Familie Selicke.
Verlag von Wilhelm Issleib (Gustav Schuhr).
[[IV]][[V]]
Vorwort.
Im Januar 1889, also jetzt grade vor einem Jahre, brachte
der Verlag von Carl Reissner in Leipzig eine „Papa
Hamlet“ betitelte Novität auf den Büchermarkt, als deren
Verfasser ein bis dahin noch gänzlich unbekannt gewesener
Norweger Bjarne P. Holmsen angegeben war, während
sein Uebersetzer sich Dr. Bruno Franzius nannte. Dieses
Buch war eine Mystifikation, und die Unterzeichneten waren
ihre Urheber.
Was sie dazu veranlasst hatte? Die alte, bereits so oft
gehörte Klage, dass heute nur die Ausländer bei uns Aner-
kennung fänden, und dass man namentlich, um ungestraft
gewisse Wagnisse zu unternehmen, zum Mindesten schon ein
Franzose, ein Russe oder ein Norweger sein müsse. Als
Deutscher wäre man schon von vorne herein zur alten
Schablone verdammt, nur jene dürften scrupellos die alten
Vorurtheile über Bord werfen, nur jene sogenannten „neuen
Zielen“ zustreben! Mit anderen Worten: Quod licet Jovi, non
licet bovi!
Wir waren der Meinung, dass diese Klage nur auf einer
falschen Deutung der Thatsachen beruhe. Wir glaubten, dass
die bekannte, ablehnende Haltung, die unsere landläufige
Kritik uns „Jüngeren“ gegenüber nun einmal einnimmt, mit
unserem Deutschthum absolut nichts zu schaffen habe; dass
dieses ihr vielmehr völlig gleichgültig sei, dass es ihr einzig
auf unsere „Richtung“ als solche ankäme! Wir waren über-
zeugt, dass man uns mit den üblichen Komplimenten über-
häufen würde, auch wenn wir beispielsweise als Norweger
zeichneten! Es unterlag uns gar keinem Zweifel, dass der Kampf
heute nicht mehr zwischen Inlandsthum und Auslandsthum
tobe, sondern nur noch — man verzeihe uns hier diese dehn-
[VI] baren Worte — zwischen Idealismus und Realismus, zwischen
Convention und Naturwollen! Und in der That hat denn auch
unser Experiment unsere Hypothese bestätigt ....
Die Mystifikation als solche glückte glänzend. So durch-
aus durchsichtig sie auch gehalten war, und so leicht es
jetzt natürlich auch Manchen geworden sein mag, nachträg-
lich zu behaupten, sie hätten sie gleich durchschaut: man
glaubte an die Existenz Bjarne P. Holmsens sieben volle
Monate lang und kam erst hinter seine Nichtexistenz, nachdem
bereits die Verfasser selber kein Hehl mehr aus ihr machten.
Eine der ersten „Enthüllungen“ brachte die erste No-
vembernummer des „Magazins für die Litteratur des
In- und Auslands“ in einem „Kaberlin“ unterzeichneten
Artikel. Der Anfang desselben lautete:
„Der Verfasser des Dramas „Vor Sonnenaufgang“,
Gerhart Hauptmann, hat auf der ersten Seite seines
Buches einen gewissen Bjarne P. Holmsen freudig
anerkannt. Es war dessen Novellencyklus „Papa Hamlet“,
erschienen bei C. Reissner in Leipzig, der, wie es in der
Widmung heisst, die entscheidende Anregung gegeben hatte.
Wieder einmal, so dachte ich — das Buch in die Hand
nehmend, ist die Befruchtung aus dem Ausland gekommen;
es scheint also, dass der deutsche Realismus zur Selbst-
ständigkeit immer noch nicht reif — vielmehr noch ge-
zwungen ist, die französische Knechtschaft mit der des
Nordens zu wechseln.
Als ich jedoch die erste der drei Novellen durchgelesen
hatte, erschien mir bereits die Echtheit der norwegischen
Ortsfärbung sehr zweifelhaft. Denn nur zu bald bricht
jenes urwüchsige, warme Element eines Humors durch die
Schilderung, der nur den Germanen der Mittelzonen zu
eigen ist. Und eine Nachforschung bestätigte meinen Ver-
dacht: es stellte sich heraus, dass sich hinter dem Namen
Holmsen ein jungdeutscher Dichter versteckt hält, der als
Pfadfinder in dem bisher noch ziemlich dunkeln Gebiet
des deutschen Realismus schon bekannt ist: Arno Holz,
der Dichter des „Buchs der Zeit“.
Zu diesem Absatze veröffentlichte dann die übernächste
Nummer desselben Blattes folgenden Brief. Wir bringen ihn
hier abermals zum Abdruck, um auch in Zukunft etwaigen
ähnlichen Deutungen unseres Zusammenarbeitens ein für alle
Mal aus dem Wege zu gehen.
[VII]
Gestatten Sie mir zu dem in No. 45 Ihres Blattes er-
schienenen Aufsatze: „Neurealistische Novellen. Besprochen
von Kaberlin.“ freundlichst folgende Berichtigung:
Nachdem mich der Herr Verfasser des betreffenden
Artikels — nebenbei bemerkt des weitaus eingehendsten
und gediegensten, der, wenigstens in der deutschen Presse,
bisher über „Papa Hamlet“ erschienen ist — als Autor
dieses Buches namhaft gemacht, setzt er in Form einer
kleinen Fussnote hinzu:
„Johannes Schlaf soll ebenfalls, aber nur im zweiten
Grad, an der Arbeit betheiligt sein.“
Nun! Er soll es nicht nur, sondern er ist es auch!
Und soweit wenigstens unsere d. h. seine und meine
Kenntniss der Sachlage reicht, ist es überdies durchaus
ungerechtfertigt, einem von uns beiden, und zwar ganz
gleichgültig welchem, eine Betheiligung „ersten“ oder
„zweiten“ Grades zuzumessen. Im Gegentheil! Nicht allein,
dass wir unsere Arbeit zu gleichen Hälften geleistet zu
haben glauben, wir haben sie thatsächlich so geleistet!
Eine langjährige Freundschaft, verstärkt durch ein fast
ebenso langes, nahestes Zusammenleben, und gewiss auch
nicht in letzter Linie beeinflusst durch gewisse ähnliche
Naturanlagen, hat unsere Individualitäten, wenigstens in
rein künstlerischen Beziehungen, nach und nach geradezu
kongruent werden lassen! Wir kennen nach dieser Richtung
hin kaum eine Frage, und sei sie auch scheinbar noch so
minimaler Natur, in der wir auseinandergingen. Unsere
Methoden im Erfassen und Wiedergeben des Erfassten
sind mit der Zeit die vollständig gleichen geworden. Es
giebt Stellen, ja ganze Seiten im „Papa Hamlet“, von
denen wir uns absolut keine Rechenschaft mehr abzulegen
vermöchten, ob die ursprüngliche Idee zu ihnen dem einen,
die nachträgliche Form aber dem anderen angehört, oder
umgekehrt. Oft flossen uns dieselben Worte desselben
Satzes gleichzeitig in die Feder, oft vollendete der eine
den eben angefangenen Satz des anderen. Wir könnten
so vielleicht sagen, wir hätten uns das Buch gegenseitig
„erzählt“; wir haben es uns einander ausgemalt, immer
deutlicher, bis es endlich auf dem Papier stand. Uns nun
nachträglich sagen zu wollen, das gehört dir und das dem
anderen, liegt uns ebenso fern, als es in den weitaus
meisten Fällen auch thatsächlich kaum mehr zu ermitteln
wäre. Wir haben nicht das mindeste Interesse daran!
Unsere Freude war, dass es dastand, und die Arbeit selbst
gilt uns auch heute noch mehr als die Arbeiter. Ein
weiteres grösseres Opus haben wir bereits wieder unter
[VIII] der Feder und es wird sich ja zeigen, ob es die von uns
angenommene „Einheit unserer beiden Naturen“ bestätigen
wird, oder nicht.
Mit der Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung
Ihr
ergebenster
Berlin, 1. November 1889. Arno Holz.
Das angedeutete Werk ist dieses Drama. —
Zum Schlusse noch Eins! Wir haben uns nicht versagen
können, aus den uns vorliegenden Kritiken über unser Buch,
das übrigens — der Kuriosität wegen sei es erwähnt! —
zur Zeit von Herrn Harald Hansen in Christiania ins Nor-
wegische übersetzt wird, eine kleine Blüthenlese zusammen-
zustellen. Möge ihre seltene Farbenpracht die Leser ähnlich
erfreuen, wie sie uns erfreut hat! …
Glaubt der Verfasser ein Realist zu sein, …, dann
täuscht er sich.
C. Alberti in der „Gesellschaft“.
Als Norweger ist Bjarne P. Holmsen natürlich Realist und ein radi-
kalerer als alle seine Landsleute.
„Hamburger Nachr.“.
Papa Hamlet … une suite des scènes détachées d’un
réalisme violent.
„Le Temps“.
Ein Trost für das patriotische Gefühl — wenn auch ein sehr klein-
licher — ist es beinahe, dass nach diesen jämmerlichen deutschen „Werken“
der vorliegende Ausländer gleichfalls nichts Rühmliches bietet.
„Bl. f. litt. Unterh.“
Ein norwegischer Dichter, welcher sich bald, und mit Recht,
auch bei uns in Gunst setzen wird!
„Leipziger Tagebl.“.
… Ein Machwerk traurigster Sorte!
C. Alberti in der „Gesellschaft“.
… Ein Beleg mehr für die litterarische Kraft des
Nordens!
„Kieler Zeitung“
Es sind drei Sittenbilder aus dem norwegischen Leben, in welchem
die Rohheit des Inhalts mit der Rohheit der Darstellung einen
tadellosen Zusammenklang bildet.
„Die Post“.
Som hos den nye Kunsts Begyndere er adskilligt uklart, og mangen
on Farveklat forbliver paa hvilken som helst Afstand en Klat, men de tre
Studier efterlader dog alle det tilsigtede Indtryk. (Obgleich, wie
bei allen Anfängern der neuen Kunst, hin und wieder Etwas unklar ist,
mancher Farben klexauch auf jede Distance ein Klex bleibt, so hinterlassen
doch die Studien alle den beabsichtigten Eindruck.)
Harald Hansen im „Morgenbladet“ (Kopenhagen).
[IX]
„Papa Hamlet“ (die erste) ist ein Bild trüber gesellschaftlicher
Verhältnisse, ein trübes Motiv in jenem düstren Kolorit, über welches die
Norweger, die Leute aus dem Lande der Mitternachtssonne, so einzig ver-
fügen. Die Hauptfigur dieses Bildes ist Niels Thienwiebel, der herabgekommene
Schauspieler, der in seinen kleinlichen, häuslichen Verhältnissen den Hamlet
spielt, anfangs aus Eitelkeit und dann um seinen Untugenden und Fehlern
einen Mantel umzuhängen. Wenn es ihm gelegen kommt, greift er sogar zur
Methode des Wahnsinns und lässt so lange „Nordnordwest wehen“, bis er auf
kurze Zeit wieder aus der Klemme oder anderen unbehaglichen Zuständen
befreit ist. Das Mitzehren bei einem Freunde, dem es ebenfalls nicht be-
sonders geht, versteht er wie keiner. Das Bild ist überraschend
einfach gehalten, aber man merkt recht, dass in dieser Ein-
fachheit eine Kunst liegt.
„Kieler Zeitung“.
(Die zweite) wird … nicht nur diejenigen, die die stofflichen Miss-
griffe der Jüngstdeutschen noch nicht überwinden können, mit der neueren
Richtung im Grunde versöhnen, sondern überhaupt in einigen Jahren
alle Herzen erobern und ohne Zweifel eine Perle der humoristischen
Litteratur werden. Denn, von der Reuter’schen Muse abgesehen,
wüsste ich nichts, was nur im Entferntesten mit dem „Ersten
Schultag“ verglichen werden könnte …
„Magazin“.
Den tredje Studie „Et Drodsfald“ giver to Brodres Nattevaagen over en
tredje Broder, som er bleven saaret i Duel og dor ud paa Formiddagen. Jeg
folte under Läsningen baade den lange, kolde Nat, den gryende
Morgen, hvor Livet i Byen lidt efter lidt vaagner, og den fulde
Dag, da alle styrter ud og ind for at bringe den doende Hjälp.
Det var udmärket, skjontjeg läste i mit Ansigts Sved! (Die dritte
Studie: „Ein Tod“ schildert uns die Nachtwache zweier Kameraden bei
einem dritten, der im Duell gefallen ist und am Morgen stirbt. Ich fühlte
während des Lesens die lange, kalte Nacht, den grauenden
Morgen, wo das Leben in der Stadt allmählich erwacht, und
den vollen Tag, wo alles ein- und ausstürzt, um dem Sterben-
den Hülfe zu bringen. Das war ausgezeichnet, obgleich ich
es las im Schweisse meines Angesichts!
Harald Hansen im „Morgenbladet“ (Kopenhagen.)
Da geht uns denn doch schliesslich die Galle über, sowohl
an dem Ekel, den diese Verirrung erregen möchte, als an dem Aerger, den
der Missbrauch guter Mittel hervorruft!
„Frankf. Ztg.“.
Es sind keine fröhlichen Bilder, die Bjarne P. Holmsen zeigt. Sie er-
freuen nicht, sie ergreifen. Wir dürfen über die Wahl seines Sujets
nicht mit ihm rechten, denn er allein kann wissen, was ein Gott ihm zu
sagen gegeben. Wir müssen zufrieden sein, dass in unseren Tagen
ein Talent erstanden ist, welches kleine Züge so sorgsam zu
beobachten und festzuhalten versteht, wie einst Jean Paul,
und welches zugleich eine Phantasie besitzt, wie Theodor
Amadeus Hoffmann sie besessen.
„Berl. Börsencourir“.
… Novellen, welche ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren zu-
sammengeschrieben hat, nachdem er eingesehen, dass die ihm von seinen
Eltern vorgeschriebene Thätigkeit in einem Bankgeschäft seinem litte-
rarischen Ehrgeize nicht genügte.
„Die Post“.
Der Herr Verleger hat geglaubt, den Eindruck dieser Novellen, in denen
entsetzlich viel geflucht und geschimpft wird, durch höchste Eleganz der
Ausstattung einigermaassen abzuschwächen. Schade um das schöne
Papier und den tadellosen Druck.
„Die Post“.
[X]
„Papa Hamlet“. Sous ce titre a paru récement en Norvège une nouvelle
qui fait assez grand bruit. Elle a été traduite en allemand, elle va
l’être en anglais, peut-être le sera-t-elle en français.
„Le Temps“.
Der Einband zeigt in der äussersten Ecke das Bild des Verfassers.
Nicht umsonst hat sich der hübsche, junge Mann mit solcher
Bescheidenheit in den Winkel gestellt — er wird wohl darin
stehen bleiben.
„Blätter für litterar. Unterh.“
Zulk een schrijver moet gelezen worden; jammer, dat hij
aan eene oogziekte lijdende is, zoodat hij slechts met groote moeite zijn sociaal-
roman „Fremud“ persklaar kan maken. Holmsen is wel een Noor van
geboorte, maar zijn scherpe blik, zijn heldere geest, zijn
onverbeterlijke humor maken hem internationaal.
„De Leeswijzer“.
Wo der Uebersetzer den „grandiosen Humor“ findet,
bleibt unergründlich.
„Allgem. Kunstchronik“.
Franzius lässt uns die Bekanntschaft mit einem jungen norwegischen
Humoristen machen, der in der That eine nicht gewöhnliche Begabung be-
sitzt und dessen Humor Franzius grandios zu nennen ein
Recht hat.
„Vossische Zeitung“.
Der Uebersetzer ist so naiv, in seiner Einleitung einzugestehen, dass
die Schöpfungen des von ihm entdeckten schriftstellerischen Genies „in ihrer
norwegischen Heimath noch lange nicht nach Gebühr gewürdigt“ sind, was
uns mit Hochachtung vor dem litterarischen Geschmack der
Norweger erfüllt und uns von Neuem in der Meinung bestärkt, dass
auch Ibsen zu den Propheten gehört, die in ihrem Vaterlande nichts gelten.
„Die Post“.
Deze nieuwe Noordsche schrijver is onlangs (19. Dec.) eerst 28 jaar
geworden, een leeftijd, waarop nog niet ieder auteur buiten de grenzen van
zijn vaderland bekend is geworden. Toch is den jongen auteur reeds
die eer te beurt gevallen!
„De Leeswijzer“.
Der Uebersetzer hat sich sichtlich grosse Mühe gegeben, das norwegische
Original deutschen Lesern mundgerecht zu machen; aber er hat, nach
unserer Meinung, seine Arbeit keinem würdigen Object
zugewandt.
„Berner Bund“.
Bogen fortjener de Lovord, den dog har faaet af enkelte.
Jeg kjender saa overmaade lidt tysk Literatur, at jeg slet ikke kan tale med om
den, men det skulde alligevel ikke undre mig, om dette var
nyt i Tyskland! (Das Buch verdient die erhaltenen Lob-
reden. Ich kenne die deutsche Literatur nur sehr oberflächlich und kann
also nicht recht mitreden, aber es sollte mich doch wundern, wenn
dies in Deutschland nicht neu wäre!)
Harald Hansen im „Morgenbladet“ (Kopenhagen).
Erheben sich die übrigen Erzählungen nicht über den Durchschnitt,
die erste ist vortrefflich und rechtfertigt die Arbeit des
Uebersetzers durchaus.
„Voss. Ztg.“.
[XI]
Von den drei Stücken des vorliegenden Buches ist das erste, „Papa
Hamlet“, fast lediglich eine Studie des Hässlichen und Un-
vernünftigen; dagegen hat die kleine Skizze: „Der erste Schultag“ und
noch mehr das düstere Augenblicksbild „Ein Tod“ eine eigene poetische
Bedeutung. „Namentlich in dem Letzteren redet die Wirklichkeit
unmittelbar zu dem Leser.
„Hamburger Nachrichten“.
Die in dem Buche noch enthaltenen Erzählungen „Der erste
Schultag“ und „Ein Tod“ geben der erstgenannten an Unwahrheit
nichts nach.
„Allgem. Kunstchronik“.
Logische und psychologische Entwickelung ist bei diesem
Holmsen ein überwundener Standpunkt.
„Frankfurter Ztg.“.
Wie Papa Hamlets Stolz, der geschminkt und geliehen ist, wie sein
Selbstbewusstsein, welches sich mit den goldenen Fetzen seiner Lieblingsrolle
ausstaffirt, sich einer immer öderen Wirklichkeit anbequemt, wie in dem
wirthschaftlichen Bankbruch allmählich nackter und nackter die ganz gewöhn-
liche, ganz gemeine Bestie hervortritt, das ist mit einer Meisterschaft
skizzirt, welche an keiner Stelle verlegen ist, den charakte-
ristischen Zug und für diesen das charakteristische Wort zu
finden.
„Berl. Börsencourir“.
… Im Uebrigen hat der Verfasser nur für den Schmutz einen
klaren Blick.
„Allg. Kunstchr.“.
… und als sich erste Bürgen dichterischen Berufes einen freien
Humor und in glücklichen Momenten jene Prägnanz und Keuschheit
der Gestaltung und Darstellung, die mit wenigen Strichen oft
ein ganzes, grosses Gemälde andeutet …
„Hamb. Nachr.“.
Der Uebersetzer giebt sich in seiner Einleitung Mühe, seinen Autor
dem Leser nahe zu bringen, er sucht die allgemeine Theilnahme für den
„originellen“ Norweger zu erwecken.
„Allgem. Kunstchr.“.
Het behœft ons geenszins te verwonderen, dat Dr. Franzius zich genoopt
gevoelde dit werk te vertolken, want reeds bij de eerste regels valt
het op, dat Holmsen een origineel is.
„De Leeswijzer“.
