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Die
deutſche Literatur

Zweiter Theil.


Stuttgart,:
bei Gebrüder Franckh.

1828.
[][]

Inhalt des zweiten Theils.


  • Seite
  • Natur  1
  • Kunſt  45
  • Kritik  290
[][[1]]

Natur.

Der rege Naturſinn der alten Deutſchen hat ſich
zur Naturwiſſenſchaft geſteigert, wie alles Leben un¬
ter den Begriff gebracht worden iſt. Es iſt aber
nicht zu verkennen, daß die alte Liebe und innige
Befreundung mit der Natur noch jetzt die wiſſenſchaft¬
lichen Abſtractionen erwaͤrmt und beſeelt. Selbſt die
poetiſche Gluth, die man an den Naturphiloſophen
zu tadeln pflegt, zeugt von der tiefen Innigkeit un¬
ſerer Naturanſchauung. Es gibt kein Volk, das an
der Natur mit ſolcher Inbrunſt haͤngt und mit ſol¬
cher Genialitaͤt ihre Myſterien enthuͤllt hat, als das
deutſche. Die Naturphiloſophie der neuern Deutſchen
ſteht wie ihre Geiſtesphiloſophie einzig und erhaben
uͤber der ganzen Sphaͤre der Literatur aller Voͤlker.


Darin aber kommen alle gebildeten Nationen der
neuern Zeit uͤberein, daß die Naturwiſſenſchaft die
Grundlage aller Cultur iſt, und es iſt ein unerme߬
licher Fortſchritt des menſchlichen Geſchlechts, daß
es von der ſchwindelnden Hoͤhe des Geiſtes immer
Deutſche Literatur. II. 1[2] mehr zur Natur zuruͤckkehrt. Der alte Aberglaube
ward gebaͤndigt durch die genaue Kenntniß der Na¬
turkraͤfte; die Roheit und Armuth des geſelligen Le¬
bens ward in Schoͤnheit, Fuͤlle und friedlichen Ge¬
nuß verwandelt durch die Anwendung jener Kennt¬
niſſe; die Poeſie iſt an der Hand der Natur aus ih¬
ren gelehrten Verirrungen zuruͤckgekehrt, und ſelbſt
die Philoſophie hat durch die Naturwiſſenſchaft ihre
Reinigung und Verjuͤngung erlebt. Alle großen Ent¬
wicklungen der neuern Zeit knuͤpfen ſich an große
Entdeckungen in der Natur, und alle wahrhaft hu¬
mane Bildung und aller phyſiſche und geiſtige Wohl¬
ſtand des juͤngſten Geſchlechtes iſt darin begruͤndet.


Immer auf doppelte Weiſe wird durch Natur¬
kunde die Befreiung des menſchlichen Geſchlechts be¬
foͤrdert, durch die Aufklaͤrung des Geiſtes uͤber die
Naturkraͤfte und durch den oͤkonomiſchen Gebrauch
derſelben. Die Aſtronomie und die Entdeckung der
fremden Welttheile ging der Reformation, die Che¬
mie, Phyſiologie und große mechaniſche Entdeckungen
gingen der Revolution vorher. Der Sinn, der an
die engſte Gegenwart gefeſſelt war, wurde frei durch
den großen Blick ins Univerſum; die dumpfe Angſt
vor geheimnißvollen Naturkraͤften verſchwand vor der
Erkenntniß des einfachen Naturgeſetzes; das Kraft¬
gefuͤhl wurde geſtaͤrkt durch die Herrſchaft uͤber die
ungeheuern Gewalten der Natur. Zugleich aber be¬
gruͤndete die Naturkunde einen neuen Handel, Indu¬
ſtrie aller Art und in ihrem Gefolge einen neuen
[3] Wohlſtand der Voͤlker. Der Weltverkehr, die Rei¬
ſen, die Thaͤtigkeit und der Genuß wohlerworbener
Guͤter trugen mehr als kriegeriſche Siege oder gei¬
ſtige Speculationen zur wahren Aufklaͤrung und zum
Freiheitsſinn der Voͤlker bei. An Handel und In¬
duſtrie iſt immer die Freiheit geknuͤpft.


Betrachten wir den Antheil, welchen die Deut¬
ſchen an den Entdeckungen im Naturgebiet genom¬
men, ſo iſt derſelbe weit groͤßer, als die Vortheile,
die ſie dadurch errungen haben. Es iſt bewunde¬
rungswuͤrdig, daß wir mit ſo wenigen Mitteln und
ohne auf große Vortheile rechnen zu koͤnnen, doch ſo
viel fuͤr die Naturkunde geleiſtet haben. Der Deut¬
ſche war ſeit dem Verfall der Hanſa auf ſein Bin¬
nenland beſchraͤnkt, und beſaß nichts von jenen Colo¬
nien, welche die Beherrſcher der See eben ſo zur
Naturforſchung auffordern, als dieſelbe belohnen mu߬
ten. Auf Ackerbau und Viehzucht beſchraͤnkt und vom
Welthandel ausgeſchloſſen, waren ihm die Naturwiſ¬
ſenſchaften nie eigentlich Angelegenheit des Staats,
wie den Englaͤndern und Franzoſen, und ſeine Fuͤr¬
ſten waren nicht reich genug, um große naturhiſto¬
riſche Unternehmungen auszuruͤſten, oder es fehlte der
Sinn dafuͤr. Dennoch haben die Deutſchen das Moͤg¬
liche geleiſtet. Sie haben mit ihren ſchwachen Kraͤf¬
ten ſogar in Entdeckungsreiſen mit den Fremden ge¬
wetteifert, und Martin Behaim, Niebuhr, die beiden
Forſter, Humboldt ꝛc. waren Deutſche. Sollten uns
aber auch die Fremden im Allgemeinen im Sammeln
1 *[4] und Anhaͤufen von Thatſachen der Natur uͤbertreffen,
und geben wir den Englaͤndern noch den praktiſchen
Sinn fuͤr die Anwendung der Naturkraͤfte, den Fran¬
zoſen die feine Beobachtungsgabe fuͤr einzelne Natur¬
gegenſtaͤnde voraus, ſo bleiben die Deutſchen doch
unuͤbertroffen in der tiefen Combination der empiri¬
ſchen Thatſachen, die einerſeits zu unſterblichen neuen
Entdeckungen, andrerſeits zu einer Philoſophie der
Natur uͤberhaupt fuͤhrt.


Die Naturwiſſenſchaft dient den Zwecken des Le¬
bens, daruͤber hinaus aber iſt ſie ihr eigner Zweck.
Dieſer Zweck iſt das, was wir die Naturphiloſophie
nennen, die Erkenntniß der Einheit in der Mannig¬
faltigkeit der Natur, die Ergruͤndung des Weſens in
allen ihren Erſcheinungen. Die empiriſche Naturfor¬
ſchung iſt nur das Mittel dazu.


Die Natur bietet uns nichts als Erfahrungen,
doch jede Sammlung derſelben bleibt ungenuͤgend,
wenn der ſpeculative Geiſt des Menſchen in der un¬
endlichen Mannigfaltigkeit nicht die Einheit entdeckt,
und die Theile dem Ganzen, die Wirkungen den Ur¬
ſachen verbindet. Auf der andern Seite aber ſind
dem menſchlichen Geiſte Schranken gezogen, durch die
er nie in die geheimſte Werkſtaͤtte der Natur hinuͤber¬
blicken kann. Demnach haben die deutſchen Natur¬
forſcher in zwei Parteien ſich getheilt. Die Einen
erkennen die Nothwendigkeit einer alles umfaſſenden,
durchdringenden und aufklaͤrenden Naturphiloſo¬
phie
, und der den Deutſchen ſo eigenthuͤmliche Tiefſinn
[5] und geiſtige Heldenmuth, der vor keiner Schranke
zuruͤckbebt, treibt ihre groͤßten Geiſter an, das letzte
Raͤthſel der Natur zu loͤſen. Die Andern bleiben bei
der Empirie ſtehn, und ſuchen die gewonnenen Erfah¬
rungen nach dem Beiſpiel der Fremden auf das prak¬
tiſche Leben anzuwenden, weil ſie entweder unuͤber¬
ſteigliche Schranken anerkennen und leere Hypothe¬
ſen wie billig abweiſen, oder erſt des einmal gewon¬
nenen ſich recht bemaͤchtigen wollen, ehe ſie weiter
gehn, oder weil ſie nicht Geiſt genug beſitzen, um zu
combiniren, daher nur gedaͤchtnißmaͤßig ſummiren und
beſchreiben.


Das Beſtreben, die Natur in ein Syſtem zu
bringen, ſie als ein Einiges, Ganzes und Lebendi¬
ges in allen Theilen zu begreifen, iſt ſo alt, als die
Naturwiſſenſchaft uͤberhaupt. Aus ihm ſind die alten
Kosmogonien hervorgegangen, und was man auch
gegen die religioͤſen und poetiſchen Einmiſchungen in
die Naturwiſſenſchaft ſagen mag, die pantheiſtiſche
Anſicht war derſelben guͤnſtig, und der ſpaͤtere Poly¬
theismus und Monotheismus hat unſtreitig der Wiſ¬
ſenſchaft geſchadet, die bereits zu ſo großer Vollkom¬
menheit gediehen war. Die lebendige Naturanſicht
der alten Voͤlker war aber uͤberhaupt nicht die Wir¬
kung, ſondern die Urſache des Pantheismus. Sie ging
aber unter, als die Thatkraft und die Selbſtbetrach¬
tung des Geiſtes die Menſchen allmaͤhlig von der
Natur entfernte, und jene ein Goͤtterheer, dieſe den
einigen uͤberſinnlichen Gott erkannte. Die Einheit
[6] und die Lebendigkeit der pantheiſtiſchen Naturanſicht
hat ſehr viel vor den ſpaͤtern Verſuchen voraus, die
Natur im Einzelnen und als todten Leichnam zu ſe¬
ciren. Dagegen iſt die ſpaͤtere Trennung der Wiſ¬
ſenſchaft von der Religion ein nothwendiger und we¬
ſentlicher Fortſchritt. Die neueſte Naturphiloſophie
hat das Gute von beiden Richtungen zu vereinigen
geſucht, die Natur wieder als ein großes Organon
lebendig aufgefaßt, und doch nicht Glauben und Poeſie,
ſondern die Thatſachen der Erfahrung dabei zu Grunde
gelegt. Ein religioͤſes und poetiſches Intereſſe hat
ſich dabei von ſelber eingefunden, wie es bei einer
lebendigen Naturanſicht nicht anders ſeyn kann, und
die Empiriker machen ſich nur laͤcherlich, wenn ſie
eine gewiſſe Trockenheit und Kaͤlte zum Kriterium
der Wiſſenſchaft machen wollen, und eine tiefe Wahr¬
heit von vorn herein blos darum verdaͤchtigen, weil
ſie zugleich poetiſch iſt. Indeß laͤßt ſich nicht laͤug¬
nen, daß an jenen Schranken, die der Wiſſenſchaft
von der Natur ſelbſt gezogen ſind, theils die religioͤſe
Gemuͤthlichkeit, theils die Phantaſie ein nichtiges
Spiel von Hypotheſen begonnen hat, gegen welche
die Empiriker mit Recht ſich ereifern. Dieſe Hypo¬
theſen moͤgen wir aufopfern, wenn nur die große
philoſophiſche Anſicht der Natur ſelbſt gerettet wird.


Wir erkennen in dreifacher Richtung unuͤberſteig¬
liche Graͤnzen der Naturwiſſenſchaft, in der Richtung,
welche von unſrem Sonnenſyſtem ins Univerſum fuͤhrt,
in der, welche von den ſinnlichen Erſcheinungen in¬
[7] waͤrts zu dem geheimſten Weſen der Materie fuͤhrt,
und in der Richtung, welche von den phyſiſchen Er¬
ſcheinungen im Menſchen zu den pſychiſchen fuͤhrt.
In allen dieſen Richtungen reicht die menſchliche Er¬
kenntniß nur bis zu einer gewiſſen Graͤnze und jen¬
ſeit derſelben beginnt ſtatt der Wiſſenſchaft die Hy¬
potheſenjaͤgerei oder die Poeſie, an deren Reſultate
man nur noch einen aͤſthetiſchen Maaßſtab anlegen
kann, die aber allerdings zu den reizendſten Dichtun¬
gen gehoͤren.


In drei Richtungen graͤnzt das Reich des Wiſ¬
ſens an ein unbekanntes Reich, wo nur die Ahnung
eindringt. Zuerſt in der Aſtronomie. Wir haben
nur einen Punkt, von wo aus unſer ſchwacher, kur¬
zer Blick eine verhaͤltnißmaͤßig nur enge Sphaͤre in
der Unermeßlichkeit des Weltalls uͤberſchaut; und
was wir ſchauen, ſind nur Wirkungen unbekannter
Urſachen, und ihre Erkenntniß iſt durch das relative
Verhaͤltniß unſres Planeten und unſres Erkenntni߬
vermoͤgens bedingt. Nur in der kleinen Sphaͤre un¬
ſres Sonnenſyſtems iſt es uns moͤglich, die Erſchei¬
nungen
der darin begriffenen Himmelskoͤrper zu er¬
kennen, und ſofern dieſelben regelmaͤßig erfolgen, iſt
es uns moͤglich, auch dieſe Regel zu begreifen. Die
wahre Urſache dieſer Erſcheinungen aber, wie das
Unregelmaͤßige daran, z. B. der Cometen, bleibt uns
ein Raͤthſel. Endlich bleibt uns alles, was jenſeits
unſers Sonnenſyſtems liegt, ewig verborgen. Wir
ſehn einige benachbarte Fixſterne, wir bemerken hin
[8] und wieder eine kleine Veraͤnderung an einem Stern
oder Nebelfleck; aber alles dies laͤßt keinen Schluß
auf das wahre Verhaͤltniß des großen Weltgebaͤudes
zu. Hier gelten nur Hypotheſen und ſchwankende
Analogien, die wir von unſerm kleinen Sonnenſyſtem
auf das Weltall uͤbertragen. Die Empiriker bleiben
gern bei der einfachen Wahrnehmung ſtehn und glau¬
ben die Welt mit einer unendlichen Menge fixirter
Sonnen erfuͤllt, um welche die Planeten und Kometen
ſich bewegen. Die Philoſophen theilen aber dieſe
Sonnen wieder in hoͤhere Syſteme und ſchreiben ih¬
nen hoͤhere Bewegungen zu. Die kuͤhnſten und geiſt¬
reichſten Hypotheſen daruͤber haben Eſchenmaier und
Goͤrres aufgeſtellt.


In der Chemie geht es uns nicht beſſer, als in
der Aſtronomie. Wir muͤſſen billig uͤber die Kraft
des menſchlichen Geiſtes erſtaunen, der es gelingt,
ſo große Entdeckungen zu machen, als wir ſeit Kep¬
ler in der Sternkunde und namentlich in den neue¬
ſten Zeiten in der Chemie gemacht; aber hier gilt
der ſokratiſche Spruch: je mehr wir wiſſen, je mehr
ſehen wir ein, daß wir nichts wiſſen. Seit Baſilius
Valentinus haben wir nach dem Ausdruck dieſes tief¬
ſinnigen Moͤnches geſtrebt «die Natur von einander
zu legen»; wir haben die Materie in immer fluͤchti¬
gere Beſtandtheile zerlegt, aber zu ihrem innerſten
Grunde, zu ihrem erſten Keime ſind wir nicht hin¬
durchgedrungen. Er entſchwindet unſern Sinnen, denn
unſer Auge kann den Punkt ſo wenig erfaſſen, als
[9] das Unermeßliche. Durch die Schranken unſerer Sinne
gefeſſelt, erkennen wir immer nur den gemiſchten
Stoff; das Gewordene, nicht das urſpruͤngliche We¬
ſen; die Wirkung, nicht die Urſache.


Die Phyſiologie bleibt vor gleichen Schranken
ſtehn. Sie laͤßt ſich verfolgen bis in die ſinnlichen
Organe des Menſchen, hier aber graͤnzt ſie an die
unbekannte Welt des Geiſtes, wo eine neue Reihe
von Hypotheſen beginnt. Der Zuſammenhang von
Koͤrper und Geiſt bleibt ein ewiges Raͤthſel, und die
Philoſophen und Naturforſcher ſtreiten ſich nur um
den Vorrang, vor dieſer Sphinx zum Spott zu wer¬
den. Als Extreme aller hierhin einſchlagenden Hy¬
potheſen ſind die materialiſtiſche und idealiſtiſche An¬
ſicht ſich entgegengeſetzt. Jene macht den Geiſt von
der Materie abhaͤngig und erklaͤrt ihn als eine hoͤhere
Sublimation der Organe, als Bluͤthe der materiellen
Pflanze; dieſe ſetzt den Geiſt als das Abſolute und
trennt ihn entweder von der Natur oder laͤugnet die
objective Wirklichkeit der Natur und betrachtet die¬
ſelbe nur als ſubjective Vorſpiegelung des Geiſtes.
Alle dieſe Hypotheſen ſind fruchtlos, denn die Wahr¬
heit koͤnnten wir nur ſchauen, wenn wir uns auf
einem Punkt außerhalb der Einheit von Koͤrper und
Geiſt befaͤnden; da wir uns aber uͤberall im Mittel¬
punkt dieſer Einheit ſelbſt befinden, wird ſie uns
niemals objectiv.


Abgeſehn aber von dieſen dreifachen Schranken
unſrer Naturerkenntniß iſt eine ſtrenge Naturwiſſen¬
[10] ſchaft innerhalb derſelben moͤglich und wirklich. So
weit unſre Wahrnehmung unter den ſubjectiven Be¬
dingungen unſrer Sinne und unſres Geiſtes reicht,
iſt ihr die Natur nicht verſchloſſen und bleibt ſich
immer gleich, ſo daß wir allmaͤhlich ihren Umfang in
den vorgeſchriebnen Graͤnzen, ſo wie ihre ewige Ge¬
ſetzmaͤßigkeit erkennen und die Wahrnehmung zur voll¬
endeten Wiſſenſchaft erheben koͤnnen. Das Hemmende
fuͤr dieſe Wiſſenſchaft iſt nicht mehr das menſchliche
Unvermoͤgen, ſondern nur die Mannigfaltigkeit des
Stoffes und die Langſamkeit, mit welcher theils un¬
ſer Organ fuͤr die Wahrnehmung geſchaͤrft, theils
das Wahrgenommene combinirt wird. Erſt mußten
mechaniſche Erfindungen unſern Sinnen ein hoͤheres
Wahrnehmungsvermoͤgen verleihen; wir mußten uns
mit Teleſkopen und Mikroſkopen, mit Meßtiſch und
Compaß bewaffnen, ehe wir die Hinderniſſe des Rau¬
mes uͤberwinden konnten, und wir mußten die chemi¬
ſchen Apparate der Natur entdecken, womit ſie ſich
ſelbſt in ihre Beſtandtheile aufloͤſt, bevor wir in das
Geheimniß ihrer Werkſtaͤtte zu dringen vermochten.
Sodann mußte Jahrhunderte lang ein emſiges Ge¬
ſchlecht die Oberflaͤche und die Tiefe der Erde durch¬
fahren, um die Schaͤtze der Natur zu ſammeln, und
ein langer Fleiß mußte dieſe ordnen, bevor geniale
Geiſter die Combinationen derſelben entdeckten.


Zwar gab es ſchon lange vorher eine Naturphi¬
loſophie, denn von jeher ſtrebte der menſchliche Geiſt,
im Zerſtreuten und Mannigfaltigen die Einheit zu
[11] erfaſſen. Doch hatte ſich die Naturerfahrung mit der
Speculation noch nie recht vereinigen wollen. Auf
eine religioͤſe, myſtiſche oder phantaſtiſche Weiſe ſuchte
man eine Harmonie der irdiſchen Erſcheinungen, Kos¬
mogonien, allegoriſche Perſonificationen der Natur¬
kraͤfte, ſpielende Anagramme der Natur, und wenn
dem Glauben, dem Gefuͤhl und der Phantaſie, oder
dem Witz Genuͤge geleiſtet war, ſo bekuͤmmerte man
ſich um die objective Wahrheit nicht viel. Man er¬
probte die Syſteme nur an dem wenigen, was man
von der Natur wußte, und dem man haͤufig eine
willkuͤrliche Deutung oder Zuſammenſtellung gab.
Nachdem ſich eine unpoetiſche und unreligioͤſe, rein em¬
piriſche Wiſſenſchaft der Natur von jenen Philoſo¬
phemen losgeriſſen, gingen beide geſonderte Wege.
Aber ſie mußten an einem beſtimmten Punkt dennoch
wieder zuſammentreffen. Die Speculation mußte ſich
der Naturerfahrung anſchmiegen, und die Erfahrung
ſich zuletzt durch ihre Vollſtaͤndigkeit von ſelbſt ſyſte¬
matiſiren.


Unter allen Weiſen der Natur war Schelling
dazu berufen, beide Wege zu vereinigen. Bei ſeinem
erſten Auftreten war die aͤltere Naturphiloſophie von
Pythagoras bis auf Jakob Boͤhme gaͤnzlich verachtet.
Er fand nur eine empiriſche Naturwiſſenſchaft, nur
eine unzuſammenhaͤngende Menge von einzelnen Be¬
obachtungen, große Sammlungen von naturhiſtori¬
ſchen Thatſachen, die man kuͤmmerlich nach oberflaͤch¬
lichen Kennzeichen zu ordnen ſuchte, ſcharfſinnige Ent¬
[12] deckungen von Phaͤnomenen, deren Urſache man nicht
kannte. Hoͤchſtens hatte man je fuͤr einzelne Zweige
der Naturwiſſenſchaft ſogenannte Principe geſucht,
um in die Lehre derſelben einigen Zuſammenhang zu
bringen, war aber dabei ſehr willkuͤrlich verfahren,
und hatte bei der Betrachtung der einen Seite die
mancherlei uͤbrigen Seiten nicht zu Rathe gezogen.
Man hatte hier die Mathematik oder Formenlehre
der Natur, dort die Chemie oder Stofflehre unab¬
haͤngig von einander behandelt und nicht gewagt,
eine auf die andre zu beziehn, wenn auch Stoff und
Form in der Natur uͤberall zugleich erſcheinen. Man
hatte hier die Aſtronomie, dort die Phyſiologie fuͤr
ſich durchzubilden unternommen, aber wem fiel es
ein, im menſchlichen Makrokosmus den Mokrokosmus
nachzuſuchen? Man hatte die Botanik ſtudirt, ohne
ihr Wechſelverhaͤltniß zur Zoologie zu ahnen, und
beide fuͤr ſich verfolgt, ohne ſie auf den Typus des
menſchlichen Organismus zuruͤckzufuͤhren. Auf der
andern Seite gab es allerdings Ahnungen uͤber die
eine, untheilbare, alles bewegende Seele der Natur,
aber es waren nur unvollkommene Erinnerungen aus
mythologiſch gewordenen Philoſophen der alten Welt
oder verrufenen Theoſophen und Pantheiſten der ſpaͤ¬
tern Zeit, denen es zuweilen an nichts fehlte, als
an der empiriſchen Erprobung ihres Syſtems, was
aber freilich im wiſſenſchaftlichem Sinne ſo viel als
alles war. Jeder neue Naturphiloſoph, der es wagte,
ein Geſetz im Ganzen der Natur nachzuweiſen, mußte
[13] mehr oder weniger Pythagoras, Jakob Boͤhme, Spi¬
noza ſeyn, aber es kam darauf an, daß er zugleich
entweder ein Copernikus, Gallilei, Kepler, Newton,
Linné, Franklin, Haller, Buffon, la Place, Cuvier,
Mesmer, Stahl, Gall, Werner, Orſtede, Hum¬
boldt ꝛc. war, oder wenigſtens die Naturerfahrung
ſolcher Maͤnner ſeiner Philoſophie zu Grunde legte.
Es kam darauf an, aus der todten Empirie den le¬
bendigen Geiſt zu wecken, und der geſpenſterhaft leeren
nebelhaften Seele eines naturphiloſophiſchen Traums
den lebendigen Leib zu gewinnen, kurz die Empirie
durch Philoſophie zu regeln, und die Philoſophie
auch Empirie zu beſtaͤtigen.


Schelling war der Erſte, der die alte Naturphi¬
loſophie durch die wiſſenſchaftlichen Erfahrungen der
neuern Zeit bewahrheitet, oder, was eben ſo viel
iſt, die Naturwiſſenſchaft der Neuern zur Philoſophie
erhoben hat. Es waͤre jedoch ein uͤbermenſchliches
Wunder, das die Naturphiloſophie ſelbſt nicht zuge¬
ben kann, wenn Schelling's unſterbliche Leiſtung nicht
große Einſchraͤnkungen erlitte, wenn er die Philoſo¬
phie der Natur beſchloſſen und vollendet haͤtte. Im
Gegentheil, er hat nur den erſten kleinen Anfang
gemacht, aber eben das iſt ſeine Groͤße. Er hat ei¬
nen Weg betreten, den vor ihm niemand gegangen
iſt, und den nach ihm jeder gehen muß; das Ziel
ſelbſt aber iſt weder erreicht, noch wird es jemals
zu erreichen ſeyn, weil es jenſeits der drei oben be¬
zeichneten Graͤnzlinien aller Naturforſchung liegt. In¬
[14] deß hat Schelling das unſterbliche Verdienſt, den
Schluͤſſel zu dieſer Forſchung innerhalb jener Graͤnzen
gefunden zu haben. Wir haben in der That noch
nicht ſo viele Muße uͤbrig, uns mit dem zu beſchaͤf¬
tigen, was wir nicht wiſſen koͤnnen; es iſt noch un¬
endlich viel zu lernen, was wir moͤglicherweiſe wiſ¬
ſen koͤnnen, aber eben noch nicht wiſſen. In dieſem
Sinn muß man Schelling's Lehre nehmen. Er fuͤhrt
die dummen gaffenden Zuſchauer nicht vor das Wun¬
der der abſoluten Wahrheit, und ſagt: Da iſt es,
nun ſeht euch ſatt daran! ſondern er fuͤhrt nur die
lernbegierigen und geiſtesthaͤtigen Schuͤler auf eine
gewiſſe Anhoͤhe und zeigt ihnen von da die unerme߬
liche Ausſicht in die ganze Runde der Natur und
heißt ſie nun ſelber weiter forſchen und ſuchen. Schel¬
ling hat die hoͤhere Wiſſenſchaft der Natur nicht be¬
ſchloſſen, ſondern vielmehr erſt eroͤffnet, und man
kann von ihm nicht lernen, bis wohin die Forſchung,
ſondern wovon ſie ausgeht.


Schelling hat gefunden, daß alle Erſcheinungen
der Natur, die er kennt, Gegenſaͤtze bilden, und
daraus den Schluß gezogen, daß uͤberhaupt der Ge¬
genſatz die einzige Form iſt, in welcher die Natur
ſich dem Menſchen offenbart. Es komme daher nur
darauf an, dieſen Gegenſatz durch alle Stufen und
Reiche der Natur conſequent durchzufuͤhren, ſo weit
uͤberhaupt die Natur erkennbar iſt. Da alles im Ge¬
genſatz begriffen ſey, ſo koͤnne weder ein einzelner
Gegenſtand der Natur, noch auch eine allgemeine
[15] Naturkraft oder ein allgemeiner Naturſtoff fuͤr ſich
beſtanden haben, ſondern er muͤſſe der Gegenſatz ei¬
nes andern ſeyn, und die unermeßliche Reihe von
einzelnen Gegenſaͤtzen muͤſſe ſich in einen allgemeinen
Hauptgegenſatz der ganzen Natur verlieren. Einheit
ſey in der Natur nur die hoͤhere Bindung zweier ent¬
gegengeſetzter Kraͤfte, oder einer Polariſation gleich
der des Magneten, welcher eins iſt, aber ent¬
gegengeſetzte Pole hat. So ſey auch die ganze Na¬
tur gleichſam ein großer Magnet, mit dem einen ab¬
ſtoßenden, ausſtrahlenden Pole, der bewegenden, tren¬
nenden, zerreißenden Kraft, und mit dem andern
anziehenden Pole, der bindenden, zuruͤckhaltenden,
ſammelnden Kraft. Schelling maßt ſich nicht an, den
Gegenſatz dieſer Kraͤfte durch die ganze Natur durch¬
gefuͤhrt zu haben, dies iſt ein Werk fuͤr Jahrhun¬
derte, und uͤberhaupt nur innerhalb gewiſſer Graͤn¬
zen auszufuͤhren. Daß aber dieſer Gegenſatz der
Schluͤſſel zur einzig moͤglichen Naturerkenntniß, daß
er die allgemeine und unveraͤnderliche Form ſey, un¬
ter welcher ſich uns alles in der Natur offenbart,
bleibt unwiderſprechlich wahr. Die Verwandtſchaft
aller natuͤrlichen Dinge laͤßt ſich nur darin, wenn
nicht erklaͤren, doch erkennen, daß in allem der Ge¬
genſatz zweier Urkraͤfte ausgeſprochen liegt.


Schelling's Syſtem charakteriſirt ſich demzufolge
durch eine ſtrenge Durchfuͤhrung erſtens einer allge¬
meinen Polariſation oder Entgegenſetzung zweier Ur¬
kraͤfte der einen Natur, und zweitens einer allgemei¬
[16] nen Paralleliſirung aller natuͤrlichen Dinge, je nach¬
dem ſie an den einen oder andern Pol oder in die
bindende Mitte fallen. Drittens aber wird dieſes
Syſtem durch die Gradation charakteriſirt, in wel¬
cher es die natuͤrlichen Dinge an jenen Polen ablau¬
fen laͤßt.


Der Grundſatz des ganzen Syſtems iſt ſehr ein¬
fach, wie es jede Wahrheit zu ſeyn pflegt, aber be¬
quem und nachlaͤſſig iſt ſie nur denjenigen erſchienen,
welche von der ungeheuern Aufgabe, die noch darin
liegt, keine Ahnung haben, und mit dem daraus ent¬
ſpringenden Paralleliſiren ein blos witziges Spiel trie¬
ben, oder den Empirikern, welche vor Naturalien¬
kabinetten und Experimenten nie zur Natur kommen
koͤnnen, wie die Philologen vor Buͤchern und Wor¬
ten nicht zum Geiſt, die ſich verachten wuͤrden, wenn
der muͤhſame Fleiß ihres ganzen Lebens ſich ſtatt auf
Folianten auf ein Kartenblatt ſchreiben ließe, und
deren Ehrgeiz es iſt, nicht das Schwierige leicht,
ſondern das Leichte ſchwierig zu machen.


So einfach der Grundſatz jenes Syſtems iſt, ſo
laͤßt es doch nach innen und nach außen noch eine
unendliche Entwicklung zu. Die Einheit der Natur
muß in ihrer ganzen Tiefe, der Gegenſatz in ſeiner
ganzen Schaͤrfe verfolgt und aus die Thatſachen der
Natur in ihrem ganzen Umfang angewendet werden.
Tiefſinn, Scharfſinn, Combinationsvermoͤgen auf der
einen, Beobachtungsgabe, Fleiß und Erfahrung in
der praktiſchen Naturerforſchung auf der andern Seite
[17] werden im hoͤchſten Grade angeſpornt, eine Lehre
weiter zu entwickeln, von der kaum etwas mehr, als
eine erſte Formel vorhanden iſt. Daher hat Schel¬
ling's einfaches Wort die Geiſter der Nation nicht
eingeſchlaͤfert und mit ſuͤßen ſpielenden Traͤumen er¬
goͤtzt, gleich ſo manchem andern Philoſophem, ſon¬
dern zur lebendigſten Thaͤtigkeit aufgeweckt, und es
hat ſich ihm aus den geiſtreichſten Maͤnnern der Na¬
tion eine Schule gebildet, wie ſie noch kein Philo¬
ſoph gefunden hat. Von dem Einfluß ſeiner Lehre
auf das deutſche Leben uͤberhaupt iſt ſchon oben die
Rede geweſen. Hier will ich nur noch Einiges von
dem erwaͤhnen, was feine Schuͤler im Sinn ſeines
Syſtems fuͤr die Naturwiſſenſchaft geleiſtet.


In der Richtung, die in die Tiefe der Natur¬
einheit fuͤhrt, haben Goͤrres und Steffens die Lehre
Schelling's weiter als dieſer ſelbſt gefuͤhrt. In der
ſcharfen und conſequenten Durchfuͤhrung des einfachen
Gegenſatzes, als eines ſolchen, hat Wagner das
groͤßte Verdienſt errungen. Oken aber hat im weite¬
ſten Umfang die an dem Gegenſatz ablaufenden Gra¬
dationen in der unendlichen Mannigfaltigkeit der Na¬
tur nachgewieſen. Gehn wir mehr aufs Einzelne, ſo
offenbart ſich erſt in dem was geleiſtet iſt, die uner¬
ſchoͤpfliche Fuͤlle deſſen, was noch zu leiſten uͤbrig iſt.
Jeder Schuͤler Schelling's iſt im Grunde nur von
einer, oder doch nur von wenigen einzelnen Theilen
der Naturwiſſenſchaft ausgegangen, worin er haupt¬
ſaͤchlich bewandert war, und hat von dort aus die
[18] ganze Lehre beleuchtet. Steffens ging mehr von der
Geognoſie, Wagner von der Chemie, Goͤrres von
der Phyſiologie, Oken von der Anatomie, Schubert
von der Pſychologie aus. Nothwendigerweiſe kann
auch nur immer eine Theilwiſſenſchaft die andre er¬
klaͤren, aber die Vergleichungen aller ſind noch lange
nicht vollſtaͤndig und genau ausgefuͤhrt worden.


Hat man einmal die Parallele zwiſchen Makro¬
kosmus und Mikrokosmus geahndet, ſo iſt der Ver¬
gleichung ein unermeßliches Feld eroͤffnet, und jede
neue Entdeckung im Geiſt und Gemuͤth des Menſchen
fordert auf, das correſpondirende Äquivalent in der
Natur nachzuweiſen, und umgekehrt. Darum iſt die
Lehre nie zu ſchließen, und wird unzulaͤnglich blei¬
ben, bis alles in der Natur wie im Geiſt erforſcht
iſt, alſo ſo lange, als die Menſchen Menſchen blei¬
ben, wenn auch die Formel des Parallelismus und
die Regel jenes allgemeinen Gegenſatzes in der Na¬
tur an ſich unumſtoͤßlich iſt. Wir wuͤrden wahrſchein¬
lich gar keine Wahrheit haben, wenn jede in jeder
Hinſicht ihre Anwendung erproben muͤßte. Hat der
Menſch Anlagen zu allem, und vermag ſie doch nicht
alle und im hoͤchſten Grade auszubilden, warum ſoll
er nicht unbeſtreitbare Wahrheiten ſich zu eigen ma¬
chen koͤnnen, die er doch nie im ganzen Umfang ih¬
rer Anwendbarkeit nachweiſen kann.


Die Maͤngel der neuern Naturphiloſophie werden
ſich dahin beſtimmen laſſen. Ausgehend vom richtig¬
ſten und einfachſten Grundſatz findet ſie doch in der
[19] Natur ſelbſt drei Graͤnzen, die ſie niemals uͤberſchrei¬
ten, jenſeits welcher ſie ihren Grundſatz nicht mehr
anwenden kann, wenn ſie gleich wohl weiß, daß in
dieſem Jenſeits noch die ganze Unendlichkeit hinter
einem Schleier fuͤr uns verborgen iſt. Wir kennen
bereits dieſe Graͤnzen. Sodann wird der an ſich
richtige Grundſatz auch auf das, was in der Natur
uns zugaͤnglich iſt, oft falſch oder mangelhaft ange¬
wendet, weil wir noch nicht genug empiriſche Kennt¬
niſſe beſitzen, oder weil die menſchliche Berechnung
uͤberhaupt dem Irrthum unterworfen iſt. Es iſt nicht
unintereſſant in dieſer Hinſicht die neueſten naturphi¬
loſophiſchen Werke mit den aͤltern zu vergleichen,
z. B. Steffens Anthropologie mit den fruͤhern Wer¬
ken andrer Philoſophen, ja mit ſeinen eignen. Wie
manches nahm damals eine ganz andre Stelle ein,
als jetzt, wie viele neu entdeckte Mittelglieder haben
das getrennt, was man verbunden waͤhnte, und das
verbunden, worin man keine Verwandtſchaft ahndete,
z. B. das Zuſammenfallen des magnetiſchen, elektri¬
ſchen und galvaniſchen Prozeſſes. Neben den unver¬
ſchuldeten Irrthuͤmern haben aber einige Naturphilo¬
ſophen auch Fehler offenbart, die ihrem Leichtſinn
und ihrer Eitelkeit zugerechnet werden duͤrfen. Wie
haͤtte man auch hier nicht faſeln ſollen, wo ſo reich¬
lich Gelegenheit ſich darbot. Die Naturphiloſophie
hat es mit der Religion gemein, daß ſie das Tiefſte
und Heiligſte, aber auch das Thoͤrichtſte im Men¬
ſchen hervorzurufen vermag.


[20]

Die Empiriker und Philoſophen haben ſich wech¬
ſelſeitig und ſehr zur Unehre der Wiſſenſchaft aufs
Bitterſte angefeindet. Beide haben einander die groͤb¬
ſten Irrthuͤmer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht.
Blind heißt der Empiriker, ein Viſionair der Philo¬
ſoph. Jener ſieht nichts, was er nicht mit Haͤnden
greifen kann, dieſer glaubt zu greifen, was er nicht
einmal ſehen kann.


Der Empiriker begeht auf einem ſcheinbar ſehr
ſichern Boden doch ſo grobe Fehler, als immer der Phi¬
loſoph. Auch er muß oft erklaͤren, was ſich nicht ge¬
rade von ſelbſt verſteht, und fuͤr bekannte Erſchei¬
nungen die unbekannten Urſachen ſuchen. Dann ſteht
er aber gewoͤhnlich hinter dem Philoſophen weit zu¬
ruͤck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die
eine Erſcheinung im Zuſammenhang mit allen andern
zu begreifen, ſondern weil er nur fuͤr den einen Fall
nach der erſten beſten Wahrſcheinlichkeit greift. Man
koͤnnte ein ganzes Buch voll der albernſten Erklaͤrun¬
gen ſolcher Empiriker ſammeln, und es den Eulen¬
ſpiegel der Naturforſcher tituliren. Statt hunderten
moͤge hier nur eine ſtehn, die aber ſehr geeignet iſt,
das ganze Verfahren zu charakteriſiren. Viele, faſt
alle und ſelbſt ſehr beruͤhmte Empiriker erklaͤren das
Entſtehn der Vegetation auf eben erſt uͤber das Meer
erhobenen Coralleninſeln oder uͤberhaupt an Orten,
wo ſich kein Same dazu vorfindet, beſtaͤndig dadurch,
daß Winde oder Voͤgel, viele hundert Meilen weit
den Samen dazu herbeigetragen haͤtten, und dies
[21] ſcheint ihnen weit weniger wunderbar, als eine fort¬
dauernde generatio aequivoca, welche die Philoſophen
behaupten. In dieſer Weiſe ſuchen ſie aber uͤberall
die groͤbſten, augenfaͤlligſten, mechaniſchen Urſachen,
wenn ſie auch bei den Haaren herbeigezerrt werden
muͤſſen, um nur ja keine dynamiſchen, unſichtbaren
Urſachen gelten zu laſſen, wenn ſie auch noch ſo ein¬
fach vorliegen.


Der Empiriker muß auch zuweilen das Ganze
der Natur uͤberblicken, aber er ſtellt dann nur die Er¬
ſcheinungen in Reih und Glied auf, nach ihren aͤu¬
ßern Kennzeichen, ohne die eine heilige Naturkraft,
die in allen waltet, erkennen zu wollen; oder er
taͤuſcht ſich uͤber die ungeheure Aufgabe, die dem
menſchlichen Forſchungsgeiſt noch jenſeits des Anſchau¬
baren und Handfeſten geboten iſt, mit frommer klein¬
muͤthiger Selbſtbeſchraͤnkung und ſpricht von goͤttli¬
chen Wundern. Schon Lichtenberg ſagt: je weniger
ein Naturforſcher ſeine eigne Groͤße darthun kann,
deſto lauter preist er die Groͤße Gottes.


Immerhin aber iſt die Naturerfahrung der Bo¬
den, auf dem auch die Naturphiloſophie allein gedei¬
hen kann. Die getreueſte und zuſammenhaͤngendſte
Erfahrung hat unmittelbar zur Philoſophie gefuͤhrt,
und die beſten Philoſophen ſind der Natur treu ge¬
blieben, waͤhrend nur die einſeitige und grobe Em¬
pirie allem philoſophiſchen Geiſt widerſprochen und
nur der Wahnſinn einiger Philoſophen von aller Na¬
turwahrheit ſich entfernt hat.


[22]

Die großartige Naturanſicht unſres Humboldt iſt
rein aus Erfahrung hervorgegangen, aber aus einer
unermeßlichen Erfahrung, deren Boden der Erdkreis,
nicht blos ein enges Studierzimmer geweſen iſt; der
zweite groͤßte Empiriker unſrer Tage, der ſcharfſin¬
nige Örſted iſt mit ſeinen Entdeckungen den kuͤhnſten
Schluͤſſen der Philoſophen vorangeeilt und um das
Zuſammenwirken einer gruͤndlichen Empirie und Phi¬
loſophie am augenfaͤlligſten zu erkennen, duͤrfen wir
nur an Oken denken. Wer mag behaupten, daß ſeine
große zoologiſche Lehre mehr aus Erfahrung oder
aus Speculation entſprungen ſey?


Die Naturerfahrung hat ſich nach allen Richtun¬
gen ausgebildet, und eben dadurch iſt erſt die Natur¬
philoſophie moͤglich geworden. In allen einzelnen Na¬
turreichen iſt unermeßlich geforſcht, entdeckt, geſam¬
melt worden, und andre Nationen haben darin mit
den Deutſchen gewetteifert oder ſind ihnen Muſter
geweſen. Von der großen europaͤiſchen Gelehrten¬
republik ſind vorzugsweiſe nur die Naturforſcher gleich¬
ſam als ein Ausſchuß zuruͤckgeblieben, und ſcheinen
zu warten, bis ſich die andern Fakultaͤten wieder mit
ihnen vereinigen werden. Nur ſie ſind ſich vertraut
und verwandt geblieben in allen Laͤndern, darum ha¬
ben ſie aber auch fuͤr ihre Wiſſenſchaft, ſtark durch
den Verein, mehr geleiſtet, als fuͤr irgend eine an¬
dre Wiſſenſchaft geleiſtet werden konnte. Man kann
nicht ſagen, daß in unſrem Zeitalter das eine oder
andre Gebiet der Naturkunde mehr angebaut worden
[23] waͤre, alle haben unzaͤhlige und die beſten Bearbei¬
ter gefunden. Nicht allein diejenigen Theile der Na¬
turwiſſenſchaft, welche ſchon von den Alten und vom
Mittelalter gepflegt wurden, ſind gelaͤutert, erwei¬
tert und von hundert und aber hundert ſcharfſinnigen
Entdeckern und fleißigen Sammlern ins Unendliche
bereichert und vervollkommnet worden, ſondern man
hat auch durch ganz neue Entdeckungen ganz neue
Wiſſenſchaften begruͤndet, wie z. B. die vom Mag¬
netismus.


Sucht man indeß nach etwas Charakteriſtiſchem,
was die Naturforſchung unſrer Zeit beſonders aus¬
zeichnet, ſo wird man es wohl in folgenden drei Mo¬
menten finden. Zuerſt in dem philoſophiſchen Cha¬
rakter, dem ſich die Naturkunde je laͤnger je weniger
entziehen kann, in der Beziehung, in welche je eine
Seite der Naturwiſſenſchaft zu der andern tritt, und
in der Zuruͤckfuͤhrung aller einzelnen Forſchungen auf
die Entdeckung eines einigen letzten Naturgeſetzes. So¬
dann iſt nicht zu verkennen, daß die Anthropologie
unter allen uͤbrigen Naturwiſſenſchaften diejenige iſt,
die jetzt im Gegenſatz gegen fruͤhere Zeiten als die
vorherrſchende betrachtet werden darf, und unſer Zeit¬
alter deßfalls charakteriſirt. Die fruͤhere Naturfor¬
ſchung ging mehr darauf aus, die aͤußre Welt, den
Kosmos zu ſtudiren, als den Menſchen, den Mikro¬
kosmos. Die Alten wußten viel von Aſtronomie, auch
von der Kunde der Elemente, Metalle, Pflanzen
und Thiere, doch wenig von Anatomie und noch we¬
[24] niger von Phyſiologie und Pſychologie. Wie ſich nun
uͤberhaupt der Menſch allmaͤhlig immer freier und
ſelbſtaͤndiger von der ihn umgebenden Natur abgeloͤst
hat, und waͤhrend er ſonſt alles auf ein Äußeres,
auf Gott, die Natur, den Staat, das Volk bezog,
ſo jetzt alles auf ſich bezieht, hat auch die Natur¬
wiſſenſchaft dem allgemeinen Zuge folgen muͤſſen und
iſt mehr im Innern des Menſchen eingekehrt. End¬
lich verdient es Beachtung, daß wir auch allmaͤhlich
angefangen haben, die Natur als ein Gewordenes,
in ihrer Entwicklung in der Zeit zu ſtudiren, waͤh¬
rend ſie bisher faſt immer nur als ein Gegebenes
im Raum in ihrer gegenwaͤrtigen Erſcheinung aufge¬
faßt worden war. In Frankreich hat Cuvier, unter
den Deutſchen vorzuͤglich Werner und Steffens die¬
ſes Feld der Unterſuchung eroͤffnet und gelaͤutert, und
ihre Forſchungen uͤber die Urzeit und uͤber die fruͤ¬
hern Revolutionen der Erde, begruͤndet auf allge¬
meine Naturerfahrungen und Geſetze, haben das voͤl¬
lig leere oder nur mit mythiſchen Hypotheſen beſchrie¬
bene Blatt vor dem Buch der Natur auszufuͤllen
verſucht.


Übrigens wird nicht nur zwiſchen Philoſophen
und Empirikern, ſondern auch unter den Empirikern
ſelbſt unendlich viel geſtritten. Beinah in jedem un¬
tergeordneten Gebiet der Naturwiſſenſchaften gibt es
entgegengeſetzte Anſichten. Man kann indeß dieſe Strei¬
tigkeiten kaum unter den ckarakteriſtiſchen Erſcheinun¬
gen unſrer Zeit anfuͤhren, da man uͤber die Natur
[25] von jeher geſtritten hat. Der Streit iſt fruchtbar,
da er wiſſenſchaftlichen Wetteifer hervorruft, und er
fuͤhrt nothwendig immer zuletzt zur Naturphiloſophie.
Die Art, wie die Naturforſcher zanken, iſt aber
nicht immer erbaulich. Sie haben darin etwas mit
den Tonkuͤnſtlern gemein, die auch ganz bitterboͤſe
werden koͤnnen, und doch ſind ſie beide an eine ſo
unſchuldige und heitre Welt gewieſen.


Die Polemik iſt ein giftiges Unkraut in den Schrif¬
ten der Naturforſcher. Dieſe Schriften haben aber
noch manches andre, was gerechten Tadel verdient.
In einigen finden wir einen gehaͤſſigen Materialis¬
mus gepredigt, der ſchielende boͤsartige Blicke auf
alles ſogenannte Wunderbare wirft, und uns allen
myſtiſchen Zauber der Natur in baare nackte Proſa
aufloͤſen moͤchte. In andern wird dagegen der Name
Gottes gemißbraucht, und der triviale Gedanke, daß
Gott in Sonnen und auch im kleinſten Wurme
ſich offenbare, bis zum Ekel wiederholt. Beſonders
geſchieht dies in den populaͤren Schriften, die uͤber¬
haupt beſſer abgefaßt ſeyn koͤnnten. Oken's Natur¬
geſchichte ſteht einſam unter einer Suͤndfluth der fa¬
deſten Schulbuͤcher, welche der Jugend den geſunden
Blick in die Natur verwirren und den Geſchmack
daran verleiden. —


Da die Deutſchen als ein Binnenvolk auf ſich
ſelbſt beſchraͤnkt ſind, ſo haben ſie in der Erdkunde
das nicht leiſten koͤnnen, was die Franzoſen und Eng¬
laͤnder. Sie reiſten nicht in andre Welttheile und
Deutſche Literatur. II. 2[26] eroberten ſie nicht. Die geographiſche Kenntniß der¬
ſelben kam ihnen alſo nur von den Fremden zu. In¬
deß haben ſie ſich doch in der neueſten Zeit auch in
der Geographie außerordentlich ausgezeichnet und kein
Geograph in der Welt kommt unſrem Ritter gleich,
und die juͤngſt erſchienene Berghauſiſche Charte von
Afrika uͤbertrifft an Kunſt alles, was in dieſem Fach
bisher geleiſtet worden, England nicht ausgenommen.
Es ſcheint aber, daß auch hier wieder, wie in allen
Sachen der Deutſchen, neben dem Beſten das Schlech¬
teſte ſich befindet, denn ſo elende Chartenfabriken,
als in Deutſchland, kann man auch wohl nirgend
finden.


Die Geographie hat es mit einer doppelten Kennt¬
niß der Erde zu thun. Sie betrachtet die Erde in
ihrem urſpruͤnglichen, natuͤrlichen und bleibenden Zu¬
ſtand, oder in dem wechſelnden Zuſtand, dem ſie in
Bezug auf die Voͤlker und Staaten unterworfen iſt.
Von Rechtswegen iſt jetzt die erſte Betrachtungsart
in das ihr gebuͤhrende Recht eingeſetzt worden. Die
phyſiſche Geographie iſt jeder andern uͤbergeordnet.
Sie greift mit der Kenntniß aller Naturreiche un¬
mittelbar zuſammen, da alle dieſe von der Lage der
Zonen und wieder der Continente, Gebirge, Stroͤme
und Meere abhaͤngen. In dieſer Weiſe iſt die Geo¬
graphie einer der wichtigſten Theile der Naturwiſſen¬
ſchaft geworden und dient nicht mehr blos der Sta¬
tiſtik und Politik, wie fruͤher. Doch hat auch die
phyſiſche Geographie ihre beßre Ausbildung vorzuͤg¬
[27] lich dem Beduͤrfniß der nautiſchen und militairiſchen
Terrainkunde zu danken. Manche Kenntniſſe dieſer
Art, welche bisher von den Kriegs- und See-Mi¬
niſterien als ſtrenges Geheimniß bewahrt wurden,
werden jetzt gemein gemacht und die bekannte Her¬
tha theilt ſeit kurzem viele dieſer Schaͤtze mit. Die
ſtatiſtiſch-politiſche Geographie iſt fuͤr den Hausbe¬
darf der Staaten natuͤrlich von der groͤßten Wich¬
tigkeit und vorzugsweiſe fleißig ausgebildet worden.
Am wenigſten hat fuͤr die hiſtoriſche oder alte Geo¬
graphie geſchehen koͤnnen, weil ſie das wenigſte In¬
tereſſe auf ſich zog, doch hat Ritter auch hier eine
ſchoͤne Bahn gebrochen. In Betreff der geographi¬
ſchen Schulbuͤcher muß ich mir wieder eine tadelnde
Bemerkung erlauben. Sie ſind in der Regel doch
gar zu geiſtlos. Was ſoll doch die liebe Jugend mit
den Quadratmeilen und mit der Einwohnerzahl an¬
fangen, und mit den tauſenderlei ſtatiſtiſchen Notizen,
die ſich ſo ſchwer in ein Buch zuſammenordnen laſſen,
und niemals in einen Kopf?


Auch an Reiſebeſchreibungen ſind wir nicht ſo
arm, als unſre von der großen Heerſtraße der Welt
ſo iſolirte Lage vorausſetzen laͤßt. Im Dienſt frem¬
der Staaten oder der eignen haben deutſche Maͤnner
die ganze Welt bereist und ihre Nachrichten in deut¬
ſcher Sprache niedergeſchrieben. So fruͤher Martin
Behaim, Olearius, ſpaͤter die allen Nationen ach¬
tungswuͤrdigen Reiſenden Niebuhr, die beiden For¬
ſter, Humbold, Kruſenſtern, Klaproth, der Prinz von
2 *[28] Neuwiedt ꝛc. An Reiſen in alle Gegenden Europas
und unſers Deutſchlands ſelbſt ſind wir aber uͤber¬
reich. Nur muͤſſen wir bekennen, daß die Mehrzahl
dieſer Reiſebeſchreibungen etwas abgeſchmackt iſt. Der
ſyſtematiſche Deutſche hat auch die fremden Merk¬
wuͤrdigkeiten unter ein gewiſſes Syſtem gebracht, und
einen orbis pictus davon angefertigt, den alle neuen
Reiſenden immer wieder von vorn durchblaͤttern, wie
Kinder. Doch haben in der neueſten Zeit theils
Wißbegier in allen moͤglichen Faͤchern, theils die
Luſt am Neuen eine große Menge Reiſende fuͤr die
verſchiedenſten Zwecke auf bisher weniger betretne
Wege gefuͤhrt.


Die Medicin erfreut ſich einer unermeßlichen
Literatur, die ſich leider noch in keine Bibel hat zu¬
ſammenziehn laſſen. Confeſſionen, Sekten zaͤhlt ſie
genug, und wie ſich die theologiſchen am Ende doch
im Glauben vereinigen, ſo vereinigen ſich die medi¬
ciniſchen hoͤchſtens im Unglauben. Nirgends herrſcht
ſo viel Verwirrung und Widerſpruch unter den ent¬
gegengeſetzten Parteien, nirgends ſo viel Unſicherheit
in jeder Partei ſelbſt. Wie ſich die Vernunft zur
Noth berechnen laͤßt, die Dummheit aber nie, ſo laͤßt
der geſunde Zuſtand des Koͤrpers, aber nicht der
kranke ſich berechnen. Dies iſt die gefaͤhrliche Klip¬
pe, woran das conſequenteſte Syſtem und die laͤngſte
Erfahrung noch immer geſcheitert ſind.


Der Menſch hat die Natur von außen in ihren
unermeßlichen Raͤumen nnd Maſſen bezwungen, nur
[29] in ſich ſelbſt vermag er die dunkle Gewalt nicht zu
meiſtern, und je mehr man draußen die wilden Kraͤfte
bezaͤhmt, deſto zorniger ſcheinen ſie in dem innern
Schlupfwinkel rege zu werden. Kaum laͤßt die Iro¬
nie der Natur ſich verkennen, die uns mit der Beute
der ausgepluͤnderten Tropenlaͤnder, und mit jener
raſtloſen Arbeit, die uͤber und unter der Erde wuͤhlt
und graͤbt, loͤst und bindet, trotzend gegen jedes Ele¬
ment und gegen Gift und Tod, um dem grollenden
Naturgeiſt den verborgnen Schatz abzuzwingen, jenes
Heer von Krankheiten geſendet hat, das dem alten
Fluche gleich, der den Hort der Niebelungen ver¬
folgt, den Beſitzer alles Reichthums durch den Beſitz
ſelbſt zu verderben droht. Die Europaͤer waren viel
geſuͤnder, als ſie noch aͤrmer und auf den Genuß der
Produkte beſchraͤnkt waren, die ihnen die Natur auf
ihrem eignen Boden freiwillig darbot. Welches in¬
deß auch die Urſachen der jetzt ſo allgemein geword¬
nen Krankheiten ſeyen, wie viel dazu die ſitzende
Lebensart ſo vieler Millionen und die Luͤderlichkeit
beigetragen haben mag, genug, die Thatſache ſelbſt
laͤßt ſich nicht verkennen. Es herrſchen jetzt bei wei¬
tem mehr Krankheiten, als fruͤher. Der Arzt iſt in
unſrer Zeit unentbehrlicher geworden, als es der
Prieſter im Mittelalter war.


Gegen dieſen uͤbermaͤchtigen Feind haben ſich nun
die Menſchen aufgemacht, und lange Schlachtlinien
gebildet, doch iſt keine Einigkeit unter den Fuͤhrern,
und die Waffen fehlen oder der Feind weiß ſich un¬
[30] ſichtbar zu machen und zu verſtellen. Der Proteus
Krankheit entſchluͤpft immer wieder. Man weiß, daß
man die Natur nur durch ſich ſelbſt bezwingen kann.
Wohlthaͤtig hat ſie jedem Gift ein Gegengift gege¬
ben. Aber es iſt ſchwer, in der unendlichen Tiefe
des Organismus die wahre Urſache, Stelle und Ei¬
genheit einer Krankheit, noch ſchwerer, im unendli¬
chen Umkreis der Natur das einzige Mittel dagegen
zu entdecken. Zwei Wege fuͤhren dazu, Theorie und
Empirie. Die Medicin folgt dem Gange der allge¬
meinen Naturkenntniß. Die Erfahrung iſt immer das,
wovon man ausgeht, die Theorie das, wohin man
gelangt. Eine Menge von Erfahrungen reihen ſich
von ſelbſt in ein Syſtem, und der ſpeculirende Ver¬
ſtand weiß nach der Analogie das Bekannte, das Un¬
bekannte zu entraͤthſeln. Hier iſt aber das Gebiet
der Erfahrung unermeßlich und die Thatſachen taͤu¬
ſchen, indem ſie ſich den Sinnen entziehn und unend¬
liche Modificationen erleiden. Kennt man aber auch
die Natur einer Krankheit, ſo iſt es noch um die
Hauptſache, um das Mittel der Heilung zu thun.
Die guten alten Hausmittel, durch eine lange Tra¬
dition bewahrt, haben nicht mehr ausgereicht. Man
verſuchte nachher auf allerlei Weiſe, und ſcharfſinnige
Combinationen oder das gute Gluͤck fuͤhrten auf neue
Mittel. Man verdankte die wichtigſten mediciniſchen
Entdeckungen Zufaͤllen. Zuletzt wurden die Theorien
und Methoden Mode, welche theils aus der Combi¬
nation der Erfahrungen von ſelbſt hervorgingen, theils
[31] aus der Naturphiloſophie entlehnt wurden. Im All¬
gemeinen hat nur die Chirurgie gleichen Schritt mit
der Anatomie gehalten, und iſt, weil ſie den aͤußer¬
lichſten, materiellſten Theil der Heilkunde umfaßt, am
gluͤcklichſten ausgebildet worden; die Kenntniß der
innern Krankheiten aber iſt, wie die Phyſiologie und
Pſychologie, noch weit zuruͤck und voll Widerſpruͤche.
Dort behauptet ſich die Erfahrung unerſchuͤtterlich,
hier herrſchen vorzuͤglich Theorien, ſchwankend aber
und wechſelnd. Die Pharmacie endlich laborirt ſehr
am Materialismus. Man kann ſich noch immer nicht
gehoͤrig von den groben ſinnlichen Heilmitteln los¬
reißen, und die Curen vermittelſt der Stoffe herr¬
ſchen noch uͤber die ſympathetiſchen. Das Mangel¬
hafte dieſer Wiſſenſchaft laͤßt ſich beſonders darin
erkennen, daß ſie im ganzen Umfange der Natur nur
gewiſſe Heilmittel zu finden weiß, nicht alle Dinge
in der Natur in der mediciniſchen Eigenſchaft er¬
kennt, die ihnen ſo gewiß zukommt, als eine mathe¬
matiſche, mechaniſche, chemiſche Eigenſchaft.


Übrigens verfehlt es die mediciniſche Wiſſenſchaft
eben darin, worin es die juridiſche verfehlt. Sie
kaͤmpft nur gegen den Schaden, wenn er da iſt, ohne
ihn mit der Wurzel in ſeinem Urſprung auszurotten,
ohne der Entſtehung deſſelben vorzubeugen. Man
lebt in den Tag hinein, wie man mag, und wird
man krank, dann ſoll der Arzt helfen. Gerade ſo
handelt man als Glied der buͤrgerlichen Geſellſchaft
unbekuͤmmert fort, und geſchieht etwas Unrechtes, ſo
[32] ſollen die Juriſten den Schaden zuflicken oder beſtra¬
fen. Man kennt nur eine Krankheitslehre, keine Ge¬
ſundheitslehre, ſo wie man nur das Unrecht zu ſtra¬
fen, nicht das Recht zu befoͤrdern weiß. Dadurch
ſieht ſich in beiden Faͤllen das Volk unbedingt an
eine Kaſte gewieſen, von der es berathen und be¬
herrſcht wird, ohne ſich ſelber rathen und helfen zu
koͤnnen. Man hat dem Volk zwar auch populaͤre
Vorſchriften fuͤr die Geſundheit in die Hand gegeben,
dem Bauer das Noth- und Huͤlfsbuͤchlein, dem Vor¬
nehmern Hufeland's Kunſt, lange oder vielmehr, wie
Steffens ſagt, langweilig zu leben; im Ganzen haben
aber die gutgemeinten Buͤcher nichts gefruchtet.


Die mathematiſchen und mechaniſchen Wiſſen¬
ſchaften ſind in Deutſchland nicht ſo vorherrſchend
wie in England, doch auch verhaͤltnißmaͤßig ausge¬
bildet worden. Im entſchiednen Contraſt mit der
Medicin iſt die Mathematik durchaus lichthell und
klar, ſie ſtellt die Tagſeite der Naturwiſſenſchaften
dar, wie die Medicin die Nachtſeite. Doch hat man
auch in ſie Dunkelheit hineingetragen durch eine un¬
geſchickte, pedantiſche Behandlung. Man hat haͤufig,
namentlich in Lehrbuͤchern, die Regeln auf das un¬
foͤrmlichſte auf einander gehaͤuft, den Überblick und
Zuſammenhang erſchwert und das Gedaͤchtniß der
Schuͤler uͤbermaͤßig mit Einzelheiten angeſtrengt, die
in einer lichtvollen und uͤberſichtlichen Anordnung ſehr
leicht zu behalten waͤren. Selbſt die klarſte unter
den Wiſſenſchaften hat in unſyſtematiſchen Koͤpfen
[33] etwas Dunkles angenommen. Auch hier hat man be¬
ſtimmte Regeln, ſummirt, ſtatt einen Begriff und Satz
aus dem andern zu entwickeln. Indeß hat eben auch
hier, wie uͤberall, das Entdecken und Sammeln dem
Ordnen und Waͤhlen vorhergehn muͤſſen.


In der Mechanik ſtehn wir, wie alle uͤbrigen
Voͤlker, den Englaͤndern nach, doch haben auch bei
uns geniale Koͤpfe ſehr ſinnreiche und wichtige Er¬
findungen gemacht, und wir lernen von den Fremden,
was wir nicht ſelbſt erſinnen. Die Mechanik dient
dem Nutzen ſo ausſchließlich, daß der Geſchmack nicht
einmal in der Baukunſt den ihm gebuͤhrenden Antheil
geltend machen kann. Unſre Baukunſt bringt durch¬
aus keine Werke hervor, die mit den alten in Ab¬
ſicht auf Geſchmack wetteifern koͤnnten, und wenn wir
auch den antiken oder gothiſchen Geſchmack nachah¬
men, ſo ſind dies vereinzelte Verſuche, die gewoͤhn¬
lich zum Ganzen unſrer uͤbrigen Bauweiſe nicht paſ¬
ſen. Wir ſehn griechiſche Rundels und gothiſche
Spitzen mitten unter unſern gemeinen viereckigen Haͤu¬
ſern, und die barocke Miſchung des Geſchmacks hebt
den Totaleindruck auf. Selbſt der materielle Theil
der Baukunſt iſt vernachlaͤſſigt. Jene große kunſt¬
fertige Gilde der Maurer und Steinmetzen iſt ver¬
ſchwunden, und die neuern Handwerker beſitzen nicht
mehr die Arkana, vermittelſt welcher jene Alten die
dauerhafteſten Werke gruͤndeten.


In den militaͤriſchen Wiſſenſchaften iſt, vor¬
zuͤglich ſeit Napoleons Kriegsherrſchaft auch in Deutſch¬
[34] land unermeßlich viel geleiſtet worden. Gegen das
altpreußiſche Syſtem erhoben unter uns zuerſt Buͤ¬
low und Baͤrenhorſt die Stimme, doch wurden ſie
ſo lange verkannt, bis die Erfahrung ſelber einſtimmte.
Unter allen groͤßern Armeen der deutſchen Bundes¬
ſtaaten haben ſich ſeitdem geiſtvolle Offiziere gefun¬
den, welche die Kriegswiſſenſchaft nach allen ihren
Richtungen theoretiſch und praktiſch gelehrt und da¬
bei die Muſter der Fremden, namentlich der Fran¬
zoſen, zu Rathe gezogen haben. Napoleon hat die¬
ſer Wiſſenſchaft in jeder Hinſicht den Schwung ge¬
geben. Seine Thaten, wie ſeine Fehler ſind das
offene Lehrbuch der Kriegskunde geworden und man
orientirt ſich darin uͤber alle ihre Zweige von der
Garniſon bis zum Schlachtfeld und vom Gemeinen
bis zum Feldherrn. Über die Uniformirung, die Waf¬
fen und das Exerzitium iſt nicht weniger geſchrieben
worden, als uͤber die hoͤhere Taktik und Strategik.
Man ſtreitet daruͤber. Man findet den gemeinen
Soldaten noch immer nicht gaͤnzlich von der uͤber¬
fluͤſſigen und ſchaͤdlichen Quaͤngelei des Kamaſchen¬
dienſtes befreit. Man ſchlaͤgt Verbeſſerungen in der
Bewaffnung vor und ſucht dem Princip der Land¬
wehr und der allgemeinen Volksbewaffnung ein Über¬
gewicht zu geben. Dieſes Princip ſpielt uͤberhaupt
eine bedeutende Rolle auch in der hoͤhern Kriegs¬
kunde. Noch hat es ſich mit dem Princip der ſte¬
henden Heere nicht voͤllig ausgeglichen. Praktiſch iſt
ein Mittelzuſtand eingetreten, der aus dem Verfolg
[35] der letzten Kriege hervorgegangen iſt. Die Voͤlker
haben ſich unter die Soldaten miſchen muͤſſen, der
Volkskrieg hat den Soldatenkrieg entſcheiden helfen.
Jetzt wird in militaͤriſcher Hinſicht dieſelbe Frage
aufgeworfen, welche die Politiker ſo emſig beſchaͤftigt,
ob das Volkselement ſeinen Einfluß behaupten und
erweitern duͤrfe? In Buͤchern wird dieſe Frage mehr
bejaht, im Leben ſelbſt mehr verneint. Es herrſcht
Frieden, und im Frieden, beſonders in monarchiſchen
Staaten, muß nothwendig das ſtehende Heerweſen
ein Übergewicht bekommen. Erſt in neuen allgemei¬
nen Kriegen kann die Volksbewaffnung wieder ihre
Nothwendigkeit praktiſch geltend machen. Auch dieſe
Frage kann, wie ſo manche andre, nur von der Zu¬
kunft beantwortet werden.


Die techniſchen Wiſſenſchaften, die der Induſtrie
und Ökonomie dienen, haben ſeit kaum fuͤnfzig Jah¬
ren eine unuͤberſehbare Literatur geſchaffen, zum Be¬
weis, wie ſehr man auf den Nutzen und aͤußern
Wohlſtand bedacht iſt. Man ſehe jeden Meßkatalog
an, hundert und aber hundert Buͤcher handeln von
Landbau, Viehzucht, Haushalt und Fabrikation aller
Art. So lange die Deutſchen noch mehr im Gemuͤth
lebten, alſo im ganzen Mittelalter bis zum Ausgang
der Reformation, herrſchte das theokratiſche Syſtem.
Seitdem der Verſtand herrſchend geworden iſt, iſt an
die Stelle jenes fruͤhern das phyſiokratiſche Syſtem
getreten. Damals lebte man in Gott, und Weltent¬
ſagung war das Hoͤchſte, wornach man ſtrebte. Jetzt
[36] umklammert man mit allen Sinnen die Natur, und
Weltgenuß iſt das Hoͤchſte geworden. Der Verſtand
hat es ſich zur dringendſten Aufgabe gemacht, dem
Sinnengenuß, darum auch dem phyſiſchen Wohlſtande
zu dienen. Allen Scharfſinn und alles Combinations¬
vermoͤgen wenden wir auf, die Natur zu benutzen,
ihr die Schaͤtze und Genuͤſſe abzuzwingen, die uns
erfreuen ſollen. Dieſes Streben iſt natuͤrlich und
loͤblich, wenn uͤber den irdiſchen Guͤtern die hoͤhern
des Geiſtes nicht gaͤnzlich verabſaͤumt werden.


Melioration iſt die Abſicht der Phyſiokraten.
Sie wollen die Zeugungskraft der Natur verſtaͤrken
und veredeln, ihre Produkte vermehren und verfei¬
nern. Die Aufgabe iſt doppelt. Man noͤthigt der Na¬
tur theils ihre einfachen Produkte ab, theils veredelt
man ſie durch kuͤnſtliches Verarbeiten. Landbau, im
weiteſten Sinn des Wortes, und Fabrikation ſind
die beiden Hauptzweige der Induſtrie. In beiden
hat die Intelligenz Wunder gethan. Die Erziehungs¬
kunſt der Erde hat reichere Fruͤchte getragen, als die
der Menſchen. Der Boden, die Pflanzen- und Thier¬
welt haben der Veredlung ſich willig und dankbar
gefuͤgt. Des Menſchen Anſtrengung und Kunſt ſtrebt
die rauhe Erde, die Adam zuerſt beſtellte, wieder in
ein Paradies umzuſchaffen. Auf der Staͤtte, wo
Sumpf und Wuͤſten waren, erheben ſich bluͤhende
Gaͤrten, mit fremden und edlen Fruͤchten und Thie¬
ren angefuͤllt. Landbau und Viehzucht haben die Na¬
tur erzogen und gebildet, ihre Kraͤfte bis zum hoͤch¬
[37] ſten Grad entwickelt und ihr auch da, wo ſie ſchwach
und arm erſchien, durch Inoculation den fremden
Segen mitgetheilt. Durch Verpflanzen, Pfropfen und
Vermiſchen iſt die Vegetation wie die Thierwelt in
unſern rauhen Gegenden bereichert und verfeinert
worden; ſo wie gleichzeitig der Menſch durch die
Aufnahme fremder Geiſtesprodukte gebildet wurde.
Wie aber unſer eignes geiſtiges Schaffen und Wir¬
ken umfaſſender und wichtiger iſt, als jener fremde
Unterricht, ſo iſt auch in materieller Hinſicht die Fa¬
brikation, die kuͤnſtliche Verarbeitung der Naturerzeug¬
niſſe das wichtigſte. Die Naturprodukte erhalten ih¬
ren hoͤhern Werth erſt durch den Gebrauch, den man
davon zu machen weiß. Hier entſteht durch die Kunſt
eine zweite Natur zum naͤhern, feinern, zum mehr
geiſtigen Dienſt des Menſchen. Durch die Fabrikate
werden uns nicht nur Genuͤſſe verſchafft, die uns
die Natur unmittelbar nicht darbieten kann, ſondern
die menſchliche Kraft und Einſicht wird dadurch auch
auf unendliche Weiſe verſtaͤrkt, und ſomit zugleich
die Vervollkommnung des Geſchlechts befoͤrdert. Ohne
jene Fabrikate, die dem Geiſt nach allen Richtungen
ſeiner Thaͤtigkeit Werkzeuge leihen, wuͤrde die Cultur
ſtets unvollkommen bleiben. Ohne ſie waͤre die Wiſ¬
ſenſchaft und Kunſt in ihren herrlichſten Erſcheinungen
ganz unmoͤglich. Wir brauchen zu unſern Erkenntniſſen
und Kunſtwerken theils Inſtrumente, theils kuͤnſtlich be¬
reitete Stoffe, ohne welche wir nichts ausrichten koͤnnen.
Nicht nur der Genuß des Lebens, auch die Bildung
[38] und Veredlung des Geiſtes haͤngt von jener mate¬
riellen Cultur ab. Die ſo hoch geſteigerte und alles
umfaſſende Pflege derſelben in unſern Tagen iſt alſo
unſer groͤßter Ruhm und Gewinn.


An dieſe materielle Cultur ſchließt ſich unmittel¬
bar der Handel an‚ indem er den Umtrieb und
Austauſch der gewonnenen Natur- und Kunſtprodukte
bezweckt. Wie alles beſprochen und beſchrieben wird,
ſo hat auch der Handel eine Literatur gefunden. Er
iſt in ein wiſſenſchaftliches Syſtem gebracht und zu¬
gleich in ſeinen hiſtoriſchen Erſcheinungen gewuͤrdigt
worden. Das meiſte hat man jedoch uͤber ſeine Maͤn¬
gel, Hemmungen und nothwendigen Verbeſſerungen
geſchrieben.


