Elemente der Staatskunſt.
vor
Sr. Durchlaucht dem Prinzen Bernhard
von Sachſen-Weimar
und
einer Verſammlung von Staatsmaͤnnern und Diplomaten,
im Winter von 1808 auf 1809, zu Dresden, gehalten
1809.
[[II]][[III]]
Dem
Herrn Hofrath Heeren
in Goͤttingen,
ſeinem
Lehrer und Freunde,
ehrfurchtsvoll zugeeignet
von
Adam H. Muͤller.
[[IV]][[V]]
Vorrede.
Was die ernſthafte Betrachtung der laufenden
Weltereigniſſe in einer, auf das Alterthum
und die Weſentlichkeit der menſchlichen Dinge,
gerichteten Seele allmaͤhlich erzeugt, habe ich,
zum Vortheil der Staatswiſſenſchaften und
des hiſtoriſchen Studiums, in dieſen Buͤchern
aufſtellen wollen. Der Geſchichte zumal iſt es
erſprießlich, daß die Idee des vollen, ganzen
und lebendigen Staates der Kritik unterworfen
werde: wie kann man auch den politiſchen
Verfaſſungen der Vorwelt Gerechtigkeit wider-
fahren laſſen, ohne einen Kanon vom Staate,
welcher der Geſchichte entnommen iſt, und nun
ſelbſt wieder die Geſchichte beleben hilft!
[VI]
Ich habe fuͤr mein Zeitalter geſchrie-
ben, und ſo wird man es billigen, daß ich
mich der gerade jetzt unterdruͤckten geiſtlichen
und feudaliſtiſchen Elemente des Staates waͤr-
mer annehme, als der in dieſem Augenblick
triumphirenden. Mir iſt es aber um ihrer
aller Wechſelwirkung zu thun, und ſo bin ich
der erſte, der gegen die flachen Goͤtzendiener
des Mittelalters und der abſoluten Hierarchie
den Stein aufhebt. Obgleich heute ein eifriger
Widerſacher von dem Alt-Roͤmiſchen Princip
unſrer Verfaſſungen, bin ich dennoch irdiſch
und Roͤmiſch genug, morgen dem geiſtlichen
Princip, wenn es allein herrſchen wollte,
den Krieg anzukuͤndigen. — Nichts wuͤnſche
ich weiter von mir entfernt halten zu koͤn-
nen, als jene kraͤnkliche, hyperkritiſche Jugend
meiner Zeit, die den Geiſt und das Heilige
wieder in die Mode zu bringen ſtrebt.
Auch mit der graſſirenden Vaterlandsretterei
haben dieſe Bogen, wie der Augenſchein lehrt,
nichts zu ſchaffen.
Vom Geiſte der Geſetze handle ich; und
[VII] ſo verlohnt es wohl der Muͤhe, am Eingange
dieſer Betrachtungen einen Blick auf das be-
ruͤhmte Werk von Montesquieu zu werfen
und das Verhaͤltniß zwiſchen ſeiner Anſicht
und der meinigen anzugeben.
Wenn man den Einfluß der Reglerungs-
formen und Geſetze auf das Gluͤck der Men-
ſchen unter allen Zonen und in allen Zeiten
erwaͤgt, ſo gelangt man allerdings zu großen
und merkwuͤrdigen Reſultaten. Regierungsfor-
men und Geſetze erziehen die Menſchen. Aber
die Betrachtung iſt nur einſeitig, wenn man
nicht eben ſo wohl erwaͤgt, welchen Einfluß
die Eigenthuͤmlichkeit der Menſchen wieder auf
die Regierungsform und die Geſetze habe.
Der Erzieher erzieht ſeinen Zoͤgling; aber der
Zoͤgling erzieht auch ſeinen Erzieher wieder.
Vor einigen Jahren glaubte man, daß die
Erziehungskunſt aus dem Menſchen alles
machen koͤnne; indeß kam man von dieſem
Glauben an die Erziehungskunſt wieder zuruͤck,
und behauptete eben ſo unbedingt, daß ſie
nichts vermoͤge, daß das Leben und die
[VIII] natuͤrlichen Anlagen des Zoͤglings alles mach-
ten. — Ganz derſelbe Fall war es mit der
Regierungskunſt: zur Zeit der Franzoͤſiſchen
Revolution glaubte man, daß von ſchlechten
Verfaſſungen und Geſetzen alles Ungluͤck der
Menſchheit herruͤhre; und jetzt ſind die Vor-
trefflichſten eben ſo wohl uͤberzeugt, daß die
Verfaſſungen und Geſetze nichts vermoͤgen,
wenn die Voͤlker nicht an und fuͤr ſich ſchon
gut geartet und innerlich frei ſind.
Das ſind zwei gleich verderbliche Extreme:
denn Voͤlker und Geſetze bilden ſich immer und
allenthalben gegenſeitig; allein und abgeſon-
dert vermag weder der Wille der Voͤlker, noch
die Guͤte der Geſetze etwas. Die Arbeit der
Geſetz- und Verfaſſungs-Fabrikanten an und
fuͤr ſich bedeutet nichts; eben ſo wenig bedeu-
tet an und fuͤr ſich das Privatverdienſt und
die Privatbildung der Voͤlker ohne nationale
Formen etwas.
Das iſt nun der Geſichtspunkt, aus dem
der esprit des loix von Montesquieu ange-
ſehen werden muß. Wenige Buͤcher der Welt
[IX] moͤchten ſich an Gelehrſamkeit und Kunde
aller Geſetze und Verfaſſungen dieſem Buche
an die Seite ſtellen laſſen. Welche Wirkung
die verſchiedenen politiſchen Anordnungen auf
das Wohl der Voͤlker haben, iſt mit Scharf-
ſinn und Treue dargeſtellt, der Mechanismus
der Regierungsformen mit ſeltener Klarheit
und bis in die kleinſten Triebfedern entwickelt,
die entlegenſten Erſcheinungen ſind mit außer-
ordentlicher Kunſt paralleliſirt, und die zarteſten
Eigenheiten aller politiſchen Veranſtaltungen
aufgef[a]ßt; der Bluͤthenſtaub, moͤchte ich ſagen,
aller Geſetze iſt geſammelt, und zu einem
politiſchen Honig gemiſcht und praͤparirt, der
manchen Staatsmann verfuͤhrt und allen ſeinen
unmittelbaren, naͤheren Erfahrungen abwendig
gemacht haben mag: aber der Grundgedanke
von dem uͤberwiegenden Einfluſſe der Geſetze
iſt falſch, gehoͤrt der Zeit an, und vernichtet
die Anſpruͤche auf ewige Dauer, welche die
koloſſale Arbeit in ſo vielen andern Ruͤckſichten
verdienen moͤchte.
Die Staatengeſchichte kann freilich darge-
[X] ſtellt werden als die Entwickelung der Miß-
griffe, deren ſich die Menſchen in Entwerfung
der Geſetze haben zu Schulden kommen laſſen:
wir gewinnen auf dieſem Wege gewiſſe Grund-
ſaͤtze uͤber den Bau der Staaten. Das iſt
ſchoͤn und gut. Aber wo lernen wir denn
die viel wichtigere Kunſt, die Grundſaͤtze an-
zuwenden? — Gegen alle Regeln, die Ihr
mir aus der Weltgeſchichte uͤber Regierungs-
formen ableiten koͤnnt, will ich Euch die
Regierungsform meines Landes, welche aus
den Umſtaͤnden dieſer beſtimmten [L]talitaͤt
entſtanden und gewachſen iſt, vertheidigen;
will beweiſen, daß mir keine Grundſaͤtze etwas
helfen, ſondern bloß ein in langer Erfahrung
geſammeltes Gefuͤhl von dem Rathſamen und
Guten. Was fehlt alſo Montesquieu? Man
wird mich nicht mißverſtehen, oder es fuͤr
Hochmuth achten, wenn ich ſage: es fehlt
ihm, was in dieſen Vorleſungen dargelegt wor-
den iſt, die Geſchichte des lebendigen
Geſetzes. Er nimmt die Geſetze als gegeben
[XI] an, und fragt: welche Wirkungen ſie auf
das Wohl der Voͤlker hervorbringen. —
Ich habe bewieſen, daß in der Staatskunſt
alles darauf ankommt, die Geſchichte des Ge-
ſetzes ſelbſt zu kennen, und einzuſehen, wie
aus einer ewigen Wechſelwirkung zwiſchen den
Erfahrungen der Vergangenheit, und den ge-
genwaͤrtigen Ereigniſſen die Geſetze allmaͤhlich
im Laufe der Zeit entſtehen, nie vollendet
ſind, ſich immer weiter ausbilden, und auf
ſolche Art die Macht und das Naturell der
Voͤlker gemeinſchaftlich daran arbeiten; nur
wenn der geſetzgebende Verſtand allein das
Wort fuͤhrt, oder wenn die Begierden der
Voͤlker, da ſie augenblicklich und auf das
unmittelbare Wohlſeyn gerichtet ſind, allein
entſcheiden, werden die ſo entſtehenden Geſetze
nichts taugen. Warum? Weil der Quell der
Geſetze ein unreiner iſt, weil aus der augen-
blicklichen Verſtandes-Conception eben ſo
wenig, als aus augenblicklichen Beduͤrfniſſen,
ewige Vorſchriften fuͤr das Agiren eines
Staates, oder Geſetze, hervorgehen koͤnnen.
[XII]
Ich halte alſo das Geſchaͤft der Geſetz-
gebung nicht fuͤr ein Sortiren und Rangiren
aller auf der Erde an irgend einem Orte
und zu irgend einer Zeit gegebenen Geſetze,
fuͤr ein bloßes Auswaͤhlen und kuͤnſtliches
Combiniren Deſſen, was ſich hier und dort
als heilſam bewieſen hat; ich laſſe mich durch
die Wirkungen eines Geſetzes noch nicht fuͤr
daſſelbe einnehmen, — ſondern die Hauptſache
iſt fuͤr mich, daß das Geſetz auf eine natur-
gemaͤße Weiſe aus freier vollſtaͤndiger Wech-
ſelwirkung der Freiheit und der Kraft, der
Beduͤrfniſſe und des Verſtandes entſprungen
ſey, — und daß es, dieſer Entſtehung gemaͤß,
nun auch fortlebe, ſich immer mehr entwickele
und reinige. — So erhalte ich nicht bloß
die Erkenntniß des Guten und Boͤſen in der
Geſetzgebung, welche an und fuͤr ſich noch
nichts hilft, ſondern ich lerne die lebendige
Kunſt die Geſetze auszubilden.
Dieſe Kunſt uͤber alles zu ſetzen, hat mich
meine Zeit gelehrt; und ſo, neben Wahrheiten,
die ewig gelten werden, kann ich auch den
[XIII] Werth des großen Montesquieu auf eine
Weile in den Schatten ſtellen. — Meine Per-
ſoͤnlichkeit und mein wiſſenſchaftliches Verdienſt
mit dem ſeinigen vergleichen zu wollen, waͤre
laͤcherlich; es neben ihm zu erheben, waͤre
voͤllig Thorheit: denn, wer kann ſagen, daß
er, was die Geſchichte darbietet, gekannt
und auch in vielen Ruͤckſichten empfunden
habe, wie Montesquieu! Wo iſt bei irgend
einem neueren Schriftſteller dieſe Leichtigkeit
und Gewandtheit des Geiſtes, bei demſelben
heldenartigen Gefuͤhle fuͤr die Wahrheit, bei
dem unermeßlichen Fleiße! Wer hat dieſe
lichtvolle Kuͤrze der Darſtellung, bei demſelben
Reichthum und bei der Fuͤlle der Materien!
Nur irreligioͤs iſt er, neben Burke betrachtet,
durch und durch: die Geſetze ſind ihm durch-
aus Sache des weltlichen Arrangements und
der weltlichen Klugheit; daher verſaͤumt er,
neben dem esprit der Geſetze, uͤberall den
Geiſt der Geſetze, das Ewige und Unver-
gaͤngliche in denſelben, welches zu empfinden
und zu wuͤrdigen man die Geſetze ſelbſt
[XIV] vielmehr auf die vollſtaͤndige und ewige Natur
des Rechtsgefuͤhls im Menſchen, als auf den
weltlichen Erfolg, den Glanz, den Reich-
thum eines einzelnen Staates, begruͤndet haben
muß. —
Deshalb nun gefaͤllt mir Montesquieu viel
beſſer, wenn er ſich beſchraͤnkt und die welt-
liche Entwickelung und den weltlichen Verfall
eines einzelnen Staates darſtellt, wie in ſeinen
considérations sur les causes de la gran-
deur des Romains et de leur décadence.
Da iſt er ganz in ſeinem Element: die Roͤ-
miſche Politik hat er zergliedert, die Motive
zu dem ungeheuren Verfahren der Weltbeherr-
ſcher aus einander gelegt, beides mit einer
Kuͤnſtlichkeit, von welcher der bloße Verſtand
kein weiteres Beiſpiel aufgeſtellt hat. Wenn
man dies kleine Buch neben Gibbon’s Rie-
ſenwerk ſtellt, dann wird Montesquieu erſt
ehrwuͤrdig: er wird zum Propheten, wenn man
ihn lieſt, und die Regierungsgeſchichte des
Franzoͤſiſchen Directoriums damit vergleichen
will. — Urſachen und Wirkungen, das ganze
[XV] werk der groͤßten weltlichen That, von der
die Geſchichte erzaͤhlt, wird bis zur Durch-
ſichtigkeit klar: die Wirkungen von der tau-
ſendjaͤhrigen Conſequenz eines einzigen Volkes
liegen deutlich vor uns.
Nur eine einzige große Frage, die im
Gemuͤthe des wahren Leſers nicht verſtummen
will, wird nicht beantwortet: den Willen der
Weltherrſchaft, und die Geſetze, welche dieſen
Willen bethaͤtigen ſollen, nimmt Montesquieu
als Data an; alſo frage ich: wie! aus dem
Schooße eines Geſchlechtes, welches die Frei-
heit Aller will (und wollen muß, in ſo fern
es uͤberhaupt lebt), konnte der Wille, Alle
zu unterdruͤcken, hervorgehen und ſich auch
durch tauſend Jahre behaupten gegen die
nothwendige Reaction der uͤbrigen Voͤlker?
Warum war dieſe Reaction, der ein ewiges
Naturgeſetz zum Grunde lag, durch ſo viele
Jahrhunderte hindurch ſo ohnmaͤchtig gegen
den eiſernen Willen Roms? Wenn man die
Weltgeſchichte im Ganzen, d. h. wie ich
in meinen Vorleſungen hinlaͤnglich gezeigt
[XVI] habe, aus religioͤſen Geſichtspunkten betrach-
tet, ſo erſcheint Rom in aller ſeiner Groͤße
und mit ſeinem eiſernen Willen nur als eine
nothwendige und natuͤrliche Krankheit des Ge-
ſchlechtes. Ich will von der Geſchichte nicht
die Kunſt lernen, wie man ein zweites Rom,
oder irgend ein abgeſondertes, auf Koſten
der uͤbrigen Voͤlker der Erde bluͤhendes, Reich
macht, welches, eben weil es auf Koſten
der andern errichtet iſt, nothwendig im Laufe
der Zeiten wieder dahin ſinken muß; ſondern
ich will von der Geſchichte lernen, wie das
doppelte Verlangen in meinem Herzen nach
der Freiheit, um meinetwillen, und nach dem
Geſetz, um der Uebrigen willen, befriedigt
werden koͤnne. Dieſes doppelte und gott-
menſchliche Verlangen iſt unter allen Umſtaͤnden
der Welt das einzige wahre und untriegliche,
weil es der Kern aller Religion, aller Va-
terlandsliebe und des ganzen irdiſchen Lebens
uͤberhaupt iſt.
Aus dem Standpunkte dieſes Verlangens
er-
[XVII] erſcheinen Rom und alle Weltherrſchaften als
bloße Krankheiten des Geſchlechtes. Aller-
dings will ich nun ſehen, welche Symptome
eine ſolche Krankheit hat, wie ſie um ſich
greift, wie ſie das Geſchlecht zerruͤttet; und
dazu iſt Montesquieu der erſte und tuͤchtigſte
Fuͤhrer. Aber welches iſt die geſunde, richtige
Form der Menſchheit und des Staates?
und wie artet ſie aus in jene Krankheit?
das iſt eine noch groͤßere Frage. Daruͤber
ſchweigt Montesquieu; und das nenne ich
ſeine Irreligioſitaͤt. Hier, wo das Aller-
heiligſte der Politik angeht, endigt ſein poli-
tiſches Raiſonnement; und wie das eigent-
liche Rom, ich meine, wie das Roͤmiſche
an Rom, durch das Chriſtenthum und durch
nichts Anderes geſunken, d. h. wie die Krank-
heit durch die bloße Kraft der Geſundheit
uͤberwunden worden ſey, davon iſt bei ihm
unter den causes de la décadence durchaus
nicht die Rede.
Durch den aͤußeren Ruhm ſolcher Werke
*
[XVIII] wie der esprit des loix muß man ſich nicht
blenden laſſen uͤber die innere Mangelhaftig-
keit ihrer Natur. Alle Eigenſchaften, die erfor-
derlich waren, dem achtzehnten Jahrhundert
zu imponiren, hatte Montesquieu; auch hatte
er alle, um das neunzehnte zu belehren: aber
befriedigen kann er uns nicht mehr. Von
dem, was wir „Geiſt der Geſetze“ nennen,
handelt das beruͤhmte Buch gar nicht: fuͤr
uns iſt es ein Repertorium der Staatengeſchich-
te, voll ſinnreicher Einfaͤlle und gruͤndlicher
hiſtoriſcher Kritik; uͤber den Bau der Staaten
aber, und ihr Leben, iſt ſo wenig daraus zu
lernen, wie aus Bayle’s Werke.
Das, worauf Montesquieu einen ſo hohen
Werth legt, die mechaniſche Theilung der Ge-
walten, die kuͤnſtliche Beſchraͤnkung der Su-
veraͤnetaͤt um der Freiheit willen, iſt, nach
unſern Erfahrungen, voͤllig unpraktiſch, eine
Curioſitaͤt, eine Antiquitaͤt; und dieſe politiſche
Quackſalberei ſteht den Verſuchen des Theo-
phraſtus Paracelſus, in ſeinen chemiſchen Re-
torten und Flaſchen Menſchen zu machen, viel
[XIX] naͤher, als man glaubt. Daß in England eine
ſolche Theilung der Gewalten Statt finde, iſt
nicht wahr: dieſen albernen Gedanken haben
Stubengelehrte, und ſpaͤterhin, in ihre Fuß-
ſtapfen tretend, der große Haufe der Brittiſchen
Verfaſſung untergelegt. Die Macht iſt nicht
getheilt, ſondern die uralten Gegenſaͤtze in der
buͤrgerlichen Geſellſchaft, aus deren Wechſelwir-
kung alle wahre und einfache Macht erſt ent-
ſpringt, ſind in England geſchont, geheiligt,
und bekraͤftigt durch Zeit und treues Beharren
der Nation: das heißt Brittiſche Verfaſſung,
und verdient allein, Verfaſſung zu heißen an
allen Orten und in allen Laͤndern der Welt.
Jene politiſchen Vorurtheile, welche Mon-
tesquieu bewußt- und abſichtslos durch ſeinen
Nahmen gewiſſermaßen geheiligt hat, ſind,
nachdem ſie das gehoͤrige Unheil in der Welt
angerichtet haben, jetzt ſchon veraltet: es ſind
junge Greiſe. — Die Staatswiſſenſchaften ſind
uͤber dieſe Periode des Uebermuthes ſchon hin-
weg, und nachdem die ganze Verfaſſungs-
kunſt bankerott geworden, kehren wir allmaͤhlig
[XX] in die Bahn der Natur zu den ewigen Thei-
lungen zuruͤck, welche ſie eingerichtet hat,
um der Menſchheit Einheit, Freiheit und Frie-
den zu bringen.
Ich uͤberlaſſe es den wenigen Richtern,
die es in dieſen Tagen der Zerruͤttung und
Frivolitaͤt fuͤr mein auf das Ewige gerichtetes
Streben und fuͤr dieſe wohlgedachte Arbeit ge-
ben mag, zu entſcheiden, ob ich ein Recht habe,
uͤber Montesquieu’s Geiſt, den ich verehre,
ſo zu urtheilen, wie es hier geſchehen iſt. Und
wenn man die aͤußere Politur des esprit des
loix erheben will, ſo unterſchreibe ich von
ganzem Herzen; nur gebe ich zu bedenken, zu
welcher Zeit und unter welchen unruhigen
Umſtaͤnden der Geiſt der Geſetze geſchrieben
worden iſt, den ich hiermit dem Publicum
und meinen Freunden uͤberliefre.
Der Verfaſſer.
[XXI]
Inhalt.
Erſter Band.
Erſtes Buch.
Von der Idee des Staates, und vom Begriffe des Staates.
Erſte Vorleſung.
Daß es den politiſchen Syſtemen unſrer Zeit an
Bewegung mangle, und daher die Theorie mit der
Praxis in Widerſpruch ſey.
(Gehalten am 19ten Nov. 1808.)
Zweite Vorleſung.
Daß die politiſchen Syſteme aus todten Begriffen er-
bauet ſind, waͤhrend die lebendige Idee darin herr-
ſchen ſollte.
(Gehalten am 22ſten November.)
Dritte Vorleſung.
Daß der Nutzen und das Recht u. ſ. w., die als Be-
[XXII] griffe einander widerſprechen, ſich verſoͤhnen, ſo-
bald ſie ideenweiſe erkannt werden.
(Gehalten am 26ſten November.)
Vierte Vorleſung.
Wie der Krieg ein Lehrer politiſcher Ideen werde,
wie er das National-Recht und die National-Oe-
konomie belebe.
(Gehalten am 29ſten November.)
Fuͤnfte Vorleſung.
Wie ſich in der natuͤrlichen, allen Voͤlkern der Erde
gemeinſchaftlichen, Verfaſſung der Familie die le-
bendige Natur des Staates ausdruͤcke.
(Gehalten am 3ten December.)
Zweites Buch.
Von der Idee des Rechtes.
Sechste Vorleſung.
Daß die Idee des Rechtes alle einzelnen Rechte belebe,
und daß das Richteramt nicht allein in dem mecha-
niſchen Entſcheiden, ſondern auch in dem lebendigen
Vermitteln unter den einzelnen Rechten beſtehe.
(Gehalten am 6ten December.)
Siebente Vorleſung.
Wie ſich die Partheien zum Richter, der Contract zum
Geſetze, und die Freiheit zum Rechte verhalten.
(Gehalten am 10ten December.)
[XXIII]Achte Vorleſung.
Vom ſtrengen Privat-Eigenthum und vom (weib-
lichen) Lehns-Eigenthume.
(Gehalten am 13ten December.)
Neunte Vorleſung.
Vom Staatsrechte und vom Adel.
(Gehalten am 17ten December.)
Zehnte Vorleſung.
Vom Voͤlkerrechte oder von der Chriſtenheit.
(Gehalten am 20ſten December.)
Zweiter Band.
Drittes Buch.
Vom Geiſte der Geſetzgebungen im Alterthum und im
Mittelalter.
Elfte Vorleſung.
Geiſt der Moſaiſchen Geſetzgebung.
(Gehalten am 24ſten December 1808.)
Zwoͤlfte Vorleſung.
Geiſt der Griechiſchen Geſetzgebungen.
(Gehalten am 7ten Januar 1809.)
Dreizehnte Vorleſung.
Geiſt der Roͤmiſchen Geſetzgebung.
(Gehalten am 10ten Januar.)
[XXIV]Vierzehnte Vorleſung.
Von dem Weſen des Feudalismus.
(Gehalten am 14ten Januar.)
Funfzehnte Vorleſung.
Von dem Verhaͤltniſſe der kirchlichen Geſetzgebung zu
der weltlichen.
(Gehalten am 17ten Januar.)
Sechzehnte Vorleſung.
Von der Natur der buͤrgerlichen und ſtaͤdtiſchen Ge-
ſetze im Mittelalter.
(Gehalten am 21ſten Januar.)
Siebzehnte Vorleſung.
Schluß der Rechtslehre.
(Gehalten am 24ſten Januar.)
Viertes Buch.
Von der Idee des Geldes und des National-Reichthums.
Achtzehnte Vorleſung.
Vom individuellen (Gebrauchs-) Werthe, und vom
geſelligen (Tauſch-) Werthe der Dinge.
(Gehalten am 28ſten Januar.)
Neunzehnte Vorleſung.
Colbert, Adam Smith, und die Phyſtokraten.
(Gehalten am 31ſten Januar.)
[XXV]Zwanzigſte Vorleſung.
Von dem Weſen der oͤkonomiſchen Production.
(Gehalten am 4ten Februar.)
Ein und zwanzigſte Vorleſung.
Vom Verhaͤltniſſe des Metallgeldes zu der Idee des
Geldes; vom Real- und Nominal-Werthe deſ-
ſelben.
(Gehalten am 7ten Februar.)
Zwei und zwanzigſte Vorleſung.
Von der Circulation des Geldes, vom Muͤnzfuße und
vom Muͤnzſchatze.
(Gehalten am 11ten Februar.)
Drei und zwanzigſte Vorleſung.
Von den Kaͤmpfen der Koͤnige mit dem Golde, und
von den Muͤnzzerruͤttungen der letzten Jahrhun-
derte.
(Gehalten am 14ten Februar.)
Vier und zwanzigſte Vorleſung.
Von dem National-Capital und vom National-
Credit.
(Gehalten am 18ten Februar.)
[XXVI]Dritter Band.
Fuͤnftes Buch.
Von den oͤkonomiſchen Elementen des Staates und vom
Handel.
Fuͤnf und zwanzigſte Vorleſung.
Von der Wechſelwirkung zwiſchen den Naturkraͤften,
den Menſchenkraͤften und der Vergangenheit, oder
zwiſchen Land, Arbeit und Capital.
(Gehalten am 21ſten Februar.)
Sechs und zwanzigſte Vorleſung.
Von der Theilung der Arbeit, und vom geiſtigen Ca-
pital.
(Gehalten am 25ſten Februar.)
Sieben und zwanzigſte Vorleſung.
Daß die Abgaben des Buͤrgers Zinſen des geiſtigen
National-Capitals ſind.
(Gehalten am 28ſten Februar.)
Acht und zwanzigſte Vorleſung.
Vom Markt, Vorrath und Mangel, beſonders mit
Ruͤckſicht auf den Getreidehandel.
(Gehalten am 4ten Maͤrz.)
Neun und zwanzigſte Vorleſung.
Vom oͤkonomiſchen Gleichgewicht im Innern der
Staaten, beſonders mit Beziehung auf die Direc-
tion des Getreidehandels.
(Gehalten am 7ten Maͤrz.)
[XXVII]Dreißigſte Vorleſung.
Vom Zins, und vom Verhaͤltniß des Capitals zu
der Circulation.
(Gehalten am 11ten Maͤrz.)
Ein und dreißigſte Vorleſung.
Von dem lebendigen Gleichgewichte zwiſchen dem
Nationalgelde und dem Weltgelde, und vom Geld-
mangel.
(Gehalten am 14ten Maͤrz.)
Zwei und dreißigſte Vorleſung.
Von der Weltherrſchaft des Geldes, und daß der
Staatsmann wahres Geld ſey.
(Gehalten am 18ten Maͤrz.)
Sechstes Buch.
Vom Verhaͤltniß des Staates zu der Religion.
Drei und dreißigſte Vorleſung.
Von dem Streite zwiſchen dem Privat-Chriſtenthum
und dem politiſchen Heidenthum in den be[ſſ]eren
Gemuͤthern.
(Gehalten am 21ſten Maͤrz.)
Vier und dreißigſte Vorleſung.
Daß Chriſtus nicht bloß fuͤr die Menſchen, ſondern
auch fuͤr die Staaten geſtorben ſey.
(Gehalten am 25ſten Maͤrz.)
[XXVIII]Fuͤnf und dreißigſte Vorleſung.
Von der Univerſalitaͤt des Chriſtenthums, von politi-
ſchen Opfern und politiſcher Eintracht.
(Gehalten am 28ſten Maͤrz.)
Sechs und dreißigſte Vorleſung.
Von der Freiheit und vom Gehorſam in demſelben
Chriſtenthume.
(Gehalten am 30ſten Maͤrz.)
[[1]]
Die
Elemente der Staatskunſt.
Erſtes Buch.
Von der Idee des Staates, und von dem
Begriffe des Staates.
[1]
[[2]][[3]]
Erſte Vorleſung.
Daß es den politiſchen Syſtemen unſerer Zeit an Bewegung
mangle, und daher die Theorie mit der Praxis in
Widerſpruch ſey.
Die Zuſammenſetzung eines Staates iſt et-
was ſo Großes, Mannichfaltiges und Unergruͤnd-
liches, daß die Eilfertigkeit und der Leichtſinn,
womit das Studium deſſelben gegenwaͤrtig, be-
ſonders in Deutſchland, getrieben wird, billig be-
fremden muß. Kaͤme es bloß darauf an, die
aͤußere Maſchinerie, das Geruͤſt des erhabenen,
nie zu vollendenden Baues zu beobachten und zu
kennen, ſo moͤchte immerhin ein geuͤbtes Auge,
eine gewiſſe leicht zu gewinnende Fertigkeit in
Einſammlung von Kenntniſſen, auch ein gutes
Gedaͤchtniß hinreichen, einen Meiſter der [Staats-
kunde] zu Stande zu bringen. Aber wer nennt
den Staat eine Maſchine, und ſeine Glieder
todtes Raͤderwerk! wer vergleicht ihn mit einem
Bau, und ſeine zarten empfindlichen Beſtandtheile
[4] mit kalten Steinmaſſen, die das Eiſen erſt regie-
ren und formen, und dann das Winkelmaß
ordnen und fuͤhren muß? — Allerdings greift
man nach allem Großen im Gebiete der Kunſt,
wenn man die erſte Empfindung beſchreiben will,
welche die Betrachtung der buͤrgerlichen Geſell-
ſchaft erweckt. Die Monumente der Baukunſt
bieten ſich dem Vergleiche zuerſt dar. Die Dauer
vor allen Dingen, die Ewigkeit, welche aus ih-
nen redet, die kuͤhnen Formen, die in ſich ſelbſt
ruhende Groͤße: — alle dieſe Eigenſchaften kom-
men auch dem Staate zu; — und ſo mag der erſte
Eintritt in die Staatswiſſenſchaft fuͤr das Ge-
fuͤhl verwandt ſeyn mit der Betrachtung der
Trajans-Saͤule oder der Piramyden.
Aber wo bleibt dieſes, wo bleiben alle ande-
ren Gleichniſſe, wenn man die Bewegung
der buͤrgerlichen Geſellſchaft, ihr Fortſchreiten,
ihr Umſichgreifen, den raſtloſen Umlauf ihrer
Kraͤfte und Reichthuͤmer wahrzunehmen anfaͤngt!
wenn die Geſchichte uns den Staat durch ganze
Jahrhunderte im ewigen Kampfe und Wettlaufe
mit anderen Staaten zeigt! Ein ruhender Gla-
diator, ein ſchlafender Feldherr, ſind der Dar-
ſtellung wuͤrdig fuͤr Den, der ſie im Circus und
auf dem Schlachtfelde geſehen hat: eben ſo iſt
der ſtillſtehende Staat, wie ihn die gemaͤchliche
[5] Weisheit der politiſchen Lehrbuͤcher zeigt, merk-
wuͤrdig und ſinnreich fuͤr Diejenigen, die ent-
weder ſelbſt ſchon in das Leben eines Staates
handelnd eingegriffen haben, oder doch die Ge-
ſchichte kennen. Was ſollen aber den Andern
das trockne Fachwerk, die duͤrre Regel und die
todten Kenntniſſe?
In der Bewegung alſo, vor allen Dingen,
will der Staat betrachtet ſeyn, und das Herz
des wahren Staatsgelehrten ſoll, ſo gut wie
das Herz des Staatsmannes, in dieſe Bewegung
eingreifen. Die Aufgabe fuͤr Beide iſt keines-
weges ein willkuͤhrliches Anordnen todter Stoffe;
das Gluͤck der Voͤlker laͤßt ſich nicht ausſtreuen,
wie Geld; das Streben einer Nation laͤßt ſich
nicht abfinden, oder richten, durch einzelne, klug
vorgeſchriebene und angewendete Arzneien; — das
Werk der Politik iſt nie abgemacht, ſo daß der
Staatsmann nach Hauſe, oder in den Privat-
ſtand, zuruͤckkehren koͤnnte. Kurz, man begiebt
ſich, als Staatsmann und als Staatsgelehrter,
entweder ganz hinein in den Umſchwung des
politiſchen Lebens, und traͤgt den Stolz, die
Schmerzen des erhabenen Staatskoͤrpers, wie
ſeine eignen, auf immer; oder man bleibt ewig
außerhalb. —
Das nun iſt das wohlfeile, vielbeliebte und
[6] vielgetriebene Gewerbe der Stuben-Politik! Dieſe
geht immer davon aus, daß der Staatsmann
muͤßig und herzlos, gleich ihr ſelbſt, außerhalb
des Staates ſtehe, und meint, der Staat koͤnne
durch einen hier und dort angelegten Hebel
nun ſogleich in ſeine wahren Angeln gehoben
werden — als ob ein kranker Staat durch
einen tuͤchtigen Vorſatz der Beſſerung, oder durch
ein verſchriebenes Recept unmittelbar zu heilen
ſey! — Und dies iſt noch die edlere Gattung,
da ſie den Staatsmann mit einem Arzte ehren-
voll vergleicht. —
Noch unwuͤrdiger denken Jene, welche Ver-
faſſungen und Geſetze, alles Erhabene, was der
Staatsmann beſchließt, mit Kleidern vergleichen,
die er ſeinem Staate zuſchneidet und anpaßt,
und die, wenn der Staat ſie abgetragen hat
oder herausgewachſen iſt, nur abgelegt zu werden
brauchen. Die Franzoͤſiſche Revolution hat ge-
lehrt, daß man den Staat entfleiſcht, waͤhrend
man ihn bloß von veralteten Unweſentlichkeiten
zu entkleiden waͤhnt; daß das Reformiren eines
Staates durchaus nichts gemein hat mit dem
Ausmuſtern einer Garderobe; kurz, daß man ſich
in das Herz des Staates, in den Mittelpunkt
ſeiner Bewegung, begeben muß, wenn man das
[7] Weſen des Staates begreifen und auf ihn wir-
ken will.
Lange Friedenszeiten ſind fuͤr die Cultur der
Staatswiſſenſchaft nicht guͤnſtig, eben weil die
innere Natur des Staates unter heftigen Be-
wegungen, unter Revolutionen und Kriegen,
am deutlichſten an’s Licht tritt. — Iſt nicht Cice-
ro’s politiſche Weisheit eine Frucht der Gaͤhrun-
gen und Revolutionen in der Roͤmiſchen Repu-
blik, die ſich gerade damals zu einer Monarchie
umzugeſtalten ſtrebte? Hat die Republik der
vereinigten Niederlande nicht beſonders den Krie-
gen um ihre Freiheit, den Kaͤmpfen mit dem
Meere, mit Spanien, Frankreich und England,
die Reihe großer Staatsmaͤnner und Staatsge-
lehrten zu verdanken, unter denen Namen, wie
die von Oranien, van de Witt und Hugo
Grotius glaͤnzen? — Was bildete Macchia-
velli und Guicciardini? Welche Zuſtaͤnde zo-
gen Burke’n groß? — Alle dieſe Meiſter lernten
nicht aus Lehrbuͤchern, Statiſtiken und Staats-
kalendern, und nicht durch muͤßige Stuben-Spe-
culation, ſondern im Leben, in der Bewegung,
den Staat kennen. Ihre Neigungen, die groͤß-
ten wie die geringſten, waren ganz dahingege-
ben an das Vaterland; ihr Schickſal Eins mit
dem ſeinigen. Als ſich nun von außen und
[8] innen Feinde in den verſchiedenſten Geſtalten
erhoben; hier mit Waffen der Klugheit, dort mit
Waffen des Armes, und dann wieder mit Waf-
fen der Beredtſamkeit gefochten werden mußte;
als hier ein auflodernder Volksaufſtand beſaͤnf-
tigt, dort der Zwieſpalt erbitterter Partheien
mit kluger Hand verglichen, dort feindſelige Ele-
mente, die eindringenden Wellen des Oceans zu-
ruͤckgewieſen, dann wieder der Handel und der
Credit unterſtuͤtzt, oder eindringenden Heeren die
Spitze geboten und tauſend Verarmten und Un-
gluͤcklichen aufgeholfen werden ſollte: da war
die einzige, groͤßte Schule der Staatsweisheit
und der Vaterlandsliebe eroͤffnet, und jene Leh-
rer der Welt mußten daraus hervorgehn. —
Denn wie der Menſch unter Leiden und Un-
gluͤck ſein Herz kennen lernt, ſo lernen unter
Calamitaͤten, Bewegungen und Stuͤrmen aller
Art die Voͤlker ſich ſelbſt kennen und achten.
Das Gluͤck verzieht, verwoͤhnt, ſchlaͤfert ein
und iſolirt die Menſchen, wie die Voͤlker; da
hingegen das Ungluͤck wach erhaͤlt, reitzt, bindet
und erhebt.
Eben ſo ein langer Friede. Wie viele ver-
borgene Tugend, wie vieles unſichtbare Schoͤne,
aber auch wie viele verdeckte Schlechtheit kommt
zum Vorſchein, wenn einmal nach langem Frie-
[9] den der Krieg das Innerſte einer Nation, bis in
die geringfuͤgigſten Familien-Verhaͤltniſſe hinein,
aufwuͤhlt! Der Regierung und den Unterthanen
faͤllt es, wie Schuppen, von den Augen: ſie
erkennen einander gegenſeitig, und alles Gluͤck,
das ſie gemeinſchaftlich beſeſſen haben, wird erſt
in der Gefahr zum Gluͤck; im Sturm, in der
Bewegung fuͤhlen ſie zuerſt den Werth des
Bleibenden und Dauernden; vieles ehemals Groß-
geachtete verſchwindet, vieles ehemals Kleine
wird bedeutend. Kurz, das Weſentliche am Staa-
te, Das, wovon ſeine Exiſtenz abhaͤngt, kommt
am deutlichſten unter Bewegungen und Kriegen
zum Vorſchein. Was die Menſchen eigentlich
auf Leben und Tod verbindet, ſo, daß eine buͤr-
gerliche Geſellſchaft, ein politiſches Ganze, ein
Staat, aus ihnen entſteht — dieſe Bande und
ihre Kraft muͤſſen am beſten erpruͤft und ſtudiert
werden koͤnnen, wenn viele feindſelige Maͤchte
zuſammentreten, um ſie aufzuloͤſen und zu zer-
ſtoͤren. —
So iſt die Zeit, in der wir leben, eine große
Schule der Staatsweisheit. Gluͤcklich, wer ein
großes Herz in dieſe Schule mitbringt, ſich durch
allen Schein von gaͤnzlicher Zerriſſenheit alter
Bande nicht blenden laͤßt, und gerade in dieſer
fuͤrchterlichſten Bewegung mit angemeſſener Kraft
[10] die Weſentlichkeiten feſthaͤlt, welche jetzt vielleicht
deutlicher als je zu erkennen ſind! Wir haben
Staaten decomponiren ſehen, und koͤnnen uͤber
ihre Compoſition Rechenſchaft geben. — Daß
wir, die denkenden Zeitgenoſſen einer allgemei-
nen politiſchen Revolution, unterſtuͤtzt durch einen
ausgebreiteten literariſchen Commerz und Ge-
danken-Verkehr, wie er bei keiner aͤhnlichen
fruͤheren Weltbegebenheit Statt fand, von dem
Weſen der Staaten mehr wiſſen koͤnnen, als
fruͤhere Zeitalter, iſt hiernach klar, wenn auch die
Erfahrung mich widerlegen moͤchte. Weniges iſt
nehmlich geſchehen; und in demſelben Maße, wie
die Politik ſich aller Koͤpfe bemaͤchtigt hat und
das taͤgliche Brot des großen Haufens gewor-
den iſt, hat ſie aufgehoͤrt, die Gemuͤther einzel-
ner großgearteter und tiefſinniger Menſchen zu
beſchaͤftigen. Der Ernſt, den dieſes Studium
vor allen andern fordert, iſt nicht weiter vor-
handen; die Entſtehung außerordentlicher Werke
uͤber die Geſetzgebung und Staatskunſt wird nicht
mehr, wie ehemals, beguͤnſtigt durch die Ehrfurcht
ganzer Voͤlker und Jahrhunderte vor Talenten
und gewaltigen Arbeiten des Geiſtes; die Mei-
ſten trauen ihrem eignen Talente mehr zu, als
der in einem einzigen Kopfe vereinigten Weis-
heit einer ganzen Nation. Und wie Wenigen
[11] gilt der Beſchluß eines ganzen Jahrhunderts,
oder die Arbeit eines Montesquieu mehr, als
das Reſultat von der eignen Ueberlegung einer
Viertelſtunde! —
Nichts deſto weniger koͤnnen wir — die Ungunſt
der Zeit ſey, welche ſie wolle — von der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft mehr wiſſen, als die fruͤ-
heren Zeitalter. Was wir wiſſen, unternehme
ich in ſeinen großen Grundzuͤgen zu zeigen, da
es bis jetzt noch kein Andrer oder Beſſerer unter-
nommen hat. Ich bitte meine Zuhoͤrer (und Leſer)
nur, den Umfang meines Geſchaͤftes zu erwaͤgen,
ſo brauche ich ſie nicht weiter um Nachſicht zu
bitten. Ich erinnre ſie an die alles uͤberſteigende
Erhabenheit meines Gegenſtandes, ſo brauche
ich ihnen nicht erſt anzukuͤndigen, daß die Indi-
viduen, und mit ihnen alle gemeine Partheilich-
keit und Perſoͤnlichkeit, in den Hintergrund tre-
ten werden.
Die Staatswiſſenſchaft, die ich meine,
ſoll den Staat im Fluge, in ſeiner Bewegung,
auffaſſen; daher genuͤgt mir keine von den bis-
herigen Theorieen dieſes Studiums vollſtaͤndig.
Sie ſind ſehr gruͤndlich und fleißig in der Her-
zaͤhlung des geſammten zu einem Staat erfor-
derlichen Apparats; ſehr ſinnreich in der Angabe
der zu treffenden Anordnungen; im Vorrechnen
[12] der Vortheile und Nachteile von jedem zu ver-
fuͤgenden Geſetze oder Inſtitute; ſie ſind, um ein
Gleichniß aus der Arzneikunſt zu gebrauchen, voll-
ſtaͤndig in der Anatomie des Staates, und klug im
Beſchreiben der Heilmittel fuͤr ſeine Krankheiten:
aber, wenn es darauf ankommt, die ganze Le-
benserſcheinung eines Staates auf eine angemeſ-
ſene Weiſe zu ergreifen, ſo fehlt es ihnen ſelbſt
an dem dazu erforderlichen Leben.
Die meiſten Staatslehren z. B. ſind faſt al-
lein auf den Friedensſtand einer Nation berechnet:
ſie enthalten Kapitel vom Kriege und von Krieges-
anſtalten; ſie geben dem milden, humanen, phi-
lanthropiſchen Weſen, welches ſie „Staat”
nennen, und welches eben nicht gern Blut ſehen
mag, nun zuletzt noch Schild und Helm, ohne
dafuͤr zu ſorgen, daß jede Muskel, jeder Nerve
des Staates zum Kriege geruͤſtet ſeyn, daß jeder
Blutstropfen des Staates, wie er auch fuͤr den
Frieden gluͤhen moͤge, dennoch Eiſen enthalten
muͤſſe; kurz, ſie betrachten den Krieg als eine
bloße Ausnahme von allen Friedensregeln, als
ein ſchreckliches Interregnum des Zufalls, und,
ſobald er ausbricht, iſt ihre geſammte Friedens-
weisheit zu Ende. Der Staat traͤgt, nach ih-
nen, zwei ganz widerſprechende Staaten in ſich:
einen Kriegesſtaat und einen Friedensſtaat; zwei
[13] Schaaren von Beamten, Kriegesbeamte und
Friedensbeamte, die mit einander in Widerſpruch
ſind, wie ihr beiderſeitiges Geſchaͤft. Die ge-
ſammte Kraft, welche der Staat im Frieden
braucht, bedeutet wenig oder gar nichts, und bleibt
unbenutzt im Kriege; die geſammte Krieges-
kraft iſt wieder eben ſo unthaͤtig im Frieden.
Der alte goldne Spruch: Wenn du den
Frieden willſt, ſo bilde dich kriegeriſch
aus! wird von ihnen entweder gar nicht geach-
tet, oder doch ſo ausgelegt: „Wenn du den
Frieden willſt, ſo mache die gehoͤrigen Vorkeh-
rungen zum Kriege, baue Feſtungen, und rekru-
tire deine Armee!” Damit iſt aber nichts ge-
wonnen; der Krieg iſt und bleibt bloßes Ge-
werbe einer einzelnen Zunft, und wird nicht zur
National-Angelegenheit. Jener herrliche Spruch
will ſagen: Der Kriegeszuſtand iſt eben ſo natuͤr-
lich, wie der Friedenszuſtand; der Staat iſt al-
lenthalben beides zugleich: ein liebreiches und
ein ſtreitendes Weſen; und der Gedanke, der
Muth des Krieges muß alle Familien, alle Ge-
ſetze, alle Inſtitutionen des ganzen Friedens
durchdringen. Jeder Staat hat nicht bloß von
außen, ſondern auch von innen, ewige Feinde,
geheime und oͤffentliche; oft iſt gerade ſeine Traͤg-
heit und Friedensliebe der gefaͤhrlichſte. Wie der
[14] Commerz-Miniſter eines Landes auf das Ausland
und auf das Inland zugleich ſehen muß, eben
ſo der Krieges-Miniſter auf beide, eben ſo jeder
Beamte, jeder Buͤrger, ohne Unterlaß auf
beide.
Die Delphiſche Ueberſchrift: Kenne dich
ſelbſt! iſt die erſte Regel, ſo gut fuͤr den Staat,
wie fuͤr den einzelnen Menſchen. Wie will aber
der Staat ſich kennen lernen? Reicht es hin,
daß er ſeine Reſſourcen, Produkte, Land, Leute,
Summen und Umlauf des Geldes, Geſetze und
wohlthaͤtigen Anſtalten kennt? Damit begreift er
ſich noch eben ſo wenig, wie ein Menſch, der, in
ſein Wohnzimmer verſchloſſen, ſich ſelbſt beob-
achtete, ſeinen Puls befuͤhlte, und ſeine Nah-
rung abwoͤge. Dies fuͤhrt Staaten und Men-
ſchen zur Hypochondrie: dieſe zur Menſchenſcheu;
jene zu Neutralitaͤts-Syſtemen oder zur Staaten-
ſcheu, aber nicht zur Selbſtkenntniß. Im be-
ſtaͤndigen regen und beweglichen Umgange mit
Seinesgleichen lernt der Menſch beſonders ſich
ſelbſt kennen: eben ſo der Staat ſeine Eigenheit,
ſein Gewicht, ſeine Phyſiognomie, ſeine Kraft
und ſeine Liebenswuͤrdigkeit nur im beſtaͤndigen,
ſtreitenden und friedlichen Umgange mit andern
Staaten.
Der Staatsgelehrte kann demnach den
[15] Kriegeszuſtand nicht außerhalb ſeiner Staats-
lehre, als etwas damit Unvertraͤgliches und Un-
natuͤrliches, ſtehen laſſen, ſondern er ſoll machen,
daß die ganze Lehre gaͤnzlich von dem Ge-
danken des Krieges allgegenwaͤrtig durchdrungen
und beſeelt werde. Nie ſoll er den Frieden ohne
den Krieg, nie die Ruhe ohne die Bewegung
darſtellen. Dieſe Ergaͤnzung der Wiſſenſchaft iſt
ihr Hauptgewinn bei allen traurigen, nur aus
unrichtiger Anſicht des Krieges und der Staats-
bewegung hergefloſſenen, Erfahrungen der Zeit.
Eben ſo ſoll die Staatskunſt, die ich meine,
den Staat im Fluge, im Leben, in der Bewe-
gung behandeln, nicht bloß Geſetze hinein wer-
fen und hinein wuͤrfeln, und dann muͤßig zuſe-
hen, wie es gehen wird. Der Staatsmann ſoll
die allgegenwaͤrtige Seele der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft ſeyn, und kriegeriſch und friedlich zu-
gleich handeln. Je groͤßer die Bewegung des Mee-
res iſt, um ſo mehr wird die Ruhe des Steuer-
mannes geruͤhmt. Kraft und Ruhe muͤſſen zu-
ſammentreten, wenn ein Kuͤnſtler werden ſoll.
Vornehmlich bedarf der Staatskuͤnſtler beider;
ſein Stoff, das Volk, fordert beides, hat eine
Art von Sehnſucht ſo gut nach Frieden, wie
nach Krieg. Es iſt nur Taͤuſchung, wenn man
glaubt, daß die Voͤlker mehr den Frieden begehr-
[16] ten. Waͤren ſie fuͤr beides erzogen, wie ſie jetzt
bloß fuͤr den dumpfen, traͤgen, lebensloſen Be-
ſitz und fuͤr die Stube — denn darin beſteht ja
ihr vielgeruͤhmter Friede — erzogen ſind: ſo wuͤr-
den ſie auch beides verlangen. Die Thierge-
ſchlechter mag man eintheilen in wilde und zah-
me; dem Menſchen laſſe man beides: was ihn
groß macht, ſeine Kraft; und was ihn reit-
zend macht, ſeine Milde. —
So viel uͤber den Geiſt und die Natur des
ganzen Geſchaͤftes. — Wie ſich der wahre Staats-
mann und der echte Staatsgelehrte zu einander
verhalten, kann, nach dieſen einleitenden Betrach-
tungen, keine ſchwierige Frage ſeyn. Vor Gott
ſind ſie einander gleich, wie auch die Welt ſie
unterſcheiden moͤge: der eine regiert den Staat;
der andre erzieht Staatsmaͤnner. Aber ſobald
die Staatsgelehrſamkeit einzeln, und abgeſon-
dert und leblos, fuͤr ſich auftritt, ſehen wir
einen von den gemeinen Handwerkern, welche
wir im Leben Theoretiker zu nennen pflegen.
Eben ſo hoͤrt die Staatskunſt auf Kunſt zu ſeyn,
wenn ſie ſich von der Staatsgelehrſamkeit ab-
ſondert und nun in der Geſtalt des bloßen duͤr-
ren Praktikers auftritt.
Und dieſe beiden Figuren wollen wir nun
naͤher betrachten. Vor allen Dingen bemerken
wir
[17] wir an Beiden eine gegenſeitige gruͤndliche Ver-
achtung. Der Theoretiker ſtuͤtzt ſich auf die
Vernunft, auf die ſchulgerechte, ſymmetriſche
Form ſeiner Anſicht, und auf allgemeine Ge-
ſetze; der Praktiker auf Erfahrung, auf die
Realitaͤt und Bedeutung ſeines Geſchaͤftes,
und auf die Localitaͤt. Der Eine ſchwebt in
den Luͤften uͤber allen Laͤndern und Zeiten; der
Andre haͤlt ſich an ſeinen Grund und Boden, und
an das, was er mit Haͤnden greifen oder von
ſeinem Buͤreau aus uͤberſehen kann. Und ſo geht
es denn, wenn ſie Beide zu einander kommen,
d. h. wenn der Praktiker ein politiſches Buch,
oder der Theoretiker eine praktiſche Anſtalt un-
terſucht, wie bei jenem beruͤhmten Gaſtmahle,
welches der Fuchs und der Storch einander ga-
ben: jeder begehrt andre Speiſe und in ande-
ren Gefaͤßen, als der Andre ihm vorſetzen kann.
Der Eine wirft dem Andern ſeine idealiſtiſchen
Traͤumereien vor, die, meint er, zwar am Ar-
beitstiſche glaͤnzen moͤchten, in der Wirklichkeit
aber grund- und bodenlos waͤren; der Andre
ſpricht von Schlendrian, beſchraͤnkten Geſichts-
punkten und Verlaͤugnung aller Principien; und
wie ſie auch Beide hierin Recht haben moͤgen, ſo
taugen doch Beide nichts. —
In einem Lande wie Deutſchland — wo bei
Müllers Elemente. I. [2]
[18] verſchloſſenen Thuͤren regiert wird, und wo, we-
nige gluͤckliche Staaten ausgenommen, die Re-
gierungsbeſchluͤſſe uͤber die Haͤupter uneingewei-
heter Unterthanen hergehen, wie der Wind und
die Wolken, von denen niemand ſagen kann,
woher ſie kommen, und wohin ſie fahren, oder
was ſie bedeuten — muß dieſe Spaltung noch
viel groͤßer ſeyn, als in England, wo die Ver-
faſſung, die hinreißende Gewalt, die Sichtbar-
keit und Zugaͤnglichkeit des oͤffentlichen Lebens
einen eigentlichen Theoretiker nicht einmal auf-
kommen laͤßt. Das beruͤhmte Buch von Adam
Smith iſt eins von den wenigen Buͤchern der
Britten, welche man theoretiſch nennen koͤnnte,
weil es ſich nicht in praktiſchen Schranken bewegt,
weil die Lehre der Handels- und Gewerbs-Frei-
heit, die darin aufgeſtellt iſt, auf die geſchloſſene
Perſoͤnlichkeit der Staaten, auf ihren abgeſon-
derten Charakter, und auf ihre nothwendige krie-
geriſche Stellung unter einander, zu wenig Ruͤck-
ſicht nimmt. Indeß, wie viele Spuren eines
reichen, thaͤtigen Lebens dieſes Buch enthaͤlt,
fuͤhlt man erſt, wenn man es in der magern Ge-
ſtalt Deutſcher vermeintlicher Bearbeitungen wie-
derſieht, wo die Reſultate von Adam Smith’s
Leben nur ſyſtematiſch aufgeſtutzt und zierlich
in Reihe und Glied erſcheinen. Es ging Adam
[19] Smith in Deutſchland, wie dem Philoſophen
Kant, von dem die Dichter der Xenien ſagten:
Gewiſſe politiſche Schriftſteller und ſeynwol-
lende Philoſophen haben das friſche und geſunde
Fleiſch jenes erhabenen Buches zergliedert, ap-
pretirt, und wieder zergliedert, ſo, daß von dem
praktiſchen Gehalte des Urhebers nichts uͤbrig
bleibt, als Reſultate, die nur Werth haben fuͤr
Den, der in die Handels- und Denkweiſe des
großen und liebenswuͤrdigen Mannes eingegan-
gen iſt, und ihn ſelbſt noch hoͤher ſchaͤtzt, als
ſein Buch. —
Mit dieſem Gerippe von Adam Smith nun
ſtellen ſich unſre Theoretiker den alten Prakti-
kern aus der Schule Colberts und Friedrichs
des Zweiten gegenuͤber. — Um die Schwerſaͤl-
ligkeit dieſer zu vollenden, fehlt weiter nichts,
als ein ſolcher [revolutionaͤrer] Leichtſinn der Geg-
ner. Hat es ihnen bisher noch an den gehoͤrigen
Gruͤnden fuͤr die Handelsſperre gefehlt, ſo bie-
tet die Unwiſſenheit der Theoretiker ſie ihnen
jetzt dar; und bei dem ganzen Streite verliert
niemand mehr, als der ungluͤckliche Staat, ge-
winnt aber auch niemand mehr, als der echte
[20] und unbefangene Staatsgelehrte oder Staats-
mann, der hier leibhaftig die beiden widrigen
Extreme vor ſich ſieht, die er zu vermeiden hat.
In Deutſchland nun iſt die Mitte zwiſchen
dieſen beiden Extremen doppelt ſchwer zu treffen:
Einerſeits, weil unſern Theoretikern durch den
Ueberfluß an literariſchen Communications-An-
ſtalten die Anſicht der entfernteſten Staaten be-
ſonders erleichtert iſt, und wir alſo vorzuͤglich ein-
geladen werden, uns auf eine idealiſche Hoͤhe zu
begeben, von der aus es uns uͤberhaupt kein wirk-
licher Staatsmann, ja die Welt ſelbſt nicht, mehr
recht machen kann; andrerſeits, weil unſre
Praktiker, die wenigen hoͤheren Beamten in den
groͤßeren Staaten ausgenommen, in ſo enge
Wirkungskreiſe gewieſen, von ſo kleinlichen Ver-
haͤltniſſen beengt, in ſo eigenſinnige Localitaͤten
eingepreßt ſind, daß ſie die Pedanterei eben ſo
ſchwer vermeiden koͤnnen, wie unſere Theoretiker
die Schwaͤrmerei.
Deshalb aber iſt auch Deutſchland ein ſehr
ſchoͤnes Theater fuͤr Den, welcher den Staat in
allen ſeinen Details, und den Staatsmann, wie
den Staatsgelehrten, in ſeinen Verirrungen ken-
nen lernen will. Deſſen ungeachtet iſt bei den
Praktikern, hier und uͤberall, mehr Gemuͤth und
wahre lebendige Wiſſenſchaft, als bei den Theo-
[21] retikern: es laͤßt ſich mehr bei ihnen lernen; die
Wirklichkeit in ihrer Allgewalt und mit ihren
nie ruhenden Forderungen ſteht ihnen beſtaͤndig
zur Seite, und erhaͤlt ſie lebendig: ſie ſind mehr
in die Bewegung des Staates verflochten und
mit ihrer ganzen anderweitigen Exiſtenz an ſie ge-
bunden; ſie ſind innerhalb der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft, waͤhrend die Theoretiker ſich beſtaͤndig
draußen halten, und, wenn ſie Unrecht haben,
nicht zu greifen ſind. —
Fuͤr dieſe giebt es eine Kunſt des Staaten-
bau’s, wie des Orgelbauens oder des Uhrma-
chens; und darin beſteht nun die ganze Weisheit
der Buchholze und der verſchiedenen Staats-
rathgeber in Deutſchland. Einen Mechanismus
angeben, und das Gewicht nachweiſen, welches
die Maſchine in Bewegung ſetzen ſoll; ein Raͤder-
werk von Inſtitutionen und ſocialen Koͤrperſchaf-
ten, und dann die Beduͤrfniſſe erſter Nothwen-
digkeit, oder der Magen, als Gewicht daran
gehaͤngt, und die Intelligenz dem Ganzen als
Pendul oder Corrections-Inſtrument beigege-
ben: — das heißt bei ihnen ein Staat. Alles
dies erkennen, heißt den Staat als große, aus
mehreren kleinen Sachen zuſammengeſetzte, Sa-
che begriffen haben; das Grobe, Koͤrperliche am
Staate, die ſichtbare Maſſe, iſt nun geſehen, das
[22] Handgreifliche alles ergriffen. Aber das Wich-
tigſte iſt dennoch uͤberſehen und verfehlt.
Alle nur gedenkbare Elemente des Staates,
alle Geſetze, Inſtitutionen u. ſ. w., ſind nur von
Einer Seite ſichtbar und zu berechnen: jedes fuͤr
ſich hat wieder ſein eignes perſoͤnliches, geheim-
nißvolles Leben und ſeine eigenthuͤmliche Bewe-
gung; die erſchoͤpfendſte Erkenntniß deſſelben in
todter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der
Staatskunſt muß erſt wieder in die gemeine
Wirklichkeit, zu der Erfahrung, zuruͤck; er muß
das Geſetz, die Inſtitution, eine Zeit lang im
freien Leben und in freier Bewegung betrachten;
es muß ſich in ihm ein Gefuͤhl von dem Werth
und der Bedeutung, wie von der wahren An-
wendung des Geſetzes bilden, was mehr ſagen
will, als der gruͤndlichſte Uhrmacherverſtand von
der Sache. Wie alle hoͤheren Wiſſenſchaften, ſo
auch die Staatswiſſenſchaften: ſie wollen erlebt,
nicht bloß erkannt und erlernt werden. Das
heißt nun, wie Burke es verlangt, „die Jahr-
hunderte fragen,” und hinein conſtruiren in die
Wiſſenſchaft, waͤhrend die Syſteme der gelehrten
Handwerker in unſeren Zeiten — ſie moͤgen an
die Geſchichte appelliren, wie ſie wollen — doch
nur aus Einem Momente geſchoͤpft, wie fuͤr
Einen Moment berechnet ſind. —
[23]
Der Streit der Theoretiker und Praktiker,
wie ich ihn hier dargeſtellt habe, iſt nicht zu
ſchlichten, und zwar vornehmlich deshalb nicht,
weil Beide ganz verſchiedene Gegenſtaͤnde im
Auge haben: der Eine ein ganz unbegrenztes
Gedankenbild; der Andre eine ſteife, abgeſchloſ-
ſene Wirklichkeit: der Eine den entſchiedenſten
Widerwillen gegen alle Schranken; der Andre
eine eben ſo entſchiedene Abneigung gegen alle
Freiheit: der Theoretiker, weil auf jedem Schrit-
te ſeines idealiſchen Weges ſeine Forderungen
an die Menſchen und ſein Pochen, auf die Al-
leinherrſchaft der Vernunft ungemeſſener wird;
der Praktiker, weil ihm, mit jedem Tage ſeiner
Geſchaͤftsfuͤhrung, die Nothwendigkeit nothwen-
diger, und die Gewohnheit maͤchtiger erſcheint.
Ferner veraͤndern ſich auf den ganz verſchiede-
nen Wegen ihre Organiſationen, ihre anderwei-
tigen Anſichten vom Leben und vom Menſchen
ſo, daß Beziehungen und Verſtaͤndniß unmoͤg-
lich werden, und bei jeder Beruͤhrung Beide ein-
ander nur in ihrer Einſeitigkeit beſtaͤrken koͤnnen.
