Jugend- und Volksspiele.
des
Zentralausschusses zur Förderung der Jugend- und Volkspiele
in Deutschland.
Vorsitzenden des Zentralausschusses.
R. Voigtländer’s Verlag.
1893.
4. Die Schulspiele in [Braunschweig].
Von Professor Dr. K. Koch, Braunschweig.
Saehe ich die megde an der strâze den bal
werfen! so kaeme uns der vogele schal.
In den ersten Zeiten der Braunschweiger Schulspiele, wo sie noch
ganz eine persönliche Veranstaltung einiger Lehrer des Gymnasiums
Martino-Katharineum waren, wurden sie gelegentlich von einem für unsere
[16] Sache warm empfindenden Freunde in begeisterter Rede als ein erster
Anfang zu einem neuen Frühling für die deutsche Jugend, ja für das
deutsche Volk gefeiert. Es wollten diese schwärmerischen Worte nicht so-
wohl die Spiele als Leibesübung preisen, sondern sie fanden in der Ein-
richtung von Schulspielen einen schlagenden Beweis dafür, daß die Schule
nicht mehr blos den Unterricht als ihre Aufgabe ansah, sondern auch die
Erziehung der ihr anvertrauten Jugend im vollsten Umfange des Worts.
Sie sollten jedenfalls dazu beitragen, die damaligen Leiter der Spiele,
denen von mancher anderen Seite nur Bedenken und Zweifel geäußert
ward, zum Ausharren bei ihren Bestreben zu ermutigen. Die Gefahr,
die damals für das Bestehen der Schulspiele von Seiten der Gegner
immer wieder vorausgesagt ward, als seien sie ganz von persönlicher
Laune abhängig und würden zumal bei einem Wechsel in der Stellung
der leitenden Lehrer schleunigst wieder eingehen, ist im Laufe der inzwischen
verstrichenen zwanzig Jahre so vollständig beseitigt, wie Niemand im
Voraus geahnt hat. Inzwischen ist die Bewegung zu Gunsten der
Jugendspiele in ganz Deutschland so mächtig angewachsen und hat so all-
gemeinen Erfolg gehabt, daß heutzutage fast in allen Städten die Jugend
auf die früher verödeten Spielplätze hinausgeführt wird, und daß wir
wieder fast überall die Knaben, und schon an nicht wenigen Stellen auch
die Mädchen in munteren Spielen „den Ball an der Straße werfen
sehen.“ Damit ist für unsere deutsche Jugend in der That eine schöne,
freudenreiche Zeit, ein neuer Frühling angebrochen und, wenn wir auch
für unser Volksleben im Hinblick auf die schlimmen Stürme, die jetzt in
ihm wüten oder es doch bedrohen, und auf „des Winters Not den Reif,“
der darauf lastet und es niederdrückt, uns nicht leicht zu so freudiger
Hoffnung aufraffen können, so wollen wir doch mit unserm alten Dichter,
Walther von der Vogelweide, in der Hoffnung auf das Nahen des
Frühlings für das deutsche Volk nicht verzagen.
Bei einem Rückblicke auf die Entwickelung unserer Schulspiele will
es mir scheinen, als sei ihre Eigenart nicht zum geringsten Teile dadurch
bestimmt, daß hier von vornherein, mit Rücksicht auf die erziehlichen
Zwecke, den Schülern ein großes Maß von Freiheit und Selbständigkeit
gelassen ist. Wir Lehrer, die wir in den ersten Jahren die Schüler
unserer Klassen auf den Spielplatz einluden, suchten dort alles, was
an den Schulzwang erinnerte, möglichst zu vermeiden, um eben den
Knaben Gelegenheit zu geben, sich im freien Spiele körperlich und geistig
auszuleben. So ließen wir ihnen, trotzdem wir uns selbst viel am
Spiele beteiligten, soweit es irgend anging, alle Freiheit bei der Auswahl
[17] der Spiele und bei der Leitung derselben. Als später durch die wohl-
wollende Förderung der Behörden und der Direktoren der Spielbetrieb
sich nach und nach immer mehr erweiterte und eine feste Schuleinrichtung
daraus wurde, mußte freilich eine bestimmte Spielordnung eingeführt
werden, doch beschränkte sich diese auf die notwendigsten Bestimmungen
und zog die Schüler selbst wieder mit zur Leitung und Aufsicht heran.