Der junge Autor, der uns hier vorgestellt wird, .... stellt in der
krassesten Weise die Auswüchse einer Schule dar, der man schon an sich
nicht ohne starke Vorbehalte und Bedenken entgegentreten kann. Er ge-
hört … zu jenen … Ibseniden und Björnsterneiden, die in
der Ueberbietung der Manieren der Meister die beste Art
der Nachahmung zu suchen scheinen.
„Frankfurter Zeitung“.
Forfatternes „Oversätter“ hävder i Forordet, at dette ikke er
Efterligneres Värk, og det foles saadan. (Die „Dichter-Ueber-
setzer“ erwähnen im Vorwort, dass ihr Buch kein Werk der Nachahmung
sei, und das fühlt man auch durch!)
Harald Hansen im „Morgenbladet“ (Kopenhagen).
Il a passé deux ans en France .... et ce séjour paraît avoir
exercé une certaine influence sur sa vocation littéraire. Ses
procédés relèvent d’ailleurs plutôt de l’école russe con-
temporaine.
„Le Temps“.
… Anhänger des Naturalismus, Schüler Zolas!
„Allgem. Kunstchr“.
[XII]
Dem Verfasser schwebt vielleicht dasselbe Kunstziel vor, welches
Hoga th mit seinen grotesken Zeichnungen sich setzte. Aber es liegt in
der Verschiedenheit der Kunstmittel, — bei Hogarth das Nebeneinander
der Figuren, bei Holmsen das Nacheinander der Worte, dass der Schrift-
steller die Deutlichkeit des Malers nur selten zu erreichen vermag.
„Berner Bund“.
… Was den imprssionistisch-pessimistischen Effect anbetrifft,
so darf man dem Autor zu seinem Können gratuliren.
G. M. Conrad in der „Gesellschaft“.
… ungenügende Art der Darstellung!
„Berner Bund“.
… erstaunliche Lebendigkeit der Darstellung!
„Voss. Ztg.“.
… rücksichtslose aber wahre Darstellung!
„Kieler Ztg.“.
Ausdrucksvoll herausgebildete Darstellung!
„Hamb. Nachr.“.
Das lesen wir nicht, wir sehen es vor Augen, während
das Herz zusammenkrampft, die Faust sich ballt!
„Berl. Börsencourir.“
Holmsen malt mit einem dicken Borstenpinsel.
„Züricher Post“.
… Das sind die Geschehnisse, welche uns der Dichter erzählt. Die
unvergleichliche Kleinmalerei, mit welcher er es erzählt,
möge nun jeder selbst geniessen.
„Leipziger Tagebl.“.
Holmsen besitzt Begabung, aber noch eine weit grössere müsste zu
Grunde gehen, wenn sie alle Kraft verschwendete, Schatten auf Schatten zu
legen. Mit Schwarz allein lässt sich weder malen noch
dichten. Nur der Wechsel von Licht, Halblicht und Dunkel
giebt den Schein der Körperlichkeit, in Kunst und Leben.
Otto v. Leixner in der „Deutschen Romanztg.“.
Ein äusserst wirksames und feines Colorit ist dieser Dar-
stellung eigen.
„Kiel. Ztg.“.
Unter solchen Händen muss auch der beste Stoff zu
Schanden werden, die Kunst wird gradezu entweiht und dies
gar noch, ohne dass sich dafür ein ethischer oder sozialer
Vorwand entdecken liesse!
„Frankf. Ztg.“.
Die Dichter sind die einzigen Rächer der gemordeten
Schwachheit. Auch Holmsen ist ein Rächer. Jede Mutter,
die ihr Kind lieb hat, lese: „Der erste Schultag“.
„Züricher Post“.
Eine pessimistische Grundansicht von allem Mensch-
lichen zum Verrücktwerden!
G. M. Conrad in der „Gesellschaft“.
Man ist verletzt durch die scheusslichen Bilder, die der
Verfasser vor unsere Phantasie gebracht hat. Er behandelt die denkbar
widerwärtigsten Themata mit Vorliebe.
„Berner Bund.“
[XIII]
Was man vor hundert Jahren an Empfindsamkeit gesündigt hat, das
wird hier zehnfach durch Brutalität wett gemacht, uns wird auch
nicht das Aeusserste von Schmutz erspart.
„Frankf. Ztg.“.
Quellfrischer Humor!
„Magazin“.
Scharfes Auge, milder, versöhnlicher Sinn!
„Voss. Ztg.“.
Det „realistiske“ i hele Bogen er saa uskyldigt, at man
her til Lands näppe vilde have gjort Ophävelser over det. Rea-
lisme er nemlig, i alt Fald i Norge, blevet enstydig med Skildringer af
kjonslige Udskejelser, og af det findes der intet i „Papa Hamlet“. Fraregnet
den forste Studie er Bogen ikke engang „häslig“. (Das speziell „Rea-
listische“ des ganzen Buches ist so unschuldiger Natur, dass
man hier zu Lande kaum davon Aufhebens gemacht haben
würde. Realismus ist nämlich, wenigstens in Norwegen, gleichbedeutend
geworden mit der Schilderung gewisser Zweideutigkeiten und davon findet
sich nichts in „Papa Hamlet“. Abgesehen von der ersten Studie
ist das Buch nicht einmal „hässlich“!
Harald Hansen im „Morgen bladet“ (Kopenhagen).
Nichts als Schmutz, Elend, Verkommenheit — körperlich
wie geistig. Ich hasse jenen schönfärbenden falschen Idealismus, welcher
Alles in erborgten Schimmer kleidet. Er ist eine Lüge und — der Tummel-
platz der kunstfertigen Kunstspieler. Aber ebenso ist ein Todfeind echter
Poesie jene sogenannte Wahrheit, welche alle Krankheiten, seien sie des
Leibes oder der Seele, auf die Gestalten häuft und die Augen schliesst,
um nichts Lichtes sehn zu müssen. Auch das ist Lüge.
Otto v. Leixner in der „Deutschen Romanztg.“.
Het is of Holmsen het leven à la Zola bestudeert heeft, maar niet
diens pessimistischen bril heeft opgezet — zelfs in het laatste
stuck, — het boek heeft er drie — waarin hij den dood van een student
zoo aangrijpend schetst, komt vaak de humor om den hoek gluren
en gaat er en lach op, die u als een snijdend sarkasme op dit leven in
de ooren klinkt.
„De Leeswijzer“.
Alles erscheint verzerrt, wie in den theergefüllten Glaskugeln,
die man früher in Gärten hatte, aber diese Vergröberung des Groben ist
weder Portrait noch Kunstwerk, sondern einfach Versündigung an Kunst
und Natur zugleich.
„Frankf. Ztg.“.
„Bjarne P. Holmsen“ ist also nicht nur derjenige Dichter,
welcher dem Realismus neue Bahnen erschlossen, sondern er
ist auch bis jetzt noch der Einzige, der mit voller Sicherheit
bis an die vorläufig erreichbare Grenze in Stoff und Form vor-
gehen kann. Als Künstler eine grosse Individualität, fordert er gänzliche
Unterwerfung, ehe sich die Feinheiten seiner Kunst dem Genusse erschliessen
Lernt der Dichter erst noch seinen Reichthum ganz beherrschen, wird er bald
unter den deutschen Realisten eine einsame und noch lange verkannte Er-
scheinung sein. Dem wirklich eigenen Künstler bleibt das nicht erspart;
Gottfried Keller ist es ja auch so ergangen.
„Magazin“.
Wandelt der noch jugendliche Autor auf der aufsteigenden
Bahn weiter, die durch die Reihenfolge der drei Studien des vorliegenden
Bandes angedeutet ist, so mag er sich in nicht ferner Zeit einen aus-
gezeichneten Platz unter den Dichtern seines Volkes gewinnen.
„Hamb. Nachr.“.
[XIV]
Für den Stil kann nur der Uebersetzer verantwortlich ge-
macht werden, und letzterer scheint der Ansicht zu sein, man müsse das
Abscheuliche auch abscheulich schreiben. Man wird nicht bald eine solche
Fülle abgehackter Sätze und unschöner Worte in einem Werke beisammen
finden. Eine wahre Distellese von Geschmackslosigkeiten!
„Allgem. Kunstchr.“.
Men jeg kjender när sagt ikke det tyske Sprog igjen. Hvor
er de lange Sätninger, hvor de lange Ord, hvor de släbende haben-werden-
sein! Det er et helt nyt Sprog! (Ich erkenne kaum die deutsche
Sprache wieder! Wo sind die langen Sätze geblieben, wo die langen
Wörter, wo die schleppenden haben-werden-sein? Es ist eine gänzlich
neue Sprache!)
Harald Hansen im „Morgenbladet“ (Kopenhagen).
… eine sehr geschickte Uebersetzung …
„Hamburger Nachrichten.“
… eine sehr gute Uebertragung …
„Gesellsch.“
… eene goode Duitsche vertaling …
„De Leeswijzer“.
… die Uebersetzung … eine wundervoll vollendete!
„Berliner Börsencourier“.
Der Uebersetzer nennt Holmsen einen „Anatomen“ von der Art der
grossen modernen Schriftsteller; das ist er aber in keiner Weise, denn sein
Sezirmesser ist kein Instrument, welches blosslegt, erklärt, verdeutlicht, wie
es der Realismus zu thun pflegt, sondern es schabt nur allerhand Fleisch-
fetzen und Knöchelchen auf einen Haufen zusammen, aus denen der arme
Leser dann die Glieder heraussuchen mag. Gewiss kann man dem Realis-
mus als Princip von allerhand Standpunkten aus Vorwürfe machen, aber
der schwerste Vorwurf wäre der der Verundeutlichung statt der
Verdeutlichung — denn er will ja im Prinzip nichts als die Deutlichkeit
der Dinge, sei es selbst die gemeine Deutlichkeit auf Kosten der Ver-
klärung.
„Bl. f. litt. Unt.“.
Die Technik der Darstellung ist in hohem Grade originell. Es sind
fast lauter Farbenspritzer, jäh, grell, unvermittelt, die sich in der Phantasie
des kunstgeübten Lesers sofort zum brennendsten Lebensgemälde
zusammensetzen. Nur Bilder, keine Gedanken. Diese erschreckliche
Virtuosität der Wirklichkeitsnachbildung in winzigen Ausschnitten,
nur am Tragisch-Banalen geübt, macht den Leser auf die Dauer ganz nervös.
G. M. Conrad in der „Gesellsch.“.
.... Abgesehen, sagen wir, von dem Krassen solcher Motive, ist auch
die stilistische Methode, durch welche Holmsen seine Effekte
zu erreichen bemüht ist, eine höchst widerliche ..... Man ist
oft viele Sätze hindurch ganz im Unklaren über den Ort der Handlung, über
die Personen und ihre Verhältnisse. Die Lectüre des Buches lässt
daher einen sehr unbehaglichen Eindruck zurück!
„Berner Bund“.
Aber für das Beste, für eine Errungenschaft, aus der sich
noch ein Kardinalgrundsatz des epischen Verismus entwickeln
kann, halte ich die Art der Darstellungsweise selbst! „Holmsen“
beschreibt nämlich die Dinge von innen nach aussen, d. h. er konzentrirt
sie so in die Lebensäusserungen, dass sie sich dem Leser durch dichterische
Schlüsse von selbst erzählen … Ich werde mich wohl hüten, eine solche Dar-
stellungsweise im Prinzip neu zu nennen, denn sie wird bereits von vielen Realisten
hie und da angewandt, aber „Holmsen“ ist der Erste, der sie konse-
[XV] quent durchführt, und in diesem Sinn der Einheitlichkeit ist sein Stil, den
die glücklichste Wirkung rechtfertigt, mit ganzem Recht relativ neu zu
nennen. Es ist wohl möglich, dass durch die dichte Folge der die Situation fort-
rückenden Momente hie und da die Darstellung hüpft und dadurch Unklar-
heiten entstehen, aber dafür reizt dieser Stil, ja zwingt die Phantasie,
geradezu die entstehenden Lücken durch Mitdichten auszufüllen, wodurch
der Leser in die angenehmste Spannung geräth!
„Magazin“.
Holmsen valt om zoo te zeggen — met de deur in het huis, en hij
laat zijne personen, alsof het reeds oude bekenden waren, zelfs zoo vlug, d. i.
zonder nadere aanwijzing, met elkander spreken, dat het vaak moeilijk is,
hem te volgen. En toch trekt die vreemde behandeling van zijne
stof aan, vooral daar zij ook komisch is.
„De Leeswijzer.“
Die Natürlichkeit wird hier zu Affektion und — unabweisliche Folge
— überschlägt sich in Inhalt und Form derart, dass an die Stelle des
auch nur mässigsten Kunstgenusses eine mit Ekel gemischte
Betäubung tritt!
„Frankfurter Ztg.“.
Es würde nichts nützen, den Gang der Erzählungen hier in Haupt-
umrissen wiederzugeben. Das würde auch leicht genug sein, denn nicht um
sonderbare Verknotungen und fremdartige, unerwartete Geschicke handelt es
sich, sondern um alltägliches Menschenelend, aber mit Dichteraugen ge-
schaut und im Dichterherzen nachgefühlt.
„Leipziger Tageblatt“.
Grade wir … grade wir haben im höchsten Grade die Pflicht,
uns gegen unreife Knaben zu wenden, welche den Realismus discreditiren,
indem sie seinen Namen benutzen, um ihre ganz gewöhnliche Unfähigkeit
zu bemänteln, die sich hinter Grotesksprüngen à la Hanswurst versteckt.
Der Realismus ist eine ernste, heilige Sache, aber keine
Löwenhaut, hinter der sich Esel verstecken dürfen … — Wir
müssen auch Herrn Holmsen von unseren Rockschössen ab-
schütteln!
C. Alberti in der „Gesellschaft.“
Es hat schon mehr als einmal eine Zeit des Realismus gegeben, und
immer war sie eine Uebergangszeit. Sie geht der Blüthe der Litteratur
vorauf oder sie folgt ihr, und es kann uns nicht irre machen, dass dem
Realismus eine wüste Schaar von Unfähigkeiten lärmend sich auf-
drängt. Dieser Haufe zerstiebt verdientermaassen wie Spreu,
und wenn er sich für eine Schule hält, weil er sich schülerhaft geberdet, so
wird sein Lärmen doch mit dem Tage vergessen. Aus Sturm und Drang ist
Grosses hervorgegangen, nicht weil Sturm und Drang gross waren, sondern
weil unter den Stürmern und Drängern sich Grosse befanden. Auch jetzt
stehen wir mitten in solchem Sturm und Drang, aber zum
ersten Mal sehen wir in dem Gewimmel, das bisher nur die
Laufgräben der Litteraturfestung mit schlechter Makulatur
füllte, ein starkes Talent, und dieses Talent hat mit jenem
Gewimmel nichts gemein. Bjarne P. Holmsen wird wohl von den Rea-
listen als einer der Ihren reklamirt, doch er weiss von ihnen so wenig, wie
die Nachtigall von einer Gesangsschule.
„Berl. Börsencourir.“
Eine merkwürdige Künstlerindividualität, wenn auch
kein Realist in unserem Sinne, ist Holmsen unter allen Um-
ständen.
G. M. Conrad, ebenfalls in der „Gesellschaft“.
Allen, die sich die Menschheit und die Poesie verekeln
wollen, sei dieses Buch bestens empfohlen!
Otto v. Leixner in der „Deutschen Romanztg.“.
[XVI]
… es gehört zu jener schlechten Gattung von litterarischen
Neuigkeiten, welche durch einen originellen Titel Erwartungen
zu erregen suchen, welche der Inhalt nicht befriedigt!
„Die Post“.
… In der That ein seltsames Buch, welches sehr ver-
schiedene Aufnahme finden wird! … Wann kommen Bücher
wie „Papa Hamlet“, dahin, wohin sie gehören: ins Volk?
„Züricher Post“
Und unsere eigene Meinung?
Berlin, 24. December 1889.
Arno Holz.
Johannes Schlaf.
Personen:
- Eduard Selicke, Buchhalter.
- Seine Frau.
- Toni, 22 Jahre alt
- Albert, 18 „ „
- Walter, 12 „ „
- Linchen, 8 „ „
- Gustav Wendt, cand. theol., Chambregarnist bei ihnen.
- Der alte Kopelke.
ihre Kinder.
Zeit: Weihnachten. Ort: Berlin N.
[[2]][[3]]
Erster Aufzug.
[[4]][5]
Erster Aufzug.
(Es ist mässig gross und sehr bescheiden eingerichtet. Im
Vordergrunde rechts führt eine Thür in den Corridor, im
Vordergrunde links eine in das Zimmer Wendt’s. Etwas weiter
hinter dieser eine Küchenthür mit Glasfenstern und Zwirn-
gardinen. Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, gross-
geblumtes Sopha ein, über welchem zwischen zwei kleinen,
vergilbten Gypsstatuetten „Schiller und Goethe“ der bekannte
Kaulbach’sche Stahlstich „Lotte, Brod schneidend“ hängt.
Darunter im Halbkranze, symmetrisch angeordnet, eine Anzahl
photographischer Familienportraits. Vor dem Sopha ein ovaler
Tisch, auf welchem zwischen allerhand Kaffeegeschirr eine
brennende weisse Glaslampe mit grünem Schirm steht. Rechts
von ihm ein Fenster, links von ihm eine kleine Tapetenthür,
die in eine Kammer führt. Ausserdem noch, zwischen den
beiden Thüren an der linken Seitenwand, ein Tischchen mit
einem Kanarienvogel, über welchem ein Regulator tickt, und,
hinten an der rechten Seitenwand, ein Bett, dessen Kopfende,
dem Zuschauerraum zunächst, durch einen Wandschirm ver-
deckt wird. Am Fussende des Bettes, neben dem Fenster,
schliesslich noch ein kleines Nachttischchen mit Medizin-
flaschen. Zwischen Kammer- und Küchenthür ein Ofen, Stühle.
und strickt. Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer, Horn-
brille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause.)
Ach Gott ja!
Mamchen?!
fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der
Tasche, bückt sich drüber und schneuzt sich).
[6]
backen, Pudelmütze, rothe, gestrickte Fausthandschuhe):
Mamchen? darf ich mir noch schnell ’ne Stulle
schneiden?
Ach, geh’
du ungezog’ner Junge! Erschrick einen doch
nich immer so!
getreten, auf den sie ihre Brille legt).
Kannst Du
denn auch gar nicht ’n bischen Rücksicht nehmen?!
Siehst Du denn nich, dass das Kind krank ist?
trinkt nun nacheinander die verschiedenen Kaffeereste
aus. Den Zucker holt er sich mit dem Löffel extra
raus):
Aber ich hab’ doch noch solchen Hunger,
Mamchen?
deren Thür jetzt weit aufsteht. Man sieht ihn vor
einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt.
Knüpft sich grade seine Kravatte um. Hemdärmel.):
Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber ’n Katzen-
kopp un denn is jut!
Na, Du, Grosser, sei doch man schon ganz
still! Du verdienst ja noch alle Tage welche!
Ich denk’, ihr seid überhaupt schon lange weg?
Ja doch! Gleich! Aber ich
wer’ mir doch wohl noch erst den Rock ab-
bürschten können?
Na ja, gewiss doch! Steh Du
man immer recht vor’m Spiegel und vertrödle
recht viel Zeit! Da werd’t Ihr ja euern lieben
Vater sicher noch finden! Der wird heute
grade noch auf ’m Comptoir sitzen!
Ach Jott! Nu thu doch man nicht wieder
so! Vor Sechs kann er ja doch heute so wie so
nich aus ’m Geschäft!
[7]
So! Na! Und wie spät denkste
denn, dass es jetz’ is?
der Stulle einen Augenblick inne gehalten, den Schirm
von der Lampe gerückt und nach dem Regulator ge-
sehen)
… Jetz’ is gleich Dreiviertel!
Ach, Unsinn! Die jeht ja vor!
Hach nee!
Ich sag’ schon! Sicher is er nu wieder weg, und
vor morgen früh wer’n wir ’n ja dann natürlich
nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann!
So ein Mann! …
Hurrjott, Mutter! Räsonnir’ doch nich immer so!
Du weisst ja noch gar nich!
Ach was! Lass mich zufrieden!