Dennoch aber ſtuͤtzt ſich der Theoretiker auf die
nicht zuruͤckzuweiſende Autoritaͤt des Geiſtes und
der Vernunft; der Praktiker auf das eben ſo
ehrwuͤrdige Recht der phyſiſchen Beduͤrfniſſe und
der Erfahrung. — Und zum Regieren der Voͤl-
[24] ker brauchen wir beides, Geiſt und Erfahrung,
einer gewiſſen Theorie und einer gewiſſen Pra-
xis. Wo ſollen wir ein Vorbild, ein Muſter
von einer gediegenen Allianz beider finden?
Denn, wenn die wahre Theorie und die wahre
Praxis eben ſo feindſelig gegen einander geſtellt
ſind, wie der Theoretiker und der Praktiker,
ſo giebt es weder Staatswiſſenſchaft, noch
Staatskunſt, und es iſt dann eine bloße Taͤu-
ſchung, wenn man glaubt, daß die Voͤlker regiert
wuͤrden; dann macht ſich das ganze buͤrgerliche
Weſen, wie wir es um uns her ſehen, von
ſelbſt.
Heutiges Tages macht ſich auch die ganze
Sache, faſt uͤberall, von ſelbſt: es ſind wenige
Stellen der Welt, wo eigentlich regiert wird.
Wie wenige Staatsmaͤnner ſind auf der einen
Seite der Zeit und den unerbittlichen, immer
ungeſtuͤmeren Forderungen der Gegenwart und
des phyſiſchen Lebens gewachſen, d. h. wahrhaft
praktiſch, und zugleich gefaßt auf die Zukunft,
auf die Nachwelt, auf die edleren Beduͤrfniſſe
eines beſſeren Geſchlechtes, d. h. wahrhaft theo-
retiſch! — Die Einen, die praktiſchen, ſind
Sklaven der Gewohnheit, und kleben am Al-
ten, d. h. an ſeiner Schale, weil der Geiſt
des Alterthums gerade die Seele befreiet und
[25] entbindet: die Schlacken der Vorzeit hangen
an ihnen wie Kletten; die Andern, die theo-
retiſchen, faſeln dafuͤr in die Zukunft hinein,
traͤumen von neuen Zeiten, ganz neuen Zuſtaͤn-
den der Dinge; und daruͤber verſaͤumen Beide
die große ahndungsvolle Gegenwart. —
Wenn man uns doch einen Staatsmann zei-
gen wollte, der ſo ganz in der Gegenwart ſtaͤnde,
und dabei dennoch die Rechte der Vergangenheit
zu ſchonen und der Zukunft in’s Auge zu ſehen
wuͤßte, gleich-viel, ob bei den Zeitgenoſſen, oder
bei fruͤheren Generationen! Sein Bild wollten
wir uns dann tief in die Seele druͤcken — nicht,
um ihn nachzuahmen; denn das recht Große
laͤßt ſich nicht nachahmen; man kann nur, von
ſeinem Geiſte erfuͤllt, wieder Großes, und ganz
verſchiedenartiges Großes, thun. Deshalb waͤhle
ich, unter Vielen, einen Einzigen: nicht einen Zeit-
genoſſen und noch Lebenden, weil wir ſein gan-
zes politiſches Leben uͤberſehen muͤſſen; nicht
einen ganz Alten, damit ſeine Denkungs- und
Handlungsweiſe uns ganz begreiflich ſey; nicht
einen Landsmann, damit die Verſchiedenheit des
Theaters, auf dem er regierte, von dem unſri-
gen uns zwinge, den Geiſt ſeines Handelns zu
begreifen, und uns nicht etwa mit bloßem Feſt-
halten und Aneignen der Aeußerlichkeiten zu be-
[26] gnuͤgen; endlich einen ſolchen, an den wir be-
ſtaͤndig mit Freiheit appelliren koͤnnen, weil er
in der bedeutendſten Handlung ſeines Lebens, in
der Mißbilligung der Franzoͤſiſchen Revolution,
und in der Proteſtation dagegen, mit den jetzi-
gen Machthabern von Europa uͤbereinkommt
— Edmund Burke. Seine Werke und ſein
Leben kann unſer Jahrhundert aufzeigen, wenn
das Zeitalter des Hugo Grotius, Macchia-
velli’s und William Cecil’s uns fragt, ob
wir Staatsmaͤnner unter uns gehabt haben.
Hier iſt praktiſches Leben, hier iſt Geiſt und
Theorie; Ehrfurcht, ungebundene, vor dem Alter-
thum, freie Sorge fuͤr die Zukunft; hier erſchei-
nen Staatsmann und Staatsgelehrter in Einer
Perſon, nirgends, wie bei ſo vielen, ſelbſt vor-
trefflichen Andern, der Geiſt einzeln, abgeſchoͤpft
wie ein Schaum auf Einer Schuͤſſel, und die
Praxis einzeln, wie ein Hefen oder Bodenſatz,
auf einer andern. Seine Werke laſſen ſich nicht
deſtilliren; es laſſen ſich von ihnen keine Begriffe
abziehen, in verſiegelten Flaſchen aufbewahren,
und, wie es in den gewoͤhnlichen Schulen der
Staatswiſſenſchaft geſchieht, vom Lehrer auf den
Schuͤler, vom Vater auf den Sohn, weiter ge-
ben. Eben ſo wenig laſſen ſich praktiſche Kunſt-
griffe von ihm lernen. Begreift man aber den
[27][wirkl[i]chen] hiſtoriſchen Fall, von dem er ſpricht,
ſo h[a]t man zugleich ſeinen Geiſt begriffen; be-
greif[t] man den Gedanken, der ihn bewegt, ſo
ſieht man denſelben zugleich ausgedruͤckt im wirk-
licher Leben, richtig und gewaltig ausgedruͤckt. —
Der Staat und alle großen menſchlichen
Angelegenheiten haben Das an ſich, daß ihr We-
ſen ſich durchaus nicht in Worte oder Defini-
tionen einwickeln oder einpreſſen laͤßt. Jedes
neu Geſchlecht, jeder neue große Menſch giebt
ihnm eine andre Form, auf welche die alte Er-
klaͤrung nicht paßt. Solche ſteife Ein- fuͤr alle-
ma abgefaßte Form, wie die gemeinen Wiſſen-
ſcheften vom Staate, vom Leben, vom Men-
ſchen umherſchleppen und feil bieten, nennen wir:
Begriffe. Vom Staate aber giebt es keinen
Begriff. — Unſre Vaͤter hatten vom Staate den
Begriff, daß er eine Zwangsanſtalt ſey; indeß
ſind andre Zeiten gekommen, und das Beſte,
das Wichtigſte hat ſich nicht erzwingen laſſen: —
wir haben uns andre Begriffe gebildet, die in-
deß nicht Stand halten koͤnnen, weil der Be-
griff keine Bewegung hat, der Staat aber ſehr
viele, wie ich im Anfange meiner Betrachtung
zeigte. —
Wenn der Gedanke, den wir von einem ſol-
chen erhabenen Gegenſtande gefaßt haben, ſich
[28] erweitert; wenn er ſich bewegt und waͤchſt, wie
der Gegenſtand waͤchſt und ſich bewegt: dann
nennen wir den Gedanken, nicht den Begriff
von der Sache, ſondern die Idee der Sache,
des Staates, des Lebens. Unſre gewoͤhnlichen
Staats-Theorieen ſind Aufhaͤufungen von Be-
griffen, und daher todt, unbrauchbar, unprak-
tiſch: ſie koͤnnen mit dem Leben nicht Schritt
halten, weil ſie auf dem Wahne beruhen, der
Staat laſſe ſich vollſtaͤndig und Ein- fuͤr allemal
begreifen; ſie ſtehen ſtill, waͤhrend der Staat
in’s Unendliche fortſchreitet. — Es gab z. B.
in den 70 ger Jahren des vorigen Jahrhunderts
in Frankreich eine große Menge weltkluger Leute,
welche ſich bemuͤheten, Begriffe von der Ge-
treideausfuhr zu geben; alle dieſe Begriffe und
darauf gebauete Vorſchlaͤge waren aber unbrauch-
bar und nicht auszufuͤhren. Da erſchien die
genialiſche, und doch ſo elegante und zierliche,
Behandlung dieſes beruͤhmten Problems vom
Abbe Gagliani; und ein ploͤtzliches Verſtum-
men der alten, ſtaatswirthſchaftlichen Tonange-
ber, und der Beifall von Frankreich und ganz
Europa zeigte, daß er die Sache getroffen hatte.
Gagliani gab keinen Begriff, keine Verfahrungs-
regel, aber die Idee des Getreidehandels; nichts
Einzelnes davon konnte angewendet werden:
[29] denn Gagliani bewies eben, daß jede Regel nur
auf einen beſtimmten Fall anwendbar ſey, daß
es keine beſtimmte Regel von unbeſtimmten Faͤl-
len gebe, und ſetzte den Staatswirth, der ihn
verſtand, in die klare und muthige Dispoſition,
nun ſeines Orts zu thun, was noth war. —
Dieſen wichtigen Unterſchied zwiſchen der Idee
und dem Begriff, auf den ich in jedem Ab-
ſchnitte meiner Darſtellung zuruͤckkommen werde,
zu erkennen, giebt es kein gefaͤlligeres Mittel,
als die Lectuͤre der Dialogues sur le commerce
des blés. —
So nun im großen, freien Styl, ſo ideen-
weiſe, lernt ſich die Staatswiſſenſchaft in Bur-
ke’s Werken. Weder vom bloßen Verſtande
ausgehend, noch bloß von der Noth des Augen-
blicks und dem Drange der Umſtaͤnde, ſind ſie
eine ewig offne und doch freie Schule der Welt;
der ganze Menſch, verflochten mit ſeinem Leben
und allen ſeinen Schickſalen in die Schickſale
der Welt und des Vaterlandes, ſpricht zum gan-
zen Leſer, und reißt ihn mit ſich fort in die Be-
wegung, indem er ihm den Muth und den Geiſt
giebt, zu tragen, zu dulden, zu trotzen und zu
helfen, zu beſſern und weiter zu begeiſtern, wo
es von noͤthen iſt.
Der beſtimmte Fall kommt nicht wieder, die
[30] Welt gebiert Eine neue Erſcheinung uͤber die an-
dre; aber der Geiſt, der aus den Werken ſol-
cher Staatsmaͤnner ausgeht, iſt ewig, weil es
kein abſtracter, abgezogener Geiſt, ſondern ein
lebendiger Geiſt iſt, der nur begriffen wird, in
wie fern man das zu ihm gehoͤrige Fleiſch, die
damals reale und praktiſche Lage der Sachen,
das heißt, die Theorie in der Praxis, zugleich
mit begriffen hat. Darum ſind die Memoiren
von Sully, dem Cardinal Retz, und von
Noailles lehrreicher, als alle ſyſtematiſchen
Handbuͤcher der Staatskunſt, weil ſie Beides, den
Geiſt und das Factum, als Eins und mit Einem
Schlage geben; weil Bewegung in ihnen
iſt. — Hat man ſich in ſolchem Studium erſt-
lich die Freiheit und dann die praktiſche Beweg-
lichkeit erworben, welche die Politik verlangt:
nun, dann mag der Schwarm ſyſtematiſcher und
theoretiſcher Stuben-Staatsmaͤnner und vertrock-
neter Regiſtraturen-Praktiker kommen; jetzt, da
ſich ſchon ein Gefuͤhl politiſchen Lebens und ein
Kern unabhaͤngiger Geſinnung in uns gebildet
hat, ſind jene einſeitigen Figuren hoͤchſt lehr-
reich: denn erſtlich wiſſen wir jetzt ihre lebens-
loſe Weisheit mit eigner Kraft zu beleben; dann
erhalten ſie uns die Extreme gegenwaͤrtig, in
deren Mitte wir uns bewegen ſollen, und brin-
[31] gen in uns den Gewinn, welchen wir von
Burke, Sully und Gagliani davon getra-
gen haben, zum Bewußtſeyn. — So viel von
Burke’s Schriften; und nun noch ins Beſon-
dere ein Wort von ſeinem Leben.
Als einen Abtruͤnnigen hat ihn die Zeit,
haben ihn ſeine Freunde, unter Fox’ens An-
fuͤhrung, ausgeſchrieen, weil er die Parthei der
Freiheit im erſten Momente des Ausbruches
der Franzoͤſiſchen Revolution verließ, nachdem
er ſein ganzes vorheriges Leben hindurch auf
ihrer Seite geſtanden hatte. Eben in dieſer ſei-
ner Apoſtaſie kam es zum Vorſchein, wie hoch
er uͤber den ganzen Troß ſeiner Freunde, vor-
nehmlich uͤber Fox, Grey und Erskine, hervor-
ragte. Er gab ſeine zwanzigjaͤhrige Freundſchaft
mit Fox an einem einzigen Tage auf, da es nun
entſchieden war, daß Dieſer es mit dem todten
Begriffe „Freiheit”, und nicht mit der Idee
derſelben, zu thun hatte. In Frankreich raſ’te
dieſer Begriff, und zerſtoͤrte alles Vorhandene,
Geordnete; alles, wofuͤr Burke, neben ſeinem
Gottesdienſte der Freiheit, in ſeinem großen
Herzen noch hinlaͤnglichen Raum hatte. Er wollte
nicht fuͤr einen todten Begriff eine lebendige
Welt verſchleudert ſehen; er warf das ganze Ge-
wicht ſeines Herzens und ſeiner Beredtſamkeit
[32] zur Ehre der Idee „Freiheit,” in die Schale
der koͤniglichen Gewalt — damals, als noch
die ganze Welt entweder im erſten Entſetzen vor
der ungeheuren Begebenheit verſtummte, oder
im Taumel des Goͤtzendienſtes, vom Begriffe
der Freiheit befangen, der National-Verſamm-
lung Beifall zujauchzte. Unter allem Tumulte
jenes Augenblickes war ihm der Charakter und
die ganze kuͤnftige Bahn dieſes Ereigniſſes ſo
klar, wie er es in ſeinen beruͤhmten Betrach-
tungen uͤber die Franzoͤſiſche Revolu-
tion, ſich ſelbſt zum Zeugniß und allen kommen-
den Geſchlechtern zur Lehre, niedergeſchrieben hat.
Das nun iſt die Gewalt der lebendigen
Idee, und ihr erhabener Sieg uͤber den todten
Begriff! In einer ganz veraͤnderten Welt, wie die
vom Jahre 1790, findet ſie ſich auf der Stelle
wieder; das Chaos ſelbſt kann ſie nicht verwirren:
denn ſie traͤgt die Seele aller Ordnung, den
Muth des wahren Regierens, unuͤberwindlicher
und unausloͤſchlicher in ſich, als die eigne Lebens-
flamme. — Indeß zerreibt ſich der trockne Be-
griff unter den Stoͤßen der Zeit: das Schickſal
treibt unerbittlich ſeinen Spott mit ihm, und
verdrehet ihn, daß zuletzt die Freiheit von der
Tyrannei nicht mehr zu unterſcheiden iſt; es
zwingt einen Fox, von ſich ſelbſt abtruͤnnig zu
wer-
[33] werden, waͤhrend Burke’s freie Abtruͤnnigkeit
jedem kommenden Geſchlechte immer deutlicher
in dem Lichte wahrer Treue erſcheint. — Alles,
was im Staat oder im Leben nach Begriffen
und Grundſaͤtzen erbauet iſt, vergeht im be-
wegten Fluſſe der Zeit. Welche Wirkung iſt von
allen geruͤhmten Maximen des Cardinals
Richelieu jetzt noch uͤbrig? Die Idee aber
iſt ewig; denn ſie iſt, ſie lebt. —
In aͤhnlicher Abtruͤnnigkeit von dem Begriffe
zu Ehren der Idee erſcheinen — damit ich noch
einiger bekannten und leichteren Beiſpiele gedenke
— der Cardinal-Erzbiſchof von Wien Migazzi,
in ſeinem Uebertritte von der Janſeniſtiſchen
Parthei zu der Jeſuitiſchen, gerade in dem Au-
genblicke, und nicht eher, als bis die Jeſuitiſche
Parthei allenthalben unterdruͤckt wurde; — fer-
ner Johann von Muͤller in ſeiner glaͤnzen-
den Jugend, als Er, der in den Sinn jeder
Parthei, alſo auch der Aufgeklaͤrten, einzu-
gehen wußte, gerade zum Vertheidiger der damals
unterdruͤckten, der paͤpſtlichen, wurde.
In dem ſteifen Verharren auf dem Buch-
ſtaben gewiſſer Begriffe und Grundſaͤtze liegt
das Geheimniß der Treue und der Feſtigkeit
nicht; wie ſich ja uͤberhaupt der erhabene Sinn
weder des menſchlichen, noch des politiſchen
Müllers Elemente. I. [3]
[34] Lebens nicht in Worten und Buchſtaben abfaſſen
laͤßt. Nur in der Bewegung kann ſich die Ruhe
und die Treue zeigen; nur in der Beweglichkeit
die Feſtigkeit des Herzens: denn ein Herz iſt
auf andre Weiſe ruhig, als ein Stein. Wie ruhig
iſt die Natur in aller ihrer ewigen Bewegung!
Demnach iſt das, was ich unter Bewegung
des Staates, und der ihr angemeſſenen Beweg-
lichkeit des Staatsgelehrten, wie des Staats-
mannes, meine, und auf welche Art ich die Idee
von dem Begriffe unterſcheide, ſo klar, wie es
zu unſerm weiteren gegenſeitigen Verſtaͤndniß
noͤthig iſt. —
[35]
Zweite Vorleſung.
Daß die politiſchen Syſteme aus todten Begriffen erbauet ſind,
während die lebendige Idee darin herrſchen ſollte.
Wir muͤſſen ſehr oft zuruͤckkehren zu den be-
ruͤhmten Worten des Archimedes: „Gebt
mir eine Stelle außerhalb der Erde, ſo
will ich die Erde aus ihren Angeln he-
ben.” — Nicht leicht laͤßt ſich irgend ein fal-
ſches Beſtreben im Leben, im Staate, in der
Wiſſenſchaft denken, das nicht durch die erha-
bene Paradoxie jenes großen Wortes beſeitigt
wuͤrde.
Treffen nicht 1) alle ungluͤcklichen Irrthuͤmer der
Franzoͤſiſchen Revolution in dem Wahne uͤberein,
der Einzelne koͤnne wirklich heraustreten aus der
geſellſchaftlichen Verbindung, und von außen um-
werfen und zerſtoͤren, was ihm nicht anſtehe; der
Einzelne koͤnne gegen das Werk der Jahrtau-
ſende proteſtiren; er brauche von allen Inſtitu-
[36] ten, die er vorfinde, nichts anzuerkennen; kurz,
es ſey wirklich eine Stelle außerhalb des Staa-
tes da, auf die ſich jeder hin begeben, und wo er
dem großen Staatskoͤrper neue Bahnen vorzeich-
nen, aus dem alten Koͤrper einen ganz neuen
machen, und dem Staate, anſtatt der alten un-
vollkommenen, aber erpruͤften Conſtitution, eine
neue, wenigſtens fuͤr die naͤchſten vierzehn Tage
vollkommene, vorzeichnen koͤnne? —
Stellen ſich nicht 2) die meiſten politiſchen
Schriftſteller ſo, als ſtaͤnden ſie entweder im
Anfange aller Zeiten, und als ſollten die
Staaten erſt jetzt errichtet werden; als waͤren
die großen Werke der Staatskunſt, welchen wir
in der Geſchichte begegnen, nichts weiter als
armſelige Verſuche, und die Geſchichte ſelbſt
nichts anders, als ein Curſus der Experimental-
Politik; als wuͤrden erſt jetzt Staaten in die
Welt kommen, erſt jetzt das Regieren angehen?
oder, als ſtaͤnden ſie am Ende aller Zeiten,
und als muͤßten die Vorfahren ſich gefallen laſſen,
was ſie — die letzten, weiſeſten Enkel, großge-
fuͤttert mit der gemeinſchaftlichen Vernunft und
Erfahrung aller fruͤheren Geſchlechter — uͤber
die Werke, uͤber die tauſendfaͤltigen Satzungen
und Ausſpruͤche, ja uͤber die Graͤber der Ahnher-
ren beſchließen wuͤrden; kurz, als waͤren ſie
[37] wirklich die Letzten, oder koͤnnten doch dafuͤr haf-
ten, daß ihre Nachkommen ſich alles wuͤrden
gefallen laſſen, was ſie beſchloͤſſen, da ſie alles
ſchon im Voraus wuͤßten, was jene Zukuͤnfti-
gen beduͤrfen und begehren wuͤrden? Stellen ſich
ſolche Schriftſteller nicht außerhalb des Staa-
tes? wollen ſie nicht mit eben der Weisheit, die
ſie vom Rathhauſe heruntergebracht, nun das
Rathhaus aus ſeinen Grundfeſten herausheben?
Endlich 3) woher kommt die durchaus fal-
ſche Vorſtellung in die Politik, „der Staat ſey
eine nuͤtzliche Erfindung, eine bloße Anſtalt des
gemeinen Beſten, ein menſchliches Auskunftsmit-
tel, um mancherlei Unbequemlichkeiten zu ver-
huͤten, eine gegenſeitige Sicherheits-Verſiche-
rung, ohne die der Menſch, im Nothfalle, wenn
auch unbequemer und unbehaglicher, doch ganz
wohl leben koͤnne? Der Staatskuͤnſtler ſtehe nun
außerhalb ſeines Staates, wie der Tiſchler außer-
halb des Moͤbels, das er verfertigt, und der
Kaͤufer, die beduͤrftige Nation, komme und
waͤhle ſich unter allen dieſen politiſchen Mobi-
lien die zweckmaͤßigſten, bequemſten und modern-
ſten; denn er, der Staatsmann, baue in Vor-
rath, fuͤr jeden Geſchmack?” Woher ſonſt kommt
die allgemeine Vorliebe fuͤr den Begriff des
Staates, als daher, daß man ſich den Betrach-
[38] ter und den Agirenden, den Staatsgelehrten und
den Staatsmann, immer außerhalb des Staa-
tes, denſelben mit Haͤnden begreifend und
befuͤhlend, denkt, und daß man den großen Sinn
des Archimediſchen Wortes nicht ergruͤndet hat,
welches auf die phyſikaliſche und die politiſche
Mechanik gleich-richtig paßt? —
Dem dreifachen Irrthume, den ich hier dar-
geſtellt habe, wollen wir eine dreifache Wahrheit
entgegenſtellen, und dergeſtalt unſre Staatsan-
ſicht auf die Natur der Sache gruͤnden.
1) So wie jedes Geſchoͤpf der Natur in der
Mitte der Natur zu ſtehen meint; wie jede Crea-
tur, wenn ſie die Wahrheit geſtehen will, ſich einbil-
det, die ganze Welt bewege ſich um ſie her; wie
keine Seele außer der Natur, oder auf ihrer un-
terſten Stufe zu ſtehen glaubt; wie kein Wurm
ſchlecht von ſich denkt: — ſo ſteht jeder Menſch
in der Mitte des buͤrgerlichen Lebens, von allen
Seiten in den Staat verflochten, da; und ſo
wenig er aus ſich ſelbſt heraustreten kann, eben
ſo wenig aus dem Staate.
2) So wie ferner niemand, wenn er ſich
nicht ziert und den Propheten oder den Tacitus
ſpielen will, im Grunde des Herzens von ſeiner
Zeit ſchlecht denkt, und am Anfang oder am
Ende der Welt, an threm Morgen oder ihrem
[39] Abend, ſondern, wie jeder Andre, in der Mitte
der Zeit, und am Mittage der Welt zu leben
glaubt —: eben ſo ſteht jeder Staatsbuͤrger mit-
ten in der Lebenszeit des Staates, und hat
hinter ſich eine Vergangenheit, die reſpectirt,
vor ſich eine eben ſo große Zukunft, fuͤr die ge-
ſorgt werden ſoll; aus dieſem Zeitzuſammen-
hange kann niemand heraustreten, ohne ſich
ſelbſt zu widerſprechen. Wir Alle klagen mit-
unter uͤber die ſchlechte Zeit, ſehnen uns in un-
gluͤcklichen Augenblicken wohl gar nach andern
vergangenen oder kommenden Zeiten hin, und
moͤchten unſre eignen Ahnherren, oder unſre eig-
nen Enkel ſeyn; doch der Widerſpruch hierin iſt
offenbar, und bleibt ewig.
Endlich 3) iſt der Staat nicht eine bloß
kuͤnſtliche Veranſtaltung, nicht eine von den tau-
ſend Erfindungen zum Nutzen und Vergnuͤgen
des buͤrgerlichen Lebens, ſondern er iſt das Gan-
ze dieſes buͤrgerlichen Lebens ſelbſt, nothwendig
ſobald es nur Menſchen giebt, unvermeidlich, —
in der Natur des Menſchen begruͤndet, wuͤrde
ich ſagen, wenn nicht, aus allen richtigen Ge-
ſichtspunkten betrachtet, menſchliche Exiſtenz und
buͤrgerliche eins und daſſelbe waͤren, und wenn
ich alſo mit jenen Worten nicht etwas ſehr Ueber-
fluͤßiges ſagen wuͤrde.
[40]
Dies ſind drei einfache Gedanken, ſelbſt Kin-
dern begreiflich, ſcheinbar ſich von ſelbſt verſte-
hend, dergleichen an die Spitze jeder Wiſſenſchaft,
z. B. der Mathematik, geſtellt zu werden pfle-
gen, von denen die ganze Wiſſenſchaft ausgeht,
und zu denen ſie unaufhoͤrlich zuruͤckkehrt; daher
zwar ſehr leicht, aber auch ſehr ſchwer, je nach-
dem man ſie betrachten will.
Laſſen Sie uns dieſe drei Wahrheiten noch
inniger und kraͤftiger zuſammenfaſſen in eine ein-
zige, und dieſe ſo ausdruͤcken: der Menſch
iſt nicht zu denken außerhalb des Staa-
tes. „Wie!” hoͤre ich fragen; „wenn er ſich
im Kreiſe ſeiner Familie den leiſeſten und zarte-
ſten Empfindungen des Lebens hingiebt, von
denen die Regierung nie etwas wiſſen oder er-
fahren kann; wenn er ſtille und heilige Pflichten
erfuͤllt, die vor keinen andern Richter gehoͤren,
als vor ſein eigenes Herz; ja, wenn er in tie-
fer Abgezogenheit, den Wiſſenſchaften hingegeben,
lebt —: ſteht er in allen dieſen Faͤllen nicht
wirklich außerhalb des Staates, auf einer Stelle,
wo ihn der Staat nicht erreichen kann? — Fer-
ner: wo ſtanden denn jene erſten Menſchen, die
unſre Erde lange vorher bewohnt haben moͤgen,
ehe an irgend eine buͤrgerliche Verfaſſung zu
denken war? Wo ſtehen denn noch heut zu Tage
[41] alle jene wilde Voͤlker, die den Stand der Natur
noch nicht verlaſſen haben? Wo ſteht denn Der,
welcher freiwillig oder gezwungen in ein Exil
geht? Stehen nicht eben ſo viele Menſchen und
menſchliche Angelegenheiten außerhalb, als in-
nerhalb des Staates?” —
Alle dieſe Einwuͤrfe ſind ſehr gegruͤndet, und
aus taͤglichen Erfahrungen, aus einer faſt allge-
mein verbreiteten Denkungsart her genommen;
aber welche tiefe Corruption aller Anſichten vom
Staate leuchtet daraus hervor! — Der Staat
iſt demnach weiter nichts als ein einzelnes De-
partement der menſchlichen Angelegenheiten; der
Menſch braucht Haus, Hof, Knecht, Magd,
Vieh und mancherlei Geraͤth, und unter dieſem
Geraͤthe nun auch Staaten, d. h. große organi-
ſirte Polizei-Anſtalten, erweiterte Marechauſ-
ſeen, damit er alles des groben Gepaͤckes, wel-
ches er auf die Lebensreiſe mitnehmen muß,
ſicher ſey. Oder: die Wiſſenſchaften, die ſchoͤ-
nen Kuͤnſte, Freundſchaft, Liebe, haͤusliches Gluͤck
— die ſind das Weſentliche im Leben des gebil-
deten Mannes; um derentwillen iſt er da. Der
Staat? — je nun, der iſt ein nothwendiges
Uebel; ein trauriger Nothbehelf in einer Welt,
worin es wenige Gebildete und ſehr vielen nichts-
nutzigen und begierigen Poͤbel giebt, der abge-
[42] wehrt werden muß. — Solcherlei Vorſtellungen
vom Staate waren in Deutſchland die verbrei-
tetſten, bis die allgemeine Noth daran erinnert
hat, daß die Goͤtter ihren Sitz anderswo haben,
als in den kleinen Nichtswuͤrdigkeiten des elegan-
ten und haͤuslichen Lebens; bis, unter den unge-
heuren Bewegungen der Zeit, ſelbſt in die feig-
ſten und ſchlaffſten Seelen eine Ahndung gekom-
men iſt, daß dem Menſchen alles fehle, wenn
er die geſellſchaftlichen Bande oder den Staat
nicht mehr empfindet. — Aber klar iſt die Vor-
ſtellung noch nicht, daß der Staat das Beduͤrf-
niß aller Beduͤrfniſſe des Herzens, des Geiſtes
und des Leibes ſey; daß der Menſch nicht etwa
bloß ſeit den letzten civiliſirten Jahrtauſenden,
nicht bloß in Europa, ſondern uͤberall und zu
allen Zeiten, ohne den Staat nicht hoͤren, nicht
ſehen, nicht denken, nicht empfinden, nicht lie-
ben kann; kurz, daß er nicht anders zu den-
ken iſt, als im Staate. — Alle große und
tiefe Gemuͤther haben das laͤngſt erkannt; aber
daß auch leichtere Seelen, die von einem untrieg-
lichen, geſellſchaftlichen Tact geleitet werden und
mehr zur Klugheit als zur Weisheit erzogen
ſind, endlich damit uͤbereinſtimmen, zeigt Vol-
taire’s beruͤhmter Ausſpruch: Celui qui n’ose
regarder fixement les deux poles de la vie
[43] humaine, la religion et le gouvernement, n’est
qu’un lâche.
Ich will es verſuchen, den unermeßlichen
Wuſt falſcher Vorſtellungen vom Staate, die
nicht bloß im geſellſchaftlichen Leben, ſondern
auch in faſt allen politiſchen Lehrbuͤchern noch
heut zu Tage eine große Rolle ſpielen, nach ge-
wiſſen Rubriken zu ordnen, und bei der Wi-
derlegung meinen Ausſpruch: „daß es nichts
Menſchliches gebe außerhalb des Staates,” zu
bewaͤhren. Es erſcheint jetzt eine Reihe von
Begriffen, in deren Zerſtoͤrung ſich die ſtei-
gende Hoheit der Idee des Staates bewaͤhren
ſoll.
1) Der Staat ſorgt bloß fuͤr die aͤu-
ßeren Beduͤrfniſſe des Menſchen, und
nimmt bloß ſeine aͤußerlichen Handlun-
gen in Anſpruch. — Der Menſch lebt in
zwei und, ſo Gott will, mehr Welten wechſels-
weiſe; er dient mehreren Herren zugleich. Mit
dem Einen Fuße ſteht er in einer wirklichen phy-
ſiſchen, mit dem andern in einer idealiſchen, mo-
raliſchen Welt: zu einigen Handlungen kann er
maſchinenweiſe, durch mechaniſche Gewalt,
gezwungen werden; andre und bei weitem die
wichtigſten Handlungen der Menſchen, bleiben
geiſterweiſe der Willkuͤhr uͤberlaſſen: ſein
[44] Herz, ſeine Liebe kann der Buͤrger dem Staate
verweigern, ſchenken und zuruͤcknehmen, wie er
will. — Sehen Sie da die Gebrechlichkeit aller
unſrer Theorieen, die, um nur einen recht rund
abgeſchloſſenen Begriff vom Staate geben zu koͤn-
nen, lieber auf den ſchoͤneren Theil des menſchlichen
Weſens, auf die Gefuͤhle und die Gedanken der
Menſchen, Verzicht leiſten, und ſich mit rohem
Gehorſam, mit der Furcht der Beherrſchten,
anſtatt aller Liebe, mit grober Tributzahlung
begnuͤgen, wo ſie die innigſte Hingebung, die
uneingeſchraͤnkteſte Aufopferung, begehren ſoll-
ten. — Sehen Sie, wie der ganze, dergeſtalt
begriffsweiſe abgeſchloſſene Staat bloß fuͤr den
vermeintlichen Friedenszuſtand berechnet iſt, d.
h. fuͤr einen Zuſtand, worin ſich dieſe Zerſtuͤcke-
lung des buͤrgerlichen Weſens in aͤußere und in-
nere Handlungen, in Zwangs- und Gewiſſens-
verhaͤltniſſe, praktiſch ausfuͤhren laͤßt. Im ſoge-
nannten Frieden laͤßt es ſich denken, daß Recht
und Moral, oder aͤußeres und inneres Leben,
jedes ſeinen abgeſonderten Weg geht; daß Stock
und Halseiſen auf der Einen Seite, und das
moraliſche Urtheil auf der andern, ein beſondres
Regiment fuͤhren. Nun aber laſſen Sie einen
Krieg ausbrechen, worin der ganze Staat fuͤr
Einen Mann ſtehen ſoll: — iſt da nicht das
[45] ganze mit der Scheere des Begriffes in
oͤffentliches und Privatleben, in Civil und Mili-
tair zerſchnittene und zerſplitterte buͤrgerliche
Weſen de facto aufgeloͤſ’t? Die innere Her-
zenskraft der Unterthanen ſoll nun dem Staate
beiſpringen, alles ſoll der Buͤrger nun einem
Ganzen hinzugeben und aufzuopfern im Stande
ſeyn!
Aber wo oder was iſt denn dieſes Ganze?
— Der Geiſt der Buͤrger? Der iſt ſchon im
Dienſte der Wiſſenſchaften engagirt; und was ha-
ben die Wiſſenſchaften mit dem Staat und ſeinen
Kriegen zu thun! Die Wiſſenſchaften ſind Ein-
fuͤr allemal neutral, ſind, heißt es, Gemeingut
der Menſchheit, und was dergleichen ſchlaffe,
ſogenannte philanthropiſche Phraſen mehr ſind.
— Das Herz der Buͤrger, ihre Neigung, ihr
Gefuͤhl? Das alles ſteht im Dienſt einer ſeich-
ten, nichtswuͤrdigen Haͤuslichkeit, treibt ein arm-
ſeliges Dilettantenweſen mit den ſchoͤnen Kuͤn-
ſten und andren zur eleganten Bildung gehoͤrigen
Dingen. — Alles, was der Staat braucht — denn
die ſtehenden Armeen und die Waffenvorraͤthe
ſind das Wenigſte —, iſt, mit Bewilligung des
Staates und der Theorie, anderweitige Verbind-
lichkeiten eingegangen, — und uͤber ihre koſtbar-
ſten Kleinode kann die Republik, gerade im Augen-
[46] blicke der Noth, nicht nach Willkuͤhr verfuͤ-
gen. —
Freilich ſind die Gedanken zollfrei; freilich
will es etwas anderes ſagen, die Herzen der
Menſchen zu regieren, als ihre Haͤnde und Beine;
freilich gehoͤren, wenn man den Menſchen ein-
mal zerſtuͤckeln will, ganz andre Maͤchte dazu,
die Geiſter als die Leiber in ein kraͤftiges Ganze
zu verbinden: aber wie kann denn die Theorie
behaupten, die Leiber koͤnnten, ohne die Gei-
ſter, fuͤr die Ewigkeit verbunden ſeyn! Wie
kann ſie einen Haufen von Haͤnden und Beinen
„einen Staat” nennen! Wo der Kern des
menſchlichen Weſens liege; wo man den Punkt
im Menſchen ſuchen muͤſſe, in welchem alles
leibliche und geiſtige Intereſſe zuſammen tritt,
damit, wer dieſe Feſtung erobert habe, nun Herr
des Ganzen ſey: das iſt die Frage; dort muͤßt
ihr eure Hebel, eure Baͤnder anlegen, wenn ein
Staat werden ſoll. — Der Staat hat es eben
ſowohl mit der Sitte, als mit dem Rechte
zu thun; der Suveraͤn muß die große Vereini-
gung eben ſowohl zuſammen reitzen, als zu-
ſammen zwingen. Was heißt Geſetz, wenn
das Heiligſte, die innerſten Angelegenheiten des
Menſchen, hors de la loi ſtehen?
Seit den Zeiten der Kirchen-Reformation
[47] hat man ſich in Deutſchland ſehr laut und ſehr
oft gegen ſolche Corporationen im Staate erklaͤrt,
welche man „Staaten im Staate” nannte;
und allerdings war es eine gerechte Abſicht, im
Staate nichts Fremdartiges, von ſeiner Autori-
taͤt Eximirtes, dulden zu wollen. Sehr richtig
fuͤhlte man die Gebrechlichkeit eines Staates,
der uͤber ſich ſelbſt nicht Herr ſeyn kann, weil
in ſeinem Innern etwas von ſeiner Organiſation
durchaus Unabhaͤngiges, in ſeinen Verband nicht
Eingreifendes exiſtirt. Man hat den Anſpruͤchen
der katholiſchen Kirche, des Adels, der ſtaͤdti-
ſchen und ſtaͤndiſchen Corporationen die ſehr
richtige Forderung entgegengeſetzt, daß dieſe ver-
ſchiedenen Koͤrper nur geduldet werden koͤnnten,
in ſo fern ſie ſich vertruͤgen und Eins wuͤrden
mit dem Staate, und alſo keinen Staat im
Staate bildeten. — Wie kann man aber eine
den Geſetzen ganz fremdartige, ja widerſpre-
chende Sitte, eine der Buͤrgerlichkeit ganz entge-
gengeſetzte haͤusliche Tugend, eine den aͤußer-
lichen Verpflichtungen ganz widerſtreitende Nei-
gung des Herzens, eine aller Nationalitaͤt ent-
gegenarbeitende Wiſſenſchaft, eine den großen
energiſchen Geiſt des politiſchen Lebens voͤllig
vernichtende Religion der Schlaffheit, der Feig-
heit und des iſolirten Intereſſe — nicht bloß
[48] dulden, ſondern gut heißen und befoͤrdern! Das
iſt ſchlimmer, als Staat im Staate; das iſt Anar-
chie der Geiſter, mitten im geſetzlichen Verein.
Die chriſtliche Religion war Religion der
Kraft und der Reſignation, der Adel auf ritter-
liche Tugend, Einigkeit und Aufopferung gegruͤn-
det: alle dieſe Inſtitute, auch in der groͤßten
Entartung, konnten noch gewonnen werden fuͤr
die Angelegenheit des Gemeinweſens, und ihr
dienen — eben weil ſie Corporationen, und das
Zuſammenhalten, das Concentriren der Kraͤfte
ihr oberſter Grundſatz war. Aber wie verhaͤlt
ſich zu unſern Staaten die von dem Staate und
von der Theorie legaliſirte und doctrinaliſirte
Zerſplitterung, Entfremdung und Auswaͤrtigkeit
der Geiſter!
Die Phyſiokraten behaupteten, der Kauf-
mannsſtand ſey in allen Europaͤiſchen Staaten
eigentlich hors de la loi, hors de l’intérêt
commun, beſonders die mit dem auswaͤrtigen
Handel beſchaͤftigte Kaufmannsſchaft, weil es
ihr Grundſatz ſeyn muͤſſe, Freund und Feind in
ſeinem Reichthume zu verkuͤrzen. Dieſe, wie ſich
an einem andern Orte zeigen wird, durchaus
falſche und einſeitige Behauptung paßt auf keinen
Stand ins Beſondre, deſto beſſer aber auf den
edleren geiſtigen Theil aller Individuen. — Hat
nicht
[49] nicht ſogar Adam Smith bei aller ſeiner Erha-
benheit nie begreifen koͤnnen, wie eigentlich die
Producte der Geiſter im Staate, neben den
viel ſolideren Producten der Erde und des ma-
nufacturirenden Fleißes, in Betracht kommen
muͤſſen? Mit den Gelehrten, Staatsmaͤnnern,
Schauſpielern, Geiſtlichen u. ſ. f. weiß er fuͤr
ſeinen Zweck durchaus nichts anzufangen; erſt
wenn ſie ihm ein handgreifliches Product, z. B.
der Philoſoph ein Buch, liefern, kurz, nur in
ſo fern ihr Fleiß wirklich manufacturirend, und
das, was ſie produciren, wirkliches Object fuͤr
den Handel wird, kommen ſie, ſeiner Meinung
nach, fuͤr den Staat in Anſchlag. Er wollte
eine abſolute Grenze um die Production her zie-
hen, einen fixen Begriff vom National-Reich-
thum geben; dem Begriffe zu gefallen, muß-
ten die fruchtbarſten Gedanken des Staatsman-
nes, die begeiſterndſten Reden des Gelehrten
oder des Geiſtlichen von dem Umkreiſe der pro-
ductiven Staatsarbeiten ausgeſchloſſen werden.
Es kam auf ein Begreifen, auf ein Hand-
greifen an; alſo hielt ſich Adam Smith an
das Product. —
Viel intereſſanter iſt aber das Problem, die
Production zu begreifen, die große, tief ver-
wickelte und doch ſo einfache Bewegung der
Müllers Elemente. I. [4]
[50] Geiſter und der Haͤnde, unter denen der Natio-
nal-Reichthum im ewigen Werden begriffen iſt.
Wer dieſe betrachten will, kann die maͤchtig ein-
wirkenden inneren oder Seelenkraͤfte des Men-
ſchen nicht mehr ausſchließen; dieſes Werden,
dieſe Bewegung des Reichthums, kann augen-
ſcheinlich nur im Werden, in der Bewegung, d.
h. ideenweiſe, aufgefaßt werden. Und was
intereſſirt den Lehrling mehr: das Product oder
die Production? die Frage: was iſt Reichthum?
oder die andre: wie wird Reichthum? —
Beide ſind gleich-wichtig, und Eine kann
nur in und neben der andern beantwortet wer-
den. Sobald man, um die Eine Frage: „was
iſt Reichthum?” abſolut und fuͤr immer zu be-
antworten, eine Grenze um die abgezogenen rei-
nen Producte her zieht, und — dadurch genoͤ-
thigt, wie Adam Smith — eine abſolute un-
uͤberſteigliche Mauer zwiſchen dem phyſiſchen und
moraliſchen, zwiſchen dem realen und idealen
Beſitz errichtet: kann man die Bewegung und
das Werden, alſo die Idee, nicht weiter dar-
ſtellen. Uns kommt es auf die Idee des Staa-
tes an, d. h. wie es nun hinlaͤnglich klar ſeyn
wird: wir wollen das Seyn des Staates und
das Werden deſſelben zugleich betrachten; die
Fragen: was iſt der Staat? und: wie wird
[51] der Staat? zugleich beantworten; den Staat in
ſeiner Bewegung auffaſſen. Demnach lehrt uns
das erhabene Beiſpiel Adam Smith’s: die
geiſtigen Beduͤrfniſſe der Menſchen und
ihr inneres Handeln vom Staate nicht
auszuſchließen, was freilich unſrer geſammten
Staatsanſicht eine von allen beſtehenden Theorieen
durchaus abweichende, aber um ſo lebendigere
Geſtalt geben muß.
Der erſte Grundirrthum der gangbaren poli-
tiſchen Syſteme iſt widerlegt: der Staat iſt nicht
eine bloße Manufactur, Meierei, Aſſecuranz-An-
ſtalt, oder mercantiliſche Societaͤt; er iſt die in-
nige Verbindung der geſammten phyſi-
ſchen und geiſtigen Beduͤrfniſſe, des ge-
ſammten phyſiſchen und geiſtigen Reich-
thums, des geſammten inneren und
aͤußeren Lebens einer Nation, zu einem
großen energiſchen, unendlich bewegten
und lebendigen Ganzen. — Von dieſem
Ganzen kann die Wiſſenſchaft kein todtes, ſtill-
ſtehendes Bild, keinen Begriff geben; denn der
Tod kann das Leben, der Stillſtand die Bewe-
gung nicht abbilden. Daß keine Idee, alſo auch
nicht die Idee des Staates, deshalb, weil ſie
in der hier beſchriebenen Allgemeinheit und Un-
endlichkeit aufgefaßt wird, nun formlos zerfließt
[52] und verſchwimmt, wird meine weitere Darſtel-
lung zeigen. Nicht jede Schranke wird verwor-
fen, ſondern nur die abſolute; es giebt eine Be-
wegung innerhalb der Schranken. Die Natur-
wiſſenſchaft nennt dieſe Bewegung: Wachs-
thum; und von ihr iſt die Rede.
II) Es giebt einen Naturzuſtand ohne
Staat, eine Zeit vor allem Staate. Die
Errichtung der Staaten iſt ein Werk reiner Will-
kuͤhr, bloßer Convenienz oder Klugheit. — Dieſen
andern großen Irrthum, der die unſelige Lehre,
daß der Menſch im Staate, wie in einem Hauſe,
durch eine beſtaͤndig offne Thuͤr aus- und ein-
gehen koͤnne, wie es ihm gefalle, druͤckt niemand
naiver aus, als in ſeiner bekannten derben,
kurzen und populaͤren Manier der Ritter von
Schloͤzer. „Der Staat,” ſagt er in ſeinem
allgemeinen Staatsrecht, „iſt eine Erfindung:
Menſchen machten ſie zu ihrem Wohl, wie ſie
Brand-Caſſen u. ſ. f. erfanden. Die inſtructivſte
Art, Staatslehre abzuhandeln, iſt, wenn man
den Staat als eine kuͤnſtliche, uͤberaus zuſam-
mengeſetzte Maſchine, die zu einem beſtimm-
ten Zwecke gehen ſoll, behandelt.” — Wenn
nun gleich dieſer Schriftſteller ſeine etwas ver-
wegne Behauptung dadurch wieder gut macht,
daß er ſagt, dieſe Erfindung ſey uralt, faſt all-
[53] gemein und ſehr leicht, endlich auch ein unent-
behrliches Beduͤrfniß der Menſchheit; und wenn
dem uͤbrigens hochverdienten Manne deshalb kein
Vorwurf gemacht werden ſoll, daß er in einem
ſo erfinderiſchen Jahrhundert lebte: ſo paßt doch
ſeine Erklaͤrung vom Weſen des Staates zu
unſern Abſichten beſſer, als irgend eine andre;
und ſo gereicht es zu ſeinem Lobe, daß Er, was
Andre unter mancherlei Capitulationen und Ver-
wahrungen undeutlich und unmuthig meinten,
wenigſten unumwunden, und mit einer gewiſſen
genialiſchen Dreiſtigkeit, deutlich herausgeſagt
hat. —
Es folgt mancherlei Thoͤrichtes aus dieſer un-
gluͤcklichen Lehre, die vor zwanzig Jahren ein
ſo unermeßliches Publicum hatte:
1) Was Menſchenhaͤnde willkuͤhrlich gemacht
haben, koͤnnen andre Menſchenhaͤnde willkuͤhrlich
zerſtoͤren, wenigſtens verwerfen. Man ſieht nicht
gut ein, warum, wenn der Staat eine bloße
Erfindung nach Art der Brand-Caſſen u. ſ. w.
iſt, nun nicht einmal ein Menſch zu demſelben
Zwecke, der dem Staate untergelegt wird, etwas
Anderes und noch Kluͤgeres erfinden ſollte, was
kein Staat waͤre; man ſieht, wenn man das viele
Wichtige und Große, was mit dem Staate zu-
ſammenhaͤngt und in ihn verwachſen iſt, uͤber-
[54] legt, nicht gut ein, wie jenen Leuten, die noch
uͤberdies ſo hohe Meinungen von den reißenden
Progreſſen ihres Zeitalters hatten, um die Dauer
dieſer ſchoͤnen Erfindung nicht bange geworden
iſt, zumal da in der Nachbarſchaft jenſeits des
Rheins das Erfinden nach Herzensluſt und im
Großen getrieben wurde, und Dinge zum Vor-
ſchein kamen, die allem in der Welt aͤhnlich ſa-
hen, nur nicht dem Staate.
2) Iſt der Staat bloß eine erfundene Ma-
ſchine zu einem beſtimmten Zwecke, z. B. der
allgemeinen Sicherheit, eine Muͤhle, welche die
verraͤtheriſchen und raͤuberiſchen Leidenſchaften
kurz und klein mahlt, daß ſie unſchaͤdlich werden
und dem oͤffentlichen Beſten dienen: ſo wuͤrde
ja, wenn eines Morgens das ſuͤndhafte Ge-
ſchlecht der Menſchen ploͤtzlich moraliſch und
wohlgezogen erwachte, die ganze Maſchine uͤber-
fluͤßig geworden ſeyn. Dieſer Fall wird freilich
nicht eintreten; indeß iſt der Gedanke, daß der
Staat eine bloße Kruͤcke unſrer Gebrechlichkeit,
eine kuͤnſtliche Nachhuͤlfe fuͤr ein zerruͤttetes Ge-
ſchlecht ſey, ganz in Ernſte genaͤhrt worden, und
die erhabene Angelegenheit in die Haͤnde gemeiner
Pfuſcher, Weltverbeſſerer, oder Projectirer und
Alchymiſten, wie ſie Burke nennt, gerathen.
Man hat das Regieren wie eine bloße Fertig-
[55] keit, das Errichten eines Staates wie eine Sache
des Handgriffs und der Routine getrieben.
3) Gab es eine Zeit, und einen Ort, wo
Menſchen lebten, und dieſe Erfindung nicht ge-
macht war, oder doch nicht angewendet wurde:
ſo iſt die Chimaͤre eines Naturrechtes, an
welches von allen poſitiven Geſetzen appellirt
werden koͤnne, ſo ungegruͤndet nicht; — ſo giebt
es, außer allen Staaten, wirklich einen noth-
wendigen Zuſtand der Geſellſchaft, der, weil
ihn die reine Natur errichtet hat, harmoniſcher
und zweckmaͤßiger ſeyn muß, als alles Willkuͤhr-
liche und Kuͤnſtliche, — an den beſtaͤndig zu
appelliren die heiligſte Verpflichtung des recht-
lichen Menſchen ſeyn wuͤrde. Die Chimaͤre des
Naturrechtes, welche vor funfzehn bis zwanzig
Jahren alle großen Koͤpfe in Europa beſchaͤftigte,
iſt bloß deshalb in die Welt gekommen, weil
man die Idee des Staates nie groß und uͤber-
ſchwenglich genug aufgefaßt hatte. Da man die
Idee des Rechtes, oder der Einheit in allen
menſchlichen Geſchaͤften, nie uͤber die ganze Erde
auszudehnen wußte, ſo blieb außerhalb noch im-
mer einiger unerklaͤrlicher Raum, eine Art von
Vacuum; und ſo fand ſich denn hier wirklich
eine Archimediſche Stelle, von wo aus man auf
eine Weile viele Europaͤiſche Staaten aus ihren
[56] Angeln gehoben hat. Ein Naturrecht, das von
dem poſitiven Rechte abweicht! Aber die Staa-
ten, die beſtimmten, poſitiven Staaten, ſind ja
Rechtsanſtalten; Staaten errichten — nach den
Begriffen dieſer Zeit — heißt ja, das Recht
errichten; alſo ein Recht vor dem Recht und
außer dem Rechte!
Was war natuͤrlicher, als daß man die Mo-
ral — von der wir oben redeten, und mit wel-
cher der wirkliche Staat eigentlich nichts zu
ſchaffen hatte, woruͤber ich ſo eben geklagt habe,
— nun groͤßten Theils hinaustrieb in das er-
waͤhnte Vacuum, und daſſelbe mit Sittenregeln,
oder mit philoſophiſchen Deductionen eines ver-
meintlichen reinen Rechtes (wie es eine reine
Mathematik giebt) bevoͤlkerte! —
Aus dieſem allerunnatuͤrlichſten Beſtreben, ein
Naturrecht zu conſtruiren, entſtand die ungluͤck-
lichſte Miſchung und Verwechſelung des Natuͤr-
lichen und Kuͤnſtlichen. Da man einmal davon
ausgegangen war, alles poſitive Recht als etwas
Reinkuͤnſtliches und Unnatuͤrliches anzuſehen, und
dennoch das Poſitive aus dem Natuͤrlichen dedu-
cirt und gerechtfertigt werden ſollte: ſo wußte
zuletzt niemand mehr, was eigentlich poſitives
und was kuͤnſtliches Recht ſey; das Zeitalter
wurde muͤde, den nun erſt recht verwickelten
[57] Knoten aufzuloͤſen, und die vermeintliche Wiſ-
ſenſchaft des Naturrechtes hoͤrte auf, das große
Publicum weiter zu beſchaͤftigen.
Nettelbladt hatte nicht ganz Unrecht, als
er in der großen Verlegenheit ſein Naturrecht
offenherzig: jus naturae positivum nannte,
was, nach den damaligen Anſichten der Men-
ſchen, ungefaͤhr eben ſo viel ſagen wollte, wie
ein viereckiger Cirkel. Jetzt aber hat dieſes
Wort, ſo wenig der brave Mann daran denken
mochte, eine tiefe und richtige Bedeutung. Die
Idee des Rechtes nehmlich hat zwar Ele-
mente: ein koͤrperliches oder poſitives, und ein
geiſtiges oder allgemeines, allgemein guͤltiges;
und dies zweite Element war es eben, was jene
Leute „natuͤrliches Recht” nannten. Sie mein-
ten nun, man koͤnne dieſes geiſtige Element von
dem koͤrperlichen oder poſitiven trennen; man
koͤnne es davon abziehen (abſtrahiren) und es,
wie in hermetiſch verſiegelten Flaſchen, etwa zur
gelegentlichen Herzſtaͤrkung kraͤnkelnder Staaten,
abgeſondert aufbewahren. Man begnuͤgte ſich
wieder mit dem Begriffe: es bildete ſich ein
reines, ſtillſtehendes Recht, welches auf das volle
uͤppige unbewegliche Leben wirklicher Staaten
oder Rechts-Inſtitute entweder gar nicht, oder
nur verderblich, wirken konnte.
[58]
Wer ſich das Recht denkt, denkt ſich unmittelbar
eine beſtimmte Localitaͤt, einen beſtimmten Fall,
wofuͤr es Recht iſt; das iſt der natuͤrliche, ſchoͤne
Drang des lebendigen Menſchen nach lebendiger
Erkenntniß. Wer ein Geſetz, wie es da in Buch-
ſtaben hingeſchrieben ſteht, erkennt, der hat den
Begriff des Geſetzes, d. h. nichts als ein tod-
tes Wort; wer es in der Anwendung, oder,
was daſſelbe ſagen will, in der Bewegung
ſieht, der hat ein Drittes, weder bloß die For-
mel, noch bloß etwas Poſitives oder einen be-
ſtimmten Fall. Und jenes Dritte, das iſt nun
die Idee des Geſetzes, des Rechtes, die nie ab-
geſchloſſen oder fertig, ſondern in unendlicher,
lebendiger Erweiterung begriffen iſt. —
Der Staat aber iſt eine große, beſtimmte
Localitaͤt, und ſeine Geſetzgebung iſt die Maſſe
der dazu gehoͤrigen Formeln. Wer Beides, die
Localitaͤt und die Formeln, in einander, und ſo
in Bewegung betrachtet, der hat die Idee des
Staates; und da die Idee, ſo wie ich ſie hier
conſtruirt habe, ſelbſt innerlich praktiſch iſt, ſo
kann er auch zur Stelle auf den Thron deſ-
ſelben Staates geſetzt werden, und wird ihn
regieren, weil er wachſen wird, wie der Staat
waͤchſt. Die Idee kann das Leben allenthalben
hin begleiten und auf daſſelbe wirken, weil ſie
[59] ſelbſt lebendig iſt, waͤhrend der Begriff immer
zuruͤckbleibt, beſtaͤndig zu ſpaͤt kommt und, weil
er ſelbſt todt iſt, nur zerſtoͤren und toͤdten kann,
wie wir es in der Franzoͤſiſchen Revolution ge-
ſehen haben, wo ihm ein Wirkungskreis einge-
raͤumt wurde, der groß genug war.
Wo ein Local iſt, ein poſitiver Fall — und der
iſt doch wohl uͤberall —: da iſt auch unmittel-
bar ein Geſetz, oder, um meine Rede ganz auf
menſchliche Angelegenheiten zu beziehen, ein Recht.
Daß dieſes Recht ausgeſprochen werde, iſt un-
weſentlich; daß es niedergeſchrieben werde, noch
unweſentlicher; daß es empfunden werde, iſt
hinreichend. Da nun der Menſch uͤberall im
natuͤrlichen Zuſtande — d. h. ſo lange ihn noch
keine falſche und todte Theorie, wenn nicht zer-
ſtoͤrt, ſo doch verzogenhat — immer Geſetz und
Fall zugleich, oder ein Drittes, das hoͤher als
Beides iſt, empfindet, nehmlich die Idee —; da
hierin allein alle Bewegung und alles Leben be-
ruhet: ſo muß das Weſen des Rechtes uͤberall
vorhanden ſeyn, wo es Menſchen giebt.
Da ferner die Natur vom Anfange dafuͤr
geſorgt hat, daß es zwei Menſchen und nicht
Einen gebe; da ſie dieſelbe Menſchenformel vom
Anfange an in zwei ganz entgegengeſetzten Stof-
fen ausgedruͤckt hat, die beſtaͤndig einander be-
[60] duͤrfen und doch einander ſo unendlich wider-
ſtreben, in den beiden Geſchlechtern; da ſie den
Gedanken „Menſch” in die Mitte zwiſchen
Mann und Weib, als ein unſichtbares Drittes,
gelegt, und uns dergeſtalt einen abgeſchloſſenen,
feſten Begriff vom Menſchen verſagt hat; da
ſie auf dieſe Weiſe uns genoͤthigt, den Men-
ſchen, in beſtaͤndigen Wechſelblicken auf zwei
ganz verſchiedene Menſchen, alſo im Fluge, in
beſtaͤndiger Bewegung, alſo nicht als Begriff,
ſondern als Idee, aufzufaſſen —: wo iſt und
bleibt denn nun die Zeit, wo es Menſchen gab,
und kein Gefuͤhl ihres wahren Verhaͤltniſſes, d.
h. kein Recht?
Was vom zweiten Menſchen gilt, gilt auch
vom dritten, der nichts andres iſt als ein zwei-
ter Zweiter, und ſo bis in’s Unendliche fort.
Warum nun in die Weltgeſchichte einen einge-
bildeten Strich an einer unbeſtimmten Stelle
hin zeichnen, und ſagen: was jenſeits liegt, iſt
kein Staat, das iſt Naturzuſtand; was diesſeits
liegt, iſt ein Staat! — Aber weil mit ihrem
todten Begriffe „Staat” zugleich tauſend Un-
weſentlichkeiten in die Wiſſenſchaft kommen; weil
der Begriff ſich nicht ſchuͤtteln, die Unweſent-
lichkeiten nicht von ſich abſtreifen kann —: ſo
entſteht der Wahn, Rechtszuſtand und Staat
[61] waͤren zwei generiſch verſchiedene Dinge, und
das Recht ſey aͤlter als der Staat. —
Ihr Begriff „Staat” reicht ungefaͤhr bis
dahin, wo der Ackerbau in die Welt kommt:
ſo lange behaͤlt der Staat nehmlich noch eine
verwandte Phyſiognomie mit ihrem vermeintlich
wiſſenſchaftlichen, den ſie in der Seele tragen;
und ſo iſt ihnen auch das erſte Blatt im Thu-
cydides erſt eigentliche Geſchichte. Jenſeits des
Thucydides, jenſeits des Ackerbaues — ja, da
iſt nun keine Geſchichte, kein eigentlicher Staat
mehr, da muͤſſen wir einen ganz andern Maß-
ſtab anſetzen, da muͤſſen wir uns einen neuen
Begriff backen; und ſo kommt zu Stande, was
ſie Naturrecht nennen. —
Indeß ſchwebt die Idee frei durch alle Zeiten
hin, und erkennt das Weſen der Menſchheit,
des Rechtes und des Staates uͤberall wieder,
verſteht, und wird verſtanden. Der Begriff iſt
bloß fuͤr die weiſen Kinder weiſer Jahrhunderte;
die Idee haben Alle gemein: denn ſie iſt das
ewig Rechte. Das Weſen der Idee koͤnnten
wir, falls wir der Organe, der Sprache, oder
der Toͤne, der Blicke jener Zeiten maͤchtig waͤren,
den erſten Kindern der Erde deutlich machen;
was wir Begriff nennen, wuͤrde ihnen ewig
unbegreiflich ſeyn. Wo bleibt nun alſo, wenn
[62] man auf das Eine Weſentliche des Staates ſieht,
jener Naturzuſtand ohne allen Staat, jene Zeit
vor allem Staate? —
Die Verbindung der menſchlichen Angelegen-
heiten exiſtirt uͤberall, und zu allen Zeiten, wo
es Menſchen giebt; und die Geſchichte zeigt uns
die Idee des Staates vom Anfange an, allent-
halben, obgleich auf den verſchiedenſten Stufen
des Wachsthums und der Ausbildung. — Der
Staat ruhet ganz in ſich; unabhaͤngig von
menſchlicher Willkuͤhr und Erfindung, kommt er
unmittelbar und zugleich mit dem Menſchen eben
daher, woher der Menſch kommt: aus der Na-
tur: — aus Gott, ſagten die Alten.
