Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1868.
[[III]]
Das Bildungsweſen.
Erſter Theil.
Das Elementar- und das Berufsbildungsweſen
in
Deutſchland, England, Frankreich und andern Ländern.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
1868.
[[IV]]
Buchdruckerei der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung in Stuttgart.
[[V]]
Vorrede.
Ich muß mit dem Bekenntniß beginnen, daß ich bei keinem
Theile des ganzen Verwaltungsrechts ſo klar wie bei dem vorliegen-
den das Bewußtſein gehabt habe, daß es mir unmöglich ſein
werde, das Material auch nur bis zu dem Grade zu bewältigen,
den ich in den bisherigen Theilen meiner Arbeit erreicht habe. Je
weiter man in dieß Gebiet dringt, je mehr muß man die Ueber-
zeugung gewinnen, daß die vollſtändige Bearbeitung deſſelben das
ganze Leben, die ganze Kraft eines Menſchen fordert und daß der-
jenige ſehr viel und Hochwichtiges geleiſtet haben wird, dem es
gelingt, hier auch nur den weſentlichen Anſprüchen nach allen
Seiten hin zu genügen.
Ich verſtatte mir jedoch dieſes aufrichtige Bekenntniß nicht,
um für die Mängel des Folgenden in gewöhnlicher Weiſe Entſchul-
digung zu finden. Denn ich habe beim Beginn meiner Arbeit ge-
wußt, wie viel ich nicht werde leiſten können. In dieſem Bewußt-
ſein aber mußte ich mich fragen, worin denn eigentlich neben jenen
Mängeln, die der Fachmann in jedem Theile finden wird, das Ziel
und damit der Werth einer ſolchen Arbeit beſtehen könne und ſolle.
Ich will auch dieß mit ganzer Offenheit ſagen, auf die Gefahr
hin, mißverſtanden zu werden.
In der großen, faſt täglich wachſenden Literatur über das
Bildungsweſen ſowohl im Ganzen als über einzelne Theile fehlen
drei Dinge, ohne welche ſie ſtets unvollkommen bleiben wird.
Zuerſt fehlt eine Arbeit, welche alle Gebiete des geſammten
Bildungsweſens als ein Ganzes umfaßt und damit die Grundlage
[VI] des organiſchen Bewußtſeins und Verſtändniſſes deſſelben liefert.
So viel wir wiſſen, iſt die Aufſtellung eines ſolchen Syſtems über-
haupt noch nie verſucht, geſchweige denn durchgeführt. Daß aber
daſſelbe für die Wiſſenſchaft unabweisbar geworden iſt, nachdem
das öffentliche Recht es im wirklichen Leben bereits hergeſtellt, iſt
nicht fraglich.
Zweitens fehlt — vielleicht wohl gerade aus dem obigen
Grunde — eine klare Beſtimmung der meiſten Einzelbegriffe und
ihrer Grenzen gegen einander. Es iſt ziemlich vergeblich, nach einer
wiſſenſchaftlichen und damit allgemein gültigen Beſtimmung des
Weſens von Volks- und Bürgerſchule, von wiſſenſchaftlichen und
wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten, von Real- und Gewerbeſchule
und hundert andern Erſcheinungen zu ſuchen, denn ſelbſt Wieſe’s
Definitionen beziehen ſich nur auf preußiſche, nicht einmal gleich-
artige Verhältniſſe. Die Wiſſenſchaft hat alle dieſe Dinge ſo ſehr
der Praxis und dem Experimente überlaſſen, daß die letzteren ſich
ſchon deſſen entwöhnt haben, bei der erſteren überhaupt darüber
Rath zu ſuchen. Und doch iſt ein rechtes Verſtändniß des in jedem
Lande wirklich vorhandenen, gültigen Syſtems des öffentlichen Bil-
dungsweſens und ſeines Rechts ohne ſolche feſte Begriffsbeſtim-
mungen, ja wenn man will ohne Schema, geradezu nicht möglich.
Drittens fehlt dieſem Theile der Wiſſenſchaft des öffentlichen
Rechts, was ſo ziemlich auch allen andern fehlt, das Bewußtſein
und die Erkenntniß der nationalen oder individuellen Geſtalt des
Bildungsweſens in den Kulturländern. Wir haben namentlich in
neueſter Zeit ſehr ſchöne Arbeiten über Englands und Frankreichs
Bildungsweſen; aber wir haben keine Vergleichung derſelben,
weil eben das feſte Syſtem, das tertium comparationis, mangelt.
Einer der Hauptgründe für dieſe Mängel beruht nun wohl
auf der hiſtoriſchen Thatſache, daß bisher eine innere oder gar
äußere Einheit, eine Gemeinſchaft des Bewußtſeins der Aufgaben
und ihres organiſchen Ineinandergreifens für alle Theile des Bil-
dungsweſens gefehlt hat und fehlt. Es exiſtiren noch ſehr wenig
Berührungen zwiſchen den Lehrern in den Schulen, den Lehrern
auf den Vorbildungsanſtalten und dem Profeſſorenthum an den
[VII] Hochſchulen. Hier herrſcht noch das große hiſtoriſche Princip der
ſtändiſchen Körperſchaften und ihrer Abgeſchloſſenheit. Es ſind noch
ganz verſchiedene Welten, die Volksſchule, das Gymnaſium und
die Univerſität. Und geht man gar hinüber in die Arbeit der
allgemeinen Bildung, namentlich in die der Preſſe, wie weit iſt da
die Erkenntniß entfernt, daß auch ſie den gleichen Beruf mit allen
andern habe und daß ſie deßhalb mit jenen in innerer und äußerer
Gemeinſchaft, in gegenſeitigem Heben und Tragen, wirken müßten.
Daß nun auch in dieſer Richtung ein unendlicher Fortſchritt
geſchehen, iſt nicht zweifelhaft. Allein die Hauptſache bleibt zu
thun. Es muß zu einem fundamentalen Princip des öffentlichen
Lebens werden, daß alle Lehrer und alle Schriftſteller als Glieder
Eines großen Organismus ſich in Einer und derſelben großen Ge-
meinſchaft fühlen und wiſſen. Die erſte Bedingung für die Er-
reichung dieſes Zieles iſt das wiſſenſchaftliche Syſtem, das ſie alle
als Einheit auffaßt und in ihrem organiſchen Zuſammenwirken
darſtellt. Und es iſt faſt wichtiger, daß überhaupt ein ſolches Syſtem
aufgeſtellt werde, als daß es gerade ein unbedingt richtiges ſei.
Die Wahrheit dieſes Satzes liegt in dem Obigen. So habe ich
verſucht, das Syſtem aufzuſtellen, mit ſo viel Mitteln und Arbeits-
kraft, als mir zu Gebote ſtanden. Und dabei gebe ich Eine Hoff-
nung nicht auf.
Ein großer, nicht hoch genug anzuſchlagender Theil der gei-
ſtigen Arbeit Deutſchlands liegt auf ſeinen Lehrſtühlen. Sie lehren
nicht bloß, ſondern ſie zwingen den Lehrer zu lernen; viel mehr
ſogar zu lernen, als er zu lehren vermag. Daher hat erſt der-
jenige Theil des menſchlichen Wiſſens, der ſich ſeinen Platz auf
einem Lehrſtuhle errungen, ſeine wahre Bedeutung gewonnen; denn
der tägliche Vortrag iſt die Quelle der ewigen Jugend des Geiſtes.
Nun haben wir allerdings Lehrſtühle der Pädagogik und Metho-
dologie; allein wir haben gar keinen Lehrſtuhl für das Bildungs-
weſen. Die ganze Arbeit unſerer Wiſſenſchaft beruht auf dem,
was geſchehen ſoll für das geiſtige Leben; wie es geſchehen ſoll,
das hat die Wiſſenſchaft bisher ganz der Praxis überlaſſen. Und
doch iſt jenes ohne dieſes eine Seele ohne Körper; obwohl der Staat
[VIII] Aemter und öffentliche Organe für die Verwaltung der Bildung
ſeiner Angehörigen genug hat — eine Verwaltungslehre für
dieſe Organe beſitzt er nirgends. Das iſt ein großer Mangel.
Und mit unſeren beſten Gefühlen ſprechen wir die herzliche Hoff-
nung aus, daß auch das öffentliche Bildungsweſen recht
bald ſeinen Lehrſtuhl an jeder Univerſität finden
möge, wo ja doch die Geſundheitspflege und die Polizei, die Vor-
mundſchaft und das Grundbuch, die Land- und die Forſtwirthſchaft
und hundert andere Dinge ihren Platz, ihre Vertretung und ihre
Koryphäen gefunden haben, wahrlich nicht zum Schaden des deut-
ſchen Volkes!
Deßhalb nun, um auch dafür ein Subſtrat zu liefern, haben
wir dieſe Arbeit unternommen. Wie allgemein und ernſt aber die
Theilnahme an dieſen Fragen iſt, zeigt das lebendige Leben in
Geſetzgebung und Literatur, die dieſen Gebieten angehören und
die zum Theil erſchienen ſind, während unſere Arbeit gedruckt wurde.
In der Geſetzgebung namentlich weiſen wir auf die entſtehende
öſterreichiſchen und bayeriſchen neuen Schulgeſetze hin, die vom Geiſte
des entſchiedenſten Fortſchrittes durchdrungen ſind. Die Lehrertage
ihrerſeits arbeiten mit aller Kraft und wirken nach allen Richtungen.
Namentlich aber ſchreitet unſere Zeit faſt mit Rieſenſchritten auf
dem Felde der wirthſchaftlichen Vor- und Fachbildung fort, und
jede Statiſtik wird hier von den Thatſachen überholt. Unſere Sache
war es nicht, uns auf Statiſtik einzulaſſen. Es iſt ſehr noth-
wendig, hier das große Princip der Arbeitstheilung aufrecht zu
halten. Wir fordern das nicht für ſolche Arbeiten wie L. Wieſe’s
„höheres Schulweſen in Preußen,“ das einen ganz ſpeciellen amt-
lichen Zweck hat, und das in ſeinem Anhang S. 622 ff. gewiſſe
einſchlagende Inſtruktionen, Reglements und Statuten „und der-
gleichen mehr (!)“ zuſammenſtellt, ohne irgend einen Plan und
ohne Ordnung, weil jene Verwaltung rein für ihre eigenen Zwecke
arbeitet. Wohl aber fürchten wir geradezu, daß die meiſt ſehr
bequeme Tendenz zur Sammlung von allerlei ſtatiſtiſchen Daten
die eigentliche Arbeit der Wiſſenſchaft, das wahre organiſche Ver-
ſtändniß des Ganzen, ein wenig verdränge. Was für die Verbindung
[IX] der Statiſtik dieſes Gebietes mit der Staatenkunde überhaupt ge-
ſchehen kann, dafür gibt Brachelli uns ein hochachtungswerthes
Beiſpiel. Nur wenn wir uns die Arbeit theilen, werden wir des
faſt übermächtigen Stoffes Herr werden. Und wir nun glauben
unſrerſeits, daß dieß dadurch geſchehen wird, daß die Statiſtik ſich
an das Syſtem der Wiſſenſchaft anſchließt — denn dieſe ſoll das
organiſche Weſen, jene die äußeren Grenzen der lebendigen That-
ſachen geben. Können daher beide ein verſchiedenes Syſtem
haben?
Wir können nicht ſchließen, ohne einer Arbeit zu erwähnen,
die wir nicht mehr haben benützen können. Wir meinen A. Beer
und F. Hochegger: „Die Fortſchritte des Unterrichtsweſens in
den Kulturſtaaten Europa’s“ 1867. Erſter Band. Die Arbeit ſcheint
zunächſt aus einer Reihe von Journalartikeln entſtanden zu ſein
und behält dieſen Charakter auch in ihrer gegenwärtigen Form.
Wenn man einen ſyſtematiſchen Gedanken über das Bildungsweſen
mitbringt, iſt vieles in dieſem Werke recht gut zu benutzen. Auf
Vollſtändigkeit macht es wohl ſelbſt weder für Frankreich noch für
Oeſterreich einen Anſpruch. Die Literatur iſt, wie es ſcheint, grund-
ſätzlich nicht berückſichtigt; ebenſowenig iſt die pragmatiſche Geſchichte
der Geſetzgebung gegeben. Was namentlich Frankreich betrifft, ſo
iſt die eigentliche Bedeutung der Geſetze von 1833 und 1850 und
1852 kaum recht verſtanden, das Syſtem Duruy weit überſchätzt;
die Zuſammenſtellung des Collège de France mit der „Univerſität“
(namentlich S. 63) läßt einigen Zweifel darüber entſtehen, ob das
Weſen der letzteren überhaupt richtig erfaßt iſt; die Behauptung,
daß die École polytechnique an der Spitze des techniſchen Stu-
dienweſens ſtehe, iſt uns unbegreiflich geblieben. Was Oeſterreich
betrifft, ſo iſt Fickers Abhandlung bei Schmid an exactem Mate-
rial weit reicher, wird aber gar nicht angeführt; auch auf Hel-
fert wird keine weitere Rückſicht genommen. Wie es möglich war,
in einer wiſſenſchaftlichen, für das ganze deutſche Publikum be-
ſtimmten Arbeit die lokale und höchſt unfertige Kategorie der ſog.
„Mittelſchule,“ bei der man ſich ſtets zu viel oder zu wenig denken
muß, beizubehalten, iſt uns unverſtändlich geblieben. Das Werk
[X] liefert einen neuen Beweis dafür, daß ohne ſtrenge, wiſſenſchaft-
liche Ordnung und ſpeciell ohne Unterſcheidung von gelehrter und
wirthſchaftlicher, von Vor- und Fachbildung, die Behandlung auch
ganz bekannter Stoffe kein recht faßbares Reſultat ergeben kann.
Uebrigens wird ſelbſt der Fachkundigſte aus der geſchmackvollen
Bearbeitung viel lernen. Fehlt das Inhaltsverzeichniß, weil das
Syſtem fehlt? Wir ſind namentlich auf den Band geſpannt, der
England behandeln wird. Das Verſtändniß des engliſchen Bil-
dungsweſens wird von jetzt an der Prüfſtein für das Verſtändniß
des Bildungsweſens überhaupt bleiben; erſt bei England erkennt
man, daß ein Nebeneinanderſtellen noch ſehr weit von einer
Vergleichung entfernt iſt. —
— Wir haben uns entſchloſſen, die Darſtellung des Allgemeinen
Bildungsweſens äußerlich von der der Elementar- und Berufsbil-
dung zu ſcheiden. Es wird das wohl der Einheit des Gedankens
keinen Eintrag thun. Aber die Preſſe forderte ihre eigene Behand-
lung und wir möchten viel lieber im Intereſſe der Sache wünſchen,
daß unſere Leſer in dieſer äußeren Scheidung das Gefühl des in-
neren Zuſammenhanges, als bei äußerer Verbindung das der in-
neren Entfremdung beider Theile mit ſich nähmen.
Wien, Ende 1867.
Dr. L. Stein.
[[XI]]
Inhalt.
Die Verwaltung und das geiſtige Leben.
- Seite
- Einleitung XVII
- Allgemeiner Theil.
- I.Begriff und Weſen der Bildung an und für ſich.
- I. Begriff der Bildung 1
- II. Die drei Grundformen der Bildung: Weſen der Elementar-, der Be-
rufs- und der allgemeinen Bildung, und ihr organiſches Verhältniß
zu einander 3 - III. Das Bildungsweſen und ſein Syſtem 8
- II.Das öffentliche Bildungsweſen.
- I. Begriff des Bildungsrechts 12
- II. Princip und Syſtem des öffentlichen Bildungsrechts 13
- III. Geſchichte der verwaltungsrechtlichen Auffaſſung im Ganzen 16
- IV. Geſchichtliche Entwicklung 20
- 1) Das geſellſchaftliche und das ſtaatliche Princip des Bildungsrechts 20
- 2) Die Stadien des öffentlichen Bildungsweſens in der Geſchichte 22
- V. Der Charakter des Bildungsweſens in den Hauptſtaaten Europas 39
- England 43
- Frankreich 45
- Deutſchland 52
- Belgien 53
- Holland 55
- Italien 56
- Die Schweiz 59
- Schweden 62
- Rußland 63
- Serbien 64
- Rumänien 65
- Beſonderer Theil.
- Seite
- Syſtem 67
- Erſter Theil.
Das Volksſchulweſen. - Allgemeiner Theil.
- I. Der Elementarunterricht an ſich 71
- II. Das Volksſchulweſen. — Die Principien ſeines Rechts und ſeiner
Verwaltung 73 - III. Das Volksſchulweſen der großen Kulturvölker 78
- 1) Was man als Charakter des Volksſchulweſens zu bezeichnen hat 78
- 2) Deutſchlands Volksſchulweſen und die Elemente ſeiner Geſchichte 81
- 3) Die Nachbildungen des deutſchen Volksſchulweſens in Holland und
Dänemark 92 - 4) Englands Volksſchulweſen und das Syſtem der Staatsunterſtützung 93
- 5) Frankreichs Volksſchulweſen und die Instrnction primaire100
- 6) Die franzöſiſchen Nachbildungen im Volksſchulweſen von Belgien,
Italien und der Schweiz 109 - Beſonderer Theil.
- Das Syſtem des Volksſchulrechts 113
- Erſte Gruppe. Oeffentliche Volksſchule 114
- A. Organismus der Verwaltung 114
- B. Das Schulrecht (Schulpflicht und Schullaſt) 121
- C. Das Lehrerrecht 128
- D. Die Lehrordnung (das Schulenſyſtem, das Klaſſenſyſtem und die
Bürgerſchule) 136 - Zweite Gruppe. Privatſchulen 145
- Weſen und Recht derſelben 145
- Zweiter Theil.
Berufsbildungsweſen. - Allgemeiner Theil.
- I. Der Beruf und die Berufsbildung an ſich 149
- II. Das öffentliche Berufsbildungsweſen, ſein Recht und ſein Syſtem 159
- 1) Begriff und Princip 159
- 2) Das Rechtsſyſtem des öffentlichen Berufsbildungsweſens an ſich 161
- III. Charakter des öffentlichen Rechts der Berufsbildung bei den großen
Kulturvölkern 165 - 1) Charakter dieſes Bildungsweſens nach dem Standpunkte Englands,
Frankreichs und Deutſchlands 165 - Seite
- 2) Charakter und Recht des Prüfungsweſens in dieſen Ländern 170
- a) Princip, Syſtem und Recht an ſich 170
- b) Elemente der Geſchichte des Prüfungsweſens 171
- c) Prüfungsweſen der Gegenwart 176
- d) Charakter und Recht des Prüfungsweſens in den Hauptſtaaten
Europas 181 - Beſonderer Theil.
- Die öffentlich rechtliche Organiſation der Berufsbildungsſyſteme bei den
Hauptvölkern Europas 190 - Deutſchlands Berufsbildungsſyſtem.
- Charakter 191
- Erſtes Gebiet. Das gelehrte Berufsbildungsſyſtem 193
- A. Das gelehrte Vorbildungsſyſtem (die gelehrten und hohen Schulen,
Gymnaſien, Lyceen, Athenäen, Collegien) 193 - I. Begriff und Formen der gelehrten Schulen 193
- II. Elemente der Entwicklung des hohen Schulweſens zum Gym-
naſialweſen der Gegenwart (die Gymnaſialfragen) 196 - III. Die Elemente des Gymnaſialweſens der Gegenwart 209
- B. Das gelehrte Fachbildungsſyſtem (das Univerſitätsweſen) 218
- Zweites Gebiet. Das wirthſchaftliche Berufsbildungsſyſtem 233
- Weſen deſſelben 233
- Die Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung des gegenwärtigen Syſtems 238
- A. Wirthſchaftliches Vorbildungsſyſtem 248
- I. Weſen deſſelben 248
- II. Das Syſtem der gewerblichen und wirthſchaftlichen Bildungs-
anſtalten (die Fortbildungs- und die Vorbildungsſchulen) 250 - III. Das öffentliche Recht des wirthſchaftlichen Vorbildungsſyſtems 253
- B. Das wirthſchaftliche Fachbildungsſyſtem 261
- I. Allgemeiner Charakter 261
- II. Begriff und Elemente der geſchichtlichen Geſtaltung der wirth-
ſchaftlichen Fachbildung 262 - III. Das öffentliche Recht und die Organiſation des wirthſchaft-
lichen Fachbildungsſyſtems (Herſtellung der Anſtalten, Lehrſyſtem,
Prüfungsweſen) 268 - Drittes Gebiet. Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen 282
- Frankreichs Berufsbildungsſyſtem.
- I. Charakter und hiſtoriſche Entwicklung bis zur Gegenwart 286
- II. Das Syſtem 296
- Charakter deſſelben 296
- A. Gelehrte Berufsbildung in Verbindung mit der wirthſchaftlichen
(Bifurcationsſyſtem in lettres und sciences)299 - Seite
- I. Vorbildungsweſen: gelehrt und wirthſchaftlich (Instruction se-
condaire) 299 - II. Gelehrte und wirthſchaftliche Fachbildung (die Instruction
supérieure oder das Syſtem der Facultés. Das Collège de
France und die Specialinſtitute) 307 - A. Das Syſtem der Facultés308
- B. Das Collège de France311
- C. Specialinſtitute 312
- B. Die ſelbſtändige wirthſchaftliche Berufsbildung in Frankreich.
(Außerhalb der Université) 313 - A. Conservatoire des arts et métiers315
- B. Specialſchulen 316
- C. Künſtleriſche Fachbildung 318
- Englands Berufsbildungsweſen.
- I. Allgemeiner Charakter 319
- II. Grundzüge deſſelben 324
- III. Die Colleges und die Universities. (Das ſtändiſche Vor- und Fach-
bildungsweſen der wiſſenſchaftlichen Bildung) 326 - V. Das ſtaatsbürgerliche Bildungsweſen 331
[[XV]]
Die Verwaltung und das geiſtige Leben.
(Das Bildungsweſen.)
Die Verwaltung und das geiſtige Leben.
(Das Bildungsweſen.)
Einleitung.
I.
Die Verwaltungslehre hat nun in ihrem erſten Haupttheile
das phyſiſche Leben der Perſon in denjenigen Verhältniſſen dar-
gelegt, in denen es theils die Bedingungen ſeiner Entwicklung von
der Gemeinſchaft empfängt, theils ſelbſt eine dieſer Bedingungen
der letzteren wird. Die Verwaltung dieſes phyſiſchen Lebens ent-
hält die Geſammtheit der Aufgaben und Thätigkeiten, vermöge deren
der Staat als perſönliche Geſtalt der Gemeinſchaft für jenes phy-
ſiſche Leben der Perſon dieſe Bedingungen herſtellt. So entſtand
das, was wir den Erſten Theil der Innern Verwaltung genannt
haben.
Das zweite große Gebiet des menſchlichen Daſeins nun iſt
das geiſtige Leben. Die Welt des Geiſtes iſt zwar untrennbar mit
der des Leibes verbunden; allein dennoch iſt ſie in Weſen, Ent-
wicklung und Ziel eine ſelbſtändige. Es iſt nicht nothwendig, ihre
hohe Bedeutung hier hervorzuheben. Daß in ihr die Grundlage
und der letzte Ausgangspunkt alles menſchlichen Daſeins gegeben
iſt, iſt gewiß. Ebenſo gewiß iſt aber auch, daß dieſe geiſtige Welt
der phyſiſchen in denjenigen Grundverhältniſſen, mit denen ſie ſich
der Geſammtheit und der Gegenſeitigkeit des Lebens, Werdens und
Stein, die Verwaltungslehre. V. 11
[XVIII] Vergehens zuwendet, gleichartig organiſirt iſt. Auch ſie hat Be-
dingungen, welche ſie durch ſich ſelber nicht herzuſtellen vermag;
auch ſie iſt eine der großen, vielleicht die größte Bedingung der
geſammten Entwicklung der Menſchheit. Auch ſie bildet daher eine
Aufgabe der Thätigkeit der Innern Verwaltung. Und die Geſammt-
heit der Grundſätze, Geſetze, Thätigkeiten und Anſtalten, vermöge
deren die Innere Verwaltung die, den Einzelnen unerreichbaren
Bedingungen ſeiner individuellen geiſtigen Entwicklung und damit
des geiſtigen Lebens der Völker herſtellt, nennen wir das Bil-
dungsweſen.