Beruf’ mich nich immer! Ich weiss schon, was
ich weiss!
Da — haste!
Klapp se Dir zusammen und dann macht, dass Ihr
endlich fortkommt! Aus Euch wird auch nischt!
(Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke
ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der
Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der
Thür, die in’s Entree führt.)
Na? Machste nu auf,
oder nich?
Thür zu. Er klinkt diese auf und verschwindet im Entree.)
der er das Licht ausgelöscht hat. Zieht sich noch
grade seinen Ueberzieher an. Aus der Brusttasche
stecken Glacees, zwischen den Zähnen hält er eine
brennende Cigarrette, an einem breiten, schwarzen
Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern ge-
scheitelt, Hut und Stöckchen hat er einstweilen
[8] auf den Stuhl neben dem Sopha plazirt. Zu
Frau Selicke, indem er mit dem Fusse die Thür hinter
sich zudrückt):
Nanu? Das kann doch unmöglich
schon der Vater sein?
zu thun macht, unruhig):
Ach wo!
man hört die Stimme des alten Kopelke: „Brrr …
is det heit ’n Schweinewetter?!“ — Die Thür klappt
wieder zu, und jetzt schreit Walter laut auf, ausge-
lassen: „Ah! Olle Kopelke! Olle Kopelke!“ — „Nich
doch, Kind, nich doch; du thust mir ja weh! Du drickst
mir ja! Du musst doch aber ooch heer’n! Da — nimm
mir mal lieber hier ’n bisken det Menneken ab! …
Brrr … nee … ä!“)
knöpfelnd):
Ach, der alte Quacksalber?!
Na, Du, Grossmaul, wirst doch
nich immer gleich das Geld geb’n für’n Docter!
Ach, Blech! Nich wahr? Nu
fang wieder davon an! …
Au, Mamchen,
sieh mal! ’n Hampelmann! Mamchen, ’n Ham-
pelmann!
Zum alten Kopelke zurück):
Wah? den schenken
Se mir?
rund, freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasirt. Sammet-
joppe, Pelzkappe, Wollshawl):
Sachteken! Sachteken!
geklemmt und sich den Kneifer aufgesetzt, affectirt):
Ah, gut’n Abend, Herr Kopelke!
’n Abend! ’n Abend, junger Herr!
’n Abend!
Bett hin)
Na? Und meene kleene Patientin? Ick
muss doch mal sehn kommen?
[9]
Ach Gott ja! Na, ich
kann wohl schon sagen!
Ach wat, wissen Se! det
… det … e ....
mann abgegeben, ihm die Zunge gezeigt, „Bah!“ zu
ihm gemacht und tänzelt nun mit ihm um den alten
Kopelke rum, diesen unterbrechend):
Olle Kopelke!
Olle Kopelke!
Ach, nich doch, Kind!
det ’s jo unjezogen! Du musst nich immer Olle
Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!
Oh …! Olle Ko-
pelke! …
Hörst Du denn nich, Du Schafskopp? Du
sollst still sein!
Nanu? Du
hast mir doch garnischt zu sagen?
dessen wieder aufgenommen hat, dazwischen):
Nein!
Nein! Nun sehn Sie doch blos! Die reinen Ban-
diten! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenig-
stens auf das Kind Rücksicht!
Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch
immer! Dem lässt Du ja Alles durchgehn! Der
kann ja machen. was er will! Aus dem Bürsch-
chen erziehst Du ja schon was Rechtes! Vater
hat janz recht!
Nein! Nein! Nu hören Se doch
blos! Und da soll man sich nich gleich schlag-
rührend ärgern?
Sachteken, werther junger
[10] Herr, sachteken …
Immer in
Jiete, Mutter! Det ville Jehaue un det ville
Jeschumpfe nutzt zu janischt, zu reenjanischt! …
Ibrijens …
und schnuppert nun nach allen Seiten in der Luft rum)
… wat ick doch jleich noch sagen wollte …
det … det … riecht jo hier so anjenehm nach
Kafffe? … Hm! Pf! Brrr! … Nee, dieset
Schweinewetter?! Ick bin — wahhaftijen Jott —
janz aus de Puste!
dicken Wollshawl abgezerrt und schlenkert ihn nun
nach allen Seiten um sich rum)
Kopp weg!
Walter, den er dabei getroffen hat)
He? Wah
det Deine Neese?
vergnügt lachend):
Hohohoo!
Hand):
Na, jedenfalls ich jeh jetzt! Wir kommen
ja sonst wahrhaftig noch zu spät!
Ja, ja! Macht man, dass Ihr fort-
kommt!
Aha! Wol zu Papa’n uf’t
Contor?
Ach! ja! Das heisst .. e ..
wir wollten so … blos ’n bischen vorbeijehn!
zublinzelnd, verschmitzt):
Weess schon!
Selicke, halb in’s Ohr)
Edewachten kenn ick doch?
…
Na, denn … e … denn
beeilen ’sick man! Sowat looft weg!
sich eben seinen Hampelmann an die Jacke knöpft):
Na, willste nu so jut sein oder nich?
Atchee!
Atchee, mein Sohn, Atchee! Un jriess
ooch Vatern!
[11]
Na, und die Stulle?
noch schnell nach, Walter beisst sofort in sie hinein)
Und dann, sagt, er soll gleich hierherkommen!
Sagt, Toni is auch schon da! Wir warten schon!
nun zum alten Kopelke hin eine stumme, ceremonielle
Verbeugung).
War mich sehr anjenehm, werther junger
Herr! War mich sehr anjenehm!
verschwinden. Draussen im Entree schlägt Walter hin.
Schreit. Albert: „Na, du Ochse!“)
Ei Herrgott! Was is denn nu
schon wieder …
draussen schlägt die Flurthür zu).
Hach! Gott sei
Dank, dass man die Gesellschaft endlich los ist!
Jo!
Wahr is’t! ’n bisken wiewe sind se! Abber —
Jotteken doch! det is doch nu mal nich anders!
det …
geschirr und eilt auf das Bett zu):
Ach, nein! Ich
sag schon! Nu haben sie ja das arme Kind
glücklich wieder wachkrakehlt! … Na, mein
liebes Herzchen? … Wie ist Dir. mein liebes
Linchen, he?
Bett gebeugt, leises Stöhnen.)
Hast Du Schmerzen,
mein liebes Puttchen?
Ma — ma
— chen?
Ja, mein Herzchen? Hm?
Ma — ma — chen?
Hast Du Appetit, mein Schäfchen?
… Nein? Ach, Du mein Mäuschen!
Ich — bin — so — müde …
[12]
Ach, mein Herzchen! Aber, nicht
wahr? Du willst jetzt noch einnehmen?! Onkel
Kopelke ist ja da!
On — kel — Ko — pel — ke?
zogen und schneuzt sich).
Wollen
Sie se mal sehn? Ich misch’ solange die
Tropfen!
während des Folgenden am Fussende des Bettes, auf
dem Nachttischchen, die Medizin).
beugt. Täppisch-zärtlich):
Na, Lin’ken? Kennste
mir noch? Ach Jotteken doch, die Aermken!
Nich wah? Det — watt doch mal. Kind, ’n
Oogenblickchen! — Det … thut doch nich weh? …
Na, sehste!! Ick sag’ ja! det … det is Allens
man auswendig! Det ’s janich so schlimm! Uf
de Woche kannste all dreist widder ufstehn!
Denn jehste for Mama’n bei’n Koofmann! Denn
jehste mit ihr uf ’n Marcht! Inholen! He?
Weesste noch? Uf ’n Pappelplatz? Der mit ’t
Schielooge? „Jungens.“ sag’ ick, „Bande!
Wehrt ihr wol det Meechen sind lassen?“ Abber
da!! Heidi! Wat haste, wat kannste! … Nich
wah? Nu nehmste abber ooch sauber in?
Frau Selicke, während er diese an’s Bett treten lässt):
Wat det Kind blos for’n Schwitz hat?!
Ach Gott ja!
Abber det .. e .. wissen
Se! … Det … det is immer so! Det is
nu mal nich anders! Det …
abermals).
Na, Linchen?
Ist Dir wieder besser?
[13]
Ach — ich — will — nicht — ein-
nehmen!
O ja, meine Kleine! Du willst
doch wieder gesund werden!
Es — schmeckt — so — bitter!
Nicht weinen, mein Schäfchen! …
Komm! … Sonst zankt der Herr Doctor wieder!
Nicht wahr, Onkel Kopelke?
Ja. ja, Kindken! Det
muss nu mal so sind! Det jeheert sick!
Nicht wahr? Hörst Du? Komm
mein Liebling! Ja?
Es — schmeckt — so — bitter!
Aber nachher kannst Du ja wieder
spazieren gehn, mein Mäuschen?! Und Emmchen
zeigt Dir auch ihre Bilderbücher! Ja? …
Komm! … Na, nu mach doch. Linchen! …
Du musst doch aber auch folgen! … Gucke
doch! … Ich verschütte ja das ganze Ein-
nehmen? …
Köpfchen geschoben).
Au! Au! … Du — ziepst — mich!
Oh! .... Na so! .... Nicht
wahr? … Fest! Drück’ die Augen zu! …
Schlucke! Tüchtig! … Siehst Du? … Nicht
weinen, nicht weinen! … So! Nicht wahr?
Nu is alles wieder gut! Nu is alles vorbei!
rum und hustet gequält).
Mein armes, armes Herzchen! Der
alte, böse Husten! … So! … Nu rücken wir
blos noch ’n bischen das Kissen höher, nicht
wahr? und dann schläftst Du schön wieder ein!
Ach, Du mein
süsses Puttchen!
[14] jetzt noch näher an’s Bett gerückt, zum alten Kopelke)
Ach, Gott nein! Nu sagen Se doch blos? Muss
man da nich rein verzweifeln? Das geht nu
schon Tage lang so! Sie wacht geradezu nur
noch auf Minuten auf!
nachdenklich vor sich hin):
Hm! …
Und aus dem Doctor wird man
auch nicht mehr klug! Der sagt einem ja nichts!
Der kommt kaum noch! Und … und …
na ja, wenn wir Sie nicht noch hätten …
Jo! … na! … Wissen
Se: det kommt jo bei mir nich so druf an!
gütigend)
det verseimt mir jo weiter nich! det’s
jo man immer so in Vorbeijehn! det — ach
wat! det hat jo janischt zu sagen! det’s jo
Mumpitz!! .... Abber det, wissen Se, det mit
die Docters, verstehn Se, da hab’n Se eejentlich
wol nich so janz Unrecht! Ick … nu ja! Se
wissen ja! Ick bin man sozusagen ’n janz een-
facher Mann … Abber det kann ’k Ihn’ ver-
sichern: jeholfen hab ’k schon manchen! .....
Jott! Ick kennt jo wat bei verdienen! Wat meen’n
Se woll! Abber sehn Se … will ’k denn? Ick
… nu ja! Ick bin nu mal so!
Wissen
Se? de Hauptsach’ is jetz’: man immer scheen
warm halten! det Ibrije, verstehn Se, det Ibrije
jiebt sick denn janz von alleene! Janz von alleene!
Ick sag: man blos nich immer so ville mang der
Natur fuschen, sag ick! … Det mit die olle
Medizin da zun Beispiel …
Bitte, Herr Wendt, bitte! Treten
Sie nur ein!
Feine, bleiche Gesichtszüge, das halblange, schwarze
[15] Haar einfach hinten übergekämmt. Dunkle, peinlich
saubere Kleidung, kein Pastoralschnitt. Die Thür
hinter sich schliessend zu Frau Selicke):
Verzeihen
Sie! Ich dachte …
Hand reichend)
Ah! ’n Abend, Herr Kopelke!
Wie geht’s?
’n Abend, werther junger
Herr! Och, ick danke! Immer noch uf een langet
un een kurzet Been! … Is mich sehr anje-
nehm … is mich sehr anjenehm …
nicht auf, Wendt’s Hand zu schütteln).
Fräulein Toni wollte
doch heute etwas früher kommen?
Ja! Na —
Sie wissen ja! Wie das so is!
dem Finger drohend):
Freilein Toni? Na, wachten
Se man, Sie kleener Scheeker! … Frau Se-
licken? Ick sage: passen Se mir ja uf die beeden
jungen Leite uf!
Det is mich
doch schon lange so? … he? Sie?
Ach, lieber Gott, ja!
Na, aber Scherz bei Seite! Ich wollte ihr mal
— da sehn Sie mal! — das da zeigen!
ein grosses, zusammengeknifftes Papier aus der inneren
Brusttasche gezogen und es dem alten Kopelke über-
reicht).
Oh! … He! … Na — ick … e ..
Se meen’n, ick soll det hier — lesen, meen’n Se?
Gewiss, gewiss, Herr Kopelke!
Ich bitte Sie sogar darum!
Oh! … He! … Na, ick — bin so
frei!
Frau Selicke)
Man … e … Hab’n Se da nich wo
Ihre Brille, Frau Selicken?
[16]
Meine Brille? Ach
Gott ja! ich …
Lassen Se man, ick hab ihr schon!
sie sich auf.)
So! Na! Nu kann’t losjehn!
das Papier sorgfältig entfaltet und liest es nun,
die Arme weit von sich weg. Nach einer kleinen
Pause, über die Brille zu Wendt hinüber schielend):
Nanu?
Na?
Was denn?
Ja, ja, Frau Selicke!
Ach?
zusammengefaltet und giebt es nun wieder an Wendt
zurück. In komischem Pathos):
Nee, wissen Se!
Det kennen Se von mir nich verlangen! Dazu
jratulieren Se sick man alleene!
Na, na!
Was denn?
Was denn, Herr Kopelke?
Paster! Land-
paster! Mit’ne Bienenzucht un ’ne lange Feife!
Nee, wissen Se! Da kennen Se
sagen, wat Se wollen, verstehn Se, abber for die
Brieder sind Se ville zu schade!
Aber
Herr Kopelke?!
Ach wat!
tuch hervorgezogen und schneuzt sich.)
Na,
lassen Sie man! ’n hübsches Weihnachtsgeschenk
bleibt’s doch! Was, Frau Selicke?
Ach,
nein! ..... wahrhaftig? Also Sie sollen jetzt
wirklich Pastor werden?
[17]
Nun ja! Und … wie Sie sehn! Ich
freue mich sogar von Herzen drüber!
Ach ja! Und Sie waren ja auch
immer so fleissig! Ich habe Sie wahrhaftig
manchmal recht bedauert! Wenn ich so denke,
so die ganzen letzten Wochen, Tag und Nacht,
immer hinter den Büchern …
Ach, ich bitte Sie! Was hing aber auch
nicht alles davon ab? Alles! Alles! Geradezu
Alles! — Und dann, was ich Ihnen noch gleich
sagen muss, ich reise jetzt natürlich nicht erst
Drittfeiertag, sondern schon morgen!
Schon morgen?
Ja! Na, die Sachen sind ja schon alle so
gut wie gepackt, und … e … aber ich ver-
gesse ganz!
Sie sprachen
vorhin von Linchen?
Ick? Nu ja! Ick .. det heest .. ick ..
e …
Aber setzen Sie sich doch, Herr
Kopelke! Woll’n Se sich nicht setzen? Ich
mach’ Ihnen noch schnell ’ne Tasse Kaffee!
Hm … ja … sehn Se,
ick …
’ne Tasse
Kafffe?
die Hände reibend):
Hm! … ’ne Tasse Kafffe
is jo wat sehr wat Scheenet! Wat sehr wat
Scheenet! … Abber … Nee, Frau Selicken!
Nee! Heite nich! Det verlohnt sick nich! Wah-
haftijen Jott! Abber ick muss heite noch unje-
logen hinten in de Druckerei! … Se wissen
ja! Det mit die ollen, deemlichen Kranken-
kassen! …
Na, denn
werd’ ich wenigstens noch’n paar Kohlen unter-
legen!
Toni muss ja
[18] jeden Augenblick kommen!
Küchenthür, hinter der bald darauf Licht aufblitzt).
’n
Augenblickchen!
die Hände reibend):
Scheeniken! Scheeniken!
Aber ich darf
Ihnen doch wenigstens ’ne Cigarre anbieten?
Oh! … He! … Na! Ick bin so frei,
von Ihr jietijet Anersuchen — mbf! — Jebrauch
zumachen, werther, junger Herr! Abber .. e …
wenig zu ihm hin, Kopelke hält ihm die hohle Haud
an’s Ohr)
.. ick meen’ man! Ick beraube Ihnen!
O, ich bitte Sie!
Na, wissen Se! So’n junger Student hat
det ooch nich immer so dicke! .. Na, ick meen’ man!
Junger Student?! Oho!
Ach so!
Na! Ibrijens
bin ick darin durchaus keen Unmensch!
sich mit den Fingernägeln die Spitze von der Cigarre
und bückt sich über die Lampe).
Abber .. nee, wissen
Se!
Ick weer’ ihr
man doch lieber draussen roochen! Se nehmen
mir det doch nich iebel?
Bewahre, Herr Kopelke! Im Gegentheil!
Hier hätten Sie sie ja doch so wie so nicht
rauchen können! Selbstverständlich!
Ja, un denn — na ja! wat ick also
noch sagen wollte! … Se meen’n mit det Kind,
meen’n Se?
Ja! Ich … e … Sie können sich ja
denken, wie mich das unmöglich gleichgültig
lassen kann! … Der Arzt scheint sich ja,
wenigstens so viel ich darüber weiss, überhaupt
nicht äussern zu wollen …
[19]
herum):
Ja, wissen Se! Offen jestanden! Abber det
kann ick den Mann eejentlich janich verdenken!
Denn. Se könn’n sagen, wat Se wollen — ick bin
man sozusagen ’n janz eenfacher Mann, verstehn
Se! Abber det kann ’k Ihn’n sagen: mit det Kind
is’t retour jejangen! Schon wenn se een’n immer
so anseht, verstehn Se! — wahhaft’jen Jott, abber
so wat kann eenen durch un durch jehn!
Hm … Also Sie meinen, dass
wirklich Gefahr vorliegt?
Jott! det nu jrade! Det
will ick nu jrade nich jesagt haben! Abber, wie
det so is, verstehn Se! Et mangelt hier den
Leiten an’t Neethichste, wissen Se!
Bewegung des Geldzählens).
Die kennen ooch man
nich immer so wie se wollen!
Ach
Gott, ja! .... Na! Es wird ja mal ....
anders werden!
Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat,
wissen Se, denn mag’t ja wol noch jehn! Ja! Det
liebe Jeld! … Nehm’n Se mir mal zun Beispiel!
Ick wah ooch nich uf’n Kopp jefallen als Junge!
Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat
meen’n Se woll?! .. Abber de Umstände, wissen
Se! de Umstände! Et half nischt! Vater liess
mir Schuster weer’n! … Freilich, mit die
Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage!
Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken
rujeniren den kleenen Mann! … Sehn Se! So
bin ick eejentlich, wat man so ’ne verfehlte
Existenz nennt! Nu bin ick sozusagen allens un
janischt! … Ja! … Da bring ’k mal een’n
durch’n Prozess, da wird mal’n bisken jeschustert,
dann mal mit de Homöopathie und denn mit det
[20] Silewettenschneidern, wie det jrade so kommt,
verstehn Se! Ja! … Freilich! Se haben alle
nischt, die armen Deibels, den’n ick ....
Wat?! Sechsen schon?! Hurrjott! …
sich schnell den Shawl um)
… den’n ick jeholfen
hab’, meen’ ick! …
Hanschuh’n
hat ick ja wol zufällig keene jehabt? … Na,
abber man krepelt sick so durch!
schüttelnd):
Wah mich sehr anjenehm, werther
junger Herr, wah mich sehr anjenehm! .....
Dunnerwettstock, det wird ja die allerheechste
Eisenbahn!
Corridorthür zu, besinnt sich dann aber wieder und kehrt
um):
Na, ick kann ja denn ooch man jleich hinten
rum!
Un denn, det ick
det nich verjesse: Verjniegte Feierdage! Morjen
frieh seh ick Ihn’ doch noch?
O, danke, danke! Natürlich!
