrer Prinzeſ-
ſin, und wie dieſe mich lieben wuͤrde, in-
dem ich ganz nach ihrem Geſchmack waͤre.
Wie ich meine Laute und meine Stimme
hoͤren laſſen mußte, gab ſie mir noch mehr
Verſicherungen daruͤber, und ich erhielt
uͤberhaupt viel Lobſpruͤche. Der Ton
und die Bezeugung der Hofleute ſind in
der
[99] der That dadurch angenehm, weil die Ei-
genliebe eines jeden ſo wohl in Acht genom-
men wird.


Meine Tante war mit mir zufrieden,
wie ſie ſagte; denn ſie hatte befuͤrchtet,
ich wuͤrde ein gar zu fremdes, gar zu
laͤndliches Anſehen haben. Die Graͤfin
F. hatte mich gelobt, aber etwas ſtolz
und trocken gefunden. Jch war es auch.
Jch kann die Verſicherungen meiner
Freundſchaft und Hochachtung nicht ent-
heiligen. Jch kann niemand betruͤgen,
und ſie geben, wenn ich ſie nicht fuͤhle.
Meine Emilia! mein Herz ſchlaͤgt nicht
fuͤr alle, ich werde in dieſem Stuͤcke vor
der Welt immer ein Geſpenſt bleiben.
Diß iſt meine Empfindung. Kein fliegen-
der unwilliger Gedanke. Jch war billig;
ich legte keinem nichts zum Argen aus.
Jch ſagte zu mir: Eine Erziehung, wel-
che falſche Jdeen giebt, das Beyſpiel, ſo
ſie ernaͤhrt, die Verbundenheit wie Andere
zu leben, haben dieſe Perſonen von ihrem
eignen Charakter und von der natuͤrli-
chen ſittlichen Beſtimmung, wozu wir da
G 2ſind,
[100] ſind, abgefuͤhrt: Jch betrachte ſie als Leu-
te, auf die eine Familienkraͤnklichkeit fort-
gepflanzt iſt; ich will liebreich mit ihnen
umgehen, aber nicht vertraut, weil ich
mich der Sorge mit ihrer Seuche ange-
ſteckt zu werden nicht enthalten kann.


So wuͤnſchen Sie mir dann eine dau-
erhafte Seelengeſundheit, meine liebe
Freundin, und lieben Sie mich. Un-
ſerm ehrwuͤrdigen Papa alles Gute! wie
wird er ſich von ſeiner ihn ſo zaͤrtlich be-
ſorgenden Emilie trennen koͤnnen? Aber
wie gluͤcklich treten Sie den Kreis des
ehelichen Lebens an, da Sie den treuen
Segen eines wuͤrdigen Vaters mit ſich
bringen! Gruͤſſen Sie mir den auserwaͤhl-
ten Mann, deſſen Eigenthum Sie mit al-
len dieſen Schaͤtzen werden.


Zweyter Brief.


Es iſt mir lieb, meine Emilia, daß
Sie dieſen Brief noch in dem vaͤterlichen
Hauſe erhalten, weil er Jhnen eine ſchein-
bare Verwirrung meiner Jdeen zeigen wird,
wo
[101] wo unſer Papa das beſte Mittel, ſie in
Ordnung zu bringen, anzeigen kann.
Jch bin bey der Prinzeſſin von W*. und
dem ganzen Adel zur Erſcheinung gebracht
worden, und kenne nun den Hof und die
große Welt durch mich ſelbſt.


Jch habe Jhnen ſchon geſagt, daß ich
beyde aus der Abſchilderung kenne, ſo mir
davon gemacht worden. Laſſen Sie mich
dieſes Gleichniß noch weiter brauchen; es
war meinem Auge nichts fremde. Aber
denken Sie ſich eine Perſon voll Aufmerk-
ſamkeit und Empfindung, die ſchon lange
mit einem großen Gemaͤhlde von reicher
und weitlaͤuftiger Compoſition bekannt iſt.
Oft hat ſie es betrachtet, und uͤber den
Plan, die Verhaͤltniſſe der Gegenſtaͤnde,
und die Miſchung der Farben, nachge-
dacht, alles iſt ihr bekannt; aber auf ein-
mal kommt durch eine fremde Kraft das
ſtillruhende Gemaͤhlde, mit allem was es
enthaͤlt, in Bewegung; natuͤrlicher Weiſe
erſtaunt dieſe Perſon, und ihre Empfin-
dungen werden auf mancherley Art ge-
ruͤhrt. Dieſe erſtaunte Perſon bin ich;
G 3die
[102] die Gegenſtaͤnde und Farben machen es
nicht; die Bewegung, die fremde Bewe-
gung iſts, die ich ſonderbar finde.


Soll ich Jhnen ſagen, wie ich hier
und da aufgenommen wurde? Gut, al-
lenthalben gut! denn fuͤr ſolche Begeben-
heiten hat der Hof eine allgemeine Spra-
che, die der Geiſtloſe eben ſo fertig zu re-
den weiß, als der Allervernuͤnftigſte. Die
Prinzeſſin, eine Dame von beynahe funf-
zig Jahren, hat einen ſehr ſeinen Geiſt;
in ihrem Bezeugen, und in ihren Aus-
druͤcken herrſcht ein Ton von Guͤte, deſſen
allgemeine Gefaͤlligkeit mir die Ueber-
bleibſel von einer Zeit zu ſeyn ſchienen,
wo ſie die Freundſchaft aller Arten von
Leuten fuͤr noͤthig halten mochte. Denn
ich ſehe ſchlechterdings dieſen Beweggrund
allein fuͤr faͤhig an, jene Wuͤrkung in ei-
nem edeln Herzen zu machen. Die nie-
dertraͤchtige Begierde, ſich allen ohne Un-
terſchied beliebt zu machen, kann ich ihr
unmoͤglich zuſchreiben. Sie unterredete
ſich lange mit mir, und ſagte viel Gutes
von meinem geliebten Papa, den ſie als
Haupt-
[103] Hauptmann und Oberſten gekannt hatte.
Sie nennete mich die wuͤrdige Tochter
des rechtſchaffenen Mannes, und ſagte,
ſie wolle mich oͤfters holen laſſen. Sie
glauben nun gewiß, meine Emilia, daß
ich dieſe Fuͤrſtin um ſo mehr liebe, weil
das Andenken meines Vaters von ihr ge-
ehrt wird.


Mehrere Charakter kann ich Jhnen
nicht bezeichnen. Die meiſten ſehen ein-
ander aͤhnlich, in ſo fern man ſie in dem
Vorzimmer der Fuͤrſtin, oder bey gewoͤhn-
lichen Beſuchen ſieht.


Geſtern wurde ich im Schreiben unter-
brochen, weil Aſſemblee (wie ſie es nen-
nen) bey der Prinzeſſin angeſagt wurde.
Da mußte ich die Zeit, welche mein Herz
der Freundſchaft gewidmet hatte, vor
dem Putztiſch verſchwenden.


Glauben Sie wohl, daß meine liebe
Roſine eben ſo ungeſchickt iſt, eine metho-
diſche Cammerjungfer zu ſeyn, als ich es
bin, meinen Damenſtand durch die lange
Verweilung am Putztiſch und durch un-
ſchluͤßige ekle Wahl meiner Kleidung und
G 4Schmucks
[104] Schmucks zu beweiſen? — Meine Tante
ſucht dieſen Fehlern abzuhelfen, und ich
muß alle Tage neben dem Friſeur eine ihrer
Jungfern um mich haben, welche beyde
durch ihr geziertes Weſen und die vielen
Umſtaͤnde, die ſie machen, meine Geduld
in einer mir ſehr unangenehmen Uebung
erhalten. Doch dißmal war ich am Ende
wohl zufrieden, weil ich wuͤrklich artig
gekleidet war.


Diß iſt eine Freude, die Sie noch nicht
an mir kannten; Sie ſollen auch die Urſa-
che dazu nicht lange ſuchen; ich will ſie
aufrichtig ſagen, da ſie mir bedeutend
ſcheint. Jch war nur deswegen uͤber
meinen wohlgerathnen Putz froh, weil ich
von zween Englaͤndern geſehen wurde, de-
ren Beyfall ich mir in allem zu erlangen
wuͤnſchte. Der eine war Milord G.
Engliſcher Geſandter, und der andere
Lord Seymour ſein Neffe, Geſandſchafts-
Cavalier, der ſich unter der Anfuͤhrung
ſeines Oheims zu dieſer Art von Geſchaͤff-
ten geſchickt machen, und die deutſchen
Hoͤfe kennen lernen will.


Der
[105]

Der Geſandte macht mit ſeiner Figur,
einer edeln und geiſtvollen Phyſionomie,
und einer gewiſſen Wuͤrde, die ſeine Hoͤf-
lichkeit begleitet, ſeinem Charakter Ehre.
Jch hoͤrte ihn auch allgemein loben.


Den jungen Lord Seymour ſah ich eine
halbe Stunde in Geſellſchaft des Fraͤuleins
C**, mit der ich in Unterredung war, und
mit welcher er als ein zaͤrtlicher und hoch-
achtungsvoller Freund umgeht. Sie ſtell-
te mich ihm als ihre neue, aber liebſte
Freundin dar, von der ſie unzertrennlich
ſeyn wuͤrde, wenn ſie uͤber ihr eigenes und
mein Schickſal zu gebiethen haͤtte. Milord
machte nichts als eine Verbeugung; aber
ſeine Seele redete ſo deutlich in allen ſei-
nen Mienen, daß man zugleich ſeine Ach-
tung fuͤr alles was das Fraͤulein C* ſag-
te, und auch den Beyfall leſen konnte,
den er ihrer Freundin gab.


Wenn ich den Auftrag bekaͤme, den
Edelmuth und die Menſchenliebe mit ei-
nem aufgeklaͤrten Geiſt vereinigt, in ei-
nem Bilde vorzuſtellen, ſo naͤhme ich
ganz allein die Perſon und Zuͤge des Mi-
G 5lord
[106] lord Seymour; und alle, welche nur je-
mals eine Jdee von dieſen drey Eigen-
ſchaften haͤtten, wuͤrden jede ganz deut-
lich in ſeiner Bildung und in ſeinen Au-
gen gezeichnet ſehen. Jch uͤbergehe den
ſanften maͤnnlichen Ton ſeiner Stimme,
die gaͤnzlich fuͤr den Ausdruck der Empfin-
dungen ſeiner edeln Seele gemacht zu ſeyn
ſcheint; das durch etwas melancholiſches
gedaͤmpfte Feuer ſeiner ſchoͤnen Augen,
den unnachahmlich angenehmen und mit
Groͤße vermengten Anſtand aller ſeiner
Bewegungen, und was ihn von allen
Maͤnnern, deren ich, in den wenigen
Wochen die ich hier bin, eine Menge ge-
ſehen habe, unterſcheidet, iſt (wenn ich
mich ſchicklich ausdruͤcken kann) der tu-
gendliche Blick ſeiner Augen, welche die
einzigen ſind, die mich nicht beleidigten,
und keine widrige antipathetiſche Bewe-
gung in meiner Seele verurſachten.


Der Wunſch des Fraͤuleins C* mich
immer um ſich zu ſehen, verurſachte bey
ihm die Frage: Ob ich denn nicht in D.
bleiben wuͤrde? Meine Antwort war, ich
glaubte
[107] glaubte nicht, weil ich nur auf die Zu-
ruͤckkunft meiner Tante der Graͤfin R.
wartete, die mit ihrem Gemahl eine Reiſe
nach Jtalien gemacht, und mit welcher
ich alsdann auf ihre Guͤther gienge.


Es ſcheint mir unmoͤglich, ſagte er,
daß ein lebhafter Geiſt, wie der ihrige, bey
den immer gleichen Scenen des Landle-
bens ſollte vergnuͤgt ſeyn koͤnnen.


„Und mich duͤnkt unglaublich, daß Mi-
lord Seymour im Ernſte denken ſollte,
daß ein lebhafter und ſich als gern be-
ſchaͤfftigender Geiſt auf dem Lande einem
Mangel von Unterhaltung ausgeſetzt ſey.“


Jch denke keinen gaͤnzlichen Mangel,
gnaͤdiges Fraͤulein, aber den Ekel und die
Ermuͤdung, welche nothwendiger Weiſe
erfolgen muͤſſen, wenn wir unſere Betrach-
tungen beſtaͤndig auf einerley Vorwurf
eingeſchraͤnkt ſehen.


„Jch bekenne, Milord, daß ich ſeit mei-
nem Aufenthalt in der Stadt, bey den
Vergleichungen beyder Lebensarten, ge-
funden habe, daß man auf dem Lande
die nehmliche Sorge traͤgt, ſeine Beſchaͤff-
tigungen
[108] tigungen und Ergoͤtzlichkeiten abzuaͤndern,
wie ich hier ſehe; nur mit dem Unterſchied,
daß bey den Arbeiten und Beluſtigungen
der Landleute eine Ruhe in dem Grunde
der Seele bleibt, die ich hier nicht bemerkt
habe; und dieſe Ruhe duͤnkt mich etwas
ſehr vorzuͤgliches zu ſeyn.“


Jch halte es auch dafuͤr, und ich glau-
be dabey, (ſagte er gegen dem Fraͤulein
von C*) nach dem entſchloßnen Ton Jh-
rer verehrungswuͤrdigen Freundin, daß
ſie dieſe Ruhe behalten wird, wenn auch
hier Tauſende durch ſie in Unruh geſetzt
wuͤrden.


Da er mich nicht anſah, als er dieß
ſagte, und das Fraͤulein nur laͤchelte, ſo
blieb ich auch ſtille; denn einmal fuͤhlte
ich bey dieſer ſeiner Hoͤflichkeit eine Ver-
wirrung, die ich ungern moͤchte gezeigt
haben; und dann wollte ich ihn nicht
laͤnger mit mir in ein Geſpraͤche halten, ſon-
dern ſeiner aͤltern Freundin den billigen
Vorzug laſſen; zumal, da er ſich ganz
befliſſen gegen ſie gewendet hatte.


Sie
[109]

Sie ſagen, ich hoͤre es: warum aͤltere
Freundin?
Waren Sie denn auch ſchon
ſeine Freundin, Sie, die ihn erſt eine
halbe Stunde geſehen hatten?


Ja, meine liebe Emilia, ich war ſeine
Freundin, eh ich ihn ſah; das Fraͤulein
C* hatte mit mir von ſeinem vortrefflichen
Charakter geſprochen, ehe er von einer
kleinen Reiſe, die er mit ſeinem Oncle
waͤhrend der Abweſenheit des Fuͤrſten
machte, zuruͤckkam, und was ich Jhnen
von ihm geſchrieben, war nichts anders,
als daß ich alles Edle, alles Gute, ſo mir
das Fraͤulein von ihm erzaͤhlt, in ſeiner
Phyſionomie ausgedruͤckt ſah.


Noch mehr, Emilia, ruͤhrte mich die
tiefſinnige Traurigkeit, mit welcher er ſich
an den Pfeiler des Fenſters ſetzte, wo wir
beyde auf der kleinen Bank waren, und
unſre Unterredung fortfuͤhrten. Jch deu-
tete dem Fraͤulein C* auf ihren Freund
und ſagte leiſe: Geſchieht diß oft?


Ja, dieß iſt Spleen.


Sie machte mir hierauf allerley Fra-
gen, uͤber die Art von Zeitvertreiben, wel-
che
[110] che ich mir, im Ernſt, auf dem Lande
machen koͤnnte. Jch erzaͤhlte ihr kurz,
aber mit vollem Herzen, von den ſeligen
Tagen meiner Erziehung, und von denen,
welche ich in dem geliebten Hauſe meines
Pflegvaters zugebracht, und verſicherte
ſie: daß ihre Perſon und Freundſchaft
das einzige Vergnuͤgen ſey, welches ich in
D. genoſſen haͤtte. Sie druͤckte mir zaͤrt-
lich die Hand, und bezeugte mir ihre Zu-
friedenheit. Jch fuhr fort, und ſagte,
ich koͤnnte das Wort Zeitvertreib nicht
leiden; einmal, weil mir in meinem Le-
ben die Zeit nicht einen Augenblick zu lang
worden waͤre (auf dem Lande, raunte ich
ihr ins Ohr) und dann weil es mir ein
Zeichen einer unwuͤrdigen Bewegung der
Seele zu ſeyn ſcheine. Unſer Leben iſt ſo
kurz, wir haben ſo viel zu betrachten,
wenn wir unſre Wohnung, die Erde ken-
nen, und ſo viel zu lernen, wenn wir al-
le Kraͤfte unſers Geiſtes (die uns nicht
umſonſt gegeben ſind) gebrauchen wollen;
wir koͤnnen ſo viel Gutes thun, — daß
es mir einen Abſcheu giebt, wenn ich von
einer
[111] einer Sache reden hoͤre, um welche man
ſich ſelbſt zu betruͤgen ſucht.


Meine Liebe, Jhre Ernſthaftigkeit ſetzt
mich in Erſtaunen, und dennoch hoͤre ich
Sie mit Vergnuͤgen. Sie ſind in Wahr-
heit, wie die Prinzeſſin ſagte, eine auſ-
ſerordentliche Perſon.


Jch weis nicht, Emilia, wie mir
war. — Jch merkte wohl, daß dieſer
Ton meiner Gedanken gar nicht der waͤre,
der ſich in dieſe Geſellſchaft ſchickte; aber
ich konnte mir nicht helfen. Es hatte
mich eine Bangigkeit befallen, eine Be-
gierde weit weg zu ſeyn, eine innerliche
Unruh; ich haͤtte ſogar weinen moͤgen,
ohne eine beſtimmte Urſache angeben zu
koͤnnen.


Milord G. naͤherte ſich ſchleichend ſei-
nem Neffen, faßte ihn beym Arm, und
ſagte: Seymour, Sie ſind wie das Kind,
das am Rande des Brunnens ſicher
ſchlaͤft. Sehen Sie um ſich. (Jndem
er auf uns beyde wies) Bin ich nicht das
Gluͤck, das ſie erweckt?


Sie
[112]

Sie haben recht, mein Oncle; eine
entzuͤckende Harmonie, die ich hoͤrte, nahm
mich ein, und ich dachte an keine Gefahr
dabey. Waͤhrend er diß ſagte, waren
ſeine Augen mit dem lebhafteſten Ausdruck
von Zaͤrtlichkeit auf mich gewendet, ſo
daß ich die meine niederſchlug, und den
Kopf weg kehrte. Darauf ſagte Milord
auf Engliſch: Seymour, nimm dich in
Acht, dieſe Netze ſind nicht vergeblich ſo
ſchoͤn und ſo ausgebreitet. Jch ſah ſeine
Hand, die auf meinem Kopf und meine
Locken wies; da wurde ich uͤber und uͤber
roth. Die Coketterie, die er mir zu-
ſchrieb, aͤrgerte mich, und ich empfand
auch den Unmuth, den er haben mußte,
wenn er hoͤrte, daß ich Engliſch verſtuͤn-
de. Jch war verlegen; doch um ihm
und mir mehrere Verwirrung zu erſparen,
ſagte ich ganz kurz: Milord, ich verſtehe
die engliſche Sprache. Er ſtutzte ein we-
nig, lobte meine Freymuͤthigkeit, und Sey-
mour entfaͤrbte ſich; doch laͤchelte er dabey,
und wandte ſich gleich zum Fraͤulein C*. —
„Wollen Sie nicht auch Engliſch lernen?“


Von
[113]

Von wem?


Von mir, gnaͤdiges Fraͤulein, und von
dem Fraͤulein von Sternheim; mein
Oncle haͤlfe auch Lectionen geben, und
Sie ſollten bald reden koͤnnen.


Niemals ſo gut als meine Freundin,
der es angebohren iſt, denn ſie iſt eine
halbe Englaͤnderin. —


Wie das, ſagte Milord G., indem er
ſich zu mir wandte?


Meine Großmutter war eine Watſon
und Gemahlin des Baron P. welcher mit
der Geſandſchaft in England war.


Das Fraͤulein C* bat, er moͤchte Eng-
liſch mit mir reden. Er that es, und ich
antwortete ſo, daß er meine Ausſprache
lobte, und dem Fraͤulein C* ſagte, ſie
ſollte von mir lernen, ich ſpraͤche ſehr gut.
Wie er ſich entfernte, ſo lag Milord Sey-
mour dem Fraͤulein an, ſie moͤchte ſich
doch die Muͤhe nehmen, nur leſen zu ler-
nen; ſie verſprachs, und ſagte dabey, al-
le Tage, wo ſie den Hofdienſt nicht ganz
haͤtte, wollte ſie zu mir kommen.


HDann
[114]

Dann habe aber ich kein Verdienſt da-
bey, ſagte er traurig.


Sie ſollen alle Wochen einmal zuhoͤ-
ren, wie viel ich gelernt habe.


Er antwortete mit einer bloßen Ver-
beugung.


Die Fuͤrſtin ließ mich rufen. Jch
mußte ihr in ihr Cabinet folgen. Da
haben Sie meine Laute, liebe Sternheim,
ſagte ſie, alles ſpielt; laſſen Sie mich
allein Jhre Stimme und Geſchicklichkeit
hoͤren. Was konnte ich thun? Jch ſpiel-
te und ſang das erſte Stuͤck, das mir in
die Finger kam. Sie umarmte mich;
liebenswuͤrdiges Maͤdchen, ſagte ſie, wie
beſchaͤmen Sie alle bey Hof erzogene Da-
men, durch die vielen Talente, die Sie auf
dem Lande geſammelt haben! — Sie
fuͤhrte mich an der Hand zuruͤck in den
Saal; ich mußte bis zu Ende der Aſſem-
blee bey ihr bleiben, und ſie ſprach von
hundert Sachen mit mir. Milord Sey-
mour ſah mich oft an, und meine Emilia,
(leſen Sie dieß meinem lieben Pflegva-
ter vor!) ſeine Achtſamkeit freute mich.
Manche
[115] Manche Augen gafften nach mir, aber ſie
waren mir zur Laſt, weil mich immer
duͤnkte, es waͤre ein Ausdruck darinn,
welcher meine Grundſaͤtze beleidigte.


Heute machten wir einen Beſuch bey
der Graͤfin F. gegen die ich mich bemuͤhte
gefaͤllig zu ſeyn. Man ſieht wohl, daß
ihr Gemahl ein Liebling des Fuͤrſteu iſt;
denn ſie ſprach beynahe von nichts als von
Gnadenbezeugungen, welche ſie genoͤſſen;
machte auch viel Aufhebens von der Er-
gebenheit ihres Gemahls gegen einen
Herrn, der alles wuͤrdig waͤre. Dieſem
folgten große Lobeserhebungen des Prin-
zen; ſie ruͤhmte die Schoͤnheit ſeiner Per-
ſon, allerhand Geſchicklichkeiten, ſeinen
guten Geſchmack in allem, beſonders in
Feſtins, ſeine praͤchtige Freygebigkeit,
worinn er eine fuͤrſtliche Seele zeigte.
(Jch dachte, die Dame moͤge freylich Ur-
ſache haben, dieſe letzte Eigenſchaft ſo ſehr
anzupreiſen.) Von ſeiner Neigung ge-
gen das ſchoͤne Geſchlecht ſagte ſie: wir
ſind Menſchen; es ſind freylich darinn
Ausſchweifungen geſchehen; aber das Un-
H 2gluͤck
[116] gluͤck war nur, daß der Herr noch keinen
Gegenſtand gefunden hat, der ſeinen
Geiſt eben ſo ſehr als ſeine Augen gefeſſelt
haͤtte; denn gewiß, eine ſolche Perſon
wuͤrde Wunder fuͤr das Land und fuͤr den
Ruhm des Herrn gewuͤrkt haben.


Meine Tante ſtimmte mit ein. Jch
ſaß ſtille, und fand in dieſem Bild eines
Landesherrn keinen einzigen Zug von dem-
jenigen, welches die Anmerkungen meines
Vaters uͤber den wahren Fuͤrſten, bey
Durchleſung der Hiſtorie, in meinem Ge-
daͤchtniß gelaſſen hatten. Zumal, wenn
ich es noch dabey nach den Grundzuͤgen
des deutſchen National-Charakters beur-
theilte. — Jch war froh, daß man mei-
ne Gedanken nicht zu wiſſen verlangte;
denn da mich die Graͤfin in ihr Zimmer
fuͤhrte, um mir ſein Bildniß in Lebens-
groͤße zu weiſen, konnte ich wohl ſagen,
daß die Figur ſchoͤn ſey, wie ſie es denn
wuͤrklich iſt. — Jch ſoll auch gemahlt
werden, will meine Tante. Jch kann es
leiden; und ſchicke dann meiner Emilia
eine Copie; ich weiß, daß ſie mir dafuͤr
dankt.
[117] dankt. Jch bitte mir die Gedanken mei-
nes Pflegevaters, uͤber dieſen Brief aus.


Dritter Brief.


Alles was Sie in meinem letztern Briefe
geſehen haben, iſt, daß Milord Seymour
ſeine beſte Freundin in mir gefunden hat;
und mein lieber Pflegvater betet fuͤr mich,
weil es fuͤr menſchliche Kraͤfte das Einzige
iſt, das man nun fuͤr mich thun kann.


Emilia, Sie lieben mich; Sie kennen
mich, und Sie dachten nicht an den Kum-
mer, den mir dieſer ſo viel bedeutende Ge-
danke ihres Vaters geben konnte?


Jch erkenne alles; die lebhafte Hoch-
achtung, welche ich fuͤr die Verdienſte,
fuͤr die Vorzuͤge des Charakters vom Mi-
lord Seymour gezeigt habe, machen Sie
beſorgt fuͤr mich. Seyn Sie ruhig, wer-
the Freunde! Aller Antheil, den ich je an
Milord Seymour nehmen kann, iſt der,
den mir meine Liebe fuͤr das Fraͤulein C*
giebt; Denn dieſe iſts, die er liebt; Die-
ſe iſts, die er gluͤcklich machen wird.
H 3Der
[118] Der Theil, den ich davon genieße, iſt allein
die Freude, die ein edles Herz in der Zu-
friedenheit ſeiner Freunde und in der Be-
trachtung der guten Eigenſchaften ſeiner
Nebenmenſchen findt.


Noch eins, meine Emilia, iſt fuͤr mich
dabey: Weil ich von der Wuͤrklichkeit ei-
nes vollkommenen edeln, guͤtigen und wei-
ſen liebenswuͤrdigen Mannes uͤberzeugt
bin, ſo wird der Niedertraͤchtige, oder der
bloße Witzling und der nur allein ar-
tige Mann
niemals, niemals keine Ge-
walt uͤber mein Herz erhalten; und dieß
iſt viel Vortheil, den ich von der Bekannt-
ſchaft des Milords habe.


Jch bedaure, daß die Krankheit des
rechten Arms Jhres Papa ihm nicht zu-
laͤßt ſelbſt an mich zu ſchreiben; nicht
weil ich mit ihren Briefen unzufrieden
bin, ſondern weil er mir mehr von ſeinen
eignen Gedanken uͤber mich ſagen wuͤrde,
als Sie. Jch hoffe, der Zufall verliehrt
ſich, und dann bitte ich ihn, es zu thun.


Geſtern waren wir bey einer großen
Mittagstafel bey Milord G. Der Graf F.
kam
[119] kam Nachmittags dazu, und noch Abends
ſpaͤt reiſeten alle zum Fuͤrſten. Der
Graf iſt ein angenehmer Mann von vie-
lem Verſtand. Seine Gemahlin fuͤhrte
ihn zu mir; da reden Sie ſelbſt mit mei-
nem Liebling, ſprach ſie, und ſagen: ob
ich Unrecht habe, mir eine ſolche Tochter
zu wuͤnſchen? Er ſagte mir ſehr viel
hoͤfliches; beobachtete mich aber dabey
mit einer Aufmerkſamkeit, die mich ſon-
derbar duͤnkte, und mich beynahe aus al-
ler Faſſung brachte.


Milord Seymour hatte an der Tafel
ſeinen Platz zwiſchen dem Fraͤulein C* und
mir bekommen, ſich meiſtens nur mit uns
unterhalten, auch beym Caffee uns beyde
mit der liebenswuͤrdigſten Galanterie be-
dient, engliſche Verſe auf Carten geſchrie-
ben, und mich gebeten, ſie dem Fraͤulein
zu uͤberſetzen. Wie die Graͤfin F. ihren
Gemahl zu ihr fuͤhrte, entfernten ſich
beyde in etwas und redeten lang an ei-
nem andern Fenſter. Der Graf begab ſich
von mir zu Milord G., und nahm im Weg-
gehen Milord Seymour am Arm mit ſich
H 4zu
[120] zu dem erſten hin. Das Fraͤulein C*
und ich, giengen, die mit Gemaͤhlden und
Kupferſtichen ausgezierten Zimmer zu be-
ſehen, bis man uns zum Spielen holte.
Jn der Zwiſchenzeit redeten Graf F. und
Milord G. mit mir von meinem Vater,
welchen F. ſehr wohl gekannt hatte, und
von meiner Großmutter Watſon, die er
gleich bey ihrer Ankunft geſehen hatte,
und von welcher er behauptete, daß ich
viele Aehnlichkeit mit ihr haͤtte. Milord
S. war neben dem Fraͤulein C*, ſah
ernſthaft und nachdenklich aus, und es
ſchien mir, als ob ſeine Augen einigemal
mit einer Art von Schmerzen auf mich
und die beyden Herren geheftet waͤren.
Das Getrippel vieler Leute, das man auf
einmal in der Straße hoͤrete, machte alles
an die Fenſter laufen. Jch gieng an das,
wo Milord Seymour und das Fraͤulein
C* ſtunden. Es waren Leute, die von
einer kleinen, aber ſehr artig angeſtellten
Spazierfahrt des Fuͤrſten auf dem Waſſer,
zuruͤcke kamen, welche zu ſehen, ſie hau-
fenweiſe gegangen waren. Da ich ſehr
viele
[121] viele in armſeliger Geſtalt und Kleidung,
und uns hingegen in moͤglichſter Pracht,
und die Menge Goldes auf den Spiel-
tiſchen zerſtreut ſah; das Fraͤulein C*
aber von einem dergleichen Feſtin erzaͤhl-
te, deſſen Aufwand berechnete, und auch
die unzaͤhlige Menge Volks anfuͤhrte, die
von allen Orten herzugelaufen, es zu ſe-
hen; kam ich in Bewegung, und ſagte:
O wie wenig bin ich fuͤr dieſe Ergoͤtzlich-
keiten geſchaffen?


„Warum das? wenn Sie es einmal
ſehen, werden Sie ganz anders denken.„
(Milord Seymour war die ganze Zeit ſtill
und kalt) Nein, meine liebe C*, ich wer-
de nicht anders denken, ſo bald ich die
Pracht des Feſtins, des Hofes, das auf
den Spieltiſchen verſchleuderte Gold, ne-
ben einer Menge Elender, welche Hunger
und Beduͤrfniß im abgezehrten Geſichte
und in den zerriſſnen Kleidern zeigen, ſe-
hen werde! Dieſer Contraſt wird meine
Seele mit Jammer erfuͤllen; ich werde
mein eignes gluͤckliches Ausſehen, und
das von andern haſſen; der Fuͤrſt und
H 5ſein
[122] ſein Hof werden mir eine Geſellſchaft un-
menſchlicher Perſonen ſcheinen, die ein
Vergnuͤgen in dem unermeßlichen Unter-
ſchied finden, der zwiſchen ihnen und
denenjenigen iſt, die ihrem Uebermuth zu-
ſehen.


Liebes, liebes Kind; was fuͤr eine ei-
frige Strafpredigt halten Sie da! ſagte
das Fraͤulein; reden Sie nicht ſo ſtark!


Liebe C*, mein Herz iſt aufgewallt.
Die Graͤfin F. machte geſtern ſo viel
Ruͤhmens von der großen Freygebigkeit
des Fuͤrſten; und heute ſehe ich ſo viele
Ungluͤckliche!


Das Fraͤulein hielt meine Haͤnde; ſt.
ſt. — Milord Seymour hatte mich mit
ernſtem unverwandtem Blick betrachtet,
und erhob ſeine Hand gegen mich; Edles
rechtſchaffenes Herz! ſagte er. Fraͤulein
C* lieben Sie ihre Freundin, Sie ver-
dients! Aber, ſetzte er hinzu, Sie muͤſ-
ſen den Fuͤrſten nicht verurtheilen; man
unterrichtet die großen Herren ſehr ſelten
von dem wahren Zuſtande ihrer Unter-
thanen.


Jch
[123]

Jch will es glauben, verſetzte ich; aber
Milord, ſtand nicht das Volk am Ufer
wo die Schiffahrt war? hat der Fuͤrſt
nicht Augen, die ihm ohne fremden Un-
terricht tauſend Gegenſtaͤnde ſeines Mit-
leidens zeigen konnten? Warum fuͤhlte er
nichts dabey?


„Theures Fraͤulein; wie ſchoͤn iſt Jhr
Eifer! zeigen Sie ihn aber nur bey dem
Fraͤulein C*.“


Hier rief Milord G. ſeinen Vetter ab,
und kurz darauf giengen wir nach Hauſe.


Heute ſpielte meine Tante eine ſeltſame
Scene mit mir. Sie kam, ſo bald ich an-
gezogen war, in mein Zimmer, wo ich
ſchon bey meinen Buͤchern ſaß. Jch bin
eiferſuͤchtig auf deine Buͤcher, ſagte ſie, du
ſtehſt fruͤh auf, und biſt gleich angezogen;
da koͤnnteſt du zu mir kommen; du
weißt, wie gern ich mich mit dir unterrede.
Dein Oncle iſt immer mit ſeinen duͤſtern
Proceßſachen geplagt: ich arme Frau muß
ſchon wieder an ein Wochenbette denken,
und du unfreundliches Maͤdchen bringſt
den ganzen Morgen mit deinen trocknen
Mora-
[124] Moraliſten hin. Schenke mir die Stun-
de, und gieb mir deine ernſthafte Herren
zum Unterpfand.


Meine Tante, ich will gerne zu ihnen
kommen; aber meine beſten Freunde kann
ich nicht von mir entfernt wiſſen.


Komme immer mit, wir wollen in mei-
nem Zimmer zanken.


Sie ſetzte ſich an ihren Putztiſch; da
hatte ich auf eine Viertelſtunde Unterhalt
mit ihren beyden artigen Knaben, die um
dieſe Tagszeit die Erlaubniß haben, ihre
Mama zu ſehen. Aber ſo bald ſie fort
waren, ſo blieb ich recht einfaͤltig da ſitzen,
ſah’ der außerordentlichen Muͤhe zu, die
ſie ſich um ihren Putz gab, und hoͤrte
Hoferzaͤhlungen an, die mir mißfielen;
Ehrgeiz, und Liebes-Jntriguen, Tadel,
Satyren, aufgethuͤrmte Jdeen zu dem
Gluͤcksbau meines Oncles. Sey doch
recht gefaͤllig gegen die Graͤfin F. ſetzte
ſie hinzu; du kannſt deinem Oncle große
Dienſte thun, und ſelbſt ein anſehnliches
Gluͤck machen.


Dieß
[125]

Dieß ſehe und wuͤnſche ich nicht, mei-
ne Tante; aber was ich fuͤr Sie thun
kann, ſoll geſchehen.


Liebſte Sophie, du biſt eines der rei-
zendeſten Maͤdchen; aber der alte Pfarrer
hat dir eine Menge pedantiſche Jdeen ge-
geben, die mich plagen. Laß dich ein
wenig davon zuruͤckbringen.


Jch bin uͤberzeugt, meine Frau Tante,
daß das Hofleben fuͤr meinen Charakter
nicht taugt; mein Geſchmack, meine Nei-
gungen, gehen in allem davon ab! und
ich bekenne Jhnen, gnaͤdige Tante, daß
ich froher abreiſen werde, als ich herge-
kommen bin.


Du kenneſt ja den Hof noch nicht;
wenn der Fuͤrſt kommt, dann lebt alles
auf. Dann will ich dein Urtheil hoͤren!
und mache dich nur gefaßt; du kommſt
vor kuͤnftigem Fruͤhjahr nicht aufs Land.


O ja, meine gnaͤdige Tante, auf den
Herbſt gehe ich zur Graͤfin R. ſo bald ſie
zuruͤckgekommen ſeyn wird.


Und
[126]

Und mein Wochenbette ſoll ich allein
ohne dich halten muͤſſen?


Sie ſah mich zaͤrtlich an, indem ſie
dieß ſagte, und reichte mir die Hand.
Jch kuͤßte ihre Hand, verſicherte ſie, bey
ihr zu bleiben, wenn dieſe Zeit kaͤme.


Vor der Tafel gieng ich in mein Zim-
mer. Da fand ich mein Buͤchergeſtelle
leer: Was iſt dieß, Roſine? Der Graf,
ſagte ſie, waͤre gekommen, und haͤtte al-
les wegnehmen laſſen. Es waͤre ein
Spaß von der Graͤfin, haͤtte er geſagt.


Ein unartiger Spaß, der ſie nichts
nuͤtzen wird! denn ich will deſto mehr
ſchreiben; neue Buͤcher will ich nicht kau-
fen, um ſie nicht uͤber meinen Eigenſinn
boͤſe zu machen. O wenn nur meine
Tante R. bald kaͤme! Zu dieſer, Emilia,
zu dieſer geh ich mit Vergnuͤgen. Sie iſt
zaͤrtlich, ruhig, ſucht und findet in den
Schoͤnheiten der Natur, in den Wiſſen-
ſchaften und in guten Handlungen, das
Maaß von Zufriedenheit, das man hier
ſucht,
[127] ſucht, wo man es nicht findet, und dar-
uͤber das Leben vertaͤndelt.


Mein Fraͤulein C* hat Lection im Eng-
liſchen angenommen; ich denke, ſie wird
es bald lernen. Sie weiß ſchon viele, lau-
ter zaͤrtliche Redensarten, an denen ich
den Lehrmeiſter erkenne. Sie hat mit
uns geſpeiſt. Jch klagte meine Tante,
uͤber ihren Buͤcherraub, im Scherz an.
Das Fraͤulein ſtund ihr bey: Das iſt gut
ausgedacht, ſagte ſie, wir wollen ſehen,
was der Geiſt unſrer Sternheim macht,
wenn ſie ohne Fuͤhrer, ohne Ausleger,
mit uns lebt. Jch lachte mit, und ſagte:
Jch verlaſſe mich auf den rechtſchaffenen
Gelehrten, der einmal ſagte: die Em-
pfindungen
der Frauenzimmer waͤren
oft richtiger als die Gedanken der Maͤn-
ner.
*) — Darauf erhielt ich die Er-
laubniß zu arbeiten. Jch ſagte, es waͤre
mir unmoͤglich am Putztiſch immer zuzuſe-
hen, Nachmittags allezeit zu ſpielen, oder
muͤßig
[128] muͤßig zu ſeyn; und es wurde eine ſchoͤne
Tapetenarbeit angefangen, woran ich ſehr
fleißig zu ſeyn gedenke.


Morgen kommt der Fuͤrſt und der gan-
ze Hof mit ihm: dieſen Abend ſind die
fremden Miniſters angekommen. Mi-
lord G. beſuchte uns noch ſpaͤt, und
brachte Milord Seymour nebſt einem an-
dern Englaͤnder, Lord Derby genannt,
mit, den er als einen Vetter vorſtellte,
der durch ihn und Lord Seymour ein groſ-
ſes Verlangen bekommen, mich zu ſehen,
beſonders weil ich eine halbe Landsmaͤn-
nin von ihm waͤre. Lord Derby redete
mich ſogleich auf Engliſch an. Er iſt ein
feiner Mann von ungemein vielem Geiſt
und angenehmen Weſen. Man bat dieſe
Herren zum Abendeſſen; es wurde freudig
angenommen, und meine Tante ſchlug
vor, im Garten zu ſpeiſen, weil Mond-
ſchein ſeyn wuͤrde, und der Abend
ſchoͤn ſey.


Gleich war der kleine Saal erleuchtet,
und meine Tante fieng bey der Thuͤre, da
ſie mit Milord G. hinaus gieng, ganz
zaͤrtlich
[129] zaͤrtlich an: Sophie, meine Liebe, deine
Laute bey Mondſchein waͤre recht vielen
Dank werth.


Jch befahl, ſie zu holen! Lord Derby
gab mir die Hand, Seymour war ſchon
mit dem Fraͤulein C* voraus. Der kleine
Saal war am Ende des Gartens, unmit-
telbar am Fluſſe, ſo, daß man lange zu
gehen hatte. Lord Derby unterhielt
mich mit einem ehrerbietigen Ton von
lauter ſchmeichelhaften Sachen, die er
von mir gehoͤrt haͤtte. Mein Oncle kam
zu uns, und wie wir kaum etliche Schrit-
te uͤber den halben Weg waren, ſtieß er
mich mit dem Arme, und ſagte: ſeht,
ſeht, wie der trockne Seymour bey
Mondſchein ſo zaͤrtlich die Haͤnde kuͤſſen
kann! Jch ſah auf; und, liebe Emilia,
es duͤnkt mich, ich fuͤhlte einen Schauer.
Es mag von der kuͤhlen Abendluft gekom-
men ſeyn; weil wir dem Waſſer ganz nahe
waren. Aber da mich ein Zweifel daruͤ-
ber ankam, als ob dieſer Schauer zwey-
deutig waͤre, weil ich ihn nur in dieſem
JAugen-
[130] Augenblick empfand, ſo mußten Sie es
wiſſen.


Der junge Graf F., Neveu des Mini-
ſters, kam auch noch, und da er den Be-
dienten, der die Laute trug, angetroffen
und gefragt hatte, fuͤr wen? nahm er ſie,
und klimperte vor dem Saal, bis mein
Oncle hinaus ſah und ihn einfuͤhrte. Jch
mußte gleich noch vor dem Eſſen ſpielen und
ſingen. Jch war nicht munter, und ſang
mehr aus Jnſtinct als Wahl, ein Lied,
in welchem Sehnſucht nach laͤndlicher
Freyheit und Ruhe ausgedruͤckt war.
Jch empfand ſelbſt, daß mein Ton zu ge-
ruͤhrt war; meine Tante rief auch: Kind,
du machſt uns alle traurig; warum willſt
du uns zeigen, daß du uns ſo gerne ver-
laſſen moͤchteſt? Singe was anders.
Jch gehorchte ſtill, und nahm eine Gaͤrt-
nerarie aus einer Opera, welche mit vie-
lem Beyfall aufgenommen wurde. Mi-
lord G. fragte: ob ich nicht engliſch ſin-
gen koͤnnte? ich ſagte, nein; aber wenn
ich was hoͤrte, ſo fiele mirs nicht ſchwer.
Derby ſang gleich, ſeine Stimme iſt ſchoͤn,
aber
[131] aber zu raſch. Jch accompagnirte ihm,
ſang auch mit. Daraus machte man viel
Lobens von meinem muſicaliſchen Ohr.


Die Graͤfin F. ſagte mir Zaͤrtlichkeiten;
Lord Seymour nichts; er gieng oft in den
Garten allein, und kam mit Zuͤgen einer
gewaltſamen Bewegung in der Seele zu-
ruͤck, redete aber nur mit Fraͤulein C*, die
auch gedankenvoll ausſah. G. ſah mich
bedeutend an, doch war Vergnuͤgen in
ſeinem Geſichte; Lord Derby hatte ein
feuriges Falkenauge, in welchem Unruhe
war, auf mich gerichtet. Mein Oncle
und meine Tante liebkoſten mir. Um eilf
Uhr giengen wir ſchlafen, und ich ſchrieb
noch dieſen Brief. Gute Nacht, theure
Emilia! Bitten Sie unſern ehrwuͤrdigen
Vater, daß er fuͤr mich bete! Jch finde
Troſt und Freude in dieſem Gedanken.



Jch wuͤnſche, daß meine Tante immer
kleine Reiſen machte, ich wuͤrde ſie mit
viel mehr Vergnuͤgen begleiten, als ich
es unter dem immerwaͤhrenden Kreislauf
J 2unſerer
[132] unſerer Hof- und Stadtviſiten thun kann.
Mein Oncle hat eine Halbſchweſter in dem
Damenſtift zu G., die er wegen einem
reichen Erbe, ſo ihr zugefallen iſt, zum
Beſten ſeiner Kinder zu gewinnen ſucht.
Und aus dieſer Urſache mußte mine Tan-
te mit ihren beyden Soͤhnen die Reiſe zu
ihr machen. Sie nahm mich mit, und
verſchaffte mir dadurch einen Theil des
Vergnuͤgens, fuͤr welches ich am em-
pfindlichſten bin, abwechſelnde Scenen der
Natur und Kunſt, in ihren mannichfalti-
gen Abaͤnderungen, zu betrachten. Waͤ-
re es auch nichts als der Anblick der auf-
und niedergehenden Sonne geweſen, ſo
wuͤrde ich dieſe Ausflucht von D. geliebt
haben; aber ich ſah mehr. Der Weg,
den wir zuruͤck zu legen hatten, zeigte mir
ein großes Stuͤck unſers deutſchen Bo-
dens, und darinn manchmal ein rauhes
ſtiefmuͤtterliches Land; welches von ſei-
nen leidenden geduldigen Einwohnern mit
abgezehrten Haͤnden angebaut wurde.