III) Die Wiſſenſchaften ſind unab-
haͤngig vom Staate; ſie bieten einen Zu-
fluchtsort dar, wohin der Menſch, wenn er von
aͤußeren Verhaͤltniſſen geplagt und von den gro-
ßen politiſchen Bewegungen der Zeit beſtuͤrmt
wird, entweichen kann. Wir haben ſchon oben geſe-
hen, daß ſich nichts Menſchliches, alſo auch die
Wiſſenſchaft nicht, außerhalb des Staates denken
laͤßt; indeß verdient dieſer verbreitetſte, gefaͤhr-
lichſte Irrthum noch eine kurze, beſondere Be-
trachtung. — Man koͤnnte glauben, ich wolle
auf den ſtaatsverderblichen Einfluß der Gelehr-
ten kommen; ich wolle zeigen, daß Phyſiokraten,
[63] Encyklopediſten, die ganze Secte der Philoſo-
phen die eigentlichen Urheber des Wahnes ge-
weſen waͤren, die Wiſſenſchaft koͤnne den Staat
zu ihren Experimenten gebrauchen, und die uͤber
ganz Europa verbreitete Republik der Gelehrten
ſey unabhaͤngig vom Staat, und wichtiger als
der Staat ſelbſt. Dies waͤre ein reiches Thema;
doch die Wahrheit der Sache ſpringt ſchon von
ſelbſt in die Augen. Daher will ich nur zeigen,
daß die Wiſſenſchaften verderben und verdunſten,
daß ihnen alles Leben, deſſen ſie beduͤrfen, und
alle Gemuͤthlichkeit, aller Kern, alle Kraft ab-
geht, ſobald ſie aus dem Vereine mit dem Staat’
heraustreten und fuͤr ſich ſelbſt herrſchen und
bedeuten wollen.
Der Staat, ſo wie ich ihn in ſeiner einzig
wahren und lebendigen Geſtalt beſchrieben habe,
iſt das ewig bewegte Reich aller Ideen: das koͤr-
perliche, phyſiſche, ergreifbare Leben reicht nicht
hin, ihn zu deduciren, und wir waren genoͤ-
thigt, alles Unſichtbare, Geiſt, Sitte, Herz,
das ganze idealiſche Treiben des Menſchen zu-
ruͤckzufordern, die dem Staat abwendig gemach-
ten Gedanken der Buͤrger zu vindiciren, als wir
uns oben beſtrebten, das Weſen des Staates zu
erkennen.
Eben ſo ſind wir jetzt nicht im Stande, die
[64] Wiſſenſchaft und ihr Weſen zu ergruͤnden, wenn
eine abſolute Grenze zwiſchen den idealen und
den realen Beſitzthuͤmern des Lebens gezogen,
und uns bloß die Eine Haͤlfte, die ideale, zuge-
wieſen wird; wenn man uns die große, Eine,
einfache Welt in zwei ewig geſchiedene — in die
wirkliche des Staates, und in die eingebildete
der Wiſſenſchaften — zerſchneidet, und wir
doch Menſchen bleiben, die, ſelbſt ganz und
aus Einem Stuͤcke, auch eine ganze und wie
aus Einem Stuͤcke gehauene Welt begehren, und
nun von gerechter Sehnſucht wechſelsweiſe aus
der Einen in die andre, aus der Welt der Be-
griffe in die Welt des realen Lebens, getrieben
werden und doch nirgends zu Hauſe ſind.
Es iſt hinreichend klar: die Wiſſenſchaft allein,
und fuͤr ſich, kann nichts erzeugen als Begriffe,
ſo wenig wie das aͤußere, phyſiſche, praktiſche
Leben lebendig verharren kann, wenn ſich der
Geiſt nicht damit zu ewiger Erzeugung der Ideen
oder des wahren Lebens vereinigt. Wiſſenſchaft
und Staat ſind, was ſie ſeyn ſollen, wenn ſie
beide Eins ſind — wie die Seele und der Koͤr-
per Eins ſind in demſelben Leben, und nur der
Begriff ſie hoffnungslos zerſchneidet und jedem
Theil eine abgeſonderte Heimath, einen verſchie-
denen Wirkungskreis zutheilt.
Das
[65]
Das hat die Wiſſenſchaft der wuͤrdigen Alten
ſo groß gemacht, und die der heutigen Deutſchen
ſo klein, ſo verwirrt, ſo todt, daß jene unter
allen geiſtigen Beſtrebungen nie von dem Vater-
lande laſſen konnten, dieſe aber mit ſchnoͤdem
Hochmuth den Staat ſeinem Schickſale anheim
ſtellen, und ſich herabzulaſſen glauben, wenn ſie
einmal fragen: ob das Vaterland wirklich noch
ſtehe, oder ſchon verſunken ſey. Keine einzelne
Wiſſenſchaft kann beſtehen, wenn ſie nicht in
das geſellſchaftliche Leben eingreift.
Betrachten Sie — damit ich mein Beiſpiel
von einer Wiſſenſchaft hernehme, die am ent-
fernteſten von der Politik zu liegen ſcheint —
den Gang der Naturwiſſenſchaft. Wie glaͤnzend
auch die Erſcheinungen waren, die im erſten
Momente des Aufflammens eines neuen wiſſen-
ſchaftlichen Lebens in Frankreich und Deutſch-
land, dort durch Lavoiſier, hier durch Schel-
ling, herbeigefuͤhrt wurden: dort und hier hat
ſich alle Kraft der Meiſter aufgeloͤſ’t in die Ohn-
macht nachbetender und nachſchwaͤrmender Schu-
len. Haͤtte die Naturwiſſenſchaft, die ſich auf
einen ſo hohen Standpunkt ſtellte, jemals gefuͤhlt,
daß es auch eine Naturgeſchichte des Staates
giebt; haͤtte ſie, erhaben uͤber das Schreien der
Theorie, daß der Staat eine kuͤnſtliche Erfindung
Müllers Elemente. I. [5]
[66] ſey, nicht nachgelaſſen, ihn durch und durch als
Werk eben derſelben Natur, deren Gottesdienſte
ſie ſich hingab, zu betrachten: ſo blieb ſie, auch
in ihren tiefſten Speculationen, ganz nahe bei
dem Menſchen, ſie blieb im Gleichgewichte, blieb
lebendig. Kurz, es iſt fuͤr die Wiſſenſchaften
kein Heil, bis alle ſich wieder an den Staat
anſchließen, und die ganze einſeitige Stubenbe-
triebſamkeit ſich aufloͤſ’t und Eins wird mit
dem oͤffentlichen Leben, wovon niemand unge-
ſtraft abtruͤnnig werden kann. —
Laſſen Sie uns jetzt alle Einzelheiten unſrer
Betrachtung zuſammengreifen! Der Staat iſt
die Totalitaͤt der menſchlichen Angele-
genheiten, ihre Verbindung zu einem le-
bendigen Ganzen. Schneiden wir auch nur
den unbedeutendſten Theil des menſchlichen We-
ſens aus dieſem Zuſammenhange fuͤr immer her-
aus; trennen wir den menſchlichen Charakter
auch nur an irgend einer Stelle von dem buͤr-
gerlichen: ſo koͤnnen wir den Staat als Lebens-
erſcheinung, oder als Idee, worauf es hier an-
kommt, nicht mehr empfinden.
Die Allgemeinheit, in welcher die Idee des
Staates hier erſcheint, darf nicht erſchrecken.
Die Theorie hat uns unzaͤhlige falſche Schran-
ken in den Weg gebauet, den wir betreten; dieſe
[67] muͤſſen alle erſt fortgeraͤumt werden, ehe die
wahren Schranken, welche die Bewegung des
Staates nicht hindern, ſondern vielmehr befoͤr-
dern, gezeigt und aufgerichtet werden koͤnnen.
Dieſe wahren Schranken ſind da, in allen wirk-
lichen Staaten um uns her; ſie beſtimmen den
praktiſchen Staatsmann und Geſetzgeber, wenn
die kleinſte Abgabe gefordert, der unbedeutendſte
Rechtsfall geſchlichtet werden ſoll. Aber die Theo-
rie betrachtet ſie falſch; ſie fixirt dieſe Schran-
ken, nimmt ihnen Leben und Wachsthum, und
ſtoͤrt auf dieſe Art das Wirken des Staats-
mannes.
Wir muͤſſen vor allen Dingen die Theorie
berichtigen, da es uns darauf ankommt, ſie mit
der Praxis zu verſoͤhnen. Fragt nun, nach die-
ſer Darſtellung, noch irgend jemand: was iſt
denn der Zweck des Staates? ſo frage ich ihn
wieder: du betrachteſt alſo den Staat als Mit-
tel? als ein kuͤnſtliches Mittel? du meinſt alſo
noch immer, daß es außerhalb des Staates et-
was gebe, um deſſentwillen er da ſey, dem er
dienen muͤſſe, wie das Geruͤſt dem Gebaͤude,
wie die Schale dem Kern? — Du glaubſt im
Herzen noch immer, es koͤnne doch wohl noch
einmal darauf hinaus laufen, daß der Staat
nun uͤberfluͤßig ſey, und etwas Anderes, Beſſeres
[68] ans Licht kommen koͤnne, als er? — Ordnung,
Freiheit, Sicherheit, Recht, die Gluͤckſeligkeit Aller
ſind erhabene Ideen fuͤr Den, der ſie ideenweiſe
auffaßt; der Staat, wie groß und erhaben, wie
alles umfaſſend, wie in und auf ſich ſelbſt ruhend
er auch ſey, verſchmaͤhet es nicht, mitunter be-
trachtet zu werden, als ſey er nur um Eines
von dieſen Zwecken willen da; er iſt aber zu
groß, zu lebendig, um ſich, den Wuͤnſchen der
Theoretiker gemaͤß, Einem dieſer Zwecke aus-
ſchließend und allein hinzugeben: er dient ihnen
allen, er dient allen gedenkbaren Zwecken, weil
er ſich ſelbſt dient. —
So hat man oft auch nach der Beſtimmung
des Menſchen gefragt. Der Menſch fuͤhlte ſich
unvollſtaͤndig, krank und halb. Es wurde ge-
antwortet: „der Menſch iſt um ſeiner Gluͤckſelig-
keit willen da;” — „nein, um ſeiner Tugend
willen,” ſagte ein Zweiter; „fuͤr ſeine Vervoll-
kommnung,” ſagte ein Dritter. Recht gut!
wenn ihr nur fuͤhlen moͤchtet, daß alle dieſe
Zwecke immer in den Menſchen zuruͤckkehren,
daß es immer wieder auf ſeine Tugend, ſeine
Gluͤckſeligkeit, ſeine Vollkommenheit abgeſehen
bleibt, und Er, nichts Einzelnes, am Ende
doch ſein eigner Zweck iſt. Du haſt dich ſelbſt
empfunden; und ſo haſt du zugleich alle deine
[69] unendlichen Beſtimmungen empfunden, du haſt
das Leben des Staates empfunden. Was hilft
der einzelne Zweck, den ich dir begriffsweiſe zum
Einſtecken hinreichen kann, da du ſchon tauſend
andre Beſtimmungen des Staates empfunden
haſt!
[70]
Dritte Vorleſung.
Daß der Nutzen und das Recht, die als Begriffe einander
widerſprechen, ſich verſöhnen, ſobald ſie ideenweiſe
erkannt werden.
Es iſt hinreichend eroͤrtert worden, daß die
Idee des Rechtes gerade ſo alt iſt, wie die
Menſchheit, oder vielmehr, daß ſie das einzige,
erſte, echte Kennzeichen der Menſchheit ausmacht.
Das Recht aber iſt, der allgemeinen Meinung
nach, das Weſentliche am Staate. Alſo iſt der
Staat, wenn man von allem Unweſentlichen,
Conventionellen und Localen ſeiner Form abſe-
hen will, auch nicht um einen Tag juͤnger, als
das menſchliche Geſchlecht. Sobald die Na-
tur den Gedanken der Menſchheit in zwei ver-
ſchiedenen Formen oder Geſchlechtern ausgepraͤgt
hatte — und damit mußte ſie doch anfangen, um
die Menſchheit fortpflanzen zu koͤnnen —: ſo-
[71] bald gab es auch ein Verhaͤltniß zwiſchen dieſen
beiden Menſchen, oder zwiſchen dieſen beiden
Geſchlechtern; es gab Bedingungen ihres Neben-
einanderbeſtehens; es gab ein geſellſchaftliches
Geſetz, und dieſes Geſetz mußte ein lebendiges,
bewegliches ſeyn, weil das Verhaͤltniß zweier
Menſchen unter einander lebendig und beweglich
iſt; kurz, die Idee des Rechtes war im Gange.
Dieſe, das Verhaͤltniß zweier oder mehrerer
Menſchen ewig regulirende, Idee gehoͤrt unzer-
trennlich zu der Natur des Menſchen; alſo iſt
es fuͤr die Sache ſelbſt ganz gleichguͤltig, ob ſie
bloß empfunden, oder auch wirklich ausgeſprochen,
oder ob ſie niedergeſchrieben wird auf zwei Mo-
ſaiſche und zwoͤlf Roͤmiſche Tafeln, oder ob ſie
wirklich lebendig und perſoͤnlich repraͤſentirt wird
durch einen Patriarchen, Monarchen, Rex oder
Imperator.
Wenn man es vorzieht, die Idee des Rech-
tes durch den Buchſtaben ausdruͤcken zu laſſen,
ſo nennen wir einen ſolchen Zuſtand der geſell-
ſchaftlichen Dinge vorzugsweiſe: Republik;
haͤlt man es fuͤr paſſender, daß eine wirkliche
Perſon dieſe Idee repraͤſentire und lebendig
ausuͤbe, ſo zeigt ſich die Monarchie: wiewohl
keiner von dieſen Zuſtaͤnden, ausſchließend, hin-
reicht, die Idee des Rechtes oder die allerna-
[72] tuͤrlichſte Verfaſſung der menſchlichen Dinge auf-
recht zu erhalten.
In der erſten Familie, welche auf dieſer Erde
exiſtirt haben mag, muß wechſelsweiſe bald
der Mann, bald die Frau, oder eine dritte unbe-
greifliche Stimme, die Stimme Gottes oder der
Inſtinct des Geſetzes, regiert haben. Es hat
alſo in dieſem allererſten Regiment auf Erden
wechſelsweiſe monarchiſche Momente gege-
ben, wo eine von den beiden Perſonen herrſchte,
und republicaniſche Momente, wo keine von
beiden die Oberhand hatte, ſondern ein, wenn
auch noch ſo dunkles, Gefuͤhl des Rechtes, das
die ſpaͤteren Jahrhunderte durch den Buchſtaben
auszubilden, zu verdeutlichen und feſtzuhalten
glaubten. Wie ſich auch die Formen ſpaͤterhin
veraͤndert haben; in wie viel groͤßeren Dimen-
ſionen, in wie viel reicheren Geſtalten die Idee
des Rechtes erſcheinen moͤge: ihr Weſen iſt durch
alle Zeitalter der Menſchheit hindurch immer
daſſelbe geblieben. —
Noch heutiges Tages ſpricht man in den un-
eingeſchraͤnkteſten Monarchieen von einer Unter-
worfenheit des Suveraͤns unter das Geſetz;
man ſetzt einen Streit zwiſchen dem Geſetze und
dem Repraͤſentanten des Geſetzes voraus. Das
Geſetz, wie es da im Buchſtaben ausgedruͤckt
[73] iſt, kann wegen ſeiner Starrheit und Lebloſig-
keit nicht regieren; deshalb iſt ein lebendiger
Ausuͤber des Geſetzes, ein wirklicher, perſoͤnli-
cher Suveraͤn, noͤthig. Dieſer nun ſoll, we-
gen ſeiner Veraͤnderlichkeit und ſeiner menſchli-
chen Gebrechlichkeit, nicht anders regieren, als
mit beſtaͤndiger Ruͤckſicht auf das Geſetz. Alſo
weder der Suveraͤn ſoll, noch das Geſetz kann
allein regieren; demnach regiert wirklich ein Drit-
tes, Hoͤheres, welches aus dem Conflict des
Geſetzes mit dem Suveraͤn in jedem Augenblicke
hervorgeht, und von dem Suveraͤn das Leben,
von dem Geſetze aber die Eigenſchaft der Dauer
erhaͤlt; und dieſes iſt die Idee des Rechtes.
Deshalb irrt man ſich, wenn man voraus-
ſetzt, zu irgend einer Zeit, die man nicht einmal
hiſtoriſch anzugeben im Stande iſt, ſey das Recht
wirklich und leibhaftig, in eigener hoher Perſon,
an den Tag gekommen; es ſey eine abſolute bin-
dende und zwingende Gewalt erſchienen, die vor-
her nicht da geweſen ſey. Von der Zeit an,
heißt es, mache der Staat eine Zwangsanſtalt
aus, und dieſe zwingende Gewalt ſey das eigent-
liche Kennzeichen deſſelben. Aber der Buchſtabe
des Geſetzes allein kann, und der Suveraͤn
allein ſoll nicht zwingen. Die Idee des Rech-
tes allein darf zwingen; und in dieſem Sinne
[74] war ſchon die erſte Familie auf der Erde eine
Zwangsanſtalt.
Daß man ſpaͤterhin den Oberherrn mit phy-
ſiſcher Gewalt zum Zwingen ausgeruͤſtet hat;
daß nachher ſpaͤtere Jahrhunderte dem auf dieſe
Weiſe kuͤnſtlich bewaffneten Machthaber den phi-
lanthropiſchen Gedanken untergelegt haben, er ſey
das Recht ſelbſt, und wo der Zwang gefunden
werde, muͤſſe auch das Recht ſeyn —: das iſt
ſchoͤn und gut; deſſen ungeachtet aber haben die
aufgeklaͤrteſten und menſchenfreundlichſten, auch
unumſchraͤnkteſten Suveraͤne in unſern Tagen
oͤfters erklaͤrt, daß ſie ſich dem Geſetze unter-
worfen fuͤhlen, daß alſo eine unſichtbare hoͤhere
Gewalt allen ihren Zwang wieder bezwinge, und
daß die praͤſumirte Vollkommenheit und recht-
liche Abgeſchloſſenheit des Staates, welche die
Theorie behauptet, nicht Statt finde. Dieſe
iſt in einem ſonderbaren Widerſpruche mit ſich
ſelbſt: auf der Einen Seite ſetzt ſie eine wirk-
liche und abſolute Zwangsgewalt voraus, als
laͤngſt und vollkommen rechtlich exiſtirend; auf
der andern laͤugnet ſie, daß ſchon ein wirkliches
Weſen gefunden ſey, dem, wegen ſeiner Voll-
kommenheit, dieſe Zwangsgewalt uͤbertragen wer-
den koͤnne. Das erſte thut ſie in ihrem poſi-
tiven Rechte, das andre in ihrem Natur-
[75] recht; und wenn man ſtrenge unterſuchen will,
ſo wird man finden, daß ſie in der einen von
dieſen Disciplinen eben das wieder aufhebt, was
ſie in der andern behauptet.
Wir duͤrfen alſo getroſt alles Naturrecht,
außer, oder uͤber, oder vor dem poſitiven Rechte,
laͤugnen; wir duͤrfen alles poſitive Recht fuͤr
natuͤrliches anerkennen, da ja alle die unend-
lichen Localitaͤten, welche das poſitive Recht her-
beifuͤhren, aus der Natur herfließen; wir duͤr-
fen kuͤnftig, da nun einmal alles poſitive Recht
zugleich natuͤrliches Recht iſt, das Beſtreben, die
wahre Natur im poſitiven Rechte zu behaupten,
Naturrecht nennen. In dieſem Sinne nennt
einer von den groͤßten jetzt lebenden Rechtsleh-
rern, der Hofrath Hugo in Goͤttingen, das
Naturrecht: Philoſophie des poſitiven
Rechtes.
Alſo der Staat iſt ſo alt, wie das menſch-
liche Geſchlecht; er iſt nothwendig, nicht eine
kuͤnſtliche Erfindung, alles umfaſſend; das geiſtige
und ſittliche Leben eben ſowohl wie das koͤrper-
liche und geſetzliche gehoͤrt in ſeinen Umkreis;
weder in der Wirklichkeit noch in der Specula-
tion bietet ſich eine Stelle dar, die außerhalb
des Staates laͤge; wir koͤnnen uns ſo wenig
[76] vom Staate, wie von uns ſelbſt, losreißen. Nur
die verworfenſte, kern- und herzloſeſte Wiſſen-
ſchaft, nur die nichtswuͤrdigſte Speculation, kann
thun, als ſtaͤnde ſie in gar keiner Beziehung auf
den Staat; und die hervorſtechendſte, in der bishe-
rigen Theorie zu leicht angeſchlagene oder ganz
uͤberſehene Eigenſchaft des Staates iſt ſeine Be-
wegung, weshalb er ſich nur ideenweiſe erken-
nen laͤßt.
Wir betreten jetzt ein neues Feld unſerer Un-
terſuchung, und betrachten den Staat, wie er
ſich den Sinnen darſtellt.
Wie verhaͤlt ſich alſo die menſchliche oder
buͤrgerliche Geſellſchaft — was, nach meinen
Vorausſetzungen, daſſelbe ſagen will — zu ih-
rem Wohnſitze, der Erde? Der Planet, den wir
bewohnen, hat alle Zeichen groͤßerer Dauerhaf-
tigkeit; er iſt aͤlter als das menſchliche Ge-
ſchlecht, und wird wahrſcheinlich das menſchliche
Geſchlecht auch uͤberleben. Mit dieſem Planeten
iſt das menſchliche Geſchlecht in Kampf: es
ſucht ihm abzugewinnen, was es nur vermag;
es ſucht ihn zu zaͤhmen, und alle ſeine Erzeug-
niſſe, alle ſeine Kraͤfte in das Intereſſe der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft hinein zu ziehen.
In dieſem Streit entwickelt ſich die Kraft
der Geſellſchaft; ſie verbreitet und concentrirt
[77] ſich. Mit einem Briefe, einem Wechſel, einer
Stange Silber reicht der Kaufmann in London
ſeinem Correſpondenten in Madras ſeine Hand
uͤber die Oceane hin, und hilft ihm den großen
Krieg mit der Erde fuͤhren, hilft ihm ſie bethoͤ-
ren, ſie bezwingen, ihr Nahrung und neue Mit-
tel zu einer ſtets innigern Allianz gegen den ge-
meinſchaftlichen Feind rauben. —
Die Erde wehrt ſich unaufhoͤrlich gegen dieſe
Angriffe ihrer Kinder; ſie wehrt ſich mit doppel-
ten Waffen: der Gewalt; der Schoͤnheit und
des Reitzes. Außer dem Vortheile der groͤßeren
Dauerhaftigkeit, hat ſie vor dem menſchlichen
Geſchlechte noch den Vortheil voraus, daß alle
ihre Kraͤfte die groͤßte Einheit haben, waͤhrend
ihr Feind, die Menſchheit, ein tauſendkoͤpfi-
ges Weſen iſt, und waͤhrend noch uͤberdies die
unzaͤhligen Koͤpfe ihres Feindes nach wenigen
Jahren verſchwinden, und neue, ganz anders
geſtaltete, an ihre Stelle treten. Die alte, große
Kriegerin hat bis heute ſchon gegen zweihun-
dert verſchiedene Generationen der Menſchen in
Schlachtordnung ſich gegenuͤber geſehen, und
jede Generation beſtand aus vielen hundert Mil-
lionen ganz verſchieden geſtalteter, und durch
weite Raͤume von einander getrennter Koͤpfe.
Was hat die Erde in dieſem Kriege zu thun?
[78] Nichts, als die Verbindung der Generationen
und der Koͤpfe zu verhindern.
Wie viele Mittel ſtanden der Erde zu Gebot,
ihren Feind, der nur durch ſeine Vereinigung
und innige Allianz feindſelig gegen ſie auftreten
konnte, zu ſpalten, ſeine Kraͤfte zu theilen, und
ſo zu entwaffnen! Jede neue Generation konnte
ſie durch neue Reitze verfuͤhren, daß ſie die vor-
angegangene Generation, ihren natuͤrlichen Alliir-
ten, vergaß oder von ihm abtruͤnnig wurde.
Wenn durch die Muͤhe vieler verbuͤndeten Gene-
rationen eine große Kriegeskraft zuſammenge-
bracht war, wie in Rom, ſo brauchte ſie nur
Barbaren hinein zu locken, die den allzu maͤchtig
gewordenen Feind zermalmen und alle ſeine Spu-
ren zertreten mußten, ſo daß die Nachkommen,
wenn ſie in die Vergangenheit zuruͤckſahen, nichts
fanden, womit ſie ſich alliiren konnten. Wenn
es darauf ankam, die Zeitgenoſſen unter ein-
ander zu ſpalten, ſo hatte ſie tauſend Mittel,
den Verkehr derſelben mit Gewalt zu hemmen,
oder durch die groͤßere Freundlichkeit, welche ſie
gegen einige unter ihnen bewies, die andern zur
Eiferſucht und zum Raube zu reitzen. Dennoch
hat die Erde nicht Herr werden koͤnnen uͤber das
kleine, anſcheinend ſo unendlich zerſplitterte Ge-
ſchlecht, noch ſeine Allianz verhindern! Sie hat
[79] oft ſolche Spuren vorangegangener Generationen,
wie Herculanum und Pompeji, mit der Lava,
der Aſche ihrer Vulkane neidiſch bedeckt, aber
gerade dadurch die innigere Allianz, das beſſere
Verſtaͤndniß zwiſchen den Roͤmern des erſten,
und den Europaͤern des achtzehnten Jahrhun-
derts, die jene Spuren wieder auffanden, veran-
laßt. Dieſelben Barbaren, welche ſie herein rief,
um das praͤchtige Alterthum zu zerſtoͤren, haben
im Laufe der Zeiten alle Denkmaͤhler von Rom
und Griechenland wieder aus dem Staube her-
vorgezogen, und ſind in eine feſtere Verbindung
mit ihnen getreten, als erfolgt ſeyn wuͤrde, wenn
das große Erbtheil jener Zeiten ruhig und all-
maͤhlich auf die unſrigen herabgekommen waͤre.
Die Erzaͤhlung von dieſem Kriege aller Krie-
ge, dieſem Kriege des menſchlichen Geſchlechtes
mit der Erde, nennen wir Weltgeſchichte,
und die oft unterbrochene, doch immer ſicherer
zu Stande gebrachte Allianz der menſchlichen
Individuen unter einander gegen die Erde nen-
nen wir Staat. Da das ganze Leben in die-
ſem unaufhoͤrlichen geheimen und oͤffentlichen
Kriege mit der Erde und ihren Kraͤften beſteht,
ſo laͤßt ſich kein Leben der Menſchen ohne dieſe
Allianz der Menſchen unter einander denken,
und auch von dieſem ganz verſchiedenen Stand-
[80] punkte aus iſt es erwieſen, daß der Menſch ohne
Staat nicht zu denken iſt, und daß menſchliche und
buͤrgerliche Exiſtenz Eins und daſſelbe ſind. —
Sobald es Menſchen giebt, ſagen wir, ſind
ſie nothwendig verbunden durch eine Idee des
Rechtes, der Einheit, des Friedens. Indem wir
dieſen Gedanken in der Bewegung darſtellten,
begruͤndeten wir unſere Theorie des Rechtes;
wir bewieſen das Leben des Staates, als eines
juriſtiſchen Weſens. Jetzt, indem wir leben-
dig gezeigt haben, wie, ſobald es Menſchen giebt,
dieſelben einander beſtaͤndig beduͤrfen gegen
einen gemeinſchaftlichen Feind, haben wir unſere
Theorie der Staatswirthſchaft begruͤn-
det, und das Leben des Staates, als eines gro-
ßen oͤkonomiſchen Gemeinweſens, deducirt.
Man kann die Weltgeſchichte Rechtsge-
ſchichte nennen, wie Kant in ſeiner beruͤhmten
und ſehr populaͤren Abhandlung „Entwurf einer
Univerſalhiſtorie in weltbuͤrgerlicher Abſicht” ge-
than hat; man kann ſie aber auch Krieges-
geſchichte nennen, wenn man in die Idee des
Krieges des Menſchen mit der Erde eingehen
will, wo denn die Kriegesgeſchichte die Geſchichte
der Beduͤrfniſſe, des Handels u. ſ. f. unter
ſich begreift. In der Kriegesgeſchichte und in
der Rechtsgeſchichte wird im Grunde ganz daſ-
ſelbe
[81] ſelbe erzaͤhlt werden muͤſſen; denn beiden kaͤme
es nur darauf an, zu zeigen, wie die natuͤrliche
und nothwendige Allianz der Menſchen unter ein-
ander, dort, in der Kriegesgeſchichte, gegen die
gemeinſchaftliche Feindin, die wir Erde nann-
ten, hier, in der Rechts- oder Friedensgeſchichte,
fuͤr das allgemeine Palladium, nehmlich die
Idee des Rechtes oder der Vereinigung ſelbſt,
im Laufe der Zeiten immer groͤßer und maͤchti-
ger geworden iſt. Durch die Idee des Rechtes
wird der Menſch in den Stand geſetzt, einen
immer wirkſameren Krieg gegen die Erde zu
fuͤhren; durch dieſen Krieg, die Idee des Rech-
tes, oder der allgemeinen Allianz, immer deut-
licher zu erkennen, immer ſchoͤner auszuuͤben. —
Die Theorie von jenem Kriege des Menſchen
mit der Erde iſt der Gegenſtand der beruͤhmten
Unterſuchungen uͤber den National-Reichthum von
Adam Smith, wie die Geſchichte der Ausbil-
dung von jener Idee des Friedens und des Rech-
tes der Inhalt des Esprit des loix von Mon-
tesquieu. Die beiden Haupttheile der Staats-
wiſſenſchaft, die Finanzlehre und die Rechts-
lehre, ſtanden in ſchroffer Abgeſchiedenheit ein-
ander gegenuͤber, als dieſe beruͤhmten Werke er-
ſchienen. Wiewohl nun beide große Schriftſteller
ihr genialiſches Geſchaͤft in ganz verſchiedenen
Müllers Elemente. I. [6]
[82] Welten zu treiben ſcheinen; wiewohl zwiſchen
der ſonderbaren Dispoſition des Menſchen zum
Tauſch und Handel, welche Adam Smith,
und dem Begriffe des Geſetzes, welchen Mon-
tesquieu an die Spitze ſeines Werkes ſetzt,
keine unmittelbare Beziehung Statt zu finden
ſcheint: ſo ſtreifen doch beide Meiſter oft auf
eine wunderbare Weiſe in einander, und gewin-
nen in ihren erhabenen Irrthuͤmern eine nicht
zu verkennende Aehnlichkeit.
So wenig ich, wie der Erfolg zeigen wird,
weder Montesquieu’s Begriff von der Thei-
lung der Gewalten, noch Adam Smith’s
Begriff von der Theilung der Arbeiten in
Schutz nehmen kann; ſo wenig ſich der Begriff
der politiſchen Freiheit, fuͤr welchen Mon-
tesquieu, oder der Begriff der oͤkonomiſchen
Freiheit, fuͤr welchen Adam Smith ſein
Buch ſchrieb, noch jetzt in ſeinem ganzen Um-
fange vertheidigen laͤßt: ſo ſind dennoch die Re-
ſultate von dem reichen vielſeitigen Leben beider
Gelehrten ungefaͤhr dieſelben; nehmlich, daß 1)
die hoͤchſte Einheit und Ordnung der buͤrgerli-
chen Geſchaͤfte nur durch die groͤßte Theilung
derſelben erreicht werden koͤnne; daß dem zu
Folge Einheit und Theilung, oder Friede und
Streit, weit entfernt einander gegenſeitig zu ſtoͤ-
[83] ren, ſich vielmehr unter einander befoͤrdern und
bedingen; daß 2) die Freiheit jedes einzelnen
Gliedes vom Staate, und jeder Kraft, ſich an
ihren Platz zu ſtellen und von dort aus zu wirken,
eine unerlaͤßliche Bedingung alles politiſchen Lebens
ausmache; endlich 3), daß das ganze politiſche
Leben ein nothwendiges, unendliches, und auch
die Ausbildung der Geſetze und die Vermehrung
der Beduͤrfniſſe unendlich ſey. —
Indeß, als Begriffe ſtoßen Oekonomie und
Recht in dieſen Werken einander unaufhoͤrlich
noch ab. Ich verſuche es, das Bindungsglied
zwiſchen dieſen beiden ſtreitenden Welten, des
Rechtes und des Nutzens, anzugeben, wie es
die großen Bewegungen der Zeit mich lehrten;
und ſo haben ſich in der Idee des Staates Krieg
und Friede, Beduͤrfniß und Geſetz, mit einan-
der vereinigt.
Die ewige Allianz der Menſchen unter ein-
ander, welche wir Geſellſchaft oder Staat
nennen, iſt alſo eben ſo rechtmaͤßig als nuͤtzlich;
ſie hat demnach einen doppelten Zweck. Aber
ſie iſt auch — und hier thue ich den bedeutendſten
Schritt in meiner ganzen Unterſuchung — von
doppelter Art:
1) Eine Allianz der dieſelbe Zeit genießenden
Menſchen auf der Erde. Alle Zeitgenoſſen
[84] ſollen ſich gegen ihren gemeinſchaftlichen Feind,
die Erde, verbinden, um ihrer Einen furchtbaren
Eigenſchaft, der Einheit ihrer Kraͤfte, zu
begegnen. Dieſe Art der Allianz geben uns
alle Staats-Theorieen zu; deſto leichtſinniger
uͤberſehen ſie aber die andre, eben ſo bedeutende,
Art der Allianz.
Der Staat iſt 2) eine Allianz der vorange-
gangenen Generationen mit den nachfolgenden,
und umgekehrt. Er iſt eine Allianz nicht bloß
der Zeitgenoſſen, ſondern auch der Raumge-
noſſen; und dieſe zweite Allianz wird der an-
dern großen Eigenſchaft unſrer Feindin, der Erde,
ihrer Dauerhaftigkeit, entgegengeſtellt. Sie
uͤberlebt uns alle; deshalb wird ſie immer im
Vortheil gegen uns ſeyn, wenn eine Generation
ſich von ihr verfuͤhren laͤßt, die andre Genera-
tion zu verlaͤugnen. Der Staat iſt nicht bloß die
Verbindung vieler neben einander lebender,
ſondern auch vieler auf einander folgender
Familien; ſie ſoll nicht nur unendlich groß und
innig im Raum ſeyn, ſondern auch unſterblich
in der Zeit. Die Lehre von der Verbindung auf
einander folgender Generationen iſt ein leeres
Blatt in allen unſern Staats-Theorieen; und
darin liegt ihr großes Gebrechen, darin liegt
es, daß ſie ihre Staaten, wie fuͤr einen Mo-
[85] ment, zu erbauen ſcheinen, und daß ſie die er-
habenen Gruͤnde der Dauer des Staates und
ſeine vorzuͤglichſten Bindungsmittel — wohin
vor allen andern der Geburtsadel gehoͤrt —
nicht kennen und nicht wuͤrdigen. —
Im Mittelalter war die ganze Staatslehre
mehr Gefuͤhl als Wiſſenſchaft; aber alles Ge-
meinweſen bewegte ſich um zwei ſehr verſchiedene
Gefuͤhle: 1) um die Ehrfurcht vor dem Worte,
das die Zeitgenoſſen einander gaben; 2) um die
eben ſo tief gegruͤndete Ehrfurcht vor dem Worte,
vor dem Geſetze, das die Vorfahren den Nach-
kommen hinterlaſſen hatten. Dieſe Barbaren
des Mittelalters fuͤhlten ſehr wohl, daß die Ver-
pflichtung des Buͤrgers eine doppelte und gleich-
ehrwuͤrdige ſey; waͤhrend wir unſre Social-Con-
tracte bloß von den Zeitgenoſſen ſchließen laſſen,
die Social-Contracte zwiſchen den vorangegange-
nen und nachfolgenden Geſchlechtern hingegen
nicht begreifen, nicht anerkennen, wohl gar zer-
reißen.
Endlich — und das iſt nun in denen Tagen ge-
ſchehen, die wir ſelbſt erlebt haben — wurde eine
Generation, die gegenwaͤrtige, vollſtaͤndig und
in allen Stuͤcken abtruͤnnig von allen vorange-
gangenen Generationen und Raumgenoſſen, ver-
ſuchte es ganz fuͤr ſich allein und ohne Alliirte
[86] den Krieg gegen die Erde zu fuͤhren, wurde auf
das ſchrecklichſte dafuͤr beſtraft, doch in der
Strafe wieder belohnt mit der Einſicht in dieſe
zweite und bisher ganz verhuͤllte Hemiſphaͤre
der Staatswiſſenſchaft. Burke war der erſte
Staatsmann und Staatsgelehrte, der gleich nach
dem Ausbruch der Franzoͤſiſchen Revolution die-
ſes geiſtige Indien entdeckte, hierdurch Leben,
Ideen und Bewegung in die politiſchen Theo-
rieen brachte, und in der Geſchichte derſelben
das vereinigende, hoͤhere Mittelglied zwiſchen
Adam Smith und Montesquieu wurde. —
Das Recht und der Nutzen (oder die in der
Unart der Zeiten vor Burke inſonderheit ſo ge-
nannte Politik) thaten, nach langer Spaltung,
nun den erſten Schritt zur Verſoͤhnung; denn die
Dauer wurde wieder Bedingung alles Gluͤckes,
in dem Maße, wie die von den Vaͤtern gaͤnz-
lich abgefallene Generation von einem Tage zum
andern Das ſich umgeſtalten, verſchwinden und
wieder erſcheinen ſah, was, ſeiner Natur nach,
fuͤr tauſendjaͤhrige Dauer beſtimmt war. Jetzt,
nachdem alles ſchwankend geworden, und nichts
mehr ſo groß, ſo dauerhaft iſt, daß man auf
den naͤchſten Tag dafuͤr gut ſagen koͤnnte, muß
ja wohl die Lehre von der politiſchen Dauer und
von der Allianz der Generationen, die ſo lan-
[87] ge uͤberſehen worden, alle Gemuͤther anzieh’n.
Jetzt muͤſſen ja wohl auch andre Vorſtellungen
vom Nutzen und vom oͤkonomiſchen Werth in
Umlauf kommen; jetzt muß man ja wohl begrei-
fen lernen, daß der augenblickliche Nutzen und
ein tauſendjaͤhriges Recht einander nie wahrhaft
widerſprechen koͤnnen.
Das Recht und die Oekonomie fuͤhren unter
einander einen alten Streit auf der Erde; das
Geſetz und der Nutzen ſcheinen ſchwer zu ver-
ſoͤhnen —: das Geſetz, weil es, der gemeinen
Anſicht nach, ein ewiges; der Nutzen, weil er
ein augenblickliches Ding iſt. Sobald man
aber einſieht, daß das einzelne Geſetz nicht zwin-
gen kann, ausgenommen in dem Kreiſe beſtimm-
ter Faͤlle, fuͤr die es als Geſetz gilt; daß es be-
ſtimmte Grenzen, alſo nicht ewige Dauer hat,
welche nur die Idee des Rechtes haben kann:
— ſobald wird man auch einſehn, daß der
Nutzen nicht etwas durchaus Augenblickliches iſt;
man wird dauernden Nutzen verlangen, und der
dauernde Nutzen wird dem Geſetze nicht weiter
widerſprechen.
Man blicke nur in die Geſchichte; man folge
irgend einer Nation durch den Lauf einiger Jahr-
hunderte: ſo wird man ein juriſtiſches Ganze
und ein oͤkonomiſches Ganze ſehen; man wird,
[88] nach meiner obigen Bezeichnung, Rechtsgeſchichte
und Kriegesgeſchichte zugleich ſtudieren, und der
große Zwieſpalt zwiſchen dem Geſetz und dem
oͤkonomiſchen Vortheile, den man auf den erſten
Anblick wahrgenommen hat, wird allmaͤhlich ver-
ſchwinden: das wahre Recht und der wahre Nutzen
werden Hand in Hand geh’n. —
Man denke ſich den Ausbruch eines rechtmaͤ-
ßigen Krieges: dem augenblicklichen Nutzen ſcheint
die Maßregel zu widerſprechen; da aber die
Sicherheit aller andern nuͤtzlichen Beſtrebungen
erſtickt, und Sicherheit der Nutzen par ex-
cellence iſt: ſo kann der rechtmaͤßige Krieg, den
das Geſetz befiehlt, nicht weiter der Oekonomie
widerſprechen; es iſt oͤkonomiſch, vieles Einzelne
hinzugeben, um das Ganze zu retten. —
Ferner. Uralte Geſetze einer Nation haben
unermeßliches Eigenthum in die Haͤnde einzelner
Staatsbuͤrger gebracht. Es iſt keinem Zweifel
unterworfen, daß dieſe unverhaͤltnißmaͤßig gro-
ßen Schollen, unter mehrere Eigenthuͤmer ver-
theilt, beſſer bewirthſchaftet ſeyn, und das reine,
reale Einkommen der Nation jaͤhrlich um vieles
vermehren wuͤrden. Die Oekonomie ſcheint hier
dem Geſetze zu widerſprechen; und der gemeine
Staatsmann wird, von dem ſcheinbaren Wider-
ſpruch und von dem ſcheinbar evidenten Vor-
[89] theile getaͤuſcht, vielleicht die Majorats-Geſetze
aufheben wollen, unter deren Schirm ſich jene
großen Maſſen des Grundeigenthums aufgehaͤuft
haben.
Wenn man aber aus dem bloßen Stand-
punkte des Nutzens, doch weitſichtiger und um-
ſichtiger, ſo raͤſonnirte: „Was iſt aller einzelne
Vortheil ohne Credit, ohne Treue und Glauben!
Daß mein Vortheil behauptet werden und dauern
koͤnne, iſt die Seele aller einzelnen Vortheile,
der Vortheil aller Vortheile; daß meine Enkel
noch frei genießen koͤnnen, was ich erwerbe,
wird mir nur durch die Treue garantirt, mit der
ich Das reſpectire, was die Enkel unter meinen
Zeitgenoſſen als Erben ihrer Ahnherren genießen.”
— Oder, wenn ich, eben ſo oͤkonomiſch, auf
folgende Art raͤſonnirte: „Was ich an reinem
Einkommen gewinne, indem jene großen Schol-
len in mehrere kleine, beſſer bewirthſchaftete zer-
theilt werden, verliere ich in außerordentlichen
Faͤllen, wo ich ungewoͤhnlicher Fonds bedarf.
Der große Eigenthuͤmer kann bei einem aus-
brechenden Kriege groͤßere Aufopferungen machen,
als alle die kleineren, unter die ſeine Scholle
vertheilt werden wuͤrde, zuſammengenommen;
und er wird es thun, da er mehr an das In-
tereſſe des Staates gebunden iſt, als alle jene
[90] kleinen.” So naͤhert ſich die Oekonomie, je er-
leuchteter, je weitſichtiger ſie wird, immer mehr
dem Rechte. —
Wir wollen aber den Fall ſetzen, es ſey nicht
um die Aufhebung der Majorate, ſondern um
die Aufhebung und Auseinanderſetzung der Ge-
meinheiten zu thun. Die augenſcheinliche Ver-
mehrung des reinen Einkommens einer Nation
ſpricht fuͤr die Aufhebung; ein altes Geſetz ſpricht
dagegen, doch ein Geſetz von viel geringerem
Umfange, als jenes, welches gegen die Aufhe-
bung der Majorate ſpricht. Gewohnheit, Starr-
ſinn der Bauern ſtellen ſich auf die Seite des
Geſetzes; doch der unmittelbare Vortheil kann
hier den Sieg uͤber ein beſchraͤnktes und ohn-
maͤchtiges Geſetz davon tragen.
Aber wie wird der Vortheil gegen das ein-
zelne, ihm widerſtreitende Geſetz abgewogen?
Sowohl in dem Calcul uͤber das Geſetz, als in
dem andern uͤber den Nutzen, muß der Lauf der
Zeit, ja der Jahrhunderte, mit in Anſchlag ge-
bracht werden; wie ſich das Geſetz und der oͤko-
nomiſche Vortheil im Laufe der Jahre verhal-
ten: das iſt ihre große Probe in der Seele des
Staatsmanns. Vor ihm iſt weder das einzelne
Geſetz etwas bloß Ideales und Ewiges, noch
[91] der einzelne Vortheil etwas bloß Reales und
Augenblickliches.
Der Staatsmann betrachtet 1) das Geſetz
nie einzeln in ſeiner abſtracten Strenge, ſondern
er ſtellt es der Lage der Dinge gegenuͤber, in
der es entſtanden, er ſieht es an, wie es aus
der Geſchichte hervorgegangen iſt; er behandelt
das einzelne Geſetz wie eine Seele, deren Koͤr-
per in einem Capitel aus der National-Geſchichte
beſteht; und ſo ſtellt er ſelbſt weder das bloße
Geſetz, noch die bloße hiſtoriſche Erfahrung,
oder die perſonificirte Geſchichte dar, ſondern er
iſt ein lebendiges Drittes: die Idee des Na-
tional-Rechtes.
Eben ſo betrachtet der Staatsmann 2) den
Nutzen, den oͤkonomiſchen Gewinn, nie einzeln
in ſeiner concreten Geſtalt: er ſtellt die beſtimmte
oͤkonomiſche Maßregel einem Geſetze gegenuͤber,
das ſich daraus entwickeln muß; er giebt dem
duͤrren Koͤrper eine Seele, indem er ſich die
Maßregel des Nutzens durch lange folgende Jahre
fortlaufend denkt. So perſonificirt er den Nutzen,
wie er im erſteren Falle das Geſetz perſonificirte;
er belebt beide: den Nutzen, indem er ihm eine
Seele; das Geſetz, indem er demſelben einen
Koͤrper giebt. Der Nutzen, fuͤr den die Zu-
kunft, das Geſetz, fuͤr das die Vergangenheit
[92] ſpricht, ſind beide perſoͤnlich, lebendig: ſie ſind
Pairs; und er, der Staatsmann, der Suveraͤn,
die hoͤhere Perſon, kann ſie beide vermitteln,
oder zwiſchen ihnen entſcheiden. So repraͤſen-
tirt der Staatsmann weder den bloßen augen-
blicklichen Nutzen, noch die bloße prophetiſche
Vorſorge, ſondern die Idee des National-
Vortheils, des National-Reichthums.
Auf dieſe Weiſe wird der Begriff des Na-
tional-Reichthums, wie in unſrer neulichen Un-
terhaltung der Begriff des National-Rechtes,
zerſtoͤrt, an beider Stelle die Idee geſetzt, und
ſo Bewegung in die Wiſſenſchaft des Staates
gebracht. Nun ſind das Recht und der Nutzen,
das Geſetz und der Beſitz gleichartige Weſen,
und es kann keinen verzweifelten Streit zwiſchen
ihnen geben; denn es waltet ein gemeinſchaftli-
cher Geiſt des Lebens in ihnen beiden. Alle ſtrei-
tende Ideen erzeugen hoͤhere Ideen in der Seele
des Staatsmannes; und vor dieſen immer hoͤ-
heren Ideen ordnet, beruhigt und fuͤgt ſich die
Welt.
So ſteht der Staatsmann in der Mitte ſei-
ner Nation und ſeiner Zeit, uͤber alle einzelne
Geſetze erhaben, und aller einzelne Vortheil der
Nation iſt ihm unterworfen. Das National-
Geſetzbuch iſt ihm nichts anderes als ein Aus-
[93] zug, ein esprit der National-Geſchichte; die
unzaͤhligen oͤkonomiſchen Beduͤrfniſſe, welche ſich
klagend und bittend an ihn wenden, ſind eben
ſo viele Forderungen der Zukunft. Dieſe und
die eben ſo lauten und ernſten Forderungen der
Vergangenheit, welche aus den Geſetzen ſpre-
chen, hat er unter einander zu vertragen und zu
vermitteln: er ſoll die Vergangenheit und die
Zukunft in einander weben. Dies kann er nur
dadurch, daß er beide lebendig und perſoͤnlich,
d. h. ideenweiſe, vor ſich hin ſtellt; er kann es
nur, in ſo fern er, in Burke’s Manier, die
Jahrhunderte fragt, die Geſetze der Dauer in
ſeinen Calcul zieht, vor allem andern die Allianz
der Raumgenoſſen ſowohl als der Zeitgenoſſen
im Auge behaͤlt, und alſo Zeit und Ewigkeit in
ſeinem Buſen traͤgt.
[94]
Vierte Vorleſung.
Wie der Krieg ein Lehrer politiſcher Ideen werde, wie er
das National-Recht und die National-Oekonomie belebe.
Wenn wir den wahren Staatsmann fragen,
der ſeine Beſtimmung erkennt und die Befoͤrde-
rung jener Verbindung ſowohl zwiſchen den
Zeit- als den Raum-Genoſſen im Auge hat,
dem die Gegenwart und der zeitige, rechtlichſte
und reichſte Zuſtand ſeines Volkes nichts iſt,
ohne die Garantie deſſelben fuͤr die Zukunft; —
wenn wir ihn fragen, wo er die Gewaͤhrleiſtung
hernehme, daß ſein Wirken und Schaffen dauern
werde; — ſo wird er antworten: Die Vergan-
genheit, die Erfahrung des Vergangenen allein,
kann dieſe Gewaͤhrleiſtung geben. Je treuer und
inniger ich mich an Das anſchließe, deſſen Dauer-
haftigkeit erpruͤft iſt, um ſo wahrſcheinlicher
kann ich hoffen, daß ich ſelbſt dauern werde. —
Eine ſymmetriſche Verfaſſung des Staates, eine
[95] geometriſch-ſtrenge Eintheilung von Grund und
Boden, ein genauer Anſchlag des jaͤhrlichen rei-
nen Einkommens und der Beduͤrfniſſe, ein ſyſte-
matiſches Geſetzbuch, gleiche Vertheilung der La-
ſten, einfoͤrmige Muͤnze, Maß und Gewicht:
alles das bringt ein ſogenannter guter Kopf
mit leidlicher Speculation und fleißiger Abwaͤ-
gung von Gruͤnden und Gegengruͤnden — auf
dem Papiere bald zu Stande.
Staͤnde der Staat ruhig da, wie ein Haus;
blieben die Werkſtuͤcke ſeines Baues, wie wir ſie
gefuͤgt haben; ſtroͤmten nicht jeden Augenblick
neugeſtaltete Bewohner ein, und die alten hinaus:
ſo moͤchte unſre kluge Eintheilung der Zimmer,
und unſre ganze anordnende Weisheit etwas
werth ſeyn. Jetzt aber wandelt und regt ſich
und wechſelt in jedem Augenblicke der Stoff un-
ſrer Kunſt; er ſpottet unſrer Syſteme und aller
Geometrie. — Was iſt alſo natuͤrlicher, als daß
wir auch dieſen Wechſel und Wandel der menſch-
lichen Dinge eben ſo wohl ſtudieren muͤſſen, wie
ihre ruhende Erſcheinung! —
Vielleicht faͤnde ſich in der vereinigten Be-
wegung der Menſchheit oder einer Nation, wenn
wir dieſelbe durch Jahrhunderte verfolgten, eine
Art von Geſetz der Bewegung; vielleicht faͤnde
ſich, daß, wie jeder Vers ſeinen eigenthuͤmlichen
[96] Rhythmus, jedes Muſik-Stuͤck ſeinen eigenthuͤm-
lichen Takt, ſo auch jede Nation ihre eigen-
thuͤmliche Bewegung habe, welche vor allen
Dingen der Staatsmann, als Capellmeiſter, doch
auch jeder einzelne Buͤrger ſeines Theils empfinden,
und in welche er, der Natur ſeines Inſtrumentes
gemaͤß, eingreifen muͤſſe. — Vielleicht verbaͤnde
ein einziger Grundtakt alle Generationen eines
Volkes, vielleicht ein noch hoͤherer, mehr umfaſ-
ſender, alle Generationen der Menſchheit unter
einander. Ich habe nur ahnden laſſen wollen,
wie viel von den weſentlichſten Eigenthuͤmlich-
keiten des Staates die bisherige Theorie uͤber-
ſehen hat, weil ihr das Weſen der Ideen, und,
dem zu Folge, das Weſen der geiſtigen, wie
der koͤrperlichen Bewegung, der Nationen fremd
geworden iſt.
Der Staatsmann iſt beſtaͤndig ſchon von der
Natur ſo geſtellt, daß er ideenweiſe agiren muß.
Wollte er ſich ausſchließend an den Begriff und
Inbegriff der Geſetze ſeiner Nation halten;
wollte er ſich nie uͤber die Schwelle der bereits
vorhandenen Legislation hinaus wagen: ſo wuͤrde
er bald mit ſeinem Volk und ſeiner Zeit zerfallen,
und die Bewegung der Zeiten, die er nicht in
ſeinen Calcul aufgenommen oder zu ignoriren
gewagt haͤtte, muͤßte ihn zermalmen. — Eben
ſo
[97] ſo verderblich wuͤrde die Vergangenheit auf ihn
zuruͤckwirken und ſich an ihm raͤchen, wenn er,
einem oͤkonomiſchen Begriffe zu gefallen, ſein Auge
ausſchließend auf die Zukunft und ihre Beduͤrf-
niſſe zu richten wagte. — Aber das Geſetz, oder
die Vergangenheit, und die Oekonomie, oder die
Zukunft, nehmen ihn beide wechſelsweiſe unauf-
hoͤrlich in Anſpruch, ſo daß er ſich keinem von
beiden ausſchließend hingeben kann, und von
ſelbſt ſchon auf eine dritte hoͤhere Stelle getragen
wird, von wo aus er zwiſchen den beiden ewig
ſtreitenden Partheien unaufhoͤrlich vermitteln und
ideenweiſe agiren muß. Wollte er bloß in einem
kritiſchen Falle die Geſchichte ſeines Landes nach-
ſehen, und fragen: wie hat der und der bei
einer aͤhnlichen Gelegenheit gehandelt? und nun
dieſes Handeln nachmachen: ſo wuͤrde er mit
einem ſolchen, von ganz anders geſtalteten Zei-
ten und Perſonen entlehnten, Begriff unmoͤglich
eingreifen koͤnnen in die Begebenheiten ſeiner Zeit.
Berathſchlagte er hingegen mit der Geſchichte,
bloß, um ſich in den freien, muthigen und natio-
nellen Tact des Handelns zu verſetzen, ohne ir-
gend etwas Beſtimmtes als Copier-Muſter fuͤr
ſein Handeln aus dem Zuſammenhange der Ge-
ſchichte herauszureißen; verlangte er von der
Geſchichte weiter nichts, als daß ſie ihn beſtaͤrke
Müllers Elemente. I. [7]
[98] in ſeiner Idee des National-Lebens, damit er,
auf dieſe Art geruͤſtet, allen unendlichen Forde-
rungen des Augenblickes und der Zukunft entge-
gen treten koͤnne: — nun, ſo wuͤrde die Gegen-
wart von ihm ſo geſtaltet werden, daß dabei
weder die Rechte der Vergangenheit, noch der Zu-
kunft verletzt wuͤrden. —
Denken Sie ſich den Suveraͤn eines Landes
bei einer Cabinets-Berathſchlagung zwiſchen dem
Juſtiz- und dem Finanz-Miniſter: jenem als Ad-
vocaten der Geſetze und der Vergangenheit; dieſem
als Wortredner des dringenden Augenblickes und
der fordernden Zukunft! Unſere Deutſchen Ver-
faſſungen haben, in ganz abgeſonderten Depar-
tements, Einerſeits das Intereſſe der Geſetze,
und andrerſeits das oͤkonomiſche Intereſſe ſich
conſolidiren laſſen, ſo daß, von hundert mechani-
ſchen Haͤnden gehaͤmmert und geſchmiedet, end-
lich der juriſtiſche Begriff ſowohl als der oͤkono-
miſche ſtarr und abgeſondert dem Suveraͤn vor-
gelegt wird. Nun koͤnnte ſich vielleicht auch der
erleuchtetſte, beſtgeſinnte Fuͤrſt aus dem furcht-
baren Dilemma oft nicht herauswinden, wenn
nicht in den meiſten Faͤllen die Sache von der
Nothwendigkeit, von dem bloßen Drange der
Umſtaͤnde, entſchieden wuͤrde.
Wie ganz anders ſtaͤnde es, wenn der Juſtiz-
[99] Miniſter ſeinem Suveraͤn die Forderungen des
Geſetzes oder der Vergangenheit ganz unter dem
erhabenen oͤkonomiſchen Geſichtspunkte, von dem
in unſrer vorigen Unterhaltung die Rede war,
der Finanz-Miniſter hingegen den oͤkonomiſchen
Vortheil oder das Beduͤrfniß des Augenblickes
ganz unter einem eben ſo erhabenen legislativen
Geſichtspunkte darzuſtellen wuͤßte; wenn folglich
nicht zwei auf Tod und Leben entzweite Begriffe,
ſondern zwei lebendige Ideen, von denen jede
auf ihre Weiſe das Ganze repraͤſentirte, in das
Cabinet des Suveraͤns gelangten, und dieſer nun
aus zwei ſtreitenden Ideen die dritte
hoͤhere zu bilden haͤtte!
Jetzt aber wenden ſich alle Forderungen der
Gegenwart an eine große Zunftgenoſſenſchaft,
an die Finanz-Behoͤrde; alle Proteſtationen dage-
gen, ex capite der und der Geſetze, oder der
und der Contracte, an die juriſtiſche Zunftgenoſ-
ſenſchaft; in zwei ganz verſchiedenen Manufactu-
ren, bei verſchloſſenen Thuͤren, und mit der Fe-
der in der Hand, werden jene Forderungen und
dieſe Proteſtationen begriffsweiſe ausgearbeitet
und ſo endlich dem Suveraͤn vorgelegt. Der Finanz-
Miniſter, der die Gewalt des Augenblickes am
beſten fuͤhlt, muß das ſproͤde Geſetz, welches ſich
widerſetzen will, verachten; der Juſtiz-Miniſter
[100] begreift die Nothwendigkeit des Krieges und der
Forderung von Seiten der Alliirten nicht. Je-
der von beiden repraͤſentirt ſeine Behoͤrde, Kei-
ner das Vaterland. Begriffe ſind, wie alles Leb-
loſe, nicht zu vermitteln, nicht zu verſoͤhnen; die
ganze Berathſchlagung konnte unterbleiben: wer
den Augenblick auf ſeiner Seite hat, behaͤlt
Recht; und das iſt der Finanz-Miniſter.
Das Jahrhundert der Induſtrie, in welchem
wir leben, trieb jene traurige Spaltung der Be-
hoͤrden ſo weit, daß man der alten guten Ein-
richtung — wonach jeder Staatsbeamte ſeine
Schule mit einem gruͤndlichen juriſtiſchen Stu-
dium anfangen mußte, und dem zu Folge man
der Vergangenheit und den Geſetzen zwar keinen
Vorzug, aber den Rang, die Art von Adel ein-
raͤumte, welche ihnen gebuͤhrt — untreu wurde;
daß ſich auf den Univerſitaͤten, zum großen
Schaden des Gemeinweſens, eigene Cameral-
Facultaͤten zu bilden anfingen, an die der junge
Staatsmann ſich unmittelbar wenden konnte, und
wo denn das Studium von der Vermehrung des
reinen Einkommens auf eigne Hand getrieben
wurde.
Was fuͤr Fruͤchte dieſes lockre Mode-Stu-
dium getragen hat, und wie das reine Einkommen
in Deutſchland vermehrt worden iſt, weiß Gott.
[101] Das ſind die philanthropiſchen Ideen, die der
Charakter des Jahrhunderts ſeyn ſollen! Kanaͤle
graben und Heerſtraßen bauen fuͤr den Verkehr
mit den kleinen Nichtswuͤrdigkeiten des Lebens,
aber den großen Kanal der Geſetze, auf den die
Weisheit der Vaͤter durch die Jahrhunderte her-
abſtroͤmt, einfallen laſſen, wohl gar verdaͤmmen!
Ein einziger Waſſerbaumeiſter wiegt auf der
Schale dieſer Philanthropen ſo ſchwer, wie hun-
dert Rechtsgelehrte.
In England, dem Lande, das ungefaͤhr ſo
ausſieht, wie Deutſchland ausſehen wuͤrde, wenn
es gegen den Einfluß der Nachbarn andre Gren-
zen gehabt haͤtte, als den Rhein und die Alpen;
dem Lande, das die alte Germaniſche Geſetzge-
bung ausgebildet hat, wie Spanien die alte Ger-
maniſche Sitte und Poeſie — in England exi-
ſtirt die Departements-Eintheilung, in unſerm
Sinne des Wortes, nicht.
Wie viel man auch uͤber den Manufacturen-
Chararter vieler Brittiſchen Einrichtungen ſagen
mag — regiert wenigſtens wird nicht in die-
ſer Manier; die Geſetze werden nicht manufactu-
rirt. Die verſchiedenen Zweige der Adminiſtra-
tion ſind in England getheilt, wie es, der Ord-
nung halber, uͤberall geſchehen muß; aber es
giebt dort kein adminiſtratives Corps, das nicht
[102] in gewiſſem Sinne wieder das ganze Vaterland
repraͤſentirte. Eine der verbreitetſten Notionen
uͤber England iſt die, daß der Finanz-Miniſter
jenes Landes immer nothwendig Premier-Miniſter
ſeyn muͤſſe; und, wenn man die koloſſale Staats-
wirthſchaft von Großbrittanien betrachtet, die
ſich unter den furchtbarſten Kriſen ſo glaͤnzend
erhalten hat, ſo ſollte man glauben, Geſetze,
Verfaſſung, Nationalgeiſt, alles Einzelne diene
am Ende doch nur dieſer Behoͤrde, und die Brit-
tiſche Conſtitution ſey nichts anders als ein ſehr
weiſes, gruͤndliches Reglement des großen Comp-
toirs fuͤr den Welthandel. —
Will man indeß einmal wieder die ganze Be-
trachtung dieſes Landes aus einem juriſtiſchen
Standpunkte vornehmen, ſo ſcheinen die Geſetze
eben ſo ſehr der Mittelpunkt zu ſeyn, um den
ſich alles bewegt; nur von dem Augenblick und
ſeiner erſchreckenden Gewalt abgeſehen, ſo erſchei-
nen der Großkanzler, die zwoͤlf Richter der Rei-
ches, und der Sprecher des Unterhauſes eben ſo
wichtig, wie der Finanz-Miniſter. Wie oft iſt
England ſeine buchſtaͤbliche Treue gegen das Ge-
ſetz vorgeworfen worden! Bei jeder großen
Maßregel iſt die erſte Frage im Parliament nach
dem precedent, nach dem was man in Deut-
ſchen Staaten, mit etwas verhaͤrtender Ueber-
[103] ſetzung, den Vorgang nennt, nach einem aͤhn-
lichen Capitel in jeder National-Geſchichte,
durch deſſen Herbeiziehung man ſich zuvoͤrderſt
in die alte National-Gemuͤthsſtimmung, in den
alten National-Tact zu verſetzen ſtrebt, worauf
nun die Debatte beginnen und der neue Vorfall
in ſeiner ganzen Eigenthuͤmlichkeit an’s Licht tre-
ten kann.