Von allen Theilen der Verwaltungslehre iſt nun das Bildungs-
weſen nicht bloß ſeinem Umfang, ſondern auch ſeinem Inhalt nach
das ſchwierigſte. Das geiſtige Leben überhaupt iſt nicht allein un-
endlich groß und vielgeſtaltig, ſondern die Beziehungen deſſelben
ſind ſo mannigfach, daß ſie ſchwer eine feſte Geſtalt gewinnen und
daher ſchwer eine feſte Darſtellung annehmen. Es iſt ſeinem in-
nerſten Weſen nach frei und beſtändig geneigt, ſich einer äußern,
beſtimmten Ordnung zu entziehen. Es wechſelt in ſeinen Formen
am meiſten, weil eben in dieſen ſeinen Formen der Wechſel des
ganzen Lebens zum höchſten geiſtigen Ausdruck gelangt. Es hat
daher, wie das Folgende es zeigen wird, auch noch bei vielfach
tiefgehender Erörterung des Einzelnen, im Ganzen und in ſeiner
vollen organiſchen Einheit keine Bearbeitung gefunden. Und es
iſt daher nothwendig — vielleicht am nothwendigſten in der
ganzen Verwaltungslehre — ſich über die leitenden Grundbegriffe
und ebenſo über ihre Namen einig zu ſein, ehe man in das Ein-
zelne eingeht.
II.
Die erſte Vorausſetzung an ſich und beſonders im Hinblick
auf die bisherigen Bearbeitungen iſt nun dafür wohl die, das Ver-
hältniß der Verwaltungslehre zur Lehre vom geiſtigen Leben und
ſeinen Grundformen feſtzuſtellen.
Wir nennen das geiſtige Leben, inſofern es aus einzelnen
Kenntniſſen und Fähigkeiten beſteht, die ihrerſeits durch Arbeit
[XIX] erworben und wieder durch Arbeit verwerthet werden, die geiſtige
Güterwelt. Die einzelne Kenntniß und Fähigkeit, als Produkt
geiſtiger Arbeit und wirthſchaftlicher Verwendung, und als Moment
an der Produktion neuer Güter, iſt das geiſtige Gut, das neben
ſeinem ſittlichen auch einen ſehr beſtimmten wirthſchaftlichen Werth
hat und daher ſogar täglicher Gegenſtand des Verkehrs ſein kann.
Die Grundſätze und Geſetze, nach welchen dieſe geiſtigen Güter dem
Einzelnen durch die Mitarbeit Anderer erworben werden, bilden
die Pädagogik. Die formalen Regeln der Lehre ſind in der
Methodologie enthalten. Der Proceß dieſer Produktion des
geiſtigen Güterlebens iſt die Bildung. Das ſind lauter Begriffe,
welche noch im reinen Weſen der geiſtigen Perſönlichkeit liegen.
So bald nun alle dieſe Verhältniſſe und Aufgaben nicht mehr
durch Willkür und Neigung des Einzelnen, ſondern durch den be-
wußten Willen der Gemeinſchaft der Menſchen beſtimmt werden,
entſteht auch hier der Begriff und die Thätigkeit der Verwaltung
oder das Bildungsweſen. Das Bildungsweſen hat daher die Päda-
gogik, die Methodologie und den Begriff der Bildung voraus-
zuſetzen. Das Bildungsweſen als Inhalt der Verwaltungslehre
hat ſeinerſeits zur Aufgabe, die Geſtalt der bildenden Arbeit als
beſtimmten Inhalt des Willens des Staats und damit als Bil-
dungsrecht — das öffentliche Recht der Ordnung für dieſe Bil-
dung — aufzuſtellen. Das öffentliche Bildungsweſen als Inhalt
der Verwaltungslehre muß daher in jenen an ſich ganz freien und
oft rein willkürlichen Proceß der bildenden Arbeit und der Pro-
duktion der geiſtigen Güter eines Volkes feſte Kategorien hinein-
bringen und beſtimmte Gränzen und Grundbegriffe in dem Fluß
des geiſtigen Lebens [aufſtellen]. Wenn daher die Pädagogik und
Methodologie lehren, wie die Bildung im Ganzen oder in ihren
einzelnen Gebieten erworben werden ſoll — den, durch das Weſen
der Wiſſenſchaft geforderten Proceß der Produktion der geiſtigen
Güter — ſo lehrt das Verwaltungsrecht des Bildungsweſens, wie
die Bildung durch die [organiſirte] Thätigkeit der Gemeinſchaft er-
worben wird. Während für Pädagogik und Methodologie die
Bildung als ein Werden und eine Arbeit erſcheint, erſcheint dieſelbe
[XX] für die Verwaltungslehre als die beſtimmte äußere Geſtalt und
Ordnung der Bildungszweige, Organe und Anſtalten, vermöge
deren eben die Verwaltung und nicht mehr der Einzelne, jene bil-
dende Thätigkeit als eine Aufgabe der Gemeinſchaft gegen ſich ſelbſt
vollzieht. Erſt in der Verwaltungslehre gewinnt mithin die Bildung
ihre feſte Geſtalt; und in dieſer objektiven Kriſtalliſirung des Bil-
dungsweſens durch das Verwaltungsrecht liegt eigentlich der Werth
und die formell höchſt wichtige Aufgabe der Verwaltungslehre gegen-
über der abſtracten Wiſſenſchaft der Bildung.
Es hat nun einen großen Werth, ſich über dieß Verhältniß
klar zu ſein. Denn es ergibt ſich daraus, daß das Bildungsweſen
auf dieſe Weiſe erſt durch die Verwaltungslehre und ihr Recht eine
praktiſche Wiſſenſchaft wird. Die Thätigkeiten und Anſtalten des
Staats ſind am Ende der große Organismus, der die allgemeinen
Principien der Bildungslehre verwirklichen ſoll; und dieſer Orga-
nismus bringt nun ſeine Grenzen, ſeine Forderungen, ſeine Natur
in die abſtrakten Wünſche und Beſtrebungen der Pädagogik und
Methodologie hinein; alles Gute und Schlimme, Fortſchritt und
Rückſchritt werden erſt wirklich durch das, was der Staat zum
geltenden Bildungsrecht erhebt; was für die Bildung wirklich ge-
ſchieht, geſchieht erſt durch die Verwaltung. Ohne eine ſelbſtändige
Verwaltungslehre des Bildungsweſens wird daher jede Bearbeitung
des letzteren entweder unpraktiſch oder werthlos.
Nun iſt es bis auf die neueſte Zeit ſo geweſen, daß die päda-
gogiſchen Arbeiten eben dieſe praktiſche Seite des Bildungsweſens,
ſein öffentliches Recht, entweder gar nicht, oder in ganz unter-
geordneter Weiſe behandelt haben. Sie ſind daher auch zu keinem
feſten Syſtem gekommen und eine wahre ſyſtematiſche Vergleichung
iſt dadurch unthunlich geworden. Die Aufgabe des Folgenden iſt
es nun, womöglich die feſten Elemente des öffentlichen Rechts und
damit der Vergleichung des wirklich vorhandenen Bildungsweſens
in der Weiſe aufzuſtellen, daß die beiden Zwecke, welche die Ver-
waltungslehre hat, dadurch angebahnt werden; einerſeits, daß die
Natur der großen öffentlich rechtlichen Inſtitutionen für das Bil-
dungsweſen und ſein Recht in ihrem innern Zuſammenhange mit
[XXI] dem poſitiv Geltenden erſcheinen, andererſeits, daß die Verſchieden-
heit dieſes Rechts auf ihre wahre Quelle, die geſellſchaftliche und
ſtaatliche Individualität der einzelnen Völker zurückgeführt werde.
Wird nun das erreicht, ſo iſt damit auch die Grundlage für
ein Weiteres gegeben. Es iſt zwar unmöglich, den ganzen Stoff
zu bewältigen und ebenſo unmöglich, die weitere Entwicklung des
Rechts der Bildung beſtändig zu verfolgen. Aber Eins iſt mög-
lich und darum auch nothwendig. Es müſſen die großen Grund-
formen des Bildungsweſens, die in allem Wechſel des Rechts die-
ſelben bleiben, feſtgeſtellt und es muß damit der Weg dafür ge-
funden werden, daß jeder, dem die organiſche Grundgeſtalt des
Ganzen klar iſt, nunmehr ohne Schwierigkeit die Stelle und die
innere Bedeutung neuer Rechte, Anſtalten und Geſetze beſtimmen
und meſſen könne. Das iſt das Streben der ſyſtematiſchen, or-
ganiſchen Seite des Folgenden. Und gelänge das, ſo wäre es
möglich, das Bildungsweſen und ſein Recht als ſelbſtändige Doctrin
neben der Lehre von demjenigen hinzuſtellen, was jene Anſtalten
lehren ſollen.
III.
Um dieſer Aufgabe auf allen Punkten zu entſprechen, haben
wir unſere Arbeit nach folgenden Geſichtspunkten eingetheilt.
Der Allgemeine Theil geht davon aus, daß das Bil-
dungsweſen ein Ganzes iſt, deſſen drei Gebiete ihrem Weſen und
ihren Bedingungen nach nicht von einander getrennt ſind. Das
Bildungsweſen als Verwaltungsaufgabe hat daher in allen ſeinen
Theilen zunächſt ein gemeinſames Princip und für alle ſeine Thätig-
keiten einen gemeinſamen Geiſt und Charakter, der ſich am Ende
jedes ſpecielle Gebiet unterordnet. Und dieſen behandelt der All-
gemeine Theil.
Der beſondere Theil faßt dagegen die einzelnen großen
Gebiete des Bildungsweſens in ihrem Charakter und Recht für ſich
auf und läßt die Thätigkeit und die Anſtalten der Verwaltung für
jeden dieſer Theile wieder als ſelbſtſtändiges Ganze für ſich er-
ſcheinen. Die drei Theile, in welche derſelbe zerfällt, enthalten
[XXII] daher zunächſt drei Aufgaben für ſich, eine jede nach den ihrem
Weſen entſprechenden ſyſtematiſchen Elementen und wiederum nach
derjenigen Geſtalt dargeſtellt, die ſie in jedem der großen Kultur-
völker durch Geſchichte und Nationalität empfangen haben.
Das Kriterium des Werthes und der Richtigkeit dieſes ver-
waltungsrechtlichen Syſtems wird dann in der Erfüllung der oben
angegebenen Forderung durch daſſelbe beſtehen, daß jede auf die
geſammte Verwaltung der geiſtigen Welt bezügliche Frage und
jedes dazu gehörende Material ſowohl an neuen Geſetzen als auch
an Statiſtik in demſelben ſeinen natürlichen Platz, und vielleicht
auch einige für die Beurtheilung maßgebende Geſichtspunkte findet.
Das Kriterium des Werthes und der Richtigkeit [unſrer] Ge-
ſammtauffaſſung aber wird darauf beruhen, ob es uns gelingt,
die Ueberzeugung zu ſchaffen, daß alles wahre öffentliche Bildungs-
weſen mit ſeinem machtvollen und nie ruhenden Organismus, mit
ſeinen Grundſätzen und Anſtalten, mit ſeinen objektiv geltenden
Beſtimmungen und mit ſeiner freien Thätigkeit das zum öffent-
lichen Recht erhobene Bewußtſein des Staats von der
auf pädagogiſcher Grundlage beruhenden Aufgabe ſeiner gei-
ſtigen Verwaltung, und damit die organiſch gewordene und
als ſolche erkannte Arbeit des Geiſtes für den Geiſt iſt.
[[1]]
Allgemeiner Theil.
I.
Begriff und Weſen der Bildung an und für ſich.
I. Begriff der Bildung.
Um das weite Gebiet, welches vor uns liegt, klar zu überſehen,
wird es nothwendig, zuerſt die einfachſten Grundbegriffe aufzuſtellen, und
daran erſt die weitere Entwicklung derſelben anzuſchließen.
Die Grundlage aller Bildung iſt das, was wir das geiſtige Gut
nennen. Es ſcheint nicht nothwendig, hier dieſen Begriff weiter zu
erklären. Das organiſche Weſen des menſchlichen Geiſtes macht es nun
zwar möglich, ein einzelnes geiſtiges Gut, eine einzelne Kenntniß oder
Fähigkeit zu erwerben; aber es iſt unmöglich, bei dieſem Einzelnen ſtehen
zu bleiben. Wie daſſelbe einerſeits aus der Anſtrengung des ganzen
geiſtigen Lebens hervorgeht, ſo wirkt das erworbene andrerſeits auch
auf das ganze geiſtige Leben wieder ein. Es gibt keine einzelne Kennt-
niß oder Fähigkeit, kein einzelnes geiſtiges Gut für ſich. Sie ſtehen
alle unter einander in lebendigem, ſich gegenſeitig erzeugenden Zuſam-
menhang. Bei welchem einzelnen Gute der Menſch auch beginnen mag,
immer ergibt ſich für ihn ein geiſtiges inneres Leben, in welchem er
die äußere Welt in ſeinem Geiſte in ſich trägt, und das geiſtige Daſein
der Dinge, eine unſichtbare Welt der Begriffe und Kräfte entwickelt,
vermöge deren er die wirkliche ſich zum Verſtändniß bringt und ſie ſeinen
Zwecken unterwerfen kann. Dieſen Zuſtand des Einzelnen nennen wir
ſeine Bildung.
Allein ſo wenig es ein für ſich allein beſtehendes einzelnes geiſtiges
Gut gibt, ſo wenig iſt auch das geiſtige Leben des Einzelnen etwas für
ſich allein beſtehendes. Wie das geiſtige Element ſeinem Weſen nach
allgemein iſt, ſo iſt auch das Ergebniß daſſelbe. Es geht ſtets über
die Gränze des Einzellebens hinaus. Es theilt ſich von dem Einen
Stein, die Verwaltungslehre. V. 1
[2] dem Andern mit. Es erzeugt ſich bei dem Einen durch den Andern.
Der Einzelne wird mit dem, was er geiſtig beſitzt, zum Maß und
Vorbild, mit dem was er dadurch gilt, zum Sporn, mit dem was er
dadurch thut, zum Lehrer und Erzieher des Andern. Die Bildung iſt
daher an und für ſich keine ruhende Thatſache, ſondern ſie iſt ihrem
höheren Weſen nach ein beſtändig wirkender, lebendiger Proceß,
vermöge deſſen und in welchem die menſchliche Gemeinſchaft die geiſtigen
Güter für jeden Einzelnen durch organiſche, mehr oder weniger bewußte
Thätigkeit, hervorbringt, und jede Bildung wird dadurch zu einem
geiſtigen Zuſtand der Vertheilung und des Umfangs dieſer geiſtigen
Güter durch jenen Proceß, den ich in einem gegebenen Momente als
Thatſache auffaſſen kann. Wir nennen einen ſolchen Zuſtand, inſofern
er zugleich einen hohen ſittlichen Inhalt hat, die Geſittung oder
Civiliſation. Die Elemente der Geſchichte der Geſittung ſind daher
vor allen Dingen in dem Bildungsweſen einer Zeit und eines Volkes
gegeben. Das Syſtem des letzteren wird zur Baſis der erſteren; ohne
jenes bleibt das Urtheil über dieſes ſtets in der Sphäre des ſubjek-
tiven Eindrucks, und wenn die tiefer eingehende Geſchichtſchreibung
überhaupt das Studium der Verwaltungslehre und des Verwaltungs-
rechts künftig vorausſetzen wird, ſo wird die Geſchichte des menſchlichen
Geiſtes ohne das Studium des Bildungsweſens ewig eine unfertige bleiben.
Indeß iſt es unſre Aufgabe nicht, dieß ſpeziell zu verfolgen. Wir
haben vielmehr das Verhältniß der Bildung zum Staate und zur
Verwaltung auf ſeine letzten Grundlagen zurückzuführen.
Iſt nämlich die Bildung und Geſittung ein ſo gewaltiger Faktor
des Lebens, ſo wird ſie ſo wenig ſich dem Einfluſſe des Staats ent-
ziehen, wie der Staat es vermag, ſich gegen ſie gleichgültig zu verhalten.
Allein der Ausdruck „Bildung“ bedeutet etwas ſo Allgemeines und
Unbeſtimmtes, daß ein Verſtändniß dieſes Verhältniſſes erſt da beginnen
kann, wo die Bildung durch Auflöſung in ihre elementaren Grund-
formen ſelbſt eine feſte Geſtalt gewinnt. Es iſt kein Zweifel, daß es
Sache der Pädagogik iſt, dieſe Auflöſung zu vollziehen. Allein wir
können dieſelbe dennoch nicht als bekannt oder anerkannt vorausſetzen.
Der Mangel des verwaltungsrechtlichen Elements in der Pädagogik hat
hier eine umfaſſende, ausreichende Auffaſſung nicht entſtehen laſſen.
Nicht daher um neue Begriffe aufzuſtellen, ſondern um die bekannten
ſo zu ordnen, daß ſie der Verwaltungslehre genügen, müſſen wir den
oben bezeichneten abſtrakten Begriff der Bildung genauer betrachten, ehe
wir zu dem Inhalt des öffentlichen Bildungsrechts gelangen können.
Jener Begriff der Bildung nämlich, wie wir ihn aufgeſtellt, enthält
ſchon den Punkt, von welchem die Wiſſenſchaft allein zu dem Begriff
[3] und Verſtändniß dieſes öffentlichen Bildungsrechts gelangen kann. In
der That nämlich gibt es darnach überhaupt keine Bildung
eines Einzelnen. Jeder Einzelne iſt vielmehr im Leben des Geiſtes
zugleich ein Reſultat und ein mitwirkender Faktor der Bildung; jede
Bildung des Einzelnen, jeder geiſtige Beſitz ſteht in der Mitte der
großen Kette, welche die geiſtige Welt aller unter einander verbindet.
In jeder individuellen Bildung ſpiegelt ſich die geiſtige Arbeit der
ganzen geiſtigen Welt wieder, wie das Licht der Sonne in dem Thau-
tropfen; jede individuelle Bildung gibt wieder das Ihrige für die Ge-
ſammtbildung her, wie der Thautropfen die Wolke und den Strom
bildet. Nichts iſt großartiger, nichts iſt lebendiger, ja nichts iſt ergrei-
fender als dieſe tiefe, niemals ruhende, ewig ſich ſelbſt erzeugende
Gegenſeitigkeit des geiſtigen Lebens aller Einzelnen und des Ganzen;
nichts bringt ſo ernſte Beſcheidenheit in den Verſtand und ſo lebens-
friſchen Muth in das Bewußtſein auch der höchſten Arbeit des Geiſtes,
als dieß Bild, das ſich uns entrollt, wenn wir das was wir die Bil-
dung nennen, als einen der wichtigſten, ja den allergewaltigſten Proceß
der Weltgeſchichte anſchauen. Und wenn es die Aufgabe der Pädagogik
iſt, nun ihrerſeits zu verſtehen, wie dieſer große Proceß im einzelnen
Menſchen lebt und wirkt, ſo iſt es andrerſeits die Aufgabe der
Verwaltungslehre, den zweiten Faktor derſelben, die menſchliche
Gemeinſchaft in ihrer großen, den Volksgeiſt umfaſſenden Thätigkeit
des Gebens und Empfangens der geiſtigen Güter zur Anſchauung zu
bringen. Das iſt es, wornach wir zu ſtreben haben, und das iſt
es, weßhalb die Pädagogik niemals ausreichen kann, wo es ſich um
jene geiſtige Welt der Menſchheit handelt. Erſt wo ſich Pädagogik —
im höchſten Sinne des Wortes — und Verwaltungslehre die Hände
reichen, kann die Menſchheit ihr eigenes geiſtiges Leben und Werden
erkennen, und durch das was ſie darin lernt, für Lernen und Lehre
ſelbſt weiter gelangen.
Dieß zu verſuchen iſt die ſchwierige Aufgabe unſrer folgenden Arbeit.
Um ſie zu erfüllen, müſſen wir aber zuerſt, wie geſagt, die Bildung
ſelbſt in ihre drei Grundformen auflöſen. Erſt an ſie kann ſich in ver-
ſtändlicher und zugleich praktiſcher Weiſe das anſchließen, was wir die
Verwaltung des geiſtigen Lebens des Volkes zu nennen haben.
II. Die drei Grundformen der Bildung: Weſen der Elementar-, der Berufs-
und der allgemeinen Bildung, und ihr organiſches Verhältniß zu einander.
Offenbar nämlich umfaßt das, was wir Bildung im weiteſten Sinne
nennen, den ganzen einzelnen Menſchen und das ganze Volk. Der
[4] Proceß dieſer Bildung, ſei es nun, daß wir dabei von dem Ein-
zelnen zum Ganzen oder vom Ganzen zum Einzelnen übergehen, wird
daher in Form und Inhalt ein verſchiedener, nach den großen geiſtigen
Momenten, welche das innere Weſen der Perſönlichkeit überhaupt
beſtimmen.
Dieſe entſcheidenden Momente nun ſind die pſychologiſchen Geſetze
der geiſtigen Bildung ſelbſt, dann der beſtimmte einzelne Lebenszweck,
welcher der in der Bildung enthaltenen Güter des Geiſtes bedarf,
und endlich das an ſich freie und unendliche Weſen der Perſönlichkeit,
welches das geiſtige Gut an und für ſich, ohne Beziehung und Be-
ſchränkung auf den beſtimmten Zweck fordert. Aus dem erſten Momente
geht die Elementarbildung hervor, aus dem zweiten die Berufs-
bildung, aus dem dritten die allgemeine Bildung.
Die Elementarbildung nämlich iſt ihrem Begriffe nach der Erwerb
derjenigen geiſtigen Güter und Fähigkeiten, welche ſelbſt wieder nur die
Vorausſetzung für die Berufs- und allgemeine Bildung ausmachen.
Man hat daher mit gutem Recht geſagt, daß jede ſpezielle Bildung
wieder ihre eigene Elementarbildung vorausſetzt und enthält; jede
Berufs- und Fachbildung hat ihre „Elemente,“ ohne welche ſie ſelbſt
nicht gewonnen werden kann, aber mit denen ſie ſelbſt allerdings noch
keineswegs gegeben iſt. Nun reden wir aber hier nicht in dieſem Sinne
von dem Syſtem der Elementarbildung. Wir haben als ſolche vielmehr
nur diejenige Bildung zu betrachten, welche die Elemente des Gebildet-
werdens überhaupt enthält. Dieſe aber beſtimmen ſich wiſſenſchaftlich
einfach durch den Begriff der Bildung ſelbſt. Indem nämlich jede Bil-
dung das Ergebniß gegenſeitiger und gemeinſchaftlicher geiſtiger Arbeit
iſt, iſt die Elementarbildung ſelbſt der Erwerb derjenigen Kenntniſſe
und Fähigkeiten, welche die Vorausſetzung für die gegenſeitige
geiſtige Mittheilung und damit für die Bildung eines jeden durch
ſich ſelbſt und durch die geiſtige Arbeit anderer bilden. Das Weſen der
Elementarbildung beſteht daher darin, an und für ſich keinen Werth
in ſich ſelbſt, und keine abgeſchloſſene Beſtimmung zu haben, ſondern
ihren Werth und ihre Beſtimmung erſt dadurch zu empfangen, daß
durch ſie der Erwerb der Berufs- und allgemeinen Bildung möglich
wird. Die Entwicklung der Elementarbildung für ſich iſt daher nicht
denkbar ohne gleichmäßige Entwicklung der andern Bildungsgebiete;
aber wenn ihr unmittelbarer Werth dadurch geringer wird, wird natürlich
ihr mittelbarer, der dann auf jenem Verhältniß zu den übrigen Bildungs-
gebieten beruht, ein um ſo größerer, und der Maßſtab dieſes Werthes
iſt dann eben die Größe des Bedürfniſſes nach dem Inhalt und der
Allgemeinheit derſelben.