Zaͤrtliches Mitleiden, Wuͤnſche und Se-
gen, erfuͤllten mein Herz, als ich ihren
ſauren
[133] ſauren Fleiß und die traurigen, doch ge-
laſſnen Blicke ſah, mit welchen ſie den
Zug unſrer zwoen Chaiſen betrachteten.
Die Ehrerbietung, mit der ſie uns als
Guͤnſtlinge der Vorſicht gruͤßten, hatten
etwas ſehr ruͤhrendes vor mich; und ich
ſuchte durch Gegenzeichen meiner menſch-
lichen Verbruͤdernng mit ihnen, und auch
durch einige Stuͤcke Gelds, die ich den
Naͤchſten an unſerm Wege ungebeten, zu-
warf, ihnen einen guten Augenblick zu
ſchaffen. Beſonders gab ich armen Wei-
bern, die bey ihrer Arbeit hie und da ein
Kind auf dem Felde ſitzen hatten. Jch
dachte, meine Tante macht eine Reiſe zum
verhofften Vortheil ihrer Soͤhne, und
dieſe Frau verrichtet zum Beſten der ihri-
gen, eine kuͤmmerliche Arbeit; ich will
dieſe Mutter auch eine unerwartete Guͤte
genießen laſſen.


Der reitende Bediente erzaͤhlte uns
dann die Freude der armen Leute, und den
Dank den ſie uns nachriefen.


Reiche Felder, fette Triften und groſ-
ſe Scheuren der Bauren in andern Ge-
J 3genden
[134] genden, bewieſen mir das Gluͤck ihrer
guͤnſtigen Lage, und ich wuͤnſche ihnen
einen guten Gebrauch ihres Segens.
Meine Empfindungen waren angenehm,
wie ſie es allezeit beym erſten Anblick der
Kennzeichen des Gluͤcks zu ſeyn pflegen;
bis nach und nach aus ihrer Betrachtung
der Gedanke der Vergleichung unſerer
minder guten Umſtaͤnde entſpringt, und
der bittern Unzufriedenheit einen Zugang
in die Seele giebt.


Wir kehrten unterwegs, auf dem
Schloſſe des Grafen von W. ein, deſſen
Beſchreibung ich unmoͤglich vorbeygehen
kann. Es iſt an der Spitze eines Berges
erbaut, und hat auf vierzehen Stunden
weit, die ſchoͤnſte Gegend eines mit Fel-
dern, Wieſen und zerſtreuten Bauerhoͤfen,
gezierten Thales vor ſich liegen, welches
ein fiſchreicher Bach durchfließt, und
waldichte Anhoͤhen umfaſſen. Auf dem
Berge ſind weitlaͤuftige Gaͤrten und Spa-
ziergaͤnge, nach dem edlen Geſchmack des
vorigen Beſitzers angelegt, in welchem
ich ſeinen Lieblingsgrundſatz, „das Ange-
nehme
[135] nehme immer mit dem Nuͤtzlichen zu ver-
binden,“ ſehr ſchoͤn ausgefuͤhrt ſah.


Dieſes und die vollkommene Edelmanns-
Landwirthſchaft, die auserleſene Biblio-
thek, die Sammlung phyſicaliſcher Jn-
ſtrumenten, die edle, von Ueppigkeit und
Kargheit gleichweit entfernte Einrich-
tung des Hauſes, die Stiftung eines
Arztes fuͤr die ganze Herrſchaft, der le-
benslaͤngige Unterhalt, deſſen ſich alle
Hausbedienten zu erfreuen haben, die
Wahl geſchickter und rechtſchaffener
Maͤnner auf den Beamtungen, und eine
Menge kluger Verordnungen zum Beſten
der Unterthanen, ꝛc. alles ſind lebende
Denkmale des Geſchmacks, der Einſichten,
und der edlen Denkungsart des vormali-
gen Beſitzers, der, nachdem er mit groͤß-
tem Ruhm viele Jahre die erſte Stelle an
einem großen Hofe bekleidet hatte, ſeine
letzten Tage auf dieſem angenehmen Land-
ſitz verlebte. Seine Guͤte und Leutſelig-
keit ſcheint ſeinen Erben, mit den Guͤtern,
eigen geworden zu ſeyn, daher ſich immer
die beſte Geſellſchaft der umliegenden Ein-
J 4wohner
[136] wohner bey ihnen verſammelt. Die
ſechs Tage uͤber, welche wir da zubrach-
ten, kam ich durch das Spielen auf eine
Jdee, die ich gern von Herrn Br. unter-
ſucht haben moͤchte. Es waren viele
Fremde gekommen, zu deren Unterhaltung
man nothwendiger Weiſe Spieltiſche ma-
chen mußte. Denn unter zwanzig Perſo-
nen waren gewiß die meiſten von ſehr ver-
ſchiedenem Geiſt und Sinnesart, welches
ſich bey der Mittagstafel und dem Spa-
ziergang am ſtaͤrkſten aͤußerte, wo jeder
nach ſeinen herrſchenden Begriffen und
Neigungen von allen vorkommenden Ge-
genſtaͤnden redete, und wo oͤfters theils
die feinern Empfindungen der Tugend,
theils die Pflichten der Menſchenfreund-
lichkeit beleidigt worden waren. Bey
dem Spielen aber hatten alle nur Einen
Geiſt, indem ſie ſich denen dabey ein-
gefuͤhrten Geſetzen ohne den geringſten
Widerſpruch unterwarfen; keines wur-
de unmuthig, wenn man ihm ſagte,
daß hier und da wider die Regeln
gefehlt worden ſey; man geſtund es,
und
[137] und beſſerte ſich ſogleich nach dem Rath
eines Kunſterfahrnen.


Jch bewunderte und liebte die Erfin-
dung des Spielens, da ich ſie als ein
Zauberband anſah, durch welches in ei-
ner Zeit von wenigen Minuten, Leute von
allerley Nationen, ohne daß ſie ſich ſpre-
chen koͤnnen, und von Perſonen von ganz
entgegengeſetzten Charaktern viele Stun-
den lang ſehr geſellig verknuͤpft werden;
da es ohne dieſes Huͤlfsmittel beynahe
unmoͤglich waͤre, eine allgemeine gefaͤllige
Unterhaltung vorzuſchlagen. Aber ich
konnte mich nicht enthalten, der Betrach-
tung nachzuhaͤngen: Woher es komme,
daß eine Perſon vielerley Gattungen von
Spielen lernt, und ſehr ſorgfaͤltig al-
len Fehlern wider die Geſetze davon aus-
zuweichen ſucht, ſo daß alles was in dem
Zimmer vorgeht, dieſe Perſon zu keiner
Vergeſſenheit oder Uebertretung der Spiel-
geſetze bringen kann: und eine Viertel-
ſtunde vorher war nichts vermoͤgend, ſie
bey verſchiednen Anlaͤſſen von Scherzen
und Reden abzuhalten, die alle Vorſchrif-
J 5ten
[138] ten der Tugend und des Wohlſtandes be-
leidigten. Ein andrer, der als ein edler
Spieler geruͤhmt wurde, und in der That oh-
ne Gewinnſucht mit einer gleichgelaſſenen
und freundlichen Miene ſpielte, hatte eini-
ge Zeit vorher, bey der Frage von Herr-
ſchaft und Unterthan, von den letztern
als Hunden geſprochen, und einem jungen
die Regierung ſeiner Guͤter antretenden
Cavalier die heftigſte und liebloſeſte Maaß-
regeln angerathen, um die Bauren in
Furcht und Unterwuͤrfigkeit zu erhalten,
und die Abgaben alle Jahre richtig einzu-
treiben, damit man in ſeinem ſtandesge-
maͤßen Aufwand nicht geſtoͤret wuͤrde. —


Warum? ſagte mein Herz, warum ko-
ſtet es die Leute weniger, ſich den oft bloß
willkuͤhrlichen Geſetzen eines Menſchen zu
unterwerfen, als den einfachen, wohlthaͤ-
tigen Vorſchriften, die der ewige Geſetzge-
ber zum Beſten unſrer Nebenmenſchen an-
geordnet hat? Warum darf man Niemand
erinnern, daß er wider dieſe Geſetze feh-
le? Meiner Tante haͤtte ich dieſen zufaͤlli-
gen Gedanken nicht ſagen wollen; denn
ſie
[139] ſie macht mir ohnehin immer Vorwuͤrfe
uͤber meine ſtrenge und zu ſcharf geſpannte
moraliſche Jdeen, die mich, wie ſie ſagt,
alle Freuden des Lebens mißtoͤnend finden
ließen. Jch weiß nicht, warum man
mich immer hieruͤber anklagt. Jch kann
munter ſeyn; ich liebe Geſellſchaft, Mu-
ſik, Tanz und Scherz. Aber die Men-
ſchenliebe und den Wohlſtand kann ich nicht
beleidigen ſehen, ohne mein Mißvergnuͤ-
gen daruͤber zu zeigen; und dann iſt es
mir auch unmoͤglich, an geiſt- und em-
pfindungsloſen Geſpraͤchen einen angeneh-
men Unterhalt zu finden, oder von nichts-
wuͤrdigen Kleinigkeiten Tage lang reden
zu hoͤren.


O faͤnde ich nur in jeder großen Ge-
ſellſchaft oder unter den Freunden unſers
Hauſes in D. Perſon Eine wie die Stifts-
dame zu **, man wuͤrde den Ton meines
Kopfs und Herzens nicht mehr muͤrriſch
geſtimmt finden! Dieſe edelmuͤthige Da-
me lernte mich zu G. kennen, ihre erſte
Bewegung fuͤr mich war Achtung, mich
als eine Fremde etwas mehr als gezwun-
gene
[140] gene Hoͤflichkeit genießen zu laſſen. Jch
hatte das Gluͤck ihr zu gefallen, und er-
hielt dadurch den Vortheil den liebens-
wuͤrdigen Charakter ihres Geiſtes und
Herzens ganz kennen zu lernen. Nie-
mals habe ich die Faͤhigkeiten des einen
und die Empfindungen des andern in ei-
nem ſo gleichen Maaß Fein, Edel und
Stark gefunden, als in dieſer Dame.
Jhr Geiſt und die angenehme Laune, die
ihren Witz charakteriſirt, machen ſie zu
der angenehmſten Geſellſchafterin, die ich
iemals geſehen habe; [und beynahe moͤch-
te ich glauben, daß einer unſrer Dichter
an ſie gedacht habe, da er von einer lie-
benswuͤrdigen Griechin ſagte:


— Es haͤtt’ ihr Witz auch Wangen ohne

Roſen

Beliebt gemacht, ein Witz, dem’s nie an

Reiz gebrach,

Zu ſtechen oder liebzukoſen

Gleich aufgelegt, doch laͤchelnd wenn er ſtach,

Und ohne Gift — —] *)

Sie
[141]

Sie beſitzt die ſeltene Gabe, fuͤr alles was
ſie ſagt und ſchreibt, Ausdruͤcke zu finden,
ohne daß ſie das geringſte Geſuchte an ſich
haben; alle ihre Gedanken, ſind wie ein
ſchoͤnes Bild, welches die Grazien, in
ein leichtes natuͤrlich fließendes Gewand
eingehuͤllt haben. Ernſthaft, munter
oder freundſchaftlich, in jedem Licht
nimmt die Richtigkeit ihrer Denkensart
und die natuͤrliche ungeſchmuͤckte Schoͤn-
heit ihrer Seele ein; und ein Herz voll
Gefuͤhl und Empfindung fuͤr alles was
gut und ſchoͤn iſt, ein Herz, das gemacht
iſt durch die Freundſchaft gluͤcklich zu ſeyn,
und gluͤcklich zn machen, vollendet die Lie-
benswuͤrdigkeit ihres Charakters.


Nur um dieſer Dame willen, habe ich
mir zum erſten male alte Ahnen gewuͤnſcht,
damit ich Anſpruͤche auf einen Platz in
ihrem Stifte machen, und alle Tage mei-
nes
*)
[142] nes Lebens mit ihr hinbringen koͤnnte.
Die Beſchwerlichkeiten der Praͤbende
wuͤrden mir an ihrer Seite ſehr leichte
werden.


Urtheilen Sie ſelbſt, ob es mir em-
pfindlich war, dieſe liebenswuͤrdige Graͤ-
fin wieder verlaſſen zu muͤſſen; wiewohl
ſie die Guͤtigkeit hat, mich durch ihren
Briefwechſel fuͤr den Verluſt ihres reizen-
den Umgangs zu entſchaͤdigen. Sie ſol-
len Briefe von ihr ſehen, und dann ſagen,
ob ich zuviel von den Reizungen ihres
Geiſtes geſagt habe.


Die Beſcheidenheit, welche einen be-
ſondern Zug des Charakters ihrer Freun-
din, der Graͤfin von G. ausmacht, ſoll
mich, da ſie dieſen Brief nicht zu ſehen
bekommen kann, nicht verhindern, Jhnen
zu ſagen, daß dieſe vortreffliche Dame
naͤchſt jener den meiſten Antheil an dem
Wunſch hatte, mein Leben, wenn es
moͤglich geweſen waͤre, in dieſer gluͤckli-
chen Entfernung von der Welt hinzubrin-
gen. Stilles Verdienſt, das nur deſto
mehr einnimmt: weil es nicht glaͤnzen
will,
[143]will, ein feiner, durch Beleſenheit und
Kenntniſſe ausgeſchmuͤckter Geiſt, verbun-
den mit ungefaͤrbter Aufrichtigkeit und
Guͤte des Herzens, macht dieſer Dame der
Hochachtung und der Freundſchaft jeder
edlen Seele werth. Selbſt der dichte
Schleyer, den ihre, beynahe allzugroße,
wiewohl unaffectirte Beſcheidenheit uͤber
ihre Vorzuͤge wirft, erhoͤht in meinen
Augen den Werth derſelben. Selten legt
ſie dieſen anderswo als in dem Zimmer
der Graͤfin S. von ſich; deren Beyfall
ihr eine Art von Gleichguͤltigkeit gegen
alles andere Lob zu geben ſcheint; ſo wie
ſie auch der ſeltenen Geſchicklichkeit, wo-
mit ſie das Clavier ſpielt, und welche ge-
nug waͤre, hundert andere ſtolz zu ma-
chen, nur darum, weil ſie ihrer Freun-
din dadurch Vergnuͤgen machen kann, ei-
nigen Werth beyzulegen ſcheint. Jch
kann nicht vergeſſen, unter den uͤbrigen
wuͤrdigen Damen dieſes Stifts, der Graͤ-
fin T. W. welche alle ihre Tage mit uͤben-
den Tugenden bezeichnet, und einen Theil
ihrer beſondern Geſchicklichkeit, zum Un-
terricht
[144] terricht armer Maͤdchen in allerley kuͤnſt-
lichen Arbeiten verwendet, — und be-
ſonders der Fuͤrſtin, welche die Vorſte-
herin des Stifts iſt, mit der zaͤrtlichen
Ehrerbietung zu erwaͤhnen, welche Sie
durch die vollkommenſte Leutſeligkeit, eine
ſich ſelbſt immer gleiche Heiterkeit der See-
le, und die Wuͤrde voll Anmuth, womit
ſich dieſe Eigenſchaften in Jhrer ganzen
Perſon ausdruͤcken, allen die ſich Jhr
naͤhern, einfloͤßt. Wenn ich etwas benei-
den koͤnnte, ſo wuͤrde es das Gluͤck ſeyn,
unter der Leitung der erfahrnen Tugend
und Klugheit einer ſo wuͤrdigen muͤtter-
lichen Vorſteherin meine Tage hinzu-
bringen.


Jch begnuͤge mich, Jhnen, was den
Hauptpunct meiner Tante bey dieſer Rei-
ſe betrifft, zu melden, daß er vollkom-
men erreicht wurde; wir ſind nun wieder
in D. und der Menge von Beſuchen, wel-
che wir zu geben und anzunehmen hatten,
meſſen Sie die Schuld bey, daß Sie ſo
lange ohne Nachricht von mir geblieben
ſind.


Milord
[145]

Milord Seymour.
an
den Doctor T**.


Lieber Freund, ich hoͤrte Sie oft ſagen,
die Beobachtungen, die Sie auf Jhren
Reiſen, durch Deutſchland, uͤber den
Grundcharakter dieſer Nation gemacht,
haͤtte in Jhnen den Wunſch hervorge-
bracht, auf einer Seite den Tiefſinn unſrer
Philoſophen mit dem methodiſchen Vortrag
der Deutſchen, und auf der andern das
kalte und langſam gehende Blut ihrer
uͤbrigen Koͤpfe, mit der feurigen Einbil-
dungskraft der unſern, vereinigt zu ſehen.
Sie ſuchten auch lang eine Miſchung in
mir hervorzubringen, wodurch meine hef-
tigen Empfindungen moͤchten gemildert
werden, indem Sie ſagten, daß dieſes
die einzige Hinderniß ſey, warum ich in
den Wiſſenſchaften, die ich doch liebte, nie-
mals zu einer gewiſſen Vollkommenheit
gelangen wuͤrde. Sie giengen ſanft und
guͤtig mit mir um, weil Sie durch die
Zaͤrtlichkeit meines Herzens den Weg zu
Kder
[146] der Biegſamkeit meines Kopfs finden
wollten; ich weis nicht, mein theurer
Freund, wie weit Sie damit gekommen
ſind; Sie haben mich das wahre Gute
und Schoͤne erkennen und lieben gelehrt,
ich wollte auch immer lieber ſterben, als
etwas Unedles oder Boͤsartiges thun, und
doch zweifle ich, ob Sie mit der Ungeduld
zufrieden ſeyn wuͤrden, mit welcher ich
das Anſehen meines Oheims uͤber mich
ertrage. Es daͤucht mir eine dreyfache
Laſt zu ſeyn, die meine Seele in allen ihren
Handlungen hindert; Milord G. als
Oheim, als reicher Mann, den ich er-
ben ſoll, und als Miniſter dem mich
meine Stelle als Geſandſchaftsrath
unterwirft.
Fuͤrchten Sie dennoch
nicht, daß ich mich vergeſſe, oder Milor-
den beleidige; nein, ſo viel Gewalt habe
ich uͤber meine Bewegungen; ſie werden
durch nichts anders ſichtbar, als eine toͤd-
tende Melancholie, die ich vergebens zu
unterdruͤcken ſuche; aber warum mache
ich ſo viele Umſchweife, um Jhnen am
Ende meines Briefes etwas zu ſagen, das
ich
[147] ich gleich Anfangs ſagen wollte, daß ich
in einer jungen Dame die ſchoͤne und
gluͤckliche Miſchung der beyden National-
charaktere geſehen habe. Jhre Großmut-
ter muͤtterlicher Seite war eine Tochter des
alten Sir Watſon, und ihr Vater, der
verdienſtvolle Mann, deſſen Andenken
in dem edelſten Ruhme bluͤhte. Dieſe
junge Dame iſt eine Freundin des Fraͤu-
lein C*, von welchem ich Jhnen ſchon ge-
ſchrieben habe, das Fraͤulein Sternheim
iſt aber erſt ſeit einigen Wochen hier und
zwar zum erſtenmal: vorher war ſie im-
mer auf dem Lande geweſen. Erwarten
Sie keine Ausrufungen uͤber ihre Schoͤn-
heit; aber glauben Sie mir, wenn ich
ſage, daß alle moͤgliche Grazien, deren die
Bildung und Bewegung eines Frauen-
zimmers faͤhig iſt, in ihr vereinigt
ſind; eine holde Ernſthaftigkeit in ihrem
Geſicht, eine edle anſtaͤndige Hoͤflichkeit
in ihrem Bezeugen, die aͤußerſte Zaͤrtlich-
keit gegen ihre Freundin, eine anbetungs-
wuͤrdige Guͤte und die feinſte Empfind-
ſamkeit der Seele; iſt dieß nicht die Staͤrke
K 2des
[148] des engliſchen Erbes von ihrer Großmut-
ter? *) Einen mit Wiſſenſchaft und richti-
gen Begriffen gezierten Geiſt, ohne das
geringſte Vorurtheil, maͤnnlichen Muth
Grundſaͤtze zu zeigen und zu behaupten,
viele Talente mit der liebenswuͤrdigſten
Sittſamkeit verbunden; dieſes gab ihr
der rechtſchaffene Mann, der das Gluͤck
hatte ihr Vater zu ſeyn. Nach dieſer
Beſchreibung, mein Freund, koͤnnen Sie
den Eindruck beurtheilen, welchen ſie auf
mich machte. Niemals, niemals iſt
mein Herz ſo eingenommen, ſo zufrieden
mit
[149] mit der Liebe geweſen! Aber was werden
Sie dazu ſagen, daß man dieſes edle rei-
zende Maͤdchen zu einer Maitreſſe des
Fuͤrſten beſtimmt? daß mir Milord ver-
boten ihr meine Zaͤrtlichkeit zu zeigen, weil
der Graf F. ohnehin befuͤrchtet, man wer-
de Muͤhe mit mir haben? Doch behauptet
er, daß ſie deswegen an den Hof gefuͤhrt
worden ſey. Jch zeigte meinem Oncle
alle Verachtung, die ich wegen dieſer
Jdee auf den Grafen Loͤbau, ihren On-
cle geworfen; ich wollte das Fraͤulein von
dem abſcheulichen Vorhaben benachrichti-
gen, und bat Milorden fußfaͤllig, mir
zu erlauben, durch meine Vermaͤhlung
mit ihr, ihre Tugend, ihre Ehre und ihre
Annehmlichkeiten zu retten. Er bat mich,
ihn ruhig anzuhoͤren, und ſagte mir; er
ſelbſt verehrte das Fraͤulein, und ſey uͤber-
zeugt, daß ſie das ganze ſchaͤndliche Vor-
haben zernichten werde; und er gab mir
die Verſicherung, daß, wenn ſie ihrem wuͤr-
digen Charakter gemaͤß handle, er ſich ein
Vergnuͤgen davon machen wolle, ihre Tu-
gend zu kroͤnen. „Aber ſo lange der ganze
K 3Hof
[150] Hof ſie als beſtimmte Maitreſſe anſieht,
werde ich nichts thun. Sie ſollen keine
Frau von zweydeutigem Ruhme nehmen;
halten Sie ſich an das Fraͤulein C*,
durch dieſe koͤnnen Sie alles von den Ge-
ſinnungen der Sternheim erfahren; ich
will Jhnen von den Unterhandlungen
Nachricht geben, die der Graf F. auf
ſich genommen hat. Alle Zuͤge des Cha-
rakters des Fraͤuleins geben mir Hoffnung
zu einem Triumphe der Tugend. Aber er
muß vor den Augen der Welt erlanget
werden.“


Mein Oheim erregte in mir die Begier-
de, den Fuͤrſten gedemuͤthigt zu ſehen, und
ich ſtellte mir den Widerſtand der Tu-
gend als ein entzuͤckendes Schauſpiel vor.
Dieſe Gedanken brachten mich dahin, mei-
ne ganze Auffuͤhrung nach der Vorſchrift
meines Oheims einzurichten. Milord
Derby hat mir einen neuen Bewegungs-
grund dazu gegeben. Er ſah ſie, und
faßte gleich eine Begierde nach den ſeltnen
Reizungen die ſie hat; denn Liebe kann
man ſeine Neigung nicht nennen. Er iſt
mir
[151] mir mit ſeiner Erklaͤrung ſchon zuvorge-
kommen; wenn er ſie ruͤhrt, ſo iſt mein
Gluͤck hin; eben ſo hin, als wenn ſie der
Fuͤrſt erhielte; dann wenn ſie einen Ruch-
loſen lieben kann, ſo haͤtte ſie mich nie-
mals geliebt. Aber ich bin elend, hoͤchſt
elend durch die zaͤrtlichſte Liebe fuͤr einen
wuͤrdigen Gegenſtand, den ich ungluͤckli-
cher weiſe mit den Fallſtricken des Laſters
umgeben ſehe. Die Hoffnung in ihre
Grundſaͤtze, und die Furcht der menſchli-
chen Schwachheit martern mich wechſels-
weiſe. Heute, mein Freund, heute wird
ſie in der Hofcomoͤdie dem Blick des Fuͤr-
ſten zum erſtenmal ausgeſetzt; ich bin
nicht wohl; aber ich muß hingehen, wenn
es mir das Leben koſten ſollte.


Jch lebe auf, mein Freund, der Graf
von F. zweifelt, daß man etwas uͤber
den Geiſt des Fraͤuleins gewinnen werde.


Milord befahl mir, mich in der Comoͤ-
die nahe an ihn zu halten. Das Fraͤu-
lein kam mit ihrer unwuͤrdigen Tante in
die Loge der Graͤfin F.; ſie ſah ſo liebens-
wuͤrdig aus, daß es mich ſchmerzte.
K 4Eine
[152] Eine Verbeugung, die ich zugleich mit
Milord an die drey Damen machte, war
der einzige Augenblick, wo ich mir ge-
trauete ſie anzuſehen. Bald darauf war
der ganze Adel und der Fuͤrſt ſelbſt da, deſ-
ſen luͤſternes Auge ſogleich auf die Loge
der Graͤfin F. gewendet war; das Fraͤulein
verbeugte ſich mit ſo vieler Anmuth, daß
ihn auch dieſes haͤtte aufmerkſam machen
muͤſſen, wenn es ihre uͤbrige Reize nicht
gethan haͤtten. Er redete ſogleich mit
dem Grafen F. und ſah wieder auf das
Fraͤulein, die er jetzt beſonders gruͤßte.
Alle Augen waren auf ſie geheftet, aber
eine kleine Weile darauf verbarg ſich das
Fraͤulein halb hinter der Graͤſinn F. Die
Opera gieng an; der Fuͤrſt redete viel
mit F. der endlich in die Loge ſeiner Ge-
mahlinn gieng, um Milorden und den Graͤ-
finnen zu verweiſen, daß ſie dem Fraͤulein
den Platz wegnaͤhmen, da ſie beyde das
Spiel ſchon oft, das Fraͤulein aber es
noch niemals geſehen haͤtte.


Die Damen ſeyn nicht Urſache, Herr
Graf, ſagte das Fraͤulein, etwas ernſthaft;
ich
[153] ich habe dieſen Platz gewaͤhlt, ich ſehe ge-
nug und gewinne dabey das Vergnuͤgen,
weniger geſehen zu werden.


„Aber Sie berauben ſo viele des Ver-
gnuͤgens Sie zu ſehen?“ — Daruͤber
haͤtte ſie nur eine Verbeugung gemacht,
die an ſich nichts als Geringſchaͤtzigkeit
ſeines Compliments angezeigt habe. Er
haͤtte ihre Meynung von der Comoͤdie be-
gehrt; darauf haͤtte ſie wieder mit einem
ganz eignen Ton geſagt: Sie wundere
ſich nicht, daß dieſe Ergoͤtzlichkeit von ſo
vielen Perſonen geliebt wuͤrde.


„Jch wuͤnſche aber zu wiſſen, wie es
Jhnen gefaͤllt, was Sie davon denken?
Sie ſehen ſo ernſthaft.“


Jch bewundere die vereinigte Muͤhe ſo
vieler Arten von Talente.


„Jſt das Alles was Sie dabey thun,
empfinden Sie nichts fuͤr die Heldin oder
den Helden?


Nein, Herr Graf, nicht das geringſte;
haͤtte Sie mit Laͤcheln geantwortet.


K 5Man
[154]

Man ſpeiſte bey der Fuͤrſtin von W*;
der Fuͤrſt, die Geſandſchaften und uͤbri-
gen Fremde, worunter der Graf Loͤbau,
Oncle des Fraͤulein Sternheims, auch ge-
rechnet wurde. Die Graͤfin F* ſtellte das
Fraͤulein mit vielem Gepraͤnge dem Fuͤrſten
vor. Dieſer affectirte viel von ihrem Va-
ter zu ſprechen. Das Fraͤulein ſoll kurz
und in einem geruͤhrten Tone geantwortet
haben. Die Tafel war vermengt, im-
mer ein Cavalier bey einer Dame. Graf
F. ein Neffe des Miniſters war an der
Seite des Fraͤuleins, welche gerade ſo ge-
ſetzt wurde, daß ſie der Fuͤrſt in Geſicht
hatte; er ſah ſie unaufhoͤrlich an. Jch
nahm mich in Acht, nicht oft nach dem
Fraͤulein zu ſehen; doch bemerkte ich Un-
zufriedenheit an ihr. Man hob die Ta-
fel bald auf, um zu ſpielen; die Prinzeſ-
ſin nahm das Fraͤulein zu ſich, gieng bey
den Spieltiſchen mit ihr herum, ſetzte ſich
auf den Sopha, und redete ſehr freund-
lich mit ihr. Der Fuͤrſt kam, nachdem
er eine Tour mit Milorden geſpielt hatte,
auch dazu.


Den
[155]

Den zweeten Tag ſagte Graf F. zu Mi-
lord; er wuͤnſchte dem Loͤbau alles Boͤſe
[auf] den Hals, das Fraͤulein hieher ge-
bracht zu haben. Sie iſt ganz dazu ge-
macht, um eine heftige Leidenſchaft zu er-
wecken; aber ein Maͤdchen, das keine
Eitelkeit auf ihre Reize hat, bey einem
Schauſpiel nichts als die vereinigte Muͤ-
he von vielerley Talenten betrachtet, an
einer ausgeſuchten Tafel nichts als eine
Aepfel-Compotte ißt, Waſſer dazu trinkt,
an einem Hofe nach dem Hauſe eines
Landpfarrers ſeufzet, und bey allem dem
voll Geiſt und voll Empfindung iſt, —
ein ſolches Maͤdchen iſt ſchwer zu ge-
winnen!


Gott wolle es, dacht’ ich; lange kann
ich den gewaltſamen Stand, in dem ich
bin, nicht aushalten!


Schreiben Sie mir bald; ſagen Sie
mir, was Sie von mir denken, und was
ich haͤtte thun ſollen.


Das
[156]

Das Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.


O meine Emilia! wie noͤthig iſt mir ei-
ne erquickende Unterhaltung mit einer zaͤrt-
lichen und tugendhaften Freundin!


Wiſſen Sie, daß ich den Tag, an dem
ich mich zu der Reiſe nach D. bereden ließ,
fuͤr einen ungluͤcklichen Tag anſehe. Jch
bin ganz aus dem Kreiſe gezogen worden,
den ich mit einer ſo ſeligen Ruhe und Zu-
friedenheit durchgieng. Jch bin hier
Niemanden, am wenigſten mir ſelbſt,
nuͤtze; das Beſte, was ich denke und em-
pfinde, darf ich nicht ſagen, weil man
mich laͤcherlich-ernſthaft findet; und
ſo viel Muͤhe ich mir gebe, aus Gefaͤllig-
keit gegen die Perſonen, bey denen ich bin,
ihre Sprache zu reden, ſo iſt doch meine
Tante ſelten mit mir zufrieden, und ich,
Emilia, noch ſeltner mit ihr. Jch bin
nicht eigenſinnig, mein Kind, in Wahr-
heit ich bin es nicht; ich fodere nicht, daß
jemand hier denken ſolle, wie ich; ich ſehe
zu
[157] zu ſehr ein, daß es eine moraliſche Unmoͤg-
lichkeit iſt. Jch nehme keinem uͤbel, daß
der Morgen am Putztiſche, der Nachmittag
in Beſuchen, der Abend und die Nacht
mit Spielen hingebracht wird. Es iſt
hier die große Welt, und dieſe hat die
Einrichtung ihres Lebens mit dieſer Haupt-
eintheilung angefangen. Jch bin auch
ſehr von der Verwunderung zuruͤckgekom-
men, in die ich ſonſt gerieth, wenn ich an
Perſonen, die meine ſelige Großmama be-
ſuchten, einen ſo großen Mangel an gu-
ten Kenntniſſen ſah, da ſie doch von Na-
tur mit vielen Faͤhigkeiten begabt waren.
Es iſt nicht moͤglich, meine Liebe, daß
eine junge Perſon in dieſem betaͤubenden
Geraͤuſche von lermenden Zeitvertreiben
einen Augenblick finde, mich zu ſammeln.
Kurz, alle hier, ſind an dieſe Lebensart und
an die herrſchenden Begriffe von Gluͤck
und Vergnuͤgen gewoͤhnt, und lieben ſie
eben ſo, wie ich die Grundſaͤtze und Be-
griffe liebe, welche Unterricht und Bey-
ſpiel in meine Seele gelegt haben. Aber
man iſt mit meiner Nachſicht, mit meiner
Billigkeit
[158] Billigkeit nicht zufrieden; ich ſoll denken
und empfinden wie ſie, ich ſoll freudig
uͤber meinen wohlgerathnen Putz, gluͤck-
lich durch den Beyfall der andern, und
entzuͤckt uͤber den Entwurf eines Soupe’,
eines Bal’s werden. Die Opera, weil
es die erſte war, die ich ſah, haͤtte mich
außer mir ſelbſt ſetzen ſollen, und der Him-
mel weis, was fuͤr elendes Vergnuͤgen ich
in dem Lob des Fuͤrſten habe finden ſollen.
Alle Augenblicke wurde ich in der Comoͤ-
die gefragt: Nun wie gefaͤllts ihnen,
Fraͤulein?


Gut, ſagte ich ganz gelaſſen; es iſt
vollkommen nach der Jdee, die ich mir von
dieſen Schauſpielen machte. Da war
man mißvergnuͤgt, und ſah mich als eine
Perſon an, die nicht wiſſe was ſie rede.
Es mag ſeyn, Emilia, daß es ein Fehler
meiner Empfindungen iſt, daß ich die
Schauſpiele nicht liebe, und ich halte es
fuͤr eine Wirkung des Eindrucks, den die
Beſchreibung des Laͤcherlichen und Unna-
tuͤrlichen eines auf dem Schlachtfeld ſin-
genden Generals und einer ſterbenden
Liebha-
[159] Liebhaberin, die ihr Leben mit einem Tril-
ler ſchließt, ſo ich im engliſchen geleſen
habe, auf mich machte. Jch kann auch
niemand tadeln, der dieſe Ergoͤtzlichkeiten
liebt. Wenn man die Verbindung ſo vie-
ler Kuͤnſte anſieht, die fuͤr unſer Aug und
Ohr dabey arbeiten, ſo iſt ſchon dieſes
angenehm zu betrachten; und ich finde
nichts natuͤrlicher, als die Leidenſchaften,
die eine Actrice oder Taͤnzerinn einfloͤßt.
Die Jntelligenz, (laſſen Sie mir dieſes
Wort) mit welcher die erſte ihre Rolle
ſpielt, da ſie ganz in dem Charakter, den
ſie vorſtellt, eintritt, von edlen zaͤrtlichen
Geſinnungen mit voller Seele redt, ſelbſt
ſchoͤn dabey iſt, und die ausgeſuchte Klei-
dung, die affectvolleſte Muſik; mit allen
Verzierungen des Theaters dabey zu Ge-
huͤlfen hat, — wo will ſich der junge
Mann retten, der mit einem empfindlichen
Herzen in den Saal tritt, und da von
Natur und Kunſt zugleich beſtuͤrmt wird?


Die Taͤnzerinn, von muntern Grazien
umgeben, jede Bewegung voll Reiz, in
Wahrheit, Emilia, man ſoll ſich nicht
wundern,
[160] wundern, nicht zanken, wenn ſie geliebt
wird! Doch duͤnkt mich der Liebhaber der
Actrice edler als der von der Taͤnzerin.
Jch habe irgendwo geleſen, daß die Linie
der Schoͤnheit fuͤr den Mahler und Bild-
hauer ſehr fein gezogen ſey; geht er daruͤ-
ber, ſo iſt ſie verlohren; bleibt er unter
ihr, ſo fehlt ſeinem Werk die Vollkom-
menheit.


Die Linie der ſittlichen Reize der Taͤn-
zerin duͤnkt mich eben ſo fein gezogen;
dann ſie ſchien mir ſehr oft uͤbertreten zu
werden.


Ueberhaupt bin ich es ſehr zufrieden,
ein Schauſpiel geſehen zu haben, weil die
Vorſtellung, die ich davon hatte, da-
durch ganz beſtimmt worden iſt; aber ich
bin es auch zufrieden, wenn ich keines
mehr ſehe.


Nach der Comoͤdie ſpeiſte ich mit der
Prinzeſſin von W*, da wurde ich dem
Fuͤrſten vorgeſtellt. Was ſoll ich Jhnen
davon ſagen? Daß er ein ſchoͤner Mann
und ſehr hoͤflich iſt, daß er meinen wer-
then Papa ſehr gelobt hat, und daß ich
mißver-
[161] mißvergnuͤgt damit war. Ja, meine
Emilia, ich kann nicht mehr ſo froh uͤber
die Lobſpruͤche ſeyn, die man ihm giebt;
der Ton, worinn es geſchieht, klingt mir
gerade, als wenn man ſagte: Jch weiß,
daß ſie von ihrem Vater ſehr eingenom-
men ſind, ich ſage ihnen alſo Gutes von
ihm. Und dann, mein Kind, muß ich
Jhnen ſagen, daß die Blicke, die der Fuͤrſt
auf mich warf, auch das Beſte verdor-
ben haͤtten, das er haͤtte ſagen koͤnnen.


Was fuͤr Blicke, meine Liebe! Gott
bewahre mich, ſie wieder zu ſehen! Wie
haßte ich die Spaniſche Kleidung, die
mir nichts als eine Palatine erlaubte.
Waͤre ich jemals auf meine Leibesgeſtalt
ſtolz geweſen, ſo haͤtte ich geſtern dafuͤr
gebuͤßt. Der bitterſte Schmerz durch-
drang mich bey dem Gedanken, der Ge-
genſtand ſo haͤßlicher Blicke zu ſeyn.
Meine Emilia, ich mag nicht mehr hier
ſeyn; ich will zu Jhnen, zu den Gebeinen
meiner Aeltern. Die Graͤfin R. bleibt zu
lange weg.


LHeute
[162]

Heute erzaͤhlte mir die Graͤfin F. mit
vielem Wortgepraͤnge das Lob des Fuͤr-
ſten uͤber meine Perſon und meinen Geiſt.


Morgen giebt der Graf ein großes
Mittageſſen, und ich ſoll dabey ſeyn.
Niemals, ſeitdem ich hier bin, hatte ich
die Empfindungen eines Vergnuͤgens nach
meinem Geſchmack. Die Freundſchaft
des Fraͤulein C* war das Einzige, was
mich erfreute; aber auch dieſe iſt nicht
mehr was ſie war. Sie ſpricht ſo kalt;
ſie beſucht mich nicht mehr; wir kommen
beym Spiel nicht mehr zuſammen; und
wenn ich mich ihr, oder dem Milord
Seymour naͤhere, welche immer zuſam-
men reden, ſo ſchweigen ſie, und Milord
entfernt ſich traurig, bewegt; und das
Fraͤulein ſieht ihm nach, und iſt zerſtreut.
Was ſoll ich benken? Will das Fraͤulein
nicht, daß ich Milorden ſpreche? Geht er
weg, um ihr ſeine vollkommene Ergeben-
heit zu zeigen? Denn er redt mit keiner
andern Seele als mit ihr. O mein Kind,
wie fremd iſt mein Herz in dieſem Lande!
Jch, die mein Gluͤck fuͤr anderer ihres hin-
gaͤbe,
[163] gaͤbe, ich muß die Sorge ſehen, daß ich es
zu ſtoͤren denke. Liebes Fraͤulein C*, ich will
Jhnen dieſe Unruhe nehmen; denn ich wer-
de meinen Augen das Vergnuͤgen verſagen,
Milord Seymour anzuſchauen. Meine
Blicke waren ohnehin fluͤchtig genug. Jch
will Sie ſelbſt nicht mehr aufſuchen, wenn
Sie in einem gluͤcklichen Geſpraͤche mit
dem liebenswerthen Manne begriffen
ſind. — Sie ſollen ſehen, daß Sophie
Sternheim das Gluͤck ihres Herzens durch
keinen Raub zu erhalten ſucht! — Emi-
lia, eine Thraͤne fuͤllte mein Auge bey
dieſem Gedanken. Aber der Verluſt ei-
ner geliebten Freundin, der einzigen, die
ich hier hatte, der Verluſt des Umgangs
eines wuͤrdigen Mannes, den ich hochſchaͤ-
tze, dieſer Verluſt verdient eine Thraͤne.
D. wird mich keine andre koſten; Mor-
gen, mein Kind, Morgen wuͤnſche ich ab-
zureiſen.


Warum ſagt mir Jhr Brief nichts von
meinem Pflegvater; warum nichts von
Jhrer Reiſe und von Jhrem Geſell-
ſchafter?


L 2Emilia,
[164]

Emilia, Jhre Briefe, Jhre Liebe und
Vertrauen ſind alles Gute, ſo ich noch er-
warte.


D. hat nichts — nichts fuͤr mich.



Milord Derby
an
ſeinen Freund in Paris.


Bald werde ich deinen albernen Erzaͤh-
lungen ein Ende machen, die ich bisher
nur deswegen geduldet, weil ich ſehen
wollte, wie weit du deine Pralerey in
dem Angeſichte deines Meiſters treiben
wuͤrdeſt. Auch ſollteſt du heute die Gei-
ſel meiner Satyre fuͤhlen, wenn ich nicht
im Sinne haͤtte, dir den Entwurf einer
deutſch-galanten Hiſtorie zu zeigen, zu
deren Ausfuͤhrung ich mich fertig mache.
Was wollen die Pariſer Eroberungen ſa-
gen, die du nur durch Gold erhaͤltſt?
Dann was wuͤrde ſonſt eine Franzoͤſin
mit deinem breiten Geſicht und hagern
Figuͤrchen machen, die Eroberungen der
Herren
[165] Herren Milords in Paris, was ſind die?
Eine Coquette, eine Actrice, beyde artig
einnehmend; aber ſie waren es ſchon fuͤr
ſo viel Leute, daß man ein Thor ſeyn
muß, ſich daruͤber zu beloben. War ich
nicht auch da, meine ſchoͤnen Herren?
und weiß ich nicht ganz ſicher, daß die
wohlerzogene Tochter eines angeſehenen
Hauſes und die geiſtvolle achtungswerthe
Frau gar nicht die Bekanntſchaften ſind,
die man uns machen laͤßt? Alſo prahle
mir nicht mehr, mein guter B*, denn von
Siegen wie die eurige, iſt kein Triumph-
lied zu ſingen. Aber ein den Goͤttern ge-
widmetes Meiſterſtuͤck der Natur und der
Kunſt zu erbeuten, den Argus der Klug-
heit und Tugend einzuſchlaͤfern, Staats-
miniſter zu betruͤgen, alle weitherge-
ſuchte Vorbereitungen eines gefaͤhrlichen
und geliebten Nebenbuhlers zu zernichten,
ohne daß man die Hand gewahr wird,
welche an der Zerſtoͤrung arbeitet; dieß
verdient angemerkt zu werden!


