[][][][][][][]
Flegeljahre.

Eine
Biographie

Erſtes Baͤndgen.

Tuͤbingen,
: in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1804.
[][]

Druckfehler des I. Baͤndgens.


Seite Zeile


31 9 ſtatt derſelbe lies der ſelber


57 10 ſt. Territorine l. Territorien


79 12 ſt. Poſtſtraſſen l. Poſtſtraſſe


— 17 ſt. ihn l. daſſelbe
96 6 ſt. Haͤnde l. Haͤndel


— 9 ſt. gewoͤlkte l. gewoͤlbte
98 11 ſt. ſind l. ſeynd


100 18 ſt. jeder l. in jede


— 19 ſt. verſtehe l. erſtehe
101 _ _ v. 5 ſt. und l. um


112 v. u. 2 ſt. Thuͤren l. Thurme


119 6 ſt. verbluͤht l. verbluͤft


121 2 ſt. iezt l. jez


138 _ _ v. u. 5 nach fehlt ſich


147 v. u. 6 ſtreiche H. weg.


155 v. u. 9 ſtatt wol l. voll


167 4 ſt. ſchreibe l. ſchreiben


173 2 ſt. ſchreiben l. ſchrieben


204 10 ſtatt ein l. im

[][[1]]

Nro. I.Bleiglanz.

Teſtament — das Weinhaus.


So lange Haslau eine Reſidenz iſt, wußte
man ſich nicht zu erinnern, daß man darin auf
etwas mit ſolcher Neugier gewartet haͤtte — die
Geburt des Erbprinzen ausgenommen — als auf
die Eroͤfnung des Van der Kabelſchen Teſtaments.
Van der Kabel konnte der Haslauer Kroͤſus —
und ſein Leben eine Muͤnzbeluſtigung heißen oder
eine Goldwaͤſche unter einem goldnen Regen oder
wie ſonſt der Witz wollte. Sieben noch lebende
weitlaͤuftige Anverwandten von ſieben verſtorbenen
weitlaͤuftigen Anverwandten Kabels machten ſich
zwar einige Hofnung auf Plaͤze im Vermaͤchtnis,
weil der Kroͤſus ihnen geſchworen, ihrer da zu
gedenken; aber die Hofnungen blieben zu matt,
Flegeljahre I. Bd. 1[2] weil man ihm nicht ſonderlich trauen wollte, da
er nicht nur ſo muͤrriſchſittlich und uneigennuͤzig
uͤberall wirthſchaftete — in der Sittlichkeit aber wa¬
ren die 7 Anverwandten noch Anfaͤnger — ſon¬
dern auch immer ſo ſpoͤttiſch darein grif und mit
einem ſolchen Herzen voll Streiche und Fallſtricke,
daß ſich auf ihn nicht fußen lies. Das fortſtrah¬
lende Laͤcheln um ſeine Schlaͤfe und Wulſtlippen
und die hoͤhniſche Fiſtel-Stimme ſchwaͤchten den
guten Eindruck, den ſein edel gebautes Geſicht
und ein Paar große Haͤnde, aus denen jeden Tag
Neujahrsgeſchenke und Benefiz-Komoͤdien und
Graziale fielen, haͤtten machen koͤnnen; deswegen
gab das Zug-Gevoͤgel den Mann, dieſen leben¬
digen Vogelbeerbaum, worauf es as und niſtete,
fuͤr eine heimliche Schneus aus und konnte die ſicht¬
baren Beere vor unſichtbaren Haarſchlingen kaum
ſehen.


Zwiſchen zwei Schlagfluͤſſen hatt' er ſein Te¬
ſtament aufgeſezt und dem Magiſtrate anvertraut.
Noch als er den Depoſizionsſchein den 7 Praͤſum¬
tiv-Erben halbſterbend uͤbergab: ſagt' er mit al¬
tem Tone, er wolle nicht hoffen, daß dieſes Zei¬
[3] chen ſeines Ablebens geſezte Maͤnner niederſchlage,
die er ſich viel lieber als lachende Erben denke,
denn als weinende; und nur einer davon, der kalte
Ironiker, der Polizei-Inſpektor Harprecht, erwie¬
derte dem warmen: ihr ſaͤmtlicher Antheil an ei¬
nem ſolchen Verluſte ſiehe wohl nicht in ihrer
Gewalt.


Endlich erſchienen die 7 Erben mit ihrem
Depoſizions-Schein auf dem Rathhauſe, nament¬
lich der Kirchenrath Glanz, der Polizei-Inſpek¬
tor, der Hofagent Neupeter, der Hoffiskal Knoll, der
Buchhaͤndler Pasvogel, der Fruͤhprediger Flachs
und Flitte aus Elſas. Sie drangen bei dem Ma¬
giſtrate auf die vom ſeel. Kabel inſinuirte Charte
und die Oefnung des Teſtaments ordentlich und
geziemend. Der Ober-Exekutor des leztern war
der regierende Buͤrgermeiſter ſelber, die Unter-
Exekutores der reſtierende Stadt-Rath. Sofort
wurden Charte und Teſtament aus der Raths-
Kammer vorgeholt in die Rathsſtube — ſaͤmtli¬
chen Raths- und Erbherrn herumgezeigt, damit
ſie das darauf bedrukte Stadt-Sekret beſaͤhen —
die auf die Charte geſchriebenen Inſinuazions-Re¬
[4] giſtratur vom Stadtſchreiber den 7 Erben laut
vorgeleſen, und ihnen dadurch bekannt gemacht,
daß der Seelige die Charte dem Magiſtrate wirk¬
lich inſinuirt und scrinio rei publicæ anvertraut,
und daß er am Tage der Inſinuazion noch ver¬
nuͤnftig geweſen — endlich wurden die ſieben Sie¬
gel, die er ſelber darauf geſezt, ganz befunden.
Izt konte das Teſtament — nachdem der Stadt¬
ſchreiber wieder uͤber dieſes alles eine kurze Regi¬
ſtratur abgefaſſet — in Gottes Namen aufge¬
macht und vom regierenden Buͤrgermeiſter ſo vor¬
geleſen werden, wie folgt:


Ich Van der Kabel teſtire 179* den 7. Mai
hier in meinem Hauſe in Haslau in der Hund¬
gaſſe ohne viele Millionen Worte, ob ich gleich
ein deutſcher Notarius und ein hollaͤndiſcher Do¬
miné geweſen. Doch glaub' ich, werd' ich in
der Notariatskunſt noch ſo zu Hauſe ſeyn, daß
ich als ordentlicher Teſtator und Erblaſſer auf¬
treten kann.


Teſtatoren ſtellen die bewegenden Urſachen ih¬
rer Teſtamente voran. Dieſe ſind bei mir, wie
gewoͤhnlich, der ſeelige Hintritt und die Verlaſ¬
[5] ſenſchaft, welche von vielen gewuͤnſcht wird. Ue¬
ber Begraben und dergleichen zu reden, iſt zu weich
und dumm. Das aber, als was Ich uͤbrig bleibe,
ſeze die ewige Sonne droben in einen ihrer gruͤnen
Fruͤhlinge, in keinen duͤſtern Winter.


Die milden Geſtifte, nach denen Notarien
zu fragen haben, mach' ich ſo, daß ich fuͤr drei
Tauſend hieſige Stadtarmen jeder Staͤnde eben
ſo viele leichte Gulden ausſeze, wofuͤr ſie an mei¬
nem Todes-Tage im kuͤnftigen Jahre auf der
Gemeinhut, wenn nicht gerade das Revuͤe-Lager
da ſteht, ihres aufſchlagen und beziehen, das Geld
froh verſpeißen, und dann in die Zelte ſich klei¬
den koͤnnen. Auch vermach' ich allen Schulmei¬
ſtern unſers Fuͤrſtenthums, dem Mann einen Au¬
guſtd'or, ſo wie hieſiger Judenſchaft meinen Kir¬
chenſtand in der Hofkirche. Da ich mein Teſta¬
ment in Klauſeln eingetheilt haben will, ſo iſt die¬
ſe die erſte.

2teKlauſel.

Allgemein wird Erbſazung und Enterbung
unter die weſentlichſten Teſtamentsſtuͤke gezaͤhlt.
Dem zu Folge vermach' ich denn dem Hrn. Kirchen¬
[6] rath Glanz, dem Hrn. Hoffiskal Knol, dem
Hrn. Hofagent Peter Neupeter, dem Hrn. Poli¬
zei- Direktor Harprecht, dem Hrn. Fruͤhpredi¬
ger Flachs und dem Hrn. Hofbuchhaͤndler Pas¬
vogel
und Hrn. Flitten vor der Hand nichts,
weniger weil ihnen als den weitlaͤuftigſten An¬
verwandten keine Trebellianica gebuͤhrt, oder
weil die meiſten ſelber genug zu vererben haben,
als weil ich aus ihrem eigenen Munde weis,
daß ſie meine geringe Perſon lieber haben als mein
großes Vermoͤgen, bei welcher ich ſie denn laſſe,
ſo wenig auch an ihr zu holen iſt. — —


Sieben lange Geſichtslaͤngen fuhren hier wie
Siebenſchlaͤfer auf. Am meiſten fand ſich der
Kirchenrath, ein noch junger, aber durch geſpro¬
chene und gedrukte Kanzelreden in ganz Deutſch¬
land beruͤhmter Mann, durch ſolche Stiche be¬
leidigt — dem Elſaßer Flitte entgieng im Seſſions¬
zimmer ein leicht geſchnalzter Fluch — Flachſen,
dem Fruͤhprediger, wuchs das Kinn zu einem Bart
abwaͤrts — mehrere leiſe Stos-Nachrufe an den
ſeeligen Kabel, mit Namen Schubjak, Narr, Un¬
chriſt u. ſ. w. konnte der Stadtrath hoͤren. Aber
[7] der regierende Buͤrgermeiſter Kuhnold winkte mit
der Hand, der Hoffiskal und der Buchhaͤndler
ſpannten alle Spring- und Schlagfedern an ihren
Geſichtern wie an Fallen wieder an und jener las
fort, obwohl mit erzwungenem Ernſte.

3teKlauſel.

„Ausgenommen, gegenwaͤrtiges Haus in
der Hundsgaſſe, als welches nach dieſer meiner
dritten Klauſel ganz ſo wie es ſteht und geht,
demjenigen von meinen ſieben genannten Hrn. An¬
verwandten anfallen und zugehoͤren ſoll, welcher
in einer halben Stunde (von der Vorleſung der
Klauſel an gerechnet) fruͤher als die uͤbrigen ſechs
Nebenbuhler eine oder ein Paar Thraͤnen uͤber mich,
ſeinen dahin gegangenen Onkel, vergießen kann
vor einem loͤblichen Magiſtrate, der es protokol¬
liert. Bleibt aber alles trocken, ſo mus das Haus
gleichfalls dem Univerſalerben verfallen, den ich
ſogleich nennen werde.“ —


Hier machte der Buͤrgermeiſter das Teſta¬
ment zu, merkte an, die Bedingung ſei wohl un¬
gewoͤhnlich, aber doch nicht geſezwidrig, ſondern
das Gericht muͤſſe dem erſten, der weine, das Haus
[8] zuſprechen, legte ſeine Uhr auf den Seſſionstiſch,
welche auf 11½ Uhr zeigte und ſezte ſich ruhig
nieder, um als Teſtaments-Vollſtreker, ſo gut
wie das ganze Gericht aufzumerken, wer zuerſt
die begehrten Thraͤnen uͤber den Teſtator vergoͤße.


— Daß es, ſo lange die Erde geht und ſteht,
je auf ihr einen betruͤbtern und krauſern Kongreß
gegeben, als dieſen von ſieben gleichſam zum Wei¬
nen vereinigten troknen Provinzen, kan wohl oh¬
ne Partheilichkeit nicht angenommen werden. An¬
fangs wurde noch koſtbare Minuten hindurch blos
verwirrt, geſtaunt und gelaͤchelt, der Kongreß
ſah ſich zu ploͤzlich in jenen Hund umgeſezt, dem
mitten im zornigſten Losrennen der Feind zurief:
wart auf! — und der ploͤzlich auf die Hinterfuͤſ¬
ſe ſtieg und Zaͤhnebloͤckend aufwartete — vom
Verwuͤnſchen wurde man zu ſchnell ins Beweinen
emporgeriſſen.


An reine Ruͤhrung konnte — das ſah jeder
— keiner denken, ſo im Gallop an Plazregen,
an Jagdtaufe der Augen, doch konnte in 26 Mi¬
nuten etwas geſchehen.


Der Kaufmann Neupeter fragte: ob das
[9] nicht ein verfluchter Handel und Narrenspoſſe ſei
fuͤr einen verſtaͤndigen Mann, und verſtand ſich
zu nichts; doch verſpuͤrt' er bei dem Gedanken,
daß ihm ein Haus auf Einer Zaͤhre in den Beu¬
tel ſchwimmen koͤnnte, ſonderbaren Druͤſen- Reiz
und ſah wie eine kranke Lerche aus, die man mit
einem eingeoͤlten Steknadelknopfe — das Haus
war der Knopf — klyſtiert.


Der Hoffiskal Knol verzog ſein Geſicht wie ein
armer Handwerksmann, den ein Geſell Sonnabend-
Abends bei einem Schuſterlicht raſiert und ra¬
diert; er war fuͤrchterlich erboßet auf den Mis¬
brauch des Titels von Teſtamenten und nahe ge¬
nug an Thraͤnen des Grimms.


Der liſtige Buchhaͤndler Pasvogel machte
ſich ſogleich ſtill an die Sache ſelber und durch¬
gieng fluͤchtig alles Ruͤhrende, was er theils im
Verlage hatte, theils in Kommiſſion; und hofte
etwas zu brauen; noch ſah er dabei aus wie ein
Hund, der das Brechmittel, das ihm der Pari¬
ſer Hundarzt Demet auf die Naſe geſtrichen,
langſam ableckt; es war durchaus Zeit erforder¬
lich zum Effekt.


[10]

Flitte aus Elſaß tanzte grade zu im Seſſions¬
zimmer, beſah lachend alle Ernſte, und ſchwur,
er ſei nicht der Reichſte unter ihnen, aber, fuͤr
ganz Strasburg und Elſas dazu, waͤr' er nicht
im Stande bei einem ſolchen Spas zu weinen. —


Zulezt ſah ihn der Polizei-Inſpektor Har¬
precht ſehr bedeutend an, und verſicherte: falls
Monsieur etwan hoffe, durch Gelaͤchter aus den
ſehr bekannten Druͤſen, und aus den Meibomi¬
ſchen und der Karunkel und andern die begehrten
Tropfen zu erpreſſen und ſich diebiſch mit dieſem
Fenſterſchweis zu beſchlagen, ſo wolle er ihn er¬
innern, daß er damit ſo wenig gewinnen koͤnne
als wenn er die Naſe ſchnaͤuzen und davon profi¬
tieren wolte, indem in leztere wie bekannt, durch
den ductus nasalis mehr aus den Augen fließe,
als in jeden Kirchenſtuhl hinein unter einer Lei¬
chenpredigt. — Aber der Elſaßer verſicherte, er
lache nur zum Spas, nicht aus ernſtern Abſichten.


Der Inſpektor ſeiner ſeits, bekannt mit ſei¬
nem dephlegmierten Herzen, ſuchte dadurch et¬
was Paſſendes in die Augen zu treiben, daß er
mit ihnen ſehr ſtarr und weit offen blikte.


[11]

Der Fruͤhprediger Flachs ſah aus wie ein rei¬
tender Betteljude, mit welchem ein Hengſt durch¬
geht; indes haͤtt' er mit ſeinem Herzen, das durch
Haus- und Kirchenjammer ſchon die beſten ſchwuͤl¬
ſten Wolken um ſich hatte, leicht wie eine Sonne
vor elendem Wetter auf der Stelle das noͤthigſte
Waſſer aufgezogen, waͤr' ihm nur nicht das her¬
ſchiffende Floͤs- Haus immer dazwiſchen gekom¬
men als ein gar zu erfreulicher Anblick und Damm.


Der Kirchenrath, der ſeine Natur kannte aus
Neujahrs- und Leichenpredigten, und der gewis
wußte, daß er ſich ſelber zuerſt erweiche, ſobald
er nur an andere Erweichungs- Reden halte,
ſtand auf — da er ſich und andere ſo lang am
Trockenſeile haͤngen ſah — und ſagte mit Wuͤr¬
de, jeder, der ſeine gedrukten Werke geleſen, wiſſe
gewis, daß er ein Herz im Buſen trage, das ſo
heilige Zeichen, wie Thraͤnen ſind, eher zuruͤk zu
draͤngen, um keinem Nebenmenſchen damit etwas
zu entziehen, als muͤhſam hervorzureizen noͤthig
habe aus Nebenabſichten — „Dies Herz hat ſie
ſchon vergoſſen, aber heimlich, denn Kabel war
ja mein Freund“ ſagt' er und ſah umher.


[12]

Mit Vergnuͤgen bemerkte er, daß alle noch
ſo trocken da ſaßen wie Korkhoͤlzer; beſonders jezt
konnten Krokodille, Hirſche, Elephanten, Hexen,
Reben leichter weinen als die Erben, von Glan¬
zen ſo geſtoͤrt, und grimmig gemacht. Blos
Flachſen ſchlugs heimlich zu; dieſer hielt ſich Ka¬
bels Wohlthaten und die ſchlechten Roͤcke und
grauen Haare ſeiner Zuhoͤrerinnen des Fruͤhgot¬
tesdienſtes, den Lazarus mit ſeinen Hunden und
ſeinen eigenen langen Sarg in der Eile vor, fer¬
ner das Koͤpfen ſo mancher Menſchen, Werthers
Leiden, ein kleines Schlachtfeld, und ſich ſelber,
wie er ſich da ſo erbaͤrmlich um den Teſtaments-
Artikel in ſeinen jungen Jahren abquaͤle und ab¬
ringe — noch drei Stoͤße hat er zu thun mit dem
Pumpenſtiefel, ſo hatte er ſein Waſſer und Haus.


„O Kabel, mein Kabel — fuhr Glanz fort,
faſt vor Freude uͤber nahe Trauerthraͤnen weinend
— einſt wenn neben deine mit Erde bedekte Bruſt
voll Liebe auch die meinige zum Vermod“ — —


„Ich glaube, meine verehrteſten Herren —
ſagte Flachs, betruͤbt aufſtehend und uͤberflieſ¬
ſend umher ſehend — ich weine“ — ſezte ſich dar¬
[13] auf nieder, und lies es vergnuͤgter laufen; er
war nun auf dem Troknen; vor den Akzeſſit-Au¬
gen hatt' er Glanzen das Preis-Haus wegge¬
fiſcht, den jezt ſeine Anſtrengung ungemein ver¬
dros, weil er ſich ohne Nutzen den halben Ap¬
petit weggeſprochen hatte. Die Ruͤhrung Flach¬
ſens wurde zu Protokoll gebracht und ihm das
Haus in der Hundsgaſſe auf immer zugeſchlagen.
Der Buͤrgermeiſter goͤnnt' es dem armen Teufel von
Herzen; es war das erſtemal im Fuͤrſtenthum
Haslau, daß Schul- und Kirchenlehrers Thraͤ¬
nen ſich, nicht wie die der Heliaden in leichten
Bernſtein, der ein Inſekt einſchlieſſet, ſondern,
wie die der Goͤttin Freia, in Gold verwandelten.
Glanz gratulierte Flachſen ſehr, und machte ihm
froh bemerklich, vielleicht hab' er ſelber ihn ruͤh¬
ren helfen. Die uͤbrigen trennten ſich, durch
ihre Scheidung auf dem trokenen Weg von der
Flachſiſchen auf dem naſſen ſichtbar, blieben aber
noch auf das reſtierende Teſtament erpicht.


Nun wurd' es weiter verleſen.

4te Klauſel.

Von jeher habe ich zu einem Univerſalerben
[14] meiner Activa — alſo meines Gartens vor dem
Schafthore, meines Waͤldleins auf dem Berge
und der 11000 Georgd'or in der Suͤdſeehandlung
in Berlin, und endlich der beiden Frohnbauern
im Dorf Elterlein und der dazu gehoͤrigen
Grundſtuͤken — ſehr viel gefodert, viel leibliche
Armuth und geiſtlichen Reichthum. Endlich ha¬
be ich in meiner lezten Krankheit in Elterlein ein
ſolches Subjekt aufgetrieben. Ich glaubte nicht,
daß es in einem Duzend- und Taſchenfuͤrſten¬
thuͤmlein einen blutarmen grund-guten herzlich
frohen Menſchen gebe, der vielleicht unter allen,
die je den Menſchen geliebt, es am ſtaͤrkſten thut.
Er hat einmal zu mir ein Paar Worte geſagt, und
zweimal im Dunkeln eine That gethan, daß ich
nun auf den Juͤngling baue, faſt auf ewig. Ja
ich weiß, dieſes Univerſalerben thaͤt' ihm ſogar
wehe, wenn er nicht arme Eltern haͤtte. Ob er
gleich ein juriſtiſcher Kandidat iſt, ſo iſt er doch
kindlich, ohne Falſch, rein, naiv und zart, or¬
dentlich ein frommer Juͤngling aus der alten Vaͤ¬
terzeit und hat dreyßigmal mehr Kopf als er denkt.
Nur hat er das Boͤſe, daß er erſtlich ein etwas
[15] elaſtiſcher Poet iſt, und daß er zweitens, wie viele
Staaten von einer Bekanntſchaft bei Sitten-An¬
ſtalten gern das Pulver auf die Kugel laͤdt, auch am
Stundenzeiger ſchiebt, um den Minutenzeiger zu
drehen. Es iſt nicht glaublich, daß er je eine
Studenten-Mausfalle aufſtellen lernt; und wie
gewis ihm ein Reiſekoffer, den man ihm abge¬
ſchnitten, auf ewig aus den Haͤnden waͤre, erhel¬
let daraus, daß er durchaus nicht zu ſpezifizie¬
ren wuͤßte, was darin geweſen und wie er aus¬
geſehen.


Dieſer Univerſalerbe iſt der Schulzen Sohn
in Elterlein, Namens Gottwalt Peter Har¬
niſch
, ein recht feines blondes liebes Buͤrſch¬
gen — —


Die ſieben Praͤſumtiv-Erben wollten fragen
und außer ſich ſeyn; aber ſie mußten forthoͤren.

5te Klauſel.

Allein er hat Nuͤſſe vorher aufzubeißen. Be¬
kanntlich erbte ich ſeine Erbſchaft ſelber erſt von
meinem unvergeßlichen Adoptivvater Van der Ka¬
bel in Broek im Waterland, dem ich faſt nichts
[16] dafuͤr geben konnte als zwei elende Worte, Friedrich
Richter, meinen Namen. Harniſch ſoll ſie wieder
erben, wenn er mein Leben wie folgt, wieder
nach- und durchlebt.

6teKlauſel.

Spashaft und leicht mags dem leichten poe¬
tiſchen Hoſpes duͤnken, wenn er hoͤrt, daß ich
deshalb blos fordere und verordne, er ſoll — denn
alles das lebt' ich eben ſelber durch, nur laͤnger
— weiter nichts thun als:


  • a) Einen Tag lang Klavierſtimmer ſeyn —
    ferner
  • b) Einen Monat lang mein Gaͤrtgen als Ober¬
    gaͤrtner beſtellen — ferner
  • c) Ein Vierteljahr Notarius — ferner
  • d) ſo lange bei einem Jaͤger ſeyn, bis er einen
    Haſen erlegt, es dauere nun 2 Stunden
    oder 2 Jahre —
  • e) er ſoll als Korrektor 12 Bogen gut durch¬
    ſehen —
  • f) er ſoll eine Buchhaͤndleriſche Meßwoche mit
    H. Pasvogel beziehen, wenn dieſer will —
  • g) er ſoll bei jedem der Hrn. Akzeſſit-Erben eine
    [17] Woche lang wohnen (der Erbe muͤßt' es ſich
    denn verbitten) und alle Wuͤnſche des zei¬
    tigen Miethsherren, die ſich mit der Ehre
    vertragen, gut erfuͤllen —
  • h) er ſoll ein Paar Wochen lang auf dem Lan¬
    de Schul halten — endlich
  • i) ſoll er ein Pfarrer werden; dann erhaͤlt er
    mit der Vokazion die Erbſchaft. Das ſind
    ſeine neun Erb-Aemter.

7teKlauſel.

Spashaft, ſagt' ich in der vorigen, wird ihm
das vorkommen, beſonders da ich ihm verſtatte,
meine Lebens-Rollen zu verſezen, und z. B. fruͤ¬
her die Schulſtube als die Meſſe zu beziehen —
blos mit dem Pfarrer muß er ſchlieſſen; — aber,
Freund Harniſch, dem Teſtament bieg ich zu
jeder Rolle einen verſiegelten Regulier-Tarif,
genannt die geheimen Artikel bei, worin ich Euch
in den Faͤllen, wo ihr das Pulver auf die Kugel
ladet, z. B. in Notariatsinſtrumenten, kurz ge¬
rade fuͤr eben die Fehler, die ich ſonſt ſelber be¬
gangen, entweder um einen Abzug von der Erb¬
ſchaft abſtrafe, oder mit dem Aufſchube ihrerAus¬
Flegeljahrel. Bd. 2[18] lieferung. Seid klug, Poet, und bedenkt Euren
Vater, der ſo manchem Edelmann im — a — n
gleicht, deſſen Vermoͤgen wie das eines ruſſiſchen
zwar in Bauern beſteht, aber doch nur in einem
einzigen, welches er ſelber iſt. Bedenkt Euren
vagabunden Bruder, der vielleicht, eh' ihrs denkt,
aus ſeinen Wanderjahren mit einem halben Rocke
vor Eure Thuͤre kommen und ſagen kann: „Haſt
du nichts Altes fuͤr deinen Bruder? Sieh dieſe
Schuhe an!“ — Habt alſo Einſichten, Univer¬
ſal-Erbe!

8teKlauſel.

Den H. Kirchenrath Glanz und alle bis zu Hrn.
Buchhaͤndler Pasvogel und Flitte (inclusive)
mach' ich aufmerkſam darauf, wie ſchwer Harniſch
die ganze Erbſchaft erobern wird, wenn ſie auch
nichts erwaͤgen als das einzige hier an den Rand
genaͤhte Blatt, worauf der Poet fluͤchtig einen Lieb¬
lings-Wunſch ausgemalt, naͤmlich den, Pfar¬
rer in Schweden zu werden. (Herr Buͤrgermei¬
ſter Kuhnold fragte hier, ob ers mit leſen ſolle;
aber alle ſchnappten nach mehreren Klauſeln und
er fuhr fort) Meine T. H. Anverwandten fleh'
[19] ich daher — wofuͤr ich freilich wenig thue, wenn
ich nur zu einiger Erkenntlichkeit ihnen zu gleichen
Theilen hier ſo wohl jaͤhrlich zehn Prozent aller Ka¬
pitalien als die Nuznieſſung meines Immobiliar-
Vermoͤgens, wie es auch heiſſe, ſo lange zuſpre¬
che, als beſagter Harniſch noch nicht die Erbſchaft
nach der ſechſten Klauſel hat antretten koͤnnen —
ſolche fleh' ich als ein Chriſt die Chriſten an,
gleichſam als 7 Weiſe, dem jungen moͤglichen
Univerſalerben ſcharf aufzupaſſen, und ihm nicht
den kleinſten Fehltritt, womit er den Aufſchub oder
Abzug der Erbſchaft verſchulden mag, unbemerkt
nachzuſehen, ſondern vielmehr jeden gerichtlich zu
beſcheinigen. Das kann den leichten Poeten vor¬
waͤrts bringen, und ihn ſchleiffen und abwezen.
Wenn es wahr iſt, ihr ſieben Verwandten, daß
Ihr nur meine Perſon geliebt, ſo zeigt es dadurch,
daß Ihr das Ebenbild derſelben recht ſchuͤttelt
(den Nuzen hat das Ebenbild), und ordentlich,
obwohl chriſtlich, chikaniert und verirt, und ſein
Regen- und Siebengeſtirn ſeid und ſeine boͤſe Sie¬
ben. Muß er recht buͤſſen, naͤmlich paſſen, de¬
ſto erſprieslicher fuͤr ihn und fuͤr Euch.

[20]

9teKlauſel.

Ritte der Teufel meinen Univerſalerben ſo,
daß er die Ehe braͤche, ſo verlor' er die Viertels-
Erbſchaft — ſie fiele den ſieben Anverwandten
heim; — ein Sechstel aber nur, wenn er ein
Maͤdgen verfuͤhrte. — Tagreiſen und Sizen im
Kerker koͤnnen nicht zur Erwerbzeit der Erbſchaft
geſchlagen werden, wohl aber Liegen auf dem
Kranken- und Todtenbette.

10teKlauſel.

Stirbt der junge Harniſch innerhalb 20 Jah¬
ren, ſo verfaͤllet die Erbſchaft den hieſigen cor¬
poribus piis
. Iſt er als chriſtlicher Kandidat
examinirt und beſtanden: ſo zieht er, bis man
ihn voziert, zehn p. c. mit den uͤbrigen Hrn. Er¬
ben, damit er nicht verhungere.

11teKlauſel.

Harniſch muß an Eidesſtatt geloben, nichts
auf die kuͤnftige Erbſchaft zu borgen.

12teKlauſel.

Es iſt nur mein lezter Wunſch, obwohl nicht
eben mein lezter Wille, daß wie ich den Van der
Kabelſchen Namen, er ſo den Richterſchen bei
[21] Antritt der Erbſchaft annehme und fortfuͤhre; es
kommt aber ſehr auf ſeine Eltern an.

13teKlauſel.

Ließe ſich ein habiler dazu geſattelter Schrift¬
ſteller von Gaben auftreiben und gewinnen, der
in Bibliotheken wohl gelitten waͤre: ſo ſoll man
dem venerabeln Mann den Antrag thun, die Ge¬
ſchichte und Erwerbzeit meines moͤglichen Univer¬
ſalerben und Adoptivſohnes ſo gut er kann, zu
ſchreiben. Das wird nicht nur dieſem, ſondern
auch dem Erblaſſer — weil er auf allen Blaͤttern
vorkommt — Anſehen geben. Der trefliche, mir
zur Zeit noch unbekannte, Hiſtoriker aber nehme
von mir als ſchwaches Andenken fuͤr jedes Kapi¬
tel Eine Nummer aus meinem Kunſt- und Na¬
turalienkabinet an. Man ſoll den Mann reichlich
mit Notizen verſorgen.

14teKlauſel.

Schlaͤgt aber Harniſch die ganze Erbſchaft
aus, ſo iſts ſo viel als haͤtt' er zugleich die Ehe
gebrochen, und waͤre Todes verfahren; und die
9te und 10te Klauſel treten mit vollen Kraͤften
ein.

[22]

15teKlauſel.

Zu Exekutoren des Teſtaments ernenn' ich
dieſelben hochedlen Perſonen, denen oblatio te¬
stamenti
geſchehen, indes iſt der regierende Buͤr¬
germeiſter, Hr. Kuhnold, der Ober-Vollſtrecker.
Nur er allein eroͤfnet ſtets denjenigen unter den
geheimen Artikeln des Reguliertarifs vorher, wel¬
cher fuͤr das jedesmalige gerade von Harniſch ge¬
waͤhlte Erb-Amt uͤberſchrieben iſt. — In die¬
ſem Tarif iſt es auf das Genaueſte beſtimmt,
wie viel Harniſchen z. B. fuͤr das Notarius wer¬
den beizuſchieſſen iſt — denn was hat er? — und
wie viel jedem Akzeſſit-Erben zu geben, der ge¬
rade ins Erbamt verwickelt iſt, z. B. Hrn. Pas¬
vogel fuͤr die Buchhaͤndler-Woche, oder fuͤr 7taͤ¬
gigen Hauszins. Man wird allgemein zufrie¬
den ſeyn.

16teKlauſel.

Folioſeite 276 ſeiner vierten Auflage fodert
Volkmannus emendatus von Erblaſſern die
providentia oder „zeitige Fuͤrſehung,“ ſo daß
ich alſo in dieſer Klauſel feſtzuſezen habe, daß je¬
der der ſieben Akzeſſit-Erben oder alle, die mein
[23] Teſtament gerichtlich anzufechten oder zu rumpie¬
ren ſuchen, waͤhrend des Prozeſſes keinen Heller
Zinſen erhalten, als welche den andern oder —
ſtreiten ſie alle — dem Univerſalerben zuflieſſen.

17teund lezte Klauſel.

Ein jeder Wille darf toll und halb und we¬
der gehauen noch geſtochen ſeyn, nur aber der
lezte nicht, ſondern dieſer muß, um ſich zum
zweiten-dritten-viertenmal zu ruͤnden, alſo
konzentriſch, wie uͤberall bei den Juriſten,
Clausula salutaris, zur donatio mortis caussa
und zur reservatio ambulatoriæ voluntatis grei¬
fen. So will ich denn hiemit darzu gegriffen haben,
mit kurzen und vorigen Worten. — Weiter brauch'
ich mich der Welt nicht aufzuthun, vor der mich
die nahe Stunde bald zuſperren wird. — Son¬
ſtiger Fr. Richter, jetziger Van der Kabel.


So weit das Teſtament. Alle Formalien
des Unterzeichnens und Unterſiegelns ꝛc. ꝛc. fan¬
den die 7 Erben richtig beobachtet.


[24]

Nro. 2. Kazenſilber aus Thuͤringen.

J. P. F. Rs Brief an den Stadtrath.


Der Verfaſſer dieſer Geſchichte wurde von der
Teſtaments-Exekuzion, beſonders vom treflichen
Kuhnold zum Verfaſſer gewaͤhlt. Auf einen ſol¬
chen ehrenvollen Antrag gab er folgende Antwort.


P. P.


Einem hochedlen Stadtrath oder einer trefli¬
chen Teſtaments-Exekuzion die Freude zu ma¬
len, daß Sie und die Klauſel: Ließe ſich ein
habiler
, dazu geſattelter Schriftſtel¬
ler
ꝛc. mich aus 55,000 zeitigen Autoren zum Ge¬
ſchichtſchreiber eines Harniſch ausgeleſen; Ihnen
mit bunten Farben das Vergnuͤgen zu ſchildern,
daß ich mit ſolchen Arbeiten und Mitarbeitern
beehrt worden: dazu hatt' ich vorgeſtern, da ich
mit Weib und Kind und allem von Meinungen
nach Koburg zog und unzaͤhlige Dinge auf- und
abzuladen hatte, ganz natuͤrlich keine Zeit. Ja,
kaum war ich zum Stadt-Thore und zur Haus-
Thuͤre hinein, ſo gieng ich wieder heraus auf die
Berge, wo eine Menge ſchoͤner Gegenden neben
[25] und hintereinander wohnen: „wie oft, ſagt' ich
droben, wirſt du dich nicht kuͤnftig auf dieſen
Thabors verklaͤren?“


Hier ſend' ich dem ꝛc. ꝛc. Stadtrathe die er¬
ſte Nummer, Bleiglanz uͤberſchrieben, ganz
ausgearbeitet; ich bitte aber die treflichen Exekuto¬
ren zu bedenken, daß die kuͤnftigen Nummern rei¬
cher und feiner ausfallen, und ich mich darin mehr
werde zeigen koͤnnen, als in der erſten, wo ich faſt
nichts zu machen hatte als die Abſchrift der er¬
haltenen Teſtaments-Kopie. Das Kazenſil¬
ber aus Thuͤringen
habe ganz erhalten;
naͤchſtens laͤuft das Kapitel dafuͤr ein, das aus
einer Kopie des gegenwaͤrtigen Briefes, fuͤr die
Leſer, beſtehen ſoll. Ein weder zu barocker noch
zu verbrauchter Titel fuͤr das Werk iſt auch ſchon
fertig, Flegeljahre iſt er betitelt.


So hat denn die Maſchine ihren ordentlichen
Muͤhlengang. Wenn die Van der Kabelſche Kunſt-
und Naturalien-Sammlung ſieben Tauſend und
zwei hundert und drei Stuͤcke und Nummern ſtark
iſt, wie ich aus dem Inventarium erſehe: ſo
werden wir wohl, da der Seelige fuͤr jedes Stuͤk
[26] ſein ganzes Kapitel haben will, die Kapitel etwas
einlaufen laſſen muͤſſen, weil ſonſt ein Werk her¬
aus kaͤme, das ſich laͤnger ausſtrekte als alle
meine opera omnia (inclusive dieſes) zuſam¬
mengenommen. In der gelehrten Welt ſind ja
alle Kapitel erlaubt, Kapitel von Einem Alpha¬
beth bis zu Capiteln von Einer Zeile.


Was die Arbeit ſelber anlangt, ſo verpfaͤn¬
det ſich der Meiſter einem hochedlen Stadtrathe
dafuͤr, daß er eine liefern will, die man kek je¬
dem Mitmeiſter, er ſei Stadt- oder Frei- und
Gnadenmeiſter, zu beſchauen geben kann, beſon¬
ders da ich vielleicht mit dem ſeel. Van der Ka¬
bel, ſonſt Richter, ſelber verwandt bin. Das
Werk — um nur einiges vorauszuſagen — ſoll
alles befaſſen, was man in Bibliotheken viel zu
zerſtreut antrift; denn es ſoll ein kleiner Supple¬
mentband zum Buche der Natur werden und ein
Vorbericht und Bogen A. zum Buche der See¬
ligen —


Dienſtboten, angehenden Knaben und er¬
wachſenen Toͤchtern wie auch Landmaͤnnern und
[27] Fuͤrſten werden darin die Collegia conduitica
geleſen —


Ein Stylisticum lieſet das Ganze —


Fuͤr den Geſchmak der fernſten, ſelber der
geſchmakloſeſten Voͤlker wird darin geſorgt; die
Nachwelt ſoll darin ihre Rechnung nicht mehr fin¬
den, als Mit- und Vorwelt.


Ich beruͤhre darin die Vaccine, — den Buch-
und Wollenhandel — die Monatsſchriftſteller —
Schellings magnetiſche Metapher oder Doppelſy¬
ſtem — — die neuen Territorialpfaͤhle — die
Schwaͤnzelpfenninge — die Feldmaͤuſe ſamt den
Fichtenraupen — und Bonaparten, das beruͤhr'
ich, freilich fluͤchtig als Poet.


Ueber das Weimarſche Theater aͤußer' ich
meine Gedanken, auch uͤber das nicht kleinere der
Welt und des Lebens —


Wahrer Scherz und wahre Religion kommen
hinein, obwohl dieſe jezt ſo ſelten iſt, als ein
Fluch in Herrenhut oder ein Bart am Hof. —


Boͤſe Karaktere, ſo mir der hochedle Rath
hoffentlich zufertigt, werden tapfer gehandhabt,
[28] doch ohne Perſoͤnlichkeiten und Anzuͤglichkeiten;
denn ſchwarze Herzen und ſchwarze Augen ſind
ja — naͤher in leztere gefaſſet — nur braun; und
ein Halbgott und ein Halbvieh koͤnnen ſehr gut
dieſelbe zweite Haͤlfte haben, naͤmlich die menſch¬
liche — und darf die Peitſche wohl je ſo dik ſeyn
als die Haut? —


Trokne Rezenſenten werden ergriffen, und
(unter Einſchraͤnkung) durch Erinnerungen an
ihre goldne Jugend und an ſo manchen Verluſt
bis zu Thraͤnen geruͤhrt, wie man muͤrbe Reli¬
quien ausſtellt, damit es regne —


Ueber das ſiebzehnte Jahrhundert wird frei
geſprochen, und uͤber das achtzehnte human, uͤber
das neueſte wird gedacht, aber ſehr frei —


Das Schaf, das eine Chreſtomathie oder
Jean Pauls Geiſt aus meinen Werken auszog
mit den Zaͤhnen, bekommt aus jedem Bande ei¬
nen Band zu extrahieren in die Hand, ſo daß be¬
ſagtes gar keine Ausleſe, ſondern nur eine Abſchrift
zu machen braucht, ſamt den einfaͤltigſten Noten
und Praͤfazionen —


[29]

Gleich dem Noth- und Huͤlfs-Buͤchlein muß
das Buch Arzneimittel, Rathſchlaͤge, Karaktere,
Dialogen und Hiſtorien liefern, aber ſo viele,
daß es jenem Noth-Buͤchlein koͤnnte beigebunden
werden als Huͤlfs-Buch, als weitlaͤuftiger Aus¬
zug und Anhang, weil jedes Werk der Darſtel¬
lung ſo gut aus einem Spiegel in eine Bril¬
le
muß umzuſchleifen ſeyn, als venezianiſche Spie¬
gelſcherben zu wirklichen Brillenglaͤſern genommen
werden —


In jeden Drukfehler ſoll ſich Verſtand ver¬
ſtecken und in die errata Wahrheiten —


Taͤglich wird das Werkgen hoͤher klettern,
aus Leſebibliotheken in Leihbibliotheken, aus
dieſen in Rathbibliotheken, die ſchoͤnſten Ehren-
und Parade-Betten und Wittwenſize der Mu¬
ſen — —


Aber ich kann leichter halten als verſprechen.
Denn ein Opus wirds . . .


O hochedler Stadt-Rath! Exekutoren des
Teſtaments! ſollt' es mir einſt vergoͤnnet werden,
in meinem Alter alle Baͤnde der Flegeljahre ganz
[30] fertig abgedrukt, in hohen aus Tuͤbingen abge¬
ſchikten Ballen um mich ſtehen zu ſehen — —


Bis dahin aber erharr' ich mit ſonderbarer
Hochachtung
Ew. Wohlgeb.


Koburg den 6. Juny
1803.


ꝛc. ꝛc. ꝛc.
J. P. F. Richter
Legaz.


Die im Briefe an die Exekutoren verſproche¬
ne Kopie deſſelben fuͤr den Leſer iſt wohl jetzt nicht
mehr noͤthig, da er ihn eben geleſen. Auf aͤhn¬
liche Weiſe ſezen uneigennuͤzige Advokaten in ih¬
ren Koſtenzetteln nur das Macherlohn fuͤr die Zet¬
tel ſelber an, ſezen aber nachher, wie wohl ſie
ins Unendliche fort koͤnnten, nichts weiter fuͤr das
Anſezen des Anſezens an.


Ob aber der Verfaſſer der Flegeljahre nicht
noch viel naͤhere hiſtoriſche Leithaͤmmel und Leit¬
hunde zu einer ſo wichtigen Geſchichte vorzutrei¬
ben und zu verwenden habe als blos einen trefli¬
chen Stadtrath; und wer beſonders ſein herrlich¬
ſter Hund und Hammel darunter ſei — daruͤber
wuͤrde man jezt die Leſer mit dem groͤßten Ver¬
[31] gnuͤgen beruhigen, wenn man ſich uͤberzeugen
koͤnnte, es ſei ſachdienlich, es ſey prudentis.

Nro. 3.Terra miraculosa Saxoniæ.

Die Akzeſſit-Erben — der ſchwediſche Pfarrer.


Nach Ableſung des Teſtaments verwunderten
ſich die ſieben Erben unbeſchreiblich auf ſieben Wei¬
ſen im Geſicht. Viele ſagten gar nichts. Alle
fragten, wer von ihnen den jungen Burſchen ken¬
ne, ausgenommen der Hoffiskal Knol, derſelbe
gefragt wurde, weil er in Elterlein Gerichtshal¬
ter eines polniſchen Generals war. „Es ſei nichts
beſonderes am jungen Hæredipeta, verſezte Knol,
ſein Vater aber wollte den Juriſten ſpielen und
ſei ihm und der Welt ſchuldig.“ — Vergeblich
umrangen die Erben den einſylbigen Fiskal, eben
ſo Raths- als neubegierig.