Endlich iſt die ganze politiſche Erziehung der
Britten durchaus alterthuͤmlich und juriſtiſch:
wenig Beiſatz von modernem Staatswitz, Con-
ſtitutions-Bauerei und économie politique und
allem dem Tand, womit man auf dem Continente
ſpielt, deſſen erhabene Weſentlichkeit hinge-
gen in England ausgeuͤbt und von großen Auto-
ren beſchrieben wird. Alle großen Financiers in
England waren erzogene, ich moͤchte ſagen, ge-
borne Juriſten *).
[104]
Ich habe neulich angedeutet, daß in dem Ab-
ſchnitte der oͤkonomiſchen Wiſſenſchaften, der von
dem Credit handelt, und den unſre national-oͤko-
nomiſchen Mode-Juͤnger, aus einem richtigen
Inſtinkt ihrer eigenen Flachheit, nur leicht und
fluͤchtig beruͤhren, der Schlußſtein des Oekonomie-
Staates zu finden iſt, und daß ſich an dieſer
Stelle das Recht und der Reichthum auf das
innigſte beruͤhren. Wir ſind gewohnt, uns den
Credit unmittelbar bei dem Gelde, bei dem Be-
ſitze, bei Waaren, und von dieſen Dingen, ihrem
Erſcheinen und Verſchwinden, abhaͤngig, zu den-
ken, als eine Art von eingebildetem Weſen, wel-
ches an den Sachen klebt, und im Grunde auf
dem traͤgen Glauben beruhet, „wo viele Guͤter
ſeyen, da koͤnne auch wohl noch mehr ſeyn; wer
lange gezahlt habe, von dem ſey nicht einzuſehn,
warum er heute, gerade heute, aufhoͤren ſolle zu
zahlen.”
Wenn der Reichthum einer Nation Eins wird
mit ihr; wenn er in ihre Verfaſſung verwaͤchſt,
*)
[105] und Jeder alle Andere, das Ganze jeden Ein-
zelnen, und jeder Einzelne das Ganze verbuͤrgt;
wenn die neue Generation erfuͤllt, was die alte
verſprochen hat; kurz, wenn der Reichthum et-
was Perſoͤnliches, und, was mehr ſagen will,
wenn er etwas Nationales, ich moͤchte es noch wei-
ter treiben, wenn er etwas Innerlich-Morali-
ſches wird, ſo daß man ernſthaft und ohne alle
Frivolitaͤt von einem Menſchen ruͤhmen kann,
er ſey worth ten thousand pounds, (was in
Deutſchland, wo dieſer ſolide Begriff des Reich-
thums nicht exiſtirt, unter vieler moraliſcher Pruͤ-
derie ſo verſtanden worden iſt, als meinte der
Englaͤnder, der Mann ſey, wenn man die zehn-
tauſend Pfund von ihm wegnehme oder abziehe,
nun wirklich nichts mehr werth) —: dann wird
auch zwiſchen dem Geſetz und dem oͤkonomiſchen
Vortheil keine weitere verzweifelte Spaltung mehr
Statt finden; und deshalb habe ich das treffende
Beiſpiel von England gewaͤhlt, weil ich zeigen
wollte, wie die Idee des Rechtes, und die
Idee des Nutzens, wofern ſie nur beide ideen-
weiſe auftreten, leicht in der Wirklichkeit Eins
werden, oder, mit andern Worten, ſich leicht der
hoͤheren Idee, die ſich im Suveraͤn darſtellt, zur
Verſoͤhnung und Vermittelung hingeben.
Ich darf an dieſer paſſenden Stelle wohl auf
[106] den immer uͤberſehenen Vorzug der vielgeruͤhmten
Brittiſchen Conſtitution aufmerkſam machen. Die
Geſetze und der Reichthum, oder Juſtiz und Fi-
nanzen, ferner die damit verwandten Streitmaſ-
ſen in dem Innern jedes Europaͤiſchen Staates,
Adel und Buͤrgerſchaft, Land-Intereſſe und Geld-
Intereſſe, Freiheit des Volkes und Suveraͤnetaͤt
des Thrones, ſtehen in England nicht, wie in
den meiſten uͤbrigen Verfaſſungen von Europa,
einander als Begriffe entgegen, von denen zwar
jeder ſich auf unverjaͤhrbare Rechte ſtuͤtzt, die
aber, eben weil ſie todte Begriffe ſind, in keine
lebendige Beziehung, in keine perſoͤnliche Ver-
bindung treten koͤnnen, ſondern ſie ſind, als
Ideen, in ewigem, lebendigem Verkehr begriffen:
der esprit publique und die taktmaͤßige, gelaſſene
Bewegung des Ganzen erhalten jede einzelne von
ihnen in beſtaͤndiger Friſche; und ſo iſt jeder
Brittiſche Buͤrger, wie ſehr er auch einem ein-
zelnen Theile des oͤffentlichen Geſchaͤftes oder
des National-Intereſſe angehoͤren moͤge, auf-
gefordert und in den Stand geſetzt, ihr Leben
zu empfinden, und zwiſchen den verſchiedenen
Ideen, die ohne Ende durch Preßfreiheit, Par-
liament, Gerichtshoͤfe und Volksverſammlungen
zum Worte kommen, die hoͤhere Idee des Na-
tional-Rechtes und des National-Vortheils, und
[107] zwiſchen dieſen die noch hoͤhere Idee des gemein-
ſchaftlichen Vaterlandes, ſelbſtthaͤtig zu erzeugen.
Angenommen, es gaͤbe auf der ganzen Erde
nur einen einzigen Staat, ſo wuͤrde dieſer ge-
wiß in ſich vertrocknen und zu Stein werden.
Denn ſo wie in dem Bezirk eines beſtimmten
Staates, die Grenzlinien zwiſchen den einzelnen
Adminiſtrations-Zweigen oder Departements moͤ-
gen auch noch ſo beſtimmt und ſcharf gezogen wer-
den, dennoch bloß deshalb, weil es mehrere Depar-
tements ſind, ein unaufhoͤrliches Anziehen und
Abſtoßen zwiſchen dieſen, alſo ein lebendiger Ver-
kehr, eine Bewegung Statt finden muß: ſo
wird es — ein einzelner Europaͤiſcher Staat
moͤge auch noch ſo ſehr in ſich erſtarren — bloß
dadurch, daß es mehrere Staaten giebt, unmoͤg-
lich, daß der todte Begriff des Rechtes oder des
Nutzens je die Rolle in der Wirklichkeit ſpielen
koͤnnte, welche die Theorie ihm zuſchreibt. —
Jeder Staat wird von Nebenſtaaten unaufhoͤr-
lich beruͤhrt, gereitzt und erſchuͤttert; kein ſteifer
Rechtsbegriff, kein trockner Nutzens-Calcul, kann
ihn gegen die Bewegungen der Nachbarſtaaten
vertheidigen, die viel weniger aus dem Eigenſinn
oder der Anmaßung der Cabinette (wie man es
ſich gewoͤhnlich denkt), als aus der ewigen Natur
der Dinge hervor gehen. Die Natur fordert un-
[108] aufhoͤrlich jeden einzelnen Staat dazu auf, ſich
in der Idee zu erkennen, d. h. ſich als lebendi-
ges, bewegtes Weſen geltend zu machen, ſich
beſtaͤndig mit anderen Staaten zu vergleichen und
zu meſſen; — und ſo wie ich oben gezeigt habe,
daß der Menſch das Weſen des Menſchen nicht
abſolut begreifen kann, weil die Natur eigent-
lich keine abſolute Menſchen, ſondern [nur] Maͤn-
ner und Weiber, erſchaffen hat, und daß ſich der
Menſch daher nur mit beſtaͤndig wechſelnden
Bli [...]en, in zwei ganz verſchieden organiſirten
Menſchen, alſo lebendig und ideenweiſe, auffaſ-
ſen laͤßt: eben ſo iſt auch das Weſen des Staa-
tes nicht abſolut zu begreifen, ſondern gleichfalls
nur mit Wechſelblicken auf ſehr verſchieden ge-
ſtaltete, conſtituirte und organiſirte Staaten, le-
bendig, im Fluge, d. h. ideenweiſe, zu erkennen.
Auf dieſe Weiſe hat es die Natur unmoͤglich
gemacht, den erhabenſten Gedanken des Men-
ſchen, den Staat, je als Begriff zu fixiren, und
je irgend eine Unweſentlichkeit, oder irgend eine
Localitaͤt, als etwas Nothwendiges in den Ge-
danken des Staates aufzunehmen, oder denſelben
fuͤr immer zu hemmen oder zu verunſtalten. —
Auf dieſe Weiſe iſt die unendliche Bewegung und
Entwickelung der buͤrgerlichen Geſellſchaft moͤglich
gemacht, und auch der wahre immerwaͤhrende
[109] Zuſammenhang der Geſellſchaft unter einander,
den ja keine Gewalt in der Welt, außer dem
todten Begriffe nur, unterbrechen kann.
Wenn wir in der Weltgeſchichte mitunter
die Dinge eine Wendung nehmen ſehen, als ſoll-
ten die verſchiedenen Individualitaͤten der Voͤl-
ker nun verwiſcht und die Theilung der Welt in
mehrere Staaten nun aufgehoben werden; als
ſollten die Begriffe eines einzigen Kopfes das
ganze bunte Weltreich der Ideen nun ausloͤſchen,
und an die Stelle des vielgeſtalteten und deshalb
um ſo einfacheren Lebens, ein einfoͤrmiger, kuͤnſt-
licher und todter Mechanismus treten —: ſo
duͤrfen wir dieſe Stellen in der Weltgeſchichte
nur genauer pruͤfen, und die Vergaͤnglichkeit eines
ſolchen Beginnens, und die Zwecke der Natur
dabei, werden uns bald einleuchten. Als das
alte Reich der Ideen in Griechenland, die leben-
digen Staaten, die lebendigen Wiſſenſchaften
und Kuͤnſte, untergegangen waren, und in Rom,
in Alexandrien, in Sicilien und den Griechiſchen
Colonieen bloß die Begriffe der Tugend, der
Freiheit, der Schoͤnheit noch uͤbrig geblieben;
als an die Stelle des freien Lebens ſtarre Maſ-
ſen getreten waren, uͤber die kein uͤppiges Spiel
der Geiſter, ſondern nur die Gewalt der Ele-
mente waltete: da mußte nothwendig die groͤßere
[110] Maſſe uͤber die kleinere, der Begriff der militaͤ-
riſchen Gewalt uͤber alle anderen Begriffe Herr
werden, und der ewigen Stadt die Unterdruͤk-
kung der Welt gelingen.
Aber die erſte Idee, die ſich wieder regte,
war auch nicht mehr Rom unterthan, trat aus
dem Umkreiſe der Univerſal-Herrſchaft der Roͤ-
mer heraus, und gruͤndete eine neue, viel ſchoͤnere
Welt. Der Schein der Univerſal-Herrſchaft
kommt mitunter in die Welt, um den Voͤlkern
ihre Abgeſtorbenheit ſichtbar zu machen, um
jeder einzelnen Nation ihr hoͤchſtes Gut, das ſie
vor allem todten Beſitze vergeſſen hat, nehmlich
die Idee ihrer Eigenthuͤmlichkeit, wie einen Kranz
des Sieges, den ſie erſt erobern muß, vorzu-
halten. —
Dieſe Eigenthuͤmlichkeit der Geſetze, der Ver-
faſſung und der Sitten gering zu ſchaͤtzen, war
auch der Charakter der Kosmopoliten in unſern
Tagen, die, weil die Figur der einzelnen Euro-
paͤiſchen Staaten gewiſſen geometriſchen Begrif-
fen, die Geſetzesſammlungen derſelben gewiſſen
Syſtemen, und die ganze Haushaltung der Staa-
ten gewiſſen arithmetiſchen Exempeln und ge-
wiſſen Vorſtellungen einer aͤußeren Symmetrie
nicht angemeſſen waren, nun nichts Hoͤheres er-
ſchwingen konnten, als den armſeligen Begriff:
[111] Ein Herr, Ein Geſetz, Ein Kalender, Ein
Muͤnze- Maß und Gewicht uͤber dem ganzen
Erdboden. Daß die Natur ihre Ordnung (die
freilich mehr iſt, als das Facit eines Rechen-
Exempels, mehr als das x einer algebraiſchen
Formel) gerade aus der unendlichen Verſchie-
denartigkeit der Menſchen, ihrer Wohnſitze, ihrer
Beduͤrfniſſe, ihrer Klimate, ihrer Regierungs-
weiſen bilde, und daß demnach die Einheit des
Ganzen oder des Kosmos, nicht beſſer befoͤr-
dert werde, als wenn Jeder in ſeiner eigenthuͤm-
lichen Geſtalt ſich bewaͤhrt, ſich regt und ver-
theidigt, und daß alle die unendlichen Unbequem-
lichkeiten, welche daraus entſtehen, immer fort
wieder neue Bewegung veranlaſſen, d. h. zum
Segen des Ganzen ausſchlagen muͤſſen; — kurz,
daß die Idee des Patriotismus, und die Idee
des Kosmopolitismus einander nicht nur nicht
widerſtreiten, ſondern vielmehr einander beleben,
waͤhrend der Begriff des Patriotismus zu ge-
ſchloſſenen Handelsſtaaten, und der Begriff des
Kosmopolitismus zu Univerſal-Staaten, d. h. zu
den beiden großen Hauptformen alles politiſchen
Unſinns, fuͤhrt —: dieſe ewigen Wahrheiten muͤſ-
ſen heut zu. Tage verkuͤndigt werden.
Die lebendigen Schranken der Staaten unter
einander umwerfen, und die nach Maßgabe
[112] vermeintlicher natuͤrlicher Grenzen abgeſteckten
Schranken der Staaten in großen unuͤberſteig-
lichen Mauern ausbauen, kurz, Fichte und —
die Kosmopoliten unſeres Jahrhunderts ſind die
beiden Extreme, mit denen unſre Staatswiſſen-
ſchaft ewig nichts zu ſchaffen haben kann. Leben-
dige Grenzen hat jeder Staat, unzaͤhlige freie
Beruͤhrungspunkte des Lebens; und daraus ent-
ſtehen die Verhaͤltniſſe, welche wir, im Gegenſatze
ſeines eignen inneren Lebens, auswaͤrtige
Verhaͤltniſſe nennen.
Die Natur will die Idee des Staates, und
keinen Begriff deſſelben: deshalb hat ſie mehrere
Staaten erſchaffen; jeder von ihnen an und fuͤr
ſich ſchon zu groß fuͤr den Zwang und die Zucht-
ruthe des Begriffs, und die abſolute Vereini-
gung aller unmoͤglich. Die Thorheit aller Be-
griffe vom ewigen Frieden, denen man einen
Thron uͤber allen dieſen Staaten hat erbauen,
die man durch einen Univerſal-Monarchen oder
permanenten Voͤlker-Congreß hat repraͤſentiren
laſſen wollen, braucht nicht erſt bewieſen zu wer-
den; ihre Unausfuͤhrbarkeit leuchtet ein, und —
hoffe ich, nach allen meinen Praͤmiſſen — auch
das Ungluͤck der Welt, und der Stillſtand der
buͤrgerlichen Geſellſchaft, welche der Ausfuͤhrung
auf dem Fuße folgen wuͤrden. Kriege ſind, aus
dem
[113] dem Standpunkte der einzelnen Menſchen, Unbe-
quemlichkeiten, welche das Neben-einander-Woh-
nen einzelner Voͤlker mit ſich fuͤhrt, wie in der
beſtgeordneten buͤrgerlichen Geſellſchaft Prozeſſe
und Streit Unbequemlichkeiten ſind, welche ſich
von dem Neben-einander-Wohnen der einzelnen
Menſchen nicht trennen laſſen. —
Aus dem Standpunkte der Staaten ſind
Kriege die Bewegungen inſonderheit, unter de-
nen das politiſche Leben ſich ſelbſt erkennen und
fuͤhlen lernt, unter denen der Staat ſich ſeiner
abgeſonderten Natur bewußt wird, das Ganze
ſeine Kraͤfte vornehmlich erpruͤft, weil es ſich
ſelbſt einem andern ſolchen Ganzen gegenuͤber
ſieht. Unter allen Bindungsmitteln der Staats-
vereinigung iſt der wahre Krieg das wirkſamſte
und dauerhafteſte, weil gemeinſchaftliche Noth
und Thraͤnen beſſer und feſter binden als das
Gluͤck, weil alles Einzelne, was ſich im Frieden
verbergen und verheimlichen kann, nun nothwen-
dig oͤffentlich hervortreten und dem Ganzen her-
gegeben werden muß. Ich rede von wahren Krie-
gen: die Beiſpiele liegen in der Geſchichte. — In
dem Kriege der National-Kraft gegen die Na-
tional-Kraft, nicht des National-Uebermuthes
gegen die National-Ohnmacht, wird das Weſent-
lichſte und Schoͤnſte der National-Exiſtenz, d.
Müllers Elemente. I. [8]
[114] h. die Idee der Nation, allen Intereſſenten ihres
Schickſals vornehmlich klar; ſie wird ergreiflich,
perſoͤnlich, tritt Allen, ſelbſt den Geringſten,
nahe, und der Friede, welcher einem ſolchen
Kriege folgt, heißt Friedepar excellence,
weil er ein lebendiger, allgemein empfundener,
im Gegenſatze jenes todten Friedens iſt, worin
alle großen Kraͤfte ſich vereinzeln und erſtarren.
Zum Weſen eines wahren Krieges gehoͤrt
es, daß zwiſchen den kriegfuͤhrenden Staaten et-
was gemeinſchaftlich ſey. Sollen wir uͤber einzelne
Dinge mit einander ſtreiten oder Frieden ſchlie-
ßen koͤnnen, ſo muͤſſen wir uͤber irgend etwas
ſchon einig ſeyn. Im Mittelalter war ein ſol-
ches allen Europaͤiſchen Maͤchten gemeinſchaftli-
ches Gut die chriſtliche Religion, und die damit
ganz nahe verwandte Ritterſitte; ſpaͤter, im
ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert, war es
die Idee des Rechtes, wie ſie ſich in den gro-
ßen ernſthaften Friedensſchluͤſſen jener Zeit aus-
druͤckt. Darauf iſt nun ein Zeitalter der Be-
griffe gefolgt, und von allen ſichtbaren und
anerkannten Gemeinſchaftlichkeiten zwiſchen den
Europaͤiſchen Voͤlkern nichts weiter uͤbrig geblie-
ben, als das verdaͤchtige und leicht zu verdrehende
Gemeingut der lumières du siècle, gewiſſe all-
gemeine, nebelhafte Vorſtellungen von einer Cul-
[115] tur, die Jeder geſehen haben will, und Niemand
aufzeigen kann.
Dem zu Folge iſt vielleicht in dieſem Augen-
blick eine ſolche, den Europaͤiſchen Maͤchten
gemeinſchaftliche, Baſis des Rechtes und des
Glaubens, welche die Bedingung rechtlicher Kriege
iſt, nicht zu finden. Dennoch rede ich von keiner
Antiquitaͤt: die Idee des Staates oder des
Rechtes, wie ich ſie beſchrieben habe, iſt dieſes
ewige Gemeingut; die Verbindung im Recht,
nach der die Menſchheit ſtrebt und ohne Ende
ſtrebt, muͤſſen alle einzelnen Voͤlker wollen, in
ſo fern ſie nur ihre eigne Exiſtenz wollen: dieſe
iſt es, in der, und fuͤr die alle wahren Kriege
gefuͤhrt werden; noch jetzt werden die unechten
Kriege mit Scheingruͤnden motivirt, die wenig-
ſtens von dem Begriffe jener Verbindung aller
Staaten im Recht, oder in der Idee des Staa-
tes hergenommen ſind.
Jeder wirkliche einzelne Staat druͤckt die al-
len Staaten gemeinſchaftliche Idee des Rechtes
in ſeiner eigenthuͤmlichen Sprache, in eigen-
thuͤmlichen Formen, Geſetzen und Sitten aus;
alſo liegt in jedem einzelnen Staate nothwendig
das doppelte Streben, 1) dieſen ſeinen eigen-
thuͤmlichen Ausdruck der Rechts-Idee gegen al-
len Angriff und alle Corruption zu vertheidigen,
[116] d. h. nicht bloß den Flaͤchenraum, den er einmal be-
ſitzt, zu vertheidigen, ſondern den geſammten dar-
auf errichteten nationalen Koͤrper jener Rechts-
Idee unberuͤhrt und unverdorben zu erhalten;
2) dieſen eigenthuͤmlichen Ausdruck der Rechts-
Idee allen andern Staaten kenntlich, fuͤhlbar und
wichtig zu machen, kurz, ſich ſelbſt nicht bloß zu
vergroͤßern, ſondern, im vollen Sinne des
Wortes, nach allen Seiten ſeines erhabenen We-
ſens hin auszubreiten. Aus dieſem gegenſeiti-
gen Regen und Dehnen der Europaͤiſchen Staa-
ten, aus dieſem Agiren und Reagiren, aus dieſem
Sich-gegenſeitig-Beſchraͤnken und Treiben, ent-
ſteht das hoͤchſte, ſchoͤnſte und regelmaͤßigſte Wachs-
thum aller Einzelnen, wie Kant den Fortſchritt
der Cultur aus dem Nebeneinanderſtehen und
gegenſeitigen Draͤngen der einzelnen menſchlichen
Individuen erklaͤrte, die, gleich dicht gepflanzten
Baͤumen eines Waldes, einander zu einem gera-
den und ſtolzen Wuchſe in die Hoͤhe treiben,
waͤhrend der einzelne Baum in nachtheiliger Frei-
heit verkruͤppelt und naͤher am Boden bleibt.
Jenes gemeinſchaftliche, gleichmaͤßige Wachſen
und Gedeihen der neben einander lebenden Staa-
ten iſt im Zeitalter der Begriffe mit dem Worte
Gleichgewicht bezeichnet worden, welches
Wort zu unzaͤhligen Mißverſtaͤndniſſen Anlaß
[117] gegeben hat, eben weil die wichtigſte Eigenheit
dieſes Zuſtandes der Dinge, nehmlich die gemein-
ſchaftliche Bewegung, nicht darin ausgedruͤckt
iſt. In dem Abſchnitte vom Voͤlkerrechte werden
wir dieſen erhabenen Umgang der Staaten unter
einander noch naͤher erwaͤgen. Jetzt kommt es uns
vielmehr darauf an, die Sache aus dem Geſichts-
punkte des einzelnen Staates zu betrachten.
Alle Geſchaͤfte des einzelnen Staates, die wir
vorher aus dem doppelten Geſichtspunkte des
Rechtes und des Reichthums betrachteten, muͤſ-
ſen nun, da wir ein neues und nothwendiges
Verhaͤltniß des Staates kennen gelernt haben,
wieder unter einen neuen doppelten Geſichts-
punkt fallen. Alle Staatsgeſchaͤfte koͤn-
nen 1) mit Ruͤckſicht auf den inneren Zuſtand
des Staates, aber auch wieder 2) mit Ruͤckſicht
auf die Nachbarſtaaten, oder auf die aͤußere Be-
deutung des Staates, erwogen werden.
Daß man, der Ordnung halber, in unſern
Staaten die Geſchaͤfte, je nachdem ſie unmit-
telbarer auf das Innere, oder auf das aͤußere
Verhaͤltniß gerichtet ſind, unter zwei verſchiedene
Departements — der auswaͤrtigen und der in-
neren Angelegenheiten — vertheilt hat: dawi-
der iſt nichts einzuwenden. Aber daß man bei-
derlei, der von mir beſchriebenen Natur der
[118] Sache nach innig verbundene, Geſchaͤfte abſolut
von einander getrennt, und, wie fuͤr die Reich-
thums- und Rechts-Verhaͤltniſſe im Inneren des
Staates, ſo auch hier wieder, zwei ganz abge-
ſonderte Begriffs-Manufacturen angelegt hat:
dieſer Mißbrauch iſt zum großen Verderben vie-
ler Staaten ausgeſchlagen. Daß der Staat ein
auf Tod und Leben verbundenes Ganze ſey,
erkennt er, oder erkennen ſeine Theilnehmer, im
Friedenszuſtande ſehr ſchwer: da nehmlich iſt
jeder Theilnehmer viel mehr gegen ſeinen Mittheil-
nehmer, als gegen den benachbarten Staat, auf-
merkſam oder feindlich geſtellt; das ohne Ende
zum Streite aufgelegte Gemuͤth des Menſchen
wendet ſich, ſobald die gemeinſchaftliche Gefahr
voruͤber iſt, unmittelbar gegen ſeinen bisherigen
Mitſtreiter. In einem langen Frieden muß ſich
alſo, eben weil das Auge der Buͤrger faſt aus-
ſchließend auf das Innere gewendet iſt, das Zar-
teſte und Innigſte des geſellſchaftlichen Verban-
des aufloͤſen, und nachher nur allmaͤhlich in einem
laͤngeren Kriege, durch die Nothwendigkeit ein
geſellſchaftliches Ganzes dem Feinde gegenuͤber
zu ſtellen, wieder geſchuͤrzt werden. —
Was ſollen die Regenten und Verwalter der
großen Staatsverbindung im Frieden thun, um
die geſellſchaftliche Einheit, welche im Kriege
[119] ſichtbar herausgetreten, nun lebendig zu erhalten?
Iſt ein todter Rechts- oder Zwangsbegriff,
dem man meiſten Theils das Regiment im Frie-
den uͤbergiebt, hinreichend, die Verbindung fort-
zuſetzen und zu verewigen, deren Werth im
Kriege jeder Einzelne ſinnlich und geiſtig empfun-
den? Wie will eine politiſche Manufactur den
großen, freien, ſtolzen Nationalgeiſt aufrecht er-
halten, oder auch nur erſetzen, der ſich in einem
wahren Kriege entzuͤndet? — Haͤtte man den
Unterſchied der lebendigen Rechts-Idee von dem
todten Rechts-Begriff, wie ich ihn angegeben,
erkannt, ſo wuͤrde man ſich jener falſchen Abgoͤt-
terei mit dem abſoluten Frieden nicht zum Un-
gluͤcke der Welt hingegeben haben. Aber das
traurige Vorurtheil, das Recht ſey wirklich,
handgreiflich und leibhaftig in unſern Staaten
ſchon vorhanden; in jedem Staate gebe es eine
Art von National-Magazin, worin das Recht
ſchon aufgeſtapelt liege, und jeder einzelne Buͤr-
ger brauche nur hin zu gehen und ſich die ihm ge-
buͤhrende und erforderliche Portion zu erhandeln
—: das hat uns in’s Verderben gebracht.
Haͤtte man ſich das Recht als ewig lebendige
Idee gedacht, die durch den Begriff nie abſolut
und fuͤr immer ausgedruͤckt werden kann, die
immer wachſen, und beſtaͤndig mit neuaufgluͤhen-
[120] der freier Selbſtthaͤtigkeit wieder erobert werden
muß, ſo wuͤrde nicht in ſo viele, ſelbſt muthige,
Seelen jene Scheu vor dem Kriege, als etwas
abſolut Unnatuͤrlichem und Unrechtmaͤßigem, als
einer mit Hunger und Peſt in gleicher Linie ſte-
henden National-Calamitaͤt, gekommen ſeyn.
Man wuͤrde empfunden haben 1), daß, je deut-
licher, lebendiger, perſoͤnlicher, der einzelne Buͤr-
ger den Staat als ein Ganzes vor ſich ſehe, um
ſo mehr das Recht im Gange ſey und trium-
phire; 2) daß nichts ſo ſehr, als ein wahrer
Krieg, jeden Einzelnen mit der Exiſtenz und der
Natur der ganzen Staats-Verbindung erfuͤllen
und durchdringen koͤnne; daß demnach 3) die
ungeheure Bewegung, welche wir „Krieg“
nennen, dem Gedeihen und der ſchoͤnſten Bluͤthe
des wahren Rechtes eben ſo zutraͤglich ſey, wie
alle jene kuͤnſtlichen Friedens-Inſtitute, die wir,
weil ſie ſtillſtehen und angeſtellt werden, Rechts-
anſtalten nennen.
Man glaubte, der Krieg ſey hors de la loi;
das ganze Verhaͤltniß zu benachbarten Staaten
ſey ein nothwendiges Uebel; der Staat muͤſſe
vornehmlich nach politiſcher Selbſtzufriedenheit
und Selbſtgenuͤgſamkeit trachten; auch der aus-
waͤrtige Handel ſey zwar nicht zu verwerfen,
wenn er viel Geld und rohe Producte herein
[121] bringe, und viel manufacturirte Waaren ausfuͤhre:
indeß ziehe er mancherlei Unbequemlichkeiten und
Colliſionen nach ſich; daher ſey es beſſer, wenn
man ſich mit Dem begnuͤge, was der eigne Bo-
den erzeuge und die eigne Kuͤche zubereite.
Einem falſchen Friedensbegriffe zu gefallen,
wurde alſo auch zwiſchen den Departements der
auswaͤrtigen und inneren Geſchaͤfte eine abſolute
Scheidewand gezogen, der Diplomatie die Tuͤcke
und Hinterliſt, dem Kriege das ganze Heer der
nothwendigen Teufeleien und Mordkuͤnſte mit
Widerwillen eingeraͤumt; waͤhrend es die erſte
Politik der Regierungen haͤtte ſeyn ſollen, jenen
ſtolzen Geiſt des Krieges feſtzuhalten und ihn in
den ſogenannten Friedenszuſtand hinein zu bannen,
alle einzelnen Friedensanſtalten, alle Zweige der
Adminiſtration durchdringen zu laſſen, ſchwaͤn-
gern zu laſſen von einem allgegenwaͤrtigen Krieges-
gedanken, und jeden einzelnen Buͤrger ſo zu
ſtellen, daß ihm die allen Nachbarſtaaten Ehr-
furcht gebietende Geſtalt ſeines Vaterlandes, oder
des Ganzen, theurer und werther geblieben waͤre,
als ſeine eigne Wuͤrde und Bedeutung, daß er
alle Eitelkeit eines todten, ſtillſtehenden, faulen
Friedenslebens gern hingegeben haͤtte fuͤr die Por-
tion Stolz, die auch ihm von dem dauernden
National-Ruhme zu Theil werden mußte.
[122]
Sage ich hiermit, es ſey die Politik der Re-
gierungen geweſen, ohne Ende wirklichen Krieg
zu fuͤhren? Nein, wahrlich nicht! Aber die ganze
Nation fuͤr den Krieg, wie fuͤr den Frieden, d.
h., meinen Vorausſetzungen nach, fuͤr die Be-
wegung und fuͤr die Ruhe, fuͤr den Ruhm des
Ganzen und fuͤr das Gluͤck jedes Einzelnen zu-
gleich zu erziehen; den Frieden durch und durch
mit Krieg und Bewegung zu befruchten, damit
der wirkliche Krieg, wenn er nun ausbreche, mit
einem ewigen Friedensgedanken befruchtet ſeyn
koͤnne; damit in Krieg und Frieden die Idee
des Rechtes, als worauf allein es dem Staate
ankommen duͤrfe, in immer gleicher Entwicke-
lung begriffen ſey. Auswaͤrtiges Departement
und Departement des Innern muͤſſen, der Ord-
nung halber, getrennt werden; aber in der Seele
des Suveraͤns, aller Beamten und aller Buͤr-
ger muß jedes Geſchaͤft zugleich auf das innere
Gluͤck und auf den National-Ruhm des Gan-
zen gerichtet ſeyn.
Eine große, ſchoͤne Monarchie, voll der
herrlichſten, auch jetzt noch keinesweges zerſtoͤr-
ten Anlagen, wird ſich erheben, vielleicht eben
ſo raſch, wie ſie geſunken iſt, wenn ſie bei ihrer
Reorganiſation auf das Wiedererobern des alten
Selbſtgefuͤhls, das ſie einſt in großen, hartnaͤcki-
[123] gen Kaͤmpfen erworben hatte, ihr Hauptaugen-
merk richtet: mit dem Selbſtgefuͤhle kommt die
von mir beſchriebene Herrſchaft der Ideen, wor-
auf allein es abgeſehen iſt. An die Stelle alter
Rechtsbegriffe neue, an die Stelle alter Inſtitute
und Anſtalten neue, wie man zu ſagen pflegt,
„dem Geiſte der Zeiten angepaßte,“ auslaͤndiſche
Adminiſtrations-Anſtalten zu ſetzen und davon
Heil zu erwarten, koͤnnen ihr nur ihre Feinde ra-
then. Die innere Organiſation dieſer Monarchie,
was auch die Stuben-Politiker und die Conſtitu-
tions-Fabrikanten ſagen moͤgen, war ſehr gut;
nur das Vertrauen in die todte Anſtalt, in das
todte Geſetz, in die todte Form muß uͤberall ver-
ſchwinden und das alte Leben, wo es ſchlaff ge-
worden, nun kraͤftig und ideenweiſe gelebt wer-
den. Die einzelnen Reſſourcen, die man, wenn
ein Staat von einer Calamitaͤt geheilt werden
ſoll, immer ſo hoch anſchlaͤgt, bedeuten we-
nig: daß jeder einzelne Buͤrger, jeder Beamte,
jedes Departement nicht bloß ſeinen einzelnen
Geſchaͤftszweig, ſondern auch das Ganze ideen-
weiſe repraͤſentire; daß alles Einzelne mit Ruͤck-
ſicht auf das Ausland und auf den National-
Ruhm gethan werde: das iſt die große, ewige,
unverſiegliche Reſſource aller Staaten.
Die Abgoͤtterei mit dem Rechtsbegriffe fuͤhrt
[124] zunaͤchſt zu dem Wahn, ſich herausſchneiden
zu koͤnnen aus dem Zuſammenhange mit den uͤbri-
gen Staaten, die, wie ich gezeigt habe, bei der
Bildung der ewigen Rechts-Idee concurriren
muͤſſen. In eben dem Maße wie ſich der Staat
iſolirt und neutraliſirt, iſolirt und neutraliſirt
ſich auch jeder Buͤrger des Staates, und der
Rechtsbegriff wird nun gleich-unfaͤhig, das Wohl
und den Frieden, ſowohl des Ganzen, als jedes
einzelnen Buͤrgers, zu befoͤrdern.
[125]
Fuͤnfte Vorleſung.
Wie ſich in der natuͤrlichen, allen Voͤlkern gemeinſchaftlichen,
Verfaſſung der Familie die Natur des Staates ausdruͤcke.
Der Staat iſt oft mit einer Familie verglichen
und als ein Aggregat mehrerer Familien darge-
ſtellt worden. Wenn ſich die Vergleichung nur
um das innere Weſen der Familie drehet, ſo muß
unter demſelben klar werden, daß der Staat
nichts andres als die erweiterte Familie, und
daß die erſte gruͤndliche Probe aller Verfaſſun-
gen und Geſetze die Unterſuchung iſt: ob und in
wie fern dieſelbe mit dem Familien-Verhaͤltniſſe
harmonire, und ob die beiden Verhaͤltniſſe, aus
deren inniger Vereinigung jede Familie beſteht,
Alter und Jugend Einerſeits, und maͤnnli-
ches und weibliches Geſchlecht andrerſeits, die
ganze Geſetzgebung gleichmaͤßig durchdringen. —
Die Vergleichung paßt nie, wenn man ein-
zelne Seiten des Familienlebens herausnimmt
[126] und ſie, mit allen Unweſentlichkeiten oder Locali-
taͤten, die ihnen ankleben moͤgen, nun verglei-
chend auf den Staat uͤbertraͤgt. So hat man
oft den Hauswirth mit dem Staatswirth, die
haͤusliche Oekonomie mit der National-Oekono-
mie verglichen, oder den Hausherrn mit dem
Suveraͤn, die haͤusliche Juſtiz mit der Natio-
nal-Juſtiz; doch, ohne weiter zu fragen, was
denn nun die ewig nothwendige Verfaſſung des
haͤuslichen Lebens ſey, hat man die gegenwaͤrtige
aͤußere Phyſiognomie der Familie mit der gegen-
waͤrtigen aͤußeren Phyſiognomie der Staaten ver-
glichen. Da ſich nun aber der Staat, wie er
in unſern Theorieen erſcheint, um das weibliche
Geſchlecht und deſſen maͤchtigen Einfluß unver-
haͤltnißmaͤßig wenig, um das maͤnnliche Geſchlecht
hingegen unverhaͤltnißmaͤßig viel bekuͤmmert; da
ferner die Theorie des Staates die Rechte der
Gegenwaͤrtigen und ihr Intereſſe viel mehr in
Schutz nimmt, als die Rechte der vorangegange-
nen Alten, in der Familie hingegen der Einfluß
der Alten und des weiblichen Geſchlechtes, wenn
auch verſchiedenartig, doch eben ſo maͤchtig er-
ſcheint, wie die Gewalt des Mannes: ſo iſt un-
ter den beiden verglichenen Gegenſtaͤnden, dem
Staat und der Familie, in der gegenwaͤrtigen
Wirklichkeit eine ſolche Incongruenz, daß alle
[127] Vergleiche, zumal die noch von Aeußerlichkeiten
und Einzelnheiten hergenommen werden, gaͤnz-
lich verungluͤcken muͤſſen. —
Die Theorie der Familie oder des erſten,
zur Erhaltung, Verbindung und Fortdauer des
menſchlichen Geſchlechtes nothwendigſten, Ver-
haͤltniſſes muß am Eingang aller Staatslehre
ſtehen. Alle die ſchlaffen Nebenbegriffe, die wir
in Zeiten entarteter Sitten mit dem Worte
„Familie“ verbinden, muͤſſen an die Seite ge-
ſchafft und das Verhaͤltniß mit Strenge ſo er-
wogen werden, wie die Natur es rein und noth-
wendig angeordnet hat.
Wie nothwendig dieſe Speculation zur Eroͤr-
terung aller Staats-Ideen und zur ruhigen na-
tuͤrlichen Betrachtung der einfachſten, praktiſchen
Theile der Politik iſt, wird der Verfolg und —
das verſpreche ich dreiſt — der gluͤckliche Erfolg
meiner Darſtellung zeigen. Wir leben nun ein-
mal in einem Zeitalter, wo man durch allge-
meine Verwirrung der Sprache und der Anſich-
ten der Dinge, ſich zu der Natur und der
Wahrheit nicht anders hindurch arbeiten kann,
als auf dem Wege einer ſtrengen, aber geſchmei-
digen, nicht abſtracten, aber lebendigen Specu-
lation.
Sir James Stewart, in ſeinen ſtaats-
[128] wirthſchaftlichen Unterſuchungen, die man in
neueren Zeiten gegen das Werk von Adam Smith
viel zu ſehr herabgeſetzt hat, und die von großer
Welterfahrenheit, Gelehrſamkeit und Reinheit
der Geſinnungen Zeugniß geben, ſagt: „in jedem
Lande ſind zu gleicher Zeit zwei Menſchenalter
auf der Schaubuͤhne — eine Claſſe von Men-
ſchen zwiſchen zwanzig und dreißig Jahren,
deren Meinungen ſich bilden; eine andre um die
Funfziger Jahre her, deren Meinungen und Ge-
wohnheiten bereits befeſtigt ſind.“ Mit andern
Worten: die buͤrgerliche Geſellſchaft beſteht aus
zwei in ihren geſammten Anſichten ſehr verſchie-
denen Claſſen von Menſchen, deren Eine, die
juͤngere, mehr auf den Erwerb nicht bloß von
Meinungen ſondern auch von Beſitzthuͤmern, die
andre, aͤltere, mehr auf die Erhaltung des be-
reits Erworbenen geſtellt iſt. —
Die Jugend eines Landes liebt aus ſehr na-
tuͤrlichen Gruͤnden das Ungemeſſene; ſie liebt
unbeſchraͤnkte Laufbahnen fuͤr den Ehrgeitz und
fuͤr das Streben nach Reichthum; die Schran-
ken des Geſetzes und der Gewohnheit ſind ihr
laͤſtig, und ſo iſt ſie geneigt, dieſelben zu durch-
brechen; das Alter hingegen muß dieſe Schran-
ken mehr und mehr verehren, je mehr es an
phyſiſchen Kraͤften abnimmt, fuͤr ſeine Nach-
kom-
[129] menſchaft zu ſorgen hat, und derſelben ſeinen
Erwerb zu erhalten ſtrebt. Dergeſtalt hat in-
nerhalb des Staates ſowohl das Streben nach
Erweiterung, als das andre, nach Erhaltung
und Feſtſtellung, ſeinen Wortfuͤhrer. So natuͤrlich
wie dieſe beiden verſchiedenen Beſtrebungen in
der menſchlichen Natur ſind, ſo nothwendig
wird zu allen Zeiten die alte Zeit, und das im-
Alten-Verharren von den Alten, die neue Zeit
und der Wechſel aber von den jungen Leuten im
Staate in Schutz genommen werden. Auf dieſe
Art bewirkt die Natur, daß der Staat weder ſtill
ſteht (was geſchehen wuͤrde, wenn die Alten
allein Recht behielten), noch ſtuͤrzt, (was ſich
wohl zutraͤgt, wenn, wie wir es erlebt haben,
die Jungen und jugendliche Weltanſichten ein-
mal unbedingte Oberhand erhalten), ſondern mit
gemeſſenen, ruhigen, ſichern Schritten geht.
Den ungeſtuͤmen Forderungen und Beſtre-
bungen der Jugend dient das Alter zu einer
Art von Hemmkette, eben ſo wie der Traͤgheit
des Alters die Jugend zum Sporn dient. —
Da nun jeder einzelne Menſch im Raume ſei-
nes Lebens zuerſt zu der jungen Parthei gehoͤrt,
nachher aber allmaͤhlich der andern Parthei ent-
gegenreift, und nun im Alter eine ganz andre
Seite des Lebens, ein ganz andres Intereſſe,
Müllers Elemente. I. [9]
[130] ganz entgegengeſetzte Neigungen und Wuͤnſche
kennen lernt: ſo kann ein eigentlicher Kampf auf
Tod und Leben zwiſchen beiden Partheien nie
Statt finden. In jedem Augenblicke treten ganze
Reihen, bloß durch den Drang eines nie nach-
laſſenden Naturgeſetzes, von der Parthei der
Jugend zu der Parthei des Alters uͤber; unauf-
hoͤrlich werden neue Menſchen geboren, und er-
ſetzen den Abgang der Jugendparthei, ſo, daß
der Streit beider Principien zwar die ganze
buͤrgerliche Geſellſchaft bis in ihre geheimſten
Theile durchdringt, aber ſich nie in einzelnen
Individuen auf die Dauer fixiren kann.
Ein junger Staatsmann oder Feldherr, der
ſich ausſchließend fuͤr die Jugendparthei erklaͤrt,
und jene Schranken, welche die Vorzeit errichtet
hat und welche die Parthei der Alten in Schutz
nimmt, durchbricht oder umwirft; der die Ge-
walt des Augenblickes, dieſes Erbtheil der Jugend,
nun allein in ſein Intereſſe zieht; der ſo agirt,
als gaͤbe es nur dieſe Eine Seite der Welt —:
dem ſteht ein gefahrvoller, ſchrecklicher Augen-
blick bevor, wo er die unvermeidliche Schwelle
in das andre Alter, in die andre Seite der
Welt, betritt.
Die Zeit, das Naturgeſetz wandeln unver-
ruͤckten Schrittes fort, und noͤthigen jeden ein-
[131] zelnen Menſchen, die ganze buͤrgerliche Geſell-
ſchaft — ihre Jugend-Hemiſphaͤre ſowohl, als
die des Alters — zu umſchiffen. Er betritt alſo
jene Schwelle des Alters; andre Wuͤnſche, an-
dre Neigungen kommen unvermeidlich; alle In-
ſtitute der Vorzeit, die er in ſeiner Jugend
ſchmaͤhte oder umwarf, alle Geſetze, alle Schran-
ken gewinnen eine uͤberſchwengliche Macht und
Hoheit fuͤr die verwilderte Seele, die ſich nun
in eine ganz andre Natur und ganz andre Bedin-
gungen des Daſeyns finden ſoll. Je mehr er
ſelbſt auf die Hoͤhe des Lebens hinaufſteigt, um
ſo deutlicher erheben ſich rings umher die Gebirge
der Vorzeit. Die nothwendigen Beduͤrfniſſe ſei-
nes zweiten Alters hat er ſelbſt zerſtoͤrt; er ſelbſt
hat dem Geſetze der Natur die Kraft gegeben,
ihn zu zermalmen. Aller Ruhm, jede einzelne
That aus jener Zeit, wo er den Weltſchoͤpfer
ſpielte, wird nothwendig einzeln wieder ausge-
loͤſcht, nun, da er die Rolle eines Welterhal-
ters uͤbernimmt und die aufgehaͤufte Kraft der
Jahrhunderte, welche zur Erhaltung noͤthig iſt,
entbehren muß, weil er ſie ſelbſt zerſplittert hat.
Die fruͤheren Genoſſen des Jugend-Propheten
ſehen ihn ganz neue Wege betreten, empfinden
die Inconſequenz; er ſelbſt fuͤhlt ſie in ſeinem
Innern, will die Miene der Jugend beibehalten,
[132] miſcht aus beiden Altern Feindſeliges, nie zu
Vereinigendes, unter einander, und geht in den
Zauberkuͤnſten, zu denen er ſeine Zuflucht neh-
men muß, nothwendig unter. Die Formen
des neuen Alters, das er betreten hat, ahmt er
nach: aber der Geiſt deſſelben laͤßt ſich nicht
bannen; Gebet und Schminke vertragen ſich
ewig nicht:
Auch hier wieder iſt ganz deutlich zu erken-
nen, wie der Staatsmann uͤberall und auf
jedem Schritte ſeiner Laufbahn zwiſchen zwei
ſtreitenden Ideen zu vermitteln und eine hoͤhere
Idee zu erzeugen hat. Einzeln kann er weder
die Macht der Jugend, noch die ruhige Weisheit
und Umſichtigkeit des Alters gebrauchen. Das
Princip der Anciennetaͤt, wonach dem Einen Alter
des Menſchen, dem ſpaͤteren, ſchwaͤcheren, ein
unbedingter Vorrang bei Beſetzung der Staats-
aͤmter eingeraͤumt wurde, hat, wie wir Alle
fuͤhlen, die Kataſtrophe von 1789 und ihre
ſchauerlichen Folgen herbei fuͤhren helfen. Das
Alter hatte faſt in allen Staaten einen zu ent-
ſchiedenen Vorzug vor der Jugend; der Jugend
fehlte es an Repraͤſentanten in den Regierun-
gen von Europa. So muß das Jahr 1808 in
[133] der Weltgeſchichte Epoche machen, wo die Wieder-
einfuͤhrung des Geburtsadels in Frankreich zeigt,
daß die gewaltige Reaction der Jugend gegen
das Alter, welche die Geſchichte der letzten zwan-
zig Jahre erfuͤllt, bald ihre Endſchaft erreicht
haben wird, und daß alle jene Inſtitute, welche
die Weisheit der Vaͤter zur Unterſtuͤtzung des
Alters anordnete, wieder aufleben, in dem Ver-
haͤltniſſe, als die vor Kurzem rebelliſch gewor-
dene Jugend ſich ſelbſt dem Alter naͤhert und
deſſen Beduͤrfniſſe zu fuͤhlen anfaͤngt. Sonder-
barer Weiſe hatte die Natur in derſelben Zeit,
die ſich jetzt ihrer Endſchaft naͤhert, faſt lauter
Juͤnglinge auf die bedeutendſten Throne von
Europa geſtellt, damit die große Lehre der Zeit
von den Regierungen nicht bloß begriffen, ſon-
dern wirklich erlebt wuͤrde, und damit der ein-
ſeitige Triumph beider Principien von denſelben
Gemuͤthern in ſeinem Umfange aufgefaßt und
zu kuͤnftigem gehoͤrigen Gleichgewichte der An-
ciennetaͤt und des Talents, der Freiheit und der
Subordination, oder der Jugend und des Alters,
ausſchlagen koͤnnte. England mit ſeinem bejahr-
ten Monarchen ſcheint dieſer Lehre auch weniger
zu beduͤrfen, da in ſeiner unvergleichlichen Ver-
faſſung Jugend und Alter auf das richtigſte ba-
lancirt ſind, und beide in der Regierung, im
[134] Parliament, im Civil- und Militaͤr-Dienſt be-
reits laͤngſt ſo geſtellt ſind, daß ſie, wo es noͤ-
thig iſt, zu Worte kommen koͤnnen.
Wenn man die Geſchichte aller Regierungsfor-
men der Welt durchgeht, ſo wird man allenthalben
dieſe beiden Principien in Streit ſehen; alle Ge-
ſetzgeber haben ihr erſtes Augenmerk darauf gerich-
tet, ſie zu vereinigen, oder eine hoͤchſte Gewalt
zu bilden, die weder der Jugend noch dem Alter
ausſchließend angehoͤre, die vielmehr recht maͤnn-
lich an der Schwelle beider Alter ſtehe, oder die
Beduͤrfniſſe beider in Einem und demſelben Wil-
len vereinige.
Alle Geſetzgebung hat danach geſtrebt, da
einmal die Anſpruͤche beider Alter unaufhoͤrlich
gehoͤrt werden ſollen, nun auch beide ſo perſoͤn-
lich, als moͤglich, in wirklichen National-For-
men vor ſich aufſtellen zu laſſen. So ſind die
Senate, die Patriciate, und endlich der Euro-
paͤiſche Adel entſtanden, und dem Volke oder
der Buͤrgerſchaft gegenuͤber geſtellt worden. Die
Anſpruͤche des Alters haben 1) das Recht der
Jahrhunderte, d. h. den erſten Rechtsgrund von
allen (oder die Dauer, da die Zeit der beſte
Pruͤſſtein alles Rechtes iſt) fuͤr ſich; 2) ſind die
Anſpruͤche des Alters unſichtbarer, weniger in
die Augen ſpringend, als die Anſpruͤche der
[135] Jugend. Deshalb muß eine gute Geſetzgebung
1) ſie beſonders verſichtbaren und aus der Maſſe
hervortreten laſſen; 2) muß ſie dem Alter vor-
nehmlich, weil es die Bedingungen der Dauer
kennt und erlebt hat, weil es ſelbſt gedauert
hat, die Repraͤſentation der Dauer und alle In-
ſtitution, welche ſich auf die Dauer bezieht, uͤber-
tragen.
Da nun die Geſetzgebung vornehmlich Er-
haltung und Dauer des Gegenwaͤrtigen in Haͤn-
den hat, ſo iſt ſie in den meiſten zuſammenge-
ſetzten Verfaſſungen vielmehr den Senaten, die
Ausuͤbung hingegen vielmehr einzelnen Gliedern
des Volkes uͤbertragen worden. Da ferner in
den Haͤnden der Jugend bereits hinlaͤngliche Mit-
tel zur Auszeichnung und zum Glanze vorhan-
den ſind, und Naturkraft und Schoͤnheit ihr be-
reits einen hinlaͤnglichen Vorrang einraͤumen, ſo
hat das Geſetz ſein Gewicht vornehmlich in die
Schale des Alters geworfen: die Kunſt hat dem
Alter den Glanz wieder erſetzt und wieder erſtat-
tet, den ihm die Natur entzogen. —
Die antiken Verfaſſungen haften indeß noch
an dem Begriffe der beiden Alter, indem ſie wirk-
lich alte Leute in einen Regierungskoͤrper zuſam-
menwerfen, und demnach die beiden Principe
wirklich und leibhaftig einander gegenuͤber ſtellen;
[136] ſo daß nun die Idee „Recht des Alters,“
worauf es eigentlich ankommt, ſehr leicht ver-
wechſelt werden kann mit dem Begriff „Recht
der alten Leute,“ und die Idee „Recht der
Jugend,“ eben ſo leicht mit dem Begriff
„Anſpruͤche der jungen Leute.“ — Nicht wahr?
Sie wuͤrden die Idee des Rechtes reiner und aus-
gebildeter in einem Lande wiederfinden, wo das
Recht des Alters durch einen politiſchen Koͤrper
repraͤſentirt werden koͤnnte, der aus lauter wirk-
lich jungen Leuten beſtaͤnde, und, umgekehrt, das
Recht der Jugend durch einen aus wirklich alten
Leuten beſtehenden Koͤrper? Dies waͤre ein Zei-
chen, daß in einem ſolchen Lande jedes einzelne
Individuum das Ganze im Auge haͤtte, und
Alter und Jugend und alle Beduͤrfniſſe des Gan-
zen zu repraͤſentiren im Stande waͤre; daß Jeder
mehr als ſich ſelbſt, mehr als das Intereſſe ſei-
nes Alters beabſichtigte; kurz, daß die Idee des
großen allgemeinen Rechtes dem Begriffe der ein-
zelnen Rechte bei allen Individuen den Rang
abliefe. —
Da nun alſo in der neueren Welt die Re-
praͤſentation des Rechtes des Alters erblich
wurde, und an die Stelle der antiken Senate
der Geburtsadel treten konnte; ſo zeigt dieſe
Wendung der Dinge vor allen andern das Wachs-
[137] thum der Ideen des Rechtes. Und ſo geſchieht
es, daß in der Verfaſſung, welche den Geiſt der
modernen, veredelten Geſetzgebung am reinſten
ausdruͤckt, in der Brittiſchen, das Recht des
Alters im Oberhauſe, das Recht der Jugend
vielmehr im Unterhauſe durch Verſammlungen
repraͤſentirt wird, in denen beiden wirklich alte
und wirklich junge Leute unter einander ſitzen,
wenn auch, durch die Verfaſſung des Brittiſchen
Majorats-Adels, das Oberhaus noch einige Se-
natsform behaͤlt, indem nur das aͤlteſte Glied
von der aͤlteſten Linie jeder Familie Sitz und
Stimme hat, die Majoritaͤt demnach aus wirk-
lich alten Leuten beſtehen wird. Seitdem das
Recht des Alters auf dieſe Weiſe in Europa (d.
h. in Großbrittanien, wo alles Europaͤiſche in
der reinſten, weſentlichſten Geſtalt erſcheint)
durch Familien, und nicht mehr durch Indivi-
duen, repraͤſentirt wird, alſo die wirkliche Jugend
durch die Verfaſſung genoͤthigt iſt, das Recht
des Alters, das wirkliche Alter aber, das Recht
der Jugend zu vertheidigen: ſeitdem muß die
Idee des Rechtes an Ausbildung unendlich ge-
wonnen haben. Wie ich in unſerer letzten Un-
terhaltung zur Ehre der Idee verlangte, daß der
Finanz-Miniſter eines Landes ſeine Sache ganz
[138] unter einem juriſtiſchen, der Juſtiz-Miniſter die
ſeinige ganz unter einem oͤkonomiſchen Stand-
punkte ſollte anſehen und darſtellen koͤnnen;
wie ich ferner von dem Krieges-Miniſter ver-
langte, daß er ſeine Sache ganz als Friedens-
Angelegenheit, vom Miniſter des Innern oder
des Friedens, daß er ſeine Maßregel ganz als
Krieges-Angelegenheit ſollte darſtellen koͤnnen,
damit ſich immer auswieſe, daß Jeder das Ganze
im Auge habe: ſo erklaͤre ich es jetzt fuͤr den Tri-
umph der Idee und fuͤr einen hohen Grad von
Vollkommenheit einer Verfaſſung, wenn das
Alter ſeine Sache als Angelegenheit der Jugend,
und die Jugend die ihrige als Angelegenheit des
Alters darzuſtellen, von den Geſetzen und der
Conſtitution ohn Unterlaß aufgefordert wird, ſo
daß jeder Einzelne alle Lebensalter des Menſchen
und des Staates repraͤſentirt.
Wer heute ein juriſtiſches Intereſſe hat, das
er auf Tod und Leben durchſetzen moͤchte, hat
morgen ein oͤkonomiſches, das ihm eben ſo nahe
am Herzen liegt: wie gluͤcklich, wenn das heu-
tige Intereſſe dem geſtrigen nicht widerſpricht!
Wer heute ein Friedens-Intereſſe hat, kann
morgen ein Krieges-Intereſſe haben: wie gluͤck-
lich, wenn er Heute und Morgen vereinigen,
wie ſicher ſteht er auf der Erde, wenn er unter
[139] jenem und unter dieſem voͤllig entgegengeſetzten
Intereſſe ganz derſelbe bleiben kann! Wer heute,
ſelbſt jung, das Recht der Jugend auf ſeiner
Seite hat, und nach wenigen Jahren ſich nun
auf das Recht des Alters berufen, und das In-
tereſſe des Alters zu dem ſeinigen machen muß:
wie gluͤcklich iſt er, wenn beide Alter einander
nicht widerſprechen, wenn in die fruͤheſte Ju-
gend ſchon die Vorſicht auf das Alter, wenn
in das ſpaͤteſte Alter noch die Ruͤckſicht auf die
Jugend und ihre nothwendigen, unverweigerli-
chen Anſpruͤche eingewebt iſt! wenn alſo Jeder
das Ganze repraͤſentirt, alle Beduͤrfniſſe des
Augenblicks und alle Alter des Lebens in ſich
vereinigt; wenn er nicht in den Extremen, oder
bei den Begriffen, die im Extreme liegen, ſon-
dern da, wo ihn die Natur hingeſtellt, hinge-
noͤthigt, nehmlich in der Mitte bei den Ideen,
verweilt!
Die Natur hat den einfachſten Menſchen in
ſeiner hoͤchſten Entwickelung, als Mann, in die
Mitte ſeiner Verhaͤltniſſe geſtellt. Drei Gene-
rationen, jede zu dreißig Jahren gerechnet, leben
zugleich auf der Erde; der Mann ſteht zwiſchen
ſeinen Eltern, perſoͤnlichen Repraͤſentanten des
Alters, und zwiſchen ſeinen eigenen Kindern,
perſoͤnlichen Repraͤſentanten der Jugend, aufge-
[140] fordert beide zu vermitteln, fuͤr beide zu ſorgen,
beide in der Idee zu umfaſſen. Dieſes einfache
Verhaͤltniß in jeder Familie iſt das vollſtaͤndige
Schema und Muſter des großen zuſammenge-
ſetzten Verhaͤltniſſes, das ſich zeigt, wenn wir
die große Allianz der Generationen, den Staat
in der Zeit, oder, wie ich mich ausdruͤckte, unter
den Raumgenoſſen, betrachten. Man muß dieſe
Textur, dieſen heiligen und innigen Verband
der Generationen unter einander, ſo einfach er
iſt, mit Scharfſinn und Tiefſinn erwaͤgen, wenn
man erkennen will, was eigentlich die Genera-
tionen an einander bindet. Die uͤberſchwengliche
Wichtigkeit dieſer einfachen Gedanken tritt in
ihrem vollen Glanze hervor, wenn man die poſi-
tiven Geſetze und die poſitiven Beduͤrfniſſe der
Staaten unmittelbar betrachtet; da zeigt es ſich,
wie die Lehre von der Erbfolge, von der Primoge-
nitur, vom Adel, von der Majorennitaͤt, von der
Verjaͤhrung, ferner wie die Theorie der Subor-
dination im Staat und aller Rangverhaͤltniſſe,
am leichteſten, natuͤrlichſten und gruͤndlichſten
nach dem Schema des Gegenſatzes von Alter
und Jugend, wie ſich daſſelbe am einfachſten, in
ſeinen großen Grundzuͤgen in jeder Familie dar-
ſtellt, eroͤrtert werden kann.
Wenn man die menſchliche, oder buͤrgerliche
[141] Geſellſchaft ganz oberflaͤchlich betrachtet, ſo ſind
die hervorſtechendſten Unterſchiede der einzelnen
Individuen, welche man bemerkt, und auf den
erſten Blick bemerkt: Alter und Jugend, und
maͤnnliche und weibliche Individuen. Dieſe Unter-
ſchiede ſind den Menſchen unter allen Zonen ge-
meinſchaftlich; ſie ſind nothwendige Bedingungen,
und nothwendige Folgen davon, daß es uͤber-
haupt Menſchen giebt. — In ihnen ruhet die
ewig unabaͤnderliche große Ungleichheit der Men-
ſchen; alle anderen Unterſchiede, Reiche und
Arme, Vornehme und Geringe, ſind abgeleitete
und unweſentliche; jene ſind in der erſten Fami-
lie (dem erſten und einfachſten Staate), ſo gut
wie in dem entwickeltſten, zuſammengeſetzteſten,
reichſten Staate, die vorwaltenden. Alle Staats-
lehre muß demnach mit ihrer Darſtellung, oder
— was daſſelbe ſagen will — mit der Theorie
der Familie, anfangen.