Urſpruͤnglich beruht der Handel in einem bloßen
Auſtauſch der Produkte, die ein Land im Überfluß
erzeugte, und andern Laͤndern, welche daran Mangel
litten, mittheilte. Daran knuͤpfte ſich ſodann die
Gewinnſucht, indem ein Land theils ſeine Produkte
hoͤher ſchaͤtzte, als die es dagegen eintauſchte, theils
ſich mit Gewalt ein Monopol der Production und
Ausfuhr verſchaffte, theils bei ſeinen Abnehmern ein
ſteigendes Beduͤrfniß nach ſeinen Produkten kuͤnſtlich
erzeugte. In dieſer Handelspolitik waren ſchon die
Phoͤnizier ſehr gewandt, jetzt ſind es die Englaͤnder.
Endlich verlor man den urſpruͤnglichen Zweck des
Handels gaͤnzlich aus den Augen und machte den
reinen Gewinn dergeſtalt zur Hauptſache, daß der
Handel ein bloßes Gluͤckſpiel der Individuen wurde.
[39] Nunmehr wurde der Begriff eines Handelsartikels
von den Gegenſtaͤnden des Beduͤrfniſſes, die ein Land
entbehrte, das andre im Überfluß beſaß, auf alle
moͤgliche Gegenſtaͤnde ausgedehnt. Alles wurde uͤber¬
fluͤſſig, ſobald der Verkauf deſſelben einen Vortheil
brachte, und alles wurde Beduͤrfniß, deſſen Ankauf
denſelben Vortheil gewaͤhrte. Die Kunſt beſtand jetzt
nur noch darin, alles Vermoͤgen beweglich zu machen,
es zur Waare zu ſtempeln, den Vertrieb derſelben
zu befoͤrdern. Das Mittel dazu war das Geld, worein
man jeden andern Beſitz verwandeln konnte. Durch
Geld wurde jeder Beſitz veraͤußerlich, zum Austauſch
geſchickt, beweglich, zugleich aber trat an die Stelle
ſeines natuͤrlichen und dauernden Werthes ein kuͤnſt¬
licher und wechſelnder, und auf dieſes Steigen und
Fallen des Werthes wurden die Speculationen des
Kaufes und Verkaufes berechnet. Um das Handels¬
ſyſtem zu vollenden, bedurfte es nur noch eines Schrit¬
tes, und man that ihn, indem man den Credit die
weiteſte Ausdehnung gab. Nachdem man alle nur
erdenklichen phyſiſchen und ſogar geiſtigen Guͤter zu
Waare gemacht und in ein baares Vermoͤgen ver¬
wandelt hatte, durfte man dieſes baare Vermoͤgen
nur noch durch ein kuͤnſtliches ins Unendliche vermeh¬
ren, um dem Handelsverkehr den groͤßtmoͤglichen Um¬
fang und die groͤßtmoͤgliche Schnelligkeit zu geben.
Mit dem geborgten Vermoͤgen konnte man die unge¬
heuerſten Speculationen machen, und mit hundertfach
verſtaͤrkten Mitteln den hundertfachen Gewinn errei¬
[40] chen. Zugleich aber wurde durch das Syſtem der
Intereſſen den Verleihern im Gelde ſelbſt ein neuer
ſicherer Handelsartikel eroͤffnet, der ins Große getrie¬
ben, im Syſtem der Staatsanleihen wieder jeden an¬
dern Handel verdunkelt. Der Triumph des moder¬
nen Handels wurde darin erreicht, daß man mit ge¬
borgtem Vermoͤgen wieder durch Ausleihen gewann,
und aus Nichts Etwas machte.


Der urſpruͤngliche und natuͤrliche Produktenhan¬
del leidetn atuͤrlich unter dieſem Geldhandel ausneh¬
mend, indem der durch ihn redlich gewonnene Ge¬
winn ſogleich wieder in jenem zweiten hoͤhern Handel
zur Waare und einem neuen Riſico ausgeſetzt wird.
Hundertmal verrinnt im Geldhandel wieder, was durch
den Produktenhandel gewonnen war, und jener zehrt
beſtaͤndig von dieſem, wie alles kuͤnſtliche Vermoͤgen
vom natuͤrlichen, aller Scheinwerth vom wahren
Werthe zehrt. So viel die Geldſpeculanten aus dem
Nichts, womit ſie anfangen, gewinnen, ſo viel wird
den urſpruͤnglichen Beſitzern von ihrem Etwas ent¬
zogen. Ein reicher Geldhaͤndler macht zehn und
hundert arme Waarenhaͤndler. Der Produktenhandel
leidet in Deutſchland auch noch durch andre Beſchraͤn¬
kungen. Wir Deutſche produciren theils ſelbſt, theils
ſind wir durch unſre Lage in der Mitte von Europa
zu einem ſehr eintraͤglichen Tranſitohandel berufen.
Aber gerade dieſer verhaͤltnißmaͤßig geringe Vortheil,
deſſen wir uns im Vergleich mit den Seeſtaaten zu
erfreuen haben, wird uns verkuͤmmert durch die Han¬
[41] delsſperren mitten in unſrem Binnenlande. Der große
Vortheil des Volks wird dem kleinen des Fiscus
aufgeopfert.


Die moraliſche Wirkung des phyſiokratiſchen und
des Handels-Syſtems iſt unermeßlich und bezeichnet
den Charakter des jetzt lebenden Geſchlechts mehr als
alles andre. Das ganze Dichten und Trachten einer
unzaͤhlbaren Mehrheit der Menſchen laͤuft auf phyſi¬
ſchen Genuß, oder auch nur auf den Erwerb der
dazu erforderlichen Mittel hinaus. Alles will durch
Induſtrie oder Handel Geld erwerben, um zu genie¬
ßen, oder gar nur, um zu haben, denn gemeine See¬
len verwechſeln nur zu oft den bloßen Reichthum mit
dem Genuß, den ſie ſich dadurch verſchaffen koͤnnten.
Wenn allerdings der Reichthum jedes Schoͤne und
Große zu unterſtuͤtzen geeignet iſt, ſo dient er doch nur
als Mittel. Wenn er aber nur dient, den gemeinen Ge¬
nuͤſſen und Luͤſten zu froͤhnen, oder gar zum Zweck
erhoben wird, iſt er durchaus verderblich. Der jetzt
herrſchende Luxus und die Genußſucht, die ſich faſt
aller Staͤnde bemaͤchtigt hat, iſt ein geringeres Übel,
als die Habgier. Dieſe iſt ganz gemein und ſchaͤnd¬
lich, und verderbt die Menſchen von Grund aus.
Verſchwenderiſch und luxurioͤs waren die Menſchen
von jeher, ſobald ſie etwas hatten, aber ſo habgie¬
rig und wucheriſch ſind ſie noch nie geweſen, als
jetzt. Nicht das Genießen iſt jetzt die Hauptſache,
ſondern nur das Erwerben. Über dem Eifer, zum
Beſitz zu gelangen, vergißt man ganz den Genuß.


[42]

Daher iſt nichts ſo ingenioͤs, als die Erwerbsarten
in unſrer Zeit, und nichts abgeſchmackter und nichts¬
wuͤrdiger, als die Weiſe, des Erworbenen ſich zu
erfreuen, die Vergnuͤgungen des Reichthums. Die
Anſtrengung, den Fleiß, das Genie der Erwerben¬
den muͤſſen wir bewundern, den Gebrauch, den ſie
vom Erworbenen machen, muͤſſen wir meiſtens nur
belaͤcheln. Übrigens hat dies zum Theil ſeinen Grund
in dem Umſtande, daß wirklich die meiſten Menſchen
mehr erwerben, um dem Übel der Armuth zu entgehn,
als um das Gluͤck des Reichthums zu genießen. Ihr
Streben iſt mehr negativ gegen die Armuth, als po¬
ſitiv fuͤr den Reichthum berechnet. Es ſind verhaͤlt¬
nißmaͤßig nur wenige, die wirklich zum Genuß ge¬
langen‚ die meiſten muͤſſen ſich nur des Mangels er¬
wehren, daher iſt die Arbeit wichtiger und intereſſan¬
ter, als der Erfolg.


Daß aber alles menſchliche Treiben jetzt auf Er¬
werb ausgeht, ausgehen muß, iſt gewiß im Vergleich
mit fruͤhern Zeiten eine ſehr traurige Eigenthuͤmlich¬
keit der unſern. Man kann einmal nicht leben ohne
Geld, man muß zu erwerben ſuchen, um nicht un¬
terzugehn; man muß ein Mehr zu gewinnen ſuchen,
weil ein Weniger leicht mit dem buͤrgerlichen Tode
droht. Darum wird von fruͤh auf ſchon den Kindern
eingepraͤgt, daß ſie in dieſer Welt nur dazu berufen
ſind, ihr Unterkommen zu ſuchen, den Erwerb als
das hoͤchſte Lebensziel zu betrachten. Schon die Er¬
ziehung druͤckt ihnen den Stempel eines Laſtthieres
[43] auf, das ſein Brod verdienen muß. Das Schlimmſte
iſt, daß jedes Mittel geheiligt erſcheint, ſobald es
dem Zweck des Erwerbs dient. Nur das Criminal¬
geſetz enthaͤlt die Ausnahmen von der Regel; Aus¬
nahmen, welche die Moral zu machen haͤtte, werden
ſelten beachtet. Die Erwerbſucht rottet das heiligſte
Gefuͤhl im Herzen aus und die meiſten Ehen werden
nur wie ein Handel abgeſchloſſen. Man fraͤgt nach
dem Gelde, nicht nach dem Liebreiz und der Tugend
der Braut. Die Menſchenliebe und Ehrlichkeit lei¬
den am meiſten bei dieſem Jagen nach Gelde. Man
ruinirt den Nebenmenſchen, um ſelbſt zu gewinnen,
man betruͤgt auf geſetzlichem Wege, und begeht eine
Menge ganz unſcheinbarer, aber nicht minder ſchlimmer
Mordthaten durch geſchickte Verdraͤngung der Concur¬
renten. Selbſt die Gefuͤhle der Ehre, des Patrio¬
tismus und der Froͤmmigkeit werden vergiftet durch
die Ruͤckſicht auf das Geld. Nicht das gemeine und
alte Übel der Beſtechung kommt hier in Frage, ſon¬
dern ein ganz neues allgemein verbreitetes und weit
gefaͤhrlicheres Übel. Faſt alle Staatsdiener, ſogar
die Prieſter machen ſich ihre Beſoldung zum Haupt¬
augenmerk. Ja die Staaten ſelbſt muͤſſen erwerben
und Handel treiben, weil ſie ohne Geld nicht mehr
exiſtiren koͤnnen. Dadurch iſt das Privatleben wie
das oͤffentliche von Grund aus umgeſtaltet worden.


Fruͤher achtete man den Menſchen, jetzt nur noch
das Geld. Die Gewalt ſelbſt borgt ihre Mittel nur
noch vom Gelde, und um die heiligſte Autoritaͤt ſteht
[44] es ſchlecht, wenn ſie kein Geld hat. Aller Glauben
und Aberglauben, auf welchen in fruͤhern Zeiten die
Macht, Wuͤrde und Legitimitaͤt beruhten, iſt jetzt in
den einzigen an das Geld zuſammengeſchmolzen. Der
reichſte Staat iſt der ligitimſte und der reichſte Pri¬
vatmann der nobelſte. Das Geld duldet keinen an¬
dern Unterſchied, als den ſeiner Beſitzer. Es ent¬
waffnet jede andere Macht, uͤberſtrahlt jeden andern
Glanz. Darum hat es aber auch jenes Phantom der
Ideologen, die allgemeine Gleichheit, wirklich ins
praktiſche Leben eingefuͤhrt, ſo weit dies moͤglich iſt.
Geld iſt der Schluͤſſel zu allem, und jeder Menſch
kann ihn finden. Die Gleichheit des Geldreichthums
oder des Geldmangels hat alle Staͤnde gemiſcht. Der
reiche Jude wird baroniſirt, der arme Baron wird
ein Kornjude, ja es gibt Fuͤrſten, die von Penſionen
leben, und Juden, die ſie bezahlen.


[45]

Kunſt.

So weit wir die Geſchichte unſers Volkes ver¬
folgen koͤnnen, geht durch daſſelbe ein tief poetiſcher
Zug. In der aͤltern Zeit war das Leben ſelbſt ſchoͤ¬
ner, in der neuern hat die Poeſie ſich aus dem Le¬
ben in den betrachtenden und bildenden Geiſt gefluͤch¬
tet und ihre Wunder in einer Kunſtwelt offenbart,
die uͤber dem Leben ſteht. Nie iſt die Schoͤnheit voͤl¬
lig von uns gewichen, ſie war ein Erbtheil der Na¬
tur, das uns unveraͤußerlich zugeeignet worden. Wir
ſprachen ſie urſpruͤnglich in Thaten aus, ſpaͤter im
Glauben, zuletzt in der Betrachtung. Allen Denk¬
malen unſrer Kunſt liegt ein tief poetiſcher Sinn
des Volks zu Grunde, der ſich gerade da am innig¬
ſten ins Leben ſelber verliert, wo uns die Denkmale
fehlen. Dieſe ſind daher nur ein ſchwacher Abdruck
der das Volk durchdringenden Poeſie, und ſie er¬
ſcheinen immer duͤrftiger, je weiter wir in der Ge¬
ſchichte zuruͤckgehn, weil in demſelben Maaße das
Schoͤne mehr dem Leben ſelbſt angehoͤrte und mit ihm
[46] unterging. Was wir Herrliches von dem reinen ſin¬
nigen Familienleben, von der Heldenkunſt und Hel¬
denpoeſie der Germanen vernehmen, iſt mit ihnen
ſelbſt von der Zeit verſchlungen worden. Erſt das
Mittelalter hinterließ uns unſterbliche Denkmaͤler der
Kunſt, weil in ihm die Poeſie aus dem Leben ſchon
in die Beſchaulichkeit uͤberging, doch war es vorzuͤg¬
lich die bildende Kunſt, der die Deutſchen damals
ſich ergaben, weil ſie die erſten gewaltigen Zuͤge der
innern poetiſchen Welt in der rieſenhaften und ewi¬
gen Steinſchrift der Natur entwerfen mußten. Die
neueſte Zeit iſt von dieſen einfachen Zuͤgen abgewi¬
chen, wie immer mehr die Betrachtung zu dem Man¬
nigfaltigen und Widerſprechenden ſich fortgeriſſen ſah
und der unermeßlichen gaͤhrenden Geiſterwelt konnten
nur noch die redenden Kuͤnſte dienen, die den kuͤhn¬
ſten und verwickelſten Labyrinthen des Gedankens und
der Phantaſie zu folgen im Stande ſind.


Darum herrſcht die Dichtkunſt jetzt vor allen an¬
dern Kuͤnſten, und ihre Traͤgerin wird mit der Spra¬
che die Literatur. Schoͤne Kunſt und ſchoͤne Literatur
oder Belletriſtik iſt daher beinahe gleichbedeutend ge¬
worden. Ehe wir aber die Dichtkunſt betrachten, wol¬
len wir einen Augenblick bei der ziemlich duͤrftigen
Literatur verweilen, welche das Schoͤne und die Kunſt
im Allgemeinen und die uͤbrigen Kuͤnſte, außer der
Dichtkunſt, behandelt.


Die Äſthetik oder Wiſſenſchaft vom Schoͤnen
hat die Deutſchen auf doppelte Weiſe immer mehr
[47] intereſſiren muͤſſen, theils in rein philoſophiſcher Hin¬
ſicht, theils um bei den widerſprechenden Anſichten
und Manieren in der Kunſt aufs Reine zu kommen.
Der Philoſoph, der Alles wiſſen wollte, mußte die
Bedeutung des Schoͤnen zu erkennen ſtreben, und die
Kuͤnſtler und Dichter hatten alle Urſach, nach einer
aͤſthetiſchen Geſetzgebung zu verlangen, nachdem ſie
uͤber das Schoͤne in die mannigfachſten Widerſpruͤche
gerathen waren. Je mehr das Schoͤne aus dem Le¬
ben an die Bildung des todten Stoffes, oder an die
Kunſt, und die Kunſt wieder aus der Natur an die
Sprache uͤberging, verlor ſich immer mehr der ein¬
fache Naturtrieb und eine vielſeitige, alles beruͤckſich¬
tigende und doch nie fertig werdende, hier feſtgehal¬
tene, dort ins Ungewiſſe hinausgetriebene, immer
mit ſich ſelbſt ſtreitende Reflexion nahm uͤberhand.
Die irrenden Begriffe ſuchten wieder, was das ſichre
Naturgefuͤhl gewaͤhrt hatte. In der Kunſt ſo wenig
als in der Wiſſenſchaft, konnten die Geiſter einig
bleiben und die aͤſthetiſchen Anſichten widerſprachen
ſich nicht weniger, als die religioͤſen, philoſophiſchen
und politiſchen, und dem zufolge herrſchten auch man¬
nigfache Maximen in Betreff der Kunſtpraxis. Jeder
Widerſpruch ſucht aber die Aufloͤſung, jede Mannig¬
faltigkeit die ihr insgeheim zu Grunde liegende Ein¬
heit und ſo hat man auch die Äſthetik in theoretiſcher
und praktiſcher, oder philoſophiſcher und techniſcher
Hinſicht in ein evidentes Syſtem zu bringen geſucht.


[48]

Im Ganzen iſt dieſes loͤbliche Beſtreben noch nicht
weit gediehen. Die Philoſophen ſtehn den techniſchen
Empirikern entgegen. Jene wollen die Kunſt aus ei¬
ner Idee des Schoͤnen oder aus dem Organ des
menſchlichen Kunſttriebes herleiten; dieſe ziehen aus
der Erfahrung, aus den Kunſtſchaͤtzen, Regeln ab,
die ſo unvollkommen oder unzuſammenhaͤngend ſind,
wie die noch nie vollendete Kunſtwelt ſelbſt. Jene
wollen den Kuͤnſtler belehren, nicht von ihm lernen,
und ſie kommen immer nur von der Philoſophie zur
Äſthetik, wie umgekehrt. Alle wollen das Schoͤne
aus dem Zuſammenhang der uͤbrigen Welt erklaͤren,
noch keiner iſt vom Schoͤnen ausgegangen und hat
aus ihm auf das Übrige geſchloſſen. Die Empiriker
dagegen laſſen die Philoſophie auf ſich beruhn und
bleiben bei Thatſachen ſtehn, die immer etwas Frag¬
mentariſches bleiben, ſo lange die Kunſtwelt nicht
vollendet iſt.


Wer den guten Geſchmack, oder nur den deut¬
ſchen, aus unſern Lehrbuͤchern der Äſthetik kennen
lernen wollte, wuͤrde fehl gehn. Ich will nicht ſa¬
gen, daß ein andres Volk beſſere Lehrbuͤcher beſitzt,
ich halte vielmehr alles, was dafuͤr von Ariſtoteles
bis auf Gripenkerl geleiſtet worden, verhaͤltnißmaͤßig
fuͤr ſehr unerheblich. Denn, wenn auch Einzelne tiefe
Blicke in das Weſen der Kunſt gethan, ſo ſind da¬
durch nur Schlaglichter in das dunkle Land geworfen
worden, und an eine allgemeine Aufklaͤrung iſt noch
nicht zu denken geweſen. Das Beſte, was uͤber die
[49] Kunſt geſagt worden, finden wir zerſtreut bei Phi¬
loſophen und Dichtern. Es hat ſich aber noch immer
in kein eigentliches Lehrbuch vereinigen laſſen. Dieſe
Lehrbuͤcher muͤſſen vielmehr in der Regel alle Tiefe
aufopfern, um in der Breite wenigſtens die Faͤcher
auseinanderzulegen, in welche man die Gegenſtaͤnde
der Kunſt zu ordnen pflegt. Wie der goͤttliche Plato,
ſo haben Winkelmann, Herder, Leſſing, Schiller,
Schelling, die Bruͤder Schlegel, Novalis, Goͤrres,
Tieck und andre die tiefſten Ideen uͤber die Kunſt
ausgeſprochen, die Philoſophen haben ſie auch in ein
philoſophiſches Syſtem gebracht, aber eine praktiſche
Äſthetik iſt daraus noch nicht erwachſen, und wer ſie
verſucht hat, iſt entweder wie Jean Paul vorſichtig
genug geweſen, nur Fragmente geben zu wollen, oder
hat ein trocknes Regiſter geliefert wie Sulzer, oder
ein noch kuͤmmerlicheres Fachwerk, wie Bouterweck,
Eberhard, Schreiber und andre.


Die beſte Äſthetik gehoͤrt freilich ſo ſehr zu den
Idealen, wie die beſte Philoſophie, und die beſte
Darſtellung der Geſchichte. Doch ſind unſre philoſo¬
phiſchen und hiſtoriſchen Werke ohne allen Zweifel
beſſer, als die aͤſthetiſchen und deßhalb ſind wir auch
uͤber gewiſſe philoſophiſche Wahrheiten und geſchicht¬
liche Begebenheiten weit beſſer unterrichtet, als ſelbſt
uͤber die Rudimente der Kunſt. Nirgends herrſcht
ſo ſehr Willkuͤr und Beſchraͤnktheit, als in den Ur¬
theilen uͤber einzelne Kunſtwerke oder das ganze Ge¬
biet der Kunſt. Freilich muß das aͤſthetiſche Urtheil
Deutſche Literatur. II. 3[50] immer auf einer gewiſſen Willkuͤr der individuellen
Eigenthuͤmlichkeit und der aͤſthetiſche Genuß immer
auf einer gewiſſen Selbſtbeſchraͤnkung beruhen, doch
auch dafuͤr gibt es allgemeine Geſetze und dieſe wer¬
den eben nicht erkannt. Man raiſonnirt, verwirft,
und vergoͤttert, wie das Gefuͤhl es eingibt, aber ein
Gefuͤhl, das faſt nie gebildet iſt, und ſelten ſich
gleich bleibt, wenn ihm irgend ein Andrer, den man
fuͤr einen Kenner haͤlt, eine andre Richtung gibt.
Aus dieſem Hin- und Herſchwanken der Gefuͤhle und
aus dieſem Hin- und Herraiſonniren der angeblichen
Kenner iſt eine Anarchie des aͤſthetiſchen Urtheils ent¬
ſprungen, die den wahren Kenner unterdruͤckt, den
Kuͤnſtler bald durch Lob, bald durch Tadel verdirbt
und dem Publikum ſtatt eines wahren und dauernden
Genuſſes nur die berauſchenden Freuden einer ewig
wechſelnden Modeluſt gewaͤhrt.


Über die einzelnen bildenden Kuͤnſte iſt
nach und nach Einiges geſchrieben worden, meiſt von
Dillettanten. Die hiſtoriſchen Studien uͤber die alten
Kunſtwerke ſind davon das Beſte, wiewohl auch hie¬
fuͤr noch weit mehr geſchehen koͤnnte. Noch immer iſt
die bildende Kunſt zu ſehr blos eine Angelegenheit
der Gelehrten und Vornehmen, das Volk in Maſſe
nimmt zu wenig Theil daran. Sodann ſind die Kraͤfte
zu ſehr an die verſchiednen Akademien vertheilt und
nicht ſelten unter ein einſeitiges Intereſſe derſelben
gebracht, ſo daß alle Thaͤtigkeit fuͤr die bildende Kunſt
fragmentariſch bleibt. Doch gibt es einige treffliche
[51] Studien und Sammlungen im Einzelnen. Weniger
wollen die techniſchen Lehrbuͤcher bedeuten, da ſie erſt
allmaͤhlig mit der Kunſtpraxis ſelbſt ſich ausbilden
koͤnnen und dieſe bekanntlich außer in der Muſik die
Muſter der Alten noch nicht wieder erreicht hat. Alle
bildenden Kuͤnſte ſind ſeit der Reformation in Ver¬
fall gerathen, und die Bilderſtuͤrmerei des Proteſtan¬
tismus hat nothwendig dazu fuͤhren muͤſſen. Erſt im
vorigen Jahrhundert begann mit dem großen Winkel¬
mann
von Seiten der Dillettanten eine Reformation
der Anſicht uͤber die bildenden Kuͤnſte, der aber die
Kuͤnſtler und ihre Maͤcenaten erſt allmaͤhlich huldig¬
ten, ſo daß die Verjuͤngung dieſer Kuͤnſte erſt noch
im Werden iſt. Winkelmann, Leſſing, Fernow wie¬
ſen auf die plaſtiſchen Muſter der Alten zuruͤck, woran
ſich auch beßre Anſichten von der antiken Baukunſt
anſchloſſen. Dadurch wurde der Berniniſche Geſchmack,
der dem Zeitalter der Jeſuiten und des Louis XIV.
angehoͤrte, dieſe Schule des Schwulſtes und der Fratze,
ſiegreich bekaͤmpft. Herder, Heinſe, Goͤthe erweiter¬
ten den Blick uͤber das ganze Gebiet der Kunſt und
retteten zuerſt die Ehre des Mittelalters. Die Schle¬
gel'ſche Schule, wenn man ſie ſo nennen darf, und
vorzuͤglich Tieck, pries die Muſter der alten Malerei
und Poeſie, womit auch der Sinn fuͤr die gothiſche
Baukunſt wieder belebt wurde. Durch alle dieſe Be¬
ſtrebungen wurde der deutſche Kunſtſinn aufs tiefſte
ergriffen und gelaͤutert, die falſche Nachahmung und
Verzerrung der Antike, der ſteife franzoͤſiſche Geſchmack,
3 *[52] die engherzigen Vorurtheile mußten am Ende dem
reinen Gefuͤhl der echten Kunſt weichen, und eine
neue Schule junger Plaſtiker und Maler verſuchte
die alten Muſter zu erreichen. So freudige Hoffnun¬
gen ſie aber erregt, ſo iſt doch alles erſt im Beginn
und wie es bei jeder Reſtauration zu geſchehen pflegt,
Widerſpruͤche, Einſeitigkeiten, Manieren und Über¬
treibungen konnten nicht fehlen. Das Antike und das
Gothiſche, die italieniſche und deutſche Schule woll¬
ten ausſchließlich gelten und wieder uͤberſchaͤtzte man
einzelne Namen und uͤberbot ſich im Manieriren. Im¬
mer mehr aber reiben die Anſichten an einander ſich
ab, und ohne Zweifel werden die Kuͤnſtler ſelbſt und
neue große Werke dem Gerede ein Ende machen.


Was fuͤr die andern Kuͤnſte geſchehen war, ver¬
ſuchte zuletzt Thibaut auch fuͤr die Muſik zu leiſten,
und ſein Werk uͤber Reinheit der Tonkunſt kuͤndigt
uns dieſelbe Revolution in der Muſik an, die wir
in andern Kuͤnſten erlebt haben. Auch in der Muſik
herrſcht ein falſcher Geſchmack unnatuͤrlicher Kuͤnſte¬
lei, eine uͤberwiegende Herrſchaft der Harmonie uͤber
die Melodie, der Inſtrumente uͤber den Geſang, der
weltlichen, ſinnlichen Muſik uͤber die religioͤſe. Thi¬
baut haͤtte vielleicht aber beſſer gethan, wenn er ſein
Werk mehr theoretiſch als antiquariſch gehalten haͤtte.
Seine Muſter des alten Kirchenſtyls verhalten ſich
zu der neuern Opernmuſik keineswegs, wie die An¬
tike zu Bernini. Man muß beide gelten laſſen, dort
Palaͤſtrina, hier Mozart, dort die Andacht, hier die
[53] weltliche Leidenſchaft und liebliche Sinnlichkeit. Als¬
dann aber darf man allerdings und mit groͤßter Strenge
die einſeitige Herrſchaft eines Styls, und die ge¬
ſchmackloſen Übertreibungen deſſelben verwerfen. Wenn
die Muſik auch alle Maͤngel der uͤbrigen Kuͤnſte ge¬
theilt hat, ſo iſt ſie doch gerade in der geſchmacklo¬
ſen Periode des vorigen Jahrhunderts vor allen an¬
dern Kuͤnſten in ihrer weltlichen Richtung zu einer
erhabenen Hoͤhe gediehen und hat unſterbliche Werke
hervorgebracht. Die Urſache davon war, daß ſie un¬
gleich ihren Schweſtern nicht blos von Hoͤfen und
Stubengelehrten, ſondern vom Volke ſelbſt gepflegt
wurde. Derſelbe Umſtand wird auch einer Reſtaura¬
tion der Kirchenmuſik und beſonders des Chorals guͤn¬
ſtig werden. Schon ſehn wir fuͤr dieſen Gegenſtand
eine allgemeine Theilnahme rege werden und uͤberall
entſtehn neue Singgeſellſchaften, erſcheinen neue Schrif¬
ten uͤber den Geſang.


Übrigens haben die genialen Ideen jener Wie¬
derherſteller der bildenden Kuͤnſte in unſern romanti¬
ſchen Damen und Juͤnglingen eine Liebhaberei fuͤr
das Kunſtgeſchwaͤtz und eine enthuſiaſtiſche Faſelei er¬
weckt, die in einer Menge von belletriſtiſchen Pro¬
ducten ſich breit machen. Namentlich ſeit Heinſe, Hoff¬
mann und Tieck ihre aͤſthetiſchen Anſichten in der Form
des Romans vorgetragen, wimmelt es von falſchen
Nachahmern derſelben, die nicht wenig dazu beitra¬
gen, daß die Meinungen ſich verwirren und die ſcharfe
Kritik ſich abſtumpft und verflacht.


[54]

Wir gehn zur Poeſie uͤber, welche unter allen
Kuͤnſten fuͤr die gegenwaͤrtige Zeit und vielleicht fuͤr
alle Zeiten die hoͤchſte Bedeutung hat. Die Poeſie
erſchließt am tiefſten das menſchliche Herz und wirkt
wieder am tiefſten. Was keiner Kunſt gelingt, das
Innerſte des Menſchen bis in den geheimſten Gedan¬
ken und Empfindungen zu ſpiegeln, vermag allein die
Poeſie, und dies gibt ihr die Macht uͤber die menſch¬
liche Seele, der alle Voͤlker gehuldigt haben. Durch
dieſe Offenbarung des Menſchlichen iſt die Poeſie das
wirkſamſte Mittel und zugleich die hoͤchſte Bluͤthe der
Humanitaͤt. Poetiſche Voͤlker ſind die edelſten und
die edelſten werden poetiſch. Die Offenbarung ſchoͤ¬
ner Menſchlichkeit in den poetiſchen Idealen iſt die
Krone des Lebens. Die Poeſie iſt aber auch die
dauerhafteſte unter den Kuͤnſten, die unvergaͤnglichſte,
weil ihre Denkmale auf die leichteſte Weiſe verviel¬
faͤltigt und immer wieder erneuert werden koͤnnen.
Voͤlker wechſeln, Staaten werden zertruͤmmert, ein
Glaube verdraͤngt den andern, Irrthum wird, was
einſt als Wahrheit gegolten, die Werke der bilden¬
den Kunſt zerfallen in Staub, nur die Dichtungen
uͤberdauern die Stuͤrme der Zeit und glaͤnzen noch
nach Jahrtauſenden im erſten Jugendſchimmer. Um
alle Zeiten ſchlingt die Poeſie den Kranz, vereinigt
und verſoͤhnt alle. Mitten im ewigen Wechſel erhaͤlt
ſich die ſtille Blumeninſel der Dichtung, der irdiſche
Himmel, wo die matten Seelen Erquickung finden,
wo die Urvaͤter und Urenkel die gleichen Entzuͤckun¬
[55] gen theilen. Selbſt die Religion iſt die Staͤtte des
Friedens nicht, weil ein Glaube den andern aus¬
ſchließt; nur in der Poeſie beruht jener Gottesfrie¬
den, den die wilden Gemuͤther in heiliger Scheu an¬
erkennen, und der ſie mit der Leier des Orpheus
bezaͤhmt und die fremdeſten Voͤlker und Menſchen ver¬
ſoͤhnt.


Die Deutſchen haben eine angeborne Neigung zur
Poeſie, ja man kann ihren Nationalcharakter vorzugs¬
weiſe den dichteriſchen nennen, da er ſo ſchwaͤrme¬
riſch, gutmuͤthig, phantaſtiſch, aberglaͤubiſch, warm
und gewitterhaft iſt. Der Deutſche beſitzt ein außer¬
ordentlich zartes und tiefes Gefuͤhl, eine flimmernde
Phantaſie, einen ſtarken Hang zu Allegorie und Sym¬
bolik, große Gewandtheit in verwickelten Dichtungen,
eine Alles fortreißende Flamme der Begeiſterung, ei¬
nen ſeinen Sinn fuͤr die Natur und das Idyllische,
Familienmaͤßige, Heimathliche, und faſt noch mehr
Illuſion fuͤr das Fremde und Wunderbare. Am au¬
genfaͤlligſten zeigt ſich unſer poetiſches Genie in den
Mißbraͤuchen, die wir damit machen, und die eine
Überfuͤlle der Kraft verrathen, in dem Überſchweng¬
lichen unſrer eigentlichen Dichtungen und in den poe¬
tiſchen Anſichten des Lebens, der Natur, der Ge¬
ſchichte und aller Wiſſenſchaften, die uͤberall vorſchla¬
gen und weßhalb wir von den ſogenannten praktiſchen
Nationen verhoͤhnt werden. Auch in die trockenſte
Wiſſenſchaft miſchen wir gerne das Herz, die Begei¬
ſterung und orientaliſche Bilder.


[56]

Wenn man die neue Entwicklung der deutſchen
Poeſie außerordentlich zu preiſen pflegt, ſo hat man
unſtreitig ein Recht dazu. Die Kunſt hat ſich in je¬
der Hinſicht vervollkommnet und unſterbliche Werke
hervorgebracht, die das Andenken unſrer Zeit der
ſpaͤteſten Nachwelt uͤberliefern werden. Die Humc¬
nitaͤt iſt durch unſre Dichter weit allgemeiner und
eindringlicher gefoͤrdert worden, als durch irgend
einen Moraliſten oder das Ungluͤck. Die Literatur
ſelbſt hat einen neuen großen Schwung erhalten, da
die Dichter den ganzen Zauber unſrer Sprache ent¬
faltet und die Gelehrten wieder deutſch gelehrt ha¬
ben, nachdem ſie in die aͤußerſte Sprachbarbarei ver¬
fallen waren.


Die ganze neuere Poeſie der Deutſchen bildet
einen beſondern Cyclus, der in demjenigen der ge¬
ſammten neuern Poeſie Europas eingeſchloſſen und
mit demſelben von aller fruͤhern Poeſie des Mittel¬
alters, des Orients, der Griechen und Roͤmer und
des mythiſchen Alterthums getrennt werden muß. An
der Pforte der geſammten neuern Poeſie ſteht Dante,
an der Pforte der deutſchen Jakob Boͤhme, beide
gleich einſam. Der letzte Abglanz des Mittelalters
ward noch zum Heiligenſchein des neugebornen Kin¬
des. Gotttrunkne Seher tauften es mit heiligem
Feuer. Dante ſah in die Abendroͤthe des Mittel¬
alters, Jakob Boͤhme in die Morgenroͤthe der neuen
Welt. Dem feierlichen magiſchen Morgen aber folgte
bald ein heller, bunter, laͤrmender, weltlicher Tag.


[57]

Im Getuͤmmel dieſes Tages, im Glaͤnzen und
Flimmern ſo vieler blendender Erſcheinungen, im Wech¬
ſeln und Wogen der Namen und Moden iſt es ſchwer,
eine richtige Charakteriſtik des ganzen neuen poeti¬
ſchen Treibens zu entwerfen. Die Gegenwart uͤbt
einen gewiſſen Zauber uͤber uns, ſie blendet uns ſelbſt
mit kleinen Lichtern durch die Naͤhe derſelben. Leicht
werden wir verfuͤhrt, bei einem Gegenſtand die uͤbri¬
gen zu vergeſſen, ſey es, daß er uns gebieteriſch aus¬
ſchließliche Bewunderung und Anbetung abzwingt,
oder daß wir uns an ihm feſtzuhalten ſuchen, um in
der allgemeinen Verwirrung nicht zu ſtraucheln, um
wenigſtens etwas ganz zu lieben und zu beſitzen, da
unſer Intereſſe ſonſt zu ſehr zerſplittert wuͤrde. Auf
dieſe Weiſe ſind einſeitige Meinungen und Urtheile
uͤber die neuere Poeſie ſehr haͤufig geworden. Man
kann ihnen in der That nicht entgehn, wenn man
ſich nicht uͤber die Verwirrung hinausſchwingt und
auf der Hoͤhe der Geſchichte einen freien Standpunkt
zur Überſicht gewinnt, wenn man ſich nicht aus der
Gegenwart und von ihren dringenden, haſtigen, wi¬
derſprechenden Anforderungen befreit, und in die Ver¬
gangenheit fluͤchtet, um an dieſer die Gegenwart zu
meſſen.


Wir muͤſſen die Geſchichte der Poeſie bis zu die¬
ſer letzten Entwicklung verfolgen. Die Poeſie hat
ſchon viele große Perioden erlebt, bevor ſie zu dieſer
letzten uͤbergegangen iſt. In jeder dieſer Perioden
ging eine Verwandlung in ihr vor, bildete ſie ſich
[58] auf einer gewiſſen Stufe eigenthuͤmlich aus, entfal¬
tete ſie uns eine Seite nach der andern. Man hat
gewoͤhnlich zwei Hauptperioden angenommen, die
griechiſche oder antike, und die mittelalterliche oder
romantiſche. Schlegel hat ſie dadurch zu charakteri¬
ſiren geſucht, daß er die antike Poeſie plaſtiſch, die
romantiſche pittoresk nannte. Dies iſt keine muͤßige
Vergleichung. Die Unterſchiede in den Kuͤnſten uͤber¬
haupt wiederholeu ſich wieder in jeder insbeſondere.
Das Geſetz ihrer aͤußern Verwandtſchaft iſt zugleich
das Geſetz ihrer innern Unterſchiede. Die Poeſie
veraͤndert ſich nach ihrer Verwandtſchaft mit den uͤbri¬
gen Kuͤnſten und jede ihrer Entwicklungen und ge¬
ſchichtlichen Perioden entſpricht einer ſolchen Ver¬
wandtſchaft. Nur muß man nicht bei der Plaſtik und
Malerei, nicht bei Schlegel's Andeutung ſtehn blei¬
ben. Es gibt neben der Poeſie fuͤnf Hauptkuͤnſte,
Baukunſt, Plaſtik, Malerei, Muſik und Schauſpiel¬
kunſt. Dieſen entſprechen auch in der That die Pe¬
rioden und verſchiednen Entwicklungen der Poeſie.
Die aͤlteſte religioͤſe Poeſie der Kosmogonien und
Mythen war weſentlich architektoniſch, die ſpaͤtere
griechiſche und roͤmiſche und ausſchließlich antik ge¬
nannte Poeſie war plaſtiſch. Die lyriſche Poeſie der
rohen Voͤlker nach dem Untergang der antiken Welt
und vor der hoͤchſten Cultur des Mittelalters war
muſikaliſch, das romantiſche Mittelalter ſelbſt pitto¬
resk. Die moderne gelehrte Poeſie endlich, die in
die Rollen aller Zeiten ſich einſtudirt, duͤrfen wir
[59] mit Recht eine theatraliſche nennen, und in ihr iſt
in der That ſo viel von allen fruͤhern poetiſchen Gat¬
tungen enthalten, als in der Schauſpielkunſt von
allen andern Kuͤnſten aufgenommen iſt. Selbſt die
einzelnen Dichter unter uns verſuchen ſich in allen
Gattungen und Formen der Poeſie, weil es Rollen
ſind, die ſie ſpielen; in der fruͤhern Zeit bildete jeder
Dichter nur eine Gattung eigenthuͤmlich aus.


Die poetiſche Begeiſterung der erſten Menſchen
ſchien die letzte Bluͤthe der Schoͤpfung zu entfalten.
Derſelbe Naturgeiſt, der den Bau der Welt gegruͤn¬
det, ſpiegelte ſich in den Kosmogonien der kindlichen
Voͤlker. Die Poeſie war noch nicht losgeriſſen von
der Natur, ſie belebte die Maſſen, war noch nicht
ausſchließliches Eigenthum eines Individuums, ſie
vertheilte ſich in abweichende Anſichten, wie die Men¬
ſchen in Staͤmme, aber ſie blieb Eigenthum der Ge¬
nerationen, und wie ſie keinem Dichter, ſondern dem
Volk angehoͤrte, ſtellte ſie auch keinen Helden, nichts
Einzelnes dar, ſondern das Weltganze. Alle ihre
Formen waren architektoniſch. Mit dem Heldenthum
riß das Individuum von der Maſſe ſich los und die
Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom
cyclopiſchen Bau und die Geſchichte, die Poeſie und
bildende Kunſt entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe dieſes
Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier
war die Dichtkunſt eng an die Gegenwart und ihren
herrſchenden Charakter gebunden, und was wir claſ¬
ſiſch an ihr nennen, war die ſtrenge Conſequenz des
[60] plaſtiſchen Naturtriebs, der jenes Menſchenalter aus
dem dunkeln Mutterſchooß der kosmiſchen Zeit be¬
freite, aber ihm zugleich die beſtimmte Geſtalt einer
in ſich begraͤnzten Vegetation gab. Als dieſes Leben
in der einſeitigen Richtung abgebluͤht, begann ein
andrer großer Menſchenſtamm ſich nach einer neuen
Richtung zu entfalten. Wie dort die Sinnlichkeit
zuerſt ſich losgeriſſen vom allgemeinen Leben, ſo ſuchte
hier das Gemuͤth ſich ſelber zu ergreifen und die er¬
wachende Sonne der Liebe rief aus der erſtarrten
Memnonsſaͤule des Volks die erſten Toͤne hervor.
Das Gemuͤth der Voͤlker ſprach in eigenthuͤmlichen
Naturlauten ſich aus, die jetzt verhallt ſind, wie aller
Ton verhallt, von denen nur ein fernes Echo noch
Zeugniß gibt. Dies ſind die «Stimmen der Voͤlker»,
wie Herder ſie genannt, wie alte Sagen ſie bezeich¬
nen, wie ſie noch jetzt in Volksliedern nachklingen,
und wie ſie noch rein und urſpruͤnglich vernommen
werden bei den heidniſchen Staͤmmen entlegner Welt¬
theile.


In dieſer Richtung wurden die Voͤlker ergriffen
vom Chriſtenthum und ſie entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe
im Mittelalter. Das nationelle Gemuͤth wurde Welt¬
gemuͤth; die Stimme, nur dem nationellen Ohr ver¬
traut, wurde Bild, den Augen aller offenbar. Die
Poeſie wurde wieder kosmiſch und darum auch wie¬
der in dem Maaß architektoniſch, als die Malerei
es iſt; wie ſie von univerſeller Kosmogonie ausge¬
gangen in individueller Plaſtik erſtarrt war, ergoß
[61] ſie ſich aus den mannigfachen Quellen der Voͤlker
wieder in die zuſammenſchlagenden Wellen eines un¬
endlichen Meeres. Die chriſtliche Romantik war
aber verſunken in das bewegliche Element des Ge¬
muͤthes, wie jene aͤltere Poeſie erſtarrt in den ſinn¬
lichen Formen. Daher war ſie an dieſelbe Conſe¬
quenz gefeſſellt und auch in ihr waltete noch ein ge¬
wiſſer Inſtinkt, der beſtimmte Graͤnzen nicht uͤber¬
ſchreiten konnte, innerhalb derſelben aber mit voll¬
kommener Sicherheit ſich bewegte, und wie die an¬
tike Poeſie hat auch die romantiſche etwas Claſ¬
ſiſches.


Dieſes Claſſiſche, die unwillkuͤrliche Sicherheit
und Harmonie des Gegenſtandes und der Form, in
welcher die Kunſtwerke vollkommen den Werken der
Natur gleichen, und noch von demſelben ſchoͤpferiſchen
Triebe gebildet ſcheinen, der den Himmel, die Berge,
die Pflanzen und Thiere ſo und nicht anders geſchaf¬
fen, als muͤßt' es ſo ſeyn, dies iſt es eigentlich, was
alle aͤltere Poeſie von der modernen unterſcheidet.
Die poetiſche Begeiſterung jener Alten war ſchaffen¬
der Naturtrieb, ohne Wahl, ohne Schwanken. Die
unſrige iſt Sache der Reflexion geworden, und wir
waͤhlen und ſchwanken.


Die neuere Poeſie iſt ganz theatraliſch. Man
geht in die Poeſie, wie man ins Schauſpielhaus
geht, um ſich auf eine angenehme Weiſe zu taͤuſchen
und zu unterhalten. Die Poeſie iſt nicht mehr mit
dem Leben verbunden, die hoͤchſte Bluͤthe deſſelben,
[62] ſondern ſteht ihm gegenuͤber, wie der Traum dem
Wachen. Sie iſt nichts Unwillkuͤrliches, Nothwen¬
diges mehr, nicht mehr die Ausgießung eines heili¬
gen Geiſtes, der von innen kommt, nicht mehr Schoͤ¬
pfung eines draͤngenden, unbewußten, unwillkuͤrlichen
Naturtriebs, nicht mehr das freie Wachsthum, von
dem man nicht weiß, wie es entſteht. Sie iſt viel¬
mehr eine Fertigkeit geworden, die man nach Will¬
kuͤr anwendet, ſo oder anders, und ein bloßes Spiel¬
zeug fuͤr die Unterhaltung. Sie entſteht nicht mehr,
ſie wird nur gemacht; ſie iſt nicht mehr, ſie ſcheint
nur; ſie glaubt an ſich ſelbſt nicht mehr, ſie will nur
taͤuſchen. Zum Dichten bedarf man nicht mehr der
innern heiligen Begeiſterung, ſondern nur einige
Kenntniß von dem, was die Leute beluſtigt, und ei¬
niges Talent. An die Stelle des unbewußten Dran¬
ges im Gemuͤth iſt ein vollkommen klares Bewußt¬
ſeyn im Verſtande getreten. Der Dichter ſchafft nicht,
wie ihn der dunkle Trieb dazu zwingt. Er ſetzt ſich
hin und reflectirt, was will ich machen, und wie
muß ich es machen, um die Leute zu beluſtigen?
Daſſelbe Talent, was fruͤher ſich von ſelbſt einfand,
wenn das Gemuͤth des Dichters in poetiſcher Be¬
geiſterung war, gehorcht jetzt den aͤngſtlichen Vor¬
ſchriften des Verſtandes. Ehemals hatten die Dich¬
ter keinen Zweck, ſie ſprachen ſich nur aus, wie die
Quelle ſich ergießt, und wie der Vogel ſingt. Sie
waren groͤßer, als andre, wie ein Berg hoͤher iſt
als andre. Jetzt aber haben ſie den Zweck, die Leute
[63] zu beluſtigen, und wetteifern um den Effect, und da
ſie ſich nicht mehr nach dem innern Genius allein,
ſondern nach dem Beifall von außen richten, ſo aͤng¬
ſtigen ſie ſich um den Ruhm, und gehn auf Stelzen,
um ſich einer uͤber den andern zu erheben.


Oder iſt es anders? Bei den wahrhaft großen
und originellen Dichtern allerdings. Bei ihnen iſt
noch immer, wie bei den aͤlteſten Saͤngern der Vor¬
welt, die Poeſie Leben, und ſie dichten, weil und
wie ſie muͤſſen, nur vom innern Genius getrieben
und unbekuͤmmert um den Beifall. Doch der große
Haufen der Dichter iſt von der Art, wie ich ihn eben
beſchrieben, und gerade das Daſeyn dieſes großen
Haufens charakteriſirt unſre Periode. Aber ſelbſt
unſre beſten Dichter muͤſſen der Zeit ihren Tribut
zollen. Sie ſind einmal Kinder dieſer Zeit, und der
Naturgeiſt, der in ihnen waltet, geht aus der Natur
unſrer Zeit hervor. Wie Kinder eines Schauſpie¬
lers muͤſſen ſie ſelbſt Schauſpieler werden, die Rol¬
len werden ihnen gleichſam angeboren.


Univerſalitaͤt iſt der Charakter dieſer Zeit.
Man iſt alles in allem. Man verſetzt ſich in alle
Zeiten und Laͤnder, man ahmt alles nach. Die Bil¬
der der fernſten Vorwelt, der fremdeſten Natur mi¬
ſchen ſich taͤglich in die Bilder der Gegenwart. Wir
reiſen an einem Tage durch alle Zonen, durch alle
Zeitalter, und unſer Zimmer, in dem wir ruhig ſitzen
bleiben, wird die Mithrahoͤhle, an deren Waͤnden
Welt und Himmel ſich ſpiegeln. Die alten Dichter
[64] gingen nicht uͤber den Kreis der Nationalitaͤt hinaus,
Shakſpeare zauberte ſchon die ganze Welt in ſeine
Dichtungen, doch ſie trugen durchaus den Stempel
einer engliſchen und ſeiner Individualitaͤt. Unſere
neuere Dichter aber nehmen mit dem fremden Ge¬
genſtand auch die fremde Anſicht deſſelben an, zau¬
bern ſich nicht nur Griechenland in die nordiſchen
Waͤlder, ſondern auch eine griechiſche Denkweiſe in
ihre nordiſchen Geiſter. Dieſelbe deutſche Treue, mit
welcher unſre alten Maler die Natur copirten, zeich¬
net jetzt unſre Dichter aus, ſofern ſie ſich an Ver¬
gangnes und Fremdes wenden. Treibt ſie die Sehn¬
ſucht nach dem alten Hellas, ſo wollen ſie ganz Grie¬
chen ſeyn, daß ſie vor Plato beſtehn und von Ari¬
ſtophanes nicht zu Spott werden. Reizt ſie das
Mittelalter, ſo moͤchten ſie kein Riemchen am Har¬
niſch der alten Ritter, kein Kreuz aus dem Weg au¬
ßer Acht laſſen. Kein Volk kann ſich ſo gut in ein
andres hineindenken, als das deutſche. Unſre Dich¬
ter treiben mit dieſem Rollenwechſel eine gewiſſe An¬
dacht. Es iſt in der That ein neuer Polytheismus.
Wir machen alles zu Gegenſtaͤnden der poetiſchen
Anbetung, und gleichen den alten Heiden vollkommen
in der Toleranz, in welcher ſie alle fremden Landes¬
goͤtter, ſobald ſie die Graͤnze des Landes uͤbertraten,
zu den ihrigen machten.


Keine Welteroberung war jemals groͤßer, als
welche jetzt unſre Dichter unternehmen. Jeder Win¬
kel der Natur und Geſchichte wird von ihnen heim¬
[65] geſucht und dem unermeßlichen Reich der Phantaſie
einverleibt, davon die Literatur zahlloſe Landcharten
entwirft. In dieſer univerſellen Richtung folgt aber
die Poeſie nur dem Verſtaͤnde, der ihr vorausgegan¬
gen. Dieſe neuere Poeſie haͤngt innig mit der neuern
Wiſſenſchaft zuſammen. Von ihr empfaͤngt ſie den
Charakter, wie die Poeſie des Mittelalters ihren Cha¬
rakter von der Religion empfangen. Damals herrſchte
mehr das Gemuͤth, jetzt der Verſtand. Die Phan¬
taſie, unfaͤhig jemals ſelbſtaͤndig zu werden, folgt
dem Impuls, den ſie dort mehr vom Gemuͤth, hier
mehr vom Verſtand empfaͤngt. Dort verwandelt ſie
Stimmungen, Gefuͤhle, hier Begriffe, Gedanken in
Bilder und Worte. Das Gemuͤth kehrt ſich mehr
nach innen, zieht die Welt mit geheimnißvollem Zuge
in das Innere hinein, der Verſtand kehrt ſich mehr
nach außen, und die Gedanken werden Schwingen,
die den Menſchen durch alle Raͤume, durch alle Zei¬
ten tragen. Dort concentrirt ſich alles Licht und
Leben in eine volle gluͤhende Sonne. Hier faͤhrt es
ſpruͤhend, funkelnd auseinander in unzaͤhlige Sterne,
das Unendliche zu durchdringen, zu bevoͤlkern.


Jenes große Reich der neuern Poeſie, deſſen
Graͤnzen nirgend ſind, laͤßt ſich doch in gewiſſe Sy¬
ſteme eintheilen. Der Eintheilungsgrund liegt theils
in den Gegenſtaͤnden, theils in den Formen, vor
allem aber in dem Geiſt, der Auffaſſungsweiſe, der
Weltanſicht unſrer Dichtungen. Darnach haben ſich
gewiſſe Schulen gebildet. Es iſt aber ſchwer, ſie
[66] genau zu unterſcheiden. Wie im großen Roͤmerreich
die Voͤlker, ſo haben ſich in unſrem poetiſchen Reich
die Dichtungsarten vermiſcht. Von jeder iſt etwas
auf die andre uͤbergegangen, indem theils einzelne
Dichter im univerſellſten Beſtreben alle Rollen durch¬
gemacht, theils abwechſelnd ein ganzer poetiſcher Zeit¬
raum von einer Mode beherrſcht worden iſt, deren
charakteriſtiſches Gepraͤge ſich allem aufgedruͤckt.


Am auffallendſten iſt dieſe Vermiſchung in Ruͤck¬
ſicht auf den Unterſchied des Alterthuͤmlichen aller
Art, deſſen Erinnerung durch die gelehrten Forſchun¬
gen der Philologie und Geſchichte den Dichtern mit¬
getheilt werden, und des Modernen, das jedem Dich¬
ter der Augenſchein, die eigne Erfahrung, Sitte,
Natur einpraͤgt. Wir unterſcheiden darnach im All¬
gemeinen gelehrte Dichter und Naturdichter, oder
ſolche, die Stoff und Behandlungsweiſe der Poeſie
aus dem Studium der Vergangenheit entlehnen, und
ſolche, die ſie nur aus der Gegenwart entlehnen.
Aber dieſer Gegenſatz iſt nicht ſcharf beobachtet. Die
gelehrten Dichter koͤnnen niemals ihre Natur ver¬
laͤugnen, und wie ſehr z.B. ein Voß ſich beſtreben
mag, ein alter Grieche zu werden, er bleibt immer
ein ungeſchlachter niederſaͤchſiſcher Bauer. Eben ſo
miſchen ſich in die Nachahmungen der alten Ritter¬
poeſie, und in jede Darſtellung der Vorzeit die Ge¬
ſinnungen und Eigenheiten der modernen Welt un¬
willkuͤrlich ein. Auf der andern Seite koͤnnen ſich
aber auch die modernen Naturdichter niemals ganz
[67] von dem Einfluß der gelehrten Bildung, der tauſend¬
faͤltigen ſchon von fruͤher Jugend an ihnen einge¬
praͤgten Erinnerungen der Vorzeit losreißen. Un¬
willkuͤrlich umſchweben ſie die Bilder einer andern
Welt, und durch Erziehung und Literatur iſt eine
zahlloſe Menge von Begriffen theils aus dem grie¬
chiſchen und roͤmiſchen Alterthum, theils aus dem
Mittelalter auf uns uͤbergegangen, und ſo innig mit
unſrer ganzen Denk- und Ausdrucksweiſe vermiſcht,
daß ſie uns zur andern Natur geworden ſind.


Der Unterſchied beſchraͤnkt ſich alſo nur auf ein
Mehr oder Weniger des Alterthuͤmlichen und Frem¬
den in unſrer poetiſchen Literatur. Demzufolge muͤſ¬
ſen wir aber allerdings im Allgemeinen eine Gattung
von gelehrten Dichtern, denen jenes Mehr zukommt,
und die eben deßhalb auch nur bei dem mehr gelehr¬
ten und gebildeten Publikum Eingang finden, von
den ungelehrten unterſcheiden, die das geſammte
Publikum verſteht, weil ſie nur ſo wenig Fremdar¬
tiges in ihre Dichtungen aufnehmen, als etwa uͤber¬
all bekannt und gelaͤufig worden iſt.


Ein ſolcher Unterſchied fand bei den Alten nicht
Statt. Es gab bei ihnen religioͤſe Myſterien, die
auch in die Poeſie ein Dunkel brachten, das nur
den Geweihten erhellt wurde; aber ihre profane Poe¬
ſie war jedermann verſtaͤndlich. Hierin herrſchten
niemals Gelehrſamkeit, fremde Begriffe, fremde Aus¬
druͤcke. Dieſe ſind eine charakteriſtiſche Eigenheit
nur unſrer neuern Zeit. Nur bei uns ſcheidet ſich
[68] das Publikum in ein gelehrtes und gemeines. Wir
beſitzen eine zahlloſe Menge von Dichtungen, die dem¬
jenigen nur Dunkelheiten enthalten, der nicht den
ganzen Apparat mythologiſcher und hiſtoriſcher Kennt¬
niſſe ſich angeeignet hat, den ihr Verſtaͤndniß erfordert.


Indem wir ferner alle Nationen in der Runde
nachgeahmt haben, und die groͤßten Schoͤnheiten die¬
ſer Nachahmungen gerade in der Aneignung der na¬
tionellſten Eigenthuͤmlichkeiten beſtehen, erfordert der
Genuß derſelben auch eine genauere Bekanntſchaft mit
dieſen Voͤlkern. Hierin unterſcheiden ſich die Dichter,
wie das Publikum. Die oͤrtliche Lage hat einigen
Einfluß. Die vorzuͤglichſten Nachahmer der leichten
franzoͤſiſchen Manier, z.B. Wieland und in gewiſſem
Sinn auch Goͤthe, waren Weſtdeutſche; die Nach¬
ahmer der Englaͤnder ſaͤmmtlich Norddeutſche. Auch
die Zeit macht hierin einigen Unterſchied. Man kennt
den Wechſel der Gallomanie, Anglomanie ꝛc.


Wir haben uͤber den Einfluß ſowohl der Schul¬
gelehrſamkeit als der fremden Literatur im Eingang
dieſes Werks uns ſchon im Allgemeinen ausgeſpro¬
chen. Auch die Poeſie iſt dieſem Einfluß unterwor¬
fen und entlehnt daher eine Menge ihrer Unter¬
ſchiede. Wichtiger aber noch, als dieſe, ſind die
Unterſchiede, die aus der religioͤſen und philoſo¬
phiſchen Denkweiſe auf die Schoͤpfungen der Poeſie
und auf den Geſchmack an denſelben uͤbergehen. Wir
Deutſchen weichen in unſrer Art zu fuͤhlen, zu den¬
ken und zu glauben ſo weſentlich von einander ab,
[69] wie ſchon unſre Trennung in Confeſſionen beweist,
daß dies nothwendig auf die Poeſie einwirken muß.
Auch hier iſt wieder die Natur im Spiele. Der
Norddeutſche iſt phantaſtiſcher, witziger, humoriſti¬
ſcher, der Suͤddeutſche gefuͤhlvoller, ernſter, leiden¬
ſchaftlicher. Die Natur iſt immer der letzte Grund.
Es ſind dieſelben Grundbedingungen, welche machen,
daß Norddeutſchland mehr den Proteſtantismus, mehr
die Verſtandesphiloſophie und mehr die phantaſtiſch¬
witzige Poeſie, Suͤddeutſchland mehr den Katholicis¬
mus, mehr die Naturphiloſophie und mehr die Ge¬
fuͤhlspoeſie ausgebildet hat. Aus demſelben Grunde
ſind auch der gelehrten Dichter mehr in Norddeutſch¬
land, der ungelehrten mehr in Suͤddeutſchland zu fin¬
den. Die große Verſchiedenheit in den Grundanſichten
der Dichter, die auf urſpruͤnglichen Naturverſchie¬
denheiten beruht, und durch die religioͤſe Trennung
noch entſchiedener ausgepraͤgt iſt, unterſcheidet unſre
poetiſche Literatur von der aller andern Voͤlker. Nir¬
gends finden wir eine ſo große Mannigfaltigkeit in
ſo ſtarken Gegenſaͤtzen. Die allgemeine Verflachung
hat zwar auch hier auf der Oberflaͤche die charakte¬
riſtiſchen Unterſchiede abgerieben, und ein indifferen¬
ter Dichterpoͤbel breitet ſich uͤber ganz Deutſchland
aus, wo aber noch irgend eine Tiefe zu finden iſt,
da finden ſich auch jene Grundunterſchiede. Das ober¬
flaͤchliche Geſindel flieht ſie, haßt ſie oder bemitleidet
ſie; und wo ein Dichter ſich entſchieden einer Con¬
feſſion oder Philoſophie anſchließt, iſt er der entge¬
[70] gengeſetzten verdaͤchtig. Dies taͤuſcht haͤufig uͤber den
Werth der ausgezeichnetſten Dichter, und verkuͤm¬
mert den Genuß derſelben. Wir duͤrfen nur an Lud¬
wig Tieck denken, deſſen beſte Dichtungen bis auf den
heutigen Tag von einer Menge Leuten geſchmaͤht wer¬
den, weil ein gewiſſer katholiſcher Geruch darin iſt.


Unter ſo vielen Modificationen haben ſich im
Weſentlichen drei Hauptſchulen der deutſchen Poeſie
in charakteriſtiſcher Eigenthuͤmlichkeit herausgebildet,
die antike, romantiſche und moderne. Stellen wir
ſie unter jene Grundbedingungen, ſo zeigt ſich zuerſt
der Einfluß der Gelehrſamkeit auf die antike und
romantiſche Schule. Im ganzen Bereich der Vergan¬
genheit, deren Erinnerung uns die Gelehrſamkeit be¬
wahrt, ſind das griechiſche und roͤmiſche Alterthum,
und das romantiſche Mittelalter die Hauptepochen.
Die antike Welt iſt der Gegenwart am meiſten ent¬
ruͤckt und hat durchaus nur noch eine gelehrte Exiſtenz.
Das Mittelalter ſteht uns naͤher und ſein Geiſt hat
ſich nicht nur in Buͤchern, auch noch im Leben ſelber
fortgepflanzt. Unter den fremden Nationen, denen
wir nachgeahmt, erſcheinen die Franzoſen dem anti¬
ken Geſchmack, die Italiaͤner und Spanier dem ro¬
mantiſchen, die Englaͤnder dem modernen am meiſten
verwandt. Was endlich den Einfluß der Glaubens-
und Denkweiſe betrifft, ſo hat die antike und moderne
Schule auf gleiche Weiſe vorzuͤglich bei den Prote¬
ſtanten Anhang gefunden, die romantiſche aber bei
den Katholiken.


[71]

Wir wollen jetzt dieſe drei, dem Geiſt und We¬
ſen nach verſchiedene Schulen naͤher kennen lernen,
und ſodann erſt auf den zweiten Unterſchied uͤberge¬
hen, welcher in der Poeſie durch die lyriſche, dra¬
matiſche und epiſche Form bewirkt wird.


Der Geſchmack fuͤr antike Poeſie gelangte
nach dem dreißigjaͤhrigen Kriege zur Alleinherrſchaft.
Deutſchland gab damals noch manche andre Bloͤße,
und glich faſt in jeder Hinſicht einem offenen Markt
fuͤr jede Gattung von Fremden. Die Erinnerung an
eine große Vergangenheit war erloſchen, man ſah
auf das Mittelalter nur mitleidig herab. Die Ge¬
genwart aber ließ nichts Großes uͤbrig, woran der
Nationalſinn erſtarken mochte. Die alte Neugier und
Wunderſucht aber war noch uͤbrig und warf ſich auf
das Fremde. Der Proteſtantismus war damals in
Bewegung geſetzt ein freſſendes Zornfeuer, in der
Ruhe ein erkaͤltendes nordiſches Schneelicht, und
konnte am allerwenigſten eine nationelle Poeſie be¬
gruͤnden. Doch mit dem Studium der Alten, das er
fuͤr Verſtandeszwecke beguͤnſtigte, kam auch ungeru¬
fen die Muſe. Auf der katholiſchen Seite war eben¬
falls die zeugende Kraft ausgetilgt, der alte Uranus
vom abtruͤnnigen Sohn entmannt, und die Jeſuiten
konnten dem Proteſtantismus nur mit den von dem¬
ſelben geborgten Waffen der Gelehrſamkeit und des
Geſchmacks die Spitze bieten. So wurden auf den
katholiſchen wie auf den proteſtantiſchen Schulen die
alten Claſſiker als Canon des Geſchmacks gepflegt.
[72] Mag man den Mangel einer nationellen Poeſie be¬
klagen, die Bekanntſchaft mit den griechiſchen Dich¬
tern war doch ein Balſam, faſt der einzige fuͤr die
vielen Wunden, an denen Deutſchland in jener Zeit
verblutete. Erſt aus der Belebung des antiken Ge¬
ſchmacks ging die freiere Bildung hervor, durch wel¬
che ſich auch die deutſche Poeſie wieder verjuͤngen
konnte. Die bloße blinde Vorliebe fuͤr die Alten, die
geſchmackloſen Nachahmungsverſuche blieben freilich
lange Zeit die einzige Entſchaͤdigung fuͤr die beßre
noch ſchlummernde Poeſie. Auf den ſteifen Meiſter¬
geſang, den das Mittelalter beſchloß und ſchon die
roͤmiſche und griechiſche Terminologie aufgenommen,
folgte die ſchleſiſche Schule, die gleich der da¬
maligen franzoͤſiſchen und hollaͤndiſchen, von wo Opitz
ſie entlehnt, jenen ſeltſamen Parnaß erſchuf, da
Apollo in der Peruͤcke mit der Geige das Concert
der hochfriſirten Muſen dirigirte. Dieſe Gattung von
Poeſie lebte vorzuͤglich an den Hoͤfen und huldigte
den galanten Feſtivitaͤten. Ins Volk konnte ſie nicht
lebendig dringen, und die Gelehrten konnten nicht
damit zufrieden ſeyn, weil die griechiſche Muſe in
jenen Nachahmungen nicht herrſchte, ſondern fremden
Zwecken und der Mode dienſtbar war. Darum ver¬
ſuchte Klopſtock, indem er der franzoͤſiſch-ſchleſi¬
ſchen Schule und der Hofpoeſie entgegentrat, die
griechiſche Form in voͤlliger Reinheit und als Muſter
aufzuſtellen und die deutſche Sprache derſelben ſkla¬
viſch zu unterwerfen. Es entſtand die Graͤcomanie,
[73] die Geiſt und Sprache der Nation auf ewig unter
das fremde Joch zu erzwingen unternahm, und ihr
Vorwuͤther war Voß. Endlich ſah man auch dieſe
Verkehrtheit ein und ſinnvolle Dichter ſuchten zu be¬
weiſen, daß es nur darauf ankaͤme, den griechiſchen
Geiſt bei uns heimiſch zu machen, daß es dagegen
unſrer Sprache unmoͤglich ſey, ſtreng alle Formen der
griechiſchen nachzucopiren. Dieſe Dichter ahmten nun
in reinem fließendem Deutſch die Heiterkeit des Ho¬
mer, den Flug Pindar's, die Wuͤrde des Sopho¬
kles, die Feinheit des Lucian nach. Hiermit ſchließt
ſich der Kreislauf des antiken Geſchmacks in unſrer
poetiſchen Literatur.


Wir bemerken alſo drei verſchiedne Entwicklun¬
gen der antiken Schule. In der erſten nahm ſie nur
von oben weg die Namen und Begriffe des Alter¬
thums, in der zweiten copirte ſie mit ſklaviſcher
Treue die antiken Formen, in der dritten drang ſie
in den Geiſt des Antiken und ſuchte die innerſte Gra¬
zie deſſelben ſich eigen zu machen.


Unter den Hohenſtauffiſchen Kaiſern war der Adel
poetiſch geweſen, unter den Luxemburgiſchen waren
es die Buͤrger, unter den Habsburgiſchen kam die
Poeſie an die Gelehrten, aus der lebendigen Hand
an die todte Hand. Die Reformation riß nieder, der
dreißigjaͤhrige Krieg kehrte aus. Mit ſo vielem Al¬
ten erſtarb auch die deutſche Poeſie, und um die
Leere zu fuͤllen, beſchworen die Gelehrten den Schat¬
ten der griechiſch-roͤmiſchen Poeſie. Die Zeit war ſo
Deutſche Literatur. II. 4[74] herabgekommen, geiſtlos und unnatuͤrlich, daß ſie nicht
im Stande war, in den Geiſt jenes Alterthums ein¬
zudringen. Dies war einer ſpaͤtern Zeit vorbehalten.
Anfangs diente dieſe neue Poeſie auch nur der Schmei¬
chelei und den Luſtbarkeiten an den Hoͤfen. Da die
chriſtlichen Heiligen ſchicklicherweiſe nicht benutzt wer¬
den konnten, den Triumph der weltlichen Macht zu
verherrlichen, ſo mußten wenigſtens die heidniſchen
Goͤtter ſich dazu brauchen laſſen. Die Hofpoeten leg¬
ten zuerſt in Frankreich dem vergoͤtterten Fuͤrſten eine
glaͤnzende Camerilla von griechiſchen Goͤttern und Halb¬
goͤttern zu, deren einziges Geſchaͤft darin beſtand, in
allegoriſchen Darſtellungen die goͤttlichen Eigenſchaf¬
ten Ludwigs XIV. zu bezeichnen. In zahlloſen Bil¬
dern und Gedichten erſchien der Fuͤrſt von einem Goͤt¬
tergefolge begleitet, an welches die Erzaͤmter vertheilt
waren. Minerva trug ihm das Scepter vor, Mars
das Schwert, Victoria bekroͤnte ſeine Schlaͤfe, Hebe
verwaltete das Schenkenamt, das des Truchſeß Ceres,
und Venus war der Stallmeiſter. Auch in Deutſch¬
land wurde dieſe allegoriſirende Hofpoeſie eingefuͤhrt
und man aͤrgerte ſelbſt noch Friedrich den Großen
damit. Hoffmanswaldau war der Coryphaͤe dieſer
Schule, ſpaͤter Ramler, nnd ſelbſt Wieland war
noch darin wie bezaubert, obgleich er ihren ſentimen¬
talen Ernſt in Ironie verkehrte.


In dieſer Schule war alles unwillkuͤrliche Karri¬
katur. Nichts konnte ſo unnatuͤrlich und komiſch ſeyn,
als die Vermaͤhlung der antiken Plaſtik mit der Zeit
[75] der Peruͤcken und Reifroͤcke. Die Marmorwelt des
Alterthums verwandelte ſich unter den geſchaͤftigen
Haͤnden der Friſeurs von Paris, Leipzig und Berlin
in ein Bedlam voll phantaſtiſcher Ungeheuer. Das
waren die Geſtalten, womit man den ganzen Raum,
den die damalige Poeſie einnahm, bevoͤlkerte. Nichts
ſchien poetiſch, was nicht eine Beziehung auf die
alte Mythologie hatte, die dennoch immer jeder neuen
Pariſer Mode huldigen mußte. Unter allen Dichtern
des Alterthums, die man nachzuahmen wetteiferte,
gelangte Horaz zum hoͤchſten Ruhm. Ihm fuͤhlten
die Hofpoeten am naͤchſten ſich verwandt. Man durfte
ihn nur uͤberſetzen, nur citiren, ſo fand man ſchon
Beifall. In Frankreich war Batteux der Prophet
dieſes Geſchmacks, in Deutſchland ſein Überſetzer
Ramler. Daher nun jene Suͤndfluth von Oden,
Elegien, poetiſchen Briefen und Satyren, die da¬
mals Deutſchland unter ein ſchlammiges Waſſer ſetzte.
Da man nur nachahmte, und nichts Neues erfand,
als etwa die moderne Anwendung alter Schmeiche¬
leien, ſo gab man ſich auch wenig Muͤhe. Es war
ſchon genug, nur die Alten zu citiren. Ein Oden¬
dichter durfte von ſeinem Helden nur ſagen, er ſey
feurig wie Mars, ſchlau wie Merkur, ſchoͤn wie
Apoll, von ſeiner Heldin, ſie ſey jung wie Hebe,
ſchlank wie Atalante, reizend wie Venus geweſen,
und man fand die Schilderung entzuͤckend. Selbſt
Wieland ſetzte ſeine Gemaͤlde noch oft aus hundert
Anſpielungen und Citaten aus der Mythologie zuſam¬
4 *[76] men. Die allgemeinſten Begriffe aus dieſer Mytholo¬
gie wurden am Ende ſo gelaͤufig, daß man Jagd
nach antiquariſchen Seltenheiten machte, um eine feine
Gelehrſamkeit und Kennerſchaft zu zeigen. Wer bei
Hofvermaͤhlungen und Begraͤbniſſen die verſteckteſten
Anſpielungen in Gedichten oder Schauſpielen, In¬
ſchriften, Bildern, auf Portalen, Sarkophagen ꝛc.
anzubringen wußte, die dann die gelehrteſten Philo¬
logen wieder in langweiligen Noten erklaͤrten, der
trug den Preis davon.


Die geſammte Dichterwelt richtete ſich auf anti¬
ken Fuß ein. Man that, als ob ſtatt des Blocksbergs
mitten in Deutſchland der Parnaß laͤge und als ob
der Kaiſer Apoll, die neun Churfuͤrſten die Muſen
waͤren. Jeder Dichter nannte ſich einen Sohn der
Muſe, alle hießen Bruͤder in Apoll. Spaͤter nann¬
ten ſich dieſe guten deutſchen Verſemacher in einer
andern Anwandlung von Tollheit Barden.


Doch Klopſtock, der dieſen Namen einfuͤhrte,
hat ſo große Verdienſte, daß wir mit dieſer Erwaͤh¬
nung ſein Andenken nicht beſchimpfen wollen. Sein
Mißgriff ging aus einem ſehr achtbaren Eifer her¬
vor, die Deutſchen an ſich ſelbſt zu mahnen. Wie
barok und wahnſinnig die ganze Zeit war, erhellt
am beſten aus dem, was ſie aus ſonſt ganz vernuͤnf¬
tigen Menſchen machte. Die erſten kraͤftigern Natu¬
ren, die ſich aus dem Wuſt jenes Ungeſchmacks em¬
porzuarbeiten ſtrebten, wurden noch davon verſchro¬
ben. Klopſtock war inſofern noch ganz das Kind
[77] ſeiner Zeit, als er fuͤr die deutſche Poeſie durchaus
nur in der Nachahmung des Antiken das Heil er¬
wartete. Er ſah aber doch die Oberflaͤchlichkeit der
fruͤhern Nachahmer der Griechen und Roͤmer ein, und
brachte den antiken Geſchmack auf eine hoͤhere Stufe,
indem er auf eine treue Nachahmung der antiken
Formen drang. Bisher hatte man die Alten in aller¬
lei buntſcheckigen Knittelverſen bereimt, Klopſtock
fuͤhrte zuerſt den allgemeinen Gebrauch der echten
antiken Versmaaße ein, und glaubte darin erſt die
deutſche Sprache zur poetiſchen Vollendung zu brin¬
gen. Verbeſſert hat er ſie gewiß, wenn auch nur wie
die Schatzgraͤber den Weinberg. Er konnte die deut¬
ſche Sprache nicht auf das Prokruſtesbett einer frem¬
den ſpannen, aber er veredelte doch ihren Ausdruck,
indem er ihn mit dem griechiſchen wetteifern ließ.