Du weißt, daß ich der Liebe niemals
keine andere Gewalt als uͤber meine Sin-
L 3nen
[166] nen gelaſſen habe, deren feinſtes und leb-
hafteſtes Vergnuͤgen ſie iſt. Daher war
die Wahl meiner Augen immer fein, da-
her meine Gegenſtaͤnde immer abgewech-
ſelt. Alle Claſſen von Schoͤnheiten haben
mir gefroͤhnet; ich wurde ihrer ſatt, und
ſuchte nun auch die Haͤßlichkeit zu meiner
Sclavin zu machen; nach dieſer mußten
mir Talente und Charakter unterwuͤrfig
werden. Wie viel Anmerkungen koͤnnten
nicht die Philoſophen und Moraliſten uͤber
die feinen Netze und Schlingen machen,
in denen ich die Tugend, oder den Stolz,
die Weisheit, oder den Kaltſinn, die Co-
quetterie, und ſelbſt die Froͤmmigkeit der
ganzen weiblichen Welt gefangen habe.
Jch dachte ſchon mit Salomo, daß fuͤr
mich nichts neues mehr unter der Sonne
waͤre. Aber Amor lachte meiner Eitelkeit.
Er fuͤhrte aus einem elenden Landwinkel
die Tochter eines Oberſten herbey, deren
Figur, Geiſt und Charakter ſo neu und
reizend iſt, daß meinen vorigen Unterneh-
mungen die Crone fehlte, wenn ſie mir
entwiſchen ſollte. Wachſam muß ich
ſeyn;
[167] ſeyn; Seymour liebt ſie; laͤßt ſich aber
durch Milord G. leiten, weil dieſe Roſe
fuͤr den Fuͤrſten beſtimmt iſt, bey dem ſie
einen Proceß fuͤr ihren Oheim gewinnen
ſoll. Der Sohn des Grafen F. bietet
ſich zur Vermaͤhlung mit ihr an, um den
Mantel zu machen; wenn ſie ihn aber
liebt, ſo will er die Anſchlaͤge des Grafen
Loͤbau und ſeines Vaters zu nichte ma-
chen; der ſchlechte Pinſel! er ſoll ſie nicht
haben. Seymour mit ſeiner ſchwermuͤ-
thigen Zaͤrtlichkeit, die auf den Triumph
ihrer Tugend wartet, auch nicht; und der
Fuͤrſt — der iſt ſie nicht werth! Fuͤr
mich ſoll ſie gebluͤht haben, das iſt feſt-
geſetzt; allem meinem Verſtand iſt aufge-
boten, ihre ſchwache Seite zu finden.
Empfindlich iſt ſie; ich hab’ es ihren
Blicken angeſehen, die ſie manchmal auf
Seymouren wirft, wenn es gleich ich bin,
der mit ihr redet. Freymuͤthig iſt ſie
auch; dann ſie ſagte mir, es duͤnkte ſie,
daß es meinem Herzen an Guͤte fehle.
Halten ſie Milord Seymour fuͤr beſſer als
mich? fragte ich ſie. Sie erroͤthete, und
L 4ſagte,
[168] ſagte, er waͤre es. Damit hat ſie mir
eine wuͤthende Eiferſucht gegeben, aber
zugleich den Weg zu ihrem Herzen gezeigt.
Jch bin zu einer beſchwerlichen Verſtellung
gezwungen, da ich meinen Charakter zu
einer Harmonie mit dem ihrigen ſtimmen
muß. Aber es wird eine Zeit kommen,
wo ich ſie nach dem meinigen bilden wer-
de. Dann mit ihr werd’ ich dieſe Muͤhe
nehmen, und gewiß, ſie ſoll neue Ent-
deckungen in dem Lande des Vergnuͤgens
machen, wenn ihr aufgeklaͤrter und feiner
Geiſt alle ſeine Faͤhigkeiten dazu anwen-
den wird. Aber das Lob ihrer Annehm-
lichkeiten und Talenten ruͤhrt ſie nicht;
die allgemeinen Kennzeichen einer einge-
floͤßten Leidenſchaft ſind ihr auch gleich-
guͤltig. Hoheit des Geiſtes und Guͤte
der Seele ſcheinen in einem ſeltenen
Grad in ihr verbunden zu ſeyn; ſo wie
in ihrer Perſon alle Reize der vortrefflich-
ſten Bildung mit dem ernſthaften Weſen,
welches große Grundſaͤtze geben, verei-
nigt ſind. Jede Bewegung, die ſie macht,
der bloße Ton ihrer Stimme, lockt die Lie-
be
[169] be zu ihr; und ein Blick, ein einziger un-
gekuͤnſtelter Blick ihrer Augen, ſcheint ſie
zu verſcheuchen; ſo eine reine unbefleckte
Seele wird man in ihr gewahr. — Halt
einmal: wie komme ich zu dieſem Ge-
ſchwaͤtz? — So lauteten die Briefe des
armen Seymour, da er in die ſchoͤne
Y** verliebt war: ſollte mich dieſe Land-
jungfer auch zum Schwaͤrmer machen?
So weit es zu meinen Abſichten dient,
mag es ſeyn; aber, beym Jupiter, ſie
ſoll mich ſchadlos halten! Jch habe Mi-
lords G**s zweyten Secretair gewonnen?
der Kerl iſt ein halber Teufel. Er hatte
die Theologie ſtudirt, aber ſie wegen der
ſtrengen Strafe, die er uͤber eine Buͤbe-
rey leiden muͤſſen, verlaſſen; und ſeitdem
ſucht er ſich an allen frommen Leuten zu
raͤchen. Es iſt gut, wenn man ihren
Stolz demuͤthigen kann, ſagte er; durch
ihn will ich Milord Seymouren ausfor-
ſchen. Er kann den letzten, wegen der
Moral, die er immer predigt, nicht aus-
ſtehen. Du ſiehſt, daß der Theologe ei-
ne ſtarke Verwandlung erlitten hat? aber
L 5ſo
[170] ſo einen Kerl brauche ich jetzt, weil ich ſelbſt
nicht frey agieren kann; heute nichts
mehr, man unterbricht mich.



Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.


Emilia! ich erliege faſt unter meinem
Kummer; mein Pflegvater todt! warum
ſchrieben Sie mir, oder doch Roſinen
nichts, als da alles vorbey war? Die gu-
te Roſine vergeht vor Jammer. Jch ſu-
che ſie zu troͤſten, und meine eigne See-
le iſt niedergeſchlagen. Meine werthe
Freundin, die Erde deckt nun das Beſte,
das ſie uns gegeben hatte, guͤtige vereh-
rungswuͤrdige Aeltern! — Kein Herz
kennt Jhren Verluſt ſo wohl als das mei-
nige; ich empfinde Jhren Schmerz dop-
pelt. — Warum konnte ich ſeinen See-
gen nicht ſelbſt hoͤren? Warum benetzen
meine Thraͤnen ſeine heilige Grabſtaͤtte
nicht? da ich mit gleichen kindlichen Ge-
ſinnungen
[171] ſinnungen wie ſeine Tochter um ihn wei-
ne. — Die arme Roſine! Sie knieet bey
mir, ihr Kopf liegt auf meinem Schooße,
und ihre Thraͤnen traͤufeln auf die Erde.
Jch umarme ſie und weine mit. Gott laſſe
durch unſern Kummer Weisheit in unſrer
Seele aufbluͤhen; und erfuͤlle dadurch den
letzten Wunſch unſerer Vaͤter; beſonders
den, welchen mein Pflegevater fuͤr ſeine
Emilia machte, da ſeine zitternde Hand
noch ihre Ehre einſegnete, und ſie ſo dem
Schutz eines treuen Freundes uͤbergab.
Tugend und Freundſchaft ſey mein und
Roſinens Theil, bis die Reyhe des Loo-
ſes der Sterblichkeit auch uns in einer
gluͤckſeligen Stunde trifft! moͤchte als-
dann ein edles Herze mir Dank fuͤr das
gegebene Beyſpiel im Guten nachrufen,
und ein durch mich erquickter Armer mein
Andenken ſegnen! Dann wuͤrde der Weiſe,
der Menſchenfreund ſagen koͤnnen, daß ich
den Werth des Lebens gekannt habe!


Jch kann nicht mehr ſchreiben, unſre
Roſine gar nicht; ſie bittet um ihres
Bruders und ihrer Schweſter Liebe, und
will
[172] will immer bey mir leben. Jch hoffe, Sie
ſind es zufrieden, und befeſtigen dadurch
das Band unſrer Freundſchaft. Edel-
muth und Guͤte ſoll es unzertrennlich ma-
chen. Jch umarme meine Emilia mit
Thraͤnen; Sie glauben nicht, wie traurig
mir iſt, daß ich dieſen Brief ſchließen
muß, ohne etwas an meinem vaͤterlichen
Freund beyzuſetzen. Ewige Gluͤckſeligkeit
lohne ihn und meinen Vater! Laſſen Sie
uns, meine Emilia, meine Roſina, ſo
leben, daß wir ihnen einmal als wuͤrdi-
ge Erbinnen ihrer Tugend und Freund-
ſchaft dargeſtellt werden koͤnnen!



Milord Seymour
an
den Doctor B.


Jmmer wird mir das Fraͤulein liebens-
wuͤrdiger und ich — ich werde immer
ungluͤcklicher. Der Fuͤrſt und Derby ſu-
chen ihre Hochachtung zu erwerben; bey-
de ſehen, daß dieß der einzige Weg zu ih-
rem
[173] rem Herzen iſt. Der doppelte Eigenſinn,
den meine Leidenſchaft angenommen, hin-
dert mich ein Gleiches zu thun. Jch bin
nur bemuͤht ſie zu beobachten, und eine
untadelhafte Auffuͤhrung zu haben. Sie
hingegen meidet mich und das Fraͤulein
C*. Jch hoͤre ſie nicht mehr reden; aber
die Erzaͤhlungen des Derby, dem ſie Ach-
tung erweiſet, ſind mir beſtaͤndige Bewei-
ſe des Adels ihrer Seele. Jch glaube,
daß ſie die erſte tugendhafte Bewegung in
ſein Herz gebracht hat. Denn vor eini-
gen Tagen ſagt’ er mir; er haͤtte das
Fraͤulein in eine Geſellſchaft fuͤhren ſol-
len, und wie er in ihr Zimmer gegangen
ſie abzuholen, habe er ihre Cammerjung-
fer vor ihr knieen geſehen; das Fraͤulein
ſelbſt halb angezogen, ihre ſchoͤnen Haare
auf Bruſt und Nacken zerſtreut, ihre Ar-
me um das knieende Maͤdchen geſchlungen,
deren Kopf ſie an ſich gedruͤckt, waͤhrend
ſie ihr mit beweglicher Stimme von dem
Werth des Todes der Gerechten und der
Belohnung der Tugend geſprochen. Thraͤ-
nen waͤren aus ihren Augen gerollt, die
ſie
[174] ſie endlich gen Himmel gehoben, und das
Andenken ihres Vaters und noch eines
Mannes fuͤr ihren Unterricht geſegnet haͤt-
te. Dieſer Anblick haͤtte ihn ſtaunen ge-
macht; und wie das Fraͤulein ihn gewahr
worden, habe ſie gerufen: „O Milord,
„ſie ſind gar nicht geſchickt mich in dieſem
„Augenblicke zu unterhalten; haben ſie
„die Guͤte zu gehen, und mich bey meiner
„Tante zu entſchuldigen; ich werde heute
„niemand ſehen.“ Das feyerliche und
ruͤhrende Anſehen, ſo ſie gehabt, haͤtte ihm
ihren Vorwurf zweyfach verbittert, da er
die Geringſchaͤtzung gefuͤhlt, die ſie fuͤr
ſeine Denkungsart habe. Er haͤtte auch
geantwortet; wenn ſie die Ehrfurcht ſe-
hen koͤnnte, die er in dieſem Augenblicke
fuͤr ſie fuͤhlte, ſo wuͤrde ſie ihn ihres Ver-
trauens wuͤrdiger achten. Da ſie aber,
ohne ihm zu antworten, ihren Kopf auf
den von ihrem Maͤdchen gelegt, waͤre er
fortgegangen, und haͤtte von der Graͤfin
L* gehoͤrt, daß ihre Scene den Tod des
Pfarrers von P. angienge, der das Fraͤu-
lein zum Theil erzogen und der Vater ih-
rer
[175] rer Cammerjungfer geweſen; der Graf Loͤ-
bau und ſeine Gemahlin waͤren froh, daß
der ſchwaͤrmeriſche Briefwechſel, den das
Fraͤulein mit dieſem Manne unterhalten,
nun ein Ende haͤtte, und man ſie auf
eine ihrem Stande gemaͤßere Denkungs-
art leiten koͤnne. Sie waͤren auch beyde
mit ihm zu dem Fraͤulein gegangen, und
haͤtten ihr ihre Traurigkeit und den Ent-
ſchluß verwieſen, daß ſie nicht in die Ge-
ſellſchaft gehen wolle. Meine Tante, ha-
be ſie geantwortet, ſo viele Wochen habe
ich der ſchuldigen Gefaͤlligkeit gegen ſie,
und den Gewohnheiten des Hofes aufge-
opfert; die Pflichten der Freundſchaft und
der Tugend moͤgen wohl auch einen Tag
haben! Ja, habe die Graͤfinn verſetzt,
aber deine Liebe iſt immer nur auf eine
Familie eingeſchraͤnkt geweſen; du biſt
gegen die Achtung und Zaͤrtlichkeit, ſo
man dir hier beweiſt, zu wenig empfind-
lich. Das Fraͤulein: Meine gnaͤdi-
ge Tante, es iſt mir leid, wenn ich Jh-
nen undankbar ſcheine; aber verdiente der
Mann, der meine Seele mit guten Grund-
ſaͤtzen,
[176] ſaͤtzen, und meinen Geiſt mit nuͤtzlichen
Kenntniſſen erfuͤllte, nicht ein groͤßeres
Maaß von Erkenntlichkeit, als der hoͤfli-
che Fremdling, der mich noͤthigt, an ſei-
nen voruͤbergehenden Ergoͤtzlichkeiten
Antheil zu nehmen? Die Graͤfin:
Du haͤtteſt ſchicklicher das Wort abwech-
ſelnde Ergoͤtzlichkeiten gebrauchen koͤnnen.
Das Fraͤulein: Alle dieſe Fehler bewei-
ſen Jhnen, daß ich fuͤr den Hof ſehr un-
tauglich bin. Die Graͤfin: Ja, heu-
te beſonders, du ſollſt auch zu Hauſe blei-
ben. —


Derby erzaͤhlte mir dieſes mit einem
leichtſinnigen Ton, aber gab genau auf
meine Bewegungen acht. Sie wiſſen,
daß ich ſie ſelten verbergen kann, und in
dieſem Falle war mirs ganz unmoͤglich.
Der Charakter des Fraͤuleins ruͤhrte mich.
Jch mißgoͤnnte Derbyn, ſie geſehen und
gehoͤrt zu haben. Unzufrieden auf mich,
meinen Oncle und den Fuͤrſten, brach ich
in den Eifer aus, zu ſagen: Das Fraͤu-
lein hat den edelſten und ſeltenſten

Charak-
[177]Charakter; wehe den Elenden, die
ſie zu verderben ſuchen!
Sie ſind ein
eben ſo ſeltener Mann, erwiederte er, als
das Fraͤulein ein ſeltenes Frauenzimmer
iſt. Sie waͤren der ſchicklichſte Liebhaber
fuͤr ſie geweſen, und ich haͤtte ihr Ver-
trauter und Geſchichtſchreiber ſeyn moͤgen.


Jch glaube nicht, Milord Derby, daß
Jhnen das Fraͤulein oder ich dieſen Auf-
trag gemacht haͤtte, ſagte ich. Ueber die-
ſe Antwort ſah ich eine Miene an ihm,
die mir gaͤnzlich mißfiel; ſie war laͤchelnd
und nachdenkend; aber, mein Freund, ich
konnte mich nicht enthalten in meinem
Herzen zu ſagen, ſo laͤchelt Satan, wenn
er ſich eines giftigen Anſchlags bewußt iſt.



Fraͤulein von Sternheim
an
Emilien.


Jhr Stilleſchweigen, meine Freundin,
duͤnket mich und Roſinen ſehr lange und
Munbillig;
[178] unbillig; aber ich werde mich wegen der
Unruhe, die Sie mir dadurch gemacht,
nicht anders raͤchen, als Jhnen, wenn
ich einmal eine lange Reiſe mache, auf
halbem Wege zu ſchreiben; denn da ich
weiß, wie Sie mich lieben, ſo koͤnnte ich
den Gedanken nicht ertragen, Jhrem
zaͤrtlichen Herzen den Kummer fuͤr mich
zu geben, den das meinige in dieſer Ge-
legenheit fuͤr Sie gelitten. Aber Jhre
gluͤckliche Ankunft in W. und Jhr Ver-
gnuͤgen uͤber Jhre Ausſicht in die Zu-
kunft hat mich dafuͤr belohnt. Auch oh-
ne dieß, wie ſehr, meine Emilia, bin ich
erfreut, daß mir mein Schickſal zu glei-
cher Zeit einen vergnuͤgten Gegenſtand
zu etlichen Briefen, an Sie gegeben hat!
Denn haͤtte ich fortfahren muͤſſen, uͤber
verdrießliche Begegniſſe zu klagen, ſo waͤre
Jhre Zufriedenheit durch mich geſtoͤrt wor-
den, da Jhr liebreiches Herz einen ſo leb-
haften Antheil an allem nimmt, was mich
und die ſeltene Empfindſamkeit meiner
Seele betrifft. Jch habe in dieſer fuͤr
mich ſo duͤrren moraliſchen Gegend, die
ich
[179] ich ſeit drey Monaten durchwandre, zwey
angenehme Quellen und ein Stuͤck urba-
res Erdreich angetroffen, wobey ich mich
eine Zeitlang aufhalten werde, um bey
dem erſten meinen Geiſt und mein Herz
zu erfriſchen, und fuͤr die Anpflanzung
und Cultur guter Fruͤchte bey dem letztern
zu ſorgen. Doch ich will ohne Gleichniß
reden. Sie wiſſen, daß die Erziehung,
die ich genoſſen, meine Empfindungen
und Vorſtellungen von Vergnuͤgen, mehr
auf das Einfache und Nuͤtzliche lenkte,
als auf das Kuͤnſtliche und nur allein Be-
luſtigende. Jch ſah die Zaͤrtlichkeit mei-
ner Mama niemals in Bewegung, als
bey Erzaͤhlung einer edeln großmuͤthigen
Handlung, oder einer, ſo von der Ausuͤ-
bung der Pflichten und der Menſchenliebe
und andern Tugenden gemacht wurde.
Niemals druͤckte ſie mich mit mehr Liebe
an ihr Herz, als wenn ich etwas ſagte,
oder etwas fuͤr einen Freund des Hauſes,
fuͤr einen Bedienten oder Unterthanen un-
ternahm, ſo die Kennzeichen der Wohl-
thaͤtigkeit und Freude uͤber anderer Ver-
M 2gnuͤgen
[180] gnuͤgen an ſich hatte; und ich habe ſehr
wohl bemerkt, daß wenn mir, wie tauſend
andern Kindern, ungefehr eine feine und
ſchickliche Anmerkung oder ein Gedanke
beygefallen, woruͤber oft die ganze Geſell-
ſchaft in Bewunderung und Lob ausge-
brochen, ſie nur einen Augenblick gelaͤ-
chelt, und ſo fort die Achtung, welche mir
ihre Freude zeigen wollten, auf die Sei-
te des thaͤtigen Lebens zu lenken geſucht,
indem ſie entweder etwas von meinem
Fleiß in Erlernung einer Sprache, des
Zeichnens, der Muſik oder anderer Kennt-
niſſe lobte, oder von einer erbetenen Be-
lohnung oder Wohlthat fuͤr jemand
redte, und mir alſo dadurch zu erken-
nen gab, daß gute Handlungen viel
ruhmwuͤrdiger ſeyn, als die feinſten
Gedanken.
Wie einnehmend bewies
mein Papa mir dieſen Grundſatz, da er
mich in dem Naturreiche auf die Betrach-
tung fuͤhrte, daß die Gattungen der
Blumen, welche nur zu Ergoͤtzung des
Auges dienten, viel weniger zahlreich
und ihre Fruchtbarkeit weit ſchwaͤcher
waͤre,
[181] waͤre,*) als der nuͤtzlichen Pflanzen, die
zur Nahrung der Menſchen und Thiere
dienen; und waren nicht alle Tages ſeines
Lebens, mit der Ausuͤbung dieſes Satzes
bezeichnet? Wie nuͤtzlich ſuchte er ſeinen
Geiſt und ſeine Erfahrungen ſeinen Freun-
den zu machen? Was that er fuͤr ſeine
Untergebenen und fuͤr ſeine Unterthanen?
Nun, meine Emilie! mit dieſen Grund-
ſaͤtzen, mit dieſen Neigungen kam ich in
die große Welt, worinn der meiſte Theil
nur fuͤr Aug und Ohr lebt, wo dem vor-
trefflichen Geiſt nicht erlaubt iſt, ſich an-
ders als in einem voruͤbergehenden witzi-
gen Einfalle zu zeigen; und Sie ſehen,
M 3mit
[182] mit wie vielem Fleiße meine Aeltern die
Anlage zu dieſem Talent in mir zu zerſtoͤ-
ren ſuchten.


Ganz iſt es nicht von mir gewichen;
doch bemerkte ich ſeine Gegenwart nie-
mals mehr als in einem Anfalle von Miß-
vergnuͤgen oder Verachtung uͤber jemands
Jdeen oder Handlungen. Urtheilen Sie
ſelbſt daruͤber! Letzhin wurde ich durch
meine Liebe fuͤr Deutſchland in ein Ge-
ſpraͤch verflochten, worinn ich die Ver-
dienſte meines Vaterlandes zu vertheidi-
gen ſuchte; ich that es mit Eifer; meine
Tante ſagte mir nachher, „ich haͤtte einen
ſchoͤnen Beweis gegeben, daß ich die En-
kelin eines Profeſſors ſey.“ — Dieſer
Vorwurf aͤrgerte mich. Die Aſche mei-
nes Vaters und Großvaters war belei-
digt, und meine Eigenliebe auch. Dieſe
antwortete fuͤr alle dreye. „Es waͤre mir
„lieber durch meine Geſinnungen den Be-
„weis zu geben, daß ich von edeldenken-
„den Seelen abſtamme, als wenn ein
„ſchoͤner Name allein die Erinnerung gaͤ-
„be, daß ich aus einem ehemals edeln
„Blute
[183] „Blute entſproſſen ſey.“ Dieſes verur-
ſachte eine Kaͤlte von einigen Tagen unter
uns beyden; doch unvermerkt erwaͤrmten
wir uns wieder. Meine Taute, denke
ich, weil ſie nach dem alt adelichen Stolz
fuͤhlte, wie empfindlich es ſeyn muͤſſe,
wenn einem der Mangel von Ahnen vorge-
worfen wuͤrde; und ich, weil ich meine
raͤchende Antwort mißbilligte, die mich
juſt auf eben die niedere Stufe ſetzte, auf
welcher mir meine Tante den unedeln Vor-
wurf gemacht hatte. Doch es iſt Zeit,
Sie zu einer von den zwoen Quellen zu
fuͤhren, wovon ich Jhnen nach meiner
Liebe zur Bilderſprache geredet habe.


Die erſte hat ſich in Privatbeſuchen
gezeigt, welche meine Tante empfaͤngt,
und ablegt, worinn ich eine Menge ab-
wechſelnder Betrachtungen uͤber die un-
endliche Verſchiedenheit der Charakter und
Geiſter machen kann, die ſich in Beurthei-
lungen, Erzaͤhlungen, Wuͤnſchen und Kla-
gen abdruͤcken. Aber was fuͤr einen Zirkel
von Kleinigkeiten damit durchloffen wird;
mit was fuͤr Haſtigkeit die Leute bemuͤht
M 4ſind,
[184] ſind, einen Tag ihres Lebens auf die
Seite zu raͤumen; wie oft der Hofton, der
Modegeiſt, die edelſten Bewegungen eines
von Natur vortrefflichen Herzen unter-
druͤckt, und um das Ausziſchen der Mode-
herren und Modedamen zu vermeiden, mit
ihnen lachen und beyſtimmen heißt: dieß
erfuͤllt mich mit Verachtung und Mitleiden.
Der Durſt nach Ergoͤtzlichkeiten, nach neu-
en Putz, nach Bewunderung eines Klei-
des, eines Meubles, einer neuen ſchaͤdli-
chen Speiſe, — o meine Emilia! wie
bange, wie uͤbel wird meiner Seele dabey
zu Muthe, weil ich gewoͤhnt bin, allen
Sachen ihren eigentlichen Werth zu ge-
ben! Jch will von dem falſchen Ehrgeiz
nicht reden, der ſo viele niedrige Jntri-
guen anſpinnt, vor dem im Gluͤcke ſitzen-
den Laſter kriecht, Tugend und Verdienſte
mit Verachtung anſieht, ohne Empfin-
dung Elende macht. — Wie gluͤcklich
ſind Sie, meine Freundin! Jhre Geburt,
Jhre Umſtaͤnde haben Sie nicht von dem
Ziel unſerer moraliſchen Beſtimmung ent-
ſernt; Sie koͤnnen ohne Scheu, ohne
Hinderniß
[185] Hinderniß alle Tugenden, alle edeln und
nuͤtzlichen Talente uͤben; in den Tagen
Jhrer Geſundheit, in den Jahren Jhrer
Kraͤfte alles Gute thun, was die meiſten
in der großen Welt in ihren letzten Stun-
den wuͤnſchen gethan zu haben!


Jndeſſen genießen dennoch Religion
und Tugend ganz ſchaͤtzbare Ehrenbezeu-
gungen. Die Hofkirchen ſind praͤchtig
geziert, die beſten Redner ſind zu Predi-
gern darinnen angeſtellt, die Gottesdienſte
werden ordentlich und ehrerbietig beſucht;
der Wohlſtand im Reden, im Bezeugen
wird genau und aͤngſtlich beobachtet; kein
Laſter darf ohne Maske erſcheinen; ja
ſelbſt die Tugend der Naͤchſtenliebe erhaͤlt
eine Art von Verehrung, in den ausge-
ſuchten und feinen Schmeicheleyen, die
immer eines der Eigenliebe des andern
macht. Alles dieſes iſt eine Quelle zu
moraliſchen Betrachtungen fuͤr mich wor-
den, aus welcher ich den Nutzen ſchoͤpfe,
in den Grundſaͤtzen meiner Erziehung im-
mer mehr und mehr beſtaͤrkt zu werden.
Oft beſchaͤfftigt ſich meine Phantaſie mit
M 5dem
[186] dem Entwurf einer Vereinigung der Pflich-
ten einer Hofdame, zu denen ſie von ih-
rem Schickſal angewieſen worden, mit
den Pflichten der vollkommenen Tugend,
welche zu dem Grundbau unſerer ewigen
Gluͤckſeligkeit erfodert wird. Es laͤßt
ſich eine Verbindung denken; allein es iſt
ſo ſchwer ſie immer in einer gleichen Staͤr-
ke zu erhalten, daß mich nicht wundert,
ſo wenig Perſonen zu ſehen, die darum
bekuͤmmert ſind. — Wie oft denke ich;
wenn ein Mann, wie mein Vater war,
den Platz des erſten Miniſters haͤtte, die-
ſer Mann waͤre der verehrungswuͤrdigſte
und gluͤcklichſte der Menſchen.


Es iſt wahr, viele Muͤhſeligkeit wuͤrde
ſeine Tage begleiten; doch die Betrach-
tung des großen Kreiſes, in welchem er
ſeine Talente und ſein Herz zum Beſten
vieler tauſend Lebenden und Nachkommen-
den verwenden koͤnnte; dieſe Ausſicht, die
ſchoͤnſte fuͤr eine wahrhafterhabne und
guͤtige Seele, muͤßte ihm alles leicht und
angenehm machen. Die Kenntniß des
menſchlichen Herzens wuͤrde ſeinem feinem
Geiſte
[187] Geiſte den Weg weiſen, das Vertrauen
des Fuͤrſten zu gewinnen; ſeine Rechtſchaf-
fenheit, tiefe Einſicht und Staͤrke der
Seele, faͤnden dadurch ihre natuͤrliche
Obermacht unterſtuͤtzt, ſo daß die uͤbrigen
Hof- und Dienſtleute ſich fuͤr den Zuͤgel
und das Leitband des weiſen und tugend-
haften Miniſters eben ſo lenkſam zeigen
wuͤrden, als man ſie taͤglich bey den Un-
vollkommenheiten des Kopfs und den Feh-
lern des Herzens derjenigen ſieht, von
welchen ſie Gluͤck und Befoͤrderung er-
warten. So, meine Emilia, beſchaͤfftigt
ſich meine Seele oft, ſeitdem ich von den
Umſtaͤnden, dem Charakter und den Pflich-
ten dieſer oder jener Perſon unterrichtet bin.
Meine Phantaſie ſtellt mich nach der Rei-
he an den Platz derer, die ich beurtheile;
dann meſſe ich die allgemeinen moraliſchen
Pflichten, die unſer Schoͤpfer jedem Men-
ſchen, wer er anch ſey, durch ewige un-
veraͤnderliche Geſetze auferlegt hat, nach
dem Vermoͤgen und der Einſicht ab, ſo
dieſe Perſon hat, ſie in Ausuͤbung zu
bringen. Auf dieſe Weiſe, war ich ſchon
Fuͤrſt,
[188] Fuͤrſt, Fuͤrſtin, Miniſter, Hofdame, Fa-
vorit, Mutter von dieſen Kindern, Ge-
mahlin jenes Mannes, ja ſogar auch
einmal in dem Platz einer regierenden und
alles fuͤhrenden Maitreſſe; und uͤberall
fand ich Gelegenheit auf mannichfaltige
Weiſe Guͤte und Klugheit auszuuͤben, oh-
ne daß die Charakter oder die politiſche
Umſtaͤnde in eine unangenehme Einfoͤr-
migkeit gefallen waͤren. Bey vielen ha-
be ich Jdeen und Handlungen angetroffen,
deren Richtigkeit, Guͤte und Schoͤnheit ich
ſo leicht nicht haͤtte erreichen, noch weni-
ger verbeſſern koͤnnen; aber auch bey vie-
len war ich mit meinem Kopf und Herzen
beſſer zufrieden als mit dem Jhrigen.
Natuͤrlicher Weiſe fuͤhrte mich die Billig-
keit nach dieſen phantaſtiſchen Reiſen mei-
ner Eigenliebe auf mich ſelbſt, und die
Pflichten zuruͤck, die mir auszurichten
angewieſen ſind. Sie verband mich ſo
genau und ſtreng in Berechnung meiner
Talente und Kraͤfte fuͤr meinen Wuͤrkungs-
Kreis zu ſeyn, als ich es gegen andre
war; und dadurch, meine Emilia, habe
ich
[189] ich eine Quelle entdeckt, meine Aufmerk-
ſamkeit auf mich ſelbſt zu verſtaͤrken,
Kenntniſſe, Empfindung und Ueberzeugung
des Guten tiefer in mein Herz zu graben,
und mich von Tag zu Tag mehr zu verſt-
chern, wie ſehr ein großer Beobachter der
menſchlichen Handlungen, recht hatte, zu
behaupten: „daß ſehr wenige Perſonen
ſeyn, welche das ganze Maaß ihrer mora-
liſchen und phyſikaliſchen Kraͤfte nuͤtzten.“
Denn in Wahrheit, ich habe viele leere
Stellen in dem Cirkel meines Lebens ge-
funden, zum Theil auch ſolche, die mit
verwerflichen Sachen und nichts werthen
Kleinigkeiten ausgefuͤllt waren. Das ſoll
nun weggeraͤumet werden, und weil ich
nicht unter der gluͤcklichen Claſſe von Leu-
ten bin, die gleich von Haus aus ganz
klug, ganz gut ſind; ſo will ich doch un-
ter die gehoͤren, die durch Wahrnehmun-
gen des Schadens der andern, weiſe
und rechtſchaffen werden; um ja nicht
unter die zu gerathen, welche nur durch
Erfahrung und eignes Elend, beſſer wer-
den koͤnnen.


Fraͤulein
[190]

Fraͤulein von Sternheim
an
Emilien.


Jch danke Jhnen, meine wahre Freun-
din, daß Sie mich an den Theil meiner
Erziehung zuruͤckgewieſen, der mich an-
fuͤhrte, mich an den Platz der Perſonen
zu ſtellen, wovon ich urtheilen wollte;
aber nicht allein, um zu ſehen, was ich
in ihren Umſtaͤnden wuͤrde gethan haben,
ſondern auch mir die ſo noͤthige menſchen-
freundliche Behutſamkeit zu geben, „nicht
„alles was meinen Grundſaͤtzen, meinen
„Neigungen zuwider iſt, als boͤſe oder
„niedrig anzuſehen.“ Sie haben mich
daran erinnert, weil Jhnen meine Unzu-
friedenheit mit den Hofleuten zu unbillig
und zu lebhaft und beynahe ungerecht
ſchien. Jch habe Jhnen gefolgt, und da-
durch die zwote Quelle meiner Verbeſſe-
rung gefunden, indem ich meine Abnei-
gung vor dem Hofe durch die Vorſtellung
gemaͤßigt, daß gleichwie in der materiel-
len Welt alle moͤgliche Arten von Dingen
ihren
[191] ihren angewieſenen Kreis haben, darinn
ſie alles antreffen, was zu ihrer Vollkom-
menheit beytragen kann: ſo moͤge auch in
der moraliſchen Welt das Hofleben der
Kreis ſeyn, in welchem allein gewiſſe Faͤ-
higkeiten unſers Geiſtes und Koͤrpers ihre
vollkommene Ausbildung erlangen koͤn-
nen; als z. E. die hoͤchſte Stufe des fei-
nen Geſchmacks in allem was die Sinnen
ruͤhrt, und von der Einbildungskraft ab-
haͤngt; dahin nicht allein die unendliche
Menge Sachen aller Kuͤnſte und beynahe
aller Nothduͤrftigkeiten von Nahrung,
Kleidung, Geraͤthſchaft, nebſt allen Ar-
ten von Verzierungen gehoͤren, deren alle
Gattungen von aͤußerlichen Gegenſtaͤnden
faͤhig ſind, ſich beziehen. Der Hof iſt
auch der ſchicklichſte Schauplatz die außer-
ordentliche Biegſamkeit unſers Geiſtes und
Koͤrpers zu beweiſen; eine Faͤhigkeit die
ſich daſelbſt in einer unendlichen Menge
feiner Wendungen in Gedanken, Aus-
druck und Gebehrden, ja ſelbſt in mora-
liſchen Handlungen aͤußert, je nach dem
Politik, Gluͤck oder Ehrgeiz von einer oder
andern
[192] andern Seite eine Bewegung in der Hof-
luft verurſachen. Viele Theile der ſchoͤ-
nen Wiſſenſchaften haben ihre voͤllige Aus-
polirung in der großen Welt zu erhalten;
gleichwie Sprachen und Sitten allein von
den da wohnenden Grazien eine ausgeſuch-
te angenehme Einkleidung bekommen.
Alles dieſes ſind ſchaͤtzbare Vorzuͤge, die
auf einen großen Theil der menſchlichen
Gluͤckſeligkeit ihren Einfluß haben, und
wohl ganz ſicher Beſtandtheile davon
ausmachen. Das Pflanzen- und Thier-
reich hat ſeine Zuͤge von Schoͤnheit und
Zierlichkeit in Form, Ebenmaß und Far-
benmiſchung; auch die rauheſten Natio-
nen haben Jdeen von Verſchoͤnerung.
Unſer Geſicht, Geſchmack und Gefuͤhl ſind,
auch nicht umſonſt mit ſo großer Em-
pfindlichkeit im Vergleichen, Waͤhlen,
Verwerfen und Zuſammenſetzen begabt, ſo
daß es ganz billig iſt, dieſe Faͤhigkeiten zu
benutzen, wenn nur die Menſchen nicht
ſo leicht und ſo gerne uͤber die Grenzen
traͤten, die fuͤr alles gezogen ſind. Doch
wer weiß, ob nicht ſelbſt dieſes Ueber-
ſchreiten
[193] ſchreiten der Grenzen ſeine Triebfeder in
der Begierde nach Vermehrung der Voll-
kommenheit unſers Zuſtandes hat? Einer
Begierde, die der groͤßte Beweis der Guͤ-
te unſers Schoͤpfers iſt, weil ſie, ſo ſehr
ſie in geſunden und gluͤcklichen Tagen ir-
rig und uͤbel verwendet wird, dennoch im
Ungluͤck, in dem Zeitpunkt, der Aufloͤſung
unſers Weſens, ihre Ausſicht und Hoff-
nung auf eine andere Welt, und dort im-
mer daurende unabaͤnderliche Gluͤckſelig-
keiten und Tugenden wendet, und da-
durch allein einen Troſt ertheilt, welchen
alle andre Huͤlfsmittel nicht geben koͤn-
nen. Sie denken leicht, meine Emilia,
in wie viel Stunden des Nachdenkens
und Ueberlegens ſich alle dieſe, hier nur
fluͤchtig beruͤhrte Gegenſtaͤnde abtheilen
laſſen, und Sie ſehen auch, daß mir da-
bey, neben den uͤbrigen Zerſtreuungen, die
mir das Haus meiner Tante giebt, kein
Augenblick zu Langerweile bleibt.


Nun will ich Sie zu dem Stuͤck urba-
ren Erdreichs fuͤhren, das ich angetrof-
fen habe. Dieſes geſchah auf dem Land-
Nguthe
[194] guthe des Grafen von F*. Eine Brun-
nencur, deren ſich die Graͤfin bedient,
gab Gelegenheit, daß wir auf ein paar
Tage zu einem Beſuch dahin reiſten.
Meine Tante hatte die Graͤfin B* und
das Fraͤulein R. auch hin beſtellt, und der
Zufall brachte den Lord Derby dazu.
Guth, Haus und Garten iſt ſehr ſchoͤn.
Die Damen hatten viele kleine weibliche
Angelegenheiten unter ſich auszumachen;
man ſchickte alſo das Fraͤulein R. und
mich mit Herrn Derby auf einen Spa-
ziergang. Erſt durchliefen wir das gan-
ze Haus und den Garten, wo Milord
in Wahrheit ein angenehmer Geſellſchaf-
ter war, indem er uns von der Verſchie-
denheit unterhielt, die der Nationalgeiſt
eines jeden Volks in die Bauart und die
Verzierungen legte. Er machte uns Be-
ſchreibungen und Vergleichungen von
Engliſchen, Jtalieniſchen und Franzoͤſi-
ſchen Gaͤrten und Haͤuſern, zeichnete auch
wohl Eines und das Andere mit einer un-
gemeinen Fertigkeit und ganz artig ab.
Kurz, wir w[a]ren mit unſerm Spazier-
gang
[195] gang ſo wohl zufrieden, daß wir Abrede
nahmen, den andern Tag nach dem Fruͤh-
ſtuͤck auf das freye Feld und in dem Dor-
fe herumzugehen.


Es waren zween gluͤckliche Tage fuͤr
mich. Landluft, freye Ausſicht, Ruhe,
ſchoͤne Natur, der Segen des Schoͤpfers
auf Wieſen und Kornfeldern, die Aemſig-
keit des Landmanns. — Mit wie viel
Zaͤrtlichkeit und Bewegung heftete ich mei-
ne Blicke auf dieß alles! Wie viel Erin-
nerungen brachte es in mein Herz von
verfloſſenen Zeiten, von genoſſener Zufrie-
denheit! Wie eifrig machte ich Wuͤnſche
fuͤr meine Unterthanen; fuͤr Segen zu
ihrer Arbeit, und fuͤr die Zuruͤckkunft
meiner Tante R.! Sie wiſſen, meine
Emilia, daß mein Geſicht allezeit die Em-
pfindungen meiner Seele ausdruͤckt. Jch
mag zaͤrtlich und geruͤhrt ausgeſehen ha-
ben; der Ton meiner Stimme ſtimmte zu
dieſen Zuͤgen. Aber Lord Derby erſchreck-
te mich beynahe durch das Feuer, mit dem
er mich betrachtete, durch den Eifer und
die Haſtigkeit, womit er mich bey der
N 2Hand
[196] Hand faßte, und auf engliſch ſagte.
„Gott! wenn die Liebe einmal dieſe Bruſt
„bewegt, und dieſen Ausdruck von zaͤrtli-
„cher Empfindung in dieſe Geſichtszuͤge
„legt, wie groß wird das Gluͤck des Man-
„nes ſeyn, der — —


Meine Verwirrung, die Art von Furcht,
die er mir gab, war eben ſo ſichtbar, als
meine vorige Bewegungen; ſogleich hielt
er in ſeiner Rede inne, zog ſeine Hand
ehrerbietig zuruͤck, und ſuchte in allem ſei-
nem Bezeugen den Eindruck, von Heftig-
keit ſeines Charakters, zu mildern, den er
mir gegeben hatte.


Wir giengen in die Hauptgaſſe des
ſchoͤnen Dorfs; da wir in der Haͤlfte wa-
ren, mußten wir einem Karrn auswei-
chen, der hinter uns gefahren kam. Er
war mit einer dichten Korbflechte bedeckt,
doch ſah man eine Frau mit drey ganz
jungen Kindern darinn. Die ruͤhrende
Traurigkeit, die ich auf dem Geſichte der
Mutter erblickte, das blaſſe, hagere Aus-
ſehen der Kinder, die reinliche, aber ſehr
ſchlechte Kleidung von allen, zeugte von
Armuth
[197] Armuth und Kummer dieſer kleinen Fami-
lie. Mein Herz wurde bewegt; die Vor-
ſtellung ihrer Noth und die Begierde zu
helfen, wurden gleich ſtark. Froh ſie an
dem Wirthshauſe abſteigen zu ſehen, be-
dacht ich mich nicht lange. Jch gab vor,
ich kennte dieſe Frau und wollte etwas
mit ihr reden; und bat den Lord Derby,
das Fraͤulein R. zu unterhalten, bis ich
wieder kaͤme. Er ſah mich daruͤber mit ei-
nem ernſthaften Laͤcheln an, und kuͤßte den
Theil ſeines Ermels, wo ich im Eifer
meine Hand auf ſeinen Arm gelegt hatte.
Jch erroͤthete und eilte zu der armen Fa-
milie.


Bey dem Eintritt in das Haus fand
ich alle im Gang an einer Stiege ſitzen;
die Frau mit weinenden Augen beſchaͤfftigt
aus einem kleinen Sack ein ſeiden Hals-
tuch und eine Schuͤrze zu nehmen, die ſie
der Wirthin zu kaufen anbot, um Geld
genug zu bekommen den Fuhrmann zu be-
zahlen. Zwey Kinder riefen um Brod
und Milch; ich faßte mich, ſo aͤußerſt
geruͤhrt ich war, naͤherte mich, und ſagte
N 3der
[198] der armen Frau mit der Miene einer Be-
kannten, es waͤre mir lieb ſie wieder zu
ſehen. Jch that dieſes, um ihr die Ver-
wirrung zu vermeiden, die ein empfindli-
ches Herz fuͤhlt, wenn es viele Zeugen
ſeines Elends hat, und weil der Uugluͤck-
liche eine Art von Achtung, ſo ihm Ange-
ſehene und Beguͤterte erweiſen, auch als
einen Theil Wohlthat aufnimmt. Jch
ſagte der Wirthin, ſie ſollte mir ein Zim-
mer anweiſen, in welchem ich mit der
Frau allein reden koͤnnte, und beſtellte,
den Kindern ein Abendbrod zu rechte zu
machen. Waͤhrend ich dieſes ſagte,
machte die Wirthin ein Zimmer auf, und
die gute arme Frau, ſtund mit ihrem klei-
nen Kind im Arm da, und ſah mich
mit fremden Erſtaunen an. Jch reichte
ihr die Hand und bat ſie in das Zimmer
zu gehen, wohin ich die zwey aͤltern Kin-
der fuͤhrte. Da ich die Thuͤre zugemacht,
leitete ich die zitternde Mutter zu einem
Stuhl, mit dem Zeichen ſich zu ſetzen;
bat ſie ruhig zu ſeyn, und mir zu verge-
ben, daß ich mich ihr ſo zudringe. Jch
wollte
[199] wollte auch nicht unbeſcheiden mit ihr han-
deln; ſie ſolle mich fuͤr ihre Freundin an-
ſehen, die nichts anders wuͤnſche, als
ihr an einem fremden Orte nuͤtzlich zu
ſeyn. Eine Menge Thraͤnen hinderten ſie
zu reden, dabey ſah ſie mich mit einem
von Hoffnung und Jammer bezeichneten
Geſichte an.


Jch reichte ihr wehmuͤthig die Hand.
Sie leiden fuͤr Sie und Jhre Kinder unter
einem harten Schickſal, ſagte ich; ich bin
reich und unabhaͤngig, mein Herz kennt
die Pflichten, welche Menſchlichkeit und
Religion den Beguͤterten auflegen; goͤn-
nen Sie mir das Vergnuͤgen dieſe Pflich-
ten zu erfuͤllen, und Jhren Kummer zu
erleichtern. Jndem ich dieſes ſagte, nahm
ich von meinem Gelde, bat ſie, es anzu-
nehmen, und mir den Ort ihres Aufent-
halts zu ſagen. Die gute Frau ruͤtſche
von ihrem Stuhle auf die Erde, und rief
mit aͤußerſter Bewegung aus:


O Gott, was fuͤr ein edles Herz laͤßt
du mich antreffen!


N 4Die
[200]

Die zwey groͤßern Kinder liefen der
Mutter zu, fielen um ihren Hals und
fiengen an zu weinen. Jch umarmte ſie,
hob ſie auf, umfaßte die Kinder, und
bat die Frau ſich zu faſſen und ſtille zu re-
den. Es ſollte hier niemand als ich, ihr
Herz und ihre Umſtaͤnde kennen; ſie ſollte
glauben, daß ich mich gluͤcklich achten
wuͤrde, ihr Dienſte zu beweiſen; voritzt
aber wollte ich nichts als den Ort ihres
Aufenthalts wiſſen, und ihr meinen Nah-
men aufſchreiben, welches ich auch ſogleich
mit Reißbley that, und ihr das Papier
uͤberreichte.