Die Ungleichheit von Alter und Jugend iſt
eine Ungleichheit in der Zeit, oder eine Ungleich-
heit unter den Raumgenoſſen; alle Ungleichheit
auf Erden iſt dazu da, daß ſie auf eine zugleich
natuͤrliche und ſchoͤne Weiſe vom Menſchen auf-
gehoben, alle Diſſonanz, daß ſie vom Menſchen
geloͤſ’t werden ſoll; die Natur reicht dem Men-
ſchen unaufhoͤrlich ungleiche Dinge hin, damit
[142] er in’s Unendliche etwas auszugleichen habe, und
das ganze Leben des wahren Menſchen iſt nichts
anders als ein Ausgleichen des Ungleichen, ein
Verbinden des Getrennten. Die Ungleichheit
des Alters iſt alſo da, daß der Menſch unauf-
hoͤrlich aufgefordert werde, verſchiedene Zeiten,
und die Anſpruͤche verſchiedener Zeiten, unter ein-
ander zu vermitteln oder zu verknuͤpfen; ſie iſt
da, wegen jener nothwendigen, allem politiſchen
Leben unentbehrlichen Allianz der Generationen
oder der Raumgenoſſen.
Die Ungleichheit des Geſchlechtes hingegen iſt
eine Ungleichheit der Zeitgenoſſen, ſie iſt alſo da,
wegen jener Allianz der Zeitgenoſſen oder der Ne-
ben-einander-Stehenden. Wie moͤchte der Menſch
aufgefordert werden, ſich anzuſchließen, und ſich
zu verbinden, wenn die Natur ihn nicht durch
die hoͤchſte Verſchiedenheit andrer menſchlichen
Natur dazu reitzte! Um die Verbindung der
Geſchlechter her bilden ſich alle uͤbrigen Verbin-
dungen der Menſchen unter einander: ſie iſt die
mittelſte, innigſte und weſentlichſte; denn die
Fortdauer des Geſchlechtes haͤngt von ihr ab:
alle andren Verbindungen haben nur eine von
der ihrigen abgeleitete Kraft. —
Wie ich alſo oben die Familie in der Zeitfolge,
im Nach einander, unter dem Schema des Ge-
[143] genſatzes: Alter und Jugend, betrachtet habe,
ſo habe ich ſie jetzt im Nebeneinander, das
heißt in dem eben ſo weſentlichen Gegenſatz:
Mann und Weib, zu betrachten.
Das natuͤrliche Verhaͤltniß der beiden Ge-
ſchlechter laͤßt ſich aus einem doppelten Grunde
ſchwer erkennen: 1) weil dieſes Verhaͤltniß im
heutigen geſellſchaftlichen Leben ſchon ſo verwirrt
iſt, daß man kaum die einfachen Worte „Mann
und Weib” ausſprechen kann, ohne mannichfaltige
Mißverſtaͤndniſſe zu befuͤrchten; 2) weil die aus-
geartete Schule eines großen Naturforſchers,
Schellings nehmlich, mit dem ſogenannten
Gegenſatze von Mann und Weib, den eine
geiſtreiche Naturforſchung als den Schluͤſſel aller
großen Natur-Phaͤnomene, aufgefunden hatte,
nun ein kindiſches, modiſches Unweſen treibt.
Allerdings iſt es ein ſchoͤner Beweis davon,
welchen erhabenen und menſchlichen, den uͤbrigen
Nationen zur Zeit noch, eben wegen ſeiner Ein-
falt und Natuͤrlichkeit, unbegreiflichen Charak-
ter die Wiſſenſchaft in Deutſchland annimmt,
indem ſie alle Verhaͤltniſſe in Natur und Kunſt,
die wir doch einmal nur aus menſchlichen Stand-
punkten betrachten koͤnnen, an die menſchliche,
oder vielmehr an die geſellſchaftliche Natur des
Menſchen anknuͤpft, und ſich von Hauſe aus
[144] begiebt, an den Gegenſtaͤnden der Natur etwas
Anderes, Neues oder Hoͤheres, zu entdecken, als
eben das Verhaͤltniß oder die Beziehung dieſer
Naturgegenſtaͤnde zum Menſchen, d. h. nicht
zum Menſchen an ſich, ſondern zum wirklichen
Menſchen in der Geſellſchaft, ohne die er nie
gedacht werden, noch denken ſoll. Indeß iſt
gar zu viel unreife und vorwitzige Jugend in
Deutſchland, die nur das Wort begreift, und als
Begriff in einen voreiligen Cours bringt; und
gegen alle Gemeinſchaft mit dieſer, gegen alle
auch nur augenblickliche Verwechſelung mit ihr,
mußte ich mich verwahren.
Alle Geſetzgebung in der Welt hat von je her
geſchwankt zwiſchen den beiden Verhaͤltniſſen,
dem Zeitverhaͤltniſſe, Alter und Jugend, und
dem Raumverhaͤltniſſe, Mann und Weib; ſie
hat bald dieſes, bald jenes ihren politiſchen In-
ſtitutionen zum Grunde gelegt. So liegt jenes,
das Zeitverhaͤltniß, faſt den geſammten antiken
Verfaſſungen zum Grunde; ſie ſind faſt alle pa-
triarchaliſcher Natur. Wer von der Natur den
wahren und zarten Blick fuͤr ſolche Unterſuchun-
gen erhalten hat, wird finden, daß ſich faſt die
ganze Roͤmiſche Geſetzgebung um die Lehre von
der vaͤterlichen Gewalt, d. h. um die ziemlich
unbedingte Gewalt der Vorangegangenen uͤber
die
[145] die Nachkommenden, her bewegt: daher der
buchſtaͤbliche und ſtrenge Charakter der alten Ge-
ſetzgebungen, daher ferner die gaͤnzliche Unem-
pfindlichkeit der meiſten gegen die Art, wie das
weibliche Geſchlecht in den Staat eingreift, und
die Unterdruͤckung jener zarten und doch ſo
gewaltigen Waffen, welche das ſchwaͤchere Ge-
ſchlecht von der Natur empfangen hat. Als
Rom geſunken war, bildete ſich im chriſtlichen
Europa, unter der Aegide einer Religion, welche
gerade die Anbetung des Schwachen und Huͤlf-
loſen lehrte, eine neue, der alten ganz entgegen-
ſtehende, Geſetzgebung. Ich nenne ſie „Geſetz-
gebung,” ob ſie gleich keinesweges ſchriftlich
und in Syſtemen, wie die antike, ſondern viel-
mehr nur in den Herzen der Voͤlker, als unſicht-
bare Legislation der Sitten, exiſtirte. Indeß, da
wir, wenn wir die Geſchichte des Mittelalters
ſtudieren, uns nicht verbergen koͤnnen, daß ſie
eigentlich regiert, und da, wie ich bereits fruͤher
erwieſen, die alte unuͤberſteigliche Mauer zwi-
ſchen Sitte und Geſetz nicht weiter beſtehen
kann, und die Idee des Rechtes, alſo auch die
Idee des Geſetzes, beide in ſich aufnimmt, das
Geſetz und die Sitte unter ſich begreift: ſo ſuche
und finde ich die Geſetzgebung des Mittelalters
in dem chriſtlich-chevaleresken Geiſte aller Tha-
Müllers Elemente. I. [10]
[146] ten und Werke jener Zeit, den wir ja in allen
unſern gegenwaͤrtigen Staaten, in eben ſo vie-
len handgreiflichen und leſerlichen Spuren, als
die ſich von der Roͤmiſchen Geſetzgebung nur
vorfinden moͤgen, ausgedruͤckt finden.
Dieſe Sitten des Mittelalters zeigen mir eine
ſonderbare und gegen den Geiſt der antiken Ge-
ſetze ſehr contraſtirende, ehrfurchtsvolle Scheu vor
der unſichtbaren Gewalt, welche die Natur dem
weiblichen Geſchlechte gegeben hat. Wie die al-
ten Verfaſſungen alle auf Gewalt und Zwang
gebauet waren, ſo zeigt ſich jetzt in Religion
und Sitten eine ganz andre Grundlage der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft: die Liebe und der Reitz. —
Wie damals die vaͤterliche Gewalt, ſo wird jetzt
das eheliche Verhaͤltniß das Schema der Geſetz-
gebung, einer Geſetzgebung, die noch heut zu
Tage neben den geſchriebenen Geſetzen, die viel-
mehr aus der Griechiſch-Roͤmiſchen Welt her-
ruͤhren, unter der Geſtalt der Ehrengeſetze, her
laͤuft und ſich von keinem Tribunale des Buch-
ſtabens, auch von keiner Polizei-Anſtalt, hat
bezwingen laſſen.
Das iſt die große Wiederherſtellung der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft, welche die chriſtliche Reli-
gion begruͤndet hat! Er, der in Knechtsgeſtalt in
die Welt gekommen war, fuͤhrte lange Jahrhun-
[147] derte hindurch die Herrſchaft uͤber die Welt; und
ſo wurde alles anſcheinend Schwache in der
Welt, vor allem das weibliche Geſchlecht, be-
trachtet, als ſey etwas Geheimnißvolles, Goͤtt-
liches darin; man ahndete und glaubte eine herr-
ſchende Kraft, welche die Natur in das Ge-
ſchlecht gelegt habe, das dem erſten Anſcheine
nach nur zu dienen ſchien. Der Gedanke, den
nur die weiſeſten und ſchoͤnſten Gemuͤther der
Vorwelt genaͤhrt und durch ihr Leben ausge-
druͤckt hatten, „daß es ein Herrſchen im Dienen,
einen Stolz in der Demuth, eine Gewalt im
Gehorſam gebe,” wurde National-Gedanke; und
auf ſolche Art bekam das zweite Grund-Ver-
haͤltniß der Familie, das Verhaͤltniß des maͤnn-
lichen zum weiblichen Geſchlechte, wieder ſeine
urſpruͤngliche und nothwendige Form. Die Kraft
des Mannes, die mehr den Augenblick auf ihrer
Seite hat, wurde balancirt durch den gleichfoͤr-
migen, nie nachlaſſenden Einfluß der Frau, wel-
cher auf die Dauer berechnet iſt, wie das ganze
weibliche Geſchlecht ja auch um der Fortdauer
willen exiſtirt.
So nehmen wir auch hier das Wachsthum
der Idee der Menſchheit, oder der Idee
des Rechtes, was daſſelbe ſagen will, wahr.
Beide Geſchlechter ſahen einander in die Augen;
[148] jedes fing an die Eigenthuͤmlichkeit des andern
zu wuͤrdigen; jedes konnte Wortfuͤhrer des an-
dern werden, wie oben das Alter Wortfuͤhrer
der Jugend, und umgekehrt, das Recht Repraͤ-
ſentant der Oekonomie, und umgekehrt, der Krieg
Wortfuͤhrer des Friedens, und umgekehrt; und
ſo wurde der Menſch immer mehr in der Idee,
d. h. vollſtaͤndig und allſeitig, bewegt und leben-
dig erkannt. Jeder Einzelne ſtellte mehr das
Ganze der Familie, und alſo das Ganze des
Staates, dar. Neben der Kraft und der Strenge
trat die Liebe und die Milde in ihr altes, unver-
jaͤhrbares Recht. Wie viele große und menſch-
liche Ideen ſich an die Eine Grund-Idee von
der Ehrfurcht vor der menſchlichen Schwaͤche
und Gebrechlichkeit anknuͤpften, ſpringt in die
Augen: die Gleichheit der Menſchen vor der
Idee Gottes oder des Rechtes; die Achtung des
Menſchen fuͤr den Menſchen, als ſolchen, und
von dem ſich — wie ohnmaͤchtig er auch erſchien
— nach dem großen Beiſpiele, welch s voran-
gegangen war, nicht ſagen ließ, ob ſich Gott
nicht auch in ihm offenbaren werde; die Achtung
der Perſon fuͤr die Perſon, als ſolche; mit Einem
Wort, die Achtung fuͤr das Perſoͤnliche im Men-
ſchen, nicht das Saͤchliche, nicht die bloße phyſi-
ſche Kraft und Bedeutung. Kurz, es wurde klar
[149] und in dem erhabenen Gleichgewichte zwiſchen
Kaiſer und Papſt, welches nachher ſo verunſtaltet
worden iſt, auch ſichtbar und handgreiflich, daß
es in allen menſchlichen Angelegenheiten auf ein
gleichmaͤßiges Fortſchreiten zweier unaufhoͤrlich
in einander greifenden und ſich gegenſeitig bedin-
genden Weſen, eines ſichtbaren weltlichen und
eines unſichtbaren geiſtigen Intereſſe, ankommt,
und daß alle Geſetzgebung, die ſich bloß auf das
rohe, leibhaftige Aeußere, auf den todten Buch-
ſtaben, auf ein einſeitiges ſtarres Feſthalten des
Beſitzes gruͤndet, auch in ſich ſelbſt erſtarren und
untergehen muß.
Eine Legislation, die nicht in allen ihren
Theilen von dem hier beſchriebenen weiblichen,
religioͤſen Geiſte getraͤnkt und durchdrungen iſt,
kann auf Suveraͤnetaͤt keinen Anſpruch machen;
denn es iſt eine halbe Geſetzgebung, und ſo kann
ſie uͤber ganze und vollſtaͤndige Menſchen nicht
herrſchen. Der zartere, ſchoͤnere Theil der
Menſchheit, d. h. nicht bloß das weibliche Ge-
ſchlecht, ſondern die verborgenen, unſichtbaren
Maͤchte im Innern jedes Menſchen, mit aller
ihrer Gewalt und ihrem unaufhoͤrlichen Einfluß
auf Handeln und Leben, fallen immerfort aus
ihrem Sprengel heraus, ſtehen hors de la loi;
und mit ihnen wird dem Staate unaufhoͤrlich,
[150] was er vornehmlich braucht, Neigung und Liebe
der Buͤrger, entzogen. —
Sobald man dieſen unſichtbaren, mindeſtens
weniger in die Augen fallenden, Maͤchten wie-
der ihren alten natuͤrlichen Einfluß zugeſteht,
gewinnt aller Buchſtabe im Staate wieder eine
lebendige Geſtalt, aller todte Beſitz faͤngt an ſich
zu bewegen, alle Sachen erhalten eine perſoͤn-
liche Bedeutung, alle Begriffe bekommen Bewe-
gung, d. h. ſie werden zu Ideen; waͤhrend eine
bloß weltliche Macht — ſie moͤge alle Begriffe
und alles Sichtbare in der Welt rauben, feſt-
halten, und ſich unterwerfen — ihrem Schick-
ſale nicht entgeht, und endlich ein Volk, oder
auch nur einen einzelnen Menſchen findet, wel-
che jenes Unſichtbare, den zarteren Geiſt der
Sitte, des Rechtes, der Religion, zu verthei-
digen unternehmen, und, wenn ſie dieſem Geiſte,
der ſich nicht ungeraͤcht verſpotten laͤßt, getreu
bleiben, nothwendig aus ewigen Naturgeſetzen
die Oberhand behalten muͤſſen. Der ſchwaͤchere
Begriff weicht dem ſtaͤrkeren, wie die Mauer
vor dem ſtuͤrzenden Felſen weicht; der koloſſalſte
Begriff weicht vor der erſten lebendigen Idee,
wie der haͤrteſte Felſen von der kleinſten Pflanze
bloß durch organiſche Bewegung und Wachs-
thum geſprengt wird.
[151]
Die Ehe, nicht unſern verderbten und ver-
unſtalteten Zeitbegriffen, ſondern ihrer natuͤrli-
chen und urſpruͤnglichen Geſtalt nach, alſo das
Verhaͤltniß des maͤnnlichen und des weiblichen
Geſchlechtes, iſt eine ewige, unter allen Zonen
der Erde verbreitete Schule der Gegenſeitigkeit;
und darum iſt die Ruͤckſicht auf dieſes zweite
Grundverhaͤltniß der Familie ſo wichtig. Die
beiden Elemente des Staates, deren jedes in ſei-
ner Eigenthuͤmlichkeit beſtehen und vertheidigt
werden muß, die ſichtbare und die unſichtbare
Macht, die Gewalt und die Liebe, die Strenge
und die Milde, welche vermittelnd zu vereinigen,
die Aufgabe ſowohl des Staatskuͤnſtlers als
aller andern Kuͤnſtler iſt, erſcheinen in dem Ver-
haͤltniſſe der beiden Geſchlechter lebendig, per-
ſoͤnlich und als wirkliche Ideen neben einander.
Und wie nun die Natur die Fortdauer des wirk-
lichen leibhaftigen Menſchen abhaͤngig gemacht
hat von der innigſten, gegenſeitigen Beruͤhrung
und Verbindung dieſer beiden Geſchlechter: ſo
hat ſie damit dem unbefangenſten Beobachter der
buͤrgerlichen Vereinigung den deutlichſten Finger-
zeig gegeben, alle anderen Verhaͤltniſſe nach die-
ſem Muſter einzurichten, allenthalben von der
Verbindung des recht Verſchiedenartigen und
Entgegengeſetzten die groͤßte Innigkeit dieſer Ver-
[152] bindung, und nur von der Gegenſeitigkeit der
Rechte aller einzelnen Individuen unter einander,
und nur von dem gegenſeitigen Sich-Tragen und
Behaupten der anſcheinend ungleichſten, aber
doch zum menſchlichen Weſen einmal gehoͤrigen
Ideen, die Bluͤthe des Staates, der Idee aller
Ideen, zu erwarten.
Wie lernt der Menſch, als Kind, im natuͤr-
lichen Zuſtande, zuerſt das Geſetz kennen? Als
einen Begriff nicht. Die buchſtaͤbliche Strenge
des Vaters, und die geiſtige Milde der Mutter
wirken unaufhoͤrlich wechſelsweiſe; und ſo wird
das Kind eigentlich erzogen und regiert weder
vom Vater noch von der Mutter allein, ſondern
von einem unſichtbaren Suveraͤn, von einem
unſichtbaren, lebendigen Geſetze, welches zwiſchen
den Eltern ſteht: von einer Idee des Rechtes,
worin die Eigenthuͤmlichkeiten beider Geſchlech-
ter, die Strenge des Vaters und die Milde der
Mutter, zuſammentreten. Sollte dieſes unſicht-
bare Geſetz nun ausgeſprochen werden, ſo wuͤr-
den die Spuren beider ſo verſchieden geſtalteter
Geſetzgeber unverkennbar, und in gegenſeitiger
Durchdrungenheit, darin ſichtbar ſeyn. — Der Su-
veraͤn, der Geſetzgeber eines Staates, muß alſo,
wenn er die wahre Idee des Rechtes in unend-
lichem Wachsthum durch das Geſetz ausdruͤcken
[153] und die Beduͤrfniſſe des Ganzen umfaſſen und
den Willen des Ganzen ausſprechen will, beide
Geſchlechter der Menſchheit und ihre ganze
Natur unaufhoͤrlich und ſtets inniger in ſich
vereinigen. —
In welcher barbariſchen Zerruͤttung und Ein-
ſeitigkeit die Geſetze des heutigen Europa einem
erſten, oberflaͤchlichen Blicke auch erſcheinen moͤ-
gen —: unter aller Verwirrung findet ſich doch
eine große, unausloͤſchliche Spur, daß jene Idee
einer nothwendigen Gegenſeitigkeit einſt alle Ge-
ſetzgebungen durchdrungen hatte und nothwendig
kuͤnftig wieder durchdringen wird. Wenn man
die Erziehungsgeſchichte der heutigen Europaͤiſchen
Staaten, und das rein erhaltene Reſultat die-
ſer Erziehung in England betrachtet: ſo findet
man das Streben aller Staaten nach einer Ver-
bindung der buchſtaͤblichen und der eben ſo noth-
wendigen Ehrengeſetze, des ſichtbaren Intereſſe
der Gegenwart und des unſichtbaren Intereſſe
der Jahrhunderte, ausgedruͤckt durch eine große,
von keiner Macht der Welt zu erſchuͤtternde
Inſtitution, durch den Standes- oder Ge-
ſchlechts-Unterſchied, von Adel und Buͤr-
gerſtand, den wir in ſeiner andren Natur, nehm-
lich als Rang-Unterſchied, bereits oben in der
Entwickelung des erſten Familien-Verhaͤltniſſes
[154] von Alter und Jugend, erwaͤhnt haben. Der
Adel ſoll das Unſichtbare, die Macht der Sitte
und des Geiſtes im Staate repraͤſentiren, und
ſo iſt er in der großen Ehe, welche Staat heißt,
was die Frau in der Ehe im gewoͤhnlichen Ver-
ſtande. So tritt die Verſchiedenheit der Geſchlech-
ter, nachdem ihr gegenſeitiges Intereſſe den ganzen
Staat durchlaufen und beſeelt hat, in vergroͤ-
ßerter Dimenſion noch einmal vor den Geſetz-
geber hin, damit dieſer in wirklicher perſoͤnlicher
Geſtalt und ideenweiſe beide Elemente des Staa-
tes unaufhoͤrlich gegenwaͤrtig habe und zu ver-
mitteln genoͤthigt ſey.
Dies iſt der Adel in ſeiner nothwendigen
und natuͤrlichen Geſtalt; dies iſt die Theorie der
Familie in der ihrigen. Wie ſich zu ſolchen Au-
ſichten die Verunſtaltungen, in denen wir Adel,
Familie und Geſetze um uns her ſehen, verhal-
ten, und wie alles hier Dargeſtellte wichtig und
weltgebietend in der Anwendung erſcheine, wer-
den wir nun weiter ſehen.
[[155]]
Zweites Buch.
Von der Idee des Rechtes.
[[156]][[157]]
Sechſte Vorleſung.
Daß die Idee des Rechtes alle einzelnen Rechte belebe, und
daß das Richteramt nicht allein in den mechaniſchen Ent-
ſcheidungen, ſondern auch in dem lebendigen Vermitteln
unter den einzelnen Rechten beſtehe.
Das, was ich uͤber die Natur und die Ausbil-
dung der Rechts-Idee zu ſagen habe, muß ich mit
einem Vergleiche anfangen, den ſie, in ſo fern
wir uns in unſern bisherigen Unterhaltungen
verſtaͤndigt haben, tiefſinnig und beziehungsreich
finden werden. — In der aͤlteſten Geſetzgebung,
die wir noch heut zu Tage in ihrem ganzen
Umfange zu uͤberſehen im Stande ſind, der
Moſaiſchen, iſt, wie bekannt, Religions-Vor-
ſchrift und weltliches Geſetz noch Eins und daſ-
ſelbe, wenlgſtens beides innig in einander ver-
ſchmolzen. Dieſe Geſetzgebung eroͤffnet ſich, wie
eben ſo bekannt, mit dem Geſetze: Du ſollſt
nicht andre Goͤtter haben neben mir. —
In dieſem Geſetze, das auf den erſten, ober-
[158] flaͤchlichen Blick nur eine theologiſche Beziehung
zu haben ſcheint, wird mit einfacher Erhabenheit
Daſſelbe befohlen, was ich, unter mancherlei
kuͤnſtlichen Wendungen, wozu mich die Verwir-
rung meiner Zeit genoͤthigt hat, als Geſetz aller
Geſetze, am Eingange meiner Staatslehre folgen-
dermaßen habe ausdruͤcken muͤſſen: Du ſollſt
neben der Idee des Rechtes keine wei-
teren Begriffe von Rechten haben. —
Wenn ich die Uebereinſtimmung dieſer beiden
Geſetzesausdruͤcke erweiſen kann, ſo habe ich
eine nicht geringe Autoritaͤt fuͤr mich gewonnen;
denn wie wenige Staatsmaͤnner alter und neuer
Zeit koͤnnen ſich, auch wenn nur der Stand-
punkt weltlicher Klugheit gelten ſoll, neben Mo-
ſes ſtellen! Die meiſten verſchwinden ganz neben
ihm, wenn von Totalitaͤt, wenn von der Ver-
einigung aller politiſchen Verhaͤltniſſe einer Na-
tion, der geiſtigen und der phyſiſchen, der juriſti-
ſchen wie der oͤkonomiſchen, in einen einzigen
lebendigen Willen, oder in eine Idee, die Rede
iſt. —
Ich gehe unmittelbar zu meinem Beweiſe fort:
1) Es wird keines Streites daruͤber zwiſchen
uns und den Alten beduͤrfen, ob wir die Stimme
des Guten in unſrer Bruſt, mit den Alten,
Gott, oder, mit den Neuen, Recht nennen
[159] ſollen. Wie verſchieden die Nahmen auch klin-
gen —: Jeder weiß, was ich meine. Das mit
dieſen beiden Nahmen bezeichnete Weſen ſoll,
nach Moſes und allen Geſetzgebern der Welt,
ein in ſich ſelbſt einziges Weſen ſeyn. Moſes
verlangt vor allen andern Dingen die Anerken-
nung des einzigen Gottes; eben ſo verlangen alle
andern weltlichen Geſetzgeber ſtillſchweigend oder
ausdruͤcklich die Anerkennung eines einzigen Rech-
tes. Deſſen ungeachtet finden wir bei den reli-
gioͤſeſten Voͤlkern den Dienſt mehrerer Goͤtter,
in den rechtlichſten Staaten die Aufrechthaltung
mehrerer Rechte. — Iſt da kein Widerſpruch?
Vertraͤgt ſich wirklich die Lehre von Einem Gott
mit mehreren Goͤttern, die Lehre von Einem
Recht mit mehreren Rechten? —
Moͤgen es urſpruͤnglich die verherrlichten He-
roen und Stifter der Voͤlker, oder perſonificirte
Naturkraͤfte geweſen ſeyn, aus denen ſich der
Kreis der Griechiſchen Goͤtter entwickelt hat —:
ſo wie ſie uns in den Werken der Alten inner-
lich anſprechen, ſind es Ideen, verſchieden ge-
ſtaltete, aber lebendige, perſoͤnliche Ausdruͤcke
von dem Leben der Menſchheit. So wie ſie uns
in ihrem alleraͤlteſten Dienſte erſcheinen, wider-
ſprechen ſie einander nicht; der Dienſt der Einen
Gottheit ſchließt den Dienſt der andern nicht
[160] aus, weil ſie ſich unter einander fuͤgen, weil ſie
Ideen ſind, welche allenthalben in einer hoͤheren
Idee vereinigt werden koͤnnen; alſo ſchließen ſie
auch urſpruͤnglich einen Gott aller Goͤtter, eine
Idee aller Ideen, nicht aus. —
Spaͤterhin verdirbt dieſe lebendige Natur der
Goͤtter; in der Entartung der Zeiten erſtarrt die
Idee allmaͤhlich: es wird ein todter Begiff dar-
aus; jeder Gott erhaͤlt ſeinen beſtimmten Spren-
gel, ſeine fixen Eigenſchaften, und es entſteht
im Volke die Anſicht von den Goͤttern, die uns
in der Jugend unter der Aufſchrift: Mytholo-
gie, beigebracht worden iſt. Mit andern Wor-
ten: aus den Goͤttern werden Goͤtzen, aus
den Ideen werden Begriffe; und unter die-
ſen Goͤtzen nun, oder unter dieſen Begriffen,
herrſcht die ſchauerlichſte Anarchie. Wie moͤch-
ten ſie ſich beruͤhren, da kein Leben in ihnen iſt!
Wie koͤnnten ſie ſich verbinden zu der Idee
eines Gottes der Goͤtter, da ihnen die Be-
dingung alles Verbandes, nehmlich die gemein-
ſchaftliche Bewegung, gebricht! Kurz: die Idee
Eines Gottes vertraͤgt ſich ſehr wohl mit den
Ideen mehrerer Goͤtter. Der Begriff eines ein-
zigen Gottes aber, eines Weltgoͤtzen, wie er uns
in unſrer Jugend vordemonſtrirt, ſein Daſeyn
uns bewieſen worden iſt, vertraͤgt ſich mit den
Be-
[161] Begriff mehrerer Goͤtter, oder kleiner Provin-
zial-Goͤtzen nicht; eben ſo wenig, wie ſich dieſe
kleinen Goͤtzen oder Begriffe jemals unter ein-
ander vertragen.
Der uralte Hang des Volkes, welches Mo-
ſes zu erziehen hatte, den Goͤttern ſeiner Nach-
barn zu vertrauen, iſt bekannt. Die Idee eines
einzigen, unſichtbaren Gottes war von je her
von den Geſetzgebern dieſes Volkes vor allen
andern in ihrer Reinheit erkannt worden. In
eigenthuͤmlichen National-Ideen, wie bei den
Griechen, konnte ſich bei den Juden dieſe Idee
nicht auspraͤgen; denn in der Zeit ihrer erſten
Ausbildung lebten ſie unter den Aegyptern in
Knechtſchaft. Alſo nur die auf ihre Eigenthuͤm-
lichkeit nicht paſſenden, auf ihrem Boden nicht
gewachſenen, National-Ideen (Goͤtter) der Nach-
barn konnten ſie begriffsweiſe und erſtarrt bei
ſich aufnehmen. Es wurden Goͤtzen daraus;
und dieſe auszuſchließen, war die erſte von allen
Forderungen Moſis: denn dieſe Begriffe, dieſe
todten Goͤtzen widerſprachen ewig der Idee des
einzigen, lebendigen Gottes. — Dies iſt der
leicht zu entziffernde Sinn des Wortes: du
ſollſt nicht andre Goͤtter haben neben
mir.
2) Wir wollen nun Das, was wir in der
Müllers Elemente. I. [11]
[162] Darſtellung des Moſaiſchen Geſetzes „Gott”
nannten, Recht nennen. Vertraͤgt ſich die An-
erkennung der einzigen, lebendigen Idee des
Rechtes mit dem Beſtehen unzaͤhliger einzelnen
Rechte? — Ich antworte: Den circulirenden
Staats-Theorieen nach, die aus Begriffen zu-
ſammengebauet ſind: Nein. — Einer Staats-
Theorie zufolge, die Leben, die Bewegung hat
und in Ideen lebt: Ja. — Den jetzt folgenden
Beweis werden Sie leicht anticipiren.
Die Corporationen, Inſtitutionen und Grund-
geſetze, welche ſich in der Jugendzeit eines Vol-
kes aus dem Boden des Vaterlandes allmaͤhlich
erheben, ſind ſolche verkoͤrperte Rechts-Ideen,
wie die Goͤtter Griechenlands urſpruͤnglich, und
in dem jugendlich-frommen Sinne des Griechi-
ſchen Volkes, verkoͤrperte religioͤſe Ideen
waren. Adel, Buͤrgerſchaft, Geiſtlichkeit, Reichs-
tag, goldne Bulle u. ſ. w. moͤchte ich politiſche
National-Goͤtter der Deutſchen nennen: ſo lange
Leben und Bewegung in dieſen Inſtituten und
Geſetzen iſt, ſo lange ſie als Ideen leben, ſchließt
eins das andre, und ſchließt auch der Dienſt
aller dieſer einzelnen Rechts-Ideen den Dienſt
der einzigen, lebendigen Rechts-Idee, die das
Ganze beſeelen ſoll, nicht aus. Im Verfolg
entartender Zeiten erſtirbt auch in dieſen Rechts-
[163] Ideen, ſo gut wie in den Griechiſchen Goͤttern,
das alte Leben; nur die todten, ſtarren Rechts-
begriffe von ihnen bleiben zuruͤck.
Dieſe Begriffe fuͤgen ſich nicht nur nicht in
einander, ſondern ſie widerſprechen ſich auch,
ſie zerſtoͤren ſich, und ſo kommt eine alte, ehr-
wuͤrdige Verfaſſung, die natuͤrlich und eben des-
halb vortrefflich iſt, in ſolche Geringſchaͤtzung,
daß ſie zum Geſpoͤtte des Poͤbels wird, aber
nicht deswegen, weil ſie alt geworden (was
ihr hoͤchſter Vorzug ſeyn wuͤrde), oder den Zei-
ten nicht angemeſſen, ſondern weil ihr Dienſt
in dem Herzen des Volkes erſtorben iſt, weil
dieſem die Kraft gebricht, das Alte zu ver-
juͤngen, weil nur Begriffe von ihr und keine
Ideen im Schwange gehn, dieſe Begriffe aber
ſich gegenſeitig abſtoßen, und dennoch jeder ein-
zelne derſelben von dem beſonders dabei intereſ-
ſirten Buͤrger krampfhaft feſtgehalten und als
ein kleiner Goͤtze verehrt wird.
Es giebt eine Idee Adel und einen Begriff
Adel; einen Gott Adel und einen Goͤtzen Adel.
Wenn das Goͤttliche in ſolchen Inſtitutionen
ausgeſtorben iſt, und der goͤtzenhafte Begriff al-
lein zuruͤckbleibt, dann haͤlt ſich jeder einzelne
Buͤrger an den ihn vorzuͤglich intereſſirenden
Buchſtaben: der Adel an ſeinen todten Privile-
[164] gien-Begriff, der Handwerker an ſeinen todten
Zunftbegriff, der Kaufmann an ſeinen todten
Innungsbegriff, der Soldat an ſeinen todten
Ehrebegriff, die Regierung an ihren todten
Suveraͤnetaͤts-Begriff. Alle dieſe Begriffe, die,
als Ideen, eine ſo ehrwuͤrdige Rolle ſpielten,
ſtoßen und reiben ſich jetzt maſchinenmaͤßig, ſo
lange es gehen will, an einander, und der allge-
meine Goͤtze, ein philoſophiſch-metaphyſiſcher
Begriff des Rechtes, wird in dem Tumult allent-
halben herausgeſtoßen; er, ſelbſt todt, kann die
andern nicht beleben. Nun kommen Gelehrte,
Weltverbeſſerer von aller Art, und verbinden
ſich mit dem Poͤbel, der nichts zu verlieren hat,
und rufen: die Formen taugen nichts; die Goͤt-
zen taugen nichts! Neue Formen, neue Goͤtzen!
— Dies iſt die Eſſenz aller politiſchen Bewegun-
gen in unſren Tagen.
Conſequenter rufen Andre: die Menſchen
taugen nicht; denn ſie machen die Goͤtzen, und
ſind allzumal Goͤtzendiener. Dies giebt den Re-
volutionnaͤr von Grund aus, einen Robespierre,
einen St. Juſt.
Die Nichtswuͤrdigſten rufen: einige Menſchen
taugen nichts, die, welche zunaͤchſt bei den Goͤt-
zen ſtehen, die Regierenden, der Adel, die Geiſt-
lichkeit; das Volk iſt gut. Dies giebt die Briſ-
[165] ſotiner, die Deutſchen revolutionnaͤren Schrift-
ſteller und das ganze Heer der Philanthropen
und Halb-Philoſophen. —
Was wuͤrde Moſes thun? Die lebendige Idee
des einzigen ewigen Rechtes oder Gottes wieder
herſtellen: das iſt das Eine, was noth iſt. Und
wie wird dieſe Idee wieder hergeſtellt? Da-
durch, daß durch die Kraft eines freien und fri-
ſchen Gemuͤthes alle dieſe todten Rechtsbegriffe
wieder bewegt, wieder belebt werden. Formen
des Auslandes, Begriffe, Goͤtzen ſich uͤber das
Meer kommen laſſen, giebt neue Goͤtzen fuͤr alte
Goͤtzen, denen nun nicht einmal die Macht der
Gewohnheit zu Huͤlfe kommt, und welche die
Nation wieder auswirft, wenn es der Geſetzge-
ber nicht ſelbſt thut.
Die Geſchwornen-Gerichte (Jurys) ſind ein
juriſtiſcher National-Gott — in England. Wenn
in Frankreich, nach neueren Decreten, die Aus-
ſpruͤche derſelben von der Regierung ſollen an-
nullirt werden duͤrfen, ſo ſcheint dies die Ueber-
zeugung anzudeuten, daß man jenem National-
Gotte auf dem fremden Boden nicht gleiche Ehr-
erbietung erweiſon koͤnne.
So nun lautet das Geſetz Moſis, in die
Sprache unſrer Tage uͤberſetzt: Du ſollſt ne-
[166] ben der Idee des Rechtes keine weite-
ren Begriffe von Rechten haben. —
Ich habe die Zuſammenſtellung zweier ver-
ſchiedenen Ausdruͤcke fuͤr das Geſetz aller Geſetze
einen „Vergleich” genannt; Jedermann fuͤhlt
aber, daß hier mehr iſt. — Nicht umſonſt re-
clamirte ich gleich am Eingange meiner Staats-
lehre die Herzen und alles geiſtige Eigenthum
der Buͤrger fuͤr den Staat. Ohne dieſe, deren
Vereinigung wir, mit dem edelſten, verſtaͤndlich-
ſten Namen, „Religion” nennen, iſt keine
Staatskunſt moͤglich. Ich will Den ſehen, der
mir ſagen kann, was Recht ſey, und der den-
noch mit dem Worte „Staat” nicht mehr als
einen gemeinen Zuſammenhang weltlicher Ange-
legenheiten meint, der nothwendig ein Mecha-
nismus von Begriffen ſeyn muß, und nichts
weiter. — Ich berufe mich nicht auf Leibnitz,
Burke und die groͤßten Maͤnner des Jahrhun-
derts, welche die Einheit des Staates und der
Kirche empfunden haben. Wer das Weſen der
Ideen erkannt hat, der hat die Religion er-
kannt. —
Die einfache ewige Idee des Rechtes alſo
vertraͤgt ſich ſehr wohl mit einzelnen Rechten,
jedoch nur mit lebendigen Rechten, d. h. ſolchen,
die als Ideen verſtanden, ausgeuͤbt und verthei-
[167] digt werden. Jeder Richter wird es eine ſchoͤne
Vertheidigung eines einzelnen Rechtes nennen,
wenn der Advocat nicht etwa dieſes einzelne
Recht aus dem Zuſammenhange der uͤbrigen
Rechte herausſchneidet, es iſolirt, und aus dem
bloßen einzelnen, einſeitigen Buchſtaben deducirt,
daß es nun ewig gelten ſolle, — ſondern wenn
derſelbe ſich vor dem Auge des Richters ganz
auf die Seite der uͤbrigen Rechte ſtellt, und von
dieſem entgegengeſetzten Standpunkte aus zeigt,
wie, um der uͤbrigen Rechte willen, jenes einzelne
Recht aufrecht zu erhalten ſey, und wie das
Ganze dabei intereſſirt iſt, daß das Einzelne be-
ſtehe. Der waͤre der vortrefflichſte Vertheidiger
des Adels, der ganz auf die Seite des Buͤrger-
ſtandes treten, und von dortaus die nothwen-
dige Aufrechthaltung der Adelsrechte erweiſen
koͤnnte. —
Laſſen Sie uns annehmen, die Regierung eines
Landes berathſchlage uͤber die Ausfuͤhrbarkeit oder
Unausfuͤhrbarkeit der Getreideſperre in einem
gegebenen Moment. Der Grundeigenthuͤmer (das
Land-Intereſſe) iſt natuͤrlicher Weiſe gegen,
der Fabrikant (das geſammte Geld-Intereſſe
des Landes) fuͤr die Maßregel. Hier iſt einer
von den unzaͤhligen Conflicten zweier ganz ent-
gegenſtehenden Intereſſes, die in einem wohl
[168] organiſirten Staate ſich taͤglich zutragen muͤſſen;
denn je mehr die ſtreitenden Kraͤfte im Innern
jedes Landes maſſenweiſe und en gros vor dem
Throne des Suveraͤns einander gegenuͤber tre-
ten; je weniger en détail und — im kleinen,
unedlen Sinne des Wortes — perſoͤnlich um
das Wohl des Ganzen geſtritten wird: um ſo
beſſer iſt die Adminiſtration des Staates. Der
Grundeigenthuͤmer verkauft das Product, auf
deſſen Handelsbeſchraͤnkung es ankommt, ſtrebt
alſo nach den groͤßt moͤglichen, der Fabrikant
kauft es, ſtrebt alſo nach den niedrigſt moͤg-
lichen Preiſen; und dem Staate ſind beide ſtrei-
tenden Staͤnde gleich-wichtig und werth. In
ſolchen Faͤllen nun auf der Einen und der andern
Seite das plus und das minus des fuͤr jenen
und dieſen Stand aus der Maßregel erwachſen-
den Schadens, nach Art der Rechenmeiſter, ab-
zuwaͤgen, die weniger verlierende Parthei hinter
der mehr verlierenden aus bloß arithmetiſchen
Gruͤnden zuruͤckſtehen zu laſſen, charakteriſirt den
gemeinen Staatsmann. —
Urſpruͤnglich ſind die Rechte beider Staͤnde,
des Landmannes und des Fabrikanten, auf die
Unterſtuͤtzung des Staates gleich-groß; beide muͤſ-
ſen gemeinſchaftlich prosperiren, oder keiner pros-
perirt, und nur in einem gegebenen Augenblick
[169] kann das Recht des Einen leichter erfunden wer-
den, weil es darauf ankommt, das Ganze zu
erhalten. — Dieſes Ganze entſcheidet alſo eigent-
lich, und der Richter repraͤſentirt es; folglich
muß auch das Recht jeder beſonderen Parthei
von dem Advocaten derſelben dargeſtellt werden,
wie es im Ganzen, und nicht, wie es fuͤr ſich
abgeſondert erſcheint: nur ſo gehoͤrt es vor den
Richter oder vor den Staat.
Wie wird aber das Recht des Land-In-
tereſſe und das Recht des Geld-Intereſſe fuͤr den
gegebenen Fall im Ganzen dargeſtellt? Dadurch,
daß die Advocaten beider Partheien ihre Plaͤtze
vertauſchen, und der Vertheidiger des Land-In-
tereſſe ganz in einem ſtaͤdtiſchen, der Verthei-
diger des Geld-Intereſſe hingegen in einem laͤnd-
lichen Standpunkte redet; dadurch daß der Ad-
vocat des Grundeigenthums zeigt, daß gerade
fuͤr die ſtaͤdtiſche Induſtrie die Sperre rathſam,
und der Advocat der Fabrikanten, daß dieſelbe
der laͤndlichen Induſtrie nachtheilig ſey. Nun
kann der Richterſpruch eintreten: ein Wort, das
nicht zwiſchen beiden Partheien einſeitig und
arithmetiſch entſcheidet, ſondern, da es aus dem
Ganzen kommt, und, da es, als ſolches, beide
Advocaten verſtehen, auch fuͤr beide Partheien
geſprochen wird.
[170]
Die Gruͤnde abwaͤgen, das Fuͤr und Wider
bei einer Maßregel in Betracht ziehen, ſind in
den gewoͤhnlichen Tribunalen und in den gewoͤhn-
lichen Staats-Theorieen beliebte Redensarten —
eben weil man nur mit Begriffen von Rechten
und von Intereſſen zu thun hat, die unter ein-
ander ſtreiten, deren Advocaten jeder ſeine Sache
abgeſondert ſo ſchwer und wichtig als moͤglich
darſtellt, um durch die bloße Gewalt der Maſſe
die Maſſe des Gegners zu erdruͤcken. In den
wenigſten Faͤllen aber ſtehen Recht und Unrecht
vor dem Richter, in den meiſten Faͤllen Recht
und Gegenrecht; in den wenigſten Faͤllen liegt
dem Richter die Frage vor: Soll die Eine Par-
thei oder die andre beſtehen? In den meiſten
Faͤllen ergeht an ihn die viel erhabnere Frage:
wie ſoll dieſe Parthei und jene mit ihr ſtreitende
beſtehen? —
Kurz, der Richter iſt ja nicht bloß eine ver-
neinende und bejahende Maſchine, er iſt ja
nicht bloß Schiedsrichter oder Der, welcher vom
Himmel zwei Kugeln, eine ſchwarze und eine
weiße, um den Ausſchlag zu geben, in die Haͤnde
bekommen, waͤhrend jede von den beiden Par-
theien nur Eine von beiden erhalten hat. Nein;
jede von den beiden Partheien hat einen doppel-
ten Charakter und ein doppeltes Intereſſe: 1)
[171] ein beſondres, individuelles Intereſſe; 2) ein
allgemeines, ein Intereſſe am Ganzen. Um
das beſondre Intereſſe wird geſtritten; denn die-
ſes iſt bei jeder Parthei ein anderes, verſchiede-
nes. Ueber das allgemeine Intereſſe beider Par-
theien koͤnnen Mißverſtaͤndniſſe obwalten; im
Weſentlichen aber iſt es auf beiden Seiten daſ-
ſelbe. So doppelgeſtaltig treten ſie vor den
Richter. Auch dieſer hat eine doppelte Beſtim-
mung: das beſondere Recht aufrecht zu erhal-
ten, und Wachsthum und Bluͤthe des allgemei-
nen Rechtes und Intereſſe nicht verderben zu
laſſen, ſondern zu foͤrdern.
Dies nun auf irgend einen vorliegenden
Streit angewendet, giebt folgende, durchaus ge-
nuͤgende, Inſtruction fuͤr den Richter, welche zu-
gleich alle einzelnen Faͤlle umfaßt: 1) Du ſollſt
das beiden Partheien gemeinſchaftliche
Intereſſe am Ganzen durch Verſtaͤndi-
gung vermitteln; und 2) du ſollſt zwi-
ſchen dem beſonderen Intereſſe beider
ſtreitenden Partheien entſcheiden. —
Jeder Richterſpruch ſoll nicht bloß Deciſion,
ſondern auch Vergleich ſeyn; das Ganze, oder
die allgemeine Rechts-Idee, und das Einzelne,
oder das beſondre Recht, ſollen in dem Urtheile
mit einander verſoͤhnt werden. Verlaͤugneten
[172] die beiden Partheien ihr Intereſſe am Ganzen;
beharrte jede einſeitig auf dem Buchſtaben, auf
dem Begriff ihres Rechtes: ſo waͤren beide Rechte
ſchaͤdlich, keine Vermittelung moͤglich, ſondern
nur eine Entſcheidung, indem der Richter das
ſchaͤdlichere Recht, als eigentliches Unrecht, un-
bedingt verwuͤrfe. Beſſer waͤre es, wenn beiden
dergeſtalt iſolirten Partheien Unrecht gegeben
wuͤrde; denn die Idee des Rechtes leidet, wie
wir geſehen haben, eigentlich keine Rechtsbegriffe
neben ſich; das Lebendige kann zwiſchen todten
Dingen nicht einmal entſcheiden, und zum wah-
ren Kriege gehoͤrt es, daß zwiſchen den krieg-
fuͤhrenden Partheien irgend etwas gemeinſchaft-
lich ſey. —
Die in unſerm Zeitalter ſo allgemeine Klage
uͤber den Egoismus koͤnnten wir alſ[o] beſtimmter
in folgende Worte uͤberſetzen: der Sinn fuͤr
das Gemeinſchaftliche, fuͤr Ideen, iſt ausgeſtor-
ben. Jeder ſtuͤtzt ſich auf Begriffe von tod-
tem Vortheil und von todten Rechten; und weil
die Geſetze ſelbſt nur als Begriffe verſtanden
werden, und weil ſie, wie andre Sachen eben
auch, benutzt und gemißbraucht werden koͤnnen,
ſo gehen die Staaten einer allgemeinen Auf-
loͤſung entgegen, dem nur durch die Wieder-
herſtellung der Idee, und durch kein andres
[173] gemeines weltliches Mittel vorgebeugt werden
kann.
Laſſen Sie uns zu der hier gegebenen Theorie
des Prozeſſes ein Beiſpiel nach einem großen
Maßſtabe waͤhlen, einen voͤlkerrechtlichen Pro-
zeß zwiſchen zwei großen, unabhaͤngigen Natio-
nen. Dieſer Fall iſt um ſo lehrreicher, da hier
ein eigentlicher, handgreiflicher Richter noch nicht
vorhanden iſt, vielmehr ein ſolcher erſt eingeſetzt
werden ſoll. Jede von den beiden Nationen
hat ein beſonderes Intereſſe und ein allgemeines,
dieſes letztere moͤge nun, wie im Mittelalter,
chriſtliche Religion, oder, wie ſpaͤterhin,
Recht oder Gleichgewicht heißen. Die Un-
terhandlung faͤngt an mit oder ohne Mediation
einer dritten Macht; die ehemaligen Vertraͤge
zwiſchen den beiden Nationen werden zum Grunde
gelegt. Was ſind dieſe Vertraͤge? Urtheilsſpruͤ-
che eines unſichtbaren Richters, durch welche
fruͤhere Streitigkeiten beigelegt worden. Sie ſind
redende Beweiſe, daß damals jede von den bei-
den Maͤchten in das Intereſſe der andern Par-
thei eingangangen iſt, daß die Abgeſandten bei-
der Partheien oftmals ihre Plaͤtze vertauſcht
haben, daß jeder von den beiden Advocaten oft-
mals aus dem Standpunkte der andern Parthei
ſein eignes Intereſſe betrachtet und vertheidigt
[174] hat, kurz, daß Ideen galten, daß das lebendige,
freie Leben mit einander rechtete, daß es, außer
den gegenſeitig ſtipulirten Rechten und Beſitzthuͤ-
mern, auf noch etwas Andres, Unſichtbares und
Heiliges, ankam.
Wenn man in ſolchen Tractaten nichts als den
Buchſtaben ſehen will; wenn man nicht zugleich
die Geſchichte der Negociationen, aus denen der
Tractat hervorgegangen iſt, zu Rathe zieht;
wenn man das Geſetz ohne den Prozeß, aus
welchem es erzeugt worden, kurz, wenn man es
fuͤr ſich als Begriff, nicht in ſeinem Zuſammen-
hange mit dem Ganzen und im Werden, betrach-
tet: ſo kann es niemals zur Grundlage eines
neuen Prozeſſes, einer neuen Negociation, dienen.
Wie moͤchte ein todtes Wort zur Norm einer
neuen lebendigen Verhandlung werden! Alles
kommt darauf an, den neuen Prozeß lebendig
an die alten anzureihen, und die geſammten
Verhaͤltniſſe der beiden Staaten als einen unauf-
hoͤrlichen und lebendigen Verkehr anzuſehen.
Dieſe Kunſt der hoͤheren Diplomatie iſt in
neueren Zeiten mit vielen andern erhabenen Kuͤn-
ſten verloren gegangen. Geiſt, Leben und Bewe-
gung, die urſpruͤnglichen Eigenſchaften aller Trac-
taten und von dem Buchſtaben derſelben unzer-
trennlich, haben ſich wirklich getrennt, ſeitdem
[175] das gemeinſchaftliche Intereſſe der Chriſtenheit
eine Antiquitaͤt, und das Europaͤiſche Gleichge-
wicht eine todte Formel geworden iſt. Man hat
den Geiſt der Staaten-Verbindungen in einer
beſondern Disciplin, und den Buchſtaben derſel-
ben in einer andern beſonderen, aufzufaſſen ge-
ſucht; und ſo iſt ein vermeintliches natuͤrliches
Voͤlkerrecht, und ein ſogenanntes poſitives ent-
ſtanden. Damit nun iſt eine eigentliche Nego-
ciation unmoͤglich geworden: wer von den beiden
ſtreitenden Partheien den Beſitz und den Buch-
ſtaben fuͤr ſich hat, appellirt unaufhoͤrlich von
dieſem Buchſtaben an denſelben, waͤhrend der
andern Parthei nichts uͤbrig bleibt, als ſich auf
das ganz weſenloſe natuͤrliche Recht zu berufen.
Beide Partheien alſo ſtehen, jede fuͤr ſich, auf
einem ganz verſchiedenen Boden, jede in einer
andern Welt; ſie haben die Eine Eigenſchaft gu-
ter Parth [...]en, ein beſonderes Intereſſe; aber
die andere eben ſo nothwendige Eigenſchaft, das
gemeinſchaftliche Intereſſe, das Intereſſe an ir-
gend einem Ganzen, worin beide begriffen waͤren,
fehlt, oder wird wenigſtens nicht von beiden er-
kannt und anerkannt. Alſo iſt kein Richter zwi-
ſchen beiden gedenkbar; denn, wie ich oben ge-
zeigt habe, iſt ja der Richter nichts anders als
der Repraͤſentant jenes zwiſchen beiden Gemein-
[176] ſchaftlichen; alſo auch kein Geſetz, kein Tractat,
kein Friede — welche Worte ja nichts andres
bedeuten, als die feierliche Anerkennung dieſes
Gemeinſchaftlichen, und des beſonderen In-
tereſſe jeder einzelnen Europaͤiſchen Nation, in ſo
fern es ſich mit jenem Gemeinſchaftlichen ver-
traͤgt. —
Je mehr das Recht den Charakter der Idee
verliert und zum Begriffe wird, um ſo mehr
trennt ſich der Geiſt des Rechtes von dem Buch-
ſtaben deſſelben, die Wiſſenſchaft zerfaͤllt in ein
ſo genanntes natuͤrliches und in ein ſo ge-
nanntes poſitives Recht, oder — unnatuͤrli-
ches Recht, um es gerade heraus zu ſagen;
denn die heutige Theorie weiß eigentlich nicht
zu zeigen, wie das poſitive Recht dem natuͤrli-
chen entgegengeſetzt werde, und dennoch auch
wieder in gewiſſem Sinne natuͤrlich bleibt. —
Das Gemeinſchaftliche unter den menſchlichen
Individuen laͤßt ſich von Menſchen, in ſo fern
ſie Menſchen bleiben, nicht ganz ablaͤugnen;
aber da die Kunſt, das Gemeinſchaftliche allent-
halben in dem beſonderen Rechte zu ſchauen und
mit demſelben zu verſchmelzen; da die Kunſt,
in jedem einzelnen Falle nicht bloß zu entſcheiden,
ſondern auch zu vermitteln, oder das Naturrecht,
in allen poſitiven Formen als die Seele derſel-
ben
[177] ben zu behaupten, kurz, die eigentliche richter-
liche Kunſt nur von einzelnen ſchoͤnen Gemuͤ-
thern geuͤbt, doch keinesweges von der Staats-
wiſſenſchaft als erſtes Object aller politiſchen
Erziehung anerkannt wird: ſo glaubt man der
Natur und dem Gemeinſchaftlichen ſeinen Tri-
but zu bezahlen, wenn man ihre Forderungen
in das Buͤndel einer beſonderen Wiſſenſchaft,
in das Naturrecht, zuſammenwirft, wo ſie denn
von muͤßigen Koͤpfen, Jahr aus Jahr ein, in
neue Syſteme zerſchmolzen werden, indeſſen der
praktiſche Juriſt ohne Geiſt und Leben die tod-
ten Schlacken der poſitiven Geſetze abwaͤgt, feilt
und loͤthet, wie es das Beduͤrfniß des Tages
verlangt, und das Streben jedes noch ſo ver-
derbten Gemuͤthes nach einer lebendigen Einheit
oder Idee des Rechtes unbefriedigt bleibt.
Dieſe richterliche Kunſt, die Eine große
Seite des Staatsmannes, welche uns in der er-
ſten Haͤlfte unſrer Unterhaltungen beſchaͤftigen
ſoll, wie in der zweiten die adminiſtrative
Kunſt (die Finanz-Kunſt), wird auf unſern
Rechtsſchulen nicht gelehrt; ihre beiden Elemente
werden zerſtuͤckt und jede von einem ganz ver-
ſchiedenen Lehrſtuhle herabgereicht, waͤhrend die
Erkenntniß der Elemente hier, wie uͤberall, nichts
bedeutet ohne die Kunſt ihrer Verbindung. —
Müllers Elemente. I. [12]
[178]
Bei dieſem ganzen ungluͤcklichen Bemuͤhen liegt
die Vorſtellung zum Grunde, als ob die Kunſt eine
Verderberin der Natur waͤre, als ob Kunſt und
Natur jede fuͤr ſich auf abgeſondertem Boden ſtaͤn-
den und einen Vernichtungskrieg mit einander
fuͤhrten, waͤhrend die erſte Bedingung alles poli-
tiſchen Studiums ſeyn ſollte, zu begreifen, daß
alle Geſetze, die begreiflichſten wie die anſchei-
nend widernatuͤrlichſten, aus dem Schoße der-
ſelben Natur hervorgegangen ſind, die uns Alle
umfaͤngt, d. h. daß alle Geſetze bloß dadurch in
Widerſpruch mit der Natur treten, daß man ſie
aus dem allgemeinen Gebiete des buͤrgerlichen
Lebens herausreißen, ihnen fuͤr die Ewigkeit einen
beſtimmten Sprengel abſtecken, und dieſen mit dem
Buchſtaben vermauern will, daß man ſie fixirt,
waͤhrend ſich die Natur bewegt. Wenn man
ein todtes Umhertreiben der Begriffe „Kunſt”
nennen will, ſo muß ſolche Kunſt nothwendig
in ewigem Streite mit der Natur befangen ſeyn,
und ſo muß man, da der Menſch von Zeit zu
Zeit denn doch wieder der Natur nicht entbeh-
ren kann, dieſer ein beſonderes Gebiet abſtecken,
wo der Menſch ſie finden koͤnne, ob er gleich
auch dort wieder nur eine todte Natur antref-
fen wird, weil ihr Weſen ja eben darin beſteht,
daß ſie ſich nicht auf ein abgeſondertes Gebiet
[179] anweiſen laͤßt. Indem nun die richterliche Kunſt,
von der ich geſprochen habe, der Natur ihre un-
endliche Bewegung und das Geſetz derſelben ab-
ſieht, und indem ſie es ſich aneignet, nimmt
ſie das eigentliche Weſen der Natur in ihr gan-
zes Geſchaͤft auf, und bedarf nunmehr keines
weiteren beſondern Naturrechtes.
Dem zu Folge iſt jedes Geſetz eine Idee,
und kann nur in ſeinem Werden, in ſeinem
Wachsthum, in dem Prozeſſe, aus welchem es
erzeugt worden iſt, d. h. in ſeiner natuͤrlichen
Entſtehung, erkannt werden. Der gemißbrauchte
Gemeinplatz, „wo kein Klaͤger iſt, da iſt kein Rich-
ter,” heißt, in die Sprache der hoͤheren Rechts-
lehre uͤberſetzt: „ohne ſtreitende Partheien kein
Richter, ohne entgegengeſetzte Rechte kein Ge-
ſetz, ohne Krieg kein Friede.” Durch den Krieg,
durch entgegengeſetzte Rechte, durch ſtreitende
Partheien — mit andern Worten: durch Wech-
ſel und Bewegung, erhalten die an ſich todten
Begriffe Friede, Geſetz und Richter erſt Reali-
taͤt und Leben.
Alſo giebt es fuͤr jedes einzelne Recht in der
Welt eine doppelte Bedeutung. Jedes Recht iſt
1) Geſetz, in ſo fern man es aus dem
Standpunkte des Richters, 2) iſt es Con-
tract, in ſo fern man es aus dem Stand-
[180] punkte der Partheien betrachtet. Die
Rechte werden nicht bloß eingetheilt in ſolche,
die mehr vom Richter, und in ſolche, die mehr
von dem Vergleiche zweier Partheien herruͤhren,
in Geſetze und Contracte, ſondern jedes Geſetz
muß zu gleicher Zeit als Contract, jeder Con-
tract zu gleicher Zeit als Geſetz angeſchauet wer-
den; das heißt: ſie in Bewegung und als Idee
anſchauen.
Die Idee des Rechtes, welche aller buͤrger-
lichen Geſellſchaft zum Grunde liegt, kann und
muß, damit ſie Idee ſey, auf doppelte Weiſe an-
geſchauet werden: 1) als Grundgeſetz, aus dem
Willen Gottes und ſeiner Repraͤſentanten, der
Geſetzgeber, herruͤhrend, wie die Alten den Ur-
ſprung derſelben gern darſtellten; 2) als Grund-
vertrag, aus dem Streite der irdiſchen Par-
theien hervorgehend, als contrât social, wie die
neuere Rechts-Philoſophie die Entſtehung der
buͤrgerlichen Geſellſchaft darſtellte.
Vor einigen Jahren war man bekanntlich
damit beſchaͤftigt, das Recht und die buͤrgerliche
Verfaſſung durchaus und allein aus ſich ſelbſt
zu begruͤnden und zu conſtruiren. Man ſchnitt
aus dem Gebiete der menſchlichen Angelegen-
heiten die Sphaͤre der rechtlichen Verhaͤltniſſe
heraus, betrachtete dieſe abſolut fuͤr ſich, und
[181] glaubte, mit dem gutgemeinten Geſchaͤfte auch
wirklich zu Stande gekommen zu ſeyn, nachdem
man allen Vertraͤgen einen gemeinſchaftlichen
Urvertrag, und allem Rechte ein allgemeines
Menſchenrecht zum Grunde gelegt hatte. Die
Hiſtorie ſchien dieſer wackern und ſtrengen An-
ſicht der Dinge allenthalben zu widerſprechen; es
ſchien, als habe bloße Gewalt die Staaten ge-
gruͤndet, und dem wilden, boͤſen Stamme ſey
nur bei fortſchreitender Cultur hier und dort ein
juriſtiſches Reis eingeimpft worden.
Wiewohl wir nun dieſer hiſtoriſchen Anſicht
von dem Urſprunge der Staaten keinesweges
das Wort reden wollen, ſo geben wir doch gern
zu, daß kein Staat in Folge eines wirklich ab-
geſchloſſenen contrât social entſtanden ſey. Hoͤchſt
charakteriſtiſch fuͤr unſer ganzes Zeitalter war
es, daß die philoſophiſche Vorausſetzung eines
abſolut rechtlichen Urſprunges mit der groͤßten
Hartnaͤckigkeit gerade von eben Denen durchge-
fochten wurde, welche die hiſtoriſche Ueberzeu-
gung von dem wilden, abſolut unrechtlichen,
wirklichen Urſprunge der Staaten am eifrigſten
naͤhrten, und daß man demnach der politiſchen
Geſchichte ein philoſophiſches Princip aufzwang,
in demſelben Augenblicke, da man feſter als
je einzuſehen glaubte, daß die Geſellſchaft eine
[182] Schoͤpfung des Zwanges, und nichts weiter, ſey.
Ein ſolcher Begriff eines Grundvertrages, der
uͤber der falſchen Vorausſetzung eines vermeint-
lichen Widerſpruches zwiſchen unſern kuͤnſtlichen
Staaten und einem ihnen vorangegangenen na-
tuͤrlichen Zuſtande errichtet wurde, hat mit dem
Grundvertrage, von dem wir ſprechen, durch-
aus nichts zu ſchaffen.