Scheeniken! Atchee!
thür auf).
’n Abend, Frau Selicken!
Was?
Sie wollen schon gehn?
zudrückt):
Na, wat meen’n Se woll? …
aufathmend im Zimmer um und tritt dann vorsichtig
an das Bett Linchens. Eine kleine Weile beobachtet
er sie, dann klingelt es plötzlich im Corridor und er
geht hastig aufmachen):
Ah, endlich!
Tuch eingeschlagenes Bündel vor sich her. — Sie ist
mittelgross, schlank, aber nicht schwächlich. Blond.
Schlichter, ein wenig ernster Gesichtsausdruck. Ein-
faches, dunkles Kleid, langer, braungelber Herbstmantel.
Schwarze, gestrickte Wollhandschuhe).
[21]
Bündel fassend):
Geben Sie!
Ach, lassen Sie … ich kann
ja …
Geben Sie doch!
Und das haben Sie
vom Alexanderplatz bis hierher getragen?
Etwas scherzhaft-wichtig):
Getragen! Ja!
Bei der …?
Nun — ja! Es war etwas unbequem bei
der Kälte!
zwischen das Kaffeezeug gelegt und tritt nun, indem sie
sich ihren Mantel aufknöpfelt, an das Bett Linchens)
Sie schläft? Ach, das arme Puttelchen!
wieder etwas zurückgetreten).
Aber … nein! Ich
will doch erst lieber .. ich habe die Kälte noch so
in den Kleidern!
ist, den Mantel abzulegen).
Danke, danke schön,
Herr Wendt! Wollen Sie so gut sein, da an
den Nagel?
und stellt sich nun an den Ofen).
Ach, ist der schön
Kleiderknagge zwischen der Korridorthür und dem
Wandschirm gehängt hat):
Wissen Sie auch, Fräulein
Toni, dass ich heute schon auf Sie gewartet habe?
Ach nein! Wirklich? Auf mich?
gegen den Tisch, ihr gegenüber gestellt, aber so,
dass das Licht der Lampe noch auf sie fällt):
Ja
Und … na? Rathen Sie mal, weshalb.
Ach, das rath’ ich ja doch nicht!
Sagen Sie’s mir lieber!
Ja? Soll ich’s sagen?
Ja!
[22]
und reicht es ihr):
Na … da! Lesen Sie mal!
Was denn?
Ofen, mit dem Papier etwas gegen die Lampe gebückt
und liest nun):
Ah! Grade heute zum heil’gen
Abend!
einen kleinen Augenblick in die Lampe. Langsam,
leise):
Ja! Das ist ja recht schön! Da können
Sie sich recht freuen!
Nicht wahr?
aufgemacht hat):
Toni? Wo bleibst Du denn so
lange?
Sopha)
Ach, Du hast wieder … Armes Mädchen!
… Wart’! Ich bring Dir gleich noch ’n bischen
heissen Kaffee!
hat, auf sie zutretend):
Mutterchen?! — Wart’ mal!
… Hier!
Eins — zwei
— drei …
Ach, Gott ja! .. Das liebe Bischen!
… das wird wieder weg sein, man weiss nicht,
wie!
Ist denn der Arzt dagewesen?
Ach, nein! Du weisst ja! Der
alte Kopelke!
So? Was sagt er denn?
Bist Du ihm nicht unten begegnet?
Er sagt …
nichts Bestimmtes!
Man wird ja aus keinem Menschen mehr klug!
Ach Gott! Ich hab’ so eine Ahnung! Du sollst
sehn: wir behalten sie nicht!
Ach Gott! Mutterchen!
einer Weile).
Ist denn der Vater noch nicht da?
Ach, der!
[23]
Und die
Jungens?
I! die wollten ’n vom Komptoir
abholen! Aber die treiben sich ja doch wieder
auf dem Markt rum, die Schlingels! Das is ja
doch die Hauptsache! Die können ’s auch nich
satt kriegen! … Na, ich will nun … Du bist
ja ganz durchfroren!
zurück).
Dann ....
dann reisen Sie nun wohl bald?
die ganze Zeit über auf den Hof hinab gesehn hatte.
Er hat sich wieder umgedreht und sieht nun, sich mit
den Händen hinten aufs Fensterbrett stützend, wieder
zu Toni hinüber):
Ja! Morgen!
Morgen schon?
Ja!
Ach, die Hand-
schuhe!
Tischchen links, in dessen Schublade sie sie hinein-
thut. Lächelnd):
Sehn Sie mal! Da hat er wieder
den Spiegel neben’s Bauer gestellt .... Der
Vogel soll denken, es is noch’n andrer da, mit
dem er sich unterhalten kann .... Der Vater
spricht mit dem Vogel, als wenn er ein Mensch
wär’!
das Papier vom Tisch wieder in seine Rocktasche):
Ja! ja! …
Hm? … Mätzchen! Mätzchen! … Or-
dentlich zärtlich ist er mit ihm! Der Vater ist
ein grosser Thierfreund!
grund zugegangen ist, sieht ihr, die Hand auf der
[24] Klinke einen Augenblick lang unentschlossen zu,
Zögernd):
Ja! Ich ....
Ach, sagen Sie doch! Wie
spät ist’s denn?
der kann doch unmöglich richtig gehn?
Etwas
nach Sechs!
Nach Sechs? Da müsste er doch nun …
nachgesehn hat, bleibt einen Augenblick in Gedanken
stehen, seufzt und geht wieder auf den Sophatisch zu.
Sie nimmt das Bündel auf den Teppich runter und knotet
es auf. Frau Selicke kommt mit dem Kaffee.)
Hier! Nu trink erst!
Kanne auf den Tisch.)
Teppich niedergekauert hat):
Ja! Gleich!
gestützt und sieht ihr zu):
Mäntel? … Da kannst
Du wieder die ganzen paar Feiertage sitzen!
Ach ja! Du hast doch auch gar nichts von
Deinem Leben!
beschäftigt):
Na! ’s ist doch wenigstens ein kleiner
Nebenverdienst!
Ach ja, ja!
Aber ein Leben auf den Strassen? Kaum
zum Durchkommen!
Das glaub ich! … Du
wirst Dich schön haben schleppen müssen mit
dem alten Bündel! Bist Du denn nich wenigstens
ein Stück mit der Pferdebahn gefahren?
Ach, Alles voll! Alles voll! Da war gar
nicht anzukommen!
[25]
Aber Du
trinkst ja gar nicht! Trink doch erst!
Ja!
ein. Ihn schlürfend, von der Tasse zu Frau Selicke
aufsehend):
Schön warm!
Bist Du der Mohr’n vorhin be-
gegnet?
Ja, auf der Treppe! Sie hielt mich an!
Sie wollte wieder mal horchen?
Nicht wahr?
Ja! … Sie fing natürlich von Linchen an!
Und, was wir diesmal für’n schlechtes Weih-
nachten durchzumachen hätten und so, na Du
weisst ja!
Nein, solche Menschen! Um was
die sich nich alles kümmern!
Na, von mir bekommt sie nichts raus!
Die mögen schön über uns schwatzen!
.... Solche Menschen! Die sollten sich doch
lieber an ihre eigene Nase fassen! Die! Die
trinkt Bier wie’n Kerl! Den richtigen Bierhusten
hat sie schon! Hast Du noch nicht gemerkt?
Na, ja! Lass doch man, Mutterchen! Lass
sie alle machen, was sie wollen! Sie geben uns
ja doch nichts dazu!
nun, die Hände unter der Tischplatte, da.)
Rück doch
mal’n bischen den Tisch! Ich möchte mir da die
Mäntel zurecht legen!
Der
Vater kann doch jetzt unmöglich mehr auf dem
Komptoir sein?
strumpf aufgenommen und sich die Brille aufgesetzt.
Vom Stuhl vor dem Bette Linchens her):
I, ich dachte
gar! … wer weiss, wo der jetzt wieder steckt!
[26]
ordnend):
Na, er wird auf dem Weihnachtsmarkt
sein und ein bischen etwas einkaufen, für Linchen!
I, jawohl doch! Und .... du
lieber Gott, was soll nicht alles von den paar
Groschen bezahlt werden! Wer weiss übrigens,
ob er diesmal so viel zu Weihnachten kriegt wie
sonst! .... Er thut wenigstens so! .... Das
heisst, auf den kann man sich ja nie verlassen!
Der sagt einem ja nie die Wahrheit! .... Andre
Männer theilen ihren Frauen alles mit und be-
rathen sich, wie’s am besten geht, aber unsereiner
wird ja für garnichts ästimirt! Der weiss ja alles
besser! … Nein, so ein trauriges Familienleben,
wie bei uns. … Pass mal auf: Der hat heute
wieder ein paar Pfennige Geld in der Tasche und
kömmt nu vor morgen früh nich nach Hause!
Na, ich dachte gar! … das wäre doch!
… Heute!
Na, Du wirst ja sehn! Vergang’ne
Nacht hat mir wieder mal von Pflaumen geträumt,
und dann kann ich jedesmal Gift darauf nehmen,
dass es Skandal giebt!
Ach Gott! darauf kann man doch aber nichts
geben!
Na, pass auf! Meine Ahnungen
trügen mich nie!
Aber wie kann man blos so abergläubisch
sein, Mutterchen!
Abergläubisch? Nein, gar nicht!
Ich bin garnicht abergläubisch! Aber es ist doch
komisch, dass es bis jetzt jedesmal eingetroffen ist!
Ach, Mutterchen!
Nein, nein! Du sollst sehn! Ich
kann mich heilig drauf verlassen!
Pass
mal auf! Pass mal auf!
[27]
Ach siehst Du, Mutterchen! Wenn Du Dich
vorher schon immer so ängstlich machst, dann
ist es ja gar kein Wunder! … Mach’s wie ich!
Lass ihn kommen! Widersprich ihm mit keinem
Worte! … Lass ihn räsonniren soviel wie er
will! Einmal muss er dann doch aufhören und
durch sein Räsonniren wird’s ja doch nicht besser.
Ach Gott ja! Eigentlich ist’s auch
wahr! Man müsste garnich drauf hören! Wenn
ich nur nich so nervös wäre! Wenn ich ihn
dann aber so sehe, in seinem Zustande, und er
kommt dann auch noch mit seinen Ungerechtig-
keiten, dann kann ich mich nich halten! …
Es is mir rein unmöglich! … Dann läuft mir
jedesmal die Galle über!
Siehst Du! Aber grade dadurch wird es
immer erst schlimm! Lass ihn schimpfen, die
Augen rollen, Fäuste machen: Du musst es gar
nicht beachten! Schliesslich thut er ja doch nichts!
… Siehst Du, Du musst mich nicht falsch ver-
stehn! aber ich glaube, Du hast ihn von Anfang
an nicht recht zu behandeln gewusst, Mutterchen!
Ja! ’s is auch wahr! … Er
hätte nur so eine recht resolute haben sollen!
Ach, nein! So meinte ich’s nicht! … Ach!
Nein! ’s is ja wirklich wahr! …
Da soll man sich nu nich empören! … Hier
liegt das arme Kind krank, man weiss nich vor
Sorgen wohin? Andre Leute freuen sich heute,
und wir … Na! Und dann soll man ihm auch
noch freundlich entgegenkommen? … Das kann
ich einfach nicht! Das kann ich nicht!! …
Aber dann würde er sicher anders
sein, wenn Du Dich ein bischen zwängst,
Mutterchen! … Er ist ja im Grunde eigentlich
gar nicht so schlimm, wie er thut!
[28]
Er hat mich die ganzen Jahre her
zu schlecht behandelt! Ich kann mich nicht über-
winden, freundlich mit ihm zu sein!
Ach ja, ja!
Tischchen links ihr Nähzeug vor, setzt sich einen
Stuhl an den Sophatisch und beginnt zu nähen.)
Willst Du heute noch nähen?
Ja, ein bischen!
Ach! Das ist nun Heiligabend!
Das sind Festtage! … So ein trauriges Weih-
nachten haben wir wirklich noch nie gehabt!
Na! Eine kleine Freude macht er Linchen
und den Jungens doch! Und wir Andern? Liebe
Zeit! …
Ach, bin ich — müde! …
Nächtelang hat man kein Auge zugethan und
mein Fuss thut auch wieder so weh....
Ja! Leg Dich ein bischen hin, Mutterchen!
Du strengst Dich überhaupt viel zu sehr an! Das
solltest Du gar nicht!
Ja, ja! Du hast eigentlich auch
recht! Ich will mich ’n bischen schlafen legen!
Ach, mein Mäuschen!
standen, hat ihr Strickzeug zusammengewickelt und
es mit der Brille auf den Tisch gelegt.)
Heute Nacht
hat man ja doch wieder keine Ruhe! Das weiss
ich schon! Ach ja! …
Kammerthür.)
Ja, und nun geht Herr Wendt auch
schon zu den Feiertagen, und eh’ man dann
wieder ’n Miether kriegt! .... Ach Gott ja! …
Na! …
und zu seufzt sie. Fernes Glockengeläute, das eine
Zeit lang während des Folgenden fortdauert. — Es
[29] klopft an Wendt’s Thür. Toni zuckt leicht zusammen.
Dann):
Herein?
Störe ich?
O nein! … Wünschen Sie etwas?
Ich? … Nein!
ihr einen Augenblick zu.)
Sie arbeiten heute noch?
Ja! ’s hilft nicht! Ich muss in den Feier-
tagen damit fertig werden!
In den Feiertagen? … Mit … mit
all den Mänteln da?
Ja! Ein tüchtiges Stück Arbeit
ist es! .. Hören Sie? Die schönen Weihnachts-
glocken!
und diesen neben den Toni’s stellt):
Ja! Die Weih-
nachtsglocken! Die Weihnachtsglocken!
Hören Sie das Glockengeläute nicht gern?
Die Berliner Glocken sind schrecklich! So
eilig! So … so … eh!
bewegung.)
Wie?
Ach! So — nervös. mein’ ich!
Nervös? Ach!
Nein! Ich höre die Glocken hier nicht
gern!
Sie wollen doch aber nun Pastor werden?
Ja!
Zu Weihnachten klingen sie immer schön,
find’ ich! … Als ich noch ganz klein war, ging
der Vater mit uns am ersten Feiertag Morgen
in die Christmette. Ganz früh. Wir wurden
dann tüchtig eingemummelt und jedes hatte ein
kleines Wachsstöckchen. Das wurde in der
Kirche angezündet, und wenn wir dann wieder
[30] nach Hause kamen, kriegten wir bescheert. Ich
muss immer daran denken, wenn ich hier zu Weih-
nachten die Glocken höre! … Freilich, so schön
klingen sie nicht, wie bei uns zu Hause!
näher das Geläute).
Ach ja! Das … damals
… damals waren sie … Weihnachten war
schöner damals! … Hm! —
hin, ohne sie anzusehen.)
Toni! Sagen Sie mal!
Wie?
Ich meine … hm! Ja! Ich musste — nur
eben wieder daran denken — dass ich nun
morgen, morgen schon von hier fortgehe!
Ja! Sie bekommen ja nun
— eine Stellung!
Eine Stellung!
Komme
nun, sozusagen, in geordnete, bürgerliche Ver-
hältnisse. Ja! Eine Landpfarre!
Auf’s Land kommen Sie?
Ja, auf’s Land! Auf’s Land!
Ach, das muss Ihnen gewiss recht angenehm
sein! Es hat Ihnen ja so wie so nicht mehr
recht hier in der Grossstadt gefallen!
Ja, man lernt hier so viel kennen! …
Aber nun! Landpastor also! … Eine lange
Pfeife, wie der Herr Kopelke sagt, eine Bienen-
züchterei und … und … hahaha!
Sie sagen das so sonderbar! Sind
Sie mit Ihrer Stellung nicht zufrieden?
Ach das … das ist ja gleichgültig!
Gleichgültig?
Ach das … Es könnte freilich — unter
Umständen — recht schön sein!
plötzlich voll an, diese bückt sich noch tiefer über ihre
[31] Arbeit.)
Aber ich wollte ja … Ich meinte …
beugt sich wieder zu ihr hin.)
Alle die Mäntel
müssen Sie nun also in den — Feiertagen nähen?
Ja! Es macht freilich so mehr
Mühe mit der Hand! Aber mit der Nähmaschine
geht’s jetzt nicht, wo Linchen krank ist.
Ja, das wird nun …
Wie meinen Sie?
Zwei Jahre haben … Sie nun … hier
gewohnt!
Aber die Handarbeit … das fortwäh-
rende Nähen muss doch Ihre Gesundheit sehr
angreifen!
Ach, ich bin nicht
schwächlich! Man muss nur Ausdauer und ein
bischen Geduld haben.
Geduld … Ja! Toni! Ich wollte Sie
nun etwas fragen! … Ich habe schon einmal
… Sie nahmen’s damals für Scherz … und
ich sah damals auch ein, dass ich noch kein
Recht hatte ..: Aber jetzt kann ich Sie ja mit
mehr Recht fragen … Jetzt wo ich in —
geordnete Verhältnisse komme! Ich meine …
wollen … wollen Sie mir auf meine — Land-
pfarre folgen?
Sie … ob ich — Ihnen …
Ja! Ob Sie mir jetzt folgen wollen?
Ach …
Sie weinen?!
Warum … Das ist — nicht Recht von
Ihnen, dass Sie wieder davon — sprechen!
Nicht Recht?! … Warum?! … Toni!
Jetzt?
[32]
Das — geht ja doch nicht! Das geht ja
doch nicht!
Das — geht nicht?!
Nein! … Ach Gott!
Aber warum denn nicht?
Ach Gott!
Es geht Toni! Jetzt geht es! ..
Wissen Sie: in diesen Tagen fand ich hier ein
Buch!
Ein … ein Buch?
Ein einfaches Büchelchen! … Zwei
Bogen gelbes Conceptpapier in ein Stück blaue
Pappe geheftet. Mit solchem weissen Zwirn da!
Jemand hatte es hier liegen lassen, aus Versehen!
Ein … das …
Ich habe darin gelesen! … Es waren
allerlei Notizen darin! Tagebuchnotizen! Selbst-
bekenntnisse, die Eine für sich gemacht hatte,
die immer so still und bescheiden ist, alles mit
sich selbst im stillen abmacht und auskämpft! …
Ach! … Warum haben Sie
darin gelesen?
zu sehen):
Ich war sehr, sehr glücklich, als ich
das Alles las!
Ach! Ich … aber ich darf doch hier
nicht fort!
Du darfst nicht?! Toni! Bist Du …
ich meine: Kannst Du’s hier — aushalten?! Bist
Du hier glücklich?!
O Gott! O Gott!
Nein! Nein! Das ist unmög-
lich. Toni! … Ich habe vorhin, drin in meinem
Zimmer, gehört, was Du mit Deiner Mutter
[33] sprachst! Ich habe mehr als zwei Jahre hier
gewohnt und alle die Scenen mit angehört, die
furchtbaren Scenen! … Ich habe Euer ganzes,
unglückliches Familienleben kennen gelernt! Zwei
Jahre lang hab’ ich das Alles gehört und ge-
sehen! Zwei Jahre lang! Und es hat mich …
Und Du! Wenn man denken muss:
zweiundzwanzig Jahre hast Du in alle dem
Elend gelebt und hast es ertragen müssen!
Zweiundzwanzig Jahre! … Herr mein Gott!
Zweiundzwanzig Jahre! …
O, der Vater ist gut
… ein bischen aufbrausend, aber … Ach
Gott!
Gut! Gut!
Nein! Nein! Du darfst nicht länger bleiben!
Du darfst nicht länger in diesem traurigen
Elend leben! Hörst Du! Du verdienst das nicht!
Du passt nicht hierher!
Aber ich …
Hast Du denn gar kein Bedürfniss nach
Glück?!
Glück?! Ich — weiss
nicht! … Ich — verstehe Sie nicht!
Ach, ich spreche da! Ich … ich meine:
hast Du denn nicht manchmal den Wunsch ge-
habt, hier wegzukommen, in ruhige, schöne Ver-
hältnisse? Wo Du nicht Tag für Tag — Herr-
gott! — Tag für Tag! all das Elend hier vor
Augen hast? Wie?