Er erbat ſich vom Gerichte eine Kopie des
Teſtaments und Inventars, andere vornehme Er¬
ben wandten gleichfalls die Kopialien auf. Der
Buͤrgermeiſter erklaͤrte den Erben, man werde den
jungen Menſchen und ſeinen Vater auf den Sonn¬
abend vorbeſcheiden. Knol erwiederte: „da er uͤber¬
[32] morgen, das heiſſet den 13ten hujus, naͤmlich
Donnerſtags in Gerichts-Geſchaͤften nach ſeiner
Gerichtshalterei Elterlein gehe: ſo ſei er im Stan¬
de, dem jungen Peter Gottwalt Harniſch die Zi¬
tazion zu inſinuiren.“ Es wurde bewilligt.


Izt ſuchte der Kirchenrath Glanz nur auf ei¬
ne kurze Leſe-Minute um das Blaͤtgen nach,
worauf Harniſch den Wunſch einer ſchwediſchen
Pfarrei ſollte ausgemalet haben. Er bekams.
Drei Schritte hinter ihm ſtand der Buchhaͤndler
Pasvogel, und las ſchnell die Seite zweimal
herunter, eh' ſie der Kirchenrath umkehrte; zu¬
lezt ſtellten ſich alle Erben hinter ihn, er ſah ſich
um und ſagte, es ſei wohl beſſer, wenn ers gar
vorleſe:


Das Gluͤck eines ſchwediſchen
Pfarrers
.“


So will ich mir denn dieſe Wonne ohne al¬
len Ruͤkhalt recht gros hermalen, und mich ſel¬
ber unter dem Pfarrer meinen, damit mich die
Schilderung, wenn ich ſie nach einem Jahre wie¬
der uͤberleſe, ganz beſonders auswaͤrme. Schon
ein Pfarrer an ſich iſt ſeelig, geſchweige in Schwe¬
[33] den. Er genieſſet da Sommer und Winter rein,
ohne lange verdruͤßliche Unterbrechungen, z. B.
in ſeinen ſpaͤten Fruͤhling faͤllt ſtatt des Nachwin¬
ters ſogleich der ganze reife Vorſommer ein, wei߬
roth und Bluͤthenſchwer, ſo daß man in einer
Sommernacht das halbe Italien, und in einer
Winter-Nacht die halbe zweite Welt haben kann.


Ich will aber bei dem Winter anfangen, und
das Chriſtfeſt nehmen.


Der Pfarrer, der aus Deutſchland, aus Has¬
lau in ein ſehr noͤrdlich-polariſches Doͤrflein vo¬
ziert worden, ſteht heiter um 7 Uhr auf, und
brennt bis 9½ Uhr ſein duͤnnes Licht. Noch um
9 Uhr ſcheinen Sterne, der helle Mond noch laͤn¬
ger. Aber dieſes Hereinlangen des Sternen-Him¬
mels in den Vormittag giebt ihm liebe Empfin¬
dungen, weil er ein Deutſcher iſt, und uͤber ei¬
nen geſtirnten Vormittag erſtaunt. Ich ſehe den
Pfarrer und andere Kirchengaͤnger mit Laternen
in die Kirche gehen; die vielen Lichtergen machen
die Gemeinde zu einer Familie und ſezen den Pfar¬
rer in ſeine Kinderjahre, in die Winterſtunden
und Weihnachtsmetten zuruͤk, wo jeder ſein Licht¬
Flegeljahre I. Bd. 3[34] gen mit hatte. Auf der Kanzel ſagt er ſeinen lie¬
ben Zuhoͤrern lauter Sachen vor, deren Worte
gerade ſo in der Bibel ſtehen; vor Gott bleibt
doch keine Vernunft vernuͤnftig, aber wohl ein red¬
liches Gemuͤth. Darauf theilt er mit heimlicher
Freude uͤber die Gelegenheit, jeder Perſon ſo nahe
ins Geſicht zu ſehen, und ihr wie einem Kinde,
Trank und Speiſe einzugeben, das heil. Nachtmahl
aus, und genießet es jeden Sonntag ſelber mit,
weil er ſich nach dem nahen Liebesmahl in den
Haͤnden ja ſehnen mus. Ich glaube, es muͤßt'
ihm erlaubt ſeyn.“


Hier ſah der Kirchenrath mit einem fragenden
Ruͤge-Blik unter den Zuhoͤrern umher, und Flachs
nikte mit dem Kopfe; er hatte aber wenig vernom¬
men, ſondern nur an ſein Haus gedacht.


„Wenn er dann mit den Seinigen aus der
Kirche tritt, geht gerade die helle Chriſt- und
Morgenſonne auf, und leuchtet ihnen allen ins
Geſicht entgegen. Die vielen ſchwediſchen Greiſe
werden ordentlich jung vom Sonnenroth gefaͤrbt.
Der Pfarrer koͤnnte dann, wenn er auf die tod¬
te Mutter-Erde und den Gottesaker hinſaͤhe,
[35] worin die Blumen wie die Menſchen begraben lie¬
gen, wohl dieſen Polymeter dichten:


Auf der todten Mutter ruhen die todten Kin¬
der in dunkler Stille. Endlich erſcheint die ewige
Sonne, und die Mutter ſteht wieder bluͤhend auf,
aber ſpaͤter alle ihre Kinder.


Zu Hauſe lezt ihn ein warmes Muſeum ſamt
einem langen Sonnenſtreif an der Buͤcherwand.


Den Nachmittag verbringt er ſchoͤn, weil er
vor einem ganzen Blumen-Geſtelle von Freuden
kaum weis, wo er anhalten ſoll. Iſts am heil.
Chriſtfeſt, ſo predigt er wieder, vom ſchoͤnen
Morgenlande oder von der Ewigkeit; dabei wirds
ganz daͤmmernd im Tempel; nur zwei Altar-
Kerzen werfen wunderbare lange Schatten umher
durch die Kirche; der oben herabhaͤngende Tauf¬
engel belebt ſich ordentlich und fliegt beinahe;
draußen ſcheinen die Sterne oder der Mond her¬
ein — der feurige Pfarrer oben im Finſtern auf
ſeiner Kanzel bekuͤmmert ſich nun um nichts, ſon¬
dern donnert aus der Nacht herab, mit Thraͤnen
und Stuͤrmen, von Welten und Himmeln und al¬
lem, was Bruſt und Herz gewaltig bewegt.


[36]

Kommt er flammend herunter: ſo kann er
um 4 Uhr vielleicht ſchon unter einem am Him¬
mel wallenden Nordſchein ſpazieren gehen, der
fuͤr ihn gewiß eine aus dem ewigen Suͤdmorgen
heruͤber ſchlagende Aurora iſt, oder ein Wald aus
heiligen feurigen Moſis Buͤſchen um Gottes
Thron.


Iſts ein anderer Nachmittag, ſo fahren Gaͤ¬
ſte mit erwachſenen Toͤchtern von Betragen an;
wie die groſe Welt, diniert er mit ihnen bei Son¬
nenuntergang um 2 Uhr, und trinkt den Kaffee
bei Mondſchein, das ganze Pfarrhaus iſt ein
daͤmmernder Zauberpallaſt. — Oder er geht auch
hinuͤber zum Schulmeiſter in die Nachmittags¬
ſchule, und hat alle Kinder ſeiner Pfarrkinder
gleichſam als Enkel bei Licht um ſein Grosvater-
Knie, und ergoͤzet und belehret ſie. —


Iſt aber das alles nicht: ſo kann er ja ſchon
von drei Uhr an in der warmen Daͤmmerung durch
den ſtarken Mondſchein in der Stube auf und ab
watten und etwas Orangenzucker dazu beißen, um
das ſchoͤne Welſchland mit ſeinen Gaͤrten auf die
Zunge und vor alle Sinne zu bekommen. Kann
[37] er nicht bei dem Monde denken, daß dieſelbe Sil¬
berſcheibe jezt in Italien zwiſchen Lorbeer-Baͤu¬
men haͤnge? Kann er nicht erwaͤgen, daß die
Aeolsharfe und die Lerche und die ganze Muſik und
die Sterne und die Kinder in heiſſen und kalten
Laͤndern dieſelben ſind? Wenn nun gar die reiten¬
de Poſt, die aus Italien kommt, durchs Dorf
blaͤſet und ihm auf wenigen Toͤnen blumige Laͤn¬
der an das gefrorne Muſeums-Fenſter hebt; wenn
er alte Roſen- und Lilienblaͤtter aus dem vori¬
gen Sommer in die Hand nimmt, wohl auch eine
geſchenkte Schwanzfeder von einem Paradiesvo¬
gel; wenn dabei die praͤchtigen Klaͤnge: Salat¬
zeit, Kirſchenzeit, Trinitatisſonntage, Roſenbluͤ¬
the, Marientage das Herz anruͤhren: ſo wird er
kaum mehr wiſſen, daß er in Schweden iſt, wenn
Licht gebracht wird, und er verduzt die fremde
Stube anſieht. Will ers noch weiter treiben, ſo
kann er ſich daran ein Wachskerzen-Endgen an¬
zuͤnden, um den ganzen Abend in die große Welt
hinein zu ſehen, aus der ers her hat. Denn ich
ſollte glauben, daß am Stockholmer Hofe wie an¬
derwaͤrts, von den Hofbedienten Endgen von
[38] Wachskerzen, die auf Silber gebrannt hatten,
fuͤr Geld zu haben waͤren.


Aber nun nach Verlaufe eines halben Jahres
klopft auf einmal etwas ſchoͤners als Italien,
wo die Sonne viel fruͤher als in Haslau untergeht,
naͤmlich der herrlich beladne laͤngſte Tag an ſeine
Bruſt an, und haͤlt die Morgenroͤthe voll Ler¬
chengeſang ſchon um 1 Uhr Nachts in der Hand.
Ein wenig vor 2 Uhr, oder Sonnenaufgang trift
die oben gedachte niedliche, bunte Reihe im Pfarr¬
hauſe ein, weil ſie mit dem Pfarrer eine kleine Luſt¬
reiſe vor hat. Sie ziehen nach 2 Uhr, wenn alle
Blumen blizen und die Waͤlder ſchimmern. Die
warme Sonne droht kein Gewitter und keinen Plaz¬
regen, weil beide ſelten ſind in Schweden. Der
Pfarrer geht ſo gut in ſchwediſcher Tracht einher
wie jeder — er traͤgt ſein kurzes Wamms mit
breiter Schaͤrpe, ſein kurzes Maͤntelgen daruͤber,
ſeinen Rundhut mit wehenden Federn und Schuhe
mit hellen Baͤndern; — natuͤrlich ſieht er, wie
die andern auch, wie ein ſpaniſcher Ritter, wie
ein Provenzale oder ſonſt ein ſuͤdlicher Menſch
aus, zumal da er und die muntere Geſellſchaft
[39] durch die in wenigen Wochen aus Beeten und Ae¬
ſten hervorgezogne hohe Bluͤten- und Blaͤtterfuͤl¬
le fliegen.


Daß ein ſolcher laͤngſter Tag noch kuͤrzer als
ein kuͤrzeſter verfliege, iſt leicht zu denken, bei ſo
viel Sonne, Aether, Bluͤthe und Muße. Schon
nach 8 Uhr Abends bricht die Geſellſchaft auf —
die Sonne brennt ſanfter uͤber den halb geſchloſſenen
ſchlaͤfrigen Blumen — um 9 Uhr hat ſie ihre
Strahlen abgenommen, und badet nakt im Blau
— gegen 10 Uhr, wo die Geſellſchaft im Pfarr¬
dorfe wieder ankommt, wird der Pfarrer ſeltſam
bewegt und weich gemacht, weil im Dorfe, ob
gleich die tiefe laue Sonne noch ein muͤdes Roth
um die Haͤuſer und an die Scheiben legt, alles
ſchon ſtill und in tiefem Schlafe liegt, ſo wie
auch die Voͤgel in den gelb- daͤmmernden Gipfeln
ſchlummern, bis zulezt die Sonne ſelber, wie ein
Mond, einſam untergeht in der Stille der Welt.
Dem romantiſch bekleideten Pfarrer iſt, als ſei
jezt ein roſenfarbnes Reich aufgethan, worin
Feen und Geiſter herum gehen, und ihn wuͤrd'
es wenig wundern, wenn in dieſer goldnen Gei¬
ſterſtunde auf einmal ſein in der Kindheit entlauf¬
[40] ner Bruder heran traͤte, wie vom bluͤhenden Zau¬
ber-Himmel gefallen.


Der Pfarrer laͤſſet aber ſeine Reiſegeſellſchaft
nicht fort, er haͤlt ſie im Pfarrgarten feſt, wo
jeder, wer will, ſagt' er, in ſchoͤnen Lauben die
kurze laue Stunde bis zu Sonnen-Aufgang ver¬
ſchlummern kann.


Es wird allgemein angenommen, und der
Garten beſezt; manches ſchoͤne Paar thut viel¬
leicht nur als ſchlaf' es, haͤlt ſich aber wirklich
an der Hand. Der gluͤkliche Pfarrer geht ein¬
ſam in den Beeten auf und ab. Kuͤhle und we¬
nige Sterne kommen. Seine Nachtviolen und
Levkoien thun ſich auf und duften ſtark, ſo
hell es auch iſt. In Norden raucht vom ewigen
Morgen des Pols eine goldhelle Daͤmmerung auf.
Der Pfarrer denkt an ſein fernes Kindheitsdoͤrfgen
und an das Leben und Sehnen der Menſchen,
und wird ſtill und voll genug. Da greift die
friſche Morgen-Sonne wieder in die Welt. Man¬
cher, der ſie mit der Abend-Sonne vermengen
will, thut die Augen wieder zu; aber die Lerchen
erklaͤren alles, und wecken die Lauben.


[41]

Dann geht Luſt und Morgen gewaltig wie¬
der an; — — und es fehlt wenig, ſo ſchilder'
ich mir dieſen Tag ebenfalls, ob er gleich vom
vorigen vielleicht um kein Bluͤthenblatt verſchie¬
den iſt.


Glanz, deſſen Geſicht die guͤnſtigſte Selbſt¬
rezenſion ſeiner geſchriebenen Werke war, ſah mit
einigem Triumphe uͤber ein ſolches Werk, unter
den Erben umher; nur der Polizeiinſpektor Har¬
precht verſezte mit einem ganzen Swift auf dem
Geſicht: „Dieſer Nebenbuhler kann uns mit ſei¬
nem Verſtande noch zu ſchaffen machen.“ Der
Hoffiskal Knol und der Hofagent Neupeter und
Flitte waren laͤngſt aus Ekel vor der Lektuͤre weg
und ans Fenſter gegangen, um etwas vernuͤnfti¬
ges zu ſprechen.


Sie verließen die Gerichtsſtuben. Unterwe¬
ges aͤußerte der Kaufmann Neupeter:


„Das verſteh' ich noch nicht, wie ein ſo ge¬
ſezter Mann als unſer ſeel. Vetter noch am Ran¬
de des Grabes ſolche Schnurren treiben kann.“ —
„Vielleicht aber — ſagte Flachs, der Hausbeſi¬
[42] zer, um die andern zu troͤſten — nimmt der jun¬
ge Menſch die Erbſchaft gar nicht an, wegen der
ſchweren Bedingungen.“ — Knol fuhr den Haus¬
beſizer an: „geradeſo ſchwere, wie heute eine. Sehr
dumm waͤr's von ihm und fuͤr uns. Denn nach
Clausul. IX. Schlaͤgt aber Harniſch fie¬
len ja den corporibus piis drei Viertel zu. Wenn
er ſie aber antritt und lauter Boͤcke ſchieſſet“ —


„Das gebe doch Gott“ ſagte Harprecht.


„Schieſſet, fuhr jener fort, ſo haben wir
doch die Klauſeln: Spashaft ſagt' ich in
der vorigen
— und Ritte der Teufel
und den Hrn. Kirchenrath Glanz und
alle
, fuͤr uns und koͤnnen viel thun.“ Sie er¬
waͤhlten ihn ſaͤmtlich zum Schirmherrn ihrer Rech¬
te, und ruͤhmten ſein Gedaͤchtnis — „Ich er¬
innere mich noch, ſagte der Kirchenrath, daß er
nach der Klauſel der Erb-Aemter vorher zu
einem geiſtlichen Amte gelangen ſoll, wie wohl
er jezt nur Juriſt iſt“ — — —


„Da wollt ihr naͤmlich, verſezte Knol ge¬
ſchwind, Ihr geiſtlichen Herren und Narren dem
Examinanden ſchon ſo einheizen, ſo zwiken —
[43] wahrhaftig das glaub' ich“ — und der Polizei-
Inſpektor fuͤgte bei, er hoffe das ſelber. Da aber
der Kirchenrath, dem beide ſchon als alte Kan¬
zel-Stuͤrmer, als Baumſchaͤnder kanoniſcher
Haine bekannt waren, noch vergnuͤgt einen Reſt
von Eß-Luſt verſpuͤrte, der ihm zu theuer war,
um ihn weg zu diſputiren: ſo ſuchte er ſich nicht
recht ſonderlich zu aͤrgern, ſondern ſah nach.


Man trennte ſich. Der Hoffiskal begleitete
den Hofagenten, deſſen Gerichtsagent er war,
nach Hauſe, und eroͤfnete ihm, daß der junge
Harniſch ſchon laͤngſt habe — als riech' er etwas
vom Teſtamente, das dergleichen auch fordere —
Notarius werden und nachher in die Stadt ziehen
wollen, und daß er am Donnerſtag nach Elter¬
lein gehe, um ihn dazu zu kreiren. (Knol war
Pfalzgraf.) „So moͤg' er doch machen, bat der
Agent, daß der Menſch bei ihm logiere, da er
eben ein ſchlechtes unbrauchbares Dachſtuͤbgen fuͤr
ihn leer habe.“ — „Sehr leicht“ verſezte Knol.


Das erſte, was dieſer zu Hauſe und in der
ganzen Sache machte, war ein Billet an den alten
Schulz in Elterlein, worin er ihm bedeutete „er
[44] werde uͤbermorgen Donnerſtags durch und retour
paſſieren, und unterwegs, gegen Abend, ſeinen
Sohn zum Notarius kreiren; auch hab' er ein
trefliches, aber wohlfeiles Quartier fuͤr ſolchen
bei einem vornehmen Freunde beſtanden.” —
Vor dem regierenden Buͤrgermeiſter hatt' er dem¬
nach eine Verabredung, die er jezt erſt traf,
ſchon fuͤr eine getrofne ausgegeben, um wie es
ſcheint, das Macherlohn fuͤr einen Notar, das
ihm der Teſtator auszahlte, vorher auch von den
Eltern zu erheben.


In allen Erzaͤhlungen und Aeußerungen blieb
er aͤußerſt wahrhaft, ſo lange ſie nur nicht in die
Praxis einſchlugen; denn alsdann trug er (da
Raubthiere nur in der Nacht ziehen) ſein noͤthiges
Stuͤkgen Nacht bei ſich, das er entweder aus
blauem Dunſt verfertigte als Advokat, oder aus
arſenikeliſchen Daͤmpfen als Fiskal.


[45]

Nro.4.Mammuthtsknochen aus
Aſtrakan.

Das Zauberprisma.


Der alte beerdigte Kabel war ein Erdbeben
unter dem Meere von Haslau, ſo unruhig liefen
die Seelen wie Wellen untereinander, um etwas
vom jungen Harniſch zu erfahren. Eine kleine
Stadt iſt ein großes Haus, die Gaſſen ſind nur
Treppen. Mancher junge Herr nahm ſogar ein
Pferd, und ſtieg in Elterlein ab, um nur den
Erben zu ſehen; er war aber immer auf die Ber¬
ge und Felder gelaufen. Der General Zablocki,
der ein Rittergut im Dorfe hatte, beſchied ſeinen
Verwalter in die Stadt, um zu fragen. Manche
halfen ſich damit, daß ſie einen eben angekom¬
menen Floͤten-Virtuoſen, Van der Harniſch, fuͤr
den gleichnamigen Erben nahmen, und davon
ſprachen; beſonders thatens einhoͤrige Leute, die,
dabei taub auf dem zweiten Ohre, alles nur mit
halbem hoͤrten. Erſt Mittwochs Abends — am
Dienſttage war Teſtaments- Oefnung geweſen —
bekam die Stadt Licht, in der Vorſtadt bei dem
Wirth zum weichen Krebs.


[46]

Anſehnliche Glieder aus Collegien goßen da
gewoͤhnlich in die Dinte ihres Schreib-Tages ei¬
niges Abendbier, um die ſchwarze Farbe des Le¬
bens zu verduͤnnen. Da bei dem weichen Krebs¬
wirthe der alte Schultheis Harniſch ſeit 20 Jah¬
ren einkehrte: ſo war er im Stande, wenigſtens
vom Vater ihnen zu erzaͤhlen, daß er jede Woche
Regierung und Kammer anlaufe mit leeren Fra¬
gen, und daß er jedesmal unter vielen Worten
die alten Hiſtorien von ſeinem ſchweren Amte,
ſeinen vielen juriſtiſchen Einſichten und Buͤchern,
und ſeiner „zweiherrigen“ Wirthſchaft und ſeinen
Zwillingsſoͤhnen Abende lang vorſinge, ohne doch
je in ſeinem Leben mehr dabei zu verzehren als Ei¬
nen Hering und ſeinen Krug — Es fuͤhre zwar,
fuhr der Wirth fort, der Schulz ſehr ſtarke hoch¬
trabende Worte, ſei aber ein Haſe, der ſeine Frau
ſchikte bei handfeſten Vorfaͤllen, oder er reiche ei¬
ne lange Schreiberei ein; hab' auch ein zu nobles
Naturell, und koͤnne ſich uͤber eine krumme Mie¬
ne zu Tagen kraͤnken, und habe noch unverdauete
Naſen, die er im Winter von der Regierung be¬
kommen, im Magen.


[47]

Nur von der Hauptſache, beſchlos er, von
den Soͤhnen, wiß' er nichts, als daß der eine,
der Spizbube, der Floͤtenpfeiffer Vult im 14½
Jahre mit einem ſolchen Herrn — er zeigte auf
Hrn. van der Harniſch — durchgegangen; und
vom andern, der der Erbe ſei, koͤnne gewis der
Herr unten mit den ſchwarzen Knopfloͤchern die
beſte Auskunft geben, denn es ſei der Hr. Kandi¬
dat und Schulmeiſter Schomaker aus Elterlein,
ſein geweſener Praͤzeptor.


Der Kandidat Schomaker hatte eben in ei¬
nem Makulaturbogen einen Drukfehler mit Blei¬
ſtift korrigiert, eh' er ihn dik um ein halbes Loth
Arſenik wikelte. Er antwortete nicht, ſondern
wikelte wieder weiſſes Papier uͤber das bedrukte,
ſiegelte es ein und ſchrieb an alle Ecken: Gift —
darauf uͤberwickelte und uͤberſchrieb er wieder, und
ließ nicht nach, bis ers ſiebenmal gethan, und
ein dikes Oktav-Paquet vor ſich hatte.


Jzt ſtand er auf, ein breiter, ſtarker Mann,
und ſagte ſehr furchtſam, indem er Kommata und
andere Interpunktionen ſo deutlich im Sprechen
abſezte als jeder im Schreiben: „Ganz wahr,
[48] daß er mein Schuͤler, und hinlaͤnglich, erſtlich,
daß er ſo aͤdel iſt, zweitens, daß er trefliche Ge¬
dichte, nach einem neuen Metrum, machet, ſo
er den Strekvers nennet, ich einen Polymeter.“


Bei dieſen Worten fieng der Floͤten-Virtuoſe
van der Harniſch der bisher kalt die Runde um
die Stube gemacht, ploͤzlich Feuer. Wie andere
Virtuoſen hatt' er aus großen Staͤdten die Ver¬
achtung kleiner mitgebracht, — ein Dorf ſchaͤzen
ſie wieder — weil in kleinen das Rathhaus kein
Odeum, die Privathaͤuſer keine Bilderkabinette,
die Kirchen keine Antiken-Tempel ſind. Er bat
verbindlich den Kandidaten um Ausfuͤhrlichkeit.
„Fodert meine Pflicht ſchon“ verſezte dieſer, daß
ich morgen, bei der Heimkunft, dem Erben ſel¬
ber, die Eroͤfnung eines Vermaͤchtniſſes noch nicht
eroͤffne, weil es erſt die Obrigkeit, am Sonnabend,
thuet, wie vielmehr, daß ich die ganze Geſchichte
eines lebenden Menſchen, nie ohne ſeine Erlaub¬
nis, kund thue, wie vielmehr — Aber Gott,
wer von uns wird die Leiche ſeyn!“ ſezt er dazu,
da er die Stundengloke ins Gebetlaͤuten toͤnen hoͤr¬
te; und grif ſogleich zu einer darneben liegenden
[49] Schlacht in der Zeitung, um dreiſt zu werden,
weil wohl nichts den Menſchen ſo ſehr zum kal¬
ten Waghalſe gegen ſein Todtenbette macht, als
ein oder ein Paar Quadratmeilen, worauf un¬
zaͤhlige rothe Glieder und ein Tod nach dem an¬
dern liegt.


Ueber dieſen religioͤſen SkrupelLuxus zog der
Floͤteniſt ein ſehr veraͤchtliches Geſicht und ſagte,
— indem er ein Prisma aus der Taſche holte und
vier Lichter verlangte — verdruͤßlich: ich koͤnnte
es bald wiſſen, wer die Leiche ſeyn wird; aber
ich will Ihnen, Hr. Kandidat, lieber alles erzaͤh¬
len aus dieſem Zauber-Prisma, was Sie mir
nicht erzaͤhlen wollen. „Er ſagte, das Prisma
verſchließe die viererlei Waſſer, welche man aus
den vier WeltEcken ſammle, man reib' es am
Herzen warm, fordere leiſe, was man in der Ver¬
gangenheit oder Zukunft zu ſehen wuͤnſche, und
wenn man vorher etwas vorgenommen, was er
ohne TodesGefahr nicht ſagen duͤrfte — daher das
Geheimnis immer nur von Sterbenden mitgethei¬
let werde, oder auch von Selbſtmoͤrdern — als¬
dann entſtehe in den viererlei Waſſern ein Nebel,
Flegeljahre I. Bd. 4[50] dieſer ringe und arbeite, bis er ſich in helle Men¬
ſchengeſtalten zuſammengezogen, welche nun ihre
Vergangenheit wiederholen oder in ihrer Zukunft
oder auch Gegenwart ſpielen, wie man es eben
gefordert.


Der Schulmeiſter Schomaker erhielt ſich noch
ziemlich gleichguͤltig und feſt gegen das Prisma,
weil er wuſte, ihm habe, wenn er bete, kein
Teufel viel an. Van der Harniſch zog ſeine Tauf¬
decke aus der Taſche und ſie ſich uͤber den Kopf,
und war darunter rege und leiſe; endlich hoͤrte
man das Wort: Schomakers Stube. Izt warf
er ſie zuruͤk, ſtarrete erſchrocken in das Prisma
hinein und beſchrieb laut und eintoͤnig jede Klei¬
nigkeit, die in deſſen ſtillem ZoͤlibatsZimmer war,
von einer Druckerpreſſe an bis auf die Voͤgel hin¬
ter dem Ofen, ja ſo gar bis auf die Maus, die
eben darin umherlief.


Noch immer ſtiegen dem Kandidaten wenig
oder keine Haare zu Berge; als aber der Seher
ſagte:


„irgend ein GeiſterSchatte in der leeren Stu¬
be hat Ihren Schlafrok an und ſpielt Sie
[51] — nach und legt ſich in Ihr Bette“ ſo uͤberlief
es ihn ſehr kalt. Das war etwas Gegenwart von
Ihnen, ſagte der Virtuoſe; nun einige wenige
Vergangenheit, und dann ſoviel Zukunft, als man
braucht, um zu ſehen, ob Sie etwan die diesjaͤh¬
rige Leiche werden.“


Umſonſt ſtellte ihm der Kandidat das Unmo¬
raliſche der Ruͤk- und VorSeherei entgegen; er
verſezte, er halte ſich ganz an die Geiſter, die es
ausbaden moͤchten, und fieng ſchon an, im Pris¬
ma zu ſehen, daß der Kandidat als junger Menſch
eine Fruͤhpredigers-Stelle und eine Ehe ausſchlug,
blos aus 11000 Gewiſſensſkrupeln.


Der Wirth ſagte dem gepeinigten Schulmann
etwas ins Ohr, wovon das Wort Schlaͤgerei vor¬
klang. Schomaker, der noch mehr ſeine Zukunft
als ſeine Vergangenheit zu hoͤren mied, ſchlug
auf moraliſche Unkoſten der Geiſter den Ausweg
vor, er wolle ſelber lieber die Geſchichte der jezt
durch Vermaͤchtniſſe ſo intereßanten Harniſchiſchen
Familie geben, H. v. d. Harniſch moͤge dabei
ins Prisma ſehen und ihm einhelfen.


Das hatte der quaͤlende Virtuoſe gewollt.
[52] Beide arbeiteten nun mit einander eine kurze Vor-
Geſchichte des Teſtamentes-Helden aus, welche
man um ſo lieber im Vogtlaͤndiſchen Mar¬
mor mit maͤuſefahlen Adern
— denn ſo
heißet die folgende Nummer — finden wird, da
ſich nach ſo vielen Drukbogen wohl jeder ſehnt,
auf den Helden naͤher zu ſtoßen, waͤrs auch nur
im Hintergrunde. Der Verfaſſer wird dabei die
Pflicht beobachten, beide Eutrope zu verſchmel¬
zen zu einem Livius und dieſen noch dadurch aus¬
zuglaͤtten, daß er ihm Patavinitaͤten ausſtreicht
und etwas GlanzStil an.

Nro. 5. Vogtlaͤndiſcher Marmor mit maͤu¬
ſefahlen Adern.

Vorgeſchichte.


Der Schultheis Harniſch — der Vater des
Univerſalerben — hatte ſich in ſeiner Jugend ſchon
zum Maurergeſellen aufgeſchwungen und waͤre
bei ſeinen Anlagen zu Mathematik und Stubenſi¬
zen — denn er las Sonntage lang drauſſen im
Reiche — weit gekommen, haͤtt' er ſich nicht an
[53] einem frohen Marientage in einem Wirthshauſe
in das Fliegenglas der Werber zu tief verflogen,
in die Flaſche. Vergeblich wollt' er am andern Mor¬
gen aus dem engen Hals wieder heraus; ſie hat¬
ten ihn feſt und darin. Er war unſchluͤſſig, ſollt'
er hinaus ſchleichen, und ſich in der Kuͤche die
Vorderzaͤhne ausſchlagen, um keine fuͤr die Pa¬
tronen zum Regimente zu bringen, oder ſollt' er
lieber — denn es konnt' ihn doch die Artillerie
als Stuͤckknecht faſſen — vor den Fenſtern des
Werb- und Wirthshauſes einen Dachsſchliefer
niedermachen, um unehrlich zu werden und da¬
durch nach damaliger Sitte Kantonfrei. Er zog
die Unehrlichkeit und das Gebis vor. Allein der
erlegte Dachs machte ihn zwar aus den Werber-
Haͤnden los, aber er biß ihn wie ein Zerberus
aus ſeiner Gewerkſchaft aus.


„Nu nu, ſagte Lukas in ſeinen LandBildern,
„lieber einen Schliz in dem Strumpf aufgeriſſen
„als einen in der Wade zugenaͤht.“ — So ſehr
floh er, wie ein Gelehrter, den Wehrſtand.


Damals ſtarb ſein Vater, auch Schultheis;
er kam nach Hauſe und war der Erbe des Hau¬
[54] ſes wie der Kronerbe des Amts; obwohl ſeine
Kronguͤter in KronSchulden beſtanden. In kur¬
zem vermehrte er dieſe Kronguͤter betraͤchtlich. Er
warf ſich mit Leib und Seele auf das Jus — ver¬
ſaß ſeine kanoniſchen Stunden an angeborgten
Akten und gekauften Buͤchern, theilte auf alle
Seiten umſonſt responsa aus, ganze Bogen und
Tagelang — jeden SchulzenAktus berichtete er
ſchriftlich, und konzipierte und mundierte das
Schreiben mit ſchoͤner gebrochener Fraktur und
ſchiefer Kurrent, wobei ers noch fuͤr ſich ſelber ko¬
pierte — ſchauete als Schulz uͤberall nach, lief
uͤberall hin, und regierte den ganzen Tag. Durch
alles dieſes bluͤhte wenigſtens das Dorf mehr als
ſeine Aecker und Wieſen, und das Amt lebte von
ihm, nicht er vom Amte. Er konnte gleich den
beſten Staͤdtern, die ein gutes Haus machen,
ſich nun wie die Sorbonne, als das aͤrmſte un¬
terſchreiben (pauperrima domus). Alle ver¬
ſtaͤndige Elterleiner traten darin einander bei,
daß er ohne ſein handthierendes Weib — eine ge¬
ſunde Vernunft in corpore — das an Einem
Morgen fuͤr Vieh und Menſchen kochte, graſete,
[55] maͤhte, laͤngſt mit dem Schulzenzepter in der ei¬
nen Hand und mit dem Bettelſtabe in der andern,
haͤtte von ſeinem regierenden Haus und Hof zie¬
hen muͤßen, wovon er eigentlich nur der Paͤchter
ſeiner Glaͤubiger war.


Nur eine Arzenei gabs fuͤr ihn, naͤmlich den
Entſchlus das Haus und dadurch die Schultheiſ¬
ſerei wegzugeben. Aber er ließ ſich eben ſo gerne
koͤpfen, als er dieſe Arzenei nur roch, oder ein¬
nahm, einen Gifttrunk ſeiner ganzen Zukunft.


Erſtlich war die Dorfſchulzenſchaft ſeit un¬
denklichen Zeiten bei ſeiner Familie geweſen, wie
die Regentengeſchichte derſelben beweiſet, ſein Jus
und Herz hieng daran, ja ſeine ewige Seligkeit,
weil er wuſte, daß im ganzen Dorfe kein ſo gu¬
ter Juriſt fuͤr dieſen Poſten zu finden war als er,
wiewol Sachverſtaͤndige erklaͤrten, es werde zu
dieſem Poſten nicht mehr gefordert als zu einem
roͤmiſchen Kaiſer nach der goldnen Bulle*), naͤm¬
lich ein gerechter, guter und brauchbarer Mann.
Sein Haus anlangend, ſo trat vollends fol¬
gender frappanter Jammer ein.


[56]

Elterlein war zweiherrig; am rechten Bach¬
ufer lagen die Lehnmaͤnner des Fuͤrſten, am
linken die Einſaßen des Edelmanns; wiewol ſie
einander im gemeinen Leben nur ſchlecht die Rech¬
ten
und die Linken hießen. Nun lief nach al¬
len Flurbuͤchern und Graͤnzrezeßen in alten Zei¬
ten die Demarkazionslinie, der Bach, dicht an
des Schulzen Hauſe vorbei. Nachher veraͤnderte
der Bach ſein Bette oder ein duͤrrer Sommer nahm
ihn gen Himmel; kurz Harniſchens Wohnung
wurde ſo weit hinuͤber gebaut, daß nicht nur Ein
Dachſtuhl auf zwei Territorien ſtand, ſondern
auch Eine Stubendecke, und wenn man ihn hin¬
ſezte, Ein Kruͤpelſtuhl.


Aber ſo wurde dieſes Haus des alten Schul¬
zen juriſtiſcher Vorhimmel, ſo wie zugleich ſeine
kameraliſtiſche Vorhoͤlle. Mit unſaͤglichem Ver¬
gnuͤgen ſah er oft in ſeiner Wohnſtube — die
an der Wand ein fuͤrſtlicher Graͤnz- und Wap¬
penpfahl abmarkte — ſich um, und warf publi¬
ziſtiſche Blicke bald auf Landesherrliche, bald auf
Ritterſchaͤftliche Stubenbretter und Gerechtſame
und bedachte, daß er Nachts ein Rechter waͤre —
[57] weil er fuͤrſtlich ſchlief — und nur am Tage ein
Linker, weil Tiſch und Ofen geadelt waren. Es
war ſeinen Soͤhnen nichts ſeltenes, daß er Sonn¬
tags vor dem AbendEſſen, wenn er viel gedacht
hatte, mehrmals heiter und haſtig den Kopf
ſchuͤttelte und dabei murmelte: mein Haus iſt
einem redlichen Iktus *), ſag' ich, ordentlich wie
auf den Leib gemacht — ein jeder anderer Mann
wuͤrde die beſten importanteſten Gerechtſame und
Territorine darinn verſchleudern, weil er gar
nicht der Mann dazu waͤre — denn er waͤre in
der Sache gar nicht zu Hauſe — und ich alter
verſtaͤndiger Iktus ſoll heraus, ſolls losſchlagen,
hoͤre Vronel? — Erſt nach langer Zeit antwor¬
tete er ſich ſelber: „nun und nimmermehr“, oh¬
ne die Antwort Veronika's, ſeiner Frau, zu hoͤren.


Freilich wenn er ſich taͤglich gegen ſeine Glau¬
biger mehr in die Zitadelle ſeines Hauſes zuruͤkzog
und ihnen dabei wie andere Kommendanten die
Vorſtaͤdte, naͤmlich das Feld, d. h. die Felder
raͤumte und ſo gut er konnte, mit dem Hauſe zu¬
gleich ſeinen Schulzenpoſten, den Spielraum ſei¬
ner Kenntniſſe, zu verſteigern aufſchob, ſtatt ſol¬
[58] chen zu ſteigern — gleichſam ſein ſchlagendes Herz,
den Saitenſteg ſeines lauten Lebens, wenn er das
that: ſo hatt' er noch vier von ihm ſelber gezeug¬
te Haͤnde im Auge, die ihm helfen und den Steg
ſeiner hellſten Toͤne und Mistoͤne wieder ſtellen
ſollten; naͤmlich ſeine Zwillingsſoͤhne.


Als Veronika mit dieſen niederkommen woll¬
te, hielt' er, als ſei ſie eine ſizilianiſche oder eng¬
liſche Koͤnigin, hinlaͤngliche Geburtszeugen be¬
reit, die nachher ſich in Taufzeugen eintheilten.
Das Kindbette hatt' er ins ritterſchaftliche Ter¬
ritorium geſchoben, weil es einen Sohn geben
konnte, dem man durch dieſe Bett'ſtelle der Bett'¬
ſtelle den Landesherrlichen Haͤnden entzog, die
ihm eine Soldatenbinde umlegen konnten, ſtatt
der ſchon beſtimmten Themisbinde. In der That
trat auch der Held dieſes Werkes, Peter Gott¬
walt
ans Licht.


Aber die Kreiſende fuhr fort; der Vater hielt
es fuͤr Pflicht und Vorſicht, das Bette dem Fuͤr¬
ſten zuzuſchieben, damit jeder ſein Recht bekom¬
me. „Hoͤchſtens giebts ein Maͤdchen, ſagte er,
oder was Gott will.“ Es war keines, ſon¬
[59] dern das leztere; daher der Knabe nach des Kan¬
didaten Schomakers Ueberſezung den Namen des
Biſchofs von Karthago unter Geiſerich, naͤmlich
Quod Deus vult, oder Vult im Alltagsweſen
bekam.


Izt wurden in der Stube ſcharfe Markungen,
Einhegungen und TheilungsTraktate gemacht,
Wiegen und alles wurde geſchieden. Gottwalt
ſchlief und wachte und trank als Linker, Vult als
Rechter; ſpaͤterhin als beide ein wenig kriechen
konnten, wurde Gottwalten, dem adelichen Saſ¬
ſen, das fuͤrſtliche Gebiet durch ein kleines Git¬
terwerk — das man blos aus Huͤhner- und an¬
dern Staͤllen auszuheben brauchte — leicht zuge¬
ſperrt; und eben ſo ſprang der wilde Vult hin¬
ter ſeinem Pfahlwerk, der dadurch faſt das Anſe¬
hen eines auf- und ablaufenden Leoparden im Kaͤ¬
fig gewann.


Erſt mit langer Muͤhe und Strenge ſchaffte
Veronika die laͤcherliche Ab- und Erbſonderung
ab; denn der alte Lukas hatte, wie jeder Gelehr¬
te, eine beſondere Hartnaͤckigkeit der Meinungen
und bei aller Ehrliebe ſteifen Kaltſinn gegen das
Laͤcherlich werden.


[60]

Bald wurde deutlich, daß wiſſenſchaftliche
Faͤcher kuͤnftig Gottwalt's Fach ſeyn wuͤrden; oh¬
ne alle elterliche Vorliebe war leicht zu bemerken,
daß er weislockig, duͤnnarmig, zartſtaͤmmig und,
wenn er einen ganzen Sommer Schafhirtlein ge¬
weſen, noch ſchnee- lilienweis in ſolchem
Grade war, daß der Vater ſagte: einen Stiefel
woll' er mit einem EiweisHaͤutgen, ſtatt Pfund¬
leder ebenſo gut beſohlen als den Jungen zum
Bauersmann einrichten. „Dabei hatte der Kna¬
be ein ſo glaͤubiges, verſchaͤmtes, uͤberzartes,
frommes, gelehriges, traͤumeriſches Weſen, und
war zugleich bis zum Laͤcherlichen ſo eckig und
elaſtiſch-aufſpringend, daß zum Verdruſſe des
Vaters — der ſich einen Juriſten nachziehen woll¬
te — jedermann im Dorfe, ſelber der Pfarrer,
ſagte, er muͤße, wie Zaͤſar, der erſte im Dorfe
werden, naͤhmlich der Pfarrer. Denn wie? —
fragte man — Gottwalt, der blauaͤugige Blon¬
din mit aſchgrauem Haar und feiner Schneehaut,
— wie? dieſer ſoll einmal ein Kriminaliſt werden
und unter dem großen Triumphator Carpzov die¬
nen, welcher blos mit ſeinem Federmeſſer, wozu
[61] er das ThemisSchwert ausgeſchliffen, an zwan¬
zigtauſend Mann niedergehauen? So ſchikt ihn
doch, fuhr man fort, nur VerſuchsWeiſe mit ei¬
nem Gerichtsſiegel zu einer blaſſen Wittwe, die
mit gefalteten Haͤnden auf dem Seſſel ſizt und die
ſchwach und leiſe ihre Effekten anzeigt, und laſ¬
ſet ihn den Auftrag, unbehindert alle ihre alten
Thuͤren und Schraͤnke und des Mannes lezte An¬
denken gerichtlich zu verpetſchieren, vollziehen und
ſeht zu, ob ers kann, vor Herzklopfen und Mit¬
leiden! —


Aber der juͤngere Zwilling, Vult, ſagte man
in froherem Tone, der ſchwarzhaarige, pocken¬
narbige, ſtaͤmmige Spizbube, der ſich mit dem hal¬
ben Dorfe rauft und immer umher ſtreift, und
ein wahres tragbares theatre aux Italiens iſt,
das jede Phyſiognomie und Stimme nachſpielt —
dieſer iſt ein anderer Menſch, dem gebt Akten un¬
ter den Arm, oder einen Schoͤppenſtuhl unter den
Steis. Wenn Walt am Faſtnachtstage in der
tanzenden Schulſtube den Kandidaten und deſſen
Geige mit dem Baͤßlein unterſtuͤzte und mit nichts
huͤpfte als mit ungemein freudigen Blicken und
[62] mit dem Bogen: ſo ſprang Vult zugleich allein
tanzend und mit einer Groſchenfloͤte im Maule
herum und fand noch Zeit und Glieder zu vielem
Schabernack — Sollen ſolche Talente nicht fuͤr
das Jus benuzt werden, Herr Schulz, beſchlos
man — —


Sie ſollen's, ſagt' er. Alſo Gottwalt wur¬
de auf die Himmelsleiter geſezt als zukuͤnf¬
tiger Pfarrer und Konſiſtorialvogel; Vult aber
muſte ſich die Grubenleiter in die delphi¬
ſche Rechtshoͤhle zimmern, damit er ein juriſti¬
ſcher Steiger wuͤrde, von welchem der Schult¬
heis alle Ausbeuten ſeiner Zukunft erwartete, und
der ihn aus der giftigen Grube ziehen ſollte, zu¬
gleich mit Gold- und SilberGeaͤder umwunden,
es ſei nun, daß der Sohn Prozeße fuͤr ihn fuͤhrte,
oder ſchwere ihm erſparte, oder Gerichtshalter im
Orte wurde, oder Regierungsrath, oder wie es
etwa gienge, oder daß er ihm jeden Quatember
viel ſchenkte.