Der Grundvertrag iſt nichts anders als die
Idee des Vertrages ſelbſt: daß nehmlich zu
allem Geſetz und zu aller Einheit, zu allem Ver-
bande, der Conflict zweier Individualitaͤten ge-
hoͤre; kurz, der Gedanke, daß nicht Einer aus
ſich ſelbſt ſein eignes Geſetz oder das Geſetz
Andrer werden koͤnne. — Wer auch im gewoͤhn-
lichen Privatleben, nur fuͤr ſein Haus, oder
fuͤr ſein Herz, eine Regel aufſtellen will; mit
andern Worten, wer einen Gedanken finden will,
der ſein Hausweſen oder die ſtreitenden Kraͤfte
in ſeiner Bruſt zuſammen halten und verbinden
ſoll: der muß zuerſt einen ſolchen Streit zwiſchen
den feindlichen Weſen in ſeinem Hauſe oder
Herzen zu entwickeln wiſſen, damit im Streite
die eigenthuͤmliche Natur der beiden Weſen kund
werde, und nun auf verſtaͤndige Weiſe zwiſchen
ihnen ein Vertrag abgeſchloſſen und vermittelt
werden koͤnne. Dieſer Vertrag iſt nun ein Ge-
[183] ſetz, eine Regel; aber — wohl zu verſtehen! —
nur in ſo fern er in Beziehung auf den Streit,
woraus er entſprungen iſt, betrachtet wird. Der
Streit iſt ſein Fleiſch, und der Vertrag des
Streites Geiſt: ein Geiſt, der beſtaͤndig in dem
Fleiſche wirken muß; dadurch wird er zu einem
lebendigen Vertrage, das Geſetz zu einem leben-
digen Geſetze. —
Alle Geſetze des Staates, welche niederge-
ſchrieben und geſammelt worden, ſind, jedes
einzelne, aus irgend einem Conflict, einer Colli-
ſion zweier ſtreitenden Naturen entſtanden. Zwei
Partheien, jede auf ihre Eigenheit, Freiheit und
Nothwendigkeit pochend, haben ſich einander ge-
genuͤber geſtellt. Jede behauptete ihr Recht; und
ſo mußte, durch die eifrige Fuͤhrung der beiden
Sachen, ein Urtheil, ein Spruch, ein Geſetz,
ein Vertrag, kurz etwas Gegenſeitiges hervor-
gehen; ein Hoͤheres, worin ihre beiden Sachen
begriffen und enthalten waren. Der Richter iſt
eine zu Huͤlfe gerufene dritte Perſon, welche
hier und dort den Streit befoͤrdert, einen Strei-
ter dem andern erklaͤrt, und Beide in den Stand
ſetzt, den Gedanken, die Regel, das Urtheil an-
zuerkennen, worein die beiden ſtreitenden Faͤlle
ſich fuͤgen muͤſſen, wenn ſie beſtehen wollen.
Dieſes Hoͤhere, dieſes Friedenswort in einem
[184] einzelnen Streite, ward niedergeſchrieben, und heißt
Geſetz —: lebendiges Geſetz, in ſo fern
ſich der Leſer ganz in die Lage des Richters,
das heißt in die Gegenwart der beiden ſtreiten-
den Partheien, verſetzt; todtes Geſetz, in ſo
fern er den Buchſtaben des Urtheils treu ab-
ſchreibt, ohne auf die Geſchichte des Urtheils
zu achten; in ſo fern er das Reſultat anmerkt,
ohne zu begreifen, woraus es reſultire; in ſo
fern er zwar das Was? zu ſagen weiß, aber
jenes Wachsthum, jene Entwickelung, welche dem
Menſchen durch die Frage: Wie? klar wird,
nicht achtet.
Alle Geſetzgebungen der Erde ſind aus einem
ſolchen unendlichen Streiten und Sich-Vertra-
gen hervorgegangen; die Geſetze ſelbſt haben oft
wieder unter einander geſtritten, und es hat ein
Vertrag zwiſchen ihnen, ein hoͤheres Geſetz, er-
richtet werden muͤſſen. So giebt es Geſetze
z. B. die uͤber den Adel, welche gar nicht mehr
aus dem Streite von Individuen, ſondern aus
dem Streite ganzer Corporationen hervorgegangen
ſind, und billig Geſetze der Geſetze ge-
nannt werden koͤnnen. Gewiß aber iſt es, daß
ein Geſetz nicht anders zu denken iſt und nichts
bedeutet, als vis-à-vis oder im Gegenſatze
des Streites. Darum iſt das Wort Vertrag
[185] ein ſehr gutes Wort; noch beſſer als Geſetz,
weil der Gedanke des Streites ſchon darin liegt,
und weil es im Grunde bedeutet: Geſetz im
Streite. Weil nun der Vertrag, nehmlich
Friede im Streite, der Grundgedanke aller ein-
zelnen Geſetze iſt, ſo iſt ſehr mit Recht die Idee
des (aber nicht eines) Grundvertrages zur Be-
dingung alles Staatsvereins gemacht worden.
[186]
Siebente Vorleſung.
Wie ſich die Partheien zum Richter, der Contract zum
Geſetze, und die Freiheit zum Rechte verhalte.
Der beruͤhmte Wahlſpruch: suum cuique,
druͤckt das Weſen der Gerechtigkeit vollkommen
aus, wenn man das suum ideenweiſe ver-
ſteht. Meint man damit bloß jenes Aggregat von
Sachen, welches dem menſchlichen Leben ange-
haͤngt wird und ihm nachſchleppt, todtes Eigen-
thum, unempfindlichen Beſitz, ſo kann ſich leicht
die hoͤchſte Ungerechtigkeit hinter jenem Wahl-
ſpruch verſtecken. In einer Staatslehre, wie die
meinige, die den lebendigen, bewegten, in allen
ſeinen Elementen kriegeriſchen (nicht bloß militaͤ-
riſchen) Staat poſtulirt, die demnach innerhalb
einer Nation nur ſolche Einrichtungen gelten
laͤßt, welche den Staat innerlich und aͤußerlich
vertheidigen helfen und lebendig in das leben-
dige Ganze eingreifen, iſt das erſte unter allen
[187] Beſitzſtuͤcken des Buͤrgers die Freiheit, in
dem Sinne, wie ſie heute beſchrieben werden
ſoll: die Freiheit, ſeine Kraft und ſein eigen-
thuͤmliches Weſen geltend zu machen, zu wach-
ſen, ſich zu regen, zu ſtreiten. „Es verſteht
ſich, in den gehoͤrigen Schranken!” hoͤre ich ein-
wenden. Gerade dahin will ich. Und welches
ſind denn dieſe gehoͤrigen Schranken? — „Die
Schranke fuͤr die Freiheit des einzelnen Buͤrgers
iſt nichts anders, als die Freiheit der uͤbrigen
Buͤrger,” wird man mir antworten, und ſehr
mit Recht.
Damit eine Kraft ſich aͤußern und wirken
koͤnne, muß ihr irgend eine andre Kraft entge-
genwirken; Krieg ohne Gegenkrieg, Freiheit ohne
Gegenfreiheit iſt nichts. Warum eifert man ge-
gen Monopole und Privilegien? — Weil Ein-
zelnen Freiheiten zugeſtanden werden, die den
Andern verſagt ſind; weil man Freiheiten aus-
theilt, die eigentlich keine Freiheiten ſind, indem
die Gegenfreiheit der Uebrigen fehlt, welche ja
unbedingt erforderlich iſt, um die Freiheit des
einzelnen Buͤrgers zur Wirkſamkeit und zur Ent-
wickelung zu bringen. — Freiheit ohne Gegen-
freiheit Andrer, kann keine Wirkung hervorbrin-
gen; alſo iſt es eine unproductive, folglich todte
Freiheit, folglich nichts.
[188]
Der Staat im Ganzen ſtrebt, auf ſeine
Nachbar-Staaten die groͤßtmoͤgliche Wirkung zu
thun; alſo bedarf er 1) der hoͤchſten Freiheit
aller Einzelnen, und 2) des hoͤchſten Wetteifers,
des lebhafteſten Streits der Freiheit mit der Frei-
heit. Aus dem unendlichen Streite der Freiheit
mit der Gegenfreiheit erzeugen ſich die beſten
Fabrikate, die beſten Geſetze, und die muthigſten,
gewandteſten, zur Vertheidigung des Ganzen
geſchickteſten Buͤrger; und dies ſind doch die
drei Hauptwirkungen oder Producte, welche der
Staat erzeugen will. Von den Fabrikaten be-
greift es Jeder, der nur Einmal einen fluͤchtigen
Blick in Adam Smith’s Buch oder in irgend
eins von den vielen, der Weiſe des großen Mannes
nachgeſtuͤmperten Syſtemen geworfen hat. Aber
daß auch die beſten Geſetze aus dem lebhafteſten
Streite der Freiheit mit der Gegenfreiheit her-
vorgehen, moͤchte den Meiſten noch nicht ganz
ſo einleuchten.
Je mehr jeder einzelne Anſpruch des Buͤr-
gers die Freiheit hat, gegen einen entgegenge-
ſetzten eben ſo freien Anſpruch eines andern
Buͤrgers ſich geltend zu machen: um ſo mehr
wird das Geſetz, welches dieſe gegenſeitige An-
ſpruͤche reguliren ſoll, ausgeſchliffen und vollen-
det werden. Je lebhafter und je vielſeitiger der
[189] Streit iſt, den die beiden Partheien vor Gericht
fuͤhren; je mehr jede Parthei zum Worte kommt
(das heißt aber nicht etwa: je mehr ihr zu reden
verſtattet iſt, ſondern je weniger die Geſetze ihr
den Mund verſchließen): um ſo gediegener, le-
bendiger und ideenhafter wird der Urtheilsſpruch
ausfallen koͤnnen. Je mehr der Buͤrgerſtand
gegen den Adel, und umgekehrt, der Rentenirer
gegen ſeinen Schuldner, der Eigenthuͤmer gegen
den Pachter, der Kaͤufer gegen den Verkaͤufer,
und umgekehrt, ſtreiten kann; je weniger todte
Geſetze und todte Formen einem oder dem andern
Theile verbieten, den natuͤrlichen Geſichtspunkt
fuͤr ſeine Sache zu veraͤndern, und dieſe lebendige
Sache nach einer todten Geſetzformel zuzuſchnei-
den und zu verdrehen; kurz, je freier und natuͤr-
licher jede der beiden dem Staate gleich-nothwen-
digen Partheien ſich ausſprechen und vor dem
Richter regen kann: um ſo mehr muß das Ge-
ſetz ausgebildet werden, welches zur Regulirung
und Anwendung der beiden ſtreitenden Partheien
beſtimmt iſt. — Je vollſtaͤndiger der Streit, um
ſo vollſtaͤndiger das Geſetz; nennen Sie es einſt-
weilen: Gleichgewicht der beiden Partheien.
Je mehr alſo Staat und Geſetz, in den un-
endlichen Streitigkeiten entgegenſtehender Rechte,
das ſchwaͤchere Recht in Schutz nehmen; je mehr
[190] ſie in der Expoſition dieſer Streitſache ihr Ge-
wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen:
um ſo lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenſeitiger
wird der Streit, um ſo glaͤnzender kann die
Gerechtigkeit triumphiren. Man verſtehe mich
nicht falſch! Das todte, abgeſchloſſene Geſetz und
die ſtarre Prozeßform, ſage ich, heben haͤufig dieſes
Gleichgewicht auf, indem ſie eine oder die andre
Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge
Geſetzform einzuſpannen; das Eigenthuͤmlichſte
der Sache geht in dieſem juriſtiſchen Umgießen
verloren; anſtatt freien Streites und Vertra-
ges zwiſchen dem Lebendigen und dem Lebendigen,
wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen
des Todten gegen das Todte.
Ich liebe das Symbol der Wage in den
Haͤnden der Juſtiz nicht, weil es ein unvollſtaͤn-
diges Bild iſt. In dieſer Manier der Juſtiz er-
ſcheinen alle Rechte wie Sachen, die Juſtiz ſelbſt
wie ein Verſtandeshandwerk, waͤhrend ſie beſtaͤn-
dig die Perſon und das Perſoͤnliche im Auge ha-
ben, und, wie jede Beſchaͤftigung freier und leben-
diger Menſchen, eine Kunſt ſeyn ſollte. — Des-
halb habe ich das Weſen des lebendigen Geſetzes
und der lebendigen Prozeßform neulich darzuſtel-
len geſucht, und von dem Richter verlangt, daß er
allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-
[191] ler erſcheine, d. h. als ein ſolcher, der den Streit
der Partheien belebt, der ſchwaͤcheren ſo viel als
moͤglich beiſpringt, beide Partheien in Freiheit
und Gegenfreiheit heraustreten laͤßt, und auf
dieſe Weiſe die Moͤglichkeit eines Vertrages zwi-
ſchen ihnen herbeifuͤhrt; 2) aber auch, als Ent-
ſcheider. Damit nun iſt nicht ein einziges Geſetz,
nicht eine einzige gerichtliche Form an ſich, und
als ſolche, verdammt: in ihnen ruhet das ſchoͤnſte
Erbtheil der Weisheit unſrer Vaͤter.
Aber es giebt eine freie Unterwerfung unter
jene Erfahrung der Vorfahren, welche die Ge-
ſetze ausdruͤcken, da man nehmlich auch den Er-
fahrungen der Gegenwart ihr Recht giebt, da
der Richter aus freier Betrachtung und Bele-
bung des Streitfalles, der ihm vorgelegt wird,
ſich ein eigenthuͤmliches Geſetz entwickelt, und
zwiſchen dieſem und dem beſtehenden Geſetze ver-
mittelt, d. h. weder fuͤr jeden Fall ein neues Ge-
ſetz macht, noch jeden neuen Fall dem beſtehen-
den Geſetze ſklaviſch und mechaniſch unterwirft,
ſondern auf die von mir beſchriebene Weiſe in
ſeiner Perſon das beſtaͤndig wachſende und fort-
lebende Geſetz darſtellt.
Allerdings gebuͤhrt in dieſer Vergleichung eines
Geſetzes, welches das Reſultat von den Er-
fahrungen der Vergangenheit iſt, mit dem Ge-
[192] ſetze, welches der Richter aus vollſtaͤndiger Er-
waͤgung des ihm vorliegenden Streites ſich bil-
det, allezeit der Vergangenheit der Rang, oder
der Vortritt, aber noch nicht ein unbedingter Vor-
zug vor der Gegenwart. Das Verhaͤltniß der
hypothekariſchen Glaͤubiger (des Geld-Intereſſe)
zum Grundeigenthuͤmer (oder dem Land-Inte-
reſſe) kann durch die Erfahrung eines ganzen
Jahrhunderts in einem beſtimmten Lande reiflich
erwogen, und eine Geſetzgebung darauf errichtet
ſeyn, die der gewoͤhnlichen Lage der Dinge voll-
kommen entſpricht. Auf dieſe Geſetzgebung ſoll
ein ritterſchaftliches Credit-Syſtem, wie unter
andern in mehreren Provinzen des Preußiſchen
Staates, errichtet worden ſeyn. — Jetzt bricht ein
verheerender Krieg aus; der Grundeigenthuͤmer
wird dem Bankerott nahe gebracht; die Regie-
rung kommt ihm durch moratoria zu Huͤlfe, und
in den Provinzen, wo Credit-Syſteme vorhan-
den ſind, fallen die Obligationen im Werthe.
Noch einige andre Umſtaͤnde treten hinzu, um
Verwirrung in das bis dahin ſo wohlgeordnete
und ſo lange beſtandene Verhaͤltniß zwiſchen dem
Grund-Eigenthuͤmer und dem Geld-Eigenthuͤmer
zu bringen. — Denken Sie Sich das Gewuͤhl
von Prozeſſen, welche die Regierung, und groͤß-
ten Theils das Verhaͤltniß des Grund-Eigen-
thuͤ-
[193] thuͤmers zu dem Rentirer zum Gegenſtande ha-
ben. —
Hier iſt offenbar ein Fall, wo der gegenwaͤrtige
Augenblick fuͤr die Ausbildung der Geſetzgebung
gerade ſo wichtig iſt, wie die Erfahrung eines
ganzen vorangegangenen Jahrhunderts. Der Be-
griff von dem Verhaͤltniſſe des hypothekariſchen
Glaͤubigers zu ſeinem Schuldner laͤßt ſich in der
Abſtraction bald auffaſſen; die Grundſaͤtze der
bisherigen Geſetzgebung uͤber dieſen Gegenſtand
laſſen ſich leicht feſthalten. Aber durch welch
eine Welt von ganz neugeſtellten Partheien ſoll
dieſer Begriff, ſollen dieſe Grundſaͤtze hindurch-
gefuͤhrt werden? Eine große Schule fuͤr den
Richter iſt aufgethan: das Verhaͤltniß des Be-
weglichen zum Grundeigenthume kann in der
reichſten, vollſtaͤndigſten Bewegung aufgefaßt wer-
den. —
Den Grundſatz: fiat justitia et pereat
mundus, „entſcheidet nach den alten Regeln,
und laßt den Staat daruͤber zu Grunde gehen,”
anzuwenden, wird niemand einfallen. Was wird
alſo geſchehn? Die Juſtiz-Behoͤrden werden ſich
von den adminiſtrativen Behoͤrden Verhaltungs-
regeln oder neue Geſetze ausbitten und dabei er-
klaͤren, ihre Sache ſey nur, nach den beſtehen-
den Geſetzen zu entſcheiden. Und die admini-
Müllers Elemente. I. [13]
[194] ſtrativen Behoͤrden — ſollen ſie, die einſeitigen
Berichte der einzelnen Partheien und ihrer Wort-
fuͤhrer vernehmend, halb auf Gruͤnde, halb auf
Willkuͤhr geſtuͤtzt, das neue Geſetz, oder das
neuregulirte alte Geſetz anticipiren, indeß dieſes
Geſetz ſich im vielſeitigen, geſchloſſenen Streite
der Partheien allmaͤhlich, aber lebendig, vor der
Seele des Richters haͤtte bilden ſollen? —
„Vor der Seele des Richters! — Wer iſt
denn dieſer Richter?” wendet man mir ſehr mit
Recht ein. Alle jene verſchiedenen Entſcheidun-
gen alſo, die in den zerſtreueten Gerichtshoͤfen
eines Landes abgefaßt werden; alle jene divergen-
ten Anſichten und Intereſſes der Richter, von
denen die meiſten auf ihren Standpunkten das
Intereſſe des Ganzen zu erwaͤgen, oder die oͤko-
nomiſchen, adminiſtrativen Geſichtspunkte fuͤr die
vorliegende Rechtsſache aufzufaſſen voͤllig unfaͤ-
hig ſind — dieſe ſollen gemeinſchaftlich das Ge-
ſetz bilden? — Eine halbrichtige Entſcheidung
des Adminiſtrators, an die ſich alle Richter bin-
den muͤſſen, iſt beſſer und gerechter, als die Er-
nennung eines ganzen Heeres von Richtern zu
Geſetzgebern, unter deren linkiſcher Vermittelung
am Ende alle großen, durch Jahrtauſende be-
waͤhrten Grundſaͤtze des Rechtes abhaͤnden kom-
men. Man leſe nur Burke’s beruͤhmte Be-
[195] ſchreibung von der Compoſition der National-
Verſammlung! Die große Majoritaͤt der Repraͤ-
ſentanten des tiers-état beſtand aus Dorfrich-
tern, Dorfpfarrern und mediciniſchen Quackſal-
bern; aus einem ganzen Heere ſolcher kleinen
vermittelnden, natuͤrlichen Friedensrichtern. Dieſe
hatten ihr ganzes Leben hindurch die Geſetze in
dem gehoͤrigen Detail und Streit ſtudiert; und
was iſt aus der Idee des Rechtes geworden, als
ſie nun die Geſetzgeber ſpielten! —
„Deshalb,” faͤhrt man, ſich mit großer Ein-
ſicht auf die gegenwaͤrtige Lage der Dinge beru-
fend, fort, „muß die adminiſtrative Behoͤrde
von der richterlichen in jedem wohlorganiſirten
Staate abſolut getrennt, und der Richter
einem bloßen reinen Anpaſſen der vorkommenden
Streitfaͤlle auf die beſtehenden Geſetze angewie-
ſen ſeyn. Ihm kommt es nicht zu, weder unter
den Partheien, noch zwiſchen dem beſtehenden
Geſetz und den aus dem neuen intereſſanten
Streitfalle hervorgehenden Geſetze zu vermitteln,
aus dem alten und aus dem neuen Geſetz ein
drittes hoͤheres Geſetz (welches eigentlich nur
das heranwachſende, ſich ausbildende alte Geſetz
iſt) zu erzeugen; ſondern er ſoll nur die ihm
vorgelegte Sache auf der Wage ſeines Verſtan-
des nach den ihm von dem Adminiſtrator uͤber-
[196] gebenen Gewichten oder Geſetzen mit voͤlliger
Unpartheilichkeit oder Neutralitaͤt abwaͤgen, und,
falls etwa die Gewichte nicht mehr paßten, der
adminiſtrativen Behoͤrde davon Anzeige machen,
damit dieſe fuͤr neue, den Umſtaͤnden angemeß-
nere, Sorge trage.” —
„Nicht jeder Buͤrger, nicht jeder Beamte im
Staate kann das Ganze repraͤſentiren; deshalb
muͤſſen die Staatsgeſchaͤfte durch ſtrenge Schran-
ken von einander abgeſondert ſeyn, damit Jeder
fuͤr ſein beſondres Reſſort ſich genuͤgend ausbil-
den koͤnne. — Ferner beſteht ja eben darin die
beſondere Wohlthat beſtimmter und unabaͤnder-
licher Geſetzgebung, daß jedes kommende Ge-
ſchlecht ſich und ſein Handeln nach ihr einrich-
ten, die noͤthigen Cautelen gebrauchen und uͤber-
haupt ſich ſo ſtellen koͤnne, daß ſein ganzes Be-
tragen geſetzlich erfunden werden muͤſſe. Alle
dieſe großen Vortheile verſchwinden, ſobald der
Richter nicht bloß zwiſchen dem Geſetz und ſei-
nen Partheien vermitteln darf, ſondern ſogar
zu dieſer Vermittelung durch ſeine Inſtruction
verpflichtet iſt.” —
Ich gebrauche dieſen geſchickten Einwurf, der
gegen mein bisheriges Unternehmen gemacht wer-
den kann 1) zur Beſeitigung vieler Mißverſtaͤnd-
niſſe, die zwiſchen uns entſtehen koͤnnten, indem
[197] ich von der Weſenheit der Staatskunſt aller
Jahrhunderte rede, und — weil ich der Sprache
meiner Nation und den Formen meines Jahr-
hunderts unterworfen bin — leicht ſo verſtanden
werden koͤnnte, als meinte ich mit den Worten,
die ich ausſpreche, denn doch wieder die mit
jenen Worten verknuͤpften Formen meiner Zeit;
2) zur wahren Erklaͤrung des Weſens der Frei-
heit, und ihres Verhaͤltniſſes zum Geſetz, welche
mir in unſrer heutigen Unterhaltung obliegt. —
Daß die Geſetze in der Zeit, welche wir
leben, nur als Begriffe gelten; daß unſre heu-
tige richterliche Kunſt nur im Zerlegen und Zer-
gliedern jener Begriffe und in einem Anpaſſen
der Geſetzesbegriffe auf Handlungen, die eben-
falls nur begriffsweiſe aufgefaßt ſind, beſteht;
daß ferner der Staat ſelbſt nur ein Convolut
von Rechts- und Finanz- und Krieges-Begriffen
iſt, deren jeder ſich abgeſondert in der Geſtalt
einer abſolut getrennten Behoͤrde darſtellt — gebe
ich nicht bloß zu, ſondern eben gegen dieſe todte
Anſicht der Dinge, da die Wiſſenſchaft nun ein-
mal durch eine beſtaͤndige Oppoſition oder Kritik
ihr Leben beurkunden muß, iſt meine geſammte
Darſtellung des Staates gerichtet. Die in unſern
Staaten eingefuͤhrte ſtrenge Scheidung der ver-
ſchiedenen Behoͤrden, das Geſetz der Theilung
[198] der Staatsarbeit an und fuͤr ſich, iſt freilich der
augenblicklichen Ordnung guͤnſtig; aber der Ver-
band des Ganzen, die Bedingung aller Gerech-
tigkeit und alles Reichthums gehen durch dieſe
abſolute Theilung verloren. Wie er verloren
gehe, zeige ſich, habe ich fruͤher geſagt, wenn
ſolche in ihrem Innern wohl geordnete Staaten
in einen Krieg gerathen. Im Kriege ſolle ſich nun
zeigen, daß ſie ein Ganzes ſeyen, denn als ein
ſolches ſollen ſie ſich ja ihrem Feinde gegenuͤber
ſtellen, und da werde denn klar, wie die nach
dem Begriff geordneten Behoͤrden, Inſtitute und
Armeen einen nicht geringen Antheil an ihrem
Ungluͤcke haben, wenn keins dem Ganzen, ſon-
dern nur einem Theile vom Begriffe des Gan-
zen, diene. —
Mehreren Staaten und Laͤndern, die in unſern
Zeiten einen ſo ſchmerzlichen Gluͤckswechſel erfah-
ren haben, hat nichts gefehlt, als dieſer Ver-
band, dieſes unſichtbare kraͤftige und republikani-
ſche Ineinandergreifen aller Elemente, welches
man fuͤhlt, wenn man ſich der Vorfahren oder
der antiken Staaten erinnert, und in dieſer Be-
trachtung die Nahmen Gott oder Vaterland
ausſprechen will; — damit hat ihnen aber alles
gefehlt. Dieſen Verband herzuſtellen — iſt die
allgemeine Forderung der ganzen gegenwaͤrtigen
[199] Generation; den meint ſie, wenn ſie in allen
ihren unendlichen Leiden, mit dumpfer, unbe-
ſtimmter, und doch ahndungsvoller Sehnſucht,
den Frieden herbeiruft. — Dieſen Verband,
das Eine was noth iſt, ſoll ich zeigen, deutlich,
in weltlichen Argumenten, damit der Verſtand
durch den Verſtand uͤberzeugt und uͤberwunden
werde; ich ſoll zeigen, daß alle kuͤnſtlichen For-
men und Inſtitute des Staates, ſobald jener
Verband, jener lebendige Zuſammenhang, jene
Bewegung ſie durchdringe, vortrefflich beſtehen
koͤnnen, ſo wie ſie ſind; daß ſie indeß, ohne dieſe
Bewegung, welche ſie einſt durch eine allgegen-
waͤrtige Religion erhielten, nichts ſind, als ſtarre
Uhrwerke, beſtimmt den Gang der Zeit und die
Vergaͤnglichkeit aller irdiſchen Dinge einfoͤrmig
anzuzeigen; nicht Tummelplaͤtze eines freien und
uͤppigen Lebens, nicht Wohnſitze der Gerechtig-
keit oder des Reichthums. Wie kann ich alſo
eine abgeſonderte Form der Juſtiz dulden, die
an dem National-Leben nicht Theil nimmt, die,
unbekuͤmmert um die Schickſale des Staates, um
deſſentwillen ſie da iſt, durch allen Wechſel
und Wandel, auf ſich ſelbſt gerichtet, fortſchrei-
tet, die ſich ſpitzt, und ſchaͤrft, und ſchleift und
bildet auf ihre eigne Hand!
Nein! kein Privatverhaͤltniß des Lebens, alſo
[200] auch kein Privatrecht des Menſchen, kann aus-
genommen werden von jenem bewegten kriegeri-
ſchen Geiſte, der das Ganze ergreifen ſoll. Es
iſt nicht die Rede davon, ein einziges Geſetz,
eine einzige Form abzuſchaffen; nur den Sinn
zu aͤndern, in welchem ſie alle gebraucht wer-
den, darauf kommt es an. — Wenn ich alſo
ſage: der lebhafteſte und vielſeitigſte Streit der
Partheien, welcher den Richter zur Vermitte-
lung noͤthige, ferner der lebhafteſte, vielſeitigſte
Streit des neuen Geſetzes, das ſich dem Richter
aufzudringen ſcheint, mit dem alten Geſetze,
wodurch der Richter zur Erzeugung eines hoͤhe-
ren, das alte und neue Geſetz umfaſſenden, Ge-
ſetzes genoͤthigt werde, — das ſey das Element
der wahren Gerechtigkeit; in ſolchem Streite
werde beides geſchont, die Freiheit und das
Geſetz: ſo gilt dies ewig, paßt auf jeden Rich-
ter und auf jede Staatsform. Der letzte Rich-
ter eures Landes ſoll nicht das Ganze an ſich,
ſondern den Willen und das Streben des Ganzen
repraͤſentiren; er ſoll im Kleinen und in ſeinem
engen Geſichtskreiſe vollſtaͤndig daſtehen, wie
der Suveraͤn in ſeinem großen, weiten, zwi-
ſchen den Forderungen der Vorfahren und zwi-
ſchen den Beduͤrfniſſen der Zeitgenoſſen, zwi-
ſchen Geſetz und Streitfall, beide lebendig ver-
[201] mittelnd, nicht todt vergleichend und abmeſſend.
Wozu ſind eure Inſtanzen, als um, wenn falſch
vermittelt worden iſt, zu verbeſſern? Iſt denn
die Juſtiz nur dazu da, jedem ſein Buͤndel
armſeliges Eigenthum zu conſerviren, ihm durch
Entſcheidung zuzuſprechen, was ihm zukomme?
oder nicht vielmehr ihm durch beſtaͤndige Ver-
mittelung zwiſchen dem allgemeinen Recht und
ſeinem beſondern Recht, auch in dem Gefuͤhle
des Eigenthums aller Eigenthume, nehmlich ſei-
ner Freiheit, d. h., nach meiner obigen Erklaͤ-
rung, im Bewußtſeyn ſeines Agirens und Rea-
girens auf alle Einzelne, oder auf das Ganze,
zu erhalten? — Das iſt die Idee der Ge-
rechtigkeit; das iſt der Begriff der Ge-
rechtigkeit.
Die Idee der Gerechtigkeit bindet das Eigen-
thum an mich ſelbſt, an meine Perſon; indem
derſelbe Verband, der mich unaufhoͤrlich an den
Staat knuͤpft, zugleich alles mein Eigenthum
mit mir ſelbſt verbindet. — Der Begriff der
Gerechtigkeit knuͤpft mein Eigenthum zwar an
mich, und mit einem Bande, welches ich ſelbſt
wirken koͤnnte, wenn ich die Geſetze und die lan-
desuͤblichen Formen gehoͤrig begriffen haͤtte;
aber da mein Band mit dem Staate, mit dem
allgemeinen Gerechtigkeits-Garant, wieder ein
[202] beſonderes iſt, ſo kann dieſes zerreißen, waͤhrend
jenes ganz bleibt, und mir gegen das zerhauende
Schwert des feindlichen Siegers nun auch nichts
hilft. Die Idee der Gerechtigkeit ſpricht: er-
halte beides zugleich, den Staat, das allgemeine
Tribunal der Gerechtigkeit, und die kleinen Tri-
bunale des Privatrechtes; oder du erhaͤltſt keins!
Stuͤrzt das Pantheon; ſo werden die kleinen dar-
in aufgerichteten Kapellen nicht widerſtehen. —
Aus dem unendlichen Streite der Freiheit mit
der Gegenfreiheit erzeugen ſich nicht bloß die be-
ſten Fabrikate, ſondern auch die beſten Geſetze;
und das iſt es, was ich zu beweiſen hatte und
bewieſen habe.
In einem Staate, der frei genannt werden
will, muß in allen Geſetzen die Spur jenes
Streites zu finden ſeyn; man muß es den Ge-
ſetzen anſehen, daß ſie aus der Gegenſeitigkeit
aller Verhaͤltniſſe, d. h. aus der Bewegung,
nicht aus todter, einſeitiger, wenn auch noch ſo
verſtaͤndiger und conſequenter Willkuͤhr, entſprun-
gen ſind; das Recht muß allenthalben — ſo
druͤckte ich es neulich aus — erſcheinen 1) als Ge-
ſetz, und 2) als Contract, als Vergleich: als
Reſultat einer Vermittelung zwiſchen zwei noth-
wendigen und unvermeidlichen Extremen. Dem-
nach, als vor zwanzig Jahren gegen den Druck
[203] ſtarrer Begriffe von Staat, Geſetz, Adel, Su-
veraͤnetaͤt u. ſ. f. (welche nicht an ſich, ſondern
weil der Geiſt des Lebens, die Idee Gottes oder
des Rechtes aus ihnen gewichen war, druͤckten)
Rath geſchafft werden ſollte, rief man mit der-
ſelben dumpfen und unbeſtimmten Sehnſucht,
womit man jetzt, wie ich oben geſagt habe, nach
Frieden ruft, nach Freiheit. Man ahndete
ſehr richtig, daß es nur Freiheit geben koͤnne,
in ſo fern die Gegenſeitigkeit, oder die Con-
tracts-Natur aller politiſchen Verhaͤltniſſe des
Lebens ſich erweiſen laſſe. Die Natur des Su-
veraͤnetaͤts-Contractes fing an, alle Koͤpfe und
alle Federn zu beſchaͤftigen. Wenn Er nicht
erfuͤllt, was er, in ſo fern er Koͤnig iſt, uns
verſprochen haben muß, da alles in der Welt
gegenſeitig iſt, und alſo auch das Verhaͤltniß
„Herrſchaft und Unterthaͤnigkeit” ein gegenſei-
tiges ſeyn muß; ſo brauchen auch wir nicht zu
erfuͤllen, was wir ihm verſprochen und geſchwo-
ren haben: — dies wurde die Grundformel bei
den Entwuͤrfen und den Rechtfertigungen aller
Graͤuel in jener Zeit. —
Anſtatt die Idee des Vertrages, wie ich ſie
beſchrieben, in allen den unendlichen politiſchen
Verhaͤltniſſen wieder zu finden und zu beleben
(was die Seele aller Freiheit iſt), hielt ſich der
[204] ſchwerfaͤllige, ungefluͤgelte Verſtand jener Zeiten
ſogleich wieder an einen beſtimmten, fixen Be-
griff eines Vertrages zwiſchen fixen und todten
und voͤllig disparaten Partheien, Volk und
Suveraͤn.
Auf die Frage: „was iſt das Volk?” ant-
worteten ſie: das Buͤndel ephemerer Weſen
mit Koͤpfen, zwei Haͤnden und zwei Fuͤßen,
welches in dieſem Einen, gegenwaͤrtigen, armſeli-
gen Augenblick auf der Erdflaͤche, die man Frank-
reich nennt, mit allen aͤußeren Symptomen des
Lebens neben einander ſteht, ſitzt, liegt; — an-
ſtatt zu antworten: „ein Volk iſt die erha-
bene Gemeinſchaft einer langen Reihe von ver-
gangenen, jetzt lebenden und noch kommenden
Geſchlechtern, die alle in einem großen innigen
Verbande zu Leben und Tod zuſammenhangen,
von denen jedes einzelne, und in jedem einzel-
nen Geſchlechte wieder jedes einzelne menſchliche
Individuum, den gemeinſamen Bund verbuͤrgt,
und mit ſeiner geſammten Exiſtenz wieder von
ihm verbuͤrgt wird; welche ſchoͤne und unſterb-
liche Gemeinſchaft ſich den Augen und den Sin-
nen darſtellt in gemeinſchaftlicher Sprache, in ge-
meinſchaftlichen Sitten und Geſetzen, in tau-
ſend ſegensreichen Inſtituten, in vielen zu noch
beſonderer Verknotung, ja Verkettung der Zeiten
[205] beſonders ausgezeichneten, lange bluͤhenden Fa-
milien, endlich in der Einen unſterblichen Familie,
welche in der Mitte des Staates ſteht, in der
Regenten-Familie, und, damit wir noch beſſer
den rechten Mittelpunkt des Ganzen treffen, in
dem zeitigen Majorats-Herrn dieſer Familie. —
Auf die Frage: „was iſt der Suveraͤn?”
antworteten jene ungluͤcklichen Apoſtel der
Freiheit: „wer anders, als eben Der, welcher in
der Mitte ſteht und die Gewalt in Haͤnden zu
haben ſcheint, in der Geſtalt, in der Farbe, in
dem Kleide, worin er eben jetzt, in dieſer Stunde,
erfunden wird;” anſtatt zu antworten: „der
Suveraͤn iſt nichts anders, als eben die Idee
jenes großen Bundes, welchen das Volk aus-
druͤckt, und bis in ſeinem letzten, kleinſten Ele-
mente allgegenwaͤrtig traͤgt; jene ſtrebende, draͤn-
gende Gewalt aller Glieder des Volkes und aller
vergangenen und kommenden Geſchlechter nach
dem Mittelpunkte, nach einer immer innigeren
Verbindung hin, die alle einzelnen ſtreitenden
Kraͤfte verſoͤhnt; jenes unaufhoͤrliche Siegen
einer großen Grundgewalt, wie des Erdkoͤrpers,
einer Centripetal-Kraft, uͤber unendliche einzelne,
aus einander ſtrebende Centrifugal-Kraͤfte, wel-
ches alles ſich wieder darſtellt in der vermitteln-
den Gewalt des Hausvaters uͤber ſeine Familie,
[206] des Richters uͤber ſeine Partheien, des Biſchofs
uͤber ſeine Gemeine, des Feldherrn uͤber ſein
Heer, des Fuͤrſten uͤber die eben verſammelten,
bald voruͤbergehenden Glieder des ewigen Vol-
kes, des Geſetzes uͤber anſcheinend ganz verſchie-
denartige Geſchlechter.
Indem nun alle dieſe unendlich geſpalteten Ele-
mente des Volkes von unendlichen ſuveraͤnen
Ideen allenthalben mit nie nachlaſſender Gewalt
des ſtaͤrkeren Lebens uͤber das ſchwaͤchere ver-
ſoͤhnt werden, zeigt ſich im Streite zugleich ein
unendliches Vermitteln und Vertragen, welches
nur moͤglich iſt, in ſo fern jedes einzelne Glied
des politiſchen Weltkoͤrpers ſeiner lebendigen Na-
tur treu bleibt, waͤchſt, ſich regt und durch nichts
anderes beſchraͤnkt wird, als durch eben ſo leben-
dige, ſtolze und freie Naturen neben ihm. Der
Grundvertrag iſt demnach nicht etwa ein irgend-
wann oder wo geſchloſſener, ſondern die Idee des
ſich immerfort und an allen Stellen ſchließenden
Vertrages, der in jedem Moment durch die neue
Freiheit, die ſich neben der alten zu regen be-
ginnt, an allen Stellen erneuert und eben da-
durch erhalten wird. Anſtatt dieſer lebendigen
Idee des Vertrages aller Vertraͤge, ward von
den Apoſteln des contrât social und des com-
mon-sense, ein beſtimmter Contract zwiſchen
[207] jener ephemeren Geſtalt des Volkes und des Su-
veraͤns praͤſumirt, dem zu Folge der Umkreis des
Staates ſein Centrum etwa ſo angeredet haben
ſollte: „ich will um dich herlaufen, Mittelpunkt,
wenn du im Mittelpunkte bleiben willſt; bleibſt
du nicht im Mittelpunkte, ſo laufe ich wo an-
ders hin, und habe das Recht zu laufen.” —
Aus dem Privatrechte von dem erſten beſten
Pacht-Contracte her, nahm man dieſen Begriff
des Contractes. Die einfache Natur aller Gegen-
ſeitigkeit, die ein Kind begreift, war aus dem
Pacht-Contracte ſehr bald in den Social-Con-
tract uͤbergetragen; aber die Natur der beiden ſtrei-
tenden und contrahirenden Partheien, und der
Streit dieſer politiſchen Centripetal- und Centri-
fugal-Kraft ward vollſtaͤndig verfehlt: das rund
fuͤr ſich abgeſchloſſene Privatrecht konnte wohl
mit dem Begriffe des Contractes aufwarten; aber
wo ſollte es, von den großen Rechtsverhaͤltniſ-
ſen im Staate durch ſeine eigne, unpaſſende
Genuͤgſamkeit ausgeſchloſſen, die Idee des Con-
tractes hernehmen? eine Idee, die ſich gleich-le-
bendig bewaͤhrt haͤtte, man mochte ſie nun auf
einen ordinaͤren Pacht-, oder auf den ewigen
Social-Contract anwenden. Zu entſcheiden
zwiſchen Volk und Suveraͤn, und, dem zu Folge,
den Suveraͤn abzuſetzen, hatte der Richter in
[208] ſeiner Privat-Rechtsſchule wohl gelernt; aber
die Kunſt des Vermittelns zwiſchen den bei-
den gleich- ewigen, gleich- nothwendigen Par-
theien fehlte ihm. — Er hatte nicht eigentlich
die beiden Partheien lebendig und perſoͤnlich vor
ſich, ſondern die Sachen und ihre Anwendung
auf eine praͤſumirte Sache, ein praͤſumirtes
Grundgeſetz, welches erſt conſtruirt werden muß-
te, damit der Privat-Richter ſich in die neuen
koloſſalen Rechtsverhaͤltniſſe uͤberhaupt nur fin-
den konnte.
So trat nun in Frankreich an die Stelle
unzaͤhliger Begriffe ein allgemeiner Grundbegriff,
die Freiheit, der alle die kleinen zerſchmetterte,
aber nicht lange den Schein von Leben, mit wel-
chem er zuerſt auftrat, bewahren konnte, ſon-
dern im Laufe der Zeiten vor einer Macht mit
Einſicht gepaart, um ſo gewiſſer verſchwinden
mußte. —
Die Freiheit kann in keiner andern Geſtalt
wuͤrdiger und paſſender dargeſtellt werden, als
in der ich ſie gezeigt habe: ſie iſt die Erzeuge-
rin, die Mutter des Geſetzes. In dem tau-
ſendfaͤltigen Streite der Freiheit des Einen Buͤr-
gers mit der Gegenfreiheit aller uͤbrigen entwik-
kelt ſich das Geſetz; in dem Streite des beſte-
henden Geſetzes, worin ſich die Freiheit der ver-
gan-
[209] gangenen Generation offenbart, mit der Freiheit
der gegenwaͤrtigen, reinigt ſich und waͤchſt die
Idee des Geſetzes. Die Idee der Freiheit iſt
die große, nie nachlaſſende Centrifugal-Kraft
der buͤrgerlichen Geſellſchaft, wodurch die andre
ihr ewig entgegen ſtrebende Centripetal-Kraft
derſelben, nehmlich die Idee des Rechtes, erſt
wirkſam wird.
Jedermann fuͤhlt, wie dieſe im Innern des
Menſchen nie ſchweigende Begierde ſeine Eigen-
heit zu behaupten, ſich, ſeine Anſicht, ſeine
Handlungsweiſe, ſeinen Gang, ſeine ganze Le-
bensform bei den Uebrigen geltend zu machen, —
in dem beſtaͤndigen Agiren und Reagiren auf
das aͤhnliche Streben aller Uebrigen nun eine
lebendige Ordnung erzeugen hilft. Je verſchie-
denartiger und mannichfaltiger aber die Naturen
ſind, welche dieſes Streben, ihre Eigenheit gel-
tend zu machen, aͤußern, um ſo weniger wird
ein Begriff des Geſetzes hinreichen, zwiſchen
ihnen Ordnung, oder, was daſſelbe ſagen will,
gleichmaͤßiges Wachsthum zu bewirken; je ver-
ſchiedenartiger die Geſtalten der Freiheit ſind,
um ſo vielſeitiger wird der Streit mit der Ge-
genfreiheit ſeyn, um ſo lebendiger das Geſetz
und die Ordnung, die ſich daraus entwickeln
wird. Der Staat verſtatte dem Menſchen, das
Müllers Elemente. I. [14]
[210] zu ſeyn und ohne Ende immer mehr zu werden,
was er, ſeiner eigenthuͤmlichen Natur und ſei-
nem individuellen Wachsthum nach, ſeyn kann:
ſo giebt er, mit Einer und derſelben Handlung,
dem Volke Freiheit, dem Geſetze Leben und
Kraft. —
Die Freiheit aber iſt eine Eigenſchaft, welche
jedem einzelnen von den vielfaͤltigen Beſtand-
theilen des Staates zukommen muß, nicht bloß
den phyſiſchen, ſondern auch den moraliſchen
Perſonen. In Großbrittanien wird es beſon-
ders klar, wie jedes Geſetz, jeder Stand, jedes
National-Inſtitut, jedes Intereſſe, jedes Ge-
werbe ſeine eigenthuͤmliche Freiheit, und wie
jede von dieſen moraliſchen Perſonen, eben ſo
gut wie die einzelnen menſchlichen Individuen,
auch jenes Streben hat, ſeine Eigenheit geltend
zu machen. Es iſt eben dort ein allgemeiner
Geiſt des politiſchen Lebens in alle Beſtandtheile
des Staates gefahren; und da die Geſetze ſelbſt,
freie, vom Geiſte des Ganzen beſeelte Perſonen
ſind, ſo hat der Buͤrger allenthalben, wo er
hinblickt, Seinesgleichen vor ſich, ſo ſind alle
Beſtandtheile des Staates unaufhoͤrliche Gegen-
ſtaͤnde ſeiner Oppoſition und ſeiner Liebe.
Bin ich ſelbſt frei, ſagt der Ahnherr, ſo iſt
auch Das frei, was zu mir gehoͤrt, nicht bloß
[211] mein Hausrath und die Gauen und die Burg,
auf denen ich hauſe, ſondern auch meine Thaten
mit ihren Wirkungen, und meine Worte, mein
Geſetz, das ich den Enkeln hinterlaſſe. So per-
ſoͤnlich wie ein freies Wort eines freien Mannes,
ſollen die Geſetze, unter allen unendlichen, freien
Geſpraͤchen der Gegenwaͤrtigen, vernommen wer-
den. Der gleichmaͤßige Streit ihrer Freiheit mit
der Freiheit der gegenwaͤrtigen Generation, ſoll
der Idee des Rechtes zu neuer Anfriſchung und
Belebung gereichen; alle Jahrhunderte ſollen
freie Repraͤſentanten herabſenden duͤrfen in die
Volksverſammlung, die wir heutigen Menſchen
bilden, und die Geſetze, alle Spuren der Vorzeit,
ſollen von uns als ſolche lebendige Repraͤſentan-
ten Derer, die ſelbſt nicht kommen koͤnnen, weil
ſie ſchon in ihren Graͤbern ruhen, anerkannt
und reſpectirt werden. —
Demnach, ſobald die Freiheit bloß als die
Eigenſchaft einzelner Beſtandtheile des Staates,
z. B. der kleinen Maͤnner, die gerade jetzt auf
der Buͤhne ſtehen, anerkannt wird; ſobald man
ſie nicht eben ſo wohl allen andern nothwendigen
Elementen des Staates zuſpricht; ſobald man,
wie es in Frankreich geſchah, ein, von aller der
Eigenheit, in deren Behauptung ſich eben die
Freiheit aͤußert, entkleidetes Weſen, ein Abſtrac-
[212] tum, einen Begriff „Menſch” frei erklaͤrt: ſo
iſt die Freiheit ſelbſt ein Begriff, und kann keine
andre Kraft begehren, als die der bloßen Maſſe;
ſie kann wie ein großer Fels andre kleinere Fel-
ſen zerſchmettern, iſt aber in dem allgemeinen
Ruin eben auch nichts mehr als Truͤmmer. —
Nichts kann der Freiheit, wie ich ſie beſchrie-
ben habe, und wie ſie nicht bloß mit dem Ge-
ſetze beſteht, ſondern vom Geſetze erzeugt und
getragen wird, und dafuͤr wieder das Geſetz
erzeugt und traͤgt, mehr widerſprechen, als
der Begriff einer aͤußeren Gleichheit. Wenn
die Freiheit nichts anders als das allgemeine
Streben der verſchiedenartigſten Naturen nach
Wachsthum und Leben iſt, ſo kann man kei-
nen groͤßeren Widerſpruch ausdenken, als indem
man, mit Einfuͤhrung der Freiheit zugleich, die
ganze Eigenthuͤmlichkeit, d. h. Verſchiedenartig-
keit, dieſer Naturen aufhebt. Indeß war auch
von meiner Freiheit in Frankreich nicht die
Rede; das Weſentliche, was jene engherzigen
Schwaͤrmer meinten, ihre Freiheit und ihre
Gleichheit, wurde realiſirt; denn der Begriff
der Freiheit, da er die Freiheit herausreißt aus
jener unendlichen Reaction mit der Gegenfrei-
heit unter allen moͤglichen Formen, da er die
Freiheit an ſich begehrt, meint er und erhebt
[213] er die Willkuͤhr. Ferner der Begriff der Gleich-
heit, da man eine aͤußere Gleichheit meint, und
alle aͤußere Verſchiedenheit, worin ſich eben die
innere Gleichheit als Idee bewaͤhren ſoll, aus-
geloͤſcht wird, verfehlt ſeinen Zweck nicht: alle
dieſe gerupften, der ganzen, ſtolzen, eigenthuͤm-
lichen Bekleidung ihres Lebens beraubten, Crea-
turen gleichen einander an Ohnmacht und ſklavi-
ſcher Geſinnung. So hat ſich eine vermeinte
Freiheit, mit ihrem Gefolge, der Gleichheit, in
dem revolutionirten Frankreich charakteriſirt.
Daß Einzelne frei ſind und ihnen die Be-
hauptung ihrer Eigenthuͤmlichkeit freigeſtellt bleibt,
waͤhrend Andre die Form ihres Lebens und
Handelns von fremder Willkuͤhr hernehmen muͤſ-
ſen: das hat die Welt gegen Privilegien, Exem-
tionen und Monopolien aller Art erbittert.
Wohlan! wenn die Freiheit alſo uͤberhaupt
wieder hergeſtellt werden ſoll, ſo muß ſie all-
gemein wieder hergeſtellt werden, jede einzelne
Natur, die zum Ganzen des Staates gehoͤrt,
muß ſich auf ihre Weiſe regen, ſtreiten und ver-
theidigen koͤnnen; denn, waͤre auch nur eine ein-
zige ausgenommen, ſo koͤnnte ſie ſich uͤber ein
Privilegium, das allen uͤbrigen zuſtaͤnde, und
uͤber Unterdruͤckung beklagen. Wer ſind alſo dieſe
einzelnen Naturen, damit wir keine uͤberſehen,
[214] und dadurch ſelbſt wieder das Werk unſrer Be-
freiung zunicht machen? — Herzaͤhlen koͤnnen
wir ſie nicht, und die Zeitgenoſſen werden ſich
wahrſcheinlich ſchon von ſelbſt melden.
Aber an die Abweſenden, an die Raumge-
noſſen, an die vergangenen und kommenden Ge-
nerationen, die der Leichtſinn der Gegenwart
am allererſten uͤberſehen koͤnnte, an ſie, deren
Intereſſe in der Feſſel des Begriffes liegt, deren
Worte man wie kalte Verſtandesformeln, deren
hinterlaſſene Werke man als todtes Eigenthum
betrachtet, muß erinnert werden. Geſteht Ihr
ihnen nicht die Freiheit und das Leben zu, wel-
ches ihnen, der Natur der Sache nach, zu-
kommt; privilegirt Ihr die gegenwaͤrtige Gene-
ration mit Freiheit vor allen vergangenen und
kommenden Geſchlechtern: ſo habt Ihr einen
neuen Begriff fuͤr den alten, eine neue Tyran-
nei fuͤr die alte errichtet, und das kommende
Geſchlecht wird Eure Freiheit eben ſo wenig re-
ſpectiren, wenn Ihr dereinſt abweſend ſeid, als
Ihr die Freiheit Eurer abweſenden Vaͤter geach-
tet habt. —
So liegt in dem ſtolzen Gefuͤhl eigener Frei-
heit, wofern es nur conſequent iſt und ſich wahr-
haft zu behaupten ſtrebt, zugleich eine tiefe De-
muth, eine liebevolle Hingebung an das Ganze,
[215] eine Gerechtigkeit, ſowohl gegen die auf die
Fuͤlle ihrer Kraft und auf die Gewalt des Augen-
blickes pochende Gegenwart, als gegen die abwe-
ſende Generation. Der wahre Ruf der Freiheit
muß die Todten erwecken, und die kuͤnftigen Ge-
ſchlechter muͤſſen ſich, wenn er erſchallt, in ihren
dunkelſten Keimen regen. — Dies war ein Ton,
den die wuͤrdigen Alten kannten: ſie empfanden
tief, daß mit dieſer Freiheit alles von der Erde
entweiche, Gerechtigkeit, Geſetz, Kraft, Reich-
thum und Lebensmuth. Die Idee der Freiheit,
das iſt der kriegeriſche Geiſt, der den Staat
bis in ſeinen letzten Nerven durchdringt, das iſt
das Eiſen, welches in jedem ſeiner Blutstropfen
fließen ſoll: dadurch, daß jeder Einzelne durch
und durch ſeine Eigenheit vertheidigt und bewaff-
net, lernt er die wahren lebendigen wachſenden
Schranken kennen, die ſeiner Wirkſamkeit ange-
wieſen ſind, und jenſeits dieſer Schranken, den
eben ſo freien ſtreitluſtigen gewaffneten Nachbar
achten, lieben und ihm vertrauen. Der Staat
iſt Tempel der Gerechtigkeit, und eine Burg zu-
gleich: templum in modum arcis.
[216]
Achte Vorleſung.
Vom ſtrengen Privat-Eigenthum, und vom (weiblichen)
Lehns-Eigenthum.
Da ich in unſrer letzten Unterhaltung gezeigt
habe, daß die lebendige Freiheit unzertrennlich
iſt von dem lebendigen Geſetz, und daß das Ge-
ſetz keine andre Quelle hat, als den Streit der
Freiheit mit der Gegenfreiheit; daß nur unter
verſchiedenartigen Naturen, und in ſo fern ſich
dieſelben in ihrer Verſchiedenartigkeit behaup-
ten, ein nie nachlaſſendes Streben nach Verei-
nigung, Vermittelung oder Vergleich, alſo ein
lebendiges, wachſendes Geſetz Statt finden kann,
und daß alſo das wahre Geſetz zugleich Con-
tract ſeyn muß —: ſo haben wir jetzt zu zei-
gen, daß dieſe Gegenſeitigkeit der Verhaͤltniſſe
des Lebens, ſo fern man ſich nur uͤber den aͤuße-
ren Schein hinwegſetzen will, an allen Stellen
des Privat-, des Staats- und des Voͤlker-
Rechtes wieder gefunden wird. —
[217]
Die ganze Lehre vom Eigenthume ſcheint
meiner Behauptung zu widerſprechen. „Wie
koͤnnen,” fragt man mich, „Sachen im Ver-
haͤltniß der Gegenſeitigkeit zum Menſchen ſte-
hen? Wie kann ferner ein freier Streit und, dem
zu Folge, ein Vergleich, ein Contract, zwiſchen
einem lebendigen Menſchen und einer todten Sache
Statt finden? Zwiſchen Menſchen und Menſchen
iſt allerdings ein unaufhoͤrliches Agiren und Rea-
giren, alſo ein lebendiger unaufhoͤrlicher Con-
tract, gedenkbar; aber die Sachen muͤſſen, in ſo
fern nur jene perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe zu den
Nebenmenſchen geſchont werden, dem unbeding-
ten Schalten und Walten des Menſchen uͤber-
laſſen bleiben; der Gebrauch der Sachen — die
wenigen Faͤlle ausgenommen, wo der Staat zur
Abwendung allgemeiner Gefahr oder zu Errei-
chung eines gemeinnuͤtzigen Zweckes ihn beſchraͤn-
ken muß — liegt uͤbrigens außerhalb des Geſetzes,
und der ziemlich unbedingte Despotismus des
Menſchen uͤber ſein Eigenthum iſt, den gemei-
nen Anſichten nach, die Hauptaͤußerung ſeiner
ſogenannten Freiheit. Der Menſch, heißt es
ferner, iſt in ſeinen Verhaͤltniſſen zu Perſonen
freilich unaufhoͤrlich beſchraͤnkt: er kann nicht,
wie er gern moͤchte; er muß ſich fuͤgen; muß
den Menſchen unaufhoͤrlich ſchonen, weil er Sei-
[218] nesgleichen iſt: fuͤr dieſen Druck aber, den er
in allen perſoͤnlichen Verhaͤltniſſen auszuſtehen
hat, kann er ſich an den unempfindlichen, todten
Sachen ſchadlos halten; hier iſt er meiſten Theils
unbeſchraͤnkt, und Herr uͤber Seyn und Nicht-
ſeyn.
Der Gegenſtand unſerer heutigen Unterhal-
tung iſt die Idee des Eigenthums. — Hier,
oder nirgends, muß ſich die lebendige Anſicht der
Dinge, zu deren Wortfuͤhrer ich mich aufgewor-
fen habe, in ihrer ganzen Groͤße und Unerſchuͤt-
terlichkeit zeigen. Waͤre das Verhaͤltniß des
Menſchen zu ſeinen Beſitzſtuͤcken durchaus und
abſolut verſchieden von dem andern Verhaͤltniſſe
des Menſchen zu Perſonen, und dem Vereine
dieſer Perſonen, den man gewoͤhnlich „Staat”
nennt; gaͤbe es, außer dem Staate von Perſo-
nen, in welchem ein lebendiges Geſetz regiert,
noch einen beſonderen Staat von Sachen, der
einem bloß mechaniſchen Verſtandesgeſetze unter-
worfen waͤre, und von eigenen Richtern nach
einfachen, ſchon ſeit Jahrtauſenden regulirten
Vernunftſchluͤſſen regiert wuͤrde: ſo haͤtten wir
wirklich eine Stelle außerhalb des lebendigen
Staates, von wo aus dieſer, wie die neueren
Zeiten uns uͤberzeugt haben, ewig gefaͤhrdet ſeyn
muͤßte. —
[219]
Es waͤre ein leichtes Geſchaͤft, alle Real-
Verhaͤltniſſe auf die Perſonal-Verhaͤltniſſe zu-
ruͤckzufuͤhren, zu zeigen, daß alles Eigenthum
nicht fuͤr den Menſchen an ſich, aber wohl fuͤr
den Menſchen in der buͤrgerlichen Geſellſchaft,
und um dieſer Geſellſchaft willen, Werth habe;
daß Nahrung, Kleidung, Wohnung denn doch
nur Mittel waͤren, das Verhaͤltniß des Men-
ſchen zum Menſchen, welches der eigentliche
Zweck des Lebens ſey, aufrecht zu erhalten; daß
demnach das Ganze der buͤrgerlichen Geſellſchaft
bei dem Gebrauche der unbedeutendſten Sache
des Einzelnen intereſſirt ſey; daß die Sachen alſo
nichts anders als nothwendige Acceſſorien, ich
moͤchte ſagen, erweiterte Gliedmaßen des menſch-
lichen Koͤrpers ſeyen, und dem zu Folge Das,
was wir „Perſon” nennen, eine kleine Welt
von Sachen. Da nun die Freiheit des Menſchen,
wie wir neulich geſehen haben, nichts anderes
als die Behauptung ſeiner perſoͤnlichen Eigenheit,
ſeiner Verſchiedenartigkeit ſey, und dieſe Eigen-
heit ſich nicht bloß in dem Bau und der Phy-
ſiognomie und der Conſtitution des menſchlichen
Koͤrpers, und in ſeiner Denkungsart, ſondern
eben ſo wohl in ſeiner Art ſich die Dinge an-
zueignen und dieſelben zu gebrauchen, in ſeiner
Kleidung, Nahrung, Wohnung u. ſ. f. offen-
[220] bare, und er viel eher ein Glied ſeines Leibes
als manche Sachen entbehren koͤnne: ſo liege in
der Behauptung der Freiheit ſchon die Behaup-
tung des Eigenthums mit eingeſchloſſen, und ſo
waͤren die Sachen eben ſo wohl wie die uͤbrigen
Glieder des menſchlichen Koͤrpers bei der unend-
lichen Bildung des Geſetzes durch den Streit
der Freiheit mit der Gegenfreiheit thaͤtig und
huͤlfreich; — die Rechtslehre ſey alſo nur eine
Geſchichte der perſoͤnliſchen Verhaͤltniſſe in der
buͤrgerlichen Geſellſchaft, und jenes Geſetz, wel-
ches den Streit der Perſonen im Staate regu-
lire, muͤſſe nothwendig auch die Sachen umfaſ-
ſen, die ja uͤberhaupt nur Werth haͤtten, in ſo
fern ſie Mittel oder, richtiger ausgedruͤckt, Glie-
der, Organe von Perſonen waͤren. —
Dies waͤre allerdings eine gute Manier, die
Sachen, wenigſtens indirecter Weiſe, in den
lebendigen Umkreis der menſchlichen Verhaͤltniſſe
hinein zu ziehen, und zu beweiſen, daß ein blo-
ßer Verſtandesbegriff die Eigenthumsverhaͤltniſſe
des Lebens nicht reguliren koͤnne, da nehmlich
unaufhoͤrlich die perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe mit ih-
nen concurrirten, dieſe aber, wie ſchon hinrei-
chend erklaͤrt worden, nur durch ein eben ſo le-
bendiges, perſoͤnliches Geſetz aufrecht erhalten
werden koͤnnen. —
[221]
Indeß duͤrfen wir uns mit einer ſolchen De-
duction nicht begnuͤgen. Alle unſre Geſetzgebun-
gen ſind durch den Wahn, daß es eine abſolute
Scheidewand zwiſchen den Perſonen und den
Sachen gebe, verderbt worden; die frevelhaf-
teſten Angriffe auf die heiligſten Rechte hat man
in unſern Tagen durch jenen Unterſchied moti-
virt, den man zwiſchen der nackten Perſon und
ihren vermeintlichen reinen Rechten, und der
Sache an ſich hat finden wollen; der perſoͤnliche
Charakter, den ein Familiengut im Laufe der
Jahrhunderte annimmt, und der ſich auch in
dem durch lange Zeit wohl bewirthſchafteten Ca-
pital eines Handlungshauſes nicht verkennen laͤßt,
wurde nicht weiter empfunden. Nach jener ſtren-
gen Verſtandes-Diſtinction, waren Capital und
Familiengut nichts anders, als eben auch todte
Sachen, und ward jene erhabene Verſchmelzung
der Sachen und der Perſonen, die wir in allen
recht gluͤcklichen Staaten finden, unter dem Na-
men des Feudalismus Ein fuͤr alle Mal, als
ein Verbrechen gegen die Vernunft, verabſcheut.