[5]
Die Berufsbildung iſt zweitens ihrem formalen Begriffe nach der
Erwerb und Beſitz derjenigen geiſtigen Güter und Fähigkeiten, welche
die geiſtigen Bedingungen der Verwirklichung eines beſtimmten einzelnen
Lebenszweckes enthalten. Wir haben den Begriff des Berufes, aus dem
ſich langſam aber ſicher das große und eigenthümliche Syſtem des
Bildungsweſens entwickelt, ſpäter darzulegen. Klar iſt aber ſchon hier,
daß jede Berufsbildung ſtets eine beſondere und weſentlich begränzte iſt,
daß ſie daher nicht wie die Elementarbildung eine für alle Lebens-
verhältniſſe gleichartige, und nicht eine von allen gleichmäßig geforderte
ſein kann. Klar ſcheint es ferner, daß die Entwicklung der Berufs-
bildung nicht von einer abſtrakten Wiſſenſchaft, ſondern von der der
Berufe ſelbſt und damit vor allem von der geſellſchaftlichen Entwicklung
der Gemeinſchaft abhängt. Klar iſt es endlich, daß dieſe Berufsbildung
an Tiefe mit der allgemeinen Weltanſchauung einer Zeit und eines
Volkes, an praktiſchem Werthe und techniſcher Breite dagegen mit der
wirthſchaftlichen Entwicklung zuſammenhängt. Die Berufsbildung, ihrem
Begriff nach ein allgemeines Bildungsſyſtem, iſt daher dasjenige Gebiet
der Bildung oder des geiſtigen Lebens überhaupt, welches am meiſten
zu einſeitiger und höchſt verſchiedener Entwicklung ſeiner einzelnen Theile
Raum gibt. Nirgends ſind die Unterſchiede der Bildung ſogar in den
einzelnen Epochen der Geſchichte größer und ſchlagender als hier;
nirgends iſt es ſchwieriger ein allgemeines Bild zu gewinnen; aber
nirgends iſt auch die eigentliche Arbeit größer, denn ſie geſchieht hier
für einen beſtimmten Zweck und mit meßbarem Erfolge. Und deßhalb
iſt die Darſtellung der Berufsbildung ſtets der ſchwierigſte Theil der
Darſtellung geweſen und wird es bleiben.
Während ſomit der Beruf ſtets für einen ſpeziellen Zweck beſtimmt
iſt, und die Berufsbildung daher auch nur die für dieſen ſpeziellen
Zweck nothwendigen geiſtigen Güter umfaßt und gibt, bleibt die höhere
Beſtimmung des Menſchen dennoch eine allgemeine, die ganze Fülle
des geiſtigen Daſeins umfaſſende. Erſt darin, daß ihm dieſes nicht
verſchloſſen bleibe, erfüllt ſich das Weſen der Perſönlichkeit. Ewig
ſtrebt daher der Menſch darnach, mit ſeinen Gedanken und Anſchauungen
über den engen Kreis ſeiner Einzelaufgabe hinauszutreten. Wie das
Daſein der geſammten Welt, der geiſtigen wie der räumlichen, ſich in
ihm wieder ſpiegelt, ſo ſucht und arbeitet er ewig darnach, dieſe Unend-
lichkeit des Daſeins in beſtimmte Form zu faſſen, und ſich damit über
ſeine begränzte Beſtimmung zu erheben. Er thut das in dem Gebiete
wo das erkennende Wiſſen und die Wahrheit durch die Begründung
aufhört, im Gebiete der reinen Weltanſchauung durch den Glauben in
der Form der Religion; er thut es aber auch in dem Gebiete deſſen,
[6] was durch Sein oder Begriff, durch Bild oder Kenntniß ſich als be-
ſtimmtes geiſtiges Gut formuliren läßt als Streben nach der allge-
meinen Bildung. Die allgemeine Bildung hat keinen beſtimmten
Inhalt; ſie umfaßt ihrer formalen Definition nach alles, was menſch-
liche That in Wiſſenſchaft und Kunſt hervorgebracht; ſie erſcheint aber
praktiſch in der Kenntniß deſſen, was jeden einzelnen Lebensberuf mit
allen andern innerlich und organiſch verbindet, und enthält
daher das Geſammtbild des geiſtigen Lebens der Menſchheit, im Einzel-
bewußtſein ausgedrückt und geſtaltet. Nach einer ſolchen allgemeinen
Bildung ſtrebt jede Zeit und jedes Volk; aber die Höhe aller Geſittung
bleibt immer dadurch ausgedrückt und gemeſſen, daß die Erzeugung
dieſer allgemeinen Bildung ſelbſt wieder als eine organiſche Aufgabe
der Gemeinſchaft gegenüber dem Einzelnen, als eine Pflicht und ge-
ordnete Thätigkeit derſelben erſcheint. Und dieſe geordnete Thätigkeit
für dieſen Zweck nennen wir das allgemeine Bildungsweſen.
So erſcheinen dieſe drei Grundbegriffe aller Bildung: Elementar-,
Berufs- und allgemeine Bildung, als die drei großen Functionen, in
denen der Proceß der Bildung überhaupt beſteht. Allein ſowohl ihrer
innern Natur nach, als auch für das richtige Verſtändniß des Zuſtandes
und der Aufgabe der Verwaltung iſt es nothwendig, ſie nicht bloß als
neben einander ſtehende und geſonderte Thätigkeiten, ſondern zugleich
in ihrem innern Verhalten zu einander aufzufaſſen.
Ihr innerer Unterſchied und ihre äußern Gränzen liegen nämlich
nicht in ihrem Weſen, ſondern in dem Bedürfniß und der Natur der
Perſönlichkeit. Sie ſind innerlich Eins. Sie laſſen ſich daher auch
äußerlich nie ganz trennen. Jeder Theil vermag von dem andern
etwas in ſich aufzunehmen, und in dem Sinne des andern zu wirken,
ſowohl der Form als dem Inhalt nach. Sie ſtehen daher, mögen ſie
ſonſt äußerlich geſchieden und benannt ſein wie ſie wollen, ſtets im
lebendigen Wechſelverkehr unter einander, und dieſer Wechſelverkehr
iſt theils durch ihre Natur ſelbſt gegeben, theils tritt er in der bildenden
Arbeit der Gemeinſchaft mehr oder weniger klar hervor, und wird
zuletzt in derſelben für ihren höchſten und letzten Erfolg auch im Ein-
zelnen entſcheidend.
Das Weſen der Elementarbildung fordert nämlich, daß ſie zunächſt
der Form nach die gleiche für alle ſei; aber ſelbſt in dieſer Form hat
ſie die Fähigkeit, gewiſſe Elemente des Berufs und der allgemeinen
Bildung in ſich aufzunehmen und mitzutheilen. Das iſt es, was ihr
ihre höhere Bedeutung gibt, und die Art und das Maß in welcher
dieß in der Elementarbildung wirklich geſchieht, iſt das erſte charakteri-
ſtiſche Kennzeichen für die Höhe des Bildungsweſens überhaupt. Die
[7] Berufsbildung muß nun allerdings zunächſt eine beſondere ſein; allein
ihr gegenüber, oder in ihr, iſt es die allgemeine Bildung, welche
wieder die Einzelnen über die in der Berufsbildung geſetzten Verſchie-
denheiten erhebt. Ihre große Function iſt es, die geiſtige Begränzung
des innern Lebens, die in der letztern unabweisbar ſich zu erzeugen
ſtrebt, wieder aufzuheben, und durch ſich die Idee der Perſönlichkeit,
oder mit gleicher geiſtiger Beſtimmung begabter Weſen, zu erfüllen.
Sie verleiht daher, indem ſie über jeden Beruf hinausgeht, und jedem
jedes geiſtig zugänglich macht, dem geiſtigen Leben ſeinen Umfang im
Ganzen, während die Berufsbildung, indem ſie den individuellen
Lebenszweck auf die geiſtigen Elemente, Begriffe und Geſetze zurückführt,
welche denſelben beherrſchen, der Bildung ihre Tiefe im Einzelnen gibt.
Die allgemeine Bildung iſt daher der Proceß, der den Einzelnen ihre
freie Entwicklung ſichert, die Berufsbildung diejenige, die ihnen die
Bedingungen einer tüchtigen, individuell befriedigten Erfüllung ihrer
Lebensaufgabe gibt. Die letztere ohne die erſtere iſt beſchränkt und
erzeugt beſchränkte Menſchen; aber die erſtere ohne die letztere macht
ſie flach, und nimmt ihnen den wahren Kern der Individualität, das
geiſtige Bewußtſein, im Einzelnen ein Vollendetes zu erreichen. Die
Elementarbildung aber, als Vorausſetzung für beide, gilt für alle in
gleicher Weiſe.
In dieſer Weiſe zuſammenwirkend, ſtellt der Begriff der Bildung
die höhere, im Geiſte ſelbſt liegende Einheit der geiſtigen Faktoren und
Thatſachen wieder her, welche durch die drei Stadien oder Theile des
erſteren äußerlich, räumlich und zeitlich geſchieden auftreten. Und
daraus ergibt ſich, daß der wahre und höhere Charakter der Bildung
ſein zweites Kriterium durch das Streben empfängt, ſchon innerhalb
der einzelnen und beſchränkten Berufsbildung den Geiſt über die Gränze
derſelben zu erheben, und die allgemeine Bildung nicht etwa objectiv
neben ſie zu ſtellen, ſondern ſie zu einem inwohnenden Theile derſelben
zu erheben. Denn in dieſer Verſchmelzung drückt ſich zuletzt doch das
Bewußtſein nicht bloß von der höchſten gemeinſamen Beſtimmung
aller Perſönlichkeit, ſondern auch die Erkenntniß des großen Lebens-
geſetzes alles Geiſtes aus, daß der ewig lebendige Keim der Freiheit
und der Vollendung für jedes Einzelne in dem liegt, was ſelbſt über
das Einzelne hinausgehend, das Ganze bedeutet und iſt.
Dieß nun ſind die drei Stadien oder Gebiete, in denen die
Bildung ſich vollzieht, und ihr inneres Verhältniß zu einander. Niemals
ganz in der Wirklichkeit getrennt oder innerlich geſchieden, und dennoch
ſelbſtändig, ſollte auch jede Darſtellung des Bildungsweſens ſie ſtets
alle gleichmäßig umfaſſen.
[8]
III. Das Bildungsweſen und ſein Syſtem.
Neben dieſem Begriff der Bildung und ſeinem Inhalt iſt jedoch der
des Bildungsweſens ein ſpecifiſcher, von jenem nothwendig zu trennen-
der, wenn man überhaupt zu einem Begriffe und Bilde der Verwaltung
der geiſtigen Welt gelangen will.
Das Bildungsweſen beruht nämlich zunächſt darauf, daß jede
Bildung eines Einzelnen ſtets das Ergebniß der bildenden Arbeit aller
andern iſt. Daß niemand ganz die Quelle und der Urheber ſeiner
Bildung iſt und ſein kann, ſteht feſt. Allein der Proceß, durch welchen
die Gemeinſchaft dieſe Bildung des Einzelnen erzeugt, iſt nun eben da-
durch kein einfacher und gleichartiger, daß die Bildung ſelbſt in den
oben bezeichneten drei Grundformen auftritt. Jede dieſer Grundformen
hat ihre Bedingungen, ihre Geſetze, ihren Inhalt und ihren Zweck.
Jede derſelben fordert daher auch ihre ſpecifiſche Arbeit. Wie der Be-
griff der Bildung, ſo theilt ſich mithin auch der Proceß, durch den ſie
erworben wird, in ſeine ſelbſtändigen Gebiete; jedes dieſer Gebiete
ſucht und findet die Kräfte, welche die in ihm liegenden Aufgaben zu
löſen im Stande und bereit iſt; und die damit gegebene Geſtalt der
bildenden Thätigkeit, in der auf dieſe Weiſe das große Geſetz der
Theilung der Arbeit auch hier zur Geltung gelangt, nennen wir das
Bildungsweſen.
Im Anfange aller Geſchichte werden nun allerdings ſtets jene Ge-
biete ſo eng zuſammenfallen, daß man ſie äußerlich gar nicht zu trennen
vermag. Mit der fortſchreitenden Geſittung jedoch ſcheiden ſie ſich. In-
dem ſie ſich ſcheiden, wird jede einzelne ihrer Aufgaben ſo bedeutſam,
daß ſie allmählig eigene Organe erzeugt und fordert, welche den Bildungs-
proceß ihres eigenthümlichen Gebietes zu ihrer beſondern Aufgabe machen.
So entſteht das, was wir das Syſtem des Bildungsweſens nennen.
Dieß Syſtem des Bildungsweſens iſt ſeinerſeits der Ausdruck und das
Ziel der Geſittung. Daſſelbe wird nicht etwa erſt vom Staate geſetzt und
gebildet, ſondern es erzeugt ſich vielmehr durch die inwohnende Kraft
des geiſtigen Lebens und ſeiner Bedürfniſſe wie die obigen elementaren
Grundbegriffe, durch das Weſen der Bildung ſelbſt. Es iſt nicht ſo ſehr
das Erzeugniß, ſondern vielmehr das ſich ſelbſt erzeugende Object der Ver-
waltung der geiſtigen Welt. Erſt an ihm wird das, was der Staat ſeiner-
ſeits für die Bildung leiſtet, gleichſam ſein Maß erhalten. Denn alle
Höhe des wirklichen Bildungsweſens wird ſich ſtets beſtimmen nach dem
Grade, in welchem die wirkliche Bildungsthätigkeit einer Zeit und eines
Volkes alle dieſe verſchiedenen Formen zur Entwicklung gebracht hat.
[9]
Man kann nun dieſen Proceß der Entwicklung eines ſelbſtändigen
Syſtemes des Bildungsweſens in obigem Sinne in drei Momente theilen.
Die erſte Grundlage derſelben iſt das Auftreten eines außerhalb
der Familie beſtehenden ſelbſtändigen Bildungsweſens. In allen
Formen und Stadien des letzteren bedeutet dieſe Scheidung des Bildungs-
weſens von der Familie die Erkenntniß des Volkes, daß die Bildung
auch für die Gemeinſchaft des letzteren einen zu hohen Werth hat, um
dem Zufall und der freien Willkür, die nothwendig in der Familie
herrſcht, überlaſſen zu bleiben. Alle wahre Geſchichte des Bildungs-
weſens beginnt mit dieſer äußern Selbſtändigkeit des Bildungsweſens;
ſie iſt die formelle Bedingung einer wirklichen Entwicklung deſſelben,
aber ebenſo die einer ſtaatlichen Thätigkeit. Dieſe Selbſtändigkeit er-
ſcheint wie natürlich in einzelnen Anſtalten für die Bildung, die keines-
wegs vom Staate begründet ſein müſſen, ſondern ihm im Gegentheil zum
Theil ſtets fremd bleiben. Aber ſie ſind es, an welche das äußere Bild
der großen Arbeit des Bildungsweſens eines jeden Volkes ſich anſchließt.
Die zweite Grundlage iſt nun die, durch dieſe äußere Scheidung
ſchon begründete Theilung der bildenden Arbeit in dieſen Bildungs-
anſtalten, die wieder die Einheit des Ganzen als inneres Syſtem zu-
ſammenfaßt. Mit der höheren geiſtigen Entwicklung empfängt jeder
Theil der Bildung ſein eigenes Gebiet an den durch daſſelbe geforder-
ten Kenntniſſen und Fähigkeiten und zugleich, wenn auch langſam
und unter vielfachen Kämpfen und Verſuchen, für jedes einzelne Gebiet
ſeine eigene Methodologie. So entſteht die innere Selbſtändigkeit
der Gebiete des Bildungsweſens. Je höher die Geſittung ſteht, um
ſo beſtimmter treten dieſe einzelnen Gebiete hervor, empfangen eigene
Namen, eigenen Umfang, eigene Bildungsordnung. Und da nun alle
Bildung weſentlich auf der Verwerthung der gewonnenen Kenntniſſe im
wirklichen Leben beruht, ſo ergiebt ſich allmählig das wichtige Reſultat,
daß die Ordnung der großen Lebensverhältniſſe eines Volkes und einer
Zeit ſich in dem Syſtem der Bildung und mithin ihrer ſelb-
ſtändigen Anſtalten abſpiegelt. Das Syſtem des Bildungs-
weſens jeder Epoche — ganz gleichgültig zunächſt ob es vom Volke
oder vom Staate ausgeht — bedeutet daher die Antwort auf die
große Frage, ob und wie weit eine Zeit die geiſtigen Elemente als
Grundlage und Erhaltung ſeiner eigenſten Lebensverhältniſſe anſieht.
Es iſt daſſelbe in der That der formale Ausdruck ſeiner Geſit-
tung. Zugleich aber erſcheint in ihm das Verſtändniß jenes Ge-
ſetzes, das wir bereits erwähnt, und nach welchem alle Theile der
Bildung dennoch nur Ein Ganzes ſind. Das Bewußtſein und Be-
dürfniß dieſer höheren Einheit alles geiſtigen Lebens erſcheint formell
[10] ſtets darin, daß die Uebergänge von einem Bildungsgebiete zum
andern ſelbſt wieder als ſelbſtändige Bildungsgebiete und Anſtalten auf-
treten, während das Bewußtſein von dem praktiſchen Werthe der Wiſſen-
ſchaft die Specialbildungsanſtalten erzeugt. Auf dieſe Weiſe entwickelt
ſich das vollſtändige Syſtem des Bildungsweſens, deſſen Grundformen
ſich bei aller Verſchiedenheit dennoch auf die obigen drei zurückführen
laſſen. Und es gewinnt jetzt einen großen Werth, ſich dieſes Ganze
in einem, auf der Natur der Sache beruhenden Schema darzuſtellen.
Doch muß dazu das letzte Moment hinzugefügt werden.
Während die Selbſtändigkeit der Bildungsanſtalten den Werth be-
zeichnet, den eine Epoche auf die Bildung überhaupt legt, das Syſtem
derſelben die Tiefe und den Umfang des Bedürfniſſes nach Bildung
für die einzelnen Lebensverhältniſſe, wird nun die Dauer und Gleich-
mäßigkeit des Bildungsgenuſſes dadurch bedingt, daß ſich für den
letzteren in der Gemeinſchaft ein eigener Stand bildet, der die Bildung
zu ſeinem Lebensberufe macht. Dieſer Stand ſchließt ſich dann natur-
gemäß an das Syſtem der Anſtalten, verbindet ſeine geſammte Thätig-
keit mit denſelben, erhebt die Bildung an ſich zu einer ſyſtematiſchen
Wiſſenſchaft, und erfüllt das Bildungsweſen einer Nation mit dem
perſönlichen Elemente, dem Geiſte und der Thätigkeit der Berufsge-
noſſen. Erſt durch ihn wird daſſelbe zu einem fertigen, nunmehr mit
eignem Bewußtſein handelnden und vorwärtsarbeitenden Ganzen;
und der Ausgangspunkt für die höchſte Stufe des Bildungsweſens
beſteht dann darin, daß dieſer Stand des Bildungsberufes ſelbſt wieder
eine eigene berufsmäßige Bildung für ſeine bildende Thätigkeit erzeugt.
Erſt wo das geſchieht, ſind die großen organiſchen Elemente des
Bildungsweſens ein in ſich ruhendes und geſchloſſenes Ganzes, und in
der That kann erſt hier das öffentliche Bildungsrecht, indem es an
dieſem Syſtem ſein rechtes Objekt findet, zum reellen Verſtändniß gelangen.
Demgemäß ergibt ſich aus dem Weſen des Bildungsproceſſes ein
Bild deſſen, was wir den ſelbſtändigen Bildungsorganismus
nennen, der als Ausdruck und Maß des Bildungszuſtandes einer jeden
Epoche gelten kann. Dieſer Bildungsorganismus iſt jedoch hier zunächſt
nur im Weſen der Perſönlichkeit und im Begriffe der Bildung ſelbſt
gegeben. Der wirkliche Bildungsorganismus aber, die concrete Ge-
ſtalt der bildenden Arbeit Aller für jeden Einzelnen und jedes Einzelnen
für Alle entſteht erſt da, wo der Bildungsproceß ſelbſt im Ganzen wie
im Einzelnen Gegenſtand des öffentlichen Wollens, und damit ein Theil
des Verwaltungsrechts wird. Damit ergibt ſich nun eine Reihe von
Begriffen und Erſcheinungen, die nunmehr ſelbſtändig darzulegen ſind.
[11]
Es iſt hier zwar nicht der Ort, auf die pädagogiſche Literatur ein-
zugehen, allein es muß uns doch ſchon im Hinblick auf das Folgende eine
Anmerkung geſtattet werden. Ganz abgeſehen nämlich von der Literatur
des öffentlichen Bildungsrechtes, die wir unten im Allgemeinen und im
Beſondern charakteriſiren, beſteht nämlich ein großer Unterſchied zwiſchen
dieſer rein pädagogiſchen Literatur in unſerem und dem vergangenen
Jahrhundert. Die frühere Zeit hat, allerdings namentlich auf Grund-
lage der claſſiſchen Literatur, das Bildungsweſen ſtets als ein Ganzes
aufgefaßt und dargeſtellt; Pädagogik bedeutet die Geſammtheit der
lehrenden und erziehenden Thätigkeit. In dieſer Allgemeinheit war
dieſe Literatur fähig, auch die allgemeine Bildung als integrirenden
Theil mit aufzunehmen. Die Richtung der Zeit bewirkte dabei, daß
als Hauptaufgabe und zugleich als Hauptinhalt der letzteren die politiſche,
die Erziehung für das und zum Staatsbürgerthum, angeſehen
wurde, wodurch dann die eigentliche pädagogiſche Frage von der politi-
ſchen ſich trennte, der Aufnahme in die ſtaatsrechtliche Behandlung
weſentlich auch aus den unten anzuführenden ſpeziellen Gründen ſich
entfremdete, rein pädagogiſch ward, ſich namentlich dem Volksunter-
richt zuwendete, und ſich dadurch mehr und mehr ſpecialiſirte, indem
für jeden einzelnen Zweig eine eigene Literatur entſtand. Weſentlich
an dieß Moment knüpfte ſich die Aufnahme des Erziehungsweſens in
die ſtaatsrechtlichen Bearbeitungen. Sie iſt allerdings dadurch das ge-
worden, was wir, im Gegenſatz zur rein claſſiſchen Behandlung, eine
Fachwiſſenſchaft nennen, und hat die einzelnen Gebiete des Bildungs-
weſens, namentlich den Elementarunterricht, bei weitem gründlicher be-
handelt als früher, dafür inſofern aber die Geſammtauffaſſung
verloren, als die über das Fachbildungsweſen hinausgehende allge-
meine Bildung in der Pädagogik keine rechte Stelle mehr findet, was
ſich namentlich in dem Mangel einer pädagogiſchen Berückſichtigung der
Preſſe und ihrer ſteigenden Wichtigkeit zeigt; eben ſo derjenige Theil
derſelben, der auf einem öffentlichen Recht und Leben beruht.
In gleicher Weiſe hat die Kunſt in der heutigen Pädagogik nur
geringe Berückſichtigung gefunden. Es iſt das nun zwar hiſtoriſch ſehr
gut zu erklären; allein gerade die Verwaltungslehre kann dieſen be-
ſtimmten, wenn auch durch den Gang der Dinge recht wohl verſtänd-
lichen Standpunkt nicht anerkennen, obwohl gerade ſie es ſein mag,
die ihn durch den eigenen Mangel begründet hat, wie wir es unten
andeuten werden. Sie muß ihrerſeits alle Gebiete der Bildung gleich-
mäßig umfaſſen, und bedarf daher einer ſyſtematiſchen, ſich über alle
Theile des Bildungsweſens ausdehnenden Auffaſſung; dieſe zu geben,
war die Aufgabe des Vorhergehenden. Die höhere Pädagogik ſelbſt aber
[12] wird, wie wir hoffen, ſich dadurch in der Lage finden, auch ihrerſeits
wieder eine ſolche Geſammtauffaſſung für ihre Beſtrebungen wieder
zur Geltung zu bringen, um nicht bloß an Tiefe im Einzelnen, ſondern
auch an Beherrſchung des Ganzen die frühere Literatur zu übertreffen.
Vielleicht nun, daß dieſe Anſicht durch die ſtrenge Unterſcheidung des
öffentlichen Rechts der Bildung von ſeinem Gegenſtande, der Bildung
ſelbſt, die wir im Folgenden durchzuführen haben, ſeine nähere Be-
gründung und Begränzung auf ihr richtiges Maß auch in den Augen
pädagogiſcher Fachmänner finden dürfte.
II.
Das öffentliche Bildungsweſen.
I. Begriff des Bildungsrechts.
Indem wir nun das öffentliche Bildungsweſen und ſein Recht
dem Bildungsweſen an ſich gegenüberſtellen, oder das Verwaltungsrecht
der Pädagogik und ihrem Syſtem, wird es nothwendig, dem erſteren ſein
eigenthümliches Gebiet, ſeinen Inhalt und ſein Ziel in möglichſt klarer
Weiſe zu überweiſen; denn nur durch dieſe Trennung iſt eine ſelbſtändige
Verwaltungslehre des Bildungsweſens denkbar.