Allein Vult hatte außerdem, daß er bei dem
Schulmeiſter und Kandidaten Schomaker nichts
lernen wollte, noch das Verdruͤßliche an ſich,
[63] daß er ewig blies auf einer Bazenfloͤte, und daß
er ſich im 14. Jahr bei der Kirms unten vor die
ſpielende FloͤtenUhr des Schloßes hinſtellte, um
bei ihr als ſeiner erſten Lehrerin, wenn nicht Stun¬
den zu nehmen, doch Viertelſtunden. — Hier
ſollte Zeit ſeyn, das Axiom einzuſchichten, daß
uͤberhaupt die Menſchen mehr in Viertelſtunden,
als in Stunden gelernt. Kurz, an einem Tage,
wo Lukas ihn in die Stadt und unter das Rekru¬
tenmaas gefuͤhret (Scheines und Ordnung hal¬
ber), lief er mit einem betrunkenen Muſikus, der
nur noch ſein Inſtrument, aber nicht mehr ſich
und die Zunge regieren konnte, in die weite breite
Welt hinein. Er blieb dann weg.


Izt mußte Gottwalt Peter daran, ans Jus.
Aber er wollte auf keine Weiſe. Da er ſtets las,
— was das Volk beten heiſet, wie Zizero re¬
ligio
von relegere, oft leſen, ableitet — ſo
lief er dem Dorfe ſchon als Pfarrherrlein durch
die Finger, ja ein Mezger aus Tyrol nannte ihn
bald den Pfarbuben, bald den Pfarknecht *),
[64] weil er in der That ein kleiner Kaplan und Kuͤſter,
naͤmlich deſſen Koadjutorie war, inſofern er die
ſchwarze Bibel gern auf die Kanzel truͤg, das
Kommunikantentuͤchlein am Altare den Oblaten
und dem Kelche unterhielt, allein den Nachmit¬
tagsgottesdienſt, wenn Schomaker ſich nach Hau¬
ſe geſchlichen, hinausorgelte und ein fleiſſiger Kir¬
chengaͤnger bei Wochentaufen war. Ja, ſah A¬
bends der Pfarrer nach dem Studieren mit Muͤ¬
ze und Pfeife aus dem Fenſter, ſo hofft' er nicht
zuruͤck zu bleiben, wenn er ſich mit einer leeren
kalten Pfeife und weiſſen Muͤze an ſeines legte,
welche leztere dem Knabengeſicht ein zu altvaͤteri¬
ſches Anſehen gab. Nahm er nicht einmal an ei¬
nem Winterabend ein Geſangbuch unter den Arm
und ſtattete, wie der Pfarrer, bei einer ihm ganz
gleichguͤltigen, arthritiſchen, ſteinalten Schnei¬
dersfrau einen ordentlichen Krankenbeſuch ab und
fieng an, aus dem Liede: O Ewigkeit, du Freu¬
denwort, ihr vorzuleſen? Und muſt' er nicht ſchon
bei dem zweiten Verſe den Aktus einſtellen, weil
ihn Thraͤnen uͤbermannten, nicht uͤber die taube,
trokne Frau, ſondern uͤber den Aktus?


[65]

Schomaker nahm ſich ſeines Lieblings ſo ſehr
an, daß er eines Abends vor dem Gerichts¬
mann
— „ſo hoͤr' ich mich lieber nennen als
Schulz“ ſagte Lukas — frei erklaͤrte, er glaubte,
im geiſtlichen Stande komme man beſſer fort,
beſonders zarte Naturelle.


Da nun der Kandidat ſelber nichts geworden
war, als ſein eignes Minus und ſeine eigne Va¬
kanzſtelle, ſo beantwortete der Gerichtsmann die
Rede blos mit einem hoͤflichen Gemurmel und
fuͤhrte nur ſeine ſchimliche Geſchichte wieder auf,
daß einmal ein juriſtiſcher Profeſſor ſeine Studen¬
ten ſo angeredet habe: „meine Hochzuverehrende
„Herren Juſtizminiſter, geheime Kabinetsraͤthe,
„wirkliche Geheime Raͤthe, Praͤſidenten, Finanz-
„Staats- und andere Raͤthe und Syndikus,
„denn man weis ja noch nicht, was aus Ihnen
„allen wird!“ Er fuͤhrte noch an, im Preuſſi¬
ſchen werde die Stunde eines Advokaten auf 45
Kreuzer von den Geſezen ſelber taxirt und bat,
man ſolle das nur einmal fuͤr ein Jahr ausſchla¬
gen — ferner einem rechten Juriſten komme der
Teufel ſelber nicht bei und er wolle eben ſo gut
Flegeljahre I. Bd. 5[66] ein Ferkel am eingeſeiften Schwanz feſt halten,
als einen Advokaten am jus — (welches wohl
im edlern Stile heißen wuͤrde: Kenntnis des
Rechts iſt die um einen Mann geſchriebene Muͤnz-
Legende, und verwehrt das Beſchneiden des
Stuͤks) — und Heeringe wie ſein Peter Walt,
waͤren eben die ganzen Hechte; je duͤnner der Meſ¬
ſerruͤcken, deſto ſchaͤrfer die Schneide; und er
kenne Iktuße, die durch Nadeloͤhre zu faͤdeln wa¬
ren, die aber ungemein zuſtachen.


Wie immer, halfen ſeine Reden nichts: aber
die verſtaͤndige Veronika, ſeine Frau, wollte ge¬
gen die Sitte der Weiber, die im haͤuslichen Kon¬
ſiſtorium immer als geiſtliche Raͤthe gegen die
weltlichen ſtimmen, den Sohn aus dem geiſtli¬
chen Schafſtall in die juriſtiſche Fleiſchſcharre
treiben; und das blos, weil ſie einmal bei einem
Stadtpfarrer gekocht habe und das Weſen kenne,
wie ſie ſagte.


Dieſe hielt, als ſie einſt allein mit dem Soh¬
ne war, der mehr an ihr als am Vater hieng,
ihm blos ſo viel vor: „mein Gottwalt, ich kann
dich nicht zwingen, daß du dem Vater folgſt;
[67] aber hoͤre mich an: das erſtemal, wo du pre¬
digſt, ſo thue ich meinen Trauerrok an, und die
weiſſen Tuͤcher um, und gehe in die Kirche, und
buͤcke mich unter der ganzen Predigt wie bei einer
Leichenpredigt mit dem Kopfe nieder und weine,
und wenn mich die Weiber fragen, ſo zeig' ich
auf dich.“ — Dieſes Bild pakte ſeine Phanta¬
ſie ſo gewaltſam an, daß er weinend Nein Nein
ſchrie — womit er Trauer-Verhuͤllen mein¬
te — und Ja Ja zum Advozieren ſagte.


So werden uns die LebensBahnen, wie die
Ideen, vom Zufall angewieſen; nur das Fort-
und Abſezen der einen wie der andern, bleibt der
Willkuͤr freigeſtellt.


Walt erlernte nun, wie Voͤlker, Sprachen
faſt von ſelber. Er warf dadurch den Vater in
ein FreudenMeer; denn Dorfleute finden, wie
die Schulleute, faſt blos auf der Zunge den Un¬
terſchied des Lehr- und des Naͤhrſtandes. Der
ErMaͤuerer bauete daher in einem trocknen Fruͤh¬
jahr ohne allen Widerſpruch des todten Dachs¬
hundes und des Gewerks ein eignes Studierſtuͤb¬
gen fuͤr ſeinen Iktus. Dieſer frequentierte das
[68] Lyzeum (illustre) Johanneum; darauf
wurd' er ins Gymnaſium (illustre) Alexan¬
drinum
geſchikt; — welches beides niemand
war, als in kollegialiſcher Eintracht der Kandi¬
dat Schomaker allein, der Johann Alexan¬
der
hies. Anfangs hatte Walt noch mit Vulten,
eh' er davon gelaufen, die Kleintertia und dar¬
auf die Grostertia ſowohl beſucht, als repraͤſen¬
tiert; aber nachher mußt' er ohne den Pfeifer
die ganze Sekunda und Prima allein ausmachen,
worinn er das Hebraͤiſche, das in beiden Klaſſen
die Theologen trieben, wie gewoͤhnlich auch mit
aufſchnappte. Im zwanzigſten Jahre war er vom
Gymnaſium oder Gymnaſiarchen unmittelbar als
Abiturient abgegangen auf die hohe Schule Leip¬
zig, in welche er aus Mangel einer hoͤhern ſo
lange taͤglich gieng, als er es vor Hunger aus¬
halten konnte. „Seit Oſtern ſizt er bei den El¬
tern, und wird morgen Abendes zum Notarius
reiieret, um zu leben“ beſchlos der Kandidat
Schomaker die artige Hiſtorie.


[69]

Nro. 6.Kupfernickel.

Quod Deus Vultiana.


Nach dem Ende der Geſchichte trat der Floͤ¬
teniſt mit grimmigem Geſicht an den betruͤbten
Schulmeiſter fragend: „waͤret ihr nicht werth,
daß ich ſogleich ins Prisma ſaͤhe und Euch dar¬
inn als lange Leiche antraͤfe? Wie, Ihr mora¬
liſcher Mikrolog, Ihr moraliſcher esprit de ba¬
gatelle,
Ihr konntet Euch aus Furcht vor ſchaͤz¬
baren Weiſſagungen erfrechen, gegen Euer Gewiſ¬
ſen die Geheimniſſe zweier bedeutender Bruͤder und
Eltern aus dem Laub heraus zu ziehen? Es ſoll
Euch gereuen, wenn ich Euch entdecke, daß ich
kein wahres Wort geſagt und daß ich die Geheim¬
niſſe nicht vom Prisma, ſondern von dem davon
gelaufenen Floͤteniſten Vult ſelber erfahren, der ein
ganz anderer Menſch iſt. Ich habe mit dem
Manne im andern Elterlein, naͤmlich im
Bergſtaͤdtlein bei Annaberg, vereint geblaſen. Da¬
mit ich aber nach dem bisherigen Weismachen,
der Geſellſchaft glaubhaft werde, ſo will ichs ihr
ſo beſchwoͤren: ewig verdammt will ich ſeyn,
kenn' ich ihn nicht und habe ich nicht alles von
ihm.“
[70] Es war kein Meineid; denn er war jener
entlaufne Vult ſelber, aber ein ſtarker Schelm.


Der Kandidat nahm alles friedlich hin, weil
ihn eine neue Lage, in welche er ſich immer ſo
ſchnell geworfen fuͤhlte, daß er keine Sekunde
Zeit zum Ausarbeiten eines moraliſchen Models
und Lineals bekam, uͤber alles abſties. Es gab
wenige Kaſuiſten und Paſtoraltheologen, die er
nicht geleſen, ſogar den Talmud, blos um ſee¬
lig zu werden.


Er hielt mit jedem Steckbrief ſeine eigne Per¬
ſon zuſammen, um, im Falle ſie zufaͤllig der be¬
gehrten gleich ſaͤhe, ſo fort juriſtiſch und ſittlich
geſattelt zu ſeyn, ſo wie er ſich haͤufig des Mords,
der Nothzucht und anderer Fraiſchfaͤlle heimlich
aus Spas anklagte, um ſich darein zu finden,
falls ein Boͤſewicht oͤffentlich daſſelbe thaͤte im
Ernſt.


Er verſezte daher nur, daß er dem Bruder
Gottwalt keine frohere Nachricht bringen koͤnne,
als die von Vults Leben, da er den Fluͤchtling
unendlich liebe. „So, lebt die Fliege noch? fiel
der Wirth ein. Wir hielten ſie ſaͤmmtlich fuͤr
krepirt. Wie ſah er denn aus, gnaͤdiger Herr?“
[71] „Sehr wie ich, (verſezte Vult und ſah be¬
deutende trinkende Dikaſterianten an,) falls nicht
das Geſchlecht einen Unterſchied macht; denn ich
koͤnnte wohl eben ſo gut eine verkleidete Ritterin
d'Eon ſeyn, als dieſe bekannte Frau, Messieurs,
— ob wir gleich davon abbrechen wollen. — Vult
ſelber iſt wohl der artigſte Mann und der ſchoͤn¬
ſte, ohne es aber zu wiſſen, dem ich je ins Ge¬
ſicht geſehen, nur zu ernſt und zu gelehrt, naͤm¬
lich fuͤr einen Muſikus. Sie alle ſollten ihn ſe¬
hen, das heiſſet hoͤren. — Und doch ſo beſchei¬
den, wie ſchon geſagt. Der Muſikdirektor der
Sphaͤrenmuſik werd' ich doch nie, ſagt er einſt,
ſich verbeugend die Floͤte weglegend, und meinte
wahrſcheinlich Gott. Jeder konnte mit ihm ſo
frei reden, wie mit einem ruſſiſchen Kaiſer, der
in Kaiſerspracht in die Kuliſſe von der Buͤhne
kommt und fuͤhlt, daß ihn Kozebue geſchaffen
und er dieſen. — Er war Herzensgut und voll
Liebe, nur aber zu aufgebracht auf ſaͤmmtliche
Menſchen. Ich weis, daß er Fliegen, die ihn
plagten, Einen Fluͤgel auszupfte und ſie auf
die Stube warf mit den Worten:
[72] „kriecht, die Stube iſt fuͤr euch und mich weit ge¬
nug‚“ indes er gleichwohl mehreren aͤltlichen Her¬
ren ins Geſicht ſagte, ſie waͤren ſiebenfache Spizbu¬
ben, alte obwohl in Milch eingeweichte Heeringe,
die ſich dadurch fuͤr friſche gaͤben; inzwiſchen,
ſezt' er ſogleich dazu, er hoffe, ſie deuteten ihn
nicht falſch, und bewies ihnen jede Artigkeit. —
Unſere erſte Bekanntſchaft machte ſich, als er
von einer fuͤrſtlichen Verſteigerung herkam und
einen erſtandenen Nachttopf aus Silber oͤffentlich
ſo naͤrriſch vor ſich her- und heim trug, daß je¬
de Gaſſe ſtuzig wurde, wodurch er gieng. — Ich
wollte, er waͤre mit hier und beſuchte die Seini¬
gen. — Ich habe eine ſo beſondere Liebhaberei fuͤr
die Harniſche, als meine Namensvettern, daß
ich ſogar im Leipziger ReichsAnzeiger mir ihren
Stammbaum und Stammwald beſtimmt aus¬
bat ohne Effekt.“


Jzt ſchied er kurz und hoͤflich und gieng auf
ſein Zimmer, nachdem er bei allem milden Schei¬
ne eines Mannes von Welt den ganzen Tag al¬
les gethan, was er gewollt. Er roch ohne An¬
ſtand an Fenſterblumen voruͤbergehend; — er
[73] ruͤkte auf dem Markte einem bettelnden Judenjun¬
gen ſeinen ſchlechten BettelStil vor und zeigte
ihm oͤffentlich, wie er anzuhalten habe — er ſez¬
te ſeinen franzoͤſiſchen Paß in keinen deutſchen
um, blos deshalb, um unter dem Stadtthore die
ſaͤmmtliche Thorſchreiberei dadurch in Zank und
Buchſtabieren zu verflechten, indes er ſtill dabei
wartete und ſagte, er ſteife ſich auf ſeinen Paß
— und am erſten Tage machte er den Scherz der
Zauberſchlaͤgerei, von welcher oben der Wirth dem
Kandidaten ins Ohr erzaͤhlt hatte. Er wuſte
naͤmlich ganz allein in ſeinem Zimmer ein ſolches
KunſtGeraͤuſch zu erregen, daß es die voruͤbergehen¬
de Schaarwache hoͤrte und ſchwur, eine Schlaͤge¬
rei zwiſchen fuͤnf Mann falle im zweiten Stocke
vor; als ſie ſtraffertig hinauf eilte und die Thuͤ¬
re aufris, drehte ſich Quod deus Vult vor dem
RaſierSpiegel mit eingeſeiftem Geſichte ganz ver¬
wundert halb um, und fragte, indem er das
Meſſer hoch hielt, verdruͤslich, ob man etwas
ſuche; — ja Nachts repetierte er die akuſtiſche
Schlaͤgerei, und fuhr die hineinguckende Obrig¬
keit aus dem Bette ſchlaftrunken mit den Worten
[74] an: wer Henker ſteht draußen und ſtoͤrt die Men¬
ſchen im erſten Schlafe?


Dies alles kam daher, daß er in jeder klei¬
nen Stadt zuerſt den Regimentsſtab wenig ſchaͤz¬
te, dann Obrigkeit und Hof, etwa Buͤrger aber
mehr. Bei einer ſolchen in Luſtigkeit eingekleide¬
ten Verachtung konnt' ers nicht von ſich erhal¬
ten, ſich den Kleinſtaͤdtern, die ihn in ſeinen glaͤn¬
zenden Tagen unter Grosſtaͤdtern nicht geſehen,
in dieſen uͤberwoͤlkten als Bauersſohn aus Elter¬
lein zu zeigen; lieber adelte er ſich ſelber eigen¬
haͤndig.


Nach Haslau war er nur gekommen, um
ein Konzert zu geben, dann nach Elterlein zu
laufen, und Eltern und Geſchwiſter inkognito zu
ſehen, aber durchaus ungeſehen. Unmoͤglich wars
ihm, daß er nach einem Dezennium Abweſenheit,
worinn er uͤber ſo viele europaͤiſche Staͤdte wie ei¬
ne elektriſche Korkſpinne, ohne zu ſpinnen und zu
fangen, geſprungen war, wieder vor ſeinen duͤrf¬
tigen Eltern erſcheinen ſollte, aber naͤmlich, o
Himmel, als was? —


Als duͤrftiger Querpfeifer in langer Strumpf¬
[75] hoſe, gelbem Studentenkollet und gruͤnem Reiſe¬
hut, und mit nichts in der Taſche (wenige Spe¬
zies ausgenommen) als mit einem Spiel geſiegel¬
ter EntréeKarten fuͤr kuͤnftige Floͤtenkonzerte?
— „Nein, ſagt' er, eh' ich das thaͤte, lieber
wollt' ich taͤglich Eſſig aus Kupfer trinken, oder
eine Fiſchotter an meiner Bruſt gros ſaͤugen, oder
eine kantianiſche Meſſe leſen oder hoͤren, eine O¬
ſtermeſſe.” Denn wenn er auch zulezt den phan¬
taſtiſchen Vater endlich zu uͤberwaͤltigen hoffen
konnte durch einige MuſikStunden und durch Er¬
zaͤhlungen aus fremdern Laͤndern: ſo blieb doch
die unbeſtechliche Mutter unveraͤndert uͤbrig mit
ihren kalten hellen Augen, mit ihren eindringen¬
den Fragen, die ſeine Vergangenheit ſammt ſei¬
ner Zukunft unerbittlich zergliederten.


Aber jezt ſeit dem Abend und hundert an¬
dern Stunden hatte ſich alles in ihm veraͤndert
— aus dem fremden Zimmer brachte er die ru¬
hige Oberflaͤche und eine bewegte Tiefe in das ſei¬
nige hinauf. — Walts Liebe gegen ihn hatt' ihn
ordentlich angegriffen — deſſen poetiſche Morgen¬
ſonne wollt' er ganz nahe beſehen und drehen und
[76] an ihre Axe Erddiameter und an ihre Kraft Licht-
und WaͤrmeMeſſer anlegen — Kabels Teſtament
gab dem Poeten noch mehr Gewicht — — Kurz
Vult konnte kaum den kuͤnftigen Tag erwarten,
um nach Elterlein zu laufen, heimlich Walts
NotariatsExamen zu behorchen und alle zu be¬
ſchauen und am Ende ſich dem Bruder zu ent¬
decken, wenn ers verdiente. Mit welcher Unge¬
duld der gegenwaͤrtige Schreiber auf den offiziel¬
len, den Helden endlich aus ſeinen tiefen Spie¬
geln hervorziehenden, Bericht des folgenden Ka¬
pitels mag gepaſſet haben, ermeſſe die Welt aus
ihrer

Nro. 7.Violenſtein.

KindheitsDoͤrfchen — der große Mann.


Vult van der Harniſch reiſete aus der Has¬
lauer Vorſtadt nach Elterlein aus, als die halbe
Sonne noch friſch und wagrecht uͤber die thauige
FlurenWelt hinblizte. Die Sonne war aus den
Zwillingen in den Krebs getreten; er fand Aehn¬
lichkeiten und dachte, er ſei unter den vieren der
Zwilling, der am ſtaͤrkſten gluͤhe, desgleichen
[77] der zweite Krebs. In der That hatte ſchon in
der Bergſtadt Elterlein bei Annaberg ſeine Sehn¬
ſucht nach dem gleichnahmigen Geburtsdorf an¬
gefangen und zugenommen auf allen Gaſſen;
ſchon ein gleichnamiger Menſch, wie vielmehr ein
gleichnamiger Ort draͤngt ſich warm ins Herz.
Auf der lebendigen Haslauer Straße — die ein
verlaͤngerter Markt ſchien — nahm er ſeine Floͤte
heraus und warf allen Paſſagiers durch Floͤten¬
anſaͤze Konzertanſaͤze entgegen und nach, ſchnapp¬
te aber haͤufig in guten Koloraturen und in boͤ¬
ſen Diſſonanzen ab und ſuchte ſein Schnupftuch,
oder ſah ſich ruhig um. Die Landſchaft ſtieg
bald ruͤſtig auf und ab, bald zerlief ſie in ein
breites ebenes Grasmeer, worinn Kornfluren und
Raine die Wellen vorſtellten und Baumklumpen
die Schiffe. Rechts in Oſten lief wie eine hohe
Nebelkuͤſte, die ferne Bergkette von Peſtiz mit,
links in Abend flos die Welt eben hinab, gleich¬
ſam den Abendroͤthen nach.


Da Vult erſt Nachts anzulangen brauchte,
ſo hielt er ſich uͤberall auf. Seine Sanduhr der
JuliusTagszeiten waren die gemaͤhten Wieſen,
[78] eine Linnaͤiſche Blumenuhr ans Gras; ſtehendes
zeigte auf 4 Uhr Morgens — liegendes auf 5
bis 7 — zuſammen geharkte Ameishaufen daraus
auf 10 Uhr — Huͤgel aus Heu auf 3 — Berge
auf den Abend. Aber er ſah auf dieſes Ziffer¬
blatt der ArbeitsIdylle an dieſem Tage zum er¬
ſtenmal, ſo ſehr hatten bisher die langen Fusrei¬
ſen das uͤberſaͤttigte Auge blind gemacht.


Eben da der Huͤgel in dieſer Sanduhr am
hoͤchſten anlief: ſo zogen ſich die Kirſch- und
Apfelbaͤume wie die AbendSchatten lang dahin
— runde gruͤne Obſtfolgen wurden haͤufiger —
in einem Thale lief ſchon als dunkle Linie das
Baͤchlein, das durch Elterlein huͤpft — vor ihm
gruͤnte auf einem Huͤgel von der Abendſonne gol¬
den durchſchlagen das runde duͤnne FichtenGe¬
hoͤlz, woraus die Bretter ſeiner Wiege geſchnitten
waren, und worinn man oben gerade in das
Dorf hinunter ſah.


Er lief ins Gehoͤlz und deſſen ſchwimmendes
SonnenGold hinein, fuͤr ihn eine KinderAurora.
Izt ſchlug die wohlbekannte kleinliche Dorfglocke
aus, und der Stundenton fuhr ſo tief in die
[79] Zeit und in ſeine Seele hinunter, daß ihm war,
als ſei er ein Knabe, und jezt ſei Feierabend; und
noch ſchoͤner laͤuteten ihn die Viehglocken in ein
Roſenfeſt.


Die einzelnen rothweißen Haͤuſer ſchwankten
durch die beſonnten Baumſtaͤmme. Endlich ſah
er draußen das traute Elterlein dem Huͤgel zu
Fuͤßen liegen — ihm gegen uͤber ſtanden die Glo¬
ken des weißen Schieferthurms, und die Fahne
des Maienbaums und das hohe Schloß auf dem
runden Wall voll Baͤume — unten liefen die
Poſtſtraßen und der Bach breit durchs ofne Dorf
— auf beiden Seiten ſtanden die Haͤuſer einzeln,
jedes mit ſeiner Ehrenwache von Fruchtſtaͤmmen
— um das Doͤrfchen ſchlang ſich ein Luſtlager
von HeuHuͤgeln wie von Zelten und von Wagen
und Leuten herum, und uͤber ihn hinaus brannten
fettgelbe Ruͤbſenflaͤchen fuͤr Bienen und Oel, hei¬
ter dem Auge entgegen.


Als er von dieſem Graͤnzhuͤgel des gelobten
Kinderlandes, hinunterſtieg, hoͤrt er hinter den
Stauden in einer Wieſe eine bekannte Stimme ſa¬
gen: „Leute, Leute ſponſelt doch euer Vieh; hab'
[80] ichs nicht ſchon ſo Millionenmal anbefohlen? —
Bube, ſage zu Hauſe, der Gerichtsmann hat ge¬
ſagt, morgen wird ungeſaͤumt mit zwei Mann
gefrohnt, auf der Kloſterwieſe.“ Es war ein
Vater; der mattaͤugige, ſchmaͤchtige, bleichfarbi¬
ge Mann (in deſſen Geſicht der warme HeuTag
noch einige weiße Farbenkoͤrner mehr geſaͤet) ſchritt
mit einer leuchtenden Senſe auf der Achſel aus
den Rainen in die Straße herein. Vult mußte
umblicken, um nicht erblickt zu werden, und
ließ den Vater voraus. Dann fiel er ihm mit
einigen klingenden Paradieſen der Floͤte, und zwar
— weil er wuſte, wie ihm Chorale ſchmekten —
mit dieſen in den Ruͤcken.


Lukas ſchritt noch traͤger fort, um laͤnger
zuruͤkzuhoͤren — und die ganze Welt war huͤbſch.
Braune Dirnen mit ſchwarzen Augen und weiſ¬
ſen Zaͤhnen ſezten die Grasſicheln an die Augen¬
braunen, um den vorbeipfeifenden Studenten un¬
geblendet zu ſehen — die Viehhirtinnen zogen
mit ihren WandelGloͤkchen auf beiden Seiten mit
— Lukas ſchnaͤuzte ſich, weil ihn der Choral be¬
wegte, und ſah ein ungeſponſeltes WeidePferd
[81] nur ernſthaft an — aus den Schornſteinen des
Schloſſes und Pfarrhauſes und des vaͤterlichen
hoben ſich vergoldete Rauchſaͤulen ins windſtille
kuͤhle Blau —


Und ſo kam Vult ins uͤberſchattete Elterlein
hinab, wo er das naͤrriſche verhuͤllte traͤumende
Ding, das bekannte Leben, den langen Traum,
angehoben und wo er im Bette zu dieſem Traum,
weil er erſt ein kurzer Knabe war, ſich noch nicht
hatte zu kruͤmmen gebraucht.


Im Dorfe war das Alte das Alte. Das
große Haus der Eltern ſtand jenſeits des Bachs
unveraͤndert mit der weiſſen Jahrszahl 1784 auf
dem DachSchiefer da. — Er lehnte ſich mit dem
Floͤtenliede: „wer nur den lieben Gott laͤßt wal¬
ten” an den glatten Maienbaum und blies ins
Gebetlaͤuten hinein. Der Vater gieng, ſehr lang¬
ſam unter dem Scheine des Umſehens, uͤber den
Bachſteg in ſein Haus und henkte die Senſe an
den hoͤlzernen Pflok an der Treppe. Die ruͤſtige
Mutter trat aus der Thuͤre in einem Manns-
Wamſe, und ſchuͤttete, ohne aufs Floͤten zu hoͤ¬
ren, das abgeblattete Unkraut des Salats aus
Flegeljahre I. Bd. 6[82] einem Scheffel, und beide ſagten zu einander —
wie LandGatten pflegen — nichts.


Vult gieng ins nachbarliche Wirthshaus.
Von dem Wirthe erfuhr er, daß der Pfalzgraf
Knol mit dem jungen Harniſch Felder beſchaue,
weil die Notariusmacherei erſt Abends angehe.
„Treflich, dachte Vult, ſo wirds immer dunkler,
und ich ſtelle mich ans BakofenFenſter und ſehe
ihrem Kreiren drinnen zu.“ Der alte Lukas
trat jezt ſchon gepudert in einer grosblumigen
DamaſtWeſte an die Thuͤre heraus, und wezte
in Hemdaͤrmeln an der Schwelle das Meſſer fuͤr
das Souper des NotariusSchoͤpfers ab. „Aber
das Puͤrſchlein ſoll's auch nicht herausreiſſen,
ſezte der Wirth hinzu, der ein Linker war; der
Alte hat mir ſeine ſchoͤne Brantweinsgerechtigkeit
verkauft, und der Sohn hat von der Blaſe ſtu¬
diert. Aber lieber das Haus ſollt' er weggeben,
und zwar an einen geſcheuten Schenkwirth; ſap¬
perment! Dem wuͤrden Biergaͤſte zufliegen, der
Bierhahn waͤre Hahn im Korbe, aber ganz na¬
tuͤrlich. Denn die Stube hat zweierlei Graͤnzen,
und man koͤnnte darinn zupruͤgeln und kontreban¬
dieren und bliebe doch ein gedekter Mann.“ —


[83]

Vult nahm keinen ſo ſpaßhaften Antheil am
Wirthe als er ſonſt gethan haͤtte; er erſtaunte
ganz, daß er unter der Hand ordentlich in eine
heftige Sehnſucht nach Eltern und Bruder, be¬
ſonders nach der Mutter hineingerathen war,
„was doch, ſagt' er, auf der ganzen Reiſe gar
nicht mein Fall geweſen.“ Es war ihm er¬
wuͤnſcht, daß ihn der Wirth beim Aermel ergrif,
um ihm den Pfalzgrafen zu zeigen, der eben in
des Schulzen Haus, aber ohne Gottwalt gieng;
Vult eilte aus ſeinem, um druͤben alles zu ſehen.


Drauſſen fand er das Dorf ſo voll Daͤmme¬
rung, daß ihm war als ſtek' er ſelber wieder in
der helldunkeln Kinderzeit, und die aͤlteſten Ge¬
fuͤhle flatterten unter den Nachtſchmetterlingen.
Hart am Stege watete er durch den alten lieben
Bach, worinn er ſonſt breite Steine aufgezogen,
um eine Grundel zu greifen. Er machte einen
BogenUmweg durch ferne Bauernhoͤfe, um hin¬
ter den Gaͤrten dem Hauſe in den Ruͤken zu kom¬
men. Endlich kam er ans Bakofenfenſter und
blikte in die breite zweiherrige Graͤnzſtube — keine
Seele war darinn, die einer ſchreienden Grille
[84] ausgenommen, Thuͤren und Fenſter ſtanden of¬
fen; aber alles war in den Stein der Ewigkeit
gehauen; der rothe Tiſch, die rothen Wandbaͤnke,
die runden Loͤffel in der hoͤlzernen WandLeiſte, um
den Ofen das TrokenGeruͤſte, der tiefe Stuben¬
balken mit herunterhaͤngenden Kalendern und Hee¬
ringsKoͤpfen, alles war uͤber das Meer der lan¬
gen Zeit, gut eingepakt, ganz und wie neu her¬
uͤbergefuͤhrt, auch die alte Duͤrftigkeit.


Er wollte am Fenſter laͤnger empfinden, als
er uͤber ſich Leute hoͤrte, und am Apfelbaum den
Lichtſchimmer der obern Stube erblikte. Er lief
auf den Baum, woran der Vater Treppe und
Altan gebaut: und ſah nun gerade in die Stube
hinein, und hatte das ganze Neſt.


Darinn ſah er ſeine Mutter Veronika, mit
einer weißen Kuͤchenſchuͤrze ſtehend, eine ſtarke,
etwas breite geſund nachbluͤhende Frau, das ſtille
ſcharfe, aber hoͤfliche Weiberauge auf den Hof¬
fiſkal gelegt — dieſer ruhig ſizend und an ſeinem
breiten Kopfe das NabelGehenke eines Pfeifen¬
kopfes befeſtigend — der Vater gepudert, und
im heiligen AbendmahlsRok unruhig laufend,
[85] halb aus achtender Angſt vor dem großen einge¬
fleiſchten corpus juris neben ihm, das gegen
Fuͤrſten und alle Welt gerade ſo kek war, als er
ſelber ſcheu, halb aus ſorgender, das corpus
nehm' es uͤbel, daß Walt noch fehlte. Am Fen¬
ſter, das dem Baum und Vulten am naͤchſten
war, ſaß Goldine, eine bildſchoͤne, aber buk¬
lige Juͤdin, auf ihr rothes Knaͤul niederſehend,
woraus ſie einen ſchafwollenen Rothſtrumpf ſtrik¬
te; Veronika ernaͤhrte die blutarme, aber fein-ge¬
ſchikte Waiſe, weil Gottwalt ſie ungemein liebte
und lobte, und ſie einen kleinen Edelſtein hieß,
der Faſſung brauchte, um nicht verlohren zu
gehen.


„Der Knecht iſt nach dem Spizbuben aus¬
geſchikt,“ verſezte Lukas, als der Fiſkal unwillig
erzaͤhlte, Walt habe nicht einmal ſeine eignen
Felder, geſchweige des ſeel. Van der Kabels ſeine
ihm zu zeigen gewußt, ſondern ihm einen Frohn¬
bauern Kabels dazu hergeholt, und ſei wie ein
Grobian weggeblieben. Vom erfreulichen Teſta¬
mente, ſah Vult, hatte der Fiſkal noch kein Wort
geſagt.


[86]

Auf einmal fuhr Gottwalt in einem Schanz¬
looper herein, verbeugte ſich ekig und eilig vor
dem Fiſkal und ſtand ſtumm da, und helle Freu¬
denThraͤnen liefen aus den blauen Augen uͤber
ſein gluͤhendes Geſicht.


„Was iſt Dir?“ fragte die Mutter. O
meine liebe Mutter, (ſagt' er ſanft,) gar nichts.
Ich kan mich gleich examiniren laſſen.


— „Und dazu heulſt du?“ fragte Lukas.
Jezt ſtieg ſein Auge und ſein Ton: „Vater, ich
habe, ſagte er, heute einen großen Mann geſe¬
hen.“ — „So? verſezte Lukas kuͤhn — Und haſt
dich vom großen Kerl wamſen laſſen und zudeken?
Gut!“


Ach Gott, rief er; und wandte ſich an die
aufmerkſame Goldine, um es ſo dem Examinator
mit zu erzaͤhlen. Er hatte naͤmlich oben im Fich¬
tenwaͤldgen eine haltende Kutſche gefunden, und
unweit davon am Waldhuͤgel einen bejahrten
Mann mit kranken Augen, der die ſchoͤne Gegend
im Sonnenuntergange anſah. Gottwalt erkannte
leicht zwiſchen dem Manne und dem Kupferſtiche
eines großen deutſchen Schriftſtellers — deſſen
[87] deutſcher Name hier blos griechiſch uͤberſezt wer¬
de, in den des Plato — die Aehnlichkeit. „Ich
that — fuhr er feurig fort — meinen Hut ab,
ſah ihn ſtill immerfort an, bis ich vor Entzuͤckung
und Liebe weinen muſte. Haͤtt' er mich angefah¬
ren, ſo haͤtte ich doch mit ſeinem Bedienten uͤber
ihn viel geſprochen und gefragt. Aber er war
ganz ſanft, und redete mit der ſuͤßeſten Stimme
mich an, ja er fragte nach mir und meinem
Leben, ihr Eltern; ich wollt', ich haͤtt' ein laͤn¬
geres gehabt, um es ihm aufzuthun. Aber ich
macht' es ganz kurz, um ihn mehr zu vernehmen.
Worte, wie ſuͤße Bienen, flogen dann von ſei¬
nen BlumenLippen, ſie ſtachen mein Herz mit
Amors Pfeilen wund, ſie fuͤllten wieder die Wun¬
den mit Honig aus: O der Liebliche! Ich fuͤhlt'
es ordentlich, wie er Gott liebt und jedes Kind.
Ach ich moͤcht' ihn wohl heimlich ſehen, wenn er
betete, und auch, wenn er ſelber weinen muͤſte
in einem großen Gluͤk. — Ich fahre ſogleich fort,“
unterbrach ſich Walt, weil er vor Ruͤhrung nicht
fortfahren konnte; bezwang ſie aber etwas leichter,
als er umher ſah, und gar keine ſonderliche Frem¬
de fand.


[88]

„Er ſagte — fuhr er fort — die beſten Sachen.
Gott, ſagt' er, giebt in der Natur wie die Ora¬
kel die Antwort, eh die Frage gethan iſt — des¬
gleichen, Goldine: was uns Schwefelregen
der Strafe und Hoͤlle daͤucht, offenbart ſich zu¬
lezt, als bloßer gelber Blumenſtaub eines zu¬
kuͤnftigen Flors. Und einen ſehr guten Ausſpruch
hab' ich ganz vergeſſen, weil ich meine Augen zu
ſehr auf ſeine richtete. Ja da war die Welt rings
umher voll Zauberſpiegel geſtellt, und uͤberall
ſtand eine Sonne, und auf der Erde gab es fuͤr
mich keine Schmerzen, als die ſeiner lieben Augen.
Liebe Goldine, ich machte auf der Stelle, ſo be¬
geiſtert war ich, den Polymeter: doppelte Sterne
erſcheinen am Himmel als einer, aber o Einziger,
du zergeheſt in einen ganzen Himmel voll Sterne.
Dann nahm er meine Hand mit ſeiner ſehr weichen
zarten, und ich muſte ihm unſer Dorf zeigen; da
ſagt' ich kuͤhn den Polymeter: ſehet wie ſich alles
ſchoͤn verkehrt, die Sonne folgt der Sonneblume.
Da ſagt' er, das thue nur Gott gegen die Men¬
ſchen, der ſich mehr ihnen zuwende als ſie ihm.
Darauf ermunterte er mich zur Poeſie, ſcherzte
[89] aber artig uͤber ein gewiſſes Feuer, was ich mir
auch morgen abgewoͤhne; Gefuͤhle, ſagt' er, ſind
Sterne, die blos bei hellem Himmel leiten, aber
die Vernunft iſt eine Magnetnadel, die das Schif
noch ferner fuͤhrt, wenn jene auch verborgen ſind
und nicht mehr leuchten. So mag gewiß der
lezte Saz geheißen haben; denn ich hoͤrte nur den
erſten, weil es mich erſchrekte, daß er an den
Wagen gieng und ſcheiden wollte.


Da ſah er mich ſehr freundlich an, gleich¬
ſam zum Troſte, daß mir war als klaͤngen aus
den Abendroͤthen Floͤtentoͤne. —


„Ich blies in die Roͤthen hinein“, ſagte
Vult, war aber etwas bewegt.


„Ja endlich glaubt mirs, Eltern, druͤkt'
er mich an ſeine Bruſt und an den lieblichen
Mund, und der Wagen rollte mit dem Himmli¬
ſchen dahin.“ — —


„Und — fragte der alte Lukas, der bisher,
zumal wegen Plato's vornehmen Amtsnamen,
jede Minute gewaͤrtig geweſen, daß der Sohn ei¬
nen betraͤchtlichen Beutel vorzoͤge, den ihm der
groſe Mann in die Hand gedruͤkt — er iſt wegge¬
[90] fahren und hat dir keinen Pfennig geſchenkt?“ —
O wie denn das, Vater? fragte Walt. „Ihr
kennt ja ſein weiches Gemuͤth“, ſagte die Mut¬
ter. „Ich kenne dieſen Skribenten nicht, ſagte
der Pfalzgraf; aber ich daͤchte, ſtatt ſolcher lee¬
rer Hiſtorien, die zu nichts fuͤhren, fiengen wir
einmal das Examen an, das ich anſtellen muß,
eh' ich jemand zum Notarius kreiren will.“


„Hier ſteh ich“, ſagte Walt, im Schanz¬
looper hin, und von Goldinen weg, fahrend,
deren Hand er fuͤr ihre Theilnahme an ſeiner See¬
ligkeit oͤffentlich genommen hatte.

Nro. 8.Koboldbluͤthe.

Das NotariatsExamen.


„Wie heißet Herr Notariand“ fieng Knol an
— Alles war naͤmlich ſo, erſtlich daß Knol als
ein zuſammengewachſenes verknoͤchertes Revolu¬
zionstribunal das Vorhaͤngſchlos des PfeifenKo¬
pfes am eignen hatte und zu allem ſas — ferner,
daß Lukas ſeinen auf zwei Ellenbogen wie auf Ka¬
ryatiden geſtuͤzten Kopf auf den Tiſch ſezte, jeder
Frage nachſinnend, eine Stellung, die ſeine matten
[91] grauen Augen und ſein blutloſes GelehrtenGeſicht,
zumal unter dem Leichenpuder auf der gebraͤunten
Haut ſehr ins nahe Licht ſezte, ſo wie ſeinen ewi¬
gen regneriſchen Feldzug gegen das Geſchik — fer¬
ner, daß Veronika dicht neben dem Sohne, mit
den Haͤnden auf dem Magen betend, ſtand und
das ſtille WeiberAuge, das in die naͤrriſchen Ar¬
beitsLogen der Maͤnner dringen will, zwiſchen
Examinator und Examinanden hin und wieder
gleiten ließ — und zulezt, daß Vult mit ſeinen
leiſen Fluͤchen zwiſchen den unreifen Pelzaͤpfeln
ſas und neben ihm — da ja alle Leſer durch ein
Fenſter in die Stube ſehen — auf den benachbar¬
ten Aeſten ſaͤmtliche 10 deutſche Reichs- und Le¬
ſeKreiſe oder LeſeZirkel; ſo viele tauſend Leſer und
Seelen von jedem Stande, was in dieſer Zuſam¬
menſtellung auf dem Baume laͤcherlich genug
wird. — — Alles iſt in der groͤßten Erwartung
uͤber den Ablauf des Examens, Knol in der al¬
lergroͤſten, weil er nicht wuſte, ob nicht viel¬
leicht manche moͤgliche Ignoranzen den Notarian¬
dus nach den geheimen Artikeln des Teſtaments
auf mehrere Monate zuruͤkſchoͤben oder ſonſt be¬
ſchaͤdigten.