Es ward dabei streng nach dem Grundsatze verfahren, daß wie in der
alten Jahn’schen Turngemeinde, so auf dem Spielplatz den Schülern
möglichste Selbstregierung gewahrt werden sollte. So erfolgt z. B. gleich
die Einteilung der ganzen Schülerschar in die einzelnen Abteilungen beim
Spielen zu Anfang des Sommers ganz durch freie Wahl in den ein-
zelnen Klassen, die sich auch die Kaiser und Anmänner frei wählen dürfen.
Vom Rechte der Genehmigung durch den Aufsicht führenden Lehrer braucht
kaum je Gebrauch gemacht zu werden. Ebenso bleibt die Wahl der zu
übenden Spiele innerhalb der durch die äußeren Umstände gebotenen
Beschränkungen den einzelnen Abteilungen überlassen, die sich auch am
ersten Tage ihren Spielplatz aussuchen dürfen, an den sie aber dann
für den Sommer gebunden sind.
Schon Mancher, der sich sonst von Herzen der Wiederbelebung
kräftiger Spiele der Jugend gefreut hat, ist nicht recht einverstanden damit
gewesen, daß hier die alten deutschen Spiele seiner Jugendzeit vernach-
lässigt werden, und statt deren englische Spiele eingetreten sind. Nach
dem Maße der Freiheit, das die Jugend auf unserem Spielplatze genießt,
wird Niemand auf die Vermutung kommen können, als hätten wir die
fremdländischen Spiele ihr irgend aufgezwungen. Die Sache verhält sich
genau umgekehrt, wenigstens was Cricket angeht. Es waren in früheren
Jahrzehnten an anderen Orten manche Versuche, dieses Spiel auf
deutschem Boden heimisch zu machen, so kläglich gescheitert, daß Jemand,
der davon wußte, gar nicht daran denken konnte, hier einen neuen Versuch
damit zu wagen. Aber siehe da, ein junger Engländer, der damals unser
Gymnasium besuchte, brachte ohne vorherige Erlaubnis eines Tages eine
halbe Stunde vor dem eigentlichen Beginn der Schulspiele seine eigenen
Spielgeräte auf den Platz, und als der die Aufsicht führende Lehrer erschien,
fand er zu seiner nicht geringen Überraschung das Spiel schon im besten
Gange. Freilich waren die Spieler, die jener im Cricket einübte, vorher
durch andere Ballspiele, namentlich durch Kaiserball (Schlagball), im
Schlagen, Werfen und Fangen des Balls sicher geworden. So ging es
mit der Einführung des Crickets. Wer aber Fußball kennt, weiß aus
eigener Erfahrung, daß dazu tüchtige Jungen nicht im geringsten gezwungen
Jugend- und Volksspiele II.2[18] zu werden brauchen. Gleich beim ersten Versuche gefiel es hier allen
mitspielenden Schülern so sehr, daß es stets seitdem das allgemeine
Lieblingsspiel geblieben ist. Im Winterhalbjahr wird es bis jetzt aus-
schließlich gespielt. Erst in diesem letzten ist neben ihm Harpastum
(Raffball) in Frage gekommen, und ich möchte fast meinen, daß dieses
Spiel, namentlich wenn es erst sich seiner entwickelt und strengere Regeln
erhält, wohl einmal dem Fußball an Beliebtheit den Rang streitig machen
kann. Wenn also die fremden Spiele von unseren Schülern so gern
gespielt werden, so liegt das nicht etwa an einer Vorliebe von uns
ganz auf deutsche beschränkt und besonders Barlauf, Grenzball und
Kaiserball eingeübt, wie denn diese auch jetzt noch auf unserem Spielplatz
eifrig betrieben und namentlich die beiden letzten von den Schülern der
oberen Klassen, die sich nicht die nötige Geschicklichkeit für Cricket erworben
haben, regelmäßig im Sommer bevorzugt werden. Die Gefahr, als ob
durch Herübernehmen des Balls und Ballholzes und einiger Spielregeln
in unserer deutschen Jugend das Nationalgefühl irgend geschädigt würde,
haben wir nie anerkannt, auch nie berücksichtigen zu müssen geglaubt. Wer
mit dem jetzt heranwachsenden Geschlechte in geistiger Fühlung lebt, weiß
ganz genau, daß in unserem Volke das kräftige Sebstvertrauen, zu dem
es 1870 erwacht ist, so leicht nicht zu gefährden ist. Wünschenswert
ist es allerdings und hier streng beachtet, daß im Spiele nur gut deutsche
Ausdrücke vorkommen.