Zu dem Ende muß davon ausgegangen werden, daß wie geſagt
das Bildungsweſen nicht erſt durch den Staat entſteht, ſondern daß es
ſich auch ohne alles Zuthun deſſelben im Leben des Volkes von ſelber
erzeugt. Denn das iſt ſeine Natur, als ein organiſches Element des
Geſammtlebens, ſich durch ſeine eigene Kraft Daſein und Geltung zu ver-
ſchaffen. Das was wir das öffentliche Bildungsweſen nennen, ent-
ſteht deßhalb erſt dadurch, daß der Staat zu dem Bildungsweſen über-
haupt hinzutritt, und die in ſeiner Natur liegenden Principien,
Forderungen und Kräfte auf das Bildungsweſen anwendet. Während
daher das Bildungsweſen an ſich durch die Natur der Bildung ſich er-
klärt, wird das öffentliche Recht deſſelben nur durch das Weſen
des Staats verſtändlich. Ohne den Begriff des letzteren kann man
daher ſehr wohl die Pädagogik und das Bildungsweſen eines Volkes,
wenn es ſich von ſelbſt erzeugt, nicht aber dasjenige kennen lernen,
was wir die Verwaltung des geiſtigen Lebens nennen. Dieſe Ver-
waltung des geiſtigen Lebens eines Volkes oder das öffentliche Bildungs-
weſen iſt demnach die in aller Verwaltung thätige Staatsidee, in
ſofern ſie in das ſelbſtthätige Bildungsweſen des Volkes
[13] eingreift. Und die öffentlich geltenden Beſtimmungen über die Form,
den Inhalt und die Gränze dieſes Eingreifens der Staatsgewalt in das
geiſtige Leben des Einzelnen und des Ganzen, wie dieſelben durch den
Geſammtwillen in Geſetz und Verordnung beſtimmt werden, bilden das
öffentliche Recht des Bildungsweſens, oder das Verwaltungs-
recht des geiſtigen Lebens eines Volkes.
Auf der Grundlage dieſes Begriffes ergibt ſich nun die Darſtellung
ſeines Inhalts von ſelbſt. Das Princip und Syſtem des öffentlichen
Bildungsweſens folgt nämlich aus dem Weſen des Staats, das poſitive
Recht dagegen beruht auf dem geſammten inneren Rechtsleben der ein-
zelnen Staaten, und erſcheint zuerſt als hiſtoriſche Entwicklung im
Allgemeinen, dann aber in ſeiner gegenwärtigen concreten Geſtalt als
das Bildungsweſen der einzelnen großen Staaten Europas. Erſt
wenn dieſe Grundlagen feſtſtehen, kann der beſondere Theil zu dem
Bildungsweſen und der Kunſt der einzelnen Bildungsformen übergehen.
II. Princip und Syſtem des öffentlichen Bildungsrechts.
Der Begriff und Inhalt des öffentlichen Bildungsweſens entſteht,
wie geſagt, indem die Geſammtheit deſſen, was für die Bildung des
Volkes geſchieht, als ein nothwendiger organiſcher Theil, als Aufgabe
der Gemeinſchaft gegen die Einzelnen, oder als ein organiſches Gebiet
der Verwaltung anerkannt wird. Seinem formellen Begriffe nach um-
faßt es die Geſammtheit der öffentlich rechtlichen Beſtim-
mungen und Thätigkeiten, welche ſich auf den Bildungsproceß in
ſeinem ganzen Umfange beziehen. Seinem Umfange nach beſteht es
theils aus Geſetzen und Verordnungen, theils aus ſelbſtändigen An-
ſtalten, theils aus ſpeziellen Funktionen der Verwaltung. Seinem In-
halte nach ſchließt es ſich naturgemäß an das, im Weſen des Bildungs-
proceſſes liegende Syſtem deſſelben, theils daſſelbe im Ganzen organiſch
verbindend, theils es im Einzelnen ausfüllend, fördernd und erhebend.
Seinem Weſen nach aber iſt und bezeichnet es das, als Geſetz und
Verwaltung des Staats ausgedrückte Bewußtſein des Volkes als
Ganzen von dem Werthe des geiſtigen Lebens und ſeiner Funktion im
menſchlichen Geſammtleben, während derjenige Theil des Bildungs-
proceſſes, der durch die Einzelnen ſich vollzieht, nur das individuelle
Bewußtſein von dieſem Werthe ausdrückt.
Dieſe Aufgabe des Staats, welche auf dieſe Weiſe die Geſammt-
heit des geiſtigen Lebens und ſeines Werdens umfaßt, fordert für ihre
unendlich vielſeitige und an ſich faſt unbegränzte Erfüllung eine Ein-
heit in Auffaſſung und Durchführung, welche die erſte und allgemeinſte
[14] Bedingung ihres Erfolges iſt. Dieſe innere Einheit aller auf das öffent-
liche Bildungsweſen bezüglichen Maßregeln und Thätigkeiten nennen
wir das Princip des öffentlichen Bildungsrechts.
Dieſes Princip, für den Staat geltend, wird daher auch durch
das Weſen des Staats gegeben. Er ſelber iſt, der Verwaltung ange-
hörend, im Grunde nur die Anwendung des höchſten und allgemeinſten
Verwaltungsprincips auf das geiſtige Leben des Staats.
Das höhere Weſen aller menſchlichen Gemeinſchaft beruht darauf,
daß das Maß der Entwicklung des Einzelnen die Grundlage und Be-
dingung des Maßes der Entwicklung Aller wird. Der Staat nun, als
dieſe zur individuellen Perſönlichkeit erhobene Gemeinſchaft, bringt dieſes
gegenſeitige Bedingtſein Aller durch jeden und jedes durch Alle zum Be-
wußtſein, und muß daher mit den ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln
allerdings für die Bildung ſorgen. Allein das Weſen der geiſtigen Güter
fordert, daß ſie durch denjenigen ſelbſt erworben ſein müſſen, für den ſie
gelten ſollen. Der Staat kann daher ſo wenig die Bildung als die wirth-
ſchaftlichen Güter geben, ſondern das leitende Princip der Verwaltung
iſt, daß der Staat auch für die Bildung nur diejenigen Bedingungen
herzugeben hat, welche der Einzelne ſich nicht ſelbſt zu ſchaffen
vermag; während die Benützung dieſer Bedingungen oder die wirkliche
Bildung Sache des Einzelnen und ſeiner individuellen Thätigkeit iſt.
So einfach und faſt negativ nun dieß Princip an ſich erſcheint, ſo
bleibt doch hier, wo ſich das Syſtem der Verwaltung zu entwickeln
beginnt, der Inhalt deſſelben kein einfacher mehr. Das worauf es
ankommt iſt nämlich die Frage, was denn als Bedingung der gegen-
ſeitigen geiſtigen Entwicklung der Geſammtheit anzuſehen ſei. Und hier
nun erſcheinen die drei großen Gebiete des Bildungsweſens in einem
ſehr verſchiedenen Verhältniß.
Was zuerſt die Elementarbildung betrifft, ſo iſt ſie auf den erſten
Blick nur die Bedingung für die Bildung des Einzelnen. Allein ſie iſt
zugleich die abſolute Vorausſetzung des ganzen geiſtigen Verkehrs, der
ganzen gegenſeitigen Bewegung des geiſtigen Fortſchrittes; denn die in
ihr gegebene Möglichkeit der Weiterbildung des Einzelnen iſt die Be-
dingung für die lebendige geiſtige Thätigkeit Aller. Die Elementar-
bildung verliert dadurch ihren Charakter als freie Bildung; ſie wird
allmälig zu einer Pflicht des Einzelnen gegen die Geſammtheit, und
der Staat iſt es, der dieſe im Weſen der Sache liegende Pflicht zum
objectiv geltenden Recht macht. So entſteht das Princip des Ele-
mentarbildungsrechts, das wir als die Schulpflicht bezeichnen,
und das aus den obigen Gründen erſt in den vorgeſchrittenen Staaten
zur öffentlich rechtlichen Geltung kommt.
[15]
Die Berufsbildung dagegen iſt an ſich freier. Allein der Beruf
iſt in ſeiner Ausübung ein weſentlicher und organiſcher Theil des Ge-
ſammtlebens, und ſeine tüchtige Erfüllung iſt daher ſelbſt wieder eine
Bedingung für die Verwirklichung des geiſtigen und materiellen Fort-
ſchrittes. Fehlt dem Berufe ſeine Vorausſetzung und das Maß von
geiſtigen Elementen, die er ſelbſt zur öffentlichen Verwerthung bringt,
ſo macht eben die in der perſönlichen Freiheit liegende Scheidung der
Berufe eine tüchtige Berufserfüllung unmöglich. Der Staat, indem
er daher Wahl und Bildung des Berufes für Alle frei macht, muß
demnach im höchſten Geſammtintereſſe dafür ſorgen, daß ein gewiſſes
Minimum der Berufsbildung vorhanden ſei, bevor derſelbe ausgeübt wird.
Daraus folgen zwei leitende Grundſätze für das öffentliche Berufsbildungs-
weſen. Zuerſt muß der Staat der Berufsbildung die ihren Forderungen ge-
nügenden Anſtalten bieten, die daher ihrem Syſtem nach der ethiſchen
und praktiſchen Entwicklung des Berufsſyſtemes entſprechen müſſen;
zweitens muß er die Gewähr geben, daß bei ſolchen Berufen, gegenüber
welchem es dem Einzelnen nicht mehr möglich iſt ein freies Urtheil zu
haben oder es zur Geltung zu bringen (Beamte, Aerzte, Lehrer ꝛc.)
wenigſtens das Minimum der Berufsbildung wirklich vorhanden ſei.
Dieſe Berufe nun nennen wir die öffentlichen Berufe; ihre Funk-
tion bildet ſtets im weiteren Sinne einen Theil der Verwaltungsthätig-
keit ſelbſt, und unterſcheidet ſich dadurch von dem freien Beruf, deſſen
Erfüllung nur das Einzelleben umfaßt (wirthſchaftlicher Erwerb, Kunſt ꝛc.).
Jene Garantie wird gegeben durch die öffentlich rechtliche Prüfung; und
ſomit ergibt ſich als Inhalt des Princips dieſes Theiles des Verwaltungs-
rechts, daß das öffentliche Recht des Berufsbildungsweſens auf der ſyſte-
matiſchen Herſtellung von Berufsbildungsanſtalten, und auf dem
Syſteme der Prüfungen für die öffentlichen Berufe beruhen muß.
In der allgemeinen Bildung endlich muß der Grundſatz der vollen
Freiheit und Selbſtthätigkeit der Einzelnen gelten. Allein trotzdem kann
der Staat nicht gleichgültig neben derſelben ſtehen. Er hat hier wie
immer die Gefährdungen derſelben in der Culturpolizei zu be-
kämpfen; er hat zweitens die großen Bedingungen der allgemeinen
geiſtigen Entwicklung in öffentlichen Bildungsanſtalten herzuſtellen
oder zu unterſtützen; und er hat endlich durch ſein öffentliches Recht
dafür zu ſorgen, daß das große Element des bei weitem wichtigſten
allgemeinen Bildungsmittels, der Preſſe, das in der Verbindung ihrer
rechtlichen Verantwortlichkeit mit ihrer Freiheit der Bewegung
beſteht, zur rechtlichen Geltung und Durchführung gelange.
In der Geſammtheit dieſer Momente iſt nun die Entwicklung des
Princips des öffentlichen Bildungsrechts zu einem Syſteme gegeben;
[16] und mit dieſem Syſtem erſt iſt auch eine Wiſſenſchaft dieſes Gebietes
der Verwaltung möglich. Die Wiſſenſchaft des öffentlichen Bildungs-
weſens iſt demnach nicht etwa die Theorie der Bildung an ſich, ſondern
die wiſſenſchaftliche Auffaſſung und Verarbeitung des öffentlichen Rechts
derſelben. Sie ſchließt ſich daher an die Elemente dieſes Syſtemes an,
die Harmonie der großen Idee der perſönlichen geiſtigen Freiheit mit
der nicht minder mächtigen des perſönlichen Staates und ſeiner organi-
ſchen und rechtlichen Thätigkeit ausſprechend und vertretend, eine nicht
immer leichte oder dankbare Aufgabe. Wie aber die Wiſſenſchaft das
rein geiſtige Band der höheren Einheit in dieſer Entwicklung des ein-
fachen Princips zum organiſchen Syſtem ſucht und findet, ſo muß der
Staat ſelbſt das materielle Element der Einheit in dem Organismus
der für dieſe geiſtige Verwaltung beſtimmten Organe aufſtellen, das,
wie die Idee des Staats alle Theile und Funktionen des Bildungs-
weſens durchdringt und zum Theil geſtaltet, ſeinerſeits alle Gebiete der
wirklichen Thätigkeit deſſelben äußerlich umfaßt, um in ihnen eben jenes
Syſtem von Principien und Forderungen gleichmäßig und allgemein
zur Geltung und Verwirklichung zu bringen. So entſteht als formaler
Ausdruck und Träger jenes Syſtems der Verwaltungsorganismus
der öffentlichen Bildung, den wir in ſeiner ſelbſtändigſten Form das
Unterrichtsminiſterium nennen, und das in Recht und Organiſation
wieder in jedem einzelnen Staate verſchieden iſt.
Faßt man nun das Ganze, was über Begriff, Princip und Syſtem
des öffentlichen Bildungsweſens geſagt iſt, zuſammen, ſo wird man
ſagen, das es ſich dabei nicht um die Bildung und den ſie erzeugenden
Proceß an ſich, ſondern um das Verhalten des Staats zu dem-
ſelben handelt, und daß das öffentliche Recht des geiſtigen Lebens
hier wie immer aus dem Zuſammenwirken der Natur der Sache und
des Weſens und der Idee des Staats beſteht. Und es iſt das Feſt-
halten dieſes Momentes, welches uns die Geſchichte dieſes öffentlichen
Bildungsweſens in ſeinem tieferen Inhalt klar macht.
III. Geſchichte der verwaltungsrechtlichen Auffaſſung im Ganzen.
Auch der Begriff des öffentlichen Bildungsrechts hat ſeine Ge-
ſchichte, die durch ihren Zuſammenhang mit der ganzen Staatsauffaſſung
von hohem Intereſſe iſt, und jedenfalls einen Theil der ſog. Geſchichte
der Rechtsphiloſophie bilden ſollte. Man wird in derſelben drei ziemlich
beſtimmte Entwicklungsſtadien unterſcheiden. Sie beginnt mit der Auf-
nahme einzelner Sätze aus dem öffentlichen Bildungsweſen in die
Polizeiwiſſenſchaft, die ſich weſentlich auf die bekannten Grundſätze der
[17] Sittenpolizei, und daneben auf fragmentariſche Aeußerungen über die
Volksbildung beſchränken, während das Berufsbildungsrecht noch gar
nicht in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen wird, eben ſo wenig die
Preſſe; die Hauptvertreter dieſes Stadiums ſind auch hier Juſti und
Sonnenfels. Das zweite Stadium hat bereits einen viel beſtimmtern
Charakter; daſſelbe entwickelt nämlich zwei Richtungen zu gleicher Zeit.
Die erſte gehört der mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts entſtehen-
den neuen Geſtalt des Staatsrechts an, welches allmählig, nachdem
auch hier J. H. Berg in ſeinem Deutſchen Polizeirecht Bahn gebrochen
(ſ. Bd. II. Recht der Unterrichtspolizei, als Theil des Rechts der „Wohl-
fahrtspolizei“ Hauptſtück VI, S. 299—365) ſich über die, noch von
Pütter im Jus publicum ausſchließlich vertretene Anſicht erhebt, die
nur da von dem öffentlichen Recht des Bildungsweſens ſpricht, wo es
ſich darum handelt, wer das Recht habe Academias, Universitates,
ac gymnasia, scholas et societates literarias zu gründen, von denen
ſchon das alte Jus publicum anerkennt, daß „status eos in suo cujus-
que territorio instituere possunt. Pütter, Inst. Juris Publ. L. VIII,
§. 359 (Auffaſſung des geſammten Bildungsweſens als Regalität).
Hat doch Pütter nicht einmal in ſeiner Literatur des deutſchen Staats-
rechts eine andere als die der Univerſitäten aufgenommen.
Erſt ſpäter wird daſſelbe in die Darſtellung des poſitiven Ver-
waltungsrechts aufgenommen, freilich noch immer mit enger Beſchränkung
auf die corporativen Ordnungen der Univerſitäten und ihres Rechts.
Den Uebergang von dem Pütterſchen Standpunkt zur Berückſichtigung
des geſammten Unterrichtsweſens im poſitiven deutſchen Staatsrecht
bildet Gönner in ſeinem überhaupt ſehr beachtenswerthen Teutſchen
Staatsrecht 1805, §. 370, der ſchon ein vollſtändiges Syſtem an-
deutet. Ihm folgen, ohne über ihn hinaus zu gelangen, Mauren-
brecher, Deutſches Staatsrecht, §. 197 (nur ganz beiläufig von der
Bildungspolizei, ſonſt mehrfach von Univerſitäten), Zachariä, Deut-
ſches Staats- und Bundesrecht II. §. 178 (Schulen und Univerſitäten
unter „Polizeihoheit“). — Dieſe Richtung war allerdings weſentlich
dadurch bedingt, daß es noch kein öffentliches Bildungsrecht für Deutſch-
land gab, außer den Univerſitäten und der Preſſe, und daß der In-
halt dieſes Rechts gar nichts anderes blieb, als eine Bildungspolizei.
Die deutſchen Staatsrechtslehrer hatten daher materiell gar keinen
andern Gegenſtand, als eben jenes höchſt beſchränkte Bundesrecht
des deutſchen Bildungsweſens. Erſt mit der Reichsverfaſſung von 1849
gewann daſſelbe auch in den Territorialverfaſſungen einigen Raum, und
was hier geſammelt werden konnte, hat Zöpfl in ſeiner fleißigen, aber
ſyſtemloſen Weiſe geſammelt. (Deutſches Strafrecht, Bd. II. mehrfach.)
Stein, die Verwaltungslehre. V. 2
[18] Das Bewußtſein von der hohen Bedeutung der Sache, gegenſtands-
los im deutſchen Staatsrecht, bricht ſich dann Bahn in den Bearbei-
tungen der Territorialverwaltungslehren, und wird zu ſehr vollſtän-
digen Darſtellungen, wie bei Rönne, Stubenrauch, Pözl, natürlich
aber auch ohne einen, dieſelben verbindenden Standpunkt. Der tiefe
Mangel, der in dieſer Richtung lag, verbunden mit der wachſenden
Erkenntniß von der entſcheidenden Wichtigkeit des Bildungsweſens, er-
zeugte daneben die zweite Richtung, welche das letztere nunmehr grund-
ſätzlich in die ſyſtematiſche Verwaltungslehre aufnahm, wobei freilich
der traditionelle Name der Polizeiwiſſenſchaft den Autoren eben ſo ſehr
in der freien Behandlung, als ihrem Wirken im Publikum ſchadete.
Dieſe zweite Richtung wird eingeleitet durch eine Reihe ausgezeichneter
Monographien über die Erziehung des Volkes, vorwiegend noch im
ethiſchen und pädagogiſchen Sinne abgefaßt, von Zachariä, Weſſenberg,
Niemeyer und Andern, die zwar keine Syſteme ſind oder ſein wollen,
wohl aber das Bewußtſein feſthalten, daß die Staatswiſſenſchaft unter
allen Formen das Bildungsweſen nicht mehr übergehen könne. Daſſelbe
wird daher in die neue, organiſche und freie Geſtalt derſelben auf-
genommen. Bei einigen wird daraus ein förmliches Polizeiſyſtem wie
bei Lotz (Ueber den Begriff der Polizei, S. 379 ff.), der den Gedanken
vertritt, daß der Staat das Recht und die Pflicht habe, die „Auf-
klärung“ durch Zwangsmaßregeln durchzuſetzen, wobei er nur die Ele-
mentarbildung von der allgemeinen Bildung nicht gehörig ſchied. Bei
andern dagegen bleibt die Theorie meiſtens auf einem etwas allgemeinen
und unklaren Standpunkt ſtehen, und berückſichtigt viel zu wenig das
poſitive Recht neben den allgemeinen Grundſätzen, die ohnehin niemanden
mehr zweifelhaft waren. So Jacob (Polizeiwiſſenſchaft I, §. 146);
Pölitz (Staatswiſſenſchaft. Erziehungspolizei II, 19), der in ſeiner
StaatswiſſenſchaftII, 339 den Satz durchführt, daß der Zwang
falſch und der Staat nur verpflichtet ſein ſolle, die Hinderniſſe der
Bildung aus dem Wege zu ſchaffen. Soden (Staats-Nationalbildung,
Bd. 8 der Nationalökonomie) war der erſte, der eine ſyſtematiſche Dar-
ſtellung verſucht; Aretin (Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie,
II. Bd. 1. Abth., S. 35 ff.), der zugleich an freien Grundſätzen und
gelehrter Kenntniß ſo reich iſt, daß man ſeiner mit großem Unrecht
vergißt; zuletzt Mohl (Polizeiwiſſenſchaft, Bd. I, Buch II, Kap. 2).
Daneben lag es in der dialektiſchen Natur der rein philoſophiſch ge-
wordenen Rechtsphiloſophie, mit der Verwaltung auch das Bildungs-
weſen ſo gut als ganz zu übergehen. Während Kant, Fichte, Her-
bart, Kraus ſich mit demſelben gar nicht beſchäftigen, ſo wenig wie
in neuerer Zeit Rößler (Allgemeine Staatslehre) hat Hegel es nur
[19] als eine allgemeine unklare Kategorie des Staatsbegriffs angedeutet
(Rechtspiloſophie §. 173), Fichte d. J. (Syſtem der Ethik II, 2. §. 166)
es als eine ethiſche Forderung behandelt, Stahl in ſeiner Philoſophie
des Rechts unter der nämlichen Abtheilung „Verwaltung des Staats“
Bd. II, Abth. II. IV. Abſchn. geradezu vergeſſen. Was Bluntſchli
und Helm ſagen, enthält an Gedanken nicht mehr, an Stoff und
Syſtem aber weit weniger, als was bereits Pölitz und namentlich Zachariä
und Aretin kürzer und energiſcher geſagt haben. — Unter dieſen Um-
ſtänden war es natürlich, daß die große und mit dem höchſten ſittlichen,
der beſten öffentlichen Anerkennung werthen Eifer arbeitende päda-
gogiſche Literatur dieſe ganze ſtaatsrechtlich-philoſophiſche durchaus nicht
benützen konnte. Es iſt höchſt bezeichnend, daß die erſtere unſeres Wiſſens
ſich auf die letztere auch an keinem einzigen Orte bezieht. Dadurch nun
ward dieſe pädagogiſche Literatur bei aller Tiefe und Gründlichkeit im
Einzelnen einſeitig. Das Bild des Ganzen, der innere organiſche
Zuſammenhang der Theile und Gebiete, iſt ihr eigentlich niemals recht
geworden. Sie beruht auf der Kategorie der „Schulmänner“, und es
charakteriſirt ſie, daß ſie faſt nie die Univerſitäten, nur in Andeutungen
die Kunſt und ihre Bildungsanſtalten, und gar nie die Preſſe in ſich
aufnimmt und verarbeitet, ſo wichtig auch die letztere iſt. Eine Wiſſen-
ſchaft des Bildungsweſens gibt es daher noch nicht; aber mit Aus-
nahme vielleicht der Medicinalpolizei gibt es keinen Theil der Staats-
wiſſenſchaft, der ſo ausgezeichnete Arbeiten im Einzelnen darböte. —
Aus dieſen Elementen hat ſich nun das gegenwärtige Stadium ge-
bildet. Die Wiſſenſchaft hat die organiſche Geſammtauffaſſung, die ihr
in der deutſchen Literatur fehlte, in dem fremden Bildungsweſen geſucht,
und namentlich iſt es das Engliſche, das beſtimmt ſcheint einen neuen
Anſtoß zu geben, während andererſeits in höchſt beachtenswerther Weiſe
die Schulmänner auch das poſitive Recht der Bildungsanſtalten ernſt-
haft zu berückſichtigen beginnen. Als die bedeutendſte Erſcheinung auf
dieſem Gebiete muß man Schmids Encyclopädie begrüßen. Wenn
es zwar nicht möglich iſt, bei dem, was in ihr geleiſtet iſt, ſtehen zu
bleiben, ſo iſt es eben ſo wenig möglich, ohne ſie zu arbeiten. Sie ent-
hält unſchätzbare Beiträge zur Lehre vom öffentlichen Bildungsrecht bei
dem vielfach vollſtändigen Mangel anderer territorialen Bearbeitungen.