[92]

Wie heißet Hr. Notariand, fieng er bekannt¬
lich an.


Peter Gottwalt, verſezte der ſonſt bloͤde
Walt auffallend frei und laut. — Der geliebte
entflogne Goͤttermenſch hob noch ſeine Bruſt;
nach einem ſolchen Anblicke werden, wie in der
erſten Liebe, uns alle Menſchen zwar naͤher und
lieber, aber kleiner. Er dachte mehr an Plato
als an Knol und ſich, und traͤumte ſich blos in
die Stunde, wo er recht lange daruͤber mit Gol¬
dinen ſprechen koͤnnte. „Peter Gottwalt” hatt' er
geantwortet:


„„Harniſch”” muß noch bei” ſagte ſein
Vater.


„Deſſen ſelben Eltern und Wohnort?” —
fragte Knol — Walt hatte die beſten Antworten
bei der Hand.


„Iſt Hr. Harniſch ehelich geboren?” fragte
Knol — Gottwalt konnte ſchamhaft nicht ant¬
worten. „Das Taufzeugnis iſt geloͤſet”, ſagte
der Schulz. „Es iſt nur um Ordnung willen”,
ſagte Knol, und fragte weiter:


„Wie alt?” —


[93]

„So alt als mein Bruder Vult, (ſagte
Walt), vier und zwanzig“ — Jahre naͤmlich,
ſagte der Vater.


„Was Religion?— Wo ſtudirt? u. ſ. w.“


Gute Antworten fehlten nicht.


„Wen hat H. H. von den Kontrakten gele¬
ſen? — Wie viele Perſonen ſind zu einem Ge¬
richte erforderlich? — Wie viel weſentliche Stuͤk¬
ke gehoͤren zu einem ordentlichen Prozeſſe?“ —
Der Notariand nannte ſehr noͤthige, ſchlug aber
die UngehorſamsBeſchuldigung nicht an. „Nein,
Herr, 13 ſinds ſchon nach Beieri Volkmanno
emendato
“, ſagte der Pfalzgraf heftig.


„Hat man Kaiſer Maximilians Notariats-
Ordnung von anno 1512 zu Coͤlln aufgerichtet
nicht nur oft, ſondern auch recht geleſen?“ fragt
er weiter.


„Sauberer und eigenhaͤndiger konnte mans
ihm nicht abſchreiben, als ich, H. Hofpfalzgraf!“
ſagte der Schulz.


„Was ſind Lytae?“ fragte der Knol.


Lytae oder litones oder Leute, (antwor¬
tete freudig Walt, und Knol rauchte ruhig zu
[94] ſeiner Vermengung fort) waren bei den alten
Sachſen Knechte, die noch ein Drittel Eigenthum
beſaßen und daher Kontrakte ſchließen konnten. —


„Eine Zitazion dazu!“ ſagte der Pfalzgraf.


„Moͤſer“, verſezte Walt.


„Sehr wohl — antwortete der Fiſkal ſpaͤt und
ruͤkte die Pfeife in die Ecke des formloſen Mundes,
der nur einer aufgeſchlizten Wunde glich, die man
ihm ins Siberien des Lebens mit gegeben — ſehr
wohl! Aber lytae ſind ſehr verſchieden von li¬
tonibus
; lytæ ſind die jungen Juriſten, die zu
Juſtinianus Zeiten im vierten Jahre ihres Kur¬
ſes den Reſt der Pandekten abſolvierten*); und
die Antwort war eine Ignoranz.“


Gottwalt antwortete gutmuͤthig: wahrhaf¬
tig, das hab' ich nicht gewuſt.


„So wird man wohl auch nicht wiſſen, was
auf den Struͤmpfen, die der Kaiſer bei der Kroͤ¬
nung in Frankfurt anhat, ſteht?“ — Ein Zwik¬
kel, Gottwalt, ſouflirte hinter ihm Goldine.
„Natuͤrlich, fuhr Knol fort; H. Tychſen hat es
uns folgender Geſtalt ins Deutſche uͤberſezt aus
[95] dem arabiſchen Texte: „„ein praͤchtiges koͤnigli¬
ches Strumpfband.““ — Daruͤber, uͤber den
Text und Ueberſezer der Struͤmpfe, fuhr das Maͤd¬
chen in ein freies Gelaͤchter aus; aber Vater und
Sohn nikten ehrerbietig.


Unmittelbar nachdem Walt aus der durch¬
loͤcherten Fiſchwage des Examens bloͤde und ſtumm
geſtiegen war, gieng der Pfalzgraf ans Kreiren.
Er ſprach mit der Pfeife und auf dem Seſſel Wal¬
ten den NotariatsEid auswendig zum Erſtaunen
aller vor; und Walt ſagte ihn mit geruͤhrter
Stimme nach. Der Vater nahm die Muͤze ab;
Goldine hielt ihre Strumpfwirkerei innen. Der
erſte Eid macht den Menſchen ernſt; denn der
Meineid iſt die Suͤnde gegen den h. Geiſt, weil
er mit der hoͤchſten Beſonnenheit und Frechheit
ganz dicht vor dem Throne des moraliſchen Geſe¬
zes begangen wird.


Jezt wurde der Notarius bis auf das lezte
Glied, auf die Ferſen gar ausgeſchaffen. Dinte,
Feder und Papier wurden ihm von Knolen —
uͤberreicht und dabei geſagt, man inveſtire ihn
hiemit. Ein goldner Ring wurde ſeinem Finger
[96] angeſtekt und ſogleich wieder abgezogen. Endlich
brachte der Comes palatinus ein rundes Kaͤp¬
chen (Baretlein hies ers) aus der Taſche und ſezte
es dem Notarius mit dem Beifuͤgen auf den Kopf,
eben ſo ohne Falten und rund ſollen ſeine Nota¬
rienHaͤnde ſeyn.


Goldine rief ihm zu, ſich umzudrehen; er
drehte ihr und Vulten ein paar große blaue un¬
ſchuldige Augen zu, eine hochgewoͤlkte Stirne und
ein einfaches beſeeltes durchſichtiges mehr von
der innern als von der aͤußern Welt, ausgebilde¬
tes Geſicht mit einem feinen Munde, welches
auf einem etwas ſchiefen Torſo ſtand, der wieder
ſeiner Seits auf eingeklapten KnieWinkeln ruhte;
aber Goldinen kam er laͤcherlich und dem Bruder
wie ein ruͤhrendes Luſtſpiel vor, und im Schanz¬
looper wie ein Meiſterſaͤnger aus Nuͤrnberg. Noch
wurd' ſein NotariatsSignet und das in Haslau
verfaßte Diplom dieſer Wuͤrde uͤbergeben; —
und ſo hatte Knol in ſeiner Glashuͤtte mit ſeiner
Pfeife den Notarius fertig und rund geblaſen —
oder blos in einer andern Metapher, er brachte
aus dem Bakofen einen ausgebaknen ofnen ge¬
ſchwornen Notaris auf der Schaufel heraus.


[97]

Hierauf gieng dieſer zum Vater, und ſagte
geruͤhrt mit HaͤndeDruͤcken: wahrhaftig, Vater,
ihr ſollet ſehen, welche Wogen auch ..... „Mehr
konnt' er nicht vor Ruͤhrung oder Beſcheidenheit
ſagen.“ Konſideriere beſonders, Perer, daß du
Gott und dem Kaiſer geſchworen, bei Teſtamenten
„abſonderlich derer Hoſpitaͤler und anderer noth¬
„duͤrftiger Perſonen, desgleichen gemeine Wege
„befoͤrdern zu helfen.“ — Du weiſt, wie ſchlecht
die Wege ums Dorf ſind, und unter den noth¬
duͤrftigen Perſonen biſt du die allererſte. „— Nein
ich will die lezte ſeyn,“ verſezte der Sohn. Die
Mutter gab dem Vater einen ſilberhaltigen Papier-
Wickel — denn die Menſchen verſilbern, ſo zu ſagen,
die Pille des rohen Geldes einander durch Papier,
erſtlich aus feiner Schonung des fremden Eigennu¬
zes, und zweitens um es zu verſtecken, wenn es
zu wenig ſeyn ſollte —; der Vater druͤkt' es hoͤflich
in die Fiſkaliſche lang gedehnte haarige Hand mit
den Worten: „pro rata, H. HofFiſkalis! Es iſt
das SchwanzGeld von unſerer Kuh und etwas dar¬
uͤber. — Vom Kaufſchilling des Viehs ſoll der No¬
tarius auskommen in der Stadt. — Morgen reitet
Flegeljahre I. Bd. 7[98] er das Pferd des Fleiſchers hinein, der ſie uns abge¬
kauft. Es iſt blutwenig, aber aller Anfang iſt
ſchwer; beim Aufgehen der Jagd hinken die Hunde
noch; ich habe manchen gelehrten Hungerleider ge¬
ſehen, der Anfangs von nichts lebte. — Sei nur
beſonders vigilant, Peter, denn ſobald der Menſch
auf der Welt einmal etwas Braves gelernt — —


„Ein Notarius — fieng heiter Knol, unter
dem GeldEinſtecken, an, und hielt die Pfeife lan¬
ge ans Licht, eh' er fortfuhr — iſt zwar nichts
Sonderliches, im Reiche ſind viel, naͤmlich No¬
tarii, ſagt' der ReichsAbſchied von 1500 Art. XIV,
wiewohl ich ſelber meines Orts nur Notarien ma¬
chen kann, und doch kein Inſtrument.“ —


„Wie mancher Pfalzgraf und mancher Vater
— ſagte leiſe Goldine — keine Gedichte, aber doch
einen Dichter.“ —


„Indes iſt in Haslau — fuhr er fort — ſo oft
bald ein Teſtament, bald ein Interrogatorium,
bald ein Vidimus, zuweilen, aber hoͤchſt ſelten
eine donatio inter vivos zu machen; falls nun
der junge Menſch advoziert“ —


„Das muß mein Peter,“ ſagte Lukas —


[99]

„— Falls ers aber — fuhr er fort — recht
macht, anfangs ſchlechte, zweideutige Prozeſſe
mit Freuden annimmt, weil große Advokaten ſie
von der Hand weiſen, leztere haͤufig konſultiert,
ſich windet und buͤkt und dreht“ —


„So kann er ein rechtes Waſſer auf desjenigen
Muͤhle werden, der ſein Vater iſt, ja eine ganze
Muͤhlwelle; er kann ihm ja nach Gelegenheit von
Zeit zu Zeit ein betraͤchtliches Stuͤk Geld zufertigen“
— ſagte der Vater —


„O meine Eltern, wenn ich das einmal koͤnn¬
te!“ ſagte leiſe Walt entzuͤkt.


„O Gott, ſteh' mir bei, ſagte Lukas zornig,
wer denn ſonſt? Etwan dein Spizbube, dein Land¬
laͤufer und Queerpfeifer, der Vult? —


Dieſer ſchwur auf ſeinem Baume, vor einem
ſolchen Vater ſich ewig zu verkappen.


„Falls nun — fuhr Knol lauter und unwillig
uͤber das Stoͤren fort — der junge Anfaͤnger kein
eingebildeter Narr oder Neuling iſt, ſondern ein
Menſch, der blos im juriſtiſchen Fache lebt und
webt, wie hier ſein vernuͤnftiger Vater, der viel¬
leicht mehr vom Jus verſteht. . . . .


[100]

Nun konnte Lukas ſich nicht mehr halten: „H.
„HofFiſkalis! Peter hat ſeines Vaters Sinn nicht;
„mich haͤtte man jura laſſen ſollen. Gott! ich hatte
„Gaben und mein Pferdgedaͤchtniß und Sizfleiſch.
„— Es iſt nur ein ſchlechter Gerichtsmann, der
„nicht zugleich ein Ziviliſt — ein Kameraliſt — ein
„Kriminaliſt — ein Feudaliſt — ein Kanoliſt — ein
„Publiſt iſt, ſo weit er kann. Laͤngſt haͤtt' ich
„dieſes mein Amt niedergelegt — denn was zieh' ich
„weiter davon, als jaͤhrlich 3 Scheffel Beſoldung
„und die FasKanne und viel Verſaͤumnis und Ver¬
„druͤßlichkeit — waͤr' im ganzen Dorf ein Menſch
„zu haben, ders wieder naͤhme und ſcharmant ver¬
„ſaͤhe. Wo ſind denn die vielen Schulzen hier zu
„Lande, die vier Schulzenordnungen im Hauſe ha¬
„ben wie ich, naͤmlich die alte gothaiſche, die chur¬
„ſaͤchſiſche, die wuͤrtembergiſche und die Haarhaa¬
„riſche? — Und ſez' ich nicht jede Buͤcherlotterie
„und verſtehe die geſcheuteſten Sachen, unter an¬
„dern: „Julii Bernhards von Rohr vollſtaͤndi¬
„„ges HaushaltungsRecht, in welchem die nuͤz¬
„„lichſten Rechtslehren, welche ſowohl bei den
„„Landguͤtern uͤberhaupt, derſelben Kauffung,
[101] „„Verkauffung und Verpachtung als inſonderheit
„„bei dem Ackerbau, ꝛc. ꝛc. und an¬
„„dern oͤkonomiſchen Materien vorkommen, der
„„geſunden Vernunft, denen roͤmiſch- und teut¬
„„ſchen Geſezen nach ordentlich abgehandelt wer¬
„„den, allen denenjenigen, ſo Landguͤter beſizen,
„„oder dieſelben zu administriren haben, hoͤchſt
„„nuͤzlich und ohnentbehrlich. Die andere Auf¬
„„lage. Leipzig, 1738 verlegts J. Ch. Martini,
„„Buchhaͤndler in der Grimmiſchen Straße.““


„Es macht aber zwei Baͤnde, ſehen Sie!“
Ich habe ſie ſelber, ſagte Knol. — „Nun wohl!
(ſchlos der Vater daraus weiter fort). Muß ein
Gerichtsmann nicht wie ein Hufſchmidt, die Ta¬
ſchen ſchon im Schurzfell bei der Hand haben, nicht
erſt in den Hoſen? O du lieber Gott, H. Fiſkalis,
wo zu pfaͤnden iſt — zu taxieren — zu einquartieren
— muͤndlich und ſchriftlich Unzaͤhliges anzuzeigen
— wo Kraͤnze und Brunnen zu machen, Zigaͤuner
aus dem Lande zu jagen, auf Straßen und Feuer¬
ſchau zu ſchauen — wo in Doͤrfern Peſten, Exzeſ¬
ſe, Spizbuͤbereien ſind: — da iſt ja ein Gerichts¬
mann der erſte dabei, und zeigt die Sachen an, ſo¬
[102] wohl bei loͤblicher Landeshauptmannſchaft, als,
wenn der Fall, bei der Ritterſchaft. Was Wetter!
da kann er nicht wie eine Kanzeluhr, die Woche nur
einmal gehen, Tag fuͤr Tag laͤuft er zum groͤſten
Schaden ſeiner Wirthſchaft in alle Loͤcher — in alle
Felder und Waͤlder — in alle Haͤuſer und nachher
in die Stadt und rapportierts muͤndlich, worauf
ers ſchriftlich aus der Taſche zieht. Es ſollen mir
Pferdner und Anſpaͤnner oder Hinterſaͤttler hertre¬
ten und ſagen: Lukas, laſſe die Flauſen! Du biſt
auch da und da fahrlaͤßig geweſen! O ſolche große
Verlaͤumder! ſehen Sie dann nicht, daß ich mich
daruͤber Klaftertief in Schulden ſteke, und waͤre
kuͤnftig der Notarius und Tabellio nicht“ . . . .


„Hoͤr' einmal auf, Gerichtsmann, ſagte
Veronika, und wandte ſich an den Fiſkal, deſ¬
ſen Schuldner ihr Mann war — H. Fiſkal, er
ſagt das nur ſo, um etwas zu ſagen. Begehren
Sie nichts? — Und ich habe nachher eine große
Frage zu thun.“


Lukas ſchwieg ſehr willig und ſchon gewohnt,
daß in ſeiner EheSonatine die linke Hand, die
Frau, weit uͤber die rechte herauf grif in die hoͤch¬
ſten Toͤne zum harmoniſchen Vortheil.


[103]

„Er ſchnapſe gern vor dem Eſſen“ (verſezte
Knol zu Walts Erſtaunen uͤber ein ſolches Poſtil¬
lonsZeitwort von einem Stadt- und Hofmann.)


Die Mutter gieng, und brachte in der einen
Hand das ExtrapoſtBlut und Elementarfeuer,
aber in der andern ein dickes Manuſkript. Walt
nahm es ihr blutroth weg. Goldinens Augen
ſchimmerten entzuͤkt. „Du muſt aus dem Lieder¬
buch leſen, ſagte die Mutter, der gelehrte Herr
ſollen ſagen, ob es taugt. H. Kandidat Scho¬
naker will es ſehr loben.“


Und ich lob' es wirklich, ſagte Goldine. Da
trit der Kandidat ſelber herein, warf ſich blos
vor dem Fiſkale krumm, und ſalutirte mit blizen¬
denAugen. Er ſah aus allen, daß Freuden-
Poſ[t] des Teſtaments noch nicht in der Stube
erſchollen war. „Sehr ſpaͤt, ſagte Lukas, der
exzelente Aktus iſt ganz vorbei.“ Ausfuͤhrlich
betheuerte der Kandidat, er ſei erſt gegen Veſper¬
zeit ais der Stadt gekommen; ich ſteh' auch —
ſagte er, und ſah gern den Schulzen an, vergnuͤgt,
daß er nicht einen ſo vornehmen und bedenklichen
Herrn, wie Knol, beſchauen muſte — ſchon ſeit
[104] einer geraumen Viertheil Stunde unten im Hofe,
habe mich aber vor fuͤnf Gaͤnſen, welche vor der
Thuͤre Fluͤgel und Schnabel gegen mich aufge¬
machet, nicht hereingetraut.“ — „Nein, ſechs
warens,“ ſagte die ſatiriſche Juͤdin. „Oder auch
ſechs, verſezte er; genung, eine iſt genung, we
ich geleſen, um einen Menſchen durch einen wuͤ¬
thigen Biß ganz toll und waſſerſcheu zu machen.'


Ah ça! wandt' er ſich zu Walten (mehr
franzoͤſiſch konnt' er nicht), Ihre Polymeter!“ —
„Was ſinds?“ fragte Knol trinkend. „Herr Grai,
(ſagte Schomaker, und lies die Pfalz weg) in
der That eine neue Erfindung des jungen Kand¬
daten, meines Schuͤlers, er machet Gedichte nach
einem freien Metrum, ſo nur einen einzigen, aber
reimfreien Vers haben, den er nach Belieben ver¬
laͤngert, ſeiten-bogenlang; was er den St [...]ek¬
vers
nennt, ich einen Polymeter.“


Vult fluchte aus Ungeduld zwiſchen den Ae¬
pfeln. Walt ſtellte ſich endlich mit dem Nanu¬
ſkripte und mit dem Profil ſeiner Bogenſtim und
ſeiner graden Naſe vor das Licht — blaͤtterte uͤber
alle Beſchreibung lange und bloͤde nach dem Fron¬
[105] tiſpiz ſeines Muſentempels — der Kandidat that
mit der einen Hand in der Weſte, mit der andern
in der Hoſe drei StrekSchritte nach Vults Fenſter,
um hinaus zu — ſpuken. Stotternd, aber mit
ſchreiender ungebildeter Stimme fieng der Dich¬
ter an:

Nro. 9. Schwefelblumen.

Strekverſe.


„Ich weis nicht, ich finde jezt kein rechtes
Gedicht, ich muß auf gerathewohl ausheben:
Der Wiederſchein des Veſuvs im Meer.


„Seht, wie fliegen drunten die Flammen un¬
ter die Sterne, rothe Stroͤme waͤlzen ſich ſchwer
um den Berg der Tiefe, und freſſen die ſchoͤnen
Gaͤrten. Aber unverſehrt gleiten wir uͤber die
kuͤhlen Flammen, und unſere Bilder laͤcheln aus
brennender Woge.“ Das ſagte der Schiffer er¬
freut, und blikte beſorgt nach dem donnernden
Berg' auf. Aber ich ſagte: ſiehe, ſo traͤgt die
Muſe leicht im ewigen Spiegel den ſchweren
Jammer der Welt, und die Ungluͤklichen blicken
hinein, aber auch ſie erfreuet der Schmerz.


[106]

Was weint denn der wunderliche Menſch,
da er ja alles ſelber ſich ausgeſonnen? rief Lukas.
„Weil er ſelig iſt,“ ſagte Goldine, ohne es zu
treffen; es war blos das Weinen der Bewegung,
die weder eine entzuͤkte, noch betruͤbte, ſondern
nur eine Bewegung zu ſeyn braucht. Er las
jezt:


Der Kinderſarg in den Armen.


Wie ſchoͤn, nicht nur das Kind wird leicht
in den Armen gewiegt, auch die Wiege.
Die Kinder.


Ihr Kleinen ſteht nahe bei Gott, die kleinſte
Erde iſt ja der Sonne am naͤchſten.


Der Tod unter dem Erdbeben.*)


Der Juͤngling ſtand neben der ſchlummern¬
den Geliebten im Myrtenhaine, um ſie ſchlief
der Himmel und die Erde war leiſe — die Voͤgel
ſchwiegen — der Zephyr ſchlummerte in den Ro¬
ſen ihres Haars und ruͤkte kein Loͤkgen. Aber das
Meer ſtieg lebendig auf, und die Wellen zogen
[107] in Heerden heran. Aphrodite, betete der Juͤng¬
ling, du biſt nahe, dein Meer bewegt ſich ge¬
waltig, und die Erde iſt furchtſam, erhoͤre mich
herrliche Goͤttin, verbinde den Liebenden ewig mit
ſeiner Geliebten. Da umflocht ihm mit unſicht¬
barem Neze den Fuß der heilige Boden, die Myrten
bogen ſich zu ihm, und die Erde donnerte, und
ihre Thore ſprangen ihm auf. — Und drunten
im Elyſium erwachte die Geliebte, und der ſeelige
Juͤngling ſtand bei ihr, denn die Goͤttin hatte
ſein Gebet gehoͤrt.


Vult fluchte gewaltig im Laube vor lauter
Jubel, ſeine ſonſt leicht zufallende Seele ſtand
weit den Muſen offen: „liebes Gottwaͤltlein!
Du allein ſollſt mich kennen lernen; ja bei Gott,
das geht an, das muß er mit ausfuͤhren — Him¬
mel! wie wird der bloͤde goͤttliche Narr erſtaunen,
wenn ichs ihm vorlege,” ſagte er, und hatte
einen neugebornen Plan im Sinne.


Ich ſollte meynen, (ſagte Schomaker), daß
er die Auktoren der Anthologie nicht ohne Nuz
unter mir ſtudieret.


[108]

Da Knol nicht antwortete, ſagte der Vater:
lies weiter. Mit ſchwaͤcherer Stimme las Walt.


Bei einem brennenden Theater¬
vorhang
.


Neue erfreuliche Spiele zeigteſt du ſonſt, ſtiegſt
du langſam hinauf. Jzt verſchlingt dich ſchnell
die hungrige Flamme, und verworren, unſeelig
und dampfend erſcheint die Buͤhne der Freude.
Leiſe ſteige und falle der Vorhang der Liebe, aber
nie ſink' er als feurige Aſche auf immer darnieder.
Die naͤchſte Sonne.


Hinter den Sonnen ruhen Sonnen im lezten
Blau, ihr fremder Strahl fliegt ſeit Jahrtauſen¬
den auf dem Wege zur kleinen Erde, aber er
kommt nicht an. O du ſanfter, naher Gott,
kaum thut ja der Menſchengeiſt ſein kleines, jun¬
ges Aug auf, ſo ſtrahlſt du ſchon hinein, o Sonne
der Sonnen und Geiſter!


Der Tod eines Bettlers.


Einſt ſchlief ein alter Bettler neben einem ar¬
men Mann und ſtoͤhnte ſehr im Schlaf. Da rief
der Arme laut, um den Greis aus einem boͤſen
Traum aufzuwecken, damit den matten Buſen
[109] nicht die Nacht noch druͤcke. Der Bettler wurde
nicht wach, aber ein Schimmer flog uͤber das
Stroh; da ſah der Arme ihn an, und er war jezt
geſtorben; denn Gott hatt' ihn aus einem laͤngern
Traum aufgewekt.


Die alten Menſchen.


Wohl ſind ſie lange Schatten, und ihre Abend¬
ſonne liegt kalt auf der Erde; aber ſie zeigen alle
nach Morgen.


Der Schluͤſſel zum Sarge.


„O ſchoͤnſtes, liebſtes Kind, feſt hinunter
geſperrt ins tiefe dunkle Haus, ewig halt' ich den
Schluͤſſel deiner Huͤtte, und niemals, niemals
thut er ſie auf!“ — Da zog vor der jammern¬
den Mutter die Tochter bluͤhend und glaͤnzend die
Sterne hinan, und rief herunter: Mutter, wirf
den Schluͤſſel weg, ich bin droben und nicht
drunten.

Nro. 10. Stinkholz.

Das Kapaunengefecht der Proſaiſten.


„O Himmel, waͤrs nur Morgen, Bruͤder¬
lein! Es iſt verdammt, man ſollte nie paſſen
[110] muͤſſen,“ ſagte Vult. — „Ich habe genug,” ſagte
Knol, der bisher die eine Tabakswolke gerade ſo
gros und ſo langſam geſchaffen hatte, wie die
andere. — „Ich meines Parts, ſagte Lukas,
kann mir nichts rechts daraus nehmen, und den
Verſen fehlt auch der rechte Schwanz, aber gieb
her.“ — „Fromme und traurige Sachen ſtehen
wohl darinn, ſagte die Mutter. Gottwalt hatte
Kopf und Ohren noch in der goldnen Morgen¬
wolke der Dichtkunſt, und außen vor der Wolke
ſtehe, kam es ihm vor, der ferne Plato als Son¬
nenball und durchgluͤhe ſie. Der Kandidat Scho¬
maker ſah ſcharf auf den Pfalzgrafen und paſſete
auf Entſcheidungen. Aus religioͤſer Freiheit glaub¬
te er, uͤberall zu ſuͤndigen, wo er eilen ſollte und
wagen. Daher hatt' er nicht den chirurgiſchen
Muth, ſeine Schulkinder ordentlich zu pruͤgeln
— er aͤngſtigte ſich vor moͤglichen Frakturen,
Wundfiebern und dergleichen — ſondern er ſuchte
ſie von weitem zu zuͤchtigen, indem er in einer
Nebenkammer dem Zuͤchtling entſezliche Zerrge¬
ſichter vorſchnitt.


„Meine Meinung, — fieng Knol mit boͤ¬
[111] ſem Niederzug ſeiner ſchwarzwaldigen Augenbrau¬
nen an — iſt ganz kurz dieſe: Dergleichen iſt
wahrlich rechter Zeitverderb. Ich verachte einen
Vers nicht, wenn er lateiniſch iſt, oder doch ge¬
reimt. Ich machte ſelber ſonſt als junger Gelb¬
ſchnabel dergleichen Poſſen und — ſchmeichl' ich
mir nicht —, etwas andere als dieſe. Ja als
comes palatinus kreier' ich ja eigenhaͤndig Poe¬
ten, und kann ſie alſo am wenigſten ganz verwer¬
fen. Kapitaliſten oder Rittergutsbeſizer, die nichts
zu thun und genug zu leben haben, koͤnnen in der
That Gedichte machen und leſen, ſo viele ſie wol¬
len; aber nur kein geſezter Menſch, der ſein gutes
ſolides Fach hat und einen vernuͤnftigen Juriſten
vorſtellen will — der ſoll es verachten, beſonders
Verſe ohne allen Reim und Metrum, dergleichen
ich 1000 in einer Stunde hecke, wenn's ſeyn
mus“ —


Vult genos ſtill den Gedanken, daß er in
Haslau ſchon Zeit und Ort finden werde, dem
Pfalzgrafen durch Oel ins Feuer und durch Waſ¬
ſer ins brennende Oel zur Belohnung irgend ein
Bad zu bereiten und zu geſegnen. — Und doch
[112] konnt' ers vor Zorn kaum aushalten, wenn er
bedachte, daß der Kandidat und der Pfalzgraf ſo
lange da ſtanden, ohne des erfreuenden Teſta¬
ments zu gedenken. Haͤtt' er ſehen und ſchreiben
koͤnnen, er haͤtte einen Stein mit einem Rapport-
Wickel als ſanfte Taubenpoſt durchs Fenſter flie¬
gen laſſen.


„Hoͤrſt du? ſagte Lukas. Sie ſind auch eben
nicht ſchoͤn geſchrieben, wie ich ſehe“ und machte
blaͤtternd einen Verſuch, das Manuſkript ins Licht
hinein zu halten. Aber der bisher halbgeſenkt in
die Flamme blickende Dichter entris es ihm ploͤz¬
lich mit greifender Fauſt. — „In den Nebenſtun¬
den aber denn doch ſo etwa?“ fragte Schomaker,
fuͤr welchen der einzige Titel HofFiskal einen
RuprechtsZwilling und Doppelhaken in ſich fa¬
ſte; denn ſchon, wo einem Worte Hof oder Leib
zum Vorſprung anhieng — und wars an einem
Hofpauker oder Leibvorreiter —: da ſah er in eine
gehelmte Vorrede (præfatio galeata) und hatte
ſeine Schauer; wie vielmehr bei dem Worte Fis¬
kal
, das jeden auf Pfaͤhle oder in Thuͤren zu
ſtecken drohte.


[113]

„In meinen Nebenſtunden, verſezte Knol,
las ich alle moͤgliche auftreibliche Aktenſtuͤcke und
wurde vielleicht das, was ich bin. Ueberſpannte
Floskeln hingegen greifen zulezt in dem Geſchaͤfts¬
ſtil Plaz und vergiften ihn ganz; ein Gericht wei¬
ſet dergleichen dann zuruͤck als inept. — Natuͤr¬
lich denn und verzeihlich daher, (fieng Schoma¬
ker als Selbſtkrumſchließer an) daß ich aus Un¬
kunde der Rechtskunde, dieſe mit der Poeſie ver¬
einbaren wollen; aber ganz wahrſcheinlich deshalb,
daß H. Harniſch, ſeinem alleinigen Fache heißer
ſich weihend, nun ganz vom poetiſchen abſteht:
nicht gewis, gewis H. Notar?“


Da fuhr und ſchnaubte der bisher ſanfte
Menſch — den Abfall des ſonſt lobenden Lehrers
fuͤr eine Hofmaͤnnerei anſehend, die gleich einem
Balbiermeſſer ſich vor- und ruͤkwaͤrts beugt,
obgleich Schomaker blos nicht faͤhig war, ſo auf
der Stelle, in der Schnelle, einem ThronDiener
gegenuͤber, und bei der Liebe fuͤr den Schuͤler im
Herzen ſogleich das Jus auszufinden, ſondern
immer zu leicht fuͤrchtete, unter der Hand gegen
ſeinen Fuͤrſten zu rebellieren, indes er ſonſt bei dem
Flegeljahre I. Bd. 8[114] Bewuſtſeyn des Rechts jeder Noth und Gewalt
entgegengezogen waͤre — da ſchnaubte der ſanfte
Walt wie ein getroffener Loͤwe empor, ſprang
vor den Kandidaten, und ergrif deſſen Achſeln
mit beiden Haͤnden und ſchrie aus lang gemarter¬
ter Bruſt ſo heftig auf, daß der Kandidat wie
vor nahem Todtſchlag aufhuͤpfte: „Kandidat!
bei Gott, ich werde ein guter Juriſt von fleißiger
Praxis, meiner armen Eltern wegen. Aber Kan¬
didat, ein Donnerkeil ſpalte mein Herz, der Ewige
werfe mich dem gluͤhendſten Teufel zu, wenn ich
je den Strekvers laſſe und die himmliſche Dicht¬
kunſt.“


Hier ſah er wild ausfordernd umher und ſag¬
te wichtig: ich dichte fort — alle ſchwiegen
erſtaunt — in Schomaker hielt noch halbes
Leben — Knol allein zeigte ein grimmiges eiſernes
Laͤcheln — auch Vult wurde auf ſeinem Aſte wild,
ſchrie: recht, recht und grif blindlings nach un¬
reifen Pelzaͤpfeln, um eine Handvoll gegen die
proſaiſche Seſſion zu ſchleudern. — Darauf gieng
der Notar als Sieger hinaus, und Goldine gieng
ihm mit dem Murmeln nach: es geſchieht Euch
recht, Ihr Proſaner! —


[115]

Wider Vults Erwarten ſtellte der Notarius
ſich unter ſeinen Apfelbaum, und hob nach der
Sternenſeite des Lebens, nach dem Himmel, das
beſeelte Antliz, auf welchem alle ſeine Gedichte
und Traͤume zu zaͤhlen waren. Beinahe waͤre
der Floͤtenſpieler auf die verlezte Bruſt als ein
weicher Pfuͤhl herabgefallen; er haͤtte gern den
naſſen guten Sangvogel, dem es wie der Lerche
gegangen, die auf das todte Meer, als waͤre
es bluͤhendes Land, herunterſtuͤrzt und darinn
erſaͤuft, hoch unter die troknende Sonne gehalten;
aber Goldinens Ankunft verbot die ſchoͤne Erken¬
nung, ſie nahm Walts Hand, aber er ſchaute
noch immer mit tauben Augen nach der Hoͤhe,
wo nur helle Sterne, keine truͤbe Erde ſtanden:
„H. Gottwalt, ſagte ſie, denken Sie nicht mehr
uͤber die proſaiſchen Pinſel. Sie haben ſie abge¬
trumpft. Dem Juriſten ſtreu ich heute noch
Pfeffer in den Tabak und dem Kandidaten Tabak
in den Pfeffer.“ „Nein liebe Goldine, fieng er
mit ſchmerzlich ſanfter Stimme an, nein, ich
war es heute nicht werth, daß mich der große,
Plato kuͤſſe. War es denn moͤglich? — Gott!
[116] es ſollte ein froher lezter Abend werden. — Theuere
Eltern geben ſchwer erdarbtes Geld zum Notariate
her — der arme Kandidat giebt mir von Kindes¬
beinen an Lehrſtunden faſt in allem — Gott ſegnet
mich mit dem Himmel an Platos Herzen — —
und ich Satan fahre ſo hoͤllisch auf! O Gott,
o Gott! — Aber mein alter Glaube, Goldine,
wie trift er immer ein: nach jeder rechter inniger
Seeligkeit des Herzens folgt ein ſchweres Ungluͤk.“


„Das dacht' ich gleich, ſagte Goldine zornig,
man ſchlage Sie ans Kreuz, ſo werden Sie eine feſt¬
genagelte Hand vom Queerbalken losarbeiten, um
damit einem Kriegsknecht ſeine zu druͤcken. —
Haben denn Sie oder die Strohkoͤpfe droben den
heutigen Weinmonat, ich moͤchte ſagen zum Wein¬
eſſigmonat, verſaͤuert?“ „Ich kenne, verſezte er,
keine andere Ungerechtigkeiten gewis und genau,
als die ich an andern veruͤbe; — die ſo andere
an mir begehen, koͤnnen mir wegen der Ungewi߬
heit der Geſinnungen nie ganz klar und entſchie¬
den ſeyn. Ach es giebt ja mehr Irthuͤmer des
Haſſes als der Liebe. Wenn nun einmal eine
Natur, welche die Antitheſe und Diſſonanz der
[117] meinigen iſt, exiſtiren ſollte, wie von allem die
Antitheſen: ſo koͤnnte ſie mir ja leicht begegnen;
und da ich eben ſo wohl ihre Diſſonanz bin, als
ſie meine, ſo hab' ich nicht mehr uͤber ſie zu kla¬
gen, als ſie uͤber mich.“


Goldine konnte, wie Vult, nichts gegen dieſe
Denkweiſe einwenden, aber beiden war ſie aͤuſſerſt
verdruͤslich. Da rief ſanft die Mutter den Sohn
und heftig der Vater: „renne, Peter, renne,
wir ſtehen im Teſtament, und werden vorbeſchie¬
den auf den 13ten hujus.“

Nro. II.Fiſetholz.

Luſt Chaos.


Der Pfalzgraf hatte das Erſtarren uͤber
Walts Sturmlaufen mit der Bemerkung fluͤſſiger
gemacht, daß der „Sansfaçon“ es nicht verdie¬
ne, in einem wichtigen Teſtament zu ſtehen,
zu deſſen Eroͤfnung er ihn vorzuladen habe, und
deſſen Bedingungen ſich eben nicht ſehr mit der
Reimerei vertruͤgen. Da war das Anſchlagerad
und der Daͤmpfer gerichtlich von des Schulmei¬
ſters ton- und wortvoller Seele abgehoben, und
[118] er konnte nun alle Glocken laͤuten — er wuſte
und gab die angenehmſten Artikel des Teſtaments,
welche der Fiſkal durch die unangenehmen ganz
beſtaͤtigte. Der Kandidat handelte ſolange unge¬
woͤhnlich ſauft nach einer Beleidigung, bis man
ihn erſuchte, ſie zu vergeben. Lukas rief ſchon
im halben Hoͤren Walten wie toll hinein, um
nur etwas zu reden.


Von zarter Schamroͤthe durchdrungen er¬
ſchien dieſer — niemand gab auf ihn Acht —
man ſtekte im Teſtamente, ausgenommen Knol.
Dieſer hatte gegen den Juͤngling ſeit deſſen Vor¬
leſen einen ordentlichen Haß gefaßt — ſo wie die
Muſik zwar Nachtigallen zum Schlagen reizt,
aber Hunde zum Heulen — weil ihm der eine
Umſtand, daß ein ſo ſchlechter poetiſcher Juriſt
mehr als er erben ſollte, (was ſeinen Fiſkaliſchen
Kern anfras) mehr wehe that, als der andere
ſuͤs, daß ſein Eigennuz ſelber keinen Erben haͤtte
ausleſen koͤnnen, der geſchikter waͤre, die Erb¬
ſchaft zu verſcherzen.


Walt hoͤrte geruͤhrt der Wiederholung und
Forterzaͤhlung der ErbAemter und der Erbſtuͤcke
[119] zu. Als um Lukas Ohren jezt die Worte 11000
Georgd'ors in der SuͤdſeeHandlung und zwey
Frohnbauern ſamt Feldern in Elterlein flatterten,
ſtand ſein Geſicht, das der ploͤzliche warme Suͤd-
Zephyr des Gluͤckes umſpuͤhlte, wie zergangen
und verbluͤht da, und er fragte: den 15ten? 11000?
— Darauf warf er ſeine Muͤze, die er in der
Hand hatte, weit uͤber die Stube weg — ſagte:
den hujus dieſes? — Darauf ſchleuderte er ein
Bierglas gegen die Stubenthuͤre uͤber Schoma¬
kern weg: Gerichtsmann, rief die Frau, was
iſt Euch? — „Ich habe ſo mein Gaudium, ſagte
er. Nun aber komme mir der erſte beſte Hund
aus der Stadt, ich will ihn lauſen, breit tret
ich das Vieh. Und wir werden alle geadelt,
wie wir hier ſizen, und ich bleibe der adeliche
Gerichtsherr — oder ich werde der Gerichthalter
und ſtudiere. Und auf meine Kabelſchen Grund¬
ſtuͤcke ſaͤe ich nichts als Reps.“


„Mein Freund, ſagte verdruͤslich der Fiſkal,
Sein poetiſcher Sohn hat noch vorher einige Nuͤſſe
aufzubeiſſen, dann iſt der der Erbe.“ — Mit
FreudenThraͤnen trat der Notar zum enterbten
[120] Fiſkal, und zog deſſen zaͤhe Haͤnde mit der Ver¬
ſicherung an ſich: „glauben Sie mir, Freuden-
Bote und Evangeliſt, ich werde alles thun, um
die Erbſchaft zu erringen, alles was Sie gefodert
haben“ — (Was wollt Ihr mit mir, ſagte Knol
die Haͤnde wegziehend) denn ich thue es ja fuͤr
Menſchen, (fuhr Walt fort, alle andere anſe¬
hend) die noch mehr fuͤr mich gethan, vielleicht
fuͤr den Bruder, wenn er noch lebt. Sind denn
die Bedingungen nicht ſo leicht, und die lezte ſo
ſchoͤn, die vom Pfarrer werden? — Der gute
Van der Kabel! Warum iſt er denn ſo gut gegen
uns? Ich entſinne mich ſeiner lebhaft, aber ich
dachte, er liebte mich nicht. Doch muſt' ich ihm
meine Strekverſe vorleſen. Kann man denn zu
gut von den Menſchen denken?


Vult lachte, und ſagte: kaum!


Ganz bloͤde und ſchamhaft trat Walt zu
Schomaker mit den Worten: vielleicht verdanke
ich der Dichtkunſt die Erbſchaft, — und gewis
die Dichtkunſt dem Lehrer, der mir die vorige
Minute vergebe!“ —


„So ſei vergeſſen, verſezte dieſer, daß man
[121] mich vorhin nicht einmal mehr Herr genannt,
was doch ſo allgemein. Wonne herrſche jezt! —
Aber Ihr H. Bruder, deſſen Sie gedachten, lebt
noch und im Flore. Ein lebhafter H. Van der
Harniſch vergewiſſerte mich deſſen, zohe mich
aber in eine unerlaubte Ausſchwazung Ihres
Hauſes hinein, fuͤr die mir Ihre Verzeihung ſo
wenig entſtehe, als Ihnen die meine!“


Der Notar rief es durch das Zimmer, der
Bruder lebe noch. — „Im erzgebuͤrgiſchen Elter¬
lein traf ihn der Herr in der Stadt,“ ſagte Scho¬
macker. — „O Gott, er kommt gewis heut oder
morgen, beſte Eltern, rief Walt entzuͤkt.“ —
„'Soll mir lieb ſeyn, ſagte der Schulz, ich werd'
ihm unter der Hausthuͤre mit der HabernSenſe
die Beine abmaͤhen, und ihn mit einem Holz¬
apfel erſtecken, einen ſolchen Vagabunden!“ —
Gottwalt aber trat zu Goldinen, die er weinen
ſah, und ſagte: o ich weis es woruͤber, Gute —
und ſezte leiſe hinzu: uͤber das Gluͤk Ihres Freun¬
des.“ — Ja bei Gott! antwortete ſie, und ſah
ihn entzuͤkter an.


Die Mutter warf nur die Bemerkung, wie
[122] oft ihr Gemuͤth durch aͤhnliche Sagen von ihres
guten Kindes Wiederkunft betrogen worden, fluͤch¬
tig unter die Maͤnner, um ſich blos mit dem
verdruͤslichen Fiſkale abzugeben, welchem ſie
freundlich alle boͤſen Klauſeln des Teſtaments
deutlich abfragte. Den Pfalzgrafen aber verdros
das von ſeiner Erbporzion beſtrittene Freudenfeſt
am Ende dermaſſen, daß er haſtig aufſtand, die
Zitazionsgebuͤhren im Namen des Rathsdieners
forderte, und den maͤnnlichen Jubelkoͤpfen die
Hofnung aufſagte, ihn am Abendtiſche unter ſich
zu haben, weil er lieber, gab er vor, bei dem
Wirthe druͤben ſpeiſe, der ſchon ſeinem Vater
ein Darlehn ſchuldig ſei, wovon er ſeit ſo vielen
Jahren, ſo oft er Gericht halte, etwas abeſſe
und abtrinke, um zu dem Seinigen zu kommen.