Aber …
Ich habe auch davon
etwas in dem kleinen, blauen Büchelchen gelesen!
Siehst Du? Ich kenne Dich ganz genau! Du bist
auch nur ein Mensch!
3
[34]
Ach! Warum haben Sie nur …
von neuem.)
Nein! Es ist ja hier ....
Das kann ja kein Mensch ertragen! Dein
Vater: brutal. rücksichtslos —. Deine Mutter:
krank, launisch; beide eigensinnig; keiner kann sich
überwinden, dem andern nachzugeben, ihn zu
verstehen, um … um der Kinder willen! Selber
jetzt, wo sie nun alt geworden sind, wo sie mit
den Jahren vernünftiger geworden sein müssten!
Die Kinder müssen ja dabei zu Grunde gehn!
Und das ist ihre Schuld, die sie gar nicht wieder
gut machen können! Einer schiebt sie auf den
andern! Keiner bedenkt, was draus werden soll!
… Und das nun schon lange, schrecklich lange
Jahre durch! Dabei Krankheit und Sorge …
Furchtbar! Furchtbar!! Wenn man sich in den
Gedanken versenkt … tt! … Nein, das ist
alles zu, zu schrecklich! Das sind keine ver-
nünftigen Menschen mehr, das sind … Ae! Sie
sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen.
kindischen Hass! …
nun mit grossen Schritten im Zimmer umher.)
O, wie können Sie nur so von
Vater und Mutter sprechen! Sie sind Beide so
gut! Wie können Sie das nur sagen! …
Stuhl noch näher zu ihr rückend):
O, ich … t! …
Höre doch nicht, was ich schwatze! Ich .....
Nein! Ich meine … Du kannst doch unmög-
lich hier bleiben! .. Weine doch nicht, liebe
Toni! Missversteh mich doch nicht! Ich meinte
ja nur! … Sieh mal! Du musst dich ja bei
all’ dem Elend aufreiben! Es ist unerträglich,
geradezu unerträglich, dass Du — Du! —
hier verkümmern sollst! … Und mach’ dich
[35] doch nicht stärker, als Du bist, Toni! Ich weiss
es ja, Toni! Siehst Du? Ich weiss es ja, dass
Du dich hier heraussehnst! …
O, wenn man mal … ’n bischen … unge-
duldig ist! … Das habe ich nur so — hin-
geschrieben!
Nur so …? Ach was! Das glaubst Du
ja selbst nicht, Toni! Das war ja ganz natür-
lich?! Ganz berechtigt?!
Ach, sprechen Sie doch nicht mehr davon!
… Ich bitte Sie! … Sprechen Sie nicht mehr
davon!
Siehst Du? Du hast Angst, das zu hören!
Aber doch! Grade musst Du das hören! Die
Aufopferung muss auch ihre Grenze haben! …
Zweiundzwanzig Jahre! Einen Tag nach dem
andern, Jahr aus, Jahr ein, immer dasselbe
Elend, dieselbe Noth! Das ist ja geradezu der
pure Selbstmord! Nein! Du musst hier fort!
Du hast ein Recht, an Dich und Deine Zu-
kunft zu denken! … Warum sollst Du hier
verkümmern?! Warum?! Was kann Dich dazu
verpflichten?! … Was hat Dein Vater und Deine
Mutter gethan, dass sie das verdienen?! Nun?!
… Haben Sie an Deine Zukunft gedacht?!
Ich … ich weiss nicht! … Ach, reden Sie
doch nicht so! Sagen Sie doch das nicht!
Heute, am heiligen Abend, sitzst Du
da in Angst und Bangen, wo sich Jeder freut,
und flickst Dich krank! Nein! Das ist — em-
pörend!! Das … Sieh mal, Toni! Warum sollte
es nicht gehn? Sieh mal! Thust Du ihnen denn
nicht selber einen Gefallen? Es muss ihnen doch
nur lieb sein, wenn Du „versorgt“ bist?! Wenn
sie einen „Esser wen’ger“ haben! Ist Dein Vater
nicht vielleicht grade deshalb so, weil er sich
3*
[36] über Deine Zukunft Sorge macht? Hat er Dir
nicht mehr wie einmal vorgeworfen, dass Du
noch hier bist?
O, das meint er ja nur so!
So, so!
Und dann … die Mutter! Ich kann doch
die Mutter nicht hier so allein lassen? Sie ist so
krank und schwächlich! Sie kann mich garnicht
mehr entbehren!
Ach, was das an-
betrifft! Sieh mal …
Warten Sie mal!
ihre Hand, steht auf und schleicht sich auf Spitzzehen
zum Bett hin. Einen Augenblick beobachtet sie die
Kranke, dann kehrt sie wieder zurück.)
Nein! …
Ich dachte … Linchen …
… Und
…
bricht nun seufzend zusammen):
Ach Gott ja!
auf seinem Stuhl wieder aufrichtend)
Sieh mal! Was
das anbetrifft … und … Linchen … Du meinst
Linchen? … O, sie ist ja in den letzten Tagen
… man kann doch unmöglich sagen, dass es
grade schlimmer mit ihr geworden ist! ..
Sieh mal! Wenn sie Dich nun versorgt wissen,
ist ihnen doch schon eine grosse Last genommen!
Und dann könnten wir sie ja auch unterstützen.
nicht wahr? Und wenn erst ihre äussere Lage
etwas besser ist, dann ist ja auch Vieles, Vieles
gleich ganz anders! Und dann … ja, dann
sind sie ja auch mit den Jahren — dieses Zu-
sammenleben so gewohnt geworden! Nicht wahr?
Sie würden vielleicht etwas entbehren, wenn
sie’s anders hätten auf einmal, ich meine —
versteh’ mich! — wenn sie’s ganz anders
[37] hätten! … Der Mensch gewöhnt sich ja an das
Allerunglaublichste!
Ach, nein … nein …
Toni! … Ich weiss nicht! Du hast so viele
Bedenken, so viele … Sag’s! Sag’s grade raus!
Hast Du das vielleicht — auch nur so geschrieben,
dass … dass Du … mich lieb hast? Kannst Du
mir nicht folgen, weil … Du mich … nicht
lieb hast?
Ob ich Dich …? Aber … o Gott!
Was sag’ ich! …
O, nicht wahr?
Hand)
Liebe!
Und dann, liebe Toni,
siehst Du? muss ich Dir noch etwas sagen! Ich
bin … ich weiss nicht … aber Du musst mich
recht verstehn, ich … ich bin so gut wie — todt!
Schreck unwillkürlich ein wenig von ihm ab. Hat auf-
gehört zu weinen. Wendt spricht das Folgende immer noch
in grösster Erregung wie zu sich selbst.)
Als ich zu
studiren anfing, da war ich frisch und lebendig,
voll Hoffnung! Da glaubte ich noch an meinen
Beruf! Da hatte ich noch Ziele, für die ich mich
begeisterte! … Aber das hat sich alles geändert!
… Seitdem ich hierher gekommen bin in dieses
… in die Grossstadt, mein’ ich … und all
das furchtbare Elend kennen gelernt habe,
das ganze Leben: seitdem bin ich — inner-
lich — so gut wie todt! … Ja! Das hat mir
die Augen aufgemacht! … Die Menschen sind
nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind
selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts
weiter als Thiere, raffinirte Bestien, wandelnde
[38] Triebe, die gegen einander kämpfen, sich blindlings
zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Ver-
nichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich
zurechtgeträumt haben, von Gott, Liebe und ..
eh! das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man ..
man tappt nur so hin. Man ist die reine Maschine!
Man … eh! es ist ja alles lächerlich!
hastigen Bewegung zu ihr)
Siehst Du, liebe Toni!
Deshalb kannst Du und darfst Du einfach
gar nicht „Nein“ sagen! Du bist meine einzige
Rettung! … Ich könnte ohne Dich keinen Tag
mehr leben, oder ich müsste verrückt werden,
einfach verrückt! Du … Du bist das Einzige,
woran ich nicht zweifle! Alles Andre versteh’ ich!
Alles Andre ist mir so unheimlich klar und durch-
sichtig! Aber Du … Du?! … Wenn ich Dich
so sehe. so still leidend, so geduldig, da … möcht’
ich Dich — haben!! … für Dich leben. ver-
stehst Du? Und … Alles Andre … hahaha!
… ich pfeife. pfeife drauf! … Nur Du …
Du!! …
und springt auf.)
Du! … Was … was hab’ ich
— gesprochen? Du weinst?! Mädchen! … Herr-
gott!
sehr sanft).
Ach, siehst Du! Das war ja alles
Unsinn. Thorheit! Ich weiss nicht … tt! …
Ich meinte … siehst Du? … man lernt so
viel kennen in der Welt, was einen niederdrückt,
missmuthig macht … so manchmal, mein ich!
… Nicht wahr? … Deshalb wirft man ja
aber doch die Flinte nicht gleich in’s Korn?!
… Das geht Allen so! … Ich meinte nur:
wenn zwei, so wie wir, sich zusammenthäten,
dann würd’ es ihnen leichter, das Leben zu er-
tragen! … So meint’ ich! … Ich habe da
… ich weiss nicht, wie ich das alles so hin-
geschwatzt habe! … Das ist ja alles selbst-
[39] verständlich! … Es ist ja weiter gar nichts
dabei! … Es ist ganz einfach! Weine doch
nicht mehr. mein liebes, liebes Mädchen! ....
Nein. ich … ich … Narr! … Beruhige
Dich! … Beruhige Dich doch! … Hörst Du?
… Hab’ ich Dich so erschreckt?
Nein
ich … ich bedaure Dich so!
Du — bedauerst
mich?! Mädchen!
Kannst Du denn dann aber Pastor werden?
Ach das … das ist ja eine
Form! Das ist Nebensache!
Aber wenn Du nicht glaubst, dass …
wenn Du nicht an — Gott glaubst?
An Gott glaubst! … Die Hauptsache
ist,
wir werden uns dort beide auf dem
Lande so wohl fühlen, so wohl! Wir werden so
glücklich sein! Nicht wahr?
Aber …
Wir leben dann still für uns in ruhigen,
schönen Verhältnissen! Wir werden ganz andere
Menschen sein! Und dann sollst Du sehn, wie
ich den Leuten predigen werde! Der Katechismus-
gott soll dann erst lebendig werden, lebendig! ..
Wir verstehen das Leben! Wir wissen
wie miserabel es ist, aber wir haben dann’
auch, was mit ihm versöhnt! Und das ist
besser, als alle Kanzelphrasen, wenn wir
das den Leuten mittheilen.
Aber … ich weiss nicht … wenn Du
doch nicht wirklich glaubst .....?
Kein offizieller Glaube, aber ein besserer,
lebendigerer! … Lass nur! Du sollst sehen! …
Denke Dir: Eine herrliche Gegend! Laubwald!
[40] Berge! Getreidefelder! Stilles, gesundes Land-
leben! … Unser Haus hinter der kleinen
Dorfkirche, ganz von Weinlaub umrankt, mitten
in einem grossen Obstgarten mit einem Hühner-
hof. Ringsherum eine grosse, hohe Mauer und
dadrin hausen wir, wir beide, ganz abge-
schlossen von der Welt, aber ohne Hass, und das
ist die Hauptsache! Und wenn Du mir dann
Sonntags in den Talar hilfst und ich durch den
kleinen Friedhof in die Sakristei spaziere. dann
sollst Du einmal sehen, was ich den Leuten
predigen werde! Sie sollen schon mit dem neuen
Pastor zufrieden sein! Nicht?!
gehört hat):
O, das wäre schön!
Ja! Nicht wahr?! Nicht wahr?!
Aber hier. was sollen sie denn hier anfangen?
Ach, das wird dann auch alles ganz
anders! Du sollst sehen! … Albert hat dann
ausgelernt und verdient mit zu, Walter wird ja
auch bald confirmirt und Du, Du bist dann „ver-
sorgt“: dann werden sie nicht mehr so viel Grund
haben …
Ach ja! Vielleicht! … Ach, das wäre so
schön, so schön!
Nicht wahr?!
Ja, ja! Das ginge! Vielleicht! … Dann
würde es wohl hier besser werden!
Sicher! Und dann … Vergiss doch nicht!
Dann sind wir ja auch da!
Aber Linchen! Wenn Linchen nur nicht
immer so krank wäre?!
Ach, siehst Du … sie …
sie ist ja ....
O Gott, wenn sie stirbt!
[41]
Stirbt?
Ach, wie kommst Du
nur darauf?
Ach. weisst Du! Ich
habe so wenig
Hoffnung!
Aber ich bitte Dich! Du hörst ja!
Ach ja, ja! … Sie ist das Einzige, was
Vater und Mutter haben! Sie ist ihre einzige
Freude! Wenn sie nicht noch wäre .... Siehst
Du. das ängstigt mich so! Das wäre zu schreck-
lich! Zu schrecklich!
Wenn
sie stirbt und wenn ich dann auch noch fort
wäre …
Ach nein!
Nein! Das geht ja gar nicht! Das geht ja gar
nicht! Dann wäre hier Alles noch viel, viel
schlimmer ....
Aber wie
kommst Du denn nur darauf, liebe Toni? Es
liegt ja gar kein — Grund vor! Nein! Wir
nehmen sie dann später zu uns, dass sie sich in
der gesunden, schönen Luft ganz erholen kann!
Quäle Dich doch nicht immer so! Es wird und
muss jetzt alles besser werden! Ich hab’s so im
Gefühl: wenn alles am trostlosesten aussieht,
wenn es gar nicht mehr schlimmer werden kann,
dann muss sich alles zum Guten wenden! Nein!
Du wirst glücklich werden, wir alle! Du wirst
dort auf dem Lande wieder aufleben! Es wird
eine ganz andere Welt sein! … Du siehst ja
alles nur so schwarz an, weil Du nie, nie in
Deinem ganzen Leben etwas anderes als die Noth
hier kennen gelernt hast!
Ach ja! Das ist vielleicht auch
wahr!
Also, nicht wahr,
Toni?
[42]
Ja, ja! — Wenn …
Still! Still!
O, nun wird die
Welt so schön werden! So schön!
Schön? … Ach Gott ja!
Ja! Schön! … Trotz alledem!
Lieber!
Fru
Pastern!
Ach Du!
[[43]]
Zweiter Aufzug.
[[44]][[45]]
Zweiter Aufzug.
fällt voll das Mondlicht. Frau Selicke sitzt wieder neben
dem Bett und strickt, Toni arbeitet am Sophatisch, auf welchem
hinter dem grünen Schirm die Lampe brennt, Albert sitzt
neben ihr, liest, blättert und gähnt ab und zu, Walter steht
vor’m Fenster, die Arme auf das Fensterbrett gestützt.)
Mama!
Er kömmt immer noch nich!
Ach ja! …
Na, heute können wir uns wieder mal auf was
gefasst machen.
Mamchen! Biste wieder gut mit mir? …
Ja? … Mamchen!
Ja! … Ja! … Wenn Du nur
nicht immer so ungezogen wärst!
Ach Mamchen!
Ja! … Ja! … ’s is schon
gut! .... Lass mich nur!
Sag, Mamchen!
Biste nu aber auch wirklich ganz gut mit mir?
Na ja! Ja,
Du Schlingel!
Armes Mamchen!
sich dann wieder vor das Fenster hin. Nach einer
kleinen Pause, während welcher Albert sich zurück-
gelehnt, die Arme gereckt [und] laut gegähnt hat.)
Du,
[46] Albert! Au, kuck mal! Drüben bei Krügers
brennt noch der Weihnachtsbaum!
Hände in den Taschen, zum Fenster getreten.):
Ach
wo, Du Peter! Is ja man ’n Licht in der Küche!
Wo soll denn jetzt noch ’n Weihnachtsbaum
brennen?
Halt doch mal! Horch
mal! Ging — da nich die — Hausthür?! …
Nee! Ach, nu
kann man sich wieder nich hinlegen!
Leg’ Dich doch schlafen! Das
wehrt Dir doch Niemand!
Ach! …
Du, kuck mal, Albert! Lauter goldne Flinkerchen
hier auf’m Schnee! Wah? Das sieht hübsch aus!
Ja, ja!
Ob e’ was mitbringt, Mamchen? ’n Baum?
Werden ja sehn! …
Hach ja!
Ach ja! Ich glaube! … ’n Baum hab’n
wir doch jedes Jahr gehabt? Morgen früh könn’n
wir’n ja immer noch anputzen! Wah, Mamchen?
Un wenn wir’n dann Abends anbrennen …
wah?
Ja, ja!
Na, un’ Linchen bringt er doch auch
was mit? Linchen?
Na! Er wird wohl!
Maschen, seufzt.)
zugetreten):
Nee, so’ne Unvernunft von dem!
einem Blick nach der Uhr.)
’s is nu halb Zwei!
[47]
Sprich mal nich so vom
Vater!
chelnd um die Taille fassend):
Ach was, Tönchen!
Sei man still! … ’s is doch wahr! Näh mir
lieber nächstens mal ’n paar Stege an die Hosen!
He? …
Ach, nich doch,
Albert! Red’ Walter zu und geht beide zu Bett!
Ja doch!
Stör’ uns nich immer und leg’ Dich lieber hin
für dein unnützes Schmökern da!
Na, was soll man denn machen!
Statt den ganzen Tag, wenn Du
frei hast, hier umherzuliegen, könntest Du noch ’n
bischen Sprachen lernen! Das braucht ’n Kauf-
mann heutzutage! Aber Du hast nich ’n bischen
Lerntrieb!
Ach was, Mamchen!
Na, mach’ doch, was Du willst!
Mir kann’s egal sein! … Mir wird so wie so
bald alles egal sein! … Ueberhaupt! Nenn’
mich nich immer Mamchen! Was denkste Dir
denn eigentlich, Du Gelbschnabel?!
Na, liebe Zeit! Was wollt Ihr denn nur!
Ich thu’ doch meine Schuldigkeit im Geschäft!
Da solltest Du erst mal andre junge Kaufleute
sehn!
Na ja ja! Is schon gut! Wissen
ja! Lass uns nur zufrieden!
Ach, nu kömmt er immer noch nich!
Leg Dich zu Bett, Walter! Leg
Dich zu Bett!
Ach nee! Ich kann ja doch nich schlafen,
Mutterchen, wenn Vater nich da is!
[48]
O, und nun auch noch die
Schmerzen in meinem Fusse! … Ich könnte
laut aufschrei’n! … Weiter nichts wie Elend
und Sorge und Aufregung hat man! Das ist
das ganze bischen Leben! Wenn einen der liebe
Gott doch endlich mal erlösen wollte!
und ab. Die Hände in den Taschen seines Jaquetts):
Nein. das is auch eine Wirthschaft hier! Wenn
man doch erst mal … he! … Sitzt man bis
spät in die Nacht ’nein und wagt kein Auge
zuzuthun und am andern Tag is man dann
janz kaputt!
Ach, geh schlafen und predige uns
nich auch noch was vor! … Walter, leg Dich
nun hin!
Ach nein, Mamachen! Ich warte noch!
Na, warte man …
Ae was! Ich leg’ mich hin!
Das machste gescheidt!
Jute Nacht!
Gute Nacht!
von diesem eine Streichholzschachtel, klappert damit
und verschwindet in der Kammer, nachdem er bereits
auf der Schwelle ein Zündhölzchen angestrichen und
in das Dunkel hineingeleuchtet hat).
Walter!
Ach, Mamachen!
Ach was! Dummer Junge! ....
Dir thut er ja nichts!
O ja!
Ach, Dummheit! … Leg’ Dich
hin! Geh! …
[49]
Au, unten kommt einer!
Kommt’e’?!
Is ’n andrer!
Nein, so ein Mann! So ein Mann!
… Das kann er doch wirklich nich verant-
worten! … Walter! Geh’ nun!
gestanden, an’s Fenster getreten und nimmt nun Walter
an die Hand):
Komm, Walterchen!
ihr empor):
Ach, lass mich doch! Ich hab’ ja
solche Angst! … Ich wart’ hier lieber am
Fenster!