In hohem Grade charakteriſtiſch für dieſe geſammte Entwicklung iſt nun
das abſolute Hinweglaſſen der Preſſe aus allen Auffaſſungen des öffentlichen
Bildungsweſens. Die Urſachen dafür liegen zwar nahe; aber es iſt wohl an
der Zeit, ein Leben und eine Gewalt, die in ſich ſelber ſchon ein großartiges
Syſtem geworden ſind, nicht mehr von der ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft aus-
zuſchließen, und ſie nur als Gegenſtände der Polizei zu berückſichtigen.
[20]
IV. Geſchichtliche Entwicklung.
1) Das geſellſchaftliche und das ſtaatliche Princip des
Bildungsrechts.
Niemand wohl wird es für nöthig erachten, hier den Satz weiter
auszuführen, daß das poſitive Recht auf allen Gebieten des Lebens,
alſo auch der Verwaltung im Allgemeinen und das der Bildung im
Beſonderen nicht etwa zufällig und willkürlich entſteht, ſondern ſich in
ſeiner Bildung nach den großen Elementen richtet, welche das geſammte
Leben beherrſchen. Und ſo ſteht es feſt, daß die Wiſſenſchaft alles und
ſo auch dieſes Rechts nicht bloß in der Sammlung der betreffenden
Beſtimmungen, ſondern in dem Verſtändniß der großen Faktoren und
ihrer Geſetze beſteht, aus welchem das poſitive Recht hervorgeht.
Dieſe beiden Faktoren nun ſind hier wie immer die menſchliche Ge-
ſellſchaft und die Staatsidee. Beide ſind in der Wirklichkeit untrennbar
verſchmolzen; nur die Wiſſenſchaft vermag ſie zu ſcheiden. Wo ſie es
aber thut, entſteht ein eigenthümliches Bild, das die bewegenden Kräfte
der Weltgeſchichte ſelbſtändig darlegt, uns in die große Werkſtatt aller
Rechtsbildung, und ſo auch die des Bildungsrechts aller Völker und
Zeiten hineinführt, und uns das Werden desjenigen zeigt, was wir
das poſitive Recht nennen.
Es mag uns daher wohl geſtattet werden, hier den Charakter der
Geſellſchaft einerſeits und des Staats andererſeits zu bezeichnen, um
anſchauen zu können, wie ſie in lebendiger Wechſelwirkung das Bildungs-
weſen der Staaten erzeugt haben.
Es iſt an einem andern Orte gezeigt, daß die Geſammtordnung
der geiſtigen und wirthſchaftlichen Güter in der Menſchheit, als Ord-
nung des Lebens derſelben erſcheinend, die Geſellſchaft iſt, und daß dieſe
Geſellſchaft drei große Grundformen bis jetzt entwickelt hat, die Ge-
ſchlechter-, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche Ordnung. Es iſt ferner
gezeigt, daß jede dieſer Ordnungen nicht bloß ihre Verfaſſung, ſondern auch
ihre Verwaltung erzeugt. Der Verwaltung im weiteſten Sinne gehört
auch das Bildungsweſen. Jede Geſellſchaftsordnung hat daher ihre
Geſtalt und ihr Recht des Bildungsweſens. Dieſes Bildungs-
weſen der Geſellſchaftsordnung im Gegenſatze zu dem des Staats hat
nun einen zweifachen Inhalt, auf dem ſein Einfluß und ſeine Geſchichte
beruhen.
Einerſeits nämlich ruft das Weſen der Geſellſchaftsordnung noth-
wendig dasjenige hervor, wodurch ſie ſich von der Idee des Staates
ſcheidet, das iſt der Unterſchied der Klaſſen, und damit ihren Gegenſatz.
[21]Jede Geſellſchaft hat ihre herrſchende und ihre beherrſchte Klaſſe, und
ihre eigenthümlichen Gegenſätze und Bewegungen, welche den Inhalt
des innern Lebens der Völker bilden. Der Charakter dieſes innern
Lebens iſt ſtets das Streben der herrſchenden Klaſſe, ihre eigenen In-
tereſſen zu erhalten und zu fördern. Dieſer Charakter gilt nun auch
für die in ihr gegebene Geſtalt des Bildungsweſens. Jedes aus der
Geſellſchaft hervorgehende Bildungsweſen geht dahin, dieſe Bildung in
der Weiſe zu ordnen, zu erzeugen und vertheilen, daß die beſondere
Stellung, die Herrſchaft und das Intereſſe der einzelnen Klaſſen mit
all ihren Unterſchieden in der durch die Bildung gegebenen geiſtigen
Welt einerſeits wiedergegeben werde, andererſeits ſich erhalte. Jedes
rein geſellſchaftliche Bildungsweſen iſt daher ein Bild, aber auch ein
Grund und eine mächtige Stütze der geſellſchaftlichen Unterſchiede
zwiſchen den Menſchen. Jedes rein geſellſchaftliche Bildungsweſen
enthält daher einerſeits eine möglichſt hohe, ſtark entwickelte, meiſt auf
die tiefſten Grundlagen des geiſtigen Lebens zurückgeführte Bildung der
herrſchenden Berufsarten; aber neben dieſer Bildung zugleich die
Ausſchließung der niederen Klaſſe von der Berufsbildung der höheren.
In dieſen beiden, für alle Stadien der Geſchichte gültigen Sätzen gipfelt
der Charakter des eigentlich geſellſchaftlichen Bildungsweſens.
In dieſe durch die Geſellſchaftsordnungen geſetzte Geſtalt deſſelben
tritt nun der Staat mit ſeinem ſpecifiſchen Weſen hinein. Seiner
unabänderlichen Natur nach vertritt er ſtets das allgemeine Intereſſe
gegenüber dem beſondern, und keine geſellſchaftliche Verfaſſung kann ihm
dieſes ſein Lebensprincip ganz rauben. Das Gebiet aber, in welchem
er dieß ſein eigenſtens Lebensprincip zur Verwirklichung bringt, iſt eben
die Verwaltung überhaupt; denn die Verwaltung iſt ja der thätige
Staat. In allen einzelnen Gebieten der Verwaltung aber erſcheint
das ſpecifiſche Lebensprincip der Staatsidee gegenüber dem der geſell-
ſchaftlichen Ordnungen wieder als die beſtändige Arbeit des Staats,
die niedere und beherrſchte Klaſſe zu heben, und ihr die Lebens-
bedingungen der Entwicklung zur möglichſten Gleichheit mit der
herrſchenden zu geben. Dieß iſt der Kern aller Verwaltung des Staats
gegenüber der Geſellſchaft, alſo auch ſeiner Verwaltung des geiſtigen
Lebens.
Das große Princip der Staatsgewalt im Bildungsweſen erſcheint
nun abgeſehen von jeder Bethätigung in den einzelnen Formen, Ein-
richtungen und Geſetzen in doppelter Weiſe. Einerſeits tritt es negativ
auf in dem Streben, die in den geſellſchaftlichen Kräften und Zuſtänden
liegenden Unterſcheidungen im Volksbildungsweſen zu bekämpfen und zu
beſeitigen, poſitiv aber in dem organiſirten Verſuch, allen Klaſſen der
[22] Geſellſchaft, und zwar ohne Rückſicht ſowohl auf Stand als auf
Beſitz, jede Art und jeden Grad der Bildung zugänglich zu machen.
Die Art und Weiſe wie er dabei zu verfahren hat, zeigt ihm die Er-
ziehungslehre; die Gebiete und Formen zeigt ihm das Bildungsweſen;
aber das öffentliche, aus dem obigen Weſen des Staats hervorgehende,
und es zum Ausdruck bringende Recht des Bildungsweſens geht natür-
lich hervor eben aus demjenigen Zuſtande der Geſellſchaftsordnung, mit
welchem die Staatsgewalt es zu thun hat. Und ſo entſteht der eigent-
liche Inhalt des Begriffs des poſitiven Bildungsrechts. Daſſelbe
enthält demgemäß nicht eben bloß die wirklich geltenden Beſtimmungen
für das Verwaltungsrecht der Bildung, ſondern es iſt vielmehr der
Ausdruck für den Grad und die Art, in welcher das Princip des
Staats mit ſeiner freien und allgemeinen Bildung gegenüber der
Geſellſchaft und ihrem Klaſſenbildungsweſen zur Geltung
gelangt iſt.
Denn dieſe Geltung wird keineswegs mit einemmale gewonnen.
Wie jede große, die Menſchheit beherrſchende Idee erſt langſam und
ſchrittweiſe zum Siege gelangt, ſo gewinnt auch der Staat mit ſeinen
Forderungen nur langſam und nicht immer gleichmäßig den Sieg über
die widerſtrebenden Elemente der Geſellſchaft. Und dieſe Bewegung,
dieſer Kampf und Sieg der Staatsidee als Trägerin des Princips der
freien und gleichen Beſtimmung aller Perſönlichkeit in der geiſtigen
Welt, die Entwicklung der Geſetze, Maßregeln und Anſtalten, welche
dieſen Gedanken verwirklichen, dieſe allmählige Erhebung des Bildungs-
weſens aus dem geſellſchaftlichen zu einem rein menſchlichen, conſolidirt,
gefeſtigt und zu einer öffentlich rechtlichen Thatſache gemacht, iſt die Ge-
ſchichte des öffentlichen Bildungsweſens. Sie iſt daher ein Stück Welt-
geſchichte, und auch der gegenwärtige Zuſtand muß, wie alle bisherigen,
in dieſem Sinne als ein Zuſtand des Werdens und des Ueberganges
betrachtet werden.
Die großen Grundformen dieſer Geſchichte aber ſind die folgenden.
2) Die Stadien des öffentlichen Bildungsweſens in der
Geſchichte.
Es iſt natürlich unmöglich, dieſe hiſtoriſche Entwicklung nunmehr
anders als im Großen und Ganzen zu charakteriſiren, indem wir dabei
das Bild der Weltgeſchichte überhaupt in ſeinen Grundzügen als bekannt
vorausſetzen. Wir können daher hier nicht mehr geben als den Rahmen,
in welchem alle einzelnen Thatſachen und hiſtoriſchen Entwicklungen
ihren Platz finden; das gegenwärtige Recht aber iſt ſeinerſeits in dieſem
[23] Sinne die Ausfüllung deſſelben mit dem, was die Gegenwart bietet.
Aber dabei iſt es gewiß, daß jedes tiefere Eindringen in dieſen hiſto-
riſchen Proceß erſt dann zu einem abgeſchloſſenen Reſultat führt und
dadurch aus einer Zuſammenſtellung eine wahre Vergleichung möglich
macht, wenn man alle einzelnen Angaben und Thatſachen des Bildungs-
weſens auf die drei großen Kategorien der Elementar-, der Berufs-
und der allgemeinen Bildung zurückführt. Denn die ethiſche Natur
des Staats bringt es mit ſich, daß er der natürliche Vertreter nicht
etwa Einer, ſondern aller dieſer drei Kategorien zugleich iſt, während
jedes rein geſellſchaftliche Bildungsweſen ſtets nur Eines dieſer Ge-
biete zur Entwicklung bringt. Das öffentliche Bildungsweſen erfüllt
daher nicht die Aufgabe, die Wiſſenſchaft als ſolche zu heben und zu
veredeln; das iſt und bleibt Sache des lebendigen und arbeitenden
Geiſtes der Menſchen, ſondern vielmehr die, das von der Wiſſenſchaft
je nach ihrem Standpunkt Errungene zum Gemeingut zu machen.
Und es iſt gar kein Zweifel, daß gerade in dieſem Sinne unſere Zeit
weit höher über der ganzen Vergangenheit ſteht, als in den Ergebniſſen
irgend einer einzelnen Wiſſenſchaft und Kunſt.
Von dieſem Standpunkt erſcheinen nun folgende Hauptſtadien der
Geſchichte des öffentlichen Bildungsweſens.
I. Im Orient iſt die ſtaatliche Gewalt ganz in den Händen der
geſellſchaftlichen Gewalten. Das Princip der erſteren geht daher voll-
ſtändig in dem des letzteren unter. Es gibt nicht bloß keine allgemeine
Bildung, und daher auch nicht ihre Bedingung, die Elementar-
bildung, ſondern es darf auch keine geben. Die Geſammtbildung iſt
eine, aber grundſätzlich unfreie Berufsbildung und das Sonderintereſſe
der herrſchenden Kaſten macht dieſe Sonderbildung jeder einzelnen heilig,
ſo daß der Erwerb derſelben für andere Kaſten ſelbſt zu einem geſell-
ſchaftlichen Verbrechen wird. Damit jeder in ſeiner Kaſte bleibe, darf
er gar nicht lernen, was die Bildung der andern ausmacht. Die
Staatsgewalt im Dienſte der geſellſchaftlichen Herrſchaft verliert dabei
ihr höheres ethiſches Weſen und wird zu einer dienſtbaren Vollzieherin
der geſellſchaftlichen Forderungen. Die Bildung ſelbſt wird dabei eine
zwar große, aber einſeitige; die Bildung durch das freie Element der
thätigen Individualität fehlt, und mit der geiſtigen Stagnation geht das
Leben des Staats ſelbſt zu Grunde.
II. Die alte Welt und zwar Griechenland ſowohl als Rom, be-
ruht faſt ausſchließlich auf der Geſchlechterordnung. Sie will daher
die Erhaltung der herrſchenden Geſchlechter, mithin in ihrer Bildung
die Entwicklung desjenigen Theiles der geiſtigen Güter, welche dieſe
Herrſchaft enthalten. Dieſe ſind nun die möglichſte Entwicklung der
[24] freien und kräftigen Perſönlichkeit, ſo weit ſie den herrſchenden Klaſſen
angehört. So entſteht das Bildungsweſen der Geſchlechter, ge-
richtet auf Tapferkeit, Sitte und Dienſt der Geſchlechtergötter. Die
Unterſcheidung der Elementar- und Berufsbildung fehlt dabei, weil
die Geſchlechterordnung nur Einen Beruf kennt, den des Dienſtes in
Waffen. Die Geſchlechter ſelbſt aber ſind gleichberechtigte Glieder der
Gemeinſchaft, und fordern und erhalten alle gleiche Bildung, und dieſe
Bildung iſt die Baſis des auf ihrer Herrſchaft ruhenden, oder vielmehr
aus ihr ſelbſt beſtehenden Staats. Wo daher ein Geſchlechterſtaat
theoretiſch zum Bewußtſein gelangt, wird er dieſe Bildung als all-
gemeine Nothwendigkeit, als gleiche Pflicht jedes Einzelnen gegen das
Ganze fordern, weil ſie ſeine Herrſchaft begründet. Dadurch erſcheint
dann die Erziehung und Bildung als eine öffentliche Angelegenheit,
aber nur innerhalb der individuellen Tüchtigkeit in Waffen und Staats-
dienſt. Auf dieſe Weiſe beſteht der Charakter des öffentlichen Bildungs-
weſens der Geſchlechterordnung darin, daß der Staat (als die Organi-
ſation der Geſchlechterherrſchaft) die Bildung von den Einzelnen fordert,
aber ſie ihnen weder gibt noch erleichtert. Die Geſchlechter ſelbſt ſind die
Träger der Bildung; in ihnen die Familie. In dieſem Stadium der
Geſchichte iſt es daher, wo die Familie als Grundlage der Bildung erkannt
wird; allein damit iſt auch die beſtändige, bis auf unſere Zeit reichende
Verſchmelzung von Erziehung und Bildung begründet, die das
Verſtändniß des öffentlichen Rechts der letzteren ſo ſchwer macht. Die
wirkliche Bildung der Geſchlechter erſcheint daher eben ſo ſehr als eine
ſociale, denn als eine ſtaatliche Pflicht; in den einheitlichen Formen
des Geſchlechterſtaats verſchmilzt beides. Die öffentliche Formen werden
dann die Spiele, Waffen- und Turnſpiele; aber nur die Geſchlechter
ſind zu ihnen berechtigt. So war es in der alten Welt, ſo iſt es in
der germaniſchen geweſen, und ſo iſt es in den Reſten der alten Ge-
ſchlechter noch jetzt, denn das Uebergehen der Söhne des Adels in den
Waffenſtand iſt nur eine andere Form derſelben Thatſache.
III. Daneben aber geht in der alten Welt ein zweiter Bildungs-
proceß her, der eine nicht minder hohe weltgeſchichtliche Bedeutung ge-
habt hat. Jene Geſchlechterbildung enthält zuletzt in ihrem Ergebniß eine
Berufsbildung; denn die Waffe iſt der Beruf des „freien“ Mannes.
Die Idee der Freiheit aber, einmal lebendig in dem Menſchen und ihn er-
hebend und veredelnd, erzeugt dagegen eine Form der allgemeinen Bildung,
in welcher zuerſt in der Weltgeſchichte die einzelne Perſönlichkeit, von Beſitz
und Geſchlecht unabhängig, ſich durch geiſtige Güter eine Stellung
gewinnt. Dieſe allgemeine Bildung iſt in der griechiſchen Welt die
„Poeſie“ im weiteſten Sinne, die Philoſophie und Redekunſt inbegriffen:
[25] in der römiſchen dagegen die „Rechtswiſſenſchaft“ und die Stellung
und Aufgabe der Anwälte. Beide vertreten die Preſſe unſerer Zeit.
Beide erwecken die Ueberzeugung von dem hohen Werth der geiſtigen
Bildung; damit das Streben nach ihr; damit das Inſtitut von Schulen,
Privatlehrern, ſelbſt öffentlichen Vorträgen; damit ein Schriftſtellerthum,
in Griechenland ein weſentlich dichteriſch-philoſophiſches, in Rom ein
juriſtiſches; und damit endlich die Ueberzeugung, daß das Bildungs-
weſen Gegenſtand einer eigenen Wiſſenſchaft ſein könne und müſſe. So
entſteht die Παιδεια, die Pädagogik. Allein ſie bleibt eigentlich bei
der ethiſchen Erziehung ſtehen, denn die geiſtige Erziehung bleibt in
aller Geſchlechterordnung doch nur Sache des Einzelnen; ſie wird
nie Sache des Staats; der Begriff des beſtimmten Berufes und ſeiner
Bildung, die Unterſcheidung der Elementarlehre fehlt, und das iſt der
Grund, weßhalb ſie in der germaniſchen Zeit anſtatt eine Pädagogik
zu werden, vielmehr nur die ethiſchen Motive der letzteren abgibt.
Darauf beruht die Stellung der griechiſchen Philoſophie zur germani-
ſchen Pädagogik als Wiſſenſchaft; jene hat gewiß unendlich ſegensreich
gewirkt, aber nicht da, wo man es nur zu oft annimmt. Sie hat uns
keine Bildungslehre, ſondern ſie hat uns die Erziehungslehre gegeben.
Wir verdanken ihr viel; aber nicht alles. Für das, was wir brauchen,
gibt ſie nicht einmal eine Anleitung. Das dringendſte Bedürfniß unſerer
Zeit war und iſt eben die Bildungslehre, und dieſe hat ſich aus
eigener Kraft bilden müſſen. Ihre hiſtoriſche Grundlage aber iſt die
folgende.
IV. Alles Weſen der germaniſchen Staatsbildung beruht auf der
Selbſtändigkeit des Staats gegenüber der Geſellſchaft; dieſelbe aber er-
ſcheint darin, daß in ihr die ſpecifiſche Funktion des erſteren der ge-
ſellſchaftlichen Ordnung in ihren Intereſſen entgegentritt, in allen Dingen
und ſo auch im Bildungsweſen. Die Geſchichte des öffentlichen Bildungs-
weſens beſteht daher hier in dem Zuſammenwirken beider Faktoren, die
man in Natur und Einfluß ſehr genau verfolgen kann. Der Charakter
dieſer beiden Elemente aber läßt ſich durch die ganze Geſchichte hin-
durch wohl am beſten in folgende Sätze zuſammenfaſſen. Die geſell-
ſchaftlichen Elemente der germaniſchen Welt erzeugen, vertreten und
ordnen weſentlich alles dasjenige, was der Berufsbildung angehört;
auf die Elementarbildung hat dagegen der Staat den größten Einfluß,
und die allgemeine Bildung entwickelt ſich von ſelbſt aus dem, der
germaniſchen Welt eigenthümlichen regen Leben der Geiſter. Allein
dieſe Momente ſtehen im Bildungsweſen ſo wenig bloß neben einander
als im übrigen öffentlichen Leben; ſie greifen vielmehr auf allen Punkten
nicht nur ethiſch, ſondern auch rechtsbildend in einander, und das iſt
[26] es weſentlich, was der inneren Lebensgeſchichte aller dieſer Völker ſo
viel Kraft und Mannigfaltigkeit verleiht. Für die Elementarbildung
nämlich wird zwar das öffentlich-rechtliche Princip der Bildungspflicht
zum allgemeinen Geſetze erhoben, allein indirekt wird dieſelbe auch für
alle öffentlichen Berufe gültig; andererſeits wird aus der Elementar-
lehre wieder allmählig ein Beruf, und damit ein Stand, wie auch die
Preſſe ihren Stand erzeugt. Die Verwaltung der Berufsbildung iſt
zwar urſprünglich eine geſellſchaftliche, das iſt eine Form der Selbſt-
verwaltung von geiſtigen Körperſchaften, allein derſelbe Grundſatz freier
Selbſtbeſtimmung greift auch in die Elementarſchulen über; das Ver-
einsweſen bricht ſich Bahn in allen drei Gebieten und ſchafft ſich ſelber
Elementar-, Berufs- und allgemeine Bildungsanſtalten, und zu gleicher
Zeit macht der ſteigende Werth der Bildung tauſende der verſchiedenſten
Privatunternehmungen dafür möglich, ſo daß hier die freieſte Bewegung
in der Produktion geiſtiger Güter vorwaltet; und dennoch vermag es
die lebendige Staatsidee wieder, das Ganze als Einheit zu erfaſſen,
das Bewußtſein dieſer Einheit, durch die Wiſſenſchaft unterſtützt, zur
poſitiven Geltung zu bringen, trotz der faſt vollkommenen Freiheit einheit-
liche Geſetzgebungen und ſogar eine einheitliche Verwaltung aufzuſtellen,
und ſo das geiſtige Element des gemeinſamen Strebens auch praktiſch
in der größten Verſchiedenheit aufrecht zu halten. Auf dieſe Weiſe ent-
ſteht hier eine lebensvolle Geſchichte in dieſem, nur der germaniſchen
Welt eigenthümlichen Zuſammenwirken, und mit derſelben ein großartiges
Syſtem von Anſtalten, Thätigkeiten, Körperſchaften, Rechten und Or-
ganen, welches die großen Träger des geiſtigen Lebens uns in ihren
mächtigen Funktionen zeigt, deren jede wieder ihre eigene, und in jedem
Lande wieder beſonders geſtaltete Geſchichte hat. Wohl wird es bei
dieſer größeren faktiſchen Einheit immer ſchwerer, dieſelbe in wiſſenſchaft-
licher Form einfach darzuſtellen, dafür aber hat das machtvolle Ganze
die Kraft, jeden zu begeiſtern, der für die Arbeit deſſelben ſeine edelſten
Kräfte hingibt.
V. Was nun die hiſtoriſchen Epochen dieſer Entwicklung betrifft,
ſo ſehen wir hier den Staat ſich erſt allmälig aus der Herrſchaft der
geſellſchaftlichen Elemente ſich erheben, und auch für das Bildungs-
weſen ſeine Funktion übernehmen. Allein einerſeits hat er es nie ver-
ſucht oder vermocht, daſſelbe ausſchließlich in ſeine Hand zu bekommen,
anderſeits zeigt uns das Leben aller germaniſchen Reiche, daß dem
Volke mitten in den beſchränkteſten Ordnungen der Geſchlechter und
der Stände das Element der freien Beſtimmung und des Rechts auf
gleiche Entwicklung Aller nie ganz verloren geht. Es iſt keine Frage,
daß urſprünglich der ethiſche Träger dieſer Idee die Kirche geweſen,
[27] die überhaupt dazu beſtimmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die
ganze übrige Geſellſchaft ſie aufgegeben, während ſie ſie ſtets da be-
kämpfte, wo die letztere ſie forderte. Dieſe große hiſtoriſche Thatſache
tritt uns nun nirgends deutlicher entgegen, als in der Geſchichte des
Bildungsweſens.
Dieſe Geſchichte läßt ſich nun auf ihre einfachſten Grundlagen
zurückführen.