Als die wichtigsten Daten aus der Geschichte unserer Spiele wären
etwa folgende anzuführen. Im Mai 1872 wurden sie zuerst unternommen,
1874 Michaelis kamen mit der Einführung des Fußballs die Winter-
spiele hinzu, im Sommer 1876 ward Cricket eingeführt, 1878 wurden die
Spiele zu einer festen Schuleinrichtung gemacht und demgemäß zwei
Schulnachmittage vom Schulunterricht befreit, im folgenden Jahre wurde
die Teilnahme an den Sommer-Schulspielen obligatorisch, daneben be-
standen am Mittwoch und Sonnabend freiwillige Spiele und außerdem
im Winterhalbjahre das freiwillige Fußballspiel. Aus dem vorigen Jahr-
zehnt ist nichts von allgemeinem Interesse zu erwähnen. Das antike
Spiel Harpastum (Raffball) ist im Jahre 1891 zuerst hier neu belebt.
Seit Michaelis vorigen Jahres ist ein Versuch mit der Einführung des
obligatorischen Winterspiels gemacht, der bisher im Ganzen günstig aus-
gefallen ist. Freilich hat seit Mitte Dezember Frost und starker Schnee-
fall allem Ballspiel im Freien ein Einde gemacht; dafür aber zieht unsere
Schuljugend statt dessen in hellen Scharen regelmäßig Nachmittags
[19] zur Eisbahn, was durch Beseitigung des Nachmittags-Unterrichts er-
möglicht ist.
Zum Schluß sollen die hiesigen Massenspiele noch kurz erwähnt
werden. Zur Zeit der freien Jahnschen Turngemeinde wurden häufig
große Grenzballspiele mit allgemeiner Beteiligung gespielt, bei denen einige
wenige Vorkämpfer, wie in den homerischen Kämpfen um Troja, die
eigentliche Arbeit thaten und die große Masse nur durch ihr Geschrei
mitwirkte. Diese Spielwiese ist später nicht erneuert, dagegen sind die
aus derselben Zeit überkommenden Ausflüge, verbunden mit einem Räuber-
und Soldatenspiel, alljährlich einmal oder auch zweimal mit der ganzen
Schülerzahl ausgeführt. Nur wird jetzt statt jenes wilden Spiels ein
etwas mehr geregeltes Kriegsspiel in einem dazu geeigneten, unweit von
der Stadt belegenen kleinen Walde veranstaltet, auf dessen Beendigung
eine kurze Rast und dann ein gemeinschaftlicher Rückmarsch folgt. Auch
bei diesem Spiele haben die jüngeren Schüler keine besonders wichtige
Rolle, aber das freie Umherstreichen im Walde und ihre leicht erregbare
Phantasie bewirken, daß ihnen diese Ausflüge ein nicht minder hohes Ver-
gnügen bereiten, als ihren älteren Mitschülern, unter deren Leitung sie
dabei stehen.
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Schulspiele in Braunschweig. Die Schulspiele in Braunschweig. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnzj.0