Abgeſehn von dieſen Formen aber behauptet Klop¬
ſtock ſeine große Bedeutung darin, daß er zuerſt der
antiken Welt zwei Ideen entlehnte, die der damali¬
gen deutſchen Poeſie gaͤnzlich abhanden gekommen wa¬
ren, Vaterland und Religion. Er drang ſo weit in
den Geiſt des Alterthums, daß er die beiden groͤßten
Ideen deſſelben erkannte, waͤhrend er es freilich ſpaͤ¬
tern Dichtern uͤberlaſſen mußte, ſich der ganzen An¬
muth und Fuͤlle jenes Geiſtes zu bemaͤchtigen. Jene
beiden Ideen ſtehn bei ihm etwas nackt da, gleich¬
ſam nur wie Pfoſten am Eingang in das Innere der
antiken Poeſie. Er fuͤhrte die bisherige antike Schule
aus der Hofpoeſie heraus bis zu dieſem Eingang.


[78]

Er lehrte: wenn ihr die Griechen nachahmen wollt,
ſo ehrt zuerſt, wie ſie, euer Vaterland und euern
Glauben. Auf dieſe beiden Gegenſtaͤnde bezogen ſich
auch ſeine vorzuͤglichſten Dichtungen. Sie haben ihm
jenes ehrwuͤrdige Anſehn verliehen, das er immer
behaupten wird. Sie haben bewirkt, daß man ihn
immer bewundert hat, wenn man ihn auch kaum aus¬
zuleſen im Stande war, woruͤber ſchon Leſſing ſpot¬
tet. Es iſt wahr, Klopſtock verliert alles, wenn man
ihn in der Naͤhe und im Einzelnen betrachtet. Man
muß ihn in einer gewiſſen Ferne und im Ganzen
auffaſſen. Wenn man ihn lieſt, ſcheint er pedantiſch
und langweilig, wenn man ihn aber geleſen hat, wenn
man ſich an ihn erinnert, wird er groß und maje¬
ſtaͤtiſch. Dann leuchten ſeine beiden Ideen, Vater¬
land und Religion, einfach hervor, und machen uns
den Eindruck des Erhabenen. Wir glauben einen rie¬
ſenhaften Geiſt Oſſian's zu ſehn, eine ungeheure Harfe
hoch in den Wolken ruͤhrend. Kommt man ihm naͤ¬
her, ſo loͤſt er ſich auf in ein duͤnnes breites Nebel¬
gewoͤlk. Aber jener erſte Eindruck hat auf unſre Seele
maͤchtig gewirkt und uns zum Großen geſtimmt. Ob¬
wohl zu metaphyſiſch und kalt hat er uns doch in
den hoͤchſten Ideen ſeiner Poeſie zwei große Lehren
gegeben, die eine, daß die entdeutſchte Dichtkunſt,
dem heimiſchen Boden laͤngſt entfremdet, wieder in
ihm ihre Wurzeln ſchlagen muͤſſe, und nur in ihm
zum herrlichen Baume gedeihen koͤnne, die andre, daß
alle Poeſie wie ihre Quelle, ſo ihr hoͤchſtes Ziel in
[79] der Religion finden muͤſſe. Dieſe Lehren draͤngten
ſich ihm aus dem Alterthum auf. Bei den Griechen
fand er, was fuͤr die Poeſie jedes Volkes gilt, Sinn
fuͤr das Vaterland und die Religion. In dieſer Weiſe
duͤrfen wir Klopſtock als den erſten Vorgaͤnger auch
in der Richtung betrachten, welche den Geiſt des
claſſiſchen Alterthums verfolgte. Er eroͤffnete ſeinen
Nachfolgern zwei Wege, die einen ſuchten die grie¬
chiſchen Formen, die andern den griechiſchen Geiſt
auf. Dort ſteht ihm Voß, hier Wieland am naͤchſten.
In Bezug auf das Formelle bildete Voß den
antiken Geſchmack aus. Hier iſt er der Meiſter. Mit
ihm begann die eigentliche Graͤcomanie. Voß iſt
der Fehler, zu welchem Klopſtock hinneigte, das Ex¬
trem dieſer ganzen falſchen Richtung unſrer Poeſie.
Weiter konnte ſie nicht abirren. Voß, dieſen ſeltſam¬
ſten aller literariſchen Pedanten, trieb ein Spiel der
Natur, durch welches zuweilen gerade das Fremd¬
artigſte ein Gegenſtand des Appetites wird, zu einer
tragikomiſchen Liebſchaft der griechiſchen Grazie, und
er ahmte dieſelbe in den poſſirlichſten Capriolen nach.
Er uͤbernahm laͤnger als ein halbes Jahrhundert die
Siſyphusarbeit, den rohen Runenſtein der deutſchen
Sprache auf den griechiſchen Parnaß zu ſchleppen,
doch immer


hurtig mit Donnergepolter entrollte der tuͤckiſche
Marmor.

Er hatte die fixe Idee, man muͤſſe die deutſche
Sprache auf eine mechaniſche Weiſe Sylbe fuͤr
[80] Sylbe der griechiſchen anpaſſen. Er verwechſelte ſein
beſonderes Talent und die daraus herfließende Vor¬
liebe fuͤr dieſe philologiſchen Sylbenſtechereien mit ei¬
ner allgemeinen Faͤhigkeit und mit einem allgemeinen
Beduͤrfniß der deutſchen Sprache und Poeſie, wie
wenn ein Seiltaͤnzer verlangen wollte, daß alles auf
dem Seile tanzen ſolle. Das naͤchſte Mittel, die
deutſche Sprache am Spalier der griechiſchen aufzu¬
ziehen, waren natuͤrlicherweiſe Überſetzungen. Hier
wurde die deutſche Sprache der griechiſchen ſo nahe
gebracht, daß ſie allen Bewegungen derſelben folgen
mußte, wie ein wilder Elephant, den man an einen
zahmen koppelt. Voß hat den Ruhm des treuſten
Überſetzers, aber nur, ſofern von der Materie der
Sprache und den mechaniſchen Geſetzen die Rede iſt;
Geiſt und Seele ſind ihm immer unter ſeinen groben
Fingern verſchwunden. Er hat in ſeinen Überſetzun¬
gen den eigenthuͤmlichen Charakter und die natuͤrliche
Grazie der deutſchen Sprache ausgetrieben, und der
liebenswuͤrdigen Gefangnen eine Zwangsjacke ange¬
zogen, in der ſie nur noch ſteife und unnatuͤrliche,
krampfhafte Bewegungen machen konnte. Sein wah¬
res Verdienſt beſteht darin, daß er eine große Menge
guter, aber veralteter oder nur im Volke uͤblicher
Woͤrter in die moderne Schriftſprache einfuͤhrte. Er
war dazu gezwungen, weil er eine große Auswahl
von Woͤrtern haben mußte, um das vorgeſchriebne
griechiſche Zeitmaaß immer aufs genauſte auszufuͤllen.
Doch dieſe Woͤrtermenge war ein caput mortuum,
[81] woraus der Geiſt der deutſchen Sprache verſchwun¬
den war, und Voß bemuͤhte ſich, es durch griechi¬
ſche Zuſammenſetzungen und Conſtructionen wieder zu
beleben. Er loͤste die deutſche Sprache in ihre ur¬
ſpruͤnglichen atomiſtiſchen Beſtandtheile auf und ver¬
ſuchte, nach mechaniſchen Geſetzen einen neuen Bau
daraus aufzufuͤhren, aber in dieſem todten Geruͤſt
war keine Seele. Niemand konnte ſo ſprechen, wie
Voß ſchrieb. Es wuͤrde jedem qualvoll und laͤcherlich
vorgekommen ſeyn, wenn er ſeine Worte wie Voß
haͤtte ſtellen ſollen. Man ſehe Schiller's und Goͤthe's
Verſe; wenn ſie auch oft pathetiſch ſind, ſo koͤnnte
doch jeder Deutſche in der Gluth der Leidenſchaft ſo
reden, wie ſie. Aber wenn Voß auch die gleichguͤl¬
tigſten Gegenſtaͤnde mit aller moͤglichen Ruhe verhan¬
delt, thut er es auf eine ſo ſeltſame pedantiſche und
fremde Weiſe, daß niemand im gleichen Falle ſo ſpre¬
chen moͤchte wie er. Das macht, Schiller und Goͤthe
huldigen dem Genius der deutſchen Sprache, ihre
Worte ſind immer, ſelbſt in der Leidenſchaft oder
Feierlichkeit, die natuͤrlichſten; ſo fuͤhlen, ſo reden
Deutſche. Voß aber kennt jenen Genius nicht, ſeine
Worte lauten wie deutſch, aber ſie ſind es nicht.
Sie klingen immer nur wie eine ſteife Überſetzung,
auch wo er wirklich nicht uͤberſetzt.


Hat er nun aber wohl umgekehrt, wenn er den
Geiſt der deutſchen Sprache verkannt, den der grie¬
chiſchen rein aufgefaßt? Wir wuͤrden es ihm verge¬
ben, daß er unſre Sprache zum Opfer gebracht haͤtte,
[82] wenn er uns nur dafuͤr den ganzen Zauber der frem¬
den entfaltet haͤtte. Aber auch die griechiſche Muſe
iſt ſproͤde ſeinen plumpen Zaͤrtlichkeiten ausgewichen.
Wie war es moͤglich, daß er in einem ſteifen, zwang¬
voll zuſammengeſchraubten, ganz unnatuͤrlichem Deutſch
nur eine Spur von ioniſcher Anmuth ausdruͤcken konnte?
Weit entfernt, uns die laͤchelnden Grazien ſeiner
Originale zu zeigen, hat er nicht einmal das naͤchſte
groͤbſte Ziel eines Überſetzers erreicht, die Verſtaͤnd¬
lichkeit. Wol[l]en wir ſeine Überſetzungen verſtehn, ſo
muͤſſen wir das Original zu Rathe ziehn, wir muͤſ¬
ſen ſein Kuͤchendeutſch ins Griechiſche uͤberſetzen, um
nur zu wiſſen, was er ſagen will. Wie kann endlich
bei ihm irgend von einer leichten und richtigen Auf¬
faſſung der innerſten Eigenthuͤmlichkeit eines fremden
Dichters die Rede ſeyn, da er ſie alle uͤber einen
Leiſten ſchlaͤgt. Ob Voß den Heſiod, Homer, Theo¬
krit, Virgil, Ovid, Horaz, Shakſpeare oder ein
altes Minnelied uͤberſetzt, uͤberall hoͤren wir nur das
bockſteife Roß ſeiner Proſa traben, und ſelbſt der
ſtarke Genius Shakſpeare's vermag es nicht um ein
kleines aus dem Takt zu bringen. Man kann den
Überſetzer daran erproben, daß man ihn zwei ganz
entgegengeſetzte Dichter uͤberſetzen laͤßt. Sehn ſie ſich
dann aͤhnlicher, als zuvor, ſo iſt die Überſetzung ge¬
wiß bei beiden untreu, im eigenthuͤmlichen Charakter
verfehlt. Voß hat dieſe Probe gemacht und iſt ſchlecht
beſtanden. Friſch und geſund ſind die guten alten
Dichter in ſeinem Hexenkeſſel untergetaucht, und als
[83] Wechſelbaͤlge wieder zum Vorſchein gekommen. Alle
ſind nun kleine Voſſe geworden, alle gehn in Steif¬
leinen einer wie der andre uniformirt.


Voß war uͤbrigens ſo ſehr in jeder Hinſicht eine
Karrikatur Klopſtock's, daß er auch deſſen beide poe¬
tiſchen Ideen, Vaterland und Religion, nach ſeiner
Weiſe umpraͤgte. Wie ihm die Poeſie in einer mecha¬
niſchen Fertigkeit, Sylben zu ſtechen, beſtand, ſo
ſchrumpfte dieſem engherzigen Mann auch das Vater¬
land in den idylliſchen Familienkreis zuſammen, und
die Religion in eine ſchwarzgalligte altproteſtantiſche
Polemik.


Der dritten und letzten Entwicklung des antiken
Geſchmacks verdankt die deutſche Poeſie ausnehmend
viel. Man drang endlich in den Geiſt des claſſiſchen
Alterthums ein, und bildete daran den eignen Geiſt.
Man bemuͤhte ſich die plaſtiſche Klarheit, die natuͤr¬
liche Grazie und die Feinheit der Griechen auch auf
die deutſche Poeſie uͤberzutragen, dieſe darnach zu
veredeln und zu verfeinern, ohne ihre Eigenthuͤm¬
lichkeit aufzuopfern. Eine Wechſelwirkung, ein wech¬
ſelſeitiger Unterricht der Voͤlker iſt der Zweck ihres
Verkehrs, das Reſultat aller hiſtoriſchen Erinnerun¬
gen. Wenn jedem etwas ganz Eigenthuͤmliches in¬
wohnt, das kein andres nachahmen kann, ſo bildet
doch auch jedes etwas Reinmenſchliches aus, das je¬
des andre ſich aneignen kann. Unter allen Voͤlkern
des Alterthums aber haben die Griechen den unbe¬
ſtrittnen Ruhm der humanſten Bildung. Abgeſehn von
[84] ihren nationellen Beſonderheiten war ihre Verſtandes¬
bildung eine ſo allgemeine, daß alle Voͤlker bei ihnen
in die Schule gehen koͤnnen, und nicht minder ihre
geſellige Kunſtbildung. Die Wahrheit, Natur und
Grazie dieſer Bildung leuchtet allen Voͤlkern als Mu¬
ſter voran. Sie war rein menſchlich, darum iſt es keine
Nachahmung, ſich nach ihnen zu richten, ſondern nur
ein natuͤrliches Beſtreben der menſchlichen Natur, ſo¬
bald ſie ſich ihrer bewußt wird und einige Sicherheit
in dem, was ſie will, erlangt hat. Wir ahmen nicht
die Griechen nach, die Griechen lehren uns nur, wie
wir unſern eignen Verſtand ausbilden, und wie wir
auch in unſer Leben die Grazien einfuͤhren ſollen.


Ohne Zweifel iſt es der plaſtiſche klare Verſtand
und die leichte natuͤrliche Grazie, was uns an den
Griechen zuerſt anziehen muß, was wir uns anzu¬
eignen den lebhafteſten Drang fuͤhlen muͤſſen, wenn
wir nur einigen richtigen Takt, ein geſundes Natur¬
gefuͤhl aus dem Wuſt der mißgeſchaffnen Peruͤcken¬
welt gerettet haben. Darum wandten ſich auch die
erſten Maͤnner, die den beſſern Geſchmack herſtellten,
ſogleich an den Verſtand, an die Grazie Griechen¬
lands. Dieſe Maͤnner waren Leſſing und Wieland.
Man kann in ihnen den Unterſchied der Nord- und
Suͤddeutſchen nicht verkennen.


Leſſing brachte die aberwitzig gewordne deut¬
ſche Poeſie zuerſt wieder zu Verſtand. Er war zwar
weniger Dichter, als Kritiker, aber die Maſſe von
Verſtand, die er in Bezug auf aͤſthetiſche Gegen¬
[85] ſtaͤnde entwickelte, war ein ſolid angelegtes Kapital,
das der Poeſie die fruchtbarſten Zinſen abgetragen.
Alle ſeine Schriften athmen den Geiſt griechiſcher
Klarheit. Er arbeitete ſeine Gedanken mit der Rein¬
heit aus, wie der Grieche ſeinen Marmor. Sein
Styl iſt ganz plaſtiſch, ohne Fehl, ſtreng und doch
fließend, feſt und doch leicht, gleich dem der beſten
Claſſiker. Schon der Form nach ſind ſeine Schriften,
was ſie auch enthalten, muſterhafte Vorbilder. Selbſt
ſeine vielen Schriften uͤber unbedeutende und ganz
unpoetiſche Gegenſtaͤnde zeichnen ſich durch dieſe Klar¬
heit und Schoͤnheit der Form aus. Wenn man Klop¬
ſtock immer nur im Ganzen auffaſſen muß, weil eine
Betrachtung ſeiner Schriften im Einzelnen uns nur
ermuͤdet, ſo muß man Leſſing dagegen immer in der
Naͤhe betrachten. Oft laͤßt uns ſeine ſophiſtiſche Un¬
terſuchung nur einen ſchwachen Eindruck zuruͤck, aber
waͤhrend des Leſens ſind wir durch die geiſtreiche,
klare, feine Darſtellung entzuͤckt. So deutlich Leſ¬
ſing's Styl das Studium der alten Claſſiker verraͤth,
ſo iſt er doch ganz deutſch. Jeder Deutſche kann ſo
denken, ſo reden. Er hat nur den Geiſt der Grie¬
chen ſich angeeignet, nicht ſklaviſch nur den Buchſta¬
ben, wie Voß. Dieſer Styl Leſſing's hat ungemein
vortheilhaft auf die deutſche Literatur gewirkt. Vor
ihm erlaubten ſich die Schriftſteller, beſonders die
Dichter, die durch Gewohnheit gleichſam geheiligte
Weitlaͤuftigkeit und Dunkelheit ohne Scheu. Der
Schwulſt, die Unklarheit und Nachlaͤſſigkeit herrſchten
[86] noch durchgaͤngig. Nach ihm mußte man ſich ſchon
beſtreben, ſich kuͤrzer, deutlicher und geiſtreicher aus¬
zudruͤcken. Beſonders uͤber die ſpaͤtern Dichtungen
verbreitete ſich eine groͤßre Helle. Die Umſtaͤndlich¬
keit wurde laͤſtig und laͤcherlich. Leſſing raͤumte ſcharf,
keck und ein wenig grauſam in der Literatur auf,
wie Napoleon in der Politik. Dem ſchnellkraͤftigſten
Verſtande folgte der Sieg. Nach Leſſing wurde die
ganze deutſche Schriftſtellerwelt kluͤger, beſonnener;
ſie mußte ſich mehr anſtrengen, und gewann dadurch
auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht
mehr in gutmuͤthiger Dummdreiſtigkeit in den Tag
hineinſchreiben, man mußte denken, waͤhlen, feilen.
Erhielt der Verſtand Anfangs vielleicht ein zu großes
Übergewicht, ſo war dies wohl natuͤrlich, da ein
Extrem immer das andre weckt. Im Gegenſatz gegen
den fruͤhern Aberwitz konnte ſich wohl der Verſtand
auf Koſten des Gemuͤths ein wenig uͤberſchaͤtzen. Leſ¬
ſing's Schriften ſelbſt wehen uns ſtatt mit poetiſcher
Waͤrme ſehr oft nur wie ein kalter ſchneidender Nord¬
oſt an, ſeine Sophiſtik erſtickt zuweilen das Gefuͤhl,
und weckt Gedanken in uns, ſtatt Empfindungen, und
ſeine glaͤnzenden Sentenzen und Antitheſen ſtoͤren die
poetiſche Illuſion. Auch eine Menge norddeutſcher
Dichter nach ihm haben zu ſehr dem Verſtande ge¬
huldigt und das Gemuͤth daruͤber vernachlaͤſſigt. Ab¬
geſehn von dieſen Übertreibungen aber war Leſſing's
Wirken hoͤchſt ſegensvoll. Dem Verſtande gebuͤhrt
ſein Recht auch in der Poeſie und er allein kann vor
[87] weinerlicher Empfindſamkeit, vor oͤder Phantaſterie,
und vor Schwulſt und Unfoͤrmlichkeit bewahren.


Leſſing's Wirkſamkeit geht uͤber den Kreis des
antiken Geſchmacks hinaus. Sein univerſelles Genie
war fuͤr die verſchiedenſten Schulen zugleich thaͤtig.
Er hob die deutſche Poeſie gleichſam in ihrem gan¬
zen Umfang aus dem Schlamm ans Licht hervor.
Sein Verſtand durchdrang alles, ſcheidete, reinigte,
bezeichnete die Fehler, die Regeln, den Abweg und
den rechten Weg.


Wieland that in ſeiner Art nicht weniger als
Leſſing, indem er das den Deutſchen angenehm und
leicht machte, was Leſſing ſtreng und oft mit Haͤrte
verlangte. Darum fand er auch eben ſo viele Freunde,
als Leſſing Feinde. Der antike Geiſt, der ſich in
Leſſing gleichſam kriſtalliſirt hatte, floß in Wieland
leicht und behende dahin. Wieland war weniger um
ernſte Strenge beſorgt, er machte ſichs leichter, aber
die Deutſchen bedurften eines ſolchen Lehrers, der ſie
nicht ſo anſtrengte, wie Leſſing. Sein großes un¬
ſterbliches Verdienſt beſtand darin, daß er den Deut¬
ſchen zuerſt einen Begriff von der griechiſchen Grazie
beibrachte und ihnen die alten ſteifen Glieder lenkſam
und beweglich machte.


Die deutſche Poeſie, wohl zur Minnezeit in ei¬
ner heitern leichten Grazie ſich bewegend, war durch
die Meiſterſaͤnger in ſteifleinenes Gewand, nach dem
dreißigjaͤhrigen Kriege in Allongeperuͤcken und Reif¬
roͤcke verſteckt worden, wußte ſchier nicht mehr, wo
[88] ſie die Haͤnde hin thun ſollte, und ſpielte albern mit
dem Faͤcher. Warfen maͤchtige Genien, wie Klop¬
ſtock und Leſſing, dieſen Plunder von ſich und ſchrit¬
ten aus der Menuett heraus, keck ihres eignen Gan¬
ges, ſo mußte doch in ihnen erſt die Kraft ſich ſaͤtti¬
gen, damit andere zur Anmuth zuruͤckkehren konnten,
und die Hauptrichtung ihres Strebens ging auf Hoͤ¬
heres, um ſich vorzugsweiſe damit zu befaſſen. Die¬
ſer Anmuth wieder ihre Staͤtte zu bereiten, bedurfte
es eines eignen genialen Geiſtes, in dem ausſchlie߬
lich dieſe Tendenz ſich offenbarte.


Wieland trat auf, der heitere, liebenswuͤrdige,
feine Wieland, ein in Anmuth, Leichtigkeit, Scherz
und Witz uͤberfließender, unerſchoͤpflicher Genius.
Man muß nothwendig die ganze ſteife, verrenkte, ma¬
nierliche, pathetiſche Zeit kennen, die ihm vorher¬
ging, um den freien Schwung dieſes Genius recht
wuͤrdigen zu koͤnnen, und um zugleich, was wir vom
hoͤhern Standpunkt der heutigen Zeit, zu dem er
uns auf ſeinen Achſeln ſelbſt gehoben hat, etwa an
ihm noch auszuſetzen haͤtten, billig zu entſchuldigen.


Wieland gab der deutſchen Poeſie zuerſt wieder
die Unbefangenheit, den freien Blick des Weltkinds,
die natuͤrliche Grazie, das Beduͤrfniß und die Kraft
des heitern Scherzes. Keck, launig, imponirend,
ſchnitt er die Zoͤpfe der Philiſter herunter, entklei¬
dete die erroͤthende Schoͤnheit des fatalen Reifrocks,
und lehrte die Deutſchen, nicht ſo einſeitig, wie die
fruͤhern ſchaͤferlichen Dichter, nackt in der idealiſchen
[89] Idyllenwelt mit Laͤmmchen zu ſpielen, ſondern in der
Welt, wie ſie iſt, durch Entfernung der Unnatur die
Natur von ſelbſt wieder zu finden, und die entfeſſel¬
ten Glieder in leichter, ſicherer Harmonie zu be¬
wegen.


Sein ganzes Weſen war von jenem Geiſte der
Anmuth, des Frohſinns, der Unbefangenheit und Si¬
cherheit durchdrungen, frei, fein und witzig, leicht,
beweglich und unerſchoͤpflich im Scherz, wie es der
natuͤrliche und geſunde Zuſtand des Lebens ſtets ver¬
langt, und noch mehr dazu aufgefordert durch den
Gegenſatz der zaͤhen und herben Zeit. Darum fand
er auch mit ſicherem Tackt, was die Vorfahren und
andern Voͤlker in liebenswuͤrdiger Grazie auszeich¬
net, allwaͤrts heraus, und gewann leicht die ſchwere
Kunſt, den eigenen Geiſt daran zu verfeinern, der
eigenen Poeſie es einzuhauchen und die Muſterhaf¬
tigkeit deſſelben den Deutſchen klar zu machen. Aber
es war auch faſt nur dieſe Grazie, die er bei ſeinem
großen Studium der alten und fremden Poeſie vor
allem heraushob, als das ihn vorzuͤglich Anſprechende,
ihm vor allen Geltende. Hier iſt er der einzige.


Am ſtaͤrkſten ward Wieland's Genius nach Grie¬
chenland gezogen. Dort fand er alle Ideale ſeiner
Grazie, dort trank er den reinen Trunk des Le¬
bens und der Natur. Nur wenige Geiſter ſind in
jener Heimath des Schoͤnen heimiſch geworden, jeder
auf andere Weiſe. Ein Leben, wie das griechiſche,
iſt zu groß, als daß es ein Geiſt ganz erfaſſen
[90] koͤnnte. Nur ein Daſeyn, in dieſem Leben ſelber em¬
pfangen und genaͤhrt, koͤnnte dazu berechtigen. Wir
aber ſtehn fern jener Welt, und nur einzelnen Wan¬
derern gelingt es, ſie wieder zu finden, aber als
Fremdlinge. Wieland machte die Harmonie und Gra¬
zie, von denen das ganze griechiſche Leben durchdrun¬
gen war, ſeinem Geiſte eigen. Hatte vor Wieland
wohl irgend ein neuer Europaͤer die griechiſche Grazie
erkannt und in ſich aufgenommen? Ehedem deckte
man mit dem Helm und Harniſch, ſpaͤter mit Peruͤ¬
cken und Friſuren, unendlichen Weſten, Manſchetten
und Reifroͤcken den herrlichen Gliederbau, die natuͤr¬
liche Wohlgeſtalt. Was Winkelmann hier fuͤr die
plaſtiſche Kunſt, das that Wieland fuͤr die Dicht¬
kunſt. Er lehrte an dem Muſter der Griechen wie¬
der natuͤrliche Schoͤnheit anerkennen und geſtalten.
Aber ſchwerlich mochte man, wenn es auch unver¬
kennbar iſt, daß er eine der vorſtehendſten Seiten
des griechiſchen Weſens aufgefaßt, doch behaupten
koͤnnen, er habe die Tiefe des griechiſchen Genius
ganz durchdrungen, ſo wenig als die Tiefe der Ro¬
mantik. Die plaſtiſche Schoͤnheit der griechiſchen
Baukunſt und Statuen, der Frohſinn und die Har¬
monie des griechiſchen Lebensgenuſſes, die ſpiegelreine
Glaͤtte der griechiſchen Philoſophie reichten den vol¬
len Bluͤthenuͤberhang ihm uͤber die hohe Mauer der
Zeit heruͤber, aber nur dieſen. Seine griechiſchen
Romane entſprechen daher nur in einem Sinn dem
griechiſchen Genius, und ſind uͤbrigens Produkte
[91] Wieland's und ſeiner Zeit und dieſer eingebuͤrgert,
und auch der franzoͤſiſche Geſchmack hat ſeinen Theil
daran.


Zu den Franzoſen wandte ſich ſein Genius in
eben demſelben urſpruͤnglichen Beduͤrfniß, wie es
Friedrich der Große und andere ſeiner Zeit wohl
fuͤhlten, nur daß der eine es als Philoſoph und Koͤ¬
nig, der andere als Dichter befriedigte. An jenem
Weltſinn, an dem Sinn fuͤr ſichere, klare Behand¬
lung der Umgebung und jedes Verhaͤltniſſes, woraus
zugleich immer die Kunſt derſelben entſpringt, hatten
die Franzoſen uns Deutſche laͤngſt uͤbertroffen. Sie
waren allerdings nach ihrer Weiſe, in einſeitige Ma¬
nier, und ihre Leichtigkeit in Leichtſinn verfallen, aber
im Ganzen ſprach ihre Tendenz jeden kraͤftigen deut¬
ſchen Geiſt an, der wie eine Bluͤthe aus dem Holze
ſchlug. Wieland machte ſich dieſelbe voͤllig zu eigen,
und wenn er einiges von der franzoͤſiſchen Manier
dazu auffaßte, ſo war dies wohl zu uͤberſehen. Im
Ganzen hat er als echter Deutſcher von dieſer Ma¬
nier ſich abgeſtoßen gefuͤhlt, und wirklich iſt keine ſei¬
ner Dichtungen als eine Nachahmung der Franzoſen
zu betrachten. Er fuͤhlte ſich vielmehr zu den Grie¬
chen und Italienern und zu der Ritterpoeſie hinge¬
neigt. Von ſeinen romantiſchen Dichtungen reden
wir ſpaͤter. Auch ſie athmen denſelben Geiſt der at¬
tiſchen Grazie, und ſcheinen nur halb dem Lucian
nachgebildet.


[92]

Spaͤtere Dichter eigneten ſich in noch hoͤherem
Grade die Vorzuͤge der Griechen an. Sie ſchritten
vom Klaren zum Starken, vom Leichten zum Schoͤ¬
nen fort. Herder, Goͤthe, Schiller, die Bruͤ¬
der Schlegel tranken aus dem reinen Quell des
griechiſchen Lebens. So weit griechiſcher Geiſt mit
deutſchem ſich vermaͤhlen kann, iſt er in den Werken
jener Maͤnner enthalten. Duͤrfen wir eine Verglei¬
chung wagen, ſo iſt Herder unſer Plato, Goͤthe un¬
ſer Homer, Schiller unſer Sophokles. Im Allgemei¬
nen hat indeß ioniſche Weichheit und attiſche Fein¬
heit unſern Dichtern und Proſaiſten am meiſten zu¬
geſagt, und Goͤthe erſcheint deßfalls unter allen
neuern den Griechen am verwandteſten. Oder fuͤhlt
ihr nicht die ſanfte ioniſche Luft, wenn ihr ſeinen
Wilhelm Meiſter, ſeinen Taſſo, ſeine Iphigenie lest?
Die ſpiegelhelle Klarheit ſeiner Sprache, die Unmit¬
telbarkeit ſeiner Naturanſchauung iſt ſeit Homer noch
von keinem wieder erreicht worden. Dieſer Zauber
der Form, den wir den Griechen abgelernt, iſt aber
ſo wenig blos in die engen Schranken einer Zeit,
eines Volks und einer Sprache gebannt, daß er ſich
neuern romantiſchen Dichtungen mitgetheilt hat, de¬
ren Tendenz ſehr verſchieden von der antiken Ten¬
denz iſt. Dagegen ſind gerade die kuͤnſtlichen Nach¬
ahmungen des Antiken, z. B. der Trauerſpiele von
Sophokles und Euripides, wie ſie die Franzoſen und
nach ihnen Goͤthe, Schiller, Schlegel und andre ver¬
ſucht haben, nicht das Gelungenſte. Es verdient
[93] Beachtung, daß die anerkannt beſten Nebenbuhler der
griechiſchen Anmuth und Natuͤrlichkeit Romantiker
ſind, und zwar in ihren romantiſchen Darſtellungen,
nicht in ihren abſichtlichen Nachahmungen des Anti¬
ken. Leicht geſellt ſich zu dem vollen, kraͤftigen, tie¬
fen und zarten Gemuͤth der Romantik die edle, freie
und klare Grazie der antiken Form. Darum gelang
es auch den Romantikern leicht, die fremde Goͤttin
in ihren Zauberkreis zu ziehen, und den Zopfgelehr¬
ten und Sylbenſtechern niemals, wenn ſie auch ihre
philologiſchen und mythologiſchen Briefe fuͤr Gevat¬
terbriefe der Athene ſelbſt ausgaben.


Verlaſſen wir nun die antike Schule, um zur
romantiſchen uͤberzugehn. Auf dieſem Wege fin¬
[den] wir eine Schwierigkeit ſeltſamer Art. Man weiß
nicht recht, was eigentlich [unter] dem Romantiſchen
verſtanden werden ſoll. Dieſer Name wird auf die
verſchiedenſte Weiſe gebraucht und gerechtfertigt. Im
Allgemeinen und dem Namen nach verſteht man dar¬
unter die Gattung von Poeſie, die zuerſt im chriſt¬
lichen Mittelalter ihren Urſprung nahm und im Geiſt
deſſelben ſich fortentwickelte. Romantiſch war die
Hierarchie, das Kaiſerthum und die ganze Miſchung
europaͤiſcher Voͤlker aus Deutſchen, Kelten und Roͤ¬
mern ſeit der Voͤlkerwanderung, und romantiſch nennt
man daher auch die Poeſie jener Voͤlker und jener
Zeit. Man hat aber auch die moderne Poeſie unſrer
Zeit mit unter dieſem Namen begriffen, obgleich ſie
der aͤltern des Mittelalters nur noch theilweiſe aͤhn¬
[94] lich iſt. Man hat alles romantiſch genannt, was
nicht antik iſt, und da man unter dem Antiken das
Regelmaͤßige verſtand, das Romantiſche aber das
Unregelmaͤßige, es als eine Art von Naturpoeſie be¬
zeichnet. Man nennt wieder insbeſondere das Wun¬
derbare romantiſch, das Daͤmmernde, das Helldunkel,
und in dieſem Sinne ſpricht man von romantiſchen
Gegenden, Momenten, Stimmungen, Hoffnungen.
Endlich hat man in neueſten Zeiten das Volksthuͤm¬
liche romantiſch zu nennen beliebt, und demzufolge
ſelbſt die alten Griechen in ihrer Art Romantiker
genannt.


Der allgemeine Charakter des Romantiſchen, der
auch allen jenen verſchiednen Anwendungen dieſes
Namens zu Grunde liegt, beſteht allerdings in etwas
Wunderbarem und Geheimnißvollem, das der
klaren Verſtaͤndlichkeit der antiken Poeſie, ſo wie der
modernen entgegenſteht. Dieſes Wunderbare iſt von
religioͤſem Urſprung. Es beruht auf dem Glauben
an das Übernatuͤrliche, Überſinnliche, und haͤngt dar¬
um innig mit dem Chriſtenthum zuſammen. Die an¬
tike Poeſie zog ſelbſt das Wunderbare der Religion
in den Kreis des Natuͤrlichen, die romantiſche machte
ſelbſt aus dem Natuͤrlichen etwas Wunderbares und
Religioͤſes.


Wir bemerken im Allgemeinen eine fuͤnffache
Entwicklung des romantiſchen Geſchmacks in der
neuern Zeit, und in jeder erſcheint dieſes Wunder¬
bare auf eigne Weiſe. Von der echten alten roman¬
[95] tiſchen Poeſie des Mittelalters blieb nach der Re¬
formation nur noch eine Karrikatur uͤbrig. Das re¬
ligioͤſe Wunder war verſchwunden, es gab nur noch
ein profanes, das in Zauberopern, Feenmaͤrchen und
Rittergedichten ſpielte. Daran ſchloſſen ſich ſpaͤter
die Geiſtergeſchichten, endlich die Karfunkelpoeſie
Werner's, die magnetiſchen und diaboliſchen Novellen
Hoffmann's und die Schickſalstragoͤdien. Die ganze
Gattung wird dadurch charakteriſirt, daß ſie das
Wunderbare in den Begebenheiten, in der Wir¬
kung romantiſcher, dunkler Maͤchte auf die Schickſale
der Menſchen ſucht. Sie iſt die groͤbſte Gattung
des Romantiſchen. Der Menſch erſcheint in dieſen
Dichtungen als ein Spielzeug, als eine Puppe der
hoͤhern Macht, und dieſe iſt wieder nur der deus ex
machina
. Dieſe Poeſie verfehlt ihre Wirkung und
wird laͤcherlich, weil ſie allzugrob taͤuſcht und dem
Unglauben alle Waffen des Spottes in die Haͤnde
gibt.


Die zweite Gattung des Romantiſchen entſtand
ein wenig ſpaͤter. Sie ſucht das Wunderbare im
Menſchen, in großen Charakteren, und naͤhert
ſich deßfalls der tragiſchen Kunſt der Griechen. Aber
wenn dieſe ihre Charaktere gleich ihren Statuen in
voͤllig plaſtiſcher Klarheit darſtellen, welches ihnen
immer nur in Bezug auf die Handlungen dieſer Cha¬
raktere, oder auf den Willen derſelben, kurz nur in
ſittlicher Beziehung gelingen kann, ſo ſuchen die Ro¬
mantiker dagegen jene dunklen, geheimnißvollen Tie¬
[96] fen der menſchlichen Natur aufzuſchließen, in denen
die Gemuͤthskraft ihre Wunder wirkt. Darin aber
kommen die Romantiker wieder mit den alten Tra¬
gikern uͤberein, daß ſie die menſchliche Natur ideali¬
ſiren, oder ihren urſpruͤnglichen Adel, ihre Unſchuld,
ihre Groͤße, ihre Genialitaͤt darſtellen.


Die dritte Gattung des Romantiſchen entſtand
noch ſpaͤter erſt mit der Schule Schelling's, obgleich
Jakob Boͤhme ſchon laͤngſt den Weg dazu geoͤffnet
hatte. Sie iſt dadurch charakteriſirt, daß ſie das
Wunder im Weltganzen ſucht, und ſie geht daher
bis zur aͤlteſten Poeſie der Kosmogonien und My¬
thologien zuruͤck. Ihr Weſen beſteht in einer poeti¬
ſchen Anſicht des ganzen Univerſums. Zu den Dich¬
tern dieſer Gattung duͤrfen die meiſten Schuͤler Schel¬
ling's gerechnet werden, vorzuͤglich Goͤrres und Stef¬
fens, obgleich man noch immer nicht anerkennen will,
daß dieſe den Namen von Dichtern verdienen, weil
man immer noch in dem Wahne lebt, die Poeſie
duͤrfe ſich nur mit Theilen, nie mit dem Ganzen,
nur mit dem Kleinen, nie mit dem Groͤßten beſchaͤf¬
tigen. Doch laͤßt man wenigſtens den einſamen No¬
valis fuͤr einen Dichter gelten, als ob er allein dieſe
ganze Gattung ausfuͤllte.


Als eine vierte Gattung des Romantiſchen muͤſ¬
ſen wir noch insbeſondere die katholiſche Poeſie
unterſcheiden, wie ſie nach dem Vorgange Tieck's ſich
auch eine Schule gebildet. Sie iſt als eine Wieder¬
erweckung der echten Poeſie des Mittelalters zu be¬
[97] trachten, ſteht daher aber auch zur uͤbrigen neuern
Poeſie in demſelben Verhaͤltniß, wie die antike Poe¬
ſie. In der ganzen Lebensanſicht einer fernen Vor¬
zeit befangen, hat ſie einen beſchraͤnkten Kreis und
findet beim großen Publikum wenig Eingang.


Endlich gibt es noch eine fuͤnfte Gattung des
Romantiſchen, die immer mehr die wichtigſte zu wer¬
den ſcheint. In vieler Hinſicht duͤrfen wir Herder
als den Begruͤnder derſelben anſehn. Sie ſucht das
romantiſche Wunder in dem Nationellen, in der
eigenthuͤmlichen Natur und Weiſe der Voͤlker. Ihr
Koryphaͤe iſt jetzt Walter Scott.


Wir wollen nun jede dieſer romantiſchen Schu¬
len naͤher ins Auge faſſen. Die erſte ſucht den ro¬
mantiſchen Reiz in wunderbaren Begebenheiten, Aben¬
teuern, Schickſalen. Die Menſchen, die Charaktere
ſpielen hier eine untergeordnete Rolle; glaͤnzende De¬
corationen, uͤberraſchende Maſchinen ſind die Haupt¬
ſachen. Der Menſch gilt nicht durch das, was er
iſt, fuͤhlt, denkt, thut, ſondern nur durch das, was
mit ihm geſchieht. Natuͤrlich ſpielt dieſe Poeſie man¬
nigfaltig in die mittelalterliche Volks- und Sagen¬
poeſie hinuͤber, allein ſie bedient ſich derſelben will¬
kuͤrlich nur als Mittel, ſie entlehnt viele Wunder
aus dem Volksglauben, nur um damit zu ſpielen.
Sie wirft daher auch gern allen Volksglauben durch¬
einander, und miſcht griechiſche Goͤtter, arabiſche
Feen, nordiſche Elfen und chriſtliche Engel und Teu¬
Deutſche Literatur. II. 5[98] fel bunt zuſammen. Dies unterſcheidet ſie weſentlich
von der eigenthuͤmlichen Volks- und Sagenpoeſie,
die ſtreng in ſich beſchloſſen, ihren eigenthuͤmlichen
nationellen Charakter nie verlaͤugnet.


Man kann dieſes Wunderbare auf dreierlei Weiſe
behandeln, auf eine naive, ironiſche oder ſentimen¬
tale, d. h. mit Glauben, Unglauben oder Aberglau¬
ben. Naiv und glaͤubig ſind die Kindermaͤrchen,
von denen wir eine große Anzahl und vorzuͤgliche
Auswahl beſitzen, obgleich ſie wenig beruͤhmt ſind,
und unter andern glaͤnzenden Erſcheinungen der Li¬
teratur ſich verlieren. Tieck iſt der Meiſter in die¬
ſer naiven Gattung. Die gemeinſchaftliche Quelle
dieſer Dichtungen iſt immer der alte Volksglauben,
und hieraus ſchoͤpfen ſie ihre Tendenz, wenn ſie auch
ſonſt durchaus neue Erfindung ſeyn und verſchieden¬
artigen Volksglauben vermiſchen ſollten. Das Pub¬
likum fuͤr ſolche Dichtungen ſind und bleiben die
Kinder und kindliche Menſchen, und der Dichter muß
ſich, wie der Leſer in das unbefangne Jugendalter
zuruͤckverſetzen. Man kann die Produkte dieſer Art
wieder in die bunten, phantaſtiſchen, blos ergoͤtzen¬
den, und in die tiefſinnigen eintheilen, in deren leich¬
tem Spiel ein ſchoͤner Sinn, eine Lehre, ein tiefes
Gefuͤhl geheimnißvoll verborgen liegt. Von der letz¬
ten Art ſind beſonders die Romanzen, die an die
maͤhrchenhaften Novellen ſich anſchließen. Im Allge¬
meinen aber ſind alle modernen Maͤhrchen und Ro¬
manzen, die ſich nicht an einen beſtimmten alterthuͤm¬
[99] lichen Volksglauben halten, oder mit demſelben Hete¬
rogenes und Neues vermiſchen, nicht ſo ruͤhrend und
eindringlich, als was uns das Alterthum ſelbſt als
echte Volkspoeſie aufbehalten hat, oder was neuere
Dichter ſtreng im alten Sinn ausgebildet haben.
Dieſer Unterſchied iſt nicht unwichtig. Zwar wird
die Maͤhrchenwelt ewig ein Volk behalten, bei dem
ſie heimiſch iſt, die Kinder; aber das geheimnißvolle
Band zwiſchen der Kindheit der Nation und ihren
immer ſich verjuͤngenden Kindern darf nicht zerriſſen
werden. Mit den Kindern bluͤhe jene kindliche Poeſie
des Volkes fort. Die modernen, gekuͤnſtelten, aus
allerlei Gelehrſamkeit zuſammengebacknen Maͤhrchen
entbehren des natuͤrlichen Zaubers, des eindringli¬
chen Weſens, des verwandten, gleichſam muͤtterlichen
Tones, der alle alten echten Volksmaͤhrchen ſo be¬
liebt und vertraut macht.


Wundergeſchichten von der ironiſchen Art
haben wir zuerſt aus Spanien, Italien und Frank¬
reich, hauptſaͤchlich von Arioſt entlehnt. Wir beſitzen
deren eine unzaͤhlbare Menge in allerlei Formen, in
Schauſpielen, Heldengedichten, Maͤhrchen, Novellen,
Romanzen. Wieland und Muſaͤus waren die
Koryphaͤen dieſer Dichtungsart. Sieht man auf das
Glaͤnzende, Blendende, Bunte wechſelnder, uͤberra¬
ſchender Wundererſcheinungen, ſo iſt die Oper ihr
eigentlicher Schauplatz. Sieht man auf das komiſche
Spiel des Zufalls, ſo hat hier das komiſche Helden¬
gedicht und das Luſtſpiel ſeine vorzuͤglichſte Weide
5 *[100] gefunden. Auch fuͤr die Satyre gegen den Aberglau
ben bietet ſich kein beſſerer Stoff dar, als das Wun¬
derbare, das man ironiſch behandelt. Schlechter¬
dings verwerflich aber iſt die unglaͤubige, ſpoͤttiſche
Behandlung echter alter Volksmaͤhrchen, wodurch ihr
ganzer Zauber verloren geht. Muſaͤus hat hierin
ſchon gefehlt, Tieck aber die beſte Manier getroffen.
Das Wunderbare iſt wie das Wirkliche ernſt und
heilig oder komiſch und profan, beides in einer hoͤ¬
hern Potenz. So hat Tieck das Heilige in tiefſin¬
nigen, ernſten, romantiſchen Schauſpielen und No¬
vellen, das Komiſche in den luſtigſten und geiſtreich¬
ſten Poſſen von der Welt behandelt. Fuͤr das Trauer¬
ſpiel eignet ſich das Wunderbare der Begebenheiten
nicht, weil hier der Charakter immer vor den Bege¬
benheiten vorherrſchen muß. Aber das Luſtſpiel iſt
ſeine eigentliche Heimath, hier herrſcht der Zufall
unumſchraͤnkt uͤber den Charakter. Die beſten Luſt¬
ſpiele, die es gibt, von Shakſpeare, Gozzi, Tieck
bewegen ſich in dieſem wunderbaren Lande.


In der neueſten Zeit iſt indeß die ſentimentale
und aberglaͤubige Behandlung des Wunderbaren die
herrſchende geworden, und daraus ſind unzaͤhlige
literariſche Mißgeburten entſprungen. Wenn wir uns
an den Gegenſtaͤnden des alten Aberglaubens jetzt
noch poetiſch weiden wollen, koͤnnen wir es nur, in¬
dem wir uns entweder in das naive Kindesalter zu¬
ruͤckverſetzen, oder dieſe Gegenſtaͤnde mit Ironie und
Humor behandeln. Wenn wir aber mit aller Ernſt¬
[101] haftigkeit des erwachsnen Alters, mit allem Pathos
eines vorgeblichen Glaubens und mit ſentimentaler
Schwaͤrmerei den Unſinn behaupten, ſo werden wir
albern, ſtatt poetiſch zu werden. Es iſt dies eine
Krankheit der gegenwaͤrtigen Zeit, die mit vielen
andern Erſcheinungen zuſammenhaͤngt, eine Folge
des hypochondriſchen Stubenſitzens.


Wir unterſcheiden zwei beſondre Gattungen die¬
ſer aberglaͤubigen Poeſie, die eine, die darauf aus¬
geht, zu borniren, die andre, welche ſchrecken und
entſetzen will. Beide kommen aber darin uͤberein,
daß ſie Unſinn fuͤr Sinn ausgeben, und dem albern¬
ſten Aberglauben froͤhnen. Beide ſchildern uns wun¬
derbare Begebenheiten, bewirkt durch unbekannte,
dunkle Wundermaͤchte, die mit den Menſchen ein
willkuͤrliches Spiel treiben. In der erſten Gattung
erſcheinen dieſe dunkeln Maͤchte als myſtiſche, geheime
Clubbs von uͤberirdiſchen, zaubermaͤchtigen Weſen,
und hier ſpielen die Menſchen oder Helden die Rolle
von Schuͤlern, die gepruͤft werden. In der zweiten
Gattung ſind die dunkeln Maͤchte das Schickſal oder
gar der Teufel, und hier ſind die Menſchen Opfer,
deren Qualen den poetiſchen Effekt bewirken ſollen.


Die erſte Gattung war die fruͤhere. Sie ging
aus dem Freimaurerweſen und aus der Wunderſucht
hervor, die in der letzten Haͤlfte des vorigen Jahr¬
hunderts in geheimen Geſellſchaften Myſterien aller
Art ſuchten. Die Neugier hielt das Unmoͤgliche fuͤr
moͤglich, und die naive Dummdreiſtigkeit wollte ſich
[102] auf dem bequemſten Wege der Meiſterſchaft in der
Weisheit bemaͤchtigen, indem ſie ſich zum Mitglied
eines Bundes im Verborgnen aufnehmen ließ. End¬
lich trieb die Eitelkeit großer Kinder in den wirk¬
lichen Geſellſchaften oder durch Vorſpiegelung derſel¬
ben ihr muſſiges Spiel. Wie haͤtte die Literatur ei¬
nem Treiben fremd bleiben ſollen, das in der wirk¬
lichen Welt ſo viel Senſation machte? wie haͤtte be¬
ſonders die poetiſche Literatur ein ſo ergiebiges Thema
nicht behandeln ſollen, da die Wunderſucht einen ſo
poetiſchen Anſtrich hatte? Die Scenen, die Gaßner,
Philadelphia, Woͤllner, die Freimaurer, Roſenkreuzer
und Illuminaten in der Wirklichkeit auffuͤhrten, ſpie¬
gelten ſich in zahlloſen Geſchichten von Geſpenſtern,
Zauberern und myſtiſchen Geſellſchaften. Selbſt aus¬
gezeichnete Dichter ließen etwas von dieſem Wunder¬
weſen in ihren Werken anklingen, halb ernſthaft, halb
ironiſch, ſo Goͤthe im Wilhelm Meiſter und Gro߬
kophta, Schiller im Geiſterſeher, Jean Paul im Ti¬
tan. Jenem Unweſen huldigte auch eine der beruͤhm¬
teſten deutſchen Opern, Mozart's Zauberfloͤte, und
ſie wirkte nicht wenig auf die Liebhaberei des Publi¬
kums an dergleichen Unſinn. Unter den Romanſchrei¬
bern zeichnete ſich in dieſer Gattung vor allen Vul¬
pius aus, deſſen Rinaldini den ganzen Apparat my¬
ſtiſcher Geſellſchaften und uͤberraſchender Zauberſtuͤck¬
chen enthielt, und ein wahres Volksbuch wurde. Den
hoͤchſten Gipfel aber dieſer Poeſie erreichte Werner,
der ſie zur tragiſchen Wuͤrde zu erheben bemuͤht war.


[103]

Werner ſuchte dieſe Erhebung und Veredlung
dadurch zu bewerkſtelligen, daß er die Zaubermaͤchte
oder myſtiſchen Geſellſchaften, von denen die Leitung
und Pruͤfung der Uneingeweihten abhaͤngen ſollte,
geradezu in Delegirte Gottes verwandelte, und das
ganze Wunderweſen unter die religioͤſen Ideen der
Vorſehung und Praͤdeſtination brachte. Dieſer Mann
beſaß poetiſches und noch mehr leidenſchaftliches Feuer,
aber vielleicht ein zu trocknes Gehirn, denn wer mag
laͤugnen, daß es ihm ein wenig angebrannt war.
Rettung ſuchend vor der im Innern ihn verzehren¬
den Gluth warf er ſich in jenes Meer von Gnade,
wo dergleichen arme Suͤnder gewoͤhnlich den irdiſchen
Menſchen ablegen, um den himmliſchen anzuziehn.
In ſeiner tiefen Zerknirſchung galt dem Dichter jetzt
der Wahlſpruch der Frommen:

Eigene Gerechtigkeit

Iſt vor Gott ein ſcheußlich Keid!

in ſeiner ganzen Haͤrte. Er erkannte, daß eigene
That und Tugend eitel ſey, daß der Menſch willen¬
los und blind den Schluß des Verhaͤngniſſes voll¬
ziehe, daß er zu allem ſeinem Thun und Leiden praͤ¬
deſtinirt ſey. Alle ſeine Gedichte verkuͤndigen dieſe
Lehre. Seine Helden werden am Gaͤngelbande des
Verhaͤngniſſes in das helle Reich von «Azur und
Licht» oder in das Dunkle von «Nacht und Gluth»
gefuͤhrt. Eine myſtiſche Geſellſchaft uͤbernimmt die
irdiſche Leitung, und man kann darin ein Analogon
der hierarchiſchen Tribunale nicht verkennen. Jene
[104] Soͤhne des Thals, jene myſtiſchen Alten bilden bald
eine heilige, bald unter einem allerheiligſten Älteſten
ein Inquiſitionsgericht, und dieſer Alte vom Thal
und Berge kann wie der Großinquiſitor in Schillers
Don Carlos von dem Helden der Tragoͤdie jedesmal
ſagen:

Sein Leben

Liegt angefangen und beſchloſſen in

der Santa Caſa heiligen Regiſtern.

Die Helden ſind von Geburt an zu dem beſtimmt,
was ſie thun oder leiden muͤſſen. Die einen ſind
Sonntagskinder, geborne Engel, die nach einigen
Theaterpoſſen, nachdem ſie wie Tamino durchs Feuer
und Waſſer gegangen ſind, wohlbehalten in den ih¬
nen laͤngſt beſtimmten Himmel einziehn. Das Schick¬
ſal ſpielt eine Zeitlang Verſtecken mit ihnen, hier
wird dem Auserwaͤhlten das geheimnißvolle Thal,
dort die myſtiſche Geliebte verborgen, und zuletzt
wird ihnen die Binde von den Augen genommen.
Der Schuͤler wird ein Eingeweihter und der Geliebte
findet ſeine andere Haͤlfte; waͤren die beiden Leute
auch noch ſo weit von einander entfernt, das Schick¬
ſal bringt ſie zuſammen, und ſollten ſich «der Nord¬
pol zum Suͤdpol beugen» muͤſſen.


Da den Helden auf dieſe Weiſe alle Freiheit ge¬
nommen iſt, ſo kann auch dieſe Art von Poeſie nie¬
mals zur tragiſchen Wuͤrde ſich erheben, wie große
Muͤhe Werner ſich auch deßfalls gegeben hat. In¬
deß mangelt es ſeinen Gedichten nicht an religioͤſem
[105] Tiefſinn und an einer gewiſſen Gluth der Andacht,
beſonders in den lyriſchen Stellen, die ihnen außer¬
halb der Buͤhne einen Werth verleihen. Auch hat er
faſt immer nur die Lichtſeite jenes Fatalismus auf¬
gefaßt, ſein einziges vollkommnes Nachtſtuͤck war der
vierundzwanzigſte Februar. In den letzten Jahren
iſt jene erſte Gattung der fataliſtiſchen Poeſie mit
dem ganzen Apparat von myſtiſchen Geſellſchaften und
menſchenbegluͤckenden Zauberbuͤnden im Verborgnen bei¬
nah verſchollen. Man lacht nur noch daruͤber.


Deſto wichtiger iſt die zweite Gattung geworden.
welche denſelben Fatalismus aber von der Nachtſeite
auffaßt. Hier ſind die ſchwarzen daͤmoniſchen Maͤchte
die geheimen Maſchiniſten des Wunderbaren, und man
hat ſie bald mehr in chriſtlichem Sinn als den Teu¬
fel, den Verſucher und Verderber, bald mehr im
antiken Sinn als die Nemeſis oder als die Hekate
und die Furien dargeſtellt, und zwar wieder bald in
Romanen und Novellen, bald in Tragoͤdien. Dort
war Hoffmann, hier iſt Muͤllner der Chorfuͤhrer.
Beide haben unzaͤhlige Nachahmer gefunden und ſind
gegenwaͤrtig noch ſtark in der Mode.


Hoffmann machte leibhaftig mit dem Teufel
ein Buͤndniß, aber nur, um ihn und ſich dadurch in
die Poeſie einzufuͤhren. Dieſen etwas bizarren Ge¬
ſchmack mußte die Originalitaͤt und der fruͤher ſchaa¬
renweis emigrirte, jetzt ſchaarenweis heimkehrende
Aberglaube beſchoͤnigen und zuletzt konnte der Dichter
ſich immer wie in eine unuͤberwindliche Feſtung auf
[106] den Spruch Hamlet's zuruͤckziehen: Unter dem Monde
gibt es noch viel, wovon unſre Philoſophen ſich nichts
traͤumen laſſen. Auch Hoffmann war uͤberſpannt, wie
Werner, und gemuͤthskrank. Seine ganze Poeſie iſt
von dieſer Krankheit angeſteckt, und ihr Gegenſtand
ſelbſt iſt die Krankheit. Er vertiefte ſich in jene
Nachtſeite der Natur, die Schubert wiſſenſchaftlich
dargeſtellt, und malte ſie poetiſch aus. Er machte
den Menſchen zu einem Spielball der in ihm ſelber
ſchlummernden daͤmoniſchen Gewalten, des Wahn¬
ſinns, der Phantasmoraſie, der magnetiſchen und
ſympathetiſchen oder antipathetiſchen Naturkraͤfte. So
unſinnig und unwuͤrdig er indeß ſeine Helden behan¬
delt, indem er ihnen alle Freiheit und Vernunft raubt,
ſo daß ſie ſich oft wie tolle Schafe im Zirkel zu
drehn ſcheinen, ſo kann ihm doch ein großes Talent
in der Schilderung des Grauenhaften und beſonders
der Seelenpein nicht abgeſprochen werden. Der pſy¬
chologiſche Kampf ſeiner Helden, ihr Schwanken zwi¬
ſchen Vernunft und Wahnſinn, Humor und Todes¬
angſt, iſt meiſterhaft dargeſtellt und die Dramatiker
ſollten von ihm lernen, wie vom Hamlet. Damit
verbindet ſich auch ſein muſikaliſches Element; die
Seele ſeines Helden wird von dunkeln uͤbernatuͤrli¬
chen Kraͤften bewegt und im Sturm aller Leidenſchaf¬
ten aufgeruͤhrt, wie eine Äolsharfe. In der Kunſt
der Diſſonanzen und des Schrecklichen kann er mit
Mozart verglichen werden.


[107]

Muͤllner bildete nach dem Vorgang Werner's
die Schickſalstragoͤdie zu jener furchtbaren Kar¬
rikatur aus, in welcher ſie gegenwaͤrtig auf allen
Buͤhnen herumpoltert. Werner's Februar gab den
erſten Anſtoß, Muͤllner's Schuld erreichte den Gipfel
und andre haben dann dieſe Manier in der Breite
weiter um ſich greifen laſſen. Sie reiht ſich unmit¬
telbar an die ſchon geſchilderte Manier Werner's an,
nur daß ſie das Schickſal immer ein feindſeliges, raͤ¬
chendes, zerſtoͤrendes ſeyn laͤßt. Es wird aber noͤthig
ſeyn, dieſe neue Schickſalstragoͤdie von der alten zu
unterſcheiden.


In der antiken Tragoͤdie war das Schickſal, das
eiſerne, unerbittliche, wahrhaft erhaben, furchtbar
und ſchoͤn, wuͤrdig der Idee, die wir vom unerforſch¬
lichen Verhaͤngniß haben ſollen. Es ſtand als ewige
Nothwendigkeit der himmelſtuͤrmenden Freiheit entge¬
gen, und das Maaß ſeiner Erhabenheit lag in der
Kraft und Wuͤrde des Helden. Je freier, groͤßer,
goͤttlicher der Held, deſto maͤchtiger, tiefer, heiliger
die Gewalt, die ihn ſtille ſtehn hieß. Kampf des
Helden gegen das Schickſal war die Grundidee des
Trauerſpiels und das Schickſal, das freilich an ſich
unuͤberwindlich und ewig ſich gleich bleibt, mußte
durch die Staͤrke des Widerſtandes und durch den
Werth ſeines Opfers eine relative Groͤße erhalten,
die einzige, die ihm in der Poeſie zukommt. Im
freien Willen, in der Kraft und im innern Werthe
des Helden lag alſo das Kriterium der Tragoͤdie.
[108] Je groͤßer und wuͤrdiger der Held, deſto gewaltiger
das Schickſal, deſto erhabener der Kampf, deſto edler
die Dichtung. Der Held in ſeinem Widerſtande war
der Maaßſtab des ganzen Gedichts. So hat auch
Schiller das Trauerſpiel aufgefaßt, und es bei den
Deutſchen zu einer Lieblingsdichtung gemacht. Was
iſt aber daraus geworden, als kraͤnkliche Originali¬
taͤtsſucht und moraliſche Impotenz ſich auf Schiller's
Lorbeern weich zu betten gedachten?


Die Helden der neuen Schickſalstragoͤdie ſind wil¬
lenlos, ohne Werth, ohne Wuͤrde. Sie ſind von
der Geburt an in der Gewalt der dunkeln Macht.
Sie begehn ihre ſchauderhaften Unthaten nicht aus
freiem Willen, ſondern aus Vorherbeſtimmung. Ein
Fluch treibt ſie, von einer Ahnfrau ihnen angeboren,
oder angehext von einer Zigeunerin, und ihre Suͤnde,
wie ihre Strafe iſt durch die Sterne ſelbſt mit einer
unabwendbaren Stunde ihres Lebens unzertrennlich
verbunden. Der arme Suͤnder muß freveln, weil
heute gerade der 24ſte oder 29ſte Februar iſt. Nicht
aus Luſt, nicht aus eignem Willen ſuͤndigt er; iſt
eine Luſt in ihm, ſo iſt ſie ihm eben nur angehext,
angeflucht. Ja der Teufel nimmt ſich nicht einmal
die Muͤhe, ihn zu verfuͤhren, er muß ja ſuͤndigen,
wenn die Mitternachtglocke ſchlaͤgt, und der Dolch
iſt der Uhrzeiger, und das Herz, das er durchboh¬
ren ſoll, iſt die verhaͤngnißvolle Zahl; der Zeiger
ruͤckt und das Schreckliche geſchieht. Die Anſicht der
Hexenproceſſe wird geiſtreich, wenn man ſie mit die¬
[109] ſer fataliſtiſchen Anſicht vergleicht. Dort hat doch
der Menſch noch eine freie Wahl, und die dunkle
Macht muß ſich um ihn bewerben. Es gibt einen
heldenmuͤthigen Kampf, wie der Sinframs gegen ſeine
Gefaͤhrten, oder ein ehrliches Pactum, wie zwiſchen
Fauſt und Mephiſtophel. Hier aber hat der Held
weder eine Wahl, noch einen Genuß dabei, und die
dunkle Macht ſelbſt hat nicht das Vergnuͤgen, den
ſtarken Geiſt im Menſchen, ſeine Heldenkraft oder
ſeine Weisheit zu bekaͤmpfen, und nicht den Triumph
eines Sieges, ſondern nur ein geiſtloſes Spiel mit
Puppen. Dem Teufel ſelbſt muͤßte dieſes Spiel, wo¬
bei er nichts zu verfuͤhren, nichts zu uͤberliſten, keine
heilige Kraft zu entweihen, keinen Engel fallen zu
machen, ſondern nur an laͤngſt gelieferten Subjecten
das Henkeramt zu vollziehn haͤtte, ſehr langweilig
vorkommen.


Das Schickſal ſelbſt erſcheint demzufolge hier eben
ſo veraͤndert als der Held. Wie der Held ſeine ur¬
ſpruͤngliche Bedeutung verloren hat, ſo auch das
Schickſal. Es iſt nicht mehr die heilige Nothwendig¬
keit, die blinde Naturgewalt, die ewige Schranke
des allzukuͤhnen Helden, ſondern es iſt eine ſpielende
Willkuͤr geworden. Es iſt nicht mehr erhaben, weil
es keinen Widerſtand mehr findet, ſondern kleinlich,
weil es nur mit Puppen ſpielt. Da es ſelbſt aber
allein handelt, und zwar nach einem willkuͤrlichen
Plan, den es in irgend einem Fluch ausſaͤet, der
Held aber nicht mehr handelt, ſondern ſich paſſiv
[110] verhaͤlt und mit ſich machen laͤßt, was das Schick¬
ſal will, ſo iſt eigentlich das Schickſal ſelbſt der Held
geworden. Wir intereſſiren uns nur noch fuͤr die
Thaten des Schickſals, fuͤr deſſen ſchlaue, liſtige,
grauſame Poſſen, die es mit dem Menſchen ſpielt.
Der Dichter muß daher den Effect ſeiner Tragoͤdie
nicht durch den Charakter des Helden, ſondern durch
den Charakter des Schickſals zu bewirken ſuchen. Der
Effect, der nicht mehr in der Wuͤrde des Helden zu
erreichen iſt, muß in dem kuͤnſtlichen Plan, in der
Sonderbarkeit und Grauſamkeit des Schickſals er¬
reicht werden. Das Schickſal hat nichts mehr zu
thun, als wie die Katze mit der gefangnen Maus
zu ſpielen, und ihr zuletzt den Fang zu geben. Dies
muß nun, wenn es gefaͤllig ſeyn ſoll, auf eine recht
umſtaͤndliche und moͤglichſt grauſame Weiſe geſchehen.
Je tuͤckiſcher ſie mit ihr ſpielt, je laͤnger ſie dem ar¬
men Maͤuschen die toͤdtliche Tatze verbirgt, je kuͤnſt¬
licher die Spruͤnge angelegt ſind, bis endlich die Un¬
gluͤckliche den salto mortale in den aufgeſperrten Ra¬
chen macht, deſto mehr macht das ganze Spiel Effect.
Die Dichter wetteifern daher nicht, den tragiſchen
Helden groͤßer und wuͤrdiger zu behandeln, ſondern
nur die Hinrichtung deſſelben kuͤnſtlicher und marter¬
voller zu verlaͤngern.


Sie waͤhlen daher auch ihre Helden nicht aus
dem Plutarch, ſondern aus den Criminalgeſchichten,
die man dem Buͤrger- und Bauersmann zur War¬
nung in die Kalender ſetzt. Dolch, Gift, Selbſt¬
[111] mord und Blutſchande ſind gleichſam das taͤgliche
Brod dieſer Helden und die Dichter ſind nur verle¬
gen, wie ſie es graͤßlich genug machen ſollen, damit
das Schickſalſpiel noch einigen Reiz der Neuheit ge¬
winne. Schade nur, daß das Gebiet des tragiſchen
Schickſals da beginnt, wo das der Criminaljuſtiz
aufhoͤrt. Die Juſtiz greife dem Dichter, der Dichter
der Juſtiz nicht ins Handwerk. Wenn jener gemeine
Verbrecher abthut, ſo iſt es eben ſo ſchlimm, als
wenn dieſe nach der Äſthetik ſtatt nach dem corpus
juris
richten wollte. Freilich, wem das Schaffot ein
Theater iſt, der macht auch gern aus dem Theater
ein Schaffot.


So unwuͤrdig, ja ſchaͤndlich dieſe Entweihung
der tragiſchen Muſe iſt, ſo haben die Urheber der¬
ſelben doch eines großen Beifalls ſich erfreut, theils,
weil das Publikum immer noch roh und blutduͤrſtig
genug iſt, um ſich an jenen Schlaͤchtereien zu wei¬
den, theils, weil die beliebteſten Stuͤcke darunter
wirklich mit ſchoͤnen Verſen, Sentenzen, Phraſen
und Sentiments ausgeſtattet ſind. Aber der Mi߬
brauch der poetiſchen Form kann nie entſchuldigt wer¬
den, und gerade je ſchoͤner die Formen ſind, deſto
abſcheulicher iſt es, einen ſo unwuͤrdigen Inhalt da¬
mit aufzuputzen. Wie ſehr dieſe Dichter ſich bemuͤ¬
hen, das Gemeinſte im erhabenſten Pathos vorzu¬
tragen, die nichtswuͤrdigſten Verbrecher oder bloße
Schickſalspuppen in Bravour-Monologen zu echten
Helden zu ſtempeln, ſo ſchlaͤgt doch das Gemeine
[112] immer durch alle Phraſen hindurch, und man kann
darauf nur anwenden, was Platon einmal ſagt:
«Wir duͤrfen uns nicht uͤberreden laſſen, noch leiden,
daß ein Gott ſo furchtbare und gottloſe Dinge ver¬
uͤbt habe, wie luͤgenhafte Dichter jetzt von ihm ſagen.
Vielmehr muͤſſen wir die Dichter dazu anhalten, daß
ſie entweder nicht dieſe Handlungen von den Helden
erzaͤhlen, oder daß ſie dieſelben nicht fuͤr Soͤhne der
Goͤtter ausgeben.»


Noch eins find ich an dieſer Gattung von Schick¬
ſalstragoͤdien bemerkenswerth. Sie ſind unnatuͤrlich,
gekuͤnſtelt, forcirt von ihrer Entſtehung an. Sie gehn
nicht aus einem Drange des Gemuͤths hervor, ſon¬
dern aus einer Berechnung des Verſtandes, der et¬
was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es
iſt dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um
Recenſentenlob zu thun. Daher die merkwuͤrdige Er¬
ſcheinung der Selbſtrecenſion ſchon im Stuͤck. Die
Helden reflectiren auf dem Theater ſelbſt in wohlge¬
ſetzten Verſen uͤber ihre tragiſche Bedeutſamkeit und
Originalitaͤt. Der Dichter arbeitet dem Recenſenten
vor, und weist immer auf den Paragraphen ſeiner
Äſthetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬
ruͤhrt werden ſollen, wir ſollen nur das ſtupende Ge¬
nie des Dichters bewundern, analyſiren, kritiſiren.
Wir ſollen nicht ſelbſt tragiſch erſchuͤttert werden,
uns nicht ſelbſt fuͤrchten oder erſchrecken, ſondern
nur einſehn, daß die Tragoͤdie dieſe Wirkung bei
Andern hervorbringen koͤnnte. Und das Parterre iſt
[113] auch damit zufrieden. Unbegreifliche Selbſttaͤuſchung!
Wenn der Zuſchauer nur dem Dichter in die Karten
ſehn kann, ſo begnuͤgt er ſich, ob er gleich das Spiel
ſelbſt verliert. Wenn er nur die Abſicht des Dich¬
ters durchſchaut, vergißt er, daß er von der Wir¬
kung nichts verſpuͤrt. Er prahlt mit den aufgeſchnapp¬
ten aͤſthetiſchen Brocken, wird aus einem Zuſchauer
ein Mitſchuldiger des Dichters und fuͤhlt nicht, daß
er allein den Schaden davon hat.


Das natuͤrliche Wohlgefallen am einfachen Schoͤ¬
nen, das nicht erzielt werden kann, wird durch blen¬
dende Kuͤnſtlichkeit erſetzt. Der Dichter verſteigt ſich
an die aͤußerſten Graͤnzen des Moͤglichen und da ihm
bis dahin kein großer Mann vorangegangen, duͤnkt
er ſich und auch dem rohen Publikum ſelbſt ein gro¬
ßer Mann. Die Poeſie leidet hier an derſelben for¬
cirten Virtuoſitaͤt, wie die Muſik. Der Kuͤnſtler
ſtrebt ſtatt des Schoͤnen das Außerordentliche, ſtatt
der einfachen Mitte der Kunſt ihre aͤußerſten Enden
darzuſtellen, wie der Seiltaͤnzer nicht die hoͤchſte An¬
muth, ſondern nur die hoͤchſte Fertigkeit zeigt.


Die erſte der fuͤnf romantiſchen Dichtungsweiſen
ſucht alſo, wie wir eben betrachtet haben, das Wun¬
derbare in den aͤußern Schickſalen des Menſchen. Die
zweite ſucht es dagegen in den Charakteren. Sie
macht den Menſchen und das innre Wunder ſeiner
Seelengroͤße und Seelenſchoͤnheit zu ihrem Gegen¬
ſtande. Sie verhaͤlt ſich alſo zu der erſtgenannten
[114] Schule wie ihre Gegenſtaͤnde ſelbſt, das heißt wie
Inneres zu Äußerem.


Der Menſch allein iſt ihr Held, und zwar das
an ihm, was urſpruͤnglich ſein eigen iſt, ſein Cha¬
rakter
, und in dieſem wieder das Ideal. Sie
kennt nichts Hoͤhres als den Menſchen und das Goͤtt¬
liche in ihm. Er iſt der Mittelpunkt und Gipfel der
Schoͤpfung. Alles andre dient ihm nur als Folie.
Natur und Geſchichte neigen ſich vor dem Goͤtter¬
ſohn, der ſie beherrſcht. Den Menſchen in der Mitte
und im Hintergrunde die Welt ſtellt uns dieſe Poeſie
das natuͤrlichſte und zugleich erhabenſte Schauſpiel
dar, deſſen ſie faͤhig iſt. Ohne Zweifel iſt die den
Menſchen idealiſirende Romantik die natuͤrlichſte und
zugleich hoͤchſte Poeſie. Es gibt nichts Hoͤheres fuͤr
die poetiſche Darſtellung als die menſchliche Seele
in ihren groͤßten, edelſten und zarteſten Äußerungen.
Wie der Menſch die Krone der Schoͤpfung iſt, ſo
iſt auch die Plaſtik der Alten, welche den menſchli¬
chen Koͤrper idealiſirt, die Krone der antiken, und
die romantiſche Dichtungsart, welche die Seele und
den Charakter des Menſchen idealiſirt, die Krone
der neuern Kunſt.


Dieſe Poeſie iſt wie die hoͤchſte, ſo auch die all¬
gemeinſte, es iſt die Poeſie der Humanitaͤt im Ge¬
genſatz gegen die der Nationalitaͤt. Sie hebt den
Menſchen gleich einem Gott empor aus den bewegen¬
den Schranken der Voͤlker, Staͤnde, Sitten. Sie
ſtellt in ihm das Bild der reinen Menſchlichkeit dar,
[115] in dem alle Zeiten und Voͤlker ſich verſtaͤndigen, denn
nur dieſe Humanitaͤt iſt das hoͤhere Band, das alle
vereinigt. Von jeher waren die groͤßten Dichter die
Propheten dieſer Humanitaͤt und nur dadurch haben
ſie ſich allen Menſchen zu den verſchiedenſten Zeiten
gleich lieb und werth gemacht.