Als er fort war, ſtieg Veronika auf ihre
weibliche Kanzel, und hielt ihre Brandpredigten
und Inſpekzionsreden an die Maͤnner: ſie muͤſten's
haben, wenn der Fiſkal ihnen das Kapital auf¬
kuͤndigte; ihr Frohthun habe ihn als einen aus¬
geſchloſſenen Erben ja verſchnupfen muͤſſen. —
„Zieht denn aber Er oder ich die Intereſſen fuͤr
[123] jezt, he? — Er!“ ſagte Lukas. — Schomacker
fuͤgte noch den Bericht bei, daß ſchon der Fruͤh¬
prediger Flachs das Kabelſche ganze Haus in der
Hundsgaſſe durch weniges Weinen erſtanden.
Der Schulz fuhr klagend auf und verſicherte, das
Haus ſei ſeinem Sohne ſo gut wie geſtohlen; denn
weinen koͤnne jeder; dieſer aber ſagte, es troͤſt'
ihn ordentlich uͤber ſein Gluͤk, daß ein anderer
armer Erbe auch etwas habe. Veronika verſezte:
„du haſt noch nichts. Ich bin nur eine Frau,
aber im ganzen Teſtamente merk' ich eine Parti¬
tenmacherei. Seit vorgeſtern wurde ſchon im
Dorfe von Erbſchaften gemunkelt von fremden
Stadtherren, ich ſagte aber gern meinem Ge¬
richtsmanne nichts. Du, Walt, haſt gar kein
Geſchik zu Welthaͤndeln; und ſo koͤnnen leicht
10 Jahre verſtreichen, und du haſt nichts, und
biſt doch auch nichts; wie dann, Gerichtsmann!“
— So ſchlag' ich ihn, ſagte dieſer, todt, wenn
er nicht ſo viel Verſtand zeigt, wie ein Vieh;
und von Dir, Vronel, wars auch keiner, mich
nicht zu avertieren. —


„Ich verpfaͤnde mich, ſagte Schomacker, fuͤr
[124] H. Notars Fineſſe. Poeten ſind durchtriebene
Fuͤchſe, und haben Wind von allem. Ein Gro¬
tius, der Humaniſt, war ein Geſandter — ein
Dante, der Dichter, ein Staatsmann, ein Vol¬
taire, der beides, auch beides.“


Vult lachte, nicht uͤber den Schulmann, aber
uͤber den gutherzigen Walt, als dieſer ſanft bei¬
fuͤgte: „ich habe vielleicht aus Buͤchern mehr
Weltklugheit geſchoͤpft, als Ihr denkt, liebe Mut¬
ter. — Aber nun nach 2 Jahren, allguͤtiger
Gott! — Wenigſtens malen wollen wir uns heu¬
te die glaͤnzende Zeit, wo alle hier frei und freu¬
dig leben, und ich nichts von allem brauche und
wuͤnſche, weil ich zu gluͤklich auf zwei alten hei¬
ligen Hoͤhen wohne, auf der Kanzel und dem
Muſenberg“ — „Du ſollſt dann auch, ſagte Lu¬
kas, ſtrekverſen den ganzen Tag, weil du doch
ein Narr darauf biſt, wie dein Vater aufs Jus.“
— „Jezt aber werd' ich ſehr aufmerkſam, ſagte
Walt, das Notarienweſen treiben, beſonders da
ich es als mein erſtes vorgeſchriebenes Erbamt
verſehe; das Advozieren kann nun wohl weg¬
bleiben.“ —


[125]

Seht Ihr, rief die Mutter, er will nur
wieder recht uͤber ſeine langen Verſe her, denn
er hats ja vorhin ſo gotteslaͤſterlich beſchworen —
ich hab' es nicht vergeſſen, Walt!“


„So wollt' ich doch, daß Donner und Teu¬
fel — rief Lukas, der rein- froh ſeyn wollte —
muß man denn aus jedem Thurmknopf einen
Nadelknopf machen wie du?“ Er wollte gerade
das Umgekehrte vorbringen. Er zog den Ehe¬
manns Vexierzug: ſchweig! Sie thats immer
ſogleich, wiewohl mit dem Entſchluß, etwas ſpaͤ¬
ter erſt recht anzufangen.


Man ſchritt zur AbendTafel wie man da
ſtand, Walt im Schanzlooper, obgleich in der
Heu-Erndte, weil er ſein Nanking-Roͤkgen ſchonte.
Goldinens Freudenwein war mit vielen Thraͤnen
uͤber die Trennung des Morgens gewaͤſſert. Der
Notar war unendlich entzuͤkt uͤber die Entzuͤckung
des Vaters, welcher allmaͤhlig, da er ſie ein
wenig verdauet hatte, nun milder wurde und an¬
fieng, mit Trenchiermeſſer und Gabel der noch
fliegenden gebratenen Taube der Erbſchaft entge¬
gen zu gehen, und dem Sohne zum erſtenmal
[126] in ſeinem Leben zu ſagen: du biſt mein Gluͤk.
So lange verharrte Vult auf dem Baume. Als
aber die Mutter nun erſt die ausfuͤhrlichen Be¬
richte Schomackers uͤber den Floͤtenſpieler um ihr
warmes Herz verſammlen wollte, ſtieg er, um
nichts zu hoͤren, weil ihm der Tadel bitterer war
als das Lob ſuͤs, vom Baume herunter, ſchon
begluͤkt genug durch den Bruder, deſſen Unſchuld
und Dichtkunſt ihn ſo liebend- eng umſtrikten,
daß er gern die Nacht im Abendroth erſaͤuft haͤt¬
te, um nur den Tag zu haben, und den Poeten
an der Bruſt.

Nro. 12. Unaͤchte Wendeltreppe.

Reiterſtuͤk.


Fruͤh am bethaueten blauen Morgen ſtand
der Notar ſchon unter der Hausthuͤre reit- und
reiſefertig. Er hatte ſtatt des Schanzloopers den
guten gelbenSommer- und Fruͤhlings- Roke von
Nanking am Leibe, weil er als UniverſalErbe
mehr aufwenden konnte, einen runden weiſſen
braungeflammten Hut auf dem Kopf, die Reit-
Gerte in der Hand, und Kindesthraͤnen in den
[127] Augen. Der Schulz rief halt, ſprang zuruͤk,
und ſogleich wieder her mit Kaiſer Maximilians
Notariatsordnung, die er ihm in die Taſche ſtekte.
Druͤben vor dem Wirthshauſe ſtand der knappe
flinke Student Vult im gruͤnen Reiſehut, und
der Wirth, welcher der Familien-Antichriſt und
ein Linker war. Das Dorf wuſte alles und paßte.
Es war des Univerſalerben erſter Ritt in ſeinem
Leben. Veronika — die ihm den ganzen Morgen
Lebensregeln fuͤr Eroͤfnung und Erfuͤllung des
Teſtaments vorgezeichnet hatte — zerrete den
Schimmel am langen Zuͤgel aus dem Stall.
Walt ſollte hinauf.


Ueber den Rit und Gaul wurde von der
Welt ſchon viel geſprochen — mehr als ein El¬
terleiner verſuchte davon ein leidliches Reiter¬
ſtuͤk zu geben, lieferte aber freilich mehr die rohen
Farbhoͤlzer auf die Leinwand als deren feinſten
Abſud — auch iſt das mein erſtes Thierſtuͤk,
von Belang, das ich in die Gaͤnge dieſes Werks
aufhaͤnge und feſtmache — —: ich werde dem¬
nach einige Muͤhe daran wenden, und die groͤſte
Wahrheit und Pracht.


[128]

In der Apokalypſis ſtand ſo lang ein alter
verſchimmelter Schimmel, bis ihn der Fleiſcher
beſtieg, und aus ihr in der Zeit heruͤberritt. Der
poetiſche Lenz liegt weit hinter dem Gaul, wo
er eignes Fleiſch ſtatt des fremden trug, und mit
eignen Haaren den Sattel auspolſterte; er hat
das Leben und den Menſchen — dieſes reitende
Folterpferd der wunden Natur — zu lange ge¬
tragen. Der aus zitternden Fuͤhlfaden geſponne¬
ne Notar, der den Tag vorher im Stalle, um
deſſen Keilſchrift der Zeit, um die Stigmen von
Sporen, Sattel und Stangengebiß herum gieng,
haͤtte fuͤr Geld keinen Finger in die Narben legen
koͤnnen, geſchweige am Tage darauf die Knuten-
Schneide oder den Sporendolch. Haͤtte doch der
Himmel dem Konfoͤderazions-Thiere des Menſchen
nur irgend einen Schmerzenslaut beſcheert, damit
der Menſch, dem das Herz nur in den Ohren ſizt,
ſich ſeiner erbarmte. Jeder Thierwaͤrter iſt der
Plagegeiſt ſeines Thiers; indes er gegen ein an¬
deres, z. B. der Jaͤger gegen das Pferd, der Fuhr¬
mann gegen den Jagdhund, der Offizier gegen
Leute auſſer dem Soldatenſtande, ein wahres
weichwolliges Lamm iſt.


[129]

Dieſer Schimmel betrat am Morgen die
Buͤhne. Der Notar hatte den Tag vorher den
Gaul an eine ſeiner Gehirnwaͤnde feſtgebunden
und — wie die rechte Seite des Konvents
und des Rheins — ſich immer die linke vor¬
geſtellt, um daran aufzuſteigen; — in alle Stel¬
lungen hatt' er in ſeinen 4 Gehirnkammern das
Schulroß gedreht, geſchwind es links beſtiegen,
und ſo ſich ſelber voͤllig zugeritten fuͤr den Gaul.
Dieſer wurde gebracht und gewandt. Gottwalts
Auge blieb feſt an den linken Steigbuͤgel gepicht
— aber ſein Ich wurd' ihm unter den Haͤnden
zu gros fuͤr ſein Ich — ſeine Thraͤnen zu dunkel
fuͤr ſein Auge — er beſteige, merkt' er, mehr
einen Thron als einen Sattel — die linke Roß-
Seite hielt er noch feſt; nur kam jezt die neue
Aufgabe, wie er die eigne linke ſo damit verknuͤ¬
pfen koͤnnte, daß beide die Geſichter vorwaͤrts
kehrten. —


Wozu die teufliſche Quaal! Er probierte,
wie ein preuſſiſcher Kavalleriſt, rechts aufzu¬
ſpringen. Pfiffen Leute, wie Vult und der
Wirth, ſeine Probe aus, ſo zeigten ſie weiter
Flegeljahre I. Bd. 5[130] nichts, als daß ſie nie geſehen hatten, wie aͤmſig
preuſſiſche Kavalleriſten auf dem rechten Buͤgel
aufſizen lernen, um geſattelt zu ſeyn, falls ein¬
mal der linke entzweigeſchoſſen wird.


Auf dem Sattel hatte nun Walt als Selbſt-
Quartiermeiſter das Seinige zu thun, alles zu
ſezen — ſich gerade und ſattelfeſt —, auszubrei¬
ten — die Finger in die Zuͤgel, die Rokſchoͤſſe
uͤber den Pferderuͤken —, einzuſchichten — die
Stiefel in die Steigeiſen —; und anzufangen —
den Abſchied und Ausritt.


An leztern wollte der geſezte Schimmel nicht
gerne gehen. Walts delikates Ruͤkwaͤrtsſchnalzen
mit der Gerte war dem Gaule ſo viel, als wixe
man ihn mit einem PferdeHaar. Ein Paar
muͤtterliche Handſchlaͤge auf den Nacken nahm
er fuͤr Streicheln. Endlich kehrte der Gerichts¬
mann eine Heugabel um, und gab ihm mit dem
Stiel auf den Hinterbacken einen ſchwachen Rit¬
terſchlag, um damit ſeinen Sohn, als Reiter
aus dem Dorfe in die Welt zu ſchicken, ſowohl
in die gelehrte als ſchoͤne. Das war dem Thier
ein Wink, bis an den Bach vorzuſchreiten; hier
[131] ſtand es vor dem Bilde des Reiters feſt, kredenzte
den Spiegel, und als der Notar droben mit un¬
ſaͤglicher Syſtole und Diaſtole der Fuͤße und
Buͤgel arbeitete, weil das halbe Dorf lachte,
und der Wirth ohnehin, glaubte der Harttraber
ſeinen Irrthum des Stehens einzuſehen, und trug
Walten von der Traͤnke wieder vor die Stallthuͤre
hin, ſtoͤrt' aber die Ruͤhrungen des Reiters be¬
deutend.


„Wart nur!“ ſagte ins Haus laufend der
Vater, kam wieder und langte ihm eine Buͤch¬
ſenkugel zu: „ſez' ihm die ins Ohr, ſagt' er,
ſo will ich kavieren, er zieht aus, weil doch das
Blei die Beſtie kuͤhlen muß, glaub ich.“


Kaum war das Rennpferd, wie ein Geſchuͤz,
mit dem Kopf gegen das Thor gerichtet, und
das Ohr mit der Schnellkugel geladen: ſo fuhr
es durchs Thor und davon; — und durch das mit
Augen beſtellte Dorf und vor des Kandidaten
Gluͤkwunſch flog der Notarius voruͤber, oben
ſizend, mit dem Giesbukel des erſten Verſuchs,
als ein gebogenes Komma. „Weg iſt er!“ ſagte
Lukas, und gieng zu den Heuſchobern hinaus.
[132] Still wiſchte die Mutter mit der Schuͤrze das
Auge und fragte den Grosknecht, worauf er noch
warte und gaffe. Nur Ein weinendes Auge hatte
Goldine mit dem Tuche bedekt, um mit dem
andern nachzublicken, und ſagte: es geh Ihm
gut, und gieng langſam in ſein leeres Studier¬
ſtuͤbgen hinauf.


Vult eilte dem reitenden Bruder nach. Als
er aber vor dem Maienbaume des Dorfs voruͤber
gieng, und am Fenſter die ſchoͤnaͤugige Goldine
und im Hausgaͤrtgen die einſame Mutter erblikte,
die mit tropfenden Augen, noch im Sizen gebuͤkt,
große Bohnen ſtekte und Knoblauch band: ſo
uͤberſtroͤmte ſeines Bruders warmes mildes Blut
ploͤzlich ſein Herz, und er lehnte ſich an den
Baum und blies einen Kirchenchoral, damit bei¬
der Augen ſich ſuͤßer loͤſeten, und ihr Gemuͤth
aufgienge; denn er hatte an beiden den keken
ſcharfen Seelen-Umriß innigſt werth gewonnen.


Es war Schade, daß der Notarius, der ſamt
dem Schimmel auf Wieſenflaͤchen zwiſchen gruͤn¬
ſchimmernden Huͤgeln, im blauen wehenden Tage
flog, es nicht wuſte, daß hinter ihm ſein Bruder
[133] ſein fernes Doͤrfchen und geruͤhrte liebe Herzen
mit Echos erfuͤlle. Oben auf einem Berge legte
Walt ſich auf den Hals des Flugpferds, um
aus dem Ohr die Drukkugel zu graben. Da er
ſie erwiſcht hatte: ſo trat das Thier wieder geſez¬
ter einher, als ein Menſch hinter einer Leiche;
und nur der Berg ſchob es herunter, und in der
Ebene gieng es, wie ein ſilberner glatter Fluß,
unmerklich weiter.


Izt genos der zur Ruhe geſezte Notarius
ganz ſeine ſizende Lebensart auf dem Sattel, und
den weiten ſingenden Tag. Sein hoher Aufent¬
halt auf der Sattelwarte ſtellte ihm, dieſem ewi¬
gen Fusgaͤnger, alle Berge und Auen unter ihn,
und er regierte die glaͤnzende Gegend. An einer
neuen Anhoͤhe ſtieg ein Wagenzug von ſieben
Fuhrleuten auf, den er gern zu Pferde eingeholt
und uͤberritten haͤtte, um nicht in ſeinen Traͤu¬
men durch ihr Umſchauen geſtoͤrt zu werden;
aber am Huͤgel-Fuße wollte der gerittene Blon¬
din ſo gut die Natur genießen — die fuͤr ihn in
Gras beſtand — als der reitende, und ſtand
ſehr feſt. Walt ſezte ſich zwar anfangs dargegen
[134] und ſtark, wirkte auf viele Seiten des Viehs vor-
und ruͤkwaͤrts; aber da es auf dem Feſtſtehen
beſtand, lies ers freſſen und ſezte ſich ſelber herum
auf dem Sattel, um die ausgedehnte Natur hin¬
ter ſich mit ſeeligen Blicken auszumeſſen und
gelegentlich dieſe ſieben ſpoͤttiſchen Fuhr-Hemden
ſo weit vorauszulaſſen, daß ihnen nicht mehr
unter die Augen nachzureiten war.


Am Ende kommt doch eines, ein Ende —,
der Bereiter wuͤnſchte am Huͤgelfuße, als er ſich
wieder vorwaͤrts geſezt, ſich herzlich von der
Stelle, und etwa hinauf; denn die ſieben Pleja¬
den muſten nun laͤngſt untergegangen ſeyn. Auch
ſah er den netten Studenten nachkommen, der
das Beſteigen geſehen. Aber ſezte irgend jemand
beſondern Werth auf Erndte-Ferien, ſo thats
der Schimmel —, vor ſolcher Anhoͤhe vollends
ſtand er im Drachenſchwanz, im aufſteigenden
Knoten — die Zaͤume, die Fusbaͤlle auf der Erde,
alle brachten ihn nicht vorwaͤrts. Da nun der No¬
tar auch die lebendige Quekſilberkugel jezt nicht wie¬
der mit dieſem fixierten weiſſen Merkurius verqui¬
ken wollte — wegen der unglaublichen Muͤhe, ſie
[135] aus dem Ohr zu fiſchen —: ſo ſas er lieber ab,
und ſpannte ſich ſeiner eigenen Vorſpan vor, in¬
dem er ſie durch den Flaſchenzug des Zuͤgels wirk¬
lich hinauf wand. Oben bluͤhte friſche Noth;
hinter ſich ſah er eine lange katholiſche Wallfarth
nachſchleichen, gerade vor ſich unten im langen
Dorfe die boͤſe Fuhr-Sieben trinken und traͤnken,
die er einholen muſte, er mochte wollen oder
nicht.


Es gruͤnte ihm auf der andern Seite Hofnung,
aber fruchtlos; er hatte Ausſichten, durch des
Kleppers Allegro ma non troppo den haltenden
Fuhrleuten ziemlich vorzuſprengen; er ritt erheitert
in ſtarkem Schritt den Berg hinab, ins Dorf
hinein; — aber da kehrte das Filial-Pferd ohne
ſonderliches Diſputieren ein, es kannte den Wirth,
jeder Krug war ſeine Tochter-, jeder Gaſthof ſeine
Mutterkirche: „gut, gut, ſagte der Notar, an¬
fangs wars ja ſelber mein Gedanke“ — und be¬
fahl unbeſtimmt einem Unbeſtimmten, dem Gau¬
le etwas zu geben. Jzt kam auch der flinke
Gruͤnhut nach. Vults Herz wallete auf vor
Liebe, da er ſah', wie der erhizte ſchoͤne Bruder
[136] von der ſchneeweißen Bogenſtirn den Hut luͤftete,
und wie im Morgenwehen ſeine Locken das zarte
mit Roſenblute durchgoſſene kindliche Geſicht an¬
flatterten, und wie ſeine Augen ſo liebend und
anſpruchlos auf alle Menſchen ſanken, ſogar auf
das Siebengeſtirn. Gleichwohl konnte Vult den
Spott uͤber das Pferd nicht laſſen: der Gaul,
ſagt' er mit ſeinen ſchwarzen Augen auf den Bru¬
der blizend und die Maͤhne ſtreichelnd, geht beſ¬
ſer, als er ausſieht; wie ein Muſenpferd ſchwang
er ſich uͤber das Dorf. — Ach das arme Thier!
ſagte Walt mitleidig, und entwafnete Vulten.


Saͤmmtliche Paſſagiere tranken im Freien —
die Pilgrimme giengen ſingend durchs Dorf —
alle Thiere auf dem Dorfe und in der Luft wie¬
herten und kraͤheten vor Luſt — der kuͤhlende
Nord-Oſt durchblaͤtterte den Obſtgarten, und
rauſchte allen geſunden Herzen zu: weiter hinaus
ins freie weite Leben! — „Ein ſehr goͤttlicher
Tag, ſagte Vult, verzeihen Sie, mein Herr!“
Walt ſah ihn bloͤde an, und ſagte doch heftig:
„o gewis mein Herr! Die ganze Natur ſtimmt
ordentlich ein jubelndes Herzerfriſchendes Jagd¬
[137] lied an, und aus den blauen Hoͤhen toͤnen doch
auch ſanfte Alphoͤrner herunter.”


Da hiengen die Fuhrleute die Gebiſſe wieder
ein. Er zahlte ſchnell, nahm den Ueberſchuß
nicht an, und ſaß im Wirrwarr auf, willens,
allen vorzufliegen. Es iſt ein Grundſaz der
Pferde, gleich den Planeten, nur in der
Sonnen-Naͤhe eines Wirthshauſes ſchnell zu
gehen; aber langſam daraus weg ins Aphe¬
lium; der Schimmel heftete ſeine vier Fus-Wur¬
zeln als Stifte eines Nuͤrnberger Spielpferdes
feſt ins lakierte Bret der Erde, und behauptete
ſeinen Ankerplaz. Der bewegte Zaum war nur
ſein Ankertau — fremde leidenſchaftliche Bewe¬
gung ſezt' ihn in eigne nicht — umſonſt ſchnalzte
der leichte Reiter in gruͤn-atlaſſener Weſte und
mit braunen Hutflammen, er konnte eben ſo gut
den Sattel uͤber einen Bergruͤcken geſchnallet ha¬
ben und dieſen ſpornen.


Einige der ſanfteſten Fuhrleute beſtrichen
die Hinterbeine des Quietiſten; er hob ſie, aber
aber ohne vordere. Lange genug hatte nun Walt
auf ſein Mitleiden gegen das Vieh gehoͤrt; jezt
[138] warf er ohne Weiters dem Trauerpferd den Schuſ¬
ſer ins Ohr — die Kugel konnte die Maſſa, den
Que'er fortſtoßen ins gruͤne Billard. Walt flog.
Er rauſchte ſchnell dicht hinter der Huͤhner-Kette
von Pilgern, die ſcheu auseinander ſprizte, bis
leider auf eine an der Spize gehende Vorſaͤngerin,
die Reiten und Warnen nicht vernahm — um¬
ſonſt zupften ſeine ſterbenden Finger voll Todes¬
noth im Ohr, und wollten Kugelzieher ſeyn —
ſeine fliegende Knieſcheibe rannte an ihr Schulter¬
blatt und warf ſie um — ſie erſtand ſchleunigſt,
um fruͤhe genug, unterſtuͤzt von allen ihren Kon¬
feſſions-Verwandten, ihm uͤber alle Beſchreibung
nachzufluchen. Weit hinter dem Fluchen bracht'
er nach langer Ballotage die Gluͤks- und Ungluͤks¬
kugel zwiſchen dem Daumen und Zeigefinger her¬
aus, theuer ſchwoͤrend, nie dieſes Oberons Horn
mehr anzuſezen.


Wenn freilich jezt die Beſtie wie eine Har¬
monika traktierte, naͤmlich langſam — ſo daß
jeder die groͤſten Schulden auf ihr abſizen konn¬
te, ſogar ein Staat, wenns anders fuͤr dieſen
einen andern Schuldthurm geben koͤnnte, außer
[139] dem Babelthurm —: — ſo waͤr' es wohl ge¬
gangen, haͤtt' er ſich nicht umgedreht und geſe¬
hen, was hinter ſeiner Statua equestris und
curulis zog; ein Heer ſah er, ſez' ihm hizig
mit und ohne Wagen nach, Pilger voll Fluͤche,
ſieben weiſſe Weiſen voll Spas, und der Student.
Der menſchliche Verſtand muß ſehr irren, oder
an dem, was er nachher that, hatte die Vermu¬
thung aus dem vorigen großen Theil, daß der
nachſchwimmende Hintergrund nicht nur ſeinen
Durchgang durch ein rothes Meer erzwingen, ſon¬
dern daß ſogar das Meer ſelber mit ihm gehen
wuͤrde; weil er auf ſeinem lebendigen Laufſtuhl
niemand zu entrinnen vermochte. Schon das
bloße Zuruͤkdenken an den Nachtrab muſte wie
Laͤrmtrommeln, in die ſchoͤnſten leiſen Klaͤnge
fahren, die er jezt am blaueſten Tage aus den
Himmels-Sphaͤren ſeiner Phantaſie leicht herun¬
ter hoͤren konnte.


Deshalb ritt er geradezu aus der Landſtraße
uͤber Wieſen in eine Schaͤferei hinein, wo er halb
gleichguͤltig gegen laͤcherlichen Schein, halb mit
erroͤthender Ruhmliebe — fuͤr Geld, gute Worte
[140] und ſanfte Augen — es ſich von der Schaͤferin
erbat, daß dem Schimmel ſo lange — denn er
verſtand nichts von Roß-Diaͤtetik — Heu vor¬
geſezet wuͤrde, bis etwan die Feinde ſich eine
Stunde voraus- und ihn mathematiſch gewis
gemacht hatten, daß ſie nicht zu ereilen waͤren,
geſezt auch, ſie fuͤtterten zwei Stunden.


So neu-ſeelig und erloͤſet ſezt' er ſich hin¬
ter das Haus unter eine ſchwarzgruͤne Linde in
den friſchen Schatten-Winter, und tauchte ſein
Auge ſtill in den Glanz der gruͤnen Berge, in
die Nacht des tiefen Aethers, und in den Schnee
der Silberwoͤlkgen. Darauf ſtieg er nach ſeiner
alten Weiſe uͤber die Gartenmauer der Zukunft,
und ſchauete in ſein Paradies hinein: welche volle
rothe Blumen, und welches weiße Bluͤthenge¬
ſtoͤber fuͤllte den Garten! —


Endlich — nach einer und der andern Him¬
melfahrt — machte er 3 Strekverſe, einen uͤber
den Tod, einen uͤber einen Kinderball, und einen
uͤber eine Sonnenblume und Nachtviole. Kaum
wollte er, da das Pferd Heu genug hatte, von
der kuͤhlen Linde fort; er entſchlos ſich heute nicht
[141] weiter zu reiſen, als nach dem ſogenannten Wirths¬
haus zum Wirthshaus, eine kleine Meile von
der Stadt. Indes eben in dieſem Wirthshaus
hatten alle ſeine Feinde um 1 Uhr Halt und
Mittag gemacht; und ſein Bruder war da ge¬
blieben, um ihn zu erwarten, weil er wuſte, daß
die Landſtraße und der Schimmel und Bruder
durch den Hof liefen. Vult muſte lange paſſen,
und ſeine Gedanken uͤber die naͤchſten Gegenſtaͤnde
haben z. B. uͤber den Wirth, einen Herrnhuter,
der auf ſein Schild nichts weiter mahlen laſſen,
als wieder ein Wirthshausſchild mit einem aͤhn¬
lichen Schild, auf dem wieder das Gleiche ſtand;
es iſt das die jezige Philoſophie des Wizes, die,
wenn der aͤhnliche Wiz der Philoſophie das Ich-
Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, eben
ſo deſſen Ideen ſub-objektiv wiederſcheinen laͤſſet;
z. B. Ich bin tiefſinnig und ſchwer, wenn ich
ſage: Ich rezenſiere die Rezenſion einer Rezenſion
vom Rezenſieren des Rezenſierens, oder ich re¬
flektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion
einer Reflexion uͤber eine Buͤrſte. Lauter ſchwere
Saͤze von einem Wiederſchein ins Unendliche, und
[142] eine Tiefe, die wohl nicht jedermanns Gabe iſt;
ja vielleicht darf nur einer, der im Stande iſt,
denſelben Infinitiv von welchem Zeitwort man
will, im Genitiv mehrmals hintereinander zu
ſchreiben, zu ſich ſagen: ich philoſophire.


Endlich um 6 Uhr hoͤrte Vult, der aus ſei¬
ner Stube ſah, den Wirth oben aus dem Dach¬
fenſter rufen: he, Patron, ſcheer' er ſich droben
weg! — Will Er ins Guguks Namen wegreiten?
— Das Wirthshaus ſtand auf einem Birken-
Huͤgel. Gottwalt war ſeitwaͤrts aus dem Wege
an den Herrnhutiſchen Gottesacker hinaufgeritten,
aus welchem der Schimmel Schoten aus den
Staketen zog, waͤhrend der Herr das dichteriſche
Auge in den zierlichen Garten voll geſaͤeter Gaͤrt¬
ner irren lies. Wiewohl er den Kalkanten der
groben Pedalſtimme nicht durch die Birken ſehen
konnte: ſo zog er doch — da den Menſchen uͤber¬
haupt nach einer Grobheit feinſtes Empfinden
ſchwer verfolgt — ſogleich den rupfenden Ruͤſſel
aus dem Spaliere auf, und gelangte bald mit
den Schoten im naſſen Gebiſſe vor der Stall-
Thuͤr' an.


[143]

Er that an den ſehr ernſt unter ſeiner Thuͤre ſte¬
henden Wirth von Fernen — umſonſt wollt' er
gar vor ihn hinreiten — barhaupt am Stalle
die Frage, ob er hier mit ſeinem Gaul logieren
koͤnne.


Ein ganzer heller Sternenhimmel fuhr Vul¬
ten durch die Bruſt und brannte nach.


Auch der Wirth wurde ſternig und ſonnig;
aber wie waͤr' er — ſonſt haͤtt' er hoͤflicher aus
dem Dache geſprochen — darauf gekommen, daß
ein Paſſagier zu Pferde in dieſer Naͤhe der Stadt
und Ferne der Nacht ihn mit einem Stilllager
beehren werde —. Als er wahr nahm, daß der
Paſſagier ein beſonderes Vielek oder Dreiek mit
dem rechten Beine uͤber dem Gaule, abſizend be¬
ſchrieb, und daß er die ſchweren mit einem orga¬
niſierten Sattel behangenen Schenkel ins Haus
trug, ohne weiter nach dem Thiere oder Stalle
zu ſehen: ſo wuſte der Schelm ſehr gut, wen er
vor ſich habe; und lachte zwar nicht mit den
Lippen, aber mit den Augen den Gaſt aus, ganz
verwundert, daß dieſer ihn fuͤr ehrlich, und es
fuͤr moͤglich hielt, er werde den Hafer, den er
[144] morgen in die Rechnung eintragen konnte, ſchon
heute dem Schimmel vorſezen.


„Nun geht, ſagte Vult bildlich, der mit
Herzklopfen die Treppe hinab dem Bruder entge¬
gen gieng, ein ganz neues Kapitel an.“ Un¬
bildlich geſchiehts ohnehin.

Nro. 13. Berliner Marmor mit glaͤnzenden
Flecken.

Ver- und Erkennung.


Unten im Korrelazionsſaal und Simultan¬
zimmer der Gaͤſte forderte der Notar nach Art
der Reiſe-Neulinge ſchnell einen Trunk, eine
einmaͤnnige Stube und dergleichen Abendmahl¬
zeit, damit der Wirth nicht denken ſollte, er
verzehre wenig. Der luſtige Vult trat ein, that
mit Welt-Manier ganz vertraulich, und freute
ſich ſehr des gemeinſchaftlichen Uebernachtens:
wenn — Ihr Schimmel zu haben iſt, ſagt' er,
ſo hab ich Auftrag ihn fuͤr jemand zu einem
Schieſpferd zu kaufen, denn ich glaube, daß er
ſteht. „Es iſt nicht der meinige, ſagte Walt.
[145] Er friſſet aber brav, ſagte der Wirth, der ihn
bat nachzufolgen in ſein Zimmer. Als ers auf¬
ſchlos, war die Abendwand nicht ſowohl ganz
zerſtoͤrt — denn ſie lag ein Stokwerk tiefer un¬
ten in ziemlichen Stuͤcken — als wahrhaft ver¬
doppelt — denn die neue lag als Stein und Kalk
unten darneben —. „Weiter, fuͤgte der Herrn¬
huter ſeelenruhig bei, als der Gaſt ein wenig
erſtaunt mit dem großen Auge durch das ſieben
Schritt breite Luftfenſter durchfuhr, weiter hab'
ich im ganzen Hauſe nichts leer und jezt iſts
Sommer.“ — „Gut, ſagte Walt ſtark und ſuch¬
te zu befehlen; aber einen Beſen!“ — Der Wirth
lief demuͤthig und gehorchend hinab.


„Iſt unſer Wirth nicht ein wahrer Filon?“
ſagte Vult. „Im Grunde, mein Herr — ver¬
ſezte jener freudig — iſt das fuͤr mich ſchoͤner.
Welcher herrliche lange Strom von Feldern und
Doͤrfern, der herein glaͤnzt und das Auge traͤgt
und zieht; und die Abendſonne und Roͤthe und
den Mond hat man ganz vor ſich, ſogar im
Bette die ganze Nacht!“ — Dieſe Einſtimmung
ins Geſchik und ins Wirthshaus kam aber nicht
Flegeljahre I. Bd. 10[146] blos von ſeiner angebornen Milde, uͤberall nur
die uͤbermahlte nicht die leere Seite der Menſchen
und des Lebens vorzudrehen, ſondern auch von
jener goͤttlichen Entzuͤckung und Berauſchung her,
womit beſonders Dichter, die nie auf Reiſen wa¬
ren, einen von Traͤumen und Gegenden nachbli¬
zenden Reiſetag beſchließen; die proſaiſchen Felder
des Lebens werden ihnen, wie in Italien die
wirklichen, von poetiſchen Myrten umkraͤnzt,
und die leeren Pappeln von Trauben erſtiegen.


Vult lobte ihn wegen der Gemſenartigkeit, wo¬
mit er, wie er ſehe, von Gipfeln zu Gipfeln ſeze
uͤber Abgruͤnde. „Der Menſch ſoll, verſezte
Walt, das Leben wie einen hizigen Falken auf
der Hand forttragen, ihn in den Aether auflaſ¬
ſen und wieder herunter rufen koͤnnen, wie es
noͤthig iſt, ſo denk' ich.“ — „Der Mars, der
Saturn, der Mond und die Kometen ohne Zahl
ſtoͤren, (antwortete Vult,) unſere Erde bekannt¬
lich ſehr im Laufe; — aber die Erdkugel in uns,
ſehr gut das Herz genannt, ſollte beim Henker
ſich von keiner fremden laufenden Welt aus der
Bahn bringen laſſen, wenns nicht etwa eine ſol¬
[147] che thut, wie die weiſe Pallas — oder die reiche
Zeres — und die ſchoͤne Venus, die als Heſper
und als Luzifer die Erdbewohner ſchoͤn mit dem
lebendigen Merkur verbindet. — Und erlauben
Sie es, mein Herr, ſo werfen wir heute unſere
Soupe'es zuſammen, und ich ſpeiſe mit hier vor
der Breche, wo das Mondsviertel in der Suppe
ſchwimmen, und die Abendroͤthe den Braten uͤber¬
golden kann.“


Walt ſagte heiter Ja. Auf Reiſen macht
man Abends lieber romantiſche Bekanntſchaften
als Morgens. Auch trachtete er, wie alle Juͤng¬
linge, ſtark, viele zu machen, beſonders vorneh¬
me, unter welche er den luſtigen Kauz mit ſei¬
nem gruͤnen Reiſe-Hute rechnete, dieſem Gegen¬
hut eines Biſchofs, der einen nur innen gruͤnen
und außen ſchwarzen traͤgt.


Da kam der [...] Wirth und der Beſen, um
den Bau-Abhub und Bodenſaz uͤber die Stube
hinaus zu fegen; in den linken Fingern hieng
ihm ein breiter in Holz eingerahmter Schie¬
fer. Er zeigte an, ſie muͤſten ihre Namen dar¬
auf ſezen, weil es hier zu Lande wie im Gothai¬
[148] ſchen waͤre, wo jeder Dorfwirth den Schiefer
am Tage darauf mit den Namen aller derer,
die Nachts bei ihm logieret haͤtten, in die Stadt
an die Behoͤrde tragen muͤſte.


„O man kennt euch Wirthe — ſagte Vult,
und faſte die ganze Tafel — Ihr ſeid wohl eben
ſo begierig darhinter her, was euer Gaſt fuͤr ein
Vogel iſt, als irgend ein regierender Hof in
Deutſchland, der gleich Abends nach dem Thor-
und Nachtzettel aller Einpaſſanten greift, weil
er keinen beſſern Index Autorum kennt, als
dieſen.“


Vult ſezte mit einem angeketteten Schiefer-
Stift auf den Schiefer mit Schiefer — ſo wie
unſer Fichtiſches Ich zugleich Schreiber, Papier,
Feder, Dinte, Buchſtaben und Leſer iſt — ſei¬
nen Namen ſo: „Peter Gottwalt Harniſch, K.
K. ofner geſchworner Notarius und Tabellio,
geht nach Haslau.“ Darauf nahm ihn Walt,
um ſich auch als Notarius ſelber zu verhoͤren,
und ſeinen Namen und Karakter zu Protokoll
und zu Papier zu bringen.


Erſtaunt ſah er ſich ſchon darauf und ſchauete
[149] den Gruͤnhut an, dann den Wirth, welcher
wartete, bis Vult den Schiefer nahm, und dem
Wirthe mit den Worten gab: nachher Freund!
ce n'est qu'un petit tour que je joue à notre
hôte
” ſagt' er mit ſo ſchneller Ausſprache, daß
Walt kein Wort verſtand, und daher erwiederte:
Oui. Aber durch ſeinen verwirrten Rauch ſchlu¬
gen die freudigſten Funken; alles verhies, glaub¬
te er, eines der ſchoͤnſten Abentheuer; denn er
war dermaſſen mit Erwartungen ganz romanti¬
ſcher Naturſpiele des Schikſals, frappanter Meer¬
wunder zu Lande ausgefuͤllet, daß er es eben
nicht uͤber ſein Vermuthen gefunden haͤtte — bei
aller Achtung eines Stubengelehrten und Schul¬
zenſohns fuͤr hoͤhere Staͤnde —, falls ihm etwa
eine Fuͤrſtentochter einmal ans Herz gefallen waͤ¬
re, oder der fuͤrſtliche Hut ihres H. Vaters auf
den Kopf. Man weis ſo wenig, wie die Menſchen
wachen, noch weniger, wie ſie traͤumen, nicht
ihre groͤſte Furcht, geſchweige ihre groͤſte Hofnung.
Der Schiefer war ihm eine Kometenkarte, die ihm
Gott weis welchen neuen feurigen Bartſtern anſag¬
te, der durch ſeinen einfoͤrmigen Lebens-Himmel
[150] fahren wuͤrde. H. Wirth, — ſagte Vult freu¬
dig, dem ſeine beherrſchende Rolle ſo wohl that,
wie ſein ſanfter Bruder ohne Stolz — ſervier' Er
hier ein reiches Souper, und trag' Er uns ein paar
Flaſchen vom beſten aufrichtigſten Kraͤzer auf, den
er auf dem Lager haͤlt.“


Walten ſchlug er einen Spaziergang auf den
benachbarten Herrnhuter Gottesacker vor, waͤh¬
rend man fege; ich ziehe droben, fuͤgt' er bei, mein
Flauto traverso heraus, und blaſe ein wenig in
die Abend-Sonne und uͤber die todten Herrnhuter
hinuͤber: — lieben Sie das Flauto? „O wie
ſehr gut ſind Sie gegen einen fremden Menſchen!“
antwortete Walt mit Augen voll Liebe; denn das
Ganze des Floͤtenſpielers verkuͤndigte bei allem
Muthwillen des Bliks und Mundes heimliche
Treue, Liebe und Rechtlichkeit. „Wohl lieb' ich,
fuhr er fort, die Floͤte, den Zauberſtab, der die
innere Welt verwandelt, wenn er ſie beruͤhrt, eine
Wuͤnſchelruthe, vor der die innere Tiefe aufgeht.“
— „Die wahre Mondare des innern Monds,“
ſagte Vult. „Ach ſie iſt mir noch ſonſt theuer,“
ſagte Walt, und erzaͤhlte nun, wie er durch ſie
[151] oder an ihr einen geliebten Bruder verloren, —
und welchen Schmerz er und die Eltern bisher
getragen, da es ein kleinerer ſei, einen Verwand¬
ten im Grabe zu haben, als in jeder frohen
Stunde ſich zu fragen, mit welcher dunklen,
kalten, mag jezt der Fluͤchtling auf ſeinem Bret
im Weltmeer ringen. „Da aber Ihr Hr. Bru¬
der ein Mann von muſikaliſchem Gewicht ſein ſoll,
ſo kann er ja eben ſo gut im Ueberfluſſe ſchwim¬
men als im Weltmeer“ ſagte er ſelber.


„Ich meine, verſezte Walt, ſonſt dachten
wir ſo traurig, jezt nicht mehr; und da war es
kein Wunder, wenn man jede Floͤte fuͤr ein Stum¬
mengloͤkgen hielt, das der in Nacht hinaus ver¬
lorne Bruder hoͤren lies, weil er nicht zu uns
reden konnte.“ Unwillkuͤrlich fuhr Vult nach
deſſen Hand, gab ſie eben ſo ſchnell zuruͤk, ſag¬
te: „genug! Mich ruͤhren 100 Sachen zu ſtark
— Himmel, die ganze Landſchaft haͤngt ja voll
Duft und Gold!“


Aber nun vermochte ſein entbranntes Herz
keine halbe Stunde laͤnger den Kuß des bruͤder¬
lichen aufzuſchieben; ſo ſehr hatte die vertrauen¬
[152] de unbefangene Bruderſeele heute und geſtern in
ſeiner Bruſt, aus welcher die Winde der Reiſen
eine Liebes-Kohle nach andern verweht hatten,
ein neues Feuer der Bruderflammen angezuͤndet,
welche frei und hoch aufſchlugen ohne das kleinſte
Hindernis. Stiller giengen jezt beide im ſchoͤnen
Abend. Als ſie den Gottesacker oͤfneten, ſchwamm
er flammig im Schmelz und Brand der Abend¬
ſonne. Haͤtte Vult zehn Meilen umher nach ei¬
nem ſchoͤnen Poſtamente fuͤr eine Gruppe zwil¬
lings-bruͤderlicher Erkennung geſucht, ein beſſe¬
res haͤtt' er ſchwerlich aufgetrieben als der Herrn¬
huter Todtengarten war mit ſeinen flachen Bee¬
ten, worinn Gaͤrtner aus Amerika, Aſia und Bar¬
by geſaͤet waren, die ſich alle auf einander mit
dem ſchoͤnen Lebens-Endreim „heimgegan¬
gen“ reimten. Wie ſchoͤn war hier der Knochen¬
bau des Todes in Jugend-Fleiſch gekleidet, und
der lezte blaſſe Schlaf mit Bluͤthen und Blaͤttern
zugedekt! Um jedes ſtille Beet mit ſeinem Saat-
Herzen lebten treue Baͤume und die ganze leben¬
dige Natur ſah mit ihrem jungen Angeſicht
herein.