Dann geh’ ich auch nicht schlafen! Na?
Ach! —
nach dem Fenster zu los.)
Komm!
Gleich!
Jetzt!
Während die Thür aufgeht, sieht man noch das Licht
brennen, das Albert sich angesteckt hat. Toni bückt
sich, küsst Walter und drückt dann die Thür wieder
zu. „Gute Nacht.“
Ach, lass doch die Thür ’n bischen auf!
Na ja! … So! …
man durch den Spalt das Licht, dann verlischt es.
Toni macht sich still wieder an ihre Arbeit.)
Nein! So ein komischer Junge!
Sich so abzuängstigen! … Ueber was man sich
nich alles ärgern muss? … Nein! … Ach!
Na — ich sage auch schon! …
Ma—ma—chen! …
4
[50]
Ach, da
biste ja wieder, meine Kleine?
Warum — kommt’n Papa noch nicht?
Sei nur ruhig! … Weine nicht!
… Rege Dich nicht auf, mein Herzchen! Er
kommt nun bald! … Ach Gott, ja!
Er ist wieder — betrunken! Nich
wahr?
Ach nein! … Nein doch, mein
Herzchen! … Er is nur einen Weg gegangen!
… Er bringt Dir was mit!
Ach nein! … Er will Dich nachher
wieder schlagen!
Ach, aber meine Kleine! …
Weine doch nur nicht, mein Linchen! … Gott,
nein! … Siehste, Du darfst dich ja nich auf-
regen?! Du wirst ja sonst nich gesund? …
Nein, mein Mäuschen! Er hat nur ein’n Weg
gehabt!
Bringt er mir wieder Törtchen mit?
Ja.
Ach Mamachen! Und ’ne neue Puppe
möcht’ ich auch so gerne haben!
Ja, die kriegst Du! Und auch
wieder Wein!
Solchen süssen?
Ja.
Aber weisst Du, Ma—machen ....
es muss eine Puppe sein, die … richtig sprechen
kann …
Ja! So eine!
[51]
Auch ein’n … Wagen …?
Ja?
Au! Denn … fahr’n wir die Puppe
immer spazier’n …! Nich wahr. Tönchen?
Ja, liebes Kind!
Ja, meine Kleine! Dann gehst
Du wieder mit Tönchen spazier’n!
Au ja! … Bald — Ma—machen?
Ja! Bald! Ganz bald!
Morgen!
Morgen? Aber, liebes Kind! Du
musst Dich doch erst noch ’n bischen erholen?
.. Nich wahr? .. Aber diese Woche vielleicht!
Bestimmt?
Ja! … Bestimmt!
Ma—machen … Ja? Ich — werde
doch … wieder gesund?
Ja, gewiss mein Mäuschen! …
Freilich!
Ma—machen? …
Hm?
Kranksein is hübsch!
Ach Gott! .. Meine arme, dumme
Kleine! … Warum denn?
zu Linchen hin.)
Weil .. weil Du dann .. immer …
so … gut bist …
O, aber mein Linchen! … Bin
ich denn sonst nicht gut?
Liebes Mamachen?
Was denn, meine Kleine?
4*
[52]
Mamachen?
Na?
Nich wahr .... Ma—machen? …
Du — zankst nich mehr … mit mir .. wenn
ich … erst wieder … gesund … bin …
Ach meine …
Hast Du … mich … lieb. Ma—
machen?
Ach, meine Kleine!
Bringt Papa … ein’ Baum mit …
und Lichter?
Ja, Liebchen! Und morgen kommt
der Weihnachtsmann!
Ei! … Rück mich doch ’n bischen
in die Höh’, Ma—machen …
Willst Du denn nicht wieder ein-
schlafen, meine Kleine?
Ach, ich … bin …
gar nich … müde …
Ich .. bin ..
ganz … wohl … Ma—ma—chen!
Ach, der alte, böse Husten! …
Na so?
Erzähl’ mir … doch … ’n bischen
was!
Ach, liebes Kind! … Ich weiss
nichts!
Ma—machen! … Krieg’ ich auch ’n
neues Kleid … wenn ich … wieder …
gesund bin?
Ja! — Aber sprich doch nich so
viel, mein Liebchen! Es strengt Dich so an? …
Komm!
Komm! Schlafe! Schlafe, mein liebes Täubchen!
[53]
Lieschen Ehlers sagt immer in der
Schule zu mir: Ach pfui … Du — hast so’n
… schlechtes … Kleid!
Ja! Tönchen soll Dir ein ganz
neues machen! — Komm! — Schlafe, meine
Kleine!
Au! Wart’ doch — mal, Ma—machen!
Meine — Hand …
O, hab’ ich Dir weh gethan, mein
Püppchen?
Lieschen Ehlers is dumm! Nich wahr
… Ma—mach’n?
Ja! Richtig dumm! …
Kopf auf dem Kissen.)
Und darf ich —
auch wieder — mit Tönchen zur — Tante, auf’s
Land? … wenn ich … wieder gesund …
bin? … Ja? … Weisste, dann … suchen
wir immer .. die Eier .. in der Scheune .. Tante
und ich .. Ma—mach’n! … Ma—mach’n! Onkel
sagt immer … zu mir: „Giv mi — mol ’n —
Kuss, min lütt Deern!“ …
Mama!
’n Kuss! … Aber — er hat — so’n Stachelbart! ..
Das kratzt immer .. Weisste, ich hab’n immer —
seine — lange Pfeife gestopft … und dann —
musst’ ich — immer essen, aber auch — immer
essen! … Sie — nudeln ein’ ordentlich! …
Au! Ich — konnte manchmal — gar nich —
mehr! … Die alte — Grossmutter — sagt
immer … „Fat tau. Kind! — Fat — drist
— tau!“ — Na, die — haben’s ja! — Nich
wahr — Ma—mach’n? — Sie schlachten — jedes
Jahr — vier Schweine! … Vier Schweine!
[54] … Ma—mach’n? Horch mal!
Ein-
mal — hat mir — Cousin Otto … den Schweins-
schwanz — hinten an’n … Zopf gebunden …
un — ich hab’s erst — gar nich gemerkt! …
Cousin Otto — macht immer — solche Dumm-
heiten! — Nich? — Aber — er is — gut! —
Er hat mir immer — Weintrauben — aus dem
Garten — gebracht … Ja! …
Kucke, meine Kleine! Du wirst
ja ganz munter? Aber sprich lieber nich so viel,
mein Häschen!
überrascht aufgehorcht und ist nun auch an das Bett
herangetreten):
Wie unser Linchen erzählt! Siehst
Du. Mama? Nun wird sie bald, bald gesund
sein!
Na ja! … Das —
werd’ ich auch!
Schön! Schön, mein gutes Herzchen!
sieht zärtlich auf Linchen herab.)
Aber, hörst
Du? Erzähl’ lieber nicht so viel, mein Linchen!
Nein … wart doch
mal … Ma—machen! .. Hör doch mal! …
Un Cousine Anna … Die hat Kleider! …
Kleider hat die! … Na. aber auch … so
viele! … Sonntags … weisst Du … wenn
wir in die Kirche …
Kind! Kind!
Ach … das … schadet nichts …
Ma—mach’n! … So’n — bischen — Husten
noch! … Das — hört — morgen wieder auf —
Nich? .. Sonntags in der Kirche .. ein blaues,
[55] ein — ganz — himmelblaues .. mit .. weissen
Spitzen! … Fein! Mamachen! … Na …
aber auch alle, alle — haben — auf uns —
gekuckt! …
Ach,
wie hübsch — is es da — Mamachen! ....
Immer — so still! … Aber — viel Fliegen! …
Nich wahr, Mamachen? … Wenn es — recht
heiss is … Onkel zankt nich’n — einziges
Mal — mit Tante! … Kein Schimpfwort! …
Und Anna und Otto — sind auch immer — so
artig!
Liebes Herzchen! Du wirst ja
ganz heiser!
Weisste … sie wollten — mich da-
behalten! … Sie wollten mich — gar nich —
wieder fortlassen! … Tante sagte: ich sollte
nu — ihre Tochter werden! … Papa — soll
sich’s .. überlegen! ..
Gut hätt’
ich’s da! … Nich, Mamachen? …
haft, sich steigernd):
Aber Du — und Papa —
sollen mich — dann immer — besuchen! …
Aber — ich ziehe nich hin, Mamachen! ....
Nich? … Ich ziehe nich hin! … Ich bleibe
— hier!
Uh! Dein Händchen brennt ja wie
Feuer, mein liebes Puttchen! … So! … So!
… Nich wahr, mein Herzchen?
Ach, Mamachen!
Der schöne, schöne Mondschein!
Ja?
Wer hat die schönsten Schäfchen,
Die hat der gold’ne Mond …
ihr Nähzeug sinken.)
[56]
Ach! … aah! … aah! …
Mein armes Herzchen! Mein
armes Herzchen!
erschöpft.)
Ma—mach’n!
Hm?
Ach! — Ich … möchte .. aufstehn!
Aber Kind!
Es — is — so — langweilig im Bette!
Habe nur Geduld, meine Kleine!
Morgen oder übermorgen wollen wir mal sehn!
Dann kannst Du wohl ’raus!
Aber auch ganz gewiss!
Ja!
Ich will auch — nie wieder un-
artig sein — Mamachen … wenn ich wieder
— gesund bin! … Ich gehe dann — alle
Wege! …
Ja, ja, mein Liebchen! Aber nich
wahr? Nun schläfst Du auch wieder.
Ach ja .. ja ..
Sie schläft
wieder! … Ach, mein Fuss! Mein Fuss! …
Mama! Das geht einem
ja durch Mark und Bein!
Na wart’ nur! … Du solltst mal
erst die Schmerzen haben! … O Gott! Was
hat man nur vom Leben! …
Ach, nu fasst Du das
wieder so auf! … So meint’ ich’s ja gar nich!
[57]
Hörst Du denn immer noch nichts,
Toni?
Nein!
Ach Gott. nein! So ein Mann!
Nicht ein bischen Rücksicht! … Das ist ihm
hier alles egal, alles egal! … So ein alter
Mann! … Er sollte sich doch nu schämen!
… Nein, wahrhaftig! Ich hab’ auch nich ’n
bischen Liebe mehr zu ihm! Aber auch nich ’n
bischen! … Für mich is er so gut, wie todt!
… Ach ja! Ich kann wohl sagen: mir ist alles
so gleichgültig! Wenn das arme Würmchen nich
noch wär’! … Jahraus. jahrein dasselbe Elend!
… Ach, ich kann wohl sagen: ich habe mein
Leben recht satt! … Is gar kein Wunder,
wenn man gegen alles abstumpft! … Wie gut
hätten wir’s haben können! … Wie leben
andre Leute in unsrem Stande! Wenn man so
nimmt! Mohr’s! … Der Mann is ’n einfacher
Handwerker gewesen und hat jetzt sein schönes
Haus! Und die Wirthschaft! Was haben die
Leute für ’ne Wirthschaft! … Na. un bei uns?
… Un der will nun ’n gebildeter Mann sein!
… Nein, wie das bei uns noch werden soll?
… Und an allem bin ich Schuld! … Ich
verzieh’ die Kinder! Ich vernachlässige die
Wirthschaft! Alles geht auf mich! … Und
da sollen die Kinder noch Respekt vor einem
haben! … Ach Gott, nu sitzt man wieder
hier und zittert und bebt! … Und wenn man
nur nicht dabei so hinfällig wär’! …
Mutterchen!
Was! …
Mutterchen! Kommt er denn immer noch
nich?!
[58]
Ach, Du?! — Ich denke. Du bist
schon lange eingeschlafen? … Biste denn nur
nich gescheidt, Junge?! … Mach mal gleich,
dass Du wieder in’s Bett kommst! Du willst
Dich wohl erkälten?! Was?!
Ach, ich habe ja solche grosse Angst!
Nein, so was! … Leg Dich mal
gleich hin!
Ei. Du lieber Gott! Nein! … In Schulden sitzt
man bis über beide Ohren! … Nichts kann
man anschaffen! … Kaum. dass man das liebe
bischen Brot hat! … Nein. das kann Euer
Vater wirklich vor Gott nich verantworten! …
Un dabei macht er sich selber ganz kaputt! …
Seine Hände fangen schon ordentlich an zu
zittern! Haste noch nich gemerkt?
wortet nicht.)
Du armes Thier! Du wirst gewiss
auch schön müde sein! … Ach nein, so ein
Leben! So ein Leben! … Hm! Womöglich
is’m was passirt?! … Er hat vielleicht Streit
gehabt! Er is ja so unvernünftig, wie ’n kleines
Kind! … Ae! Ich sage auch! Das ganze Leben
is …
Händchen.)
Mein armes Würmchen! Das arme.
magre Händchen! … Ach Gott, ja! Du sollst
sehn, wir behalten sie nicht!
Ach, Mutterchen!
Horch mal! … Poltert’s nich
auf der Treppe?!
Ach, wohl nur die Katze!
Ach Gott, nein!
[59] geht schwerfällig auf das Fenster zu.)
Wunder-
hübsch draussen! … Aber der Himmel bezieht
sich wieder, wir bekommen andres Wetter! …
Ich spür’s an meinem Fuss! … Nein, noch
nichts zu sehn! Ach ja!
Ich bin todtmüde! Wie zerschlagen!
Da kommt wer!
Ach Gott!
Er ist es! … Endlich!
Ach! — Ach! — Mein Herz! —
Mein Herz! Die Angst drückt’s mir ab!
Mutterchen! Kommt er?!
Still! Schlaf!
Er ist auf der Treppe! — Hinten!
auf Frau Selicke zu getreten.)
Ich renne fort! … Ach! Wohin?
Sei ruhig, Mutterchen!
Ach, meine Angst! Meine Angst!
… Pass auf! … Es giebt ’n Unglück! Das
arme Kind! …
Beruhige Dich doch. Mutterchen!
Er ist ja gar nicht so schlimm, wie er immer
thut!
Ach. trotzdem! … Meine Nerven
sind ja so schwach! Alles nimmt mich so mit!
Der Vater … Nein! ’s is wahr .. hach!
Mich schwindelt! … Mir .. is
.... zum Umkomm’n!
Horch! … Er kommt heut wieder hinten rum!
Ach, mein Herz! .. Mein Herz! .. Fühl mal!
Mutterchen! Mutterchen!
Es pumpert gegen die Küchenthür!
[60]
Ach Gott, ach Gott! Is der
schwer! … Ruhig, Walter! Sei still, mein
Junge! … Thu’ als ob Du schläfst! … Toni,
mach auf!
Ja! Geh so lang’ vorn raus, Mutterchen!
Auf alle Fälle!
Lampe. Frau Selicke steht einen Augenblick nach
der Küche hin lauschend. Zittert. Presst beide
Hände aufs Herz. Geht dann auf die Flurthür zu.
— Es poltert in der Küche. Schwere Schritte. Eine
tiefe Bassstimme. Lustiges Lachen. — Frau Selicke
verschwindet schnell im Flur. Die Küchenthür wird
aufgestossen. Noch hinter der Scene die Stimme
Selicke’s: „Na? .. Tönchen .. Tööönchen ..“)
blicke nur vom Mondlicht und von dem Licht der
Lampe, das aus der Küche in die Stube fällt, hell
ist. Selicke: ein grosser, breitschultriger Mann mit
schwarzgrauem Vollbart. Schwarzer Sonntagsanzug
unter dem offenstehenden Ueberrock. Er schleift
einen kleinen Christbaum hinter sich her; aus den
Taschen sieht Papier von Packeten und Düten vor.
Unter den Arm hat er eine grosse, weisse Düte ge-
quetscht. Er ist angetrunken. Taumelt aber nur
sehr wenig und spricht alles deutlich, nur etwas lang-
sam und schwerfällig. Sagt in sehr guter Laune):
„Na?! … Habt Ihr wieder kein Licht, Ihr
Tausendsakramenter, Ihr? … He? …
fortwährend leise vor sich hin, nickt mit dem
Kopf und macht ein pfiffiges Gesicht, als wenn er
eine Ueberraschung vor hätte. Toni kommt ihm mit
der Lampe nach. Setzt sie auf den Sophatisch.)
Huaach! … Ne! Wird man — müde .. wenn
man so auf dem Weihnachtsmarkt rumläuft? …
seiner Nähe steht.)
… ’n hübscher Baum —
hbf! — hä? … Holt man morgen früh gleich
[61] die — hb! — Hütsche vom Boden! — Da!
Nimm ihn hin! —
scherzhaft, als wenn er sie erschrecken wollte. Sie
lächelt gezwungen und stellt den Baum bei Seite. Er
lacht, wendet sich dann zum Tische und fängt an
seine Taschen auszupacken; singt dabei: „Nicht
Ross’, nicht Reisige …“ sich unterbrechend):
Wo sind denn … die Jungens?
Sie schlafen schon!
Wie — hb! — Wie spät is denn —
eigentlich?
Zwei.
Was — Kuckuck!
Zwei?! —
an: „Nicht Ross’, nicht Reisige“. Er nimmt aus
einer Düte zwei Pfannkuchen, geht damit auf die
Kammer zu und ruft mit gedämpfter Stimme):
He!
Walter! — Walter! — Willste noch ’n Pfann-
kuchen?
Na?!
Ja!
Da! Fang!
Walters Bett hin und lacht.)
Na. Grosser! Du
auch?
Eh! Frisst ’n je
doch! Da!
und geht dann vergnügt, leise vor sich hinpfeifend,
zum Tisch zurück.)
Ja, ja! Die Jungens!
die solange am Tisch gestanden, hat abwechselnd ihn
beobachtet und zur Flurthür hingesehn. Er kramt
wieder mit den Sachen. Holt das Portemonnaie vor,
klappert mit dem Gelde. Legt ein Goldstück auf den
Tisch.)
Hier! … Da können wir beide …
morgen früh noch … Einiges einkaufen …
gehn! Die Jungens könn’n dann ’n … Baum
putzen … und am Abend … bescheer’n wir!
… Na! Was machst’ denn für’n Gesicht?!
Ich? … O, gar nicht, Vaterchen!
[62]
Ae! Red’ nich! … Das
heisst: Kommste wieder … so spät, he? …
Ja. — ja! Mein Töchterchen! .. Dein Vater darf
sich wohl nicht mal’n Töppchen gönn’n! …
Was?! … Ae, geh weg! Du altes, dummes
Fraunzimmer! … Ja! Ich möcht’ mal sehn …
wenn Euer Vater … nicht wär’! … Weisste,
mein’ Tochter? … Mir geht viel im Kopfe
rum! … Ich sorge mich! — Euretwegen! … Ja,
ja! Wenn ich Dich so sehe! … Wie sind
andre Mädchen in Deinem Alter! —
durch den Thürspalt).
Du liegst Dein’m Vater immer noch — auf’m
Halse! … Ja, ja! … Ae! Du! … Geh
weg! … Ich mag Dich nich mehr — sehn! …
Rocke herumzerrt, um ihn auszuziehen.)
Ae! Is
das — ’ne Hitze? …
lich zu sein. Selicke brummt missgelaunt vor sich
hin):
Mach’ dass Du wegkömmst! … Ich —
brauch’ Dich nicht!
streift etwas die Wand. Endlich hat sie mit zitternden
Händen ihm den Ueberrock und dann auch den Rock
abgestreift und beides an die Knagge neben der Corridor-
thür gehängt. Selicke steht nun in Hemdärmeln da.
Streicht sich über die Arme und schlägt sich dann.
vor sich hin kichernd, mit der Faust auf seine breite,
gewölbte Brust):
Ae! … Ja? Siehste? …
Dein Vater is noch’n Kerl! …
Was
meinste, mein’ Tochter! … Z—zerdrück’n könnt’
ich Dich mit meinen Händen! .. Z—zerdrücken!
.. Das wär’ am Ende auch — das Beste! …
Ich häng’
Euch — alle auf! Alle! .. Un dann — schiess
ich mich — todt! …
[63] nach der Flurthür zu. — Selicke geht auf die Kammer-
thür zu. Man hört Walter in der Kammer weinen).