Dieſe Poeſie ſtellt Ideale der menſchlichen Groͤße
und Schoͤnheit als hellleuchtende Muſter auf; ſie
denkt ſich das Vollkommenſte, deſſen die menſchliche
Natur faͤhig iſt, als wirklich erreicht; ſie bringt jede
ſchoͤne Seite der Menſchen zur Erſcheinung, jeden
Keim des Edlen zur Entwicklung. Aber ſie dichtet
nicht nur, was nicht wirklich iſt, ſie nimmt ihre
Bilder auch aus der wirklichen Geſchichte und ver¬
ewigt die Helden, die eine hoͤhere Natur in ſich aus¬
geboren, die Schranken der Gemeinheit durchbrochen,
und die Menſchheit weiter gefuͤhrt haben. Hier ge¬
raͤth aber dieſe Poeſie zwiſchen eine Scylla und Cha¬
rybdis, welche viele Dichter nicht zu vermeiden ge¬
wußt haben. Das Idealiſiren erdichteter Perſonen
fuͤhrt leicht von der Natur ab ins abſtracte Philoſo¬
phiren und Moraliſiren. Statt eines Menſchen gibt
uns der Dichter nur ein trocknes angewandtes Tu¬
gendſyſtem. Sein Held handelt nicht mehr wie ein
Menſch, ſondern wie eine moraliſche Maſchine, und
handelt nicht frei nach ſeinem edlen Naturtrieb und
freien Willen, ſondern ſklaviſch und mechaniſch nach
feſtgeſetzten Begriffen. Auf der andern Seite fuͤhren
die hiſtoriſchen Helden, die man aus der Wirklichkeit
[116] entlehnt, wieder vom Ideal ab, und man verwech¬
ſelt leicht die gemeine irdiſche Groͤße mit der innern
Wuͤrde und Humanitaͤt des Charakters.


Weil alle Groͤße und Schoͤnheit der menſchlichen
Seele ſich in Handlungen offenbaren muß, ſo iſt dieſe
idealiſirende Poeſie vorzugsweiſe dramatiſch, und weil
jene Groͤße ſich im Kampf, jene Schoͤnheit ſich im
Gegenſatz am glaͤnzendſten offenbart, ſo iſt dieſe Poeſie
wieder vorzugsweiſe tragiſch.


Schon vor Leſſing ſuchte man in Trauerſpielen
eine edle und große Menſchlichkeit zu offenbaren, doch
fielen die Verſuche etwas ſteif moraliſch aus. Man
gab weniger Menſchen, als abſtracte Tugendhelden
und was den Menſchen an wunderbarem Reize inne¬
rer Schoͤnheit fehlte, ſuchte man durch wunderbare
Begebenheiten zu erſetzen. Erſt Leſſing ſchilderte na¬
tuͤrliche ſchoͤne Menſchen, und man thut ihn wohl
Unrecht, wenn man ſich durch das aͤußere Kleid ſei¬
ner Perſonen verfuͤhren laͤßt, ihr innres Weſen min¬
der natuͤrlich, mehr abgemeſſen und begriffsmaͤßig zu
finden. Seine tragiſchen Perſonen ſind ſehr wahr
und natuͤrlich und handeln ſo, wenn ſie auch etwas
zu verſtaͤndig reden. Goͤthe befreite die idealiſirende
Muſe von aller fruͤhern moraliſchen Steifigkeit und
zeigte zuerſt, wie man die Natur natuͤrlich malen
muͤſſe, ſey es die gemeine oder die ideale. Nur ſtand
ihm das Gemeine naͤher, als das Ideale. Wenn
uns in ſeinen Dichtungen uͤberall die Natur entzuͤckt,
ſo doch nur ſelten die reine, ſittliche und erhabene
[117] Natur. Seine Helden haben alle etwas von der ge¬
meinen modernen Natur, das ſie von aͤchten Idealen
rein menſchlicher Schoͤnheit und Groͤße unterſcheidet.
Verſteigen ſie ſich in die hoͤchſten Regionen des Ed¬
len, ſo ſind ſie doch mehr im Leiden, Empfangen,
Genießen und Verlaſſen, als im Thun, Geben und
Feſthalten deſſelben ausgezeichnet. Aus welcher ro¬
mantiſchen Vorzeit auch ihr Coſtuͤm entlehnt iſt, es
ſind doch nur Copien der heutigen Helden, die ſehr
entfernt von Idealen ſind. Wir muͤſſen alſo Goͤthe
ganz aus dieſer Klaſſe verweiſen und werden ihn als
den Chorfuͤhrer und Koͤnig der modernen Poeſie wie¬
derfinden.


Der groͤßte unter den poetiſchen Idealiſten war
Schiller. Er fuͤhrte das Ideal zur Natur zuruͤck,
wie Goͤthe, aber er ſteigerte zugleich die Natur zum
Ideal. Seine Helden waren im romantiſchen Sinn
vollkommen das, was die Goͤtter der griechiſchen
Plaſtik im antiken Sinn, goͤttliche Menſchen, menſch¬
liche Goͤtter.


Schiller hat ſeine ganze poetiſche Kraft in die
Darſtellung des Menſchen, und zwar des Ideals
menſchlicher Seelengroͤße und Seelenſchoͤnheit, des
hoͤchſten und geheimnißvollſten aller Wunder zuſam¬
mengedraͤngt. Die aͤußere Welt galt ihm uͤberall
nur als Folie, als Gegenſatz oder Gleichniß fuͤr den
Menſchen. Der blinden Naturgewalt ſtellt er die
ſittliche Kraft des Menſchen gegenuͤber, um dieſe in
[118] ihrem hoͤhern Adel oder kaͤmpfend in ihrer ſiegenden
Staͤrke zu zeigen, ſo im Taucher, in der Buͤrgſchaft;
oder er legt einen menſchlichen Sinn in die Natur,
und giebt ihren blinden Kraͤften eine ſittliche Bedeu¬
tung, ſo in den Goͤttern Griechenlands, in der Klage
der Ceres, in Hero und Leander, den Kranichen des
Ibikus, der Glocke ꝛc. Selbſt in ſeinen hiſtoriſchen
Schriften iſt es ihm weniger um den epiſchen, der
Naturnothwendigkeit entſprechenden Gang des Gan¬
zen zu thun, als um die hervorſtehenden Charaktere,
das Element der menſchlichen Freiheit im Gegenſatz
gegen jene Nothwendigkeit.


Die Seele aller Schoͤpfungen Schillers ſind ſeine
idealen Menſchen. Er ſchildert uͤberall nur den Men¬
ſchen, aber in ſeiner hoͤchſten ſittlichen Schoͤnheit und
Erhabenheit. Es fiel ihm ſogar beinahe unmoͤglich,
einer Poeſie, welche den Menſchen nicht idealiſirt,
dieſen Ehrennamen zu geben. Wenn uns Schiller
aber auch Ideale der Sittlichkeit ſchilderte, ſo wuͤrde
dieß zunaͤchſt nur ſeiner eignen Sittlichkeit zur Ehre
gereichen, jedoch nichts fuͤr ſeinen poetiſchen Werth
entſcheiden. Im Gegentheil ſind die meiſten fruͤhern
und ſpaͤtern Tugenddichter große Suͤnder gegen die
Poeſie geweſen, und es iſt eben ſo ſchwer, eine edle
Menſchennatur zu ſchildern, als zu beſitzen, aber
nichts leichter, als die Anmaßung von beidem. Wenn
Ideale der Sittlichkeit in einer Perſon dargeſtellt
werden ſollen, ſo muß verlangt werden, daß die
[119] Natuͤrlichkeit nicht darunter leide. Es iſt eben ſo
fehlerhaft, wenn eine unnatuͤrliche und unwahre, da¬
her auch unpoetiſche Darſtellung ſich durch die Mo¬
ralitaͤt des Gegenſtandes zu rechtfertigen ſuchen muß,
als wenn die Immoralitaͤt des Gegenſtandes ſich hin¬
ter der Natuͤrlichkeit und Anmuth der Darſtellung
verſteckt. Die meiſten Dichter gleichen indeß wirklich
den ſchlechten Heiligenmalern, die auch dem wider¬
lichſten Zerrbilde noch eine Verehrung verſchaffen,
wenn es nur eine Heilige bedeuten ſoll; nur wenige
gleichen einem Raphael, deſſen Heilige wirklich Hei¬
lige ſind, deſſen Kunſt die Heiligkeit des Gegenſtan¬
des erreicht. Unter dieſen wenigen aber ſteht Schil¬
ler oben an. Selbſt in ſeinen erſten Jugendproduk¬
ten traͤgt die innere Naturwahrheit ſchon uͤber die ſo
oft darin getadelte Unnatur den Sieg davon, die
eben deßhalb in ſeinen ſpaͤtern Dichtungen nicht mehr
vorkommt. Wir beſitzen große Dichter, die andere
Schoͤnheiten, als ſittliche, dargeſtellt haben, die im
Talent der Darſtellung unſerm Schiller vielleicht
uͤberlegen waren, aber keiner hat das Intereſſe der
Tugend und der Poeſie dergeſtalt zu vereinigen ge¬
wußt, wie Schiller. Wir beſitzen keine Darſtellung
der Tugend, die poetiſcher, keinen Dichter, der tu¬
gendhafter waͤre.


In Schillers Idealen tritt uns kein todtes me¬
chaniſches Geſetz, keine Theorie, kein trocknes Mo¬
ralſyſtem, ſondern eine lebendige organiſche Natur,
ein reges Leben handelnder Menſchen entgegen. Dieſe
[120] ideale Natur iſt die Schoͤpfung des Genius. Schil¬
ler ſelbſt ſagt:


Wiederholen kann der Verſtand, was da ſchon

geweſen,

Du nur, Genius, mehrſt in der Natur die Natur.

Der Genius entwickelt aus innerer Tiefe die
hoͤhere Menſchennatur. In ihr kommt zur vollen
gluͤhenden Bluͤthe, was in andern nur in den Wur¬
zeln unter der irdiſchen Decke ſchlummert. Das iſt
das gewaltig uͤberraſchende Wunder in der Geſchichte
der Menſchen, daß unter ihnen immer neue Naturen
geboren werden, die Niemand voraus berechnet, auf
die kein hergebrachter Maaßſtab paßt, mit denen
uns vielmehr die Welt ſelbſt in einer neuen An¬
ſchauung wiedergeboren wird, die uns das alte ge¬
wohnte Daſeyn in einem neuen Lichte, die alte Na¬
tur in einer hoͤhern Entwicklung zeigen, und in uns
ſelbſt das verborgene Geheimniß aufſchließen, den
traͤumenden Keim zum Lichte wecken, Neigungen,
Kenntniſſe, Tugenden, Talente in uns entwickeln,
uns bereichern, veredlen, erheben, und uns mit ei¬
nem Wort die ganze innere und aͤuſſere Natur im
Wiederſchein der ihrigen auf einer hoͤhern Stufe, in
einem neuen Zauberſchein enthuͤllen. Dieſe neue
hoͤhere Dichternatur iſt ſeine poetiſche Welt, und
der Wunder groͤßtes iſt, daß dieſe poetiſchen Welten
ſo mannigfaltig eigenthuͤmlich ſind. Groͤßer als die
Welt ſelbſt ſind die Welten, die in ihr wieder ge¬
boren werden. Die eine Natur bluͤht in tauſend Na¬
[121] turen aus, die immer reicher, wunderbarer, ſchoͤner
zarter ſich geſtalten. Dieſe Wiedergeburt iſt das
Werk des Genius. Jeder große Genius iſt eine ſelt¬
ſame Blume, nur in einem Exemplar vorhanden,
ganz eigenthuͤmlich an Geſtalt, Duft und Farbe.
Die innere Trieb- und Lebenskraft einer ſolchen Gei¬
ſtesblume iſt ein Geheimniß, von ſelbſt erzeugt, von
niemand zu entraͤthſeln. Wer hat noch den Blumen¬
geiſt oder den Duft der Bluͤthen erklaͤrt, der in die¬
ſer ſo, in jener anders iſt? Wer hat den Reiz er¬
klaͤrt, der uns in Raphaels Bildern ſo ganz eigen¬
thuͤmlich anſpricht, und wer den geiſtigen Hauch und
Duft, den innern Seelenreiz in Schillers Charakte¬
ren? Hier kann keine Definition des Verſtandes et¬
was ausrichten; nur durch Vergleichung koͤnnen wir
das Gefuͤhl naͤher beſtimmen.


Raphaels Name hat ſich mir unwillkuͤrlich auf¬
gedraͤngt, und es iſt unverkennbar, daß uͤber Schil¬
lers Dichtungen der Geiſt einer ſittlichen Schoͤn¬
heit
ſchwebt, wie uͤber den Bildern Raphaels der
Geiſt ſinnlicher Schoͤnheit. Das Sittliche tritt im
Werden und Leben der Geſchichte hervor, und Hand¬
lung, Kampf iſt ſeine Bedingung; das Sinnliche iſt
wie die Natur im Großen, in einem ruhigen Da¬
ſeyn befangen.


So muͤſſen Schillers Ideale ſich im Kampfe
aͤußern, die von Raphael in ſanfter und erhabener
Ruhe. Schillers Genius mußte das Amt des kriege¬
riſchen Engels Michael nicht ſcheuen, Raphaels Ge¬
Deutſche Literatur. II. 6[122] nius war nur der ſanfte Engel, der ſeinen Namen
traͤgt. Jener originelle, unerklaͤrbare Reiz aber, der
himmliſche Zauber, der Abglanz einer hoͤhern Welt,
der in den Angeſichtern Raphaels liegt, liegt in den
Charakteren Schillers. Kein Maler hat das menſch¬
liche Antlitz, kein Dichter die menſchliche Seele in
dieſer Anmuth und Majeſtaͤt der Schoͤnheit darzu¬
ſtellen gewußt. Und wie Raphaels Genius ſich gleich
bleibt, und jener lichte, friedenbringende Engel in
vielnamigen Erſcheinungen uns immer in derſelben
Ruhe und Verklaͤrung entgegenblickt, ſo bleibt auch
Schillers Genius ſich gleich, und wir ſehen denſelben
kriegeriſchen Engel in Karl Moor, Amalien, Ferdi¬
nand, Louiſen, Marquis Poſa, Max Piccolomini,
Thekla, Maria Stuart, Mortimer, Johanna von
Orleans, Wilhelm Tell. Jener Genius traͤgt die
Palme, dieſer das Schwert. Jener ruht im Bewußt¬
ſeyn eines nie zu ſtoͤrenden Friedens, in ſeiner eige¬
nen Herrlichkeit verſunken; dieſer wendet das ſchoͤne,
engelreine Antlitz drohend und wehmuͤthig gegen die
Ungeheuer der Tiefe.


Die Helden Schillers ſind durch einen Adel der
Natur ausgezeichnet, der unmittelbar als reine, vol¬
lendete Schoͤnheit wirkt, wie jener Adel in den Bil¬
dern Raphaels. Es iſt etwas Koͤnigliches in denſel¬
ben, welches unmittelbar heilige Ehrfurcht erweckt.
Dieſer Strahl eines hoͤhern Lichts muß aber, in die
dunkeln Schatten irdiſcher Verderbniß geworfen, nur
[123] um ſo heller leuchten; unter den Larven der Hoͤlle
wird der Engel ſchoͤner.


Dieſer Schoͤnheit erſtes Geheimniß iſt die engel¬
reine Unſchuld, die ewig in den edelſten Naturen
wohnt. Dieſer Adel der Unſchuld kehrt in denſelben
himmliſchen Zuͤgen eines reinen jugendlichen Engels
in allen großen Dichtungen Schiller's wieder. In
der lichteſten Verklaͤrung, als reine Kindlichkeit, voͤl¬
lig waffenlos und dennoch unantaſtbar, gleich jenem
Koͤnigskinde, welches, nach der Sage, unter den wil¬
den Thieren des Waldes unverletzt und laͤchelnd
ſpielte, erſcheint dieſe Unſchuld in dem herrlichen
Bilde Fridolins.


Wird ſie des eigenen Gluͤckes ſich bewußt, ſo
weckt ſie den Neid der himmliſchen Maͤchte. In die¬
ſem neuen ruͤhrenden Reiz erblicken wir ſie bei Hero
und Leander. Mit dem kriegeriſchen Helme geſchmuͤckt,
vom Feuer edler Leidenſchaft die bluͤhende Wange
geroͤthet, tritt die jugendliche Unſchuld allen dunkeln
Maͤchten der Hoͤlle gegenuͤber. So hat Schiller im
Taucher und in der Buͤrgſchaft ſie geſchildert, und in
jenen ungluͤcklich Liebenden, Karl Moor und Amalien,
Ferdinand und Louiſen, vor allem in Max Piccolo¬
mini und Thekla. Über dieſen ruͤhrenden Geſtalten
ſchwebt ein Zauber der Poeſie, der ſeines gleichen
nicht hat. Es iſt ein Floͤtenton in wilder, kreiſchen¬
der Muſik, ein blauer Himmelsblick im Ungewitter,
ein Paradies am Abgrund eines Kraters.


6 *[124]

Wenn Shakeſpeare's Gebilde in noch feinerem Li¬
lienſchmelz hingezaubert ſcheinen, ſo behaupten doch
Schiller's Jungfrauen den Vorzug jener Seele in
der Lilie, des kraftvollen, lebendigen Duftes, und
hierin ſtehen ſie den Dichtungen des Sophokles naͤ¬
her. Sie ſind nicht weich, wie die Heiligen des Carlo
Dolce oder Correggio, ſie tragen ein heiliges Feuer
der Kraft in ſich, wie die Madonnen des Raphael.
Sie ruͤhren uns nicht allein, ſie begeiſtern uns.


Die heilige Unſchuld der Jungfrau tritt aber
am herrlichſten hervor, wenn ſie zur Streiterin Got¬
tes auserſehn wird. Es iſt das tiefe Geheimniß des
Chriſtenthums und der chriſtlichen Poeſie, daß das
Heil der Welt von einer reinen Jungfrau ausgeht,
die hoͤchſte Kraft von der reinſten Unſchuld. In die¬
ſem Sinne hat Schiller ſeine Jungfrau von Orleans
gedichtet, und ſie iſt die vollendetſte Erſcheinung je¬
nes kriegeriſchen Engels, der den Helm traͤgt und
die Fahne des Himmels.


Wieder in andrer Weiſe hat Schiller dieſe Un¬
ſchuld mit jeder herrlichen Entfaltung echter Maͤnn¬
lichkeit zu paaren gewußt. Hier ragen vor allen
drei heilige Heldengeſtalten hervor, jener kriegeriſche
Juͤngling Max Piccolomini, rein, unverdorben unter
allen Laſtern des Lagers und des Hauſes; Marquis
Poſa, deſſen Geiſt mit jeder intellektuellen Bildung
ausgeruͤſtet, ein reiner Tempel der Unſchuld geblie¬
ben; endlich jener kraͤftige, ſchlichte Sohn der Berge,
[125] Wilhelm Tell, in ſeiner Art das vollendete Seiten¬
ſtuͤck zur Jungfrau von Orleans.


Wenn hier uͤberall die Unſchuld in ihrer reinſten
Glorie hervortritt, ſo kannte Schiller doch auch jenen
Kampf einer urſpruͤnglichen Unſchuld mit der Be¬
fleckung eigner Schuld durch große Leidenſchaften,
und er hat ihn mit gleicher Liebe und mit derſelben
vollendeten Kunſt uns vor die Seele gezaubert. Wie
tief ergreift uns jenes Magdalenenhafte in Maria
Stuart! Was kann ruͤhrender ſeyn, als die Selbſt¬
uͤberwindung Karl Moor's! Wie unuͤbertrefflich geiſt¬
reich, wahr, erſchuͤtternd iſt der Kampf in Fiesko's
und Wallenſteins großen Seelen dargeſtellt!


Wir wenden uns zu einem zweiten Geheimniß
der Schoͤnheit in den, idealen Naturen Schiller's.
Dies iſt das Adelige, die Ehrenhaftigkeit. Seine
Helden und Heldinnen verlaͤugnen den Stolz und die
Wuͤrde niemals, die eine hoͤhere Natur beurkunden,
und alle ihre Äußerungen tragen den Stempel der
Großmuth und des angebornen Adels. Ihr reiner
Gegenſatz iſt das Gemeine, und jene Convenienz,
welche der gemeinen Natur zum Zaum und Gaͤngel¬
bande dient. Kraͤftig, frei, ſelbſtſtaͤndig, originell,
nur dem Zuge der edlen Natur folgend, zerreißen
Schiller's Helden die Gewebe, darin gemeine Men¬
ſchen ihr alltaͤgliches Daſeyn hinſchleppen. Es iſt
hoͤchſt bezeichnend fuͤr die Poeſie Schiller's, daß alle
ſeine Helden jenes Gepraͤge des Genies, das impo¬
nirende Weſen an ſich tragen, das auch im wirklichen
[126] Leben den hoͤchſten Adel der menſchlichen Natur zu
begleiten pflegt. Alle ſeine Helden tragen das Sie¬
gel des Zeus auf der Stirne. In ſeinen erſten Ge¬
dichten mochte man dieſes freie, kuͤhne Geberden wohl
etwas ungeſchlacht und eckigt finden, und der Dich¬
ter ſelbſt ließ ſich im eleganten Weimar verleiten,
ſeinen Raͤuber ein wenig zu civiliſiren. Wer ſollte
jedoch nicht durch eine rauhe Huͤlle in den feſten,
reinen Demantkern der edlern Natur hindurchſchauen?
Welche Thorheiten man in Karl Moor, auch in Ka¬
bale und Liebe und im Fiesko finden mag, ich kann
ſie nicht anders betrachten, als die Thorheiten jenes
altdeutſchen Parcifal, der als roher Knabe noch im
kindiſchen Kleide zur Beſchaͤmung aller Spoͤtter ſein
adeliges Heldenherz erprobte; ja die Gewalt ſittli¬
cher Schoͤnheit in einer edlen Natur kann wohl nir¬
gends ruͤhrender und ergreifender wirken, als wo
ſie ſo unbewußt der einſeitigen Verſpottung bloßge¬
ſtellt iſt.


Das dritte und hoͤchſte Geheimniß der Schoͤn¬
heit in den Naturen Schiller's iſt das Feuer edler
Leidenſchaften
. Von dieſem Feuer iſt jedes große
Herz ergriffen; es iſt das Opferfeuer fuͤr die himm¬
liſchen Maͤchte, die veſtaliſche Flamme, von den Ge¬
weihten im Tempel Gottes gehuͤtet, der Prometheus-
Funke, vom Himmel entwandt, um den Menſchen
eine goͤttliche Seele zu geben, das Pfingſtfeuer
der Begeiſterung, in welchem die Seelen getauft
werden; das Phoͤnixfeuer, worin unſer Geſchlecht
[127] ſich ewig neu verjuͤngt. Ohne die Gluth edler Lei¬
denſchaften kann nichts Großes gedeihen im Leben
und im Gedichte. Jeder Genius traͤgt dieſes himm¬
liſche Feuer, und alle ſeine Schoͤpfungen ſind davon
durchdrungen. Schiller's Poeſie iſt ein ſtarker und
feuriger Wein; alle ſeine Worte ſind Flammen der
edelſten Empfindung. Die Ideale, die er uns ge¬
ſchaffen, ſind echte Kinder ſeines gluͤhenden Herzens,
und getheilte Strahlen ſeines eigenen Feuers. Vor
allen Dichtern behauptet Schiller aber den Vorzug
der reinſten und zugleich der ſtaͤrkſten Leidenſchaft.
Keiner von ſo reinem Herzen trug dieſes Feuer, kei¬
ner von ſolchem Feuer beſaß dieſe Reinheit. So
ſehn wir den reinſten unter den irdiſchen Stoffen,
den Diamant, wenn er entzuͤndet wird, auch in ei¬
nem Glanz und einer innern Gluthkraft brennen, ge¬
gen die jedes andre Feuer matt und truͤb erſcheint.


Fragen wir uns, ob es eine keuſchere, heiligere
Liebe geben mag, als ſie Schiller empfunden, und
ſeinen Liebenden in die Seele gehaucht? Und wo
finden wir ſie wieder ſo feurig und gewaltig, un¬
uͤberwindlich gegen eine Welt voll Feinde, die hoͤchſte
Seelenſtaͤrke weckend, die ungeheuerſten Opfer freu¬
dig duldend? Von ihrem ſanfteſten Reiz, vom erſten
Begegnen des Auges, vom erſten leiſen Herzſchlag
bis zum erſchuͤtternden Sturm aller Gefuͤhle, bis zur
uͤberraſchenden Heldenthat des jungfraͤulichen Mu¬
thes, bis zum erhabenen Opfertod der Liebenden ent¬
faltet die Liebe hier den unermeßlichen Reichthum
[128] ihrer Schoͤnheit, wie eine heilige Muſik, vom weich¬
ſten Mollton bis zum vollen Sturm der gewaltigſten
Klaͤnge, immer aber nur in reinen Accorden.


Die Gluth des begeiſterten Herzens erfaßt bei
Schiller jedes Heilige, das der Menſchheit gelten
ſoll, und hier waffnet ſich ſein Genius mit dem Flam¬
menſchwert des Himmels; hier wird der Kampf je¬
nes kriegeriſchen Engels mit den Geiſtern der Tiefe
begonnen.


Schiller's reine Seele konnte kein Unrecht er¬
tragen, und er tritt geharniſcht in die Schranken
fuͤr das ewige Recht. Ein begeiſterter Prophet ver¬
kuͤndet er die heilige Lehre jenes Segens, der im
Rechte wohnt, und jenes Unheils, welches unaus¬
bleiblich dem Unrecht folgt. Die Wahrheit ſeines
durchdringenden Urtheils aber wird durch die Gluth
der Empfindung und durch den blendenden Schmuck
der Rede nie getruͤbt, ſondern immer nur glaͤnzend
und ſchlagend hervorgehoben.


Die Freiheit, die vom Recht unzertrennlich
iſt, war ſeinem Herzen das theuerſte Kleinod. Doch
jene ungezuͤgelte Freiheit, die vom Unrecht ausgeht,
und zum Unrecht fuͤhrt, gehoͤrt unter die daͤmoniſchen
Gewalten, die ſein Genius kraͤftig bekaͤmpft.


Wir beſitzen keinen Dichter, der Recht und Frei¬
heit mit ſo feuriger Begeiſterung, mit ſo ſchoͤnem
Schmuck der Poeſie, aber auch keinen, der ſie mit
ſo reiner unbeſtochener Geſinnung, mit ſo triumphi¬
[129] render Wahrheit, jedes Extrem vermeidend, darge¬
ſtellt hat.


Sein Genius gehoͤrt der Menſchheit an. Die
Rechte der Menſchheit, vom hoͤchſten Standpunkt
aus betrachtet, vertritt ſein Marquis Poſa. Fuͤr
die Rechte der Voͤlker tritt die Jungfrau von Or¬
leans in die Schranken; das Recht der Einzelnen
behauptet Wilhelm Tell. Aber auch in allen ſeinen
uͤbrigen Helden ſehn wir Recht und Freiheit mit
Willkuͤr und Gewalt im Kampf, und Schiller offen¬
bart hier denſelben Reichthum des Genie's, wie in
der Liebe.


Dieſes mag hinreichen, ſo weit es wenige Grund¬
zuͤge vermoͤgen, den Geiſt in Schiller's Poeſie uns
zu vergegenwaͤrtigen. Mehr als was hier geſagt
werden kann, ſagt jedem, der Schiller kennt, ſein
Gefuͤhl.


Und dieſes Gefuͤhl wird nimmer verloren gehn,
und kommende Geſchlechter und ferne Zeiten werden
es theilen; und dieſen wird es vielleicht vergoͤnnt
ſeyn, die Groͤße Schiller's noch reiner und wuͤrdi¬
ger zu erkennen, denn der Zukunft gehoͤrt ſein Stre¬
ben, einer freieren und edleren Zukunft, die ſeine
heilige Sehnſucht und ſein feſter Glauben an die
Menſchheit vorausgeſehn, zu welcher er uns voran¬
geeilt, aus welcher ſein Genius mit gluͤcklicher Ver¬
heißung uns winkt. Sind viele hinabgeſtiegen in die
dunkle Vergangenheit, den Geiſt der Menſchheit in
die alten Feſſeln zu ſchlagen; Schiller hat, ein lieb¬
[130] ter Engel, an die Pforte der Zukunft ſich geſtellt,
ihren Schleier geluͤftet, und dem ſehnenden Auge
eine freie, heitere Ausſicht aufgethan.


Die ernſte, feierliche Stimmung, von welcher
wir bei Schiller ergriffen werden, die Erhebung, zu
der er unſre Seele zwingt, die heiligen Schauer, die
ihn umgeben, ſind freilich nicht geeignet, den aͤſtheti¬
ſchen Kleinmeiſtern zu gefallen, den faden, ſuͤffiſan¬
ten, luͤſternen Kunſtjuͤngern, die in der Seele vor
ihm erſchrecken, und ihn aus geheimer Rache bekrit¬
teln. Schnell iſt man damit fertig, ihn unnatuͤrlich,
ſteif, pedantiſch, grob zu nennen, und ihn fuͤr einen
Dichter der ungezogenen Jugend und des Poͤbels zu
verſchreien. Freilich, euch iſt alles Große und Herr¬
liche unnatuͤrlich geworden, weil ihr im Grund ver¬
dorben ſeyd, weil euch die Gemeinheit zur andern
Natur geworden iſt. Euch erſcheint die Tugend pe¬
dantiſch, weil ihr ſie aus fremdem Munde predigen
hoͤren muͤßt, weil ſie nicht in euern Herzen ſelber
ſpricht. Euch erſcheint jede kuͤhne Freiheit grob, weil
ſie eure conventionellen Schonungen und Gehege
durchbricht, eure kleinen Goͤtzen zertruͤmmert. Nur
auf euch faͤllt die Schande, wenn die unverdorbne
Jugend und das Volk, das ihr Poͤbel nennt, den
großen Dichter beſſer ehrt. Ich behaupte, daß kein
Dichter in der Welt unſern Schiller in ſittlicher
Zartheit uͤbertroffen hat, und ſie iſt es, fuͤr welche
die deutſche Jugend, das deutſche Volk auch den zar¬
teſten Sinn hat, ſo lange derſelbe nicht durch euer
[131] Kunſtgeſchwaͤtz verdorben wird. Euer moraliſches
Gefuͤhl iſt fuͤr Feinheiten dieſer Art abgeſtumpft,
nur mit einer ſinnlichen Gourmandiſe moͤgt ihr in
eurer Vornehmigkeit prahlen.


Schiller hat zahlloſe Nachahmer gefunden, und
wie es das Schickſal aller Nachahmer iſt, ſie ſind in
Einſeitigkeit und Übertreibung oder in ein mattes,
mechaniſches Nachkopiren verfallen. Schon in der
Form ſtehen ſie alle tief unter Schiller. Sie haben
alleſammt ſeine Jamben, ſeine Diction, ſeine Sen¬
tenzen nachgeahmt, aber nirgends finden wir jene
ſtahlfeſte, elaſtiſche, wohlklingende Sprache. Am
naͤchſten iſt ihm Theodor Koͤrner gekommen, ob¬
gleich der Abſtand ſehr groß iſt. Die uͤbrigen Nach¬
ahmer haben entweder mehr philoſophiſche oder mehr
hiſtoriſche Trauerſpiele geſchrieben. Unter den erſtern
ſteht Raupach oben an. Bei einem großen poeti¬
ſchen Talent muß ihm doch vorgeworfen werden, daß
er nicht wie Schiller, ideale Naturen geſchaffen, ſon¬
dern nur gewiſſe philoſophiſche und namentlich poli¬
tiſche Begriffe in dramatiſirten Beiſpielen auf den
Brettern verſinnlicht hat. Die meiſten andern Juͤn¬
ger der Schillerſchen Schule haben, wie Collin, Klin¬
gemann, Öhlenſchlaͤger, hiſtoriſche Stoffe zum Theil
im patriotiſchen Sinn, zum Theil des Theaterpom¬
pes wegen auf die Buͤhne gebracht, und nur ſelten
ſind wahrhaft ideale Naturen darin nach Schiller's
Weiſe verherrlicht worden. Ganz außer den Graͤn¬
[132] zen ſeiner Poeſie ſind die Schickſalstragoͤdien gefal¬
len, wie oben gezeigt wurde.


Die politiſchen und patriotiſchen Schauſpiele ſind
an ſich ſehr ſchaͤtzbar, da die Buͤhne nicht allein ei¬
nem aͤſthetiſchen Zwecke huldigen, ſondern auch be¬
lehren und fuͤr das Leben begeiſtern ſoll. Collin und
Theodor Koͤrner haben in dieſer Hinſicht zu ihrer
Zeit recht gut gewirkt. Auch iſt die deutſche Ge¬
ſchichte uͤberreich an Volkshelden, denen ſich eine ideale
Seite abgewinnen laͤßt, in denen eine wahrhaft große
und edle Natur ſich offenbart hat. Nur ſtehn die
meiſten dieſer deutſchen Helden, dieſer ſittlichen, po¬
litiſchen, kirchlichen und militaͤriſchen Ideale, in ei¬
nem zu innigen Zuſammenhange mit dem ganzen gro¬
ßen Gemaͤlde ihrer Zeit, das ſich nicht gut mit auf
die Bretter bringen laͤßt. Sie eignen ſich weit mehr
fuͤr das Epos, als fuͤr das Drama. Daher ſind die
groͤßten Helden, in denen die Geſchichte ſelbſt ſchon
allen poetiſchen Stoff zuſammengehaͤuft hat, z. B.
die Hohenſtauffen, noch immer auf der Buͤhne nicht
einheimiſch geworden. Neulich hat ein junger Dich¬
ter einen Verſuch gemacht, aber er ſah ſich genoͤthigt,
einen Cyclus von ſieben Trauerſpielen auf einmal zu
geben, und ſo dehnte ſich das Drama zu einer mehr
als epiſchen Laͤnge aus. Auch ein beſſerer Dramati¬
ker wird hier Hinderniſſe finden, die einmal im Stoffe
liegen.


Wir haben oben als eine dritte Gattung des
Romantiſchen diejenige Dichtungsweiſe unterſchieden,
[133] die das Wunderbare im Weltganzen ſucht, deren Ge¬
genſtand die ganze Schoͤpfung iſt, waͤhrend der Ge¬
genſtand der eben erwaͤhnten Poeſie immer nur das
Hoͤchſte der Schoͤpfung, der Menſch war. Warum
auch ſollte nur der Menſch und nur in den engen
Grenzen einer Begebenheit ein wuͤrdiger Gegenſtand
der Dichtung ſeyn, und nicht die Natur ſelbſt in
ihrem ganzen Umfang, als ein einziges großes
Wunder.


Wir muͤſſen zweierlei Arten ſolcher Weltge¬
dichte
wenigſtens der Form nach unterſcheiden, die
ſyſtematiſchen und die freien, oder die architektoni¬
ſchen und pittoresken. Jene betrachten wir hier zuerſt.


Schon im hoͤchſten Alterthum entſtanden große
Weltgedichte, Kosmogonien, in denen man die Schoͤ¬
pfung und das Weſen der Welt abſpiegelte. Allen
lag ein mehr oder weniger klares Syſtem zu Grunde.
Die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt in ein
wohlgeordnetes Syſtem zu bringen, war eben die
Aufgabe. Aus den Kosmogonien und Religionsſyſtemen
giengen die philoſophiſchen Syſteme hervor, ſofern
ſie dogmatiſch die Welt zu conſtruiren unternahmen,
und nicht bloß kritiſch unterſuchten, was moͤglich
moͤchte ſeyn, ſondern apodiktiſch verkuͤndeten, ſo iſt
es! Alle dieſe dogmatiſchen Syſteme giengen aus
einer dichteriſchen Begeiſterung, aus einer hoͤhern
Offenbarung, aus Viſionen, aus einer Vorſpiegelung
der entflammten Phantaſie hervor, daher ſie auch
groͤßtentheils in Bildern und in einer prophetiſchen,
[134] heiligen Sprache verkuͤndet ſind. Niemand ſtreitet
ihnen den poetiſchen Charakter und Werth ab, wenn
auch die ganze kritiſche Schulphiloſophie den philo¬
ſophiſchen Werth derſelben ſchlechterdings ablaͤugnet,
ſie gaͤnzlich aus dem Gebiet der Philoſophie verbannt
wiſſen will. Dennoch iſt in dieſen poetiſchen Offen¬
barungen die Wahrheit oft tiefer ergruͤndet, als in
dem beſchraͤnkten Kriticismus.


Ihr poetiſcher Werth beruht theils im Inhalt,
theils in der Form. Ihr Inhalt iſt das ewige große
Wunder der Welt. Sie myſtificiren uns, ſie zeigen
uns ſelbſt im Begreiflichen noch das Wunder, waͤh¬
rend umgekehrt der Kriticismus ſelbſt das wirklich
Wunderbare begreiflich und gemein zu machen ſtrebt.
Es iſt ihnen nicht um philoſophiſchen Effect, um
Vernichtung des Wunders, um Erklaͤrung fuͤr den
Verſtand, ſondern nur um poetiſchen Effect, um Ver¬
ſtaͤrkung des Wunders, um Intereſſe fuͤr das Ge¬
fuͤhl und die Phantaſie zu thun.


Die poetiſche Form dieſer Weltgedichte iſt we¬
niger in den Bildern und in der feierlichen Sprache
zu ſuchen, als in dem architektoniſchen Bau, in der
Harmonik des Syſtems. Es ſteht dem Begriff des
Schoͤnen durchaus nicht entgegen, daß es auch in
einem Syſtem, in einem Gebaͤude, ſey es logiſch
oder materiell, wohnen kann. In tiefen mathemati¬
ſchen Combinationen ſchließt ſich der poetiſche Zauber
der Harmonik auf, im materiellen Gebiet durch die
Baukunſt und durch die Muſik, im geiſtigen Gebiet
[135] durch die Syſteme. Die Materie reicht fuͤr die fein¬
ſten Kunſtgetriebe der Harmonik weder in der Muſik,
noch in der Baukunſt aus, erſt in der geiſtigen Har¬
monik erreicht dieſe Kunſtgattung ihren Gipfel. Wenn
aber die Mathematik in jenen erſten beiden Kuͤnſten
ſich den Sinnen aufdraͤngt, ſo bleibt dieſe hoͤhere
Harmonik freilich dem leiblichen Aug und Ohr ver¬
borgen, und es bedarf eines hoͤhern Sinnes, ſie zu
vernehmen, eines Sinnes, der ſehr ſelten iſt. Man
ſucht daher auch an den kunſtreichſten Gebaͤuden die¬
ſer Art meiſtens nur einzelne Parthien heraus, und
das Ganze zu durchdringen, ſeine Conſtruction zu
ergruͤnden, faͤllt den meiſten zu ſchwer, oder ſie den¬
ken nicht einmal an das Daſeyn der ihnen verborge¬
nen Kunſt. Sie ahnen nichts von jener hoͤhern Muſik,
wo die Toͤne Ideen ſind.


Jene prophetiſchen Geiſter ſehen die geiſtige
Ideenmaſſe und ihre Reihenfolge, wie die Maſſe der
Materie, und wie die Scala an, und begruͤnden
darauf nach architektoniſchen und muſikaliſchen Regeln
ihre kunſtreichen Syſteme, die wir daher den alten
Domen oder den Prachtgebaͤuden der muſikaliſchen
Harmonie vergleichen duͤrfen. Es iſt dieſelbe Harmo¬
nik, die hier wie dort angewendet wird, wie aber
der Ton ſchon geiſtiger iſt, als die architektoniſche
Form, ſo wieder die Ideen geiſtiger als der Ton.
Die Harmonik kann in keiner feinern Materie wal¬
ten, als in den Ideen. Dieſer Stoff heiligt ſie aber
nicht allein, vielmehr giebt ſie ſelbſt ihm erſt den
[136] hoͤhern Werth. Die tiefſten und fruchtbarſten Ideen
erhalten ihre hoͤchſte Bedeutung erſt in der Harmonie
aller Ideen. Ihre Stellung im Ideengebaͤude iſt ſo
wichtig, als ihr Gehalt, und beſtimmt denſelben erſt
voͤllig. Ihre kunſtreiche Entgegenſtellung macht erſt
die große Wirkung, und es giebt einen Contrapunkt
in der philoſophiſchen Conſtruktion, wie in der muſi¬
kaliſchen.


Dieſe Gattung von Poeſie nimmt alſo ihren Ur¬
ſprung in der Viſion, ihr Weſen iſt Myſtifikation des
Weltganzen, ihre Form Harmonik. Unter uns Deut¬
ſchen ſteht in dieſer Gattung Jakob Boͤhme oben
an. Alle ſeine Werke ſind poetiſche Viſionen, darin
er die gemeine Natur in einem myſtiſchen Zauberlicht,
wie im Goldglanz der Morgenroͤthe erblickte, und in
ihren innerſten Leib und Bau bis zum Herzen und
Centrum, wie in ein durſichtiges Kryſtallſchloß hin¬
einſah. Dieſen geheimnißvollen, dem gemeinen Auge
verborgenen Bau conſtruirt er nun in den kunſtreich¬
ſten Lineamenten und Verſchlingungen, worin ihn noch
kein Philoſoph uͤbertroffen hat. Was die Stereo¬
metrie, die gothiſche Architektonik und die Fugen¬
kunſt je an kuͤhnen und feinen Conſtruktionen erdacht,
das findet ſich in Jakob Boͤhme's Wunderbau der
Natur beiſammen. Bei den neuern Naturphiloſophen
uͤberwiegt die materielle Maſſe der Ideen die Kunſt
der Conſtruktion. Sie conſtruiren meiſt nur in ge¬
meinen geometriſchen Verhaͤltniſſen, ohne Ahnung der
hoͤhern Harmonik. Dagegen gewinnen ſie auf der
[137] proſaiſchen und philoſophiſchen Seite durch eine
groͤßere Summe von Erfahrungsbegriffen. Bei Ja¬
kob Boͤhme uͤberwog die Kunſt, bei den neuern Na¬
turphiloſophen uͤberwiegt der Stoff. Er macht aus
Wenigem mehr, ſie machen aus Vielem weniger.
Selbſt ſeine Irthuͤmer haben einen hohen poetiſchen
Zauber, jene dagegen entlehnen ihren Glanz nur von
der Wahrheit.


Die ſchoͤnſten neuern philoſophiſchen Gedichte oder
dichteriſchen Offenbarungen in ſyſtematiſcher Form ſind
die Naturphiloſophien und unter dieſen wieder vor¬
zuͤglich die von Goͤrres und Steffens. Hier erſcheint
die ganze Welt in das Zauberlicht des Wunderbaren
getaucht, das Gemeinſte als etwas Bedeutungsvolles
und Myſtiſches, alles in Harmonie, alles wie feier¬
lich geſchmuͤckt und geordnet zum Feſt des Hoͤchſten.
Wir ſehn in den tiefen Zuſammenhang der Natur wie
in ein kunſtreiches Gebaͤude, und in die Weltge¬
ſchichte, wie in ein Drama. Alles Wirkliche erſcheint
als Kunſt, alles Alltaͤgliche wird zum Wunder. Den
erhabenſten poetiſchen Eindruck macht der Überblick
uͤber das Ganze, aber auch im Einzelnen uͤberraſcht
uns die Neuheit der Beziehungen, der nicht geahn¬
dete Einklang entfernt ſcheinender Dinge, das Selt¬
ſame der Contraſte, das Liebliche des Wiederſcheins.
Eine ganz unendliche Fuͤlle von Genuß ſtroͤmt auf
uns heran, und wir glauben in einem Meer von
Poeſie unterzugehn. Aber gerade dieſen Genuß ver¬
ſtehn ſich nur Wenige zu verſchaffen, weil er nur
[138] einem vielumfaſſenden, geiſtigen Organ vermittelt wer¬
den kann. Die meiſten Menſchen genießen alles nur
aphoriſtiſch, weil ſie nicht im Stande ſind, viel auf
einmal zuſammenzufaſſen und zu behalten. Ihnen
bleiben daher auch die herrlichſten Wundergebaͤude der
Harmonik verſchloßen. Sie gehn von einem Einzel¬
nen zum andern uͤber, ohne je das Ganze zu uͤber¬
ſchauen. Dadurch bleibt ihnen aber auch das Ein¬
zelne raͤthſelhaft. Sie halten daher die einzelnen
Parthien eines naturphiloſophiſchen Werks fuͤr wun¬
derliche Arabesken ohne Sinn.


Den Übergang von der ſtrengen architektoniſchen
zur freien pittoresken Form machte Novalis. Er
brachte ſeine Philoſophie in die Form eines hiſtori¬
ſchen Romans, doch ſein wunderliches Gedicht iſt
noch ganz architektoniſch conſtruirt, ſeine Perſonen
ſind weniger frei handelnde Weſen, als nur perſo¬
nificirte Ideen und noch in das ganze Ideengebaͤude
wie in Stein verwachſen. Er hatte den ungeheuern
Gedanken, das ganze All von der poetiſchen Seite,
ja von jeder moͤglichen poetiſchen Seite zugleich zu
zeigen, alles, was da iſt, Natur, Geiſt und Ge¬
ſchichte in einer unendlichen Poeſie zu verknuͤpfen,
alles erſinnliche Schoͤne zumal in einem großen Dom
von Poeſie zu verbauen. Darum hat er nicht nur
Himmel und Erde in ſein Gedicht aufgenommen, ſon¬
dern auch die Anſichten, den Glauben, die Mythen
aller Voͤlker. Alles zog er an ſein großes Herz, uͤber
alles hat er den Liebesſchein deſſelben ausgegoſſen.


[139]

Indem er alles mit ſeiner Liebe verband, war er
ſelber der Gott ſeiner unermeßlich reichen Welt.
Schon fruͤher iſt angedeutet worden, daß Novalis
den Gott Fichtes in die Poeſie uͤberſetzt hat. Jenes
goͤttliche Ich, was bei Fichte der ſtrengen Arbeit der
Selbſtſchoͤpfung oblag, feiert bei Novalis den erſten
Sabbath und ſitzt auf dem Throne ſeiner Herrlich¬
keit, um ſich verſammelnd alle Zauber des Himmels
und der Erde, die ihm in Andacht dienen. Was bei
Fichte der maͤnnliche Wille, das war bei Novalis
die Liebe des Menſchen, beide gleich urſpruͤnglich,
frei, unendlich, goͤttlich.


In ganz freier, pittoresker Form hat jene Welt¬
poeſie den Zauber der Harmonik aufgeben muͤſſen,
doch mit der Veraͤnderung der Form iſt nicht zugleich
ihr Geiſt umgewandelt worden. Allegorie oder Bei¬
ſpiel ſprechen die ewigen Weltideen nicht minder aus,
als jene myſtiſchen Lehrgebaͤude. In der Perſonifi¬
cation und Mythe walteten noch die alten Goͤtter
der Urſymbolik. Wir beſitzen Dramen und Romane,
die wir zu dieſer Gattung von Weltpoeſie rechnen
muͤſſen, weil ſie nicht wunderbare Begebenheiten, noch
ideale Menſchen, noch Coſtuͤme gewiſſer Zeiten, ſon¬
dern nur das Walten des ewigen Weltgeiſtes ſchil¬
dern, das poetiſche Wunder nur im Ganzen der Welt
ſuchen, und voll philoſophiſchen Tiefſinns ſind. Un¬
ter den Gedichten dieſer Art ſteht Goͤthe's Fauſt
oben an.


[140]

Goͤthen finden wir uͤberall durch einen innigen
Zug mit der Natur verbunden. Alle ſeine Gedichte
ſind Triumphe, welche die Natur uͤber die Freiheit
des Menſchen feiert. Zwar ſucht und findet er uͤber¬
all in der Natur den Menſchen, aber auch nur den
Menſchen in der Natur, in den unaufloͤslichen Ban¬
den des Elementargeiſtes. Die kuͤhne Freiheit, in
welcher der Menſch ſich zum Gott erhebt, ſchien ihm
frevelhaft und thoͤricht. In der uͤbernatuͤrlichen Erhe¬
bung des Menſchen ſah er nur eine unnatuͤrliche Ent¬
fremdung, ja Erniedrigung. Alles Menſchliche der
Natur fuͤgſam in allen Falten anzuſchmiegen, war
die große Idee ſeines Lebens und Wirkens. Wie er
ſelber, tief eingewurzelt mit allen Nerven und Adern
in das irdiſche Daſeyn, die Natur in ihrer ganzen
Tiefe durchſchaut, in ihrer ganzen Fuͤlle genoſſen, ſo
hat er ſich zum Canon der Humanitaͤt gemacht, und
dieſe daher ganz in die Naturgrenzen hinabgezogen.
Wohl erkennend aber den Gegenſatz des Idealen und
der Natur, hat er jenes Ideal als das truͤgeriſche
Schattenbild des menſchlichen Hochmuths bezeichnet,
und das Streben darnach als Unnatur, die nur zum
Tode fuͤhrt, durchaus verworfen. In dieſem Sinne
hat er ſeinen Fauſt gedichtet, ſein groͤßtes Gedicht,
wie es den groͤßten Gegenſtand hat, und wie es die
Eigenthuͤmlichkeit des Dichters im ſtrengſten Gegen¬
ſatz gegen andre ausdruͤckt. Das Gedicht iſt eben
dieſes Gegenſatzes wegen ganz negativ, es iſt eine
Parodie aller Beſtrebungen menſchlicher Freiheit ſeit
[141] dem Anbeginn der Welt, die groͤßte und beſte Sa¬
tyre, die jemals auf die Menſchen gemacht worden
iſt. Man ſollte meinen, der Erdgeiſt ſelbſt habe die¬
ſes Gedicht ſich zur Luſt und den nach dem Hoͤhern
ſtrebenden Menſchen zum Hohn gedichtet.


Neben Goͤthe's Fauſt glaͤnzen in der deutſchen
Literatur noch eine Menge der ausgezeichnetſten phi¬
loſophiſchen Gedichte, ſo Leſſing's Nathan, vor al¬
lem die neuern Novellen von Tieck und Steffens. In
vielen ſolcher Gedichte verſchwindet das philoſophi¬
ſche Intereſſe der Idee beinah gaͤnzlich unter dem
Poetiſchen der Fabel; in andern herrſcht dagegen das
Philoſophiſche vor, es ſind Wiſſenſchaften in der
Form des Romans oder Dramas, wie Julius und
Evagoras von Fries ꝛc. Zu den letztern gehoͤren denn
auch die eigentlichen Lehrgedichte, die naturhiſtori¬
ſchen, moraliſchen, philoſophiſchen und theologiſchen
Betrachtungen in Verſen, wie Tiedge's Urania und
dergleichen.


Die eigentlich romantiſche, mittelalterliche und
wieder insbeſondere katholiſche Romantik duͤrfen wir
wohl von allen uͤbrigen Gattungen des Romantiſchen
unterſcheiden, obgleich vieles von den andern Gat¬
tungen darin enthalten iſt. Das Unterſcheidende iſt
das alterthuͤmliche Gepraͤge, der Charakter des Mit¬
telalters. Die neuern Dichter, wie Tieck und Uhland,
welche dieſer Gattung des Romantiſchen huldigen,
haben den Stoff und die Form dazu aus dem Mit¬
telalter ſelbſt entlehnt. Ihre Dichtungen ſtehn in ge¬
[142] nauer Verbindung mit den Überreſten der mittelalter¬
lichen Poeſie. Der groͤßte Reiz der neuern Dichtun¬
gen dieſer Art iſt das Helldunkel des mittelalterlichen
Volksglaubens.


Wir muͤſſen indeß auch in dieſer Gattung wieder
unterſcheiden. Die altdeutſche Poeſie ſelbſt enthaͤlt
zwei Elemente, ein heidniſches und ein chriſtliches,
darnach ſich dieſelbe als Sagenpoeſie und als katho¬
liſche Legenden- und Ritterpoeſie ausgebildet hat. Dem¬
zufolge hat auch die neuere Romantik entweder mehr
die heidniſche Sage und den aͤlteſten Volksglauben,
oder das katholiſche Heiligen-, Prieſter- und Ritter¬
weſen in ſich aufgenommen. Ludwig Tieck iſt der Re¬
praͤſentant dieſer ganzen Gattung in beiden Richtun¬
gen. Ihm folgte in der Richtung der Sagenpoeſie
vorzuͤglich Uhland, in der katholiſchen Richtung aber
Werner, deſſen ſchon gedacht iſt.


Die alte Volksſage klang mit dem alten Volks¬
glauben und Aberglauben durch alle wechſelnde Me¬
lodien des Zeitgeiſtes und der Mode beſtaͤndig als
ein lang gehaltner tiefer Ton hindurch. In der fran¬
zoͤſiſchen Aufklaͤrungsperiode ſank ſie am tiefſten und
verhallte beinah. Sie diente nur noch dem Witz und
der Ironie in Heldengedichten, wie die von Wieland.
Erſt Herder machte auf den Werth der alten Sagen
aufmerkſam, und nach ihm bemuͤhte ſich beſonders
die Schlegel'ſche Schule, die Schaͤtze der alten Volks¬
poeſie ans Tageslicht zu ziehn. Fuͤr die deutſche Sage
und den deutſchen Volksglauben geſchah beſonders viel
[143] durch Goͤrres, Arnim, die Bruͤder Schlegel, von
der Hagen, Grimm, Mone, Lachmann ꝛc. Man
ſammelte alle Thatſachen des alten Volksglaubens
und die mehr oder minder vollkommen erhaltnen Sagen.


Die Poeſie in dieſen alten Sagen machte den
maͤchtigſten Eindruck auf die Zeitgenoſſen. Trotz aller
Aufklaͤrung, mit der man prahlte, wurde man un¬
widerſtehlich von dem heiligen Dunkel dieſer Poeſie
angezogen. Die große Wirkung derſelben beruht ohn¬
ſtreitig darauf, daß ſie nicht als das kuͤnſtliche Mach¬
werk von Menſchen, ſondern als eine unmittelbare
Naturoffenbarung erſcheint. Nicht die ſpielende Phan¬
taſie des Dichters hat dieſe Sagen erfunden, ſie ſind
unwillkuͤrlich im Gemuͤth aller Voͤlker entſprungen.
Sie ſind mit der Geſchichte, mit dem handelnden
Leben der Voͤlker ſo unzertrennlich verbunden, wie
es die aͤlteſten Mythen mit der Natur ſelbſt waren.
In jenen Mythen ſprach ſich das Daſeyn und der
Naturtypus der Voͤlker aus, in dieſen ſpaͤtern Sa¬
gen offenbarte ſich die lebendige Seele derſelben, gleich¬
zeitig mit ihren Thaten. Wie aber durch alle Mythen
derſelbe Zug hindurchgeht, ſo auch durch alle Sagen.
Alle Voͤlker ſahen ſich noch um ſo aͤhnlicher, je naͤ¬
her ſie der gemeinſamen Wiege des menſchlichen Ge¬
ſchlechtes ſtanden, wie ſich die Bluͤthen mehr glei¬
chen, als die Fruͤchte. Das Charakteriſtiſche dieſer
Sagen iſt die hiſtoriſche Form, in welcher ſie alles
Innerliche der Seele auf allegoriſche Weiſe oder in
Beiſpielen offenbaren, wie es dieſelben Voͤlker gleich¬
[144] zeitig in aͤußern Handlungen und Thaten offenbarten.
Alles Innerliche tritt aus ſich heraus, aͤußert ſich,
wird hiſtoriſch. In dem Doppelbild der Sagen und
Geſchichten iſt daher die Seele jener Voͤlker und Zei¬
ten aufgeſchloſſen, liegt uns ihre Philoſophie voll¬
ſtaͤndig offen. Zwiſchen der Sage und Geſchichte be¬
ſteht ein geheimnißvolles und unzertrennliches Band.
Wie die Sage ſtets auf den praktiſchen Boden der
Geſchichte zuruͤckfuͤhrt, ſo die Geſchichte ſtets auf das
ideale Gebiet der Sage. Alle Sagen ſind hiſtoriſch,
aber alle Geſchichten jener Zeit ſind auch wieder
maͤhrchenhaft, bedeutungsvoll und myſtiſch. In bei¬
den ſpricht ſich das Gemuͤth der Voͤlker in Thaten
aus, die ſo wunderbar und ahnungsvoll ſind, als
dieſes Gemuͤth ſelbſt. Alle jene Thaten ſind ſinnlos,
wenn man ſie nicht auf jenes Gemuͤth zuruͤckleitet,
daher die gewoͤhnliche hiſtoriſche Darſtellung des Mit¬
telalters ſeit der Voͤlkerwanderung ſo unertraͤglich iſt.
Man muß ſie im Sinn der Sage als Offenbarun¬
gen des Volksgemuͤthes auffaſſen.


Die Sagen gelten aber nicht nur fuͤr ihre Zeit,
es liegt etwas Philoſophiſches darin, was fuͤr alle
Zeiten gilt. Tiefer und zarter als alle unſre ſpecu¬
lativen Definitionen ſtellen uns die Sagen in einfa¬
chen Bildern die Ideen des Lebens dar. Von dem
ungeheuern Gemaͤlde der Niebelungen bis zum leiſe¬
ſten Farbenzug eines Volksliedes oder Elfenmaͤhr¬
chens entfalten ſie die ganze Tiefe des menſchlichen
Lebens. Sie ſind alle bedeutungsvoll, von geheimem
[145] tiefem Sinne, alle an eine ewige Idee geknuͤpft, die
einfachſte kunſtloſeſte Offenbarung derſelben. Darum
ſprechen ſie uns ſo an.


Auf dieſe Weiſe ſind die Sagen eine unerſchoͤpf¬
liche Quelle von Poeſie, und ihr Stoff iſt ſo uner¬
meßlich und im Allgemeinen noch ſo wenig durchge¬
arbeitet, daß die neuern Dichter ſich ſeiner wohl an¬
nehmen duͤrfen. Theils iſt die alterthuͤmliche Form,
in welcher ſich vollendet ausgearbeitete Sagen erhal¬
ten haben, uns fremd geworden, theils ſind die mei¬
ſten Sagen wirklich nur in rohen Grundzuͤgen vor¬
handen, welche wir erſt auffuͤhren muͤſſen. So ge¬
ſchah es, daß unſre vorzuͤglichſten Dichter wetteifernd
den alten goldſchweren Schatz der Volksſage zu he¬
ben und neugepraͤgt wieder in Umlauf zu bringen
bemuͤht waren.


Hiervon nahm zunaͤchſt die neuere Romanze ihren
Urſprung, eine Dichtungsart, in deren beſcheidenem
Gewande die herrlichſte Poeſie ſich verbirgt. Unſre
groͤßten Dichter waren darin ausgezeichnet, und am
meiſten, wenn ſie ſich an echte alte Sagenſtoffe hiel¬
ten. So Goͤthe, Schiller, Stollberg. Buͤrger machte
ſich die Romanze zur Hauptſache, entſtellte ſie aber
durch baͤuriſche Derbheit, die er mit dem Volkston
verwechſelte. Die trefflichſten Romanzen hat unter
den Neuern Uhland gedichtet. Keiner faßte die
Ideen der alten Sagen tiefer auf, keiner ſtellte ſie
treuer und einfacher im echten alterthuͤmlichen Ge¬
Deutſche Literatur. II. 7[146] wande dar. Darum mahnen ſie uns wie Klaͤnge fern
aus grauer Vorzeit.


Groͤßre Sagen in der Form des Heldengedichts
und Romans gaben vorzuͤglich Tieck und Fouqué. Sie
bilden zugleich den Übergang von der Sagenpoeſie
zur katholiſchen. Wie im Mittelalter ſelbſt die heid¬
niſche Sage mit der chriſtlichen Legende ſich ver¬
miſchte, ſo auch in den neuern Dichtungen, die auf
jene gegruͤndet ſind. Indeß bemerken wir einen ſehr
großen Unterſchied unter den Darſtellungen des katho¬
liſchen Mittelalters.


Auf Goͤthe's Goͤtz von Berlichingen, welcher nichts
andres bezweckte, als ein charakteriſirendes Gemaͤlde,
folgte jene Fluth von Ritterromanen, die nur die
Bengelhaftigkeit der gegenwaͤrtigen, keineswegs die
Kraft und Milde der vergangnen Zeit ſchilderten.
Sie waren weſentlich negative Schilderungen des
Mittelalters, gegen den Geiſt deſſelben gerichtet, da¬
her ſie auch beſtaͤndig die Pfaffen zur Zielſcheibe ih¬
res groben Witzes machten. Indeß laͤßt ſich nicht
verkennen, daß ſelbſt in dieſer abgeſchmackten und
rohen Auffaſſung des Mittelalters eine Vorliebe fuͤr
das Romantiſche jener Zeit zu Grunde lag. Eine
alte Burg, ein Wald, ein geharniſchter Ritter, ein
Burgverließ, ein Eremit reichten ſchon hin, die Phan¬
taſie zu beleben und das Herz mit romantiſchen
Schauern zu uͤberſtroͤmen.


Ludwig Tieck war der Erſte, der den Geiſt des
Mittelalters lebendig und rein im ganzen Umfang
[147] ſeiner Erſcheinungen auffaßte, und zwar in der dop¬
pelten Richtung der altheidniſchen Sage und des chriſt¬
lichen Romanismus. Wir muͤſſen ihn aber nicht al¬
lein als den Repraͤſentanten dieſer alterthuͤmlichen
Gattung der Romantik betrachten. Er hat eine hoͤ¬
here Bedeutung. Er iſt kein blos antiquariſcher Poet,
der mit ruͤckwaͤrtsgedrehtem Halſe in die verlorne
Vergangenheit ſieht. Er hat vielmehr die Vergan¬
genheit der Gegenwart lebendig verknuͤpft, und auf
den Grund der alten echtdeutſchen Poeſie die neue
fortgebaut. Als Vermittler zwiſchen den beiden gro¬
ßen Bildungsſtufen der deutſchen Nation wird er in
der Entwicklungsgeſchichte derſelben ſtets eine der er¬
ſten Stellen behaupten. Die neue deutſche Poeſie bil¬
dete ſich aus dem Proteſtantismus hervor und nach
antiken Muſtern, in ſtrengem Gegenſatz gegen die
altdeutſche Poeſie. Die einſeitige proteſtantiſche, al¬
lem Wunderbaren abholde Dichtungsweiſe wurde durch
unſre groͤßten Dichter zu einer humanen, kosmopoli¬
tiſchen veredelt, ſchweifte jedoch noch haͤufig von der
deutſchen Eigenheit ab und folgte fremden Muſtern.
Aber mehr und mehr gewann unſre Poeſie mit ihrer
Selbſtaͤndigkeit auch wieder ihre nationelle Phyſiogno¬
mie. Aus eigner innrer Kraft ſtieß ſie das Fremde
von ſich und das Eigenthuͤmliche, das ſo lange ver¬
achtet geweſen, machte ſich durch ſeinen eignen Werth
wieder geltend. Da mußte die Zeit endlich kommen,
in welcher die innerliche Verwandtſchaft der neuen
und alten Deutſchen klar wurde. Das deutſche Ge¬
7 *[148] muͤth hatte ſich ſelbſt wiedergewonnen. Es fuͤhlte
jenen alten Geſinnungen und Empfindungen, in grauer
Vorzeit dem unſterblichen Geſang vertraut, innigſt
ſich verwandt. Welche hoͤhere Entwicklung wir auch
im Verfolge der Zeiten gewonnen, welches Fremde
zur andern Natur uns geworden, das urſpruͤngliche
Naturell war uns dennoch geblieben. Sobald wir
dies erkannt, war die nothwendige Folge, daß wir
unſre Poeſie auf den Ton der alten, oder vielmehr
unſer Herz auf die Empfindungsweiſe des alten zu¬
ruͤckſtimmten. Im Contraſt dieſer Richtung der Poeſie
mit der fruͤhern proteſtantiſchen und antiken mußten
ſich ſchneidende Gegenſaͤtze und Übertreibungen erge¬
ben. In der Überſchwenglichkeit des Enthuſiasmus,
womit die Deutſchen alles zu ergreifen pflegen, mu߬
ten antiquariſche Schwaͤrmer und Pedanten die alt¬
deutſche Poeſie ausſchließlich uͤber jede andre erheben,
waͤhrend ihre Gegner ſie ſchlechterdings als eine Bar¬
barei verdammten. In der Mitte der Extreme jedoch
mußten andre die natuͤrliche Vermittlung des Alten
und Neuen begruͤnden. Vor allen war Tieck zu die¬
ſer wichtigen Vermittlung berufen. In dieſem natio¬
nellſten unſrer Dichter wurde der Genius des alten
Deutſchlands wiedergeboren und wie ein Phoͤnix ver¬
juͤngt. Seine Dichtungen ſind ſo ſehr echtdeutſch,
daß ſie die Probe beider fern von einander liegenden
Zeiten aushalten. Sie ſind dem Mittelalter ſo ver¬
wandt, als uns. Die tief bedeutſame und wunder¬
reiche Erſcheinung dieſes Dichters bezeichnet einen
[149] Wendepunkt in unſrer neuen Bildung. Sie wird ihre
Wirkungen weit in die Zukunft verbreiten.


Tieck trat mit ſeiner echtdeutſchen Poeſie in eine
natuͤrliche Oppoſition gegen die herrſchenden Schulen,
und namentlich gegen die proteſtantiſche und antike
Bildung und Geſinnung. Darum ſind ſeine Dichtun¬
gen nur zum Theil poſitiv, zum Theil negativ. Er
offenbarte nicht nur den echten, bisher verkannten
deutſchen Genius; er fehdete zugleich auch mit allen
Waffen eines tiefen Gefuͤhls und uͤberlegnen Geiſtes
die Verirrungen der Zeit an.


Die Bearbeitungen alter Volksſagen ſind Tieck's
vorzuͤglichſte Dichtungen, worin er auf poſitive
Weiſe ſich ausgeſprochen. Doch auch ſchon in dieſen
ernſten Dichtungen hat er den Contraſt gegen das Mo¬
derne zu bezeichnen geſucht, indem er nach dem Beiſpiel
Shakeſpeare's das Komiſche dem Tragiſchen vermiſchte.
Immer ſtellt Tieck die poetiſchen Elemente des Mit¬
telalters der entarteten Proſa der neuen Verſtandes¬
periode gegenuͤber, zunaͤchſt die kraͤftige, geſunde Sinn¬
lichkeit und Kraft, woraus alle uͤbrigen Tugenden
jener fruͤhern Zeit herfloſſen, der Unnatur und Schwaͤ¬
che, welche die Grundlage unſrer Fehler und Laſter
bilden. Hierin iſt Tieck ſehr nahe mit Schiller ver¬
wandt. Auch Tieck ſchildert die edelſten und kraͤf¬
tigſten Naturen, nur macht er aus ihnen nicht, wie
Schiller, allgemeine Ideale der Humanitaͤt, ſondern
er laͤßt ſie nur als Repraͤſentanten der Vorzeit und
einer beſtimmten Volksnatur erſcheinen. In dieſen
[150] erhabenen Charakteren contraſtirt er ſodann die alte
edle Einfalt und Unſchuld mit der Überfeinerung und
Affectation der neuern Zeit, die alte Ehrlichkeit mit
der neuen Pfiffigkeit, die alte Beſcheidenheit mit
der neuen Eitelkeit, die alte Wahrheit mit der neuen
Luͤge. In der Tiefe und Waͤrme des Gemuͤths aber
bezeichnet er die Hauptverſchiedenheit des Mittelalters
von unſrer Zeit. Dieſes Gemuͤth offenbarte ſich in
Andacht, Liebe, Ehre, und der Verſtand unſrer Zeit
hat ihm leider das Gegentheil jener Tugenden, Un¬
glauben, Egoismus und Schamloſigkeit entgegenzuſe¬
tzen. Tieck malt mit tiefgluͤhenden, brennenden Far¬
ben die Froͤmmigkeit und religioͤſe Innigkeit der al¬
ten Zeit, im herben Gegenſatz gegen die moderne
Aufklaͤrung und deren albernen oder frechen Unglau¬
ben. Mit eben ſo warmen Zuͤgen ſchildert er die Liebe
jenes mildkraͤftigen Geſchlechts der Vorzeit, und kein
Dichter außer Shakeſpeare und Schiller hat die Liebe,
den ewigen Gegenſtand der Poeſie, ſo tief und wahr
geſchildert. Endlich malt uns der Dichter die ritter¬
liche Maͤnnertugend der alten Zeit in den kraͤftigſten
Zuͤgen, den angebornen Adel, und die bewußtloſe Gro߬
muth der Helden.


Jenes gewaltige Leben der Vorzeit hatte weſent¬
lich zwei Brennpunkte, die Religion auf der einen,
Ritterthum und Minne auf der andern Seite, d. h.
das Herz offenbarte ſich in doppelter Richtung gegen
das Überirdiſche und Irdiſche, und ſeine Flammen
loderten hier im reinen Lilienlicht der Andacht, dort
[151] im warmen Roſenlicht der Liebe und Lebensluſt. Dem¬
nach ſind auch die zwei groͤßten Dichtungen Tieck's
an jene beiden Brennpunkte geknuͤpft. Seine Geno¬
veva und ſein Octavian bilden vereinigt in einem
ellyptiſch verſchlungenen Ganzen, ein vollſtaͤndiges
Gemaͤlde des mittelalterlichen Geiſtes. Genoveva iſt
die Lilie, Octavian die Roſe. Mit dem Zauberſtab
der Poeſie ſchließt uns Tieck in dieſen Dichtungen
die geheimſten Tiefen und Schaͤtze einer vergangnen
Welt auf, aber dieſen Zauberſtab gewinnt auch nur,
wer reines Herzens iſt und fromm. Dieſe zarteſten
nnd tiefſten aller Dichtungen werden daher von dem
großen Haufen unſrer Aufgeklaͤrten als katholiſche
Contrebande verfolgt, als Schwaͤrmerei bedauert, als
Kinderei beſpoͤttelt.


In ſeinen Luſtſpielen verfaͤhrt Tieck negativ, und
opponirt dieſer falſchen Aufklaͤrung. Es ſind die beſten
Luſtſpiele, die wir haben; vom Grund aus bis zum
leiſeſten Zuge der Ausfuͤhrung erfuͤllen ſie alle For¬
derungen des echten Luſtſpiels. Da ſie aber gegen
die Thorheiten unſrer Zeit gerichtet ſind, wollen wir
ihrer erſt bei der modernen Poeſie gedenken. In ſei¬
nen ſpaͤtern Novellen hat Tieck ſich ebenfalls mehr an
das moderne Leben angeſchloſſen. In allen ſeinen Wer¬
ken aber klingt der Grundton des Mittelalters hin¬
durch, uͤber allen ſeinen Gebilden iſt ein reiner tie¬
fer Himmel ausgebreitet.


Tieck ſteht in der lebendigen Mitte des Mittel¬
alters und der neuern Zeit, und verbindet beide,
[152] darum vereinigt er auch in ſeinen Dichtungen je das
Herrlichſte der Dichter beider Zeiten. Was die Pro¬
venzalen Glaͤnzendes, die Normannen Ritterliches, die
Bretonen Zartes, die Englaͤnder Schauerliches, die
Deutſchen Suͤßes und Tiefes geſungen, klingt in ſei¬
nen Dichtungen wieder, und wem unter den Neuern
ſteht er nach? Von Leſſing hat er den feinen Spott
und Sarkasmus, von Goͤthe die warme lebendige
Darſtellung der Natur und Menſchen, von Schiller
das Hohe, Edle, Ideale, von Jean Paul die bunte
uͤberſtroͤmende Phantaſie. Er hat aber mehr als ſie
alle, ein Gemuͤth und Talent, das ohne alle fremde
Beimiſchung die deutſche Eigenthuͤmlichkeit in ihrer
ganzen Tiefe und im weiteſten Umfang erfuͤllt und
offenbart.


Unter den Dichtern, welche Tieck in der Rich¬
tung nach der mittelalterlichen Poeſie gefolgt ſind,
ſteht ihm Arnim zunaͤchſt, deſſen beinah voͤllig ver¬
geſſenes dramatiſches Gedicht «Halle und Jeruſalem»
wohl nur in der Form, nicht aber an zartem und
tiefem Sinn hinter den Werken ſeines großen Vor¬
gaͤngers zuruͤckſteht. Auf keinen Fall hat dieſer Dich¬
ter die Undankbarkeit verdient, mit welcher man ſeine
Werke weniger aufgenommen, als verſchmaͤht und ver¬
geſſen hat.