[153]

Vult, der jezt noch ernſter geworden, freue¬
te ſich, daß er aller Wahrſcheinlichkeit nach vor
keinem Kenner zu blaſen habe, weil ſeine Bruſt,
ſolcher Erſchuͤtterungen ungewohnt, heute nicht
genug Athem fuͤr ſein Spiel behielt. Er ſtellte
ſich weg vom Bruder, gegenuͤber der ſtrahlenlo¬
ſen Abendſonne an einen Kirſchbaum, aus wel¬
chem das Bruſt- und Halsgeſchmeide eines bluͤ¬
henden Jelaͤngerjelieber, wie eigne Bluͤthe hieng;
und blies ſtatt der ſchwerſten Floͤten-Paſſaden,
nur ſolche einfache Arioſo's nebſt einigen einge¬
ſtreueten Echos ab, wovon er glauben durfte,
daß ſie ins unerzogne Ohr eines juriſtiſchen Kan¬
didaten mit dem groͤſten Glanz und Freuden-Ge¬
folge ziehen wuͤrden.


Sie thatens auch. Immer langſamer gieng
Gottwalt, mit einem langen Kirſchzweige in der
Hand, zwiſchen der Morgen- und der Abend-
Gegend auf und nieder. Seeliger als nie in ſeinem
troknen Leben war er, als er auf die liebaͤugelnde
Roſen-Sonne losgieng, und uͤber ein breites
goldgruͤnes Land mit Thurmſpizen in Obſtwaͤl¬
dern und in das glatte weiſſe Mutterdorf der
[154] ſchlafenden ſtummen Koloniſten im Garten hin¬
ein ſah, und wenn dann die Zephyre der Melo¬
dien die duftige Landſchaft wehend aufzublaͤttern
und zu bewegen ſchienen. Kehrt' er ſich um, mit
gefaͤrbtem Blik, nach dem Oſthimmel und ſah
die Ebene voll gruͤner auf- und ablaufender Huͤ¬
gel wie Landhaͤuſer und Rotunden ſtehen und
den Schwung der Laubholzwaͤlder auf den fer¬
nen Bergen und den Himmel in ihre Windungen
eingeſenckt: ſo lagen und ſpielten die Toͤne wie¬
der druͤben auf den rothen Hoͤhen und zukten in
den vergoldeten Voͤgeln, die wie Aurorens Flo¬
ken umher ſchwammen, und wekten an einer
duͤſtern ſchlafenden Morgenwolke die lebendigen
Blicke aufgehender Blitze auf. Vom Gewitter
wandt' er ſich wieder gegen das vielfarbige Son¬
nenland — ein Wehen von Oſten trug die Toͤ¬
ne — ſchwamm mit ihnen an die Sonne — auf
den bluͤhenden Abendwolcken ſang das kleine
Echo, das liebliche Kind, die Spiele leiſe nach. —
Die Lieder der Lerchen flogen gaukelnd dazwiſchen
und ſtoͤrten nichts. — —


[155]

Jzt brannte und zitterte in zartem Umris
eine Obſtallee durchſichtig und rieſenhaft in der
Abendgluth — ſchwer und ſchlummernd ſchwamm
die Sonne auf ihrem Meer — es zog ſie hinun¬
ter — ihr goldner Heiligenſchein gluͤhte fort im
leeren Blau — und die Echotoͤne ſchwebten und
ſtarben auf dem Glanz: Da kehrte ſich jezt Vult,
mit der Floͤte am Munde, nach dem Bruder
um, und ſah es, wie er hinter ihm ſtand, von
den Scharlachfluͤgeln der Abendroͤthe und der
geruͤhrten Entzuͤckung uͤberdekt, und mit bloͤdem
ſtillen Weinen im blauen Auge. — Die heilige
Muſik zeigt den Menſchen eine Vergangenheit
und eine Zukunft, die ſie nie erleben. Auch dem
Floͤtenſpieler quoll jezt die Bruſt wol von unge¬
ſtuͤmer Liebe. Walt ſchrieb ſie blos den Toͤnen
zu, druͤkte aber wild und voll lauterer Liebe die
ſchoͤpferiſche Hand. Vult ſah ihn ſcharf an,
wie fragend. „Auch an meinen Bruder denk'
ich, ſagte Walt; und wie ſollt' ich mich jezt
nicht nach ihm ſehnen?“


Nun warf Vult Kopf-ſchuͤttelnd die Floͤte
weg — ergrif ihn — hielt ihn von ſich, da er
[156] ihn umarmen wollte — ſah ihm brennend ins
fromme Geſicht und ſagte: Gottwalt, kennſt du
mich nicht mehr? „Ich bin ja der Bruder.“ —
„Du? O ſchoͤner Himmel! Und du biſt mein
Bruder Vult?“ ſchrie Walt und ſtuͤrzte an ihn.
Sie weinten lange. Es donnerte ſanft im Mor¬
gen. „Hoͤre unſern guten Allguͤtigen!“ ſagte
Walt. Der Bruder antwortete nichts. Ohne
weitere Worte giengen beide langſam Hand in
Hand aus dem Gottesacker.

Nro. 14. Model eines Hebammenſtuhls.

Projekt der Gether-Muͤhle. — Der Zauber-Abend.


Fuͤr zwei luftige Komoͤdianten, die den
Oreſt und Pylades ſich einander abhoͤren, muſte
jeder beide halten, der ihnen aus dem Wirths¬
haus nachſah, wie ſie unten in einer abgemaͤh¬
ten Wieſe ſich in Lauf-Zirkeln umtrieben mit
langen Zweigen in der Hand, um ihre Vergan¬
genheiten gegen einander auszutauſchen. Aber
der Tauſch war zu ſchwer. Der Floͤtenſpieler
verſicherte, ſein Reiſeroman — ſo kuͤnſtlich ge¬
[157] ſpielt auf dem breiten Europa — ſo niedlich
durchflochten mit den ſeltenſten confeſſions
ſtets von neuem gehoben durch die Windlade und
Hebemaſchine der Flûte de travers — waͤre zwar
fuͤr die Magdeburger Zenturiatoren, wenn ſie ihm
nachſchreibend nachgezogen waͤren, ein Stoff und
Fund geweſen, aber nicht fuͤr ihn jezt, der dem
Bruder andere Sachen zu ſagen habe, beſonders
zu fragen, beſonders uͤber deſſen Leben. Etwas
von dieſer Kuͤrze mocht' ihm auch der Gedancke
diktieren, daß in ſeiner Geſchichte Kapitel vorkaͤ¬
men, welche die herzliche Zuneigung, womit
der unſchuldige ihn freudig beſchauende Juͤngling
ſeine erwiederte, in einem ſo weltunerfahrnen rei¬
nen Gemuͤthe eben nicht vermehren koͤnnten; er
merkte an ſich — da man auf Reiſen unver¬
ſchaͤmt iſt — er ſei faſt zu Hauſe.


Walts Lebens-Roman hingegen waͤre ſchnell
in einen Univerſitaͤtsroman zuſammen ge¬
ſchrumpft, den er zu Hauſe auf dem Seſſel ſpiel¬
te durch Leſen der Romane, und ſeine Acta
eruditorum
in den Gang eingelaufen, den er in
den Hoͤrſal machte und zuruͤck in ſein viertes
[158] Stockwerk — wenn nicht das Van der Kabel¬
ſche Teſtament geweſen waͤre; aber durch dieſes
hob ſich der Notar mit ſeiner Geſchichte.


Er wollte den Bruder mit den Notizen da¬
von uͤberraſchen; aber dieſer verſicherte, er wiſſe
ſchon alles, ſei geſtern beim Examen geweſen,
und unter dem Zanke auf dem Pelzapfelbaum
geſeſſen. —


Der Notar gluͤhte ſchamroth, daß Vult
ſeinen Zorn-Kaſkatellen und ſeinen Verſen zuge¬
horcht; — „er ſei wohl, fragt' er verwirrt, ſchon
mit dem H. van der Harniſch angekommen,
der mit dem Kandidaten von ihm geſprochen.
„Ja wohl, ſagte Vult, denn ich bin jener Edel¬
mann ſelber.“ Walt muſte fortſtaunen und
fortfragen, wer ihm denn dem Adel gegeben.
„Ich an Kaiſersſtatt, verſezte dieſer, gleichſam
ſo als augenblicklicher ſaͤchſiſcher Reichsvikarius
des guten Kaiſers, es iſt freilich nur Vikariats-
Adel.“ — Walt ſchuͤttelte moraliſch den Kopf.
„Und nicht einmal der, ſagte Vult, ſondern et¬
was ganz erlaubtes nach Wiarda*), welcher
[159] ſagt, man koͤnne ohne Bedenken ein von ent¬
weder vor den Ort oder auch vor den Vater
ſezen, von welchem man komme; ich konnte mich
nach ihm eben ſo gut Herr von Elterlein umtau¬
fen als Herr von Harniſch. Nennt mich einer
gnaͤdiger Herr, ſo weis ich ſchon, daß ich einen
Wiener hoͤre, der jeden buͤrgerlichen Gentleman
ſo anſpricht und laſſ' ihm gern ſeine ſo unſchul¬
dige Sitte.“ —


„Aber du konnteſt es geſtern aushalten, ſag¬
te Walt, die Eltern zu ſehen und den Jammer
der Mutter unter dem Eſſen uͤber dein Schickſal
zu hoͤren, ohne herab und hinein an die beſorg¬
ten Herzen zu ſtuͤrzen?“ —


„So lange ſas ich nicht auf dem Baume
— — Walt, ſagt' er ploͤzlich vor ihn vorſprin¬
gend — Sieh mich an! Wie Leute gewoͤhnlich ſonſt
aus ihren Noth- und Ehrenzuͤgen durch Euro¬
pa, heimkommen, beſonders wie morſch, wie
zerſchabt, wie zerſchoſſen gleich Fahnen, braucht
dir wohl niemand bei deiner ausgedehnten Lektuͤ¬
re lange zu ſagen; — ob es gleich ſehr erlaͤu¬
tert wuͤrde, wenn man dir dazu einen Fahnen¬
[160] traͤger dieſer Art — dir unbekannt, aber aus ei¬
nem altgraͤflichen Hauſe gebuͤrtig, und deſſen
Ahnenbilderſaal mit ſich als Hogarths Schwanz¬
ſtuͤck und Finalſtock beſchlieſſend, — wenn man
dir jenen Grafen vorhalten koͤnnte, der eben jezt
vollends in London verſiert und einſt nie mehr
Arbeit vor ſich finden wird, als wenn er von den
Todten auferſtehen will, und ſich ſeine Glieder,
wie ein Fruͤhſtuͤck in Paris, in der halben alten
Welt zuſammenklauben muß, die Wirbelhaare
auf den Straſſendaͤmmen nach Wien — die
Stimme in den Konſervatorien zu Rom — ſei¬
ne erſte Naſe in Neapel, wo ſich mehrere Sta¬
tuen mit zweiten ergaͤnzen — ſeine anus cerebri
(dieſe Gedaͤchtnis-Size nach Hoobocken) und
ſeine Zirbeldruͤſe und mehrere Sachen in der
Propaganda des Todes mehr als des Lebens —
— Kurz der Tropf (er hat mir den Redefa¬
den verworren ) findet nichts auf dem Kirchhof
neben ſich als das, worein er jezt, wie andere
Leichen auf dem St. Innozenz-Kirchhof in Pa¬
ris, ganz verwandelt iſt, das Fet — — Nun
aber beſchau' mich, und die Juͤnglingsroſen —
[161] das Maͤnnermark — die Reiſebraͤune — die
Augenflammen — das volle Leben: was fehlt
mir? Was dir fehlet — etwas zu leben. No¬
tar, ich bin nicht ſehr bei Geld.“


„Deſto beſſer — verſezte Walt ſo gleichguͤl¬
tig, als kenn' er das Schoͤpfrad aller Virtuo¬
ſen ganz gut, das ſich immer zu fuͤllen und zu
leeren, eigentlich aber nur durch beides umzu¬
ſchwingen ſucht — ich habe auch nichts, doch
haben wir beide die Erbſchaft“. . . Er woll¬
te noch etwas freigebiges ſagen, aber Vult un¬
terfuhr ihn: „ich wollte vorhin nur andeuten,
Freund, daß ich mithin in Ewigkeit nie mich in
verlorner Sohnes-Geſtalt vor die Mutter ſtelle,
— und vollends vor den Vater! — Freilich
koͤnnt' ich mit einer langen Stange von Gold
in die Hausthuͤre einſchreiten! — — Bei Gott,
ich wollte ſie oft beſchenken — ich nahm einmal
abſichtlich Extrapoſt, um ihnen eine erklekliche
Spiel-Summe (nicht auf der Floͤte, ſondern
auf der Karte erſpielt) zugleich mit meiner Perſon
ſchneller zu uͤberreichen; leider aber zehr' ichs
gerade durch die Schnelle ſelber auf und muß
Flegeljahre I. Bd. II.[162] auf halbem Weg leer umwenden. Glaub' es mir,
guter Bruder, ob ichs gleich ſage. So oft ich
auch nachher gieng und floͤtete, das Geld gieng
auch floͤten.“


„Immer das Geld — ſagte Walt — die
Eltern geht nur ihr Kind, nicht deſſen Gaben
an; koͤnnteſt du ſo ſcheiden und zumal die lie¬
be Mutter, in der langen nagenden Sorge laſ¬
ſen, woraus du mich erloͤſet?“ — Gut? ſagt'
er. So moͤg' ihnen denn durch irgend einen
glaubwuͤrdigen Mann aus Amſterdam oder Haag,
etwan durch einen H. von der Harniſch geſchrie¬
ben werden, ihr ſchaͤzbarer Sohn, den er per¬
ſoͤnlich kenne und ſchaͤze, emergiere mehr, habe
jezt Mittel und vor tauſenden das Praͤ und lange
kuͤnftig an, ſo wie jezt aus. Ach was! Ich
koͤnnte ſelber nach Elterlein hinaus reiten, Vults
Geſchichte erzaͤhlen und beſchwoͤren und falſche
Briefe von ihm an mich vorzeigen — die noch
dazu wahre waͤren — naͤmlich dem Vater; die
Mutter, glaub' ich, erriethe mich oder ſie bewegte
mich, denn ich liebe ſie wohl kindlich! — Schei¬
den, ſagteſt du? Ich bleibe ja bei dir, Bruder!“
[163] Das uͤberfiel den Notarius wie eine verſtek¬
te Muſik, die an einem Geburtstage heraus
bricht. Er konnte nicht aufhoͤren, zu jubeln und
zu loben. Vult aber eroͤfnete, warum er da
bleibe, naͤhmlich erſtlich und hauptſaͤchlich, um
ihm als einem argloſen Singvogel, der beſſer
oben fliegen als unten ſcharren koͤnne, unter dem
adelichen Inkognito gegen die 7 Spizbuben bei¬
zuſtehen; denn, wie geſagt, er glaube nicht ſon¬
derlich an deſſen Sieg.


„Du biſt freilich, verſezte Walt betroffen,
ein gereiſeter Weltmann, und ich haͤtte zu wenig
geleſen und geſehen, wollt' ich das nicht merken;
aber ich hoffe doch, daß ich, wenn ich mir im¬
mer meine Eltern vorhalte, wie ſie ſo lange an¬
gekettet auf dem dunſtigen Ruderſchiffe der Schul¬
den ein bitteres Leben befahren, und wenn ich
alle meine Kraͤfte zur Erfuͤllung der Teſtaments-
Bedingungen zuſammen nehme, ich hoffe wohl,
daß ich dann die Stunde erzwinge, wo ihnen
die Ketten entzwei geſchlagen, und ſie auf ein
gruͤnes Ufer einer Zuckerinſel ausgeſchift ſind,
und wir uns alle frei unter dem Himmel umar¬
[164] men. Ja ich hatte bisher gerade die umgekehr¬
te Sorge fuͤr die armen Erben ſelber, an deren
Stelle ich mich dachte, wenn ich ſie um alles
braͤchte; und nur die Betrachtung machte mich
ruhig, daß ſie doch die Erbſchaft, ſchluͤg' ich ſie
auch aus, nicht bekaͤmen und daß ja meine El¬
tern weit aͤrmer ſind und mir naͤher.“


„Der zweite Grund — verſezte Vult —
warum ich in Haslau verbleibe, hat mit dem
erſten nichts zu thun, ſondern alles blos mit
einer goͤttlichen Windmuͤhle, die der blaue Aether
treibt, und auf welcher wir beide Brod — du
erbſt indes immer fort — ſoviel wir brauchen,
mahlen koͤnnen. Ich weis nicht, ob es ſonſt
nicht noch fuͤr uns beide etwas ſo angenehmes
oder nuͤzliches giebt, als eben die Aethermuͤhle,
die ich projektieren will; die Friſiermuͤhlen der
Tuchſcheerer, die Bandmuͤhlen der Berner, die
Molae aſinariae oder Eſelsmuͤhlen der Roͤmer
kommen nicht in Betracht gegen meine.“


Walt war in groͤſter Spannung und bat
ſehr darum. „Droben bei einem Glas Kraͤzer,“
verſezte der Vult. Sie eilten den Huͤgel auf zum
[165] Wirthshaus. Drinnen thaten ſich ſchon an ei¬
nem Tiſche, der die Marſchalls- Pagen- und
Lakaientafel war, ſchnelle Freszangen auf und
zu. Der Wein wurde auf einen Stuhl geſezt ins
Freie. Das weiſſe Tiſchtuch ihres verſchobenen
Soupers glaͤnzte ſchon aus der wandloſen Stu¬
be herab. Vult fieng damit an, daß er dem
Modelle der kuͤnftigen Aethermuͤhle das Lob von
Walts geſtrigen Strekverſen voraus ſchickte —
daß er ſein Erſtaunen bezeugte, wie Walt bei
ſonſtigem Ueberwallen im Leben, doch jene Ru¬
he im Dichten habe, durch welche ein Dichter es
dem Waſſer-Rennen der Bayerinnen gleich thut,
welche mit einem Scheffel Waſſer oder Hippokre¬
ne auf dem Kopfe unter der Bedingung wettlau¬
fen, nichts zu verſchuͤtten, und daß er fragte,
wie er als Juriſt zu dieſer poetiſchen Ausbildung
gekommen.


Der Notarius trank mit Geſchmack den Kraͤ¬
zer, und ſagte zweifelnd vor Freude: wenn wuͤrk¬
lich etwas poetiſches an ihm waͤre, auch nur
der Flaum einer Dichterſchwinge, ſo kaͤme es
freilich von ſeinem ewigen Beſtreben in Leipzig
[166] her, in allen vom Jus freigelaſſenen Stunden
an gar nichts zu hangen, an gar nichts aufzu¬
klettern, als am hohen Olymp der Muſen, dem
Goͤtterſize des Herzens, wiewohl ihm noch nie¬
mand recht gegeben, als Goldine und der Kandi¬
dat; „aber, guter Vult, ſcherze hier nicht mit
mir. Die Mutter nannte dich ſchon fruͤh den
Spaſſer. Iſt dein Urtheil Ernſt?“ — „Ich
will hier den Hals brechen, Tabellio, verſezte
Vult, bewunder' ich nicht dich und deine Verſe
aus voller Kunſt-Seele. Hoͤr' erſt weiter!“ —


„Ach warum werd ich denn ſo uͤbergluͤcklich,
(unterbrach ihn Walt und trank)? Geſtern find
ich den Plato, heute dich, gerade zwei Num¬
mern nach meinem Aberglauben. Du hoͤrteſt
geſtern alle Verſe?“ — Mitten unter dem hef¬
tigen Auf- und Abſchreiten ſuchte er immer das
Wirthskind, das im Hofe unter der Baute von
Kartoffeln-Samenkapſeln furchtſam aufgukte,
jedesmal ſehr anzulaͤcheln, damit es nicht er¬
ſchraͤcke.


Vult fieng, ohne ihm zu antworten, ſein
Muͤhlen-Model folgendermaaßen vorzulegen an,
[167] ſehr unbeſorgt, wie jeder Reiſende, uͤber ein zu¬
faͤlliges fuͤnftes Ohr:


Andaͤchtiger Mitbruder und Zwilling! Es
giebt Deutſche. Fuͤr ſie ſchreibe dergleichen.
Jene faſſen es nicht ganz, ſondern rezenſieren es,
beſonders exzellenten Spas. Sie wollen der poe¬
tiſchen Schoͤnheitslinie ein Linienblatt unterlegen;
dabei ſoll der Autor noch nebenher ein Amt ha¬
ben, was aber ſo ſchlimm iſt als wenn eine
Schwangere die Pocken zugleich hat. Die Kunſt
ſei ihr Weg und Ziel zugleich. Durch den juͤdi¬
ſchen Tempel durfte man nach Lightfoote nicht
gehen, um blos nach einem andern Orte zu ge¬
langen; ſo iſt auch ein bloßer Durchgang durch
den Muſentempel verboten. Man darf nicht
den Parnas paſſieren, um in ein fettes Thal zu
laufen. — Verdammt! Laſſ' mich anders an¬
fangen! zanke nicht! Trinke! — Jezt:
Walt!


Ich habe naͤmlich auf meinen Floͤtenreiſen
ein ſatiriſches Werk in den Druck gegeben als
Manuſkripte, die groͤnlaͤndiſchen Pro¬
zeſſe
in zwei Baͤnden anno 1783 bei Voß und
[168] Sohn in Berlin. (Ich erſtaune ganz, ſagte
Walt verehrend.) Ich wuͤrde dich inzwiſchen
ohne Grund mit Luͤgen beſezen, wenn ich dir
verkuͤndigen wollte, die Bekanntmachung dieſer
Baͤnde haͤtte etwan mich oder die Sachen ſelber
im Geringſten bekannt gemacht. Nimmt man
ſechs oder ſieben Schergen, zugleich Schaͤcher
und Schaͤchter aus — und hier fallen zwei auf
die Allg. deutſche Bibliothek, die alſo wohl ei¬
ner ſind — ſo hat leider keine Seele die Scripta
getadelt und gekannt. Es iſt hier — wegen dei¬
ner Ungeduld nach der verſprochenen Aethermuͤh¬
le — wohl nicht der Ort, es gluͤcklich ausein¬
ander zu ſetzen warum; — habe genug, wenn
ich dir ſchwoͤre, daß die Rezenſenten Suͤnder
ſind, aber arme, aͤchte Gurkenmaler, die ſich
daher Gurken herausnehmen, Graͤnzgoͤtter ohne
Arme und Beine auf den Graͤnzhuͤgeln der Wiſ¬
ſenſchaften, und daß wir alle hinauf und hinab
florieren wuͤrden, gaͤb' es nur ſo viele gute Kunſt¬
richter als Zeitungen, fuͤr jede einen, ſo wie es
wirklich ſo viele meiſterhafte Schauſpieler giebt
als — eine in die andere uͤbergerechnet — Truppen.


[169]

„Es iſt eine der verwuͤnſchteſten Sachen. Oft
rezenſirt die Jugend das Alter, noch oͤfter das
Alter die Jugend, eine Rektors-Schlafhaube
kaͤmpfet gegen eine Juͤnglings-Sturmhaube —


Wie Kochbuͤcher, arbeiten ſie fuͤr den Ge¬
ſchmack, ohne ihn zu haben —


Solchen Sekanten, Koſekanten, Tangen¬
ten, Kotangenten kommt alles exzentriſch vor,
beſonders das Zentrum; der Kurzſichtige findet
nach Lambert *) den Kometenſchwanz viel laͤn¬
ger als der Weitſichtige —


Sie wollen den Schiefskiel des Autors len¬
ken, naͤmlich den ordentlichen Schreib-Kiel,
ſie wollen den Autor mit ihrem Richterſtabe, wie
Minerva mit ihrem Zauber-Stabe den Ulyſſes,
in einen Bettler und Greis verkehren —


Sie wollen die erbaͤrmlichſten Dinge bei
Gott“ — (Des Notars Geſicht zog ſich dabei
ſichtlich ins lange, weil er wie jeder, der nur
gelehrte Zeitungen haͤlt, aber nicht macht und
kennt, von einer gewiſſen Achtung fuͤr ſie, viel¬
[170] leicht gar einer hoffenden, nicht frei war.)


„Indes jeder Menſch, fuhr jener fort — ſei
billig; denn ich darf nicht uͤberſehen, daß es
mit Buͤchern iſt wie mit Poͤkelfleiſch, von wel¬
chem Hurham darthat, daß es zwar durch maͤſ¬
ſiges Salz ſich lange halte, aber auch durch zu
vieles ſogleich faule und ſtincke — Notarius, ich
machte das Buch zu gut, mithin zu ſchlecht.“ —


„Du wimmelſt von Einfaͤllen, (verſezte
Walt); ſcherzhaft zu reden, haſt du ſo vie¬
le Windungen und Koͤpfe wie die lernaͤiſche
Schlange.“


„Ich bin nicht ohne Wiz — erwiederte Vult
in vergeblicher Abſicht, daß der Bruder lache —
aber du reiſſeſt mich aus dem Zuſammenhang. —
Was kann ich nun dabei machen? Ich allein
Nichts; aber mit dir viel, naͤmlich ein Werk;
Ein Paar Zwillinge muͤſſen, als ihr eigenes
Widerſpiel, zuſammen einen Einling, Ein Buch
zeugen, einen treflichen Doppel-Roman. Ich
lache darinn, du weinſt dabei oder fliegſt doch
— Du biſt der Evangeliſt, ich das Vieh dar¬
hinter — jeder hebt den andern — alle Par¬
[171] theien werden befriedigt, Mann und Weib, Hof
und Haus, ich und Du. — Wirth, mehr Kraͤ¬
zer, aber aufrichtigen! — Und was ſagſt du
nun zu dieſem Projekt und Muͤhlengang — wo¬
durch wir beide herrlich den Mahlgaͤſten Him¬
melsbrod verſchaffen koͤnnen, und uns Er¬
denbrod, was ſagſt du zu dieſer Muſenros-
Muͤhle?“ —


Aber der Notar konnte nichts ſagen, er fuhr
blos mit einer Umhalſung an den Projektma¬
cher. Nichts erſchuͤttert den Menſchen mehr —
zumal den beleſenen — als der erſte Gedancke
ſeines Drucks. Alte tiefe Wuͤnſche der Bruſt
ſtanden auf einmal aufgewachſen in Walten da
und bluͤhten voll; wie in einem ſuͤdlichen Klima,
fuhr in ihm jedes nordiſche Strauchwerk zum
Palmenhain auf; er ſah ſich bereichert und be¬
ruͤhmt und Wochenlang auf dem poetiſchen Ge¬
burtsſtuhl. Er zweifelte in der Entzuͤckung an
nichts als an der Moͤglichkeit und fragte, wie
zwei Menſchen ſchreiben koͤnnten, und woher ein
romantiſcher Plan zu nehmen ſei?


„Geſchichten, Walt, hab' ich auf meinen
[172] Reiſen an 1001 erlebt, nicht einmal gehoͤrt; die¬
ſe werden ſaͤmmtlich genommen, ſehr gut ver¬
ſchnitten und verkleidet. Wie Zwillinge in ein
Dintenfas tunken? Beaumont und Fletſcher,
ſich Hundsfremd, naͤhten an Einem gemeinſchaft¬
lichen Schneider-Tiſche Schauſpiele, nach de¬
ren Naht und Suturen noch bis heute die Kriti¬
ker fuͤhlen und taſten. Bei den ſpaniſchen Dichtern
hatte oft ein Kind an neun Vaͤter, naͤmlich eine Ko¬
moͤdie, naͤmlich Autoren. Und im 1ſten Buch Moſis
kannſt du es am allererſten leſen, wenn du den Pro¬
feſſor Eichhorn dazu lieſeſt, der allein in der Suͤnd¬
fluht drei Autoren annimmt, auſſer dem vier¬
ten im Himmel. Es giebt in jedem epiſchen
Werke Kapitel, woruͤber der Menſch lachen
muß, Ausſchweifungen, die das Leben des Hel¬
den unterbrechen; dieſe kann, denk' ich, der Bru¬
der machen und liefern, der die Floͤte blaͤſet.
Freilich Paritaͤt, wie in Reichsſtaͤdten, muß ſein,
die eine Parthei muß ſo viele Zenſoren, Buͤttel,
Nachtwaͤchter haben als die andere. Geſchieht
nun das mit Verſtand, ſo mag wohl ein Werk
zu hecken ſein, ein Leda's Ei, das ſich ſogar
[173] vom Wolfiſchen Homer unterſcheidet, an dem
ſo viele Homeriden ſchreiben und vielleicht Homer
ſelber.” —


„Genug, genug rief Walt. Betrachte lie¬
ber den himmliſchen Abend um uns her!” In
der That bluͤhten Luſt und Lebens-Lob in allen
Augen. Mehrere Gaͤſte, die ſchon abgegeſſen,
tranken ihren Krug im Freien, alle Staͤnde ſtan¬
den untereinander, die Autoren mitten im tièrs¬
état
. Die Fledermaͤuſe ſchoſſen als Tropikvoͤ¬
gel eines ſchoͤnen Morgens um die Koͤpfe. An
einer Roſen-Staude krochen die Funken der Jo¬
hanniswuͤrmlein. Die fernen Dorfglocken riefen
wie ſchoͤne verhallende Zeiten heruͤber und ins
dunkle Hirtengeſchrei auf den Feldern hinein.
Man brauchte ſo ſpaͤt auf allen Wegen, nicht
einmal in dem Gehoͤlze, Lichter, und man konn¬
te bei dem Schein der Abendroͤthe die hellen Koͤpfe
deutlich durch das hohe Getraide waten ſehen.
Die Daͤmmerung lagerte ſich weit und breit nach
Weſten hinein, mit der ſcharfen Mond-Krone von
Silber auf dem Kopfe; nur hinter dem Hauſe ſchlich
ſich, aber ungeſehen, die große hohle Nacht aus
[174] Oſten heran. In Mitternacht glomm es leiſe
wie Apfelbluͤthe an und liebliche Blize aus Mor¬
gen ſpielten heruͤber in das junge Roth. Die
nahen Birken dufteten zu den Bruͤdern hinab, die
Heu-Berge unten dufteten hinauf. Mancher
Stern half ſich heraus in die Daͤmmerung und
wurde eine Flug-Maſchine der Seele.


Vult vergabs dem Notar, daß er kaum zu
bleiben wuſte. Er hatte ſo viele Dinge, und
unter ihnen den Kraͤzer im Kopfe; denn in die¬
ſem entſezlichen Weine, wahrem Weinbergs-Un¬
kraut fuͤr Vult, hatte ſich der arme Teufel —
dem Wein ſo hoch klang wie Aether — immer
tiefer in ſeine Jahre zuruͤckgetrunken, ins 20te,
ins 18te und leztlich ins 15te.


Auf Reiſen trift man Leute an, die darauf
zuruͤckſchwimmen bis ins 1te Jahr, bis an
die Quelle. Vormittags predigen es die Aebte
in ihren Viſitazionspredigten: werdet wie die
Kinder! Und Abends werden ſie es ſammt dem
Kloſter und beide lallen kindlich.


„Warum ſiehſt du mich ſo an, geliebter
Vult?” ſagte Walt. — „Ich denke an die ver¬
[175] gangenen Zeiten, verſezte jener, wo wir uns ſo
oft gepruͤgelt haben; wie Familienſtuͤcke haͤngen
die Bataillenſtuͤcke in meiner Bruſt — ich aͤr¬
gerte mich damals, daß ich ſtaͤrker und zorniger
war und Du mich doch durch Deine elaſtiſche
wuͤthige Schnelle aller Glieder haͤufig unter be¬
kamſt. Die unſchuldigen Kinderfreuden kommen
nie wieder, Walt!”


Aber der Notar hoͤrte und ſah nichts als
Apollos flammenden Sonnenwagen in ſich rol¬
len, worauf ſchon die Geſtalten ſeines kuͤnftigen
Doppelromans koloſſaliſch ſtanden und kamen;
unwillkuͤhrlich macht' er große Stuͤcke vom Buche
fertig, und konnte ſie dem verwunderten Bruder
zuwerfen. Dieſer wollte endlich davon aufhoͤren,
aber der Notar drang noch auf den Titel ihres
Buchs. Vult ſchlug „Flegeljahre” vor;
der Notar ſagte offen heraus, wie ihm ein Titel
widerſtehe, der theils ſo auffallend ſei, theils ſo
wild. „Gut, ſo mag denn die Duplizitaͤt der
Arbeit ſchon auf dem erſten Blatte bezeichnet
werden, wie es auch ein neuerer beliebter Autor
thut, etwan: Hoppelpoppel oder das Herz.”
[176] Bei dieſem Titel muſte es bleiben.


Beide mengten ſich wieder in die Gegen¬
wart ein.


Der Notar nahm ein Glas und drehte ſich
von der Geſellſchaft ab, und ſagte mit tropfen¬
den Augen zu Vult: „auf das Gluͤck unſerer
Eltern und auch der armen Goldine! Sie ſizen
jezt gewiß ohne Licht in der Stube und reden
von uns.“ — Hierauf zog der Floͤteniſt ſein In¬
ſtrument hervor, [und] blies der Geſellſchaft einige
gemeine Schleifer vor. Der lange Wirth tanzte
darnach langſam und zerrend mit dem ſchlaͤfri¬
gen Knaben; manche Gaͤſte regten den Takt-
Schenkel; der Notarius weinte dazu ſeelig, und
ſah ins Abendroth. „Ich moͤchte wohl, — ſagt'
er dem Bruder ins Ohr — die armen Fuhrleute
ſaͤmmtlich in Bier freihalten.“ — „Wahrſchein¬
lich, ſagte Vult, wuͤrfen ſie dich dann aus point
d'honneur
den Huͤgel hinunter. Himmel! ſie
ſind ja Kroͤſi gegen uns und ſehen herab.“ Vult
lies den Wirth ploͤzlich, ſtatt zu tanzen, ſervie¬
ren; ſo ungern der Notarius in ſeine Entzuͤckung
hinein eſſen und kaͤuen wollte.


[177]

„Ich dencke roher, ſagte Vult, ich reſpek¬
tiere alles was zum Magen gehoͤrt, dieſe Mont¬
golfiere des Menſchen-Zentaurs, der Realiſmus
iſt der Sancho Panſa des Idealiſmus. — Aber
oft geh' ich weit und mache in mir edle Seelen,
z. B. weibliche zum Theil laͤcherlich, indem ich
ſie eſſen und als Selbſt-Futterbaͤnke ihre untern
Kinnbacken ſo bewegen laſſe, daß ſie dem Thier
vorſchneiden.“


Walt unterdruͤckte ſein Misfallen an der Re¬
de. Begluͤckt aßen ſie oben vor der ausgebroche¬
nen Wand; die Abendroͤthe war das Tafellicht.
Auf einmal rauſchte mit verlornem Donnern eine
friſche Fruͤhlingswolke auf Laub und Graͤſer her¬
unter, der helle goldne Abendſaum blikte durch
die herabtropfende Nacht, die Natur wurde eine
einzige Blume und duftete herein und die erquick¬
te gebadete Nachtigall zog wie einen langen
Strahl einen heiſſen langen Schlag durch die
kuͤhle Luft. „Vermiſſeſt du jezt ſonderlich, frag¬
te Vult, die Park-Baͤume, den Parukenbaum,
den Gerberbaum — oder hier oben die Bedien¬
ten, die Servicen, den Goldteller mit ſeinem
Flegeljahre I. Bd. 12[178] Spiegel, damit darauf die Porzion mit falſchen
Farben ſchwimme?“ — „Warlich nicht, ſagte
Walt; ſieh, die ſchoͤnſten Edelſteine ſezt die Na¬
tur auf den Ring unſeres Bundes, — und mein¬
te die Blize. Die Luftſchloͤſſer ſeiner Zukunft
waren golden erleuchtet. Er wollte wieder vom
Doppel-Romane und dem Stoff dazu anfan¬
gen — und ſagte, er habe hinter der Schaͤferei
heute drei hineinpaſſende Strekverſe gemacht.
Aber der Floͤteniſt einer und derſelben Materie
bald uͤberdruͤßig und nach Ruͤhrungen ordentlich
des Spaſſes beduͤrftig, fragte ihn: warum er
zu Pferde gegangen? „Ich und der Vater, ſag¬
te Walt ernſt, dachten, eh wir von der Erbſchaft
wuſten, ich wuͤrde dadurch der Stadt und den
Kunden bekannter, weil man unter dem Thore,
wie du weiſt, nur die Reiter ins Intelligenz¬
blatt ſezt.“ Da brachte der Floͤteniſt wieder den
alten Reiterſcherz auf die Bahn und ſagte: „der
Schimmel gehe, wie nach Winkelmann die groſ¬
ſen Griechen, ſtets langſam und geſezt — er
habe nicht den Fehler der Uhren, die immer
ſchneller gehen, je aͤlter ſie werden — ja vielleicht
[179] ſei er nicht aͤlter als Walt, wiewohl ein Pferd
ſtets etwas juͤnger ſein ſollte als der Reiter, ſo
wie die Frau juͤnger als der Mann — ein ſchoͤ¬
nes roͤmiſches Sta Viator, Steh' Weg-Machen¬
der, bleibe der Gaul fuͤr den, ſo darauf ſize“. . . .


„O Lieber Bruder — ſagte Walt ſanft,
aber mit der Roͤthe der Empfindlichkeit und
Vults Laune noch wenig faſſend und belachend
— zieh mich damit nicht mehr auf, was kann
ich dafuͤr?“ — „Nu, nu, warmer Aſchgrau¬
kopf — ſagte Vult und fuhr mit der Hand
uͤber den Tiſch und unter alle ſeine weiche Locken,
ſtreichelnd Haar und Stirn — lies mir denn
deine drei Polymeter vor, die du hinter der Schaͤ¬
ferei gelammet.“


Er las folgende


Das ofne Auge des Todten


Blick' mich nicht an, kaltes ſtarres, blin¬
des Auge, du biſt ein Todter, ja der Tod. O
druͤcket das Auge zu, ihr Freunde, dann es iſt
nur Schlummer.


„Warſt du ſo truͤbe geſtimmt an einem ſo
ſchoͤnen Tage.“ fragte Vult. „Seelig war ich
[180] wie jezt“ ſagte Walt. Da druͤkte ihm Vult die
Hand und ſagte bedeutend: „dann gefaͤllts mir,
das iſt der Dichter. Weiter!“


Der Kinderball.


Wie laͤchelt, wie huͤpfet ihr blumige Genien,
kaum von der Wolke geſtiegen! der Kunſt-Tanz
und der Wahn ſchlept euch nicht und ihr huͤp¬
fet uͤber die Regel hinweg. — Wie es tritt die
Zeit herein und beruͤhrt ſie? Große Maͤnner
und Frauen ſtehen da? Der kleine Tanz iſt er¬
ſtarrt, ſie heben ſich zum Gang und ſchauen
einander ernſt ins ſchwere Geſicht? Nein, nein,
ſpielet ihr Kinder, gaukelt nur fort in eurem
Traum, es war nur einer von mir.


Die Sonnenblume und die Nachtviole.


Am Tage ſprach die volle Sonnenblume:
Apollo ſtrahlt und ich breite mich aus, er wandelt
uͤber die Welt und ich folge ihm nach. In der
Nacht ſagte die Viole: niedrig ſteh' ich und ver¬
borgen — und bluͤhe in kurzer Nacht; zuweilen
ſchimmert Phoͤbus milde Schweſter auf mich,
da werd' ich geſehen und gebrochen, und ſterbe
an der Bruſt.


[181]

„Die Nachtviole bleibe die lezte Blume im
heutigen Kranz!” ſagte Vult geruͤhrt, weil die
Kunſt gerade ſo leicht ihm ſpielen konnte, als er
mit der Natur, und er ſchied mit einer Umar¬
mung. In Walts Nacht wurden lange Violen¬
beete geſaͤet — an das Kopfkiſſen kamen durch
die ofne Wand die Duͤfte der erquikten Landſchaft
heran, und die hellen Morgentoͤne der Lerche —
ſo oft er das Auge aufthat, fiel es in den blauen
vollgeſtirnten Weſten, an welchem die ſpaͤten
Sternbilder nach einander hinunterzogen als Vor¬
laͤufer des ſchoͤnen Morgens.

Nro. 15. Rieſenmuſchel.

Die Stadt — chambre garnie


Walt ſtand mit einem Kopfe voll Morgen¬
roth auf und ſuchte den bruͤderlichen, als er ſei¬
nen Vater, der ſich ſchon um 1 Uhr auf ſeine
langen Beine gemacht, mit weiten Schritten und
Reiſebleich durch den Hof laufen ſah. Er hielt
ihn an. Er muſte lange gegen den Strafpredi¬
ger ſeine Gegenwart durch die ausgebrochene
[182] Mauer herunter vertheidigen. Darauf bat er den
muͤden Vater, zu reiten, indes er zu Fuße ne¬
ben ihm laufe. Lukas nahm es ohne Dank an.
Sehnſuͤchtig nach dem Bruder, der ſich nicht zei¬
gen durfte, verlies Walt die Buͤhne eines ſo hol¬
den Spielabends.


Auf dem wagrechten Wege, der keinen Waſ¬
ſertropfen rollen lies, bewegte ſich das Pferd oh¬
ne Tadel und hielt Schritt mit dem tauben
Sohne, dem der Vater von der Sattel-Kanzel —
unzaͤhlige Rechts- und Lebensregeln herab warf.
Was konnte Gottwalt hoͤren? Er ſah nur in-
und auſſer ſich, glaͤnzende Morgenwieſen des Ju¬
gendlebens, ferner die Landſchaft auf beiden
Seiten der Chauſſée, ferner die dunklen Blumen¬
gaͤrten der Liebe, den hohen hellen Muſenberg
und endlich die Thuͤrme und Rauchſaͤulen der
ausgebreiteten Stadt. Izt ſaß der Vater mit
dem Befehle an den Notarius ab, durchs Thor
zum Fleiſcher zu reiten, in ſein Logis, und um
10 Uhr in den weichen Krebs zu gehen, wo
man auf ihn warten wolle, um mit ihm ge¬
hoͤrig vor dem Magiſtrate zu erſcheinen.


[183]

Walt ſaß auf und flog wie ein Cherub durch
den Himmel. Die Zeit war ſo anmuthig; an
den Haͤuſer-Reihen glaͤnzte weiſſer Tag; in den
gruͤnen thauigen Gaͤrten bunter Morgen, ſelber
ſein Vieh wurde poetiſch und trabte ungeheiſſen,
weil es ſeinem Stall nahe und aus dem Herrn¬
hutiſchen hungrig kam. — Der Notarius ſang
laut im Fluge des Schimmels. Im ganzen Fuͤr¬
ſtenthum ſtand kein Ich auf einem ſo hohen Ge¬
hirnhuͤgel als ſein eigenes, welches daran herab
wie von einem Aetna in ein ſo weites Leben voll
morganiſcher Feen hineinſah, daß die blizenden
Saͤulen, die umgekehrten Staͤdte und Schiffe
den ganzen Tag haͤngen blieben in der Spie¬
gelluft.