Sie ſagte mir, daß ſie wieder nach
D* wo ihr Mann waͤre, zuruͤcke gienge,
nachdem ſie von einem Bruder, zu dem
ſie Zuflucht haͤtte nehmen wollen, abge-
wieſen worden waͤre. Sie wollte mir
alle Urſachen ihres Elends aufſchreiben,
und ſich dann meiner Guͤte in Beurthei-
lung ihrer Fehler empfehlen. Nach die-
ſem las ſie mein Papier. Sind Sie das
Fraͤulein von Sternheim? O was iſt der
heutige Tag fuͤr mich? Jch bin die Frau
des
[201] des ungluͤcklichen Raths T. Wenn Sie
mich ihrer Tante, der Graͤfin L. nennen,
ſo verliehre ich vielleicht Jhr Mitleiden;
aber verdammen Sie mich nicht unge-
hoͤrt! — Dieß ſagte ſie mit gefalteten
Haͤnden. Jch verſprach es ihr gerne,
umarmte ſie und die Kinder, und nahm
Abſchied mit dem Verbot, daß ſie nichts
von mir reden, und die Wirthin glauben
laſſen ſollte, daß wir einander kenneten.
Jm Weggehen befahl ich der Wirthin, der
Mutter und den Kindern gute Betten, Eſſen,
und den folgenden Morgen eine gute Kut-
ſche zu geben, ich wollte fuͤr die Bezahlung
ſorgen. Milord und das Fraͤulein R.
waren in den Garten des Wirthshauſes,
wo ich ſie antraf und ihnen fuͤr die Ge-
faͤlligkeit dankte, daß ſie auf mich gewar-
tet haͤtten. Mein Geſicht hatte den Aus-
druck des Vergnuͤgens etwas Gutes gethan
zu haben; aber meine Augen waren noch
roth von Weinen. Der Lord ſah mich oft
und ernſthaft an, und redete den ganzen
uͤbrigen Spaziergang ſehr wenig mit mir,
ſondern unterhielt das Fraͤulein R.; dieß
N 5war
[202] war mir deſto angenehmer, weil es mich
an einen Entwurf denken ließ, dieſer gan-
zen Familie ſo viel mir moͤglich aufzuhelfen,
und dieß, meine Emilia, iſt das Stuͤck
urbaren Erdreichs ſo ich angetroffen: wo
ich Sorgen, Freundſchaft und Dienſte
ausſaͤen will. Die Erndte und der Nu-
tzen ſoll den drey armen Kindern zu gute
kommen. Denn ich hoffe, daß die Ael-
tern der Pflichten der Natur getreu genug
ſeyn werden, um davon keinen andern
Gebrauch, als zum Beſten ihrer unſchul-
digen und ungluͤcklichen Kinder zu machen.
Gelingt mir alles was ich thun will, und
was mir mein Herz angiebt, ſo will ich
meinen Aufenthalt ſegnen; dann nun ach-
te ich die Zeit, die ich hier bin, nicht mehr
fuͤr verlohren. Jch ſoll in wenigen Ta-
gen von den Urſachen des Ungluͤcks die-
ſer Familie Nachricht erhalten, nach dem
werde ich erſt eigentlich wiſſen, was ich
zu thun habe. Der Rath T* iſt ſehr
krank, deswegen konnte die Frau noch
nicht ſchreiben. Vorgeſtern kamen wir
zuruͤck.


Milord
[203]

Milord Derby
an
Milord B* in Paris.


Du biſt begierig den Fortgang meiner
angezeigten Jntrigue zu wiſſen. Jch will
dir alles ſagen. Weil man doch immer
einen Vertrauten haben muß; ſo kannſt
du dieſe Ehrenſtelle vertreten, und dabey
fuͤr dich ſelbſt lernen.


Laß dir nicht einfallen zur Unzeit ein
dummes Gelaͤchter anzufangen, wenn ich
dir frey bekenne, daß ich noch nicht viel
wuͤrde gewonnen haben, wenn der Zu-
fall nicht mehr als mein Nachdenken und
die feinſte Wendung meines Kopfs zu Be-
foͤrderung meiner Abſichten beygetragen
haͤtte. Jch bin damit zufrieden; denn
meine Liebesgeſchichte ſtehet dadurch in der
nehmlichen Claſſe, wie die Staatsgeſchaͤff-
te der Hoͤfe; der Zufall thut bey vielen das
Meiſte, und die Weisheit manches Mi-
niſters beſteht allein darinn, durch die
Kenntniß der Geſchichte der vergangenen
und gegenwaͤrtigen Staaten, dieſen Au-
genblick
[204] genblick des Zufalls zu benutzen, und die
uͤbrige Welt glauben zu machen, daß es
die Arbeit ſeiner tiefen Einſichten geweſen
ſey.*) Nun ſollſt du ſehen, wie ich dieſe
Aehnlichkeit gefunden, und wie ich mir
eine unvorgeſehene Gelegenheit durch die
Hiſtorie der Leidenſchaften und die Kennt-
niß des weiblichen Herzens zu bedienen
gewußt habe.


Jch war vor einigen Tagen in einer
ungeduldigen Verlegenheit uͤber die Aus-
wahl der Mittel, die ich brauchen muͤßte,
um das Fraͤulein von Sternheim zu ge-
winnen. Haͤtte ſie nur gewoͤhnlichen
Witz und gewoͤhnliche Tugend, ſo waͤre
mein
[205] mein Plan leicht geweſen; aber da ſie
ganz eigentlich nach Grundſaͤtzen denkt und
handelt, ſo iſt alles, wodurch ich ſonſt
gefiel, bey ihr verlohren. Beſitzen muß
ich ſie, und das mit ihrer Einwilligung.
Dazu gehoͤrt, daß ich mir ihr Vertrauen
und ihre Neigung erwerbe. Nun bleibt
mir nichts uͤbrig, als mir, wie der Mi-
niſter, zufaͤllige Anlaͤſſe nuͤtzlich zu machen.
Von beyden erfuhr ich letzthin die Probe
auf dem Landguth der Graͤfin F*. Jch
wußte, daß das Fraͤulein mit ihrer Tan-
te auf etliche Tage hingieng, und fand
mich auch ein. Jch kam zweymal mit
meiner Goͤttin und dem Fraͤulin R. allein
auf den Spaziergang, und hatte Anlaß
etwas von meinen Reiſen zu erzaͤhlen.
Du weißt, daß meine Augen gute Beob-
achter ſind, und daß ich manche halbe
Stunde ganz artig ſchwatzen kann. Der
Gegenſtand war von Gebaͤuden und Gaͤr-
ten. Das Fraͤulein von Sternheim liebt
Verſtand und Kenntniſſe. Jch machte
mir ihre Aufmerkſamkeit ganz vortheil-
haft zu nutze, und habe ihre Achtung fuͤr
meinen
[206] meinen Verſtand ſo weit erhalten, daß ſie
eine Zeichnung zu ſich nahm, die ich waͤh-
render Erzaͤhlung von einem Garten in
England machte. Sie ſagte dabey zu
Fraͤulein R. „Dieſes Papier will ich zu
„einem Beweis aufheben, daß es Cava-
„liere giebt, die zu ihrem Nutzen, und
„zum Vergnuͤgen ihrer Freunde reiſen.“
Dieß iſt ein wichtiger Schritt, der mich
weit genug fuͤhren wird. Keine laͤcher-
liche Grimaſſe, dummer Junge, daß du
mich uͤber dieſe Kleinigkeit froh ſiehſt,
da ich es ſonſt kaum uͤber den ganzen Sieg
war; ich ſage dir, das Maͤdchen iſt auſ-
ſerordentlich. Aus ihren Fragen bemerk-
te ich eine vorzuͤgliche Neigung fuͤr Eng-
land, die mir ohne meine Bemuͤhung von
ſelbſt Dienſte thun wird. Jch redete ver-
gnuͤgt und ruhig fort; denn da ſie durch
die gleichguͤltigen Gegenſtaͤnde unſerer Un-
terredung zufrieden und vertraut wurde,
ſo huͤtete ich mich ſehr, meine Liebe, und
eine beſondere Aufmerkſamkeit zu entdecken.
Aber bald waͤre ich aus meiner Faſſung
gerathen, weil ich eine Veraͤnderung der
Stimme
[207] Stimme und Geſichtszuͤge des Fraͤuleins
von Sternheim wahrnahm. Sie ſchien
bewegt; ihre Antworten waren abgebro-
chen; ich redete aber mit Fraͤulein R. ſo
viel ich konnte gleichguͤltig fort, beobach-
tete aber die Sternheim genau. Jndem
brachte uns ein erhoͤheter Gang in dem
Garten auf einen Platz, wo man das freye
Feld entdeckte. Wir blieben ſtehen.
Das bezaubernde Fraͤulein von Sternheim
heftete ihre Blicke auf eine gewiſſe Gegend;
eine feine Roͤthe uͤberzog ihr Geſicht und
ihre Bruſt, die von der Empfindung des
Vergnuͤgens eine ſchnellere Bewegung zu
erhalten ſchien. Sehnſucht war in ih-
rem Geſicht verbreitet, und eine Minute
darauf ſtund eine Thraͤne in ihren Augen.
B* alles was ich jemals reizendes an an-
dern ihres Geſchlechts geſehen, iſt nichts
gegen den einnehmenden Ausdruck von
Empfindung, der uͤber ihre ganze Perſon
ausgegoſſen war. Kaum konnte ich dem
gluͤhenden Verlangen widerſtehen, ſie in
meine Arme zu ſchließen. Aber ganz zu
ſchweigen war mir unmoͤglich. Jch faßte
eine
[208] eine ihrer Haͤnde mit einem Arme, der
vor Begierde zitterte, und ſagte ihr auf
engliſch: ich weis nicht mehr was; aber
die Wuth der Liebe muß aus mir geſpro-
chen haben; denn ein aͤngſtlicher Schre-
cken nahm ſie ein und entfaͤrbte ſie bis
zur Todtenblaͤſſe. Da war’s Zeit mich
zu erholen, und ich befließ mich den gan-
zen uͤbrigen Abend recht ehrerbietig und
gelaſſen zu ſeyn. Mein Taͤubchen iſt
noch nicht kirre genug, um das Feuer
meiner Leidenſchaft in der Naͤhe zu
ſehen. Dieſes loderte die ganze Nacht
durch in meiner Seele; keinen Augen-
blick ſchlief ich; immer ſah’ ich das
Fraͤulein vor mir und meine Hand
ſchloß ſie zwanzigmal mit der nehmlichen
Heftigkeit zu, mit welcher ich die ihrige
gefaßt hatte. Raſend dachte ich, Sehn-
ſucht und Liebe in ihr geſehen zu haben,
die einen Abweſenden zum Gegenſtand
hatten: aber ich ſchwur mir, ſie mit
oder ohne ihre Neigung zu beſitzen.
Wenn ſie Liebe, feurige Liebe fuͤr mich be-
kommt, ſo kann es ſeyn, daß ſie mich feſ-
ſelt;
[209]ſelt; aber auch kalt, ſoll ſie mein Eigen-
thum werden.


Der Morgen kam und fand mich wie
einen tollen brennenden Narren mit offener
Bruſt und verſtoͤrten Geſichtszuͤgen am
Fenſter. Der Spiegel zeigte mich mir
unter einer Satansgeſtalt, die faͤhig ge-
weſen waͤre, das gute furchtſame Maͤd-
chen auf immer vor mir zu verſcheuchen.
Wild uͤber die Gewalt, ſo ſie uͤber mich ge-
wonnen, und entſchloſſen, mich dafuͤr
ſchadlos zu halten, warf ich mich aufs
Bette, und ſuchte einen Ausweg aus die-
ſem Gemiſche von neuen Empfindungen
und meinen alten Grundſaͤtzen zu finden.
Geduld brauchte es auf dem langweiligen
Weg, den ich vor mir ſah; weil ich nicht
wiſſen konnte, daß der Nachmittag mir
zu einem großen Sprung helfen wuͤrde.
Als ich wieder in ihre Geſellſchaft kam,
war ich lauter Sanftmuth und Ehrfurcht;
das Fraͤulein ſtille und zuruͤckhaltend.
Nach dem Eſſen ließ man uns junge Leu-
te wieder gehen, weil die Tante und die
Graͤfin F* die Charte noch vollends zu
Omiſchen
[210] miſchen hatten, mit welcher ſie das Fraͤu-
lein dem Fuͤrſten zuſpielen wollten. nach
unſerer Abrede vom vorigen Tage giengen
wir in das Dorf. Als wir gegen das
Wirthshaus kamen, wo meine Leute ein-
quartiret waren, begegnete uns ein klei-
ner Wagen mit einer Frau und Kindern
beladen, der langſam vorbey gieng, und
uns hinderte vorzukommen. Meine
Sternheim ſieht die Fran ſtarr an, wird
roth, nachdenklich, betruͤbt, alles ſchier
in Einem Anblick, und ſteht dem Wagen
melancholiſch nach. Dieſer haͤlt an dem
Wirthshauſe, die Leute ſteigen aus; die
Blicke des Fraͤuleins ſind unbeweglich auf
ſie geheftet; Unruhe nimmt ſie ein; ſie
ſieht mich und das Fraͤulein R* an, wen-
det die Augen weg, endlich legt ſie ihre
Hand auf meinen Arm, und ſagt mir auf
engliſch mit einem verſchoͤnerten Geſichte
und bittender zaͤrtlicher Stimme: Lieber
Lord, unterhalten Sie doch das Fraͤulein
R* einige Augenblicke hier, ich kenne die-
ſe Frau, und will ein paar Worte mit ihr
reden. Jch ſtutzte, machte eine einwilli-
gende
[211] gende Verbeugung und kuͤßte den Platz mei-
nes Rocks, wo ihre Hand gelegen war und
mich ſanft gedruͤckt hatte. Sie ſieht die-
ſes. Brennendroth und verwirrt eilt ſie
weg. Was T — dachte ich, muß das
Maͤdchen mit dem Weibe haben; ſie mag
wohl irgend einmal Brieftraͤgerinn, oder
ſonſt eine dienſtfertige Creatur in einem
verborgenen Liebeshandel geweſen ſeyn.
Geſtern nach meiner zaͤrtlichen Anrede
war das Maͤdchen ſtutzig; heute den gan-
zen Tag trocken, hoch, ſah mich kaum
an; ein Bettelkarn fuͤhrt eine Art Kup-
plerin herbey, und ihre Geſichtszuͤge ver-
aͤndern ſich, ſie hat mit ſich zu kaͤmpfen,
und endlich werde ich der liebe Lord, auf
den man die ſchoͤne Hand legt, ſeinen
Arm zaͤrtlich druͤckt, die Stimme, den
Blick beweglich macht, um zu einer unge-
hinderten Unterredung mit dieſem Weibe
zu kommen. Hm! Hm! wie ſiehts mit
dieſer ſtrengen Tugend aus? Jch haͤtte
das Fraͤulein R* in der Miſtpfuͤtze erſaͤu-
ſen moͤgen, um mich in dem Wirthshauſe
zu verbergen und zuzuhoͤren. Dieſe ſieht
O 2der
[212] der Sternheim nach; und ſagt: Was
macht das Fraͤulein in dem Wirthshauſe?
Jch antwortete kurz: ſie haͤtte mir geſagt,
daß ſie dieſe Bettelfrau kenne, und mit
ihr etwas zu reden haͤtte. Sie lacht,
ſchuͤttelt den Kopf mit der Miene des Af-
fengeſichts, das lang uͤber die Vorzuͤge
der Freundin neidiſch war, nichts tadeln
konnte, und nun eine innerliche Freude
uͤber den Schein eines Fehlers fuͤhlte.
„Es wird wohl eine alte gute Bekanntin
vom Dorfe P. ſeyn“ ziſchte die Natter,
mit einem Anſehen, als ob ſie ganz unter-
richtet waͤre. Jch ſagte ihr: ich wollte
einen meiner Leute horchen laſſen, denn
ich waͤre ſelbſt uͤber dieſen Vorgang in
Erſtaunen; ſchickte auch einen nach ihr,
und ſuchte indeſſen die R* folgends auszu-
locken: was ſie wohl von Fraͤulein Stern-
heim denke?


„Daß ſie ein wunderliches Gemiſche
„von buͤrgerlichem und adelichem Weſen
„vorſtellt, und ein wunderlich Gezier von
„Delicateſſe macht, die ſie doch nicht ſou-
„teniert. Denn was fuͤr ein Bezeugen
von
[213] „von einer Perſon vom Stande iſt das,
„von einer Dame und einem Cavalier weg-
„zulaufen, um — ich weis nicht wie ich
„ſagen ſoll — eine Frau zu ſprechen, die
„ſehr ſchlecht ausſieht, und die vielleicht
„am beſten die Art angeben koͤnnte; wie
„dieſes Herz zu gewinnen iſt, ohne daß
„die vielen Anſtalten und Vorkehrungen
„noͤthig waͤren, die man mit ihr macht —


Jch ſagte wenig darauf, doch ſo viel,
um ſie in Athem zu halten, weiter
zu reden. Die Genealogie des Fraͤu-
leins Sternheim wurde alſo vorgenom-
men, ihr Vater und ihre Mutter ver-
laͤumdet, und die Tochter laͤcherlich ge-
macht; mehr habe ich nicht behalten, der
Kopf war mir warm. Die Sternheim
blieb ziemlich lange weg. Endlich kam
ſie mit einem geruͤhrten, doch zufriednen
Geſichte, etwas verweinten Augen und ru-
higem Laͤcheln gegen uns, und mit einem
Ton der Stimme, ſo weich, ſo voll Liebe,
daß ich noch toller als vorher wurde, und
gar nicht mehr wußte, was ich denken ſollte.


O 3Das
[214]

Das Fraͤulein R* betrachtete ſie auf
eine beleidigende Weiſe, und meine Goͤt-
tin mochte unſere Verlegenheit gemerkt
haben, denn ſie ſchwieg, wie wir, in ei-
nem fort, bis wir wieder zu Hauſe ka-
men. Jch eilte Abends fort, um meine
Nachrichten zu hoͤren. Da erzaͤhlte mir
mein Kerl; Er haͤtte die Wirthin und die
Frau heulend uͤber die Guͤte des Fraͤu-
leins angetroffen; die Frau ſey dem Fraͤu-
lein ganz fremd geweſen, haͤtte ſich uͤber
das Anreden dieſer Dame verwundert,
und waͤre ihr mit ſorgſamem Geſicht in
die Stube gefolgt, wohin ſie ſie mit den
Kindern gefuͤhrt. Da haͤtte ihr das
Fraͤulein zugeſprochen, ſie um Ver-
gebung uͤber ihr Zudringen gebeten,
und Huͤlfe angeboten, auch wuͤrklich
Geld gegeben, und nachdem ſie erfah-
ren, daß ſie nach D* gehe, und dort
wohne, haͤtte ſie ihren Nahmen und
Aufenthalt der Frau aufgeſchrieben,
und ihr auf das liebreichſte fernere
Dienſte verſichert, auch bey der Wir-
thin eine gute Kutſche beſtellt, welche
die
[215] die Frau und Kinder nach Hauſe bringen
ſollte.


Jch dachte, mein Kerl oder ich muͤßte
ein Narr ſeyn, und widerſprach ihm al-
les; aber er fluchte mir die Wahrheit
feiner Geſchichte; und ich fand, daß das
Maͤdchen den wunderlichſten Charakter
hat. Was T* wird ſie roth und ver-
wirrt, wenn ſie etwas Gutes thun will;
was hatte ſie uns zu beluͤgen, ſie kenne
dieſe Frau; beſorgte ſie, wir moͤchten An-
theil an ihrer Großmuth nehmen?


Aber dieſe Entdeckung, das Ungefehr,
werde ich mir zu Nutze machen; ich will
die Familie aufſuchen, und ihr Gutes
thun, wie Englaͤnder es gewohnt ſind,
und dieſes, ohne mich merken zu laſſen,
daß ich etwas von ihr weiß. Aber ge-
wiß werde ich keinen Schritt machen, den
ſie nicht ſehen ſoll. Durch dieſe Wohl-
thaͤtigkeit werde ich mich ihrem Charakter
naͤhern, und da man ſich allezeit mit ei-
ner gewiſſen zaͤrtlichen Neigung an die
Gegenſtaͤnde ſeines Mitleidens und ſeiner
Freygebigkeit heftet; ſo muß in ihr noth-
O 4wendi-
[216] wendiger Weiſe eine gute Geſinnung fuͤr
denjenigen entſtehen, der, ohne ein Ver-
dienſt dabey zu ſuchen, das Gluͤck in eine
Familie zuruͤckrufen hift. Jch werde
ſchon einmal zu ſagen wiſſen, daß ihr ed-
les Beyſpiel auf mich gewuͤrkt habe, und
wenn ich nur eine Linie breit Vortheil
uͤber ihre Eigenliebe gewonnen habe, ſo
will ich bald bey Zollen und Spannen
weiter gehen.


Sie beobachtet mich ſcharf, wenn ich
nahe bey ihr in ein Geſpraͤch verwickelt
bin. Dieſer kleinen Liſt, mich ganz zu
kennen, ſetzte ich die entgegen, allezeit,
wenn ſie mich hoͤren konnte, etwas ver-
nuͤnftiges zu ſagen, oder den Diſcurs ab-
zubrechen und recht altklug auszuſehen.
Aber ob ſchon ihre Zuruͤckhaltung gegen
mich ſchwaͤcher geworden, ſo iſt es doch
nicht Zeit von Liebe zu reden; die Waag-
ſchale zieht noch immer fuͤr Seymour.
Jch moͤchte wohl wiſſen, warum das ge-
funde junge Maͤdchen den blaſſen trau-
rigen Kerl meiner friſchen Farbe und Fi-
gur vorzieht, und ſeinen kraͤchzenden Ton
der
[217] der Stimme lieber hoͤrt, als den muntern
Laut der meinigen, ſeine todten Blicke
ſucht, und mein redendes Auge flieht?
Sollte ſo viel Waſſer in ihre Empfindun-
gen gegoſſen ſeyn? Das wollen wir beym
Bal ſehen, der angeſtellt iſt, denn da
muß eine Luͤcke ihres Charakters zum Vor-
ſchein kommen, wenigſtens ſind alle moͤg-
liche Anſtalten gemacht worden, um die
tiefſchlafendſten Sinnen in eine muntere
Geſchaͤfftigkeit zu bringen. Deinen
Freund wird das Erwachen der ihrigen
nicht entgehen, und dann will ich ſchon
Sorge tragen, ſie nicht einſchlummern
zu laſſen.



Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.


Jch komme von der angenehmſten Reiſe
zuruͤck, die ich jemals mit meiner Tante
gemacht habe. Wir waren zehn Tage
bey dem Grafen von T *** auf ſeinem
O 5Schloſſe,
[218] Schloſſe, und haben da die verwittibte
Graͤſin von Sch*, welche immer da
wohnt, zwey andere Damen von der
Nachbarſchaft, und zu meiner unbeſchreib-
lichen Freude den Herrn ** gefunden,
deſſen vortreffliche Schriften ich ſchon ge-
leſen, und ſo viel Feines fuͤr mein Herz
und meinen Geſchmack daraus erlernt hat-
te. Der ungezwungene ruhige Ton ſei-
nes Umgangs, unter welchen er ſeinen
Scharfſinn und ſeine Wiſſenſchaft ver-
birgt; und die Gelaſſenheit, mit welcher
er ſich in Zeitvertreibe und Unterredungen
einflechten ließ, die der Groͤße feines Ge-
nies und ſeiner Kenntniſſe ganz unwuͤr-
dig waren, erregten in mir fuͤr ſeinen
leutſeligen Charakter die nehmliche Be-
wunderung, welche die uͤbrige Welt ſei-
nem Geiſte widmet. Jmmer hoffte ich
auf einen Anlaß, den man ihm geben wuͤr-
de, uns allen etwas nuͤtzliches von den
ſchoͤnen Wiſſenſchaften, von guten Buͤ-
chern, beſonders von der deutſchen Litera-
tur zu ſagen, wodurch unſere Kenntniſſe
und unſer Geſchmack haͤtte verbeſſert wer-
den
[219] den koͤnnen; aber wie ſehr, meine Emi-
lia, fand ich mich in meiner Hoffnung be-
trogen! Niemand dachte daran; die Ge-
ſellſchaft dieſes feinen, guͤtigen Weiſen
fuͤr den Geiſt zu benuͤtzen; man miß-
brauchte ſeine Geduld uud Gefaͤlligkeit auf
eine unzaͤhlbare Art mit geringſchaͤtzigen
Gegenſtaͤnden, auf welchen der Kleinig-
keitsgeiſt haftet, oder mit neu angekom-
menen franzoͤſiſchen Broſchuͤren, wobey
man ihm uͤbel nahm, wenn er nicht daruͤ-
ber in Entzuͤckung gerieth, oder wenn er
auch andre Sachen nicht ſo ſehr erhob,
als man es haben wollte. O! wie geizte
ich nach jeder Minute, die mir dieſer
hochachtungswerthe Mann ſchenkte; wenn
er mit dem liebreichſten, meiner Wißbe-
gierde und Empfindſamkeit angemeßnen
Tone meine Fragen beantwortete, oder
mir vorzuͤgliche Buͤcher nannte, und mich
lehrte, wie ich ſie mit Nutzen leſen koͤnne.
Mit edler Freymuͤthigkeit ſagte er mir einſt:
„Ob ſich ſchon Faͤhigkeiten und Wiſſens-
„begierde in beynahe gleichem Grade in
„meiner Seele zeigten, ſo waͤre ich doch
zu
[220] „zu keiner Denkerin gebohren; hingegen
„koͤnnte ich zufrieden ſeyn, daß mich die
„Natur durch die gluͤcklichſte Anlage den
„eigentlichen Endzweck unſers Daſeyns zu
„erfuͤllen, dafuͤr entſchaͤdigt haͤtte; dieſer
„beſtehe eigentlich im Handel, nicht im
„Speculieren;*) und da ich die Luͤcken,
„die andre in ihrem moraliſchen Leben
„und in dem Gebrauch ihrer Tage ma-
„chen, ſo leicht und fein empfaͤnde, ſo
„ſollte ich meine Betrachtungen daruͤber
„durch edle Handlungen, deren ich ſo faͤ-
„hig ſey, zu zeigen ſuchen. **)


Niemals
[221]

Niemals, meine Emilia, war ich gluͤck-
licher, als zu der Zeit, da dieſer einſichts-
volle Ausſpaͤher der kleinſten Falten des
menſchlichen Herzens, dem meinigen das
Zeugniß edler und tugendhafter Neigun-
gen beylegte. Er verwies mir, mit der
achtſamſten Guͤte, meine Zaghaftigkeit und
Zuruͤckhaltung in Beurtheilung der Werke
des Geiſtes, und ſchrieb mir eine rich-
tige Empfindung zu, welche mich berech-
tigte meine Gedanken ſo gut als andre zu
ſagen. Doch bat er mich weder im Re-
den noch im Schreiben einen maͤnnlichen
Ton zu ſuchen. Er behauptete, daß es
die Wirkung eines falſchen Geſchmacks
ſey, maͤnnliche Eigenſchaften des Geiſtes
und
**)
[222] und Charakters in einem Frauenzimmer
vorzuͤglich zu loben. Wahr ſey es, daß
wir uͤberhaupt gleiche Anſpruͤche, wie die
Maͤnner, an alle Tugenden und an alle
die Kenntniſſe haͤtten, welche die Ausuͤ-
bung derſelben befoͤrdern, den Geiſt auf-
klaͤren oder die Empfindungen und Sit-
ten verſchoͤnern; aber daß immer in der
Ausuͤbung davon die Verſchiedenheit des
Geſchlechts bemerkt werden muͤſſe. Die
Natur ſelbſt habe die Anweiſung hiezu ge-
geben, als ſie, z. E. in der Leidenſchaft
der Liebe den Mann heftig, die Frau
zaͤrtlich gemacht; in Beleidigungen Jenen
mit Zorn, Dieſe mit ruͤhrenden Thraͤnen
bewaffnet; zu Geſchaͤfften und Wiſſenſchaf-
ten dem maͤnnlichen Geiſte Staͤrke und
Tiefſinn, dem weiblichen Geſchmeidigkeit
und Anmuth; in Ungluͤcksfaͤllen dem Man-
ne Standhaftigkeit und Muth, der Frau
Geduld und Ergebung, vorzuͤglich mitge-
theilt; im haͤuslichen Leben Jenem die
Sorge fuͤr die Mittel der Familie zu er-
halten, und Dieſer die ſchickliche Austhei-
lung derſelben aufgetragen habe, u. ſ. w.
Auf
[223] Auf dieſe Weiſe, und wenn ein jeder Theil
in ſeinem angewieſnen Kreiſe bliebe, lie-
fen beyde in der nehmlichen Bahn, wie-
wohl in zwoen verſchiedenen Linien, dem
Endzweck ihrer Beſtimmung zu; oh-
ne daß durch eine erzwungene Miſchung
der Charakter die moraliſche Ordnung ge-
ſtoͤrt wuͤrde. — Er ſuchte mich mit mir
ſelbſt und meinem Schickſale, uͤber wel-
ches ich Klagen fuͤhrte, zufrieden zu ſtel-
len; und lehrte mich, immer die ſchoͤne
Seite einer Sache zu ſuchen,
den Ein-
druck der widrigen dadurch zu ſchwaͤ-
chen, und auf dieſe nicht mehr Aufmerk-
ſamkeit zu wenden, als vonnoͤthen ſey,
den Reiz und Werth des Schoͤnen und
Guten deſto lebhafter zu empfinden.


O Emilia! in dem Umgang dieſes
Mannes ſind die beſten Tage meines Gei-
ſtes verfloſſen! Es iſt etwas in mir, das
mich empfinden laͤßt, daß ſie nicht mehr
zuruͤck kommen werden, daß ich niemals
ſo gluͤcklich ſeyn werde, nach meinen
Wuͤnſchen und Neigungen, ſo einfach, ſo
wenig fodernd ſie ſind, leben zu koͤnnen!
Schelten
[224] Schelten Sie mich nicht gleich wieder
uͤber meine zaͤrtliche Kleinmuͤthigkeit; viel-
leicht iſt die Abreiſe des Herrn** daran
Urſache, die fuͤr mich eine abſcheuliche
Leere in dieſem Hauſe laͤßt. Er kommt
nur manchmal hieher. Wie Pilgrimme
einen verfallenen Platz beſuchen, wo ehe-
mals ein Heiliger wohnte, beſucht er die-
ſes Haus, um noch den Schatten des
großen Mannes zu verehren, der hier leb-
te, deſſen großen Geiſt und erfahrne
Weisheit er bewunderte, der ſein Freund
war und ihn zu ſchaͤtzen wußte.


Den Tag nach ſeiner Abreiſe langte
ein kleiner franzoͤſiſcher Schriftſteller
an, den ein Mangel an Pariſer Gluͤck
und die ſeltſame Schwachheit unſers
Adels „Die franzoͤſiſche Beleſenheit
„immer der Deutſchen vorzuziehen

in dieſes Haus fuͤhrte. Die Damen
machten viel Weſens aus der Geſellſchaft
eines Mannes, der geraden Weges von
Paris kam, viele Marquiſinnen ge-
ſprochen hatte, und ganze Reihen von
Abhandlungen uͤber Moden, Manieren
und
[225] und Zeitvertreiber der ſchoͤnen Pariſer
Welt zu machen wußte; der bey allen
Frauenzimmerarbeiten helfen konnte, und
der galanten Wittib ſein Erſtaunen uͤber
die Delicateſſe ihres Geiſtes und uͤber die
Grazien ihrer Perſon und ihrer gar nicht
deutſchen Seele
in allen Toͤnen und
Wendungen ſeiner Sprache vorſagte.


So angenehm es mir Anfangs war,
ein Urbild der Gemaͤhlde zu ſehen, die mir
ſchon oft in Buͤchern von dieſen Miethgei-
ſtern der Reichen und Großen in Frank-
reich vorgekommen waren; ſo wurde ich
doch ſchon am vierten Tag ſeiner leeren,
und nur in andern Worten wiederhohlten
Erzaͤhlungen von Meubles, Putz, Gaſte-
reyen und Geſellſchaften in Paris herzlich
muͤde. Aber die Scene wechſelte bey der
Ruͤckkunft des Herrn** der ſich die Muͤ-
he nahm, dieſen aus Frankreich berufe-
nen Hausgeiſt an den Platz ſeiner Beſtim-
mung zu ſetzen.


Das Gepraͤnge, womit das ſclaviſche
Vorurtheil, ſo unſer Adel fuͤr Frankreich
hat, dem Herrn ** den Pariſer vorſtell-
Pte;
[226] te; das Gezier, die Selbſtzufriedenheit,
womit der Franzoſe ſich als den Autor
ſehr artiger und beliebter Buͤchergen an-
preiſen hoͤrte, wuͤrde meine Emilia, wie
mich, geaͤrgert haben.


Aber wie ſchoͤn leuchtete die Beſcheiden-
heit unſers weiſen Landmanns hervor,
der mit der Menſchenfreundlichkeit, womit
der aͤchte Philoſoph die Thoren zu ertra-
gen pflegt, den Eindruck verhehlte, den
der fade bel-eſprit auf ihn machen mußte,
ja ſogar ſich mit wahrer Herablaſſung
erinnerte, eines von ſeinen Schriftchen ge-
lefen zu haben.


Mir ſchien der ganze Vorgang, als
ob ein armer Prahler mit laͤcherlichem
Stolze den edeln Beſitzer einer Goldmine
ein Stuͤckgen zackigt ausgeſchnittenes Flit-
tergold zeigte, es zwiſchen ſeinen Fingern
hin und her wendete, und ſich viel mit
dem Geraͤuſche zu gute thaͤte, ſo er da-
mit machen koͤnnte, und wozu freylich der
Vorrath gediegenen Goldes des edelmuͤthi-
gen Reichen nicht tauglich iſt; aber dieſer
laͤchelte den Thoren mit ſeinem Spielwerk
leutſelig
[227] leutſelig an, und daͤchte, es ſchimmert
und toͤnt ganz artig, aber du mußt es
vor dem Feuer der Unterſuchung und dem
Waſſer der Wiederwaͤrtigkeit*) bewahren,
wenn dein Vergnuͤgen dauerhaft ſeyn ſoll.


Herr ** fragte den Bel-eſprit nach
den großen Maͤnnern in Frankreich, de-
ren Schriften er geleſen haͤtte und hoch-
ſchaͤtzte: aber er kannte ſie, wie wir an-
dern, nur dem Nahmen nach, und ſchob
immer anſtatt eines Mannes von gelehr-
ten Verdienſten, den Nahmen eines rei-
chen oder großen Hauſes ein.


Jch, die ſchon lange uͤber den uͤbeln
Gebrauch, den man von der Geſellſchaft
P 2und
[228] und Gefaͤlligkeit des Herrn ** machte,
erboßt war, zumal da ihn dem ungeach-
tet alle um ſich haben wollten, und mich
wie neidiſchſumſende Weſpen hinderten,
etwas Honig fuͤr mich zu ſammeln, auch
nur den Pariſer immer reden machten:
ich warf endlich die Frage auf: Was fuͤr
einen Gebrauch die franzoͤſiſchen Damen
von dem Umgang ihrer Gelehrten mach-
ten? Jch vernahm aus der Antwort:


Sie lernten von ihnen


„Die Schoͤnheiten der Sprache und
des Ausdrucks;


„Von allen Wiſſenſchaften eine Jdee
zu haben, um hie und da etliche Worte
in die Unterredung miſchen zu koͤnnen,
die ihnen den Ruhm vieler Kenntniſſe er-
haſchen haͤlfen:


„Wenigſtens die Nahmen aller Schrif-
ten zu wiſſen, und etwas das einem Ur-
theil gleiche daruͤber zu ſagen;


„Sie beſuchten auch mit ihnen die oͤf-
fentlichen phyſicaliſchen Lehrſtunden, wo
ſie ohne viele Muͤhe, ſehr nuͤtzliche Be-
griffe ſammelten;


Jnglei-
[229]

„Jngleichem die Werkſtaͤtte der Kuͤnſt-
ler, deren Genie fuͤr Pracht und Vergnuͤ-
gen arbeitet, und alles dieſes truͤge viel
dazu bey, ihre Unterredungen ſo ange-
nehm und abwechſelnd zu machen.


Da fuͤhlte ich mit Unmuth die vor-
zuͤgliche Klugheit der franzoͤſiſchen Eigen-
liebe, die ſich in ſo edle nuͤtzliche Aus-
wuͤchſe verbreitet. Jmmer genug, wenn
man begierig iſt die Bluͤthe der Baͤume zu
kennen; bald wird man auch den Wachs-
thum und die Reife der Fruͤchte erforſchen
wollen.


Wie viel hat dieſe Nation voraus,
denn nichts wird ſchneller allgemein als
der Geſchmack des Frauenzimmers.


Warum brachten ſeit ſo vielen Jahren
die meiſten unſerer Cavaliere von ihren Pa-
riſer Reiſen ihren Schweſtern und Ver-
wandtinnen, unter tauſenderley verderb-
lichen Modenachrichten, nicht auch dieſe
mit, die alles andere verbeſſert haͤtte?
Aber da ſie fuͤr ſich nichts als laͤcherliche
und ſchaͤdliche Sachen ſammeln, wie ſoll-
P 3ten
[230] ten ſie das Anſtaͤndige und Nutzbare fuͤr
uns
ſuchen?


Jch berechnete noch uͤber dieß den Ge-
winn, den ſelbſt das Genie des Gelehrten
durch die Fragen der lehrbegierigen Un-
wiſſenheit erhaͤlt, die ihn oft auf Betrach-
tung und Nachdenken uͤber eine neue Sei-
te gewiſſer Gegenſtaͤnde fuͤhrt, die er als
gering uͤberſah, oder die, weil ſie allein
an das Reich der Empfindungen graͤnzte,
von einem Frauenzimmer eher bemerkt
wurde, als von Maͤnnern. Gewiß iſt es,
daß die Bemuͤhung, andre in einer Kunſt
oder Wiſſenſchaft zu unterrichten, unſere
Begriffe feiner, deutlicher und vollkomme-
ner macht. Ja, ſogar des Schuͤlers
verkehrte Art etwas zu faſſen, die einfaͤl-
tigſten Fragen deſſelben, koͤnnen der An-
laß zu großen und nuͤtzlichen Entdeckun-
gen werden; wie dieſe von dem Gaͤrtner
zu Florenz, uͤber die bey abwechſelnder
Witterung bemerkte Erhoͤhung oder Er-
niedrigung des Waſſers in ſeinem Brun-
nen, die vortreffliche Erfindung des Ba-
ronets veranlaßte. Aber ich komme zu
weit
[231] weit von dem liebenswuͤrdigen Deutſchen
weg, deſſen feines und mit unendlichen
Kenntniſſen bereichertes Genie in unſerer
aus ſo verſchiednen Charaktern zuſammen
geſetzten Geſellſchaft, moraliſche Schat-
tierfarben zu ſeinen reizenden Ge-
maͤhlden der Menſchen ſammelte.

Er ſagte mir dieſes, als ich ſeine Herab-
laſſung zu manchen nichtsbedeutenden Ge-
ſpraͤchen lobte.


Mit Entzuͤckung lernte ich in ihm das
Bild der aͤchten Freundſchaft kennen, da
er mir von einem hochachtungswuͤrdigen
Manne erzaͤhlte, „der von dem ehemali-
„gen Beſitzer dieſes Hauſes erzogen wor-
„den, und als ein lebender Beweis der
„unzaͤhligen Faͤhigkeiten unſers Geiſtes
„anzufuͤhren ſey, weil er die Wiſſenſchaft
„des feinſten Staatsmannes mit aller Ge-
„lehrſamkeit des Philoſophen, des Phyſi-
„kers und des ſchoͤnen Geiſtes verbaͤnde,
„alle Werke der Kunſt gruͤndlich beurthei-
„len koͤnnte, die Staatsoͤkonomie und
„Landwirthſchaft in allen ihren Theilen
„verſtehe, verſchiedene Sprachen gut rede
P 4„und
[232] „und ſchreibe, ein Meiſter auf dem Cla-
„vier und ein Kenner aller ſchoͤnen Kuͤnſte
„ſey, und mit ſo vielen Vollkommenheiten
„des Geiſtes das edelſte Herz und den
„großen Charakter eines Menſchenfreun-
„des in ſeinem ganzen Umfang verbinde-
„te — —“


Sie ſehen aus dieſem Gemaͤhlde, ob
Herr ** Urſache hat, die Freundſchaft
eines ſolchen Mannes, fuͤr das vorzuͤgli-
che Gluͤck ſeines Lebens zu halten! Und
Sie werden ſich mit mir uͤber die Ent-
ſchließung freuen, welche er gefaßt hat,
den aͤlteſten Sohn ſeines Freundes an den
ſeit kurzem veraͤnderten Ort ſeiner Beſtim-
mung mitzunehmen. Durch die halbe
Laͤnge Deutſchlands von den Freunden
ſeines Herzens entfernt, will er alle die
Geſinnungen, die er fuͤr die Aeltern hat,
auf das Haupt dieſes Knaben verſam-
meln: ihn zu einem tugendhaften Mann
erziehn, und dadurch, weit von ſeinen
Freunden, die Verbindung ſeines Her-
zens mit den ihrigen unterhalten. O
Emilia! Was iſt Gold? Was ſind Ehren-
ſtellen,
[233] ſtellen, die die Fuͤrſten manchmal dem
Verdienſte zutheilen, gegen dieſe Gabe der
Freundſchaft des Herrn ** an den Sohn
ſeiner gluͤcklichen Freunde? Wie ſehr ver-
ehrt ihn mein Herz! Wie viele Wuͤnſche
mache ich fuͤr ſeine Erhaltung! Und wie
ſelig muͤſſen ſeine Abendſtunden, nach ſo
edel ausgefuͤllten Tagen ſeyn!


Mein Brief iſt lang; aber meine Emi-
lia hat eine Seele, die ſich mit Ergoͤtzen
bey der Beſchreibung einer uͤbenden Tu-
gend verweilt, und mir Dank dafuͤr weiß.
Herr ** reiſte Abends weg, und wir, zu
meinem Vergnuͤgen, den zweeten Morgen
darauf. Denn jeder Platz des Hauſes
und Gartens, wo ich ihn geſehen hatte,
und jetzt mit Schmerzen vermißte, ſtuͤrzte
mich in einen Abfall innerlicher Traurig-
keit, die mir an unſerm Hof nicht ver-
mindert wird. Doch ich will nach ſeinem
Rath immer die ſchoͤne Seite meines
Schickſals ſuchen, und Jhnen in Zukunft
nur dieſe zeigen.


Nun muß ich mich zu einem Feſt an-
ſchicken, welches Graf F* auf ſeinem
P 5Landguth
[234] Landguth geben wird. Jch liebe die auf-
gehaͤuften Luſtbarkeiten nicht; aber man
wird tanzen, und Sie wiſſen, daß ich
von allen andern Ergoͤtzungen fuͤr dieſe
die meiſte Neigung habe. —



Milord Derby
an
ſeinen Freund B*.


Jch ſchreibe dir, um der Freude meines
Herzens einen Ausbruch zu ſchaffen; denn
hier darf ich ſie niemand zeigen. Aber
es iſt luſtig zu ſehen, wie alle Anſtalten,
die man dem Fuͤrſten zu Ehren macht, ſich
nur alleine dazu ſchicken muͤſſen, das ſchoͤne
ſchuͤchterne Voͤgelchen in mein verſtecktes
Garn zu jagen. Der Graf F*, der den
Oberjaͤgermeiſter in dieſer Gelegenheit
macht, gab letzthin dem ganzen Adel auf
ſeinem Guthe ein recht artig Feſtin, wo-
bey wir alle in Bauerkleidungen erſchei-
nen mußten.


Wir
[235]

Wir kamen Nachmittags zuſammen,
und unſre Bauerkleider machten eine ſchoͤ-
ne Probe, was natuͤrlich edle, oder was
nur erzwungene Anſtalten waren. Wie
manchem unter uns fehlte nur die Grab-
ſchaufel oder die Pflugſchare, um der
Bauerknecht zu ſeyn, den er vorſtellte;
und gewiß unter den Damen war auch
mehr als eine, die mit einem Huͤhnerkorbe
auf dem Kopfe, oder bey der Melkerey
nicht das geringſte Merkmal einer beſon-
dern Herkunft oder Erziehung behalten
haͤtte. Jch war ein ſchottiſcher Bauer,
und ſtellte den kuͤhnen entſchloßnen Cha-
rakter, der den Hochlaͤndern eigen iſt,
ganz natuͤrlich vor; und hatte das Ge-
heimniß gefunden, ihn mit aller der Ele-
ganz, die, wie du weiſt, mir eigen iſt,
ohne Nachtheil meines angenommenen
Charakters, zu verſchoͤnern. Aber dieſe
Zauberin von Sternheim war in ihrer
Verkleidung lauter Reiz und ſchoͤne Na-
tur; alle ihre Zuͤge waren unſchuldige
laͤndliche Freude; ihr Kleid von hell-
blauem Tafft, mit ſchwarzen Streifen ein-
gefaßt,
[236] gefaßt, gab der ohnehin ſchlanken grie-
chiſchen Bildung ihres Koͤrpers, ein noch
feineres Anſehen, und den Beweis, daß
ſie gar keinen erkuͤnſtelten Putz noͤthig ha-
be. Alle ihre Wendungen waren mit
Zauberkraͤften vereinigt, die das neidiſche
Auge der Damen, und die begierigen
Blicke aller Mannsleute an ſich hefteten.
Jhre Haare ſchoͤn geflochten und mit Baͤn-
dern zuruͤckgebunden, um nicht auf der
Erde zu ſchleppen, gaben mir die Jdee,
ſie einſt in der Geſtalt der miltoniſchen
Eva zu ſehen, wenn ich ihr Adam ſeyn
werde. Sie war munter, und ſprach
mit allen Damen auf das Gefaͤlligſte.
Jhre Tante und die Graͤfin F* uͤberhaͤuften
ſie mit Liebkoſungen, ſie dachten dadurch
das Maͤdchen in der muntern Laune zu er-
halten, in welcher ſie ihre Gefaͤlligkeit
auch auf den Fuͤrſten ausbreiten koͤnnte.