Fouqué war der Mann, durch welchen das
Beſtreben Tieck's erſt Popularitaͤt erhielt. Es pflegt
immer ſo zu gehn, daß man das Tiefe erſt verfla¬
chen muß, wenn es den Kurzſichtigen bemerklich wer¬
[153] den ſoll. Die Grundlage der meiſten Dichtungen
Fouqué's iſt allerdings der romantiſche Goldgrund
des Mittelalters, und Glaube, Liebe, Ehre ſind die
Hauptfarben in allen ſeinen Gemaͤlden. Er geht aber
vom innern Geiſt ſchon mehr auf das Äußerliche,
auf das Coſtum des Mittelalters uͤber. Richtige und
tiefe Auffaſſung der Charaktere gilt ihm ſchon weit
weniger, als genaue und umſtaͤndliche Zeichnung der
Sitten und Trachten. Dieſe Vorliebe artet leicht in
Kinderei aus. Sie verbietet ihm, das Alterthuͤm¬
liche auch auf die neuere Zeit uͤberzutragen. Er ſieht
ſich ſelbſt gern als einen Sproͤßling der alten ritter¬
lichen Barone an und affectirt, wo er nur von ſich
ſelbſt ſpricht, die alte Rittermaͤßigkeit. So erhalten
auch alle ſeine Darſtellungen moderner Adelsfamilien
und Officiere einen alterthuͤmlichen Anſtrich, und ſo¬
mit unwillkuͤrlich etwas von Don Quixote. Auf der
andern Seite traͤgt er aber auch viel Modernes auf
ſeine Darſtellungen des Mittelalters uͤber. Wie ſeine
Officiere Ritter ſeyn ſollen, ſo haben auch ſeine Rit¬
ter etwas von dem Weſen der modernen Officiere
an ſich, etwas Garniſonsmaͤßiges, Ziererei, Luſt an
Putz, Selbſtgefaͤlligkeit, Koketterie mit den Waffen,
Pferden und Hunden. Er ſelbſt iſt zu ſehr in dieſer
niedlichen Pedanterei befangen, um den Contraſt der¬
ſelben mit dem alten Ritterthum zu begreifen. Eben
ſo verfehlt er den Ton der alten Galanterie und
uͤberhaupt die ganze alte Redeweiſe. Wenn ſeine Hel¬
den auch oft ganz mittelalterlich handeln, ſo ſprechen
[154] ſie doch nicht ſo. Ihre ſuͤßliche, manierliche Sprache
hat nicht das Mindeſte mit dem einfachen, natuͤrli¬
chen, warmen und kraͤftigen Ton der alten Ritter
gemein, und die alterthuͤmlichen Stichwoͤrter, Wen¬
dungen und Redensarten, deren Fouqué ſich gern
bedient, ſind nur eine Huͤlle ohne weſentlichen In¬
halt‚ und enthalten ſo wenig den Geiſt des Mittel¬
alters‚ als die Voſſiſchen Affectationen des antiken
Styls den Geiſt des Antiken. Die vielen Nachah¬
mer‚ die wieder Fouqué gefunden, ſind der Rede
nicht werth.


Die fuͤnfte und letzte Hauptgattung des Roman¬
tiſchen ſucht das Wunderbare im Nationellen.
Sie haͤngt mehr oder weniger mit allen uͤbrigen Gat¬
tungen zuſammen, da‚ was immer fuͤr ein Held im
Vordergrunde der Dichtung ſteht, irgend ein Land
und Volk immer den Hintergrund und Rahmen der¬
ſelben bildet. Insbeſondre aber iſt ſie wieder von
allen unterſchieden, ſoferne ſie nur das Rationelle
zu ihrem Gegenſtande macht, und die volksthuͤmli¬
chen Eigenheiten, die in andern Dichtungen mehr
verſchwinden, gerade als Hauptſache behandelt. Auch
ſie ſtellt den Menſchen dar, aber nicht mehr in ſeiner
idealen Humanitaͤt, ſondern in der Gattung. Ihr
gilt das Individuum nur noch als Repraͤſentant der
Gattung, eines beſtimmten Volkes.


Dieſe Poeſie iſt gegenwaͤrtig die herrſchende ge¬
worden, ohne daß man ſich noch daruͤber Rechenſchaft
gegeben zu haben ſcheint. Fruͤher war ſie unter der
[155] humanen, idealiſirenden Poeſie verſteckt oder gaͤnzlich
unbekannt. Man waͤhlte zwar Menſchen und Bege¬
benheiten aus allen Nationen zu den Darſtellungen
in Schauſpielen und Romanen, doch unterwarf man
ſie einer allgemeinen Norm. Man wollte Menſchen
darſtellen, und das Coſtum war nur eine unbedeu¬
tende Nebenzierde oder wurde gaͤnzlich vernachlaͤſſigt.
Bei Leſſing und Wieland iſt dieſe Unterordnung noch
unverkennbar. Erſt Herder machte auf die poetiſche
Tiefe im Volksthum, im Naturell der Nationen auf¬
merkſam. Zwar wird das ganze Streben dieſes gro¬
ßen Mannes durch die reinſte und echteſte Humani¬
taͤt bezeichnet, und er ſuchte auch in den Voͤlkern im¬
mer nur den Menſchen, aber er fuͤllte die Kluft aus,
die bisher zwiſchen dem wirklichen und nationaliſir¬
ten Menſchen und zwiſchen dem Abſtraktum eines
idealen Menſchen beſtanden hatte. Er arbeitete jener
freimaureriſchen Anſicht, die den Menſchen von der
Nation, dem Zeitalter und der Natur losreißen und
als Glied einer hoͤhern allgemeinen Geſellſchaft hin¬
ſtellen will, mit der weit natuͤrlichern Anſicht entge¬
gen, daß die Humanitaͤt ihren Entwicklungsgang nur
innerhalb der Nationalitaͤt und des Volksnaturells,
wie der Saft im Baume nehmen koͤnne.


Die Humanitaͤt hat nothwendig zwei oberſte Rich¬
tungen. Die eine fuͤhrt in die Hoͤhe; ſie ſucht das
Ideal, das Ziel im Wahren, Schoͤnen und Guten,
denn nur in dieſem Ideal oder in dem Streben dar¬
nach iſt das einige Band um die Menſchheit geſchlun¬
[156] gen. Die andre Richtung fuͤhrt in die Weite; ſie
ſucht uͤberall, in der Tiefe der Menſchenbruſt, in der
Natur, in der Geſchichte, bei allen Nationen jenes
Ideal, und verbindet durch daſſelbe alles Getrennte.


Herder's Genius nahm beide Richtungen voll¬
kommen in ſich auf. Er war aber eben deßhalb nicht
blos Dichter; er war Menſch im reinſten Sinn,
Buͤrger, Philoſoph und Dichter. Die Poeſie im en¬
gern Sinn galt ihm nicht blos als einem produkti¬
ven Dichter, er ſuchte ſie auch bei allen andern Na¬
tionen aus und vermittelte ſie dem Beduͤrfniß ſeiner
Landsleute. Dabei galt ihm auf gleiche Weiſe die
Philoſophie und das praktiſche Leben, und er war
ein Bekenner des Wahren und Guten, wie des Schoͤ¬
nen. Wer aber in dieſer Harmonie die hoͤchſten Ideale
fuͤr die hoͤchſten Äußerungen der menſchlichen Seele
als eine Gottheit in dreifacher Erſcheinung verehrt,
ihnen die Flammen ſeines Herzens auf einem Altar
lodern laͤßt, deſſen ganzes Weſſen muß von Poeſie
durchdrungen, muß ſelbſt Poeſie ſeyn. Eine ſolche
Vereinigung iſt nur im poetiſchen Gemuͤthe moͤglich.
Der Urquell aller dieſer Richtungen und Beſtrebun¬
gen, der Urquell einer ſo allumfaſſenden Sehnſucht
und Liebe iſt nur das Herz. Wie in ihrem inner¬
ſten Lebensprincip fuͤr ſich, ſo in ihrer Erſcheinung
fuͤr andre iſt ſie poetiſch. Darum hat Jean Paul,
Herder's innigſter Verehrer, den kurzen und treffen¬
den Ausſpruch gethan: er war mehr ein Gedicht, als
ein Dichter.


[157]

Die große Wirkung, die Herder's Schriften auf
die Deutſchen gemacht, wird ſeinem Genius im Gan¬
zen verdankt, nicht einzelnen dichteriſchen Schoͤpfungen.


Was Herder mit dem Ausdruck Humanitaͤt, als
das Ziel ſeines ganzen Strebens ſich bezeichnet, war
die Bluͤthenkrone alles Menſchlichen, das Ideale,
Reine, Edle, Schoͤne, zu dem alle Zeiten und Voͤl¬
ker, alle Inſtitute fuͤhren ſollen, fuͤr deſſen Errei¬
chung die Menſchheit zu leben, das ihren Fortſchritt
zu bedingen ſcheint. Er ſah in der Welt ein orga¬
niſches Ganze, eine Pflanze, die in ihrer fortſchrei¬
tenden Entwicklung jene Bluͤthe des Edlen und Schoͤ¬
nen tragen ſoll. Entwicklung, Evolution war ihm
das Weſen der Welt, kein Stillſtand, kein Zwie¬
ſpalt ohne hoͤhere Bindung. In dieſer Anſchauung
eines lebendigen Werdens der Welt, ihres Wachs¬
thums, ihrer Veredlung, ging ſeine Philoſophie der
von Schelling voran, die eben durch dieſe Anerken¬
nung der Evolution ihren Vorzug errungen.


Er ſah alle Individuen und Voͤlker nur als die
Materie, alle Lebenskreiſe und Inſtitutionen nur als
die Form an, in welcher jene Evolution verwirklicht
wird. Er verband ſie durch dieſelbe alle in einem
Geiſt und Leben. Seine Ideen zur Philoſophie der
Geſchichte der Menſchheit zeigen uns ſeinen Genius
im weiteſten Umfang und umfaſſen der Anlage nach
alle ſeine Anſichten und Richtungen. Aber die Aus¬
fuͤhrung konnte dieſem Plane nicht genuͤgen. Keine
Form waͤre derſelben gewachſen geweſen. Er fuͤhlte
[158] dies wohl, bezeichnete das Fragmentariſche im Titel,
und uͤberließ es dem richtigen Takt der Mit- und
Nachwelt, alle ſeine uͤbrigen Schriften als Anhaͤnge
oder fortgeſetzte Fragmente dieſes Werks anzuer¬
kennen.


Er begann ſein großes Gemaͤlde von der Ent¬
wicklung der Welt mit der Darſtellung der phyſi¬
ſchen Welt als eines Werdenden. Wir duͤrfen nicht
verkennen, daß er dadurch eine hoͤchſt poetiſche Wir¬
kung auf ſein Zeitalter hervorgebracht, und nicht
minder die Wiſſenſchaft, wenigſtens ihre Methodik
bereichert. Ein großes lebendiges Gemaͤlde der Na¬
tur, das auch dem Profanen verſtaͤndlich und ein¬
dringlich geweſen waͤre, fehlte den Deutſchen bisher.
Die umfaſſende Anſicht des Ganzen, das Entwickeln
des Schoͤnen im Einzelnen verſchwiſtert ſich hier zum
glaͤnzendſten Effect. Wenn andere das All der Na¬
tur uns als ein mechaniſches Raͤderwerk kalt con¬
ſtruirt, hauchte er ihm ein organiſches Leben ein und
weckte das warme Gefuͤhl dafuͤr in jeder Bruſt.
Wenn andre die einzelnen Erſcheinungen der Natur
wohl numerirt und claſſificirt uns hintereinander
an den Fingern abgezaͤhlt, ließ er ſie alle als Glie¬
der eines Organismus erſcheinen und hob jede durch
ihre natuͤrliche Stellung. Der Stein erſchien nicht
in der Baumwolle des Mineralienkabinets, ſondern
im lebendigen Schooß der Erde, da er gewachſen;
die Pflanze nicht welk im Herbarium, ſondern friſch
auf der Wieſe, am Bergeshang noch an der feuchten
[159] Wurzel mit dem Erdgeruch; das Thier nicht ausge¬
ſtopft oder im Kaͤfig, ſondern in der Freiheit des
Waldes und des Feldes, der Luft und der Gewaͤſſer;
das Auge nicht im Ringe, ſondern im ſchoͤnen Ange¬
ſicht; der Menſch nicht in der Einſamkeit des Stu¬
dierzimmers, ſondern wie Adam unter den Kreatu¬
ren der erſten Schoͤpfungstage, wie Caͤſar unter Men¬
ſchen, wie Chriſtus im Himmel.


Über der Natur erhaben, aber nur wie die Bluͤ¬
the uͤber dem Stengel, und von dem gleichen Leben
durchdrungen, erſchien ihm die ſittliche Welt. Daſſelbe
Werden und Entwickeln, nur auf hoͤherer Stufe,
galt ihm auch in dieſer hoͤhern Natur, und er ſprach
die große Anſicht aus, daß das Leben des einzelnen
Menſchen und das Leben der ganzen Menſchheit glei¬
chen Geſetzen der Evolution unterworfen ſey. Er
ſtellte eine Vernunft der Menſchheit der Vernunft
des Menſchen an die Seite. Jene von einer ewigen
Vorſehung im Voͤlkerleben unmittelbar gelenkt, dieſe
dem Menſchen als goͤttliches Erbtheil mitgegeben und
nur Ausfluß, der hoͤchſten einen Weltvernunft, ſtre¬
ben beide ineinander wirkend zu dem hoͤchſten Ziel
der Veredlung des menſchlichen Geſchlechts, zur Ver¬
ſchoͤnerung des menſchlichen Lebens. Dahin bluͤhen
alle Kraͤfte der Menſchheit aus. Von dieſem erhabe¬
nen Sinne geleitet, forſchte Herder in den Tiefen der
menſchlichen Seele, verfolgte er die Entwicklung des
Privatlebens, der Sitten, der Erziehung, der Staa¬
ten, der Religionen, der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte,
[160] die Geſchichte der Inſtitutionen, der Voͤlker und der
ganzen Menſchheit, und zeigte uͤberall die gleiche Rich¬
tung, das eine Lebensprincip. Alles Einzelne galt
ihm nur als Glied des Ganzen. Seine zahlreichen
fragmentariſchen Schriften beſchaͤftigen ſich immer
mehr, die Verbindung der einzelnen Erſcheinungen im
menſchlichen Leben zu zeigen, als ihre Beſonderheit.


Unter die Schriften, worin er das allgemeine
menſchliche ohne Ruͤckſicht auf beſondre Voͤlker zum
Gegenſtande ſeiner Betrachtung macht, zeichnet ſich
nach den Ideen hauptſaͤchlich die Metakritik fuͤr Phi¬
loſophie, die Kalliope fuͤr Äſthetik aus. Engere Kreiſe
ziehen ſich die Schriften uͤber die Bibel, uͤber Poli¬
tik, Erziehung und Sitte, womit ſich vorzuͤglich ſeine
zahlreichen kleinern Aufſaͤtze und Fragmente beſchaͤfti¬
gen. In der Adraſtea hat er, ein Kind ſeiner Zeit,
ſich gedrungen gefuͤhlt, der neuern Geſchichte eine
beſondere Aufmerkſamkeit zu widmen. Alle dieſe Werke
zeichnen ſich, wie durch die tiefe Wahrheit und Rein¬
heit der unmittelbaren Anſchauung, ſo vorzuͤglich da¬
durch aus, daß ſie nie etwas vereinzeltes ſind, nie
ein unbefriedigtes Gefuͤhl uͤbrig laſſen, ſondern ſich
ſtets auf eine große harmoniſche Weltanſchauung be¬
ziehen, und uns im Einzelnen das Ganze erblicken
laſſen, ſo wie ſie vereint erſt das Ganze bilden.


Herder's erhabener Genius blieb aber nicht da¬
bei ſtehn, die Entwicklung der Seelenkraͤfte, wie ſie
in den einzelnen Menſchen liegen, bis zu der Voll¬
endung der Bluͤthe zu verfolgen, zu der ſie dieſe
[161] Einzelnen bringen koͤnnen. Er erkannte vielmehr, daß
eine noch hoͤhere Entwicklung in der Verſchiedenheit
der Naturen, ſo der Voͤlker, ſo der Individuen, er¬
reicht wird. Hierin ſchien ihm die hoͤchſte und letzte
Form zu liegen, welcher der Entwicklungsgang der
Menſchheit ſich unterwirft, und darum war die Wuͤr¬
digung derſelben auch die Krone ſeines Syſtems. In
der Nationalitaͤt erkannte Herder die Wiege ei¬
ner noch hoͤhern Ausbildung, als ſie den Menſchen an
ſich zu erreichen moͤglich waͤre. die Wiege der hoͤch¬
ſten aber war ihm die Verſchiedenheit der menſchli¬
chen Natur. Wie er die ſittliche Welt der Menſchen
uͤber die Natur ſtellte, ſo das gebildete, humane Volk
uͤber das rohe, ſo den Genius uͤber den Gemeinen.
Dieſe hoͤchſte Anſicht ſtand ihm aber in innigſter Ver¬
bindung mit ſeinem ganzen Syſtem, und er entwickelte
den Geiſt der Voͤlker nur in ſeiner Bedeutung fuͤr
den Geiſt der Menſchheit und der Welt, und den
Geiſt großer Genien nur in der Beziehung wieder
auf jene alle.


Dieſer letzten Anſicht verdanken wir ſeine vor¬
zuͤglichſten Schriften, und das vorzuͤglichſte in allem.
Mit einer Waͤrme, wie ſie nur den Deutſchen moͤg¬
lich iſt, wie ſein Beiſpiel ſie den Deutſchen zum be¬
wußten Willen und Geſetz gemacht, drang er in das
beſondre Weſen wie der deutſchen, ſo jeder fremden
Nation und ihrer Genien ein, und zeigte, wie in ih¬
nen die duftigſten Bluͤthen jedes Edlen und Schoͤnen
hervorgebrochen. Aus allen dieſen Bluͤthen windet
[162] er dem Genius der Menſchheit den heiligen Kranz,
und verdient, daß wir in ihm den wuͤrdigſten Prie¬
ſter deſſelben verehren. Fern von jeder Eitelkeit, der
deutſchen Nation eine beſondere Ehre zuzuwenden,
gewaͤhrte er ihr unbewußt die groͤßte, daß ihr Geiſt
in ſeinem Geiſte einer ſolchen unparteiiſchen Huma¬
nitaͤt faͤhig geworden. Wenn er in ſeinen Ideen und
in andern Schriften zerſtreut den Geiſt der Natio¬
nen, wie er in ihrer Geſchichte und in ihren Inſti¬
tutionen erſchienen iſt, immer in Bezug auf die
Entwicklung zum Edlen und Schoͤnen, zur Humani¬
taͤt dargeſtellt hat, ſo ſchien es ſeinem richtigen Takt
doch eine beſondere Wuͤrdigung zu verdienen, dieſen
Geiſt in der Poeſie der Voͤlker zu beſchwoͤren. Da¬
her ſammelte er die Stimmen der Voͤlker, eines
ſeiner trefflichſten Werke, darin er die ſchoͤnſten und
eigenthuͤmlichſten Volksgeſaͤnge aus allen Weltgegen¬
den her in ein großes Liederbuch der Menſchheit ver¬
einigte. Der große Sinn dieſer Zuſammenſtellung
und wieder die reiche Mannigfaltigkeit und wunder¬
bare Schoͤnheit des Einzelnen verfehlten ihre Wir¬
kung nicht. Seitdem ward der Poeſie ſelbſt an und
fuͤr ſich und in ihrer Beziehung auf das Voͤlkerleben
eine hoͤhere Bedeutung zuerkannt oder an ihr erkannt,
aus ihr entwickelt. Seitdem iſt ein lebendiger Ver¬
kehr der lebenden Geiſter mit den Hingeſchiedenen
durch die ganze Erde angeſponnen worden. Zu allen
Nationen, in alle Zeiten iſt man hinabgeſtiegen, und
hat die verborgenen Schaͤtze gehoben, die Herder mit
[163] Flammen bezeichnet. Aus dem fernen Indien, Per¬
ſien, Arabien, Palaͤſtina, aus dem finniſchen und
ſlaviſchen Norden, aus Scandinavien, Schottland,
England, aus Spanien, ſelbſt aus der neuen Welt
hat man auf Herders Wink das Gold der Dichtkunſt
zu einem großen ewig fortwuchernden Hort in der
deutſchen Literatur zuſammengehaͤuft.


Anfangs wurde der große Strom der auf dieſe
Weiſe hereinbrechenden romantiſchen Poeſie in das
Mittelalter abgeleitet, wie wir vorhin ſchon geſehen
haben. Das eigentliche nationelle Intereſſe wurde
hier mit einem andern vermiſcht oder ihm aufgeopfert.
Nur die Schlegelſche Schule fuhr in Herders
Sinn fort, die fremden Nationalitaͤten uns bekannt
zu machen, obwohl mit zu viel Kritik und Gelehr¬
ſamkeit. Populaͤr wurde dieſe Poeſie erſt ſeit der
Revolution. Damals wurden alle Voͤlker Europas
durcheinander geworfen. Man ſah fremde Phyſiog¬
nomien und Trachten, und die Liebhaberei am Frem¬
den nahm uͤberhand. Populaͤre Dichter, wie Kotze¬
bue, machten ſich dieß zu Nutzen und in Schauſpie¬
len, Romanen und ſahen wir bald die man¬
nigfaltigſten Coſtume Effect machen. Doch im Dienſt
des Theatereffects war die Poeſie des Nationellen
noch nicht frei geworden.


Nur einzelne Dichter waren tiefer in das Phy¬
ſiognomiſche der Voͤlker eingedrungen, und hatten uns
lebendige Gemaͤlde, eigenthuͤmliche Volksnaturen ent¬
worfen, ſo vor allen Goͤthe, deſſen feines Gefuͤhl
[164] fuͤr das Naturſchoͤne immer unerreichbar bleibt. Seine
zerſtreuten Schilderungen von Volksfeſten ſind ſchon
Muſter in der Manier, die jetzt durch Walter Scott
ſo weite Verbreitung erlangt hat. Auch darf der
geniale Verſuch, alle nationellen Eigenthuͤmlichkeiten
im Mittelalter in ein großes Gemaͤlde zu faſſen und
durch Contraſte zu erheben, in Fouqués Zauberring,
nicht vergeſſen werden, wenn auch die Ausfuͤhrung
ſelbſt die Idee nicht erreicht.


Nachdem bei allen europaͤiſchen Voͤlkern in Folge
der Zeitereigniſſe offenbar eine Neigung fuͤr das
Volksthuͤmliche und Phyſiognomiſche herrſchend ge¬
worden war, trat in England Walter Scott auf,
und befriedigte dieſe Neigung auf die glaͤnzendſte
Weiſe, indem er ſie zugleich aufklaͤrte, befeſtigte, er¬
weiterte. Unter den Kindern der Zeit iſt immer eins,
das ſie zum Liebling ſich auswaͤhlt, und dieſe Lieb¬
linge wechſeln wie die Zeit ſelbſt. Die unſere hat
ihre ganze Zaͤrtlichkeit jenem Britten zugewendet, den
man noch immer gern den großen Unbekannten
nennt, um ihn als den Dalai Lama der Dichter zu
bezeichnen. Walter Scott iſt aber nicht nur in dem
Maaße der Liebling unſrer Zeit, als andere Dichter
die Verehrung fruͤherer Zeiten genoſſen haben, ſon¬
dern unzweifelhaft in einem weit hoͤhern Maaße.
Noch nie iſt ein Dichter ſo allgemein bei allen Na¬
tionen der gebildeten Welt, ich will nicht ſagen be¬
liebt, nur uͤberhaupt bekannt geworden, als Walter
Scott. Der erſten Bekanntſchaft mit ihm iſt aber
[165] wirklich uͤberall eine graͤnzenloſe Werthſchaͤtzung und
Vorliebe gefolgt. Nur einzelne Maͤnner haben dieſem
Strome der Begeiſterung ſich widerſetzt, die große
Maſſe des Publikums iſt uͤberall davon fortgeriſſen
worden, und mit Erſtaunen ſehn wir zum erſten Mal
alle noch ſo verſchiedenen Voͤlker in ein und demſelben
Geſchmack uͤbereinſtimmen. Noch wichtiger iſt der
Umſtand, daß ſeine Manier uͤberall nachgeahmt wird,
und daß er der Vater einer neuen, die halbe Welt
uͤberſchwemmenden Literatur geworden iſt. Nachahmer
hat es immer gegeben, aber ſo zu Hunderten ſind ſie
doch nie aus allen Winkeln der Erde hervorgeſchoſſen,
und noch nie hat ein Dichter oder eine Dichtungsart
ſich ſo auffallend vervielfaͤltigt. Man muß bei die¬
ſem Romanenkraut, das ſo leicht in jedem Boden
Wurzel faßt und um ſich wuchert, unwillkuͤrlich an
die Kartoffeln denken, die ſich einſt aus demſelben
Lande und auf dieſelbe Weiſe uͤber ganz Europa ver¬
breiteten. Alles baut jetzt die wohlfeile Frucht, und
die literariſche Ökonomie erlebt eine der groͤßten Ka¬
taſtrophen. Das neue Nahrungsmittel fuͤr die See¬
len fuͤhrt zugleich im Geſchmack, und ich moͤchte ſa¬
gen, in der ganzen Conſtitution derſelben eine eben
ſo große Kataſtrophe herbei. Kaum hat ein Menſch
davon gekoſtet, ſo muß er immer wieder koſten, und
die verſchiedenſten Nationen ſitzen ohne Neid und
Eckel bruͤderlich an einer Schuͤſſel, und eben ſo bruͤ¬
derlich der Ladendiener, der die Neunkreuzerausgabe
nur mit der Elle meſſen kann, und der tiefſinnigſte
[166] Dichter oder Philoſoph, wie Tieck und Steffens,
die an die neue Zauberwelt den unendlichen Maaßſtab
des Genies legen. Eine ſo große und noch immer
in der lebhafteſten Criſe begriffene Revolution der
Literatur und des Geſchmacks fordert zum Nachden¬
ken auf, und ſo haͤufig man auch ſchon den Gegen¬
ſtand beſprochen hat, ſo iſt er doch nicht leicht zu
erſchoͤpfen.


Die große Vorliebe des Publikums fuͤr die neue
Manier hat hellſehende Geiſter doch nicht daruͤber
getaͤuſcht, daß unter der Firma Walter Scott eine
unſaͤgliche Menge baarer nuͤchterner Proſa, ja plum¬
per und ſchmutziger Unpoeſie mit untergelaufen iſt.
Die nahe Nachbarſchaft, in welcher der hiſtoriſche
Roman auch mit den niedrigen Regionen des Lebens
ſteht, hat einen Verkehr der gemeinſten Geiſter mit
der Poeſie veranlaßt, aus welchem unzaͤhlige Mi߬
geburten, Wechſelbaͤlge und Karrikaturen entſtanden
ſind. Walter Scott ſelbſt iſt keineswegs frei davon,
und auch ſeine beſten Romane haben noch etwas Ge¬
druͤcktes, Boͤotiſches, dem es an einem gewiſſen Adel
mangelt. Man kann ihn als einen reichen Mann
ſchaͤtzen, aber man verehrt in ihm nichts Heiliges,
wie bei Shakſpeare oder Schiller. Ludwig Tieck hat
in einem Briefe, der in Solgers Nachlaß abgedruckt
iſt, ein ſehr feines Urtheil uͤber ihn ausgeſprochen
(Thl. I. S. 713): „wie wenig fehlt dieſem Meiſter,
um ein Poet zu ſeyn, und wie iſt dieſes Wenige,
was fehlt, doch mehr als ſein ganzes großes Ta¬
[167] lent.“ Um ſo erfreulicher iſt es aber, daß Tieck ſelbſt
verſucht hat, dieſes Wenige zu ergaͤnzen, und wer
findet nicht, daß es in ſeiner walterſcottiſirenden No¬
velle, der Aufruhr in den Cevennen, wirklich er¬
gaͤnzt iſt? Es fragt ſich hier nicht, wie dieſer oder
jener Dichter den hiſtoriſchen Roman verunſtaltet
und mißbraucht hat, ſondern, was uͤberhaupt in ihm
fuͤr poetiſche Anlagen zu Grunde liegen, die dann
der eine allerdings mißbrauchen, ein anderer aber
auch vollendet ausbilden wird.


Walter Scott hat unlaͤugbar das Verdienſt, den
hiſtoriſchen Roman als eine eigenthuͤmliche poetiſche
Gattung begruͤndet zu haben, wenn er auch noch nicht
das Hoͤchſte darin geleiſtet hat. Zwar gab es ſchon
vor ihm genug hiſtoriſche Romane, aber ihre Ten¬
denz war doch eine andere. Das Geſchichtliche war
nur Vehikel fuͤr gewiſſe philoſophiſche und moraliſche
Ideen. Man bediente ſich der Geſchichte, um ideale
Charaktere daraus hervorzuheben, oder hineinzutra¬
gen, und um ſie gleich der Natur zum bloßen Hin¬
tergrunde fuͤr einzelne Helden- und Familiengruppen
zu machen. Die Romantik nahm ein hiſtoriſches Ge¬
wand an, aber das hatte man noch nicht begriffen,
daß die Geſchichte ſelbſt eingeborne Romantik ſey.
Man hatte geſchichtliche Romane, wie man buͤrger¬
liche, laͤndliche und Familienromane hatte, aber man
beſaß keine romantiſche Geſchichte. Der Held des
Romans war eine hiſtoriſche Perſon, und haͤtte eben
ſo gut nur eine gedichtete ſeyn duͤrfen, weil es nur
[168] darauf ankam, in ihm irgend ein Ideal aufzuſtellen.
Wunderbare Begebenheiten aus der wirklichen Welt
wurden geſchildert, aber auch nur, weil ſich eine
Lehre daraus ziehen ließ. Überall diente die Ge¬
ſchichte hoͤhern Zwecken, ſie wurde nicht ſelbſtſtaͤndig,
frei, rein um ihrer ſelbſt willen von den Dichtern
behandelt, man ſuchte darin nur Stoffe, um ſie mit
einem fremden Geiſt zu beleben, nicht den ihr eige¬
nen Geiſt. Die Hiſtorienmalerei war in der italie¬
niſchen Schule befangen, und idealiſirte nur. Die
Geſchichte lag wie ein großer wilder Garten vor den
Dichtern ausgebreitet, aber ſie ſuchten nur hier nach
den ſchoͤnſten Blumen der Unſchuld und Tugend, dort
nach den heilſamſten Kraͤutern ſittlicher Lehren und
nach den Rieſenbaͤumen großer Charaktere. Ein Land¬
ſchaftmaler mußte kommen, und unſchuldig und
naiv an allem ſich laben, was in dem großen Gar¬
ten durcheinander rankte, und dieß war Walter
Scott. Er zuerſt wendete den ſinnigen Blick von den
glaͤnzenden Hauptpartien der Geſchichte auch auf
die unſcheinbaren Winkel derſelben, und ſuchte nichts
beſondres darin, ſondern nahm alles, wie es war,
und ſiehe, es war poetiſch. Es gibt allerdings eine
naive Anſicht der Geſchichte die ſie in allen ihren
natuͤrlichen Erſcheinungen auffaſſen und den darin
waltenden Geiſt, die ſtille wunderbare Vegetations¬
kraft der Nationen an und fuͤr ſich poetiſch finden
kann und muß, ohne die Poeſie von hoͤhern Idealen
entlehnen zu duͤrfen, die nur zu oft dieſe natuͤrliche
[169] Poeſie in den Schatten ſtellen. Es iſt gut und ſchoͤn,
wenn wir uns uͤber die beſchraͤnkten Lebenskreiſe ein¬
zelner Zeiten und Voͤlker zum Idealen erheben koͤn¬
nen, aber die naive, kindliche, glaͤubige Weltanſicht,
die in jenem engen Kreiſe befangen bleibt, die Illu¬
ſion beſchraͤnkter Nationalitaͤten, Gegenden, Klimate,
Kulturſtufen und Zeitalter behaͤlt ihren hochpoetiſchen
Werth nicht nur fuͤr die Befangenen, ſondern auch
fuͤr alle, die daruͤber ſtehn, und gleichſam in die
Kindheit des Menſchengeſchlechts zuruͤckblicken.


Das innerſte Weſen des hiſtoriſchen Romans
iſt in etwas ganz anderem zu ſuchen, als worin die
hiſtoriſchen Darſtellungen bisher befangen geweſen
ſind. Im Drama hat man die Geſchichte bloß zu
einer Probe der menſchlichen Kraft, und zur Folie
der Ideale gemacht. Im Epos hat man eine goͤtt¬
liche Vorſehung uͤber der Geſchichte angenommen, und
die Proſa der Wirklichkeit durch Wunder von oben
einigermaßen erfriſcht und belebt. Dort ſtand der
Menſch frei auſſer der Geſchichte und ihr kaͤmpfend
gegenuͤber, hier aber fuͤgte die Gottheit die Geſchichte
ebenfalls von auſſen, und behandelte ſie als einen tod¬
ten Stoff. Etwas ganz anderes zeigt uns der hiſto¬
riſche Roman, in dem Sinne, wie Walter Scott
ihn aufgefaßt. Hier iſt der Menſch nur ein Product
der Geſchichte, gleichſam eine Bluͤthe, die aus ihrer
Mitte hervorvegetirt, von ihren Saͤften genaͤhrt, und
von ihren geheimen Kraͤften feſtgehalten. Aber auch
die Gottheit iſt nicht getrennt von dem in der Ge¬
Deutſche Literatur. II. 8[170] ſchichte ſtill waltenden Naturgeiſt, ſchwebt nicht uͤber
dem Leben, ſondern iſt das Leben ſelbſt, wirkt keine
Wunder von oben, die ſich unterſcheiden von dem
gemeinen Leben unten, ſondern ſie wirkt alles nur
von innen, und alles, was ſie hervorbringt, oder
nichts iſt ein Wunder. In dieſem Sinne kehrt die
Poeſie gewiſſermaßen zum aͤlteſten Pantheismus und
Elementardienſt zuruͤck, und ahnet das Heilige nur
in allem, was iſt, bildet ſich aber keine Goͤtter mehr
auſſer und uͤber den uͤbrigen Dingen. Bisher war
die Poeſie der Vielgoͤtterei oder dem Monotheismus
zugethan, ſofern ſie immer nur gewiſſe Gruppen von
ausgezeichneten Menſchen und Familien oder auch
nur einen einzigen Helden in den Vordergrund ſtellte.
Dagegen iſt nun die neue Manier, ſtatt jener Hel¬
den ganze Voͤlker, ſtatt einzelner Charaktere die Phy¬
ſiognomie, den Geiſt und Ton, die Sitten und Ei¬
genthuͤmlichkeiten ganzer Laͤnder und Zeiten, ſtatt
einzelner Thaten den Lebensprozeß ganzer Genera¬
tionen zu ſchildern, allerdings ein poetiſcher Pan¬
theismus zu nennen. Man kann dieſe Poeſie aus den¬
ſelben Gruͤnden auch durch den Charakter des De¬
mokratiſchen bezeichnen. Der Held im Vordergrunde
iſt immer der poetiſche Monarch, und ganze Grup¬
pen im Vordergrunde bilden eine natuͤrliche Ariſto¬
kratie. Wirklich iſt auch das Volk im Hintergrunde
immer zu einer ſehr erbaͤrmlichen Statiſtenrolle her¬
abgewuͤrdigt worden. In dem neuen hiſtoriſchen Ro¬
man aber herrſcht eben dieſes Volk, und was davon
[171] in den Vordergrund ſich herausſtellt, ſind immer nur
ſeine Organe, aus ſeiner Mitte, aus allen ſeinen
Claſſen, ja aus ſeiner Hefe herausgegriffen. Darum
ſind die Helden aller walterſcottiſirenden Romane
niemals Ideale, ſondern nur ſchlichte Menſchen, Re¬
praͤſentanten einer ganzen Gattung, und ſofern ein
ſolcher Held den ganzen Roman zu beherrſchen
ſcheint, dient er doch nur als ein Faden, um daran
die Laͤnder-, Voͤlker- und Sittengemaͤlde aufzureihen.


Von jeher war das Thema aller Poeſie der
Menſch, und auch die neue Romanpoeſie kann davon
nicht abweichen; ſie faßt aber den Menſchen mehr in
der Gattung auf, waͤhrend er fruͤher mehr in der
Individualitaͤt aufgefaßt wurde. Ihr Held iſt alſo
eigentlich nicht mehr der einzelne Menſch, ſondern
das Volk. Dadurch wird ſie aber eng an die Natur
und die wirkliche Geſchichte gebunden, denn die Gat¬
tung folgt unwandelbar dem ſtillen Zuge der Natur,
nur der Einzelne reißt ſich los und ſtrebt nach Idea¬
len. Aus dem Einzelnen kann der Dichter machen,
was er will, aber ein Volk muß er nehmen, wie es
iſt. Hier bleibt ihm nur uͤbrig, das Poetiſche in der
Wirklichkeit zu erkennen, nicht es eigenmaͤchtig zu er¬
ſchaffen. Wie gluͤcklich man den Menſchen idealiſirt
hat, ſo iſt es doch nie gelungen, die Gattung im
Ganzen oder nur ein beſtimmtes Volk zu idealiſiren.
Die Traͤume von Muſtervoͤlkern ſind immer ſehr leer
und aufgeblaſen, die Verſchoͤnerungen wirklicher Voͤl¬
ker, z. B. die Schweizeridyllen eines Clauren, im¬
8 *[172] mer ſehr albern geweſen. Sobald der Dichter ein
Volk ſchildert, muß er es treu ſchildern, wie die
Natur.


Die Elemente einer ſolchen Volkspoeſie liegen in
der Natur vorgezeichnet. Das Volk wurzelt einer
Pflanze gleich in einem beſtimmten Boden und Clima.
Das Land iſt die Bedingung ſeines Charakters wie
ſeiner ganzen Exiſtenz, und bietet dem Dichter zu¬
naͤchſt die Gelegenheit dar, mit dem Landſchaftmaler
zu wetteifern. Hier iſt dieſer Wetteifer, den man
ſonſt getadelt hat, an ſeiner rechten Stelle. Aller¬
dings ſind die idylliſchen Bildchen, welche nur die
Abſicht haben, Landſchaftsgemaͤlde zu geben, gewoͤhn¬
lich nur Taͤndeleien, und der Maler uͤbertrifft den
Dichter immer, wo dieſer nur ihn erreichen will.
Anders verhaͤlt es ſich ſchon mit jenen großen Na¬
turanſichten Humboldts, indem hier ein philoſophi¬
ſcher Geiſt hinzukommt, den der Maler nicht mehr
ausdruͤcken kann, wohl aber der Dichter. Noch mehr
aber ſiegt die Sprache uͤber die Farbe, der Dichter
uͤber den Maler, wo es gilt, den hiſtoriſchen Geiſt
einer Gegend zu bezeichnen. Dieſer hiſtoriſche Geiſt,
wenn ich mich eines ſolchen Ausdrucks bedienen darf,
iſt gewoͤhnlich das Intereſſanteſte, Reizendſte, und
das vorzugsweiſe Poetiſche in einer Gegend. Er
wird ihr gleichſam eingehaucht durch den Geiſt der
Bewohner. Nicht nur das Volk nimmt eine gewiſſe
Eigenthuͤmlichkeit von ſeinem Boden an, ſondern auch
dieſer von ihm, wenigſtens in unſrer Einbildung.


[173]

Dadurch unterſcheidet ſich jeder hiſtoriſche Boden von
dem neuentdeckten, noch unbevoͤlkerten; und dadurch
unterſcheidet ſich auch ein bewohntes Land von dem an¬
dern weit mehr, als durch ſeine bloß phyſiſchen Ei¬
genſchaften. Wir denken uns kein ſolches Land, ohne
zugleich an das Volk, ſeinen Charakter und ſeine Ge¬
ſchichte zu denken, und dadurch erſt erhaͤlt es den
romantiſchen Reiz fuͤr uns. Dieſen Reiz nun kann
niemand beſſer erwecken, als der Dichter, der nicht bloß
die Gegend malt, ſondern das Volk und ſeine
Geſchichte dazu, der uns in die lebendige Mitte nicht
nur der Natur und des Raumes, wie der Maler,
ſondern auch der Zeit und der Begebenheiten verſetzt.
Der Dichter hat dabei noch den Vortheil, daß er
uns Gegenden hoͤchſt intereſſant macht, die es nie
ſeyn wuͤrden, wenn nur ein Maler ſie abbildete.


Ein zweites Element bietet der phyſiſche Cha¬
rakter des Volkes ſelbſt dar, die Nationalphyſiogno¬
mie, die Stammesnatur, das Temperament, worin
die Natur eine unerſchoͤpfliche Fuͤlle von intereſſanten
Eigenthuͤmlichkeiten und tiefromantiſchen Reizen ent¬
faltet. Hier ſchließt ſich dem Dichter ein unerme߬
liches Feld auf, das noch ſehr wenig bebaut worden
iſt. Gleichſam nur unwillkuͤrlich haben bisher die
Dichtungen verſchiedener Voͤlker ein nationelles Ge¬
praͤge getragen. Das Streben der Dichter ging nicht
dahin, das Nationelle zu bezeichnen, vielmehr etwas
Humanes, allgemein Menſchliches davon auszuſchei¬
den. Man kann die unzaͤhlbare Maſſe von Helden,
[174] welche die Poeſie ſeit Jahrtauſenden erſchaffen hat,
beſſer nach den Claſſen eines pſychologiſchen Syſtems,
worin ein Normalmenſch als Typus des ganzen Ge¬
ſchlechts erſcheint, als nach den Faͤchern der Geo¬
graphie und Geſchichte eintheilen, oder, um mich
eines philoſophiſchen Ausdrucks zu bedienen, beſſer
nach der Analyſe des Moͤglichen, als nach der Syn¬
theſis des Wirklichen. Die meiſten Poeſien tragen
nur etwas allgemein Menſchliches in eine Fabelwelt
hinuͤber, die nirgends exiſtirt, und halten ſich nicht
an einen wirklichen Ort auf der Erde, an einen
wirklichen Zeitraum in der Geſchichte. Ihre Helden
ſind ſo, wie ſie im ſuͤßen Traum des Weltverbeſſe¬
rers erſcheinen, nicht wie ſie das wirkliche Leben
zeigt. Es ſind die Ideale aller Tugenden oder auch
Laſter, aller Vollkommenheiten und Genuͤſſe, oder
auch Leiden, die menſchenmoͤglich ſind, nicht der treue
Spiegel deſſen, was wirklich iſt. Was iſt auch wohl
natuͤrlicher und unſchuldiger, als die Freuden in der
Einbildung zu genießen, die uns in der Wirklichkeit
fehlen, und was giebt es Hoͤheres fuͤr den Menſchen,
als in der Poeſie ſich ſelbſt zu idealiſiren, zu ver¬
edeln und zu vergoͤttlichen, ſo lange dieß ihm nicht
im Leben ſelbſt gelingt. Die Poeſie bezeichnet dem
Menſchen die Bahn zu jeder Groͤße, Tugend und
Heiligkeit, und er ſoll nicht verkuͤmmern in gemeiner
Gewohnheit des Alltaͤglichen. Aber gerade je freier
ſich ſein Geiſt erhebt, deſto weniger wird er die Na¬
tur und jene erſten heiligen Bande, die uns an das
[175] Wirkliche feſſeln, mit einem feindlichen Auge betrach¬
ten koͤnnen. Er wird ſich mit der Nothwendigkeit
verſoͤhnen, und was ihm darin Anfangs hart, druͤckend,
beengend, klein und gemein erſchien, wird ſich mit
neuen Reizen uͤberkleiden. Das Wirkliche, dem er in
das Land der Ideale zu entfliehen geſucht, wird ei¬
nen ſtillen und allmaͤchtigen Zauber fuͤr ihn gewinnen.
Ahnungsvoll wird er in dem Walten der Natur das
Heilige wieder zu finden glauben, was er vielleicht
in ſeinen kuͤhnſten Traͤumen vergeblich geſucht und
aufgegeben. Dieß wird ihn auch bald dahin fuͤhren,
im großen Garten des Lebens alles nach ſeiner Art
intereſſant zu finden, beſonders aber das Ganze in
ſeinem harmoniſchen Zuſammenhange und in ſeiner
reizenden Mannigfaltigkeit. Eine kleine Blume, die
er ſonſt wohl verachtet hat, wird ihm werth werden
durch die Bedeutung, die ſie im Ganzen hat. So
wird er nun das wirkliche Leben der Gegenwart und
Vergangenheit, die Menſchen und ihr Treiben, wie
es wirklich iſt, wunderbar anziehend finden, und die
Zukunft und ihre Ideale daruͤber, wenn nicht ver¬
geſſen, doch nicht mehr allein gelten laſſen. Dem
Dichter wird es nun gelingen, das bisher ſo Un¬
ſcheinbare, das man nicht einmal mitleidswuͤrdig ge¬
nug fand, um es in einer Idylle oder in einer Poſſe
brauchen zu koͤnnen, auf eine neue und dankbare
Weiſe fuͤr die Poeſie zu gewinnen. Er wird den ge¬
meinen Menſchen aus dem Volke herausheben koͤnnen,
bloß weil er zu dieſem Volke, zu dieſem Stande, in
[176] dieſe Gegend, in dieſe Zeit gehoͤrt, und dieß wird
ihm einen romantiſchen Reiz verleihen, der auſſerdem
gar keine ausgezeichnete Perſoͤnlichkeit vorausſetzt.
Wir werden in ihm nicht die Perſon, den Helden,
den Schaͤfer oder die Karrikatur, ſondern nur den
Repraͤſentanten ſeines Volks und ſeiner Zeit und ihrer
Sitten ſehn. Der romantiſche Reiz, den ihm ſchon
dieſe Phyſiognomie verleiht, wird durch Contraſte
noch erhoͤht, und endlich ſehn wir nicht bloß ſolche
Menſchen mit verſchiedenen Geſichtern, Geberden und
Trachten, wie in einer Kinderfibel beiſammen, ſon¬
dern ſie leben und handeln in ihrer Zeit, und ver¬
gegenwaͤrtigen uns dieſelbe in ihrer ganzen Eigen¬
thuͤmlichkeit. Man hat das Rationelle bisher zu ſehr
als etwas Zufaͤlliges oder Gleichguͤltiges behandelt,
oder alle Nationen nach einem idealen Muſter beur¬
theilt, und nur das gelten laſſen, worin ſie einan¬
der gleich waren, oder ſie gleich machen, mit dem
großen Hobel der Kultur und Aufklaͤrung ſie plani¬
ren wollen. Aber in der Eigenthuͤmlichkeit, Verſchie¬
denheit, Sonderung der Voͤlker liegt ſchon jenes all¬
gemein Menſchliche ſo wunderbar verborgen, wie in
den Farben das Licht, und kann niemals davon ge¬
ſchieden werden. Jeder phyſiſchen Verſchiedenheit der
Voͤlker entſpricht ein gewiſſes Temperament, eine
Stimmung, Richtung und Kraft der Seele, und der
Inbegriff aller dieſer Richtungen offenbart uns erſt
den unendlichen Reichthum und die Tiefe des Menſch¬
lichen.


[177]

Hieran knuͤpft ſich das dritte Element, der gei¬
ſtige Charaker des Volks, die Seele deſſelben. Sie
laͤßt ſich ſchwerer malen, als das Äußere eines Volks,
wenn man ihre geheimſten Nuancen verfolgen will,
aber was in ihr ſo unerſchoͤpflich iſt, das iſt eben
die Poeſie. Die Nationen ſind ſich auch beinahe alle
gleich in dieſer Unergruͤndlichkeit ihres Charakters,
in der romantiſchen Tiefe, die uns den Keim ſo ei¬
genthuͤmlicher Bildungen verbirgt. Der Dichter findet
in jedem Volk etwas Heiliges und Unbegreifliches,
was da iſt, aber man weiß nicht wie und warum,
was ſo wirklich und natuͤrlich iſt, als etwas, aber
zugleich ſo wunderbar. Die Sitten und Inſtitutio¬
nen praͤgen bei weitem noch nicht alles aus, was in
der Seele der Voͤlker ſchlummert, ja die Geſchichte
ſelbſt laͤuft daran nur ab, zeigt uns nur wechſelnde
Momente an einem Beharrenden. Jeden Augenblick
ſchließt die Geſchichte den Kreis, und was vergan¬
gen iſt, kehrt nie wieder, aber im Volkscharakter
ſelbſt fließt ewig die Quelle neuer Bildungen aus
unergruͤndlicher Tiefe hervor. Die neuern Griechen
geben uns das ſchoͤnſte und augenfaͤlligſte Beiſpiel
deſſen, was Nationalitaͤt, eingeborne, unverwuͤſtliche
Volksnatur und Volksgemuͤth iſt. Es laͤßt ſich zwar
nicht laͤugnen, daß ein Überblick uͤber die Voͤlker der
Erde dem Menſchenfreunde manchen traurigen Anblick
darbietet; aber auf der andern Seite findet ſich auch
wieder «jedwedes Hohe, Herrliche auf Erden» an
das unſchuldige jungfraͤuliche Daſeyn edler Voͤlker¬
[178] ſtaͤmme geknuͤpft, in denen die Naturkraft unmittelbar
gewirkt, was die hoͤchſte Kultur nicht wieder erſetzt
hat. Und geſetzt, es gaͤbe eine gleichgebildete, allge¬
meine Menſchheit, in der alle Unterſchiede der Voͤl¬
ker aufgehoben waͤren, einen Freimaurerbund uͤber
die ganze Welt verbreitet, wie uniform, farblos und
oͤde muͤßte derſelbe gegen den vollen bunten Voͤlker¬
garten der Vergangenheit erſcheinen, und ſollten die
Philoſophen wirklich alle Voͤlkerſtroͤme zuletzt in den
Ocean einer einigen und gleichen Bruͤdergemeinde
der allgemeinen Menſchheit leiten koͤnnen, die Dich¬
ter wuͤrden an den Stroͤmen aufwaͤrts gehn und in
jene Gebirge zuruͤckkehren, die am Horizonte der Ge¬
ſchichte ſtehn.


Als das letzte Element betrachten wir das Schick¬
ſal, die Thaten, die Geſchichte der Voͤlker. Wenn
Schiller ſagt: «in deiner Bruſt ſind deines Schick¬
ſals Sterne!» ſo gilt dies auch von ganzen Voͤlkern.
Die Natur beſtimmt ſich ſelbſt, die Seele baut ſich
ihren Leib, die Seele des Volks verkoͤrpert ſich in
eigenthuͤmlichen Organen, die wir als Sitten, Staͤnde,
Staaten erkennen. In dieſen Organen iſt es thaͤtig
oder leidet, und ſeine innerſte Eigenthuͤmlichkeit iſt zu¬
gleich ſein aͤußeres Verhaͤngniß. Dieſe Anſicht, die ſogar
der Geſchichtforſchung nicht mehr fremd iſt, empfiehlt
ſich noch weil mehr dem Dichter, denn ſie iſt durch¬
aus poetiſch, ja der einzige poetiſche Schluͤſſel zur
Geſchichte. Der Dichter kann aber ſeinen Stand¬
punkt auf verſchiedene Weiſe nehmen, er kann ſich
[179] mitten in ein Volk verſetzen, oder ſich daruͤber ſtel¬
len, oder zwiſchen die Voͤlker, und auf jedem Stand¬
punkte ſtellt ſich ihm die Geſchichte in einem neuen Reize
dar. Verſetzt er ſich mitten in die Seele ſeines Volks,
ſo wird ſeine Dichtung von jenem patriotiſchen Feuer
gluͤhen koͤnnen, das jedes Herz in gleicher Gluth
entzuͤndet, und von jeher eine unwiderſtehliche poe¬
tiſche Kraft behauptet hat, und dies iſt die Lyrik des
hiſtoriſchen Romans. Stellt ſich der Dichter uͤber
das Leben und die Zeit, ſo wird er ihr Bild am
reinſten auffaſſen koͤnnen. Der Geiſt der Voͤlker ant¬
wortet auf unſere Fragen am beſten in einiger Ent¬
fernung, wie das Echo. Darum ſpricht er aus der
Vergangenheit am vernehmlichſten. Die Zeit bewirkt
ſchon, was dem Dichter erforderlich iſt; ſie draͤngt
naͤmlich das Bild der Voͤlker und der Geſchichte zu¬
ſammen. Auch verbreitet ſchon ihre Ferne von ſelbſt
uͤber jeden Gegenſtand einen magiſchen Duft und
Schleier, der ihm ein ruͤhrendes Intereſſe verleiht,
und es bedarf nicht erſt der elegiſchen Mittel des
Dichters, uͤber ein Gemaͤlde des Alterthums den ſanf¬
ten Reiz der Wehmuth auszugießen. Vorzuͤglich un¬
tergegangene Nationen, aber uͤberhaupt jede Vergan¬
genheit erſcheint uns ſchon an ſich poetiſch, und nur
in der Gegenwart thront die gemeine Alltaͤglichkeit
und Proſa; ſo wie wir auch nur in dem Lande, dar¬
in wir leben, gelangweilt werden, waͤhrend uns das
große Panorama der Voͤlker rings umher Erſtaunen
und Sehnſucht einfloͤßt und die Seele mit einer un¬
[180] endlichen Fuͤlle von Bildern und Empfindungen ſaͤt¬
tigt. Aus dem ganzen Umkreis des Entfernten und
Vergangenen waͤhlt nun der Dichter helle zuſammen¬
haͤngende Bilder aus, und ſtellt ſie uns in einem ge¬
faͤlligen Rahmen vor die Augen. Wir blicken in die
fremde Gegenwart hinein, in eine andere Welt, in
der doch alles ſo natuͤrlich iſt, als ob es noch lebte,
und dies iſt das Epos des hiſtoriſchen Romans. End¬
lich fuͤhrt der Dichter verſchiedene Nationen zuſam¬
men, und waͤhlt dazu Momente der Geſchichte, in
welchen ſie wirklich in lebhaften Conflikt gekommen
ſind. Hier hebt ſich jede Eigenthuͤmlichkeit durch den
Contraſt, und die Reibung ruft die hoͤchſte Thaͤtig¬
keit des Nationalgeiſtes hervor. In Kriegen und Re¬
volutionen ſpielen und gluͤhen alle Farben durcheinan¬
der, ſchaͤrft ſich die Phyſiognomie, erwachen die ſchlum¬
mernden Kraͤfte und offenbaren in großen Leidenſchaf¬
ten, was im Gemuͤth der Voͤlker zu Grunde liegt.
Das iſt das Dramatiſche des hiſtoriſchen Romans
und ſeine Vollendung.


Ziehen wir alles dies in Betrachtung, ſo ergibt
ſich, daß es immer nur das Volk iſt, was als der
eigentliche Held des hiſtoriſchen Romans betrachtet
werden muß. Davon haͤngt nun auch das Geſetz ab,
daß der Dichter ſich einer moͤglichſt objectiven Dar¬
ſtellung befleißige, denn wenn es ihm vergoͤnnt iſt,
einem Menſchen ſeine Geſinnungen und Empfindungen
unterzulegen, ſo kann dies doch nicht bei einem Volke
oder deſſen Repraͤſentanten Statt finden. Das Volk
[181] muß treu nach der Wahrheit geſchildert werden, und
der Dichter darf ſich nie erlauben, ſeine Geſchichte
willkuͤrlich zu entſtellen. Wir finden dergleichen Ent¬
ſtellungen in mehreren Romanen. Gewiſſe Dichter
tragen die Intereſſen, Geſinnungen und Parteianſich¬
ten der gegenwaͤrtigen Zeit in die Vergangenheit hin¬
uͤber, und dies iſt eine poetiſche Suͤnde. Jede Zeit
hat ihre eigene Poeſie und ſie darf nicht verfaͤlſcht
werden. Dem Dichter ſteht eine zweite phantaſtiſche
Welt offen, dahin kann er alles verpflanzen, was er
erfindet, aber auf dem Boden der Wirklichkeit muß
er die Poeſie ſo laſſen, wie ſie demſelben ſchon von
Natur eingepflanzt iſt.


Außerdem hat der Dichter noch zwei Extreme
zu vermeiden, wenn er die Poeſie der Voͤlker charak¬
teriſtiſch bezeichnen will. Er muß ein zu Hohes und
ein zu Niederes ſcheuen. Zu hoch ſind gewiſſe Hel¬
den der Geſchichte, die gleichſam aus dem Kreiſe der
Nation heraustreten, in denen der Genius der gan¬
zen Menſchheit waltet, deren uͤberwiegende Kraft die
Bande der Gewoͤhnung, des Laͤndlichen und Sittli¬
chen zerreißt. Solche Helden ziehen, wo ſie erſchei¬
nen, alle Augen allein auf ſich, und das Volk tritt
in den dunkeln Hintergrund. Wer alſo das Volk
ſchildern will, muß es in ſeiner Mitte, nicht in ſol¬
chen ausſchweifenden Hoͤhenpunkten ergreifen. Aber
es gibt auch eine zu niedrige Sphaͤre, in der man
es ebenfalls nicht vorzugsweiſe auffaſſen darf, ohne
es ganz zu verkennen. Dann malt der Dichter nur
[182] wie ein Tenier und Oſtade an jener letzten Graͤnze
des Menſchlichen, wo es ins Baͤren- und Affenmaͤ¬
ßige uͤbergeht.


Ich kann nicht umhin, noch zwei andre Extreme
zu ruͤgen, in welche die Walterſcottiſche Schule haͤu¬
fig verfallen iſt. Gewiſſe Dichter verweilen gar zu
ausfuͤhrlich bei dem Ausmalen der Lokalitaͤten, der
Sitten und des Coſtums, und geben das, was man
in der Malerei Stillleben nennt; das iſt aber keine
wahre Poeſie, und verbirgt ſchlecht den Mangel an
lebendiger Darſtellung des Volksgeiſtes. Auf der
andern Seite hat man denſelben Mangel durch aben¬
teuerliche Frazzen zu erſetzen geſucht, und Walter
Scott ſelbſt hat dafuͤr den Ton angegeben.


Fragen wir nun zuletzt noch, in welcher Weiſe
die neuen Romane mit dem Zeitgeiſt uͤbereinſtimmen,
und woher es komme, daß ſie gerade jetzt und ſo
allgemein beliebt werden, ſo wird ſich uns bald ent¬
decken, daß hier nicht blos von einem fluͤchtigen
Rauſch der Mode die Rede ſey. Vielmehr greift
dieſe poetiſche Gattung tief in das Weſen der Zeit
ein, und iſt eine unzertrennliche und nothwendige
Erſcheinung, ein echtes und nothwendiges Erzeugniß
des neuen Kulturzuſtandes, ganz ungleich jenen Ma¬
nieren oder Manieen, mit denen man bisher ein
wechſelndes und taͤndelndes Spiel getrieben hat.


Niemand zweifelt laͤnger, daß die Richtung des ge¬
genwaͤrtigen Zeitalters eine weſentlich praktiſche und
politiſche iſt. Dies muß auf die Poeſie Einfluß
[183] uͤben, und wer kann ihn in den hiſtoriſchen Roma¬
nen verkennen? Man irrt ſich, wenn man befuͤrchtet,
die praktiſche Richtung der lebenden Generation laufe
der Poeſie ſchnurſtraks entgegen; ſie reißt ſie viel¬
mehr mit ſich fort, wie alles andere. Wenn man
auch in unſerer bewegten politiſchen Zeit nicht mehr
mit rechter Luſt und Muße die alten poetiſchen Er¬
goͤtzungen forttreiben kann, ſo bieten ſich uns doch
andere dar, die mehr in dieſe Zeit paſſen. Da noch
alles um uns her ſo friedlich war, konnten wir auch
mit all unſerer Poeſie gleichſam in der Familie le¬
ben. Jetzt iſt es anders geworden. Wie wir ſelbſt
aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf
die große politiſche Laufbahn fortgeriſſen worden, ſo
hat auch unſere Poeſie den Kreis erweitert. Das
zaͤrtliche Paar, um das ſich bisher faſt alle Poeſie
gedreht, iſt zu einem Volk erwachſen. Unſre poeti¬
ſchen Helden haben ſich im Volk verloren, wie die
wirklichen. Sind alle großen Maͤnner der Zeit, ſelbſt
der groͤßte, unter den Voͤlkerrieſen erlegen, die aus
dem alten Schlummer erwachen, wie ſollte die Poeſie
dem Geiſt der Voͤlker nicht auch huldigen? Wir ha¬
ben dieſen Geiſt uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten ſehn,
mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Voͤlker¬
zuͤge, wunderbare Verhaͤngniſſe, ungeheure Thaten
und Leiden geſehn; und wie klein erſcheint gegen dieſe
große Wirklichkeit alles, was wir bisher im ſtillen
Familienkreiſe gedichtet und getraͤumt! Soll ſich nun
die Poeſie nicht ſchaͤmen, ſo muß ſie der Geſchichte
[184] nacheifern, und ſoll ſie dem Zeitgeiſt huldigen, ſo
muß ſie das hiſtoriſche Element in ſich aufnehmen,
wie ſie ja auch im vorigen Jahrhundert ein philoſo¬
phiſches mit ſich vermaͤhlt hat. Der hiſtoriſche Ro¬
man iſt mithin das echte Kind ſeiner Zeit.


Wir haben ſchon oben in jenem hiſtoriſchen Ele¬
ment zugleich ein demokratiſches erkannt, und eben
dadurch unterſcheidet ſich die neue Gattung von Ro¬
manen von den aͤltern hiſtoriſchen Darſtellungen. Die
Poeſie zeigt hier daſſelbe Verhaͤltniß, wie die Politik.
Die walterſcottiſirenden Romane repraͤſentiren das
Volk, die aͤltern Heldengeſchichten die Monarchie oder
Ariſtokratie. Dieſe Wechſelbeziehung iſt natuͤrlich.
Beides, die neuen Verfaſſungen und die neuen Ro¬
mane beruhen auf der Wichtigkeit, welche die Voͤlker
neuerdings erlangt haben.


Natuͤrlich ſteht der hiſtoriſche Roman in einem
ſehr nahen Verhaͤltniß zur Geſchichtſchreibung, und
wenn er auch vorzugsweiſe das Schoͤne oder nur das
Intereſſante, Reizende, die ſtrenge Geſchichte dage¬
gen das Wahre, abgeſehn von jenem Reiz, auffaßt,
ſo iſt doch der Stoff immer der naͤmliche. Wirklich
graͤnzen aber beide im Gebiet der Specialgeſchichte
ſo nahe zuſammen, daß ſie eigentlich in einander
uͤbergehn. Die Weltgeſchichte iſt bereits ſo angewach¬
ſen, daß wir Muͤhe haben, ſie nur in ihren wichtig¬
ſten Thatſachen zu uͤberblicken. Das Detail muͤſſen
wir ſondern, wir koͤnnen es nicht mehr dem Bau
des Ganzen in der welthiſtoriſchen Darſtellung ein¬
[185] fuͤgen. Die Sammlungen in hundert und mehr Quart¬
baͤnden, welche die Weltgeſchichte im Detail behan¬
deln, und ungern einen aſſyriſchen Koͤnig oder deut¬
ſchen Kurfuͤrſten auslaſſen, ſind wegen ihrer monſtroͤſen
Unbehuͤlflichkeit mit Recht aus der Mode gekommen.
Man ſucht das Wichtigſte der Weltgeſchichte in ge¬
draͤngtem Zuſammenhange zu begreifen, und das Ein¬
zelne gleich Bildern in kleine Rahmen zu faſſen, in
Biographien, Sittengemaͤlden, Memoires. Dies ſind
allein die Formen, in welchen man das auf eine be¬
friedigende Weiſe ſchildern kann, was die Geſchichte
ganzer Zeiten und Voͤlker oder gar des ganzen Men¬
ſchengeſchlechts unbeachtet laſſen muß. Wer den Gang
der Geſchichte im Großen verfolgt, kann ſein Intereſſe
nicht endlos zerſplittern; dem Intereſſe fuͤr das Ein¬
zelne wird aber vollkommen Genuͤge geleiſtet, wenn
wir den hoͤhern Standpunkt verlaſſen, und uns nur
in einen Moment der Geſchichte, in eine beſtimmte
Gegend und in den Geſichtskreis eines oder weniger
Menſchen verſetzen. Hier geht nun aber die Special¬
geſchichte unmittelbar in den Roman uͤber. Es iſt
wenig Unterſchied, ob der Biograph die Wirklichkeit
in allen ihren reizenden, romanhaften Einzelheiten
ſchildert, oder ob der Romandichter ſein Werk dem
Geiſt und Ton eines beſtimmten Zeitalters genau an¬
paßt. Iſt nicht ein gewoͤhnlicher Liebeshandel oder
irgend eine philoſophiſche Idee der Zweck des Dich¬
ters, will er nur den alterthuͤmlichen Geiſt, die Er¬
innerung an vergangene Tage heraufbeſchwoͤren, und
[186] ſucht er den Ruhm darin, der Natur und Wirklich¬
keit treu zu bleiben, ſo reiht er ſich wirklich an den
Hiſtoriker an. Der Roman iſt ſodann nur eine freiere
Form der Geſchichtſchreibung, aber eine Form, worin
ſich der Geiſt der Geſchichte oft treuer ſpiegelt, als
in bloßen trocknen Berichten. In gewiſſen altfran¬
zoͤſiſchen und altengliſchen Romanen werden wir beſ¬
ſer uͤber die Sitten der Zeit und uͤber die Phyſiogno¬
mie der Nation unterrichtet, als in irgend einem
Hiſtoriker; oder denken wir an Cervantes Novellen,
welcher ſpaniſche Geſchichtſchreiber hat uns ſo leben¬
dig in die Mitte jener Zeit und Lokalitaͤt verſetzt?
Man darf alſo wohl behaupten, daß der Hiſtoriker
nicht unrecht thut, wenn er den Romanſchreiber zu
Huͤlfe ruft. Dies iſt in der neuen Zeit um ſo noͤthi¬
ger, als in derſelben der Stoff der Geſchichte uner¬
meßlich zugenommen hat, und vom Standpunkt des
Romandichters, Biographen und Memoiriſten aus
allein in ſeiner Vielſeitigkeit genuͤgend aufgefaßt wer¬
den kann. Seit der Reformation iſt die Geſchichte
immer verwickelter geworden, der Geſchichtſchreiber
kann ſich nur an den Gang der Hauptbegebenheiten
halten, die unzaͤhlbaren kleinen Epiſoden, worin das
Einzelne zu beleuchten iſt, muß er den Biographen
und vorzuͤglich den Romanſchriftſtellern uͤberlaſſen, die
ſolche kleine Detailgemaͤlde in den ſchicklichſten Rah¬
men zu faſſen wiſſen, und in deren Werken die Nach¬
welt ſich das Vergangene lebendiger vergegenwaͤrtigen
wird, als in unſern Zeitungen.


[187]

Aus allem bisher Geſagten erhellt nun wohl von
ſelbſt, warum der hiſtoriſche Roman gerade in unſ¬
rer Zeit und ſo allgemein und bei allen gebildeten
Voͤlkern uͤbereinſtimmend kultivirt wird. Obgleich die
Englaͤnder den Ton angegeben haben, ſo verſteht ihn
doch nicht blos das engliſche, ſondern jedes Ohr.
Den Englaͤndern gebuͤhrte der Vorgang, weil ſie von
jeher auf Nationalitaͤt beſſer gehalten haben, als an¬
dre Voͤlker. Es iſt aber hier nicht von engliſcher
Volkspoeſie die Rede, ſondern von Volkspoeſie uͤber¬
haupt. Man ahmt in Walter Scott nicht den Eng¬
laͤnder, ſondern den Dichter der Vergangenheit nach,
und jede Nation hat die ihrige. Darum haben ge¬
gen Walter Scott alle die nationellen Vorurtheile
geſchwiegen, die ſich ſonſt ſo laut gegen andre fremde
Dichter geltend gemacht haben. Walter Scott's Ma¬
nier iſt uͤberall nationell, wo eine Nation ſich ſelber
fuͤhlt und begreift, und nur aus ſolchen Laͤndern ver¬
nehmen wir kein Echo ſeiner Stimme, in denen das
Volk unter despotiſchem Druck noch ſchlaͤft, noch
nichts von ſich ſelber weiß. —


Wir wenden uns nun zur modernen Poeſie,
die wir oben als die dritte Hauptgattung und Schule
unſrer Poeſie von der antiken und romantiſchen un¬
terſchieden haben. Das charakteriſtiſche Unterſchei¬
dungszeichen derſelben iſt, daß ſie ſich lediglich an
die Gegenwart haͤlt, und nur die heutigen Menſchen
und ihre Verhaͤltniſſe ſchildert. Sie ſtellt die Gegen¬
wart dem Alterthum und Mittelalter, die wirkliche
[188] Welt dem Wunderbaren, das Alltaͤgliche dem Idea¬
len entgegen. Sie iſt nicht der Spiegel einer ver¬
gangnen oder einer idealen Welt, ſondern der Spie¬
gel unſres eignen gegenwaͤrtigen Lebens und Treibens.


In gewiſſer Hinſicht ſcheint dieſe moderne Poeſie
allerdings die einzige natuͤrliche, nationelle und zeit¬
gemaͤße Poeſie zu ſeyn, das natuͤrliche Gewaͤchs auf
unſerm eignen Boden, in derſelben Weiſe, wie die
griechiſche Poeſie und die romantiſche des Mittelal¬
ters ganz ihrer Zeit angehoͤrte. Und wer wollte laͤug¬
nen, daß nicht auch wirklich trotz aller Verzerrungen
der Mode und der verdorbnen oder uͤberfeinerten
Sitten noch ſehr viel Poetiſches an uns iſt, das wir
als unſer naͤchſtes und gewiſſeſtes Eigenthum zu pfle¬
gen haben. Wir verwechſeln aber leider nur zu oft
das Schoͤne, was wirklich iſt, mit dem Wirklichen,
was wir fuͤr ſchoͤn halten. Grade das Naͤchſte, uns
vor Augen Liegende verblendet und taͤuſcht uns. Was
wir ſelbſt ſind, haben und genießen, wuͤnſchen oder
thun, ſcheint uns ſchon deßwegen ſchoͤn. Egoismus,
Gewohnheit und Mode laſſen uns uͤber das Fehler¬
hafte an uns ſelbſt hinwegſehn und verderben unſern
natuͤrlichen Geſchmack. Wir halten uns ſelbſt, oder
das, was wir haben oder begehren, fuͤr ſchoͤn und
einverleiben es unſrer modernen Poeſie oder finden
Gefallen daran, wenn uns Ähnliches auf dem Thea¬
ter oder in Romanen begegnet. Unſre eigne Eitel¬
keit oder unſer Eigennutz taͤuſcht uns uͤber den poe¬
tiſchen Werth dieſer Erſcheinungen. Eben ſo ſtark
[189] wirkt die Gewohnheit. Vieles Haͤßliche und ganz
Unpoetiſche bemerken wir blos darum nicht, weil
wir von Jugend auf daran gewoͤhnt ſind, oder wir
dulden es, weil es mit einer Neigung uͤbereinſtimmt,
die wir ſelbſt groß gezogen haben. Endlich uͤbt die
Mode den verderblichſten Einfluß auf unſern Ge¬
ſchmack. Wir halten etwas fuͤr ſchoͤn, weil es neu
iſt, weil es allgemein gefaͤllt und nachgeahmt wird,
und umgekehrt etwas fuͤr haͤßlich, was altmodiſch iſt
und allgemein beſpoͤttelt wird, ſey jenes auch ſehr
abgeſchmackt und dieſes vortrefflich.


Daher iſt es denn gekommen, daß unſre moderne
Poeſie ein wunderliches Gemiſch von echter Poeſie
und von Eitelkeit, Gewohnheit und Modethorheit ge¬
worden iſt. Man fuͤhlt dieſen Übelſtand, denn das aͤſthe¬
tiſche Gewiſſen laͤßt ſich ſo wenig wie das moraliſche
gaͤnzlich uͤbertaͤuben. Darum hat ſich auch allgemein die
Tradition unter uns verbreitet, daß die moderne Welt
bei aller hoͤhern Bildung doch weniger poetiſch ſey,
als die alte, und es herrſcht ein gewiſſes Gemein¬
gefuͤhl, daß unſre moderne Poeſie weniger heilig und
adelig, weniger vornehm ſey, als die antike und
romantiſche, daß ſie gleichſam plebejiſch ſey.


Dieſes Gemeingefuͤhl aͤußert ſich am deutlichſten
darin, daß wirklich die groͤßten unſrer Dichter ſich
der antiken oder romantiſchen Poeſie zuwenden und
die moderne meiſt dem Dichterpoͤbel und den Weibern
uͤberlaſſen. Es aͤußert ſich ferner in dem Umſtande,
daß gerade die beſten modernen Poeſien humoriſtiſche
[190] und ſatyriſche ſind, welche das moderne Leben ironi¬
ſiren oder verſpotten. Das eben hat unſerm Humor
eine ſo große Bedeutung gegeben, daß er unſer gan¬
zes gegenwaͤrtiges Daſeyn bemitleidet oder verachtet,
waͤhrend die aͤltern Satyriker nur einzelne Schlech¬
tigkeiten geißelten.


Wir unterſcheiden nun weſentlich dreierlei Gat¬
tungen der modernen Poeſie, eine didaktiſche oder
pſychologiſche, eine ſentimentale und eine humoriſti¬
ſche. Man ſchildert das moderne Leben, um Beleh¬
rungen daran zu knuͤpfen, oder um ſich mit ſelbſt¬
gefaͤlliger Sentimentalitaͤt daran zu ergoͤtzen, oder
um es zu ironiſiren.