Na, was — haste denn, dummer Junge!
schwerfälligen Schritten, ein wenig wankend, in die
Kammer. Toni öffnet die Flurthür halb. Frau Selicke
steckt den Kopf in’s Zimmer).
So’n Kerl! So’n Kerl!
Stille, Mutterchen! Stille! .. Um Gottes-
willen!
Das Kind, das arme Kind!
Komm, mein Sohn! ..
Dein Vater hat Dich lieb! .. Sehr. sehr lieb! …
Ja, ja, mein Junge! … Er hat auch gesorgt,
dass Du was zu Weihnachten kriegst! … Ja,
wer sollte für Dich sorgen, wenn Dein Vater —
nich wär’! … Na, weine doch nicht! …
Was — weinste denn? … Was?! Ae! Sei
nich so dumm! … Dummer Junge!
Zimmer, mit Toni nach der Kammer hinhorchend):
Ach Gott, nun weckt er wieder die armen Kinder,
der Kerl!
Geh wieder zurück, Mutterchen!
Um Gotteswillen!
Ja, ich habe Euch —
hbf! — doch — lieb! … Alle! .. Ja, ja? …
Na? Wo ist denn Deine Mutter? — Hä?
Ach Gott,
ach Gott!
Geh wieder zurück, Mutterchen!
He! Alte! …
Wieder — fortgehumpelt! … Na, humple, humple
nur hin! …
…
„Ach, die — arme Frau!“ … „Was die —
für’n Mann hat!“ … „Ae! Die hat’s mal schlecht!“
[64]
Geh zur Thüre,
Mutterchen! dass Du so lange raus kannst,
bis er schläft!
Aber, das Kind! Das Kind! …
Ich kann doch nich …
Lass nur! Ich will schon sehn! …
Frau Selicke sanft noch mehr zurück.)
Armes
Mutterchen!
Die Alte ist Schuld, dass
Dein Vater so spät nach Hause kommt, mein
Sohn! … O, das ist ein Unglück! Ein rechtes
Unglück! … Und der alte, grosse Schlingel
da? .. Hui! hbf! … Das — Schnarche nur!
Aus Dir wird nichts, mein Sohn! Gar nichts! …
Huste nich! … Dummer Junge!! … Was?!!
… Du willst …
rück, schliesst die Thür):
Aeh! Da biste ja, mein
süsses Weibchen!
Unterwegs macht er aber Halt.)
Hm? Mein P—
Putt … hbf! … P — Puttchen? … Das
arme Kind! … Das arme Kind!
die Düte vom Tisch und geht mit ihr auf das Bett
zu. Walter lugt verstohlen um den Thürpfosten. Man
hört, dass jetzt auch Albert wach geworden ist. —
Selicke bückt sich ein wenig über das Bett. — Leise.)
M— Mäuschen! … Sch—läfste, mein armes —
Herzchen? … Sst! … Sie schläft, die —
kleine Tochter!
Vater!
Ich habe Dir — was mitgebracht? …
K—Kuchen, Kind? — K—Kuchen?
Vater! Sie wird ja wach!
W .. Was willst Du? Hä?
[65]
Sie ist ja so krank!
„Sie ist so krank!“ …
Ae! Hab’ Dich doch, alte Suse! — „Sie ist so
krank!“ .. „Piep, piep, piep!“ … „Ach, Herr
Jemine!“ … Das arme Mädchen! Wie die sich
vor ihrem Vater ängstigen muss! — Mach, dass
Du wegkommst! … Mag Dich nich sehn!
letzten Worte zornig, bedrohend. Die Flurthür ist ein
wenig aufgegangen. Frau Selicke schreit auf).
Aah! … Sieh mal! .. Da steckste, mein süsses
Lamm?
Flurthür zu. Draussen wird hastig die äussere Flur-
thür aufgerissen. Es poltert die Treppe hinunter. —
Selicke öffnet die Thür.)
Na, so ’ne Komödie! …
Kuckt, wie die Alte rennen kann
Entrée)
mit ihrem schlimmen Fusse! … Ne! …
Hähähä! … Wie se humpeln kann! .. Hopp,
hopp, hopp! … Wie der Wind! … Haste
nich gesehn! … Wie’n Schnelllöfer! …
schüttelt dann aber plötzlich die Faust nach dem Flur,
ruft unterdrückt)
Du, altes Th. .. Du willst ’ne
Mutter sein?! … Ach, Du! — Du! — Du! …
Unglücklich hast Du mich gemacht! Unglücklich!
…
Na, Du? … „Sie ist so krank!“ … Ae!
Weg! … Lass mich vorbei!
Bett und will sich drüber bücken.)
Vater! Lass jetzt das Kind! —
Waaas?!!
… Waaas?!! Du — willst — Dich — an
Deinem Vater — vergreifen?! Waaas?!! …
I, nu seht doch mal!
zurückgetreten und lehnt an der Wand. Regungslos.
Hände zusammengekrampft. Sie sieht ihm starr in’s
Gesicht. Ihre Lippen zucken. Die Thränen laufen
ihr über die Backen.)
5
[66]
Pfui! Schäm’ Dich! … Du bist betrunken!
I! Seht doch! … Das liebe Töchterchen! …
O, Du bist ja ein — reizendes Wesen!
noch näher auf sie zu.)
Vaterchen! Liebes
Vaterchen!
Na! Da — heult einer und da … B—bin ich
denn — der reine — Tyrann?!
weg.)
Hm! … Brr! … So ’n Sausoff! …
legt den Kopf auf die Arme. Eine Weile ist es still.
Toni beobachtet ihn und will Frau Selicke holen.
Selicke scheint einzuschlafen … Nach einer Weile
richtet er aber den Kopf in die Höhe.)
So ’n
Weib! … So ’n Weib!
So
geht man nun unter! …
vor’s Gesicht. Bebt vor Schluchzen.)
„Ach, mein
Fuss!“ — „Ach, mein Fuss!“ — Weiter weisste
nichts! … Immer ich — ich — ich! — Ich
brauchte Dich nicht zu heirathen! — ’s war
mein guter Wille! — Zu dumm war ich! Zu
dumm! — Du alte … Ae! Du! — „Wir sind
so arm!“ — „Wir haben kaum’s liebe Brot!“
— „Nichts in die Wirthschaft!“ — Wer ist
denn Schuld?! — Wie kannst Du mir das sagen!
— Verdien’ Dir was, dann haste was! … Ja!
Fortrennen! das kannste! — Den Leuten was
vormachen! Ja! Du armseliges Weib! … Ae!
— Du bist ja — zu dumm! — Zu dumm!
So ein — Unglück! — Oh! …
still. Toni will schon zur Flurthür. Fängt wieder an.)
„Wir müssen uns vor jedem schäm’n!“ — Hä!
Du! — Ich hatte mir das anders vorgestellt! —
Ja, ja! — Eine Ehe ist mehr! — Ae, Du! —
Was weisst Du. was eine Ehe ist! — Du! —
[67] Wie sind — andre Frauen! — Sieh sie Dir mal
an! — Aus — Nichts muss ’ne Hausfrau was
machen können! Aber alles: ich! — Alles
der Mann! — Ae! Sieh zu, wie Du uns durch-
schleppst! — Und die — Kinder! — Die armen,
armen Kinder! — O Gott, was soll aus den’n
werden! — Verzogen sind sie, die lieben Söhnchen!
— Und Du. Toni! — Du! — Du wirst akurat
wie Deine Mutter! Ja. ja? … Ich habe Dich
lieb gehabt, aber Du hast mich nicht lieb ge-
habt! — Du bist niedrig! Niedrig! — Wir
passten nicht zusammen! — Was will man nun
machen?! — Ae! — Schleppt man das so mit
sich! — Ae! Immer hin! — Immer hin! —
Hui! — Die armen Kinder! — Die armen Kinder!
— Und Du. mein liebes Mäuschen! —
Worte gehen in Weinen über)
Mein armes, liebes
Mäuschen!
O Gott, o Gott!
die Hände vor’s Gesicht.)
Ja, ja? — Du! Grosser!
— Nimm Dir ’n Beispiel an Deinem Vater! —
So was ist ein Unglück! — Ein grosses, grosses
Unglück! — Dein Vater war dumm, gut und
dumm, mein Sohn! Aber nicht schlecht! — Er
hat Euch — alle lieb! — Alle! — Auch Eure
Mutter! — Sie kann’s nur nicht verstehn! —
Und das — ist unser Unglück! …
über. Er schläft ein.
Vom Bett her das Rauschen von Kissen. Toni, die eben
zur Flurthür wollte, schrickt zusammen.)
Ma—mach’n .. Ma—mach’n
! … Aah! … Aaaah! …
Mein liebes Herzchen! —
Mama kommt gleich wieder!
5*
[68]
War — Papa — hier?
Ja! Er schläft schon!
Hat er mir — was mitgebracht?
Ja, Liebchen.
Huh! Du fieberst ja, mein Herzchen! Das ganze
Kissen ist heiss!
Ach — nein! — Ich bin —
wieder — ganz munter, Tönchen! — Ich kann
— morgen — aufstehn! — ’s is immer — so
schönes Wetter! — Und ich — muss immer
— im Bett liegen …
schnarcht.)
Ach, ’s is man gut — dass — Papa da
is! — Ich hatte schon — solche Angst! —
Horch mal — wie er schnarcht! —
Wie ’ne Säge, was? Du — weinst ja, Tön-
chen?? …
Ich?! Ach nein?
Du! — Du! — Er is wohl wieder —
betrunken??
O nein! Ich dachte gar, mein Liebchen!
Will er auch — Mama — nicht schlagen?
Nein! I bewahre, mein Herzchen!
Ach nein! — Das — thut er auch
nicht! — Er macht immer — blos so! — Nicht
wahr?
Freilich! Aber, schlafe wieder ein. mein
Linchen!
Ach nein! — Ich kann gar
nicht schlafen! — Ich bin ganz — munter, Du!
— Du! — Ist bald Morgen? — Kann ich bald
— aufstehn. Tönchen?
Nein, Herzchen! Noch nicht!
[69]
Ach! — Du! — Du!
Was — was ist Dir denn. mein
Herzchen?!
in die Höhe.)
Ach! — Nichts! … Du! …
Ja?
Wo — is denn — Mamachen?
Warte! Ich rufe sie!
Ja! — Ja! …
gehen.)
Du! — Tönchen! — Die L—Lampe —
brennt ja — so trübe …
Aber — n …
nein — liebes Mäuschen?! … Sie — ist ja —
ganz hell …? …
Schraub — doch — hoch!
… Es wird ja — ganz — dunkel …
Kind! …
leichenblass. Schraubt mit zitternden Fingern an der
Lampe. Wendet sich dann mit wankenden Knieen
zur Flurthür und öffnet sie. Vorsichtige Schritte.)
Ist er denn …
Ma—ma—
chen …
Ja? — Mein —
Kind?! …
Mutter! — Komm! — Schnell! —
Er schläft! — Komm! — Linchen … ich weiss
nicht …
Wa … Was?! …
Ma—ma—chen … Ma—ma—chen …
Kind???
über das Bett. Starrt Linchen an.)
[70]
Das — Licht — geht — aus …
Das — Licht — geht — ja … Ma—ma—chen …
Ach! Lie—bes — Ma—ma—chen ....
während ihre Blicke wie gebannt auf Linchen haften):
Toni! Toni! …
O Gott ....
Mein Liebchen! Mein süsses. süsses
Liebchen!
Schnauben Selickes.)
Ach — liebes — Ma ........
Sie … Sie … stirbt! Ach
Gott … Mein Herzchen! — Mein Herzchen!
Vater! — Vater!
Was ist denn??!
Vaterchen! …
Vaterchen! …
Sie ist todt! …
Sie ist todt! …
Mutterchen! — Mutterchen!…
Um Gotteswillen!
Vater!! — Vater!!
Ae! — Na! — Lass …
Na …
zurücksinken).
Vater!!
packend).
Na — ja doch! — .. Was — giebt’s
denn …
Linchen — ist todt ....
[71]
Was — Was
ist mit — Linchen?!
Ach, sie ist — todt ....
wischt sich über die Stirn.)
L—Linchen?!!
auf das Bett zu. Toni wankt ihm schluchzend nach.
— Selicke steht eine Weile stumm vor dem Bett, dann
bricht er schwer, mit einem dumpfen Stöhnen, auf
dem Stuhl zusammen. Die andern beobachten ihn
stumm.)
den Hals schlingend):
Lieber Vater! — Mein
lieber Vater …
[[72]][[73]]
Dritter Aufzug.
[[74]][75]
Dritter Aufzug.
bricht bereits der Morgen. Auf dem Tische, auf welchem
Selickes Einkäufe liegen, brennt noch trübe die Lampe.
Der Weihnachtsbaum lehnt noch beim Sopha gegen die
Wand. — Draussen auf dem Treppenflur hört man Kinder
lärmen und spielen. Eine helle, unbeholfene Stimme singt
ein Weihnachtslied. Der Gesang wird oft durch Schreien,
Jauchzen, Lachen und den Ton einer Blechtrompete und dann
wieder vom Sänger selbst unterbrochen. Zuweilen ist er so
deutlich, dass man die Textworte hören kann: „Des freuet
sich der Engel Schaar …“ Selicke sitzt vor dem Bett in
stummer, dumpfer Trauer. — Toni steht etwas seitwärts von
ihm neben Frau Selicke und hat den Arm um sie geschlagen.
Beide beobachten ihn mitleidig. — Walter hockt auf dem
Sopha, weint still vor sich hin, sieht dann wieder zum Bett
und zu Selicke hin, gähnt ab und zu aus Uebermüdung und
zittert vor Frost. — Albert steht neben dem Weihnachtsbaum,
zupft in Gedanken an den Nadeln herum und schielt dabei ab
und zu zum Bett hinüber.)
Die Lampe fängt an zu riechen. Toni! … Lösch
aus! … ’s is hell draussen! … Der Lärm
auf dem Flur! … Die kennen keine Sorgen ....
vorhang zurück. Das Morgenlicht fällt grau durch die
verschneiten Scheiben in’s Zimmer. — Toni will auf
die Flurthür zugehen und den Kindern verbieten, die
draussen immer noch lärmen; aber in diesem Augen-
blicke poltern sie lachend, schreiend und blasend die
Treppe hinunter. Der Lärm entfernt sich unten im
Hause und hört dann allmählich ganz auf.)
[76]
Die sind fidel! …
Selicke hin und legt ihm sanft die Hand auf die
Schulter; mit mitleidiger, bebender Stimme):
Vater! …
bogen auf die Kniee gestützt, vor sich hinbrütet,
achtet nicht auf sie.)
Vater! … Komm! …
Vater! …
Du! … Mein Linchen! …
und weint):
Vater, komm! … Komm hier fort! …
Du! … Mein Linchen! … Warum
Du?
Komm. Vater! … Wir wollen uns von jetzt
ab — rechte Mühe geben … Wir wollen ver-
nünftig sein … Es soll nun anders werden bei
uns. … Nicht wahr, Vater?
mit einem todten, ausdruckslosen Blick an. Frau Selicke
starrt ihn eine kleine Weile angstvoll an und richtet
sich dann, den Schürzenzipfel vor den Augen, wieder
auf. Selicke, der sich schwerfällig erhoben hat, bückt
sich über das Bett und küsst die Leiche. Weich,
zärtlich):
Leb wohl! … Leb wohl, mein gutes
Linchen! … Du hast’s gut! … Du hast’s
gut! …
blick, richtet sich dann in die Höhe und wankt gebrochen
in die Kammer, während Walter auf dem Sopha noch
lauter zu weinen anfängt und Albert sich, mit dem
Gesicht gegen das Fenster gewandt, laut schneuzt.)
Warum
hat uns — der liebe Gott das — Kind ge-
nommen?! … und ich … und ich — muss
mich — weiterschleppen … mit meinem Elend
[77] und meinem Leiden … Ich muss mir selber
zur Last sein … und … Euch allen! …
Siehste? … Als ich ’m das eben sagte: er hat
mich — kaum angesehn! …
haft in ihr Taschentuch, in das sie sich, während sie
sprach, geschneuzt hat. Laut, sehnsüchtig):
Ach.
hol’ mich bald nach, mein Linchen! Hol’ mich
bald nach! …
Mutterchen! … Sprich
doch nicht so! … Was sollten wir denn dann
machen, wenn … Ach! …
Unser einz’ges … unser einz’-
ges …
Ach! …
Oberkörper zuckt von unterdrücktem Schluchzen.)
Was hat sie nun gehabt von ihrem
armen, bischen Leben? … Und doch … war
sie immer … so fröhlich und munter … unsre
einz’ge, einz’ge Freude …
Ach,
was hatte man weiter von der Welt …? …
Mutterchen!
Was soll nun hier werden? …
Nun kann man sich nur gleich aufhängen oder
… in’s Wasser gehn …
Mutterchen! … Ach Gott! …
Lass man, Mutterchen! … Es soll schon noch
werden! …
Ja! Für Euch! … Für Euch wohl
… Für mich is’ es ’s beste, Linchen holt mich
nach … So bald als möglich!
Nein, Mutterchen! … Es soll Dir noch
recht gut gehn! Warte man!
Ach, ja, ja …
[78]
bei der Hand):
Walter, komm!
Mich friert so!
Ja! Komm, mein Junge! … Geh in die
Kammer und leg’ Dich hin! … Du hast die
ganze Nacht nicht geschlafen!
betrachten neugierig-ernst die Leiche. Walter weint.)
Geh in die Kammer, mein lieber Junge,
und schlaf’!
Mutterchen!
… Mutterchen! …
Ja, ja? … Na ja, mein armer
Junge! … Geh, leg’ Dich schlafen! … Du
bist todtmüde! …
Du solltest
Dich auch ’n bischen ruh’n, Mutterchen!
Siehste?
… Siehste, Toni? … Kein Wort, kein Ster-
benswörtchen hat er wieder für mich gehabt!
… Er sah mich grade an, wie: na, was willst
’n Du? … Wer bist ’n Du? … Als ob ich
’n gar nichts anginge! … Ach Gott! Was ist
das für ein elendes, elendes Leben gewesen die
dreissig Jahre! … Ach, wollt’ ich froh sein,
wollt’ ich froh sein, wenn ich an Deiner Stelle
wäre, mein Linchen! …
… Sieh mal, Toni! … Wie hübsch sie aus-
sieht! … Wie schön! … Sie lächelt ein’n
ordentlich an! … Wie schön weiss … und wie
ihre Haare glänzen! … Ach, die lieben, blonden
Härchen! …
über.)
Die lieben. blonden Härchen! …
[79] hat):
Ach nein, Mutterchen! Der Vater wird
ganz anders werden! — Er ist ganz verändert! …
Nein! Nein! Der wird nie anders!
In dem Blick …, wie er mich so ansah …,
da konnte ich so recht deutlich lesen: wenn
Du ’s doch wärst! … Ach, und ich wollt ’m ja
so gerne Platz machen! Weiss Gott im hohen
Himmel! … Ach — so — gerne!
Nein! Das hat er sicher nicht
gedacht!
So gerne wollt’ ich ihm den Ge-
fallen thun! … So recht aus Herzensgrunde
wünscht’ ich das! … Aber ’s is, als ob der
liebe Gott grade mich ausersehen hätte …
Nein, Mutterchen! Du musst nicht so was
denken! … Siehste, wir müssen uns jetzt alle
recht zusammenschliessen! … Sei nur recht
gut und geduldig mit ihm … Du sollst sehn.
dann wird es besser … dann — wird alles
gut werden!
Ach, ich bin ja schon immer zu
allererst wieder gut! … Ich bin ja immer,
jedesmal zuerst wieder zu ihm gekommen und
freundlich mit ’m gewesen! .... Ach Gott,
schon um ’n lieben Frieden willen! .... Ich
sehne mich ja nach weiter nichts mehr, als nach
’n bischen Ruh und Frieden … nur ein bischen
Ruh und Frieden …
Ach
Gott, Herr Wendt!
Herein!