Seymour fuͤhlte die ganze Macht ihrer
Reizungen, verbarg aber, nach der poli-
tiſchen Verabredung mit ſeinem Oncle ſei-
ne Liebe unter einem Anfall von Spleen,
der den ſauertoͤpfiſchen Kerl, ſtumm und
unruhig,
[237] unruhig, bald unter dieſen, bald unter
jenen Baum fuͤhrte, wohin ihm Fraͤulein
C*, als ſeine Baͤuerin, wie ein Schatten
folgte. Meine Leidenſchaft koſtete mich
herculiſche Muͤhe, ſie im Zuͤgel zu halten;
aber ſchweigen konnte ich nicht, ſondern
haſchte jede Gelegenheit, wo ich an dem
Fraͤulein von Sternheim vorbeygehen,
und ihr auf engliſch etwas bewunderndes
ſagen konnte. Aber etliche mal haͤtte ich
ſie zerquetſchen moͤgen, da ihre Blicke,
wiewohl nur auf das Fluͤchtigſte, mit al-
ler Unruh der Liebe nach Seymour gerich-
tet waren. Endlich entſchluͤpfte ſie un-
ter dem Volke, und wir ſahen ſie auf die
Thuͤre des Gartens vom Pfarrhofe zuei-
len; man beredete ſich daruͤber, und ich
blieb an der Ecke des kleinen Milchhauſes
ſtehen, um ſie beym Zuruͤckkommen zu
beobachten. Ehe eine Viertelſtunde vor-
bey war, kam ſie heraus. Die ſchoͤnſte
Carminfarbe, und der feinſte Ausdruck
des Entzuͤckens war auf ihrem Geſicht
verbreitet. Mit leutſeliger Guͤte dankte
ſie fuͤr die Bemuͤhung etlicher Zuſeher, die
ihr
[238] ihr Platz geſchafft hatten. Niemals hatte ich
ſie ſo ſchoͤn geſehen als in dieſem Augenblick!
ſogar ihr Gang ſchien leichter und ange-
nehmer als ſonſt. Jedermann hatte die
Augen auf ſie gewandt; ſie ſah es; ſchlug
die ihre zur Erden, und erroͤthete außer-
ordentlich. Jn dem nehmlichen Augen-
blick kam der Fuͤrſt auch mitten durch das
Gedraͤnge des Volks aus dem Pfarrgar-
ten heraus. Nun haͤtteſt du den Aus-
druck des Argwohns und des boshaften
Urtheils der Gedanken uͤber die Zuſammen-
kunft der Sternheim mit dem Fuͤrſten ſe-
hen ſollen, der auf einmal in jedem ſproͤ-
den, coquetten und devoten Affengeſicht
ſichtbar wurde; und die albernen Scherze
der Mannsleute uͤber die Roͤthe, da ſie
der Fuͤrſt mit Entzuͤcken betrachtete.
Beydes wurde als ein Beweis ihrer ver-
gnuͤgten Zuſammenkunft im Pfarrhaus
aufgenommen, und alle ſagten ſich ins
Ohr: wir feyren das Feſt der Uebergabe
dieſer fuͤr unuͤberwindlich gehaltenen Schoͤ-
nen. Die reizende Art, mit welcher ſie
dem Fuͤrſten etwas Erfriſchung brachte;
die
[239] die Bewegung mit der er aufſtund, ihr
entgegen gieng, und bald ihr Geſichte
bald ihre Leibesgeſtalt mit verzehrenden
Blicken anſah, und nachdem er den Sor-
bet getrunken hatte, ihr den Teller weg-
nahm, und den jungen F* gab, ſie aber
neben ihn auf die Bank ſitzen machte;
die Freude des Alten von F*, der Stolz
ihres Onkels und ihrer Tante, der ſich
ſchon recht ſichtbar zeigte, — alles be-
ſtaͤrkte unſre Muthmaßungen. Wuth
nahm mich ein, und im erſten Anfall
nahm ich Seymourn, der außer ſich
war, beym Arm und redete mit ihm von
dieſer Scene. Die heftigſte aͤußerſte Ver-
achtung belebte ſeine Anmerkungen uͤber
ihre vorgeſpiegelte Tugend, und die elen-
de Aufopferung derſelben; uͤber die Frech-
heit ſich vor dem ganzen Adel zum Schau-
ſpiel zu machen, und die vergnuͤgteſte
Miene dabey zu haben. Dieſer letzte Zug
ſeines Tadels brachte mich zur Vernunft.
Jch uͤberlegte, der Schritt waͤre in Wahr-
heit zu frech und dabey zu dumm; die
Scene des Wirthshauſes in F* fiel mir
ein;
[240] ein; ein Zweifel, der ſich daruͤber bey
mir erhob, machte mich meinen Will
rufen. Jch verſprach ihm hundert Gui-
neen, um die Wahrheit deſſen zu erfahren,
was im Pfarrhauſe zwiſchen dem Fuͤrſten
und der Sternheim vorgegangen. Jn
einer Stunde, wovon mir jede Minute
ein Jahr duͤnkte, kam er mit der Nach-
richt, daß die Fraͤulein dem Fuͤrſten nicht
geſehen, ſondern allein mit dem Pfarrer ge-
ſprochen, und ihm zehn Carolinen fuͤr die
Armen des Dorfs gegeben habe, mit der
inſtaͤndigſten Bitte, ja niemand nichts
davon zu ſagen. Der Fuͤrſt waͤre nach
ihr gekommen, und haͤtte dem Adel von
weitem zuſehen wollen, wie ſie ſich belu-
ſtigten, ehe er komme, um ſie deſto unge-
ſtoͤrter fortfahren zu machen.


Da ſtund ich und fluchte uͤber die
Schwaͤrmerinn die uns zu Narren machte.
Und dennoch war das Maͤdchen wuͤrklich
edler als wir alle, die wir nun an unſer
Vergnuͤgen dachten; waͤhrend ſie ihr Herz
fuͤr die armen Einwohner des Dorfs er-
oͤffnete, um einen der Freude gewiedmeten
Tag
[241] Tag bis auf ſie auszudehnen. Was
war aber ihre Belohnung davor? Die
niedertraͤchtigſte Beurtheilung ihres Cha-
rakters, wozu ſich das elendeſte Geſchoͤpf
unter uns berechtigt zu ſeyn glaubte.
Jn Wahrheit, eiue ſchoͤne Aufmunterung
zur Tugend! Willſt du mir ſagen, daß
die innerliche Zufriedenheit unſre wahre
Belohnung ſey, ſo darf ich nur denken,
daß juſt der Ausdruck dieſer Zufriedenheit
auf dem Geſichte des engliſchen Maͤdchens,
da es vom Pfarrhof zuruͤck kam, zu ei-
nem Beweis ihres Fehlers gemacht wurde.
Aber wie dankte ich meiner Begierde, die
Sache ganz zu wiſſen, die mich berufenen
Boͤſewicht zu der beſten Seele der ganzen
Geſellſchaft machte; denn ich allein woll-
te die Sache ergruͤnden, ehe ich ein feſtes
Urtheil uͤber ſie faßte, und ſiehe, ich wur-
de auf der Stelle fuͤr dieſe Tugend mit der
Hoffnung belohnt, das liebenswerthe Ge-
ſchoͤpfe ganz rein in meine Arme zu be-
kommen; dann nun ſoll es nur ihr oder
mein Tod verhindern koͤnnen; mein gan-
zes Vermoͤgen und alle Kraͤfte meines Gei-
Qſtes
[242] ſtes, ſind zu Ausfuͤhrung dieſes Vorha-
bens beſtimmt.


Mit triumphirendem Geſichte eilte ich
zur Geſellſchaft, nachdem ich Willen
verboten, keiner Seele nichts von ſeiner
Entdeckung zu ſagen, und ihm noch hun-
dert Guineen fuͤr ſein Schweigen verſpro-
chen hatte. Du wirſt fodern, daß ich
meine Entdeckung zum Beſten des Fraͤu-
leins haͤtte mittheilen ſollen. Dann,
meynſt du, waͤre mein Triumph edel ge-
weſen! Sachte, mein guter Herr! ſachte!
Jch konnte auf dem Weg der guten Hand-
lungen nicht ſo eilend fortwandern, noch
weniger gleich mein ganzes Vergnuͤgen
aufopfern. Und wozu haͤtte meine Ent-
deckung gedient, als des Fuͤrſten und
meine Beſchwerlichkeiten zu vergroͤßern?
Wie vielen Spaßes haͤtte ich mich beraubt,
wenn ich die Unterredungen des vorigen
Stoffs unterbrochen haͤtte? Denn indeß
ich weg war, hatte eine mißverſtandne
Antwort des Fuͤrſten die ganze Sache ins
Reine gebracht. Denn da der Graf F.
den Fuͤrſten gefragt: ob er das Fraͤulein
im
[243] im Pfarrgarten geſehen habe? und der
Fuͤrſt ihm ganz kurz mit Ja antwortete,
und die Augen gleich nach ihr kehrte; da
war der Vorgang gewiß; ja ſie war,
weil man doch auch dem Pfarrer eine Rol-
le dabey zu ſpielen geben wollte, zur lin-
ken Hand vermaͤhlt, und viele bezeugten
ihr ſchon beſondere Aufwartungen als der
kuͤnftigen Gnaden Ausſpenderin. Der
Graf F*, ſeine Frau, der Oncle und die
Tante des Fraͤuleins fuͤhrten den Reihen
dieſer wahnſinnigen Leute. Selbſt Mi-
lord G. ſpielte die Rolle mit, ob ſie gleich
etwas gezwungen bey ihm war. Aber
Seymour, durch die Beleidigung ſeiner
Liebe und der Vollkommenheit des Jdeals,
das er ſich von ihr in den Kopf phanta-
ſiert hatte, in einen unbiegſamen Zorn
gebracht, konnte ſich kaum zu der ge-
woͤhnlichen Hoͤflichkeit entſchließen, einen
Menuet mit ihr zu tanzen; ſein froſtiges
ſtoͤrriges Ausſehen, womit er die freund-
lichſten Blicke ihrer ſchoͤnen Augen erwie-
derte, machte endlich, daß ſie ihn nicht
mehr anſah; aber goß zugleich eine Nie-
Q 2derge-
[244] dergeſchlagenheit uͤber ihr ganzes Weſen
aus, welche die edle Anmuth ihres un-
nachahmlichen Tanzes auf eine entzuͤcken-
de Art vergroͤßerte. Jeder Vorzug, den
ihm ihr Herz gab, machte mich raſend,
aber verdoppelte meine Aufmerkſamkeit auf
alles, was zu Erhaltung meines End-
zwecks dienen konnte. Jch ſah, daß ſie
die außerordentlichen Bemuͤhungen und
Schmeicheleyen der Hofleute bemerkte,
und Mißfallen daran hatte. Jch nahm
die Partie, ihr lauter edle feine Ehrerbie-
tung zu beweiſen; es gefiel ihr, und ſie
redete in ſchoͤnem Engliſchen mit mir recht
artig und aufgeweckt vom Tanzen, als
der einzigen Ergoͤtzlichkeit, die ſie liebte.
Da ich die Vollkommenheit ihrer Menuet
lobte, wuͤnſchte ſie, daß ich dieſes von
ihr bey den engliſchen Landtaͤnzen ſagen
moͤchte, in denen ſie die ſchoͤne Miſchung
von Froͤhlichkeit und Wohlſtand ruͤhmte,
die der Taͤnzerinn keine Vergeſſenheit ihrer
ſelbſt und dem Taͤnzer keine willkuͤhrliche
Freyheiten mit ihr erlaubte; wie es bey
den deutſchen Taͤnzen gewoͤhnlich ſey.
Mein
[245] Mein Vergnuͤgen uͤber dieſe kleine freund-
ſchaftliche Unterredung wurde durch die
Wahrnehmung des ſichtbaren Verdruſſes,
den Seymour daruͤber hatte, unendlich
vergroͤßert. Der Fuͤrſt, dem es auch nicht
gefiel, naͤherte ſich uns, und ich entfern-
te mich, um dem Grafen F* zu ſagen,
daß das Fraͤulein gerne engliſch tanze.
Gleich wurde die Muſik dazu angefangen,
und jeder ſuchte ſeine Baͤuerin auf. Der
junge F* als Compagnon des Fraͤuleins
von Sternheim, ſtellte ſich in der halben
Reyhe an; aber ſein Vater machte alle
Paare zuruͤcktreten, um dem Fraͤulein den
erſten Platz zu geben; die ihn mit Erſtau-
nen annahm, und die Reihe mit der ſel-
tenſten Geſchwindigkeit und vollkommen-
ſten Anmuth durchtanzte Jch blieb bey
der erſten Partie mit Fleiß zuruͤck, und
gieng an der Reyhe mit Milord G. und
dem Fuͤrſten auf und ab. Dieſer hatte
kein Auge, als fuͤr Fraͤulein Sternheim
und ſagte immer: tanzt ſie nicht wie ein
Engel? Da nun Lord G. verſicherte, daß
eine gebohrne Englaͤnderin, Schritt und
Q 3Wen-
[246] Wendungen nicht beſſer machen koͤnnte,
ſo bekam der Fuͤrſt den Gedanken, das
Fraͤulein ſollte mit einem Englaͤnder tan-
zen. Jch trat in ein Fenſter, um zu war-
ten, auf wem die Wahl kommen wuͤrde;
als einige Ruhezeit vorbey war, erſuchte
der Fuͤrſt das Fraͤulein um die Gefaͤllig-
keit, noch mit der zweyten Reihe, aber
mit einem von uns zween Englaͤndern zu
tanzen. Eine ſchoͤne Verbeugung, und
das Umſehen nach uns zeigte ihre Be-
reitwilligkeit an. Wie zaͤrtlich ihr Blick
den ſproͤden Seymourn auffoderte, dem
es F* zuerſt, als Milord G. Nepoten, an-
trug, und der es verbat. Die jaͤhe Er-
roͤthung des Verdruſſes faͤrbte ihr Geſicht
und ihre Bruſt; aber ſogleich war eine
freundliche Miene fuͤr mich da, der ich
mit ehrerbietiger Eilfertigkeit meine Hand
anbot; aber dieſe Miene hielt mich nicht
ſchadlos, und preßte mir den Gedanken ab:
O Sternheim! eine ſolche Empfindung fuͤr
mich haͤtte dir und der Tugend mein Herz
auf ewig erworben! Die Bemuͤhung, dich
andern zu entreiſſen, vermindert meine
Zaͤrtlich-
[247] Zaͤrtlichkeit; Begierde und Rache bleiben
mir allein uͤbrig. — Mein aͤußerliches
Anſehen ſagte nichts davon; ich war lau-
ter Ehrfurcht. Sie tanzte vortrefflich,
man ſchrieb es der Begierde zu, dem Fuͤr-
ſten zu gefallen. Jch allein wußte, daß
es eine Bemuͤhung ihrer beleidigten Eigen-
liebe war, um den Seymour durch die
Schoͤnheit und Munterkeit ihres Tanzes
uͤber ſeine abſchlaͤgige Antwort zu ſtrafen.
Und geſtraft war er auch! Sein Herz voll
Verdruß war froh bey mir Klagen zu fuͤh-
ren, und ſich ſelbſt zu verdammen, daß
er, ungeachtet ſie alle ſeine Verachtung
verdiente, ſich dennoch nicht erwehren
koͤnnte, die zaͤrtlichſte Empfindlichkeit fuͤr
ihre Reizungen zu fuͤhlen.


„Warum haſt du denn nicht mit ihr
getanzt?“


Gott bewahre mich, ſagte er; ich waͤre
gewiß unter dem Kampfe zwiſchen Liebe
und Verachtung an ihrer Seite zu Boden
geſunken. Jch lachte ihn aus, und ſagte;
er ſollte lieben wie ich, ſo wuͤrde er mehr
Vergnuͤgen davon haben, als ihm ſeine
Q 4uͤber-
[248] uͤbertriebene Jdeen jemals gewaͤhren
wuͤrden.


Jch fuͤhle, daß du gluͤcklicher biſt, als
ich, ſagte der Pinſel, aber ich kann mich
nicht aͤndern. Verdammt ſey die Liebe,
dacht’ ich, die dieſen und mich zu ſo elenden
Hunden macht. Seymour, zwiſchen dem
Schmerz der Verachtung fuͤr einen ange-
beteten Gegenſtand, und allen Reizungen
der Sinne herum getrieben, war ungluͤck-
lich, weil er nichts von ihrer Unſchuld
und Zaͤrtlichkeit wußte. Jch, der mei-
ner Hochachtung und Liebe nicht entſagen
konnte, war ein Spiel des Neides und
der Begierde mich zu raͤchen, und genoß
wenig Freude dabey, als dieſe, andern
die ihrige ſicher zu zerſtoͤren, es folge dar-
aus was da wolle. — Arbeit habe
ich! — Denn ſo kuͤnſtlich und ſicher ich
ſonſt meine Schlingen zu flechten wußte,
ſo nuͤtzen mich doch meine vorigen Erfah-
rungen bey ihr nichts, weil ſie ſo viele
Entfernung von allen ſinnlichen Vergnuͤ-
gungen hat. Bey einem Ball, wo bey-
nahe alle Weibsperſonen Coquetten, und
auch
[249] auch die Beſten von der Begierde zu ge-
fallen eingenommen ſind, haͤngt ſie der
Uebung der Wohlthaͤtigkeit nach. Andre
werden durch die Verſammlung vieler Leu-
te und den Lermen eines Feſtes, durch
die Pracht der Kleider und Verzierungen
betaͤubt, durch die Muſik weichlich ge-
macht, und durch alles zuſammen den Ver-
fuͤhrungen der Sinnlichkeit bloß gegeben,
Sie wird auch geruͤhrt, aber zum Mit-
leiden fuͤr die Armen; und dieſe Bewe-
gung iſt ſo ſtark, daß ſie Geſellſchaft und
Freuden verlaͤßt, um ein Werk der Wohl-
thaͤtigkeit auszuuͤben. Ha! wenn dieſe
ſtarke und geſchaͤfftigte Empfindlichkeit ih-
rer Seele zum Genuß des Vergnuͤgens
umgeſtimmt ſeyn wird, und die erſten Toͤ-
ne fuͤr mich klingen werden! — dann,
B., dann werde ich dir aus Erfahrung
von der feinen Wolluſt erzaͤhlen koͤnnen,
die Venus in Geſellſchaft der Muſen
und Grazien ausgießt. Aber ich werde
mich dazu vorbereiten muͤſſen. Wie
Schwaͤrmer, die in den perſoͤnlichen Um-
gang mit Geiſtern kommen wollen, eine
Q 5Zeit-
[250] Zeitlang mit Faſten und Beten zubringen;
muß ich dieſer enthuſiaſtiſchen Seele zu ge-
fallen, mich aller meiner bisherigen Ver-
gnuͤgungen entwoͤhnen. Schon hat mir
meine, von ungefehr entdeckte Wohlthaͤ-
tigkeit an der Familie T* große Dienſte
bey ihr gethan; nun muß ich ſie einmal
in dieſem Hauſe uͤberraſchen. Sie geht
manchmal hin, den Kindern Unterricht,
und den Aeltern Troſt zu geben. Den-
noch hat alle ihre Moral den Einfluß mei-
ner Guineen nicht verhindern koͤnnen,
durch die ich bey dieſen Leuten Gelegenheit
finden werde, ſie zu ſehen, und einen
Schritt zu ihrem Herzen zu machen; waͤh-
rend, daß ich auf der andern Seite die
magiſche Sympathie der Schwaͤrme-
rey
zu ſchwaͤchen ſuche, die in einem ein-
zigen Augenblick zwiſchen ihr und Sey-
mourn entſtehen koͤnnte, wenn ſie jemals
einander im Umgang nahe genug kaͤmen,
den ſogleich geſtimmten Ton ihrer Seelen
zu hoͤren. Doch dem bin ich ziemlich zu-
vor kommen, indem ſich Seymour juſt
des Secretairs ſeines Oncles, der mein
Sclave
[251] Sclave iſt, bedient, um Nachrichten ein-
zuziehen, die dieſer bey mir hohlt, ohne mit
mir zu reden. Denn wir ſchreiben uns
nur, und ſtecken unſre Billets hinter ein
alt Gemaͤhlde im obern Gang des Hauſes.
Dieſer Juͤnger des Lucifers leiſtet mir vor-
treffliche Dienſte. Doch muß ich Sey-
mourn die Gerechtigkeit wiederfahren laſ-
ſen, daß er uns die Muͤhe, ſo viel an ihm
iſt, erleichtert. Er flieht die Sternheim wie
eine Schlange, ungeachtet er ſich um alle
ihre Bewegungen erkundigt; und dieſe
werden durch die Farbe, welche ihnen
meine Nachrichten geben, ſchielend und
zweydeutig genug, um auf ſeinen ſchon
eingenommenen Kopf alle Wuͤrkung zu
machen, die ich wuͤnſche- Den Fuͤrſten
fuͤrchte ich nicht; jeder Schritt, den er
machen wird, entfernt ihn vom Ziel.
Von allem, was Fuͤrſten geben koͤnnen,
liebt ſie nichts. Das Maͤdchen macht
eine ganz neue Gattung von Charak-
ter aus!


Milord
[252]

Milord Seymour
an
den Doctor B.


Jch bin ſeit vier Stunden von einem
praͤchtigen und wohl ausgeſonnenen Feſte
zuruͤckgekommen; und da ich ungeachtet
der heftigen Bewegungen, die meine Le-
bensgeiſter erlitten, keinen Schlaf finden
kann, ſo will ich wenigſtens die Ruhe ſu-
chen, welche eine Unterredung mit einem
wuͤrdigen Freund einem bekuͤmmerten
Herzen giebt. Warum, o mein theurer
Lehrmeiſter, konnte Jhre erfahrne Weis-
heit kein Mittel finden, meine Seele ge-
gen die Heftigkeit guter Eindruͤcke zu be-
waffnen, ſo wie Sie eins gefunden haben,
mich gegen das Beyſpiel und die Aufmun-
terung der Bosheit zu bewahren. Jch
will Jhnen die Urſache erzaͤhlen; ſo wer-
den Sie ſelbſt ſehen, wie gluͤcklich ich
durch eine vernuͤnftige Gleichguͤltigkeit ge-
worden waͤre.


Der erſte Miniſter des Hofs gab dem
Adel, oder vielmehr der Fuͤrſt gab unter
dem
[253] dem Nahmen des Grafen F* dem Fraͤu-
lein von Sternheim eine Fête auf dem
Lande, welche die Nachahmung auf den
hoͤchſten Grad der Gleichheit fuͤhrte, denn
die Kleidungen, die Muſik, der Platz wo
die Luſtbarkeit gegeben wurde, alles be-
zeichnete das Landfeſt. Mitten auf einer
Matte waren eigne Bauerhaͤnſer und ei-
ne Tanzſcheure erbaut. Der Gedanke
und die Ausfuͤhrung entzuͤckte mich, in
den erſten zwo Stunden, da ich nichts als
die Schoͤnheit des Feſtes und die alles
uͤbertreffende Liebenswuͤrdigkeit des Fraͤu-
leins von Sternheim vor mir ſah. Nie-
mals, mein Freund, niemals wird das
Bild der lautern Unſchuld, der reinen
Freude wieder ſo vollkommen erſcheinen,
als es dieſe zwo Stunden durch, in der
edeln ſchoͤnen Figur von Sternheim abge-
zeichnet war! Verdammt ſeyn die Kuͤnſte,
welche es an ihr auszuloͤſchen wußten!
Aber in einer Perſon von ſo vielem Geiſte,
von einer ſo vortrefflichen Erziehung,
muß der Wille dabey geweſen ſeyn; es
war unmoͤglich ſie zu beruͤcken; unmoͤglich
iſt
[254] iſt es auch, daß es allein die Wuͤrkung
ihrer von Muſik, Pracht und Geraͤuſch
empoͤrten Sinnen geweſen ſey. Jch weiß
wohl, daß man bey dieſen Umſtaͤnden un-
vermerkt von der Bahn der moraliſchen
Empfindungen abweicht und ſie aus dem
Geſichte verliehrt. Aber da ſie die letzte
Warnung ihres guten Genius verwarf,
und wenige Minuten darauf der angeſtell-
ten Unterredung mit dem Fuͤrſten entge-
gen eilte, und ſich dadurch die Gering-
ſchaͤtzung des Elendeſten unter uns zuzog:
da hatte ich Muͤhe, den hohen Grad von
Verachtung und Abſcheu, die mich gegen
ſie einnahmen, zu verbergen. Jch muß
Jhnen erklaͤren, was ich unter den letzten
Wink ihres Genius verſtehe. Es war eine
Bilderbude da, wo die Damen Lotteriezettel
zogen; ſagen Sie, ob es wohl ein bloßes
Ungefehr, oder nicht ein letzter Wink der
Vorſicht war, daß das Fraͤulein von
Sternheim die vom Apollo verfolgte
Daphne
bekam! Die Partie des Fuͤrſten
ſah es nicht gerne; ſie dachte, es wuͤrde
ihre Widerſpaͤnſtigkeit beſtaͤrken. Jhr
gefiel
[255] gefiel es, ſie wies es jedermann, und re-
dete es als eine gute Kennerinn von der
Zeichnung und Mahlerey. Meine Freu-
de war nicht zu beſchreiben; ich hielt die
Beſorgniſſe der Hofleute gegruͤndet, und
die Freude des Fraͤuleins bekraͤftigte mich
in der Jdee, daß ſie durch ihre Tugend
eine neue fliehende Daphne ſeyn wuͤrde.
Aber wie ſchmerzhaft, wie niedertraͤchtig
hat mich nicht ihre Scheintugend betro-
gen, da ſie ſich gleich darauf dem Apollo
in die Arme warf! Jch ſah ſie mit ihrer
ehrloſen Tante, und der Graͤfin F* eini-
ge Zeit auf und abgehen; die zwo elenden
Unterhaͤndlerinnen ſchmeichelten ihr in die
Wette. Endlich merkte ich, daß ſie mit
einer zaͤrtlichen und ſorgſamen Miene,
bald die Geſellſchaft, bald die Thuͤre des
Pfarrgartens anſah; und auf einmal
mit dem leichteſten freudigſten Schritt
durch die Zuſeher drang und in den Gar-
ten eilte. Lang war ſie nicht darinn,
aber ihr Hineingehen hatte ſchon Aufſehen
erweckt. Wie vieles verurſachte erſt der
Ausdruck von Zufriedenheit und Beſchaͤ-
mung
[256] nung, mit welchem ſie zuruͤck kam; da der
Fuͤrſt bald nach ihr heraus trat, der ſein
Vergnuͤgen uͤber ſie nicht verbergen konn-
te, und ſeine Leidenſchaft in vollem Feuer
zeigte. Mit wie viel niedertraͤchtiger Ge-
faͤlligkeit bot ſie ihm Sorbet an, ſchwatzte
mit ihm, tanzte ihm zu Liebe engliſch mit
einem Eifer, den ſie ſonſt nur fuͤr die Tu-
gend zeigte. Und wie reizend, o Gott,
wie reizend war ſie! Wie unnachahmlich
ihr Tanz; alle Grazien in ihr vereinigt,
ſo wie es die Furien in meinem Herzen
waren! denn ich fuͤhlte es von dem Ge-
danken zerriſſen, daß ich, der ihre Tu-
gend angebetet hatte, der ſie zu meiner
Gemahlin gewuͤnſcht, ein Zeuge ſeyn
mußte, wie ſie Ehre und Unſchuld aufgab,
und im Angeſichte des Himmels und der
Menſchen, ein triumphirendes Ausſehen
dabey hatte. Unbegreiflich iſt mir eine
Beobachtung uͤber mein Herz in dieſer Ge-
legenheit. Sie wiſſen, wie heftig ich einſt
eine unſerer Schauſpielerinnen liebte; ich
wußte, daß ihre Gunſt zu erkaufen war,
und daß ſie fuͤr ihr Herz ganz keine Ach-
tung
[257] tung verdiente. Jch hatte auch keine,
und dennoch dauerte meine Leidenſchaft in
ihrer ganzen Staͤrke fort. Jtzt hingegen
verachte, verfluche ich dieſe Sternheim und
ihr Bild. Jhre Reize und meine Liebe
liegen noch in dem Grunde meiner Seele;
aber ich haſſe beyde, und mich ſelbſt,
daß ich zu ſchwach bin, ſie zu vernichten.


Mein Oncle redete mir im nach Hau-
ſe fahren zu, wie ein Mann deſſen Leiden-
ſchaften ſchon lange geſaͤttigt ſind, und
der, wenn er als Miniſter zu Vergnuͤgung
des Ehrgeizes ſeines Fuͤrſten tauſend
Schlachtopfer fuͤr nichts achtet, natuͤrli-
cher Weiſe die Aufopferung der Tugend
eines Maͤdchens zu Befriedigung der Lei-
denſchaft eines Großen fuͤr eine ſehr we-
nig bedeutende Kleinigkeit anſehen muß.
O waͤre ſie ein gemeines Maͤdchen mit
Papageyen-Schoͤnheit und Papageyen-
Verſtand geweſen, ſo koͤnnte ich es
anſehen, wie Er! Aber die edelſte
Seele, und Kenntniſſe zu beſitzen; an
die Verehrung der ganzen Welt An-
ſpruch zu haben, und ſich hinzuwerfen!
RSie
[258] Sie ſoll zur linken Hand vermaͤhlt wor-
den ſeyn. Elende laͤcherliche Larve,
eine verſtellte Tugend vor Schande
ſicher zu ſtellen! — Alle ſchmeichelten ihr;
Sie, mein Freund, kennen mich genug,
um zu wiſſen, ob ich es that. Jch werde
nicht an den Hof gehen bis ich ruhiger
bin; niemals liebte ich das Hofleben ganz,
nun verabſcheue ich es! Die Reiſen mei-
nes Oncles will ich aushalten; aber mei-
ne Frau Mutter ſoll nicht fodern, daß ich
Hofdienſte nehme, oder mich verheyrathe;
das Fraͤulein von Sternheim hat mich
beydem auf ewig entſagen gemacht.
Derby, der ruchloſe Derby, verachtet ſie
auch, aber er hilft ſie betaͤuben; denn
er erzeigt ihr mehr Ehrerbietung als
ſonſt; — Der Boͤſewicht!



Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.


Kommen Sie, meine Emilia, Sie ſollen
auch einmal eine aufgeweckte Erzaͤhlung
von
[259] von mir erhalten. Sie wiſſen, daß ich
gerne tanze, und daß F* einen Bal geben
wollte. Dieſer iſt nun vorbey, und ich
war ſo vergnuͤgt dabey, daß das Anden-
ken davon mir noch itzt angenehm iſt.
Alle Anſtalten dieſes niedlichen Feſtins
waren voͤllig nach meinem Geſchmack,
nach meinen eigenſten Jdeen eingerichtet.
Laͤndliche Einfalt und feine Hofkuͤnſte fan-
den ſich ſo artig mit einander verwebt, daß
man ſie nicht trennen konnte, ohne dem
einen oder dem andern ſeine beſte Annehm-
lichkeit zu rauben. Jch will verſuchen,
ob eine Beſchreibung davon dieſe Vorſtel-
lung bey Jhnen bekraͤftigen wird.


Der Graf F* wollte auf dem Guth,
wo ſeine Gemahlin die Cur gebraucht, und
die Beſuche des ganzen Adels empfangen
hatte, zum Beweis ſeiner Freude uͤber
das Wohlſeyn der Graͤfin und ſeines
Danks fuͤr die ihr bewieſene Achtung, an
dem nehmlichen Orte, eine Ergoͤtzung fuͤr
uns alle anſtellen. Wir wurden acht Ta-
ge voraus geladen, und gebeten, Paar
weiſe in ſchoͤnen Bauerkleidungen zu er-
R 2ſcheinen,
[260] ſcheinen, weil er ein Landfeſt vorſtellen
wollte. Der junge Graf F* ſein Nepote
wurde in der Liſte ein Bauer und ich be-
kam die Kleidung eines Alpen Maͤdchens;
lichtblau und ſchwarz; die Form davon
brachte meine Leibesgeſtalt in das vor-
theilhafteſte Anſehen, ohne im geringſten
geſucht oder gezwungen zu ſcheinen. Das
feine ganz nachlaͤſſig aufgeſetzte Stroh-
huͤtgen und meine ſimpel geflochtnen Haare
machten meinem Geſicht Ehre. Sie wiſ-
ſen, daß mir viele Liebe fuͤr die Einfalt
und die ungekuͤnſtelten Tugenden des
Landvolks eingefloͤßt worden iſt. Dieſe
Neigung erneuerte ſich durch den An-
blick meiner Kleidung. Mein edel ein-
faͤltiger Putz ruͤhrte mich; er war meinem
die Ruhe und die Natur liebenden Herzen
noch angemeßner als meiner Figur, wie-
wohl auch dieſe damals, in meinen Au-
gen, im ſchoͤnſten Lichte ſtund. Als ich
voͤllig angezogen den letzten Blick in den
Spiegel warf und vergnuͤgt mit meinent
laͤndlichen Anſehen war, machte ich den
Wunſch, daß, wenn ich auch dieſe Klei-
dung
[261] dung wieder abgelegt haben wuͤrde, doch
immer reine Unſchuld und unverfaͤlſchte
Guͤte meines Herzens den Grund einer
heitern wahren Freude in meiner Seele
erhalten moͤchte! Mein Oncle, meine
Tante, und der Graf F* hoͤrten nicht auf,
mein zaͤrtliches und reizendes Ausſehen
zu loben, und ſo kamen wir auf das
Guth, wo wir in der halben Allee, die
auf ſchoͤnen Wieſengrund gepflanzt iſt,
abſtiegen, und gleich den Ton der Schal-
may hoͤrten, verſchiedene Paare von arti-
gen Bauren und Baͤuerinnen erblickten,
und im Fortfahren, bald eine Maultrom-
mel, bald eine kleine Landpfeiffe, oder ir-
gend ein andres Jnſtrument dieſer Art,
das voͤllige Landfeſt ankuͤndigen hoͤrten.
Simpel gearbeitete hoͤlzerne Baͤnke waren
zwiſchen den Baͤumen geſetzt, und zwey
artige Bauerhaͤuſer an beiden Seiten der
Allee erbaut, wo in Einem auf alle moͤgli-
che Art zubereitete Milch und andre Erfri-
ſchungen in kleinen porcelainen Schuͤſſel-
chen bereit waren. Jedes hatte ſeinen
hoͤlzernen Teller und ſeinen Loͤffel von Por-
R 3celain.
[262] celain. Unter der Thuͤre dieſes Hauſes
war die Graͤfin F* als Wirthin gekleidet,
und bewillkommte die Gaͤſte mit einer rei-
zenden Gefaͤlligkeit. Alle Bedienten des
Hauſes waren als Kellerjungen oder
Schenkknechte, und auch die Muſicanten
nach baͤueriſcher Art angezogen; auf ei-
nem Platz waren Becker und Bilderkraͤ-
mer, wo unſre Bauren uns hinfuͤhrten
und eine Baͤuerin eine Prezel oder ſonſt
ein Stuͤck aus feiner Paſtille gearbeitetes
Brod bekam, welches der Bauer zerbrach
und dann entweder ein Stuͤck Spitzen,
Baͤnder oder andre artige Sachen darinn
fand. Bey dem Bilderkraͤmer bekamen
wir niedliche Miniatur-Gemaͤhlde zu ſe-
hen, welche, wie aus einer Lotterie gezo-
gen wurden. Jch bekam die vom Apollo
verfolgte Daphne, ein feines niedliches
Stuͤck; es ſchien auch, daß mich andere
darum beneideten, weil es fuͤr das ſchoͤn-
ſte gehalten wurde. Es duͤnke mich vie-
lerley Veraͤnderungen und Ausdruͤcke auf
den Geſichtern einiger Damen zu leſen,
da ſie es anſahen.


Wie
[263]

Wie der ganze Adel beyſammen war,
wurden wir junge Fraͤulein gebeten, die
aͤltern Damen und Cavaliere mit Erfri-
ſchungeu bedienen zu helfen; unſre Geſchaͤff-
tigkeit war artig zu ſehen; fuͤr eine fremde
Perſon aber muͤßten die forſchenden halb
verborgnen Blicke, die immer eine Dame
nach der andern ſchickte, zu vielen kleinen
Betrachtungen Anlaß gegeben haben.
Jch war voll herzlicher Freude; es war
Grasboden, den ich betrat, Baͤume, unter
deren Schatten ich eine Schuͤſſel Milch
verzehrte, friſche Luft, was ich athmete,
ein heitrer offner Himmel um mich her,
nur zwanzig Schritte von mir ein ſchoͤner
Bach und wohl angebaute reiche Kornfel-
der! Mir ſchien’s, als ob die unbegraͤnzte
Ausſicht in das Reich der Natur meinen
Lebensgeiſtern und Empfindungen eine
freyere Bewegung verſchaffte, ſie von dem
einkerkernden Zwang des Aufenthalts in
den Mauren eines Pallaſtes voller gekuͤn-
ſtelten Zierrathen und Vergoldungen, in
ihre natuͤrliche Freyheit und in ihr ange-
bohrnes Element ſetzte. Jch redete auch
R 4mehr
[264] mehr und freudiger als ſonſt, und war
von den erſten, die Reihentaͤnze zwiſchen
den Baͤumen anfiengen. Dieſe zogen
alle Einwohner des Dorfs aus ihren
Huͤtten, um uns zuzuſehen. Nach eini-
gem Herumhuͤpfen gieng ich mit meiner
Tante und der Graͤfin F*, die mich ſehr
lobten und liebkoſten, auf und ab; wo
mir denn bald der froͤhliche und glaͤnzen-
de Haufen von Landleuten, die wir vor-
ſtellten, in die Augen fiel, bald auch der,
welchen unſre Zuſeher ausmachten, dar-
unter ich viele arme und kummerhafte Ge-
ſtalten erblickte. Jch wurde durch dieſen
Contraſt und das gutherzige Vergnuͤgen,
womit ſie uns betrachteten, ſehr geruͤhrt,
und ſo bald ich am wenigſten bemerkt wur-
de, ſchluͤpfte ich in den Pfarrgarten, der
ganz nahe an die Wieſe ſtoͤßt, wo wir
tanzten; gab dem Pfarrer etwas fuͤr die
Armen des Dorfs und gieng mit einem
gluͤcklichen Herzen zuruͤck in die Geſell-
ſchaft. Milord Derby ſchien auf meine
Schritte gelauert zu haben; denn wie ich
aus dem Pfarrgarten heraus trat, ſah
ich,
[265] ich, daß er an dem einem Ende des
Milchhauſes ſtand, und ſeine Augen un-
verwandt auf die Thuͤre des Gartens ge-
heftet hatte, mit forſchenden und feurigen
Blicken ſah er mich an, gieng mir haſtig
entgegen, um mir einige außerordentliche,
ja gar verliebte Sachen uͤber meine Ge-
ſtalt und Phyſionomie zu ſagen. Dieſes
und die neugierige Art, womit mich alle an-
ſahen, machte mich erroͤthen und die Au-
gen zur Erde wenden; als ich ſie in die Hoͤ-
he hob, war ich einem Baume, an welchen
ſich Milord Seymour ganz traurig und
zaͤrtlich ausſehend lehnte, ſo nahe, daß
ich dachte, er muͤßte alles gehoͤret haben,
was Milord Derby mir geſagt hatte.
Jch weiß nicht ganz, warum mich dieſe
Vorſtellung etwas verwirrte; aber be-
ſtuͤrzt wurde ich, da ich alles aufſtehen
und ſich in Ordnung ſtellen ſah, weil der
Fuͤrſt eben aus dem Pfarrgarten kam.
Der Gedanke, daß er mich da haͤtte an-
treffen koͤnnen, machte mir eine Art Ent-
ſetzen, ſo daß ich zu meiner Tante floh,
gleich als ob ich fuͤrchtete allein zu ſeyn.
R 5Aber
[266] Aber meine innerliche Zufriedenheit half
mir wieder zu meiner Faſſung, ſo daß ich
dem Fuͤrſten meine Verbeugung ganz ge-
laſſen machte. Er betrachtete und lobte
meine Kleidung in ſehr lebhaften Aus-
druͤcken. Die Graͤfin F*, welche mich
noͤthigte ihm eine Schale Sorbet anzu-
bieten, brachte mich in eine Verlegenheit,
die mir ganz zuwider war; denn ich muß-
te mich zu ihm auf die Bank ſetzen, wo er
mir uͤber meine Perſon und zum Theil auch
uͤber den uͤbrigen Adel, ich weiß nicht
mehr was fuͤr wunderliches Zeug vorſag-
te. Die meiſten fiengen an einſam ſpa-
zieren zu gehen. Da ich ihnen mit Auf-
merkſamkeit nachſahe, fragte mich der
Fuͤrſt: Ob ich auch lieber herumgehen, als
bey ihm ſeyn wollte? Jch ſagte ihm, ich
daͤchte, es wuͤrden wieder Reihen getanzt
und ich wuͤnſchte dabey zu ſeyn. Soglelch
ſtund er auf, und begleitete mich zu den
uͤbrigen. Jch dankte mir den Einfall,
und mengte mich eilends unter den Hau-
fen junger Leute, die alle beyſammen ſtun-
den. Sie laͤchelten uͤber mein Eindrin-
gen,
[267] gen, waren aber ſehr hoͤflich, bis auf Fraͤu-
lein C* die immer ganz muͤrriſch den Kopf
nach einer Seite kehrte. Jch wandte mich
auch hin, und erblickte Seymourn und
Derby, die einander am Arm fuͤhrten und
mit haſtigen Schritten, am Bach auf und
nieder giengen. Jndeſſen wurde es etwas
dunkel, und man lud uns zu dem Abend-
eſſen, welches in der andern Bauerhuͤtte be-
reit ſtund. Man blieb nicht lange bey
Tiſche; denn alles eilte in den Tanzſaal,
der in einer dazu aufgebaueten Scheuer
verſteckt war. Niemand konnte uͤber das
Ende der Tafel froher ſeyn, als ich; denn
als die Ranglooſe gezogen wurden, ſetzte
mich mein widriges Geſchicke gleich an den
Fuͤrſten, der beſtaͤndig mit mir redte, und
mich alle Augenblicke etwas koſten machte.
Dieſer Vorzug des ungefaͤhr *) zeigte mir
die
[268] die Hofleute in einem neuen aber ſehr klei-
nen Lichte; denn ihr Betragen gegen mich
war, als ob ich eine große Wuͤrde erhal-
ten haͤtte, und ſie ſich mir gefaͤllig ma-
chen muͤßten. Es war niemand, der mir
nicht irgend eine ſchickliche oder unſchickli-
che Schmeicheley ſagte, den einzigen Sey-
mour ansgenommen, welcher nichts redete.
Sein Oncle G. und Milord Derby ſag-
ten mir dagegen deſto feinere Hoͤflichkei-
ten vor; beſonders hatte dieſer die gefaͤl-
ligſte Ehrerbietigkeit in ſeinem ganzen Be-
zeugen gegen mich. Er ſprach vom Tan-
zen mit dem eigentlichen Ton, der fuͤr die-
ſen Gegenſtand gehoͤrte, ſo daß er mir
aufs neue Achtung fuͤr ſeine Talente und
Bedauern uͤber die ſchlimme Verwendung
derſelben einfloͤßte. Jch fand bey dem
Tanzen, daß es nicht fuͤr alle vortheil-
haft iſt, daß der Bal ſich mit Menuetten
anfaͤngt, weil dieſer Tanz ſo viel Anmuth
in der Wendung und ſo viel Nettigkeit des
Schritts
*)
[269] Schritts erfodert, daß es manchen Per-
ſonen ſehr ſchwer fiel, dieſen Geſetzen
Genuͤge zu leiſten. Der außerordentliche
Beyfall, den ich erhielt, fuͤhrte mein Herz
auf ein zaͤrtliches Andenken meiner theuren
Aeltern zuruͤck, die unter andern liebrei-
chen Bemuͤhungen fuͤr meine Erziehung,
auch das fruͤhzeitige und oͤftere Tanzen
betrieben, weil mein ſchnelles Wachſen
eine große Figur verſprach, und mein Va-
ter ſagte: daß der fruͤhe Unterricht im
Tanzen einer großen Perſon am noͤthig-
ſten ſey, um durch die Muſik ihre Bewe-
gungen harmoniſch und angenehm zu ma-
chen, indem es immer bemerkt worden
ſey, daß die Grazien ſich leichter mit ei-
ner Perſon von mittlerer Groͤße verbin-
den, als mit einer von mehr als gewoͤhn-
licher Laͤnge. Dieſes war die Urſache,
warum ich alle Tage tanzen, und bey mei-
nen Handarbeiten, wenn wir alleine wa-
ren, eine Menuet-Arie fingen mußte,
denn mein Vater behauptete, daß durch
dieſe Uebung unvermerkt alle meine Wen-
dungen natuͤrliche Grazien erhalten wuͤr-
den.
[270] den. Sollte ich alles Lob glauben, das
man meinem Tanzen und Anſtand giebt,
ſo ſind ſeine Vermuthungen alle eingetrof-
fen; ſo wie ich ſeinen Ausſpruch uͤber den
Vorzug der Anmuth vor der Schoͤnheit
ganz wahr gefunden habe, weil ich geſe-
hen, daß die holdſelige Miene der mit
ſehr wenig Schoͤnheit begabten Graͤfin
Zin *** ihr beynahe mehr Neiderinnen
zuzog, als die Fraͤulein von B* mit ihrer
Venus-Figur nicht hatte; und die Neide-
rinnen waren ſelbſt unter der Zahl der
Frauenzimmer von Verdienſten. Woher
dieſes Emilia? Fuͤhlen etwan vernuͤnf-
tige Perſonen den Vorzug der Anmuth
vor der Schoͤnheit ſtaͤrker als andre, und
wuͤnſchen ſie daher begieriger zu ihrem Ei-
genthum? Oder kam dieſer Neid von der
Beobachtung, daß die ganz anmuthsvolle
Graͤfin Z *** die hochachtungswuͤrdigſte
Mannsperſonen an ſich zog? Oder wagt
die feine Eigenliebe eher einen Anfall auf
Reize des Angenehmen, als auf die ganze
Schoͤnheit, weil Jene nicht gleich von al-
len Augen bemerkt werden, und der Man-
gel
[271] gel der aͤußerſten Vollkommenheit ſehr
leicht mit dem Gedanken eines fehlerhaf-
ten Charakters oder Verſtandes verbun-
den wird, und alſo der Tadlerinn wohl
noch den Ruhm eines ſcharfen Auges ge-
beu kann, da hingegen die kleinſten
Schmaͤhungen uͤber ein ſchoͤnes Frauen-
zimmer von jedem Zuhoͤrer an die Rech-
nung des Neides kommen? Edle und kluge
Eigenliebe ſoll ſich immer die Gunſt der
Huldgoͤttinnen wuͤnſchen, weil ſie ihre
Geſchenke niemals zuruͤcknehmen, und
weder Zeit noch Zufaͤlle uns derſelben be-
rauben koͤnnen. Jch geſtehe ganz auf-
richtig, daß wenn ich in den ſchoͤnen grie-
chiſchen Zeiten geboren geweſen waͤre, ſo
haͤtte ich meine beſten Opfer dem Tempel
der Grazien geweiht. — Aber, ich fehe
meine Emilia, ich errathe, was ſie denkt;
denn indem ſie dieſes Schreiben lieſt,
fragt der Ausdruck ihrer Phyſionomie:
„War meine Freundin Sternheim ſo ganz
„fehlerfrey, weil ſie die von den andern
„ſo dreuſte bezeichnete? Neid mag ſie nicht
„gehabt haben, denn der Plan, dem ſich
„ihre
[272] „ihre Eitelkeit nachzugehen vorgenommen
„hatte, meynt durch nichts geſtoͤrt worden
„zu ſeyn; der Dank fuͤr die Tanzuͤbungen
„in ihrer Erziehung zeigt es an; oft iſt es
„bloß ein großer Grad der Zufriedenheit
„mit ſich ſelbſt, was uns vom Neide frey
„macht, anſtatt, daß es die wahre Tu-
„gend thun ſollte.“


Seyn Sie ruhig, meine liebe ſtrenge
Freundin, ich empfinde, daß Sie recht
haben; ich war eitel und ſehr mit mir zu-
frieden; aber ich wurde dafuͤr geſtraft.
Jch hielt mich fuͤr ganz liebenswuͤrdig,
aber ich war es nicht in den Augen desje-
nigen, bey dem ich es vorzuͤglich zu ſeyn
wuͤnſchte. Jch befliß mich ſo ſehr gut
engliſch zu tanzen, daß Miiord G. und
Derby zu dem Fuͤrſten ſagten, eine ge-
bohrne Englaͤnderin koͤnnte den Schritt,
die Wendungen und den Takt nicht beſ-
ſer treffen. Man bat mich, mit einem
Englaͤnder eine Reihe durchzutanzen.
Milord Seymour wurde dazu aufgefordert,
und, Emilia! er ſchlug es aus; mit ei-
ner ſo unfreundlichen, beynahe veraͤcht-
lichen
[273] lichen Miene, daß es mir eine ſchmerzli-
che Empfindung gab. Mein Stolz ſuch-
te dieſe Wunde zu verbinden; doch beru-
higte mich ſein duͤſtres Bezeugen gegen
alle Welt am allermeiſten; er redete mit
gar niemand mehr, als mit ſeinem Oncle
und Herrn Derby, welcher mit entzuͤckter
Eilfertigkeit der Auſfoderung entgegen
gieng. Jch ſuchte ihn auch dafuͤr durch
mein beſtes Tanzen zu belohnen, und zu-
gleich Seymourn durch meine Munterkeit
zu zeigen, daß mich ſein Wider wille nicht ge-
ruͤhrt habe. Sie kennen mich. Sie urthei-
len gewiß, daß dieſer Augenblick nicht an-
genehm fuͤr mich war; aber meine vorei-
lige Neigung verdiente eine Strafe! War-
um ließ ich mich durch die Lobreden der
Liebhaberinn des Milord Seymour ſo ſehr
zu ſeinem Beſten einnehmen, daß ich die
Gerechtigkeit fuͤr andre daruͤber vergaß,
und auf dem Wege war, die Achtung fuͤr
mich ſelbſt zu vergeſſen? Aber ich habe
ihm Dank, daß er mich zum Nachdenken
und Ueberlegen zuruͤckfuͤhrte; ich bin nun
ruhiger in mir ſelbſt, billiger fuͤr andre,
Sund
[274] und habe auch deswegen neue Urſache mit
dieſem Feſte vergnuͤgt zu ſeyn. Jch habe
fuͤr meinen Naͤchſten eine Pflicht der Wohl-
thaͤtigkeit ausgeuͤbt, und fuͤr mich eine
Lection der Klugheit gelernt, und nun
hoffe ich, meine Emilia iſt mit mir zufrie-
den, und liebt mich wie ſonſt.



Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.


Nun habe ich den Brief, den mir die
arme Madam T* auf dem Guthe des Gra-
fen F* verſprochen, und worinn ſie mir
die Urſachen ihres Elends erzaͤhlt; er iſt
ſo weitlaͤuftig und auf ſo dichtes Papier
geſchrieben, daß ich ihn nicht beyſchließen
kann. Sie werden aber aus dem Ent-
wurf meiner Antwort das meiſte davon
ſehen, und einige Hauptzuͤge will ich hier
bemerken.


Sie
[275]

Sie iſt aus einer guten aber armen
Raths-Familie entſproſſen; ihre Mutter
war eine rechtſchaffene Frau und ſorgfaͤl-
tige Hauswirthin, die ihre Toͤchter ſehr
gering in Speiſe und Kleidung hielt, we-
nig aus dem Hauſe gehen ließ, und zu be-
ſtaͤndigen Arbeiten anſtrengte, auch ihnen
immer von ihrem wenigen Vermoͤgen re-
dete, welches die Hinderniß ſey, warum
ſie und die ihrigen in Kleidung, Tiſch und
uͤbrigem Aufwande andern, die reicher und
gluͤcklicher waͤren, nicht gleich kaͤme.
Die Kinder ließen ſichs, wiewohl ungern,
gefallen. Die Mutter ſtirbt, der Rath
T* wirbt um die zwote Tochter, und er-
haͤlt ſie ſehr leicht, weil man wußte, daß
er ein artiges Vermoͤgen von ſeinen Ael-
tern ererbt hatte. Der junge Mann will
ſeinen Reichthum zeigen, macht ſeiner
Frau ſchoͤne Geſchenke, die Einrichtung
ſeines Hauſes wird auch ſo gemacht, ſie
geben Beſuche, laden Gaͤſte ein, und die-
ſe werden nach der Art beguͤterter Leute
bedient; ſie ziehen ſich dadurch eine Men-
ge Tiſchfreunde zu, und die gute Frau,
S 2welche
[276] welche in ihrem Leben nichts als den Man-
gel dieſer Gluͤckſeligkeiten des Reichthums
gekannt hatte, uͤbergiebt ſich mit Freuden
dem Genuß des Wohllebens, der Zer-
ſtreuung in Geſellſchaften und dem Ver-
gnuͤgen ſchoͤner und abwechſelnder Klei-
dung. Sie bekoͤmmt Kinder; dieſe faͤngt
man auch an ſtandesmaͤßig zu erziehen;
und das Vermoͤgen wird aufgezehrt; man
macht Schulden und fuͤhrt mit entlehn-
tem Gelde den gewohntem Aufwand fort,
bis die Summe ſo groß wird, daß die
Glaͤubiger keine Geduld mehr haben und
ſie mit ihren Mobilien und dem Hauſe
ſelbſt die Bezahlung machen muͤſſen; und
nun verſchwanden auch alle ihre Freunde.
Die Gewohnheit eines guten Tiſches und
die Liebe zu ſchoͤner Kleidung, nahm ih-
nen das Uebrige. Das Einkommen von
ſeinem Amte wurde in den erſten Monaten
des Jahres verbraucht, in den andern
fand ſich Mangel und Kummer ein; der
Mann konnte ſeinen Stolz, die Frau ihre
Liebe zur Gemaͤchlichkeit nicht vergnuͤgen;
bey ihm fehlte der Wille, bey ihr die Klug-
heit
[277] heit ſich nach ihren Umſtaͤnden einzurich-
ten; es wurden Wohlthaͤter geſucht; es
fanden ſich einige; aber ihre Huͤlfe war
nicht zureichend. Der Mann wurde un-
muthig, machte den Leuten, welche ſeine
Freunde geweſen, Vorwuͤrfe, beleidigte
ſie, und ſie raͤchten ſich, indem ſie ihn
ſeines Amts verluſtig machten. Nun
war Verzweiflung und Elend in gleichem
Maaß ihr Antheil; beydes wurde noch
durch den Anblick von ſechs Kindern ver-
groͤßert. Alle Verwandten hatten die
Haͤnde abgezogen, und da ihr Elend ſie
zu allerhand kleinen, oft niedertraͤchtigen
Huͤlfsmitteln zwang, ſo wurden ſie endlich
ein Gegenſtand der Verachtung und des
Haſſes. Jn dieſem Zuſtande lernte ich ſie
kennen, und bot ihnen meine Huͤlfe an.
Geld, Kleidung und Leinengeraͤthe und
andrer noͤthiger Hausrath, war der An-
fang davon. Jch ſehe aber wohl, daß
dieſes nicht hinreichend wird, wenn das
Uebel nicht in der Wurzel gehoben, und
ihre Denkensart von den falſchen Begrif-
fen von Ehre und Gluͤck getheilt wird.
S 3Jch
[278] Jch habe einen Entwurf dazu gemacht,
und ihren rechtſchaffenen Mann, den ein-
ſichtvollen Herrn Br* bitte, ihn auszuar-
beiten, und zu verbeſſern. Denn ich ſe-
he wohl ein, daß die Erfahrung und das
Nachdenken eines zwanzigjaͤhrigen Maͤd-
chens nicht hinreichend iſt, die dieſer Fa-
milie auf allen Seiten noͤthige Anweiſung
zu einer richtigen Denkungsart zu ge-
ben. Sie, meine Emilia, werden ſehen,
daß meine Gedanken meiſtens Auszuͤge
aus den Papieren meiner Erziehung ſind,
die ich auf dieſen Fall anzupaſſen ſuchte.
Es iſt fuͤr den Reichen ſchwer, dem Ar-
men einen angenehmen Rath zu geben;
denn dieſer wird den Ernſt des erſtern bey
ſeinen moraliſchen Jdeen immer in Zwei-
fel ziehen, und ſeine Ermahnungen zu
Fleiß und Genuͤgſamkeit, als Kennzeichen
annehmen, daß er ſeiner Wohlthaͤtigkeit
muͤde ſey; und dieſer Gedanke wird alle
gute Wuͤrkungen verhindern. Zwey Ta-
ge von Zerſtreuung haben mein Schreiben,
wo ich bey dem Rath T* ſtehen blieb, un-
terbrochen. Wollte Gott, ich haͤtte ihn
reich
[279] reich machen koͤnnen, und haͤtte nur die
Bitte zu dieſer Gabe ſetzen duͤrfen, ſie mit
Klugheit zu brauchen. Das Wohlergehn
dieſer Familie hat mich mehr gekoſtet, als
wenn ich ihnen die Haͤlfte meines Vermoͤ-
gens gegeben haͤtte. Jch habe ihr einen
Theil meiner Denkungsart aufgeopfert;
der Rath T* lag mir ſehr an, ihm durch
meinen Oncle wieder ein Amt zu verſchaf-
fen. Jch ſagte es dieſem, und er ant-
wortete mir: er koͤnne die Gnade, welche
er wieder anfange, bey dem Fuͤrſten zu ge-
nießen, fuͤr niemand als ſeine Kinder ver-
wenden, indem er ſeinen Familien-Pro-
ceß zu gewinnen ſuchte. Jch war daruͤ-
ber traurig, aber meine Tante ſagte mir:
ich ſollte bey naͤchſter Gelegenheit ſelbſt
mit dem Fuͤrſten ſprechen; ich wuͤrde fin-
den, daß er gerne Gutes thue, wenn
man ihm einen wuͤrdigen Gegenſtand da-
zu zeigte, und ich wuͤrde gewiß keine Fehl-
bitte thun. Nachmittags kamen der
Graf F* und ſeine Gemahlin zu uns;
mit dieſen beredete ich mich auch, und
erſuchte beyde, ſich bey dem Fuͤrſten dieſer
S 4armen
[280] armen Familie wegen zu verwenden; aber
auch ſie ſagten mir; weil es die erſte
Gnade waͤre die ich mir ausbaͤte, ſo wuͤr-
de ich ſie am leichteſten durch mich ſelbſt
erhalten. Zudem wuͤrde er es, der Sel-
tenheit wegen, zuſagen, weil ſich noch nie-
mals eine junge muntere Dame mit ſo
vielem Eifer um eine verungluͤckte Fami-
lie angenommen habe, und dieſer neue
Zug meines Charakters wuͤrde die Hoch-
achtung vermehren, die er fuͤr mich zeigte.
Jch wurde unmuthig keine Hand zu finden,
die ſich mit der meinigen zu dieſem Werk
der Wohlthaͤtigkeit vereinigen wollte; mit
dem Fuͤrſten redete ich ſehr ungern, ich
konnte auf ſeine Bereitwilligkeit zaͤhlen,
denn ſeine Neigung fuͤr mich hatte ich
ſchon deutlich genug geſehen, aber eben
daher entſtund meine Unſchluͤßigkeit, ich
wuͤnſchte immer in einer Entfernung von
ihm zu bleiben, und meine Fuͤrbitte, ſeine
Zuſage und mein Dank naͤhern mich ihm
und ſeinen Lobſpruͤchen, nebſt den Erzaͤh-
lungen, die er mir ſchon von neuen ihm
bisher unbekannten Geſinnungen, die ich,
ihm
[281] ihm einfloͤßte, zweymal gemacht hat. Et-
liche Tage kaͤmpfte ich mit mir, aber da
ich den vierten Abend einen Beſuch in dem
troſtloſen Hauſe machte, die Aeltern froh
uͤber meine Gaben, das Haus aber noch
leer von Nothduͤrftigkeiten und mit ſechs
theils großen theils kleinen Kindern beſetzt
ſahe, o da hieß ich meine Empfindlichkeit
fuͤr meine Ruhe und Jdeen derjenigen wei-
chen, welche mich zum Beſten dieſer Kin-
der einnahm; ſollte die Delicateſſe meiner
Eigenliebe nicht der Pflicht der Huͤlfe mei-
nes nothleidenden Naͤchſten Platz machen,
und der Widerwille, den mir die aufglim-
mende Liebe des Fuͤrſten erreget, ſollte
dieſer das Bild der Freude verdraͤngen,
welche durch die Erhaltung eines Amts
und Einkommens in dieſe Familie kommen
wuͤrde. Jch war der Achtung gewiß, die er
fuͤr denſelben haͤtte; und was dergleichen
mehr war. Man hatte mich der Huͤlfe
verſichert; mein Herz wußte, daß mir die
Liebe des Fuͤrſten ohne meine Einwilligung
nicht ſchaͤdlich ſeyn konnte; ich fuͤhrte alſo
gleich den andern Tag meinen Entſchluß
S 5aus,
[282] aus, da wir bey der Prinzeſſin von W*
im Concert waren, und ich meine Stim-
me hoͤren laſſen mußte. Der Fuͤrſt ſchien
entzuͤckt, und erſuchte mich einigemal mit
ihm im Saal auf und abzugehen. Sie
koͤnnen denken, daß er mir viel von der
Schoͤnheit meiner Stimme und der Ge-
ſchicklichkeit meiner Finger redete, und daß
ich dieſem Lob einige beſcheidne Antworten
entgegen ſetzte; aber da er den Wunſch
machte, mir ſeine Hochachtung durch et-
was anders als Worte beweiſen zu koͤn-
nen; ſo ſagte ich, daß ich von ſeiner edeln
und großmuͤthigen Denkungsart uͤber-
zeugt waͤre, und mir daher die Freyheit
naͤhme, ſeine Gnade fuͤr eine ungluͤckliche
Familie zu erbitten, die der Huͤlfe ihres
Landesvaters hoͤchſt beduͤrftig und wuͤrdig
ſey.


Er blieb ſtille ſtehen, ſahe mich leb-
haft und zaͤrtlich an: Sagen Sie
mir, liebenswuͤrdiges Fraͤulein Sternheim:
wer iſt dieſe Familie? was kann ich
fuͤr ſie thun? Jch erzaͤhlte ihm kurz,
deutlich und ſo ruͤhrend als ich konnte,
das
[283] das ganze Elend, in welchem ſich der
Rath T* ſammt ſeinen Kindern befaͤn-
den, und bat ihn um der letztern willen,
Gnade und Nachſicht fuͤr den erſten zu ha-
ben, der ſeine Unvorſichtigkeit ſchon
lange durch ſeinen Kummer gebuͤßet haͤtte.
Er verſprach mir alles Gute, lobte mich
wegen meinem Eifer, und ſetzte hinzu,
wie gerne er Ungluͤcklichen zu Huͤlfe kom-
me; aber, da er wohl einſehe, daß die-
jenigen, die ihn umgaͤben, immer zuerſt
fuͤr ſich und die ihrigen beſorgt waͤren;
ich wuͤrde ihm vieles Vergnuͤgen machen,
wenn ich ihm noch mehr Gegenſtaͤnde ſei-
ner Wohlthaͤtigkeit anzeigen wollte.


Jch verſicherte ihn, daß ich ſeine Gna-
de nicht mißbrauchen wuͤrde, wiederhohl-
te nochmals ganz kurz meine Bitte fuͤr
die Familie T*.


Er nahm meine Hand, druͤckte ſie mit
ſeinen beyden Haͤnden, und ſagte mit be-
wegtem Ton: ich verſpreche Jhnen meine
liebe, eifrige Fuͤrbitterin, daß alle Wuͤn-
ſche ihres Herzens erfuͤllt werden ſollen,
wenn
[284] wenn ich erhalten kann, daß Sie gut fuͤr
mich denken.


Dieſen Augenblick verwuͤnſchte ich bey
nahe mein mitleidendes Herz und die Fa-
milie T*; denn der Fuͤrſt ſah mich ſo be-
deutend an, und da ich meine Hand weg-
ziehen wollte, ſo hielt er ſie ſtaͤrker, und
erhob ſie gegen ſeine Bruſt; Ja, wieder-
hohlte er, alles werde ich anwenden, um
Sie gut fuͤr mich denken zu machen.


Er ſagte dieſes laut und mit einem ſo
feurigen und unruhvollen Ausdruck in ſei-
nem Geſichte, daß ſich viele Augen nach
uns wendeten, und mich ein kalter
Schauer ankam. Jch riß meine Hand
loß, und ſagte mit halb gebrochner Stim-
me, daß ich nicht anders als gut von dem
Fuͤrſten denken koͤnne, der ſo willig waͤre
ſeinen ungluͤcklichen Landeskindern vaͤter-
liche Gnade zu beweiſen; machte dabey
eine große Verbeugung, und ſtellte
mich mit etwas Verwirrung hinter den
Stuhl meiner Tante. Der Fuͤrſt ſoll mir
nachgeſehen und mit dem Finger gedroht
haben. Mag er immer drohen; ich wer-
de
[285] de nicht mehr mit ihm ſpazieren gehen,
und will meinen Dank fuͤr ſeine Wohlthat
an T* nicht anders als mitten im Kreis
ablegen, den man allezeit bey ſeinem Ein-
tritt im Saal bey Hofe um ihn ſchließt.


Alle Geſichter waren mit Aufmerkſam-
keit bezeichnet, und noch niemals hatte
ich an den Spieltiſchen eine ſo allgemeine
Klage uͤber zerſtreute Spieler und Spie-
lerinnen gehoͤrt. Jch fuͤhlte, daß ihre
Aufmerkſamkeit auf mich und den Fuͤrſten
Urſache daran war, und konnte mich
kaum von meiner Verwirrung erhohlen.
Milord Derby ſah etwas traurig aus,
und ſchien mich mit Verlegenheit zu be-
trachten; er war in ein Fenſter gelehnt
und ſeine Lippen bewegten ſich wie eines
Menſchen, der ſtark mit ſich ſelbſt redet;
er naͤherte ſich dem Spieltiſche meiner
Tante juſt in dem Augenblick da ſie ſagte:


Sophie, du haſt gewiß mit dem
Fuͤrſten fuͤr den armen Rath T* geſpro-
chen; denn ich ſehe dir an, daß du be-
wegt biſt.


Niemals
[286]

Niemals war mir meine Tante lieber
als dieſen Augenblick, da ſie meinen
Wunſch erfuͤllte, daß alle wiſſen moͤchten,
was der Jnnhalt meines Geſpraͤchs mit
dem Fuͤrſten geweſen ſey. Jch ſagte auch
ganz munter: er haͤtte meine Bitte in
Gnaden angehoͤrt und zugeſagt. Die
Duͤſternheit des Milords Derby verlohr
ſich und blieb nur nachdenkend, aber ganz
heiter, und die uͤbrigen zeigten mir ihren
Beyfall uͤber meine Fuͤrbitte mit Worten
und Gebehrden. Aber was denken Sie,
meine Emilia, wie mir war, als ich nach
der Geſellſchaft mich nur auszog und ei-
nen Augenblick mit meiner Roſine in ei-
nem Tragſeſſel mich zum Rath T* bringen
ließ, der gar nicht weit von uns wohnt;
ich wollte den guten Leuten eine vergnuͤgte
Ruhe verſchaffen, indem ich ihnen die
Gnade des Fuͤrſten verſicherte. Jch hatte
mich nahe an das Fenſter, welches in ei-
ne kleine Gaſſe gegen einen Garten geht,
geſetzt. Aeltern und Kinder waren um
mich verſammelt; der Rath T* hatte
auf mein Zureden neben mir auf der Bank
Platz
[287] Platz genommen, und ich zog die Frau
mit meiner Hand an mich, indem ich bey-
den ſagte: Bald, meine lieben Freunde,
werde ich ſie mit einem vergnuͤgten Ge-
ſichte ſehen, denn der Fuͤrſt hat dem Herrn
Rath ein Amt und andre Huͤlfe ver-
ſprochen.


Die Frau und die zwey aͤlteſten Kinder
knieten vor mich hin, mit Ausrufung voll
Freude [und] Danks. Jm nehmlichen Au-
genblick pochte jemand an den Fenſterla-
den; Der Rath T * machte das Fenſter
und den Laden auf, und es flog ein Pa-
quet mit Geld herein, das ziemlich ſchwer
auffiel, und uns alle beſtuͤrzt machte.
Eilends naͤherte ich meinen Kopf dem Fen-
ſter und hoͤrte ganz deutlich die Stimme
des Milords Derby, der auf engliſch ſag-
te: Gott ſey Dank, ich habe etwas Gu-
tes gethan, mag man mich wegen meiner
Luſtigkeit immer fuͤr einen Boͤſewicht
halten!“


Jch bekenne, daß mich ſeine Handlung
und ſeine Rede in der Seele bewegte, und
mein erſter Gedanke war: Vielleicht iſt
Milord
[288] Milord Seymour nicht ſo gut als er
ſcheint, und Derby nicht ſo ſchlimm als
von ihm gedacht wird. Die Frau T *
war an die Hausthuͤre geloffen und rief:
Wer ſind Sie? Aber er eilte davon wie
ein fliehender Vogel. Das Paquet wur-
de aufgemacht und funfzig Carolinen dar-
inn gefunden. Urtheilen Sie von der
Freude, die daruͤber entſtand. Aeltern
und Kinder weinten und druͤckten ſich wech-
ſelsweiſe die Haͤnde; wenig fehlte, daß ſie
nicht das Geld kuͤßten und an ihr Herz
druͤckten. Da ſah ich den Unterſchied
zwiſchen der Wirkung, welche die Hoffnung
eines Gluͤcks und der, die der wuͤrliche
Beſitz deſſelben macht. Die Freude uͤber
das verſprochene Amt war groß, doch deut-
lich mit Furcht und Mißtrauen vermengt;
aber funfzig Carolinen, die man in die Haͤn-
de faßte, zaͤhlte, und ihrer ſicher war,
brachten alle in Entzuͤckung. Sie fragten
mich; was ſie mit dem Gelde anfangen
ſollten? Jch ſagte zaͤrtlich: meine lieben
Freunde, gebrauchen ſie es ſo ſorgfaͤltig,
als wenn ſie es mit vieler Muͤhe erwor-
ben
[289] ben haͤtten, und als ob es der ganze Reſt
ihres Gluͤcks waͤre; denn wir wiſſen noch
nicht, wann oder wie der Fuͤrſt fuͤr ſie
ſorgen wird. Jch gieng ſodann nach
Hauſe und war mit meinem Tage ver-
gnuͤgt.


Jch hatte durch meine Fuͤrbitte die
Pflicht der Menſchenliebe ausgeuͤbt und den
Fuͤrſten zu einer Ausgabe der Wohlthaͤtig-
keit gebracht, wie ihn andre zu Ausgaben
von Wolluſt und Ueppigkeit verleiteten.
Jch hatte die Herzen troſtloſer Perſonen
mit Freude erfuͤllt, und das Vergnuͤgen
genoſſen, von einem fuͤr ſehr boshaft ge-
haltenen Mann, eine edle und gute Hand-
lung zu ſehen. Denn wie ſchnell hat
Milord D. die Gelegenheit ergriffen, Gu-
tes zu thun? An dem Spieltiſche meiner
Tante hoͤrt er ungefaͤhr von einem mitlei-
denswuͤrdigen Hauſe reden, und erkundigt
ſich gleich mit ſo vielem Eifer darnach,
daß er noch den nehmlichen Abend eine ſo
freygebige, wahrhaftig englaͤndiſche Huͤl-
fe leiſtet.


TEr
[290]

Er dachte wohl nicht, daß ich da waͤre,
ſondern zu Hauſe an der Tafel ſitzen wuͤr-
de, ſonſt ſollte er nicht engliſch geredet
haben. Jn Geſellſchaften hoͤrte ich ihn
ofte gute Geſinnungen aͤußern; aber ich
hielte ſie fuͤr Heucheleyen eines feinen Boͤ-
ſewichts; allein die freye, allen Men-
ſchen unbekannte Handlung kann unmoͤg-
lich Heucheley ſeyn. O moͤchte er einen
Geſchmack an der Tugend finden, und ihr
ſeine Kenntniſſe weyhen! Er wuͤrde ei-
ner der hochachtungswuͤrdigſten Maͤnner
werden.


Jch kann mich nun nicht verhindern
ihm einige Hochachtung zu bezeugen, weil
er ſie verdient. Seinen feinen Schmeiche-
leyen, ſeinen Witz und der Ehrerbietung,
die er mir beweiſt, haͤtte ich ſie niemals
gegeben. Es kann oft geſchehen, daß
aͤußerliche Annehmlichkeit uns die Aufwar-
tung, und vielleicht die ſtaͤrkſte Leidenſchaft
des groͤßten Boͤſewichts zuzieht. Aber
wie verachtungswerth iſt ein Frauenzim-
mer, die einen Gefallen daran bezeugt,
und
[291] und ſich wegen dieſem armen Vergnuͤgen
ihrer Eigenliebe zu einer Art von Dank
verbunden haͤlt. Nein! niemand als der
Hochachtungswuͤrdige ſoll hoͤren, daß ich
ihn hochſchaͤtze. Zu meiner Hoͤflichkeit iſt
die ganze Welt berechtigt; aber beſſere Ge-
ſinnungen muͤſſen durch Tugenden erwor-
ben werdeu.


Nun glaube ich aber noͤthig zu ſagen,
daß mein ganzer Plan fuͤr die Familie T *
umgearbeitet werden muͤſſe, wenn ſie ein
ſicheres Einkommen erhalten. Jch uͤber-
laſſe es Jhrem gutdenkenden und aller
Claſſen der Moral und Klugheit kundigen
Manne, dieſen Plan brauchbar zu ma-
chen. Jch bitte Sie aber bald darum.
Und da meine Augen vor Schlaf zufallen,
wuͤnſche ich Jhnen, meine theure Emilia,
gute Nacht.


T 2Fraͤulein
[292]

Fraͤulein von Sternheim
an
Frau T *.


Jch danke Jhnen, werthe Madam T *
fuͤr das Vergnuͤgen, welches Sie mir
durch ihre Offenherzigkeit gemacht haben;
ich verſichre Sie dagegen meiner wahren
Freundſchaft und eines unermuͤdeten Ei-
fers Jhnen zu dienen.


Sie wiſſen von meinem letzten Beſuch,
daß das Verlangen des Herrn T* nach
einem Amte, durch die gnaͤdigen Geſin-
nungen ihres Fuͤrſten zufrieden geſtellt
wird. Sie kennen meine Freude uͤber
den Gedanken, Sie bald aus dem ſorgen-
vollen Stande gezogen zu ſehen, in wel-
chem Sie ſchmachten. Darf ich Jhnen
aber auch ſagen, daß dieſe Freude mit
dem Wunſch begleitet iſt: Daß ſie ſich
bemuͤhen moͤchten, Jhren kuͤnftigen Wohl-
ſtand fuͤr Sie und Jhre Kinder dauer-
haft
zu machen. Die Vergleichung ihres
vorigen Wohlſtandes und der kum-
mervollen Jahre, die darauf erfolgten,
koͤnnte
[293] koͤnnte die Grundlage eines Plans werden,
den Sie itzt mit Jhren Kindern befolgten.
Die Geſchenke des Lord Derby haben Sie
in den Stand geſetzt, ſich mit Kleidung
und Hausgeraͤthe zu beſorgen, ſo daß das
Einkommen ihres Amts, ganz rein zu
Unterhaltung und Erziehung ihrer Kin-
der gewiedmet werden kann.


Jch trauete meinen jungen Einſichten
nicht zu, den Entwurf eines ſolchen Plans
zu machen, und habe einen Freund geiſt-
lichen Standes darum gebeten, der mir
folgendes zuſchrieb.


Bey den drey aͤltern Kindern iſt (wie
ich aus der Nachricht erſehe) der Verſtand
und die Empfindung reif genug, um jene
Vergleichung in ihrer Staͤrke und Nutz-
barkeit einzuſehen. Wenn Sie Jhnen
ſodann die Berechnung ihres Einkommens
und der noͤthigen Ausgaben machen, wer-
den Sie ſich gerne nach ihrem Plan fuͤh-
ren laſſen. Sagen Sie Jhnen alsdann:


Gott habe zwo Gattungen Gluͤckſelig-
keit fuͤr uns beſtimmt, wovon die erſte
ewig fuͤr unſre Seele verheißen iſt, und
T 3deren
[294] deren wir uns durch die Tugend wuͤrdig
machen muͤſſen *) Die zwote geht unſer
Leben auf dieſer Erde an. Dieſe koͤnnen
wir durch Klugheit und Kenntniſſe erhal-
ten. Reden Sie Jhnen von der Ordnung,
die Gott unter den Menſchen durch die
Verſchiedenheit der Staͤnde eingeſetzt
hat. Zeigen Sie Jhnen die Hoͤhere und
Reichere, aber auch die Aermere und
Niedrigere als Sie ſind. Reden Sie
von den Vortheilen und Laſten, die jede
Claſſe hat, und lenken Sie alsdenn ihre
Kinder zu einer ehrerbietigen Zufrieden-
heit mit ihrem Schoͤpfer, der ſie durch
die Aeltern, die er ihnen gab, zu einem ge-
wiſſen Stande beſtimmte, und ihnen dar-
inn
[295] inn ein eignes Maaß beſondrer Pflichten
zu erfuͤllen auflegte; ſagen Sie ihnen, zu
den Pflichten der Tugend und der Reli-
gion ſey der Fuͤrſt wie der Geringſte unter
den Menſchen verbunden.


Der erſte Rang des Privatſtandes ha-
be die edle Pflicht, durch nuͤtzliche Kennt-
niſſe und Gelehrſamkeit, auf den verſchie-
denen Stufen oͤffentlicher Bedienungen,
oder in der hoͤhern Claſſe des Kaufmanns-
ſtandes dem gemeinen Weſen nuͤtzlich zu
ſeyn.


Von dieſem Begriffe machen Sie die
Anwendung, daß Jhre Soͤhne durch den
Stand des Herrn Rath T * in den erſten
Gang der Privatperſonen gehoͤren, dar-
inn ſie, nach Erfuͤllung der Pflichten fuͤr
ihr ewiges Wohl, auch denen nachkom-
men muͤſſen, ihre Faͤhigkeiten des Geiſtes
durch Fleiß im Lernen und Studiren ſo
anzubauen, daß ſie einſt als geſchickte
und rechtſchaffene Maͤnner ihren Platz in
der Geſellſchaft einnehmen koͤnnten. Der
Urſprung des Adels waͤre kein beſonderes
Geſchenk der Vorſicht, ſondern die Beloh-
T 4nung
[296] nung der zum Nutzen des Vaterlandes
ausgeuͤbten vorzuͤglichen Tugenden und
Talente geweſen. Der Reichthum ſey die
Frucht des unermuͤdeten Fleißes und der
Geſchicklichkeit; es ſtuͤnde bey ihnen, ſich
auch auf dieſe Art vor andern ihres glei-
chen zu zeigen, weil Tugend und Talente
noch immer die Grundſteine der Ehre
und des Gluͤcks ſeyn.


Jhren Toͤchtern ſollen Sie ſagen, daß
ſie neben den Tugenden der Religion auch
die Eigenſchaften edelgeſinnter liebens-
wuͤrdiger Frauenzimmer beſitzen muͤſſen,
und daß ſie dieſes ohne großen Reichthum
werden und bleiben koͤnnten.


Unſer Herz und Verſtand ſind dem
Schickſal nicht unterworfen. Wir koͤnnen
ohne eine adeliche Geburt edle Seelen,
und ohne großen Rang, einen großen Geiſt
haben; ohne Reichthum gluͤcklich und ver-
gnuͤgt, und ohne koſtbaren Putz durch
unſer Herz, unſern Verſtand und unſre
perſoͤnliche Annehmlichkeiten ſehr liebens-
wuͤrdig ſeyn, und alſo durch gute Eigen-
ſchaften die Hochachtung unſrer Zeitgenoſ-
ſen
[297] ſen als die erſte und ſicherſte Stufe zu Eh-
re und Gluͤck erlangen.


Dann ſagen Sie ihnen ihre Einkuͤnfte
und die Anwendung, die ſie davon, nach
den Pflichten fuͤr die Beduͤrfniſſe ihres
Koͤrpers in Nahrung und Kleider, fuͤr
die Beduͤrfniſſe ihres Geiſtes und Ver-
gnuͤgens an Lehrmeiſtern, Buͤchern und
Geſellſchaften machen wollten. Nen-
nen Sie auch den zuruͤcklegenden Pfen-
nig als eine Pflicht der Klugheit fuͤr kuͤnf-
tige Zufaͤlle.


Wir brauchen Nahrung, um die Kraͤfte
unſers Koͤrpers zu unterhalten. Und die-
ſen Endzweck der Natur koͤnnen wir durch
die ſimpelſten Speiſen am leichteſten er-
reichen. Dieſe werden von dem kleinen
Einkommen nicht zu viel wegnehmen, und
wir folgen dadurch der Stimme der Na-
tur fuͤr unſre Geſundheit, und geben zu-
gleich unſerm Schickſal nach, welches uns
die Ausſchweifungen unſrer Einbildung
ohnehin nicht erlaubte. Und da der Rei-
che nach dem ſchwelgeriſchen Genuß des
Ueberfluſſes ſeine Zuflucht zu einfachen
T 5Speiſen
[298] Speiſen und Waſſer nehmen muß, um
ſeine Geſundheit wieder herzuſtellen, war-
um ſollten wir uns beklagen, weil wir
durch unſer Verhaͤngniß gezwungen ſind
in geſunden Tagen den einfachen Foderun-
gen der Natur gemaͤß zu leben? Kleider,
haben wir zur Bedeckung und zum Schutz
gegen die Anfaͤlle der Witterung noͤthig;
dieſen Dienſt erhalten wir, von den ge-
ringen und wohlfeilen Zeugen, wie von
den koſtbaren. Die meinem Geſichte an-
ſtaͤndige Farbe
und die Schoͤnheit der
Form
muß bey dem erſten wie bey dem
letzten geſucht werden; habe ich dieſe, ſo
habe ich die erſte Zierde des Kleides.
Ein edler Gang, eine gute Stellung, die
Bildung, ſo mir die Natur gab, koͤnnen
meinem netten einfachen Putz ein Anſehen
geben, das der Reiche bey alle ſeinem
Aufwand nicht allezeit erhaͤlt; und bey
Vernuͤnftigen wird mir meine Maͤßigung
eben ſo viel Ehre machen, als der Reiche
in dem Wechſel ſeiner Pracht immer fin-
den kann.


Muͤſſen
[299]

Muͤſſen wir in unſerm Hausgeraͤthe
den Mangel vieles Schoͤnen und Gemaͤch-
lichen ertragen, ſo wollen wir in dem
hoͤchſten Grade der Reinlichkeit den Er-
ſatz des Koſtbaren ſuchen, und uns ge-
woͤhnen, wie der weiſe Araber, froh zu
ſeyn, daß wir zu unſerm Gluͤck den Ue-
ber[fl]uß nicht noͤthig haben. Und wie
edel koͤnnen einſt die Toͤchter des Herrn
Raths die Wuͤrde ihres Hauſes zieren,
wenn die Zimmer mit ſchoͤnen Zeichnun-
gen, die Stuͤhle und Ruhebaͤnke mit Ta-
petenarbeit von ihren geſchickten Haͤnden
bekleidet ſeyn werden! Sollten Sie nach
dieſer edelmuͤthigen Ergebenheit in ihr
Schickſal, durch den Anblick des Rei-
chen,
in eine traurige Vergleichung zwi-
ſchen ihren und ſeinen Umſtaͤnden verfal-
len ſo halten Sie ſich nicht bloß an die Jdee
des Vergnuͤgens, das der Reiche in ſeiner
Pracht und Wolluſt genießt, ſondern wen-
den Sie Jhre Gedanken auf den Nutzen,
den Kaufleute, Kuͤnſtler und Hand-
arbeiter
davon haben; denn bey dem erſten
Gedanken fuͤhlen Sie nichts als Schmer-
zen
[300] zen der Unzufriedenheit mit Jhrem Ge-
ſchicke, welches Sie alle dieſer Freuden
beraubte; aber bey der zweyten Betrach-
tung empfinden Sie das Vergnuͤgen einer
edeln Seele, die ſich uͤber das Wohl ihres
Naͤchſten erfreut, und je kleiner Jhr
Antheil an allgemeinem Gluͤck iſt, deſto
edler iſt Jhre Freude.


Pruͤfen Sie das Maaß der Faͤhigkeiten
Jhrer Kinder, laſſen Sie keines unbe-
bauet, und ſo beſcheiden ſie in Kleidung
und anderm Aufwand von Perſonen Jhres
Standes ſeyn moͤgen, ſo verwenden Sie
alles auf die Erziehung. Zeichnen, Mu-
ſik, Sprachen, alle ſchoͤne Arbeiten des
Frauenzimmers fuͤr ihre Toͤchter; fuͤr ihre
Soͤhne alle Kenntniſſe, die man von
wohlerzognen jungen Mannsleuten fodert.
Floͤßen Sie beyden Liebe und Gefchmack
fuͤr die edle und unſerm Geiſte ſo nuͤtzliche
Beſchaͤfftigung des Leſens ein, beſonders
alles deſſen, was zu der beſten Kennt-
niß unſrer Koͤrperwelt gehoͤrt. Es iſt
eine Pflicht des guten Geſchoͤpfs die Wer-
ke ſeines Urhebers zu kennen, von denen
wir
[301] wir alle Augenblicke unſers Lebens ſo viel
Gutes genießen; da die ganze phyſicaliſche
Welt lauter Werke und Zeugniſſe der
Wohlthaͤtigkeit und Guͤte unſers Schoͤ-
pfers in ſich faßt, deren Anblick und
Kenntniß das reinſte und vollkommenſte,
keinem Zufall, keinem Menſchen unter-
worfene Vergnuͤgen in unſre Seele gießt.
Je mehr Geſchmack ihre Kinder an der
natuͤrlichen Geſchichte unſers Erdbodens,
je mehr Kenntniſſe ſie von ſeinen Gewaͤch-
ſen, Nutzbarkeit und Schoͤnheit erlangen,
je ſanfter werden ihre Geſinnungen, Lei-
denſchaften und Begierden ſeyn, und um
ſo viel mehr wird ihr Geſchmack am Edeln
und Einfachen geſtaͤrkt und befeſtigt wer-
den, und um ſo weiter entfernen ſie ſich
[v]on der Jdee, daß Pracht und Wolluſt das
groͤßte Gluͤck ſey.


Die Geſchichte der moraliſchen Welt
ſollen ihre Kinder auch kennen; die Ver-
aͤnderungen, welche ganze Koͤnigreiche
und erhabne Perſonen betroffen, werden
ſie zu Betrachtungen leiten, deren Wuͤr-
kung die Zufriedenheit mit ihren einge-
ſchraͤnk-
[302] ſchraͤnkten Umſtaͤnden ſeyn, und den Eifer
fuͤr die Vermehrung der Tugend ihrer
Seele und der Kenntniſſe ihres Geiſtes
vergroͤßern wird; weil ſie durch die Ge-
ſchichte finden werden, daß Tugend und
Talente allein die Guͤther ſind, welche
Verhaͤngniß und Menſchen nicht rauben
koͤnnen.


Heute Abend ſollen ihre Kinder alle
Buͤcher erhalten, welche zu Erlangung
dieſes Nutzens erforderlich ſind. Der beſte
Segen meines Herzens wird den Korb be-
gleiten, damit dieſe Arbeiten wohlthaͤtiger
und liebenswuͤrdiger Maͤnner auch fuͤr
Sie eine Quelle nutzbarer Kenntniſſe und
der beſten Vergnuͤgungen ihres Lebens
werden, gleich wie ſie es fuͤr mich ſind.


Noch eins bitte ich Sie, theure Ma-
dam T*. Suchen Sie ja keine Tiſch-
freunde mehr. Beweiſen Sie denen, ſo
Jhnen in ihrem Ungluͤcke dienten, Jhre
Dankbarkeit und Achtung, Freundſchaft
und alle Geſinnungen der Ehre; thun Sie
nach allen Jhren Kraͤften andern Noth-
leidenden Gutes, und leben Sie mit Jhren
Kindern
[303] Kindern ruhig und einſam fort, bis Jhr
Umgang von Rechtſchaffnen geſucht wird.
Halten Sie Jhre heranwachſende Toͤch-
ter, je mehr Schoͤnheit, je mehr Talente
ſie haben werden, je mehr zu Hauſe; das
Lob ihrer Lehrmeiſter, und die Beſcheiden-
heit und Klugheit ihrer Lebensart ſoll ſie
bekannt machen, ehe man mit ihren Ge-
ſichtern ſehr bekannt ſeyn wird. Jch bin
uͤberzeugt, daß Sie einſt ſehr zufrieden
ſeyn werden, Dieſer Phantaſie Jhrer
Frendin gefolgt zu haben.



Milord Derby
an
ſeinen Freund in Paris.


Heyda, Bruͤderchen, rufen ſich die Lands-
leute meiner Sternheim zu, wenn ſie ſich
recht luſtig machen wollen. Und weil ich
meine engliſchen Netze auf deutſchem Bo-
den ausgeſteckt habe, ſo will ich dir auch
zurufen: Heyda, Bruͤderchen! die Schwin-
gen meines Voͤgelchens ſind verwickelt!
Zwar
[304] Zwar ſind Kopf und Fuͤße noch frey, aber
die kleine Jagd, welche auf der andern
Seite nach ihr gemacht wird, ſoll ſie bald
ganz in meine Schlingen treiben, und ſie
ſogar noͤthigen, mich als ihren Erretter
anzuſehen. Vortrefflich war mein Ge-
danke, mich nach ihrem Geiſte der Wohl-
thaͤtigkeit zu ſchmiegen, und dabey das
Anſehen der Gleichguͤltigkeit und Verbor-
genheit zu behalten. Beynahe haͤtte ich
es zu lange anſtehen laſſen, und die beſte
Gelegenheit verſaͤumt, mich ihr in einem
vortheilhaften Lichte zu zeigen; aber die
Geſchwaͤtzigkeit ihrer Tante half mir alles
einbringen.