Die aͤlteſte dieſer Gattungen war die didakti¬
ſche
. Man entwarf Sittengemaͤlde, moraliſche Er¬
zaͤhlungen, um entweder die Sittengeſetze durch den
Reiz der modernen Darſtellung zu empfehlen, oder
dieſen Darſtellungen durch einen moraliſchen Reiz Ein¬
gang zu verſchaffen. Es hielt in der That ſchwer,
Schilderungen aus dem gemeinen Leben der Gegen¬
wart in die Poeſie zu bringen, die man fuͤr viel zu
vornehm dazu hielt. Man wollte auf der Buͤhne wie
in den Romanen nur Goͤtter und Helden oder Schaͤ¬
fer, nicht aber gewoͤhnliche neumodiſche Menſchen
ſehn. Die Englaͤnder waren ſowohl von Natur als
durch ihren großen Shakeſpeare ſolchen Vorurtheilen
entgegen. Sie verwarfen den franzoͤſiſchen Geſchmack,
der ſich auch bei ihnen beſonders durch Pope einge¬
drungen, und kehrten zur eignen Natur zuruͤck. Nur
[191] verfielen ſie in die proteſtantiſche und moraliſche Nie¬
derlaͤnderei und die erſten modernen Romane, die ſie
einfuͤhrten, waren ſehr langweilig und pedantiſch,
wie die Zeit ſelbſt, und noch unertraͤglicher durch
den theologiſchen und moraliſchen Beiſchmack. Das
Beiſpiel der Englaͤnder feuerte auch die Deutſchen an,
Sittengemaͤlde im Gewande der Zeit zu entwerfen,
und namentlich ſetzte der Prediger Hermes der eng¬
liſchen Clariſſa ſeine preußiſche Sophie an die Seite.
Auch auf die Buͤhne kamen Sittengemaͤlde, die man
Luſtſpiele nannte. Anfangs hatten dieſe modernen Dar¬
ſtellungen einen ganz moraliſchen Charakter und einen
ganz engliſchen Zuſchnitt. Nur dadurch verſchafften
ſie ſich Eingang. Nachdem man ſich aber einmal an
die Erſcheinungen der alltaͤglichen Welt in Romanen
und Schauſpielen gewoͤhnt hatte, fand man bald Ge¬
fallen daran. Von den moraliſchen Gemaͤlden gieng
man ſofort zu pſychologiſchen uͤber, wie man in der
Philoſophie den gleichen Weg nahm. Der Wolfiſchen
Zeit gehoͤrte noch der moraliſirende Hermes an. Die
pſychologiſchen Romane und Schauſpiele ſchloſſen ſich
an die Kantiſche Periode.


Jene didaktiſche Poeſie zerfaͤllt alſo in eine mo¬
raliſche und pſychologiſche. Die moraliſche war die
erſte, hat ſich aber auch noch bis auf heute fortge¬
pflanzt. Man hat lange daruͤber geſtritten, ob nicht
uͤberhaupt die Poeſie nur ein Mittel ſey, die Sitt¬
lichkeit zu befoͤrdern, und man hat deßfalls in allem
Ernſt das Theater der Kanzel an die Seite geſetzt
[192] und die moraliſchen Erzaͤhlungen den Predigten, ja
bei Hermes, Nikolai, Stilling und andern war der
Roman wirklich mit Predigten oder wenigſtens ſehr
aͤhnlichen Raiſonnements durchflochten, daſſelbe findet
noch jetzt haͤufig ſtatt, z. B. in dem Roman: Wahl
und Fuͤhrung. Die pſychologiſchen Schilderungen be¬
gannen mit Leſſing und verbreiteten ſich vorzuͤglich
in Norddeutſchland in der Form theils der Luſt- und
Ruͤhrſpiele, theils der Romane. Sie gingen aus dem
Beſtreben hervor, die Natur in ihren feinſten Falten
zu belauſchen. Ihr aͤſthetiſcher Grundſatz war derje¬
nige des Batteur, daß die Poeſie die Natur voll¬
kommen copiren muͤſſe. Die Wahrheit war das Kri¬
terium ihres poetiſches Werthes. Unter den Roman¬
ſchreibern bildete Miller z. B. in ſeinem Siegfried
von Lindenberg, unter den Dramatikern vorzuͤglich
Iffland dieſe Gattung aus. Das Hoͤchſte hat Goͤthe
darin geleiſtet, beſonders im Werther, im Wilhelm
Meiſter und in den Wahlverwandtſchaften, obgleich
dieſe Dichtungen nur zum Theil dem pſychologiſchen
Intereſſe angehoͤren, und weſentlich zu der ſentimen¬
talen Gattung gerechnet werden muͤſſen. In den juͤng¬
ſten Zeiten haben ſich beſonders Weiber auf die pſy¬
chologiſchen Schilderungen eingelaſſen, waͤhrend die
Maͤnner ſich auf den hiſtoriſchen Roman in der Ma¬
nier Walter Scotts geworfen haben. Doch dieſe Da¬
menromane ſind wie die Gothiſchen, nach denen ſie
ſich gemodelt haben, mehr ſentimental, als pſycholo¬
giſch. An die pſychologiſchen Schilderungen im poe¬
[193] tiſchen Gewande haben ſich politiſche, paͤdagogiſche,
philoſophiſche ꝛc. angereiht. Alle Meinungen der Zeit
ſind auf der Buͤhne oder in Romanen abgehandelt
worden. Jede Art von Didaktik hat ein poetiſches
Gewand geborgt, ſich eindringlicher zu machen.


Jene didaktiſche Poeſie hat mehr wiſſenſchaftli¬
chen als poetiſchen Werth. Dagegen hat die ſenti¬
mentale
Darſtellung des heutigen Lebens nur einen
poetiſchen, oder gar keinen. Ihr Zweck iſt, das
Wirkliche und Gegenwaͤrtige als etwas Reizendes
und Gefaͤlliges darzuſtellen. Dieſe Art von Poeſie
behauptet einen großen Vorzug vor den antiken und
romantiſchen Nachbildungen des vergangnen Lebens.
Dieſe koͤnnen naͤmlich immer nur auf eine ſubjective
Schoͤnheit Anſpruch machen, nie vollkommen auf eine
objective. Sie koͤnnen das vergangne Leben nie ganz
treu copiren, nie rein objectiv darſtellen, ſie haben
das Object nicht vor Augen, nur in ihrer ſubjecti¬
ven Vorſtellung, und muͤſſen ihm mehr die Reize ih¬
rer Phantaſie und ihrer Empfindungen leihen, als
ſie ſich auf die ihm eigenthuͤmlichen Reize in reiner
Copirung beſchraͤnken koͤnnen. Die moderne Poeſie
dagegen kann vollkommen objectiviſiren, ſie hat ihr
Original vor Augen, ſie copirt das Wirkliche und
braucht von der Phantaſie und dem Gefuͤhl keinen
Reiz zu borgen, um ihr Gemaͤlde anziehender zu ma¬
chen. Ihr kommt jeder Vorzug der objectiven Wahr¬
heit zu. Wenn man aber das Schoͤne nur in den
Graͤnzen der Natur, der objectiven Wahrheit, dar¬
Deutſche Literatur. II. 9[194] ſtellen ſoll, ſo doch auch die Natur, das Wirkliche,
nur in den Graͤnzen des Schoͤnen, und hier laͤßt es
die moderne Poeſie nur zu haͤufig fehlen. Sie hat
nicht den richtigſten und reinſten Begriff vom Schoͤ¬
nen und von den Schranken, in welchen ſie die Na¬
tur copiren darf. Ihr Urtheil uͤber das Schoͤne, ihre
Auswahl deſſelben, erſcheint nur zu oft beſtochen durch
Nebenruͤckſichten. Sie haͤlt fuͤr ſchoͤn, was ganz an¬
dern Beduͤrfniſſen, als dem aͤſthetiſchen ſchmeichelt.
Reize der Gewohnheit, Mode und Eitelkeit gelten
ihr fuͤr aͤſthetiſch und ſie miſcht in ihre Gemaͤlde ſehr
gemeine und unaͤſthetiſche Farben und Zuͤge mit de¬
nen, die der Schoͤnheit allein zukommen duͤrfen. Dieſe
Gemaͤlde ſind weit weniger Darſtellungen des Schoͤ¬
nen in unſerm modernen Leben, als Beſchoͤnigungen
und ſentimentale Beliebaͤugelungen der Schwaͤchen,
Irrthuͤmer und Laſter deſſelben.


Gewohnheit und Eigenliebe unterſtuͤtzen dieſen
Mißbrauch der poetiſchen Darſtellung. Man erkennt
das Falſche und Haͤßliche darin nicht, weil man es
gewohnt iſt, weil man es von jeher gebilligt hat,
oder man erkennt es zwar in ſeiner wahren Natur,
billigt es aber doch und ergoͤtzt ſich daran, weil es
irgend einer Neigung ſchmeichelt und ſie beſchoͤnigt.
Das fuͤr ſchoͤn geprieſene Nichtſchoͤne laͤßt ſich auf
folgendes zuruͤckfuͤhren, und es iſt der Muͤhe werth,
naͤher auf unſre Selbſttaͤuſchung einzugehn, weil ſie
in ihren weitverbreiteten Wirkungen uns zum Scha¬
den jetzt, und zum Schimpf bei der Nachwelt gereicht.


[195]

Zuerſt iſt es die Schwaͤche, die wir in der poetiſchen
Darſtellung beſchoͤnigen. Jede nur erdenkliche Charak¬
ſchwaͤche, Unbehuͤlflichkeit und Erbaͤrmlichkeit der gei¬
ſtigen Haͤmlinge unſrer Zeit, wird in Schauſpielen
und Romanen bemaͤntelt, oder gar als das einzig
Ziemliche geprieſen. Die jaͤmmerlichſten Romanhel¬
den werden von den Dichtern fuͤr die vortrefflichſten,
edelſten und muſterhafteſten Perſonen nicht nur aus¬
gegeben, ſondern ſogar gehalten. Schwaͤche iſt, wenn
kein Laſter, doch die Wurzel des Laſters und der
nationellen Schande, und wer ſie beſchoͤnigt und die
Nerven der Jugend durch die weichliche Speiſe er¬
ſchlaffen macht, verdient keine beßre Schonung, als
wer abſichtlich die geſunden Seelen vergiftet. In je¬
nen ſentimentalen Dichtungen werden Helden und Mu¬
ſter aufgeſtellt, die faſt immer nur die Portraits ihrer
jaͤmmerlichen Urheber ſind, moderne Schwaͤchlinge,
aufgeſteift mit etwas Moral oder Vorurtheilen. Aus
bloßem Mangel an Helden haben ſehr viele Dichter
in die antike und romantiſche Welt fluͤchten muͤſſen.
In der unſrigen, gegenwaͤrtigen ſind ſie ſo rar, daß
man zu allen moͤglichen theatraliſchen Mitteln grei¬
fen muß, Wechſelbaͤlge herauszuſtutzen, um wenig¬
ſtens die Luͤcke derſelben auszufuͤllen. Die wahren
Helden der neuern Zeit, wie Napoleon, paſſen nicht
recht in die Poeſie, und die Poeſie paßt nicht in
jene Surrogate von Helden und Heldinnen, die der
Toilette, dem Ball, der Parade oder den Gro߬
vaterſtuͤhlen und Kinderſtuben entnommen ſind. Das
9 *[196] Schwaͤchliche in dieſen Helden iſt ihr air de famille,
der Grundzug ihres Charakters. Wir unterſcheiden
aber weſentlich zwei Gattungen derſelben, die wei¬
chen, ſuͤßen, gutmuͤthigen Tugendſpiegel, und die
ſich ſpreitzenden, Freiheit und Genialitaͤt und Kraft
forcirenden Rigoriſten.


Die erſtgenannte Gattung umfaßt die Werther
und Siegwarte, die treuen Schaͤfer, die thraͤnenrei¬
chen Juͤnglinge, die mondſuͤchtigen Maͤdchen, die ganze
Sippſchaft der Empfindſamen; ferner die guten Vaͤ¬
ter und Muͤtter, die wohlerzogne ſtille Familie, das
hausbackne Philiſterthum, den fleißigen Geſchaͤfts¬
mann, den reichen wohlthaͤtigen Onkel, den gefuͤhl¬
vollen herablaſſenden Prinzen und Grafen, den ver¬
kannten und gerechtfertigten Staatsdiener ꝛc. Welche
Gutmuͤthigkeit auch alle dieſe Leute auszeichnen mag,
ſie wird unertraͤglich durch die Bornirtheit, durch
die Vorurtheile, durch den falſchen Jammer und durch
die Gemeinheit, auf welchen ſie gegruͤndet iſt. Ihr
Charakter iſt Schwaͤche, Nachgiebigkeit gegen das
laͤcherlichſte Vorurtheil, Genuͤgſamkeit mit dem Un¬
leidlichen, Prahlerei mit dem Alltaͤglichen. Die lei¬
dende Tugend dieſer Helden und Heldinnen beſteht
gewoͤhnlich in einem empfindſamen Thraͤnenſtrom und
ganz unnuͤtzem Jammer, dann in einem ſogenannten
großmuͤthigen Entſagen. Die guten Leute wiſſen ſich
nicht zu helfen, und thun beinah in jedem Colliſions¬
fall das Albernſte. Sie weinen, verzweifeln, erſchie¬
ßen ſich, oder entſagen, ſtatt kraͤftig zu handeln.
[197] Ja auf dieſe Äußerungen der erbaͤrmlichſten Schwaͤche
ſind ganze Dichtungen einzig gegruͤndet. Wuͤrde der
Held oder die Heldin ſich nur einen Augenblick be¬
ſinnen und vernuͤnftig handeln, ſo waͤre der ganze
Jammer und der ganze Roman nicht noͤthig. Ihre
Schwaͤche iſt nicht nur eine moraliſche, ſondern auch
eine intellectuelle. Sie geben den gemeinſten Vorur¬
theilen nach, wiſſen ſich uͤber nichts hinwegzuſetzen,
entſagen oder opfern ſich wegen der unbedeutendſten
Hinderniſſe, wegen der Eltern, wegen des Adels,
ja wegen des Geldes. Sie koͤnnen der Liebe nicht
leben, hoͤchſtens ſterben. — Mit der handelnden Tu¬
gend iſt es nicht beſſer beſtellt. Sie beſteht gewoͤhn¬
lich im bloßen Schein, in zufaͤlligen und gemeinen
Äußerungen der Gutmuͤthigkeit, mit einer Prahlerei,
als ob das Groͤßte geſchehen waͤre. Nachgiebigkeit,
Gnade und Geldgeben ſind die Hauptſtuͤtzen dieſer
modernen Roman- und Luſtſpieltugend. Der gute
Vater, der gute beleidigte Ehemann, der gute zu¬
ruͤckgeſetzte Nebenbuhler giebt endlich nach, der gute
Fuͤrſt und Edelmann laͤßt ſich gnaͤdig zum vivatrufen¬
den Plebs hinab, der reiche Mann giebt Geld her
und dergleichen. Die meiſten Romane und Ruͤhr¬
ſpiele drehen ſich um jene gemeinen Vorurtheile des
Standes und des Geldes, und hoͤchſt ſelten oder nie
wird dieſes Vorurtheil in ſeiner Nichtigkeit darge¬
ſtellt, vielmehr faſt immer in ſeinem ganzen falſchen
Nimbus. Liebt etwa ein Prinz oder Edelmann eine
Buͤrgerliche, ſo kommt es gewoͤhnlich zuletzt heraus,
[198] daß ſie irgend ein vornehmer Bankert iſt, oder der
Arme, den man der Armuth wegen verſchmaͤht, wird
ploͤtzlich reich ꝛc. Wo dieſer Gluͤckswechſel nicht Statt
findet, laͤßt man das heilige Vorurtheil beſtehn, und
die Ungluͤcklichen muͤſſen auf eine ſogenannte heroiſche
Weiſe entſagen.


Die zweite Gattung der modernen Helden beſteht
aus Sonntagskindern und Gluͤcksrittern, die auf Ge¬
nialitaͤt Anſpruch machen, und die alle einen gewiſ¬
ſen Anſtrich von Don Juan haben. Bald ſind es
gewandte Diplomaten, bald herkuliſche Officiere, bald
glatte Graͤfchen und Barone, bald wandernde Maler,
Dichter und dergleichen. Ihr Vorbild aber iſt und
bleibt Don Juan. Sie ſind nicht empfindſam, gut¬
muͤthig, thraͤnenreich, wie die erſtgenannten Helden,
vielmehr haben ſie etwas Diaboliſches, Freches, und
ſollen bald mehr offen, bald mehr verſteckt, immer
den Triumph der Kraft uͤber die Sittlichkeit ausdruͤ¬
cken. Dieſe Kraft iſt aber nichts als Unkraft, Nach¬
giebigkeit gegen die eigne Eitelkeit oder gegen die
gemeinen Neigungen und Appetite einer entkraͤfteten
Natur und verderbten Phantaſie. Jene Helden ſind
in keiner Hinſicht kraͤftig. Fehlt es an geiſtiger Kraft,
ſo kann die ſinnliche, fehlt es an moraliſcher, ſo
kann die rein teufliſche Kraft noch intereſſant und in
ihrer Art zu reſpectiren ſeyn. Aber unſre Dichter
wagen es nicht einmal, uns einen ganzen blos ſinn¬
lich-kraͤftigen Don Juan, oder einen ganzen Teufel
zu geben. Ihre Helden bleiben in der Mitte, in der
[199] beliebten Halbheit ſtehn, nicht kalt, nicht warm; frech
genug, um die Sinne zu verfuͤhren, anſtaͤndig genug,
um die Moral zu beſtechen.


Mit einem Wort, die Kraft reicht weder zur
wahren Tugend, noch zum wahren Laſter aus. Nur
in der Darſtellung der Leiden und Verruchtheiten, die
aus der Schwaͤche, Sinnlichkeit und Erbaͤrmlichkeit
dieſer Helden hervorgehn, uͤbertreffen wir jede fruͤ¬
here Poeſie. In der Grauſamkeit haben wir es am
weiteſten gebracht. Unſre belletriſtiſchen Schriften
wimmeln von Schlachtopfern niedertraͤchtiger Neigun¬
gen und Vorurtheile, die ſaͤmmtlich aus Unkraft und
Schlechtigkeit der nur allzutreu der Wirklichkeit nach¬
copirten Menſchen hervorgehn. Unſre Dichter haben
dieſe Grauſamkeit recht eigentlich zu ihrem Studium
gemacht, und in den Seelenmartern uͤbertreffen ſie
alles, was fruͤher von koͤrperlichen Qualen uns be¬
kannt worden iſt. Sie begnuͤgen ſich nicht, die em¬
pfindlichſten Leiden zu erſinnen, ſie praͤpariren ſich
auch erſt ihre Opfer dergeſtalt zu, daß ihnen ſelbſt
geringe Leiden die aͤrgſten Schmerzen bereiten muͤſſen.
Sie benuͤtzen jede Schwaͤche, jedes Vorurtheil, um
ein Gift daraus zu ziehn.


Alles dieſes traͤgt den Charakter der Ohnmacht,
einer abgeſchwaͤchten Zeit. Mit dieſer Schwaͤche ver¬
bindet ſich ſodann ein andrer, nicht minder beach¬
tenswerther Charakterzug unſrer modernen Dichtun¬
gen. Man ſucht naͤmlich die erſchlaffte und verderbte
Natur mit einem Surrogat zu erſetzen, mit jener
[200] Cultur und Convenienz, die wir uns zur andern Na¬
tur gemacht haben. Die Maͤngel und Gebrechen der
wahren Natur werden mit dem Schleier dieſer kuͤnſt¬
lichen Natur zugedeckt. Die Dichter waͤhlen daher
ihre Nachbildungen der Wirklichkeit am liebſten aus
den Kreiſen, in welchen jene Kultur und Convenienz
bereits am meiſten herrſchend geworden iſt, aus dem
Leben der hoͤhern Staͤnde. In dieſer Hinſicht be¬
trachtet man die Dichter auch als Lehrer des An¬
ſtandes und der feinen Sitte, und empfiehlt ihre
Darſtellungen den minder gebildeten Staͤnden und
Lebensaltern zur Nacheiferung. Der Buͤrgerliche ſtu¬
dirt ebenſowohl aus Romanen und Schauſpielen, als
aus dem Leben das Betragen der hoͤhern Staͤnde,
und den Juͤnglingen und Maͤdchen giebt man dieſe
Dichtungen weit oͤfter in der Abſicht in die Hand,
ſie zu cultiviren, als in der Abſicht, ſie blos poetiſch
zu ergoͤtzen.


Wer wollte die Geſittung, den feinen Anſtand
des aͤußern Betragens, die Zeichen wohlwollender
Geſinnung tadeln! Obwohl ſie nur Schein ſind, ſo
iſt ein ſchoͤner Schein doch immer beſſer als ein haͤ߬
licher. Wiewohl ſie nur ein Vorurtheil fuͤr den Men¬
ſchen erwecken, das oft truͤgt, ſo iſt dieſes Vorurtheil
doch ein guͤnſtiges, und die Humanitaͤt verlangt, daß
wir es fuͤr jeden uns unbekannten Menſchen hegen.
Es iſt ein großer Fortſchritt der menſchlichen Bil¬
dung, daß wir dahin gelangt ſind, aͤußerlich alle
Menſchen mit Wohlwollen zu behandeln und ein aͤhn¬
[201] liches Wohlwollen bei ihnen vorausſetzen. Doch iſt
eben ſo wenig zu laͤugnen, daß dieſe hoͤfliche und
feine Sitte ſehr haͤufig unter ihrem aͤußern Schein
die haͤßlichſte Natur verbirgt. Zwei Übel ſind von
ihr unzertrennlich, die Luͤge und die Gemeinheit. Man
nennt mit Recht unſer Zeitalter das der Luͤge. Unſre
Sitten bringen es mit ſich, daß wir uns kaum auf
der Straße begegnen koͤnnen, ohne uns anzuluͤgen.
Moͤchte die Wahrheit wenigſtens ins Gebiet der Dich¬
tung fluͤchten koͤnnen, aber auch dahin bringen wir
unſre Luͤge mit, und ſtellen hier erſt recht eigentlich
die Muſter derſelben auf. Unſre Luͤgen ſind indeß
durch die Gewohnheit in ſtehende Vorurtheile ver¬
wandelt worden, uͤber deren luͤgenhaften Urſprung
man gar nicht einmal mehr nachdenkt, die uns
gleichſam angeboren, wenigſtens anerzogen werden,
und in deren Schmutz wir wie in einem Gewande
der Unſchuld unbefangen und froͤhlich einhertreten.
So hat man die Pedanterei in Wuͤrde, die Koket¬
terie in Naivetaͤt, die Eitelkeit in Ehre, den Hunde¬
muth in Treue, die Feigheit in chriſtliche Gelaſſen¬
heit, die Pfiffigkeit in Weisheit hineingelogen, und
jede Tugend mit einer Untugend legirt, wie Gold
mit Zinn. Man will damit nicht immer betruͤgen,
man hat dies gar nicht noͤthig, denn es iſt ſchon
alles betrogen. Die ewige Luͤge iſt nur die Folge
des ewigen Selbſtbetrugs.


Die Gemeinheit geht der Luͤge zur Seite. Ge¬
meinheit iſt ein Begriff, der nur fuͤr cultivirte Zei¬
[202] ten paßt. Er bezeichnet den Ruͤckfall aus der Cul¬
tur in die urſpruͤngliche Rohheit, die ſich aber, eben
weil ihr die Cultur zur Seite ſteht, zu beſchoͤnigen
ſucht. Der rohe, uncultivirte Menſch kann nie ge¬
mein ſeyn, aber wer cultivirt iſt, und dennoch die
urſpruͤngliche Rohheit nicht laſſen kann, ſich ihr uͤber¬
laͤßt, und ſie mir beſchoͤnigt, der wird gemein. Dieſe
Gemeinheit iſt ein Hauptuͤbel unſrer Zeit. Trotz al¬
ler Cultur fuͤhlt der Menſch ſich nach wie vor einer
Menge wilder Leidenſchaften hingegeben, und dieſe
Leidenſchaften haben ſich unter dem Druck der aͤußern
Geſittung nur noch mehr vervielfaͤltigt und heftiger
entzuͤndet. Die ſchmachvollen Krankheiten unſrer Zeit
ſind der redende Beweis davon. Aber die Krank¬
heit wird, wie deren Urſach verheimlicht, beſchoͤnigt,
und vorzuͤglich die Dichter haben das Amt uͤber ſich
genommen, jeder Gemeinheit den Schleier der Grazie
zu leihen, jede groͤbſte Neigung der rohen oder ent¬
arteten Natur dem Anſtand und der Cultur, der Poeſie
und wohl gar der Religion zu verkuppeln. Dieſe
Kuppler werden dann, wie billig, hoch geprieſen, und
erndten den reichlichen Lohn, den ſo viele Suͤnder
gern gewaͤhren. Es ſind neue Ablaßkraͤmer, welche
die Suͤnden im Namen der Poeſie vergeben. Jed¬
wede Gemeinheit wiſſen ſie zu etwas Reizendem,
Billigem, Wuͤnſchenswerthem herauszuputzen, jede
Suͤnde niedlich und liebenswuͤrdig darzuſtellen, ſie
alles Gehaͤſſigen zu entkleiden. Haß und Spott rich¬
ten ſie nur auf die ſogenannte engherzige Moral und
[203] auf die Pedanterei und Genußloſigkeit unſchuldiger
Sitten. Im Gewande des feinen Anſtandes, der hoͤ¬
hern Bildung und Vornehmigkeit fuͤhren ſie die Ge¬
meinheit ein, und wenn das Suͤndhafte nicht ganz
ſich verſtecken laͤßt, ſo wird es als ſuͤße Schwaͤche
mit allen Grazien und Amoretten uͤberkleidet, oder
als Genialitaͤt, kuͤhne Freiheit und erlaubte Ausnahme
zur Bewunderung hingeſtellt. Das Gewand einer
vornehmen Feinheit ſchickt ſich am beſten zur Beſchoͤ¬
nigung der niedrigen Luͤſte, weil ſich dieſe wirklich
verfeinert haben, weil ſie wirklich in der vornehmen
Welt am meiſten zu Hauſe ſind. Je feiner ver¬
ſchleiert, deſto reizender ſind ſie auch, und der Dich¬
ter hat den Vortheil, zugleich auf die verderbten
Sinne am eindringlichſten zu wirken, indem er dem
Anſtand und der Moral am meiſten nachzugeben
ſcheint. Nur die grobe Rohheit wuͤrde den morali¬
ſchen Tadel nach ſich ziehen, aber auch den feinen
Gaumen nicht mehr ſchmeicheln. Die feine Gemein¬
heit dagegen entgeht jenem Tadel, und ſie iſt es,
die doch am meiſten reizt.


So iſt nun die ſentimentale Gattung der mo¬
dernen Poeſie, welche das moderne Leben als ein
poetiſches billigt und treu nachcopirt, theils ein idyl¬
liſches Beliebaͤugeln der noch herrſchenden Gutmuͤ¬
thigkeit, Familien- und Philiſtertugend, theils eine
Beſchoͤnigung der herrſchenden Laſter, Luͤſte und Ge¬
meinheiten. Sie iſt ein Spiegel des Zeitgeiſtes, der
herrſchenden Sitten und Geſinnungen. Man darf
[204] aber behaupten, daß die Wirklichkeit in vieler Hin¬
ſicht beſſer iſt, als dieſes Spiegelbild. Es ſind eben
nicht die groͤßten Dichter, welche ſich zu dieſer Gat¬
tung von Poeſie berufen fuͤhlen, und ſie ſehn im
Spiegel der modernen Welt zunaͤchſt immer nur ſich
ſelbſt, ihre eignen Schwaͤchen, Vorurtheile, Eitelkei¬
ten, Luͤſte, Gemeinheiten. Vielleicht ein Drittheil un¬
ter den Urhebern ſolcher ſentimentalen Schilderungen
ſind Weiber, und dieſer Umſtand allein erklaͤrt uns,
was wir von ihren Schilderungen zu erwarten ha¬
ben. Wenn ſie auch gewiſſe Kreiſe des modernen
Lebens und vielleicht ganz ſeine Oberflaͤche ſchildern,
ſo dringen ſie doch nicht in alle Kreiſe und nicht in
die Tiefe dieſes Lebens ein. Eine ſolche Tiefe giebt
es, ſo lange noch wahre Helden, Philoſophen und
Kuͤnſtler unter uns hervorgehn. Sie hat aber nichts
gemein mit jener glatten Oberflaͤche und den Dich¬
tern, die allein auf ihr herumgaukeln. Jene Tiefe
dauert, die Oberflaͤche wechſelt; darum wechſeln auch
ſo raſch die gaukelnden Erſcheinungen, die ſie in der
Literatur abſpiegelt. Wer lieſt jetzt noch die em¬
pfindſamen Romane des vorigen Jahrhunderts, wer
wird im kuͤnftigen noch die vornehmen Ehebruchs-
und Gluͤcksrittergeſchichten des unſrigen leſen? Nur
vorragende Talente koͤnnen wenigen Geiſtesprodukten
dieſer Art die Unſterblichkeit ſichern, die ihr trivialer
Gegenſtand niemals anſprechen duͤrfte. Der große
Haufen der Dichter ſtirbt mit den Modethorheiten,
denen er anhaͤngt.


[205]

Goͤthe muß in vieler Hinſicht als einer der er¬
ſten und vorzuͤglichſten Schoͤpfer der modernen Poeſie
und in jeder Hinſicht als ihr hoͤchſtes Muſter be¬
trachtet werden. Seine ſentimentalen Schilderungen
des modernen Lebens bilden die Krone ſeiner Dich¬
tungen. Im Modernen hat dieſer vielſeitige Dichter
doch das Hoͤchſte erreicht, worin ihm kein andrer
gleich kommt, daher iſt hier der ſchicklichſte Ort, ihn
im Allgemeinen zu charakteriſiren.


Die Bewunderung, die Goͤthe verdient, iſt, wie
dies in Deutſchland gewoͤhnlich geſchieht, in blinde
Vergoͤtterung ausgeartet. Kaum geht ein Licht unter uns
auf, ſo blendet es die Leute, daß ſie nichts mehr ſehn,
als eitel Glanz und Schimmer. Iſt einer reich, gleich
creditirt man ihm alles. Daruͤber darf ſich niemand
wundern, der die Natur der Menſchen, beſonders der
guten Deutſchen kennt, und ſo iſt es auch ſehr na¬
tuͤrlich, daß um Goͤthe's gefeiertes Dichterhaupt je¬
ner Nimbus ſich gebildet, vor dem nun alles auf den
Knien liegt. Jede hervorragende Erſcheinung in der
Wirklichkeit verwandelt man mit geſchaͤftiger Phan¬
taſie in das hoͤchſte Ideal. Der Inſtinkt der Maſſe,
der als Weihrauch aufdunſtet, blaͤht in ein rieſenhaf¬
tes Nebelbild ſich auf, und dann wird vor dem ſelbſt¬
geſchaffenen Phantom der Drang der Andacht ausge¬
tobt. Die Deutſchen hatten auf ihrer Wanderſchaft
ins gelobte Land des guten Geſchmacks mehr als ein
goldnes Kalb. Auch in andern Gebieten haben wir
aͤhnliche Erſcheinungen ſchon oͤfters die wilde Winds¬
[206] braut der deutſchen Literatur voruͤberjagen ſehn. Fried¬
rich der Große und Napoleon ſind in ihrem Kreiſe
nicht minder zu Idealen verklaͤrt worden, als Goͤthe
in dem ſeinigen.


Das Hoͤchſte, wozu es die Bewunderung moͤg¬
licherweiſe bringen kann, iſt Goͤthe wirklich zu Theil
geworden. Man hat in ihm das Ideal eines Dich¬
ters zu erkennen geglaubt, und die Aufgabe, das
Problem ſeiner Erſcheinung zu loͤſen, mit der, das
Problem aller Poeſie zu loͤſen, ohne weitres identi¬
ficirt. Sie nennen ihn mit einer charakteriſtiſchen
Übereinſtimmung den Koͤnig der Dichter, um in ihm
das legitime Princip, die hoͤchſte aus ſich ſelbſt ſchoͤ¬
pfende Autoritaͤt zu bezeichnen. Als eine vollkommene
Incarnation der Poeſie iſt er ihnen auch Geſetz, Koͤ¬
nig, Meſſias und Gott in allen poetiſchen Dingen.
Die Glaͤubigen wurden in ihrer Andacht nicht wenig
dadurch beſtaͤrkt, daß der Gefeierte ſelbſt ſie billigte,
ſich dabei benahm, als muͤßt' es ſo ſeyn, und mit
Mienen der Huld und Gnade jedes Lob, das ihm
zufloß, beſtaͤtigte, die Lobenden wieder lobte, und die
ihm verliehene Koͤnigskrone nicht ohne Majeſtaͤt und
imponirende Sicherheit auf dem Haupte trug. Goͤthe
ließ, wie der Homeriſche Gott den lieblichen Fettge¬
ruch von allen Altaͤren behaglich ſich gefallen, und
laͤchelte beſtaͤndig, da man ihn beſtaͤndig lobte. Nur
dann zog ſeine Stirne ſich in boͤſe Falten und eine
kleine Doſis Gift im Bonbon eines Bonmots, ſoge¬
nannte zahme Xenien wurden als lettres de cachet
[207] ausgegeben, wenn ein Hochverraͤther die Autoritaͤt
anzutaſten ſich erfrecht.


Goͤthe weiß aber ſelbſt am beſten, daß die Baͤu¬
me nicht in den Himmel wachſen. Fauſt wird ſeines
Pudels Knecht. Eine Kraft wird Ohnmacht, wenn
ſie die natuͤrlichen Graͤnzen uͤberſchreitet. Vor Weih¬
rauch ſieht man das Feuer nicht mehr, vor den Or¬
den das Herz nicht mehr, daß ſie bedecken. Über¬
muth macht die Kraft, Eitelkeit die Schoͤnheit zuletzt
veraͤchtlich. Übertriebenes Lob traͤgt den Tadel im
Schooß. Nur um ein kleines darf der Ruhm hoͤher
ſteigen, als der Werth, ſo wird die Ruͤge, wenn
auch ſpaͤt, in demſelben Verhaͤltniß den Werth her¬
abſetzen. Darum ſehn wir jetzt ſchon mehrere Leute,
welche ſich gegen die Goͤtzendienerei erklaͤren, und
Goͤthen ſogar verunglimpfen, wo er es gewiß nicht
verdient.


Die blinden Anbeter Goͤthe's bilden eine herr¬
ſchende aͤſthetiſche Kirche, die ihren Papſt, ihre Kir¬
chenvaͤter und Scholaſtiker, ja ſogar ihre Kirchenver¬
ſammlungen hat. Natuͤrlich findet dieſe Kirche nun
auch eine Oppoſition. Sie iſt aber, gleich jeder herr¬
ſchenden Kirche, blind und fanatiſch, und ſpricht
durchaus unbedingte Autoritaͤt an, verkerzert jeden,
der dieſe Autoritaͤt antaſtet. Das iſt ſchlimm und
erweckt nothwendig einen hartnaͤckigen Widerſpruch;
aber es iſt natuͤrlich. Die Leute glauben einmal an
die Unfehlbarkeit ihres Meiſters, an ſein Monopol
in der Poeſie, an ſeine Legitimitaͤt, und dieſer Glaube
[208] iſt aufs feſteſte in der Geſinnung und Geſittung, in
dem Zuge der Natur begruͤndet, die ſie mit Goͤthe
theilen. Alle Kinder dieſer Zeit, die dem Inſtinkt
folgend, das moderne Leben als ihre einzige geliebte
Heimath betrachten und ſich darin ſo wohl ſeyn laſ¬
ſen, als ſey es wie ein gluͤckſeliges Eiland in die
Ewigkeit geſetzt, als gaͤb' es ruͤckwaͤrts und vorwaͤrts
kein andres, ſchoͤnres, wuͤrdigeres Leben, alle die
Ephemeriden der Gegenwart muͤſſen an Goͤthe's Dich¬
tungen mit derſelben Innigkeit haͤngen, wie an ihrer
eignen Wirklichkeit.


Daß Goͤthe den Kindern dieſer Zeit in allen ih¬
ren Vorurtheilen und Eitelkeiten geſchmeichelt hat,
iſt wohl der naͤchſte Grund zu der außerordentlichen
Anerkennung, die er bei denſelben gefunden. Seine
Modernitaͤt aber hat einen noch tiefern Grund. Von
einem ſichern Gefuͤhl geleitet, hat die vox populi
ſchon darauf hingewieſen, indem ſie Goͤthen zum Dich¬
ter aller Dichter gemacht hat. In der Übertreibung,
welche Goͤthen zum Ideal eines vollkommnen Poe¬
ten macht, liegt wirklich die Ahnung von etwas Wah¬
rem. Gerade dieſen Glauben, den ſeine Poeſie ſo
allgemein bei der Menge hervorgebracht hat, muͤſſen
wir feſt halten. Mag die Übertreibung auf ſich be¬
ruhen; der Grund, warum man gerade auf dieſe
Weiſe uͤbertrieben hat, iſt deſto wichtiger.


Die Poeſie eines jeden Dichters hat einen ei¬
genthuͤmlichen Charakter; dieſer aber entſpricht alle¬
mal einer innern Eigenſchaft oder Richtung der Poeſie
[209] uͤberhaupt. Die ſynthetiſche Einheit aller Dichter iſt
nur die analytiſche der Poeſie ſelbſt. Wenn man mit
Recht dieſe aus jener ſich erklaͤrt, die Regeln des
Schoͤnen aus den Beiſpielen deſſelben abgezogen, den
Metallkoͤnig der Äſthetik aus den Goldmuͤnzen, denen
jeder Autokrat im Reich der Poeſie ſein koͤnigliches
Bildniß aufgepraͤgt, in die philoſophiſche Retorte ge¬
bannt hat, ſo darf unbedingt auch das Umgekehrte
auf die Charakteriſtik der Dichter angewandt werden.
Jeder Dichter iſt die Offenbarung einer beſondern
aͤſthetiſchen Kraft, die ganze Dichterwelt iſt die Of¬
fenbarung aller dieſer Kraͤfte. Jedem Einzelnen kommt
vorzugsweiſe nur eine Kraft zu, die er reicher und
feiner als andre entwickelt.


Die Kraft nun, welche Goͤthe's dichteriſchen Cha¬
rakter bezeichnet, iſt das Talent. Bekanntlich ver¬
ſteht man darunter das Vermoͤgen der aͤſthetiſchen
Darſtellung uͤberhaupt, ohne [Ruͤckſicht] auf eine ſub¬
jective Beſtimmung, auf eine Poeſie im Dichter ſelbſt,
denn es kann malen, ohne von einer Empfindung ge¬
leitet zu ſeyn, ja oft das Gegentheil von dem, was
der Dichter wirklich empfindet, ſo wie der Schau¬
ſpieler oft etwas ganz andres darſtellt, als was er
empfindet. Eben ſo wenig haͤngt das Talent von
einer objectiven Beſtimmung, von einer Poeſie im
Gegenſtand ab, denn es kann Dinge, die an und fuͤr
ſich ſelbſt unpoetiſch ſind, in ein poetiſches Gewand
huͤllen, und umgekehrt werden oft ſehr poetiſche Ge¬
genſtaͤnde von talentloſen Dichtern unpoetiſch darge¬
[210] ſtellt. Das Weſen des Talents beruht alſo in der
Darſtellung, in der Einkleidung, im Vortrag.


Das Hervortreten des Talents bei Goͤthe hat
ſchon Novalis in ſeinen Fragmenten ſcharf und rich¬
tig bezeichnet *) . Goͤthe ſelbſt giebt es zu, und haͤlt
[211] die Schoͤnheit nur fuͤr ein Werk des Talentes,
denn mit ſeiner Zuſtimmung ſteht in Kunſt und Al¬
*)[212] terthum, Bd. 2. S. 182. das Reſultat einer gluͤck¬
lichen Behandlung
iſt das Schoͤne.


Das Talent iſt an ſich univerſell, und muß ſich
als ſolches in der groͤßten Vielſeitigkeit der Anwen¬
dung erproben. Es giebt nichts in der Welt, dem
nicht das Talent einen poetiſchen Anſtrich geben
koͤnnte. Wie jener Tonkuͤnſtler mit Recht behauptete,
es ließe ſich alles in Muſik ſetzen, ſelbſt ein Thor¬
zettel, ſo kann ein talentvoller Dichter mit der
Sprache nicht weniger Wunder thun. Daher war
auch Goͤthe ſo vielſeitig. Er konnte alles, auch das
Geringſte und Gemeinſte durch den Zauber ſeiner
Darſtellung reizend machen.


Das Talent gefaͤllt ſich in der Vielſeitigkeit. Je¬
der Virtuoſe ſtrebt ſo viel als moͤglich allſeitig zu
ſeyn, ſein Talent auf alle moͤgliche Weiſe ins Licht
zu ſetzen, durch den Reichthum der Anwendung durch
die Herrſchaft uͤber die reichſte Claviatur und ihre
Schluͤſſel, durch den kuͤhnen und gewandten Wechſel
der Tonarten, und durch die Fertigkeit des Tauſend¬
kuͤnſtlers, der auf einem Bein ſtehend zwoͤlf Inſtru¬
mente zugleich ſpielt, in Erſtaunen zu ſetzen. Dieſe
Neigung wohnt dem Talente deßhalb bei, weil es
charakterlos, von einer feſten dauernden Beſtimmung
unabhaͤngig iſt. Der Kuͤnſtler, in welchem das Ta¬
lent ausſchließlich vorherrſcht, wird weder durch eine
beſtimmte Richtung der Empfindung, noch durch ei¬
nen beſtimmten Gegenſtand ausſchließlich gefeſſelt.
Es treibt ihn nicht, ſein volles Herz auszuſtroͤmen,
[213] und ein Heiliges und Geliebtes, das er erkannt hat,
aͤußerlich darzuſtellen, vielmehr iſt ihm jede Empfin¬
dung und jeder Gegenſtand an ſich voͤllig gleichguͤl¬
tig, und gilt ihm nur etwas, ſofern er ihn darſtellt;
nur die Darſtellung gilt ihm, was auch immer das
Dargeſtellte ſey. Darum wird er auch durch keinen
beſondern Gegenſtand beherrſcht, er herrſcht vielmehr
uͤber alle, und gefaͤllt ſich im Wechſel derſelben, der
ſeine Herrſchaft beurkundet. So ſehn wir Goͤthe be¬
ſtaͤndig wechſeln, und es iſt eben deshalb thoͤricht,
irgend eine beſondere Darſtellung, irgend eine Rolle
an ihm feſthalten zu wollen. Gerade darin beſteht
das Weſen ſeiner Poeſie, daß er mit den Rollen be¬
ſtaͤndig gewechſelt hat, und noch ferner unaufhoͤrlich
wechſeln wuͤrde, wenn nicht jede Thaͤtigkeit endlich
ihr Ziel in der Ohnmacht faͤnde. Er ſpricht dieß
ſelbſt ſehr deutlich aus, indem er in einer ſeiner zah¬
men Xenien ſagt:


„Die Feinde, ſie bedrohen dich,

Das mehrt von Tag zu Tage ſich,

Wie dir doch gar nicht graut!“

Das ſeh ich alles unbewegt,

Sie zerren an der Schlangenhaut

Die juͤnſt ich abgelegt,

Und iſt die naͤchſte reif genug,

Abſtreif ich die ſogleich,

Und wandle neu belebt und jung

Im friſchen Goͤtterreich.

In Goͤthe's beſtaͤndigem Rollenwechſel liegt das
eigentliche Geheimniß ſeiner Poeſie und das Weſen
[214] des Talentes aufgeſchloſſen. Das Talent an ſich iſt
ganz theatraliſch, es iſt die abſolute Maskirung.
Oben haben wir unſre ganze neuere Poeſie als die
theatraliſche charakteriſirt, und hier finden wir das¬
ſelbe in ihrem großen Repraͤſentanten Goͤthe wieder.
Er vereinigt beinahe alle Rollen der uͤbrigen Dichter
in ſeinem Spiel allein. Daher kommt es denn auch,
daß man Goͤthe fuͤr den Repraͤſentanten aller Poeſie
uͤberhaupt halten konnte, indem man unſchuldiger¬
weiſe die Poeſie der Darſtellung mit derjenigen der
Empfindung und des Gegenſtandes, das Kleid mit
dem Weſen verwechſelte.


Das Talent iſt eine Hetaͤre und giebt ſich Je¬
dem Preis. Unfaͤhig ſelbſtaͤndig zu ſeyn, haͤngt es
ſich an alles an. Indem ihm ein innerer Haltpunkt
ein inneres Motiv ſeiner Äuſſerung mangelt, iſt es
jedem aͤuſſern Eindruck hingegeben, und wird von
einem zum andern fortgezogen. So ſehn wir Goͤthe's
Talent, wie das Chamaͤleon, in allen Farben wech¬
ſeln. Heute beſchoͤnigt er dieß, morgen jenes. Alle
ſeine Widerſpruͤche erklaͤren ſich aus dieſem Rollen¬
wechſel und umſonſt verſucht man ſie anders zu er¬
klaͤren oder gar zu vereinbaren. Man hat wohl eine
Philoſophie, eine Politik, ja ſogar eine Religion
aus Goͤthe's Schriften extrahiren wollen. Auf einem
ſolchen Wechſelbalge muͤßten ſich aber z. B. die Pa¬
rallelſtellen uͤber Politik im Goͤtz, Egmont, Taſſo,
Wilhelm Meiſter, dem Buͤrgergeneral, Epimenides
Erwachen ꝛc. zu einer [artigen] Hanswurſtjacke zuſam¬
[215] menflicken, und an dem platoniſchen Gaſtmahl, da
ſeine moraliſchen Anſichten ſich geſellig vereinigen ſoll¬
ten, muͤßte zweifelsohne neben jedem Engel ein Teu¬
fel, neben jeder Grazie ein bocksfuͤßiger Satyr Platz
nehmen. Von Religion aber kann in Goͤthe's Dich¬
tungen nie die Rede ſeyn. Sie, die ſich in die in¬
nerſte Tiefe der Empfindung verbirgt, iſt am weite¬
ſten von jener Oberflaͤche, von jener Maske der
aͤuſſern Darſtellung entfernt.


Sofern das Talent charakterlos jeder aͤuſſern
Beſtimmung folgt, wird es vorzuͤglich von der Ge¬
genwart und ihren herrſchenden Moden beſtimmt und
geleitet. Darum hat Goͤthe allen Moden ſeiner Zeit
gehuldigt, und jeden Widerſpruch derſelben zu dem
ſeinigen gemacht. Er ſchwamm immer mit dem Strom
und auf der Oberflaͤche, wie Kork. Wenn er einem
guten Geiſt, großen Ideen, der Tugend gehuldigt,
ſo that er es doch nur, wenn ſie an der Tagesord¬
nung waren, denn umgekehrt hat er auch wieder je¬
der Schwaͤche, Eitelkeit und Thorheit gedient, wenn
ſie in der Zeit nur ihr Gluͤck gemacht, und kurz er
hat, wie ein guter Schauſpieler, alle Rollen durch¬
gemacht. Rollen waren es auch nur, nur Eingehn
in die Moden der Zeit, wenn er hier mehr dem an¬
tiken, dort mehr dem romantiſchen Geſchmack gehul¬
digt. Weil aber das moderne Leben das vorherr¬
ſchende war, darum wurde Goͤthe's Talent auch vor¬
zuͤglich durch daſſelbe beſtimmt.


[216]

Das Talent gefaͤllt ſich beſonders in der Copie
der Natur, des Wirklichen. Es fehlt ihm die innere
Beſtimmung durch das Genie, durch Begeiſterung,
durch innern ſchoͤpferiſchen Drang, darum haͤlt es
ſich an das Vorhandene, Wirkliche. Das Genie
kann ſich nur in neuen Schoͤpfungen offenbaren, das
Talent offenbart ſich ſchon in der bloßen Copie, in
der kuͤnſtleriſchen Darſtellung des Wirklichen. Das
Talent liebt ſogar die Darſtellung des Gemeinen
und Alltaͤglichen vorzugsweiſe, weil ihm daſſelbe als
Folie dienen muß. Je geringfuͤgiger der dargeſtellte
Gegenſtand an ſich, auſſerhalb der Darſtellung in der
Natur iſt, deſto glaͤnzender hebt ſich die Darſtellung als
ſolche hervor. Endlich bedarf das Talent uͤberall der
aͤuſſern Anerkennung, denn wie es ihm an innerer
Selbſtbeſtimmung fehlt, ſo auch an innerer Selbſtzu¬
friedenheit. Es ſtrebt nach Ruhm. Das iſt das Charak¬
teriſtiſche aller Virtuoſen. Darum aber ſchmiegt es
ſich auch den Neigungen derer an, von denen es be¬
wundert ſeyn will. Es iſt ſchmeichelhaft, es beguͤn¬
ſtigt die, von welchen es beguͤnſtigt ſeyn will. Es
ſtellt vorzugsweiſe dasjenige dar, was ſeinem Pu¬
blikum gefaͤllt. Aus allen dieſen Umſtaͤnden zuſammen¬
genommen erklaͤrt ſich das Phaͤnomen, daß ein vor¬
herrſchendes Talent ſich vorzugsweiſe in der Dar¬
ſtellung und Beſchoͤnigung des gegenwaͤrtigen Lebens
gefaͤllt, und ſich durchaus nicht an das Unpoetiſche
und Gemeine deſſelben ſtoͤßt.


[217]

Goͤthe widmete ſich demzufolge vorzuͤglich der
modernen Poeſie, und gebrauchte ſein unuͤbertreffli¬
ches Talent zur Darſtellung des modernen Lebens.
Er hielt ſich an die Natur, an die naͤchſte, an
die eigne. Seine eigne Natur ſtand mit der herr¬
ſchend gewordenen der modernen Welt im genaue¬
ſten Einklang. Er war der reinſte Spiegel des mo¬
dernen Lebens, in ſeinem Leben wie in ſeiner Dich¬
tung. Er hat nur ſich ſelbſt zu ſchildern gebraucht,
um die moderne Welt, ihre Geſinnung, ihre Nei¬
gungen, ihren Werth und Unwerth zu ſchildern.
Daſſelbe Talent, das er in ſeinen Dichtungen offen¬
barte, machte ſich auch in ſeinem Leben vorherrſchend
geltend, und wer kann laͤugnen, daß es wirklich die
allgemeine Lebensmaxime der modernen Welt gewor¬
den iſt? Das Talent des aͤußern Lebens, die Kunſt
des Bequemen, Leichten und Feinen und die Virtuo¬
ſitaͤt des Genuſſes, war ſein Talisman in der Wirk¬
lichkeit und ſchien ihm auch wieder der wuͤrdigſte
Gegenſtand in der Dichtung, indem er die Vorzuͤge,
die er ſelbſt darſtellte, nur abſpiegelte. Die meiſten
Dichtungen Goͤthe's enthalten nur ſein Portrait, aber
es iſt ein Muſterbild fuͤr das moderne Leben, jeder
erkennt es dafuͤr an.


Desfalls war es ihm auch moͤglich, eine Popu¬
laritaͤt zu gewinnen, die kein antiker oder romanti¬
ſcher Dichter, mit Ausnahme Schiller's errang. Fuͤr
Schiller entſchied ſich alles Edle und Menſchliche in
der Nation, fuͤr Goͤthe die herrſchende Stimmung
Deutſche Literatur. II. 10[218] und Sitte des Augenblicks. Schiller gilt fuͤr die Ed¬
len aller Zeiten, Goͤthe war der Abgott ſeiner Zeit,
und konnte dieß nur ſeyn, indem er ſich der Schwaͤche,
der Unnatur nicht minder hingab, als dem Edlen,
das ſich noch geltend zu machen wußte. Er iſt der
Abgott, aber auch das Geſchoͤpf ſeiner Zeit. Es iſt
gar nicht zu zweifeln, daß die Gemeinheit ihm ſelbſt
erſt geſchmeichelt, ſich ihm lieb und werth und ſogar
poetiſch dageſtellt hat, ehe er ihr ſelbſt ſchmeichelte,
ihr ſich ſelber lieb und werth machte, und ſie mit
dem Zauber einer unuͤbertreflich poetiſchen Darſtel¬
lung beſchoͤnigte. Er iſt nicht der Verfuͤhrer, ſondern
ſelbſt verfuͤhrt von ſeiner Zeit. Wie nach Schiller's
Gedicht jeder der olympiſchen Goͤtter dem Genius
ein Zeichen aufdruͤckt, ſo hat die moderne Zeit ihren
Sohn und Liebling gezeichnet, jede herrſchende Rich¬
tung dieſer Zeit, jeder Abgott des Publikums hat
dem Dichterkoͤnig einen Talisman verabreicht, und
wie die Mode das Volk beherrſcht, ſo hat er die
Mode regiert.


Den feinſten Ton der heutigen Welt ſucht und
findet man bei Goͤthe. Den aͤuſſern Anſtand, die
Vornehmigkeit, die heitre Maske beim geſelligen Um¬
gang, das Inſinuante, die Delikateſſe, die ſcheinhei¬
ligſte Bosheit, die aqua toffana, die gleichſam als
kaltes Blut durch den Koͤrper der gebildeten und vor¬
nehmen Geſellſchaft kreist, dieſe Zauberkuͤnſte des
Talentes kann man bei Goͤthe muſterhaft entwickelt
finden. Er bildet daher eine Schule der geſelligen
[219] Cultur. An ſeinen Werken bildet, verfeinert man die
Sitten. Sie empfiehlt man als das Muſter aller
Geſittung. Um ihn her ſchaart ſich ein unzaͤhlbares
Heer gebildeter Juͤnglinge, die Juͤnger und Apoſtel
dieſer Lehre des Anſtandes, die muthigen Bekaͤmpfer
der alten Rohheit, Frerons vergoldete Jugend in
Deutſchland.


Unter der glatten gefaͤlligen Maske verbirgt ſich
aber ein raffinirter Epicuraͤismus, eine Sinnlichkeit
und Genußſucht, die, ſo fein ſie auch iſt, doch im¬
mer unwuͤrdig bleibt, des Ernſten und Heiligen ſpot¬
tet, und die Leichtverfuͤhrten in ein irdiſches Para¬
dies verlockt, in den Venusberg, aus dem kein Aus¬
gang mehr ans Licht iſt.


Goͤthe's Dichtungen ſind als die Bluͤthe des in
der modernen Welt herrſchenden Materialismus zu
betrachten, der ſich auf der unterſten Stufe in dem
phyſiokratiſchen Syſtem geltend macht. Sein Talent
iſt die hoͤchſte Erſcheinung der Fabrikation. Es dient,
alles zum feinſten Genuß zu praͤpariren. Dieſer Ge¬
nuß iſt doppelter Art. Der Wolluſt geſellt ſich ſchon
bei den Thieren Grauſamkeit bei, und dieſe Ver¬
wandtſchaft beider geht in die feinſten und zarteſten
Genuͤſſe der Menſchen uͤber.


Jene Wolluſt iſt um ſo raffinirter, als ſie der
Eitelkeit dient. Daher ſind beinahe alle Helden Goͤ¬
the's kleine Sultane, um welche ſich die Maͤdchen
und Weiber bemuͤhen muͤſſen. Sie werden geliebt,
und ihre Gegenliebe erſcheint nur als ein behagliches
10 *[220] Spiel mit dem Genuß. Sie laſſen ſich von den Wei¬
bern aufſuchen, und nehmen die Huldigungen derſel¬
ben gnaͤdig an. Das iſt ihr ſtehender Charakter.
Clavigo, Weißlingen, Egmont, Fernando, Wilhelm
Meiſter ſind ein und dieſelbe Perſon. Wie wahr
immer die feine Sinnlichkeit ſolcher Helden der Na¬
tur abgelauſcht ſeyn, wie ſehr ſie den meiſten Maͤn¬
nern ſchmeicheln mag, ſie iſt etwas Gemeines und
dieſes Aufwandes des verſchoͤnernden Talentes nicht
werth. Sie iſt um ſo widerlicher, als die Eitelkeit
eine gewiße Andacht daraus macht. Wir finden die
Geſchlechts- und Eheverhaͤltniſſe bei den Dichtern
fremder Nationen leichtſinnig und frivol behandelt,
aber nirgends iſt eine ſolche Sentimentalitaͤt mit die¬
ſer Frivolitaͤt verbunden, wie in Deutſchland. Bei
den Spaniern hat von jeher die flammende Leiden¬
ſchaft, bei den Italienern liebliche Phantaſie und
Sinnlichkeit, bei den Franzoſen Feinheit und Witz,
der Geiſt der Reine Margrithe, bei den Englaͤndern
der tragiſche Contraſt den eckeln Eindruck der Wahl¬
verwandtſchafts- und Ehebruchsgeſchichten gemildert.
Die Deutſchen aber haben ſie ſeit Goͤthe wie ein
Handwerk mit ehrbarer Miene, oder wohl gar wie
eine Religion mit Andacht getrieben. Wenn Sinnlich¬
keit und niedre Leidenſchaften bei andern Voͤlkern immer
dem Edlen und Heiligen untergeordnet geblieben ſind,
wie ſtark ſie auch vorgeherrſcht haben, ſo ſind wir
Deutſche, die wir weit nuͤchterner ſind, dennoch ſo ver¬
kehrt geweſen, jene Sinnlichkeit mit dem Heiligen
[221] zu verwechſeln, und zu einer Goͤttin zu erheben, was
in Frankreich ewig nur eine Luſtdirne bleibt. Die
Sinnlichkeit wird zuerſt von der Eitelkeit gerechtfer¬
tigt, dann vom Talent auch andern ſogar zur Be¬
wunderung aufgeſtellt, aber was im Urſprung ge¬
mein iſt, bleibt es auch in der glaͤnzendſten, taͤu¬
ſchendſten, ruͤhrendſten Huͤlle. Die Kunſt iſt dem
Edlen gewidmet, und wenn ſie in vieler Hinſicht in
Goͤthe den Liebling erkennt, ſo giebt ſie ſich doch nicht
allen Launen ſeiner Muſe Preis, und weiſet die Ge¬
meinheit verderbter geſelliger Verhaͤltniſſe, die uͤber¬
zuckerte Darſtellung des modernen Laſters, die Gour¬
mandiſe eines unnatuͤrlichen Appetites, die Muͤcken¬
faͤngerei wolluͤſtiger Reminiszenzen, die Koketterie
der Maͤnner und den Ritterdienſt der Damen um
die Maͤnner, die Toilette des Mannes von fuͤnfzig
Jahren, die ſybaritiſchen Wahlverwandtſchaften und
die Verhimmelung ſo manches Don Juan dem, ein ganz
anderer Platz gebuͤhrt haͤtte, voͤllig uͤber ihre Gren¬
zen hinaus. Muß ſchon die Kunſt gegen dieſen Mi߬
brauch ihrer edelſten Kraͤfte vertheidigt werden, ſo
hat allerdings auch die Moral ein heiliges Recht,
das ſchlechthin Unwuͤrdige daran zu verdammen.


So wenig ſich dieſe Schattenſeiten bei Goͤthe
verbergen, ſo taͤuſchen ſich doch die meiſten Leſer
ſelbſt daruͤber, indem ſie entweder aus unbegreiflicher
Gutmuͤthigkeit nicht ſehn wollen, was ſie ſehen,
oder ſich bei der ſchwachen Seite faſſen und beſte¬
chen laſſen. Goͤthe beſaß im hoͤchſten Grade das Ta¬
[222] lent, den Leſer zu ſeinem Mitſchuldigen zu machen,
ihm ein billigendes Gefuͤhl abzuzwingen. In ſeiner
Hand war der Talisman, der alle Herzen lenkt.
Kein Dichter hat ſich des in der Sprache liegenden
Zaubers ſo ganz bemaͤchtigt. Er iſt uͤberall und im¬
mer gefaͤllig, uͤberredend. Wir koͤnnen uns der ſuͤßen
Luſt nicht erwehren, mit der er unſer Weſen befaͤngt,
uns ſelbſt zum Gegentheil von alle dem verfuͤhrt, was
wir ſonſt geglaubt und gefuͤhlt. Sehen wir auch die
Suͤnde, die Gemeinheit klar vor Augen, er zwingt
uns mit zu ſuͤndigen, mit gemein zu werden, und
wir entkommen ihm nicht, ohne die Scham, uns
einen Augenblick vergeſſen zu haben.


Es beduͤrfte wohl eines Platon, um gewiſſe
Wahrheiten uͤber Goͤthe, die an ſich leicht erkennbar
ſind, doch auch mit derjenigen Maͤßigung und Fein¬
heit zu ruͤgen, welche die dem großem Dichter ge¬
buͤhrende Achtung nicht verletzt. Man muͤßte wie
Platon gegen Homer folgendermaßen reden: „Ich muß
wohl damit heraus, wiewohl eine gewiſſe Zaͤrtlich¬
keit und Schamhaftigkeit, die ich von Jugend auf
gegen den Homer gefuͤhlt habe, es mir ſchwer macht,
von demſelben zu reden. Denn er ſcheint unter allen
guten tragiſchen Dichtern der Vorſaͤnger und Anfuͤh¬
rer zu ſeyn. Weil indeſſen ein Menſch nicht hoͤher,
als die Wahrheit, geſchaͤtzt werden darf, ſo muß ich
auch reden, wie ich denke. — Wenn dir alſo, lie¬
ber Glaukon, Lobpreiſer des Homer vorkommen,
welche ſagen, daß dieſer Dichter ganz Griechenland
[223] unterwieſen habe, und daß es ſich wohl der Muͤhe
verlohne, ihn zu ſtudieren; weil man durch ihn die
menſchlichen Angelegenheiten gut zu verwalten, und
ſich ſelbſt dabei gut zu betragen lerne, und man da¬
her nach den Leitungen dieſes Dichters ſein eignes
Leben anordnen und fuͤhren muͤſſe, ſo kann man ſol¬
chen Leuten zwar nicht boͤſe ſeyn, ſondern muß ihnen
mit aller Freundlichkeit begegnen, weil ſie nach ihrem
beſten Vermoͤgen treffliche Maͤnner zu ſeyn ſuchen,
und man muß ihnen einraͤumen, daß Homer ein hoͤchſt
dichteriſcher Geiſt, und das Haupt der tragiſchen
Dichter ſey; dabei aber zugleich merken, daß in den
Staat ſelbſt von der Poeſie nichts weiter aufgenom¬
men werden duͤrfe, als Geſaͤnge zum Lobe der Goͤt¬
ter und zur Erhebung edler Thaten. Sobald du hin¬
gegen die ſuͤßliche Muſe darin aufnimmſt, ſie ſey
von lyriſcher oder epiſcher Art, ſo werden auch die
willkuͤrlichen Wallungen der Froͤhlichkeit und Trau¬
rigkeit, ſtatt Geſetz und Vernunft herrſchen.“


Schon Platon tadelt mit ſtrengem Ernſt die Ent¬
weihung der Dichtkunſt durch die Enthuͤllung unna¬
tuͤrlicher Geluͤſte. Er wirft es dem Heſiod und Ho¬
mer vor, daß ſie ſo viele obſcoͤne und naturwidrige
Dinge von den Goͤttern erzaͤhlen. Er ſagt mit vol¬
lem Recht: „wenn ſich dergleichen auch in der Na¬
tur vorfaͤnde, ſo muß man ſie doch unmuͤndigen
und jungen Leuten nicht vorerzaͤhlen, ſondern mehr
als irgend etwas verſchweigen. Sollte jedoch irgend
eine Nothwendigkeit eintreten, davon zu reden, ſo
[224] muͤßten dieſe Dinge nicht anders, denn als Myſterien
gehoͤrt werden, von ſo wenigen als moͤglich, welche
dazu vorher nicht ein ſchlechtes Schweinferkel, ſon¬
dern ein gewiſſes großes und koſtbares Opfer ge¬
bracht haben muͤßten, damit ſo wenige als moͤglich
von ſolchen Sachen zu hoͤren Gelegenheit haͤtten.“
Es iſt wahr, daß ſich jene geheimnißvolle Wahlver¬
wandtſchaft, das Princip des Ehebruchs, es iſt wahr,
daß ſich Geluͤſte, dergleichen in der Stella geſchildert
ſind, wirklich in der Natur vorfinden, aber als Aus¬
wuͤchſe, und wir ſollen uns uͤber die Natur, oder
vielmehr uͤber die Unnatur dieſer Dinge nicht durch
eine einnehmende poetiſche [Beſchoͤnigung], durch eine
Verwechslung derſelben mit den heiligſten Gefuͤhlen
reiner Liebe taͤuſchen laſſen, denn, wie Plato weiter
fortfaͤhrt: »Niemand will in ſeinem herrlichſten Theile
und uͤber die hoͤchſten Dinge gern einer Luͤge Raum
geben.«


Noch muͤſſen wir jener Grauſamkeit gedenken,
welche mit zum feinen Genuß gehoͤrt. Goͤthe ſchil¬
dert mit Vorliebe die menſchlichen Schwaͤchen und
Vorurtheile, und weidet ſich an den daraus entſprin¬
genden Leiden, ſo im Werther, Clavigo, Taſſo, der
natuͤrlichen Tochter, den Wahlverwandtſchaften ꝛc.
Die grauſame Wolluſt liegt darin, daß der Dichter
ſich an den Verſchuldungen und Leiden ergoͤtzt, ohne
ſie durch irgend etwas zu verſoͤhnen. Oft erſcheint
dieſe Grauſamkeit abſichtlich, oft nur unwillkuͤrlich
als Folge der Gleichguͤltigkeit, mit welcher der Dich¬
[225] ter die Welt uͤberſah. Die Ruhe und Klarheit, mit
welcher Goͤthe ſeine Schilderungen entwirft, erſcheint
oft als voͤllige Indifferenz, nicht als die goͤttliche
Ruhe, die aus der Fuͤlle der Idee entſpringt. Sie
wirkt alſo auch nur wie das todte Naturgeſetz, nicht
wie die innere Befriedigung der Seele. Daher bei
Goͤthe ſo viel Mißtoͤne, die nicht aufgeloͤſt ſind.


Wir maßen uns indeſſen nicht an, von Goͤthe
zu verlangen, daß er haͤtte anders ſeyn ſollen, als
ihn die Natur hat werden laſſen. Goͤthe konnte ſeine
Natur nicht aͤndern, nur ausbilden, und er hat mit
dem ihm verliehenen Talent in der That bewunderns¬
wuͤrdig gewuchert. Kraft ſeines Talentes ſteht Goͤ¬
the ohne Frage uͤber allen andern deutſchen Dichtern,
und ſeine Gewalt uͤber die beweglichen Gemuͤther
war in dem Maaß nachdruͤcklicher, als das Talent
uͤberhaupt die ausuͤbende Macht in der Poeſie be¬
zeichnet. Schiller, Klopſtock, Herder, Novalis und
manche andere gelten nur als wohlwollende Koͤnige,
denen es an Macht gebricht, der Welt ſo viel Se¬
gen zu gewaͤhren, als ſie gern moͤchten, weil die
Herrſchaft ihrer Ideen ſich nur uͤber eine verhaͤltni߬
maͤßig geringe Anzahl Menſchen erſtreckt, die dafuͤr
empfaͤnglich ſind. Goͤthe dagegen ſtellt ſich als ein
alles bezwingender Uſurpator dar, der mit ſeinem
Talent die Gemuͤther eben ſo beherrſcht hat, wie Na¬
poleon die Koͤrper. Der beſte Wille bezaubert we¬
niger als eine That, wenn ſie auch eine ſchlechte waͤre.
Zumal in unſerer Zeit gilt der Augenblick und wer
[226] uns ihn genießen laͤßt, weit mehr als ein auf die
Ewigkeit berechnetes Streben. Ein Schauſpiel, des
Mimen wechſelnde Kunſt, nimmt unſern Sinn mit
allerlei Thorheit gefangen, und wir ſind zu matt
und faul geworden, dieſen Sinn zu ſammeln, und
Werke der Ewigkeit zu gruͤnden, oder nur zu ver¬
ſtehen. Die Kunſt iſt zu einer Unterhaltung herab¬
geſunken, und alles Tiefe, Heilige macht den Tage¬
dieben Langeweile, da ſie durch Goͤthe und unzaͤhlige
ſeiner Nachaͤffer einmal gewoͤhnt worden ſind, ſich be¬
dienen zu laſſen, ſich jede Anſtrengung zu erſparen.
In der That iſt es leichter, das Gemeine, wozu je¬
der ohnehin geſtimmt iſt, als das Erhabene, das nur
den edelſten voͤllig vertraut wird, bei der Maſſe zu
vertreten, und wenn erhabne Ideen uͤberdem das ge¬
meine Geſchlecht ſtrafen ſollen, ſo werden ſie am
allerwenigſten mit jenen Schmeicheleien rivaliſiren
koͤnnen. Mit Widerwillen wendet ſich der Haufen
von den finſtern Propheten ab, und lauft zu den
Marktſchreierbuden ſeiner freundlichen immer laͤcheln¬
den Demagogen, und dieſen gelingt es ohne Muͤhe,
durch ſchimmernde Sophismen jene Propheten, die
oft vom Goͤttlichen, eben weil es goͤttlich iſt, nur
ſtammeln, aus dem Felde zu ſchlagen.


Goͤthe beherrſchte ſeine Zeit, indem er ihr hul¬
digte, er feſſelte ſie, indem er ſich in alle ihre Fal¬
ten einſchmiegte. Da aber der Geiſt ſeiner Zeit jener
ewig wechſelnde, ſchaffende und zerſtoͤrende, ſtets
gegen ſich ſelbſt revolutionirende und proteſtirende
[227] geweſen, ſo hat er in Goͤthe ſich ganz ſo wiederge¬
ſpiegelt, und dort wie hier iſt der Charakter Chara¬
terloſigkeit. Goͤthe gilt ganz ſo als Univerſalerbe der
moraliſchen Revolutionen unſrer Zeit, als Napoleon
Erbe der politiſchen geweſen. Auch der Gewinn die¬
ſer Concentration iſt fuͤr die moraliſche und politiſche
Welt ziemlich derſelbe. Wie im Leben des großen
Corſen das ganze politiſche Leben des Jahrhunderts,
in praktiſcher Ausfuͤhrung aller ſeiner Theorien, von
der Anarchie bis zu den beiden Extremen der Re¬
publik und des Despotismus und wieder in der ver¬
ſoͤhnenden Mitte der conſtitutionellen Monarchie ſich
gleichſam perſonificirt hat, ſo in Goͤthe's Werken die
Bewegungen der ſittlichen Welt, die eben ſo ein
ſchilderndes poetiſches Talent in Anſpruch nahmen,
als jene politiſchen ein praktiſches, handelndes, die
einen Dichter verlangten, wie jene einen Helden.
So wird die Erſcheinung Goͤthe's lediglich aus den
Erſcheinungen der Zeit erklaͤrt und alle ſeine Werke
laſſen ſich folgerecht mit den verſchiedenen Moden,
in denen der ſittliche Geiſt ſeiner Zeit gewechſelt,
paralleliſiren. Daß ihn dabei das Gluͤck beguͤnſtigt,
wie den Napoleon, iſt unverkennbar. Er fand ſeine
Zeit gerade ſo, wie ſie ihn und er ſie brauchte und
hatte keinen ſtarken Gegner zu bekaͤmpfen. Alle jene
Richtungen der Zeit huldigten dem Spiele des Ta¬
lentes und waren dem Ernſt tiefer Ideen entfremdet.
Die Sentimentalitaͤt, der im leeren Harniſch fort¬
ſpukende Rittergeiſt, die Theaterwuth, die Geheim¬
[228] nißkraͤmerei, der Myſticismus, die Graͤkomanie,
Anglomanie, Gallomanie, die italieniſchen Reiſen,
der erſte republikaniſche Rauſch von Nordamerika her,
das Familienweſen, die Sinnlichkeit halbnackt in der
Gallomanie und aller Schaam entbloͤst in der Graͤ¬
komanie, alle dieſe Richtungen erzeugten ſich im tie¬
fen und langen Frieden ſeit dem ſiebenjaͤhrigen Kriege
nur wie Spiele, um die Langeweile zu toͤdten, reg¬
ten nirgends die innerſte Tiefe des Nationalgeiſtes
auf, konnten darum weder haften noch dauern und
verdraͤngten ſich untereinander wie ſie gekommen wa¬
ren. Das war grade die rechte Zeit fuͤr Goͤthe, und
ſein Talent bemeiſterte ſich leicht aller dieſer Rich¬
tungen und er war der große Spielmeiſter dieſer
taͤndelnden Zeit. Als aber der Ernſt zuruͤckkehrte
zunaͤchſt in jener großen philoſophiſchen Richtung der
Deutſchen, dann mit Blut und Flammen im politi¬
ſchen Leben und zuletzt mit der Religion, deren Troſt
die Noth der Zeit nicht laͤnger entbehren mochte, da
war Goͤthe gluͤcklich genug, ſeine Ernten ſchon ge¬
ſammelt zu haben, denn ſeine ſpaͤten Saaten fanden
kein Gedeihen mehr. Er verſuchte zwar ſein Talent
auch an dem Ernſt der neuern Zeit, aber es beſtand
die Probe nicht. Wie ſehr er bemuͤht war, auch der
philoſophiſchen Richtung ſich zu bemeiſtern, indem er
ſie von der Seite der Natur angriff, die ihm die
natuͤrlichſte war, ſo hat er ſich doch immer mit der
dritten und vierten Rolle abfinden laſſen muͤſſen. Noch
weniger haben ſeine aͤſthetiſchen Urtheile durchdringen
[229] koͤnnen, weil ſie gaͤnzlich des Princips entbehrten.
Am allerwenigſten aber mochte ſich das wilde Roß
der Politik vor ſeinen Triumphwagen ſpannen laſſen,
und ſeine diesfaͤlligen Verſuche haben ihn nur darum
nicht blamirt, weil man bei der alten Achtung ſeines
Namens nicht Ärgerliches daran finden wollte. Es
entſpricht ſeinem ganzen Weſen, daß er immer nur
die herrſchende Partei ergriff. Darum beſang er den
Napoleon, aber ſein Lied war der Welt lange nicht
mehr ſo wichtig, als eine bloße Zeitung. Spaͤter
wieder, als die Zeiten gewechſelt, ſollte ſein Siegs¬
lied Epimenides ein Kanon der deutſchen Begeiſte¬
rung werden. Aber der kleine Umſtand, daß der
Barde hinter und nicht vor dem Heere zog, daß er
geſchwiegen, wo ſein Wort ein Schwert geweſen
waͤre, und erſt zu reden anfieng, als die Schwerter
ſchon laut genug geſprochen hatten, ließ wie billig
die Herzen kalt, und die erbaͤrmliche Steifigkeit und
Ungelenkſamkeit jenes Dramas zeigte ohnehin, daß
es mechaniſches Machwerk des Talentes, nicht orga¬
niſches Leben der Begeiſterung ſelbſt war. In dieſem
Verſuch, der uͤber den Kreis des Talentes hinaus¬
lag, mußte dieſes ſelbſt ſich fremd werden. So ver¬
mißt man in Epimenides auch das bekannte Talent
des Dichters. Nach ſolchem Mißgeſchick konnte Goͤthe
dennoch der Luſt nicht entſagen, auch den zuletzt ein¬
getretenen religioͤſen Sinn der Zeit bemeiſtern zu wol¬
len. Wie fremd ihm aber dieſe Sphaͤre bleibt, davon
[230] geben die ſchwachen Verſuche, z. B. in den Wander¬
jahren Zeugniß.