Unter dem Thore befragte man ihn, woher.
Von Haslau“ verſezte er entzuͤckt, bis er den
laͤcherlichen Irrthum eilig umbeſſerte und ſagte:
nach Haslau. Das Pferd regierte wie ein Wei¬
ſer ſich ſelber und brachte ihn leicht durch die
bevoͤlkerten Gaſſen an den Stall, wo er mit
Dank und in Eile abſtieg, um ſo fort ſeine
chambre garnie“ zu beziehen. Auf den hellen
[184] Gaſſen voll Feldgeſchrei, gleichſam Kompagnie¬
gaſſen eines Luſtlagers, ſah ers gern, daß er
ſeinen Hausherrn, den Hofagent Neupeter kaum
finden konnte. Er gewann damit die Zeit, die
verſchuͤttete Gottes-Stadt der Kindheit auszu¬
ſcharren und den Schutt weg zu fahren, ſo daß
zulezt voͤllig dieſelben Gaſſen ans Sonnenlicht
kamen, eben ſo praͤchtig, ſo breit, und voll
Pallaͤſte und Damen, wie die waren, durch wel¬
che er einmal als Kind gegangen. Ganz wie
zum erſtenmale, faſte ihn die Pracht des ewigen
Getoͤſes, die ſchnellen Wagen, die hohen Haͤuſer
mit ihren Statuen darauf und die flitternen
Opern- und Gallakleider mancher Perſon. Er
konnte kaum annehmen, daß es in einer Stadt
einen Mittwoch, einen Sonnabend und andere
platte Bauerntage gebe, und nicht jede Woche
ein hohes Feſt von ſieben Feiertagen. Auch ſehr
ſauer wurd' es ihm zu glauben — ſehen muſt'
ers freilich, — daß ſo gemeine Leute wie Schuh¬
flicker, Schneidermeiſter, Schmide und andere
Ackerpferde des Staats, die auf die Doͤrfer ge¬
hoͤrten, mitten unter den feinſten Leuten wohnten
und giengen.


[185]

Er erſtaunte uͤber jeden Werkeltagshabit
weil er ſelber mitten in der Woche den Sonntag
anhabend — den Nanking — gekommen war;
alle groſſe Haͤuſer fuͤllte er mit gepuzten Gaͤſten,
und ſehr artigen Herren und Damen an, die je¬
ne liebe- winkend bewirtheten, und er ſah nach
ihnen an alle Balkons und Erker hinauf. Er
warf helle Augen auf jeden voruͤbergehenden
lakierten Wagen, und auf jeden rothen Schaul,
auf jeden Friſeur, der ſogar Werkeltags arbeitete
und tafelfaͤhig machte und auf den Kopfſallat, der
im Springbrunnen ſchon Vormittags gewaſchen
wurde, anſtatt in Elterlein nur Sonntagsabends.


Endlich ſties er auf die lakirte Thuͤre mit
dem goldgelben Titelblatt: Material- Hand¬
lung von Peter Neupeter et Compagnie und
gieng durch die Ladenthuͤre ein. Im Gewoͤlbe
wartete er es ab, bis die hin- und herſpringen¬
den Ladenſchuͤrzen alle Welt abgefertigt haͤtten.
Zulezt, da endlich nach der Ancienneté der
Mahlgaͤſte auch ſeine Reihe kam, fragte ihn
ein freundliches Puͤrſchgen, was ihm beliebe:
„Nichts — verſezte er ſo ſanft als es ſeine Stim¬
[186] me nur vermochte — ich bekomme hier eine
chambre garnie, und wuͤnſche dem Hrn. Hof¬
agenten mich zu zeigen.“ — Man wies ihn an
die Glasthuͤre der Schreibſtube. Der Agent —
mehr Seide im Schlafrock tragend als die Ge¬
richtsmaͤnnin im Sonntagspuz — ſchrieb den
Brief-Perioden gar aus und empfieng mit ei¬
nem Apfel-rothen und runden Geſichte den
Miethsmann.


Der Notarius gedachte wahrſcheinlich, mit
ſeinem Rosgeruch und ſeiner Spiesgerte zu im¬
ponieren als Reiter, aber fuͤr den Agenten —
den woͤchentlichen Lieferanten der groͤſten Leute
und den jaͤhrlichen Glaͤubiger derſelben — war
ein Schock berittener Notarien von keiner ſonder¬
lichen Importanz.


Er rief ganz kurz einem Laden-Pagen her¬
riſch zu, den Herrn anzuweiſen. Der Page rief
wieder auf der erſten Treppe ein bildſchoͤnes net¬
tes, ſehr verdruͤsliches Maͤdgen heraus, damit
ſie den Herrn mit der Spiesgerte bis zur vierten
braͤchte. Die Treppen waren breit und glaͤnzend,
die Gelaͤnder figurierte Eiſen-Guirlanden, alles
[187] froh erhellt, die Thuͤr-Schloͤſſer und Leiſten
ſchienen vergoldet, an den Schwellen lagen lan¬
ge bunte Teppiche. Unterwegs ſuchte er die
Stumme dadurch zu erfreuen und zu belohnen,
daß er ſanft ihren Namen zu wiſſen wuͤnſchte.
Flora heiſſet der Name, womit das ſchoͤne muͤr¬
riſche Ding auf die Nachwelt uͤbergeht.


Die Chambre garnie gieng auf. — Frei¬
lich nicht fuͤr jeden waͤre ſie geweſen, ausgenom¬
men als chambre ardente; mancher, der im
rothen Hauſe zu Frankfurt oder im Egalitaͤts-
Pallaſte geſchlafen, haͤtte an dieſem langen Men¬
ſchen-Koben voll Ururur-Moͤbeln, die man vor
dem glaͤnzenden Hauſe hier zu verſtecken ſuchte,
vieles freimuͤthig ausgeſezt. Aber ein Polymetri¬
ker im Goͤttermonat der Jugend, ein ewig ent¬
zuͤckter Menſch, der das harte Leben ſtets, wie
Kenner die harten Cartons von Raphael, blos
im (poetiſchen) Spiegel beſchauet und mildert —
der an einer Fiſcher-Hunds- und jeder Huͤtte ein
Fenſter aufmacht und ruft: iſt das nicht praͤch¬
tig drauſſen? — der uͤberall, er ſei im Eſkurial,
das wie ein Roſt, oder in Carlsruh, das wie
[188] ein Faͤcher, oder in Meinungen, das wie eine
Harfe, oder in einem Seewurm-Gehaͤuſe, das
wie eine Pfeife gebauet iſt, die Sommerſeite fin¬
det und dem Roſte Feuerung abgewinnet, dem
Faͤcher Kuͤhlung, der Harfen Toͤne, der See-
Pfeife desfalls — Ich meine uͤberhaupt, ein
Menſch, wie der Notarius, der mit einem ſol¬
chen Kopfe voll Ausſichten uͤber die weite Bie¬
nenflora ſeiner Zukunft hin in den Bienenkorb
einfliegt und einen fluͤchtigen Ueberſchlag des Ho¬
nigs macht, den er darinn aus tauſend Blu¬
men tragen wird, ein ſolcher Menſch darf uns
weiter nicht ſehr in Verwunderung ſezen, wenn
er ſogleich ans Abend-Fenſter ſchreitet, es auf¬
reiſſet und vor Floren entzuͤckt ausruft: „goͤtt¬
liche Ausſicht! Da unten der Park — ein Ab¬
ſchnitt Marktplaz — dort die zwei Kirchthuͤrme —
druͤben die Berge — Warlich ſehr ſchoͤn!” —
Denn dem Maͤdchen wollt' er auch eine kleine
Freude zuwenden durch die Zeichen der ſeinigen.


Er warf jezt ſein gelbes Roͤckgen ab, um
als Selbſtquartiermeiſter in Hemdaͤrmeln alles
ſo zu ordnen, daß, wenn er von der verdruͤßli¬
[189] chen Erſcheinung vor dem Stadtrathe nach Hau¬
ſe kaͤme, er ſogleich ganz wie zu Hauſe ſein koͤnn¬
te, und nichts zu machen brauchte als die Fort¬
ſezung ſeines Himmels und ſeinen Strekvers und
etwas von dem abgekarteten Doppelroman. Den
Abhub der Zeit, den Bodenſaz der Mode, den
der Agent im Zimmer fallen laſſen, nahm er fuͤr
ſchoͤne Handelszeichen, womit der Handelsmann
eine beſondere Sorgfalt fuͤr ihn offenbaren wol¬
len. Mit Freuden trug er von 12 gruͤnen in
Tuch und Kuhhaar gekleideten Seſſeln die Haͤlf¬
te — man konnte ſonſt vor Sitzen nicht ſte¬
hen — ins Schlafgemach zu einem lakirten Re¬
genſchirm von Wachstuch und einem Ofenſchirm
mit einem Frauen-Schattenris. Aus einer Kom¬
mode — einem Haͤusgen im Haus — zog er
mit beiden Haͤnden ein Stockwerk nach dem an¬
dern aus, um ſeine nachgefahrne fahrende Habe
darein zu ſchaffen. Auf einem Theetiſchgen von
Zinn konnte alles Kalte und das Heiße getrun¬
ken werden, da es beides ſo kuͤhlte. Er erſtaunte
uͤber den Ueberfluß, worinn er kuͤnftig ſchwimmen
ſollte. Denn es war noch eine Paphoſe da, (er
[190] wuſte gar nicht was es war) — ein Buͤcher¬
ſchrank mit Glasthuͤren, deren Rahmen und
Schloͤſſer ihm, weil die Glaͤſer fehlten, ganz
unbegreiflich waren, und worein er oben die Buͤ¬
cher ſchickte, unten die Notariats-Haͤndel —
ein blau angeſtrichener Tiſch mit Schubfach,
worauf ausgeſchnittene bunte Bilder, Jagd-
Blumen- und andere Stuͤcke zerſtreuet aufgepap¬
pet waren, und auf welchem er dichten konnte,
wenn ers nicht lieber auf einem Arbeitstiſchgen
mit Rehfuͤſſen und einem Einſaz von lakiertem
Blech thun wollte — endlich ein Kammerdiener
oder eine Servante, die er als Sekretair an den
Schreibtiſch drehte, um auf ihre Scheiben Pa¬
pier, eine feine Feder zur Poeſie, eine grobe zum
Jus zu legen. Das ſind vielleicht die wichtigern
Pertinenzſtuͤcke ſeiner Stube, wobei man Lappa¬
lien, leere Markenkaͤſtgen, ein Naͤhpult, einen
ſchwarzen baſaltenen Kaligula, der aus Bruſt-
Mangel nicht mehr ſtehen konnte, ein Wand¬
ſchraͤncklein u. ſ. w. nicht anſchlagen wollte.


Nachdem er noch einmal ſeine Stiftshuͤtte
und deren Ordnung vergnuͤgt uͤberſchauet, und
[191] ſich zum Fenſter hinaus gelegt, und unten die
weiſſen Kiesgaͤnge und dunckeln vollaubigen Baͤu¬
me beſehen hatte: machte er ſich auf den Weg
zum Vater und freuete ſich auf den Treppen,
daß er in einem ſo koſtbaren Hauſe ein elendes
Wohn-Neſt beſize. Auf der Treppe wurde er
von einem hellblauen Couvert an die Hofagentin
feſt gehalten. Es roch wie ein Garten, ſo daß er
bald auf der Duft-Wolke mitten in die niedlichſten
Schreibzimmer der ſchoͤnſten Koͤniginnen und
Herzoginnen und Landgraͤfinnen hinein ſchwamm:
indes hielt ers fuͤr Pflicht, durch das Ladenge¬
woͤlbe zu gehen, und das Couvert redlich mit
den Worten abzugeben: hier ſei etwas an Ma¬
dam. Hinter ſeinem Ruͤcken lachte ſaͤmmtliche
Handels Pagerie ungewoͤhnlich.


Er traf ſeinen Vater in hiſtoriſcher Arbeit
und Freude an. Dieſer ſtellte ihn als Univer¬
ſalerben ſaͤmmtlichen Gaͤſten vor. Er ſchaͤmte
ſich als eine Merkwuͤrdigkeit dieſer Art lange
dem Beſchauen blos zuſtehen, und beſchleunigte
die Erſcheinung vor dem Stadtrath. Verſchaͤmt
und bange trat er in die Rathsſtube, wo er ge¬
[192] gen ſeine Natur als ein hoher Saitenſteg da ſte¬
hen ſollte, auf welchen andere Menſchen wie
Saiten geſpannt waren; er ſchlug die Augen vor
den Akzeſſit-Erben nieder, die gekommen wa¬
ren, ihren Broddieb abzuwaͤgen. Blos der ſtol¬
ze Neupeter fehlte ſammt dem Kirchenrath Glanz,
der ein viel zu beruͤhmter Prediger auf dem Kan¬
zel- und dem Schreibpulte war, um zur Schau
eines ungedruckten Menſchen nur drei Schritte
zu thun, von dem er die groͤſte Begierde forder¬
te, vielmehr Glanzen aufzuſuchen.


Der regierende Burgermeiſter und Exekutor
Kuhnold wurde mit Einem Blick der heimliche
Freund des Juͤnglings, der mit ſo erroͤthendem
Schmerz ſich allein, vor den Augen ſtehender
gefraͤßiger Zuſchauer an die gedeckte Gluͤckstafel
ſezte. Lukas aber beſichtigte jeden ſehr ſcharf.


Das Teſtament wurde verleſen. Nach dem
Ende der 3ten Klauſel zeigte Kuhnold auf den
Fruͤhprediger Flachs, als den redlichen Finder
und Gewinner des Kabelſchen Hauſes; und Walt
warf ſchnell die Augen auf ihn und ſie ſtanden
voll Gluͤckwuͤnſche und Goͤnnen.


[193]

Als er in der 4ten Klauſel ſich anreden hoͤr¬
te vom todten Wohlthaͤter: ſo waͤre er den Thraͤ¬
nen, deren er ſich in der Rathsſtube ſchaͤmte,
zu nahe gekommen, wenn er nicht uͤber Lob und
Tadel wechſelnd haͤtte erroͤthen muͤſſen. Der Lor¬
beerkranz, und die Zaͤrtlichkeit, womit Kabel
ihm jenen aufſezte, begeiſterte ihn mit einer ganz
andern heiſſern Liebe als das Fuͤllhorn, das er
uͤber ſeine Zukunft ausſchuͤttete. — Die darauf
folgenden Stellen, welche fuͤr den Vortheil der
7 Erben allerlei ausſprachen, verſezten dem
Schultheis den Athem, indem ſie dem Sohne
einen freiern gaben. Nur bei der 14ten Klauſel,
die ſeiner unbefleckten Schwanenbruſt den Schand¬
flek einer weiblichen Verfuͤhrung zutrauete oder
verbot, wurde ſein Geſicht eine rothe Flamme;
wie konnte, dachte er, ein ſterbender Menſchen¬
freund ſo oft ſo unzart ſchreiben?


Nach der Ableſung des Teſtaments begehr¬
te Knoll nach der 11ten Klauſel „Harniſch
muß
“ einen Eid von ihm, nichts auf das Teſta¬
ment zu entlehnen. Kuhnold ſagte, er ſei nur
„an Eides ſtatt“ es zu geloben ſchuldig. „Ich
Flegeljahre. I. Bd. 13[194] kann ja zweierlei thun; denn es iſt ja einerlei,
Eid und an Eidesſtatt und jedes bloße Wort”
ſagte Walt; aber der biedere Kuhnold ließ es
nicht zu. Es wurde protokolliert, daß Walt
den Notarius zum erſten Erbamt auswaͤhle —
Der Vater erbat ſich Teſtaments-Kopie, um
davon eine fuͤr den Sohn zu nehmen, welche die¬
ſer taͤglich als ſein altes und neues Teſtament
leſen und befolgen ſollte. — Der Buchhaͤndler
Pasvogel beſah und ſtudierte den Geſammt-Er¬
ben nicht ohne Vergnuͤgen und verbarg ihm ſei¬
ne Sehnſucht nach den Gedichten nicht, deren
das Teſtament, ſagt' er, fluͤchtig erwaͤhne —
Der Polizeiinſpektor Harprecht nahm ihn bei der
Hand und ſagte: „Wir muͤſſen uns oͤfters ſu¬
chen, Sie werden kein Erb-Feind von mir
ſein und ich bin ein Erbfreund; man ge¬
woͤhnt ſich zuſammen und kann ſich dann ſo we¬
nig entbehren, wie einen alten Pfahl vor ſeinem
Fenſter, den man, wie Le Vayer ſagt, nie ohne
Empfindung ausreiſſen ſieht. Wir wollen ein¬
ander dann wechſelſeitig mit Worten verkleinern;
denn die Liebe ſpricht gern mit Verkleinerungs¬
[195] woͤrtern.“ Walt ſah ihm arglos ins Auge, aber
Harprecht hielt es lange aus.


Ohne Umſtaͤnde ſchied Lukas vom geruͤhrten
Sohne, um die Kabelſchen Erbſtuͤcke, den Gar¬
ten und das Waͤldgen vor dem Thore und das
verlorne Haus in der Hundsgaſſe ſo lange zu be¬
ſehen, bis der Rathsſchreiber den lezten Willen
mochte abgeſchrieben haben.


Gottwalt ſchoͤpfte wieder Fruͤhlings-Athem,
als er die Rathsſtube wie ein enges dumpfiges
Winterhaus voll finſterer Blumen aus Eis ver¬
laſſen hatte; ſo vieles hatt' ihn bedraͤngt; er hat¬
te der unreinen Mimik des Hunds- und Heishun¬
gers gemeiner Welt-Herzen zuſchauen — und
ſich verhaſt und verworren ſehen muͤſſen — die
Erbſchaft hatte, wie ein Berg, die bisher von
der Ferne und der Phantaſie verſtekten und ge¬
fuͤllten Graͤben und Thaͤler jezt in der Naͤhe auf¬
gedeckt und ſich ſelber weiter hinausgeruͤckt —
der Bruder und der Doppelroman hatten unauf¬
hoͤrlich ihm in die enge Welt hinein, die Zeichen
einer unendlichen gegeben und ihn gelockt, wie
den Gefangnen bluͤhende Zweige und Schmet¬
[196] terlinge, die ſich auſſen vor ſeinen Gittern be¬
wegen.


Der liebliche Jeſuiterrauſch, den jeder den
ganzen erſten Tag in einer neuen groſſen Stadt
im Kopfe hat, war in der Rathsſtube meiſtens
verraucht. An der Wirthstafel, an der er ſich
einmiethete, kam unter der rauhen eheloſen Zi¬
vil-Kaſerne von Sachwaltern und Kanzelliſten
uͤber ſeine Zunge, auſſer etwas weniges von einer
geraͤucherten, nichts, kein warmer Bruder-Laut,
den er haͤtte ausſprechen oder erwiedern koͤnnen.
Den Bruder Vult wuſt' er nicht zu finden; und
am ſchoͤnſten Tage blieb er daheim, damit ihn
dieſer nicht fehl gienge. In der Einſamkeit ſezte
er ein kleines Inſerat fuͤr den Haslauer Kriegs-
und Friedens-Boten auf, worinn er als Nota¬
rius anzeigte, wer und wo er ſei; ferner einen
kurzen anomymen Strekvers fuͤr den Poeten-
Winkel des Blattes — Poets corner — uͤber¬
ſchrieben
der Fremde.

[...]
[197]

Gemein und dunkel wird oft die Seele ver¬
huͤllt, die ſo rein und offen iſt; ſo deckt graue
Rinde das Eis, das zerſchlagen, innen licht und
hell und blau wie Aether erſcheint. Bleib' euch
ſtets die Huͤlle fremd, bleib' es euch nur der
Verhuͤllte nicht.


Schwerlich werden einem Haslauer Ohre
von einiger Zaͤrte die Haͤrten dieſes Verſes — z.
B. der Proceleusmatikus: kel wird oft die —
der zweite Paͤon: die Huͤlle fremd — der Moloſ¬
ſus: bleib' euch ſtets — entwiſchen; durfte aber
nicht der Dichter ſeine Ideen-Kuͤrze durch einige
metriſche Rauhheit erkaufen? — Ich bemerke bei
dieſer Gelegenheit, daß es dem Dichter keinen
Vortheil ſchaft, daß man ſeine Strek- und Ein¬
verſe nicht als Eine Zeile drucken laſten kann;
und es waͤre zu wuͤnſchen, es gaͤbe dem Werke
keinen laͤcherlichen Anſtrich, wenn man aus dem¬
ſelben arm lange Papierwickel wie Flughaͤute
flattern ließe, die herausgeſchlagen dem Kinde
etwan wie ein Segelwerk von Wickelbaͤndern ſaͤſ¬
[198] ſen; aber ich glaube nicht, daß es Gluͤck
machte.


Darauf kaufte ſich der Notar im Laden drei
unbedeutende Viſitenkarten, weil er glaubte, er
muͤſſe auf ihnen an die beiden Toͤchter und die
Frau des Hauſes ſeinen Namen abgeben; und
gab ſie ab. Als er eilig ſeine Inſerate in der
nahen Zeitungsdruckerei ablieferte: fiel ſein Auge
erſchreckend auf das neueſte Wochenblatt, worinn
noch mit naſſen Buchſtaben ſtand:


„Das Floͤtenkonzert muß ich noch immer
verſchieben, weil ein ſchnell wachſendes Augen-
Uebel mir verbietet, Noten anzuſehen.


J. van der Harniſch.


Welch' einen ſchweren Kummer trug er aus
der Druckerei in ſein Stuͤbgen zuruͤck! Auf den
ganzen Fruͤhling ſeiner Zukunft war tiefer Schnee
gefallen, ſo bald ſein freudiger Bruder die freu¬
digen Augen verloren, die er an ſeiner Seite
darauf werfen ſollte. Er lief muͤſſig im Zimmer
auf und ab, und dachte nur an ihn. Die Son¬
ne ſtand ſchon gerade auf den Abendbergen und
fuͤllte das Zimmer mit Goldſtaub; noch war der
[199] Geliebte unſichtbar, den er geſtern von derſelben
Sonnenzeit erſt wieder bekommen. Zulezt fieng
er wie ein Kind zu weinen an, aus ſtuͤrmiſchem
Heimwehe nach ihm, zumal da er nicht einmal
am Morgen hatte ſagen koͤnnen: guten Morgen
und lebe wohl Vult! —


Da gieng die Thuͤre auf und der feſtlich ge¬
kleidete Floͤteniſt herein. O mein Bruder! rief
Walt ſchmerzlich freudig. „Donner! leiſe, fluch¬
te Vult leiſe, es geht hinter mir — nenne mich
Sie!” — Flora kam nach. „Morgen Vormit¬
tags demnach, H. Notarius, fuhr Vult fort,
wuͤnſche ich, daß ſie den Miethkontrakt zu Pa¬
pier braͤchten. Tu parles françois, Mon¬
ſieur
?” — Miſérablement, verſezte Walt,
ou non. „Darum, Monſieur, komme ich ſo
ſpaͤt, erwiederte Vult, weil ich erſtlich meine
eigne Wohnung ſuchte und bezog und zweitens
in einer und der andern fremden einſprach; denn
wer in einer Stadt viele Bekanntſchaften machen
will, der thue es in den erſten Tagen, wo er
einpaßirt; da ſucht man noch die ſeinige, um
ihn nur uͤberhaupt zu ſehen; ſpaͤter, wenn man
[200] ihn hundertmal geſehen, iſt man ein alter Hering,
der zu lange in der aufgeſchlagenen Tonne auf
dem Markte blos geſtanden.“


„Gut, ſagte Walt, aber mein ganzer Him¬
mel fiel mir aus dem Herzen heraus, da ich vor¬
hin in dem Wochenblatte die Augenkrankheit las“
— und zog leiſe die Thuͤre des Schlafkaͤmmer¬
gens zu, worinn Flora bettete. „Die Sache
bleibt wohl die — fieng Vult an und ſties
Kopfſchuͤttelnd die Pforte wieder auf — „pu¬
doris gratia factum eſt atque formoſita¬
tis
*), erwiederte Walt auf das Schuͤtteln —
bleibt wohl die, ſag' ich, was Sie auch moͤgen
hier eingewendet haben, die daß das deutſche
Kunſtpublikum ſich in nichts inniger verbeiſſet
als in Wunden oder in Metaſtaſen. Ich meine
aber weiter nichts als ſoviel: daß das Publikum
z. B. einen Maler ſehr gut bezahlt und rekom¬
mandirt, der aber etwan mit dem lincken Fuße
pinſelte — oder einen Horniſten, der aber mit
der Naſe blieſe — desgleichen einen Harfenierer,
[201] der mit beiden Zahnreihen griffe, — auch einen
Poeten, der Verſe machte, aber im Schlafe —
und ſo demnach auch in etwas einen Flantotra¬
verſiſten, der ſonſt gut pfiffe, aber doch den zwei¬
ten Vorzug Duͤlons haͤtte, ſtockblind zu ſein. —
Ich ſagte noch Metaſtaſen, naͤmlich muſikali¬
ſche. Ich gab einmal einem Fagotiſten, und ei¬
nem Bratſchiſten, dir zuſammen reiſeten, den
Rath, ihr Gluͤck dadurch zu machen, daß der
Fagotiſt ſich auf dem Zettel anheiſchig machte,
auf dem Fagot etwas Bratſchen-Gleiches zu ge¬
ben, und der andere, auf der Bratſche ſo etwas
vom Fagot. Ihr machts nur ſo, ſagt' ich, daß
ihr euch ein finſteres Zimmer wie die Mund-
Harmoniker oder Lolli bedingt; da ſpiele denn
jeder ſein Inſtrument und geb' es fuͤr das frem¬
de, ſo wie jener ein Pferd, das er mit dem
Schwanze an die Krippe gebunden, als eine be¬
ſondere Merkwuͤrdigkeit ſehen lies, die den Kopf
hinten trage. — Ich weis aber nicht, ob ſie es
gethan.“


Flora gieng; und Vult fragte ihn, was er
mit der Thuͤrſchlieſſerei und dem Latein gewollt.


[202]

Gottwalt umarmte ihn erſt recht als Bru¬
der, und ſagte dann, er ſei nun ſo, daß er ſich
ſchaͤme und quaͤle, wenn er eine Schoͤnheit wie
Flora in die knechtiſchen Verhaͤltniſſe der Arbeit
geſtuͤrzt und vergraben ſehe; eine niedrig hand¬
thierende Schoͤnheit ſei ihm eine welſche Madon¬
na mitten auf einem niederlaͤndiſchen Gemaͤl¬
de.— „Oder jener Correggio, den man in Schwe¬
den an die koͤniglichen Stallfenſter annagelte als
Stall-Gardine *) — ſagte Vult — aber erzaͤh¬
le das Teſtament!“


Walt thats und vergaß etwan ein Drittel:
„ſeit die poetiſchen Aethermuͤhlfluͤgel, die du Muͤh¬
lenbaumeiſter angegeben, ſich vor mir auf ihren
Hoͤhen regen, iſt mir die Teſtaments-Sache
ſchon ſehr unſcheinbar geworden“ ſezte er dazu. —


„Das iſt mir gar nicht recht“ verſezte Vult.
Ich habe den ganzen heutigen Nachmittag auf ei¬
ne ennuyante Weis lange ſchwere Dollonds und
Reflektors gehalten, um die H. Akzeſſit-Erben
von weitem zu ſehen — ſo die meiſten davon ver¬
[203] dienen den Galgenſtrang als Nabelſchnur der
zweiten Welt. Du bekommſt wahrlich ſchwere
Aufgaben durch ſie.” — Walt ſah ſehr ernſthaft
aus. — „Denn, fuhr jener luſtiger fort, erwaͤgt
man dein liebliches Nein und Adio, als Flora
vorhin nach Befehlen fragte und ihr belvedere
d. h. ihre belle-vue von ſchoͤnem Geſicht und
dazu das enterbte Diebs- und Siebengeſtirn, das
dir vielleicht blos wegen der Klauſel, die dich
um ein Sechſtel puncto Sexti zu ſtrafen droht,
eine Flora ſo nahe mag hergeſezt haben, die zu
deflorieren” — — —


„Bruder — unterbrach ihn der zorn- und
ſchamrothe Juͤngling und hofte, eine ironiſche
Frage zu thun — iſt das die Sprache eines Welt¬
manns wie du?” — „Auch wollt' ich effleurer
ſagen ſtatt déflorer, ſagte Vult. O, reiner
ſtarker Freund, die Poeſie iſt ja doch ein paar
Schlittſchuh, womit man auf dem glatten reinen
kryſtallenen Boden des Ideals leicht fliegt, aber
miſerabel forthumpelt auf gemeiner Gaſſe.” Er
brach ab und fragte nach der Urſache, warum
er ihn vorhin ſo traurend gefunden. Walt, jezt
[204] zu verſchaͤmt, ſein Sehnen zu bekennen, ſagte
blos, wie es geſtern ſo ſchoͤn geweſen und wie
immer, ſo wie in andere Feſte Krankheiten *)
fallen, ſo in die heiligſten der Menſchen Schmer¬
zen, und wie ihm das Augen- Uebel in der Zei¬
tung wehe gethan, das er noch nicht recht ver¬
ſtehe.


Vult entdeckt' ihm den Plan, daß er naͤm¬
lich vorhabe, ſo geſund auch ſein Auge ſei, es
jeden Markttag ein Wochenblatt fuͤr kraͤnker und
zulezt fuͤr ſtockblind auszurufen, und als ein
blinder Mann ein Floͤtenkonzert zu geben, das
eben ſo viele Zuſchauer als Zuhoͤrer anziehe. „Ich
ſehe, ſagte Vult, du willſt jezt auf die Kanzel¬
treppe hinauf; aber predige nicht; die Menſchen
verdienen Betrug — Gegen dich hingegen bin
ich rein und offen, und deine Liebe gegen den
Menſchen lieb' ich etwas mehr als den Menſchen
ſelber. — „O wie darf denn ein Menſch ſo ſtolz
ſein und ſich fuͤr den einzigen halten, dem allein
die volle Wahrheit zufließe?“ fragte Walt —
[205] „Einen Menſchen, verſezte Vult, muß jeder,
der auf den Reſt Dampf und Nebel loslaͤſſet,
beſizen, einen Auserwaͤhlten, vor dem er Panzer
und Bruſt aufmacht und ſagt: guck' hinein.
Der Gluͤckliche biſt nun du; blos weil du —
ſo viel du auch, merk' ich, Welt haſt, — doch
im Ganzen ein frommer, feſter Geſelle biſt, ein
reiner Dichter und dabei mein Bruder, ja Zwil¬
ling und — ſo laſſ' es dabei!“ —


Walt wuſte ſich in keine Stelle ſo leicht und
gut zu ſezen als in die fremde; er ſah der ſchoͤ¬
nen Geſtalt des Geliebten dieſe Sommerſproſſen
und Hizblattern des Reiſelebens nach und glaub¬
te, ein Schattenleben wie ſeines haͤtte Vulten die¬
ſe vielfaͤrbige moraliſche Neſſelſucht gewiß er¬
ſpart. Bis tief in die Nacht, brachten beide
ſie mit friedlichen Entwuͤrfen und Graͤnzrezeſſen
ihres Doppelromans zu und das ganze hiſtori¬
ſche erſte Viertel ihrer romantiſchen Himmels¬
kugel ſtieg ſo hell am Horizonte empor, daß
Walt den andern Tag weiter nichts brauchte,
als Stuhl und Dinte und Papier und anzufan¬
gen. Froh ſah er dem morgenden Sonntag ent¬
[206] gegen; der Floͤteniſt aber jenem Abend, wo er,
wie er ſagte, wie ein Finke geblendet pfeife.

Nro.16. Bergguhr.

Sonntag eines Dichters.


Walt ſezte ſich ſchon im Bette auf, als die
Spizen der Abendberge und der Thuͤrme dunkel¬
roth vor der fruͤhen July-Sonne ſtanden, und
verrichtete ſein Morgengebet, worinn er Gott
fuͤr ſeine Zukunft dankte. Die Welt war noch
leiſe, an den Gebuͤrgen verlief das Nachtmeer
ſtill, ferne Entzuͤckungen oder Paradiesvoͤgel
flogen ſtumm auf den Sonntag zu. Walt haͤt¬
te ſich gefuͤrchtet, ſeine namenloſe Wonne laut
zu machen, wenn's nicht vor Gott geweſen
waͤre. Er begann nun den Doppelroman. Es
iſt bekannt genug, daß unter allen Kapiteln
keine ſeeliger geſchrieben werden (auch oft ge¬
leſen) als das erſte und dann das lezte, gleich¬
ſam auch ein Sonntag und ein Sonnabend. Be¬
ſonders erfriſcht' es ihn, daß er nun einmal oh¬
ne allen juriſtiſchen Gewiſſens- biß auf dem
[207] Parnas ſpazieren gehen durfte, und oben mit
einer Muſe ſpielen; indem er, hoft' er, ge¬
ſtern im juriſtiſchen Fache das Seinige gearbeitet,
naͤmlich das Teſtament vernommen und erwogen.
Da den Abend vorher war ausgemacht worden,
daß der Held des Doppelromans einen langen
Band hindurch ſich nach nichts ſehnen ſollte, als
blos nach einem Freunde, nicht nach einer Hel¬
din: ſo ließ er ihn es zwei Stunden, oder im Bu¬
che ſelber ſo viele Jahre lang, wirklich thun; er
ſelber aber ſehnte ſich auch mit und uͤber die Maſ¬
ſen. Das Schmachten nach Freundſchaft, dieſer
Doppelfloͤte des Lebens, holt' er ganz aus eigner
Bruſt; denn der geliebte Bruder konnte ihm ſo
wenig wie der geliebte Vater, einen Freund erſpa¬
ren.


Oft ſprang er auf, beſchauete den duftigen
goldhellen Morgen, oͤfnete das Fenſter und ſeg¬
nete die ganze frohe Welt, vom Maͤdchen am
Springbrunnen an bis zur luſtigen Schwalbe im
blauen Himmel. So ruͤkt die Bergluft der eig¬
nen Dichtung alle Weſen naͤher an das Herz des
Dichters und ihm, erhoben uͤber das Leben, naͤ¬
[208] hern die Lebendigen ſich mehr und das Groͤſte in
ſeiner Bruſt befreundet ihn mit dem Kleinſten in
der fremden. Fremde Dichtungen hingegen er¬
heben den Leſer allein, aber den Boden und die
Nachbarſchaft nicht mit.


Allmaͤhlig ließ ihn der Sonntag mit ſeinem
Schwalbengeſchrei, Kirchengelaͤute, ſeinen Laden¬
diener-Klopfwerken und Nach-Walkmuͤhlen an
Sonntagsroͤcken in allen Korridoren ſchwer mehr
ſizen; er ſehnte ſich nach einem und dem andern
leibhaften Strahl der Morgenſonne, von welcher
ihm in ſeinem Abendſtuͤbchen nichts zu Geſichte
kam als der Tag. Nachdem lange der Schreib¬
tiſch und die ſonnenhelle Natur ihre magnetiſchen
Staͤbe an ihn gehalten und er ſich vergeblich zwei
Ichs gewuͤnſcht, um mit dem einen ſpazieren zu
gehen, waͤhrend das andere mit der Feder ſas:
ſo verkehrte er dieſes in jenes und trug die Bruſt
voll Himmelsluft und den Kopf voll Landſchaf¬
ten (Aurorens Gold-Woͤlkgen ſpielten ihm auf
der Gaße noch um die Augen) uͤber den frohen
lauten Markt, und zog mit dem Viertels-Fluͤgel
der Fuͤrſtlichen Kriegsmacht fort, welcher blies
[209] und trommelte, und der Nikolaithurm warf dazu
ſeine Blaſemuſik in die unters hinein, die mit ihr
im verbotenen Grade der Sekunde verwandt wur¬
de. Drauſſen vor dem Thore hoͤrte er, daß das
magiſche wie von Fernen kommende Freudenge¬
ſchrei in ſeinem Innern von einem ſchwarzen flie¬
genden Corps oder Chor Kurrentſchuͤler ausge¬
ſprochen wurde, das in der Vorſtadt fugierte und
ſchrie. Herrlich wiegte ſich in bunter Fuͤlle der
van der Kabelſche Garten vor ihm, den er ein¬
mal erben konnte, wenn ers recht anfieng und
recht ausmachte; er gieng aber verſchaͤmt nicht
hinein, weil Menſchen darin ſaſſen, ſondern er¬
ſtieg das nahe Kabelſche Waͤldgen auf dem Huͤ¬
gel.


Darinn ſas er denn entzuͤkt auf Glanz und
Thau, und ſah gen Himmel und uͤber die Erde.
Allmaͤhlig ſank er ins Vortraͤumen hinein —
was ſo verſchieden vom engern Nachtraͤumen
iſt, da die Wirklichkeit dieſes einzaͤunt, indeß
der Spielplaz der Moͤglichkeit jenem frei liegt.
Auf dieſem heitern Spielplaze beſchlos er das
groſſe Goͤtterbild eines Freundes aufzurichten und
Flegeljahre I. Bd. 14[210] ſolches ganz ſo zu meiſeln — was er im Romane
nicht gedurft — wie ers fuͤr ſich brauchte. „Mein
ewig theurer Freund, den ich einmal gewis be¬
komme — ſagt' er zu ſich — iſt goͤttlich, ein
ſchoͤner Juͤngling und dabei von Stande, etwa
ein Erbprinz oder Graf; — und eben dadurch ſo
zart ausgebildet fuͤr das Zarte. Im Geſicht hat
er viel Roͤmiſches und Griechiſches, eine klaſſiſche
Naſe aus deutſcher Erde gegraben; aber er iſt
doch die mildeſte Seele, nicht blos die feurigſte,
die ich je gefunden, weil er in der Eiſen-Bruſt
zur Wehre, ein Wachs-Herz zur Liebe traͤgt. So
treuen, unbeflekten, ſtarken Gemuͤths, mit groſ¬
ſen Felſen-Kraͤften, gleich einer Bergreihe, nur
gerade gehend — ein wahres philoſophiſches
Genie oder auch ein militairiſches oder ein diplo¬
matiſches — daher ſezt er mich und viele eben in
ein wahres Staunen, daß ihn Gedichte und Ton¬
kunſt entzuͤcken bis zu Thraͤnen. Anfangs ſcheue¬
te ich ordentlich den geruͤſteten Kriegsgott; aber
endlich einmal in einem Garten in der Fruͤhlings-
Daͤmmerung oder weil er ein Gedicht uͤber die
Freundſchaft der zuruͤkgetretenen Zeiten hoͤrte,
[211] uͤber den griechiſchen Phalanx, der bis in den
Tod kaͤmpfte und liebte, uͤber das deutſche Schuz-
und Truzbuͤndnis befreundeter Maͤnner; da greift
ihm das Verlangen nach der Freundſchaft wie
ein Schmerz nach dem Herzen und er traͤumt
ſich ſeufzend eine Seele, die ſich ſehnet wie er.
Wenn dieſe Seele — das Schikſal will, daß
ichs ſei — endlich neben ſeinen ſchoͤnen Augen voll
Thraͤnen ſteht, alles recht gut erraͤth, ihm offen
entgegenkommt, ihn ihre Liebe, ihre Wuͤnſche,
ihren guten Willen, wie klare Quellen durch¬
ſchauen laͤſſet, gleichſam als wollte ſie fragen,
iſt dir weniges genug: ſo koͤnnt' es wohl ein
zweites gutes Schickſal fuͤgen, daß der Graf,
gleich Gott alle Seelen liebend, auch wie ein
Gott ſich meine zum Sohne des Herzens er¬
waͤhlte, der dem Gotte dann gleich werden
kann — daß dann wir beide in der hellſten Le¬
bensſtunde einen Bund ewiger, ſtarker, unver¬
faͤlſchter Liebe beſchwuͤren“. . . . .


Den Traum durchriß ein ſchoͤner langer
Juͤngling, der in rother Uniform auf einem Eng¬
laͤnder unten auf der Heerſtraße voruͤberflog,
[212] dem Stadtthore zu. Ein gut gekleideter Bettler
lief mit dem ofnen Hute ihm entgegen — dann
ihm nach, dann voraus — der Juͤngling kehr¬
te das Roß um — der Bettler ſich — und jezt
hielt jener in den Taſchen ſuchend, den ſtolzen
Waffentanz des ſchoͤnen Roſſes ſo lange auf,
daß Walt ziemlich leicht die Melancholie auf
dem prangenden Geſicht, wie Mondſchein auf
einem Fruͤhling, bemerken konnte, ſo wie einen
ſolchen Stolz der Naſe und der Augen, als koͤnn'
er die Siegszeichen des Lebens verſchencken. Der
Juͤngling warf dem Manne ſeine Uhr in den
Hut, welche dieſer lang an der Kette trug, indem
er mit dem Dancke dem Galoppe nachzukommen
ſuchte.


Jzt war der Notarius nicht mehr im Stan¬
de, eine Minute aus der Stadt zu bleiben, wo¬
hin der Reiter geflogen war, der ihm faſt als
der Freund, naͤmlich als der Gott vorkam, den
er vorher im Traume mit den Abzeichen aller
uͤbrigen Goͤtter (ſignis Pantheis) gepuzet hat¬
te. Befreunden — ſagt' er zu ſich, in ſeinem
romantiſchen durch das Teſtament noch geſtaͤrkten
[213] Muthe, und auf ſein liebe-quellendes Herz ver¬
trauend — wollten wir uns leicht, falls wir uns
erſt haͤtten.“ — Er waͤre gern zu ſeinem Bruder
gegangen, um ſowohl das duͤrſtende Herz an
deſſen Bruſt zu kuͤhlen, als ihn uͤber den ſchoͤ¬
nen Juͤngling auszufragen; aber Vult hatte ihn
gebeten, der Spionen wegen und beſonders vor
dem Blinden- Konzert den Beſuch viel lieber an¬
zunehmen als abzuſtatten.


Mitten aus dem heiligen Opferfeuer rief ihn
der Hofagent Neupeter in ſeine dunkle Schreib-
Stube hinein, damit er darin vor dem Eſſen
einige Wechſel proteſtierte. Wie an einem Kaͤfer,
der erſt vom Fluge gekommen, hiengen an ihm
die Fluͤgel noch lang unter den Fluͤgeldecken her¬
aus; aber er proteſtierte doch mit wahrer Luſt,
es war ſein erſter Notariats- Aktus; und —
was ihm noch mehr galt — ſeine erſte Dank¬
handlung gegen den Agenten. Nichts wurde
ihm laͤnger und laͤſtiger als das erſte Vier¬
teljahr, worinn ein Menſch ihn beherbergte,
oder bediente, oder bekoͤſtigte, blos weil ihm
der Menſch ſo viele Dienſte und Muͤhen vorſchos,
[214] ohne von ihm noch das Geringſte zu ziehen. Er
proteſtierte gut und ſehr, muſte ſich aber vom
laͤchelnden Kaufmann den Monatstag ausbit¬
ten, und war uͤberhaupt kaum bei ſich; denn
immerhin komme ein Menſch mit der poetiſchen
Luftkugel, die er durch Adler in alle helle Aether¬
raͤume hat reiſſen laſſen, ploͤzlich unten auf der
Erde an, ſo haͤngt er doch noch entzuͤckt unter dem
Glob' und ſieht verbluͤft umher.