Seine Backen scheinen etwas eingefallen zu sein).
Herr Wendt! … Ach,
[80] an Sie hab’ ich auch noch nich denken können!
… Sie müssen ja gleich abreisen .... Mein
armer Kopf is mir ganz verwirrt …
Oh …
wegung und tritt auf sie zu.)
Meine liebe, gute
Frau Selicke …
mit ihm an’s Bett getreten. Kann kaum sprechen vor
Weinen):
Sehn Sie … da …
Mutterchen! Komm!
sammennehmend):
Ja, ich will … Um elf geht
Ihr Zug, Herr Wendt?
Ach!
die Küchenthür zu.)
Lass nur,
Mutterchen! … Ich will das schon alles be-
sorgen! Du musst unbedingt ein bischen ruhn!
Komm, Mutterchen! Komm! …
Kammer führen. Toni drückt leise die Thür hinter ihr
zu. Sie bleibt einen Augenblick mit allen Anzeichen
grosser Müdigkeit bei der Thür stehen, nimmt sich dann
zusammen und macht ein paar Schritte auf die Küchen-
thür zu. — Die Uhr schlägt neun.)
Und heute — wollt’
ich — mit Deinen Eltern reden …
Was? .. Neun schon?
… Ach ja, ich muss ja noch … Sie müssen
ja — um elf — fort …
Küchenthür zu.)
Fort …
[81]
ansehend):
Was? …
Und —
Toni! Du sagst „Sie“?!
Wie? Ach so … hab’ ich … Ach ja!
Das ist nun auch —
vorbei …
Vor … Vorbei?!
Das ist jetzt nun —
alles — anders gekommen …
Toni!
Ach! … Ich bin ganz … mir ist …
Ah …
seine Schulter.)
Toni! … Was ist Dir?!
achtet sie ängstlich. Ihre Augen sind geschlossen, um
ihren Mund liegt ein gequältes Lächeln.)
Herrgott! … Liebe Toni!
Ist Dir besser?
Ja … Es war mir nur … so … ein
Augenblickchen …
Halt aus, meine gute,
liebe Toni! … Halt aus! … Nur noch eine
Weile! .... Nur noch eine kleine Weile! …
Du armes Mädchen! … Alles ist so — über
uns hereingekommen!
Nur noch eine
kleine Weile! … Es wird alles gut! … Es
muss ja alles wieder gut werden! …
Toni!!
6
[82]
Ach, mir ist …
Ja! …
Wir dürfen jetzt nicht mehr — daran denken! …
Ich habe das nicht nur so — hingesagt! …
Das ist nun — vorbei! …
Ach, Du weisst ja nicht. was Du ....
Wir wissen ja nicht — jetzt …
Ach. wenn ich doch todt
wär’! …
Das — ist dein …
Du — sagst das mit — voller Ueber-
legung?
Ja!
sich schwer gestützt hat; Toni neben ihm, ihn ängstlich
beobachtend.)
Du musst doch selbst sehn, dass es — jetzt
nicht mehr geht.
Mit voller Ueberlegung? … Nein! —
Ach was! — Das kannst Du ja gar nicht! ..
Siehst Du! Das kannst Du ja gar nicht! …
Es ist ja unmöglich, dass wir die Verhältnisse
jetzt klar übersehen können! …
Ach nein! … Ich weiss ganz genau, wie
jetzt alles kommen wird! … Wir können und
werden uns nie heirathen! …
Nie? …
Nein! …
Nie! …
Nie! …
dem Tisch sinken lassen, der noch von gestern Abend
dasteht. Stumm, finster, den Kopf in beiden Händen,
vor sich hinstarrend.)
Siehst Du! … Du
[83] musst doch sehn. dass ich jetzt — hier —
nicht fortkann! … Ach, Du weisst ja! …
Du hast ja gehört! … Diese schreckliche,
schreckliche Nacht! … Ich kann. ich kann
doch nicht anders! ..
Wenn es
jetzt auch so aussieht, als ob sie anders wären!
Ach! Das scheint ja nur so! …
Das
dauert ja doch nicht lange! Bei der nächsten
Gelegenheit — ist es wieder — wie vorher,
und — und noch viel — noch viel — schlimmer …
Noch — schlimmer! …
Ja! … Noch schlimmer!
…
Ja, wenn Linchen noch …
Stimme zittert.)
Wenn sie dem Vater so auf den
Knie’n sass beim Essen … so neben ihm …
wenn sie sich an ihn schmiegte … und ihm
— was vorschwatzte … oder: wenn sie sich
zankten … wenn sie dann — weinte … und
bat … mit ihrem rührenden Stimmchen …
Ach! Sie hat sie immer wieder heiter gemacht
und — getröstet … Ja! Aber jetzt …
in Weinen ausgebrochen.)
Ach, Du weisst das ja
alles gar nich! …
Was soll werden? … Sag doch selber! …
Zu uns nehmen — könnten wir sie ja doch nicht!
… Du weisst ja, wie er is! … Und — die
Mutter allein? … Das lässt er nicht! … Er
hat sie ja viel, viel zu lieb! … Er kann sich
nicht von ihr trennen! … Und unterstützen?
…
Das siehst Du ja selber:
das kann ja gar nichts nützen! … Darauf
kommt es ja gar nicht an! … Ach Gott! Ich
darf gar nicht daran denken! … Die arme,
arme Mutter! … Und dann — die andern! ..
Der arme Walter! … Nein!
Es ist ganz
6*
[84] unmöglich, ganz unmöglich, dass ich fort kann!
… Und — das kann noch lange, lange Jahre
so fortdauern! …
wärts, zwischen den Zähnen):
Und — da musst Du
Dich also — opfern! …
Die armen, armen Menschen!
Dein ganzes Leben in diesem Elend ver-
bringen! Dein ganzes Leben! … Das soll man
ertragen?! …
Das ist ja
unmöglich, Toni! Das ist ja unmöglich!
Ach, doch!
Toni!
Und wenn sie noch schlecht wären! …
Sie sind aber so gut! Alle beide! Ich habe
sie ja so lieb! …
Ja! Mehr als mich! …
Ach, Du bist ja viel glücklicher!
Glücklicher? Ich?!
Ja, Du! Du! … Du bist ja noch jung
und hast noch so viel vor Dir! … Aber sie
haben ja gar nichts mehr auf der Welt! Gar
nichts! …
Wir könnten ja doch nie so recht
glücklich sein! … Ich hätte ja keine ruhige
Stunde bei Dir, wenn ich wüsste, wenn ich fort-
während denken sollte, dass hier … Nein, nein!
… Das wäre ja nur eine fortwährende Qual
für mich! … Das siehst Du ja auch ein!
Ich? … ein?!
Ja!
Gut!
[85] Dann bleib’ ich hier! …
Ich habe
den Muth nicht, ohne Dich. Toni! … Toni! —
Hier?! … Nein! Ach, nein! …
Und wenn alles in Stücke geht!
O Gott! … Ach, nein! … Nein! …
Deine Eltern …
Meine Eltern?! — Hä! — Wohl mein
Vater?! Dieser orthodoxe, starrköpfige Pfaffe
und … Ae! Die ist mir ja auch nicht mehr
das! …
O!
Ja, ja, meine liebe Toni!
Und Deine Stellung?
Meine Stellung?! Hä! — Was ist mir
denn meine Stellung!
Ich habe nur Dich,
Toni! Nur Dich! …
Ach! — Aber sieh doch … Nein! Das
würde Dir ja auch nichts nützen!
Nichts nützen?!
Nein, nein! … Ach, nein! Das geht ja
nicht! … Ach, das würde ja alles ganz anders
werden, als Du Dir’s jetzt vorstellst! .... Du
bist ja nicht so an alles das gewöhnt! .. Und dann:
Eh’ Du Dir dann wieder eine neue Stellung
verschafft hast! … Alles das! … Nein, nein!
… Es ist so gut von Dir, so gut! Aber es
nützte ja doch nichts! … Ach, siehst Du denn
das gar nicht ein?
Ach na … Und
dann — siehst Du! … Eigentlich: wir haben
ja noch gar nichts verloren? … Später könnten
[86] wir ja — vielleicht — immer noch zusammen-
kommen?
Später?
Nun ja? … Ich …
Später?
Ich … Nun
ja — Warum denn nicht? Ich … e … Wir
müssten vielleicht noch — ein paar Jahre warten!
… Aber unterdessen kannst Du ja …
hat während der letzten Worte nach dem Bett hinge-
sehn.)
Hach?!
ihn klammernd.)
Um Gotteswillen!
Was ist Dir denn, Toni?!
streichend):
Mir war — als wenn sich — im
Bette dort etwas — bewegte …
Sucht sie zu beruhigen):
Du bist so erregt. Kind!
Wir vergessen … Wir müssen — ver-
nünftig sein! …
Ach! — Sieh
mal? — Mir — ist — schwindlich! … Ich
bin — doch — ein bischen — angegriffen …
Du hast Dich so erschrocken,
Toni! …
Lass nur! — Es ist —
schon wieder gut! …
Händen vor das Bett Linchens getreten. Weint.)
Ja!
— Du siehst … Mein liebes, liebes Linchen!
… Mein Schwesterchen! …
Sieh doch!
Toni …
[87]
Ich bitte Dich! — Ich bitte Dich! —
ihre Hand ergriffen. Demüthig):
Toni! — O, was
bin ich gegen Dich! — Wie muss ich mich vor
Dir schämen! …
Ach …
Aber: wir
dürfen nicht! Nicht wahr?
Du hast recht!
Hand wieder fallen lassen.)
… Ja! Du brauchst
mich nicht! — Du bist gross und muthig und
stark und ich so klein, so feig und — so selbst-
süchtig!
Ich — Thor ich! … Ja!
Du hast recht! —
Wir dürfen
nicht! …
Schulter legend; sieht ihm in die Augen):
Nicht
wahr. Gustav? … Wir dürfen doch nicht nur
an uns denken?!
Ach! — Mädchen! —
Du bist so gut gewesen! … Du hast’s so
gut mit uns gemeint! …
Ist denn nur keine, keine
Möglichkeit?! … Herrgott!! …
Siehst Du: ich muss
ja doch auch aushalten!
Toni! — Toni! —
Lächeln):
Ach, wenn man so den Tag über ar-
beitet, weisst Du! … Wenn man sonst gesund
ist und immer tüchtig arbeiten kann: da denkt
man an nichts! … Da hat man keine Zeit, an
was zu denken! … Und Du — Du weisst so
viel! Du kannst so viel nützen …
Ich? Nützen?
[88]
Ach ja!
Nützen! … Ja früher! Wenn ich noch
wie früher wär’! … Aber jetzt?! Jetzt?! …
Ach, das ist ja nur so für den Augen-
blick! … Du kannst glauben: Das ist nur so
für den Augenblick! … Wenn Du erst dort
bist … Das ist so ein schöner, schöner Beruf,
Pastor!
Ich glaube an alles das nicht, womit ich
die Leute — trösten soll, liebe Toni! Und ich
kann nicht — lügen!
Aber wenn nun … Wenn Du mich nun …
Hättest Du dann gelogen?
Wie meinst Du?
Ich meine: Wenn Du mich — geheirathet
hättest und Du wärst dann Pastor gewesen, dann
hättest Du doch ebenso gut den Leuten was
vorgelogen, wenn Du überhaupt an das alles
nicht glaubst? … Du sagtest doch gestern —
ich weiss nicht mehr, wie Du’s ausdrücktest! …
Aber — … Ja! — Wir hätten dann, was mit
dem Leben versöhnte! — So ungefähr! — Es
war so schön! …
Mädchen! — Mädchen! —
Ach, lass doch! — Du hast dort zu thun
und ich — hier! — Und wenn wir dann —
manchmal aneinander denken, dann — wird es
uns leichter werden! … Nicht wahr? …
Ich will mal sehn, wie oft
mir das Ohr klingt! … Ach ja! Wenn
man nichts zu thun hat, dann denkt man so an
alles und dann sieht alles — viel schlimmer aus,
als es ist! … Aber wenn man arbeitet, dann
schafft man sich alles vom Halse! …
[89]
Ja! Ja! Du hast wieder recht, wieder
recht! …
Ach Mädchen! —
Du wunderbares Mädchen! Wie könnt’ ich jetzt
ohne Dich leben! …
O nein, nein! … Das sagst Du
ja nur so! — Das wäre doch schlimm, sieh mal,
wenn Du das nicht könntest, wenn Du blos von
mir abhingst! — Lieber Gott! Ich bin ja so
dumm! — Ich weiss ja nichts!
Ich meine nicht so! — Du hast recht! —
H! … Wir müssen uns darein finden!
Ach, siehst
Du! — Das ist gut von Dir! Das ist gut!
Aber, nicht wahr? Ich habe Dich doch
gefunden und Du — Du machst mich jetzt zu
einem anderen Menschen! … Du hast mich
überhaupt erst zu einem gemacht, liebe Toni! …
Ach, ich! …
Ja! Du! … Das Leben ist
ernst! Bitter ernst! … Bitter ernst! … Aber
jetzt seh’ ich, es ist doch schön! — Und weisst
Du auch warum? meine liebe Toni? Weil solche
Menschen wie Du möglich sind! — … Ja! So
ernst und so schön! …
Haar.)
Ach ja! …
Ach, aber das ist gut von Dir! … Ich
wusste ja …
Ach, Du!…
Hm? Du! …
Toni! …
Ach ja!
Toni! — Toni! —
eng an sich.)
[90]
Still … Sei still …
Toni …
und will sie küssen.)
Lass! … Ich — höre
— die Mutter! … Ich muss nun .... Wir
müssen nun daran denken! … Nicht wahr? ..
Toni! Ich bleibe noch! … Einen Tag!
… Einen einzigen Tag!
Nein! … Bitte! .. Bitte! ..
Mir zu liebe! …
Ach! … Leb wohl! …
Leb — wohl! ....
Brust.)
Leb wohl! …
Lass! Ich werde auf-
machen! — ’s wird wohl nur der alte Kopelke
sein …
die Küche zurück.)
Danke scheen! Danke
scheen! … Juten Morjen, werther, junger Herr!
— Na? Schon uf ’n Damm? … Wie steht’t
denn mit unse Kleene? — Aha! Ick weess
schon! … Se schläft noch! Scheeniken! …
Nein, sie … Bitte, treten Sie ein. Herr
Kopelke!
Packetchen unter’m Arm. Bleibt einen Augenblick
bei der Thür stehen und sieht sich um):
Juten
Morjen! … Nanu?! Keener da?! … Det is
jo hier noch so ’ne Wirthschaft?! …
hinter sich zurückflüsternd):
Sagen Se mal, et is
doch nich etwa … He?! …
Ach, Sie
sind’s, Herr Kopelke?
[91]
Ja, ick! .... Juten Morjen, Frau
Selicken! … Ick wollt’ mal .... Sagen Se
mal, et …
Ach, Herr Kopelke! ..
Nanu?! Et is doch nich …
Ach! Nun
brauchen Sie — nicht mehr — Herr Kopelke ..
Det
hat sick doch nich — verschlimmert?!
Hier! … Da! …
ihm an’s Bett getreten).
grunzende Laute von sich).
Diese Nacht um zwei …
Biste todt, mein
liebet Linken? ....
nimmt ihre Hand.)
Frau Selicken! … Meine liebe
Frau Selicken! … Det … Sehn Se! .. Det
… Hm! … Hm! …
blicke, seitwärts sehend, ihre Hand.)
Wo is denn
Edewacht?
Drin in der Kammer! .... Er
sitzt da und — und — rührt sich nich .. Wie
todt! … Ach Gott, ach Gott, ach Gott! …
Hm! …
und betrachtet die Leiche.)
Un ick dacht’ …
Hm! … Un ick hatt’ ihr da — noch ’ne —
Kleenigkeet — mitjebracht! … Hm! … Nu
is det — nich mehr — needig! … Nu hat se
det — freilich — nich mehr — needig! …
Hm! … Hm! …
nach Frau Selicke.)
Liebet Freilein! …
Toni sieht still seitwärts.)
Liebet Freilein! …
[92]
Mutterchen! Da bist Du ja schon wieder? …
Hast Du denn nicht ein bischen geschlafen?
Nein! — Kein Auge hab’ ich zu-
thun können! — Nur so ein bischen gedämmert!
… Wie’s klingelte, war ich gleich wieder wach!
… Haste denn Herrn Wendt …
Ja! Lass nur! Ich gehe schon! Leg’ Dich
aber wieder hin, Mutterchen! Hörst Du?
Ja, ja! …
zurück.)
Warten Sie, Herr Kopelke! — Ich
werde meinem Manne sagen …
Kammer.)
Zeit über ernst bei Seite gestanden hat):
Die armen
Leite! — Die armen Leite! — Jott! Ick sag’
immer: warum muss et blos so ville Elend in de
Welt jeben? — Ae, Jottedoch! — … Sie
woll’n nu heite ooch reisen?
Ja! — Gleich nach den Feier-
tagen tret’ ich meine Stellung an.
Ja, ja! — Det wird Ihn’n nu ooch so
nich passen! — Na, wissen Se, werther, junger
Herr! Det lassen Se man jut sind! Die Beffkens
un der schwarze Rock un det so: det is jo
allens Mumpitz! — Sowat macht ’n Paster jo
nich! Damit kenn’n Se sick trösten! — Da sitzt
der Paster! Verstehn Se? Da!
Brust.)
… Un denn, wissen Se: in die zwee
Jahre haben Se hier wat kennen jelernt, wat
mennch eener sein janzet Leben nich kennen
lernt, un wat Bessres, verstehn Se, hätt Ihn’n
janich passirn können! … Ick wünsch’ Ihn’n
ooch ’ne recht jlickliche Reise! — Wah mich
immer sehr anjenehm, werther, junger Herr!
Wah mich immer sehr anjenehm! … Un. Se
kommen doch später hier mal widder her?
Wat? …
[93]
Ja, das werd’ ich! — Ueber
kurz oder lang! … Ich danke Ihnen. Herr
Kopelke!
Scheeniken!
Scheeniken! Det is recht von Sie!
Es is nichts mit’m anzufangen!
— Gehn Sie nur selber zu ’m rein, Herr Ko-
pelke! … Ach Gott, ja! …
Kinder! — Kinder-
kens! … Lasst man jut sind! Wir kommen
ooch noch mal an de Reihe! …
hinter der Kammerthür.)
zu läuten. Das Läuten dauert bis gegen Schluss.)
Da läuten sie schon zur Kirche!
… Ach, wer hätte das gedacht, dass Sie mal
so von uns fortziehen würden. Herr Wendt! …
Unter solchen Umständen! …
Lassen
Sie sich’s recht gut gehen!
Und grüssen Sie Ihre Eltern unbekannterweise
recht schön von uns! … Erleben Sie bessere
Feiertage — und — denken Sie manchmal an
uns ....
Ja! — Das werd’ ich sicher, liebe Frau
Selicke!
Wo bleibt denn Toni? Sie haben
ja gar nich mehr so viel Zeit ....
andern Hand trägt sie ein Köfferchen. Im Vorbeigehn
zu Wendt):
Bitte!
unter den Sophatisch):
Ich danke Ihnen ....
Schluchzend):
Ach Gott ja! Ach Gott ja!
[94]
und kehrt nun wieder zu ihrer Mutter zurück. Sie
umarmt sie und küsst sie. Zärtlich):
Mutterchen! —
Muttelchen! ..
Ja, grüssen Sie sie nur! Grüssen Sie sie nur
recht von uns!
Ich danke Ihnen,
Frau Selicke! Ich danke Ihnen! Für — Alles!
Leben Sie wohl!
die mit dem einen Arm noch immer ihre Mutter um-
schlungen hält, ebenfalls ihre Hand ergreifend.)
Leben
Sie wohl! Ich ....
ihrer Mutter sinken lassen und vermag ihm nicht zu
antworten. Ihr ganzer Körper bebt vor Schluchzen.)
noch nicht losgelassen hat, bückend und sie küssend):
Ich komme wieder! …
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Holz, Arno. Die Familie Selicke. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bns4.0