Überhaupt verlaͤugnet ſich die Anmuth der Goͤ¬
theſchen Sprache in ſeinen ſpaͤtern Hofpoeſien und
kritiſchen Schriften. Sie ſind ſteife Paradewerke,
uͤber das Kreuz gefeſſelt durch die Ruͤckſichten, die
er zu nehmen hatte, und durch ſeine eigne Selbſt¬
ſchaͤtzung, die ſich nur noch auf dem hochtrabenden
Pferde oder in ſpaniſcher Grandezza ſehn ließ und
noch auffallender wurde, wenn ſie ſich etwa vaͤterlich
deutſch den Schlafrock uͤberhieng. Seit Wahrheit und
Dichtung iſt Alles, was man von Goͤthe hoͤrt, bis
auf das letzte Heft von Kunſt und Alterthum in ei¬
nem gewiſſen vornehmen officiellen Kabinetſtyl ge¬
ſchrieben. Man denkt unwillkuͤrlich an den Muſen¬
koͤnig oder infallibeln Papſt im Reich der Kunſt. Die
Erſcheinung wird erklaͤrbar, wenn man bedenkt, daß
Goͤthe fruͤher ein Schmetterling auf allen Blumen
des Sinnen- und Herzensgenuſſes geweſen, ſpaͤter
aber lebendig unter die Goͤtter verſetzt worden, worin
die Aufforderung lag, alle ſeine Gefuͤhle in das ein¬
zige der Ehrfurcht vor ſich ſelbſt zu concentriren.


In der Schule der modernen Poeſie, welche Goͤthe
gebildet, ſind beſonders die buͤrgerlichen, familien¬
maͤßigen Luſt- und Schauſpiele und die Romane cul¬
tivirt worden. In der erſten Gattung hat ſich vor
allen Kotzebue ausgezeichnet, der auch naͤchſt Goͤthe
der geliebteſte Guͤnſtling des Publikums geworden iſt.
Wir koͤnnen auch auf ihn ein Portrait anwenden,
[231] das uns Platon gibt: »Aber in jammertoͤnender, von
Alter und Armuth hergenommener Reden Kunſt hat
doch offenbar geſiegt des Chalkedoniers Kraft. Auch
im Erzuͤrnen der Menge iſt dieſer Mann gewaltig
und wiederum die Erzuͤrnten bezaubernd zu kirren,
wie er ſagt; und im Verlaͤumden, und auch Ver¬
laͤumdungen abzuwaͤlzen, woher es irgend gehe, iſt
er der Erſte.» Wie Kotzebue den moraliſchen Schmutz,
ſo hat Iffland die Schwaͤchlichkeit ſeines Jahrhun¬
derts zu einem poetiſchen Wechſelbalg aufgeſtappelt,
und beiden ſind in der Romanenwelt vorzuͤglich La¬
fontaine
und Clauren an die Seite getreten. Der
erſtere hat wie Iffland ſeine Zeit mit einem ſuͤßlichen
Milchbrei, wie ein greinendes Wickelkind ſtillen zu
muͤſſen geglaubt. Sie haben der lieben Natur, dem
lieben Herzen, der lieben Familie alles Hohe und
Große aufgeopfert. Ihre Helden ſind ein memmen¬
haftes, weibiſches Pygmaͤengeſchlecht, Juͤnglinge mit
Maͤdchenwangen und Maͤdcheuherzen, Maͤnner in
Schlafmuͤtzen, gut genug, die Kinder zu wiegen,
aber kaum gut genug, ſie zu zeugen. Aus der Noth
haben ſie eine Tugend gemacht und die Schwaͤche
geprieſen, weil ſie nichts Großes kannten. Kotzebue
und Clauren dagegen haben nicht blos an die Schwaͤ¬
che, ſondern auch an die Gemeinheit, das haͤßlichſte
der Laſter, appellirt, und ſich mit Leib und Seele
dem Poͤbel ergeben, gleichviel ob dem vornehmen
oder zerlumpten. Mit allen geheimen Luͤſten und La¬
ſtern ſteht die Muſe dieſer aͤſthetiſchen Demagogen in
[232] einem geheimen Bunde und beſticht durch die Groͤße
ihrer Unverſchaͤmtheit und durch die Menge ihrer
Mitſchuldigen.


Goͤthe ſpielte mit der noch vorhandnen Unſchuld
des Jahrhunderts, wie ſein Fauſt mit Gretchen, Ko¬
tzebue aber behandelte ſie wie eine Kupplerin die No¬
vize und konnte ſie nur beflecken, ohne ſie zu genießen.
Was ſeiner ſchmutzigen Leidenſchaft unerreichbar war,
das riß doch ſein Neid herunter.


Den ſentimentalen Beſchoͤnigungen des modernen
Lebens und ſeiner Schwaͤchen, Maͤngel, Irrthuͤmer
und Laſter gegenuͤber hat ſich mit Nothwendigkeit eine
ganz entgegengeſetzte Gattung von Poeſie bilden muͤſ¬
ſen, die wir die humoriſtiſche zu nennen pflegen.
Sie haͤlt jener ſentimentalen Poeſie die Waage, denn
wenn jene die Bejahung des modernen Lebens iſt, ſo
iſt ſie die Verneinung deſſelben. Dort wird dieſes
Leben geprieſen, hier wird es beklagt und verſpottet.
Dort erſcheint es als das einzig Natuͤrliche und Ge¬
ziemende, hier als Unnatur und Verkehrtheit.


Der Humor iſt das Bewußtſeyn um die irdiſche
Unvollkommenheit und ſeine aͤſthetiſche Wirkung das
Tragikomiſche. Das Tragiſche des Humors geht aus
dem ſchmerzlichen Gefuͤhl hervor, daß wir ſelbſt mit¬
ten in der Unvollkommenheit leben, in die Schranken
des Irdiſchen gebannt ſind, ſelbſt an den Krankhei¬
ten der Zeit leiden. Das Komiſche des Humors ent¬
ſpringt aber aus dem Gefuͤhl, daß wir zugleich auch
uͤber dieſer Unvollkommenheit und uͤber dieſen Schran¬
[233] ken ſtehn. Beide Gefuͤhle wechſeln oder durchdringen
ſich beſtaͤndig und ſind unzertrennlich von einander.
Wir beklagen und verſpotten uns zugleich, unſre Luſt
iſt unſer Schmerz.


Iſt der Menſch auf der hoͤchſten Stufe der ihm
moͤglichen Vollkommenheit, oder iſt er nur ſo gluͤck¬
lich befangen, daß er mit ſeinem, wenn auch be¬
ſchraͤnkten, Zuſtande doch vollkommen zufrieden iſt,
ſo kommt dieſer Humor gar nicht zum Vorſchein.
Sobald aber ein Mißverhaͤltniß zwiſchen des Men¬
ſchen Wunſch oder Ideal und ſeinem wirklichen Zu¬
ſtand eintritt, ſobald er etwas Hoͤheres erkennt, das
ſeine Kraͤfte nicht erreichen koͤnnen, und ſobald er
eben darum das Unvollkommene ſeines Zuſtandes und
ſeines Vermoͤgens einſieht, ſo aͤußert ſich dieſe Er¬
kenntniß auch bald in der humoriſtiſchen Weiſe. Im
Alterthum und im Mittelalter gab es in dieſem Sinn
noch keinen Humor, weil damals die Voͤlker in ihrer
Beſchraͤnkung zufrieden waren und uͤber die Schran¬
ken nicht hinausblickten, weil ſie ganz in der Gegen¬
wart, nicht wie wir auch im Sehnen nach der Zu¬
kunft lebten. Man verſpottete damals nur einzelne
Maͤngel oder Laſter, nie das ganze Zeitalter. Man
kannte daher auch nur das Komiſche, nicht das Tragi¬
komiſche. Je ſchlechter die Zeiten wurden, deſto mehr
regte ſich der Spott, ſo namentlich vor und waͤhrend
der Reformation, aber erſt in der neuen Zeit erhob
ſich der Humor zur tragikomiſchen Selbſtaͤndigkeit.
In dieſer Art iſt er unſrer Zeit ausſchließlich eigen.


[234]

Daruͤber duͤrfen wir uns nicht wundern, wenn wir
alle Erſcheinungen dieſer Zeit uͤberblicken. Nirgends
finden wir etwas Harmoniſches, Zuverlaͤſſiges, Dauern¬
des, Vollkommenes, uͤberall nur Zerſtoͤrung, Feind¬
ſchaft, Wechſel, Maͤngel, Irrthuͤmer. Die Zerriſ¬
ſenheit im Ganzen wiederholt ſich in jedem Einzelnen.
Urſpruͤnglich war der Verſtand dieſe zerreißende Kraft,
aber eben derſelbe Verſtand troͤſtet uns auch wieder
und giebt uns mitten in der Verwirrung ein ſtolzes
Bewußtſeyn. Daher wird der Humor beſtaͤndig zwi¬
ſchen zwei Gefuͤhlen ſchwebend erhalten. Er kann nie
ganz in tragiſche Wehmuth verſinken, denn im komi¬
ſchen Frohſinn findet er immer wieder die freie Stelle,
wo er uͤber dem beaͤngſtigenden Getuͤmmel der Welt
erhaben ſteht. Er kann aber auch nicht blos lachen,
denn das, woruͤber er lacht, iſt ſein eigner Mangel.


Wir unterſcheiden die komiſche Poeſie, welche
die Thorheiten und Laſter des modernen Lebens ver¬
ſpottet, von der humoriſtiſchen, die dem Spott die
tragiſche Wehmuth beigeſellt. In der erſten Art ha¬
ben ſich eine große Menge Dichter verſucht. Reinecke
Fuchs und Eulenſpiegel begannen den burlesken Zug
in Deutſchland. Sebaſtian Brand, Fiſchart und viele
andere geißelten alle die Narrheiten und Frevel, die
den Anfang des modernen Lebens bezeichneten. Pater
Abraham a Santa Clara iſt ſchon etwas tragikomiſch;
ein ernſter, oft wehmuͤthiger Zug laͤßt ſich in allen
ſeinen ſonſt ſo poſſenhaften Grimaſſen nicht verkennen.
Spaͤter verſank man ſo ſehr in die Anbetung des
[235] franzoͤſiſchen Geſchmacks, daß man auch nur nach deſ¬
ſen Muſter, beſonders in ſatyriſchen Briefen oder
komiſchen Heldengedichten zu ſpotten wagte, wie Za¬
chariaͤ. Dieſem Geſchmack huldigten zum Theil auch
noch Thuͤmmel und Wieland. Dann folgte die An¬
glomanie und Rabener copirte den Swift, Miller,
Nicolai, Schummel den Sterne und Smollet. Seit
Molliere und Hollberg kamen endlich auch gute Sa¬
tyren auf die Buͤhne, und indem die komiſchen Ro¬
mane abnahmen, vervielfaͤltigten ſich die Luſtſpiele,
welche Karrikaturen aller Art dem Leben entlehnten.
Da indeß die Dichter ſelten frei genug waren, um
die wahre Thorheit im wirklichen Leben zu erkennen,
da ſie nur allzuhaͤufig ſelbſt in Thorheiten ſteckten,
oder ſich von der Mode beherrſchen ließen, ſo war
ihr Spott gewoͤhnlich ſehr zahm, und nicht ſelten ſo¬
gar ungerecht, wie man dies am beſten bei Kotzebue
erkennen kann, welcher ſo ziemlich der Repraͤſentant
dieſer ganzen Gattung iſt. Oft wurde die unbehuͤlf¬
liche Ehrlichkeit vom verſchmitzten Laſter, oft das
Ungluͤck vom Hochmuth, oft die Groͤße vom Neide,
oft die Unſchuld vom Teufel verſpottet.


Unter allen Komikern, welche das moderne Le¬
ben verſpottet haben, ſteht Tieck oben an. Seine
Satyren gegen die Thorheiten, welche die moderne
Aufklaͤrung hervorgerufen hat, greifen den Schaden
bei der Wurzel an, und der Witz wird in demſelben
Maaße beſſer, als er treffender iſt. Indeß ſind Tieck's
Luſtſpiele eben ſo wenig fuͤr die Buͤhne berechnet, als
[236] ſie uͤberhaupt auf große Popularitaͤt Anſpruch machen
koͤnnen. Ein Theil des Publikums verſteht den Dich¬
ter gar nicht und der andre fuͤhlt ſich von ihm belei¬
digt. Die Leute ſehn ihre Thorheit nicht eher ein,
und lachen uͤber ihre abgeſchmackten Moden nicht eher,
als bis ſie dieſelben abgelegt haben, und wer den
Spott anticipirt, kommt uͤbel weg.


Der freie unintereſſirte Spott der Dichter ſteht
im Allgemeinen hinter dem intereſſirten der wiſſen¬
ſchaftlichen und politiſchen Parteien zuruͤck, eben weil
nur die wenigſten Menſchen wirklich eine freie Stel¬
lung in unſrer Zeit behaupten, die meiſten zu irgend
einer Partei gehoͤren. Jede Partei greift die andre
auch mit den Waffen des Spottes an, und da jetzt
die Politik an der Tagesordnung iſt, ſo iſt auch der
politiſche Spott der vorherrſchende. Wir beſitzen ſehr
gute Satyren gegen unſre politiſchen Suͤnden und
Gebrechen, gerade die beſten aber ſind dem gemei¬
nen Verſtande zu hoch, oder werden von der Cenſur
verpoͤnt.


Die tragikomiſche oder eigentliche humoriſtiſche
Poeſie unterſcheidet ſich von jenen blos komiſchen
Spoͤttereien und Satyren durch die Beimiſchung ſen¬
timentaler Wehmuth. Hippel verband zuerſt Schmerz
und Spott, Weinen und Lachen. Der Heros des
Humors aber war Jean Paul, der ewig einzige
und unvergeßliche. Er iſt neben Goͤthe der groͤßte
Dichter in der modernen Gattung. Jean Paul und
Goͤthe ſind die eigentlichen Dioskuren der modernen
[237] Poeſie. Beide ſchildern das Leben, in dem ſie ſelber
lebten, das moderne, aber nach zwei verſchiednen An¬
ſchauungsweiſen. Goͤthe beliebaͤugelte, billigte, pries
dieſes Leben und faßte daſſelbe in ſeiner Einheit als ein
Ganzes auf; Jean Paul degegen ſah es humoriſtiſch
halb mit Wehmuth, halb mit Spott an, und faßte
es in ſeiner Zerriſſenheit, in dem unendlichen Wider¬
ſpruch auf, der durch daſſelbe hindurchgeht, und der
eben unſre Zeit ſo ſehr von dem in ſich ſichern und
befriedigten Mittelalter unterſcheidet. Auch darin
ſtimmen beide Dichter uͤberein, daß ſie ſo vielſeitig
waren und gern ihre Perſoͤnlichkeit vorwalten ließen,
ſich ſelbſt gern zum Gegenſtand ihrer Darſtellung
machten. Goͤthe war vielſeitig, weil es das Talent
iſt, und ſtellte ſich in ſeinen Liebhabern und Helden
gern ſelbſt dar, weil alle Virtuoſen ſich gern im
Spiegel beſehn. Jean Paul war vielſeitig, weil die
humoriſtiſche Weltanſicht durch alles hindurchdringt,
und er zeichnete gern ſich ſelbſt, weil in der Selbſt¬
erkenntniß der Schluͤſſel zu aller Menſchenkenntniß
liegt, und weil er als echter Humoriſt die tragiko¬
miſche Doppelnatur der Außenwelt nur die ſeines
eignen Innern wiederſpiegeln ſah.


Dieſe Doppelnatur iſt das Unterſcheidende bei
Jean Paul. Ihr erſtes Moment iſt die Senſibilitaͤt,
die leidende Empfindung, die wieder doppelt theils
zur tragiſchen Wehmuth und erhabenen Klage ſich
ſteigert, theils in idylliſcher Empfindſamkeit und kind¬
licher Ruͤhrung ſich beſaͤnftigt. Hierin ſpricht ſich ein
[238] echt muſikaliſches Steigen und Fallen der Empfin¬
dung aus. Bald vernehmen wir bei Jean Paul die
Klage und den tiefen Schmerz uͤber die Schwaͤche
der menſchlichen Natur, uͤber das irdiſche Elend, uͤber
das Laſter und die Unnatur, beſonders der verderb¬
ten geſelligen Verhaͤltniſſe, und er ſchildert jede Art
des modernen Jammers und der modernen Verrucht¬
heit mit den lebendigſten und wahrſten Farben und
mit der innigſten Empfindung. Bald geht ſein hei¬
ßer Schmerz in ſanfte Wehmuth uͤber und er rettet
ſein beleidigtes Zartgefuͤhl in die Unſchuldswelt,
welche dicht an der wilden Heerſtraße des Lebens
noch immer ihre kleinen idylliſchen Gaͤrten baut. Er
ſchildert unverdorbene Seelen, Kinder, reine Men¬
ſchen, das Land- und Stillleben. Doch herrſcht auch
in dieſen Schilderungen immer ein Zug entweder von
Wehmuth, oder in der andern Richtung, von ſcher¬
zender Ironie.


Das zweite Moment jener Doppelnatur iſt der
Spott, der mehr maͤnnlicher Natur ſich uͤber die Welt
und den eignen Schmerz erhebt, und dieſelben Maͤn¬
gel und Laſter, die dem Dichter ſo wehmuͤthige Em¬
pfindungen aufgedrungen, mit den Waffen des Wi¬
tzes thaͤtig angreift. Auch in dieſem Spott unter¬
ſcheiden wir eine ſteigende und fallende Bewegung.
Bald verſteigt ſich der Dichter bis zum bitterſten
Sarkasmus, bis zu einer auf die Knochen brennen¬
den Satyre, bald ſpielt er nur mit heitrer Ironie.
Jener Sarkasmus iſt am haͤufigſten mit ſeinem tra¬
[239] giſchen Schmerz, dieſe Ironie am haͤufigſten mit ſei¬
ner idylliſchen Empfindſamkeit gepaart.


Beide Momente durchdringen ſich faſt in allen
Darſtellungen Jean Pauls dergeſtalt, daß er oft auf
derſelben Seite die ruͤhrendſten Schilderungen mit
den laͤcherlichſten wechſeln laͤßt. Man hat ihm dies
zum Vorwurf gemacht, ohne zu bedenken, daß gerade
hierin die Wahrheit des Humors und ſeine groͤßte
Wirkung beſteht. Scheidet man die Doppelnatur des
Humors, ſo hoͤrt ſein Weſen auf. Im Humor durch¬
dringen ſich die beiden Gegenſaͤtze ſo innig, daß die
Sprache nicht einmal im Stande iſt, dieſe innige
Verbindung oder den ſchnellen Wechſel der Empfin¬
dungen treu genug auszudruͤcken.


Mit groͤßerem Rechte macht man Jean Paul den
Vorwurf, ſeine Darſtellung ſey da, wo ſie doch ob¬
jectiv ſeyn ſolle, zu wenig objectiv, namentlich in der
Wahrheit und Haltung ſeiner Charaktere. Es iſt nicht
zu laͤugnen, daß mancher ſeiner Helden und Heldin¬
nen, beſonders die ernſthaften und ruͤhrenden oder
idealiſirten, und wieder beſonders im Titan, zu we¬
nig innre Wahrheit und Natuͤrlichkeit haben, zu auf¬
fallend blos gedichteten, nicht wirklichen Weſen aͤhn¬
lich ſehn; aber auch hier kann man den Dichter ent¬
ſchuldigen. Es lag nicht in ſeinem Plan und nicht
im Weſen ſeiner Poeſie, Einheiten zu geben. Wo
ſie bei ihm vorkommen, erſcheinen ſie nur als aͤußere
Rahmen fuͤr die Fuͤlle ſeiner Sentiments und Witze.
Dieſe ſind die Hauptſache. Der Humor verfaͤhrt uͤberall
[240] analytiſch, und zerſetzt die gegebne Einheit des Le¬
bens wie der Charaktere. Er dringt mit der Em¬
pfindung in die tiefſten Falten der feinſten Theile
ein. Nur indem Jean Paul die aͤußere Haltung auf¬
giebt, kann er in ein pſychologiſches Detail eingehn,
und wenn er wirklich ſeine Charaktere gehoͤrig haͤtte
abrunden und in die Anordnung ſeiner Romane mehr
Symmetrie und Proportion bringen wollen, ſo wuͤrde
er von ſeinem ſchoͤnſten und reichſten Detail, von ſei¬
nen Ausſchweifungen und Epiſoden gerade das beſte
haben wegſchneiden muͤſſen. Überdem herrſcht im Hu¬
mor die ſubjective Anſicht durchgaͤngig vor, und es
waͤre einſeitig, zu den Schoͤnheiten, welche ſie dar¬
bietet, noch andre zu verlangen, welche mit ihr im
Widerſpruch ſtehn, und welche wir bei andern Dich¬
tern ſuchen und finden koͤnnen. Was man uͤbrigens
von der Fehlerhaftigkeit ſeiner allzu haͤufigen und ge¬
lehrten Metaphern geſagt hat, ſo kann man dieſelbe
wohl zugeben, ohne ſich allzuſehr daran zu ſtoßen.
Wir wuͤrden jedem gern ſeine Manier verzeihen, wenn
er nur ein Jean Paul waͤre, und ein Fehler des
Reichthums iſt immer beſſer, als einer der Armuth.


Das Ruͤhmlichſte, was wir Jean Paul nachſa¬
gen muͤſſen und was ihn mit den edelſten Maͤnnern
der Nation in eine Reihe ſtellt, iſt der Adel ſeiner
Geſinnung, ſeine reine Tugend, und das Feuer edler
Leidenſchaft, der ethiſche Ingrimm gegen das Laſter,
jene erhabenen Eigenſchaften des Charakters, die er
vorzuͤglich mit Schiller getheilt hat. Auch Jean Paul
[241] ſtellt wie Schiller uͤberall die Unſchuld dem Laſter
gegenuͤber, und das Recht dem Unrecht. Es iſt faſt
kein Gebrechen der Zeit, das ſein Scharfblick nicht
entdeckt, vor dem ſein liebevoller Sinn nicht freund¬
lich gewarnt, oder das ſein geiſtreicher Spott nicht
treffend gegeißelt haͤtte. Es iſt aber auch nichts Un¬
ſchuldiges und Schoͤnes, und keine Tugend dieſer Zeit,
die Jean Paul nicht erkannt und in ruͤhrenden Bil¬
dern zu Muſtern aufgeſtellt haͤtte. Er fand an allem
die lichte und die dunkle Seite heraus, und es giebt
wenige Zeitgenoſſen, die ihre Zeit ſo fein beobachtet
und ſo richtig gewuͤrdigt haben.


Manche finden dieſen liebenswuͤrdigen Dichter
zu weich und weiblich, und aͤrgern ſich an ſeinen zu
haͤufigen Ruͤhrungen. Es iſt wahr, ſein weiches Herz
ſchwaͤrmt zuweilen, und ſeine Empfindung leidet nicht
ſelten an uͤbertriebner krankhafter Reizbarkeit; doch
uͤberlaͤßt er ſich dieſer ſuͤßen Melancholie nur dann,
wenn er ungeſtoͤrt fuͤr ſich empfindet, und ſie weicht
einer tuͤchtigen maͤnnlichen Erhebung ſogleich, wenn
ihn eine hoͤhere Idee aufruft, zu belehren oder zu
ſtrafen. Von Natur weich geſchaffen, wird er doch
maͤnnlich ſtark durch jede fromme und ſittliche Idee,
und dann fehlt ihm nie die Leidenſchaft der Tugend,
die edle Zornesgluth und die ruͤckſichtsloſe Wahrheits¬
liebe. Die ihm angeborne Sanftmuth aber erzeugt
bei ihm eine Toleranz, wie ſie in unſrer Zeit ſehr
ſelten geworden iſt, jene Duldung naͤmlich, die ohne
indifferent zu ſeyn, doch uͤber alle Parteiungen hin¬
Deutſche Literatur. II. 11[242] weg ſieht und das Gute uͤberall anerkennt, wo es
auch gefunden werden mag. In dieſer Duldung kommt
Jean Paul dem großen Herder am meiſten gleich.
Trotz ſeines unermeßlich reichen Witzes, mißbraucht
Jean Paul dieſe gefaͤhrliche Waffe doch niemals, und
ſeine Gewiſſenhaftigkeit iſt deßfalls nicht genug zu
ruͤhmen. Er iſt der friedfertigſte, loyalſte unter un¬
ſern Dichtern, und doch zugleich derjenige, der das
unvergleichlich reichſte Arſenal von Witz und Dia¬
lektik fuͤr die Polemik beſaß. Von ihm, der alles
hatte, um in dieſer Zeit der wahre advocatus diaboli
zu ſeyn, muͤſſen wir ſagen, er war der ſanfteſte und
unſchuldigſte unter allen unſern Dichtern. Keiner
haͤtte ſolch ein Teufel ſeyn koͤnnen, und keiner war
ſo ein frommer kindlicher Engel, wie er.


Jean Paul's Poeſie war zu ſehr individuell, als
daß ſie haͤtte koͤnnen nachgeahmt werden. Anklaͤnge
hat man zwar uͤberall vernommen, doch nur verſuchs¬
weiſe oder durch irgend eine andre ausgezeichnete
Individualitaͤt gluͤcklich modificirt. Hoffmann, deſſen
oben ſchon gedacht iſt, iſt ihm vielleicht am aͤhnlich¬
ſten, und doch wieder bedeutend von ihm verſchieden.
Im Allgemeinen aber iſt der Humor durch Jean Paul
zu weit groͤßrem Anſehn gelangt, als fruͤher, und
wenn man ihn nur ſelten vorherrſchen laͤßt, ſo be¬
dient man ſich doch ſeiner haͤufig als einer eigenthuͤm¬
lichen poetiſchen Farbe bei einzelnen Charakteren in
Romanen und Dramen. —


[243]

Wir wollen zu den einzelnen Gattungen der
Poeſie uͤbergehn, und Lyra, Epos und Drama
beſonders betrachten. Jede dieſer Gattungen hat bei
uns geherrſcht, heute mehr die eine, morgen die andre;
alle ſind nach allen moͤglichen Seiten ausgebildet
worden, und ſelbſt nicht wenige einzelne Dichter ha¬
ben ſie alle zugleich behandelt, am univerſellſten un¬
ter allen uͤbrigen Goͤthe. Homer war nur Epiker,
Anakreon und Pindar waren nur Lyriker, Äſchylos
und Sophokles nur Dramatiker, unſre modernen Dich¬
ter ſind aber gern und leicht alles in allem. Woher
dies komme, haben wir ſchon oben eroͤrtert.


Man kann in unſrer neuern Poeſie einen Über¬
gang vom Lyriſchen durchs Dramatiſche zum Epiſchen
unterſcheiden, doch ohne dabei die Graͤnzen allzuſcharf
zu ziehn. Anfangs hat unſtreitig die lyriſche Poeſie
das Übergewicht gehabt. Die ſchleſiſche Schule, bis
auf welche man zuruͤckgehn muß, war vorzugsweiſe
lyriſch, ſo nachher die Schule von Haller, Gleim,
Utz, Hagedorn ꝛc., und die von Klopſtock, Voß, Stoll¬
berg ꝛc. Dann bemaͤchtigte ſich der Deutſchen die
Theaterwuth, und nach dem Vorgange Leſſing's be¬
gruͤndeten Schiller und Goͤthe, Iffland und Kotzebue
die dramatiſche Periode, ungefaͤhr in derſelben Weiſe,
wie auf die Arien, Symphonien und Oratorien in
der Muſik die Opern, auf Bach und Haͤndel Mozart
folgte. Jetzt aber ſind wir vorzugsweiſe epiſch ge¬
worden in jener Suͤndfluth von Romanen, welche
11 *[244] die ſchoͤne Literatur gaͤnzlich unter Waſſer zu ſetzen
droht.


Dieſer Übergang iſt ſehr natuͤrlich. Wenn man
auch nicht behaupten darf, daß er der urſpruͤnglich
nothwendige Gang ſey, den die Poeſie jedes Volks,
oder uͤberhaupt des menſchlichen Geſchlechts nehmen
muͤſſe, ſo iſt er doch fuͤr unſer Volk und unſre Zeit
nothwendig geworden. Die Poeſie des Menſchenge¬
ſchlechts hat mit einer rein epiſchen Symbolik begon¬
nen, und aus dieſer objectiven Weltpoeſie hat ſich
allmaͤhlig erſt die ſubjective Lyrik entwickelt, ſo wie
der Menſch ſelbſt immer freier und ſelbſtaͤndiger ge¬
worden iſt. Jene aͤlteſte Poeſie gieng aus einer harmo¬
niſchen, glaͤubigen Weltanſicht hervor, die neue Poeſie
der Deutſchen dagegen aus einer zerrißnen, voͤllig
disharmoniſchen und unglaͤubigen Anſicht der Dinge.
Dort gieng man vom Ganzen zum Einzelnen uͤber,
und von dem Äußern zum Innern, vom objectiven
All zur ſubjectiven Perſoͤnlichkeit. Das alte mythi¬
ſche Epos zerfiel in Dramen, und dieſe wieder in ly¬
riſche Charaktere, wie aus der Theokratie die Hel¬
denkaͤmpfe, und aus dieſen die buͤrgerliche Freiheit
hervorgieng. Äſchylos begann den Homer ins Drama
zu uͤberſetzen, und Anakreon loͤſte wieder die lyriſchen
Tiraden aus den Stuͤcken des Euripides, wie Bluͤ¬
then vom Baume los, und ließ ſie als lyriſche Blaͤt¬
ter frei herumfliegen. Eben ſo loͤſte ſich aus dem
alten Tempelbau die Statue los und trat frei und
ſtolz in die Mitte der heiligen Hallen, wie der Menſch
[245] in die Mitte der Schoͤpfung, aus deren Schooß er
ſich endlich losgerungen. Dies war der urſpruͤng¬
liche, natuͤrliche Gang aller menſchlichen, mithin auch
der poetiſchen Entwicklung. Die neuere Poeſie nimmt
aber den umgekehrten Gang. Sie iſt weſentlich eine
Reſtauration und Reorganiſation aus voͤllig aufge¬
geloͤſten anarchiſchen Elementen. Jene aͤlteſte Poeſie,
immer mehr ſich zertheilend, zerſetzend loͤſte ſich im
roͤmiſchen Zeitalter endlich voͤllig auf und gieng in
fauligte Gaͤhrung uͤber, bis nur duͤrre Knochen zu¬
ruͤckblieben und auch dieſe zuletzt in Staub zerfielen.
Da begann im chriſtlichen Mittelalter der erſte große
Reorganiſationsproceß, und eine neue Poeſie ſchlug
ihr großes Bluͤthenauge gegen den Himmel auf. Aber
auch dieſe Bluͤthe welkte wieder, trug nur eine herbe
Frucht in der didaktiſchen, ſpießbuͤrgerlichen und ſa¬
tyriſchen Zeit kurz vor und nach der Reformation,
ſchrumpfte vollends elend zuſammen und fiel in den
Koth jener großen Heerſtraße, welche die Nachbarn
im dreißigjaͤhrigen Kriege durch Deutſchland zogen.
Zum zweitenmal aber reorganiſirte ſich die Welt, und
in dieſer Periode leben wir jetzt. Bedenkt man nun,
daß die neue Poeſie aus einer allgemeinen Aufloͤſung
ſich reorganiſiren mußte, ſo verſteht es ſich von ſelbſt,
daß ſie nicht wie die Urpoeſie des Geſchlechts von
einem Ganzen ausgehend ſich ins Einzelne verbrei¬
ten konnte, ſondern umgekehrt vom Einzelnen in con¬
centriſcher Richtung wieder ein Ganzes ſuchen mußte.
In einzelnen Menſchen mußte wieder ein poetiſches
[246] Gefuͤhl zu daͤmmern anfangen, wie im fauligen Schlam¬
me das neue Leben in Infuſorien zu daͤmmern be¬
ginnt, und die erſten Dichterſchulen mußten ſich in
der Empfindung, in einem dunklen Ahnen, in einem
gewiſſen poetiſchen Mesmerismus zuſammenfinden, be¬
vor ſie den hoͤhern Sinn fuͤr alles Schoͤne entfalten
koͤnnten, wie die orgarniſirende Natur die Oberflaͤche
des Lebermeers, worin die Keime kuͤnftiger Schoͤpfun¬
gen noch chaotiſch durcheinander gaͤhren, zuerſt mit der
Priſthleyſchen gruͤnen Materie, mit breiweichen Waſſer¬
pflanzen und Schaaren von reizbaren und phosphores¬
cireuden Waſſerthieren bedeckt, bevor die hoͤhern Orga¬
nismen vielgeſtaltig an das Licht reifen. So ſehn
wir jene lyriſchen Dichter von Opitz bis Voß, waſ¬
ſerreich und doch lebendig ſich fuͤhlend, und nicht we¬
nig leuchtend in der alten Hexennacht, die neue Ent¬
wicklung der Poeſie beginnen. Ihnen folgen dann
bald hoͤhere, freiere, edlere Geſtalten, und ein neues
Paradies tritt ſonnenhell aus der Nacht und uͤber
dem kalten proſaiſchen Gewaͤſſer hervor. Was in
der Lyra zuerſt ſich nur gefuͤhlt, wird frei im Dra¬
ma, und ordnet ſich harmoniſch zum Ganzen im Epos.
Es liegt etwas Ruͤhrendes in den erſten leiſen An¬
faͤngen der jetzt ſo maͤchtig gewordnen Poeſie, wie
etwa in der gleichzeitigen und eben ſo raſchen Ent¬
wicklung der buͤrgerlichen Freiheit in Nordamerika;
und herzerhebend iſt der Gedanke, daß wir in einer
Zeit des Bluͤhens und Fruͤhlings, nicht des Welkens
leben, daß wir aufwaͤrts, nicht nieder ſteigen. Moͤ¬
[247] gen wir uns uͤber die Richtung nicht taͤuſchen, in der
wir begriffen ſind. Der Winter liegt hinter uns,
nicht vor uns. Sendet er uns noch Aprilſchauer und
Maifroͤſte, ſie halten den großen Gang der Natur
nicht auf. Welken die Wurzelblaͤtter und fallen ab,
die noch nicht aufgeſchoßne Krone wird deſto ſchoͤner
ſich entfalten.


Gehn wir nun von der Lyrik aus, ſo muͤſſen wir
derſelben, zufolgte des eben Geſagten, eine allgemeine
Bedeutung fuͤr die Entwicklung unſrer Poeſie uͤber¬
haupt zuerkennen, und ſie auch darnach, nicht blos
nach ihrem beſondern, gleichſam ſpecifiſchen Werth
und Gewicht beurtheilen. Wollten wir nur das letz¬
tere beruͤckſichtigen, ſo wuͤrden wir die meiſten aͤltern
Lyriker als unbeholfene Anfaͤnger beſeitigen und ſie
den meiſten neuern unbedingt nachſtellen muͤſſen. Sehn
wir aber auf jene allgemeine Bedeutung, ſo erhalten
auch die ſchlechtern Lyriker der erſten Periode einen
Vorrang vor den meiſten weit beſſern der gegenwaͤr¬
tigen Zeit, und das Publikum iſt gerecht genug, dies
anzuerkennen. Es achtet noch immer einen Opitz,
Flemming, Haller, ſogar Gleim, Kleiſt, Hoͤlty, ob¬
gleich die neueſte Lyrik ſie ſehr weit an aͤſthetiſchem
Gehalt uͤbertrifft. Man denkt doch immer, jene Leute
haben das angefangen, was dieſe nun leicht und gluͤck¬
lich fortſetzen.


Die lyriſche Poeſie hat nicht nur das neue goldne
Zeitalter begonnen, ſondern auch fortwaͤhrend darin
einen vorzuͤglichen Rang behauptet. Ja die groͤßten
[248] unſrer neuern und neueſten Dichter waren zugleich
Lyriker, vor allen Schiller und Goͤthe. Man darf
behaupten, daß wir Deutſche mehr als irgend ein
andres Volk von Natur ſchon lyriſch geſtimmt ſind.
Man ſpricht immer vom deutſchen Herzen. Unſre
Lyrik beſtaͤtigt das Daſeyn dieſer uͤberwiegenden Ge¬
muͤthskraft. Schon die aͤlteſten Denkmale der ger¬
maniſchen Vorzeit erwaͤhnen unſrer Bardengeſaͤnge,
im Mittelalter bluͤhte ganz Deutſchland in einem ein¬
zigen großen lyriſchen Fruͤhling, und jetzt bringt wie¬
der jedes Jahr viele tauſend Lieder. Eigentlich iſt
der Faden der lyriſchen Poeſie in Deutſchland nie
ganz abgeriſſen, wenn auch allerdings verduͤnnt wor¬
den. Wir waren immer Gefuͤhlsmenſchen, und Lyrik
iſt die erſte und einfachſte Sprache des Gefuͤhls.
Unſre lyriſchen Gedichte ſind gleichſam Zinſen eines
unermeßlichen Capitals von Gutmuͤthigkeit und Herz¬
lichkeit, das uns unter allen Umſtaͤnden treu geblie¬
ben iſt.


Lyrik iſt die Poeſie der Jugend, und die deut¬
ſche Jugend hat von jeher mehr als irgend eine andre
geſchwaͤrmt. Das Gefuͤhl fließt uͤber, und es iſt die¬
ſen jungen Dichtern wahrſcheinlich mehr darum zu
thun, zu ſingen, als gehoͤrt zu werden. Wie die
Voͤgel im Fruͤhjahr, zwitſchern ſie auf allen Zweigen
und ſcheinen gar nicht zu wiſſen, daß ihrer ſo viele
tauſende ſind und daß ſie doch immer nur das alte
Lied ſingen. Es draͤngt ſie einmal, ihre Stimme hoͤ¬
ren zu laſſen, und die meiſten verſtummen wieder,
[249] wenn der Fruͤhling des Lebens voruͤber iſt. Daher
die ungeheure Maſſe von lyriſchen Dichtern und die
Ähnlichkeit ihrer Lieder. Warum ſollten ſie auch die
unſchuldige Freude nicht haben, bluͤhen doch auch
viele tauſend Blumen nebeneinander. Wenn ſie mir
nicht alle auf Unſterblichkeit Anſpruch machen, ſo
kann niemand etwas dagegen haben. Im Mittelal¬
ter war es auch ſchon ſo. Auch damals ſangen un¬
zaͤhlige Dichter und uͤber dieſelben Gegenſtaͤnde. Wir
koͤnnen die Minneſaͤnger nicht einzeln betrachten, es
war ein ganzes Volk.


Es iſt noch dieſelbe Gemuͤthskraft, die damals
zum Geſange trieb, wie jetzt, nur ſcheint ſie damals
mehr der Natur vertraut und geſunder geweſen zu
ſeyn, jetzt iſt ſie mehr in Reflexionen verkuͤmmert,
und oft krankhaft. Die Begeiſterung wird, ſtatt aus
der Natur, oft aus Buͤchern geholt, ſie iſt oft ge¬
lehrt, erkuͤnſtelt, uͤberfeinert. Doch im Allgemeinen
ſchlaͤgt immer wieder die geſunde Natur vor.


Die lyriſche Poeſie druͤckt allgemeine Stimmun¬
gen des Gefuͤhls aus, oder Gefuͤhle bei beſondern
Gelegenheiten, die ſich jedoch mehr oder weniger im¬
mer auf einen herrſchenden Grundton im Gemuͤth
zuruͤckfuͤhren laſſen. Es giebt im Allgemeinen nur
vier ſolche vorherrſchende Stimmungen des Gefuͤhls,
denen auch die Hauptarten der lyriſchen Gedichte
entſprechen. Sie richten ſich nach den Temperamen¬
ten. Die ſanguiniſche Stimmung bringt die heitern,
froͤhlichen Lieder, die choleriſche die trotzigen, krie¬
[250] geriſchen, die melancholiſche die ſentimentalen, ſehn¬
ſuͤchtigen, klagenden, die phlegmatiſche die zufriednen,
idylliſchen Lieder hervor. Der Gegenſtand der erſtern
iſt vorzuͤglich Liebe, Luſt und Wein, der zweiten
Vaterland, Ehre, Freiheit, Krieg, der dritten die
klagende Liebe, Tugend, Religion, der letzten die
Landſchaft, das Stillleben, die Familie. Der Form
nach entſpricht der erſten vorzuͤglich das geſellige
Lied, der zweiten die Ode und Dithyrambe, der drit¬
ten die Elegie und der Hymnus, der vierten die poe¬
tiſche Erzaͤhlung, die mahleriſche Schilderung.


Die ſanguiniſchen Lieder der Luſt und des
frohen Genuſſes ſind auſſerordentlich zahlreich, aber
ſie fallen gleich den Luſtſpielen allzuoft ins Suͤßliche,
Sentimentale, oder ins Gemeine, wenn ich ſo ſa¬
gen darf, Gefraͤßige, oder ins Spielende bis zur
Albernheit. Der eine Dichter, beſonders aus der
Schule Gleim's, Mathiſſon's, Tiedge's ꝛc. erinnert
ſich mitten in der Luſt an irgend eine langweilige
Tugend, die ihn ſchulmeiſterlich zur Maͤßigung noͤ¬
thigt, oder citirt den Anakreon und Horaz und ko¬
kettirt mit einer in den Armen der Liebe oder beim
Weinglas ſehr pedantiſchen Claſſicitaͤt. Der andre,
beſonders aus der Schule von Voß, Buͤrger ꝛc. will
den Volkston halten, und lobpreist die derbe Haus¬
mannskoſt. Ein dritter endlich, beſonders aus der
Schule von Goͤthe, will zart ſeyn und raffinirt und
moraliſch dazu, und taͤndelt nur wie ein Caſtrat.
Doch beſitzen wir ſehr vortreffliche einzelne Lieder
[251] der Luſt und des Frohſinns, die zu bekannt ſind,
als daß ich ſie hier erwaͤhnen ſollte. Unter den neue¬
ſten Dichtern dieſer Gattung haben ſich Wilhelm
Muͤller und Friedrich Ruͤckert ehrenvoll ausgezeich¬
net. Der letztere beſitzt ein unermeßliches Talent
fuͤr den Versbau und beſonders fuͤr die Harmonik
deſſelben. Durch Alliterationen, Aſſonanzen und Rei¬
men weiß er das geſammte Material der Sprache in
Accorde zu faſſen und in der kuͤnſtlichſten Verſchlin¬
gung jedem Wort eine muſikaliſche Bedeutung zu ge¬
ben. Doch ſagt dieſe Kuͤnſtlichkeit der einfachen Em¬
pfindung nicht immer zu, und eben ſo wenig die
orientaliſche Fuͤlle ſeiner Bilder. Er ſpricht mehr die
ſpielende Phantaſie, als die Empfindung an, und
darum iſt ihm auch die ſanguiniſche Weiſe vor allen
die natuͤrlichſte.


Die Liebeslieder der frohen ſanguiniſchen Art
gelingen uns Deutſchen im Allgemeinen weit weniger,
als den Italienern. Im Leiden und Klagen ſind wir
ſtaͤrker, als im Beſitz und Genuß. Schamhaft und
genuͤgſam wiſſen wir der Geliebten von fern zu hul¬
digen, mit dem Geringſten begluͤckt zu ſcherzen, uns
uͤber die Sproͤdigkeit anmuthig zu troͤſten, aber den
Beſitz wiſſen wir nicht poetiſch genug zu wuͤrzen, er
macht uns gleich proſaiſch. Die verſchmaͤhte und die
hoffende Liebe begeiſtert uns, die begluͤckte kuͤhlt uns
ab. Erſt ſchaͤmen wir uns, das poetiſch zu uſur¬
piren, was nicht unſer iſt, dann ſchaͤmen wir uns
wieder, unſre Freude daruͤber laut werden zu laſſen,
[252] wenn es unſer iſt. Die Weinlieder ſind in Deutſch¬
land gewiß beſſer, als irgend wo anders, wie wir
denn auch trotz der Prahlereien einiger Fremden,
noch immer die beſten Trinker ſind und bleiben. Aber
auch in die Weinlieder hat ſich ein falſcher Ton na¬
mentlich durch die verſchiedenen Zwecke der beim
Weine ſich verſammelnden Geſellſchaften eingeſchlichen.
Sie ſind zu etwas verlaͤngerten Toaſten geworden.
Der Freimaurer trinkt der Menſchheit, der Soldat
dem Kriege, der Liberale dem Vaterland und der
Freiheit, der Student ſeinen kleinen Privilegien zu.
Gemiſchte Geſellſchaften aber haben eine gewiſſe
Sorte von Liedern, die ſie eigentlich nur beim Waſ¬
ſer ſingen ſollten. Da heißt es, daß man beiſam¬
men ſitze, daß man luſtig trinke, daß man Bier oder
Wein oder Punſch vor ſich habe, daß dieſelben
ſchmecken und luſtig machen, und dergleichen mehr,
was ſich fuͤr jeden von ſelbſt verſteht, der vor dem
Glaſe ſitzt, und luſtig genug iſt, uͤberhaupt ein Lied
anzuſtimmen.


Von dieſer Art ſind denn auch die Lieder, die
im Allgemeinen eine freudige Stimmung ausdruͤcken,
oder zu derſelben auffordern ſollen. Mit genauer Noth
bezeichnen ſie die leere Stelle, in welche der Dichter
die Poeſie hineingewuͤnſcht hat. Sie gleichen Über¬
ſchriften auf Noten: Allegro, Andante etc. aber die
Noten fehlen. Man ruft nach der Freude: komme
doch, erſcheine, ſteige herunter, Tochter des Him¬
mels, ſey unſer Gaſt! oder man verkuͤndigt ſich: ſie
[256 [253]] iſt da, die liebe Freude, nun ſitzen wir froͤhlich bei¬
ſammen ꝛc.


Die choleriſchen Lieder ſetzen eine hohe lei¬
denſchaftliche Flamme voraus, und werden ſelten ge¬
dichtet, wo dieſe Flamme nicht wirklich in des Dich¬
ters Buſen lodert. Sie paſſen nur fuͤr exaltirte Zu¬
ſtaͤnde, und da man ſich im gewoͤhnlichen Leben da¬
mit nicht ſonderlich beliebt macht, ſo werden ſie auch
weniger erkuͤnſtelt. Ihr Gegenſtand iſt ſtuͤrmiſche
Begeiſterung fuͤr Ehre, Freiheit, Vaterland und zor¬
niges Entflammen gegen den Feind, das Laſter, die
Schwaͤche. Selten iſt dieß Feuer der Leidenſchaft
rein perſoͤnlich, weil perſoͤnliche Leidenſchaft ſelten
poetiſch iſt. Meiſtentheils iſt es eine geſellige, natio¬
nelle Begeiſterung, die in dieſen Liedern flammt. Un¬
ter jenen ſeltenen Feuerſeelen, fuͤr deren perſoͤnliche
Leidenſchaft wir uns wegen ihrer Reinheit und Tiefe
intereſſiren, ſteht unter uns Deutſchen Hoͤlderlin oben
an. Der goͤttliche Wahnſinn dieſes Dichters iſt in
ſeiner Art das Herrlichſte, was die Poeſie kennt.


Die juͤngſtvergangene Zeit der patriotiſchen Be¬
geiſterung hat eine große Menge Vaterlands-, Frei¬
heits- und Kriegslieder hervorgerufen. Schon fruͤher
hatte Schiller den Grundton dazu angegeben. Koͤr¬
ner, Arndt, Schenkendorf haben zu ihrer Zeit ſehr
zeitgemaͤß geſungen und wahre Begeiſterung erweckt.
Die ſchoͤnſten Lieder aber waren die von Ludwig
Follen, ſchmetternde Trompetenklaͤnge, freudig, herr¬
lich, voll wilder und unbaͤndiger Schlachtenluſt.


[254]

Die melancholiſchen Lieder druͤcken ge¬
woͤhnlich allgemeine Stimmungen der Sehnſucht des
Leidens und der Trauer aus, oder auch die Empfin¬
dungen bei beſondern ernſten und traurigen Anlaͤſſen.
Die wahre Melancholie entſpringt in der Seele ohne
allen aͤuſſern Anlaß und ſucht ſich ſelbſt ihren Gegen¬
ſtand. Die Jugend hat ihre melancholiſche Periode,
und da die Jugend am meiſten lyriſch iſt, ſo ſind auch
die meiſten lyriſchen Gedichte von der melancholiſchen
Art. Die ſentimentale Naturbetrachtung und die
Klagen der Liebe bilden den Hauptinhalt dieſer Ge¬
dichte. Sie ſind natuͤrlich und ruͤhrend, wenn die
Empfindung wahr iſt, und die Graͤnzen nicht uͤber¬
ſchreitet. Es giebt aber auch eine Menge Lieder,
worin theils eine gekuͤnſtelte Empfindſamkeit, theils
eine uͤbermaͤßige, feige, weibiſche Weinerlichkeit
herrſcht. So finden wir bei Matthiſſon, Tiedge, Ko¬
ſegarten viel zu viel Reflexion, gelehrte Citate, ab¬
ſichtliche Zierlichkeit und viel zu genaues Ausmalen.
Man ſieht, daß die Dichter ſelbſt weniger empfun¬
den, als gedacht haben, und ſie wecken daher auch
weniger Empfindungen, als ſinnliche Vorſtellungen
und Gedanken. Dieſe Dichter wollen aber dennoch
voll tiefer Empfindung erſcheinen, und uͤbertreiben
daher den Ausdruck derſelben. Sie tauchen die Fe¬
der in den ewig rinnenden Thraͤnenzuber der elegi¬
ſchen Wehmuth und nehmen einen gewiſſen winſeln¬
den Klageton an, den wir hoͤchſtens bei einer un¬
gluͤcklichen Louiſe Brachmann natuͤrlich finden.


[255]

Zu der melancholiſchen Gattung muͤſſen auch die
religioͤſen Lieder gerechnet werden. Wir ſind daran
ſehr reich, und viele dieſer Lieder ſind hoͤchſt vor¬
trefflich, doch ſind die von Novalis die innigſten.
Leider aber finden wir gerade die ſchoͤnſten frommen
Lieder nur zerſtreut in den Sammlungen weltlicher
Gedichte. Die Kirche nimmt keine Notiz davon.
Hier herrſchen noch die alten Geſangbuͤcher, die in
einem barbariſchen Zeitalter von hoͤchſt unpoetiſchen
Theologen abgefaßt worden, oder ſchlechte Verſifica¬
tionen der Pſalmen. Die wenigen guten Ausnahmen
machen dieſen Mißbrauch nur noch augenſcheinlicher
So entzieht ſich denn die proteſtantiſche Kirche ſelbſt
die Mittel, wodurch ſie die Seelen gewinnen koͤnnte.
Die Philoſophie bot ſich ihr an, ſie hat ſie befehdet;
die Poeſie bot ſich ihr an, ſie hat ſie gleichguͤltig
zuruͤckgewieſen.


Die Lieder von der phlegmatiſchen Gat¬
tung bilden eine niederlaͤndiſche Schule in der Lyrik.
Stillleben iſt ihr Weſen und ihr Gegenſtand. Zu¬
friedenheit iſt die Stimmung, aus der ſie hervorgehen,
die idylliſche Natur, die Familie, das nuͤchterne
Gluͤck ihr Gegenſtand, Voß, Koſegarten, der Feld¬
prediger Schmidt mit ſeinen Muſen und Grazien in
der Mark waren die Tonangeber. Auch hier iſt man
nicht bei der Natur ſtehn geblieben, ſondern hat die
Alten citirt, beſonders den Theokrit und Horaz.
Nichts war wohl ſo laͤcherlich, als dieſe gelehrte
Bauernhaftigkeit und baͤuriſche Gelahrtheit.


[252 [256]]

Im vorigen Jahrhundert gab es auch eine große
Menge didaktiſche, beſonders moraliſche Gedichte, die
jedoch in dem jetzigen ſehr abgekommen ſind. Sie wa¬
ren niemals von poetiſchem Werth, wenn ſie nicht
wie die Lehrgedichte Schillers zugleich eine edle und
große Leidenſchaft und Begeiſterung beurkundeten.
Eben ſo haben jetzt die Fabeln abgenommen.


Im neuern Jahrhundert ſind dagegen die Ro¬
manzen haͤufiger geworden. Wir ſind aus der Theo¬
rie in die Erfahrung, aus dem philoſophiſchen Ge¬
biet ins hiſtoriſche uͤbergegangen und ſo ſuchen wir
auch in der Poeſie lieber die Beiſpiele, als die Be¬
lehrungen. Unſre groͤßten Dichter haben Romanzen
gedichtet, und die Zahl der geringern Romanzendich¬
tern iſt nicht zu berechnen. Gewiſſe ſehr beliebte Sa¬
genſtoffe ſind zehn und zwanzigmal behandelt worden.
Einer unſrer verdienteſten Romanzendichter iſt Guſtav
Schwab. Andre Dichter haben uͤbrigens auch die
Romanzen, wie alles, ins Gemeine hinabgezogen.
Alle Thorheiten unſrer modernen Romane, fade
Galanterie, matte Grauſamkeit und ſchwaͤchliche
Reſignation haben den alten Rittern und Damen
in neuen Romanzen aufgebuͤrdet werden muͤſſen, und
wir hoͤren dabei nur das alterthuͤmliche Versmaaß,
wie das Echo von alten Burgtruͤmmern wieder¬
hallen.


Die Volkslieder in beſondern Mundarten, wie
die von Hebel, ſind nur als poetiſche Curioſa zu be¬
trachten. Sie unterſcheiden ſich von echten alten Volks¬
[257] liedern dadurch, daß ſie nicht aus dem Volk hervor¬
gegangen, ſondern demſelben angedichtet worden ſind.
Wie ſehr der Dichter ſich bemuͤht, ein Bauer zu
ſcheinen, er bleibt doch immer nur ein Bauer aus
der Theatergarderobe. Ich kann die Begeiſterung fuͤr
Hebel's und aͤhnliche Gedichte nicht theilen, ſie wi¬
dern mich vielmehr grade ſo an, wie die Schwei¬
zerinnen und Tyrolerinnen auf Redouten. Es iſt
eine alberne Affectation ſogenannter Naivetaͤt darin,
die ſich in der Wirklichkeit ganz anders verhaͤlt.
Merkt man nun gar, daß der Dichter ſeinen Bauern
wieder den laͤngſt verſauerten Milchbrei politiſcher
Kindlichkeit einpappelt und ſie gleich einem Dorf¬
ſchulmeiſter bei der Ankunft hoher Herrſchaften zum
Vivat einexercirt, ſo geht die Illuſion gaͤnzlich ver¬
loren und man ſieht ſtatt der Natur nur ein theatra¬
liſches Machwerk, wie die Goͤtheſchen Feſtzuͤge und
gewiſſe Wiener Vorſpiele.


Wir gehn zum Drama uͤber. Wenn der An¬
fang unſres poetiſchen Zeitalters mehr lyriſche Ge¬
dichte hervorgebracht hat, und im gegenwaͤrtigen Au¬
genblick mehr Romane zum Vorſchein kommen, ſo iſt
die Mitte zwiſchen beiden vorzuͤglich von Schauſpie¬
len ausgefuͤllt. Die glaͤnzende Zeit des Dramas iſt
jetzt ſchon voruͤber, wenigſtens unterbrochen, dage¬
gen erlebt jetzt der Roman ſein goldnes Alter.


Es verdient bemerkt zu werden, daß die Schau¬
ſpiele faſt ausſchließlich der neuern Periode der deut¬
ſchen Poeſie angehoͤren. Das Mittelalter war groß
[258] im Epiſchen und Lyriſchen, von Dramen verlautet
aber erſt am Ende deſſelben ein weniges. Unter al¬
len Muſen ſind die dramatiſchen in Deutſchland am
ſpaͤteſten eingewandert und haben ihren erſten Einzug
wie in Griechenland auf dem Theſpiskarren gehalten.
Alberne geiſtliche Feſtſpiele und weltliche Faſtnachts¬
poſſen waren die erſten aͤrmlichen Gaben derſelben.
Jene geiſtlichen Dramen erlangten nie die ideale Aus¬
bildung wie in Spanien, und dieſe weltlichen Bur¬
lesken entſtanden und verſchwanden mit dem Wohl¬
ſtand des dritten Standes und wurden nie, was ſie
in England und Italien geworden ſind. Hans Sachs
ließ ſeinem Zeitalter eine ganze dramatiſche Welt
wie in einer magiſchen Laterne ſchnell vor den Augen
voruͤbergehn, aber die bleichen gedraͤngten Geſtalten
verſchwanden in der Nacht des Zeitalters, in deren
dicker Finſterniß Jeſuitismus, Orthodoxie und Hexen¬
proceſſe eine allgemeine große Tragikomoͤdie ſtatt al¬
ler andern auffuͤhrten.


Als Deutſchland ſich wieder erholte war Macht
und Wohlbehagen vom Volk hinweg an die Hoͤfe der
Fuͤrſten gezogen, und hier allein hatte man Geld und
Langeweile genug, dem alterſchwachen Hofnarren
Melpomenen und Thalien zu Gehuͤlfinnen zu geben.
Die vornehme Welt gieng aber damals in die fran¬
zoͤſiſch-italieniſche Schule und verſchrieb ſich von dort
das Theater mit allem Zubehoͤr. Doch hatte ſich zum
Gluͤck neben der Verzerrung des antiken Geſchmacks
noch ein romantiſches Element erhalten, das ſich vor¬
[259] zuͤglich in der Oper eine neue Bahn brach, und das
franzoͤſiſche Luſtſpiel begann allmaͤhlig, luſtig genug
zur Natur zuruͤckzukehren. Endlich drang die Thea¬
terluſt auch in die Staͤdte, die noch einigen Wohl¬
ſtand aus dem Mittelalter ſich gerettet, oder zu
neuer Bluͤthe ſich emporgearbeitet und vorzuͤglich die
alten Hanſeſtaͤdte, vor allem Hamburg, oͤffnete der
Muſe Shakespeare's den Zutritt und machte das
bisher nur hoͤfiſche und auslaͤndiſche Drama buͤrger¬
lich und volksthuͤmlich. Was fruͤher ſchon zum Theil
erſtrebt worden, vollendete Leſſing, den man als
den Begruͤnder der neuen deutſchen Dramaturgie be¬
trachten darf. Nicht nur, daß er als Kritiker den
Geſchmack ſichtete, der Nation die beſten fremden
Muſter vor Augen hielt und den Schauſpieldirektio¬
nen und dem Publikum ein allmaͤchtiges Orakel wurde,
auch als Dichter ſelbſt gab er das erſte Beiſpiel und
ſtimmte das deutſche Drama auf den Ton, den es
ſeitdem behalten hat. Emilia Galotti war das erſte
deutſche Trauerſpiel, Minna von Barnhelm das erſte
Luſtſpiel.


Seit Leſſing iſt durch Goͤthe, Schiller, Schroͤ¬
der, Juͤnger, Iffland, Kotzebue ꝛc. das deutſche Thea¬
ter zum hoͤchſten Flor gekommen, aber auch wieder
tief herabgeſunken. Daher iſt ein zweiter Leſſing noͤ¬
thig geworden, und Ludwig Tieck kaͤmpft eben ſo
ritterlich gegen die Entartung des Theaters, als Leſ¬
ſing gegen die urſpruͤngliche Rohheit deſſelben kaͤmpft.
Jede dramatiſche Gattung iſt wieder ausgeartet, nach¬
[260] dem ſie eine Zeit lang zu einer bewunderungswuͤrdi¬
gen Bluͤthe gelangt war. Das Trauerſpiel, das ſei¬
nen Gipfelpunkt in Schiller erreicht hat, iſt zur Schick¬
ſalstragoͤdie hinabgeſunken. Das Luſtſpiel, durch Ko¬
tzebue wenn nicht zur Vollkommenheit, doch zur hoͤch¬
ſten Popularitaͤt geſteigert, iſt wieder nach Frank¬
reich abgeirrt und ahmet nur noch franzoͤſiſche kleine
Intriguenſtuͤcke und Vaudevilles nach. Auch die Ruͤhr¬
ſpiele, fruͤher durch Iffland zu einer wahren Natio¬
nalangelegenheit der Deutſchen gemacht, haben den
Weg nach Frankreich genommen und ahmen die grau¬
ſamen Melodramen und Delinquentenſtuͤcke der Pari¬
ſer nach. Sogar die Oper iſt ſeit Mozart wieder
verfallen und theilt alle die Gebrechen, denen alles
Dramatiſche jetzt unterliegt. Die Tragiker ſuchen mit
erſchoͤpfter Kraft Originalitaͤt zu forciren; die Ko¬
miker aber, die alles, ſelbſt ihren Ruhm leichter
nehmen, begnuͤgen ſich von Alten und Fremden zu
borgen, zu ſticken und die guten Gedanken andrer
nur ein wenig zu moderniſiren. Je mehr aber der
Geiſt aus dem Drama gewichen iſt, deſto unver¬
ſchaͤmter hat das Sinnliche darin ſich vorgedraͤngt.
Wie uͤberhaupt auf den Theatern mehr die Ballette
und großen Prachtopern und Schauſtuͤcke mit allem
Glanz der Dekorationen und Maſchinen vorherrſchen,
ſo ſtrebt auch wieder der Dichter ſeinen einzelnen
Producten ſo viel als moͤglich aͤußern Glanz zu ver¬
leihen, um ihnen den Theatereffect zu ſichern.


[261]

Die Trauerſpiele duͤrfen wir in langweilige,
pompoͤſe und graͤßliche eintheilen. Langweilig ſind
alle die philoſophiſchen und politiſchen Moralitaͤts¬
ſtuͤcke, worin man in waͤſſrigen Jamben Schiller und
Alfieri nachahmt. Langweilig ſind auch die meiſten
feinen Trauerſpiele, dergleichen nach Goͤthe's Taſſo
zuweilen noch einige, gleichſam ehrenthalber, produ¬
cirt werden. Ihre Langweiligkeit beſteht darin, daß
ſie untheatraliſch ſind, keine Handlung, nur lange
Monologe und Dialoge enthalten, und zwanzigmal
abgedroſchene moraliſche Sentenzen immer wieder ab¬
dreſchen. Überſchwengliche Tugend und ſtoiſcher Hel¬
denmuth iſt der gewoͤhnliche Gegenſtand dieſer Trauer¬
ſpiele. Aber Leſſing ſagt ſchon: «alles Stoiſche iſt
untheatraliſch!» und hat Recht. Die liberale Par¬
tei ſucht in Deutſchland wie in Frankreich, die poli¬
tiſchen Ideale, die ſie ſelbſt im Leben nicht verwirk¬
lichen kann, wenigſtens uͤber die Buͤhne ſchreiten zu
laſſen, und legt den Helden deßfalls ihr ganzes Sy¬
ſtem mit allen ihren Phraſen in den Mund. So er¬
halten wir Helden, die eben ſo uͤbermenſchlich ſind,
als ihr Syſtem, perſonificirte Conſequenzen, Men¬
ſchen, die mehr Ideen, als Menſchen ſind.


Wenn ſich die politiſche ecclesia pressa dergeſtalt
ein wenig Luft macht, ſo laͤßt man es gern hingehn,
aber wenn halbofficielle Speichellecker die Buͤhne wie
die Zeitungen lenken wollen und ihre ſtets knarrende
Windfahne auf den Tempel der Melpomene pflanzen,
ſo hat man ein Recht, ſich ein wenig zu aͤrgern.
[262] Nichts iſt veraͤchtlicher, als ein Theaterheld, der
die politiſchen Windbeuteleien der Wirklichkeit nach¬
aͤfft. Dieſe ſelbſt ſind weniger veraͤchtlich, weil die
Wirklichkeit durchaus kein ſo liberales Land iſt, als
die Theaterwelt. Man ſucht auf dem Theater etwas
andres, und iſt nicht zufrieden, wenn man dort nur
wieder hoͤrt, was man am Morgen in der Zeitung
geleſen.


Die pompoͤſen Trauerſpiele und romantiſchen
Schauſpiele mit Pferden, militairiſchen Aufzuͤgen,
uͤberladnen Dekorationen, antiquariſch abgemeſſnen
Trachten ꝛc., dieſe eigentlichen Schauſtuͤcke, wobei
man nur zu ſchauen, nicht zu denken hat, ſind vor¬
zuͤglich in der Periode Napoleon's aufgekommen und
entſprechen zunaͤchſt der Liebhaberei an militairiſchen
Paraden. Jetzt werden ſie durch die Liebhaberei an
Walter Scott's Romanen aufrecht erhalten und der
Geſchmack daran ſchweift immer mehr aus. Schon
hat man angefangen, Walter Scott ſelbſt auf die
Buͤhne zu bringen und wahrſcheinlich wird es noch
oͤfter geſchehen. Man braucht ja nur die ſo reich
dekorirten und drappirten Schilderungen in ſeinen
Romanen in tableaux vivans zu verwandeln, um alle
Sinne, wenn auch nicht das Herz zu befriedigen.
Wo der Haushalt der Theater zu ſo vieler Pracht
nicht hinreicht, muß das Neue und Sonderbare die
Pracht erſetzen. Man befriedigt die Schauluſt durch
Curioſitaͤten, durch Maͤdchen in Uniform, durch den
Hund des Aubry, durch den Baͤr und Baſſa, durch
[263] den Affen Joko. Da ſich die Ballette am meiſten fuͤr
dergleichen eignen, ſo herrſchen ſie auch ungebuͤhrlich
vor und verdraͤngen die beſſern Schauſpiele. In die¬
ſer ſinnlichen Richtung ſinkt das Theater am tiefſten
hinab und entfernt ſich am weiteſten von ſeinem ei¬
gentlichen Zweck. Es ſucht entweder nur noch eine
maleriſche Wirkung hervorzubringen, oder gar nur
die Wirkung von Gauklereien, Seiltaͤnzereien, Me¬
nagerien ꝛc.


Die graͤßlichen Schickſalsſtuͤcke haben wir ſchon
oben beleuchtet. Sie reihen ſich jenen Curioſitaͤts¬
ſtuͤcken wuͤrdig an, indem ſie die Beſtialitaͤt nur in
die Menſchheit hinuͤberpflanzen. Von den eigentli¬
chen Schickſalsſtuͤcken weichen die Delinquentenſtuͤcke,
die man von Frankreich borgt, zwar in der Tendenz,
aber nicht in der Wirkung ab. Sie wollen bei dem
Zuſchauer theils haarſtraͤubendes Entſetzen, theils die
Wolluſt der Grauſamkeit wecken. Auch hier iſt grobe
Sinnlichkeit mit im Spiel. Sie ſchmeicheln keinem
andern Sinn, als dem, welcher ſich an Martern,
an Hinrichtungen weidet. Graͤßliche Verbrechen, und
Mord aller Art iſt ihr beſtaͤndiger Gegenſtand. Es
iſt auffallend, wie nach einer ſo ſanften, ſuͤßlich mil¬
den, ſentimentalen Periode ſowohl die Franzoſen als
uns ploͤtzlich dieſe Grauſamkeit, dieſer Blutdurſt be¬
ſchlichen. Offenbar hat der Haß, der in der Revo¬
lution geſaͤet worden, und die Gewohnheit des Kriegs
dieſe Veraͤnderung in den Neigungen hervorgebracht.
Den Franzoſen iſt ſie natuͤrlicher, wir duͤrfen uns
[264] vor dieſer gefaͤhrlichen Wolluſt aber wohl in Acht
nehmen.


Die Luſtſpiele ſind in Deutſchland noch gar
nicht recht gediehen. Die witzigſten, und die am
meiſten zum lachen reizen, ſind nicht fuͤr die Buͤhne
geſchrieben. Die populaͤrſten, die auf die Bretter
kommen und den lauteſten Beifall finden, ſind ge¬
woͤhnlich etwas gemein. Nur Dichter, die wie Tieck
der Buͤhne ſelbſt entſagen, duͤrfen dem Luſtſpiel ſeine
ganze unbaͤndige Freiheit laſſen, auf der Buͤhne ſelbſt
iſt man ziemlich zahm und hoͤflich. Tolle Poſſen und
Satyren werden dort nicht geduldet, außer wenn ſie
gemein und baͤuriſch ſind, wie Rochus Pumpernickel
und der Ritter Tulipan. Geiſtreiche feinerere Poſſen
mit Anwendung auf die Legion von Laͤcherlichkeiten
in unſerm oͤffentlichen Leben, Komoͤdien in der Ma¬
nier des Ariſtophanes waͤren etwas Unerhoͤrtes. Man
bringt nur die kleinen Thorheiten einzelner Staͤnde
und Individuen auf die Buͤhne, und iſt ehrlich oder
dumm genug, die Kleinſtaͤdter immer nur in kleinen
Staͤdten zu ſuchen. Auch glaubt man nicht luſtig
ſeyn zu koͤnnen, wenn nicht irgend ein ſentimentales
liebendes Paar oder ein ruͤhrender Familienzirkel da¬
bei iſt. Die laͤcherlichen Perſonen ſind gewoͤhnlich
nur Nebenperſonen. Der Kreis, in dem ſich die In¬
trigue dreht, iſt nur ein Familienkreis. So lange
man den Komiker nicht zur Hauptperſon macht und
jenen Kreis nicht auf das große oͤffentliche Leben aus¬
[265] dehnt, wird das Luſtſpiel ſtets beſchraͤnkt und klein¬
lich bleiben.


Die Buͤhne laͤßt uns im Weſentlichen zweierlei
Gattungen von Luſtſpielen ſehn, die ſogenannten ho¬
hen und feinen und die niedern und gemeinen. Jene
ſind fuͤr die vornehme Welt und ſpielen in der vor¬
nehmen Welt. Sie ſind gewoͤhnlich etwas langweilig
und nie ſo gewandt und fein als die franzoͤſiſchen
derſelben Gattung. Der Scherz wird hier immer
durch die Ruͤckſicht auf Hoͤflichkeit und Etikette ge¬
maͤßigt und gewoͤhnlich an die Bedienten, Soubretten
und einige alte Karrikaturen gewieſen. Auch geſtat¬
tet die deutſche Moral keine großen Freiheiten und
ſtatt liebenswuͤrdigen Leichtſinnes ſehn wir an den
vornehmen Herren und Damen im Vordergrunde ge¬
woͤhnlich nur ſteife Foͤrmlichkeit. Von einer Freiheit,
wie ſie in Beaumarchais Figaro herrſcht, iſt bei uns
gar die Rede nicht.


Weit beſſer ſind die gemeinen Luſtſpiele fuͤr die
gemeine Welt. Sie ſind derb, oft unſittlich, aber
wenigſtens luſtig und von raſcherem Gange. Sie
halten ſich auch mehr an die Natur und haben ein
weit reicheres Feld von Karrikaturen vor ſich, als
jene vornehmen Luſtſpiele. In dieſer Gattung hat
vorzuͤglich Kotzebue das Zwerchfell der Deutſchen zu
erſchuͤttern gewußt. Merkwuͤrdig iſt bei faſt allen
dieſen Luſtſpielen der Umſtand, daß das Laͤcherliche
faſt immer mit dem Altmodiſchen identificirt wird.
Es giebt wenig deutſche Luſtſpiele, worin nicht irgend
Deutſche Literatur. II. l2[266] eine Karrikatur die altmodiſche Tracht, Peruͤcke, Zopf
und Haarbeutel truͤge. Die Verſpottung des Alten
iſt gewiſſermaßen zum Syſtem erhoben worden. Wenn
man ſich aber in dieſem Spott gewiß ſchon hinlaͤng¬
lich erſchoͤpft hat, thaͤte man beſſer, die Thorheiten
der Gegenwart ſchaͤrfer ins Auge zu faſſen.


In der juͤngſten Zeit iſt das Luſtſpiel ſehr herab¬
geſunken. Kleine Stuͤcke von einem Act, meiſt den
Pariſern abgeborgt, haben die groͤßern einheimiſchen
mehr als billig verdraͤngt. Sey es, daß man die
Kuͤrze und den Wechſel uͤberhaupt lieb gewonnen hat,
oder daß die Ballette und kleinen Opern Vor-, Zwi¬
ſchen- und Nachſpiele noͤthiger gemacht haben, man
ſieht auf den Buͤhnen unverhaͤltnißmaͤßig mehr kleine
Stuͤcke, als große, und auch im Buchhandel erſcheinen
mehr Sammlungen kleiner Luſtſpiele, als einzelne große.
Dieſe dramatiſchen Kleinigkeiten ſind faſt immer nur
Fabrikwaare der Pariſer und aͤußerſt geiſtlos, oder
wenn ſie geiſtreich ſind, ſo bezieht ſich ihr Witz auf
oͤrtliche Verhaͤltniſſe, welche dieſſeits des Rheins keine
Anwendung mehr finden.