Jn der letzten Geſellſchaft bey Hofe
wurden wir alle durch ein langes Ge-
ſpraͤch der Sternheim mit dem Fuͤrſten be-
ſonders aufmerkſam gemacht; ich hatte
ihren Ton behorcht, welcher ſuͤß und ein-
nehmend geſtimmt war, und da ich nach-
dachte, was das Maͤdchen vorhaben
moͤchte? ſah’ ich den Fuͤrſten ihre Haͤnde
ergreifen, und wie mich duͤnkte, eine
kuͤſſen. Der Kopf wurde mir ſchwindlicht,
ich
[305] ich verlohr meine Karten, und legte mich
voll Gift an ein Fenſter; aber wie ich ſie
zum Spieltiſche ihrer Tante eilen und ihre
Augen voller Bewegung und verwirrt auf
das Spiel richten ſah, naͤherte ich mich.
Sie warf einen heftigen halbſcheuen Blick
nach mir. Jhre Tante fieng an: Sie
ſaͤhe ihr an, daß ſie mit dem Fuͤrſten fuͤr
den Rath T* geredet habe: das Fraͤulein
bejahte es, ſagte freudig, daß er ihr
Gnade fuͤr die Familie verſprochen, und
ſetzte etwas von dem Nothſtande dieſer Leu-
te hinzu. Dieſes faßte ich mir, um gleich
den andern Tag etwas fuͤr ſie zu thun,
ehe der Fuͤrſt die Bitte der Sternheim er-
fuͤllte. Jch gieng nach meiner Gewohn-
heit in dem Ueberrock meines Kerls an die
Fenſter des Speiſeſaals vom Grafen Loͤ-
bau, weil ich alle Tage wiſſen wollte, wer
mit meiner Schoͤnen zur Nacht eſſe; kaum
war ich in der Gaſſe, ſo ſah ich Tragſeſſel
kommen, die an dem Hauſe hielten, zwo
ziemlich verkappte Frauenzimmer kamen
an die Thuͤr und ich hoͤrte die Stimme
der Sternheim deutlich ſagen, zu Rath
UT*
[306] T * am S *** Garten. Jch wußte das
Haus, lief in mein Zimmer, holte mir
Geld, und warf es, da ſie noch da war,
bey dem Rath T * durchs Fenſter, an
welchem das Fraͤulein ſaß, murmelte eini-
ge Worte von Freude uͤber die Wohlthaͤ-
tigkeit, und als man an die Thuͤre kam,
eilte ich davon. Zauberkraft war in mei-
nen Worten; denn da ich zween Tage
darauf dem Fraͤulein in Graf F* s Haufe
entgegen gieng, um ihr meine angenom-
mene Ehrerbietung zu bezeugen, bemerkte
ich, daß ihr ſchoͤnes Auge ſich mit einem
Ausdruck von Achtung und Zufriedenheit
auf meinem Geſichte verweilte; ſie fieng
an mir etliche Worte auf engliſch zu ſa-
gen, aber da ſie ſehr ſpat gekommen war,
wurde ihr gleich vom jungen Grafen F*
eine Karte zu ziehen angeboten; ſie ſah
ſich unſchluͤſſig, wie durch eine Ahndung
um, und zog einen Koͤnig, der ſie zur
Partie des Fuͤrſten beſtimmte.


Mußte ich juſt dieſe ziehen, ſagte ſie,
mit unmuthiger Stimme; aber ſie haͤtte
lange waͤhlen koͤnnen, ſie wuͤrde nichts
als
[307] als Koͤnige gezogen haben, dann der
Graf F* hatte keine andre Karten in der
Hand, und ihre Tante war mit Bedacht
ſpat gekommen, da alle Spieltiſche beſetzt,
und der Fuͤrſt juſt als von ungefaͤhr in die
Geſellſchaft gekommen, und ſo hoͤflich
war, keinem ſein Spiel nehmen zu wol-
len, ſondern dem Zufall unter der Lei-
tung des diſcreten F. die Sorge uͤber-
trug, ihm jemand zu ſchaffen. Der
Franzoͤſiſche Geſandte und die Graͤfin F*
machten die Partie mit; mein Pharaon
erlaubte mir manchmal hinter dem Stuhl
des Fuͤrſten zu treten, und meine Augen
dem Fraͤulein etwas ſagen zu laſſen; be-
zaubernde, unnachahmliche Anmuth be-
gleitete alles was ſie that, der Fuͤrſt fuͤhl-
te es einſt, als ſie mit ihrer ſchoͤnen Hand
Karten zuſammenraffte, ſo ſtark, daß er
haſtig die ſeinige ausſtreckte, einen ihrer
Finger faßte, und mit Feuer ausrief;
„Jſt es moͤglich, daß in P * * alle dieſe
„Grazien erzogen wurden? Gewiß, Herr
„Marquis, Frankreich kann nichts Lie-
„benswuͤrdigers zeigen.“


U 2Der
[308]

Der Geſandte haͤtte kein Franzoſe und
kein Geſandter ſeyn muͤſſen, wenn er es
nicht bekraͤftiget haͤtte, waͤre er auch nicht
davon uͤberzeugt geweſen; und meine
Sternheim gluͤhete von Schoͤhnheit und
Unzufriedenheit. Denn die Blicke des
Fuͤrſten moͤgen noch lebhafter geweſen
ſeyn, als der Ton, mit welchem er redete.
Mein Maͤdchen miſchte die Karte mit nie-
dergeſchlagenem Auge fort. Als ſie ſelbi-
ge austheilte, machte ich eine Wendung;
ſie blickte mich an; ich zeigte ihr ein nach-
denkendes trauriges Geſichte, mit welchem
ich ſie anſah, meine Augen auf den Fuͤr-
ſten heftete und mit ſchnellem Schritte
mich an den Pharao-Tiſch begab, wo ſie
mich ſpielen ſehen konnte. Jch ſetzte
ſtark, und ſpielte zerſtreut; meine Abſicht
war, die Sternheim denken zu machen,
daß meine Beobachtung der Liebe des Fuͤr-
ſten gegen ſie Urſache an der Nachlaͤſſig-
keit fuͤr mein Gluͤck, und der ſcheinbaren
Zerſtreuung meiner Gedanken ſey. Die-
ſes konnte ſie nicht anders als der Staͤrke
meiner Leidenſchaft fuͤr ſie zuſchreiben,
und
[309] und es gieng, wie ich es haben wollte.
Sie war auf alle meine Bewegungen auf-
merkſam. Als die Spiele geendigt wa-
ren, gieng ich ſchwermuͤthig zu dem Pi-
quet eben da das Fraͤulein ihr gewonne-
nes Geld zuſammen faßte; es war viel
und alles von dem Fuͤrſten.


Heute noch, ſagte ſie, ſollen es die
Kinder des Raths T * bekommen, denen
ich ſagen werde, daß Euere Durchlaucht
ihnen zu lieb es ſo großmuͤthig verlohren
haben.


Der Fuͤrſt ſah ſie laͤchelnd und ver-
gnuͤgt an und ich riß mich aus dem Zim-
mer weg, mit dem Entſchluß auf ſie zu
lauren, wenn ſie zum Rath T * gienge,
um mich dort einzudringen und ihr von
meiner Liebe zu reden. Den ganzen
Nachmittag hatte ſie mich mit Tiefſinn
und Heftigkeit wechſelsweiſe behaftet ge-
ſehen; mein Eindringen konnte auf die
Rechnung meiner ſtarken Leidenſchaft ge-
ſchrieben werden. Jch habe ohnehin
waͤhrend meinem Aufenthalt in Deutſch-
land gefunden, daß ein guͤnſtiges Vorur-
U 3theil
[310] theil fuͤr uns darinn herrſchet, kraft deſ-
ſen man von unſern verkehrteſten Hand-
lungen auf das gelindeſte urtheilt; Ja,
ſie noch manchmal als Beweiſe unſrer
großen und freyen Seelen anſieht.


Bey dieſer Kunſt den Augenblick des
Zufalls zu benutzen, habe ich mehr ge-
wonnen als ich durch ein ganzes Jahr
Seufzen und Winſeln erhalten haͤtte.
Lies dieſe Scene und bewundere die Ge-
genwart des Geiſtes und die Gewalt, die
ich uͤber meine ſonſt unbaͤndige Sinnen,
in der ganzen halben Stunde hatte, die
ich allein, ganz allein mit meiner Goͤttin in
einem Zimmer war, und ihre ſchoͤne Figur
in der allerreizendſten Geſtalt vor mir ſah.
Sie war nach Hauſe gegangen, um ihr
Oberkleid und ihren Kopfputz abzulegen,
und warf nur einen großen Mantel und
eine Kappe uͤber ſich, als ſie ſich zu Rath
T* tragen ließ. Die Kappe, welche ſie
abzog, nahm allen Puder von ihren
Caſtanien-Haaren hinweg, und brachte
auch die Locken etwas in Unordnung; ein
kurzes Unterkleid, und die ſchoͤne erhoͤhete
Farbe,
[311] Farbe, die ihr mein Anblick und meine Un-
terredung gab, machten ſie unbeſchreib-
lich reizend.


Als ſie einige Minuten da war, pochte
ich an die Thuͤre, und rief ſachte nach der
Madam T *. Sie kam; ich ſagte ihr,
daß ich Secretair bey Milord G. waͤre,
der mich mit einem Geſchenk fuͤr ihre Fa-
milie zu dem Fraͤulein von Sternheim ge-
ſchickt haͤtte, der ich es ſelbſt uͤbergeben
ſolle, und mit ihr deswegen zu reden ha-
be; die Frau hieß mich einen Augenblick
warten, und lief hin, ihren Mann und
ihre Kinder in ein ander Zimmer zu ſchaf-
fen; ſie winkte mir ſodann. Jch Narr
zitterte beynahe, als ich den erſten Schritt
in die Thuͤre trat; aber die kleine Angſt,
die das Maͤdchen befiel, erinnerte mich
noch zu rechter Zeit an die Oberherrſchaft
des maͤnnlichen Geiſtes, und eine uͤber-
bleibende Verwirrung mußte mir dazu die-
nen, mein gezwungenes Eindringen zu
beſchoͤnen. Ehe ſie ſich von ihrem Er-
ſtaunen mich zu ſehen erholen konnte,
war ich zu ihren Fuͤßen; machte in un-
U 4ſrer
[312] ſrer Sprache einige lebhafte Entſchuldi-
gungen wegen des Ueberfalls, und wegen
des Schreckens, den ich Jhr verurſacht,
aber es ſey mir unmoͤglich geweſen noch
laͤnger zu leben, ohne Jhr das Geſtaͤndniß
der lebhafteſten Verehrung zu machen,
und daß, da mir durch Milord G. die vie-
len Beſuche in dem Hauſe Jhres Oncles
unterſagt worden, und ich gleichwohl mit
Augen geſehen, daß andere die Kuͤhnheit
haͤtten, Jhr ihre Geſinnungen zu zeigen:
ſo wollte ich nur das Vorrecht haben, Jhr
zu ſagen, daß ich Sie wegen Jhrem ſelte-
nen Geiſt verehrte, daß ich Zeuge von
Jhrer ausuͤbenden Tugend geweſen waͤre,
und Sie allein mich an den Ausſpruch des
Weiſen erinnert haͤtte, der geſagt, daß
wenn die Tugend in ſichtbarer Geſtalt er-
ſchiene, niemand der Gewalt ihrer Rei-
zungen wuͤrde widerſtehen koͤnnen; daß
ich dieſes Haus als einen Tempel betrach-
tete, in welchem ich zu Jhren Fuͤßen die
Geluͤbde der Tugend ablegte, welche ich
durch Sie in Jhrer ganzen Schoͤnheit haͤt-
te kennen lernen, daß ich mich nicht wuͤr-
dig
[313] dig ſchaͤtzte, Jhr von Liebe zu reden, ehe
ich mich ganz umgebildet haͤtte, wobey ich
Jhr Beyſpiel zum Muſter nehmen wuͤrde.
Meine Erſcheinung und der Jaſt der Lei-
denſchaften, in welchem ich zu ihr ſprach,
hatte ſie wie betaͤubt, und auch Anfangs
etwas erzuͤrnt; aber das Wort Tugend,
welches ich etlichemal ausſprach, war die
Beſchwoͤrung, durch welche ich ihren
Zorn beſaͤuftigte, und ihr alle Aufmerk-
ſamkeit gab, die ich noͤthig hatte, um mir
ihre Eitelkeit gewogen zu machen. Jch
ſah auch, wie mitten unter den Runzeln,
die der Unmuth der jungfraͤulichen Sitt-
ſamkeit uͤber ihre Stirne gezogen hatte,
da ſie mich etliche mal unterbrechen und
forteilen wollte, mein Plato mit ſeiner
ſichtbar gewordenen Tugend dieſe ernſt-
haften Zuͤge merklich aufheiterte und der
feinſte moraliſche Stolz auf ihren zur Er-
de geſchlagnen Augen ſaß. Dieſe Bemer-
kung war mir fuͤr diesmal genug, und ich
endigte meine ganz zaͤrtlich gewordene Re-
de mit einer wiederholten demuͤthigen Ab-
bitte meiner Ueberraſchung.


U 5Sie
[314]

Sie ſagte mit einer etwas zitternden
Stimme: Sie bekenne, daß mein Anblick
und meine Anrede ihr ſehr unerwartet ge-
weſen ſey, und daß ſie wuͤnſchte, daß mich
meine Geſinnungen, wovon ich ihr rede-
te, abgehalten haͤtten, ſie in einem frem-
den Hauſe zu uͤberraſchen.


Jch machte einige bewegliche Ausru-
fungen, und mein Geſicht war mit der
Angſt bezeichnet ihr mißfallen zu haben;
ſie betrachtete mich mit Sorgſamkeit und
ſagte: Milord; Sie ſind der erſte Mann
der mir von Liebe redt, und mit dem ich
mich allein befinde; beydes macht mir
Unruhe; ich bitte Sie, mich zu verlaſſen,
und mir dadurch eine Probe der Hochach-
tung zu zeigen, die Sie fuͤr meinen Cha-
rakter zu haben vorgeben.


Vorgeben! O Sternheim, wenn es
vorgebliche Geſinnungen waͤren, ſo haͤtte
ich mehr Vorſicht gebraucht, um mich gegen
Jhren Zorn zu bewahren. Anbetung und
Verzweiflung war’s, die mich zu der Ver-
wegenheit fuͤhrten hieher zu kommen; ſa-
gen Sie, daß Sie mir meine Verwegen-
heit
[315] heit vergeben und meine Verehrung nicht
verwerfen.


Nein, Milord, die wahre Hochachtung
des rechtſchaffenen Mannes werde ich nie-
mals verwerfen; aber wenn ich die Jhri-
ge erhalten habe, ſo verlaſſen Sie mich.


Jch erhaſchte ihre Hand, kuͤßte ſie und
ſagte zaͤrtlich und eifrig: Goͤttliches, an-
betungswuͤrdiges Maͤdchen; ich bin der
erſte Mann der Dir von Liebe redet: O
wenn ich der erſte waͤre den du liebteſt!


Seymour fiel mir ein, es war gut,
daß ich gieng; an der Thuͤr legte ich mein
Paquet Geld hin, und ſagte zuruͤck: Ge-
ben Sie es der Familie.


Sie ſah mir mit einer leutſeligen Mie-
ne nach; und ſeitdem habe ich ſie zwey-
mal in Geſellſchaften geſehen, wo ich mich
in einer ehrerbietigen Entfernung halts
und nur ſehr gelegen etliche Worte von
Anbetung, Kummer oder ſo etwas ſage,
und wenn ſie mich ſehen oder hoͤren kann,
mich ſehr weislich und zuͤchtig auffuͤhre.


Von Milord G. weiß ich, daß man bey
Hof verſchiedene Anſchlaͤge macht, ihren
Kopf
[316]Kopf zu gewinnen; das Herz, denken ſie,
haben ſie ſchon; weil ſie gerne Gutes thut,
und ihr der Fuͤrſt alles bewilligen wird.
Man haͤlt in ihrer Gegenwart immer Un-
terredungen von der Liebe und galanten
Verbindungen, die man leicht, und was
man in der Welt Philoſophiſch heißt, be-
urtheilt. Alles dieſes dient mir; denn
jemehr ſich die andern bemuͤhen, ihre Be-
griffe von Ehre und Tugend zu ſchwaͤchen,
und ſie zum Vergeſſen derſelben zu verleiten;
je mehr wird ſie gereizt mit allem weibli-
chen Eigenſinn ihre Grundſaͤtze zu behaup-
ten. Die trockne Hoͤflichkeit des Milord
G., die argwoͤhniſche und kalte Miene des
Seymour beleidigt die Ueberzeugung, die ſie
von dem Werthe ihrer Tugend hat. Jch
beweiſe ihr Ehrerbietung; ich bewundere
ihren ſeltnen Charakter, und achte mich
nicht wuͤrdig ihr von Liebe zu reden, bis
ich nach ihrem Beyſpiel umgebildet ſeyn
werde, und ſo werde ich ſie, in dem Har-
niſch ihrer Tugend und den Banden der
Eigenliebe verwickelt zum Streit mit mir
untuͤchtig ſehen; wie man die Anmerkung
von
[317] von den alten Kriegsruͤſtungen machte,
unter deren Laſt endlich der Streiter er-
lag und mit ſeinem ſchoͤnen feſten Panzer
gefangen wurde. Sage mir nichts mehr
von der fruͤhen Saͤttigung, in welche mich
der ſo lange geſuchte Genuß der ſchoͤnen
frommen *** brachte, und daß mich,
nach aller Muͤhe, mit dieſer Tugend das
nehmliche Schickſal erwarte. Du biſt
weit entfernt eine richtige Jdee von der
ſeltenen Creatur zu haben, von der ich
dir ſchreibe. Eine zaͤrtliche Andaͤchtige
hat freylich eben ſo viel uͤbertriebne Be-
griffe von der Tugend als meine Stern-
heim, und es iſt angenehm alle dieſe Ge-
ſpenſter aus einer liebenswuͤrdigen Per-
ſon zu verjagen; aber der Unterſchied iſt
dieſer; ſo wie die Devote bloß aus Zaͤrt-
lichkeit fuͤr ſich ſelbſt den ſchrecklichen
Schmerzen der Hoͤlle durch Froͤmmigkeit
zu entfliehen und hingegen den Genuß der
ewigen Wonne zu erhalten ſucht, folglich
aus lauter Eigennutz tugendhaft iſt, und
Furcht der Hoͤlle und Begierde nach dem
Himmel, allein aus dem feinen Gefuͤhl
ihrer
[318] ihrer Sinnen quillt: So kann auch ihre
Ergebung an einen Liebhaber, allein aus
der Vorſtellung des Vergnuͤgens der Lie-
be kommen; denn wenn die Sinnen nicht ſo
viel bey frommen Leuten gaͤlten, woher
kaͤmen wohl die ſinnlichen Beſchreibun-
gen ihrer himmliſchen Freuden, und wo-
her die entzuͤckte Miene, mit welcher ſie
Leckerbiſſen verkaͤuen?


Aber meine Moraliſtin iſt ganz anders
geſtimmt; ſie ſetzt ihre Tugend und ihre
Gluͤckſeligkeit in lauter Handlungen zum
Beſten des Nebenmenſchen. Pracht, Ge-
maͤchlichkeit, delicate Speiſen, Ehrenbe-
zeugungen, Luſtbarkeiten, — nichts kann
bey ihr dem Vergnuͤgen Gutes zu thun,
die Waagſchale halten, und aus dieſem
Beweggrunde wird ſie einſt die Wuͤnſche
ihrers Verehrers kroͤnen, und das nehm-
liche Nachdenken, das ſie hat, alles Uebel
der Gegenſtaͤnde ihrer Wohlthaͤtigkeit zu
erleichtern und neues Gluͤck fuͤr ſie zu
ſchaffen, dieſes Nachdenken wird ſie auch
zur Vergroͤßerung meines Vergnuͤgens
verwenden, und ich halte fuͤr unmoͤglich,
daß
[319] daß man ihr ſatt werden ſollte. Doch
in kurzer Zeit werde ich dir Nachricht da-
von geben koͤnnen, denn die Comoͤdie eilt
zum Schluſſe, weil die Leidenſchaft des
Fuͤrſten ſo heftig wird, daß man die An-
ſtalten zu ihrer Verwicklung eifriger be-
treibt, und Feſte uͤber Feſte veranſtaltet.



Fraͤulein von Sternheim
an
Emilia.


Wuͤrden Sie, liebſte Emilia, jemals
geglaubt haben, daß es eine Stunde
meines Lebens geben koͤnnte, in der mich
reuete Gutes gethan zu haben? Und ſie iſt
gekommen, dieſe Stunde, in welcher ich
mit dem warmen Eifer meines Herzens
fuͤr das verbeſſerte Wohlergehen meines
Naͤchſten unzufrieden war, und den
Streit zwiſchen Mein und Dein empfun-
den habe. Sie wiſſen aus meinen vori-
gen Briefen, was es mich koſtete den Fuͤr-
ſten um eine Gnade fuͤr die Familie T * zu
bitten,
[320] bitten. Sie kennen die Beweggruͤnde
meiner Abneigung und Ueberwindung der-
ſelben; aber die verdoppelte Beunruhi-
gung, die mir damit durch den Fuͤrſten
und Milord Derby zugekommen iſt, gab
mir die Staͤrke des Unmuths, der mich
zur Unzufriedenheit mit meinem Herzen
brachte. Der Fuͤrſt, welcher mich in Ge-
ſellſchaften mit ſeinen Blicken und Unter-
redungen mehr als zuvor verfolgt, ſcheu-
te ſich nicht bey einem Piquet, das ich mit
ihm ſpielte, Ausrufungen uͤber meine An-
nehmlichkeiten zu machen, und dieſes mit
einem Ton, worinn Leidenſchaft war, und
der alle Leute aufmerkſam machte. Mi-
lord Derby war eben vom Pharao-Tiſch
zu uns gekommen, und da ich in der Verwir-
rung, in die ich aus Zorn und Verlegen-
heit uͤber die Auffuͤhrung des Fuͤrſten ge-
rieth, ungefehr meine Augen auf Derby
richtete, ſah ich wohl den Ausdruck einer
heftigen Bewegung in ſeinem Geſicht, und
daß er ſich, nachdem ſeine Augen den Fuͤr-
ſten etwas wild angeſehen, wegbegab, und
wie ein verwirrter Menſch ſpielte: Aber
das
[321] das konnte ich nicht ſehen, daß ich von
ihm noch den nehmlichen Abend auf das
aͤußerſte beunruhigt werden ſollte. Der
Fuͤrſt verlohr viel Geld an mich; ich hat-
te bemerkt, daß er mit Vorſatz ſchlecht
ſpielte, wenn er allein gegen mich war;
dieſes verdroß mich; ſeine Abſicht mag
geweſen ſeyn, was ſie will, ſein Geld
freute mich nicht, und ich ſagte: daß ich
es den Kindern des Raths T * noch den
Abend geben wollte. Derby mußte es
gehoͤrt haben, und faßte den Entſchluß
mich zu belauſchen und bey dem Rath T *
zu ſprechen. Liſtig fieng er es an; denn
als ich eine kleine Weile da war, kam er
an das Haus, fragte nach der Frau T *
und ſagte dieſer; er ſey Secretair bey Mi-
lord G. und haͤtte mir etwas fuͤr ihre Fa-
milie zu bringen. Die Frau, von der
Hoffnung eines großen Geſchenks einge-
nommen, holte ihren Mann und Kinder
ſammt der Roſine aus dem Zimmer, wo
ich war, und ehe ich ſie fragen konnte,
was ſie wollte, trat ſie mit Milord Derby
herein, meldete mir ihn als Secretair, re-
Xdete
[322] dete von ſeinem an ſie habenden Geſchenke
und begab ſich weg. Erſtaunen und Un-
muth betaͤuben mich lange genug, daß
Milord zu meinen Fuͤßen knien und mir
ſeine Entſchuldigungen und Abbitten ma-
chen konnte, ehe ich faͤhig war uͤber ſein
Eindringen meine Klage zu fuͤhren. Jch
that es mit wenigen ernſthaften Worten;
da fieng er an von einer langen verbor-
gnen Leidenſchaft und der Verzweiflung zu
reden, in welche ihn Milord G. ſtuͤrzte,
da er ihm verboten, nicht mehr in unſer
Haus zu gehen, und er doch ſehen muͤßte,
daß andre mir von ihrer Liebe redeten.
Milords G. Verbot machte mich ſtutzend
und nachdenkend; Derby redete immer in
der heftigſten Bewegung fort; ich dachte
an den Jaſt, worinn ich ihn den ganzen
Abend in der Geſellſchaft geſehen hatte,
und meine Verlegenheit vergroͤßerte ſich
dadurch. Jch foderte, daß er mich ver-
laſſen ſollte, und wollte zugleich der Thuͤr
zugehen; er widerſetzte ſich mit ſehr
ehrerbietigen Gebehrden, aber mit einer
Stimme und Blicken ſo voll Leidenſchaft,
daß
[323] daß mir bange und uͤbel wurde. Dies
war der Augenblick, wo ich boͤſe auf mein
Herz war, daß es mich gerade dieſen
Abend noch mein Spielgeld den Kindern
bringen hieß und mich dadurch dieſer Ver-
legenheit ausgeſetzt hatte.


Jch erholte mich endlich, da ich ihn
den geheiligten Namen der Tugend aus-
ſprechen hoͤrte, in welchem er mich beſchwur,
ihn nur noch einen Augenblick reden zu
laſſen. Wiederholen kann ich nichts,
aber er redete gut; wenig von meinen aͤuſ-
ſerlichen Annehmlichkeiten, aber er behaup-
tete meinen Charakter zu kennen, den er
als ſelten anſieht, und am Ende legte er
auf eine ruͤhrende Weiſe eine feyerliche Ge-
luͤbde von Tugend und Liebe ab.


Unzufrieden mit ihm und mit mir ſelbſt,
beſtuͤrzt und bewegt, machte ich an ihn
die Bitte, mir den Beweis von ſeinen Ge-
ſinnungen zu geben, daß er mich verließe.
Er gieng gleich mit ermunterter Abbitte
ſeines Ueberraſchens, und legte an der
Thuͤr noch ein ſchweres Paquet Geld fuͤr
die arme Familie hin.


X 2Ein
[324]

Ein ungewoͤhnlicher Kummer beklemm-
te mein Herz; das beſte Gluͤck, das ich mir
in dieſer Minute wuͤnſchte, war einſam zu
ſeyn. Aber die Frau T* kam herein, ich
uͤbergab ihr das Geſchenk ſammt dem ge-
wonnenen Gelde. Jhre Freude erleich-
terte mich ein wenig, aber ich eilte mit
dem feſten Vorſatz fort, dieſes Haus nicht
mehr zu betreten, ſo lange Milord Derby
in D* ſeyn wuͤrde. Mein Oncle und mei-
ne Tante ſpielten noch, als ich nach Hauſe
kam und ich legte mich ins Bette. Trau-
rige Naͤchte hatte ich ſchon durch meinen
an Eltern und Freunden erlittenen Verluſt
gehabt; aber die mit Unruhe und Schmer-
zen der Seele erfuͤllte ſchlafloſe Stunden
habe ich niemals gekannt, welche auf die
Betrachtung folgten, daß mein Schickſal
und meine Umſtaͤnde meinen Wuͤnſchen
und meinem Charakter voͤllig entgegen ſind.
Meine aͤußerſte Bemuͤhung war immer,
unſtraͤflich in meiner Auffuͤhrung zu ſeyn,
und doch wurde ich durch Milord Derby
der Nachrede einer Zuſammenkunft ausge-
ſetzt. Milord G., deſſen Achtung ich zu
verdienen
[325] verdienen glaubte, verbietet ſeinen Ver-
wandten den vorzuͤglichen Umgang mit
mir. Jch hatte die Freundſchaft eines
tugendhaften Mannes gewuͤnſcht, und
dieſer flieht mich, waͤhrend daß mich der
Fuͤrſt und der Graf F* zu verfolgen an-
fangen. Und was ſoll ich von Milord
Derby ſagen: Jch bekenne, die Liebe eines
Englaͤnders iſt mir vorzuͤglich angenehm,
aber — Und doch; warum waͤhlte ich ei-
nen und verwarf den andern, ehe ich ſie
kannte; ich war gewiß voreilig und un-
billig. Derby iſt raſch und unbeſonnen;
aber voller Geiſt und Empfindſamkeit.
Wie ſchnell wie eifrig thut er Gutes?
Sein Herz kann nicht verdorben ſeyn,
weil er ſo viele Aufmerkſamkeit fuͤr gute
Handlungen hat; ich moͤchte bald hinzu-
ſetzen, weil er mich und meine Denkungs-
art lieben kann. Aber alle halten ihn fuͤr
einen boͤſen Menſchen; er muß Anlaß zu
einer ſo allgemeinen Meynung gegeben
haben; und gleichwohl hat die Tugend
Anſpruͤche [auf] ſein Herz. Emilia! wenn
ihn die Liebe ganz von Jrrwegen zuruͤck-
X 3fuͤhrte,
[326] fuͤhrte, wenn ſie es um meinetwillen un-
ternaͤhme: Waͤre ich ihr da nicht das
Opfer des Vorzugs ſchuldig, den ich ei-
nem andern ohne ſein Verlangen gab?
Aber itzt wuͤnſchte ich aller Wahl uͤberho-
ben zu ſeyn, und daß meine Tante R.
bald kaͤme. Vergeblicher Wunſch! Sie
iſt in Florenz und wird da ihre Wochen
halten. Sie ſehen alſo, daß alle Um-
ſtaͤnde wider mich ſind. Der laͤndliche
Frieden, die Ruhe, die edle Einfalt, wel-
che mein einſames S *** bewohnen, waͤ-
ren meinem armen Kopfe und Herzen ſo
erquickend, als Hofleuten der Anblick ei-
ner freyen Gegend iſt, wenn ſie lange in
Kunſtgaͤrten herumgeirret, und ihr Auge
durch Betrachtungen der geſuchten und ge-
zwungenen Schoͤnheiten ermuͤdet haben.
Wie gerne ſtellten ſie ihre durch zerſtoßnen
Marmor ermattete Fuͤße auf ein mit
Mooß bewachſnes Stuͤck Erde, und ſehen
ſich in dem unbegraͤnzten ſchoͤnen Gemi-
ſche von Feld, Waldungen, Baͤchen und
Wieſen um, wo die Natur ihre beſten Ga-
ben in reizender Unordnung verbreitet!
Bey
[327] Bey vielen beobachtete ich in dieſer Gele-
genheit die Staͤrke der reinen erſten Em-
pfindungen der Natur. So gar ihr
Gang und ihre Gebehrden wurden freyer
und ungezwungener, als ſie in den ſoge-
nannten Luſtgaͤrten waren; aber einige
Augenblicke darauf ſah ich auch die Macht
der Gewohnheit, die, durch einen einzigen
Gedanken rege gemacht, die ſanfte Zufrie-
denheit ſtoͤrte, welche die Herzen einge-
nommen hatte. Urtheilen Sie, meine
Emilia, wie ermuͤdet mein moraliſches
Auge uͤber den taͤglichen Anblick des Er-
kuͤnſtelten im Verſtande, in den Empfin-
dungen, Vergnuͤgungen und Tugenden iſt!
Dazu kommt nun der Antrag einer Ver-
bindung mit dem jungen Grafen F *, die
ich, wenn mir auch der Mann gefiele,
nicht annehmen wuͤrde, weil ſie mich an
den Hof feſſeln wuͤrde. So ſehr auch dieſe
Feſſeln uͤberguͤldet und mit Blumen be-
ſtreuet waͤren, ſo wuͤrden ſie doch mein
Herz nur deſto mehr belaͤſtigen. Jch lei-
de durch den Gedanken, jemand eine Hoff-
nung von Gluͤck zu rauben, deren Erfuͤl-
X 4lung
[328] lung in meiner Gewalt ſteht; aber warum
machen die Leute keine Vergleichung zwi-
ſchen ihrer Denkart und der meinigen?
Sie wuͤrden darinn ganz deutlich die Un-
moͤglichkeit ſehen, mich jemals auf den
Weg ihrer Geſinnungen zu lenken. Mein
Oncle und meine Tante machen mich er-
ſtaunen. Sie, die meine Aeltern und
meine Erziehung kannten, Sie, die von
der Feſtigkeit meiner Jdeen und Empfin-
dungen uͤberzeugt ſind, ſie dachten mich
durch glaͤnzende Spielwerke von Rang,
Pracht und Ergoͤtzlichkeiten, zur Ueberga-
be meiner Hand und meines Herzens zu
bewegen? Jch kann nicht boͤſe uͤber ſie
werden; ſie ſuchen mich nach ihren Be-
griffen von Gluͤck durch eine vornehme
Verbindung gluͤcklich zu machen, und geben
ſich alle erſinnliche Muͤhe, mir den Hof von
ſeiner verfuͤhreriſchen Seite vorzuſtellen.
Sie haben geſucht, meine Liebe zur Wohl-
thaͤtigkeit als eine Triebfeder anzuwenden.
Weil der Graf F* verſicherte, daß mich
der Fuͤrſt ſehr hochſchaͤtze, daß er mit Ver-
gnuͤgen alle Gnaden bewilligen wuͤrde, die
ich
[329] ich mir immer ausbitten koͤnnte; ſo haben
ſie, denke ich, Leute angeſtellt, mich um
Fuͤrſprache bey dem Herrn anzuflehen,
Jhre Vermuthung, daß dieſes die ſtaͤrk-
ſte Verſuchung fuͤr mich ſey, iſt ganz rich-
tig; dann die Gewalt Gutes zu thun, iſt
das einzige wuͤnſchenswerthe Gluͤck das
ich kenne.


Zu meinem Vergnuͤgen war die erſte
Bitte ein Wunſch von Eitelkeit, welcher
etwas begehrte, deſſen man wohl ent-
behren konnte; ſo daß ich ohne Unruhe
mein Vorwort verſagen konnte. Jch
zeigte dabey meinen Entſchluß an, den
Fuͤrſten niemals mehr zu beunruhigen, in-
dem mich nur die aͤußerſte Noth und Huͤlf-
loſigkeit der Familie T * dazu veranlaßt
habe. Waͤre es eine nothleidende Perſon
geweſen, die mich um Fuͤrbitte angeſpro-
chen haͤtte, ſo waͤre mein Herz wieder in
eine traurige Verlegenheit gerathen, zwi-
ſchen meiner Pflicht und Neigung ihr zu
dienen, und zwiſchen meinem Widerwil-
len dem Fuͤrſten fuͤr eine Gefaͤlligkeit zu
danken, einen Entſchluß zu machen. Fuͤr
X 5meines
[330] meines Oncles Proceß muß ich noch re-
den, und es ſoll auf einem Masquenball
geſchehen, dazu man ſchon viele Anſtal-
ten macht. Eine allgemeine Anſtrengung
der Erfindungskraft iſt aus dieſem Vorha-
ben erfolgt; ein jedes will ſinnreich und
gefaͤllig gekleidet ſeyn, Hof- und Stadt-
leute werden dazu geladen, es ſoll eine
Nachahmung der engliſchen Masquenbaͤlle
zu Vauxhall werden. Jch bekenne, daß
der ganze Entwurf etwas angenehmes fuͤr
mich hat; einmal, weil ich das Bild der
roͤmiſchen Saturnalien, die ich Gleich-
heitsfeſte nennen moͤchte, ſehen werde,
und dann, weil ich mir ein großes Ver-
gnuͤgen aus der Betrachtung verſpreche,
den Grad der Staͤrke und Schoͤnheit der
Einbildungskraft ſo vieler Perſonen in
ihren verſchiedenen Erfindungen und Aus-
wahlen der Kleidungen zu bemerken.
Der Graf F*, ſein Nepote, mein Oncle,
meine Tante und ich, werden eine Trup-
pe Spaniſcher Muſicanten vorſtellen, die
des Nachts auf die Straße ziehn, um vor
den Haͤuſern etwas zu erſingen. Der Ge-
danke
[331] danke iſt artig, unſre Kleidung in Cra-
moiſt mit ſchwarzem Taft, ſehr ſchoͤn;
aber meine Stimme vor ſo vielen Leuten
erſchallen zu laſſen, dieß vergaͤllet meine
Freude; es ſcheint ſo zuverſichtlich auf
ihre Schoͤnheit und ſo begierig nach Lob.
Doch man will damit dem Fuͤrſten, der
mich gerne ſingen hoͤrt, gefaͤllig ſeyn,
weil man glaubt, der Proceß meines On-
cles gewinne dabey, und ich will ihm lie-
ber vor der ganzen Welt ſingen, als noch
einmal in unſern Garten, wie geſtern;
wo ich darauf mit ihm ſpatzieren gehen,
und ihn von Liebe reden hoͤren mußte.
Er hatte ſie zwar in Ausdruͤcke der Be-
wunderung meines Geiſtes und meiner
Geſchicklichkeit eingewickelt; „aber meine
„Augen, meine Geſtalt und meine Haͤnde
„haͤtten viel Verwirrung an ſeinem
„Hof angerichtet, ihm waͤre es un-
„moͤglich Rath darinn zu ſchaffen, weil
„die Macht meiner Reize den Herrn
„eben ſo wenig verſchonet haͤtte als ſeine
„Diener.“


Meine
[332]

Meine Entfernung wird alſo das beſte
Mittel wider dieſe Unordnung ſeyn, ſag-
te ich.


„Das ſollen Sie nicht thun, Sie ſol-
len meinen Hof der Zierde nicht berauben,
die er durch Sie erhalten; einen Gluͤckli-
chen ſollen Sie waͤhlen, und ſich niemals,
von D* entfernen.


Jch wußte ihm Dank, daß er dieſes
hinzuſetzte; er muß es gethan haben,
weil er bemerkte, daß ich in Verwirrung
gerathen war, und auf einmal traurig
und ernſthaft ausſah. Denn wie er von
der Wahl eines Gluͤcklichen redete, wand-
te er ſich zu mir und blickte mich ſo ſehn-
ſuchtsvoll an, daß ich mich vor ſeinen wei-
tern Erklaͤrungen fuͤrchtete. Er fragte
mich zaͤrtlich nach der Urſache meiner
Ernſthaftigkeit; ich faßte mich, und ſagte
ihm ziemlich munter: Der Gedanke von
einer Auswahl waͤre ſchuld daran; weil
ich in D * nach meiner Phantaſie keine zu
machen wuͤßte.


„Gar keine? Nehmen Sie den, der Sie
am meiſten liebt; und ihnen ſeine Liebe
am
[333] am beſten beweiſen kann.“ — Mit dieſem
Geſpraͤche kamen wir zur Geſellſchaft an.
Alle ſuchten etwas in den Geſichtszuͤgen
des Fuͤrſten zu leſen; er war ſehr hoͤflich
gegen ſie; gieng aber bald darauf weg,
und ſagte mir noch mit Laͤcheln: ich moͤch-
te ſeinen Rath nicht vergeſſen. Jch re-
dete meiner Tante ernſthaft von den Ge-
ſinnungen, die ich bemerkt haͤtte, und daß
ich in keinem Menſchen Liebe ſehen und
ernaͤhren wuͤrde, die ich nicht billigen
koͤnnte; daß ich alſo auf dem Bal nicht
ſingen wollte, und ſie baͤte mich nach
Sternheim zuruͤck zu laſſen.


Da war Jammer uͤber meine zuweitge-
triebne grillenhafte Jdeen, die nicht einmal
eine zaͤrtliche Hoͤflichkeit ertragen koͤnnten;
ich moͤchte doch um des Himmels und
ihrer Kinder willen die Bal-Partie nicht
verſchlagen; wenn ich nach dieſem unzu-
frieden waͤre, ſo verſprach ſie mir, mich
nach Sternheim zu begleiten, und den Ue-
berreſt des Jahres dort zu bleiben. Bey
dieſem Verſprechen hielt ich ſie und erneuer-
te ihr das meinige. Dies iſt alſo die letzte
Tyrannie,
[334] Tyrannie, welche die Gefaͤlligkeit fuͤr andre
an mir ausuͤben wird, und dann werde ich
meine Sternheim wieder ſehen. O Emilia!
mit was fuͤr Entzuͤcken der Freude werde
ich dieſes Haus betreten, wo jeder Platz
an die ausgeuͤbten Tugenden meiner Ael-
tern mich erinnern und aufmuntern wird,
ihrem Beyſpiel zu folgen; Tugenden und
Fehler der großen Welt ſind nichts fuͤr
meinen Charakter; die erſten ſind mir zu
glaͤnzend und die andern zu ſchwarz. Ein
ruhiger Cirkel von Beſchaͤfftigung fuͤr mei-
nen Geiſt und fuͤr mein Herz iſt das mir
zugemeſſene Gluͤck, und dieſes finde ich
auf meinem Guthe. Ehemals wurde es
durch den freundſchaftlichen Umgang mei-
ner Emilia vergroͤßert; aber die Vorſicht
wollte ihre Tugenden in einer andern Ge-
gend leuchten laſſen, ließ mir aber ihren
Briefwechſel.


Sehr lieb iſt mir, daß ich die große
Welt und ihre Herrlichkeiten kennen ge-
lernt habe. Jch werde ſie nun in allen
Theilen richtiger zu beurtheilen wiſſen. Jch
habe ihr die Verfeinerung meines Ge-
ſchmacks
[335] ſchmacks und Witzes, durch die Kenntniß
des Vollkommnen in den Kuͤnſten zu dan-
ken. Jhr Luxus, ihre lermende ermuͤden-
de Ergoͤtzungen haben mir die edle Einfalt
und die ruhigen Freuden meines Stamm-
hauſes angenehmer gemacht; der Mangel
an Freuden, den ſie mich erdulden ließ,
hat mich den Werth meiner Emilie hoͤher
ſchaͤtzen gelehrt; und ob ich ſchon gefuͤhlt
habe, daß die Liebe Anſpruͤche auf mein
Herz hat, ſo freut mich doch, daß es al-
lein durch den Sohn der himmliſchen
Venus verwundet werden kann, und daß
die Tugend ihre Rechte umgeſtoͤrt darinn
erhalten hat. Denn gewiß wird meine
Zaͤrtlichkeit niemals einen Gegenſtand
waͤhlen, der ſie verdraͤngen wird.


Schoͤnheit und Witz haben keine Ge-
walt uͤber mein Herz, ungeachtet ich den
Werth von beyden kenne, eine feurige Lei-
denſchaft und zaͤrtliche Reden auch nicht;
am wenigſten aber die Lobeserhebungen
meiner perſoͤnlichen Annehmlichkeiten;
denn da ſehe ich in meinem Liebhaber
nichts
[336] nichts als die Liebe ſeines Vergnuͤgens.
Die Achtung fuͤr die gute Neigungen mei-
nes Herzens und fuͤr die Bemuͤhungen
meines Geiſtes um Talente zu ſammeln,
dieſes allein ruͤhrt mich, weil ich es fuͤr
ein Zeichen einer gleichgeſtimmten Seele
und der wahren dauerhaften Liebe halte;
aber es wurde mir von niemand geſagt,
von dem ich es zu hoͤren wuͤnſchte. Der-
by hatte dieſen Ton: Aber nicht eine Sai-
te meines Herzens hat darauf geantwor-
tet. Auch dieſes Mannes Liebe, oder
was es iſt, vermehrt meine Sehnſucht und
Eile nach Ruhe und Einſamkeit. Jn
acht Tagen iſt der Bal: vielleicht, meine
Emilia, ſchreibe ich Jhnen meinen naͤch-
ſten Brief in dem Cabinette der Sternheim
zu den Fuͤßen des Bildniſſes meiner Ma-
ma, deſſen Anblick meine Feder zu einem
andern Jnnhalt meiner Briefe begeiſtern
wird.


Milord
[337]

Milord Derby
an
ſeinen Freund


Die Comoͤdie des Fuͤrſten mit meiner
Sternheim, wovon ich dir letzthin geſchrie-
ben, iſt durch die romantiſchen Grillen des
Vetters Seymour zu einem ſo tragiſchen
Anſehen geſtiegen, daß nichts als der Tod
oder die Flucht der Heldin zu einer Ent-
wicklung dienen kann; das Erſte, hoffe
ich, ſolle die Goͤttin der Jugend verhuͤ-
ten, und fuͤr das Zweyte mag Venus
durch meine Vermittlung ſorgen.


Man hat, weil das Fraͤulein gerne
tanzt, die Hoffnung gefaßt, ſie durch Bal-
luſtbarkeiten eher biegſam und nachgebend
zu machen; und da ſie noch niemals ei-
nen Masquenbal geſehen, ſo wurden auf
den Geburtstag des Fuͤrſten, die Anſtal-
ten dazu gemacht. Man bewog das Maͤd-
chen zu dem Entſchluß bey dieſer Gelegen-
heit zu ſingen, und ſie gerieth auf den ar-
tigen Einfall, in Geſellſchaft etlicher Per-
ſonen einen Trupp Spaniſcher Muſicanten
Yvorzu-
[338] vorzuſtellen. Der Fuͤrſt erhielt die Nach-
richt davon und erſuchte den Grafen Loͤ-
bau, ihm das Vergnuͤgen zu laſſen, die
Kleidung des Fraͤuleins zu beſorgen, um
ihr dadurch unverſehens ein Geſchenk zu
machen. Oncle und Tante nahmen es
an, weil ihre Masquen zugleich ange-
ſchafft wurden; aber zween Tage vor dem
Bal war dem Hof und der Stadt be-
kannt, daß der Fuͤrſt dem Fraͤulein die
Kleidung und den Schmuck gaͤbe, und
auch ſelbſt ihre Farben tragen werde.
Seymour gerieth in den hoͤchſten Grad von
Wuth und Verachtung; ich ſelbſt wurde
zweifelhaft, und nahm mir vor, die Stern-
heim ſchaͤrfer als jemals zu beobachten.