Das wahre lebendige Verhaͤltniß zwiſchen den
Perſonen und den Sachen im Staate zu zeigen,
iſt die ſchwierigſte und wichtigſte Aufgabe, welche
dem Staatsgelehrten vorgelegt werden kann.
Nehmen Sie alſo eine tiefgeſchoͤpfte Darſtellung
[222] dieſer großen Angelegenheit mit Ruhe und Nach-
ſicht auf.
Sie haben Sich meinen Beweis gefallen laſ-
ſen, daß den Geſetzen des Staates, falls uͤber-
haupt vom Rechte die Rede ſeyn ſolle, Leben
zugeſprochen werden, und daß ein todtes Geſetz,
eine mechaniſche todte Anwendung deſſelben, im
Staate nicht Statt finde, weil dieſer ſelbſt als
ein lebendiges Weſen angeſehen werden muͤſſe.
Ein einzelnes Beiſpiel von einer Sache, welcher
Leben und Perſoͤnlichkeit zugeſtanden werden muß,
wenn der Staat damit beſtehen ſoll, haͤtten wir
alſo ſchon beſeitigt: das Geſetz ſelbſt erſcheint
auf den erſten Blick als eine bloße Sache und
der Willkuͤhr lebendiger Menſchen durchaus un-
terworfen; ſobald aber der Menſch bedenkt, daß
die ganze Spur, die er von ſich auf der Erde
zuruͤcklaͤßt, nur in ſolchen Sachen beſteht, ja,
daß ſein ganzes Leben ſich nur in einem Formen
und Umgeſtalten ſolcher Sachen offenbart: ſo
faͤngt er an, erſt die vorhandenen Sachen als
Spuren des ihm vorangegangenen Lebens zu ach-
ten, allmaͤhlich aber die ganze wirthbare und
wohnliche Einrichtung des buͤrgerlichen Lebens,
Geſetze und Eigenthum, als ein Werk der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft zu lieben.
Die Erbauer des Staates ſind ihm gegen-
[223] waͤrtig, wenn er ihr Werk, den Staat, mit
ſeinen Geſetzen, ſeinen Vorraͤthen, Schaͤtzen
und Eigenthumsanordnungen betrachtet; zuletzt
ſieht er in den Geſetzen und in allen urſpruͤng-
lichen Einrichtungen, die ihn bei ſeinem Eintritt
in die buͤrgerliche Geſellſchaft empfangen, nichts
weiter als ſegensreiche Haͤnde großer Vorfahren,
die bis zu ihm heruͤber reichen, ihm beiſtehn,
und ſein kurzes, gebrechliches Daſeyn aufrecht er-
halten. — So werden dem gegenwaͤrtigen Men-
ſchen die Geſetze zu lebendigen, perſoͤnlichen We-
ſen, mit denen er ſich lebendig unterredet und be-
redet, wie mit einem lebendigen Weiſen. Das
Leben eines Geſetzes wird weit mehr reſpectirt,
als das Leben eines wirklichen Menſchen; kurz,
ein Geſetz iſt eine wahre Perſon, und wer es
anders anſieht, verſteht es nicht.
Der Menſch kann ſein Leben in Steinmaſ-
ſen, in oͤkonomiſchen Anlagen und Pflanzungen
eben ſo gut ausdruͤcken, wie in den Buchſtaben
des Teſtamentes, oder des Geſetzes, welches er
hinterlaͤßt. Wenn ich demnach dergleichen Stein-
maſſen, oder Anpflanzungen, ein aͤhnliches Leben
zuſchriebe, wie dem Geſetze, ſo wuͤrden Sie mir
nicht Unrecht geben koͤnnen. Was dieſe Stein-
maſſen an und fuͤr ſich ſind, lebendig oder todt,
geht mich nichts an; uns intereſſirt an ihnen
[224] nichts als ihr Nutzen fuͤr die buͤrgerliche Geſell-
ſchaft. Stehen ſie in Beziehung auf das menſch-
liche Leben? das iſt die Frage. Iſt etwas an
ihnen, das dem menſchlichen Leben entſpricht?
Und was dem Leben entſpricht, das iſt ſelbſt
lebendig. Die Spuren ehemaligen Lebens, fer-
ner der gegenwaͤrtige lebendige Verkehr mit den
Dingen, endlich die Ausſicht, daß dieſe Dinge
kuͤnftig gebraucht werden, d. h. in das leben-
dige Leben eingreifen koͤnnten: das iſt es, was
an den Sachen intereſſirt und ihnen Werth giebt.
Wir lieben, wir achten, wir bezahlen, wir be-
arbeiten, wir verſchenken an den Sachen nur
ihre Nutzbarkeit, ihre Beziehung auf das Leben,
d. h. ihre Perſoͤnlichkeit. — Und dennoch ver-
faͤhrt die Theorie der Jurisprudenz ſo, als waͤre
die Begreifbarkeit der Sachen, und das Her-
ausreißen derſelben aus dem Zuſammenhange
der buͤrgerlichen Geſellſchaft, das Verſchließen
derſelben in Koffer, das Weſen des Eigenthums;
weshalb auch conſequente Juriſten nicht umhin
koͤnnen, alles Privat-Eigenthum fuͤr unrecht-
maͤßig zu erklaͤren.
Alſo nicht die Sachen an ſich, die, wie ſie
uͤberhaupt keinen Werth haben, nun meinethal-
ben auch todt ſeyn moͤgen, aber die Beziehung
der Sachen auf Perſonen iſt das eigentliche Ob-
ject
[225] jekt des Eigenthums. Der lebendige Menſch
kann an den Sachen nichts brauchen, als die
Eigenſchaften daran, welche ſeinem Leben ent-
ſprechen, in ſein Leben eingreifen, alſo ſelbſt
lebendig ſind. Mit dieſen lebendigen Eigenſchaf-
ten ſtreitet er und vertraͤgt ſich, contrahirt mit
ihnen gerade auf dieſelbe Weiſe, wie mit Per-
ſonen: er ſchließt eine Allianz mit ihnen zu ge-
genſeitiger Huͤlfe und Unterſtuͤtzung; und ſo iſt
das Verhaͤltniß des Menſchen zu den Dingen
keinesweges ein einſeitiges, despotiſches, ſondern
ein gegenſeitiges, republicaniſches.
Laſſen Sie uns die Paradoxie dieſes Aus-
ſpruches durch naͤhere Betrachtung beſeitigen.
Je mehr wirkliche Merkmahle des Lebens
die Sachen an ſich tragen, um ſo wichtiger ſind
ſie fuͤr die buͤrgerliche Geſellſchaft. Eins der
erſten unter dieſen Merkmahlen, iſt die Produc-
tivitaͤt. Ein fruchtbarer Acker iſt unter allen
Gegenſtaͤnden des Eigenthums einer der bedeu-
tendſten, weil ſeine Productivitaͤt, unter leichter
menſchlicher Beihuͤlfe, mit der menſchlichen Pro-
ductivitaͤt Schritt haͤlt, weil zwiſchen den Er-
zeugniſſen des Ackers und des Menſchen ein
ununterbrochener, lebendiger Verkehr moͤglich iſt.
Alle Sachen der Welt haben mehr oder weniger
dieſe Productivitaͤt; wenn ſie mit dem Menſchen
Müllers Elemente. I. [15]
[226] in Verbindung treten, vermoͤgen ſie neue Sachen
zu erzeugen. Dieſe Productivitaͤt aͤußert ſich
vornehmlich bei der Sache par excellence, bei
dem Stellvertreter aller Sachen, dem Gelde.
Es wird allgemein angenommen, daß jedes
Geld-Capital im Laufe eines Jahres ſo und ſo
viele Procente erzeugt haben muͤſſe. Jene drei,
vier oder fuͤnf Procent landesuͤblicher Zinſen
werden ſchon im gemeinen Leben fuͤr ein Lebens-
zeichen des Capitals angeſehen; der allgemeine
Sprachgebrauch unterſcheidet todtes Capital und
lebendiges. — Jedes einzelne Beſitzſtuͤck des
Lebens laͤßt ſich als ein ſolches Capital betrachten,
und der fuͤr den Menſchen aus ſolchem Beſitzſtuͤck
im Gebrauch erwachſende Nutzen, als die Zinſen
jenes Capitals. Dieſer, lebendige Zinſen erzeu-
gende, Umgang des Menſchen mit den Sachen
oder mit den Capitalen, iſt das wahre Verhaͤlt-
niß des Menſchen zu den Sachen; und ſo
erſcheint das Eigenthum, wenn es in der Be-
wegung betrachtet wird. Alles zu allem gerech-
net, woruͤber der einzelne Menſch auf dieſer
Erde disponirt, iſt es ein Nießbrauch eines gro-
ßen, der ganzen Menſchheit und allen Genera-
tionen gemeinſchaftlichen Capitals, welches nicht
angetaſtet werden, weder ſoll, noch kann. Wie
die menſchliche Geſellſchaft lebt und waͤchſt, ſo
[227] lebt und waͤchſt auch, in beſtaͤndiger Verbindung
und Wechſelwirkung mit ihr, das große Capital,
deſſen ſie zu ihren immer groͤßeren Geſchaͤften
bedarf. Welche doppelte Thorheit alſo, 1) die-
ſes große Capital, wie es in der Franzoͤſiſchen
Revolution geſchehen iſt und noch gegenwaͤrtig
in unſern meiſten Staats-Theorieen geſchieht,
fuͤr ein Object des Eigenthums der Generation
zu halten, die gerade jetzt auf der Erde verweilt;
2) dieſes Eigenthum als ein einſeitiges zu betrach-
ten, ſo, als ob dieſes Capital dem Menſchen
unterworfen waͤre, der Menſch aber ſeines Or-
tes nicht wieder dem Capitale!
So nun entſteht, wenn man die wahre Na-
tur des Eigenthums betrachtet, ein durchaus per-
ſoͤnliches Verhaͤltniß zwiſchen dem Grundbeſitzer
und ſeinem Grundſtuͤck, zwiſchen dem Capitali-
ſten und ſeinem Capital, zwiſchen dem Eigen-
thuͤmer und ſeinem Eigenthum. Jedes Eigen-
thum waͤchſt und entwickelt ſich unter unſern
Augen, wie ein lebendiger Menſch; es iſt keines-
weges unſrer unbedingten und unbeſchraͤnkten
Willkuͤhr unterworfen, es hat ſeine eigne Natur,
ſeine Freiheit, ſein Recht — welche wir reſpecti-
ren muͤſſen, wenn wir es gebrauchen wollen,
wenn wir durch die Vereinigung mit ihm etwas
erzeugen wollen, Ernten, Zinſen, oder auch nur
[228] den leichteſten Lebensgenuß. Was ſonſt hat die
groͤßten Handelsſtaaten der Welt groß gemacht,
als dieſe Ehrfurcht fuͤr das Capital? dieſe tief-
gewurzelte Ueberzeugung, daß der voruͤberge-
hende Einzelne nur Nießbraucher deſſelben ſey,
und keinesweges nach freier Willkuͤhr mit dem
Theil des großen National-Capitals ſchalten und
walten duͤrfe, den er von ſeinem Standpunkte
aus uͤberſehen und erreichen koͤnne; daß ſein
Verhaͤltniß zu ſeinem beſonderen Capitale voͤllig
eben ſo zart ſey, wie das zu ſeiner Frau in der
Ehe!
Man muß das Weſen wahrer Handelsſtaa-
ten, und die Natur der alten Europaͤiſchen Adels-
verhaͤltniſſe einer genauen Betrachtung unter-
worfen haben, um die Idee des lebendigen
Eigenthums in zwei ganz entgegengeſetzten
Formen aufzufaſſen, und um den Grundmangel
des heutigen Privat-Rechtes zu empfinden. Die
Unveraͤußerlichkeit aller Familienguͤter — ein Ge-
ſetz, woruͤber heut zu Tage jeder Modejuͤnger
der National-Oekonomie ſpottet, und das, wie
es auch entſtanden ſeyn moͤge, ſchon deshalb
ernſthafte Betrachtung verdient, weil es durch
die Sitte ganzer Jahrhunderte aufrecht erhalten,
befeſtigt und bekraͤftigt worden — iſt ein herrliches
Muſter, wonach alles Eigenthum im Staate
[229] ſich richten und formen ſollte: — waͤhrend wir,
im Wahn eines allgemeinen unbeſchraͤnkten Be-
ſitzes aller auf der Erde vorhandenen ſogenann-
ten todten Sachen, worin unſer ſo beſtimmtes
und abſolutes Privat-Recht uns noch beſtaͤrkt,
nie einſehen wollen, daß alles Das, deſſen Eigen-
thuͤmer wir uns nennen, eben ſo wohl, und noch
viel mehr, jener unſterblichen Familie gehoͤrt,
deren vergaͤngliche Glieder wir ſind. Capital
und Zinſen, Grundſtuͤck und Ertrag zu verwech-
ſeln, beides fuͤr gleich-abhaͤngig von der Will-
kuͤhr des gegenwaͤrtigen Beſitzers zu halten:
das war der Charakter jener Zeit und des Ge-
ſchlechtes, welches, in eitlem, ſchrecklich beſtraftem
Hochmuth, ſeiner Ahnherren und ſeiner Enkel
vergaß, und den Begriff dieſes despotiſchen
Eigenthums unter die Menſchenrechte ſetzte: les
droits de l’homme en société sont la liberté,
l’egalité, la propriété!
Es iſt wahr, wenn ein Einzelner jenen leben-
digen Charakter des Eigenthums bei Seite ſetzen
und Capital und Zinſen in thoͤrichter Willkuͤhr
verſchleudern will, ſo kann er fuͤr den Augen-
blick eine große Wirkung hervorbringen. Daſ-
ſelbe wird der Fall ſeyn bei einer Nation, die
das National-Capital ihres Eigenthums angreift.
Aber dieſe glaͤnzenden Augenblicke wuͤrden in der
[230] Staatswiſſenſchaft, welche nur auf die Er-
fahrungen ganzer Jahrhunderte achtet, nichts
gelten.
Das Eigenthum alſo iſt kein todter Begriff,
kein ſtarres, krampfhaftes Feſthalten, welches
mit der unaufhoͤrlichen, regſamen Gegenſeitigkeit
der perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe im Staat uͤbel har-
moniren wuͤrde, ſondern es iſt eine lebendige
Idee, ein wechſelſeitiges Beſitzen und Beſeſ-
ſen-werden zwiſchen den Menſchen und den
Sachen. Das Object des Privat-Eigenthums
iſt nicht etwa eine todte, aus dem allgemeinen
Zuſammenhange der buͤrgerlichen Geſellſchaft her-
ausgeſchnittene, eximirte Sache, ſondern der le-
bendige Verkehr mit den nutzbaren Eigenſchaf-
ten dieſer Sache, oder ihr Gebrauch. — Jede
Sache, wie jedes Geſetz, wie jede Perſon im
Staate, hat ihre Eigenheit, ihre Perſoͤnlichkeit,
die ſie geltend macht und mit der ihr eigenthuͤm-
lichen Freiheit behauptet; aus dem gemeinſchaft-
lichen freien Streben aller dieſer Individuen ent-
wickelt ſich ein allgemeines gegenſeitiges Vertra-
gen und Vergleichen, und in dieſem unendlichen
Contrahiren der Perſonen unter einander, und
der Perſonen mit Sachen, waͤchſt die Idee des
Rechtes heran.
In den bisherigen Rechtslehren nun hat man
[231] den Verkehr der Perſonen mit Sachen nur dann
erſt eines Blickes gewuͤrdigt, wenn zweite Per-
ſonen dabei concurrirten; man hielt die wirkli-
chen lebendigen Menſchen allein fuͤr rechtsfaͤhig,
hatte alſo die Summe dieſer Menſchen, ihrer
Rechte und ihrer Beduͤrfniſſe im Auge, wenn
man vom Rechte ſprach. Da es aber nicht die
Summe der gegenwaͤrtigen Nießbraucher, ſon-
dern die Totalitaͤt aller freien Individuen aller
Jahrhunderte iſt, welche den Staat bildet, ſo
leuchtet ein, daß das geſammte Erbtheil der
vorangegangenen Zeiten, welches nur Dem todt
ſcheint, der ſich die großen Erblaſſer nicht ver-
gegenwaͤrtigen kann, vor den Augen des Staats-
mannes genau eben ſo rechtsfaͤhig ſeyn muß,
wie die gegenwaͤrtige, lebendige Generation; denn
der Staatsmann oder der Richter ſoll ja nicht
etwa die Summe der Nießbraucher als bloßer
Wortfuͤhrer einer einzelnen Generation vertreten,
ſondern den Staat auch in der Dauer umfaſſen,
d. h. wahrer Repraͤſentant der Totalitaͤt des
Staates ſeyn. Nicht bloß Freiheit und Gegen-
freiheit der jetzt lebenden Menſchen geben in
ihrem Streite das Geſetz, ſondern eben ſo wohl
die Freiheit des Gegenwaͤrtigen, und die in ſeinen
Werken noch fortlebende Gegenfreiheit des Ab-
weſenden, des Verſtorbenen.
[232]
Dem zu Folge, muß das National-Capital
ſowohl, als das National-Geſetz, d. h. die ganze
Verlaſſenſchaft der Verſtorbenen, als eine rechts-
faͤhige Perſon jeder einzelnen wirklichen Perſon
gegenuͤber, auch wenn keine zweite wirkliche Per-
ſon dabei concurrirte, angeſehen werden; und
da jede nutzbare Sache als ein Theil des Natio-
nal-Capitals angeſehen werden muß, ſo kann
eine abſolute Scheidewand zwiſchen Sachen und
Perſonen vor dem Richter nicht weiter Statt
finden. Nach der bisherigen Anſicht der Dinge
wurden die Verhaͤltniſſe der Perſonen unter ein-
ander als einzige Objecte der Rechtswiſſen-
ſchaft angeſehen, hingegen die reinen und di-
recten Verhaͤltniſſe der Perſonen zu Sachen, da
man ſich nicht verhehlen konnte, wie ſehr auch
der Staat dabei intereſſirt ſey, der Nutzens-
wiſſenſchaft oder der Oekonomie zugewie-
ſen. —
Sollen nun Finanzlehre und Rechtslehre,
wie ich gezeigt habe, beide einander durchdringen;
ſoll die Rechtslehre, ob ſie wirklich mit einer
Idee oder nur mit Begriffen verkehre, dadurch
zeigen, daß ſie alle Finanz-Verhaͤltniſſe des Le-
bens als rechtliche und demnach die Totalitaͤt
des Rechtsſtaates aufzufaſſen im Stande ſey:
ſo darf die alte Grenze zwiſchen Perſonen und
[233] Sachen, welche die Sprengel der Finanz- und
der Gerichts-Behoͤrde abſonderte, als todte
Mauer nicht weiter beſtehen. Der Juſtiz-Mini-
ſter — ſo nenne ich den Repraͤſentanten des
Rechtsſtaates — muß die Perſoͤnlichkeit, d. h.
die Rechtsfaͤhigkeit aller Sachen im Staate eben
ſo wohl als die Rechtsfaͤhigkeit der wirklichen
lebendigen Perſonen zu erkennen wiſſen, wenn
er nicht fuͤr den bloßen Wortfuͤhrer eines Be-
griffs, einer Zunft gehalten ſeyn will. Die Ver-
ſchwendung irgend eines Theiles von dem Na-
tional-Capitale muß demnach von dem Staats-
manne, der das Ganze repraͤſentirt, nicht bloß
als unoͤkonomiſch, ſondern auch im vollen Sinne
des Wortes als unrechtlich angeſehen werden,
und in der Geſetzgebung muͤſſen, was im gemei-
nen Leben Recht, und was dort Nutzen ge-
nannt wird, innig verſchmolzen erſcheinen.
Laſſen Sie uns das Weſentlichſte dieſer Be-
trachtungen zuſammen faſſen. Jedes Indivi-
duum, welches durch ſeine Brauchbarkeit zu er-
kennen giebt, daß es zum Staate gehoͤrt, alſo
jedes einzelne, eigne, anſcheinend noch ſo unbe-
deutende Glied des Staates, hat eine Art von
Buͤrgerrecht im Ganzen, d. h. es iſt Per-
ſon, und zugleich, im edlen Sinne des Wortes,
Sache. Als Perſon, beſitzt es; als Sache
[234]wird es beſeſſen. Jeder einzelne Buͤrger iſt eine
wahre Sache: der Staat iſt die große Perſon,
welche ihn beſitzt; aber dieſer Beſitz iſt kein tod-
ter, keine Leibeigenſchaft, kein einſeitiges, despo-
tiſches Feſthalten, ſondern ein gegenſeitiges Wech-
ſelwirken. In ſo fern das Vaterland mich ſei-
nen Buͤrger, ſeinen Unterthan nennt, nenne
ich es wieder mein Vaterland. In demſelben
Verhaͤltniſſe ſteht der Buͤrger auch wieder zu
dem kleinen Staate ſeines Hausweſens: der
kleinſte Hausrath dient an ſeinem Orte als Sache
dem Ganzen, oder der Perſon, dem Hausherrn;
aber es herrſcht auch wieder an ſeinem Orte als
kleine Perſon: ſeine Eigenheit will reſpectirt,
will geſchont ſeyn. Ich ſage noch einmal: unter
dieſer Eigenheit der Sachen verſtehe ich nicht
das, was dieſe Sachen an ſich, ſondern was
ſie in Beziehung auf das menſchliche, auf das
buͤrgerliche Leben ſind. Wer Sachen, als Sa-
chen, zu gebrauchen, und in ihrer andern Eigen-
ſchaft, als Perſonen, wieder zu ſchonen, wer
lebendigen Gebrauch der Sache, und lebendige
Sparſamkeit und Vorſicht in dieſem Gebrauche
zu vereinigen weiß: den nennen wir einen guten
Hauswirth, einen Oekonomen.
Dieſelbe Idee der Gerechtigkeit, welche wir
oben im Großen und Ganzen betrachteten, fin-
[235] den wir hier im Kleinen und Ganzen wieder:
der Hauswirth iſt eben ſo wohl Richter als Fi-
nancier in der Verwaltung ſeines kleinen Ver-
moͤgens; und da, ihm gegenuͤber, bloß die haͤus-
liche und geſellſchaftliche Natur aller Theile die-
ſes Vermoͤgens in Anſchlag kommt: ſo wird er,
nach einem und demſelben Geſetze der Gerechtig-
keit, zwiſchen ſeinen Knechten, Maͤgden, ſeinem
Vieh, ſeinem Acker, ſeinem Feldgeraͤthe vermit-
teln; ohne weitere Verſtandes-Diſtinction, daß
jene ja wirkliche Perſonen, dieſe aber nur Sa-
chen ſeyen. —
Eben ſo der wahre Staatsmann: nach dem-
ſelben Geſetze der Gerechtigkeit, unbekuͤmmert um
die ſcharfen Diſtinctionen der Philoſophie des Ta-
ges, ſieht er in allen Individuen, ſogenannten
lebendigen und ſogenannten todten, ſogenannten
Perſonen und ſogenannten Sachen, nur ihre ge-
ſellſchaftliche Bedeutung, den Werth, welchen ſie
fuͤr das buͤrgerliche Leben haben; und das Verhaͤlt-
niß dieſer einzelnen geſellſchaftlichen Werthe heißt
ihm: Rechtsverhaͤltniß. Dieſe Rechtsverhaͤltniſſe
alle gemeinſchaftlich aufrecht zu erhalten, oder
zu vermitteln, oder zu repraͤſentiren: das haͤlt
er fuͤr ſeine Beſtimmung; nicht die bloßen, leben-
digen Perſonen, nicht die bloße Summe der
[236] Beduͤrfniſſe, oder die Laune dieſes Augenblickes
will er repraͤſentiren.
So nun haͤtten wir uns in den Stand ge-
ſetzt, die wahre Natur des Privat-Rechtes un-
befangen und lebendig zu erkennen. Das Pri-
vat-Recht iſt nicht etwa, wie uns die Roͤmiſche
Schule lehrt, die Wiſſenſchaft von dem Verhaͤlt-
niſſe der lebendigen Privat-Perſonen im Staate
zu einander, in ſo fern daſſelbe perſoͤnliche und
ſaͤchliche Objecte hat; ſondern es iſt die Wiſſen-
ſchaft von den Rechts-Verhaͤltniſſen aller der
Individuen, oder geſellſchaftlichen Werthe, welche
in demſelben Staate ſich neben einander mit
Freiheit behaupten wollen. Die wahre lebendige
Natur des Eigenthums, ſo wie ich ſie beſchrie-
ben habe, iſt ein Gewinn des Mittelalters. Zu-
gleich mit der Achtung fuͤr die ſchwaͤchere Haͤlfte
des menſchlichen Geſchlechtes, iſt die Achtung fuͤr
jene geſellſchaftliche Bedeutung der Beſitzſtuͤcke
des Lebens, die der alten Welt als unbedingt
und ſklaviſch dem lebendigen Menſchen unter-
worfen ſchienen, verbreitet worden. Das Ge-
heimniß der Gegenſeitigkeit aller Verhaͤltniſſe des
Lebens, welches dem jugendlichen Uebermuthe
und Kraftgefuͤhle der Roͤmiſchen und Griechi-
ſchen Welt verborgen blieb, wurde klar. Zu zei-
gen, wie vielen Antheil an dieſer großen Veraͤn-
[257[237]] derung die chriſtliche Religion gehabt haben moͤge,
kommt mir an dieſem Orte nicht zu.
Denken Sie Sich, als ob die Unterwerfung
der Welt durch die Roͤmer nun gelehrt habe, daß
die bloße Kraft und der bloße Verſtand zur eigent-
lichen wahren Herrſchaft uͤber die Welt denn
doch nicht fuͤhre; daß man einen neuen, entgegen-
geſetzten Weg einzuſchlagen habe, und daß in
dem Unterworfenen, anſcheinend Schwaͤcheren
eine eigne, ganz eigenthuͤmliche Kraft ſey, die
reſpectirt werden muͤſſe, und aus deren Reaction
gegen die Action der aͤußeren maͤnnlichen Kraft,
erſt die wahre, lebendige, ſchoͤne und dauernde
Ordnung der Dinge hervorgehe; kurz, daß alles,
was der Menſch eigentlich wolle und auf die
Dauer wollen koͤnne, erzeugt werden muͤſſe,
und nicht erzwungen werden koͤnne. Dieſer
Gedanke liegt der ganzen adeligen Verfaſſung
des Mittelalters zum Grunde, vor allem aber
den Succeſſions- oder den Erbfolge-Geſetzen,
die erſt in dieſer Zeit in tauſendfaͤltigen Formen
ausgebildet worden ſind.
Wenn in der Roͤmiſchen Geſetzgebung — wie
ausgebildet die Lehre von der Uebertragung der
todten Sachen auf einen andern eben ſo todten
Beſitzer, oder das, was damals Succeſſion hieß,
auch ſchon ſeyn mag — dennoch die Sachen als
[238] bloßes Anhaͤngſel der Perſonen erſcheinen: ſo
tritt im Mittelalter vor allen Dingen das Grund-
eigenthum, und ſpaͤterhin in den Staͤdten auch
das Geld-Capital, als eigentliche Perſon her-
vor, und die zeitigen Beſitzer erſcheinen in Ge-
ſetzen oft als bloße Acceſſorien der Sachen. Lehne,
Majorate ſind eigentlich bloße Reactionen gegen
den Roͤmiſchen Einfluß. —
Der Menſch iſt beſtimmt, ſcheinen die Ge-
ſetzgeber des Mittelalters zu ſagen, gemeinſchaft-
lich mit ſeinem Eigenthume die Ordnung und
den Reichthum in’s Unendliche fort zu erzeugen;
alſo reicht ein einzelnes Menſchenleben dazu nicht
hin; folglich muß durch ſtrenge Erbfolge-Geſetze
der einzelne Beſitzer an das durch Jahrtauſende
fortlebende Grundſtuͤck geknuͤpft werden, und in
dem Verhaͤltniſſe der einzelnen Perſon zu der
mit ihr zuſammenhangenden Sache, muß das
Geſetz ſeinen Accent auf dieſe Sache ſetzen, und
nur dafuͤr ſorgen, daß das Leben des zeitigen
Beſitzers an ſeine Vorfahren und Nachkommen
ſo eng und innig geknuͤpft werde, als moͤglich,
was denn durch Erbfolge-Geſetze geſchieht. —
So entſteht nun jener beruͤhmte Streit zwi-
ſchen dem Privat-Rechte, welches den Accent
allenthalben auf die Perſonen ſetzt und ſeine Roͤ-
miſche Abkunft nicht verlaͤugnen kann, und den
[239] Geſetzen des Mittelalters, welche die Sachen
vor den Perſonen auszeichnen, und die Perſoͤn-
lichkeit der Sachen allenthalben anerkennen. Die
Franzoͤſiſche Revolution, aus dieſem Geſichts-
punkt angeſehen, war eine Reaction des Roͤmi-
ſchen Privat-Rechtes gegen die Geſetze des Mit-
telalters, welche eine eben ſo weſentliche und
unentbehrliche Seite der buͤrgerlichen Geſellſchaft
vertreten, und damals, auch wohl noch jetzt,
mit dem allgemeinen Schimpfnahmen „Feuda-
lismus” bezeichnet worden. Dieſes aus den
disparateſten und erhabenſten Elementen gemiſch-
te, von Wenigen verſtandene Weſen wollen wir
weiter hin noch einer naͤheren Kritik unterwerfen.
Fuͤr jetzt kam es mir nur darauf an, eine
wahre Anſicht von dem Verhaͤltniſſe der Perſo-
nen zu den Sachen, des Eigenthuͤmers zu dem
Eigenthume, und auf dieſe Weiſe das Ideal des
Privat-Rechtes zu geben, deſſen erſter Grund-
ſatz die Gegenſeitigkeit des Verhaͤltniſſes zwi-
ſchen Perſonen und Sachen iſt. — In dem wah-
ren Privat-Rechte werden alſo Roͤmiſche und
feudaliſtiſche Elemente lebendig mit einander ver-
bunden werden muͤſſen. Die beiden Familien-
Verhaͤltniſſe, welche ich in meiner Darſtellung
der Familie, als den Grund aller menſchlichen
Verbindungen gezeigt habe, werdem dem Privat-
[240] Rechte etwa auf folgende Weiſe zum Grunde
gelegt werden muͤſſen.
Der Menſch lebt in einer doppelten Ehe, 1)
mit der Perſon, und 2) mit der Sache. Der
Stand der Familie (das hoͤhere Perſonenrecht)
und der Stand des Beſitzes (das hoͤhere Sa-
chenrecht) ſind die beiden einander gegenſeitig
auf das innigſte durchdringenden Geſichtspunkte
der Privat-Rechtswiſſenſchaft. Unſere bisheri-
gen Rechts-Theorieen Roͤmiſchen Urſprunges ſe-
hen den Staat unter dem Geſichtspunkt des abſo-
luten ſaͤchlichen, weltlichen Beſitzes an. Allen
dieſen Theorieen muß eine auf der Idee der Fa-
milie gebauete, aus den Erfahrungen, Geſetzen
und Sitten des Mittelalters geſchoͤpfte Theorie
der Perſoͤnlichkeit aller Gegenſtaͤnde des Beſit-
zes gegenuͤber geſtellt werden, damit die Welt
nicht weiter im Namen des Rechtes hoͤchſt un-
rechtmaͤßig und roh eingetheilt, ſortirt und ge-
ſchichtet werde in Perſonen und Sachen, ſon-
dern, damit in allen Individuen, aus denen der
Staat beſteht, deutlich beides, die perſoͤnli-
che und die ſaͤchliche Natur, heraustrete,
demnach das Leben und die Rechtsfaͤhigkeit nicht
bloß da geſucht werde, wo ſich der Schein des
Lebens und der Rechtsfaͤhigkeit findet, d. h.
nicht bloß bei den zeitigen Menſchen, ſondern
auch
[241] auch bei allen den lebendigen und anſcheinend
todten Individuen, die aus dem Standpunkte
des wahren und vollſtaͤndigen Staatsmannes,
wegen der Bedeutung, die ſie — wenn auch
nicht in der Summe der Lebenden, doch in der
Totalitaͤt des ganzen, ewigen Staates — haben,
als lebendig und rechtsfaͤhig anerkannt werden
muͤſſen.
Müllers Elemente. I. [16]
[242]
Neunte Vorleſung.
Vom Staatsrechte und vom Adel.
Es iſt eine falſche Staatskunſt, die durch ihre
Bemuͤhung den abſoluten Frieden oder einen
abſoluten Rechtszuſtand bewirken will. — Man
nehme den Streit der Kraͤfte, den ewigen Zwie-
ſpalt aller Individuen und ſein Motiv, die Frei-
heit, aus der buͤrgerlichen Geſellſchaft heraus,
und bringe es dahin, daß ſich alle dieſe verſchie-
denartigen Naturen irgend einem Rechtsbegriffe
blindlings und ſklaviſch unterwerfen —: ſo hat
man damit nicht nur nichts erreicht, ſondern
das wahre und lebendige Recht aus den Staaten
wirklich verbannt. Angenommen, man haͤtte die
einfachſte Geſetzgebung, und dazu einen Suve-
raͤn, der ſich, unerreichbar fuͤr alle Beſtechung der
Sinne und des Lebens, ganz dem Ausdrucke
dieſer Geſetzgebung unterzuordnen wuͤßte, der,
wie eine reine Verſtandesmaſchine, unbedingt
[243] nach dem Geſetze ſpraͤche: ſo waͤre das buͤrger-
liche Leben zu Ende, alle Kraft todt, d. h.
alle Freiheit, oder alles Geſetz todt. Das leben-
dige Leben kann todten Schranken ewig nicht
unterworfen werden, und in dieſer Hinſicht waͤre
es voͤllig gleich, ob die Willkuͤhr eines Tyrannen
oder der ſtarre Buchſtabe des weiſeſten Geſetzes,
Regel fuͤr die unterworfenen Naturen waͤre; der
Widerſpruch wuͤrde gleich groß ſeyn. Daß dem
einen ſowohl als dem anderen Bewegung fehlte,
d. h. Streit, oder Freiheit, oder die Liebe, wie
der goͤttliche Paulus ſagt, das waͤre ihre Eine
große Gebrechlichkeit. Man berechne die kuͤnſt-
lichſten Verfaſſungen, (wie denn in neueren Zei-
ten viele Rechenmeiſter ſich darauf gelegt haben,
um jede Leidenſchaft der Regierenden abzuleiten,
um die Geſetzgeber und Richter gaͤnzlich zu neu-
traliſiren und die erhabene Kunſt des Herrſchens
vollſtaͤndig zu mechaniſiren) —: ſo hat man nun
erſt das Ungluͤck der Welt in ein Syſtem ge-
bracht; denn der Tod iſt zum Richter uͤber
das Leben geſetzt.
Ein uraltes Germaniſches Geſetz, welches in
die Brittiſche Verfaſſung und in viele Ordens-
Statute des Mittelalters uͤbergegangen iſt, ſagt:
„Der Edelgeborne kann nur von Seinesgleichen,
von ſeinem Pair, gerichtet werden.” Eben ſo
[244] kann die ganze buͤrgerliche Geſellſchaft nur von
ihresgleichen beherrſcht werden, und die herr-
ſchende Idee, der Staat, muß voͤllig wie ein
Menſch organiſirt ſeyn. Der abſolute reine Ver-
ſtand kann nicht uͤber Weſen herrſchen, deren
Leben darin beſteht, daß ſie aus Verſtand und
Empfindung gemiſcht ſind. Des unaufhoͤrlichen
Widerſtreites zwiſchen beiden bedarf der Staat,
ſo gut wie der einzelne Menſch, zu ſeinem Da-
ſeyn. Iſt es denn moͤglich, den einfachſten Pri-
vat-Streit befriedigend zu endigen, indem man mit
einem Verſtandesbegriff oder mit einem Grundſatze
dazwiſchen tritt? Aber der vollſtaͤndige Menſch
hat eine unbegrenzte Gewalt, den aͤußeren Streit
der Menſchen zu befriedigen, weil ſeine Voll-
ſtaͤndigkeit eben darin liegt, daß derſelbe Streit
unaufhoͤrlich in ſeinem Innern vorgeht.
Der ewige Friede, ſowohl unter den Buͤr-
gern deſſelben Staates, als unter den Voͤl-
kern, iſt bekanntlich die wirkliche Unterwerfung
Aller unter Ein und eben daſſelbe unumgaͤngliche
Geſetz. Der Wahn, als ob die Kriege zwiſchen
Voͤlkern Suspenſionen des Rechtes, d. h. un-
rechtliche Zuſtaͤnde, hingegen die Streitigkeiten
unter Privatleuten innerhalb deſſelben Staates
deshalb rechtlich waͤren, weil ein wirklicher und
wirkſamer Richter fuͤr ſie exiſtire — alſo der
[245] Wahn, daß ein rechtliches Verhaͤltniß zwiſchen
Zweien dadurch entſtehe, daß ein Dritter, Staͤr-
kerer, uͤber ihnen walte, alſo endlich der Wahn,
daß alles Recht vom Staͤrkeren ausfließe, folg-
lich Recht des Staͤrkeren ſey: — dieſer Wahn
hat auch das Problem vom ewigen Frieden un-
ter Voͤlkern, d. h. von der Sicherheit vor
Kriegen, und vom ewigen Frieden innerhalb
der Staaten, d. h. von der Sicherheit vor
Revolutionen, veranlaßt. —
Soll unter den Voͤlkern bloß der Krieg, und
innerhalb der Staaten bloß die Rebellion und
die Unruhe vermieden werden; beſteht darin
das Weſen unſrer politiſchen Einrichtungen: —
wohlan! ſo ſetze man den Maͤchtigſten auf den
Thron der Welt, ſo erlaube man ihm eine Welt-
Polizei zu organiſiren und zu concentriren. —
Und was haben wir dadurch erreicht? Mir
ſcheint es, Sicherheit, welche Ihr zum hoͤchſten
und letzten Staatszweck erhebt, und eine Weile
ewigen Friedens. Auch der Geringſte, nehmen
wir an, ſoll weder an ſeinem Eigenthume, noch
an ſeiner Perſon gekraͤukt werden.
Die Macht kann alles durchſetzen, was Ihr
von dem Rechte begehrt: aller Zwieſpalt der
Kraͤfte beruhigt ſich; es wird nun ſtille, und
Jeder iſt ſicher vor den Angriffen des Nachbars.
[246] Eure abwehrende, negative Gerechtigkeit iſt nun
realiſirt worden durch die Macht; aber der ſchoͤpfe-
riſche Geiſt Eurer ehemaligen Staaten, die Un-
beſchraͤnktheit alles Strebens, alles Erwerbs iſt
dahin: Jeder hat, begreift, uͤberſieht bei Heller
und Pfennig das Seinige. — Nun faͤllt es Al-
len wie Schuppen von den Augen: die todten
Grenzen erſcheinen alsbald den Einzelnen, wie
eben ſo viele Gefaͤngniſſe; die Sicherheit ſelbſt
wird zu einer immerwaͤhrenden Qual. Es zeigt
ſich, daß nicht der Beſitz, ſondern der Wachs-
thum des Beſitzes, die Ausſicht zu unendlicher
Erweiterung des Beſitzes — und ſo erklaͤrten
wir in unſrer letzten Unterhaltung das Eigen-
thum — gluͤcklich machen. — Der Streit der
Kraͤfte, der wahre Krieg, die Freiheit, das
Gut aller Guͤter, fehlt; ohne daſſelbe iſt die Ge-
rechtigkeit nichts weiter, als conſequente Macht,
das Recht nichts weiter, als Recht des Staͤrke-
ren in ein Syſtem gebracht. Erſt durch den Krieg
wird der Friede, durch die Freiheit das Geſetz
zur lebendigen Idee. Der mit Muͤhe zu Boden
geworfene Streit muß alſo wieder erweckt wer-
den. Dann erſcheint die Gerechtigkeit wieder als
das Kind, welches die Macht mit der Macht
erzeugt; ſie erſcheint nicht bloß abwehrend, ſchuͤt-
[247] zend, oder negativ; ſie befruchtet, ſie ſegnet,
ſie begeiſtert. —
Durch den Streit der Freiheit mit der Frei-
heit bildet ſich alſo in’s Unendliche fort ein uͤber
allen dieſen einzelnen Freiheiten waltendes Recht,
Geſetz, oder — um dieſes hoͤhere Erzeugniß der Ge-
ſellſchaft noch lebendiger auszudruͤcken — die ver-
mittelnde Macht eines Richters, Patriarchen,
Monarchen, Fuͤrſten. — Ein unvollkommenes,
lebendiges Geſetz iſt, allen meinen Vorausſetzun-
gen zu Folge, beſſer als ein noch ſo logiſches,
kuͤnſtliches, aber todtes Geſetz. Darin nun beſteht
der große Vorzug aller monarchiſchen Ver-
faſſung: das Geſetz wird nicht bloß mechaniſch
ausgelegt, ſondern wirklich repraͤſentirt durch eine
Perſon; es kann gemißbraucht werden, aber
nicht erſtarren; ein lebendiges Individuum, wie
es auch geſtaltet ſeyn moͤge, wird unaufhoͤrlich
in dem Strome fortſchreitender Zeiten fortge-
riſſen, kann alſo auf die Dauer der Freiheit
der Einzelnen keine Gefahr bringen, waͤhrend
ein todter Geſetzbegriff, wenn er aufrecht erhal-
ten werden koͤnnte, allgemeinen Stillſtand be-
wirken wuͤrde. Ein lebendiges Individuum wird
von der Natur unaufhoͤrlich in die verſchieden-
ſten Geſichtspunkte geſtellt, durch Jugend und
Alter, durch maͤnnliche und weibliche Anſichten
[248] hindurchgefuͤhrt, iſt alſo an und fuͤr ſich ſchon voll-
ſtaͤndiger, als das geſchlechtloſe, zeitloſe Geſetz.
Betrachten Sie die Regierung Ludwigs XIV,
den friſchen Morgen, den glaͤnzenden Mittag
und den truͤben, ſchwermuͤthigen Abend derſel-
ben, ſo werden Sie mich verſtehen, wenn ich
ſage, daß durch die an ein ſtrenges Erbfolgege-
ſetz gebundene Monarchie eine Art von regelmaͤ-
ßigem Lichtwechſel uͤber die buͤrgerliche Geſell-
ſchaft komme. Jedes Alter, jedes Geſchlecht
mit ſeinen Rechten und Eigenheiten erhaͤlt fuͤr
eine gewiſſe Periode den Vorzug, bis das Ge-
ſtirn des Monarchen ſich wechſelt, bis er, den
natuͤrlichen Geſetzen ſeines Lebens folgend, die
Schwelle eines andern Alters betritt, und nun
andre Neigungen und Anſichten den bisher un-
terdruͤckten wieder Luft machen. Jede Parthei
des Lebens kommt in einer ganz natuͤrlichen Ord-
nung an die Reihe; jedes Streben erlebt eine
Zeit beſondrer Gunſt, wo es ſeine Bedeutung
geltend machen und den Schatz der National-
Erfahrungen, oder die lebendige Geſetzgebung, mit
ſeinem eigenthuͤmlichen Weſen bereichern kann. —
Auf den erſten Blick ſcheint der Buchſtabe
des Geſetzes vor einem lebendigen Menſchen den
Vorzug der Dauer zu haben; aber es iſt eben
Sproͤdigkeit, und — erlauben Sie mir den Aus-
[249] druck — zaͤhes Leben, und nichts weiter: das
geiſtreiche, gaͤhrende National-Leben zerſprengt
alle dieſe todten Bande und Klammern, waͤhrend
die Schranken der wahren Monarchie zugleich
mit der Frucht, die ſie einſchließen, ſelbſt wach-
ſen und ſich ausweiten. Was iſt alle Dauer
des Geſetzes unter den Haͤnden des gemuͤthloſen
Sophiſten, waͤhrend es in der Perſon des Mo-
narchen umher wandelt, von Jedermann verſtan-
den, und doch dem Sophiſten ſo unerreichbar, wie
das Geheimniß des Lebens ſelbſt; waͤhrend alles,
deſſen Freiheit durch die Sproͤdigkeit des Geſet-
zes verletzt werden mag, zu ſeiner Zeit in dem
Gemuͤthe des Monarchen ſeinen Fuͤrſprecher fin-
det! Das bloße Geſetz ſpricht nur; der Mo-
narch aber ſpricht und hoͤrt. Kurz, der Idee
des Rechtes iſt die monarchiſche Verfaſſung guͤn-
ſtiger, als die republikaniſche.
In Betreff der republikaniſchen Ver-
faſſung erwaͤgen Sie zuerſt die kurze Dauer
aller Republiken, von denen die Geſchichte redet,
den Monarchieen der neueren Welt gegenuͤber, ſeit-
dem dieſe durch ein Erbfolgegeſetz befeſtigt, d. h.
wirklich monarchiſch conſtruirt, waren. Rom
und Venedig machen keine Ausnahme: jenes
durchaus militaͤriſch und auf einen Weltkrieg,
dieſes durchaus mercantiliſch und auf einen Welt-
[250] handel geſtellt. Das Streben dieſer beiden Staa-
ten war auf die ganze Welt gerichtet, aber nicht
nach innen; das bei weitem groͤßte Feld Roͤmi-
ſcher und Venezianiſcher Thaͤtigkeit lag außer-
halb des Spielraums fuͤr die republikaniſchen
Geſetze. —
Eine in ſich ſelbſt ruhende Republik ferner,
wie Athen, muß unaufhoͤrlichen Gaͤhrungen
unterworfen ſeyn: die Sproͤdigkeit des herrſchen-
den Geſetzes muß immer neue Reactionen in
dem fortſchreitenden, lebendigen Volke veranlaſ-
ſen; anſtatt des regelmaͤßigen, des periodiſchen
Lichtwechſels in den Monarchieen, muß hier ein
unregelmaͤßiger, zufaͤlliger erfolgen. Der Streit
des kalten Geſetzes mit der Fuͤlle lebendiger Na-
turen mag glaͤnzendere politiſche Phaͤnomene er-
zeugen; aber ſie werden bald wieder erloͤſchen:
die wechſelnde National-Laune wird Einen De-
magogen nach dem andern erheben; es wird ſich
am Ende zeigen, daß auch in Republiken das
Geſetz allenthalben nach lebendiger Verkoͤrperung
ſtrebt, und daß es jeden Augenblick einen wirk-
lichen Repraͤſentanten des Geſetzes giebt, nur
daß dieſer von Stunde zu Stunde wechſelt,
und, wenn es auch jedes Mal der vortrefflichſte,
der ἀριςος, waͤre, demnach nur einzelne, unzu-
ſammenhangende rechtliche Momente, aber kein
[251] dauernder, rechtlicher Zuſtand bewirkt wird, d.
h. kein dauerndes Wachsthum der Idee des
Rechtes, alſo uͤberhaupt keine dauerhafte Na-
tional-Exiſtenz.
Wie auch Religion und Sitten das Alterthum
und das Recht der vorangegangenen Generation
in Schutz nehmen moͤgen — ihre Stimme wird in
dem Tumulte der Partheien, denen kein bleiben-
der, maͤchtiger Richter gegenuͤberſteht und die
Wage haͤlt, immer uͤberhoͤrt werden; die Frei-
heit der Gegenwaͤrtigen, der lebendigen Koͤpfe,
wird gegen die Freiheit der Abweſenden, der
vorangegangenen und der zukuͤnftigen Genera-
tionen, wellche auch behauptet werden ſoll, wie
ich neulich gezeigt habe, immer die Oberhand
behalten; die augenblickliche Freiheit der Buͤrger
wird uͤber die ewige Freiheit der unſterblichen
Staats-Familie allezeit den Sieg davon tragen;
kurz, dieſe kuͤnſtliche Erhebung todter Formen
und Geſetze auf einen Thron, der dem Leben
gebuͤhrt, wird nach kurzen Verſuchen zum Unter-
gang derſelben Freiheit fuͤhren, um derentwillen
ſie angeordnet iſt. Sehen Sie da, wie wich-
tig und noͤthig es iſt, die Idee der Freiheit,
wie wir es neulich gethan haben, in ihrem gan-
zen Umfange aufzufaſſen, auch die Freiheit des
Abweſenden und des anſcheinend Todten, neben
[252] der ſchon allzubeguͤnſtigten und in die Augen
ſpringenden Freiheit der Gegenwaͤrtigen und Le-
bendigen geltend zu machen.
So entſteht die Idee einer liberté générale,
waͤhrend die liberté de tous — d. h. der gerade
neben einander ſtehenden Menſchen, die man
gewoͤhnlich im Auge hat, wenn man von Frei-
heit redet — oft anſcheinend durch ſolche Inſtitu-
tionen gefaͤhrdet wird, welche jener allgemeinen
Freiheit halber aufrecht erhalten werden muͤſſen.
Um der Freiheit des ganzen Staates willen, iſt
nun in den neueren Geſetzgebungen ein Recht
der Familien entſtanden und den Rechten der
einzelnen Perſonen als Gleichgewicht gegenuͤber
geſtellt worden. Um die liberté générale, d. h.
die volonté générale, bei allen Beſchluͤſſen des
Augenblickes gegenwaͤrtig zu haben, hat man
durch die Bande des Blutes lange Jahrhunderte
hindurch verbundene Perſonen, oder Familien,
als Individuen den einzelnen Perſonen rechtlich
gegenuͤber geſtellt: ſo ſind die adeligen und die
regierenden Familien entſtanden. Einer Familie
hat man die Repraͤſentation des Geſetzes uͤber-
tragen, deren Oberhaupt das Intereſſe des
Augenblicks und das der Jahrhunderte in einem
hohen Grade in ſich vereinigt, und nun ſelbſt
lebendig am beſten dazu geeignet iſt, zwiſchen
[253] den Abweſenden und den Gegenwaͤrtigen, zwi-
ſchen den Familien und den Einzelnen, zwiſchen
der Ewigkeit und dem Augenblike zu vermitteln.
Auf dieſe Art iſt das Ziel aller republikaniſchen
Verfaſſungen, die groͤßtmoͤgliche Entwickelung
der liberté générale, durch monarchiſche For-
men viel ſicherer und glaͤnzender erreicht wor-
den. —
Die urſpruͤngliche Form der buͤrgerlichen Ge-
ſellſchaft war monarchiſch. Nachher, als Miß-
braͤuche dieſe Form verdaͤchtig gemacht hatten,
glaubte man, einen lebendigen Repraͤſentanten
des Geſetzes entbehren zu koͤnnen, kehrte aber,
nach wenigen geſcheiterten Verſuchen, zur mo-
narchiſchen Verfaſſung zuruͤck. Die Erfahrun-
gen unſrer Zeit haben gelehrt, daß weder eine
abſolut-republikaniſche, noch eine abſolut-monar-
chiſche Form moͤglich iſt, ſondern daß Repu-
blikanismus und Monarchie nichts an-
deres, als die beiden gleich nothwendi-
gen Elemente jeder guten Verfaſſung
ſind. Der freie moͤgliche Streit aller der un-
endlichen Partheien, deren Conflict die buͤrger-
liche Geſellſchaft ausmacht, das iſt die republi-
kaniſche Natur aller Verfaſſung; und hoͤchſt
lebendige Entwickelung des Geſetzes, das iſt ihre
monarchiſche Seite, die aber, wie ſich in mei-
[254] ner ganzen Darſtellung zeigt, mit der republi-
kaniſchen in dem Verhaͤltniß ſtrenger und gegen-
ſeitiger Abhaͤngigkeit ſteht.
Das Privatrecht beantwortete die Frage: wie
entwickelt ſich und waͤchſt die Idee des Rechtes
in dem Streite der Freiheit mit der Gegenfrei-
heit der einzelnen Buͤrger deſſelben Staates? —
Die andre Frage: wie entwickelt ſich in dem
Geſammtſtreite der einzelnen Buͤrger mit dem
lebendigen Geſetze, die Idee des Rechtes? beant-
wortet das Staatsrecht. — In demſelben Ver-
haͤltniſſe der Gegenſeitigkeit, worin alle Indivi-
duen deſſelben Staates zu einander ſtehen, ſteht
auch jedes einzelne Individuum, und die Tota-
litaͤt dieſer Individuen zum Staate, zum leben-
digen Geſetz, oder zum Suveraͤn. So wie der
Streit der Freiheit mit der Gegenfreiheit der
einzelnen Buͤrger im Laufe der Zeiten allmaͤhlich
gewiſſe Regeln begruͤndet, welche der Suveraͤn
in ſeiner Qualitaͤt als Privat-Richter benutzt,
belebt und erweitert: ſo entwickeln ſich aus dem
Verhaͤltniſſe des Suveraͤns zu den Unterthanen
erpruͤfte Formen, welche als Reichs-Grundge-
ſetze, oder, wie man ſie in neueren Zeiten ge-
nannt hat, als organiſche Geſetze (Sena-
tus-Conſulte), den nachfolgenden Zeiten zur
Grundlage ihrer geſammten Unterthaͤnigkeitsver-
[255] haͤltniſſe, als Verfaſſung, als Conſtitution dienen.
Wenn von ſolchen organiſchen Geſetzen und Con-
ſtitutionen und ihrer Verbeſſerung die Rede
iſt, kommt es nur darauf an, daß man ſich nie
von dem mediciniſchen Sinne dieſes Wortes ent-
ferne! Im natuͤrlichen Gange der Dinge ent-
wickelt ſich dieſes Verhaͤltniß ſo gut und harmo-
niſch, als es die Zeiten und die Lage der Um-
ſtaͤnde vergoͤnnen; verbeſſern kann die Kunſt,
aber umformen, oder etwas nach Verſtandes-
geſetzen Erfundenes an die Stelle des im Gange
der Natur Erzeugten ſetzen, ſo wenig, als es
der Kunſt des Arztes gelingen wird, bei einem
gegebenen Kranken nach allgemeinen Anſichten
von dem Weſen des geſunden, menſchlichen Koͤr-
pers, nun eine neue Conſtitution, friſche Saͤfte,
einen vollkommenen Ton der Nerven hervor-
zubringen.
Das Genie des Arztes oder des Staatsman-
nes wird ſich hier nicht in ſeiner Erfindungs-
kraft, aber wohl in dem Divinations-Geiſte of-
fenbaren, womit er in die gegebene Natur und
in die fruͤheren, unabaͤnderlichen Schickſale des
Koͤrpers eingeht, den er zu curiren hat, nicht
in der Art, wie er ein allgemeines Ideal von
guter Verfaſſung dem kranken Koͤrper oder dem
kranken Staate aufdringt, ſondern wie er, ohne
[256] der eigenthuͤmlichen Natur ſeines Patienten et-
was zu vergeben, nicht nach Geſundheit uͤber-
haupt, ſondern nach der dieſem Koͤrper eigen-
thuͤmlichen und erreichbaren Geſundheit ſtrebt. —
Wenn man den Leichtſinn erwaͤgt, womit in un-
ſern Zeiten hier und da alte Verfaſſungen aufge-
geben werden, den Leichtſinn Derer, meine ich,
die lange unter dem unmittelbaren Einfluſſe die-
ſer Verfaſſungen lebten: ſo findet man, daß ih-
nen der Staat nichts weiter iſt, als eine große
Polizei-Anſtalt, die durch eine andre Anſtalt der
Art erſetzt werden kann, ohne daß ſich in dem
inneren Leben der Buͤrger etwas veraͤndert. —
Betrachtet man den Staat als ein großes, alle
die kleinen Individuen umfaſſendes, Indivi-
duum; ſieht man ein, daß die menſchliche Geſell-
ſchaft im Ganzen und Großen ſich nicht anders
darſtellen kann, denn als ein erhabener und voll-
ſtaͤndiger Menſch —: ſo wird man niemals die
inneren und weſentlichen Eigenheiten des Staa-
tes, die Form ſeiner Verfaſſung, einer willkuͤhr-
lichen Speculation unterwerfen wollen.
Das Verhaͤltniß des Suveraͤns zu dem Volke
iſt an und fuͤr ſich ein ſehr einfaches, eben weil
es ein durchaus gegenſeitiges iſt. Der unſterb-
liche Suveraͤn in dem unſterblichen Volke, beide
in ihrer allgemeinen, ewigen Natur betrachtet,
ſtehen
[257] ſtehen in unaufhoͤrlicher Wechſelwirkung. Je
freier das Volk, d. h. je freier die Totalitaͤt der
Individuen, aus denen der Staat beſteht, nicht
bloß die Summe der Koͤpfe: um ſo maͤchtiger
das Geſetz, oder der Suveraͤn. Die Macht des
Suveraͤns und die Freiheit des Volkes ſind nicht,
wie man gewoͤhnlich glaubt, Begriffe, die ein-
ander ausſchließen, ſondern es ſind beides Ideen,
die, wenn man ſie in gehoͤriger Bewegung, d.
h. durch den Lauf ganzer Jahrhunderte, denkt,
einander unaufhoͤrlich bedingen, ſo daß, wie
ich oben gezeigt habe, jede Erweiterung der Frei-
heit kraͤftigeren Streit entzuͤndet, aus welchem
Streite das Geſetz reiner und maͤchtiger ausge-
boren wird, alſo die wahre Suveraͤnetaͤt. Das
iſt ja ſchon im gemeinen Leben der große Vor-
theil jedes Dritten bei einer lebhaften Privat-
Discuſſion; wenn ein recht gleichmaͤßiger und
geſchloſſener Streit zwiſchen zwei Partheien ge-
fuͤhrt wird, ſo wird es dem unbefangenen Drit-
ten ſehr leicht, den Ausſchlag zu geben, 1) weil
gleichſtehende Wagſchalen eines ſehr kleinen Ge-
wichtes beduͤrfen, um aus dem Gleichgewichte
gebracht zu werden, 2) weil der recht geſchloſſene
Streit, in welchem ſich die Kraft der Kraft ge-
genuͤber fuͤhlt, am allergeneigteſten zum Frieden
macht, und weil nur zwiſchen der Macht und
Müllers Elemente. I. [17]
[258] Ohnmacht der Friede unmoͤglich iſt. Der Suve-
raͤn wird alſo ſeine beiden Verpflichtungen, als
lebendiger Repraͤſentant des Geſetzes, oder als
Richter, die Verpflichtung zu entſcheiden, und
die andre zu vermitteln, in ſo fern erfuͤllen koͤn-
nen, als die liberté générale entwickelt iſt. So
erſcheint der Grundſatz: divide et impera, in
ſeiner edelſten Bedeutung.
Das iſt alſo die große Aufgabe des Staats-
rechtes, in jedem Augenblicke abzuſehen von der
liberté de tous der freien lebendigen Maͤn-
ner, welche, nur ein kleiner Theil der allgemeinen
Freiheit, ſchon ohnedies zu viele Vortheile fuͤr
ſich hat, und die liberté générale ſo ſichtbar
und anſchaulich zu machen, die Freiheit der Ab-
weſenden der Freiheit der Gegenwaͤrtigen ſo kennt-
lich und maͤchtig gegenuͤber zu ſtellen, als moͤg-
lich. Dieſes Problem iſt in der Bildung der neue-
ren Staaten von der Natur ſelbſt, wie ich ſchon
gezeigt habe, auf das herrlichſte geloͤſ’t worden,
dadurch, daß Familien-Freiheiten den Freiheiten
der Einzelnen, Familien-Rechte den Rechten der
Einzelnen entgegengeſetzt worden ſind.
Es verſteht ſich aber von ſelbſt, daß die goͤtt-
liche Inſtitution des Adels hier als erſtes Mo-
bil des wahren Staatsrechtes nur in ſo fern auf-
geſtellt wird, als der Adel ſeiner urſpruͤnglichen
[259] Verfaſſung getreu bleibt, d. h. als der einzelne
Adelige ſich nur fuͤr den zeitigen Repraͤſentanten
der Familien-Freiheiten, und als zeitigen Nieß-
braucher der Familien-Rechte anſieht. Verwan-
delt ſich in einer unverſtaͤndigen und ſittenloſen
Zeit der Adelige in einen einzelnen, freien Mann;
will er die Familien-Macht wie ein augenblick-
liches, buͤrgerliches Eigenthum behandeln, und
beſtaͤrkt ihn die Regierung darin: ſo verwandeln
ſich alle ſeine Rechte in Vorrechte, in gemei-
ne Privilegien; die Abweſenden werden nicht
weiter von ihm repraͤſentirt: er verhaͤlt ſich nun
zu den uͤbrigen Buͤrgern gerade eben ſo, wie
jeder andre Monopoliſt; er iſt in dieſer, aller
Freiheit widerſprechenden Macht zu ohnmaͤchtig,
um dem einſeitigen Grundſatze von der liberté
de tous die Wage zu halten, und wird, wie
er ſich auch ſtraͤuben moͤge, zu Grunde gehen
muͤſſen. — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — —
Soll der Adel mit ſeiner Familien-Freiheit
dem Streben der Freiheit der voruͤbergehenden
Einzelnen oder der Buͤrgerſchaft das Gleichge-
wicht halten, ſo muß er durch Sitte und Geſetz
zugleich emporgetragen und ausgezeichnet werden.