Die Ruͤhrſpiele koͤnnen wir als beſondre Gat¬
tung kaum unterſcheiden, da ſie groͤßtentheils Luſt¬
ſpiele heißen und in den meiſten eigentlichen Luſtſpie¬
len auch etwas Ruͤhrendes vorkommt. Diderot fuͤhrte
dieſe ruͤhrende Manier ein und wirkte damit mehr
auf die Deutſchen, als auf ſeine eignen Landsleute.
Iffland war der Heros des Ruͤhr- und Thraͤnen¬
ſpiels, doch hat auch Kotzebue dafuͤr das Seinige
[267] reichlich gethan. Dieſe Stuͤcke bilden eigentlich eine
Mittelgattung zwiſchen Trauer- und Luſtſpielen. Sie
beginnen wie ein Trauerſpiel und enden wie ein Luſt¬
ſpiel. Der Held oder die Heldin wird eine Weile
geaͤngſtigt und dann endet doch alles nach Wunſch.
Fruͤher herrſchte darin mehr Empfindſamkeit und man
ſuchte dem Publikum nur weiche Thraͤnen zu entlocken,
jetzt herrſcht darin mehr Grauſamkeit und man ſucht
durch Grauſen und Schrecken und den darauf folgen¬
den froͤhlichen Ausgang lebhafte Contraſte in den Em¬
pfindungen hervorzubringen. Die ſanfte Ruͤhrung iſt
indeß hier immer beſſer am Platz, als der Schrecken,
den man nie unnuͤtz mißbrauchen ſoll. Es iſt eine
wahre Barbarei, erſt die Grauſamkeit auf den hoͤch¬
ſten Gipfel ſteigen zu laſſen, um ſich recht an ihrer
Wolluſt zu letzen, und dann wieder die Wolluſt der
Gnade und Verſoͤhnung damit abwechſeln zu laſſen.
Man will den Genuß eines Tuͤrken und Cannibalen
mit dem eines guten Chriſten und Menſchenfreundes
paaren. Bald bringt man in das ruͤhrende Melo¬
drama einen falſchen allzutragiſchen Ton und mi߬
braucht das Entſetzliche, bald bringt man in das
echte Trauerſpiel einen falſchen allzumilden Ton und
mißbraucht das Mitleid. Man ſcheut ſich ſogar nicht,
die beſten tragiſchen Stoffe deßfalls umzuarbeiten und
da wo der Tod und die Strafe als nothwendiger
Schluß des tragiſchen Ganzen eintreten ſoll, ploͤtz¬
lich Gnade und eine Hochzeit eintreten zu laſſen.


12 *[268]

Endlich muͤſſen wir auf das Epos uͤbergehn.
Die epiſche Poeſie iſt in der Form des Romans jetzt
offenbar die herrſchende geworden. Das Epos in
Verſen erſcheint dagegen nur noch als eine verkruͤp¬
pelte Nachgeburt fruͤherer Zeiten. Unſre mittelalter¬
lichen Vorfahren waren unuͤbertrefflich groß im Hel¬
dengedicht. Ihre Werke jedoch, ſo aͤhnlich den alten
Domen, wurden lange Zeit verkannt, wie dieſe. Als
die Deutſchen wieder anfiengen, poetiſch zu werden,
ahmten ſie nur fremde Muſter nach, die Alten und
die Franzoſen, dann auch Italiener und Englaͤnder.
Wie in der Baukunſt machte ſich auch im Epos ein
gewiſſer jeſuitiſch-franzoͤſiſcher Hofgeſchmack geltend,
worin die heidniſchen Goͤtter und chriſtlichen Heiligen
in buntſcheckigen Allegorien und neumodiſchen Friſu¬
ren den Triumphwagen Ludwigs des Vierzehnten und
ſeinesgleichen ziehn mußten. Nach Deutſchland wurde
die epiſche Muſe durch Voltaire verpflanzt, deſſen
Henriade Schoͤnaich in eine Hermaniade uͤberſetzte.
Da die Deutſchen indeß, wenn ſie einmal bei frem¬
den Muſtern ſtehn, ſich immer inſtinktartig die beſ¬
ſern waͤhlen, ſo giengen unſre epiſchen Dichter auch
bald von Voltaire auf Milton, Arioſto, Taſſo, Vir¬
gil und Homer uͤber. Klopſtock borgte dem geiſtes¬
verwandten Englaͤnder die chriſtlich-myſtiſche Idee,
und von Homer die ruͤhrende Einfalt und die aͤußre
Form. Dieſe Form ſuchte Voß in ſeiner Louiſe noch
treuer zu copiren. Sobald aber Herder wie mit ei¬
nem Zauberſchlag die Poeſie aller Voͤlker und die
[269] fruͤhere unſres eignen Volks rings um uns hergeſtellt
und Welten uͤber Welten entdeckt hatte, griffen die
Dichter auch bald nach allen moͤglichen epiſchen For¬
men und ahmten ſie in bunter Vermiſchung nach, vor
allen Fouqué und Ernſt Schulze.


Man kann nicht laͤugnen, daß unſre neuere und
neueſte epiſche Literatur an unzaͤhlichen Schoͤnheiten
uͤberreich iſt, doch beſteht die ganze Ausbeute derſel¬
ben durchgaͤngig nur in ſolchen einzelnen Schoͤnhei¬
ten. Ein vollkommen genuͤgendes Ganze hat kein
Dichter mehr zu Stande gebracht. Allen insgeſammt
ſchadet der Umſtand, daß es Nachahmungen ſind, ſey
es nun mehr der Sache nach, oder der Form. Man
kann das Gedicht nicht mehr aus der Natur, nur
wieder aus einem Gedicht entlehnen. Daher ſind
ſolche Dichter, wie nach Leonardo da Vincis Aus¬
druͤcke, die Maler, welche nicht nach der Natur, ſon¬
dern nach der Manier einer Schule malen, nicht
Soͤhne, ſondern nur Enkel der Muſe. Jene alten
Dichter ſchilderten ihr Volk, ihre Zeit. Wie laͤcher¬
lich iſt es aber, wenn ein moderner deutſcher Dich¬
ter die Muſe Homer's anruft, und von ſeiner Leier
ſpricht, oder in Oſſian's Telyn zu greifen vorgiebt.
Wie eckelhaft iſt der Gedanke, daß ein Dichter, der
moͤglicherweiſe ſo eben Kaffee getrunken hat und Ta¬
bak raucht oder ſchnupft, ſich erdreuſtet, den Leſern
vorzuſpiegeln, er ſey ganz und gar, mit Haut und
Haar unter die alten Griechen oder unter die Ritter
des Mittelalters gefahren. Sie wuͤrden ſich ſchoͤn
[270] wundern, dieſe Hektor's und Achille, dieſe Roland's
und Tancred's wenn ſie ſaͤhen, wie in dem »tinten¬
klexenden Seculum« die Maͤuſe in ihren Helmen ni¬
ſten. Und die alten Dichter ſelbſt, was wuͤrden ſie
zu ihren modernen Nebenbuhlern ſagen? Sie wuͤrden
glauben muͤſſen, mit ihnen ſey alle Poeſie von der
Erde verſchwunden, wenn ihnen dieſe gute Erde nicht
noch immer von Zeit zu Zeit einen Shakeſpeare oder
Schiller nach Elyſium nachſchickte. Wenn es viel¬
leicht nur laͤcherlich iſt, nach einer Ilias, nach einem
Orlando Furioſo noch hundert und aber hundert Co¬
pien zuzuſchneiden, ſo iſt es dagegen voͤllig abge¬
ſchmackt, ja verderblich, willkuͤrlich die Formen der
Alteu auf moderne, unpaſſende Gegenſtaͤnde anzuwen¬
den, oder gar die verſchiedenſten Formen in einen
bunten Schleim durcheinander zu kneten, wie Ernſt
Schulze in ſeiner Cecilie.


Suchen wir ein echtes, vollkommenes, unſrer
Zeit ganz eigenthuͤmliches Epos, ſo werden wir es
wohl nur im Romane finden. In fruͤhern Zeiten
erſchien der Roman ſo zuruͤckgedraͤngt und kruͤppel¬
haft, als es in der unſern das Heldengedicht iſt. Der
ganze Unterſchied zwiſchen Roman und Heldengedicht
iſt derjenige der Zeiten und ihres Charakters. Die
Helden und Schickſale der Alten ließen ſich beſingen,
die unſrigen laſſen ſich nur noch beſchreiben. Unſtrei¬
tig uͤbt unſer alles umfaſſender, alles durchdringen¬
der Weltverſtand den groͤßten Einfluß, wie auf alle
Erſcheinungen des neuern Culturzuſtandes, ſo auch
[271] auf die ungeheure Maſſe der Romane. Folgte die
Poeſie im griechiſchen Alterthum der ſinnlich-plaſti¬
ſchen Richtung, und im chriſtlichen Mittelalter dem
einen geraden ſtarken Strome der Gemuͤthskraft, ſo
folgt ſie jetzt nur dem Verſtande nach allen Seiten
und in alle Tiefen der Weltbetrachtung. Sie geht
gleichſam hinter dem Verſtande her, um alles zu ge¬
nießen, was er entdeckt. Sie muß ſich aber demzu¬
folge von allen alten ſtrengen Formen loswinden,
und die allerfreieſte Form waͤhlen, und dieſe hat ſie
vollkommen im Roman gefunden. Es giebt keine
freiere poetiſche Form, als die des Romans, wie es
keinen freiern poetiſchen Geiſt giebt, als den des
Romans, und wie uͤberhaupt der Geiſt in unſrem
Zeitalter nach Freiheit ſtrebt.


Was das griechiſche Alterthum dichtete, gieng
gleichſam zuvor durch das Medium des Sinnlichen.
Es war plaſtiſch geformt, bevor es in das Gedicht
uͤbergieng. Was das Mittelalter dichtete, gieng durch
das Medium des Gemuͤths, der Begeiſterung und
Leidenſchaft. Es war gefuͤhlt, bevor es zum Worte
wurde, bevor die Himmelsgluth im Schall und Rauch
des Namens ſich niederſchlug. Was aber wir dich¬
ten, geht durch das Medium des Verſtandes, der
Betrachtung, Beurtheilung und Überlegung. Das
iſt das Charakteriſtiſche unſrer Poeſie, und ganz vor¬
zuͤglich unſres Romans, in welchem dieſe Poeſie ihre
eigentliche Heimath gefunden hat. Auch das unſicht¬
bare Wort mußte bei den Griechen den Sinnen
[272] ſchmeicheln, im Mittelalter aber das Herz im tiefen
Grunde bewegen, bei uns muß es dem Verſtand
ſchmeicheln. Die Griechen uͤberſetzten die ſchoͤne Na¬
tur, das Mittelalter den Glauben, wir uͤberſetzen
unſre Wiſſenſchaft in die Poeſie. In nichts andrem
beſteht das Weſen unſres Romans. Die griechiſche
Weltanſicht war eine ſinnliche, die mittelalterliche
eine fromme, die unſrige iſt eine verſtaͤndige. Die
Poeſie hat ſich immer dieſen allgemeinen Weltanſich¬
ten verſchiedner Zeitalter angeſchloſſen, warum ſollte
es die unſrige nicht auch?


Die verſtaͤndige Anſicht der Dinge iſt immer eine
epiſche, denn ſie ſtellt ſich am freieſten der Objecten¬
welt gegenuͤber. Darum ſagt ihr die epiſche Form
auch am meiſten zu, und vorzuͤglich der Roman, weil
dieſer die freieſte epiſche Form iſt.


Die noch immer friſch quellende Gemuͤthskraft in
unſrer Nation findet auch noch immer ihren unmit¬
telbaren Ablauf in der Lyrik und im Drama. Der
immer mehr alles uͤberfluͤgelnde Verſtand reißt aber
doch die meiſten Dichter in die Romane fort, und
wie mehrere unſrer vorzuͤglichſten Dichter in der Ju¬
gend Lieder geſungen, in der vollen Manneskraft
Schauſpiele gedichtet und bei herannahendem Alter
Romane geſchrieben, ſo zeigt ſich auch in der Maſſe
des Dichtervolks ein aͤhnlicher Stufengang. Die Ro¬
manſchreiber nehmen reißend uͤberhand, wie vor drei¬
ßig Jahren die Schauſpieldichter, und vor ſechzig
Jahren die Lyriker.


[273]

Die verſtaͤndige Weltbetrachtung des Romans
geht von einem Standpunkt aus, der ſich außerhalb
des Betrachteten und uͤber demſelben befindet. Da¬
her einerſeits die reine Objectivitaͤt, die treue Spiege¬
lung, andrerſeits die Ironie des Romans.


Den Übergang von der mehr lyriſchen und dra¬
matiſchen Stimmung unſrer Zeit bezeichnen zwar
eine Menge Romane, in denen die ſubjective Em¬
pfindung des Dichters noch auf lyriſche Weiſe vor¬
waltet, beſonders die eigentlichen Liebesromane des
vorigen Jahrhunderts, der Roman iſt aber fortſchrei¬
tend immer objectiver geworden, und das neue Jahr¬
hundert ſpiegelt in ſeinen Romanen weit weniger
mehr das Herz in Liebesgeſchichten, als den Welt¬
geiſt in den hiſtoriſchen Romanen. Zwiſchen beiden
ſteht der pſychologiſche und philoſophiſche Roman in
der Mitte. Er macht den Übergang von der Her¬
zensergießung zur Zergliederung des Herzens. Er
ſtroͤmt nicht mehr blos Empfindungen aus, ſondern
er analyſirt und vergleicht ſie, und ſtellt ſie ganz un¬
ter die Herrſchaft des ruhig betrachtenden Verſtan¬
des. Es iſt dies, wenn man ein Beiſpiel haben will,
der Übergang von Goͤthe's Werther zu deſſen Wahl¬
verwandtſchaften. Der pſychologiſche Roman geht aber
wieder in den philoſophiſchen uͤber, der den betrach¬
tenden Verſtand uͤber die Graͤnzlinie der Liebe hin¬
ausfuͤhrt und alle Reiche des Wiſſens fuͤr den poe¬
tiſchen Geſchmack anzubauen ſucht, nachdem ſie vom
Scharfſinn entdeckt und erobert worden. Hier geraͤth
[274] der Roman ins Überſchwengliche und faͤllt an den
aͤußerſten Graͤnzen der poetiſchen Darſtellung unpoeti¬
ſcher Gegenſtaͤnde entweder ins Waſſer des Lehrge¬
dichts, oder kehrt aus den luftigen Raͤumen der Phi¬
loſophie auf den feſten Boden der Wirklichkeit zu¬
ruͤck, und hier findet er einen eben ſo freien und ſi¬
chern, als unermeßlichen Spielraum in der Geſchichte.
Die Geſchichte bereitet dem Dichter die Ideen und
Begriffe der Philoſophie ſchon auf eine poetiſche Weiſe
zu. Sie verkoͤrpert ihm die Philoſophie, und wenn
die Philophie im Grunde genommen nichts weiter
iſt, als die Abſtraction von den in Natur und Ge¬
ſchichte gegebnen Thatſachen, ſo thut die Poeſie ſehr
wohl daran, ihren Gegenſtand aus der erſten Hand
zu nehmen.


Wir wollen dieſe Hauptgattungen unſrer Ro¬
mane nun nach der Reihe naͤher betrachten. Zuerſt
den eigentlichen Liebesroman, den lyriſchen. Er
iſt der aͤlteſte, und haͤngt ſowohl mit den lyriſchen
Anfaͤngen der neuen deutſchen Poeſie uͤberhaupt, als
auch mit den franzoͤſiſch-italieniſchen Muſtern zuſam¬
men denen damals noch die deutſchen Dichter folg¬
ten. Selbſt Wieland und Goͤthe ſind vom Einfluß
des Boccaccio, Voltaire und Rouſſeau noch nicht frei,
und der ganze Geſchmack an Liebesromanen laͤßt ſich
auf einen noch aͤltern Urſprung im Mittelalter zuruͤck¬
fuͤhren. Der Triſtan iſt die heilige, reine Quelle des
gewaltigen, nachher ſo truͤb und breit im Sande ver¬
laufenen Stromes.


[275]

Wir finden verſchiedne Gattungen von Liebesro¬
manen. Die Liebe wtrd entweder ſentimental, oder
ſchon ironiſch behandelt. Im letztern Fall geht ſie
auch ins blos ſinnliche Gebiet uͤber. Sie iſt ferner
entweder heroiſch, oder idylliſch. Endlich iſt ſie mehr
romantiſch an ein getrenntes und gemeiniglich ungluͤck¬
liches Paar oder an das Familienweſen gebunden.


Die echte heroiſche Liebe, wie fruͤhere Zeiten ſie
in Triſtan und Yſolde, Cervantes in Perſiles und
Sigismunde, Shakeſpeare in Romeo und Julie ge¬
ſchildert, iſt zwar in Schiller's und Tieck's Schauſpie¬
len wunderbar, herrlich wieder erwacht, aber die
Proſa der Romane hat ſich ſo hoch nicht verſtiegen.
In den Romanen nahm die Liebe einen weinerlichen
und weichlichen Ausdruck an. Schwaͤchlichkeit war
ihr Charakter, und in deren Gefolge verſteckte Sinn¬
lichkeit und kokette Dezenz und Tugend. Die Hel¬
den dieſer Liebe, Werther an der Spitze, dann Sieg¬
wart und das ganze Gewimmel von liebenswuͤrdigen
Juͤnglingen bei Lafontaine, ſie alle waren Schwaͤch¬
linge, und erwecken zwar Mitleid, aber auch eine
gewiſſe Geringſchaͤtzung. Manneswerth ſoll uͤberall
gelten, und nichts iſt wohl eine ſo gute Feuerprobe
fuͤr ihn, als Liebe. Jene weibiſchen Liebhaber erpro¬
ben aber dieſen Werth ſehr ſchlecht. Sie ſind ohne
Kraft, und ihre Liebe ſelbſt macht ſie nur veraͤchtli¬
cher, weil ſie ohne Ehre iſt. Chateaubriand laͤßt ein¬
mal Chimenen zum Cid die tiefſinnigen Worte ſagen:
nicht eher glaub' ich, Rodrigo, daß du mich liebſt,
[276] bis du zeigſt, daß du die Liebe der Ehre opfern kannſt.
Die Ehre iſt beim Manne, was die Keuſchheit beim
Weibe. Beide ſind die Grazie der Liebe, ſie ſind
noch mehr. Ohne ſie iſt die Liebe nicht echt und
wirklich, weil ſchwache Maͤnner und unkeuſche Wei¬
ber nur buhlen oder Liebe heucheln koͤnnen. Der He¬
roismus der modernen Schwaͤchlinge beſteht im wei¬
biſchen veraͤchtlichen Selbſtmord, wie bei Werther,
oder im klaͤglichen Weinen, wie bei Siegwart, oder
im conventionellen Entſagen, in der lauen Reſigna¬
tion, wie bei Lafontaine. Dieſe Helden nennt ſchon
Leſſing in einem Briefe an Eſchenburg, wo er von
Werther's Leiden ſpricht, «kleingroße, veraͤchtlichſchaͤtz¬
bare Originale.» Man kann ſie nicht treffender be¬
zeichnen.


Jeder Mann, dem das Herz auf dem rechten
Flecke ſitzt, wird einen gewiſſen Eckel und eine tiefe
Verachtung nicht unterdruͤcken koͤnnen, wenn er Lie¬
besgeſchichten dieſer Art aus der Hand legt. Unter
dem andern Geſchlecht aber koͤnnen nur unerfahrne,
krankhaft ſehnſuͤchtige Maͤdchen und kokette oder em¬
pfindſam taͤndelnde Weiber an dergleichen Liebhabern
im Leben oder in Buͤchern Gefallen finden. Ich will
nicht ſagen, daß die Moral ſich dagegen empoͤren
ſoll. Man verſteht unter der Moral leider ſeit ge¬
raumer Zeit nur jenes Surrogat, das dieſelbe kraft¬
loſe Zeit an die Stelle wahrer Sittlichkeit geſetzt
hat, nur jene nergelnde Tadelſucht alter Jungfern,
nur die ehrſame Scheinheiligkeit oder die naßkalte,
[277] kroͤtenhafte Leidenſchaftsloſigkeit, die alles Feuer flieht.
Dieſe Moral wollen wir nicht zu Rathe ziehn, wohl
aber die hoͤhere, die allein echte, die jeder Zeit gel¬
ten ſoll, die ſchon heidniſch war, wie ſie noch chriſt¬
lich ſeyn ſoll, weil ſie die allein menſchliche iſt, den
Adel der Natur, das Kraft- und Ehrgefuͤhl in rei¬
nen Herzen. Der natuͤrliche Seelenadel des menſch¬
lichen Geſchlechts empoͤrt ſich gegen jenen Mißbrauch,
den man mit dem heiligen Namen der Liebe treibt,
gegen die Schwaͤchlichkeit, die ſich an das Hoͤchſte
wagt und zagend davor zuruͤckbebt, gegen die Selbſt¬
taͤuſchung, welche ſophiſtiſch jede Kraft laͤhmt, jede
Reinheit truͤbt, oder die Schwaͤche truͤgeriſch zu ei¬
ner Kraft aufſteift und den Schmutz fuͤr Unſchuld
verkauft. Wir verlangen nicht, daß die Romane je¬
ner nuͤchternen, zaghaften Moral in die Hand arbei¬
ien ſollen. Sie thun es leider nur zu oft, denn es
erſcheinen gewiß eben ſo viel Liebesritter in den Ro¬
manen, welche der ſaft- und kraftloſen Tugend, ja
der bloßen gemeinen Convenienz huldigen, als andre,
welchen die Natur leidenſchaftliche Streiche ſpielt.
Man iſt aus Mattherzigkeit fromm oder liederlich,
beides laͤuft auf eins hinaus. Wir verlangen aber,
daß der Roman, der die Liebe zu ſchildern und zu
preiſen unternimmt, jenem Adel der menſchlichen Na¬
tur huldige, in dem allein die wahre Liebe begruͤn¬
det iſt. Ich kann den Liebeshelden nur zurufen: habt
Kraft, und wieder Kraft, und noch einmal Kraft,
das uͤbrige wird ſich finden. Fragt ihr, was denn
[278] eigentlich jener Adel der Natur ſey, wohlan, habt
nur erſt Kraft, dann werdet ihr es wiſſen. Fuͤhrt
euch alle Tugenden vor, wenn ihr jene Kraft nicht
habt, ſeyd ihr wie Tantalus und bleibt ewig arme
Suͤnder. Daß ihr euch mit allen Tugenden zu uͤber¬
laden trachtet, ſelbſt mit denen, die der ſtaͤrkſte nicht
alle zugleich tragen koͤnnte, das eben beweist, wie
ſehr es euch an der Kraft fehlt. Nur ein Schwaͤch¬
ling traut ſich alles zu.


Man hat den Liebesromanen oft vorgeworfen,
ſie gaͤben ein boͤſes Beiſpiel. Das thun ſie allerdings,
aber man braucht ja nicht jedes Beiſpiel zu befolgen.
Eine natuͤrliche, geſunde, kraͤftige Jugend wird von
ſelbſt vor ſo ſchmaͤhlicher Speiſe ſich eckeln. Wer
wie Werther ſich erſchießt, war hoͤchſtens werth, zu
erſaufen. Wer Liebesbriefe aus Romanen copirt, oder
uͤberhaupt bei denſelben in die Schule der Liebe geht,
wer Liebe lernen muß aus Buͤchern, deſſen Herz iſt
wohl ſchon von Natur aus papier maché und nicht
aus Blut gemacht. Schlechte Beiſpiele werden nur
von denen befolgt, die das beſſere nicht befolgen wuͤr¬
den. Wer keine natuͤrliche Antipathie gegen das
Schwaͤchliche, Gemeine, Unklare, Luͤgenhafte hat, was
iſt an ihm zu verſchlimmern? Man laſſe nur jeden
Froſch in den Sumpf, wohin er gehoͤrt.


Wenn die echte heroiſche Liebe unſern Roman¬
ſchreibern faſt niemals gelungen iſt, ſo haben ſie da¬
gegen eine große Staͤrke in den Familiengemaͤlden
bewieſen. Fuͤr die italieniſche Schule zu proſaiſch
[279] und gemein, haben ſie der niederlaͤndiſchen mit deſto
mehr Gluͤck ſich zugewandt. Unſre meiſten Romane
ſind Familienromane, idylliſche Gemaͤlde des haͤusli¬
chen Gluͤcks oder Ungluͤcks. Da man einmal die
Wirklichkeit copiren will, findet man natuͤrlich auch
mehr Originale von gemeinem Familienleben, als von
heroiſcher Liebe. Es fragt ſich, ob das Unvermoͤgen
der Romanſchreiber das Streben nach treuer Copie,
oder ob dieſes Streben jene trivialen Produkte ur¬
ſpruͤngllch erzeugt hat? Ohne Zweifel hat beides ſich
die Hand geboten. Allerdings koͤnnen die meiſten
Autoren, beſonders aber die dichtenden Weiber, nichts
Beſſeres machen; doch haben auch große Dichter,
wie namentlich Goͤthe, dieſes Jagen nach Natuͤrlich¬
keit zur Mode gemacht, indem ſie die Natur muſter¬
haft nachahmten.


Unſre Familiengeſchichten enthalten eine ziemliche
barocke Miſchung von patriarchaliſchem Judenthum
und chriſtlicher Romantik. Wie im alten Teſtament
ſich alles nur um die Kinder Iſrael in Maſſe, um
den Samen Abrahams, Iſaaks und Jakobs bewegt,
ſo daß das Intereſſe fuͤr irgend eine ausgezeichnete
Individualitaͤt immer unter dem fuͤr die Sippſchaft
untergeht, ſo gelten auch in unſern Familiengemaͤl¬
den, wie in Goͤthes Hermann und Dorothea, Voßens
Louiſe, in den Romanen von Lafontaine und unzaͤh¬
ligen andern die einzelnen Perſonen nur als Glieder
einer Familie. Doch ſcheint man gefuͤhlt zu haben,
daß jenes juͤdiſche Intereſſe der bloßen Fortpflanzung
[280] und Ausbreitung ein wenig zu niedrig ſey, und hat
ein hoͤheres Intereſſe heroiſcher Liebe in den Lieb¬
ſchaften der Kinder, oder auch im Ehebruch der El¬
tern damit zu verweben geſucht. So iſt denn die
Hauptgattung unſerer Romane eine Mittelgattung
zwiſchen Liebes- und Familienroman.


Der Familienroman macht den Übergang vom
Liebesroman zum pſychologiſchen. Vor der Hochzeit
liebt man, nach der Hochzeit beobachtet man mehr.
Der Roman trat foͤrmlich aus dem Brautſtand in
den Eheſtand uͤber, und zugleich kam in die Liebe
der große Bruch. Ein gluͤcklicher Eheſtand taugte
nur fuͤr die Idylle, der Ehebruch aber deſto beſſer
fuͤr die Darſtellung unzaͤhliger pſychologiſcher Erſchei¬
nungen, die aus dem Mißverhaͤltniß der Pflicht und
der Luſt entſpringen.


Im pſychologiſchen Roman hat ſich der
Verſtand bereits von den ſubjectiven lyriſchen Auf¬
wallungen frei gemacht und ſtellt ſich die Welt der
Erſcheinungen ruhig betrachtend gegenuͤber. Wie der
eigentliche Liebesroman noch dem katholiſchen Mittel¬
alter verwandt iſt, ſo gehoͤrt der pſychologiſche ſchon
voͤllig dem proteſtantiſchen Zeitalter an und faͤllt in den
Anfang des ſogenannten philoſophiſchen Jahrhunderts.
Wir haben fruͤher geſehn, wie die Philoſophie bis
zu dem Wendepunkt, der mit Kant eintrat, mit Vor¬
bereitungen und namentlich pſychologiſchen Unterſu¬
chungen beſchaͤftigt war. Die Englaͤnder giengen
darin den Deutſchen voran, obgleich ſie uns nachher
weder erreichten, noch nachfolgten. Sie trieben aber
[281] die Pſychologie auf dem poetiſchen, wie auf dem wiſ¬
ſenſchaftlichen Gebiet, und an die Unterſuchungen vom
Hemſterhuis, Hume, Locke, Burke reihten ſich die
pſychologiſchen Romane von Richardſon, Fielding,
Goldſmith, Sterne, Smollet. Die Englaͤnder uͤbten
damals einen großen Einfluß auf die Romanenlite¬
ratur des uͤbrigen Europa, wie jetzt durch Walter
Scott. Selbſt die Franzoſen fuͤhrten den pſycholo¬
giſchen Roman bei ſich ein, le Sage, Scarron, Di¬
derot, und in gewißem Sinn Rouſſeau. Die Deut¬
ſchen folgten bald thaͤtig nach.


Der pſychologiſche Roman, der denſelben Ur¬
ſprung und Weg nahm; wie ſpaͤter der hiſtoriſche,
war auch in der That nur ein Vorlaͤufer des hiſto¬
riſchen. Er ſchob die allgemeine philoſophiſche Ge¬
ſchichte des Menſchen voran, ein Jahrhundert ſpaͤter
folgte die nationelle oder eigentliche Geſchichte nach.
Das Thema des pſychologiſchen Romans war der
Menſch als Individuum oder als allgemeine Abſtrak¬
tion, das des hiſtoriſchen Romans iſt der Menſch in
der Gattung, in Nationen, Staͤnden, Örtlichkeiten
und Zeitaltern.


Weil der pſychologiſche Roman unmittelbar auf
den Liebesroman folgte, ſpielte die Liebe darin noch
eine große Rolle. Doch ſie ward mehr objectiv auf¬
gefaßt, als bisher; man verfolgte ſcharfſinnig und
mit Feinheit ihre pſychologiſchen Erſcheinungen, mehr
um ein wohlgetroffenes Bild der menſchlichen Seele
in ihren Schwaͤchen und geheimen Falten zu geben,
[282] als um das Herz daran zn entzuͤnden. Man wollte
mehr belehren als ruͤhren, und verband moraliſche
Zwecke damit. So die Pamela, die Clariſſa, der
Grandiſon und ihre deutſchen Nachahmungen von
Gellert, Hermes, Salzmann, Stilling. Die
Moral verleidete jedoch bald, und wurde durch den
Humor verdraͤngt.


In der That ſind die moraliſirenden Romane
unter den Deutſchen wie unter den Englaͤndern nicht
die beſten geweſen. Die Schuld trifft wohl aber
nicht die Moral, ſondern nur die Dichter, denn wenn
auch ein moraliſcher Gegenſtand an und fuͤr ſich noch
kein poetiſcher iſt, ſo iſt es doch ſchaͤtzbar, wenn der
poetiſche zugleich moraliſch iſt. Was moraliſch gut
iſt, kann poetiſch ſchlecht ſeyn, aber wenn die Poeſie
unter allen moͤglichen Gegenſtaͤnden frei zu waͤhlen
hat, ſo wird ſie keine beſſere finden, als die guten,
naͤmlich die moraliſchen.


Die beſten unter den pſychologiſchen Romanen
ſind die rein objectiven geweſen, die uns ohne lyri¬
ſchen Schwung, ohne Einmiſchung des Gefuͤhls, ohne
moraliſche Abſichten und ohne Spott in ruhiger Hal¬
tung die menſchliche Seele wie in einem klaren, waſ¬
ſerhellen Spiegel gezeigt haben. Hierin iſt Ulrich
Hegner
ſehr zu ſchaͤtzen. Kein Dichter in der Welt
hat darin aber unſern Goͤthe uͤbertroffen, deſſen Wil¬
helm Meiſter das Hoͤchſte iſt, was in dieſer Gattung
bisher geleiſtet wurde. Hier iſt Homeriſche Klarheit.
Doch iſt der Gegenſtand eines ſolchen Spiegels nicht
[283] werth. Goͤthe ſchildert den Menſchen, es iſt wahr,
aber welchen Menſchen? den Sohn einer ſchwaͤchli¬
chen und mit dieſer Schwaͤche kokettirenden Zeit. Nie
iſt der Gegenſtand eines Gedichts ſo ſehr mit der
poetiſchen Auffaſſung und Form in Widerſpruch ge¬
weſen.


Noch beſtimmter gaben Goͤthe's Wahlverwandt¬
ſchaften dem pſychologiſchen Roman die Richtung,
die er noch jetzt verfolgt, und in welcher beſonders
einige dichtende Weiber ſich ausgezeichnet haben. Man
verweilte mit Vorliebe nur bei der Betrachtung der
menſchlichen Schwaͤchen, Unarten, unnatuͤrlichen Appe¬
tite. Fruͤher hatte man den geſunden Zuſtand der
Liebe geſchildert, jetzt kam die Reihe an den krank¬
haften Zuſtand. An die Stelle der ehemaligen Ro¬
manheldinnen traten jene unnatuͤrlichen Weiber, die
ſchon durch die Romanheldinnen verdorben waren,
nervenſchwache, bleichſuͤchtige, uͤberbildete Maͤdchen
und kokette, uͤber die geliebte Suͤnde philoſophirende,
wohl gar froͤmmelnde Weiber, in denen kein Tropfen
geſundes, friſches Blut mehr uͤbrig war. Jener le¬
bendige ſilberhelle Strom, der von Triſtan ausge¬
gangen, verlief ſich hier abſeits in einen abgeſtand¬
nen Sumpf, worin alle Jauche des großen Seelen¬
klynikums zuſammenfloß.


Die Romane folgten dem Gange der Krankheit.
Dieſe zeigte ſich zunaͤchſt in monſtroͤſer Druͤſenthaͤtig¬
keit, wodurch Bruſt und Herz beengt, ein andres
Organ aber uͤbermaͤßig, ja bis zur wahnſinnigen und
[284] verſteckt deſto grauſamer peinigende Nymphomanie
gereizt wurde. Nach uͤberſtandnem Paroxismus und
erfolgter gaͤnzlicher Ohnmacht und Laͤhmung griff die
boͤſe Krankheit das ganze Nervenſyſtem an, und ſiehe,
ein neues Wunder erſchien, der Somnambulismus.
So folgten auf die kitzlichen Romane voll Wahlver¬
wandtſchaften, Ehebruch die magnetiſchen nnd ſym¬
pathetiſchen, worin vorzuͤglich Hoffmann ſich einen
Namen gemacht.


Auf den pſychologiſchen Roman folgte der phi¬
loſophiſche
, wie auf die anthropologiſchen Unter¬
ſuchungen Platner's, Menoelſohn's, Garve's, Rei¬
marus, Abt's und andrer bis auf Kant die geſchlo߬
nen Syſteme Fichte's und Schelling's und alle ſpaͤ¬
tern folgten. Fruͤher ſuchte man die Natur in ihren
geheimſten Falten zu copiren, nachher ſtellte man apo¬
diktiſch irgend ein Ideal auf. Der philoſophiſche
Roman ſollte dazu dienen, irgend ein Syſtem, einen
Satz anſchaulich und anmuthig vorzutragen. Da ent¬
ſtanden religioͤſe Romane, katholiſche, proteſtantiſche
und pietiſtiſche, ferner moraliſche, politiſche, paͤdago¬
giſche, zuletzt Kunſt- und Kuͤnſtlerromane. Der Haupt¬
zweck war der Vortrag eines Syſtems, einer beſtimm¬
ten Meinung und Lehre oder rhapſodiſcher Phanta¬
ſien uͤber einen philoſophiſchen Gegenſtand. Dieſer
Zweck ward aber verſteckt. Die Philoſophie erſchien
nur sub rosa. Man legte die Gedanken, die man
vortragen wollte, einer idealiſirten Perſon in den
Mund, und widerlegte die entgegengeſetzten Meinun¬
[285] gen in andern Perſonificationen. Sie ſind unter den
Romanen, was die Lehrgedichte unter den Liedern.
Daß ſie in der neuern Zeit uͤberhand nehmen, ſcheint
denſelben Grund zu haben, aus welchen die hiſtori¬
ſchen Romane oder die romaniſirten Hiſtorien in Wal¬
ter Scotts Geſchmack ſo ſehr um ſich greifen. Man
hat ſich ein wenig am Thema der Liebe erſchoͤpft,
man denkt an ernſtere Dinge, die Form des Romans
bietet ſich aber auch dafuͤr als ſehr annehmlich dar.
Die philoſophiſchen Romane von Bauterweck, Fries
und andern, meiſt Kantianern, leiden an einem ge¬
wiſſen Etwas Mangel, das ich nicht deutlicher als
mit der attiſchen Grazie und mit den Namen Wie¬
land und Lucian bezeichnen mag. Die theologiſchen
Romame, z. B. Wahl und Fuͤhrung, machen mit der
theologiſchen Polemik wahrlich noch weniger Gluͤck,
als jene mit der philoſophiſchen, und nur wenn ſie,
wie der famoͤſe Sebaldus Nothanker, zugleich ein pſy¬
chologiſches und hiſtoriſches Intereſſe gewaͤhren, moͤ¬
gen wir ſie mit Vergnuͤgen leſen. Die politiſchen
Romane ſind etwas, das der wahren Politik und dem
wahren Roman widerſtrebt, denn entweder geht die
Politik im Ehebett, oder die Liebe auf der Tribune
unter. Die paͤdagogiſchen Romane ſind intereſſant,
wenn ſie pſychologiſch ſind. Unſtreitig aber ſind die
aͤſthetiſchen Romane die paſſendſten, theils weil es faſt
immer nur wirkliche Dichter ſind, die in dieſer Form
dichten, theils weil der Gegenſtand, ſey es nun die
Kunſt als ſolche, oder der Kuͤnſtler und ſein Leben
[286] als Kunſtwerk, der Dichter als Gedicht ein rein aͤſt¬
hetiſches Intereſſe gewaͤhren muͤſſen. Von dieſer Art
ſind Heinſe's Romane und Tieck's Novellen das
ausgezeichnetſte. Vollendet wurde der philoſophiſche
Roman nur durch Tieck. Seine Novellen ſind im
Romantiſchen, was Platon's Dialoge im Antiken
waren.


Die wichtigſten und zahlreichſten neueſten Ro¬
mane ſind hiſtoriſche; da wir indeß uͤber die herr¬
ſchende hiſtoriſche Richtung ſchon oben ausfuͤhrlich ge¬
ſprochen, wollen wir hier nur noch einen Blick auf
die aͤußre Form der Romane werfen. Es iſt auf¬
fallend, daß auch hier wie bei den Luſtſpielen, kurz
bei allem, was unterhalten ſoll, die kuͤrzeſte Waare
und der ſchnellſte Wechſel am beliebteſten iſt. Die
groͤßern Romane nehmen bereits ab, und die Samm¬
lungen kleiner Erzaͤhlungen und Novellen unverhaͤlt¬
nißmaͤßig zu. Die dreißig Taſchenbuͤcher, die vielen
Morgen-, Abend-, Mittag- und Mitternachtsblaͤtter
ꝛc. reichen bei weitem nicht hin, dieſe Baggatellen
jaͤhrlich aufzunehmen; es erſcheinen noch insbeſondre
viele hundert einzelne oder geſammelte Novellen. Hier
iſt faſt alles Fabrikarbeit, und immer wird das Alte,
Laͤngſtbekannte wieder aufgewaͤrmt. Es geht dieſen
Erzaͤhlungen wie den lyriſchen Gedichten. Ihrer gro¬
ßen Menge und ihres alltaͤglichen abgedroſchnen In¬
halts wegen werden ſie eben ſo ſchnell vergeſſen, als
geleſen.


[287]

Den Taſchenbuͤchern insbeſondre muͤſſen wir
zum Schluß noch einige Aufmerkſamkeit widmen. So
klein ſie ſind, ſind ſie doch nicht unbedeutend, denn
ihre Zahl erſetzt die Groͤße, und das Publikum hegt
ſie als Lieblinge. Sie und die belletriſtiſchen Tag-
und Wochenblaͤtter ſind es vorzuͤglich, die den Ge¬
ſchmack verderben und das Publikum an ein ewiges
Eſſen ohne Verdauung, an das Übermaaß von Lek¬
tuͤre gewoͤhnen, die keinen Eindruck zuruͤcklaͤßt, und
den Sinn fuͤr alles Hohe und Geiſtreiche, das einige
Anſtrengung koſtet, abſtumpfen. Dieſe kleine perio¬
diſche Literatur bewaͤhrt in Gehalt und Maſſe, daß
ſie mehr auf einen ausgeweideten Magen, als auf
das kleine Herz berechnet iſt. Man ſollte leſen, naͤm¬
lich Blumen, aber man frißt, naͤmlich Gras. Das
Syſtem, nach welchem fuͤr das deutſche Publikum von
ſpekulativen Buchhaͤndlern, denen die Dichter nur
im Schweiß ihres Angeſichts dienen, die Poeſie praͤ¬
parirt wird, laͤuft auf eine allgemeine Stallfuͤtterung
hinaus. Ich habe ein ſchoͤnes Kapital, ſpricht der
kluge Bauer, von deſſen Zinſen ich gar reich werde,
einen kapitalen, fetten, wampigen nnd uͤberaus hung¬
rigen Ochſen auf der Maſtung daheim; fuͤr den ſind
Blumen eine zarte, ſchwache Speiſe, er muß ein der¬
bes Fuder Heu haben. Unſchuldige Kinder, die ihr
feiner Sinn mit den wenigen bunten Kelchen und
Sternen, die noch auf der Wieſe gedeihen, ein hei¬
teres Spiel treiben laͤßt, werden billig ausgelacht.
Ein Bund Heu wiegt ja die Blumen auf im Zent¬
[288] ner wie im Bauche. So ſteht das geduldige Vieh
angekettet, vor ihm ein friſcher Heuberg von der
Leipziger Meſſe, hinter ihm ein Miſt- und Makula¬
turberg, und es frißt und widerkaͤuet in einem fort.


Armes, mißbrauchtes Publikum, und dennoch biſt
du weniger zu bedauern, als die leibeignen Poeten,
denen in einem ſo verarmten Zeitalter auch das zarte
Geſchlecht der Weiber bei der rohen Arbeit beiſtehn
muß, zur thieriſchen Stumpfheit oder zur Ohnmacht,
oder zur Verruͤcktheit abgeſchwaͤcht von dem heißen
Sonnenſtich des ſchattenlos herrſchenden Phoͤbus. Da
der lebendige Organismus aller Lebensverhaͤltniſſe ſich
allmaͤhlig in ein mechaniſches Rechenexempel aufge¬
loͤſt hat, und der gemeine Geldwucher ſelbſt in der
Politik, dem Brennpunkt des thaͤtigen Lebens, herr¬
ſchend geworden, ſo darf man ſich kaum wundern,
daß auch das ſinnige, poetiſche Leben jenem Wucher¬
geiſt dienſtbar wird. Gleichwie die hollaͤndiſche Com¬
pagnie das uralte mythiſche Land Oſtindien in Be¬
ſitz genommen, um von dort aus, ſtatt des alten
Kaͤſe- und Spitzenhandels, ſeine Gewuͤrzkraͤmerei zu
treiben, ſo hat eine andre Compagnie den alten deut¬
ſchen Dichterwald an ſich gebracht, ſofort niederge¬
ſchlagen und eine ungeheure Fabrik daraus zuſam¬
mengezimmert. Wie nun in einer Tabaksfabrik die
Herren caſſiren, waͤhrend die Arbeiter ſaͤen, pflan¬
zen, ſchneiden, baizen, trocknen und Packete fuͤllen,
und das Publikum Millionen leichte und leere Meer¬
ſchaumkoͤpfe hinhaͤlt, um ſie zu ſtopfen und mit Ge¬
[289] nuß und Lob zu rauchen, ſo ſitzen in der großen bel¬
letriſtiſchen Fabrik die Verleger zwiſchen ihren Gold¬
ſaͤcken, und die ungluͤcklichen Poeten muͤſſen um das
Tagelohn arbeiten.


Deutſche Literatur. II. l3[290]

Kritik.

Wir werfen den Blick zuletzt auf die kritiſche
Literatur, deren zunehmende Maſſe uns in Erſtaunen
ſetzt und uns hinlaͤnglich darthut, welchen Einfluß ſie
auf das Ganze der Literatur behauptet. Die echte
Kritik hat ein eben ſo nothwendiges als edles Ge¬
ſchaͤft zu verwalten. Wie das Denken durch Überle¬
gen, ſo wird die Literatur durch Kritik fortgepflanzt.
Jedes neue Buch begruͤndet das Recht ſeines Da¬
ſeyns nur auf die Kritik ſeiner Vorgaͤnger. Am Fa¬
den der Kritik waͤchſt und reift ein Geſchlecht uͤber
das andre hinaus, und es wird in Einem fort mit
der einen Hand geſtritten, mit der andern gebaut,
wie am Tempel zu Jeruſalem.


Die Kritik iſt, ſofern ſie einzelne Wiſſenſchaften
betrifft, auch ein integrirender Theil der Literatur
derſelben. Daruͤber hinaus aber ſind kritiſche Über¬
blicke uͤber die geſammte Literatur nothwendig gewor¬
den, und dies Beduͤrfniß hat ſich an das der litera¬
riſchen Anzeigen uͤberhaupt auf die natuͤrlichſte Weiſe
[291] angeſchloſſen. Man wollte wiſſen, was iſt in der
Literatur erſchienen, und welchen Werth hat es?
und ſo knuͤpften ſich die Recenſionen an die Buch¬
haͤndleranzeigen, und wie die Buͤcher periodiſch er¬
ſchienen, ſo wurden ſie auch periodiſch beſprochen,
die kritiſche Literatur wurde weſentlich eine perio¬
diſche.


Die periodiſche Form und die ausſchließliche
Ruͤckſicht auf das Neue bedingen dieſer Literatur ſo¬
gleich eine gewiſſe Einſeitigkeit. Sie wird dadurch
von dem wahren kritiſchen Intereſſe entfernt und ei¬
nem merkantiliſchen Preis gegeben. Eine Menge neuer
Werke ſind gar keiner Kritik werth, aber ſie muͤſſen
angezeigt werden, weil ſie einmal in den Buchlaͤden
ſtehn. Ein gutes Werk wird zufaͤllig ſchlecht recen¬
ſirt oder gar uͤbergangen, und iſt einmal der Zeit¬
punkt vorbei, iſt es nicht mehr neu, ſo denkt man
nicht mehr daran. Die Menge und Wichtigkeit der
auf dieſe Art vergeſſnen oder falſch beurtheilten Werke
iſt ſo groß, daß Jean Paul mit vollem Recht eine
Literaturzeitung fuͤr Reſtanten vorſchlagen konnte,
die ausſchließlich literariſchen Rettungen in Leſſing's
Manier gewidmet werden muͤßte. Man ſollte in der
That einmal einſehn, daß die Kritik kein bloßer Jahr¬
markt ſeyn darf, wo man im Gedraͤnge der Gegen¬
wart ſich uͤberſchreit, um ſeine Waare anzupreiſen
und andre zu verdraͤngen. Mit Huͤlfe der Beſtechung,
der Mode oder des Zufalls gewinnt oft ein nichts¬
wuͤrdiges Buch in zehn Blaͤttern ein glaͤnzendes Lob
13 *[292] und eben ſo oft wird ein vortreffliches verkannt, be¬
ſchimpft und vergeſſen. Was verjaͤhrt iſt, faͤllt au¬
ßer dem Cours; aber die Kritik kann doch an das
ephemere Intereſſe nicht gebunden ſeyn? In den Tag¬
blaͤttern herrſcht uͤberdem die Mode auf eine tyran¬
niſche Weiſe. Die Kritik, die von einem feſten Punkte
aus alle Bewegungen der Literatur pruͤfen ſollte,
wird ſelbſt in die Richtungen derſelben fortgeriſſen,
denn es iſt daſſelbe Intereſſe, was die Buͤcher, wie
die Recenſionen in der Leſewelt verbreitet und fuͤr
beide Kaͤufer ſucht.


Die Recenſiranſtalten ſelbſt ſind oͤfters nur ent¬
weder Ehrenthalber oder des Gewinns wegen ge¬
gruͤndet, und in beiden Faͤllen wird fabrikmaͤßig re¬
cenſirt. Die Univerſitaͤten geben ihre Zeitſchriften
ſehr oft nur heraus, um nicht den Vorwurf der Un¬
thaͤtigkeit und Obſcuritaͤt zu leiden, und man fuͤllt
die Blaͤtter ex officio, ſo gut es gehn mag. Die
meiſten andern Zeitſchriften ſind Unternehmungen von
Buchhaͤndlern, auf Gewinn berechnet, und hier ſitzen
die Recenſenten foͤrmlich wie Fabrikarbeiter und ſchaf¬
fen ihr Penſum. Dieſes handwerksmaͤßige Kritiſiren
bringt denn jene ungeheure Menge von Recenſionen
hervor, die niemand uͤberſehn kann. Überall ſind der¬
gleichen Fabriken angelegt, und von einer Mehrzahl
hungriger Magen und ſeichter Koͤpfe beſorgt, die in
den Tag hinein ſchreiben, was ſchon im naͤchſten Jahr
kein Menſch mehr leſen mag.


[293]

Im Allgemeinen ſcheiden ſich die kritiſchen Zeit¬
ſchriften in gelehrte und belletriſtiſche, und die ge¬
lehrten wieder nach beſondern wiſſenſchaftlichen Faͤ¬
chern in theologiſche, mediciniſche, paͤdagogiſche, ju¬
ridiſche ꝛc. Der im Anfang dieſes Buchs beruͤhrte
Unterſchied der Gelehrten und Naturaliſten herrſcht
in der kritiſchen Literatur noch auffallend vor, und
gerade hier iſt er am ſchaͤdlichſten. In der Kritik
wenigſtens ſollte der Geiſt der Nation ſich ſelbſtaͤn¬
dig uͤber die innern Unterſchiede und Spaltungen in
der Bildung und den Meinungen erheben. Hier ſoll¬
ten den Laien die Reſultate der Wiſſenſchaft, und
den Stubengelehrten das Leben und die Poeſie ver¬
mittelt werden. Die Kritik ſollte alles fuͤr alle wuͤr¬
digen. Dazu iſt ihr eine ſelbſtaͤndige Literatur ange¬
wieſen. In ihr, wie in einem großen Spiegel ſollte
die Nation ſich ſelbſt betrachten und in einem klaren
Überblick alle Wirkungen ihres Geiſtes kennen und
ſchaͤtzen lernen. Freilich fehlt uns noch das Publi¬
kum, das ſich fuͤr alles intereſſiren koͤnnte; der Ge¬
lehrte hier, die aͤſthetiſche Dame dort haben das dritte
Element noch nicht gefunden, in dem ſie ſich verſtaͤn¬
digen koͤnnten. Wer von der galanten Welt mag
die gelehrten Noten in den Literaturzeitungen, und
wer von den Gelehrten mag das aͤſthetelnde Geklatſch
in den belletriſtiſchen Blaͤttern leſen? Aber es ſollte
eben eine hoͤhere, nationelle Kritik geben, die weder
jene Noten fuͤr den blos Gelehrten, noch dieſes Ge¬
klatſch fuͤr bloße Weiber und Stutzer, ſondern eine
[294] populaͤre Wuͤrdigung aller aus der Nation hervor¬
gegangner und fuͤr ſie bedeutſamer Geiſteswerke
gewaͤhrte. Dadurch koͤnnte das Publikum, das noch
fehlt, geſchaffen werden, und ohne Zweifel wird der
ſtrenge Gegenſatz von Gelehrten und Naturaliſten ſich
einſt in die Einheit eines allgemeinen nationellen
Publikums ſo gut aufloͤſen, wie dieß bereits in Frank¬
reich und England der Fall iſt. Sichtbar herrſcht
auch bei uns ein Beduͤrfniß, zu einer gemeinſchaftli¬
chen, nationellen Bildung zu gelangen und alle na¬
tionellen Erſcheinungen zu begreifen.


Neben dem Gegenſatz zwiſchen Gelehrten und
Naturaliſten herrſchen in unſrer kritiſchen Literatur
noch alle die Gegenſaͤtze zwiſchen einſeitigen Parteien.
Es giebt ausſchließliche Journale fuͤr die Katholiken
und Proteſtanten, und wieder fuͤr die dieſen unter¬
geordneten abweichenden Parteien, fuͤr verſchiedene
Schulen in der Medicin ꝛc. Sie ſind der Tummel¬
platz der Polemik.


Die Polemik beſteht entweder zwiſchen Parteien,
oder nur zwiſchen Perſonen, und leider iſt faſt alle
Polemik in Deutſchland perſoͤnlich. Man kann ſich
nur zu wenig von der Perſoͤnlichkeit losreiſſen, und
verwechſelt ſie beſtaͤndig mit der Sache. In der neue¬
ſten Zeit, wo alles in Gaͤhrung iſt, wo ſo viele
Meinungen durcheinanderraſen, iſt die Polemik na¬
tuͤrlich zur hoͤchſten Bluͤthe gekommen. Die Haͤndel
aller Zeiten wiederholen ſich in der unſern, in allen
[295] Zweigen der Literatur wird geſtritten und jedes neue
Jahr bringt mit einer neuen Anſicht neue Fehden mit.


Durch die Polemik haben die Schriftſteller ſelbſt
zu ihrer Herabwuͤrdigung vor dem Publikum das
Meiſte beigetragen. Nicht nur die Maſſe der Strei¬
tigkeiten, auch der Haß der Streitenden hat zuge¬
nommen. Es giebt keine Abſurditaͤt, keine Dummheit
oder Schlechtigkeit, welche Gelehrte nicht, ich will
nicht ſagen, begangen, aber doch ſich oͤffentlich vor¬
geworfen haͤtten. Auf die Laien mußte dieß freilich
verderblich wirken, es mußte die Wiſſenſchaft in ihren
Augen herabſetzen, denn die Wuͤrde iſt ſo unzertrenn¬
lich von der Wiſſenſchaft, daß, wenn jene verletzt
wird, dieſe ſelbſt und ihre Bekenner es entgelten muͤſ¬
ſen. Der Schatten, den ein Gelehrter auf den an¬
dern warf, iſt auf ihn ſelbſt und auf den ganzen
Stand zuruͤckgefallen, ja noch mehr, die Wiſſenſchaf¬
ten ſelbſt ſind dem rohen Haufen verdaͤchtig gewor¬
den, weil er urtheilen mußte: alle dieſe Perfidie
kommt von den Buͤchern her. Jede Wiſſenſchaft iſt
anſtaͤndig, wenn auch der eine Gelehrte nur dieſe,
der andre nur jene als die hoͤchſte achtet, und die
Wuͤrde der Wiſſenſchaft ſoll auf ihre Bekenner nicht
minder einfließen, als die Wuͤrde des Goͤttlichen auf
die Prieſter. Ein grober, verlaͤumderiſcher Gelehr¬
ter iſt ſo veraͤchtlich, als ein unwuͤrdiger Prieſter.


Das Tadeln entſpringt nicht immer blos aus der
Parteiung, ſondern oft auch aus einem oͤkonomiſchen
Intereſſe der Recenſiranſtalt. Man lieſt viel lieber
[296] eine tadelnde, als eine lobende Recenſion, deswegen
iſt kritiſiren und tadeln beinahe gleichbedeutend gewor¬
den. Bedaͤchte mancher gekraͤnkte Autor, daß er nur
darum getadelt worden, weil das Journal Tadel
noͤthig hatte, ſo wuͤrde ſein Gemuͤth ſich leicht wie¬
der troͤſten und abkuͤhlen. Die meiſten Recenſenten
wuͤrden recht gern loben, wenn ſie einen Vortheil
davon haͤtten, aber ſie muͤſſen tadeln, witzeln, den
Leſer zum Lachen reizen, und das Tadeln wird ihnen
auch weit leichter; jeder Narr kann einen Teufel
oder ein Thier an die Wand malen, nur keinen En¬
gel. Die kritiſchen Journale muͤſſen, ſofern ſie mehr
auf Leſer und Effect, als auf die Wahrheit berech¬
net ſind, mehr einen komiſchen, als einen ernſten
Eindruck erzielen. Der Leſer will von Neuigkeiten
mehr unterhalten, von Antiquitaͤten mehr belehrt
ſeyn. Lob gewaͤhrt ihm nur in ſeltenen Faͤllen Un¬
terhaltung, vorzuͤglich wenn er den Gegenſtand des¬
ſelben ſchon kennt und liebt; Tadel ergoͤtzt ihn aber
auch am unbekannten Gegenſtande. Überdem ſtellt
das Lob den Leſer ſelbſt auf einen niedern, der Ta¬
del auf einen hoͤhern Standpunkt, jenes demuͤthigt,
dieſer ſchmeichelt dem Leſer.


Nichts iſt ſo mißlich und ſchwierig, als eine gute
Recenſion, und doch haͤlt man nichts fuͤr leichter, als
zu recenſiren. Moͤchte es immerhin Spottvoͤgel ge¬
ben, die aus angeborner Luſt den Nebenmenſchen
durchhecheln, aber daß auch ganz friedſame Geiſter,
denen es wohl nie eingefallen waͤre, ſich kritiſch zu
[297] uͤberheben, zu kritiſchen Hunden, zum Bellen und Beiſ¬
ſen abgerichtet werden, iſt eine Schande.


Es wird aber doch auch viel bei uns gelobt,
und eben ſo unverſchaͤmt, als getadelt wird. Die
Anhaͤnger einer Partei loben ſich unter einander, die
Schuͤler den Meiſter, die Clienten den Maͤcen und
umgekehrt. Die meiſten lobenden Recenſionen gehn
aber aus dem Intereſſe der Buchhaͤndler und oft der
Autoren ſelbſt hervor. Hier waltet Eigennutz, Kli¬
kenweſen, Gevatterſchaft, und jede Triebfeder, die
auch im buͤrgerlichen Leben den Stuͤmper oft zu Ehren
bringt.


Noch beſitzen wir keine Geſchichte der deutſchen
Gelehrtenkriege, und ob ſie gleich kein Ehrendenkmal
ſeyn duͤrfte, waͤre ſie doch lehrreich. Da man uͤber
alles ſchreibt, wird man auch wohl eine Geſchichte
der Polemik nicht vergeſſen. Ich will ſie hier nur
in ihren Hauptmomenten kuͤrzlich ſkizziren. Sie be¬
ginnt mit den dogmatiſchen Fehden der Moͤnche,
Scholaſtiker und Sektirer im Mittelalter, und in
Bezug auf Geſchmack mit dem beruͤhmten Krieg auf
der Wartburg. Ihr goldnes Zeitalter erlebte ſie in
der Reformation, dieß war die Bluͤthenzeit der Po¬
lemik, und aus allen Winkeln und uͤber ganz Deutſch¬
land wucherten die Diſteln und Dornen. Damals
begann die Polemik auch ſchon ins politiſche Gebiet
hinuͤber zu ſpielen, hoͤrte damit aber auch auf, eigent¬
liche Gelehrtenſache zu ſeyn. Die theologiſche Pole¬
mik hat bis auf die heutige Stunde ununterbrochen
[298] fortgedauert. Katholiken und Proteſtanten ſtritten
immerfort, Anfangs auch die Lutheraner und Refor¬
mirten, dann wuͤtheten die Orthodoxen gegen die dop¬
pelte Neuerung einerſeits der Philoſophie und des
Nationalismus ſeit Thomaſius und Wolf, andrer¬
ſeits des Pietismus ſeit Philipp Spener. Der Kampf
der Proteſtanten gegen die Katholiken entzuͤndete ſich
vorzuͤglich in den fruͤhern Fehden gegen die Jeſuiten,
beſonders um die Zeit, da dieſer Orden aufgeloͤst,
und um die Zeit, da er wieder hergeſtellt wurde.
Die Heerfuͤhrer der Proteſtanten ſind neuerdings Voß,
Paulus, Krug, Tzſchirner, der Katholiken Goͤrres,
Haller, Guͤgler ꝛc. Der Kampf der Theologen ge¬
gen die Nationaliſten und Naturaliſten wurde fort¬
geſetzt gegen Leſſing, Reimarus, Nicolai, Barth,
Fichte ꝛc. Als Pietiſten wurden beſonders Zinzen¬
dorf, Lavater, Stilling, als myſtiſche Schwaͤrmer
Gasner, Hohenlohe angegriffen. In der Philoſophie
haben ſich alle Schulen angefeindet, beſonders aber
haben Fichte und Schelling den heftigſten Streit mit
den neuern Kantianern gehabt. In den Naturwiſſen¬
ſchaften erregte vorzuͤglich der Magnetismus wilde
Fehden, ferner Gall's Schaͤdellehre, die Homoͤopa¬
thie ꝛc. In antiquariſchen Wiſſenſchaften ſind die Feh¬
den zwiſchen Klotz und Leſſing, Voß und Creuzer die
beruͤhmteſten geworden. In der Paͤdagogik hat Ba¬
ſedew, Peſtalozzi und ſpaͤter die Turnkunſt die mei¬
ſten Gegner gefunden. Endlich im Kunſtgebiet ſind
Godſched, Leſſing, die Bruͤder Schlegel, und neuer¬
[299] dings Tieck die ſtaͤrkſten Polemiker geweſen, nicht zu
gedenken der Klopffechtereien in der allgemeinen deut¬
ſchen Bibliothek, ferner eines Kotzebue und Muͤllner.


Die trefflichſten polemiſchen Schriften, wahre
Kunſtwerke, ſind von Leſſing, Fichte, Schelling,
Goͤrres, den Bruͤdern Schlegel und Tieck; die derb¬
ſten von Godſched, Klotz, Voß, Kotzebue, Merkel,
Muͤllner.


Der allgemeinſte Fehler der deutſchen Kritik iſt
die Kleinigkeitskraͤmerei in Ruͤckſicht ſowohl auf Sa¬
chen als auf Perſonen. Jeder Kritiker ſollte immer
die Nachwelt vor Augen haben, immer nur das ſchrei¬
ben, was auch der Nachwelt von Intereſſe ſeyn koͤnnte.
Die meiſten ſcheinen es aber zu fuͤhlen, daß ſie gleich
Eintagsfliegen nur bis zum Sonnenuntergang leben,
darum ſtechen und beißen ſie ſich luſtig herum, ſo
lange ſie koͤnnen. Die Gelehrten nagen in ihren Kri¬
tiken auf eine gar erbaͤrmliche Weiſe an den Buch¬
ſtaben herum, und die Belletriſten nicht viel beſſer.


Die haͤufigſten Recenſionen ſind die ſchlechteſten,
naͤmlich die, welche nur einzelne Stellen eines Werks
aus dem Zuſammenhang des Ganzen reißen und ſo¬
fort mit einer witzigen Lauge oder mit widerlegenden
Citaten begießen. Das Erſte trifft gewoͤhnlich belle¬
triſtiſche, das Zweite gelehrte Werke. Selten wird
der Geiſt eines Werks aufgefaßt und charakteriſirt,
deſto oͤfter werden einzelne ganz unbedeutende Irrthuͤ¬
mer oder Sprachfehler, ja ſogar Druckfehler geruͤgt.
Dies kommt daher, daß nur wenige Recenſenten ein
[300] Buch in ſeinem Zuſammenhange verſtehn, oder nur
leſen, denn die meiſten begnuͤgen ſich mit einem blo¬
ßen Durchblaͤttern. Dieſer Kleinigkeitsgeiſt gefaͤllt ſich
vorzuͤglich auch in Perſoͤnlichkeiten. Statt unbefan¬
gen das Buch zu betrachten, ſtellt man ſich lieber
den Autor vor, und macht ihn mit oder ohne Grund
laͤcherlich. Aber nicht nur Buͤcher, ſondern auch Kunſt¬
werke und namentlich Saͤnger und Schauſpieler wer¬
den auf dieſe jaͤmmerliche Weiſe kritiſirt. Man kann
unter hundert Kritikern immer darauf rechnen, daß
neunundneunzig ſich blos mit Einzelheiten ſtatt mit
dem Ganzen, und blos mit Perſoͤnlichkeiten, ſtatt
mit der Sache befaſſen. Deßfalls iſt namentlich un¬
ſere Theaterkritik das Schaͤndlichſte und Elendeſte
unſrer Literatur, oder, wie Tieck ſagt, ihr Aus¬
kehricht.


Was ſoll am Ende aus unſrer kritiſchen Litera¬
tur, was ſoll aus der unermeßlichen Menge von
Journalen werden? Man gehe auf eins der Muſeen,
wo ſie in einiger Vollſtaͤndigkeit ſeit dreißig und mehr
Jahren in großen Bibliotheken zuſammengehaͤuft lie¬
gen und muthe einem Enkel zu, alle das Zeug zu
leſen.


Es ſcheint, als ob hier das Heil nur von einer
auserleſenen Geſellſchaft gelehrter und genialer Maͤn¬
ner zu erwarten waͤre, die ſich fuͤr den Zweck einer
beſſern Kritik verbinden, und durch ihre gehaltvol¬
len, umfaſſenden und einigen Arbeiten der kritiſchen
Fabrikation und polemiſchen Buſchklepperei ein er¬
[301] wuͤnſchtes Ende machen ſollten. Man kann ſich de߬
falls ein Ideal ausmalen, aber ob es in unſrer Zeit
realiſirt werden duͤrfte, muß bezweifelt werden. Es
giebt zwar geniale Kritiker genug und einzelne vor¬
treffliche Kritiken finden ſich in gelehrten und belle¬
triſtiſchen Journalen uͤberall zerſtreut. Die Kraͤfte
waͤren da, aber die Vereinigung derſelben iſt nicht
moͤglich. Hier ſtehn ſich die Parteianſichten allzuſchroff
entgegen. Wo Einheit herrſchen ſoll, kann immer
nur eine Partei herrſchen, und dieſer werden ſich die
entgegengeſetzten Parteien mit allen ihren Kraͤften
entziehn. Die herrſchende Partei kann durch ihren
großen Anhang unterſtuͤtzt zwar die hoͤchſte Autoritaͤt
uſurpiren, aber dieſe wird von den unterdruͤckten Par¬
teien nie anerkannt und die Oppoſition derſelben wird
in dem Maaß heftiger werden, als jene anmaßender
wird.


Wie aber, wenn eine ſolche kritiſche Geſellſchaft
ohne eignen Zweck ſich einem fremden, etwa politi¬
ſchen Zweck hingaͤbe, und durch einen gewiſſen poli¬
tiſchen Nachdruck ſich das Monopol der Kritik zu
verſchaffen wuͤßte? Liegt der Gedanke zu fern, daß
ein philoſophiſcher und wiſſenſchaftlicher Jeſuitismus
entſtehn koͤnnte, der unter veraͤnderten Umſtaͤnden fuͤr
den politiſchen Abſolutismus werden wollte, was der
religioͤſe fuͤr den kirchlichen geweſen? daß an die
Stelle des geregelten Fanatismus ein geregelter So¬
phismus treten koͤnnte, daß alle Mittel der Dialektik
aufgeboten werden koͤnnten, wie einſt alle Mittel der
[302] Schwaͤrmerei aufgeboten wurden, daß die ſogenannte
Vernunft zu dem gemißbraucht werden koͤnnte, wozu
einſt die Unvernunft und der Aberglaube gebraucht
wurden? Sollte der immer aͤlter und kluͤger wer¬
dende Deſpotismus nicht ein neues Miniſterium der
Kritik errichten oder das Arrondirungsweſen ins Gei¬
ſterreich hinuͤberſpielen, und nach Erlaſſung eines
gnaͤdigen Beſitzergreifungspatentes die adminiſtrativen
Behoͤrden darin niederſetzen? Manche haben es neuer¬
dings gefuͤrchtet, aber eine wirkliche Gefahr droht
nicht eher, als bis alle Preſſen Regale werden, und
es waͤre mehr als hypochondriſch, auch dies noch
befuͤrchten zu wollen.

[]

Appendix A Druckfehler.


S. 12 Z. 15 von oben lies Mikrokosmus ſtatt Mokrokos¬
mus


— 13 — 13 von oben l. durch ſt. auch


— 15 — 7 von oben l. eine ſt. einer


— 30 — 15 von oben l. des Bekannten ſt. das Bekannte,


— 38 — 15 von oben l. beruhte ſt. beruht


— 48 — 11 von oben l. nie ſt. wie


— 64 — 14 von oben l. vor ſt. von


— 73 — 2 von oben l. zwingen ſt. erzwingen


— 94 — 3 von oben l. unter dem Romantiſchen ſt. das
Romantiſche


— 114 — 3 von unten l. beengenden ſt. bewegenden


— 145 — 12 von oben l. ausfuͤhren ſt. auffuͤhren


— 163 — 2 von unten l. eigenthuͤmlicher ſt. eigenthuͤmliche


— 195 — 15 von oben l. zum ſt. und


— 212 — 1 von oben vor das Reſultat ſetze ein:


— — — 13 von unten hinter Anwendung ſetze ein ,


— 221 — 12 von unten l. , dem ein ſt. dem, ein


— 246 — 7 von oben l. konnten ſt. koͤnnten


— — — — — — organiſirende ſt. orgarniſirende


— 251 — 8 von oben l. Reime ſt. Reimen


— 259 — 2 von unten l. kaͤmpfte ſt. kaͤmpft


— 278 — 14 von oben l. ſchwaͤchlicher ſt. ſchmaͤhlicher


— 281 — 2 von oben l. von ſt. vom


— 285 — 10 von oben l. Bouterwek ſt. Bauterwek

Appendix B Nachtrag zu den Druckfehlern im erſten Theil.


S. 19 Z. 6 von unten l. giebt ſt. gibt


— 22 — 7 von oben l. Innerlichkeit ſt. Innerkeit


— 24 — 4 von oben l. Maaß ſt. Maß


— 53 — 6 von oben l. Dieſem ſt. Dieſen


— — — 6 von [unten] l. Pedanterei ſt. Pedanterie


— 74 — 12 von oben l. Leſern ſt. Leſer


— 110 — 5 von oben del. auch


— 147 — 13 von unten l. bilden ſt. fuͤhren


— 191 — 11 von oben l. kritiſche ſt. kritiſcher


— 235 — 11 von unten l. den ſt. dem


[][]
[][][]
Notes
*)

So ſonderbar, als es manchem ſcheinen moͤchte, ſo iſt
doch nichts wahrer, als daß es nur die Behandlung,
das Äußere, die Melodie des Styls iſt, welche zur
Lektuͤre uns hinzieht, und uns an dieſes oder jenes
Buch feſſelt. Wilhelm Meiſter's Lehrjahre ſind ein
maͤchtiger Beweis dieſer Magie des Vortrags, dieſer
eindringenden Schmeichelei einer glatten, gefaͤlligen,
einfachen und doch mannigfaltigen Sprache. Wer dieſe
Anmuth des Sprechens beſitzt, kann uns das Unbe¬
deutendſte erzaͤhlen, und wir werden uns angezogen
und unterhalten finden. Dieſe geiſtige Einheit iſt die
wahre Seele eines Buchs, wodurch uns daſſelbe per¬
ſoͤnlich und wirkſam vorkommt. —


Goͤthe iſt ganz praktiſcher Dichter. Er iſt in ſeinen
Werken, was der Englaͤnder in ſeinen Waaren iſt:
hoͤchſt einfach, nett, bequem und dauerhaft. Er hat
in der deutſchen Literatur das gethan, was Wedge¬
wood in der engliſchen Kunſtwelt gethan hat. Er hat,
wie die Englaͤnder einen natuͤrlich oͤkonomiſchen und
einen durch Verſtand erworbenen edlen Ge¬
ſchmack. Beides vertraͤgt ſich ſehr gut, und hat eine
nahe Verwandtſchaft im chemiſchen Sinn. In ſeinen
phyſikaliſchen Studien wird es recht klar, daß es ſeine
Neigung iſt, eher etwas Unbedeutendes ganz fertig zu
machen, ihm die hoͤchſte Politur und Bequemlichkeit
zu geben, als eine Welt anzufangen, und etwas zu
thun, wovon man voraus wiſſen kann, daß man es
nicht vollkommen ausfuͤhren wird, daß es gewiß unge¬


*)

ſchickt bleibt, und das man es nie darin zu einer mei¬
ſterhaften Fertigkeit bringt. —
Wilhelm Meiſter's Lehrjahre ſind gewiſſermaßen
durchaus proſaiſch und modern. Das Romantiſche geht
darin zu Grunde, auch die Naturpoeſie, das Wunder¬
bare. Das Buch handelt blos von gewoͤhnlichen menſch¬
lichen Dingen, die Natur und der Myſticismus ſind
ganz vergeſſen. Es iſt eine poetiſirte buͤrgerliche und
haͤusliche Geſchichte, das Wunderbare wird ausdruͤck¬
lich als Poeſie und Schwaͤrmerei behandelt. Kuͤnſtli¬
cher Atheismus iſt der Geiſt des Buchs. Die Ökono¬
mie iſt merkwuͤrdig, wodurch es mit proſaiſchem, wohl¬
feilem Stoff einen poetiſchen Effect erreicht. —
Wilhelm Meiſter iſt eigentlich ein Candide gegen
die Poeſie gerichtet; das Buch iſt undichteriſch in ei¬
nem hohen Grade, was den Geiſt betrifft, ſo poetiſch
auch die Darſtellung iſt. Nach dem Feuer, Wahnſinn
und den wilden Erſcheinungen in der erſten Haͤlfte
des dritten Theils ſind die Bekenntniſſe eine Beruhi¬
gung des Leſers. Die Oberaufſicht, welche der Abbé
fuͤhrt, iſt laͤſtig und komiſch; der Thurm in Lotharios
Schloſſe iſt ein großer Widerſpruch mit ihm ſelbſt. Die
Muſen werden zu Comoͤdiantinnen gemacht, und die
Poeſie ſpielt beinahe eine Rolle, wie in einer Farce.
Es laͤßt ſich fragen, wer am meiſten verliert, ob der
Adel, daß er zur Poeſie gerechnet, oder die Poeſie,
daß ſie vom Adel repraͤſentirt wird. Die Einfuͤhrung
Shakeſpeare's macht eine faſt tragiſche Wirkung. Der
Held retardirt das Eindringen vom Evangelium der
Ökonomie, und die oͤkonomiſche Natur iſt endlich die
wahre, uͤbrigbleibende. —



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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Menzel, Wolfgang. Die deutsche Literatur. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnvk.0