Nichts kann reizender ſeyn als ihr
Eintritt in den Saal geweſen iſt. Die
Graͤfin Loͤbau, als eine alte Frau beklei-
det, gieng mit einer Laterne und etlichen
Rollen Muſicalien voraus. Der alte
Graf H * mit einer Baßgeige; Loͤbau mit
der Fluͤtetraverſe und das Fraͤulein mit ei-
ner Laute, kamen nach. Sie ſtellten ſich
vor die Loge des Fuͤrſten, fiengen an zu
ſtimmen,
[339] ſtimmen, die Tanzmuſik mußte ſchweigen,
und das Fraͤulein ſang eine Arie; ſie war
in Cramoiſi und ſchwarzen Taft gekleidet,
ihre ſchoͤnen Haare in fliegenden nachlaͤſ-
ſigen Locken verbreitet; ihre Bruſt ziem-
lich, doch weniger als ſonſt verhuͤllt;
uͤberhaupt ſchien ſie mit vielem Fleiß, auf
eine Art gekleidet zu ſeyn, die alle reizenden
Schoͤnheiten ihrer Figur wechſelsweiſe
entwickelte; denn der weite Ermel war ge-
wiß allein da, um waͤhrend ſie die Laute
ſchlug, zuruͤck zu fallen und ihren vollkom-
men gebildeten Arm in ſein ganzes Licht
zu ſetzen. Die halbe Masque zeigte uns
den ſchoͤnſten Mund, und ihre Eigenliebe
bemuͤhete ſich die Schoͤnheit ihrer Stimme
zu aller Zauberkraft der Kunſt zu erhoͤhen.


Seymour in einem ſchwarzen Domino
an ein Fenſter gelehnt, ſah ſie mit convul-
ſiviſchen Bewegungen an. Der Fuͤrſt in
einem venetianiſchen Mantel in ſeiner Loge,
Begierde und Hoffnung in ſeinen Augen
gezeichnet, klatſchte froͤhlich die Haͤnde
zuſammen und kam, einen Menuet mit ihr
zu tanzen, nachdem er vieles Lob von ih-
Y 2ren
[340] ren Fingern gemacht hatte. Mein Kopf
fieng an warm zu werden, und ich em-
pfahl meinem Freunde John, dem Se-
cretair von Milord G., ſeine Aufmerkſam-
keit zu verdoppeln, weil mein aufkochen-
des Blut nicht mehr Ruhe genug dazu
hatte. Doch machte ich noch in Zeiten
die Anmerkung, daß unſer Geſicht, und
das was man Phyſionomie nennt, ganz
eigentlich der Ausdruck unſrer Seele iſt.
Denn ohne Masque war meine Stern-
heim allezeit das Bild der ſitttlichen
Schoͤnheit, indem ihre Miene und der
Blick ihrer Augen, eine Hoheit und Rei-
nigkeit der Seele uͤber ihre ganze Perſon
auszugießen ſchien, wodurch alle Begier-
den, die ſie einfloͤßte, in den Schranken
der Ehrerbietung gehalten wurden. Aber
nun waren ihre Augenbraunen, Schlaͤfe
und halbe Backen gedeckt, und ihre Seele
gleichſam unſichtbar gemacht; ſie verlohr
dadurch die ſittliche eharakteriſtiſche Zuͤge
ihrer Annehmlichkeiten, und ſank zu der
allgemeinen Jdee eines Maͤdchens herab.
Der Gedanke, daß ſie ihren ganzen An-
zug
[341] zug vom Fuͤrſten erhalten, ihm zu Ehren
geſungen hatte, und ſchon lange von ihm
geliebt wurde, ſtellte ſie uns allen als
wuͤrkliche Maitreſſe vor; beſonders da
eine Viertelſtunde darauf der Fuͤrſt in
einer Masque von nehmlichen Farben
als die ihrige kam, und ſie, da eben Deutſch
getanzt wurde, an der Seite ihrer Tante,
mit der ſie ſtehend redte, wegnahm, und
einen Arm um ihren Leib geſchlungen, die
Laͤnge des Saals mit ihr durchtanzte.
Dieſer Anblick aͤrgerte mich zum raſend
werden, doch bemerkte ich, daß ſie ſich
vielfaͤltig ſtraͤubte und loswinden wollte;
aber bey jeder Bemuͤhung druͤckte er ſie
feſter an ſeine Bruſt, und fuͤhrte ſie end-
lich zuruͤck, worauf der Graf F * ihn an
ein Fenſter zog, und eifrig redete. Eini-
ge Zeit hernach ſtund eine weiſſe Masque
en Chauve-Souris neben dem Fraͤulein,
die ich auf einmal eine heftigſte Bewegung
mit ihrem rechten Arm, gegen ihre Bruſt
machen, und einen Augenblick darauf, ihre
linke Hand nach der weiſſen Masque aus-
ſtrecken ſah. Dieſe entſchluͤpfte durch das
Y 3Gedraͤn-
[342] Gedraͤnge, und das Fraͤulein gieng mit
aͤußerſter Schnelligkeit den Saal durch.
Jch folgte der weiſſen Masque auf die
Ecke eines Gangs, wo ſie die Kleider fal-
len ließ, und mir den Lord Seymour in
ſeinem ſchwarzen Domino zeigte, der in
der ſtaͤrkſten Bewegung die Treppe hinun-
ter lief, und mich uͤber ſeine Unterredung
mit dem Fraͤulein in der groͤßten Verle-
genheit ließ. John, der ſie nicht aus
dem Geſichte verlohr, war ihr nachgegan-
gen, und ſah, daß ſie in das Zimmer, wo
ihr Oucle und die Graͤfin F* waren, gieng,
gleich beym Eintritt allen Schmuck ihres
Aufſatzes vom Kopfe riß, mit verachtungs-
und ſchmerzensvollen Ausdruͤcken zu Bo-
den warf, ihren Oncle, der ſich ihr naͤ-
herte, mit Abſcheu anſah, und mit der
kummervolleſten Stimme ihn fragte: Wo-
mit habe ich es verdient, daß Sie meine
Ehre und meinen guten Nahmen zum
Opfer der verhaßten Leidenſchaft des Fuͤr-
ſten machten?


Mit zitternden Haͤnden band ſie ihre
Masque loß, riß die Spitzen ihres Hals-
kragens,
[343] kragens, und ihre Manſchetten in Stuͤ-
cken, und ſtreute ſie vor ſich her. John
hatte ſich gleich nach ihr an die Thuͤre ge-
drungen, und war Zeuge von allen die-
ſen Bewegungen. Der Fuͤrſt eilte mit
dem Grafen F* und ihrer Tante herbey,
die uͤbrigen entfernten ſich, und John
wickelte ſich in den Vorhang der Thuͤre,
welche ſogleich verſchloſſen wurde. Der
Fuͤrſt warf ſich zu ihren Fuͤßen, und bat
ſie in den zaͤrtlichſten Ausdruͤcken, ihm die
Urſache ihres Kummers zu ſagen; ſie ver-
goß einen Strohm von Thraͤnen, und
wollte von ihrem Platz gehen; er hielt ſie
auf und wiederhohlte ſeine Bitten.


Was ſoll dieſe Erniedrigung von Jh-
nen? Sie iſt kein Erſatz fuͤr die Erniedri-
gung meines guten Nahmens. — O
meine Tante, wie elend, wie niedertraͤch-
tig ſind Sie mit dem Kind ihrer Schwe-
ſter umgegangen! — O mein Vater, was
fuͤr Haͤnden haben Sie mich anvertraut!


Der feyerliche ſchmerzvolle Ton, mit
welchem ſie dieſes ſagte, haͤtte das inner-
ſte ſeiner Seele bewegt. Jhre Tante
Y 4fieng
[344] fieng an: Sie begreift kein Wort von ih-
ren Klagen und von ihrem Unmuth; aber
ſie wuͤnſchte, ſich niemals mit ihr beladen
zu haben.


Erweiſen Sie mir die letzte Guͤte, und
fuͤhren Sie mich nach Hauſe. Sie ſollen
nicht lange mehr mit mir geplagt ſeyn.


Dieſes ſprach mein Sternheim mit ei-
ner ſtotternden Stimme. Ein außeror-
dentliches Zittern hatte ſie befallen; ſie
hielt ſich mit Muͤhe an einem Stuhl auf-
recht, der Fuͤrſt war mit der Zaͤrtlichkeit
eines Liebhabers bemuͤht, ſie zu beruhi-
gen. Er verſicherte ſie, daß ſeine Liebe
alles in der Welt fuͤr ſie thun wuͤrde, was
in ſeiner Gewalt ſtuͤnde.


O es iſt nicht in Jhrer Gewalt, rief
ſie, mir die Ruhe meines Lebens wieder zu
geben, deren Sie mich beraubt haben. —
Meine Tante, haben Sie Erbarmen mit
mir, bringen Sie mich nach Hauſe!


Jhr Zittern nahm zu; der Fuͤrſt ge-
rieth in Sorgen und gieng ſelbſt in das
Nebenzimmer, um eine Kutſche anſpannen
und ſeinen Medicum rufen zu laſſen.


Die
[345]

Die Graͤfin Loͤbau hatte die Grauſam-
keit dem Fraͤulein Vorwuͤrfe uͤber ihr Be-
tragen zu machen. Das Fraͤulein ant-
wortete mit nichts als einen Strohm von
Thraͤnen, die aus ihren gen Himmel gerich-
teten Augen floſſen, und ihre gerungenen
Haͤnde benetzten.


Der Fuͤrſt kam mit dem Medico, der
das Fraͤulein mit Staunen anſah, ihr
den Puls fuͤhlte, und den Ausſpruch that,
daß das heftigſte Fieber mit ſtarken Zuͤckun-
gen vorhanden waͤre; der Fuͤrſt empfohl
ſie ſeiner Aufſicht und Sorgfalt auf das
Jnſtaͤndigſte. Als die angeſpannte Kut-
ſche gemeldet wurde, ſah ſich das Fraͤu-
lein ſorgſam und erſchrocken um, fiel vor
dem Fuͤrſten nieder, und indem ſie ihre
Haͤnde gegen ihn erhob, rief ſie:


O wenn es wahr iſt, daß Sie mich lie-
ben, laſſen Sie mich nirgend anders wo-
hin fuͤhren, als in mein Haus.


Der Fuͤrſt hob ſie auf, und ſagte ihr be-
wegt: Er ſchwoͤre ihr die ehrerbietigſten
Geſinnungen, und haͤtte keinen Gedanken
ſie zu betruͤgen; er baͤte ſie nur, daß ſie
Y 5ſich
[346] ſich faſſen moͤchte, der Doctor ſollte ſie
begleiten.


Sie gab dem Alten ihre Hand, nach-
dem ſie ihr Halstuch um ihren Hals ge-
legt hatte, und gieng mit wankenden Fuͤſ-
ſen aus dem Zimmer. Jhre Tante blieb
und fieng an uͤber das Maͤdchen zu re-
den. Der Fuͤrſt hieß ſie ſchweigen, und
ſagte ihr mit Zorn: ſie haͤtten ihm alle
eine falſche Jdee von dem Charakter des
Fraͤuleins gegeben, und ihn lauter ver-
kehrte Wege gefuͤhrt. Damit gieng er
fort, die Graͤfin auch, und John wurde
ſeines Gefaͤngniſſes erlediget.


Jm Saal hatte man fortgetanzt, aber
daneben viel von der Begebenheit geziſchelt.
Faſt bey allen wurde die Auffuͤhrung des
Fraͤuleins als ein uͤbertriebenes Geziere
getadelt. „Man kann tugendhaft ſeyn,
„ohne ein großes Geraͤuſch zu machen.
„Sollte man nicht denken, der Fuͤrſt haͤt-
„te noch keine Dame als ſie geliebt? aber
„es giebt eine ſanftere und edlere Art von
„Vertheidigung ſeiner Ehre, zu der man
„juſt
[347] „juſt nicht die ganze Welt zu Zeugen
„nimmt; und dergleichen. *)


Andre hielten es fuͤr eine ſchoͤne Comoͤ-
die, und waren begierig, wie weit ſie
die Rolle treiben wuͤrde.


Jch war uͤberzeugt, daß Seymour die
Urſache dieſes aufwallenden Jaſtes von
Tugend geweſen ſeyn muͤſſe, aber was er
ibr geſagt, und was fuͤr einen Eindruck
er dadurch auf ſie gemacht haͤtte, das
wuͤnſchte ich zu wiſſen, um meine Maaß-
regeln darnach zu nehmen. Jch verbarg
dieſe Unruhe, und ſpottete eins mit; in-
dem ich die Zuruͤckkunft des Johns erwar-
tete, der nach Hauſe geeilt war, um den
Seymour auszuſpaͤhen.


Aber ſtelle dir, wenn du kannſt, das Er-
ſtaunen vor, als mein John ſagte, Sey-
mour waͤre gleich nach ſeiner Zuruͤckkunft in
einer Poſt-Chaiſe mit Sechſen und einem
einzigen Kerl davon gefahren. Was T —
konnte das anders bedeuten als eine ver-
abredete
[348] abredete Entfuͤhrung! Jch riß John am
Arm zum Saal hinaus, warf auf der
Straße meine Masque ab, und zog den
Ueberrock meines Kerls an, in welchem
ich an das Loͤbauiſche Haus eilte, um
Nachricht von der neuen Actrice zu hoͤren.
Eiferſucht, Wuth und Liebe jagten ſich in
meinem Kopfe herum; und gewiß derjeni-
ge, der mir geſagt haͤtte, ſie waͤre fort,
haͤtte es mit ſeinem Leben bezahlen muͤſſen;
aber ehe eine Viertelſtunde um war, lief
jemand aus dem Hauſe nach der Apothek.
Die Thuͤr blieb offen; ich ſchlich in den
Hof und ſah Licht in den Zimmern der
Sternheim. Es wurde mir leichter, aber
meine Zweifel blieben; dieſe Lichter konn-
ten Blendwerk ſeyn. Jch wagte mich in
das Zimmer ihrer Kammerjungfer; die
Thuͤr des Cabinetts war offen, und ich
hoͤrte mein Maͤdchen reden. Alſo war
Seymour allein fort. Jch ſann auf eine
taugliche Entſchuldigung meines Daſeyns,
und gab dem Cammermaͤdchen ganz herz-
haft ein Zeichen zu mir zu kommen. Sie
kannte mich nicht, rannte auf die Thuͤr
zu,
[349] zu, die ſie den Augenblick hinter ſich zu-
ſchloß und fragte haſtig: wer ich ſey, was
ich haben wollte?


Jch gab mich zu erkennen, bat ſie in
kummervollen ehrerbietigen Ausdruͤcken
um Nachricht von des goͤttlichen Fraͤuleins
Befinden, und beſchwur ſie auf den
Knieen, alle Tage einem meiner Leute et-
was davon zu ſagen. Jch ſagte ihr, ich
waͤre Zeuge geweſen, wie edel und an-
betungswuͤrdig ſich der Charakter des
Fraͤuleins gezeigt haͤtte, ich verehrte und
liebte ſie uͤber allen Ausdruck; ich ſey be-
reit mein Leben und alles zu ihrem Dien-
ſte aufzuopfern, aber mir ſey fuͤr ihre Ge-
ſundheit bange, indem ich den Medicum
von einem Fieber haͤtte reden hoͤren.


Die Katze war froh, die Geſchichte des
Abends von mir zu hoͤren, indem, wie ſie
ſagte, das Fraͤulein faſt nichts als weinte
und zitterte. Jch putzte die Geſchichte ſo
ſehr als mir moͤglich war, zur Verherrli-
chung des Fraͤuleins aus, und nannte die
weiſſe Masque; da fiel mir das Maͤdchen
ein; O dieſe Masque iſts, die mein Fraͤu-
lein
[350] lein krank gemacht hat! Denn ſir ſagte
ihr ganz frey: Ob ſie denn alle Geſetze
der Ehre und Tugend ſo ſehr unter die
Fuͤße getreten habe, daß ſie ſich in einer
Kleidung und einem Schmuck ſehen
laſſe, welche der Preiß von ihrer Tugend
ſeyn werde; daß es ihr alle Masquen ſa-
gen wuͤrden; daß alle ſie verachteten, weil
man von ihrem Geiſt und ihrer Erziehung
etwas beſſers erwartet haͤtte.


Und wer war dieſe Masque? Dieß wiſ-
ſe das Fraͤulein nicht; aber ſie nenne ſie
eine edle wohlthaͤtige Seele, ungeachtet
ſie ihr das Herz zerriſſen habe.


Jch dachte: Der Himmel ſegne den
wohlthaͤtigen Seymour fuͤr ſeine Narr-
heit! Sie ſoll meinem Verſtande ſchoͤne
Dienſte thun. Jch verſprach dem Maͤb-
chen, mich um die Entdeckung zu bemuͤhen,
und erzaͤhlte ihr noch die Urtheile der Ge-
ſellſchaft, mit dem Zuſatz, daß ich der
Vertheidiger des Fraͤuleins werden wollte,
und ſollte es auch auf Unkoſten meines
Halſes ſeyn; ſie ſollte mir nur ſagen,
was ich fuͤr ſie thun koͤnnte. Das Maͤd-
chen
[351] chen war geruͤhrt. Maͤdchen ſeben die
Gewalt der Liebe gerne; ſie nehmen An-
theil an der Macht, die ihr Geſchlecht
uͤber uns ausuͤbt, und helfen mit Ver-
gnuͤgen an den Kraͤnzen flechten, womit
unſre Beſtaͤndigkeit belohnt wird. Sie
ſagte mir den folgenden Abend eine zweyte
Unterredung zu, und ich gieng recht mun-
ter und voller Anſchlaͤge zu Bette.


Meine Hauptſorge war, dem pinſel-
haften Seymour den Widerſtand des
Fraͤuleins und die heroiſch ausgezeichne-
te Wuͤrkung ſeiner unartigen Vorwuͤrfe zu
verbergen. Aber da ich nicht erfahren
konnte, wo er ſich aufhielt, mußte ich mei-
ne Guineen zu Huͤlfe nehmen, und einen
Poſt-Officier gewinnen, der mir alle
Briefe zu liefern verſprochen hat, die an
das Fraͤulein, an Loͤbau und an alle Be-
kannten des Seymour einlaufen werden.
Daß ſie in ihrem eignen Hauſe keine bekom-
men kann, bin ich ſicher. Sie wollte zwar
unverzuͤglich auf ihre Guͤter; aber ihr
Oncle erklaͤrte, daß er ſie nicht reiſen
laſſe. Jhr Fieber dauert; ſie wuͤnſcht zu
ſterben;
[352] ſterben; ſie laͤßt niemand als den Doctor
und ihre Katze vor ſich. Die letzte habe
ich ganz gewonnen; ich ſehe ſie alle Nacht,
wo ich viel von den Tugenden ihres Fraͤu-
leins muß erzaͤhlen hoͤren: „Sie iſt ſehr
„zaͤrtlich, aber ſie wird niemand als
„einen Gemahl lieben.“


Merkſt du den Wink?


Hat ſie niemals geliebt? fragte ich un-
ſchuldig.


Nein; ich hoͤrte ſie nicht einmal davon
reden, oder einen Cavalier loben, als im
Anfang unſers Hierſeyns den Lord Sey-
mour; aber ſchon lange nennt ſie ihn
nicht mehr. Von Euer Gnaden Wohl-
thaͤtigkeit haͤlt ſie viel.


Jch that ſehr beſcheiden und vertraut
gegen das Thierchen; und da ſie mir im
Nahmen ihres Fraͤuleins, alle Vertheidi-
gung ihrer Ehre, die ich ihr angeboten,
unterſagte, ſo ſetzte ich klaͤglich hinzu:
Wird ſie meine Anwerbung auch verwer-
fen? Ungeachtet ich ſie auch wider den
Willen des Lord G. machen muͤßte, ſo
wuͤrde ich doch alles wagen, um ſie aus
den
[353] den Haͤnden ihrer unwuͤrdigen Familie zu
ziehen, und ſie in England einer beſſern
vorzuſtellen. Jch mußte dieſe Sayte an-
ſtimmen, weil ſie mir ſelbſt den Ton ba-
zu angegeben, und weil ich ihren Ekel fuͤr
D * und ihren Hang fuͤr England benutzen
wollte, ehe der Jaſt von Seymour verloͤ-
ſchen wuͤrde, und er bey ſeiner Zuruͤckkunft
im Enthuſtasmus der Belohnung ihrer
Tugend ſo weit gienge, als ihn ſeine Ver-
achtung gefuͤhrt hatte. Sie hatte ihn
ſonſt vorzuͤglich gelobt, itzt ſprach ſie nicht
mehr von ihm, ſie nennte auch den Lord
G. nicht. Lauter Kennzeichen einer glim-
menden Liebe. Jch fand Wege, ihr klei-
ne ſatyriſche Briefchen zuzuſchicken, wor-
inn ihrer Krankheit und der Scene, die ſie
auf dem Bal geſpielt hatte, geſpottet wur-
de. Die Geringſchaͤtzung, welche Lord G.
fuͤr ſie bezeugte, wurde auch angemerkt.
Neben dieſem wiederholte ich beynahe
alle Tage das Anerbieten meiner Hand,
da ich zugleich ihrer freyen Wahl uͤberließ:
Ob ich es bekannt machen ſollte, oder ob
ſie ſich meiner Ehre und Liebe anvertrauen
Zwollte,
[354] wollte. Dieſe Miene uͤberlaſſe ich nun
dem Schickſal. Lange kann ich nicht
mehr herum kriechen. Zwo Wochen daurt
es ſchon, und ohne die Anſtalten, die der
Hof auf die Ankunft zweyer Prinzen von
** macht, haͤtte ich vielleicht meine Arbeit
unterbrechen muͤſſen. John iſt ein vor-
trefflicher Kerl; er will im Fall der Noth
die Trauungs-Formeln auswendig lernen,
und die Perſon des engliſchen Geſandt-
ſchaftspredigers ſpielen. Meine letzten
Vorſchlaͤge muͤſſen etwas fruchten, denn
mit allen ihren ſtralenden Vollkommenhei-
ten iſt ſie doch — nur ein Maͤdchen.
Jhr Stolz iſt beleidigt, und es iſt ſchwer
der Gelegenheit der Rache zu entſagen.
Keine Seele nimmt ſich ihrer an, als ich;
auch findet ſie mich großmuͤthig und weiß
mir vielen Dank fuͤr meine Geſinnungen.
„Niemals haͤtte ich dieß vermuthet; aber
„ſie will mich nicht ungluͤcklich machen,
„es ſoll niemand in ihr Elend verwickelt
„werden.“ Meine Zuruͤckhaltung, daß
ich auf keinen Beſuch in ihrem Zimmer
dringe, erfreut ſie auch, vielleicht deswe-
gen,
[355] gen, weil ſie ſich nicht gerne mit ihrer Fie-
berfarbe ſehen laſſen will.


Jn wenig Tagen muß meine Miene
ſpringen, und es duͤnkt mich, ſie ſoll
gerathen. Giebſt du mir keinen Segen
dazu?



Milord Derby
an
ſeinen Freund


Sie iſt mein, unwiderruflich mein; nicht
eine meiner Triebfedern hat ihren Zweck
verfehlt. Aber ich hatte eine teufliſche
Gefaͤlligkeit noͤthig, um bey ihr gewiſſe
Geſinnungen zu unterhalten, und daneben
zu hindern, daß andre keinen Gebrauch
von ihrer Empfindlichkeit machten. Aber
ihr guter Engel muß ſie entweder verlaſ-
ſen haben, oder er iſt ein phlegmatiſches
traͤges Geſchoͤpfe; denn er that auf allen
Seiten nichts, gar nichts fuͤr ſie. —
Z 2Sagte
[356] Sagte ich dir nicht, daß ich ſie durch ihre
Tugend fangen wuͤrde? Jch habe ihre
Großmuth erregt, da ich mich fuͤr ſie auf-
opfern wollte; dafuͤr war ſie, um nicht
meine Schuldnerinn zu bleiben, ſo groß-
muͤthig, und opferte ſich auf. Sollteſt
du es glauben? Sie willigte in ein ge-
heimes Buͤndniß; einige Bedingungen
ausgenommen, die nur einer Schwaͤrme-
rin, wie ſie iſt, einfallen konnten. Mei-
ne ſatyriſchen Briefe hatten ihr geſagt,
daß ihr Oucle ſie dem Jntereſſe ſeines
Proceſſes habe aufopfern wollen; daß
man ſich um ſo weniger daruͤber bedacht
haͤtte, weil man geſagt, die Mißheyrath
ihrer Mutter verdiene ohnehin nicht, daß
man fuͤr ſie die nehmliche Achtung truͤge,
als fuͤr eine Dame.


Nun war alles aufgebracht; Tugend,
Eigenliebe, Eitelkeit; und ich bekam das
ganze Paquet ſatyriſcher Briefe zu leſen.
Sie ſchrieb einen Auszug aus den meini-
gen, und fragte mich: Ob ich durch mei-
ne Beobachtungen uͤber ihren Charakter
genugſame Kenntniß ihres Herzens und
Denkungs-
[357] Denkungsart haͤtte, um von der Falſchheit
dieſer Beſchuldigungen uͤberzeugt zu ſeyn?
Sie wiſſe, daß man in England einem
Manne von Ehre keinen Vorwurf mache,
wenn er nach ſeinem Herzen und nach Ver-
dienſten heyrathe. Sie koͤnne an meiner
Edelmuͤthigkeit nicht zweifeln, weil ſie
ſolche mich ſchon oft gegen andre ausuͤben
ſehen; ſie haͤtte mich deswegen hochge-
ſchaͤtzt; und nun, da das Schickſal ſie
zu einem Gegenſtande meiner Großmuth
gemacht habe, ſo truͤge ſie kein Bedenken,
die Huͤlfe eines edeln Herzens anzuneh-
men; ich koͤnnte auf ewig ihres zaͤrtlichen
Danks und ihrer Hochachtung verſichert
ſeyn; ſie gienge alle Bedenklichkeiten we-
gen der Bekanntmachung unſers Buͤnd-
niſſes ein; es waͤre ihr ſelbſt angenehm,
wenn alles ſtille bleiben koͤnnte, und
wenn ſie mich nichts als die Sorgen der
Liebe koſtete. Nur baͤte ſie mich um die
Gewaͤhrung von vier Bedingniſſen, da-
von die erſte beſchwerlich, aber unum-
gaͤnglich noͤthig fuͤr ihre Ruhe ſey, nehm-
lich zu ſorgen, daß ich mit ihr vermaͤhlt
Z 3wuͤrde,
[358] wuͤrde, ehe ſie das Haus ihres Oncles
verließe, indem ſie nicht anders als an
der Hand eines wuͤrdigen Gemahls dar-
aus gehen wolle. Die zweyte: daß ich
ihr erlauben moͤchte, von den Einkuͤnften
ihrer Guͤther auf drey Jahre eine Verga-
bung zu machen. (Die gute Haustau-
be!) Drittens, moͤchte ich ſie gleich zu
ihrem Oncle, dem Grafen R*, nach Flo-
renz fuͤhren, denn dieſem wolle ſie ihre
Vermaͤhlung ſagen; ihre Verwandten in
D* verdienten ihr Vertrauen nicht. Von
Florenz aus waͤre ſie mein, und wuͤrde
in ihrem uͤbrigen Leben keinen andern
Willen als den meinigen haben; uͤbri-
gens und viertens, moͤchte ich ihre Kam-
merjungfer bey ihr laſſen.


Jch machte bey dem erſten Artickel die
Einwendung der Unmoͤglichkeit, weil Lord
G., oder der Fuͤrſt alles erfahren wuͤr-
de: wir wollten uns an einem andern
ſichern Orte trauen laſſen. Aber da war
die entſcheidende Antwort; ſo bleibe ſie
da, und wollte ihr Verhaͤngniß abwar-
ten. — Nun ruͤckte John an, und ich
ſchrieb
[359] ſchrieb ihr in zween Tagen, daß ich un-
ſern Geſandtſchafts-Prediger gewonnen
haͤtte, der uns trauen wuͤrde; ſie moͤchte
nur ihre Jungfer ſchicken, um Abends
ſelbſt ihn zu ſprechen. Dieß geſchah;
das Maͤdchen brachte ihm einen in engli-
ſcher Sprache geſchriebnen Brief, worinn
meine Heldin die Urſachen einer geheimen
Heyrath auskramte und ihren Entſchluß
entſchuldigte, ſich ſeinem Gebet und ſei-
ner Fuͤrſorge empfahl und einen ſchoͤnen
Ring beylegte.


John, der Teufel, hatte die Kleider
des Doctors an, und ſeine Perucke auf;
und redete gebrochen, aber ſehr pathetiſch
Deutſch. Das Kaͤtzchen kroch ſehr an-
daͤchtig um ihn herum; ich gab ihr eine
Verſchreibung mit, die John unterzeich-
nete, und ſagte ihr, daß das bevorſte-
hende Feſt den beſten Anlaß geben wuͤrde
unſer Vorhaben auszufuͤhren, weil man
ſie wegen ihrer andaurenden Kraͤnklich-
keit nicht einladen und nicht beobachten
wuͤrde.


Z 4Alles
[360]

Alles geſchah nach Wunſche; ſie war
froh uͤber mein Papier und meine Gefaͤl-
ligkeit gegen ihre Vorſchriften. Warum
haben doch gute Leute ſo viel Schafmaͤ-
ßiges an ſich, und warum werden die
Weibsbilder nicht klug, ungeachtet der
unzaͤhligen Beyſpiele unſerer Schelme-
reyen, welche ſie vor ſich haben? Aber
die Eitelkeit beherrſcht ſie unumſchraͤnkt,
daß ein jeder glaubt, ſie haͤtte das Recht
eine Ausnahme zu fodern, und ſie ſey ſo
liebenswuͤrdig, daß man unmoͤglich nur
ſeinen Spaß mit ihr treiben koͤnne. Da
moͤgen ſie nun die angewieſne natuͤrliche
Beſtrafung ihrer Thorheiten annehmen,
indeſſen wir die Belohnung unſers Witzes
genießen. Gewiß, da meine Sternheim
keine Ausnahme macht, ſo giebt es keine
in der Welt. Jndeſſen iſt ihr Verderben
deswegen nicht beſchloſſen. Wenn ſie
mich liebt, wenn mir ihr Beſitz alle die
abwechſelnden lebhaften Vergnuͤgungen
giebt, die ich mir verſpreche: ſo ſoll ſie
Lady Derby ſeyn, und mich zum Stamm-
vater eines neuen naͤrriſch genug gemiſch-
ten
[361] ten Geſchlechts machen. Fuͤr mein er-
ſtes Kind iſt es ein Gluͤcke, daß ſeine
Mutter eine ſo ſanfte fromme Seele iſt;
denn wenn ſie von dem nehmlichen Geiſt
angefeurt wuͤrde wie ich, ſo muͤßte der
kleine Balg zum Beſten der menſchlichen
Geſellſchaft in den erſten Stunden erſtickt
werden; aber ſo giebt es eine ſchoͤne Mi-
ſchung von Witz und Empfindungen,
welche alle Junge von unſrer Art auszeich-
nen wird. Wie zum Henker komme ich
zu dieſem Stuͤcke von Hausphyſik!
Freund, es ſieht ſchlimm aus, wenn es
fortdauert; doch ich will die Probe bis
auf den letzten Grad durchgehen.


Mein Maͤdchen ließ ſich noch Medi-
ein machen, und packte daneben einen
Coffer mit Weiszeug und etwas leich-
ten Kleidern voll, den ich und John
an einem Abend fortſchleppten. Sie
ſchrieb einen großen Brief im giganti-
ſchen Ton der hohen Tugend, worinn
ſie ſagt, daß ſie mit einem wuͤrdigen
Gemahl von der Gefahr und Bosheit
fliehe! ſie wieß ihrem Onkle den drey-
Z 5jaͤhrigen
[362] jaͤhrigen Genuß aller ihrer Einkuͤnfte
an, um ſeinen Proceß damit zu betrei-
ben; ſie hoffte, ſagte ſie, er wuͤrde da-
durch mehr Segen fuͤr ſeine Kinder er-
langen, als er durch die Grauſamkeit
erhalten, die er an ihr ausgeuͤbt habe.
Von Florenz werde er Nachricht von
ihr erhalten. Jhre reichen Kleider
ſchenkte ſie in die Pfarre fuͤr Arme.
Von dieſer Art von Teſtamente ſchickte
ſie auch dem Fuͤrſten und dem Lord G.
Copien zu.


Den Tag, wo das große Feſtin auf
dem Lande gegeben wurde, waren mei-
ne Anſtalten gemacht, ich war den gan-
zen Tag bey Hofe uͤberall mit ver-
mengt. Als das Getuͤmmel recht arg
wurde, ſchlich ich in meinen Wagen, und
flog nach D *. John eilte mit mir in
den kleinen Gartenſaal des Grafen Loͤ-
bau, wo ich in Wahrheit mit einem
das Erſtemal pochenden Herzen das
artige Maͤdchen erwartete. Sie wank-
te endlich am Arm ihres Kaͤtzchens her-
ein, niedlich gekleidet, und vom Haupt
bis
[363] bis zu den Fuͤſſen mit Adel und ruͤh-
render Grazie bewaffnet. Sie zagte
einen Augenblick an der Thuͤre, ich
lief gegen ihr, ſie machte einen Schritt,
und ich kniete bey ihr mit einer wah-
ren
Bewegung von Zaͤrtlichkeit. Sie
gab mir ihre Haͤnde, konnte aber nicht
reden; Thraͤnen fielen aus ihren Au-
gen, die ſich zu laͤcheln bemuͤhten; ich
konnte ihre Beſtuͤrzung genau nachah-
men, denn ich fuͤhlte mich ein wenig
beklemmt, und John ſagte mir nach-
her, daß es Zeit geweſen waͤre, ihm
das Zeichen zu geben, ſonſt wuͤrde er
nichts mehr geantwortet haben, in-
dem ihn ſeine Entſchloſſenheit beynahe
verlaſſen habe.


Doch das waren leere Aufſtoßungen
unſerer noch nicht genug verdauten ju-
gendlichen Vorurtheile.


Jch druͤckte die rechte Hand meines
Maͤdchens an meine Bruſt.


Jſt ſie mein, dieſe ſegensvolle Hand?
Wollen ſie mich gluͤcklich machen? —
ſagte ich mit dem zaͤrtlichſten Tone.


Sie
[364]

Sie ſagte ein ſtotterndes Ja! Und
zeigte mit ihrer linken Hand auf ihr
Herz. John ſah mein Zeichen und
trat herbey, that auf Engliſch eine
kurze Anrede, plapperte die Traufor-
mel her, — ſegnete uns ein, und
ich — hob meine halb ohnmaͤchtige
Sternheim triumphirend auf, druͤckte
ſie das Erſtemal in meine Arme, und
kuͤßte den ſchoͤnſten Mund, den meine
Lippen jemals beruͤhrten. Jch fuͤhlte
eine mir unbekannte Zaͤrtlichkeit und
ſprach ihr Muth zu. Einige Minu-
ten blieb ſie in ein ſtillſchweigendes Er-
ſtaunen verhuͤllt. Endlich legte ſie
mit einer bezaubernden Vertraulichkeit
ihren ſchoͤnen Kopf an meine Bruſt, er-
hob ihn wieder, druͤckte meine Haͤnde an
ihren Buſen; und ſagte:


Milord, ich habe nun niemand auf
der Erde als Sie, und das Zeugniß
meines Herzens. Der Himmel wird
Sie fuͤr den Troſt belohnen, den Sie
mir geben, und dieſes Herz wird Jhnen
ewig danken.


Jch
[365]

Jch umarmte ſie und ſchwur ihr al-
les zu. Nachdem mußte ſie mit ih-
rem Maͤdchen beyſeite gehen und
Mannskleider anziehen. Jch ließ ſie
allein dabey, weil ich meiner Leiden-
ſchaft nicht trauete, und die Zeit
nicht verlieren durfte. Wir kamen
unbemerkt aus dem Hauſe, und da
wegen des Feſtes, welches man dem
Prinzen von * * gab, viel Kutſchen
aus und einfuhren, achtete man die
meinige nicht, in welcher ich meine
Lady und ihr Maͤdchen fortſchickte.
John, der ſeine eigne Geſtalt wieder
angenommen, war ihr Begleiter. Jch
redete ihren Ruheplatz in dem Dorfe
Z * unweit B * mit ihm ab, und eilte
zum Bal zuruͤck, wo niemand meine
Abweſenheit wahrgenommen hatte. *)
Jch tanzte meine Reihen mit Froͤhlich-
keit durch, und lachte, als der Fuͤrſt
dem engliſch tanzen nicht zuſehen woll-
te, indem ihm das Andenken der Stern-
heim quaͤlte.


Das
[366]

Das Gelerme, Muthmaßen und
Nachſchicken des zweyten Tages, will
ich dir in einem andern Briefe be-
ſchreiben. Jch reiſe itzt auf acht Ta-
ge zu meiner Lady, die, wie mir John
ſchreibt, ſehr tiefſinnig iſt und viel
weint.



Sie ſehen, meine Freundin, aus den
Briefen des ruchloſen Lords Derby,
was fuͤr abſcheuliche Raͤnke gebraucht
wurden, um die beſte junge Dame, an
den Rand des groͤßten Elendes zu fuͤh-
ren. Sie koͤnnen ſich auch vorſtel-
len, wie traurig ich die Zeit zuge-
bracht habe, von dem Augenblick an,
da ſie vom Bal kam, krank war und
dabey immer aus einer bekuͤmmernden
Unruhe des Gemuͤths in die andre ge-
ſtuͤrzt wurde. Da ſie von keinem
Menſchen mehr Briefe bekam, vermu-
theten wir, der Fuͤrſt und der Graf
Loͤbau ließen ſie auffangen. Die Art,
mit welcher ihr abgeſchlagen wurde auf
ihre
[367] ihre Guͤther zu gehn, und ein Beſuch
des Fuͤrſten befoͤrderten die Abſichten
des Lord Derby. Ungluͤcklicher weiſe
betaͤubte mich der unmenſchliche Mann
auch, daß ich zu allem half, um mei-
ne Fraͤulein aus den Haͤnden ihres
Oncle zu ziehen.


Sie ſehen aus ſeinen Briefen, wie
viel Argliſt und Verſtand er hatte.
Daneben war er ein ſehr ſchoͤner
Mann; und mein Fraͤulein freuete ſich,
ihre Begierde nach England zu befrie-
digen.


O wie viel werden Sie noch zu le-
ſen bekommen, woruͤber ſie erſtaunen
werden. Jch will ſo fleißig ſeyn, als
mir moͤglich iſt, um Sie nicht lange
darauf warten zu laſſen.

[[368]][[369]][[370]][[371]][[372]]
Notes
*)
Der Verfolg und der ganze Zuſammenhang
dieſer Geſchichte giebt die Auslegung uͤber
dieſen Ausdruck. Er ſoll ohne Zweiſel nichts
anders ſagen, als einen Mann, der dem be-
ſondern Jdeal von Tugend und moraliſcher
Voll-
*)
Vollkommenheit, welches ſich in ihrer Seele
ausgebildet hatte, bis auf die kleinſten Zuͤge
aͤhnlich waͤre. A. d. H.
*)
Eine Bemerkung, welche der Herausgeber
aus vieler Erfahrung an ſich und andern von
Herzen unterſchreibt.
*)
Um die vortreffliche Schreiberin fuͤr nichts
reſponſabel zu machen, was nicht wuͤrklich von
ihr
*)
ihr koͤmmt, geſteht der Herausgeber, daß die
in [] eingeſchloſſenen Zeilen von ihm ſelbſt ein-
geſchoben worden, da er das Gluͤck hat, die
Dame, deren getreues Bildniß hier entworfen
wird, perſoͤnlich zu kennen.
*)
Jch habe der kleinen Partheylichkeit des
Fraͤulein von Sternheim fuͤr die engliſche Na-
tion bereits in der Vorrede als eines Fleckens
erwaͤhnt, den ich von dieſem vortrefflichen Wer-
ke haͤtte wegwiſchen moͤgen, wenn es ohne zu
große Veraͤnderungen thunlich geweſen waͤre. —
Wenn wir den weiſeſten Englaͤndern ſelbſt glau-
ben duͤrfen, ſo iſt eine Dame von ſo ſchoͤner
Sinnesart, als Fraͤulein St., in England nicht
weniger ſelten als in Deutſchland. Doch, hier
ſpricht ein junger Englaͤnder, welcher billig fuͤr
ſeine Nation eingenommen ſeyn darf, und
ein Enthuſiaſt, der das Recht hat, zuweilen un-
richtig zu raiſonnieren. A. d. H.
*)
Man kann ſchwerlich ſagen, daß es Gat-
tungen von Blumen oder Pflanzen gebe, welche
nur zu Ergoͤtzung des Auges dienten; und, ſo viel
mir bekannt iſt, kennt man keine einzige Gat-
tung, welche nicht entweder einen oͤkonomiſchen
oder officinaliſchen Nutzen fuͤr den Menſchen haͤt-
te, oder zum Unterhalt einiger Thiere, Voͤgel,
Jnſekten und Gewuͤrm diente, folglich in Ab-
ſicht des ganzen Syſtems unſers Planeten wuͤrk-
lich einen Nutzen haͤtte. A. d. H.
*)
Es gehoͤrt immer noch viele Einſicht dazu,
den Zufall ſo wohl zu benutzen, und vielleicht
mehr, als einen wohlausgedachten Entwurf zu
machen. Aber das iſt der große Haufe nicht faͤ-
hig zu begreifen: und daher pflegt man ihn im-
mer gerne glauben zu laſſen, was, ſeinen Begrif-
fen nach, denen die ihn regieren die meiſte Ehre
macht. Die Welt wird nur darum ſo viel betro-
gen, weil ſie betrogen ſeyn will. A. d. H.
*)
Wohlverſtanden, daß die Speculationen der
Gelehrten, ſo bald ſie einigen Nutzen fuͤr die
menſchliche Geſellſchaft haben, eben dadurch den
Werth von guten Handlungen bekommen. H.
**)
Herr** (den wir zu kennen die Ehre ha-
ben) hat uns auf Befragen geſagt, ſeine Mey-
nung ſey eigentlich dieſe geweſen: Er habe an
dem Fraͤulein von St. eine gewiſſe Neigung uͤber
moraliſche Dinge aus allgemeinen Grundſaͤtzen zu
raiſonniren, Diſtinctionen zu machen, und ihren
Gedanken eine Art von ſyſtematiſcher Form zu
geben,
**)
geben, wahrgenommen, und zugleich geſunden,
daß ihr gerade dieſes am wenigſten gelingen wolle.
Jhn habe beduͤnkt, das, worinn ihre Staͤrke liegt,
ſey die Feinheit der Empfindung, der Beobach-
tungsgeiſt, und eine wunderbare, und gleichſam
zwiſchen allen ihren Seelenkraͤften abgeredete Ge-
ſchaͤfftigkeit derſelben, bey jeder Gelegenheit die
Guͤte ihres Herzens thaͤtig zu machen; und dieſes
habe er eigentlich dem Fraͤulein von St. ſagen
wollen. H.
*)
Jch habe ſo viel Wahres und zugleich bem
eigenthuͤmlichen Charakter des Geiſtes des Fraͤu-
lein von St. ſo angemeſſenes in dieſem Gleichniſ-
ſe gefunden, daß ich mich nicht entſchließen konn-
te, etwas davon zu aͤndern, ungeachtet ich ſehr
wohl empfinde, daß das Feuer der Unterſuchung
und das Waſſer der Widerwaͤrtigkeit keine Gna-
de vor der Critik finden koͤnnen, und wuͤrklich
in Bunyans Pilgrimsreiſe beſſer an ihrem Platze
ſind, als in dieſem Buche. H.
*)
Wenige Leſer werden die Erinnerung beduͤr-
fen, daß es der Unſchuld und Unerfahrenheit des
Fraͤulein von St. in den Wegen der Welt, ganz
natuͤrlich war, fuͤr eine Wuͤrkung des Zufalls zu
halten, was Abſicht und Kunſt war. An Hoͤ-
fen verſteht man keine Kunſt beſſer, als ungefaͤh-
re
*)
re Zufaͤlle zu machen, wenn die Abſicht iſt, die
Leidenſchaften des Herrn auf eine feine Art zu
befoͤrdern. H.
*)
Der Herausgeber uͤberlaßt dem Herrn Pfar-
rer, von welchem dieſe Diſtincrion herruͤhren ſoll,
die Rechtfertigung derſelben. Seiner Meynung
nach, welche nichts Neues iſt, laͤßt ſich auch in
dieſem
Leben weder oͤffentliche noch Privat-
Gluͤckſeligkeit ohne Tugend denken; und nach
den Grundſaͤtzen der Offenbarung gehoͤrt noch et-
was mehr als nur Tugend zur Erlangung der ewi-
gen Gluͤckſeligkeit. H.
*)
Und diejenigen, welche ſo ſagten, hatten
an ſich ſelbſt eben nicht ſo gar Unrecht. H.
*)
Heureſement[!]

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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). La Roche, Sophie von. Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnzk.0