VI. In der Epoche der Geſchlechterordnung, welche bis zum Mittel-
alter herrſcht, finden wir das Weſen der alten Geſchlechterbildung ein-
fach wieder, ſogar mit den Anklängen der allgemeinen Bildung in Dicht-
kunſt und Wiſſenſchaft aus der griechiſchen Welt (Troubadours, Volks-
dichter, Sängerkämpfe) und der römiſchen (Rechtspflege durch die Herren
und Freien.) Selbſt die Waffen, die Waffenſpiele und die Waffen-
pflicht ordnen ſich nach den Geſchlechterklaſſen. Allein das, was wir
das öffentliche Bildungsweſen genannt haben, gibt es hier ſo wenig
als in der Geſchlechterordnung Griechenlands und Roms. Der Staat
iſt noch nicht ſelbſtändig gegenüber der Geſellſchaft; er hat zwar eine
Verfaſſung, aber er hat noch keine Verwaltung. Er beſteht nur noch
als Organiſation der Heeresmacht und als Würde des Königthums.
Die Pflege und Bildung bleibt daher Sache der Geſchlechter und der
Einzelnen; eine Verwaltung, ein öffentliches Recht derſelben gibt es
nicht, und ihre öffentliche Geltung beſteht nur in der bevorrechteten
Ausübung der Waffen nach den Geſchlechterbegriffen der Freien und
Unfreien.
Eine ganz andere Geſtalt tritt ein in der ſtändiſchen Welt. Dieſe
aber iſt bei den germaniſchen Völkern weſentlich von den orientaliſchen
verſchieden; während bei den letzteren nur die geſellſchaftlichen Stände
herrſchen, bildet ſich bei jenen die ſelbſtändige Staatsgewalt gleich an-
fangs mit einem feſten, aber noch undefinirten Bewußtſein ihrer wahren
Aufgabe heraus, und der tiefe Gegenſatz, der darin liegt, erſcheint nun
im Bildungsweſen ſo gut als in allen andern Gebieten des Staats-
lebens.
Darum muß man zwei große Geſtaltungen des letzteren neben-
einander, und zum Theil einander gegenüberſtellen.
Die erſte iſt die des ſtändiſchen Bildungsweſens. Ihr erſtes
Princip iſt, daß der ſpezielle Beruf Grundlage, Organ und Ziel
der Bildung ſein ſoll. Dieſes Prinzip gewinnt ſeine Geſtalt durch
die Kirche, welche zuerſt das geiſtige Leben von dem äußern ſcheidet, und
ſeine Förderung zu einem ſittlichen Berufe macht. Einmal ſelbſtändig
daſtehend und als Stand anerkannt und mächtig, entwickelt dieſe geiſtige
Welt die Wiſſenſchaft. Zu dem Berufe des Glaubens tritt der des
[28] Wiſſens. Die Wiſſenſchaft iſt nun wohl an ſich frei und allgemein:
aber in der herrſchenden ſtändiſchen Ordnung erſcheint ſie doch that-
ſächlich nur als ſtändiſche Aufgabe und erzeugt einen Stand. Für
dieſen Stand fordert ſie ihr eigenes Bildungsweſen. Das große Organ
dieſer ſtändiſchen Wiſſenſchaft iſt die Univerſität. Die Univerſität er-
ſcheint ſomit urſprünglich als etwas ganz verſchiedenes von dem was
ſie ſpäter geworden. Sie iſt erſt in zweiter Linie eine Bildungsanſtalt;
ſie iſt in erſter das Haupt eines neuen, ſocialen Standes. Sie nimmt
daher das Recht eines jeden Standes in Anſpruch, ſich ſelbſt zu ver-
walten. So entſteht der erſte große Selbſtverwaltungskörper des Bil-
dungsweſens, zwar eine rein ſtändiſche, aber auch eine geiſtige Geſtalt.
Mit dem erſten dieſer Elemente wirkt ſie allerdings excluſiv, indem ihr
nur das als Wiſſenſchaft gilt, was ſie lehrt und anerkennt; mit dem
zweiten aber zieht ſie das geiſtige Leben der Völker überhaupt an ſich,
erzeugt ein eigenes Syſtem der Vorbildung in den gelehrten Schulen,
eine eigene Ordnung für den Erwerb der Bildung in den Studien-
ordnungen, ein eigenes Recht der Erklärung über die gewonnene in
den Univerſitätswürden; ſie iſt eine Welt für ſich, aber ihre Bildung
wird allmählig ein Faktor des praktiſchen öffentlichen Lebens, ja der
Verwaltung, und die in dieſer Beziehung zum wirklichen Leben liegenden
Keime einer allgemeineren Stellung überwuchern allmählig das ſtändiſch
excluſive Element; der Staat kommt zum Bewußtſein, daß er ihrer und
ihrer Funktion bedarf, und kaum ſcheidet er ſich klar von der Stände-
ordnung, als er auch ſchon die ganze Univerſitätsordnung mit ihrer
Vorbildung in dem Gymnaſium, mit ihrer Lehrordnung und ihren
Prüfungen dem ſtaatlichen Recht unterwirft und ſo aus dieſem urſprüng-
lich ſocialen Bildungsweſen ein ſtaatliches macht. Einen ganz ähnlichen
Weg geht das zweite Element der ſtändiſchen Geſellſchaft der germani-
ſchen Welt.
VII. Dieß zweite Element iſt das, was neben den Univerſitäten
die germaniſche Welt des Geiſtes charakteriſirt, die Schule. Sie iſt
zuerſt und zunächſt eine rein ſtändiſche Anſtalt. Sie geht hervor aus
der Kirche, aber ſie iſt urſprünglich auch nur für die Kirche beſtimmt.
Da ſie ſelbſt ihre Glieder aus dem Volke nahm, mußte ſie demſelben Volke
wenigſtens die Elemente aller Bildung allmählig zugänglich machen. Allein
das allgemeine Weſen der Schule, die elaſtiſche Fähigkeit derſelben, die
Bildung ohne Rückſicht auf die geſellſchaftlichen Unterſchiede zu erzeugen,
verläugnet ſich ſelbſt in ihrer anfänglichen Geſtalt nicht. Sie iſt ihrem
Weſen nach gleich bei ihrem Urſprung eine allgemeine Bildungsanſtalt,
deren Herſtellung und Verwaltung aber anfänglich noch eine rein ſtän-
diſche Aufgabe der Kirche iſt. Weder der Orient noch das Alterthum
[29] kennt die germaniſche Schule. Das Weſen der „Schule“ beſteht nicht
etwa darin, daß in ihr die Elemente der Bildung gelehrt werden; ſchon
die germaniſchen Sprachen unterſcheiden ganz beſtimmt, ohne eine durch-
greifende Verſchmelzung zuzulaſſen, den „Unterricht“ und auch die „Er-
ziehung“ von der „Schule.“ Die „Schule“ iſt vielmehr ein öffentliches
Inſtitut für die Geſammtbildung; ſie kennt ihrem Weſen nach keinen
Unterſchied der Geſellſchaft; ſie bietet, was ſie zu geben hat, für alle;
ſie bedeutet die große Aufgabe der Menſchheit, allen die gleichen Be-
dingungen der perſönlichen geiſtigen Entwicklung zu geben; ſie iſt nicht
ein Privatinſtitut, nicht eine zufällige Unternehmung, die man haben kann
und auch nicht haben kann, nicht eine Unterrichtsordnung, die je nach
ſubjektivem Ermeſſen bald da iſt, bald nicht, bald dieß, bald jenes
bietet; ſie iſt vielmehr, ſo wie ſie auftritt, ein organiſcher Theil des
Geſammtlebens, eine durch ſich ſelbſt geltende öffentliche Anſtalt; ſie
enthält eine allenthalben gleichartige, gleichſam ſich durch ſich ſelbſt voll-
ziehende Funktion; ſie iſt die allenthalben geforderte, allenthalben thätige
Vorbildung aller für die höchſt mögliche Bildung aller. Sie geht
daher zwar aus der ſtändiſchen Geſellſchaft hervor, aber ihrem höheren
Weſen nach gehört ſie ihr nicht. Sie iſt das erſte, zugleich bewußte
Auftreten des großen Princips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft;
ſie iſt das ewig wirkende Element der allgemeinen und geiſtigen Frei-
heit. Allein, wie geſagt, bei ihrem Urſprung ſind dieſe Keime noch nicht
entwickelt. Sie iſt ihrem innerſten Princip nach eine ſtaatsbürgerliche,
ihrer Entſtehung nach eine ſtändiſche Anſtalt der Kirche. Daher iſt ſie
noch keine Volksſchule, ſondern ſie tritt vielmehr zuerſt in inniger Ver-
bindung mit der ſtändiſchen Bildung, als Vorbildungsanſtalt der ge-
lehrten Schule auf. Jede schola iſt urſprünglich ein Gymnaſium.
Erſt das Entſtehen des Bürgerthums greift entſcheidend in dieſe Orga-
niſation hinein, ſcheidet die reine Elementarbildung von der Vorbildung
vor dem Berufe, und begründet die Bildungsordnung der folgenden
Epoche. Die urſprünglichen scholae ſind deßhalb als Keime anzuſehen,
in denen eigentlich das geſammte Syſtem der Bildung noch ungeſchieden
enthalten iſt, die Elementarſchule, die Vorbildungsſchule, und zugleich
die einzige Form des allgemeinen Bildungsweſens. In dieſem Sinne
iſt die Geſchichte der scholae noch zu ſchreiben. Erſt mit dem Auf-
treten der folgenden Epoche ändert ſich dieß, jene Elemente treten ſelb-
ſtändig hervor, und eine neue Ordnung beginnt.
VIII. Dieſe neue Epoche iſt nun die, in welcher das zweite Ele-
ment der germaniſch-ſtändiſchen Epoche, die ſtaatliche Bildung, all-
mählig ſich aus dem ſtändiſchen heraus ſcheidet und ſelbſtändig wird.
Denn in ihr, etwa mit dem ſechzehnten Jahrhundert, ſcheidet ſich die
[30] Staatsgewalt von der Geſellſchaft, und tritt derſelben zum Theil feind-
lich entgegen. Auch hier liegt dieſem ſtaatlichen Proceß allerdings ein
ſocialer zum Grunde. Es iſt ein Geſetz der Entwicklung, daß die Macht
der ſelbſtändigen Staatsgewalt, bis zur Höhe der Diktatur, ſtets in dem
Grade wächst, in welchem die geſellſchaftlichen Elemente mit einander
im Kampfe ſind. Wo immer die Staatsgewalt mächtig iſt, bedeutet ſie
eine große ſociale Bewegung. Die polizeiliche Epoche nun ihrerſeits
bedeutet demgemäß die Zeit, wo die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſich
allgewaltig aus der ſtändiſchen und den Reſten der Geſchlechterordnung
herausarbeitet, welche bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in
Europa ausſchließlich herrſchen. Die polizeiliche Epoche, ethiſch getragen
durch den Begriff der Obrigkeit, rechtlich vertreten in den großen Prin-
cipien des Römiſchen Rechts, faßt jedoch zunächſt den Staat als etwas
ſelbſtändiges auf, das eigene Intereſſen, eigene Aufgaben, eigene Or-
gane habe, und daher, um zu ſein und zu wirken, Macht haben müſſe.
Ein weſentlicher Theil dieſer Macht iſt der Reichthum, eine der großen
Bedingungen des Reichthums iſt die Bildung; der Staat fängt an
die Bildung zu brauchen, wie er Geld braucht, Militär braucht,
Straßen braucht, Handel und Gewerbe braucht, und anderes. Was
er braucht, will, muß, darf und kann er ſich ſchaffen Er erfaßt daher
jetzt das Bildungsweſen, das bis dahin in den Händen der Selbſtver-
waltung gelegen, als ein ſelbſtändiges Objekt ſeiner Thätigkeit, als
einen Gegenſtand ſeiner Verwaltung. Und damit beginnt eine
neue Epoche.
Man muß nun, um den Inhalt dieſer neuen Zeit klar zu machen,
das formelle Element des neuen ſtaatlichen Bildungsweſens von dem
geiſtigen ſcheiden, obwohl ſie in der Wirklichkeit enge zuſammengehen.
IX. Der formelle, öffentlich rechtliche Charakter dieſer Epoche liegt
darin, daß nunmehr, etwa ſeit dem Anfange des ſechzehnten Jahr-
hunderts, der Staat, allmählig fortſchreitend, alle drei Grundformen des
Bildungsweſens, die Elementar-, Berufs- und allgemeine Bildung zuerſt
einer eigenen Geſetzgebung unterwirft, dann ſie in ihren Funktionen
der eigenen Oberaufſicht unterſtellt, dann eigene eigentliche Staats-
anſtalten für einzelne Zweige der Bildung errichtet, zuerſt meiſt die-
jenigen, welche einen geiſtigen Ausdruck des Glanzes und der Macht
des Staates geben, wie Sammlungen, Muſeen, Gallerien, Akademien,
dann aber auch diejenigen, welche er wirthſchaftlich für ſeine Cameralver-
hältniſſe beruht, Bergwerks- und andere Fachſchulen: endlich indem er
das ganze Bildungsweſen zuerſt als ein Ganzes auffaßt, und dafür
die noch freilich ſehr unvollkommenen Grundlagen eines höchſten ſtaat-
lichen Verwaltungsorganismus entwirft. So entſteht allmählig
[31] eine ſtaatliche Thätigkeit für das Bildungsweſen; jedoch iſt dieſelbe
ſehr verſchieden und vielfach unfertig; denn theils will ſie die geiſtigen
Selbſtverwaltungskörper in ihrer Funktion und ihren Rechten um ſo
weniger beſchränken, als ſie am Ende erkennt, daß dieſelben im Weſent-
lichen genügen und eine Aenderung ihrer Rechte keine Beſſerung ihrer
Thätigkeit enthält; theils aber erhält ſich aus der ſtändiſchen Zeit noch
das Princip der Grundherrlichkeit, nach welchem der Grundherr die
örtlich vollziehende Gewalt iſt, und ſich daher mit ſeinem Recht noch
immer zwiſchen das Geſetz des Staats und ſeine Ausführung ſtellt;
namentlich im Gebiete des Volkſchulweſens.
Die neue Staatsgewalt hat daher, wie überhaupt, auch noch nicht
recht die Form der Verwaltung für das Bildungsweſen gefunden, und
ihre Geſetze ſind in den meiſten Fällen beſſer als ihre Vollziehung.
Wohl aber hat dieſe Geſetzgebung Einen großen Erfolg. Sie ſcheidet
nämlich zuerſt objektiv die drei Grundformen, indem ſie für
die Elementarbildung ſpezielle Geſetze der Volksſchulen gibt, in den
Univerſitäten mit Studienordnungen und Prüfungsreglements aufzu-
treten beginnt, und für die allgemeine Bildung einerſeits eine Sitten-
polizei aufſtellt, andererſeits die Preſſe, deren Funktion ſich zu ent-
falten beginnt, unter die ſpezielle Thätigkeit der Polizei ſtellt, und
endlich die Benützung der öffentlichen Sammlungen reglementirt. Das
Bedeutſamſte aber unter dem, was ſie zu leiſten beginnt, iſt ohne
Zweifel — aber freilich nur noch in Deutſchland — die geſetzliche Ord-
nung des Volksſchulweſens, die ins achtzehnte Jahrhundert fällt.
Hier iſt der Staat mit ſeiner Verwaltungsthätigkeit das zum großen
Theil unbewußte Organ des erſten großen Faktors des ſich unwider-
ſtehlich entwickelnden Bildungsweſens, der entſtehenden ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft. Dieſe geht in jener Entwicklung ihren ruhigen Gang fort,
und ſie iſt es, ohne welche man das, was ſcheinbar nur durch den
Staat geſchieht, weder überblicken, noch die Geſtalt der geiſtigen Arbeit
unſeres Jahrhunderts richtig beurtheilen kann. Dieß aber gibt uns den
Inhalt des neuen, mit der Staatsgewalt entſtehenden Bildungsweſens.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft nämlich beginnt mit dem ſech-
zehnten Jahrhundert auf allen Punkten des öffentlichen Lebens und
Rechts lebendig einzugreifen. Sie hat die große Epoche der polizeilichen
Verwaltung erzeugt, und hat ſie auch gebraucht, um ihre eigenen
Bedingungen durch Mitwirkung der jungen Staatsgewalt für ihre Herr-
ſchaft im neunzehnten Jahrhundert zu erſchaffen. Man wird ſich dabei
natürlich keine bewußte Abſicht denken, ſondern vielmehr einen elementaren
Proceß der Geſchichte. Die Wiſſenſchaft hat dabei nur die Aufgabe,
dieſem Proceß in ſeinen Elementen zu formuliren. Und das iſt für
[32] das Bildungsweſen nicht ſchwer; namentlich indem man jene Bewegung
auf die drei Grundformen des Bildungsweſens zurückführt.
X. Was zunächſt den Elementarunterricht betrifft, ſo wird derſelbe
in der alten Heimath der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den Städten,
allmählig ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert eine allgemeine Aufgabe,
indem theils von den Gemeinden ſelbſt Volksſchulen begründet werden,
theils Stiftungen aller Art dafür entſtehen, theils einzelne Lehrunter-
nehmungen auftreten. Das alte ſtändiſche Element erhält ſich hier
allerdings in der Unterordnung der Schule unter die Kirche, aber im
Allgemeinen noch nicht zum Nachtheil der erſteren; denn einen Schul-
lehrerſtand und ein Lehrbildungsweſen gibt es nicht. Die Diener der
Kirche müſſen ihn erſetzen, wo er fehlt, und ihn leiten, wo er ohne
Vorbildung auftritt. Nur auf dem Lande geht die Sache ſehr lang-
ſam; hier iſt es die Regierung, welche am meiſten wirkt, während in
den Städten die Bürgerſchaften die Schulen in die Hand nehmen, und
ſchon ſehen wir die erſten Spuren der allgemeinen Bildung im Ele-
mentarunterricht auftreten, und den Beſitz der Elementarkenntniſſe zu
einer geſellſchaftlichen Forderung, zu einer erſten Bedingung der geſell-
ſchaftlichen Achtung werden.
Beſtimmter jedoch erſcheint der Einfluß der ſtaatsbürgerlichen Ge-
ſellſchaft in der Berufsbildung. Bisher erſcheint als Beruf nur das,
was durch die gelehrte Bildung gegeben wird; nur auf den hohen
Schulen und Univerſitäten gibt es eine ſolche; was nicht dort gelehrt
wird, iſt noch keine „Wiſſenſchaft.“ Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft
jedoch ſetzt als ihre weſentliche materielle Grundlage den Erwerb, und
mit ihr den Beſitz des freien gewerblichen Kapitals. Der Erwerb ſelbſt
wird dadurch ein ethiſches Element. Er entfaltet die ihm inwoh-
nende, bisher unbekannte Fähigkeit, jedem Einzelnen die perſönliche
Selbſtändigkeit, und damit die Freiheit zu geben, was bei der faſt aus-
ſchließlichen Herrſchaft des Grundbeſitzes als Form des Kapitals der
ſtändiſchen Geſellſchaft nicht möglich iſt. Das Streben nach Erwerb
wird ein ſittlicher Faktor; aber es wird bald klar, daß die große Be-
dingung des gewerblichen Erwerbs auch für die Nichtbeſitzenden die
fachmäßige Bildung des Gewerbsſtandes iſt. Mit dem acht-
zehnten Jahrhundert reißt ſich dieſelbe daher von der bisherigen, alleinigen
Form der gelehrten Bildung los, und wird ſelbſtändig, wenn auch nur
noch unklar, verſuchsweiſe, örtlich, natürlich wieder nur in den Städten
ihre erſte Heimath ſuchend. Ihr Geſammtausdruck iſt die Realſchule.
Sie iſt in ihrem Auftreten und in ihrer Wirkung eine überwiegend
ſociale Erſcheinung; ſie iſt der Ausdruck des Satzes, daß das ge-
werbliche Leben nicht mehr ein mechaniſches, ſondern zugleich ein geiſtiges
[33] iſt, daher vollberechtigt neben der übrigen geiſtigen Welt auftreten ſoll,
und dadurch auf gleiche geſellſchaftliche Ehre und Geltung Anſpruch
hat. An ſie ſchließt ſich dann die allgemeine Bewegung in dieſer Rich-
tung, welche unſer Jahrhundert charakteriſirt.
Was endlich drittens die allgemeine Bildung betrifft, ſo entſteht,
eigentlich freilich erſt mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts, das
was wir die Preſſe nennen, anfangs noch in Buchform; jedoch auch
als Buch ſich von der ſtrengen Berufspreſſe der gelehrten Schriften,
namentlich in den mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts entſtehenden
Encyclopädien ablöſend. Die Encyclopädie iſt das für die allge-
meine Bildung beſtimmte Buch. Ihr folgen die „Briefe,“ Flug- und
Zeitſchriften, Leihbibliotheken, und mit dem Schluß dieſer Uebergangs-
periode treten die Tagesblätter auf, anfangs unfertig, aber ſchon
tüchtige Kräfte an ſich heranziehend. Dieſe Form der geiſtigen Arbeit
iſt es, welche vor allem auf dem Bedürfniß der allgemein und gleichen
Beſtimmung aller zur Theilnahme an den großen geiſtigen Aufgaben
der Menſchheit baſirt iſt. Was die Volksſchule möglich macht, und
was die Realſchule im Einzelnen vollbringt, das fängt jetzt die Preſſe
an, für das Ganze zu leiſten. Der Charakter derſelben iſt aber, dem
Geiſte der Zeit entſprechend, noch weſentlich negativ. Das Wort,
welches ihre dermalige Funktion am beſten bezeichnet, und das ſomit
einen jetzt ſchon halb vergeſſenen hiſtoriſchen Sinn hat, iſt die „Auf-
klärung.“ Die „Aufklärung“ bedeutet nicht ſo ſehr die Verbreitung
von Kenntniſſen, ſondern vielmehr die lebendige Erweckung der geiſtigen
Selbſtthätigkeit, aus welcher die individuelle Selbſtändigkeit der Staats-
bürger, dieſer Kern der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, hervorgehen ſoll.
Sie iſt der Proceß des Losreißens vom blinden Autoritätsglauben, die
Vernichtung der Abhängigkeit von dem Denken und von den hiſtori-
ſchen Traditionen, auf denen die ſtaatlichen Einrichtungen beruhen,
von dem Aberglauben, der ſie begleitet. Hier iſt es, wo die Philo-
ſophie des vorigen Jahrhunderts in gewaltigſter Weiſe eingegriffen hat;
ihre größte Funktion beſtand nicht in ihren Syſtemen, ſondern in der
Grundlage derſelben, der freien Thätigkeit des Selbſtdenkens. Und
dieß Selbſtdenken iſt das geiſtige Element des Staatsbürgerthums, wie
der gewerbliche Erwerb das materielle iſt. Daher erſcheint die Auf-
klärung als das allgemeine Princip der allgemeinen Bildung, vom
Volke angeſtrebt, von der Philoſophie getragen, von der jungen Staats-
wiſſenſchaft anerkannt und ſelbſt vom Staate gefördert. Ihre Bedeutung
iſt mit den Verſuchen zu ihrer Definition gegeben, die ſelbſt als hiſto-
riſche Thatſachen für die Geſchichte des Bildungsweſens erſcheinen. So
nennt Mendelsſohn ſie „die Entwicklung der vernünftigen Erkenntniſſe
Stein, die Verwaltungslehre. V. 3
[34] — das Fortſchreiten im Nachdenken über die wichtigſten Angelegenheiten
der Menſchheit.“ Kant bezeichnet ſie als „das Losreißen von der
Unmündigkeit oder der bloßen Autorität fremder Urtheile;“ Jacob, dieſe
Definitionen zuſammenfaſſend, ſagt, „die Aufklärung iſt derjenige Zu-
ſtand der Seele, in welchem ſie ſich von der Autorität anderer losreißt,
um über die moraliſchen und religiöſen (!) Verhältniſſe ſelbſt zu denken,
und ein eigenes, von aller Autorität fremdes Urtheil darüber zu fällen.“
(Polizeiwiſſenſch. I. 280.) Kaum hat aber wohl jemand das Weſen dieſes
Bildungsproceſſes beſſer und gründlicher bezeichnet, als Aretin (Staats-
recht der conſtitutionellen Monarchie II. Bd. 2. Abth. S. 36—43), der
hier nicht bloß der Vertreter einer Definition oder eines Princips,
ſondern des öffentlichen Rechts wird. Der Geſammterfolg aber iſt,
daß das, was man unter „Aufklärung“ verſtand, die Grundlage nicht
etwa einer beſtimmten Wiſſenſchaft, ſondern der allgemeinen Bildung
überhaupt ward; und es war klar, daß mit dem erſten Stoße, den
die haltlos gewordenen öffentlichen Verhältniſſe bekamen, auch das
Bildungsweſen eine andere Geſtalt gewinnen mußte.