Kraͤftige Ideen von Ehre und Tadelloſigkeit Einer-
ſeits, Seltenheit andrerſeits, die am beſten durch
[260] das Geſetz der Primogenitur, wie in England,
aufrecht erhalten wird; ferner ſtrenge Aufſicht
auf die Reinheit der Abkunft, beſonders der
maͤnnlichen, (denn der Begriff der mésalliance
ſcheint nur erkuͤnſtelt, wie er denn auch das
Verderben der Raçen zur Folge hat) — und
dieſe ſtrenge Aufſicht auf den reinen Familien-
Zuſammenhang, die aus der Idee des Adels,
wie ich ſie angegeben habe, nothwendig herfließt,
wird am beſten durch eigene Herolds- oder Wapen-
Collegien bewirkt —; ferner die Zugaͤnglichkeit zu
dem Adel nur fuͤr das ganz eminente Verdienſt;
endlich die Aufrechthaltung aller beſondren Fa-
milien-Inſtitutionen und gerade der Geſetze, die
den einzelnen Nießbraucher recht zu beſchraͤnken
ſcheinen, Fideicommiſſe, Majorate, Aufrechthal-
tung aller Unveraͤußerlichkeitsbeſtimmungen. Vor
allen Dingen aber muß das unſichtbare Weſen
des Adels durch Geſetze und Ehrenauszeichnun-
gen aller Art ſo ſehr herausgehoben werden, als
moͤglich. Sobald der Adel mit dieſen ſeinen
hoͤchſten Guͤtern vertheidigungsweiſe agiren, ſobald
er ſelbſt ſie geltend machen muß, weil die Re-
gierung den Rechten der Menſchenwuͤrde etwas
zu vergeben glaubt, wenn ſie gerade das Gluͤck
und nicht ſo ſehr das Verdienſt anerkennt und
auszeichnet; ſobald die Regierung bloß ſchonen-
[261] der Weiſe, wie gegen ein nothwendiges Uebel, das
der Gerechtigkeit halber wie ein andres weltli-
ches, ſaͤchliches Erbtheil aufrecht erhalten wer-
den muß, zu Werke geht: giebt ſie das Signal
zu einer abſoluten Trennung der Staͤnde. Das
perſoͤnliche, zum Heile des ganzen Staates, mit
der Muttermilch eingeſogene Gefuͤhl des Adels
kann ſie nicht ausloͤſchen: je mehr ſie ſelbſt die
Auszeichnung oͤffentlich anerkennte, um ſo be-
ſcheidener wuͤrde der Beſitzer werden, und nun
das angeerbte Gefuͤhl durch ſelbſterworbene Ver-
dienſte zu ſchmuͤcken ſtreben; denn ein Vor-
zug, den niemand laͤugnet, druͤckt auch nie-
mand: durch die allgemeine Anerkennung unter-
wirft man ſich ihm mit Freiheit. Aber ein realer,
von fruͤheren Jahrhunderten anerkannter Vor-
zug, den die jetzige Generation in Zweifel zie-
hen will, den alſo jeder einzelne Eigenthuͤmer
deſſelben auf ſeine eigne Hand vertheidigen muß,
druͤckt allerdings, eben weil ſich die Idee des
Vorzuges in einen Begriff verwandelt und nun,
wie weltliches Eigenthum, wie eine Sache, ver-
theidigt wird. Die Adeligen ſelbſt verlieren durch
die falſche Humanitaͤt einer ſolchen Regierung
bald das perſoͤnliche Gefuͤhl, d. h. die Idee des
Adels: bald ſehen ſie ſelbſt nichts mehr darin,
als todten Beſitz und Privilegium; und ſo ge-
[262] bricht ihnen die lebendige Kraft gerade in den
Augenblicken, wo ſie dieſelbe am nothwendigſten
brauchen. — So wird die erhabene Idee des
Adels zum Begriff: ſie ſinkt ſo tief herab, daß
die Welt in dem Adel uͤberhaupt nichts mehr
ſieht, als ein Buͤndel ſaͤchlicher Privilegien. —
Wie wenig kennen Diejenigen den Geiſt der
meiſten Regierungen neuerer Zeit, wie unreif zu
allem Urtheil uͤber denſelben ſind Die, welche
die unzaͤhligen falſchen Schranken, mit denen
das Talent bisher noch oft zu kaͤmpfen hatte,
der Exiſtenz des Geburtsadels zuſchreiben! Viel-
mehr darin, daß man die Natur dieſes Geburts-
adels verlaͤugnete; ſein Weſen, wie der Verfaſ-
ſer des neuen Leviathan thut, in den Beſitz ſaͤch-
licher Privilegien ſetzte; die Anzahl ſeiner Mit-
glieder durch verſchwenderiſche Gnade und durch
Unaufmerkſamkeit gegen das Primogenitur-Geſetz
ohne Ende vermehrte; daß man ihn durch den
Buchſtaben der Geſetze Einerſeits erhob und mit
ſaͤchlichen Privilegien, ſelbſt wohl ſogar mit dem
unbedachteſten, mit dem Privilegium zu den hoͤhe-
ren Staatsaͤmtern, uͤberhaͤufte, ſittlich und per-
ſoͤnlich hingegen ihn allen uͤbrigen Staatsbuͤr-
gern da gleichſtellte, wo man ihn haͤtte auszeich-
nen ſollen: darin lag das Laͤſtige des Adels.
Man ſtrebte, den Adel mit dem Buͤrgerſtande
[263] zu vermiſchen; der Adel konnte das Gefuͤhl der
perſoͤnlichen Auszeichnung nicht fahren laſſen, und
wurde nun in der Aufrechthaltung deſſelben, und
in dem Trotze darauf um ſo unertraͤglicher, als
der Staat das Perſoͤnliche nicht weiter honorir-
te, und den Adel mit den ſaͤchlichen Privilegien
ſchon uͤber die Gebuͤhr bezahlt und abgefunden
glaubte. Selbſt dieſe Privilegien wuͤrden manche
dieſer Regierungen, die ſie nehmlich immer mehr
fuͤr nothwendige Uebel anſahen, ſchon laͤngſt abge-
ſchafft oder beſchraͤnkt haben, wenn nicht, gerecht
wie ſie waren, ein Reſpect vor dem wohl-
hergebrachten ſaͤchlichen Eigenthum, als
wofuͤr ſie das ganze Adelsweſen anſahen, ſie da-
von, wie von der Confiscation irgend einer
andern Sachenerbſchaft, abgehalten haͤt-
te. Sie hatten einen bloß privatrechtlichen und
keinen ſtaatsrechtlichen Geſichtspunkt fuͤr den
Adel; ſie hatten den interêt de tous ausſchlie-
ßend im Auge, waͤhrend der interêt général
und uͤberhaupt die Ruͤckſicht auf die Totalitaͤt
des Staates, auf das eigentlich Dauernde und
Unſterbliche in ſeiner Macht, ihnen voͤllig aus
dem Geſichte gekommen war. — Der Adel wird
unfehlbar in allen Laͤndern zu einer Caſte wer-
den, wo man, ohne ihn ſelbſt weiter zu hono-
riren, ihn, ſeine Guͤter und Privilegien mit
[264] buchſtaͤblicher Geſetzlichkeit conſervirt. — — —
— — — — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — —
Behandelt man den Adel bloß als ſaͤchlich-
privilegirten Stand, ſo muß er, bloß durch den
Inſtinkt ehemaligen perſoͤnlichen Unterſchiedes ge-
leitet, nun unter ſich caſtenweiſe zuſammen hal-
ten; und ſo fand der Buͤrgerſtand den Adel un-
ertraͤglich, weil er ihn nicht anerkannte und doch
ſein perſoͤnliches Recht reſpectiren mußte. Der-
geſtalt nun zeigt es ſich, daß alle neuerliche An-
griffe auf den Geburtsadel nur auf den Begriff
deſſelben, und auf die ungebuͤhrliche Ausdehnung
ſaͤchlicher Privilegien, und auf die alte civiliſti-
ſche Lehre von der Erbfolge gerichtet ſind; alſo
dem wahren Adel, oder der hier beſchriebenen
Idee des Geburtsadels, zu einer indirecten Lob-
rede gereichen koͤnnen. —
Der Adel alſo iſt die erſte und einzig noth-
wendige ſtaatsrechtliche Inſtitution im Staate:
er repraͤſentirt, den einzelnen Menſchen und ih-
rer augenblicklichen Macht gegenuͤber, die Macht
und die Freiheit der unſichtbaren und der abwe-
ſenden Glieder der buͤrgerlichen Geſellſchaft; und
ſo begruͤndet er durch ſeinen erhabenen und ge-
ſchloſſenen Streit mit der Buͤrgerſchaft die Moͤg-
lichkeit der Repraͤſentation ſowohl der liberté
[265] générale, als des interêt général, als der
volonté générale in der Perſon eines einzigen
regierenden, ſuveraͤnen Menſchen. —
Alle uͤbrigen Repraͤſentationen der volonté
de tous, des interêt de tous, und der liberté
de tous ſind von untergeordneter Wichtigkeit.
Staͤndeverſammlungen, corps legislatifs, Reichs-
tage und alle andren ſtaatsrechtlichen Koͤrper, ha-
ben — als Mittel, das Intereſſe der Gegenwart
und die oͤffentliche Meinung ſowohl dem Suveraͤn
als der Nation kund werden zu laſſen, als Mit-
tel die ganze ungeheure Gegenwart der buͤrger-
lichen Geſellſchaft mit allen ihren Forderungen
dem Suveraͤn ſichtbar zu machen — einen gro-
ßen, nicht zu berechnenden Werth. Sie dienen
als Mittelglieder, wodurch die ganze ungeheure
Peripherie des Staates auf ihr Centrum, auf
den Suveraͤm, einzuwirken in Stand geſetzt wird,
wie die geſammten ſogenannten ausuͤbenden oder
adminiſtrativen Behoͤrden im Staate, der ge-
ſammte Civil- und der ſtehende Militaͤr-Etat
dazu dienen, aus dem Mittelpunkte auf alle
Theile der Peripherie wieder zuruͤckwirken zu
koͤnnen. — Aber ſobald ſie das Geſetz der Ein-
heit der Macht, oder, mit andern Worten, das
geſammte Streben der buͤrgerlichen Geſellſchaft
nach einem lebendigen Mittelpunkte wieder aufhe-
[266] ben und die Macht beſchraͤnken oder gar brechen
ſollen, ſtehen ſie mit ſich ſelbſt in Widerſpruch,
und zerſtoͤren ſich ſelbſt.
Daß alle einzelne Freiheit, alles einzelne Be-
duͤrfniß im Staat in großen, gewaltigen, leicht
uͤberſehlichen Maſſen ſich vor dem Throne des
Suveraͤns ordne, daß vor allen Dingen der
Streit der Vergangenheit mit der Gegenwart,
um der Dauer des Ganzen willen, lebendig vor
den Augen des Suveraͤns gefuͤhrt werde, wie
es durch die wahre Standes-Oppoſition von Adel
und Buͤrgerſchaft geſchieht: dadurch wird die
Macht des Suveraͤns zugleich beſchraͤnkt und —
erzeugt; denn erſt durch die unendlichen Schran-
ken entſteht eine wirkliche Macht, und aus dem
unendlichen bewegten Streit dieſer Macht mit
ihren Schranken, oder mit der liberté générale,
wie ich ſie genannt habe, auch hier erſt die Idee
des Rechtes, die Idee des Staatsrechtes. —
Wozu die Chimaͤre von einer unbeſchraͤnkten
Macht eben ſowohl, als die Fabel von einer
abſichtlichen, kuͤnſtlichen Beſchraͤnkung der Macht,
weiter im Staatsrechte? Doch weil ſie nur von
Begriffen des Geſetzes oder der Macht, und
von Begriffen der Freiheit wußten, ſo mußten
ſie maſchinenweiſe und todt die beiden mechani-
ſchen und ſtarren Elemente verbinden. — In
[267] der Theorie unſrer Politiker freilich nicht, wohl
aber in der Natur, im wirklichen Leben, in der
wahren Wiſſenſchaft entſteht die Macht nicht an-
ders, als durch die Schranken, und aus dem
fruchtbaren Streite der Macht mit den Schran-
ken die Idee des organiſchen Geſetzes, welche
alſo Eins iſt mit der Idee des buͤrgerlichen Ge-
ſetzes, die eben ſo aus dem Streite der Macht
oder der Freiheit des Privaten mit der ſie be-
ſchraͤnkenden Anti-Macht oder Anti-Freiheit des
andern Privaten lebendig erzeugt wird und in’s
Unendliche waͤchſt.
Alles Staatsrecht hat ſeinen Sitz in den
Staͤndeverhaͤltniſſen: die Lehren der neueſten
Zeit ſtellen die Anordnung der Conſtitutions-For-
men oder der ſtaatsrechtlichen, organiſchen Ge-
ſetze, wie eine Sache des reinen Calculs dar,
und dieſer Calcul beabſichtigt die Loͤſung der
Aufgabe, wie die den Staat verbindende Gewalt
zugleich zu theilen und zu verbinden ſey. Man
ſtrengte ſich an, dergleichen Theilungen und Ver-
bindungen zu erfinden, und uͤberſah gaͤnzlich,
daß die Natur das ſtaatsrechtliche Problem be-
reits im Voraus in jeder Familie geloͤſ’t hatte.
Jeder Act einer vollſtaͤndigen menſchlichen Ge-
ſellſchaft beſteht aus den Einfluͤſſen eines phy-
ſiſch-ſtaͤrkeren und eines phyſiſch-ſchwaͤcheren Ge-
[268] ſchlechtes. Jedes von dieſen Geſchlechtern, in’s
Unendliche verſchiedenartig organiſirt, balancirt
das andre auf das gluͤcklichſte, ohne ſeine gluͤck-
lichen und ſegensreichen Kraͤfte zu hemmen. Hier
iſt Theilung nicht der Maſſen, wohl aber der
Naturen; hier iſt lebendiges und productives
Gleichgewicht zwiſchen denſelben; hier iſt Einheit.
Was ſind nun jene Koͤrperſchaften, die ſich
in ihrer reinſten Geſtalt in der Brittiſchen Ver-
faſſung zeigen, anders, als große Repraͤſenta-
tionen der Geſchlechts- und Alters-Differenzen,
aus welchen die Natur die Harmonie jeder Fa-
milie hervorruft? In ſo fern ſie innerlich und
generiſch einander entgegenſtehen, iſt ein lebendi-
ges Gleichgewicht zwiſchen ihnen moͤglich. Kurz,
wie in der Natur uͤberall, ſo auch im Staate,
fließen Theilung und Einheit aus derſelben Quelle,
dem wahren Gegenſatze nehmlich: nichts kann
verbinden, als die wahre Theilung ſelbſt. —
Alle Conſtitutions-Kuͤnſtelei unſrer Tage iſt alſo
nichts andres, als der immer ungluͤckliche Ver-
ſuch, ein Surrogat der Staͤndeverhaͤltniſſe des
Mittelalters zu finden. Man theilte und zer-
ſchnitt die einzelnen Functionen und Qualifica-
tionen der Suveraͤnetaͤt, man theilte manufactu-
renartig den ſuveraͤnen Willen und das ſuveraͤne
Geſchaͤft, welches unmoͤglich iſt. Die Naturen,
[269] deren Conflict und Balance den Staat und die
Familie ausmacht, ſind von der Natur — im
Staate und in der Familie — ſchon wahrhaft
getheilt gegeben. — Auf der Erkenntniß dieſer,
von ewigen, goͤttlichen Geſetzen angeordneten,
Theilung beruhet alle Wiſſenſchaft der Regierungs-
form; ſie iſt auch mit der Idee des Staates
vertraͤglich, waͤhrend alle Theilung der Functio-
nen von dem Begriffe ausgeht, und die leben-
digen Glieder des Staates ſelbſt in kalte und
todte Begriffe verwandelt.
Einheit ſoll die Staatsverfaſſung haben.
Ich habe gezeigt, wie die wahre lebendige Ein-
heit im Staate durch unendliche Oppoſition der
Freiheit der einzelnen Menſchen und Generatio-
nen mit einander begruͤndet, wie ſie maͤchtig und
ſowohl zur Entſcheidung als zur Vermittelung
faͤhig wird. Theilung ſoll jede Staatsver-
faſſung haben: ich habe gezeigt, wie durch die
unendliche Theilung des Intereſſe erſt ein allge-
meines und einfaches Intereſſe moͤglich wird,
und wie die monarchiſche Einheit ſowohl auf die
regelmaͤßige und rhythmiſche Bewegung des Gan-
zen, als auf die kraͤftige Ausbildung aller ein-
zelnen Freiheit ſegensreich zuruͤckwirkt. — Immer
iſt es die Hauptaufgabe aller Staatskunſt, die
vergangenen Generationen in lebendiger Gegen-
[270] wart zu erhalten, in keinem Augenblicke die Un-
ſterblichkeit und die Totalitaͤt des politiſchen Le-
bens aus den Augen zu laſſen, und dem Staate
ſeinen erſten Zweck, die Dauer oder das Le-
ben, auf dieſe Weiſe durch Staatswiſſenſchaft
und durch Staatskunſt zu ſichern. —
[271]
Zehnte Vorleſung.
Vom Voͤlkerrechte, oder von der Chriſtenheit.
Nachdem ſich die Rechts-Idee, auf die von mir
beſchriebene Weiſe, in einem beſtimmten Locale
allſeitig, eigenthuͤmlich und national ausgebildet
hat, zeigen ſich bald gewiſſe Grenzen im Raume,
die nicht uͤberſchritten werden koͤnnen. Die Na-
tur hat durch die Geſtalt der Erdoberflaͤche, und
in dem Verhaͤltniſſe der Kraͤfte des einzelnen
Menſchen zu dieſem Flaͤchenraume, jedem Staate
eine Art von Maximum ſeiner Groͤße angewieſen.
Das unaufhoͤrliche Reagiren der Peripherie des
Staates auf ſeinen Mittelpunkt, und des Mit-
telpunktes auf die Peripherie, wird unmoͤglich,
wenn einzelne Theile des Staates durch unge-
heure Meere oder Wuͤſten von einander abgeſon-
dert ſind, oder wenn, noch unbezwinglicher als
Meer und Wuͤſte, fremdartige Sprachen und
Sitten ſich dieſer Reaction in den Weg ſtellen.
[272] Die nothwendige Gegenſeitigkeit aller politiſchen
Verhaͤltniſſe innerhalb des Staates kann in ſol-
chen Faͤllen nicht mehr realiſirt werden; daher
wird auch die lebendige Einheit der Macht oder
des Geſetzes unausfuͤhrbar. Dies war die un-
uͤberwindliche Schwierigkeit in der Lage des gro-
ßen Kaiſers Karl’s des Fuͤnften, dem die groͤßte
aller Erbſchaften, von denen in der Weltgeſchichte
die Rede iſt, zugefallen war. Darin liegt es,
daß alle Colonial-Verhaͤltniſſe nur einſtweilige
Zwiſchenzuſtaͤnde ſind, in denen ſich an keine
wahre Einheit der Macht, auch an keine gegen-
ſeitige, lebendige und unaufhoͤrliche Reaction
zwiſchen der Macht und der Freiheit denken laͤßt.
Die Natur hat die einzelnen Raͤume der Erd-
oberflaͤche phyſich, klimatiſch, und mit Ruͤckſicht
auf alle natuͤrlichen, kuͤnſtlichen und ſittlichen
Bedingungen der geſellſchaftlichen Exiſtenz, ſo ge-
trennt, daß die allgemeine, gleichzeitige
Ausbildung der Rechts-Idee unmoͤglich wird.
Dafuͤr hat ſie in einzelnen Diſtricten wieder
alles vereiniget, was zu einer localen und
vollſtaͤndigen Ausbildung der Rechts-Idee
noͤthig iſt. Wenn ſie z. B. das Gebiet des al-
ten Griechenlands zum Korn-, Wein- und
Oel-Bau und zum Handel, alſo auch zur Fa-
brication, gleich-tuͤchtig gemacht hat; ſo ſage
ich:
[273] ich: ſie hat dieſem Lande die Anlage zu einer
localen und vollſtaͤndigen Ausbildung der Rechts-
Idee gegeben; ſie hat auf einem und demſelben
Boden ſo viele ganz entgegengeſetzte Streitkraͤfte,
ſie hat in einem kleinen Raum ſo viele ganz ent-
gegengeſetzte Zweige der Induſtrie, und folglich
ſo viele Formen der Freiheit, verſammelt, daß
ein vollſtaͤndig- allſeitiger Streit, alſo eine har-
moniſche, kraͤftige und nationale Ausbildung der
Rechts-Idee, moͤglich wurde. — Irgend ein ein-
zelnes Element der Cultur oder der Induſtrie,
die Viehzucht in den ungeheuren Bergtriften
von Klein-Aſien, die Fabriken und der Handel
von Tyrus und Sidon auf der engen, langen
Kuͤſte zwiſchen dem Libanon und dem mittellaͤn-
diſchen Meere, der Ackerbau, den die Natur
ſelbſt in Aegypten lehrt — vermag fuͤr die Aus-
bildung der Macht, oder, was daſſelbe ſagen
will, der Rechts-Idee und der Freiheit, nichts.
— Keinem Eroberer vermoͤgen dieſe einſeitigen
Staaten zu widerſtehen; denn jene organiſche
allſeitige Macht, mit der die Pflanze den Felſen
ſprengt, fehlt ihnen: in dem Gedaͤchtniſſe der
Welt, oder in der Weltgeſchichte, wird ihrer
wenig gedacht. Aber die Lehren, welche Cad-
mus aus Phoͤnicien, Thaut aus Aegypten, und
die Pelasgiſchen Nomaden nach Griechenland
Müllers Elemente. I. [18]
[274] hinuͤber bringen, finden dort alle einen empfaͤng-
lichen Boden. Der Ackerbau neben dem Han-
del, jener in ſeiner bleibenden, dieſer in ſeiner
beweglichen, meerwaͤrts ſtrebenden Natur, ent-
wickeln einen wahren politiſchen Streit; nun, auf
Griechiſchem Boden, erheben ſich wahre Par-
theien, recht entgegengeſetzte Freiheiten, aus deren
geſchloſſenem Kampfe ſich ein echtes, organiſches
Wachsthum der Rechts-Idee, d. h. eine natur-
gemaͤße Macht, erhebt, welche den Perſern die
Spitze bieten und noch den ſpaͤteſten Generationen
ſchoͤne Spuren ihres Daſeyns hinterlaſſen kann.
In dieſer Allſeitigkeit der Anlagen liegt vor allem
andern das Geheimniß der Groͤße Griechenlands.
Mit ſolcher, zur nationalen Ausbildung der
Rechts-Idee erforderlichen, Vollſtaͤndigkeit der
Anlagen hat die Natur einzelne Stellen der
Erdoberflaͤche ausgezeichnet. Ein Blick auf die
Landkarte kann Jedermann uͤberzeugen, daß von
jenen fuͤnf Staaten, welche den Mittelpunkt der
neuen Geſchichte ausmachen, Frankreich, Eng-
land, Italien, Spanien und Deutſchland, jeder
fuͤr ſich ein politiſches Ganze, eine abgeſon-
derte Verſammlung aller der ſtreitenden Extreme
oder Freiheiten bildet, welche dazu gehoͤren, daß
die Rechts-Idee auf eine nationale Weiſe aus-
gebildet werden koͤnne. Zuvoͤrderſt hat jeder von
[275] dieſen fuͤnf Staaten ſein abgeſondertes Flußge-
biet, eine eigenthuͤmliche, innere Communication
aller Theile mit dem Meere; ferner jeder eine
eigenthuͤmliche, den Beduͤrfniſſen des Klima’s
angemeſſene, Anlage zum Ackerbau, und eine
gleiche Anlage zum Handel; denn was Deutſch-
land an Seekuͤſten abgeht, wird durch die unge-
heure Landesgrenze gegen mehrere von der Na-
tur weniger beguͤnſtigte Staaten, gegen Ungarn,
Polen und den Norden, erſetzt. Ferner hat jeder
— was die Folge aller dieſer Naturbeguͤnſti-
gungen iſt — eine in eigenthuͤmlicher Schoͤn-
heit ausgebildete Sprache, und einen ſcharf ab-
gezeichneten Charakter des Volkes und der Sitte;
endlich hat jeder von dieſen Staaten ſein Hoch-
land und ſein Niederland, ſeinen Norden und
ſeinen Suͤden.
In dieſem Entgegenſetzungen, in dieſer von
der Natur ſelbſt auf einen kleinen Raum zuſam-
mengeſtellten Anlage zum Streit unter vollſtaͤn-
dig ausgebildeten Extremen freier Naturen, liegt
der Beruf zu einer localen und nationalen Aus-
bildung der Rechts-Idee, allen meinen Voraus-
ſetzungen nach: denn, wo es wahren Streit der
Partheien giebt, da kommt und waͤchſt das Ge-
ſetz; nichts bindet es, als allein der wahre und
unendliche Krieg. Die Ohnmacht, der Mangel
[276] an politiſcher und rechtlicher Haltung, welche
wir in Polen wahrnehmen, hat ihren Haupt-
grund in der einſeitigen Anlage dieſes Landes
zum Ackerbau, und demnach in einſeitiger Aus-
bildung des Geſetzes. Der Handel, die Erobe-
rung von Liefland, Eſthland und Ingermann-
land auf der Einen, und die Erwerbung der
Crim auf der andern Seite, haben Rußland eine
politiſche Haltung gegeben, nicht, weil den Reich-
thuͤmern, der Induſtrie und den Sitten des uͤbri-
gen Europa Thuͤren eroͤffnet worden ſind, ſondern
weil dem Territorial-Intereſſe ein ganz entgegen-
geſetztes bewegliches Geld-Intereſſe gegenuͤber
geſtellt worden iſt. Weil ein wahrer innerer Krieg
moͤglich geworden, ein Streit der Freiheit mit
der Gegenfreiheit, ſo iſt auch ein lebendiges wach-
ſendes Recht, die Bedingung aller National-Exi-
ſtenz, nun moͤglich. Weil Rußland, welches
bisher auf Einem Fuße ſtand, nun auf zweien
ſteht, ſo kann es gehen.
Jetzt darf ich hoffen, verſtanden zu werden,
wenn ich einen Unterſchied mache zwiſchen ein-
ſeitigen und vollſtaͤndigen Staaten, oder zwiſchen
ſolchen Staaten, die als bloße Maſſen gel-
ten, die den Felſen zu vergleichen ſind, und ſol-
chen, die durch inneres Gleichgewicht der ſtrei-
tenden Kraͤfte maͤchtig ſind, und mit der Pflanze
[277] verglichen werden koͤnnen, die den Felſen ſprengt,
organiſche, lebendige Staaten. — Staaten,
welche die Natur bloß fuͤr den Handel, oder bloß
fuͤr den Ackerbau, oder bloß fuͤr den momen-
tanen Krieg mit phyſiſchen Waffen abgerichtet
hat, ſind einſeitige, voruͤbergehende, unorganiſche
Staaten; denn ihnen fehlt das eigentliche Kenn-
zeichen des Lebens, das, was dem Staate Dauer
und wahre Haltung giebt, ein allfeitiger inne-
rer Krieg, und alſo ein Gleichgewicht der Kraͤfte,
ein Gefuͤhl der wahren Unabhaͤngigkeit, d. h.
ein eigenthuͤmliches, unendliches Lebensgefuͤhl,
die große Spur der wachſenden Rechts-Idee:
ſie gelten bloß durch die Gewalt der Maſſe, koͤn-
nen alſo der groͤßeren Maſſe, welche die Natur
im Laufe der Zeiten unfehlbar herbeifuͤhrt, nichts
entgegenſetzen, als ihren irdiſchen Theil, der al-
lein fuͤr ſich, ohne den unſterblichen Theil, wel-
cher ſich in der Rechts-Idee und alſo in der
Freiheit aͤußert, nicht widerſtehen kann. Daß
unter allen Welttheilen Europa die meiſten von
der Natur mit allſeitigen Anlagen ausgeruͤſteten
Stellen enthaͤlt und folglich der vornehmſte Sitz
organiſcher Staaten iſt — darin liegt die
Urſache des erhabenen Ranges, den es in den
Weltgeſchaͤften behauptet hat. —
Wie viel hat die Natur gethan, um in jenen
[278] fuͤnf Europaͤiſchen, organiſchen Staaten jene An-
lage zu lebendiger Vollſtaͤndigkeit noch vollſtaͤn-
diger auszubilden! Zuerſt laͤßt ſie die Uranlage
dieſer Voͤlker ungeſtoͤrt, dem Klima, dem Bo-
den und der ganzen Localitaͤt gemaͤß, ſich ent-
wickeln: es bilden ſich die Italiſchen, Galliſchen
Iberiſchen, Brittaniſchen und Germaniſchen Ur-
voͤlker. Italien, mit allen Gaben der alten Welt,
und mit den bluͤhendſten Griechiſchen Colonieen
befruchtet, unterwirft ſich zuerſt die fuͤnf Reiche;
dann Germanien, im Bunde mit dem friſchen,
jugendlichen Norden, mit den Gothen, Vanda-
len; dann Spanien im Bunde mit Portugal
und den beiden Indien und den Niederlanden;
dann Frankreich, auf ſich ſelbſt, auf ſeine cen-
trale Lage, auf die allgemeine Popularitaͤt ſeiner
Sprache und ſeiner Sitten geſtuͤtzt; dann endlich
England auf ſeine Induſtrie und ſeine Verfaſ-
ſung und auf den Zuſammenhang mit allen Thei-
len der Welt — ſie unterwerfen ſich alle nach
der Reihe die fuͤnf Reiche. Im Laufe der Zei-
ten, und in dem Maße, wie ſich die Eigenthuͤm-
lichkeit und die rechtliche Kraft eines jeden von
dieſen Staaten mehr ausbildet, wird auch die
Praͤponderanz, die allezeit Einer von ihnen ge-
habt hat, weniger druͤckend. Vergleichen Sie die
Macht der Roͤmer im Zeitalter des Auguſtus,
[279] die der Germanier im Zeitalter Karls des Gro-
ßen, die der Spanier im Zeitalter Karls des
Fuͤnften und Philipps, die der Franzoſen im
Jahrhundert Ludwigs des Vierzehnten, und die
der Britten im Jahrhundert der George und
der Pitts: ſo ſehen Sie, durch dieſe ganzen Zeit-
laͤufe hindurch, die Einzelmacht der Fuͤnf-Reiche,
wachſen; die Praͤponderanz der hervorragenden
Macht wird immer mittelbarer, immer unſicht-
barer, die Freiheit der einzelnen Maͤchte immer
weniger gefaͤhrdet — es verſteht ſich bis auf die
Franzoͤſiſche Revolution herab, wo ein neues
Jahr der Welt angeht, und ganz neue Verhaͤlt-
niſſe der Staaten ſich zu bilden anfangen.
Jedes einzelne der Fuͤnf-Reiche iſt von den
uͤbrigen nach der Reihe bewohnt worden, und
die ganze uͤbrige Welt hat an ſeiner praktiſchen,
vollſtaͤndigen, allſeitigen Erziehung arbeiten muͤſ-
ſen. So iſt Groß-Brittanien erzogen wor-
den von den Roͤmern unter Caͤſar, von Germa-
niſchen Sachſen unter Hengis und Horſa, von
Franzoͤſiſchen Normaͤnnern unter Wilhelm dem
Eroberer, von Spanien durch die Armada, durch
vielfaͤltigen Conflict des Brittiſchen und Spani-
ſchen Interreſſe in den Colonieen. Spanien
iſt großgezogen worden durch die Roͤmer, durch
Germaniſche Staͤmme, unter dem gemeinſchaft-
[280] lichen Namen der Weſtgothen, durch Deutſche
und Franzoͤſiſche Koͤnige, und durch den uner-
meßlichen Handelseinfluß der Britten; Italien
durch Germaniſche Leibwachen und Horden, durch
Odoaker, die Longobarden und die Deutſchen
Kaiſer, durch mehrmalige Franzoͤſiſche Erobe-
rungen, durch Spaniſche Herrſchaft in Neapel
und in mehreren Laͤndern von Ober-Italien, und
wieder durch Brittiſchen Handel; Frankreich
durch die Roͤmer, durch Germaniſche Staͤmme,
Franken und Karl den Großen, durch Britten,
vornehmlich unter Eduard dem Dritten, und
dem ſchwarzen Prinzen, durch Spanier in viel-
faͤltigen Kriegen, und in dem pacte de famille.
Deutſchland endlich traͤgt die Spuren der ver-
ſchiedenartigſten Einfluͤſſe vor allen uͤbrigen zu
ſichtbar an ſich, als daß ſie erſt hergezaͤhlt zu
werden brauchten. —
Dann ſandte die Natur ihnen allen gemein-
ſchaftliche Feinde zu, die kriegeriſchſten Repraͤ-
ſentanten des Nordens und des Suͤdens, die
Normaͤnner und die Araber, um die Jugend-
kraft der Voͤlker zu uͤben, welche das politiſche
Leben zu einer unbekannten, glaͤnzenden Hoͤhe
hinauftreiben ſollten. Die Strenge des eiſernen
Nordens, und die wolluͤſtige Begeiſterung des
Suͤdens, beide in Heldengeſtalt, erſchuͤtterten
[281] nach einander die Fuͤnf-Reiche, und lieſſen die
Spuren zuruͤck, die ſich im Charakter Europaͤi-
ſcher Ritterſchaft ſo wunderbar miſchten. Ja, da-
mit alle Elemente der Menſchheit in dieſen herr-
lichen Staaten verbunden wuͤrden, ſo ward
zwei Jahrhunderte hindurch der Kern ihrer Be-
voͤlkerung nach Aſien getrieben, um dort das gro-
ße Panier ihrer Vereinigung, die chriſtliche Reli-
gion, gegen den ganzen Orient zu behaupten.
So viel hat die Natur gethan, um jeden
einzelnen dieſer Staaten vollſtaͤndig zu befruch-
ten, um den lebhafteſten Streit aller Partheien
des Lebens in ihm hervorzurufen, und um der-
geſtalt ihm ein lebendiges, rechtliches und unab-
haͤngiges Daſeyn zu geben. — Dieſe Unabhaͤn-
gigkeit zeigt ſich noch heut zu Tage, unter allem
Anſchein aͤußerer Abhaͤngigkeit und aͤußerer Aehn-
lichkeit der Sitten, in Sprache, Gemuͤthsart,
Kunſt, Bildung und National-Phyſiognomie.
Uebrigens ſind auch nur die unter den Fuͤnf-
Reichen, welche der Idee der politiſchen Ein-
heit nicht treu geblieben, oder welche, ſie auszu-
fuͤhren, durch bisher unuͤberwindliche Schwierig-
keiten verhindert worden ſind, nehmlich Deutſch-
land und Italien, einſtweilen aͤußerlich abhaͤngig
geworden. — Wenn einzelne Staaten einmal zu
der inneren Unabhaͤngigkeit gelangt ſind, welche
[282] noch jetzt — wie auch die momentane Lage der
Welt mir widerſprechen moͤge — die Fuͤnf-Reiche
darſtellen: ſo entſteht durch das rechtliche Stre-
ben jedes einzelnen von ihnen (worin ja eben,
wie ich gezeigt habe, ihre Unabhaͤngigkeit und
ihr organiſches Leben ſich aͤußert), dem rechtlichen
Streben der andern gegenuͤber, ſo entſteht durch
den Streit der Freiheit in fuͤnf koloſſalen, welt-
umfaſſenden Ausdruͤcken dieſer Freiheit, eine maͤch-
tige und weltgebietende Idee des Rechtes. Unter
dieſer Geſtalt muß das Voͤlkerrecht gedacht wer-
den, wenn uͤberhaupt ein Seyn damit verknuͤpft
werden ſoll. Dieſe Idee auszuſprechen, iſt der
Menſch zu klein und zu ohnmaͤchtig, weil er ſie
auszuuͤben zu gering iſt; Europaͤiſches Voͤlker-
recht, Gleichgewicht, ſind Ausdruͤcke, welche
die große Idee andeuten ſollen, aber ſo, wie ſie
uns in den gewoͤhnlichen Staats-Theorieen dar-
geboten werden, zu unvollkommen, um auch nur
anzudeuten.
Jeder wahre organiſche Rechtsſtaat muß, wie
ich gezeigt habe, und wie auch die Natur durch
die beſchriebene Einrichtung der Erdoberflaͤche,
deutlich zu verſtehen giebt, beſchraͤnkt ſeyn im
Raume, damit er ein wirkliches, lebendiges und
abgeſchloſſenes Individuum ſeyn koͤnne. Als
Individuum nun tritt er mit den andern großen
[283] Individuen ſeiner Art in einen unaufhoͤrlichen
koloſſalen Rechtsſtreit der National-Freiheit ge-
gen die National-Freiheit. Dieſer Rechtsſtreit
iſt zu groß, als daß der einzelne Menſch weiter
darin Richter ſeyn koͤnnte; denn wie vermoͤchte
er das Leben dieſer gewaltigen Individuen allge-
genwaͤrtig zu durchdringen! — Es bedarf keines
Beweiſes, daß dieſer erhabene Prozeß der Voͤl-
ker von einem wirklichen Schiedsrichter nicht
mehr geſchlichtet werden kann; ferner, daß auch
kein Buchſtab umfaſſend genug iſt, dieſem unge-
heuren Koͤrper als Geſetzgebung zur Grundlage
zu dienen; daß demnach der Begriff Univerſal-
Monarchie, wie einige Phantaſten ihn in die-
ſem Augenblicke naͤhren, und der Begriff Uni-
verſal-Republik, wie man ehemals das ſo-
genannte Europaͤiſche Gleichgewicht ſich denken
mochte, Chimaͤren ſind. Damit iſt, wie ich ſchon
oben gezeigt habe, die lebendige Idee des Europaͤi-
ſchen Gleichgewichtes, wie einige wenige Staats-
maͤnner und Staatsgelehrte ſie ſich noch denken
moͤgen, keinesweges angegriffen. Verſteht man
unter Gleichgewicht gleichmaͤßiges Wachsthum,
gegenſeitiges Sich-Steigern und Erheben der
Staaten; denkt man ſich unter dem Reſultat die-
ſes Gleichgewichtes eine große, gewaltige und
wachſende Rechts-Idee, und nicht, wozu das
[284] Wort ſo leicht verleiten kann, ein bloßes, reines,
gegenſeitiges Beſchraͤnken, ein Aufgehoben- und
Vernichtet-werden der Macht durch die Macht:
ſo bin ich vollkommen damit einverſtanden.
Aber das war die ohnmaͤchtige und gemuͤths-
loſe Anſicht Derer, die aus Partheigaͤngern des
Gleichgewichtes nun Partheigaͤnger der Univer-
ſal-Monarchie geworden ſind, daß alle dieſe
ſchoͤnen Friedensſtaaten unter einander in keinem
andern Verhaͤltniſſe ſtaͤnden, als des gegenſeiti-
gen Sich-Stuͤtzens, des Sich-Anlehnens der
gewaltigen Maſſen an einander, ohne weiteres
Reſultat, als das der Ruhe, des allgemeinen
Stillſtandes und des nothwendigen Morſch-wer-
dens und Verſinkens der Staaten in ſich ſelbſt.
Gemeine Seelen aber ſollen uͤber dieſen Umgang
der Staaten-Individualitaͤten unter einander
nicht weiter nachdenken; ihnen iſt von dieſem nie
nachlaſſenden Umgange nichts weiter ſichtbar, als
die einzelnen Momente des wirklichen Krieges,
und dieſe ſchrecken ſie von der Betrachtung zu-
ruͤck. Uebrigens, meinen ſie, falle ja auch zwiſchen
den Staaten nichts Bedeutendes weiter vor, als
einiger Handel, einiges Hin- und Herreiſen, Ge-
ſandten-ſchicken, mitunter das Abſchließen eines
Tractates uͤber Aus- und Einfuhr, Freizuͤgig-
keit, militaͤriſches Cartel, und der wiſſenſchaft-
[285] liche Verkehr, welcher mit den Staaten eigent-
lich nichts zu ſchaffen habe. Ja, den Krieg ab-
gerechnet, ſcheint der Umgang zwiſchen Staa-
ten ein ſtiller Umgang: er iſt ſo laut, daß er
dem gemeinen ſterblichen Ohre wieder ſtill wird,
— gleich der Harmonie der Sphaͤren, nach der
Idee einiger Alten. —
Alle dieſe Staaten, die wir als große Men-
ſchen, menſchlich an Koͤrperbau, Gemuͤths- und
Denkart, Bewegung und Leben dargeſtellt haben,
ſollen unabhaͤngig und frei ſeyn, wie das Indi-
viduum im einzelnen Staate oben beſchrieben
wurde. In ihrer eigenthuͤmlichen, nationalen
Form und Manier ſollen ſie wachſen und leben,
und ſich einander geltend und fuͤhlbar machen.
Warum? Weil nur aus recht entgegengeſetzten
Partheien ein Geſetz hervorgehen kann. Wie
vollſtaͤndig auch die Staaten innerlich ausgebil-
det ſeyn moͤgen — ſie behalten, als Individuen,
immer wieder einen Geſchlechts-Charakter, und
ſo beduͤrfen ſie eines andern politiſchen Individu-
ums von entgegengeſetztem Geſchlechts-Charak-
ter. Staaten von buͤrgerlichem Geſchlecht, wie
die Handels-Republiken des Mittelalters, beduͤr-
fen des innigen Umganges mit Staaten von
mehr adeligem Geſchlecht, wie Oeſtreich und
Frankreich. Hier und dort wird die Rechts-Idee
[286] vollſtaͤndig und allſeitig und national ausgebildet;
aber der hoͤchſte Ausdruck dieſer Rechts-Idee
bleibt immer noch ein einſeitiger, bedarf einen
entgegengeſetzten, eben ſo nationalen Ausdruck
des Rechtes ihm gegenuͤber, damit er ewig fuͤhle,
daß das Recht nie abgeſchloſſen und fixirt wer-
den koͤnne, ſondern in’s Unendliche fort wachſen
muͤſſe.
Jeder Staat bedarf, um ſich ſelbſt zu fuͤh-
len, um ſich zu erkennen und um ſich zu meſſen,
beſtaͤndig ſeines Gleichen. Damit es Einen Staat,
und damit es Einen Menſchen geben koͤnne, ſind
mehrere Staaten und mehrere Menſchen
noͤthig. Wie moͤchten alle die unendlichen Indi-
viduen, aus denen, wie ich gezeigt habe, der
Staat beſteht, zu der Erkenntniß kommen, daß
ſie ein Ganzes bilden, wenn nicht andre Staa-
ten, andre politiſche Totalitaͤten ſie an den Zu-
ſammenhang erinnerten, und zu der Gemeinſchaft
zwaͤngen, die ſie bilden! Wenn es alſo uͤberhaupt
Einen Staat geben ſoll, ſo muß es mehrere
Staaten geben, und einen nie nachlaſſenden, le-
bendigen Umgang dieſer Staaten. Dem zu Folge
widerſpricht ſowohl der Idee des Rechtes, als
der Exiſtenz jedes Staates, innerlich und durch-
aus 1) die Chimaͤre der Univerſal-Monar-
[287] chie und 2) der Wahn der politiſchen Neutra-
litaͤt.
Die Univerſal-Monarchie iſt ein Staat ohne
Schranken; der neutrale Staat ein abſolut be-
ſchraͤnkter, geſchloſſener Staat: beides ſind Extre-
me, deren jedes den vollſtaͤndigſten Widerſpruch
enthaͤlt. Eins der untrieglichſten Zeichen, wie
tief-greifend und wie innig die Verbindung der
Europaͤiſchen Staaten in den beiden letzten Jahr-
hundertem war, iſt der Antheil aller Staaten
an jedem moͤglichen Streite, der unter zweien
von ihnen entſtehen moͤchte. Daß jeder Krieg
alle Cabinette in Bewegung ſetzte und zum
Univerſal-Kriege wurde, beweiſt, wie innig ver-
flochten das Intereſſe, und wie ununterbrochen
der Umgang jedes einzelnen mit allen uͤbrigen
war. Es waren nicht ſowohl die Anſichten der
Cabinette, welche den Krieg beſtimmten; es war
niemals der Eigenſinn der Regierenden, wie ein
weichlicher, verderbter Poͤbel ſich die Sache
denken mochte: es waren immer tiefer liegende,
in der nothwendigen Conſtruction des geſammten
Staatenverhaͤltniſſes liegende Gruͤnde. Ein in-
nerer, der gegenwaͤrtigen Generation voͤllig un-
bewußter, aus dem Anſtoße fruͤherer Generatio-
nen herruͤhrender Drang nach lebendigem Wachs-
thum, war auch das eigentliche Mobil der Kriege,
[288] die in den vorletzten Jahrhunderten einzelne
Staaten fuͤr ihre Vergroͤßerung unternommen
haben. Aber das Motiv, welches die Cabinette
im achtzehnten Jahrhundert leiten mochte, unter-
ſchied ſich durchaus von dem Mobil, von dem
allen, ihnen unbewußt, mitgetheilten Drange nach
Wachsthum. Die Cabinette und die Voͤlker ſahen
in dem Staatenverhaͤltniſſe von Europa nichts
mehr, als das armſelige Bild der ſchwankenden
Wage. Eine Operation, welche die Staaten,
durch neue Vertheilung der Gewichte, entwaffne-
te, zum Stillſtand oder — wie ſie es nannten
— in’s Gleichgewicht brachte, ſchien den Cabi-
netten unbedingt rechtlich. Man zaͤhlte die Qua-
dratmeilen ſeines Gebietes, die Anzahl der Ein-
wohner, den Beſtand der Koͤpfe, die man unter
Waffen bringen konnte, und die Summe der
Geld-Revenuͤen; und, als ob das Voͤlkerrecht
nichts anderes waͤre, als das Facit einer politi-
ſchen Rechenkunſt, wurde das allgemeine Stre-
ben der Cabinette nun auf arithmetiſche Vergroͤ-
ßerung, auf Vermehrung der Quadratmeilen,
Einwohner, Truppen und Revenuͤen gerichtet.
Die ganze innere Geſtalt der einzelnen Staaten
modificirte ſich nach dieſem traurigen Princip,
welches damals den Geiſt aller Adminiſtrationen,
auch der geprieſenſten, ausmachte.
Das
[289]
Das ganze Geheimniß der Zeitgenoſſen von
Friedrich dem Zweiten, an welchem er ſelbſt, die-
ſer auch in ſeinen Irrthuͤmern außerordentliche
und genialiſche Kopf, wohl den entſchiedenſten An-
theil nehmen mußte, war Vergroͤßerung der
Maſſen. Wenn das Europaͤiſche Gleichgewicht
nichts anderes war, als ein Garantiren, Stuͤt-
zen und Aufheben der Maſſe durch die Maſſe,
ſo hatte dieſe Schule vollkommen Recht. In
den voͤlkerrechtlichen Prozeſſen war nichts weiter
zu thun, als zu entſcheiden. Deshalb mußte,
um der im Laufe der Jahre beſtaͤndig wechſelnden
Geſtalt dieſer Maſſen zu begegnen, jeder einzelne
Staat zum Waͤchter uͤber dieſe arithmetiſchen
Maſſen werden, und dadurch, daß er mit ſeinem
Gewichte beſtaͤndig zwiſchen den beiden Schalen
ſchwankte, den jeden Augenblick nothwendigen
Ausſchlag geben helfen. Der große Zweck, wel-
chen alle Europaͤiſchen Staaten im Auge hatten,
wenn ſie ihr Intereſſe im Cabinet betrachteten,
war unendliche Vergroͤßerung; der Zweck, den
ſie vorgaben, wenn ſie ihre Schritte oͤffentlich
rechtfertigten, war jene große arithmetiſche ○,
die das Reſultat von dem Neben-einander-Leben
dieſer herrlichen Staaten ſeyn ſollte. Was war
in den Augen dieſer calculirenden Weisheit ein
Müllers Elemente. I. [19]
[290] wirkliches, lebendiges, tauſendjaͤhriges Recht,
neben dem geheimen Streben nach dem ∞, und
dem oͤffentlich vor allem Volk anerkannten Stre-
ben nach der großen ○! — Die Theilung von
Polen war nichts anderes, als eine nothwendige
Folge derſelben Politik, die noch nicht abſah,
wohin ſie fuͤhren wuͤrde.
Nun aber iſt, wie ich gezeigt habe, der wahre
Staat mehr, als Maſſe. In ſo fern er in ſich
frei, vollſtaͤndig, lebendig und organiſch iſt, ver-
mag die Maſſe nichts uͤber ihn, wohl aber kann
er die Maſſe ſprengen.
Dadurch, daß im Privat-Rechte die
Rechte nicht bloß maſſenweiſe abgewogen und
entſchieden, ſondern auch die Freiheit der recht-
lichen Partheien angeſchuͤrt und zwiſchen ihnen
vermittelt wird; dadurch, daß im Staatsrechte
zwiſchen der Macht des Suveraͤns, und der
Macht des Volkes, nicht wie zwiſchen zwei ganz
heterogenen Maſſen abgewogen und entſchieden,
ſondern, daß zwiſchen der Macht des Suveraͤns,
und der Gegenmacht des Volkes, zwiſchen zwei
freien, unendlich verſchiedenen und doch unend-
lich in einander greifenden Weſen, vermittelt;
dadurch endlich, daß im Voͤlkerrechte zwiſchen
der Macht des Einen und des andern Staates
[291] nicht bloß auf der Weltwage des Gleichgewichtes
ohne Ende abgewogen und entſchieden, ſondern
dadurch, daß zwiſchen ihrer gegenſeitigen reich
geſtalteten und koloſſaliſchen Freiheit lebendig
vermittelt wird — zeigen ſich andre und groͤßere
Reſultate von dem Privat- und dem oͤffentlichen
Leben und von dem Umgange der Voͤlker. An-
ſtatt der in allen drei Rechten allgegenwaͤrtigen,
bloß entſcheidenden Wage, anſtatt des todten
Friedens, anſtatt des bloßen Streit-Abmachens,
anſtatt der in allen drei Rechten allenthalben be-
zweckten ○ — ein lebendiges, wirkliches Krie-
ges-Reſultat, eine wachſende, ſichtbare, die gan-
ze große Gemeinſchaft durchdringende Idee des
Rechtes, und, durch die unendliche Vermittelung
zwiſchen der kleinſten und der groͤßten Freiheit,
ein freies goͤttliches Leben des Ganzen. Wenn
durch ein ganzes Jahrhundert hindurch der Zweck
des Rechtes bloß negativ, oder vielmehr als ○,
als Stillſtand, als todter Friede gedacht, wenn
nichts Reales, kein wirkliches Lebensgut, allen
Rechtsanſtalten zum Ziel ihres Strebens mehr
vorgehalten worden iſt: dann darf man ſich nicht
wundern, daß, nachdem jede große Macht in
Europa ſich jenes ○, ihrem Intereſſe gemaͤß,
insgeheim conſtruirt hat, nun auch die Theorie
[292] des Rechtes eine voͤllig abſtracte Geſtalt bekommt,
und der ſchlichte Menſchenverſtand am Ende nicht
mehr weiß, was er ſich dabei denken ſoll, und
ob das Recht, wovon die Wiſſenſchaft ſo viel
Aufhebens macht, denn auch in der Wirklichkeit
exiſtire.
Ich habe im Privatrechte, im Staatsrecht
und im Voͤlkerrechte von einem allgemeinen Stre-
ben nach Freiheit geſprochen, welches alle Indi-
viduen durchdringen ſolle. Sie wuͤrden mich ſehr
mißverſtanden haben, wenn Sie meinten, ich ha-
be, nach Anleitung der vorbeſchriebenen politi-
ſchen Schule, unter dieſem Streben nichts Hoͤ-
heres verſtanden, als das Streben nach Vergroͤ-
ßerung, welches letztere freilich auch noch jetzt
das Motiv aller Thaͤtigkeit bei der unermeßlichen
Majoritaͤt der Menſchen ſeyn mag. Geld ſammeln,
Anſehen erwerben, ſein Beſitzthum auf Koſten
Andrer vergroͤßern — in dieſen Beſtrebungen der
Menſchen zeigt es ſich, daß jene Schule eigent-
lich die Schule des Jahrhunderts iſt. Das mei-
nen ſie, wenn ſie die Freiheit nennen. Ich
habe hinlaͤnglich den großen Unterſchied bemerken
laſſen, der zwiſchen den Summen und der To-
talitaͤt, zwiſchen der liberté volonté, und dem
interét de tous, und dem allgemeinen Willen und
[293] Intereſſe und der allgemeinen Freiheit Statt fin-
det. Ein lebendiger Staat, oder ein organiſcher,
iſt der, welcher nach Totalitaͤt ſtrebt, nicht nach
Vergroͤßerung der Summe. In einem Staate,
der nach bloßer Vergroͤßerung ſtrebt, iſt das
eigentliche Lebens-Princip noch nicht gekommen,
oder ſchon ausgeſtorben: er kann, ſage ich, ſeine
Maſſe vergroͤßern; aber die Maſſe weicht unfehl-
bar nun auch der groͤßeren Maſſe, die im Laufe
der Zeiten nicht ausbleibt. Die Europaͤiſchen
Fuͤnf-Reiche mit ihren Acceſſorien waren von
Natur, wie ich oben zeigte, zu jener Totalitaͤt,
d. h. zu organiſchen Staaten, gebildet und er-
zogen worden. Jeder ſollte ein vollſtaͤndiges,
reich gegliedertes, aus unendlichen lebendigen Par-
theien zuſammengewirktes Ganze darſtellen, als
wachſendes Ganze gelten, und nicht als Aggre-
gat von einzelnen Maſſen.
In dem Umgange dieſer Fuͤnf-Reiche und
ihrer Acceſſorien entwickelte ſich ein maͤchtiges,
heiliges, unſichtbares Weſen. Die chriſtliche Re-
ligion war es, der allein jener Thron uͤber den
lebendigen Voͤlkern gebuͤhrte: ſie gab dem gro-
ßen Gemeinweſen von Europa die Geſtalt und
den ſichtbaren, allen Herzen tief verſtaͤndlichen,
Charakter; ſie gab den Vertraͤgen eine heilige
[294] Bedeutung, und dem Recht eine ſichtbare und
doch zugleich unendliche Ideen-Form. Die Ein-
heit der Fuͤnf-Reiche, als Chriſtenheit, ging
durch die religioͤſe Spaltung in der Reformation
verloren. An ihre Stelle trat eine Rechts-Idee,
deren Leben Stand hielt, ſo lange noch die Herzen
der Voͤlker im Glauben eins blieben und nur
uͤber die irdiſche Form dieſes Glaubens geſpaltet
waren. Aber allmaͤhlich entwich auch dieſes Band
des Glaubens, und die Idee des Rechtes, die
ſelbſt noch im Weſtphaͤliſchen Frieden deutlich
wahr zu nehmen iſt, erſtarrte zum Begriff des
auf den Buchſtaben der Tractaten gegruͤndeten
Voͤlkerrechtes. In dem Maße, wie die Voͤlker
nicht mehr an ihre eigene Freiheit glaubten, ging
ihnen auch das Gefuͤhl des Rechtes verloren.
Nun war der Welt nichts weiter verblieben
von allen wahren Heiligthuͤmern der Menſch-
heit, als der Gedanke des augenblicklichen Nut-
zens; ein arithmetiſcher Calcul war der Erſatz
fuͤr alle energiſche, lebensreiche Weisheit der Vor-
fahren. Was vermochte der Buchſtabe der Tracta-
ten, da die auslegende Empfindung, das große le-
bendige Gemein-Intereſſe der Voͤlker und der al-
les umfaſſende, alles bindende Glaube fehlte! Die
oben beſchriebene ○ des Gleichgewichtes ward
[295] auf den Thron uͤber die Voͤlker geſetzt; den
Stillſtand des Ganzen vertheidigen und behaup-
ten, hieß Recht, nach Unterwerfung der Welt,
nach Verbindung aller Maſſen in Eine Maſſe
ſtreben, hieß Politik. So ſtrebte man zugleich
nach der Univerſal-Monarchie insgeheim, und
nach allgemeiner Neutralitaͤt, oder nach dem tod-
ten Gleichgewichte, oͤffentlich. Das Genie eines
Friedrichs des Zweiten, eines Joſephs des Zwei-
ten und einer Katharina gehoͤrte dazu, um die
doppelſinnige Rolle, unbeſchraͤnktes Streben nach
Vergroͤßerung, und oͤffentliches Wortfuͤhren der
allgemeinen Neutralitaͤt, oder des Gleichgewich-
tes, zugleich zu ſpielen.
Andrerſeits konnte aber auch die große poli-
tiſche ○, oder die Lehre von der Neutralitaͤt, nicht
einſeitig durchgefuͤhrt werden. Als dann eine neue
Ordnung der Dinge begann, und der Grundſatz,
in dem großen Geſchaͤfte der Fuͤnf-Reiche, deren
Theile auf Leben und Tod auch durch bloßes
weltliches Intereſſe verbunden ſind, ſich zu iſo-
liren, und den großen, nie nachlaſſenden, Leben
erzeugenden Weltkrieg, unbekuͤmmert, welches In-
tereſſe dabei etwa auf dem Spiele ſtehen moͤch-
te, zu ſcheuen, oder einen zu laͤſſigen Antheil
daran zu nehmen, hier und dort Maxime wurde:
[296] — da bereitete die Nemeſis ſtill und heimlich,
durch eine Reihe anſcheinend lachender Jahre,
einem vergaͤnglichen Syſteme ſeinen Untergang.
Eine Weltſtrafe war es, welche hier die Natur
vollzog; und ſie vollzog dieſelbe, wie oͤfters, gerade
an den Unſchuldigſten, damit die Menſchen nicht
in Zweifel ſeyn koͤnnten, wofuͤr die Strafe eigent-
lich erfolge; damit ſie nicht waͤhnen ſollten, das
Gericht gelte etwa eine Perſon; damit ſie fuͤhl-
ten, daß es eine verlaͤugnete heilige Idee ſey, der
die Nemeſis beiſtehe.
Je lebendiger und allſeitiger die Freiheit der
Einzelnen iſt, um ſo gewaltiger, inniger und
ſichtbarer iſt ihr gemeinſchaftliches Intereſſe, oder
das Recht, oder das Geſetz: das iſt die große,
um des Lebens willen, allgegenwaͤrtige, und auch
durch kein Wort verlaͤugnete Idee meiner Rechts-
lehre. Wer ſie verſtanden hat, der hat den
Grundgedanken aller Staatswiſſenſchaft, und,
da menſchliche und buͤrgerliche Exiſtenz Eins und
daſſelbe ſind, auch den Grundgedanken des
ganzen Lebens verſtanden. Das einſeitige Stre-
ben nach Vergroͤßerung oder Univerſal-Monar-
chie, iſt ein Streben nach einem Monopol, nach
dem Ausſchließen der Uebrigen von der Freiheit,
alſo nicht ein Streben der Freiheit, welche, wie
ich
[297] ich gezeigt habe, das Streben des Nachbars
nach Freiheit anerkennen muß. In dem wahren
ſtolzen Streben nach Freiheit und Unabhaͤngig-
keit liegt zugleich, wie ich gleichfalls gezeigt,
Demuth und Hingebung gegen die Freiheit der
Uebrigen, Strenge und Milde: ſo iſt alle Ge-
meinſchaft vor der Idee des Rechtes zugleich
eine religioͤſe Gemeinſchaft; ſie verlangt Aufopfe-
rung, Weggeben des Sichtbaren fuͤr das Unſicht-
bare. Was kann alſo den großen Umgang der
koloſſalen Menſchen, die ich oben als Glieder
oder Theilnehmer der erhabenen Gemeinſchaft der
Fuͤnf-Reiche dargeſtellt habe, beſſer reguliren,
als der Glaube, das unſichtbare und doch ſo
maͤchtige, ſo bewegliche Geſetz der Religion,
unter deren Schutz, und in deren immerwaͤhren-
dem, innigem, thaͤtigem Anſchauen die Fuͤnf-Reiche
groß geworden ſind! Hier ſind Freiheit, Geſetz,
Ehrfurcht vor den Abweſenden; alle Elemente
der wahren Weltherrſchaft ſind hier beiſammen.
Vor ihr ſchließen ſich die freie Behauptung der
eignen Nationalitaͤt, und die innigſte Gemein-
ſchaft unter den Staaten nicht gegenſeitig aus.
Ein Glaube, der, Trotz aller Nationalitaͤt, den-
noch in den innerſten geheimſten Nerven jedes
Staates Raum findet und ſich mit den verſchie-
[298] denartigſten Formen des buͤrgerlichen Lebens ver-
traͤgt — der iſt von ſelbſt ſchon das hoͤchſte ge-
meinſchaftliche Gut, das innigſte Bindungs-Mit-
tel, der ſicherſte gemeinſchaftliche Boden, und
der untrieglichſte, lebendigſte Geſetzgeber fuͤr Alle.
Erſt am Schluſſe meiner Vorleſungen wird dieſe
Behauptung ſich vollſtaͤndig bewaͤhren; denn in
Einer Stunde laͤßt ſich nicht alles ſagen.
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der Deutſchen Vorſchule der Jurisprudenz ſehr verſchie-
den. Das Recht, welches man auf den Brittiſchen
Univerſitaͤten theoretiſch, vorzuͤglich aber in den Ge-
richtshoͤfen praktiſch lernt, iſt etwas durchaus Natio-
nales. Das Studium der Inſtitutionen von Sir
Edward Coke und der Commentarien von
Blackſtone ſteht der ganzen Oekonomie des Britti-
chen National-Lebens viel naͤher, als die Juſtinianiſche
die Scheu der Britten vor aller Anwendung des Roͤmi-
ſchen Rechtes, eine Folge der guten Gewohnheit, alle
National-Angelegenheiten juriſtiſch zu begreifen.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Elemente der Staatskunst. Die Elemente der Staatskunst. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnrr.0