Das war der Sonntags-Vormittag. Der
Nachmittag ſchien ſich anders anzufangen. Walt
war von der hellen Wirthstafel — wo er mit
ſeinem Puder und Nanking zwiſchen Atlas,
Mancheſter, Lockzoͤpfen, Degen, Battiſt, Rin¬
gen und Federbuͤſchen wettgeeifert und geſpeiſet
hatte — in ſeine Schattenſtube im voͤlligen Sonn¬
tagspuz zuruͤckgegangen, den er nicht ausziehen
konnte, weil eben der Puz in nichts als in eini¬
gem Puder beſtand, womit er ſich ſonntaͤglich
beſaͤete. Sah er ſo weiß aus, ſo ſchmeckt' er
freilich ſo gut als der Fuͤrſt, was ſowohl Sonn¬
tage heiſſen als Puz. Sogar dem Bettler bleibt
ſtets der Himmel des Puzwerkes offen; denn
[215] das Gluͤck weht ihm irgend einen Lappen zu, wo¬
mit er ſein groͤßtes Loch zuflickt; dann ſchauet
er neugeboren und aufgeblaſen umher und bietet
es ſtill ſchlechtem poroͤſen Bettel-Volk. Nur
aber war der frohe Vorſaz, den ganzen Nach¬
mittag ſeinem Kopfe und ſeinem Romane dich¬
tend zu leben, jezt uͤber ſeine Kraͤfte, blos wegen
des Sonntags-Schmucks; ein gepuderter Kopf
arbeitet ſchwer. So muͤſte zum Beiſpiel gegen¬
waͤrtiger Verfaſſer — ſtekte man ihn in dieſer
Minute zur Probe in Koͤnigsmaͤntel, in Kroͤ¬
nungsſtruͤmpfe, in Sporenſtiefel, unter Chur¬
huͤte — auf ſolche Weiſe verziert, die Feder
weglegen und verſtopft aufſtehen, ohne den Nach¬
mittag zu Ende gemalt zu haben; denn es geht
gar nicht im herrlichſten Anzug; — ausgenom¬
men allein bei dem verſtorbenen Buͤffon, von
welchem Madame Necker berichtet, daß er zuerſt
ſich wie zur Galla und darauf erſt ſeine Bemer¬
kungen eingekleidet, um welche er als ein gepuz¬
ter und puzender Kammerdiener herum gieng,
indem er ihnen Vormittags die Nennwoͤrter an¬
zog, und Nachmittags die Beiwoͤrter.


[216]

Den Notar ſtoͤrte auſſer dem Puder noch
das Herz. Die Nachmittags-Sonne glitt jezt
herein und ihre Blicke ſogen und zogen hinaus
in die helle Welt, ins Freie; er bekam das Sonn¬
tags-Heimweh
, was faſt armen Teufeln
mehr bekannt und beſchwerlich iſt, als reichen.
Wie oft trug er in Leipzig an ſchoͤnen Sonntagen
die Veſper-Wehmuth durch die entvoͤlkerten Al¬
leen um die Stadt! Nur erſt Abends, wenn die
Sonne und die Luſt-Gaͤſte heimgiengen, wurd'
ihm wieder beſſer. Ich habe geplagte Kammer¬
jungfern gekannt, welche im Stande waren,
woͤchentlich ſiebenthalbe Tage zu lachen und zu
ſpringen, nur aber Sonntags nach dem Eſſen
unmoͤglich; das Herz und das Leben wurd' ih¬
nen Nachmittags zu ſchwer, ſie ſtrichen ſo lan¬
ge in ihrer unbekannten kleinen Vergangenheit
herum, bis ſie darinn auf irgend ein dunkles
Plaͤzgen ſtießen, etwan auf ein altes niedriges
Grab, worauf ſie ſich ſezten, um ſich auszuwei¬
nen, bis die Herrſchaft wieder kam. Graͤfin,
Baroneſſe, Fuͤrſtin, Mulattin, Hollaͤnderin,
oder Freiin, oie du nach weiblicher Weiſe immer
[217] noch herriſcher gegen die Sklavin biſt als gegen
den Sklaven — ſei das doch Sonntags nach
dem Eſſen nicht! Die Leute in deinem Dienſte
ſind arme Landteufel, fuͤr welche der Sonntag,
der in großen Staͤdten, in der großen Welt und
auf großen Reiſen gar nicht zu haben iſt, ſonſt
ein Ruhe-Tag war, als ſie noch gluͤcklicher wa¬
ren, naͤmlich noch Kinder. Gern werden ſie,
ohne etwas zu wuͤnſchen, leer und trocken bei
deinen Hoffeſten, Hochzeit- und Leichenfeſten ſte¬
hen, und die Teller und die Kleider halten; aber
an dem Sonntage, dem Volks- und Menſchen¬
feſt, auf das alle Wochen-Hoffnungen zielen,
glauben die Armen, daß ihnen irgend eine Freu¬
de der Erde gebuͤhre, da ihnen zumal die Kin¬
derzeit einfallen muß, wo ſie an dieſem Bundes-
Feſte der Luſt wirklich etwas hatten, keine Schul¬
ſtunde — ſchoͤne Kleider — ſpaßhafte Eltern —
Spielkinder — Abendbraten — gruͤnende Wieſen und
einen Spaziergang, wo geſellige Freiheit dem
friſchen Herzen die friſche Welt ausſchmuͤckte.
Liebe Freiin! wenn dann am Sonntage, wo ge¬
dachte Perſon weniger in der Arbeit, der Lethe
[218] des Lebens, watet, das jezige dumpfe Leben ſie
erſtickend umfaͤngt, und ihr uͤber die Unfrucht¬
barkeit der tauben Gegenwart die helle Kin¬
derzeit, die ja allen Menſchen einerlei Eden
verheiſſet, mit ſuͤſſen Klaͤngen wie neu her¬
uͤber kommt: dann ſtrafe die armen Thraͤnen
nicht, ſondern entlaſſe die Sehnſuͤchtige etwan
bis Sonnen-Untergang aus deinem Schloſſe! —


Als der Notar ſich noch ſehnte, ſtuͤrmte
luſtig Vult herein, den Mittagswein im Kopf,
ein ſchwarzes Seidenband um Ein Auge, mit
offenem Hals und loſem Haar und fragte, warum
er noch zu Hauſe ſize, und wie viel er Vormit¬
tags geſchrieben? Walt gab es ihm. Als ers
durch hatte, ſagte er: „Du biſt ja des Teufels,
Goͤttergen, und ein Engel im Schreiben. So
fahre fort! — Ich habe auch, (fuhr er mit kaͤl¬
terer Stimme fort und zog das Manuſkript aus
der Taſche) dieſen Morgen in unſern Hoppel¬
poppel oder das Herz
gearbeitet, und
darinn ausgeſchweift, ſo viel als noͤthig fuͤr ein
erſtes Kapitel. Ich will dir den Schwanzſtern
(ſo nenn' ich jede Digreſſion) halb vorſagen —
wenn du mich nur, o Gott, mehr zu goutieren
[219] wuͤßteſt! — nicht vorleſen, denn eben darum!
Ich fahre im Schwanzſtern beſonders wild auf
die jungen Schreiber los, die von dir abweichen
und in ihren Romanen die arme Freundſchaft
nur als Thuͤr- und Degengriff der Liebe vornen
an dieſe ſo unnuͤz anbringen, wie den Kalender
und das genealogiſche Verzeichnis der regieren¬
den Haͤupter vornen an die Blumenleſen. Der
Spizbube, der Kraͤnkling von Schwaͤchling von
Helden will naͤmlich auf den erſten Paar Bogen
ſich ſtellen, als ſeufz' er ziemlich nach einem
Freunde als klaffe auf ſein Herz nach einer Un¬
endlichkeit — ſchreibt ſogar das Sehnen nach ei¬
nem Freund, wenns Werk in Briefen iſt, an
einen, denn er ſchon hat zum Epiſtolieren —
ja er verraͤth noch Schmachtungen nach der zwei¬
ten Welt und Kunſt; — kaum aber erſieht und
erwiſcht die Beſtie ihr Maͤdgen (der Operngucker
ſieht immer nach dem Freunde hin) ſo hat ſie
ſatt und das Ihrige; wiewohl der Freund noch
elendiglich mehrere Bogen nebenher mitſtapeln
muß bis zu dem Bogen Ix, auf welchem dem
geliebten Freunde wegen einer Treuloſigkeit des
[220] Maͤdgens frei geſagt wird, es gebe auf der Er¬
de kein Herz, keine Tugend und gar nichts.
Hier ſpei' ich, Bruder, auf das ſchreibende Pu¬
blikum Feuer; Spizbube, ſo rede ich im Schwanz¬
ſtern an, Walt, Spizbube, ſei wenigſtens ehr¬
lich und thue dann, was du willſt; da doch dein
Unterſchied zwiſchen einem Freund und einem
Liebhaber nur der zwiſchen einem Sau- und ei¬
nem Hunds-Igel iſt.“


Hier ſah Vult lange das Papier, dann
Walten an. „Der iſt aber?“ fragte dieſer. —
„So fragt auch mein Schwanzſtern, ſagte je¬
ner. Keiner naͤmlich — Denn es giebt eben
keine Schwein-Igel nach Bechſtein *), ſondern,
was man dafuͤr nahm, waren Weibgen oder
Jungen. Mit den Schweins-Daͤchſen iſts
eben ſo. Was hilfts, ihr romantiſchen Autoren,
(las Vult weiter und ſah immer vom Papier weg,
um das Komiſche mehr zu ſagen als, weil ers we¬
nig konnte, vorzuleſen) daß ihr euere unterirdi¬
ſche Blattſeite gegen den Himmel aufſtuͤlpet?
[221] Sie dreht ſich wieder um; wie an Glastafeln,
wird nur euere, der Erde zugekehrte Seite be¬
thauet; wie an elektriſchen Kazen, muͤſſet ihr
vorher aus eurem Buͤrzel einen Funken locken,
bevor ihr einen aus dem Kopfe wieder bekommt
und vice verſa. Seid des Teufels lebendig;
aber nur offen; liebt entſezlich, denn das kann
jedes Thier und jedes Maͤdgen, das ſich deshalb
fuͤr eine Edle, eine Dichterin und einen Welt-
Solitaire anſieht — aber befreundet euch nicht,
was ja an liebendem Vieh ſo ſelten iſt wie bei
euch. Denn ihr habt nie aus Johann Muͤllers
Briefen oder aus dem alten Teſtament oder aus
den Alten gelernt, was heilige Freundſchaft iſt
und ihr hoher Unterſchied von Liebe, und daß es
das Trachten — nicht eines Halbgeiſtes nach ei¬
ner ehelichen oder ſonſtigen Haͤlfte ſondern —
eines Ganzen nach einem Ganzen, eines Bru¬
ders nach einem Bruder, eines Gottes nach ei¬
nem Univerſum iſt, mehr um zu ſchaffen und
dann zu lieben, als um zu lieben und dann
zu ſchaffen. .... Und ſo geht denn der
Schwanzſtern weiter” beſchloß Vult, der ſich
nicht erwehren konnte, ein wenig die Hand des
[222] Bruders zu druͤcken, deſſen voriges Freundſchafts-
Kapitel ordentlich wie helles warmes angebor¬
nes Blut in ſein Herz gelaufen war.


Walt ſchien davon entzuͤckt zu ſein, fragte
aber, ob nicht auch oft die Freundſchaft nach
der Liebe und Ehe komme oft ſogar fuͤr dieſelbe
Perſon — ob nicht der treueſte Liebhaber eben
darum der treueſte Freund ſei — ob nicht die
Liebe mehr romantiſche Poeſie habe als die Freund¬
ſchaft — ob jene am Ende nicht in die gegen
Kinder uͤbergehe — ob er nicht faſt hart mit
ſeinen Bildern ſei; — und noch mehr wollte
Gottwalt lindern und ſchlichten. Aber Vult fuhr
auf ſowohl aus voriger Ruͤhrung als aus Er¬
wartung eines viel weniger bedingten Lobes, hielt
ſich die Ohren vor Rechtfertigungen der Menſchen
zu und klagte: er ſehe nun gar zu gut voraus,
wie ihm kuͤnftig Walt eine Erboſſung nach der
andern verſalzen werde durch ſein Ueberzuckern;
beifuͤgend, in ihrem „Hoppelpoppel oder das
Herz” gewaͤnnen ja eben die ſuͤſſen Darſtellun¬
gen am meiſten durch die ſchaͤrfſten, und gerade
hinter dem ſcharfen Fingernagel liege das weich¬
[223] ſie empfindſamſte Fleiſch; „aber, fuhr er fort,
von etwas angenehmerem, von den 7 Erb-Die¬
ben, wobei ich mir wieder deinetwegen Muͤhe
gegeben! Ich muß etwas bei dir ſizen.”


„Noch etwas angenehmes vorher” verſezte
Walt und ſchilderte ihm den rothen goͤtterſchoͤnen
Juͤngling, und daß ſolcher wie ein Donnergott
auf einem Sturmvogel, zwiſchen Aurora und
Iris gezogen, und unter dem blauen Himmel
wie durch eine Ehrenpforte geritten waͤre. „Ach
nur ſeine Hand, endigte er, wenn ich ſie je anruͤh¬
ren koͤnnte, dacht' ich heute zumal nach dem
Freundſchaftskapitel. O kennſt du ihn?”


„Kenn' ihn ſo nicht, deinen Donner- und
Wetter — — Gott (ſagte Vult kuͤhl und nahm
Stock und Hut). Verſchimmle nur nicht in dei¬
nem Storchneſt — lauf hinaus ins Roſen¬
thal
wie ich, wo du alle Haslauer beau
monde's
-Rudel mit Einem Sau-Garn uͤber¬
ziehen und fangen kannſt, und ihn mit. Viel¬
leicht jag' ich darunter den gedachten Donnergott
auf — — moͤglich iſts der Graf Klothar
Nein Freund, ich gehe abſichtlich ohne dich;
[224] auch thu' uͤberhaupt nicht drauſſen, als ob du
mich ſonderlich kennteſt, falls ich etwa zu nahe
vor dir voruͤber gehen ſollte vor Augen-Schwaͤ¬
che; denn nach gerade muß ich mich blind ma¬
chen, ich meine die Leute. Adio!“

Nro. 17. Roſenholz.

Roſenthal.


In drei Minuten ſtand der Notar, dem
Vults Verſtimmung entgangen war, freudig
auf dem gruͤnen Wege nach dem Haslauer Ro¬
ſenthale, das ſich vom ſchoͤnen Leipziger beſon¬
ders dadurch unterſcheidet, daß es ſo wohl Ro¬
ſen hat als auch ein Thal und daher mehr der
Fantaiſie bei Bayreuth aͤhnlich iſt, die blos
die Zuckerbaͤcker-Arabeſken und Phantaſie-
Blumen
und Prunk-Pfaͤhle vor ihm voraus
hat. Aus der Stadt zog er eigentlich kaum,
denn er fand die halbe unterwegs; und alle ſei¬
ne Seelen-Winkel wurden voll Sonnenlicht bei
dem Gedanken, ſo mit zu gehen unter Leuten,
die mitgehen, mitfahren, mitreiten. Rechts
[225] und links ſtanden die Wieſen, die wallenden Fel¬
der und der Sommer. Aus der Stadt lief das
Nachmittags-Gelaͤute der Kirche in die gruͤne
warme Welt heraus, und er dachte ſich hinein,
wie jezt die Kirchengaͤnger ſich heraus dencken
und ihn und das freie luftige Leben goͤttlich fin¬
den wuͤrden in den ſchmalen, kalten, ſteinernen
Kirchen auf langen leeren Baͤnken einzeln ſchrei¬
end, mit ſchoͤnen breiten Sonnenſtreifen auf
den Schenkeln und mit der Hoffnung, nach der
Kirche nachzumarſchieren ſo ſchnell als moͤglich.


Die Zugheerings-Heerde von Menſchen leg¬
te ſich in die Bucht des Roſenthals an. Die
Laubbaͤume thaten ſich auf und zeigten ihm die
glaͤnzende offne Tafel des July Sonntags, die
aus einbeinigen Taͤfelgen unter Baͤumen be¬
ſtand — „koͤſtlich, ſagte der Notar zu ſich, iſt
doch warlich das allgemeine Seſſelholen, Zelt¬
aufſchlagen, Rennen gruͤner Lauferſchuͤrzen, Weg¬
legen der Schauls und Stoͤcke, Ausziehen der
Koͤrke, und Waͤhlen eines Tiſchgens, die ſtolzen
Federhuͤte zwiſchen durch, die Kinder im Graſe,
die Muſikanten hinten, die gewiß gleich anfan¬
Flegeljahre I. Bd. 15[226] gen, die warmbluͤhenden Maͤdgen-Stirnen, die
durchſchimmernde Gartenroſen unter den weiſſen
Schleiern, die Arbeitsbeutel, die Goldanker und
Kreuze und andere Gehenke auf ihren Haͤlſen, und
die Pracht und die Hoffnung und daß noch im¬
mer mehr Leute nachſtroͤhmen — — O ihr lieben
Menſchen, macht euch nur recht viel Luſt,
wuͤnſch' ich!‟ —


Er ſelber ſezte ſich an ein einſames Tiſch¬
gen, um kein geſelliges zu ſtoͤren. Vom Zucker¬
gus ſeines ſtillen Vergnuͤgtſeins feſt uͤberlegt
ſaß er daran, ſich erfreuend, daß jezt faſt in
ganz Europa Sonn- und Luſttag ſei, und nichts
begehrend als neue Koͤpfe, weil er jeden zwiſchen
die Augen nahm, um auszufuͤhlen, ob er dem
rothen Juͤngling angehoͤre, wornach ſeiner Seele
alle ihre Bluͤtenblaͤtter ſtanden.


Ein Geiſtlicher ſpazierte voruͤber, vor dem
er ſizend den Hut abnahm, weil er glaubte, daß
Prieſter, gewohnt durch ihre Rockfarbe jeden
Hut zu bewegen auf dem Lande, jedesmal Schmer¬
zen in der Stadt empfinden muͤſten, wenn ein
ganz feſter vorbei gienge. Der Geiſtliche ſah ihn
[227] ſcharf an, fand aber, daß er ihn nicht kenne.
Jzt trabten zwei Reiter heran, von welchen der
eine wenig zu leben hatte, der andere aber nichts,
Vult und Flitte.


Der Elſaſſer tanzte reichgekleidet und luſtig
— obgleich ſeine te deum laudamus in laus
deo
beſtanden — nach ſeinem eignen Geſang vom
Steigbuͤgel unter ſeine Bekanntſchaften, d. h.
ſaͤmmtliche Anweſende hinein; geliebt von jedem,
dem er nichts ſchuldig war. Er uͤberſtand luſtig
eine kurze Aufmerkſamkeit auf ſich als den Men¬
ſchen, der die Kabelſche Erbporzion eingebuͤſſet,
welche er ſchon als Fauſtpfand ſo oft wie den
Reliquienkopf eines Heiligen vervielfacht unter
ſeine Glaͤubiger vertheilt hatte, weil das mar¬
ſeilliſche Schif, worauf er eine große eben ſo oft
verpfaͤndete Dividende hatte, jedem zu lange aus¬
blieb. Walt wunderte und freute ſich, daß der
ſingende Taͤnzer, der alle Weiber gruͤſte, der
kuͤhn ihre Faͤcher und Sonnenſchirme und Arm¬
bands-Medaillons handhabte und kuͤhner die
Haͤng-Medaillen und Haͤng-Uhren von jeder
weiſſen Bruſt mit den Fingern ans Auge erhob,
[228] ſich grade vor den Tiſch der drei haͤßlichſten po¬
ſtierte, denen er Waſſer und Aufwaͤrter holte,
ſogar ſchoͤne Geſpielinnen. Es waren die 3 Neu¬
peteriſchen Damen, bei welchen Gottwalt geſtern
drei Viſiten-Karten abgegeben. Der Elſaſſer
machte in kurzem umherlaufend das ganze Roſen¬
thal mit dem dort ſizenden Nanking bekannt, der
den alten Kabel beerbte; aber Walt, zu auf¬
merkſam auf andere und zu wenig ſich voraus¬
ſezend, entgieng durch ſein menſchenfreundliches
Traͤumen dem Misvergnuͤgen, das allgemeine
Schielen zu ſehen. — Zulezt trat Flitte gar zu
ihm, und verrieth durch einen Gruß ihn der
Kaufmannſchaft. Unter allen 7 Erben ſchien der
luſtige Bettler gerade am wenigſten erbittert auf
Walten zu ſein; auch dieſer gewann ihn herzlich
lieb, da er zuerſt den Spielteller der Muſikan¬
ten nahm, belegte und herum trug, und gern
haͤtt' er ihm ein großes Stuͤck der Erbporzion
oder des Teſtaments zum Lohne mit darauf ge¬
worfen.


Der Notar war beſonders auf die feinſte
Lebensart ſeines Bruders neugierig. Dieſe be¬
[229] ſtand aber darinn, daß er ſich um nichts be¬
kuͤmmerte, ſondern auswaͤrts that, als ſiz' er warm
zu Hauſe, und es gebe keine Fremden auf der
Welt. Sollt' es nicht einige Verachtung oder
Haͤrte anzeigen, dachte Walt, durchaus keine
fremde erſte Stunde anzuerkennen, ſondern nur
eine vertraute zweite, zehnte ꝛc.? — Dabei mach¬
te Vult das ruhigſte Geſicht von der Welt vor
je dem ſchoͤnſten, trat ſehr nahe an dieſes, klagte,
ſein Auge komme taͤglich mehr herunter und blik¬
te (als Schein-Myops) unbeſchreiblich kalt an,
und weg, als ſize die Phyſiognomie verblaſen
zu einem geſtaltloſen Nebel an einer Bergſpize
haͤngend vor ihm da. Sehr fiel dem Notarius
— welcher glaubte, auch geſehen zu haben in
Leipzig in Rudolphs Garten, was feinſte Sit¬
ten und Menſchen ſind, und mit welchen forcier¬
ten Maͤrſchen junge maͤnnliche Kaufmannſchaft
weibliche bedient und bezaubert, gleichſam wil¬
lige Karteſianiſche Taͤucherlein, die der Damen¬
finger auf und nieder ſpringen laͤſſet — ſehr fiel
ihm Vults maͤnnliche Ruhe auf, bis er zulezt
gar ſeine Definizion des Anſtands aͤnderte und
[230] ſich folgende fuͤr den „Hoppelpoppel“ aus
dem weltgewandten Bruder abzog: „Koͤrperlicher
Anſtand iſt kleinſte Bewegung; naͤmlich ein hal¬
ber Schritt oder ſchwacher Ausbug ſtatt eines
Gemſenſprunges — ein maͤßiger Bogen des El¬
lenbogens ſtatt einer ausgereckten ſpitzen Fechter-
Tangente, das iſt die Manier, woran ich den
Weltmann erprobe.“ —


Zulezt wurde der Notar auch keck, und voll
Welt und Lebensart und ſtand auf mit dem
Vorſaz, wacker hin und her zu ſpazieren. Er
konnte ſo zuweilen ein Wort ſeines Bruders von
der Seite wegſchnappen; und beſonders irgend¬
wo den rothen Liebling des Morgens auffiſchen.
Die Muſik, welche die Dienſte des Vogelgeſangs
that eben durch Unbedeutſamkeit, ſchwemmte ihn
uͤber manche Klippe hinuͤber. Aber welche Flo¬
ra von Honorazioren! Er genoß jezt das ſtille
Gluͤck, das er oft gewuͤnſcht, den Hut abzuzie¬
hen vor mehr als einem Bekannten, vor Neupe¬
ter et Compagnie, die ihm kaum dankten; und
er konnte ſich nicht enthalten, manche frohe Ver¬
gleichungen ſeiner jezigen lachenden Lage im Has¬
[231] lauer Roſenthal mit ſeiner ſonſtigen anonymen
im Leipziger anzuſtellen, wo ihn auſſer den we¬
nigen, die er nicht richtig bezahlen konnte, faſt
keine Kaze kannte. Wie oft war er in jener un¬
bekannten Zeit verſucht, oͤffentlich auf Einem
Beine zu tanzen, oder auch mit zwei zinnernen
Kaffeekannen in der Hand, oder gerade zu eine
Flammen-Rede uͤber Himmel und Erde zu hal¬
ten, um nur Seelen-Bekannte ſich ans Herz
zu holen! — So ſehr ſezt der Menſch — der
aͤlter kaum bedeutenden Menſchen und Buͤchern
zulaͤuft — juͤnger ſchon blos neuen Leuten und
Werken feurig nach.


Mit Freuden bemerkt' er im Gehen, wie
Vult in ſeine Ruhe und Wuͤrde ſo viel inſinuan¬
te Verbindlichkeit, und in ſein Geſpraͤch ſo viele
ſelber an Ort und Stelle geerntete Kenntniſſe von
Europens Bilderkabinetten, Kuͤnſtlern, beruͤhm¬
ten Leuten und oͤffentlichen Plaͤzen zu legen wuſte,
daß er wirklich bezauberte; worinn ihn freilich
ſeine Verbindung mit ſeinen ſchwarzen Augen
(darinn beſtand beſonders ſeine ſchwarze Kunſt
bei Weibern) und wieder die Kaͤlte, welche impo¬
[232] niert (Waſſer gefriert ſich immer erhoben)
ſichtbar unterſtuͤzte. Eine alte Hofdame des
regierenden Haͤusgens von Haslau wollte ſchwer
von ihm weg; und bedeutende Herrn befragten
ihn. — Aber er hatte den Fehler, nichts ſo ſehr
zu lieben — das Bezaubern ausgenommen —
als Entzaubern darauf, und beſonders die Sucht.
Weiber, wie ein elektriſierter Koͤrper leichte Sa¬
chen, anzuziehen, um ſie abzuſtoßen. Walt
muſte uͤber Vults Einfaͤlle uͤber Weiber bei
Weibern ſelber erſtaunen; denn er konnte in
Voruͤbergehen recht gut vernehmen, daß Vilt
ſagte: ſie kehrten ſtets im Leben und ſonſt, vie
an ihren Faͤchern, gerade die reichſte bemohlte
Flaͤche andern zu und behielten die leere — und
mehr dergleichen, als z. B.: ſie machten, wie
man die Coeurs auf Karten zu Geſichtern mit
maleriſcher Spielerei umgewandelt, wieder leicht
aus ihrem und einem fremden Geſicht ein Coeur
— oder auch: die rechte poetiſche, aber ſpizbuͤ¬
biſche Art der Maͤnner, ſie zu intereſſieren, ſei,
ihnen immer die geiſtige Vergangenheit, ihre Lieb¬
lingin, vortoͤnen zu laſſen, als z. B. welche
[233] Traͤume vergangen, und wie ſich ſonſt das Herz
geſehnt u. ſ. w., das ſei die kleine Sourdine,
die man in die Weite des Waldhorns ſtecke, deſ¬
ſen nahes Blaſen dann wie fernes Echo klinge.


„Sie pfeifen auf der Floͤte?“ ſagte die Hof¬
agentin Neupeter. Er zog die Anſaͤze und Mit¬
telſtuͤcke aus der Taſche und wies alles vor. Ih¬
re beiden haͤslichen Toͤchter, und fremde ſchoͤne
baten um einige Stuͤcke und Griffe. Er ſteckte
aber die Anſaͤze kalt ein und verwies bittend auf
ſein Konzert. „Sie geben wohl Stunden?“
fragte die Agentin. „Nur ſchriftliche“ verſezt'
er, da ich bald da bald dort bin. Denn laͤngſt
lies ich in den Reichs-Anzeiger folgendes
ſezen:


„Endes Unterſchriebener kuͤndigt an, daß
er in portofreien Briefen — die ausgenommen
die er ſelber ſchreibt — allen, die ſich darin an
ihn wenden, Unterricht auf der herrlichen Fluͤte
traverfière
(ſie hier zu loben, iſt wohl un¬
noͤthig) zu geben verſpricht. Wie die Finger zu
ſezen, die Loͤcher zu greifen, die Noten zu leſen,
die Toͤne zu halten, will er brieflich poſttaͤglich
[234.[234]] mittheilen. Fehler, die man ihm ſchreibt, wird
er im naͤchſten Briefe verbeſſern.“


„Unten ſtand mein Name. Gleicher Weiſe
kegle ich auch in Briefen mit einem ſehr einge¬
zognen Biſchoff (ich wollt', ich koͤnnt' ihn nen¬
nen); wir ſchreiben uns, redlicher vielleicht als
Forſtbeamte, wie viel Holz jeder gemacht; der
andere ſtellt und legt ſeine Kegel genau nach dem
Briefe und ſchiebt dann ſeiner Seits.“


Die Haslauer muſten lachen, ob ſie gleich
ihm glaubten; aber die Agentin ſtrich ſich mit
innerer Hand ſo roth als einen Poſtwagen, deſ¬
ſen Stoͤße Hr. Peter Neupeter am beſten kannte,
an und fragte die Toͤchter nach Thée. Das
Kirwanenthee-Kaͤſtgen war vergeſſen. Flitte war
froh, ſagte, er ſize auf nach dem Kaͤſtgen, hoffe
es in fuͤnf Minuten aus der Stadt herzureiten
und ſollte ſein Gaul fallen — d. h. der geborgte,
denn ſein Zutritt in allen Haͤuſern war auch ei¬
ner in allen Staͤllen — und er denke ſogar noch
dem H. van der Harniſch eine bewaͤhrte Staar¬
brille mit zubringen. Vult behandelte, glaubte
Walt, das Anerbieten und das Maͤnngen etwas
zu ſtolz.


[235]

Wirklich kam Flitte nach 7 Minuten zuruͤck¬
geſprengt, ohne Staarbrille — denn er hatte ſie
nur verſprochen — aber mit dem Neupeteri¬
ſchen Thee-Kaͤſtgen von Mahagony, deſſen De¬
ckel einen Spiegel mit der Thee-Doublette
aufſchlug.


Ploͤzlich fuhr Vult, als aus dem ſoge¬
nannten Poetengange des Roſenthals, eine reiche
rothe Uniform mit rundem Hut heraustrat, auf
den ſpazierenden Notarius los — that kurzſich¬
tig, als glaub' er ihn zu kennen — fragte ihn
unter vielen Komplimenten leiſe, ob jener rothe
Bediente des Grafen von Klothar der bewuſte
ſei — entſchuldigte ſich nach dem Kopfſchuͤtteln
des beſtuͤrzten Notars laut mit ſeinem Kurzblicke
der jezt Bekannte und Unbekannte durch einander
werfe und ſezte hinzu: „verzeihen Sie einem
Halbblinden, ich hielt Sie fuͤr den Herrn Wald¬
hern Pamſen aus Hamburg, meinen Intimen —
und lies ihn in Bewuſtſein einer Verlegenheit,
deren Quelle der redliche Notar nicht in ſeiner
Wahrhaftigkeit ſuchte, ſondern in ſeinem Man¬
gel an Reiſen, die immer das Hoͤlzerne aus den
[236] Menſchen nehmen, wie die Verſezungen das Holzi¬
ge aus den Kohlruͤben.


Izt trat nach dem dieneriſchen Abendrothe
der Aurora, hinter welcher der Notar ſeine Le¬
bens - Sonne finden wollte, wirklich der Reiter
des Morgens im blauen Ueberrock, aber mit Fe¬
derbuſch und Ordensſtern aus dem dichten Laub¬
holze heraus ſammt Geſpraͤchen mit einem frem¬
den Herrn. Der Floͤtenſpieler brauchte blos auf
einen brennenden Blick des Notars ſeinen kalten
zu werfen, um feſt zu wiſſen, daß der Morgen-
Mann dem Feuer-Herzen des Bruders wieder
erſchiene, den er nur aus Ironie mit der Ver¬
wechslung des rothen Bedienten mit dem blauen
Herrn geneckt. Walt gieng ihm entgegen; in der
Naͤhe erſchien dieſem der Muſengott ſeiner Ge¬
fuͤhle noch laͤnger, bluͤhender, edler. Unwillkuͤhr¬
lich nahm er den Hut ab; der vornehme Juͤng¬
ling dankte ſtumm fragend und ſezte ſich ans er¬
ſte beſte Tiſchgen, ohne durch den Sprungfer¬
tigen Roth-Rock etwas zu fodern. Der Notar
gieng auf und ab, um, wie er hofte, vielleicht
unter das Fuͤllhorn der Reden zu kommen, das der
[237] ſchoͤne Juͤngling uͤber den Begleiter goß. Wenn
auch . . . . (fieng der Juͤngling an, und der
Wind wehte das Hauptwort Buͤcher weg,)
nicht gut oder ſchlecht machen, beſſer oder ſchlech¬
ter machen ſie doch.“ Wie ruͤhrend und nur
aus dem Innerſten in das Innerſte dringend,
klang ihm dieſe Stimme, welche des ſchoͤnen weh¬
muͤthigen Flors um das Angeſicht wuͤrdig waͤr!
— Darauf verſezte der andere Herr: die Dicht¬
kunſt fuͤhrt ihre Innhaber zu keinem beſtimmten
menſchlichen Karakter; wie Kunſtpferde machen
ſie Kuͤſſen und Todtſtellen und Complimentieren
und andere fremde Kuͤnſte nach; ſind aber nicht
die dauerhafteſten Pferde zum Marſch” — Das
Geſpraͤch war offenbar im Poetengange aufge¬
wachſen.


„Ich bin gar nicht in Abrede — verſezte
der blaue Juͤngling ruhig ohne alle Geſtus und
Gottwalt gieng immer ſchneller und oͤfter vor¬
uͤber, um ihn zu hoͤren — ſondern vielmehr in
der Meinung, daß jede, auch willkuͤhrliche Wiſ¬
ſenſchaft, dergleichen Theologie, Jurisprudenz,
Wappenkunde und andere ſind, eine ganz neue
[238] aber feſte Seite an den Menſchen oder der Menſch¬
heit nicht nur zeige, auch wirklich hervor bringe.
Aber deſto beſſer! Der Staat macht den Men¬
ſchen nur einſeitig und folglich einfoͤrmig. Der
Dichter ſollte alſo, wenn er koͤnnte, alle Wiſſen¬
ſchaften d. h. alle Einſeitigkeiten in ſich ſenden;
alle ſind dann Vielſeitigkeit; denn er allein iſt ja
der einzige im Staat, der die Einſeitigkeiten un¬
ter Einen Geſichtspunkt zu faſſen Ruf und Kraͤf¬
te hat, und ſie hoͤher verknuͤpfen und durch loſes
Schweben alles uͤberblicken kann.“


„Ganz evident, ſagte der Fremde, iſt mir
das nicht.“ — „Ich will ein Beiſpiel geben,
verſezte der Graf Klothar. Im ganzen minera¬
logiſchen, atomiſtiſchen oder todten Reiche der
Kryſtalliſazion herrſchet nur die gerade Linie,
der ſcharfe Winkel, das Eck; hingegen im dy¬
namiſchen Reiche von den Pflanzen bis zu den
Menſchen regiert der Zirkel, die Kugel, die
Walze, die Schoͤnheitswelle! Der Staat, Sir,
und die poſitive Wiſſenſchaft wollen nur, daß
ſein Arſenik, ſeine Salze, ſein Demant, ſein
Uranmetall in platten Tafeln, Prismen, lang¬
[239] rautigen Parallelepipedis u. ſ. w. anſchieſſen,
um leichter eingemauert zu werden. Hingegen
die organiſirende Kraft, eben darum die iſoli¬
rende, will das nicht, das ganze Weſen will
kein Stuͤck ſein; es lebt von ſich und von der
ganzen Welt. So iſt die Kunſt; ſie ſucht die
beweglichſte und vollſte Form und iſt, wie ſonſt
Gott, nur wie ein Zirkel oder ein Augapfel ab¬
zubilden.”


Aber der Notar zwang ihn aufzuhoͤren. —
Er hatte ſich daruͤber Skrupel gemacht, daß er
ſo im Auf- und Abſchleichen die obwohl lauten
Meinungen des edeln Juͤnglings heimlich weg¬
horche; daher lehnt' er ſich aus Gewiſſen an ei¬
nen Baum, und ſah unter dem Hoͤren dem Blau¬
rock deutlich ins Geſicht, um ihm anzuzeigen,
daß er aufpaſſe. Aber den Juͤngling verdroß es
und er verlies den Tiſch.


Herzlich wuͤnſchte der nachgehende Notar
den Floͤteniſten herbei, um durch ihn mehr hin¬
ter den Donnergott zu kommen. Zum Gluͤcke
theilte und durchſchritt der Graf einen bunten
Menſchen-Klumpen, der ſich um ein Kunſtwerk
[240] anſezte. Es war ein Knabenhohes und langes
Kauffartheiſchiff, womit ein armer Kerl auf der
Achſe zu Lande gieng, um mit dieſem Weber¬
ſchiffgen die Faͤden ſeines hungrigen Lebens zu
durchſchieſſen und zuſammen zu halten. Als der
Notar ſah, daß der Juͤngling ſich ans Fahr¬
zeug und Nothruder des Menſchen ſtellte, drang
er ihm nach, um dicht neben ihm zu halten.
Der Schiffspatron ſang ſein altes Lied von den
Schiffstheilen, den Maſten, Stengen, Reen,
Segeln „und Touw-Werk“ ab. „Das muß
ihm Hundslangweilig werden, es taͤglich wieder¬
holen“ ſagte der Herr zum Grafen.


„Es folgen ſich, verſezte dieſer mit einigem
Lehrtone, in jeder Sache, die man taͤglich treibt,
drei Perioden, in der erſten iſt ſie neu, in der
naͤchſten alt und langweilig, in der dritten keines
von beiden, ſondern gewohnt.“


Hier kam Vult. Der Notar gab ihm durch
Winke die entbehrliche Nachricht des Funds.
Aber, Patron, ſagte der Graf zum Schiffs¬
herrn, die Braſſen der Fock-Ree muͤſſen ja mit¬
ten von dem großen Stag an nach den Schin¬
[241] kel Blocken laufen, dann ſieben oder ſechs Fuß
tiefer nach dem großen Stag durch die Blocke und
ſo weiter nach dem Verdeck. Und wo habt Ihr
denn den Vor-Teckel, die Schoten des Vor-
Mars-Segels, die Cy-Touwen des Bezaans-
Segels und das Fall von dem Seyn?“ — Hier
ließ der Graf verachtend den Schiffer, der ſeinen
Mangel durch Bewunderung fremder Kenntnis
verkleiſtern wollte in einer zweiten aufrichtigern
uͤber eine Geld-Fracht ſtehen, dergleichen ihm
ſein Proviantſchiff und Brodwagen noch nie aus
den beiden Indien des Adels- und des Buͤrger¬
ſtandes zugefahren.


Walt auch in einem ſuͤſſen Erſtaunen uͤber
die nautiſchen Einſichten bei ſo viel philoſophi¬
ſchen — lies den blauen ſtolzen Juͤngling ſchwer
durchpaßieren und ſich von ihm ſtatt an die Bruſt
doch recht an die Seite ſo lange druͤcken, daß
der Blaurock ziemlich ernſthaft ihn anſah. Vult
war verſchwunden. Der Juͤngling flog bald mit
ſeinem Bedienten auf ſchoͤnen Pferden davon.
Aber der Notarius blieb als ein Seeliger in die¬
Flegeljahre I. Bd. 6[242] ſem Joſaphats-Thal zuruͤck, ein geheimer ſtiller
Bacchant des Herzens. „Das iſt ja gerade der
Menſch, ſagt' er heftig, den du feurig wollteſt,
ſo jung, ſo bluͤhend, ſo edel, ſo ſtolz — hoͤchſt
wahrſcheinlich ein Englaͤnder, weil er Philoſo¬
phie und Schiffsbau und Poeſie wie drei Kro¬
nen traͤgt. Lieber Juͤngling, wie kannſt
du nicht geliebt werden, wenn du es ver¬
ſtatteſt!”


Jezt verſchuͤttete die Abendſonne unter ih¬
re Roſen das Thal. Die Muſikanten ſchwie¬
gen, von dem Spielteller das Silber ſpeiſend,
der umgelaufen war. Die Menſchen zogen nach
Hauſe. Der Notarius gieng noch eilig um vier
leere Tiſche, woran holde Maͤdgen geſeſſen,
blos um die Freude einer ſolchen Tiſchnachbar¬
ſchaft mitzunehmen. Er wurde nun im lang¬
ſamen Strome ein Tropfen, aber ein roſenro¬
ther heller, der ein Abendroth und eine Sonne
auffaſte und trug. „Bald, ſagt' er ſich, als er
die drei Stadtthuͤrme ſah, an welchen das
Abendgold herunter ſchmolz, erfahr' ich von
meinem Vult, wer er iſt und wo — und dann
[243] wird mir ihn Gott wohl ſchenken.“ Wie liebt'
er alle Juͤnglinge auf dem Wege, blos des
blauen wegen! „Warum liebt man, ſagt' er zu
ſich, nur Kinder, nicht Juͤnglinge, gleichſam als
waͤren dieſe nicht eben ſo unſchuldig?“ — Un¬
gemein gefiel ihm der Sonntag, worin jeder
ſich ſchon durch den Anzug poetiſch fuͤhlte. Die
erhizten Herren trugen Huͤte in Haͤnden und
ſprachen laut. Die Hunde liefen luſtig und oh¬
ne ſcharfe Befehle. Ein Poſtzug Kinder hatte
ſich vor eine volle Kinderkutſche geſpannt und
Pferde und Paſſagiere waren ſehr gut angezogen.
Ein Soldat mit dem Gewehr auf der Achſel
fuͤhrte ſein Soͤhngen nach Hauſe. Einer fuͤhrte
ſeinen Hund an ſeinem rothſeidnen Halstuch.
Viele Menſchen giengen Hand in Hand und
Walt begrif nicht, wie manche Fusgaͤnger ſolche
Finger-Paare und Liebes-Ketten trennen konn¬
ten, um nur gerade zu gehen; denn er gieng
gern herum. Sehr erfreuet' es ihn, daß ſogar
gemeine Maͤgde etwas vom Jahrhundert hat¬
ten und ihre Schuͤrzen ſoweit und griechiſch in
die Hoͤhe banden, daß ein geringer Unterſchied
[244] zwiſchen ihnen und den vornehmſten Herrſchaf¬
ten verblieb. Nahe um die Stadt unter dem
erſten Thore raſete die Schuljugend, ja ein ge¬
dachtes Maͤdgen gab der herriſchen Schildwache
einen Blumenſtraus keck neben das Gewehr —
und ſo ſchien dem Notar die ganze Welt ſo
tief in die Abendroͤthe geworfen, daß die Roſen¬
wolken herrlich wie Blumen und Wogen in die
Welt hineinſchlugen.

Appendix A

Ende des erſten Baͤndgens.

[][][]
Notes
*)
Aur. bull. II. r. homo justus, bonus et utilis.
*)
Juriſten.
*)
Jener bedeutet in Tyrol den Pfarrer, dieſer den
Diakonus.
*)
Heinecc. hist. jur. civ. stud. Ritter. L. I. § 393.
*)
Bekanntlich iſt vor dem Erdbeben meiſt die Luft
ſtill, nur das Meer woget.
*)
Wiarda uͤber deutſche Vor- und Geſchlechtsnamen
S. 216. — 221.
*)
Lamberts Beitraͤge zur Mathematik III. B. v. 236
*)
„Es geſchah der Schamhaftigkeit und Wohlgeſtalt
zu Liebe.“
*)
Winkelmann von der Nachahmung ꝛc.
*)
Weil die meiſten Feſte in große Wetter-Kriſen
treffen.
*)
Deſſen Naturgeſchichte Deutſchlands I. B. 2te
Auflage.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Holder of rights
Kolimo+

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Flegeljahre. Flegeljahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnwp.0