XI. Dieß nun geſchieht mit dem definitiven Siege der ſtaatsbür-
gerlichen Geſellſchaft in unſerm Jahrhundert. Die Welt des geiſtigen
Lebens hält in demſelben gleichen Schritt mit der des gewerblichen,
und beide ziehen das ſtaatliche im Allgemeinen, die Verwaltung im
Beſondern nach ſich. Das Princip deſſen was hier zu thun iſt, wird
immer klarer; dieß Princip erzeugt ſein Syſtem, und dieß Syſtem iſt
es das bei aller Verſchiedenheit bei den einzelnen Nationen dennoch
allenthalben den gleichen Charakter theils ſchon gewonnen hat, theils
mehr und mehr gewinnt. Man kann nun jenes Princip leicht und
beſtimmt formuliren; es iſt aber dieß nothwendig, weil an ihm der
eigentliche Maßſtab der Vergleichung des Verſchiedenen gegeben iſt.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft entfaltet nämlich den Grundſatz, daß
das Bildungsweſen ein freies, ein ſyſtematiſch entwickeltes,
und ein organiſch einheitliches ſein ſoll. Und den Ausdruck dieſer
Momente bildet nun in den verſchiedenen Grundformen der Bildung
die folgenden Grundſätze, deren Ausführung im Einzelnen eben die
nachfolgende Darſtellung des vergleichenden Verwaltungsrechts des
Bildungsweſens ſein ſoll.
Die Freiheit der Elementarbildung beſteht formell in dem Rechte,
den Elementarunterricht in jeder Weiſe zu ertheilen; innerlich aber in
dem Streben, ſchon mit ihr die erſten Elemente der allgemeinen Bildung
zu verbinden. Dieſe erſcheinen einerſeits als die Elemente der allge-
meinen Kenntniſſe, etwas Geographie, Geſchichte, Naturlehre; andrer-
ſeits als die elementaren Formen der Selbſtthätigkeit in der Aufgabe,
[35] ſelbſtändige Aufſätze in der Volksſchule zu verfaſſen. Das große leitende
Princip des Volksſchulweſens dieſer Epoche iſt es, die Volksſchule nicht
mehr wie früher als ein auch geſellſchaftlich geſchiedenes Element der
Bildung, ſondern als die organiſche Geſtalt der Vorbildung für das
ganze geiſtige Leben, als die Einführung in alle Bildung hinzu-
ſtellen. Die Volksſchule wird daher jetzt auch innerlich ein Syſtem,
und dieß Syſtem iſt ausgedrückt in den Klaſſen derſelben, eine Er-
ſcheinung, die unſerm Jahrhundert eigenthümlich, in ihrer Verbindung
mit den wichtigſten Elementen des Fortſchrittes gedacht werden muß.
Die Freiheit in der Berufsbildung liegt einerſeits in der Entwicklung
der Realbildungsanſtalten zu einem allgemeinen Syſtem, in dem wieder
neben dem rein gewerblichen Zwecke die allgemeine Bildung in Geographie,
Geſchichte und den Elementen der Staatswiſſenſchaft ihren geſicherten
Platz bekommt; andrerſeits in der freien Bildung von Unternehmungen
für dieſelben, während auf den Univerſitäten die philoſophiſchen Facul-
täten und die Verpflichtung der Studirenden wenigſtens die Elemente
der ſelbſtthätigen philoſophiſchen Bildung in ſich aufzunehmen, die Träger
dieſer Richtung ſind; endlich aber in dem großen Princip der Lern-
und Lehrfreiheit, deren Form eine beſtrittene, deren Grundgedanke
aber in allen Formen der iſt, daß der Einzelne nicht durch mechaniſche
Aneignung des Gelehrten, ſondern nur durch Selbſtthätigkeit in Wahl
des Stoffes und der eignen Arbeit die wahre Berufsbildung erreichen
kann — ein Geſichtspunkt, den die formalſte Behandlung der Frage
nie hat vergeſſen können.
Die Freiheit der allgemeinen Bildung endlich iſt ausgedrückt in
dem, allerdings nicht ganz vollzogenen Uebergange vom alten Preßweſen
zum Rechte der gerichtlichen Verantwortlichkeit der Preſſe.
Die ſyſtematiſche Entwicklung des Bildungsweſens erſcheint
bei der Volksſchule formell in dem Klaſſenſyſtem derſelben, ſowie
in der Ausbreitung ihrer ſpecifiſchen Function über das Kindesalter
hinaus in dem Sonntagsſchulweſen, in der Aufſtellung von eigenthüm-
lichen Specialelementarſchulen, Taubſtummen- und Blindenſchulen, dann
aber in der Aufnahme der Elementarbildung in die eigentliche Kinderzeit
bei den Warteſchulen; alles als Ein Ganzes für die Vorbereitung zur
höhern Bildung arbeitend.
Bei der Berufsbildung tritt dieſelbe zunächſt auf in der ſtrengen
Scheidung der Vorbildungsanſtalten von der eigentlichen Fachbildung,
der hohen Schulen von den Univerſitäten; dann in der Uebertragung
dieſes organiſchen Unterſchiedes auf die ganze Realbildung; dann in dem
ſtrengen Syſtem der Klaſſen mit ihren Aufnahms- und Uebergangs-
prüfungen und den fachmäßigen Studienordnungen an den Univerſitäten;
[36] endlich in der Entwicklung von Fachbildungsanſtalten für alle Berufe,
die bei aller Selbſtändigkeit doch wieder durch die höhere Wiſſenſchaft
im Bewußtſein ihrer geiſtigen Einheit erhalten werden.
Bei der allgemeinen Bildung endlich liegt das ſyſtematiſche Element
einerſeits in der allmählig wachſenden Ausdehnung aller Anſtalten für
dieſelben, dann in dem Entſtehen einer ſyſtematiſch ſich entwickelnden
Fachpreſſe, die wiederum in engem Zuſammenhang mit der allgemeinen
Bildung ſteht.
Was endlich die Einheit des Bildungsweſens betrifft, ſo iſt ſie
natürlich einerſeits eine geiſtige, andererſeits aber eine ſtaatliche. Die
geiſtige bildet ſich von ſelber; ihr unerſchütterliches Fundament iſt die
Erkenntniß, daß jedes Gebiet des Lebens der Wiſſenſchaft angehört,
deren Aufgabe es iſt, den inneren Zuſammenhang des Verſchiedenen
durch die Aufſtellung feſter allgemeiner Begriffe und Geſetze zu ſetzen.
Der Verwaltungslehre aber gehört die äußere Geſtalt dieſer Einheit
an; und dieſe iſt wieder theils eine innerlich begründete, theils eine
formale.
XII. Dieſe äußere Einheit des Bildungsweſens iſt in ihrem Ver-
hältniß zum Staat zunächſt begründet auf dem allgemein zur Geltung
gelangenden Bewußtſein, daß es ſeinem Weſen nach ein Ganzes
iſt, und daher auch als ein Ganzes in der Thätigkeit des Staates,
ſowohl für ſeinen Willen in der Geſetzgebung, als für ſeine äußere
Thätigkeit in der Verwaltung zu erſcheinen habe. Die Geſtaltung dieſer
formalen Einheit erſcheint daher in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
als eine zweifache, an die zwei Elemente der jetzt klar hervortretenden
Organiſation des Staatslebens anſchließend.
Das erſte beruht darauf, daß das geltende Recht des Bildungs-
weſens jetzt ein geſetzliches, und damit Gegenſtand der organiſchen
geſetzgebenden Gewalt wird. Allerdings wird kein das ganze Bildungs-
weſen umfaſſendes Geſetz erſcheinen, wohl aber werden die großen ein-
zelnen Geſetze von Einem Gedanken beſeelt, auch als ein Ganzes ver-
ſtändlich, und von Einem Princip aus in ihren Einzelheiten geregelt.
Dann aber entſteht zweitens die ſyſtematiſche Einheit der Verwaltung,
und zwar indem einerſeits der Staat das Bildungsweſen als einen Theil
ſeines vollziehenden Organismus aufnimmt, andrerſeits die Thätigkeit der
Selbſtverwaltungskörper, der Vereine und der Einzelnen ſeiner oberauf-
ſehenden Gewalt gleichmäßig unterordnet. Dieſe Organiſation ſchließt ſich
an den allgemeinen Organismus der Verwaltung in ſeinen drei Formen.
XIII.Zuerſt hat die Verwaltung das ganze Bildungsweſen des
Staats im weiteſten Sinne zu umfaſſen. Allein die Functionen, welche
daſſelbe erfordert, ſind ſo verſchieden, daß ſie einem und demſelben
[37] Organ gar nicht überwieſen werden können. Daſſelbe fällt daher unter
drei Miniſterien.
Das erſte Miniſterium iſt das des Unterrichts, das allerdings
die Verwaltung der geiſtigen Welt zu ſeiner eigentlichen Aufgabe hat.
In ihm iſt die ſtaatliche Organiſation der geiſtigen Verwaltung ge-
geben. Es hat daher ſein Miniſterialſyſtem, wie es die vollziehende
Gewalt zeigt, in Miniſter, Miniſterium und Behörden, und umfaßt
damit das ganze Volk. Nur erſcheint ſeine Function als eine doppelte.
So weit nämlich der Staat die Bildungsanſtalt ſelbſt hervorruft,
ohne die Selbſtverwaltungskörper dabei heranzuziehen, ſind die Organe
der Bildung im eigentlichen Sinne des Wortes Staatsdiener, und
ihre Thätigkeit iſt eine amtliche, mit amtlicher Verantwortlichkeit. So
weit jedoch die Bildung durch die Leiſtungen der Selbſtverwaltungs-
körper, Vereine oder Einzelner verbreitet wird, ſind die Lehrenden keine
Staatsdiener. Die Aufgabe des Staats, auch hier die Einheit des
geiſtigen Lebens zu erhalten und ſeinem Weſen nach für das Vorhanden-
ſein der Bedingungen der Bildung zu ſorgen, wird hier in der Ober-
aufſicht gegeben. Es hat daher ein Syſtem der oberaufſehenden
Behörden mit beſtimmter Competenz aufzuſtellen, deren Aufgabe es
nicht iſt, für die Bildung ſelbſt, ſondern dafür zu ſorgen, daß die
geſetzlichen Vorſchriften über das Bildungsweſen von jenen Körpern
oder den Einzellehrern wirklich beobachtet werden. Dieſe Auf-
ſichtsbehörden werden der Regel nach in den höhern Stellen die allge-
meinen Verwaltungsbehörden ſein, welche demnach in dieſer Beziehung
unter dem Miniſterium des Unterrichts ſtehen; in den niedern Stellen
dagegen werden, wenigſtens für die Elementarbildung, meiſt eigene
Aufſichtsorgane berufen, während die örtliche Function wieder der
örtlichen Selbſtverwaltung überlaſſen iſt. Im Großen und Ganzen
ſind daher die Berufslehrer der gelehrten Bildung meiſt Staatsdiener,
die der wirthſchaftlichen ſowie der Elementarbildung im Dienſte der
Gemeinden, während in ihrer Thätigkeit alle, aber in Anſtellung und
Dienſtrecht nur die erſten unter dem Miniſterium ſtehen. Doch iſt hier
keine feſte Gränze zu ziehen; auch das geltende Recht iſt ſehr verſchieden.
Jedoch kann man allerdings als Regel aufſtellen, was auch durch die
Natur der Sache bedingt und erklärt wird, daß nämlich der Antheil,
den die Miniſterien und Unterrichtsbehörden an der Anſtellung und Ent-
laſſung der Lehrer haben, ſich nach dem Maße beſtimmt, in welchem die
Staatskaſſen zu den Unterrichtsausgaben beitragen, und zwar meiſtens in
der Weiſe, daß ſich die Staatsverwaltung die Ernennung immer vor-
behält, während die Selbſtverwaltungskörper entweder die Wahl, oder
den Vorſchlag (Präſentationsrecht) und zuweilen gar kein Recht haben.
[38]
In dieſem einfachen Schematismus hat nun das Weſen der gei-
ſtigen freien Arbeit das hiſtoriſche Princip der Selbſtverwaltung für
die Lehre als ſolche erhalten, und weiter ausgebildet. Dieſe Selbſt-
verwaltung, deren Mutter die Univerſitäten ſind, erſcheint nämlich in
der Form der Lehrkörper, die zunächſt für die Vorbildungs- und
Berufsbildungsanſtalten (gelehrte Realſchulen und Univerſitäten) das
Recht der Selbſtverwaltung für Lehre und Erziehung, ſoweit beide
in der Anſtalt ſelbſt ſich erfüllen, behalten haben. Von dieſen iſt der-
derſelbe Gedanke auch in das Volksbildungsweſen übergegangen, in-
dem hier die Function des Lehrkörpers einem, aus der Vertretung
der Gemeinde, der Geiſtlichkeit und den Volkslehrern ſelbſt gebildeten
Verwaltungskörper der örtlichen Volksbildung über-
tragen wird. Die vollſtändige Organiſation iſt daher erſt mit dieſen
drei Elementen gegeben; aber nur Deutſchland hat dieß vollſtändig
auszubilden vermocht.
So iſt ſchon der Organismus des geiſtigen Lebens auch von Seiten
ſeiner Verwaltung kein einfacher; es gilt hier vielmehr dieſelbe Er-
ſcheinung, welcher wir in den meiſten Gebieten der ſtaatsbürgerlichen
Organiſation begegnen, daß nämlich die amtliche Function ſich mit der
der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens verſchmilzt, und ſo
ein zum Theil ſehr ausgearbeitetes und mannichfach verſchiedenes Syſtem
der anerkannten Organe und ihrer Competenzen erzeugt. Jedoch kann
man alle beſtehenden Formen leicht auf die obigen Elemente zurück-
führen und in ſie auflöſen.
XIV. Während auf dieſe Weiſe das Unterrichtsminiſterium die
eigentlich produktive Thätigkeit für die geiſtigen Güter zum Inhalt hat,
greifen noch zwei andere Miniſterien mit in daſſelbe hinein. Das erſte
iſt das Miniſterium des Innern, das in der Kulturpolizei die Sicher-
heit des öffentlichen geiſtigen Lebens vertritt, und das Juſtiz-
miniſterium, das über die Preſſe, als Element der allgemeinen Bildung,
richterliche Urtheile fällt. Die Scheidung beider vom Unterrichtsmini-
ſterium aber entwickelt ſich erſt langſam, und für jeden Theil in be-
ſonderer Weiſe. Im Ganzen iſt das Unterrichtsminiſterium in organi-
ſchem Zuſammenwirken mit der Selbſtverwaltung der Organismus der
geiſtigen Verwaltung in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. — Dieß
nun ſind die weſentlichen Grundzüge der Geſchichte des Bildungsweſens
in den germaniſchen Staaten. Innerhalb derſelben treten aber auch
hier die drei großen Kulturvölker mit ihrem eigenthümlichen Charakter
und dem ihnen entſprechenden öffentlichen Bildungsrecht auf, als die
Grundtypen, auf welche man Geſchichte und Geſtalt des letzteren ſtets
zurückführen muß.
[39]
V. Der Charakter des Bildungsweſens in den Hauptſtaaten Europas.
Bei dem ungeheuren, das geſammte Volksleben umfaſſenden Um-
fang, und bei der großen tiefgehenden Verſchiedenheit des Bildungs-
weſens im Einzelnen in den Hauptſtaaten Europas wird es nun als
eine der weſentlichen Bedingungen des Verſtändniſſes des letzteren an-
geſehen werden müſſen, daß man den Charakter des Bildungsweſens
in jedem dieſer Staaten vorerſt ſo beſtimmt als möglich feſtſtelle.
In der That nämlich erſcheint das Bildungsweſen eines jeden
Staates bei aller Verſchiedenheit und ſcheinbaren Zufälligkeit im Ein-
zelnen dennoch als ein Ganzes, deſſen innere Gleichartigkeit uns in
überraſchender Weiſe entgegentritt, ſowie man daſſelbe einerſeits auf
die elementaren Grundformen des Bildungsweſens, andrerſeits auf die
Grundkräfte zurückführt, welche wir oben bezeichnet haben. Erſt in
dieſer Einheit iſt eine Vergleichung des Ganzen möglich. Hält man
feſt, daß die wirkliche Geſtalt des Bildungsweſens von dieſen Momenten
beherrſcht wird, ſo leuchtet es ein, daß alle wahre Vergleichung erſt
da beginnt, wo man wirkliches Leben aus der Wirkung jener Kräfte
hervorgehen ſieht. Und darum mag es uns wohl verſtattet ſein, das,
was wir unter dem „Charakter“ zu denken haben, hier genauer zu
beſtimmen.
Der Charakter des inneren Staatslebens überhaupt beſteht nämlich
in dem Verhältniß, in welchem der Begriff und die thätige Idee des
Staats zu den geſellſchaftlichen Ordnungen in demſelben ſtehen. Es
iſt gezeigt worden, wie beide ein weſentlich verſchiedenes Princip haben;
in dem Kampf dieſer beiden Principien beſteht das innere Staatsleben
überhaupt, und aus ihr geht beſtändig die ganze Geſtalt der Verwal-
tung hervor. Das Bildungsweſen iſt aber ein Theil der Verwaltung.
Und es ergibt ſich daraus, daß das Bildungsweſen eines Staates ſtets
denſelben Charakter hat, wie ſeine ganze Verwaltung, und daß es
mithin einen weſentlichen Theil der inneren Geſchichte deſſelben aus-
macht und bedeutet.
Das nun macht die Darſtellung des Bildungsweſens zwar nicht
leichter, wohl aber iſt es der einzige Weg, um die Auffaſſung deſſelben
vor derjenigen Einſeitigkeit zu bewahren, welche da glaubt, die Sache
ſelbſt erfaßt zu haben, wenn ſie die äußern Formen und die einzelnen
geſetzlichen Beſtimmungen kennt. Hier iſt daher der Punkt, auf wel-
chem der höhere Standpunkt der Verwaltungslehre allein der Darſtellung
des Bildungsweſens ihre innere Einheit und ihre wahre Bedeutung
gibt, und die Stelle, auf welcher die Geſellſchaftswiſſenſchaft in dieſen
[40] Theil der Staatslehre eingreift. Wenn es uns gegeben wäre, die Noth-
wendigkeit und den Werth dieſer Forderungen für diejenigen nachzu-
weiſen, welche ſich mit den gegebenen Verhältniſſen des Bildungsweſens
in Europa beſchäftigen, ſo würden wir glauben, viel gewonnen zu haben.
Breitet man nun von dieſem Standpunkt aus die Karte von Europa
vor ſich aus mit ihren verſchiedenen Völkern und Staaten, feſt im Auge
haltend das Verhältniß von Geſellſchaft und Staat als Grundlage der
geſammten öffentlichen Rechtsbildung, ſo erſcheinen wie für die Verwal-
tung überhaupt, ſo namentlich auch für das Bildungsweſen die drei
großen ſtaatlichen Bildungen, die wir überhaupt für die Verwaltungslehre
als die drei Grundformen der öffentlichen Rechtsbildung anerkennen
müſſen, England, Frankreich und Deutſchland. An ſie ſchließen ſich alle
andern mit mehr oder weniger Klarheit, mit mehr oder weniger Bewußt-
ſein ihres wahren Verhältniſſes an. Man kann unbedenklich ſagen, daß
wer dieſe Staaten verſteht, das Leben von Europa mit Einem Blick zu
umfaſſen vermag; ſo in allen andern Dingen, ſo auch im Bildungsweſen.
Allen dieſen Staaten iſt nun die eine große hiſtoriſche, alle übrigen
überragende Thatſache gemeinſam, daß ſie im Uebergange von der
ſtändiſchen zur ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung begriffen ſind.
Der Charakter ihres öffentlichen Rechts überhaupt und ihres Bildungs-
weſens im beſondern beruht demnach auf den Elementen, durch welche
dieſer Uebergang vollzogen wird, und auf dem Punkte, auf welchem
ſich derſelbe befindet.
Um dieß als Grundlage der Vergleichung auch des poſitiven
öffentlichen Rechts feſthalten zu können, dürfen wir hier einen ſehr
wichtigen allgemeinen Satz wiederholen. Eine jede große Geſetz-
gebung in einem jeden Staate entſteht immer erſt da, wo eine neue
Geſtalt der Geſellſchaftsordnung ſich Bahn bricht. Das gilt für die
ganze Verwaltung; das gilt auch für das Bildungsweſen. Das Auf-
treten großer Geſetzgebungen für dieſe Verwaltung des geiſtigen Lebens
begleitet daher ſtets die geſellſchaftliche Entwicklung, und bedeutet immer
einen nachhaltigen Sieg der Staatsidee über die geſellſchaftlichen Sonder-
intereſſen. In der That darf man daher nicht eigentlich bei der Ver-
gleichung von dem Inhalt der poſitiven Geſetze ausgehen, ſondern muß
vielmehr von der Anſchauung der geſellſchaftlichen Bewegung aus zu
ihnen als nothwendiger und praktiſcher Conſequenz hingelangen. Und
dafür den Verſuch zu liefern, iſt die nächſte Aufgabe des folgenden.
Zunächſt aber erklärt es ſich eben daraus, weßhalb gerade unſer Jahr-
hundert die Epoche der großen organiſchen Bildungsgeſetzgebungen iſt;
denn daß dem ſo iſt, iſt ebenfalls eins der greifbarſten Ergebniſſe der
hiſtoriſchen Bewegung, in der wir uns befinden.
[41]
Innerhalb derſelben nun hat jeder der großen Staaten ſeine eigen-
thümliche Stellung.
Der Charakter des engliſchen Lebens zunächſt beſteht darin, daß
die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung hier vielleicht am ſtrengſten in ganz
Europa erhalten iſt und in der geſelligen Welt gilt, daß aber die höhere
geſellſchaftliche Klaſſe keine ſtaatlichen Verwaltungsrechte beſitzt. Die
freie ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung iſt hier nur bis zur Aufhebung
der öffentlichen Vorrechte der Grundherren gelangt; ſie ſteht noch auf
dem rein negativen Standpunkt des freien einzelnen Individuums. Zu
einem poſitiven Walten, und damit zu einem ſelbſtändigen Eingreifen
in die Lebensſphäre des Einzelnen im Namen der Geſammtentwicklung
iſt England noch nicht gelangt. Daher fehlt ihm einerſeits die orga-
niſche Entwicklung der Staatsidee zu einem ſelbſtthätigen Verwaltungs-
körper, andrerſeits die organiſche Geſetzgebung. In England iſt alles
und jedes auf ſich ſelbſt angewieſen, und Englands Freiheit beſteht
weſentlich in der rechtlichen Befreiung jeder individuellen Rechtsſphäre
von dem Einfluſſe jedes andern. Das iſt Englands Charakter auf
allen Punkten, und ſo auch der ſeines öffentlichen Bildungsweſens.
In Frankreich hat dagegen die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zwar
geſiegt, aber ihr Sieg in der franzöſiſchen Revolution war der der
Gewalt. Und Gewalt erzeugt Gewalt; denn daß jedes Ding das ihm
Gleichartige mit all ſeinen Folgen wieder erzeuge, das iſt die wahre
und furchtbare Gerechtigkeit aller Geſchichte. Der gewaltſame Sieg
jener Geſellſchaft bedingte, daß die Regierung als organiſche Ver-
treterin derſelben ſelbſt der Gewalt bedurfte, und die Alleinherrſchaft
unter den Formen der Freiheit an ſich riß. Frankreich iſt daher das
Land der Macht der Verwaltung, und damit auch das Land, in
welchem die Staatsgewalt für ſich alle Aufgaben der Verwaltung in
Anſpruch nimmt. Während England das Land iſt, wo die Staats-
verwaltung dem Einzelnen zu viel überläßt, iſt Frankreich dasjenige,
wo ihm zu wenig überlaſſen wird; während England zeigt, wie viel
der kräftige Einzelne für und durch ſich ſelbſt vermag ohne öffentliche
Hülfe, hat Frankreich zu lehren, was die Regierung durch ihre Gewalt
zu Stande bringt, indem ſie die Einzelnen in der Selbſtverwaltung
und dem Vereinsweſen faſt ganz ausſchließt. Während in England
daher eine ſtaatliche Organiſation der Verwaltung faſt gänzlich fehlt,
iſt in Frankreich jede öffentliche Gewalt ein ſtaatliches Organ. Während
England daher der eigentlichen Geſetzgebung ermangelt, und das öffent-
liche Recht der Verwaltung weſentlich nur die Gränzen vorſchreibt,
innerhalb deren ſich die Selbſtbeſtimmung der Einzelnen zu bewegen
hat, iſt in Frankreich vielmehr alles durch die Geſetzgebung und
[42] Verordnung des Staats geregelt, und der eigene Wille des Volkes in
den Angelegenheiten der Verwaltung auf das äußerſte Maß und unter
beſtändiger Oberaufſicht des Staats beſchränkt. Einen größern Gegenſatz
als dieſe beiden Länder hat die Geſchichte niemals ſo nahe zuſammen-
gerückt, und das Betrachten dieſer Völker wird ſo zur Grundlage des
Verſtändniſſes für das übrige Europa. Das gilt für die Verwaltung
im Ganzen, und das gilt auch für das Bildungsrecht, ſowohl für den
Geiſt als ſelbſt für die einzelnen Rechtsſätze deſſelben.
Denn viel ſchwieriger iſt das dritte große Kulturvolk Europas,
das gleichſam zum Verſtändniß und zum Bewußtſein der andern beſtimmt
iſt, das deutſche Volk. Deutſchland unterſcheidet ſich von England
und Frankreich dadurch, daß die ſtändiſche Geſellſchaft nicht bloß beſteht
wie in England, ſondern auch noch beſondere öffentliche Rechte hat,
während die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft wie in Frankreich allerdings
beſteht und herrſcht, aber auf allen Punkten von dem Rechte der ſtän-
diſchen Geſellſchaft beſchränkt iſt. Es hat ſich daraus die eigenthümliche
Folge ergeben, daß die Selbſtverwaltung in Deutſchland den Charakter
der ſtändiſchen Welt annimmt, das iſt, in lauter ſelbſtſtändigen Körper-
ſchaften auftritt, während die Staatsverwaltung ſich dieſelben in der
Form der Oberaufſicht unterordnet, ohne ſie doch wie in Frankreich
ganz in ſich aufzunehmen. Aber gerade dieſer ſtändiſche Charakter
der deutſchen Selbſtverwaltung iſt von hohem Werthe, weil er es iſt,
der der letzteren gegenüber der mächtigen Staatsgewalt ihre Selb-
ſtändigkeit erhielt, eine Selbſtändigkeit, welche ſie in Frankreich ver-
loren hat, die in England dagegen zur beinahe völligen Zerſplitterung
der Verwaltung führt. Denſelben doppelten Charakter hat auch die
Geſetzgebung; ſie zeigt auf allen Punkten eine innige Verſchmelzung
des ſtaatlichen Willens und der örtlichen Selbſtbeſtimmung; und in
dem Kampfe dieſer beiden Faktoren entwickelt ſich dasjenige Element,
das Deutſchland ſo hoch ſtellt, und ihm ganz eigenthümlich iſt. Das
iſt die deutſche Wiſſenſchaft, welche in der ihr entſprechenden
Weiſe, durch beſtändiges ehrliches und gründliches Streben nach dem
Wahren, zuletzt die Entſcheidung in dem Streite jener beiden Elemente
abgibt, und ſo in ſtiller aber mächtiger Wirkſamkeit zu einer rechts-
bildenden Potenz wird, wie ſie in keinem andern Staate der Welt
vorkommt. Daher hat Deutſchland mehr einheitliche Wiſſenſchaft als
Geſetzgebung; jene iſt es, welche dieſe erſetzt wo ſie fehlt, und ſie leitet,
wo ſie ſich formuliren will; ſie iſt die höhere Inſtanz, an welche dieſe
am letzten Orte appellirt, und nirgends iſt daher Achtung und Macht
der Wiſſenſchaft höher als hier. Dieß gilt von der Verwaltung und
ihrem Recht im Allgemeinen, vor allen Dingen aber von der Verwaltung
[43] des Bildungsweſens und ſeinem Recht. Während England zeigt, was
der auf ſich ſelbſt angewieſene Einzelne, und Frankreich, was die faſt
ſelbſtherrliche Regierungsgewalt vermag, zeigt uns Deutſchlands Bildungs-
weſen die bildende und erhebende Macht der Wiſſenſchaft, und nirgends
mehr, als gerade im Bildungsweſen. Unſere wahre Geſetzgebung
iſt unſere pädagogiſche Literatur. Und daran wollen wir
feſthalten.
Was nun die übrigen Länder betrifft, ſo wird man folgendes
ſagen müſſen. Die Gränzländer zwiſchen Frankreich und Deutſchland,
Belgien, Holland und Italien, haben die franzöſiſchen Formen ange-
nommen, zum Theil auch die franzöſiſchen Namen, aber den deutſchen
Geiſt und vielfach auch das deutſche Princip der geiſtigen Selbſtver-
waltungskörper in Schule und Univerſität ſich erhalten. Der Charakter
derſelben iſt daher im Einzelnen oft ſchwierig zu beſtimmen, im Ganzen
aber leicht verſtändlich. In Holland und Belgien lebt und herrſcht
weſentlich die deutſche, in Italien jedoch ſo weit ſchon jetzt von einem
Bildungsweſen deſſelben die Rede ſein kann, der franzöſiſche Gedanke.
Die Schweiz iſt nach ihren einzelnen Kantonen ſehr verſchieden. Die
Länder Skandinaviens dagegen ſtehen durchaus auf dem deutſchen
Standpunkt, während im Oſten das junge Serbien ſich nach deutſchem
Muſter zu organiſiren beginnt, Rußland aber noch im Anfang einer
eigentlich feſten Geſtaltung ſteht, in der jedoch die deutſche Auffaſſung
von Tage zu Tage, wenn auch unter anderem Namen, mehr Raum
gewinnt.
So liegen im Großen und Ganzen dieſe Verhältniſſe, und ehe
wir nun zum beſondern Theile übergehen, dürfen wir die hier bezeich-
neten Allgemeinheiten wohl etwas näher für die einzelnen Staaten
mit ſpezieller Rückſicht auf ihre poſitive Geſetzgebung charakteriſiren.
England. Daß England, und warum es keine organiſche Ver-
waltung und keine Geſetzgebung des Unterrichtsweſens hat, welche alle
Gebiete des letzteren gemeinſam umfaßte, iſt bereits erwähnt. Die
Betrachtung Englands hat deßhalb von jeher dahin geführt, ſtatt einer
Vergleichung des poſitiven Rechts vielmehr den geſammten Geiſt des
engliſchen Lebens in den Vordergrund zu ſtellen; und das wird noch
lange ſo bleiben müſſen. Denn England hat bisher nur für die
Elementarbildung eine ſelbſt noch einſeitige Geſetzgebung; das Fach-
bildungsweſen beſteht nur in den ſtändiſchen Körpern der Univerſitäten
und Collegien, neben welchen die freien Unterrichtsanſtalten ganz
[44] unbeſchränkt beſtehen, und ein Unterrichtsminiſterium exiſtirt überhaupt
nicht. England kann daher nur durch den Geiſt ſeiner geſammten Ent-
wicklung auch in ſeinem Bildungsweſen verſtanden werden.
Das ganze engliſche Bildungsweſen geht einſeitig aus dem Ele-
ment der individuellen Selbſtändigkeit in der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft hervor, die geiſtigen Güter erſcheinen hier als das eigenſte
Gebiet des Individuums, aber die völlig freie Bewegung des Verkehrs
erzeugt die Erkenntniß des Werthes derſelben für jedermann; darum ſoll
jeder für ſich und in ſeiner Weiſe ſich ſeinen eigenen Bildungsgang
ſchaffen, und darum thut er auch, ſo weit ſein eigenes Intereſſe, ſein
eigenes Verſtändniß es für ihn fordert. Das iſt ſomit keine Sache des
Staats, und ſoll es auch nicht ſein; noch würde ein Eingreifen des-
ſelben als eine Gefährdung der individuellen Freiheit gelten. Die
Verwaltung leiſtet daher grundſätzlich nichts für das Bildungsweſen;
das was geleiſtet wird, iſt nur die Sache der Selbſtverwaltung der
Vereine, oder des Einzelnen. Es gibt daher keine organiſche Geſetz-
gebung, keine Prüfungsſyſteme, keine Schulpflicht, keine Oberaufſicht,
keine Unterſtützung, keinen Lehrkörper, keine Statiſtik — für das Ganze;
für die einzelnen Theile nichts als die Achtung vor der Bildung und
die allgemeine Erkenntniß des hohen Werthes derſelben. Das letztere
indeß verleiht wiederum der individuellen Bildung ihre Energie und
zweckmäßige Klarheit, während das erſtere ſie zufällig und ungleichmäßig
erſcheinen läßt. Die tüchtige Individualität gelangt weiter als irgendwo;
aber die untüchtige geht dafür auch geiſtig zu Grunde. Die Bildung
ſelbſt, weſentlich in ihrem wirthſchaftlichen Werthe verſtanden, wird
ihrerſeits eine vorzugsweiſe materielle; die Kenntniſſe ſind unendlich viel
wichtiger als die Erkenntniß; ſie ſind jedoch nur Mittel zum Erwerb,
und als ſolche für das Volk im Ganzen nie ein Zweck für ſich. Die
Entwicklung der Wiſſenſchaft beruht deßhalb ausſchließlich auf dem per-
ſönlichen Intereſſe des Einzelnen; ſie iſt keine Forderung einer Anſtalt,
ſondern die Befriedigung einer Individualität. Der Unterſchied der
Klaſſen, den die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft an die Stelle des Standes-
unterſchiedes ſetzt, erſcheint daher auch in der Bildungswelt; die Bil-
dung wird dem Beſitz parallel, und die Verwaltung füllt die Kluft
nicht aus, weil ſie dafür keine Verpflichtung kennt. So iſt das eng-
liſche Bildungsweſen vor allem ein verwaltungsloſes, und dadurch
ſyſtemloſes, ungleichartiges und zufälliges, neben größter Energie des
Individuums. Es iſt dem Continent kaum verſtändlich in ſeiner Ein-
ſeitigkeit, und doch nur die höchſte Form der Herrſchaft des einen Ele-
mentes der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der individuellen Selbſtändig-
keit. Indeß beginnt auch hier eine andere Zeit. England fängt jetzt da
[45] an, wo Deutſchland vor hundert Jahren ſtand. Die Organiſirung ſeines
Bildungsweſens beginnt mit der ſelbſtändigen Entwicklung des Volks-
ſchulweſens als Aufgabe der Verwaltung; wenn dieſe feſtſteht, wird
die verwaltungsloſe und mittelalterliche Körperſchaft ſeiner Univerſitäten
allmählig ſich im Sinne des übrigen Europa’s ändern, und der ent-
ſcheidende Grundſatz einer fertigen Vorbildung für die höhere Berufs-
bildung eintreten; die allgemeine Bildung wird ſich dann von den
beſchränkten religiöſen Vorurtheilen frei machen, und England kann
das Land werden, welches das Princip der freien individuellen Perſön-
lichkeit in großartigſter Form im öffentlichen Bildungsweſen durchführt.
Bis dahin läßt ſich das Bildungsweſen Englands formell kurz damit
charakteriſiren, daß ſein Volksſchulweſen, noch vor wenig Jahren nur
in den Armenſchulen beſtehend, eben beginnt, unſicher und verſuchsweiſe
Gegenſtand der Verwaltung zu werden; daß ſeine Berufsbildung ohne
organiſirte Vorbildung nur noch als eine gelehrte, und ſelbſt vollkommen
in ſtändiſcher, unorganiſirter Selbſtverwaltung daſteht, und daß die
allgemeine Bildung, der Verwaltung gänzlich fremd, nur noch Sache
des Einzelnen iſt, und daher höchſtens vom Vereinsweſen gefördert,
mehr als irgendwo auf der Preſſe und ihrer Thätigkeit beruht. Es
kann daher ſehr viel von einem engliſchen Princip, aber ſehr wenig
von einem engliſchen Syſtem die Rede ſein. Die großen Theile des
Bildungsweſens liegen zuſammenhangslos neben einander, und ſtatt der
Verwaltung oder der poſitiven Geſetzgebung muß der wiſſenſchaftliche
Gedanke ſie als Einheit zuſammenfaſſen.
Frankreich. Den direkten Gegenſatz dazu bildet Frankreich in
ſeinem geſammten Bildungsweſen. Als in der franzöſiſchen Revolution
die Principien der Freiheit und Gleichheit den plötzlichen Sieg über
die ſtändiſchen Ordnungen gewannen, war die Anerkennung der gleichen
Bildung für alle eine nur naturgemäße Conſequenz dieſer Grundſätze.
Natürlich konnte eine ſolche Conſequenz nur durch die, von der Ge-
ſellſchaft vollſtändig beherrſchte Verwaltung verwirklicht werden. Die
Bedingung dafür war eine möglichſt einheitliche Geſetzgebung. So
kam es naturgemäß, daß die Regierung verſuchte das geſammte Bil-
dungsweſen durch ihre Geſetzgebung zu regeln und durch eine eben ſo
einheitliche Verwaltung praktiſch zu beherrſchen. Das auf dieſe Weiſe,
man kann ſagen, einſeitig von der Staatsgewalt begründete öffentliche
Bildungsweſen Frankreichs unterſcheidet ſich daher von dem Englands
dadurch, daß der freien geiſtigen Thätigkeit ſo wenig als möglich Spiel-
raum gelaſſen und dieſelbe ganz von der Verwaltung übernommen iſt,
von dem Deutſchlands dadurch, daß die einzelnen Theile des Syſtems
keine ſelbſtändige und ungleichmäßige Form und Entwicklung beſitzen,
[46] und nicht von hiſtoriſch entſtandenen Körperſchaften oder von dem immer
verſchiedenen und ſehr oft zufälligen Verhältniß der Selbſtverwaltungs-
körper und Selbſtverwaltungsrechte örtlich verſchieden beſtimmt werden.
Es iſt der Sache wie der Form nach Eine große, für das ganze Reich
gleichmäßig durchgeführte, faſt ohne alle Theilnahme der Selbſtver-
waltung wirkende Verwaltungsanſtalt, in der kein Theil von dem
andern getrennt iſt, kein Theil eine eigene, geſonderte Entwicklung hat,
und die daher auch unter einem Namen von einer Geſetzgebung be-
herrſcht wird. Dieſe Anſtalt, das geſammte Bildungsweſen des Reiches
umfaſſend, heißt die Université, welche daher im weſentlichen Unter-
ſchiede von dem hiſtoriſchen Begriffe der Univerſität, neben allen
Formen und Anſtalten der Berufsbildung, auch das geſammte Volks-
bildungsweſen zugleich umfaßt, und unter einem das Ganze gleich-
mäßig verwaltenden Organismus ſteht. Die franzöſiſche Université hat
daher mit der deutſchen Univerſität gar nichts gemein. Sie iſt
vielmehr der Organismus des geſammten Bildungsweſens
der Regierung, von der Elementarſchule bis zu den Fakultäten; und
in dieſem Sinne iſt die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens die
Geſchichte der Université.
Allerdings iſt dieß der gegenwärtige Charakter des franzöſiſchen
Bildungsweſens, und es wird unſere Aufgabe ſein, daſſelbe unten in
ſeinen einzelnen Theilen und Gebieten genauer zu verfolgen. Allein
daſſelbe iſt ſo wenig plötzlich entſtanden wie irgend ein anderer Theil
der öffentlichen Macht in dieſem merkwürdigen Staate; und kaum
bietet irgend ein anderes Land ſo viel Intereſſe durch ſeine hiſtoriſche
Entwicklung auch auf dieſem Punkte dar, als Frankreich. Wir glauben
daher die letztere hier in ihren Hauptzügen charakteriſiren zu ſollen.
Und zwar um ſo mehr, als gerade dieſe immer höchſt beachtenswerthe
Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens verkannt wird, weil aller-
dings die Grundform deſſelben, eben jene Université, in ihrer alles
überragenden Bedeutung die Auffaſſung der Deutſchen, die ſich mit
ihr beſchäftigt haben, zu ſehr abſorbirt hat, wenn auch nur wenige in
ſo grobe Irrthümer und in ſo gänzliches Mißverſtändniß der Sache
verfallen, wie neulich C. Richter in ſeinem ſogenannten „Staats- und
Geſellſchaftsrecht der franzöſiſchen Revolution“ (II. S. 610—615), der
gar nicht ahnt, was die Université iſt, die Napoleon „nun wieder
als kaiſerliche Univerſität errichtet“ haben ſoll. Die wirklichen Haupt-
ſtadien der Entwicklung des franzöſiſchen Bildungsweſens aber, zurück-
geführt auf die von uns aufgeſtellten Elemente des geſammten Bildungs-
weſens ſind folgende.
Die erſte Epoche iſt diejenige, welche mit der franzöſiſchen Revolution
[47] beginnt, und bis zur Alleinherrſchaft Napoleons führt. Die zweite
findet ihre Baſis in der Aufſtellung der Université und ihrer, das
ganze Bildungsweſen Frankreichs bureaukratiſch beherrſchenden Organi-
ſation, die wieder ihre eigene Geſchichte hat. Die dritte beginnt unter
Napoleon III., nicht durch ihn, und beſteht in der Entwicklung eines
freien Bildungsweſens neben der Université, das freilich weſentlich
noch auf gewerbliche Bildung beſchränkt iſt, aber in dieſem gewerblichen
Bildungsweſen den großen Principien des deutſchen Bildungsweſens
die Bahn bricht, und die Geltung der freieren, auf Selbſtverwaltung
des geiſtigen Lebens gerichteten Elemente allmählig auch auf die übrigen
Gebiete der geiſtigen Verwaltung Frankreichs übertragen wird. Jede
dieſer Epochen iſt zugleich ein Ausdruck des Ganges der geſellſchaftlichen
Zuſtände, die nirgends härter in ihren Gegenſätzen, aber auch nirgends
ſchärfer in ihren Principien hervortreten als hier.
Die erſte Epoche, die der Revolution, beginnt mit dem richtigen
Gefühl, daß die Bildung die erſte poſitive Bedingung des Fort-
ſchrittes iſt, wie die perſönliche Freiheit die erſte negative Bedingung
deſſelben. Der Ausdruck dieſes Gefühls iſt das principielle Losreißen
des geſammten Bildungsweſens von jedem ſtändiſchen Element, und
die formelle und abſolute Anerkennung der Staatspflicht, den
Staatsbürgern ohne allen Unterſchied des Standes und des Vermögens
die Bedingung der Bildung darzubieten. Frankreich iſt, indem es auf
dieſe Weiſe das ganze Bildungsweſen auf die Thätigkeit der eigent-
lichen Staatsverwaltung ſtellte, der erſte Staat, der die Pflicht des
Staats zur Bildung ſeiner Angehörigen zu einem Inhalt der Ver-
faſſung machte. So wie die junge ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft die
ſtändiſche darnieder wirft, hält ſie es für eine ihrer erſten Aufgaben, die
neue Staatsordnung durch das formelle Ausſprechen zur Staatspflicht
gleichſam für die neue geiſtige Welt, die ſie bereiten will, einzuweihen.
Die déclaration des droits de l’homme et de citoyen vom 26. Auguſt
1789 ſteht allerdings nur noch auf dem negativen Standpunkt der
Gleichheit und Freiheit, wie wir ihn in der Geſchichte des Polizeirechts
ausgeführt haben. Allein ſchon die erſte Verfaſſung vom 3. September
1791 nahm in ihrem Titre premier neben den „Menſchenrechten“ den
bedeutſamen Satz auf: „Il sera crée et organisé une Instruction pub-
lique, commune à tous les citoyens, gratuite à l’égard des parties
d’enseignement indispensables pour tous les hommes, et dont les
établissements seront distribués graduellement dans un rapport com-
biné avec la division du royaume.“ Dieſer Satz enthielt einerſeits nichts
anderes, als was bereits vor manchem Jahrzehent deutſche Staaten,
in erſter Reihe Preußen, durch ſein General-Schulreglement, ſchon zur
[48] Geltung gebracht und eingeführt hatten — die Staatspflicht, den Volks-
unterricht herzuſtellen; allein ein eigenthümlicher Gedanke, der die ganze
folgende Zeit beherrſcht, und der eben den Charakter des franzöſiſchen
Bildungsweſens von dem engliſchen und deutſchen ſo tief unterſcheidet,
war ſchon hier begründet; das war der, das geſammte Syſtem des
Bildungsweſens rein unter die Staatsverwaltung zu ſtellen, und ſie
zum Herrn deſſelben zu machen. Es war nicht ſchwer, ſich für dieſe Idee
zu begeiſtern, ſo lange Frankreich ſelbſt frei war, und Mirabeau mit
ſeinem wunderbaren Takt und mit ſeiner gewaltigen Stimme, der dieſen
Artikel der Conſtitution motivirte (Discours sur l’Organisation de l’in-
struction publique, 1791), riß, nicht bloß Frankreich mit ſich fort,
ſondern ließ wieder einmal auch die Deutſchen glauben, daß hier etwas
geleiſtet werde, das ihnen als Muſter zu gelten habe. Die Aſſemblée
beauftragte Talleyrand mit dem Bericht, und deſſen Rapport fait au
nom du Comité de Constitution sur l’Instruction publique muß als
die theoretiſche Grundlage des ganzen franzöſiſchen Unterrichtsweſens
bis zur heutigen Zeit angeſehen werden. Die Legislative von 1791
blieb auf demſelben Standpunkt, nur forderte ſie vom Staat vielmehr
die neue Declaration des droits de l’homme et du citoyen, die als
Einleitung zur Verfaſſung vom 24. Juni 1793 erſchien, und formulirte
den Gedanken der Conſtitution von 1791 ſchon weſentlich anders. Der
Artikel 22 ſagt: „L’instruction est le besoin de tous. La société doit
favoriser de tout son pouvoir le progrès de la raison publique, et
mettre l’instruction à la portée de tous les citoyens.“ Der Bericht-
erſtatter war diesmal Condorcet (Rapport sur l’Organisation géné-
rale de l’Instruction publique fait à l’Assemblée legislative). Das
was in dieſem Berichte Neues und der damaligen Zeit Eigenthüm-
liches war, war die Aufnahme der Verpflichtung zur ſtaatlichen
Bildung in das Bildungsweſen; und von dieſem Bericht ſtammen die
Anordnungen in einigen Staaten, nach welchen die elementaren Grund-
ſätze der Verfaſſung geſetzlich in das Volksſchulweſen aufgenommen
worden ſind. (Richter a. a. O. ahnt von alledem nicht das Entfernteſte.)
Gemeinſam war beiden Geſetzgebungen, daß ſie in jener Epoche auf
dem Papier blieben. Die Verfaſſung von 1793 läßt den ganzen Paſſus
in ſeinen allgemeinen Principien weg, wohl aber tritt hier die erſte
wirkliche Organiſation der Instruction publique in Titre X auf, in
welchem die écoles primaires (a. 296) von den écoles supérieures
(a. 297) und von beiden wieder ein Institut national geſchieden werden,
die aber nach a. 299 unter einander wieder im Verhältniß der subor-
dination nach der correspondance administrative ſtehen. Dagegen
wird, was früher unzuläſſig war, hier zuerſt den Bürgern das Recht
[49] auf freie Unterrichtsanſtalten gewährleiſtet. Mit dieſen Beſtimmungen
tritt das Bildungsweſen aus den Verfaſſungen heraus, denn der Art. 88
der Conſtitution von 1799 iſt nur ein unvollſtändiger Nachklang des
Ganzen, und geht in die eigentliche Verwaltung über. Denn trotz
aller Reden und Verfaſſungen war in Wirklichkeit nichts für das
Unterrichtsweſen geſchehen. Der Gedanke aber, daß das Ganze eine
organiſche Staatsangelegenheit und damit eine große Einheit mit der
obigen Dreitheilung ſein müſſe, ſtand feſt, und es war ſchon damals
klar, daß es nur des Eintretens einer tüchtigen Verwaltung bedürfe,
um jene abſtrakten Principien der Revolution praktiſch ins Leben zu
rufen.
Der Mann, dem auch dieß gelang, war Napoleon. Mit ihm be-
ginnt die zweite Epoche der Geſchichte des Bildungsweſens in Frank-
reich. Wir haben ſchon oft und immer mit Nachdruck darauf hin-
gewieſen, daß man in Napoleon neben dem Feldherrn vor allen auch
den Gründer der neuen Verwaltung in Frankreich erkennen muß. Das
gilt in hohem Grade auch vom franzöſiſchen Bildungsweſen. Napoleon
hat allerdings keinen einzigen neuen, ihm eigenthümlichen Gedanken
für daſſelbe gefunden, wohl aber einen neuen Namen, und der Orga-
niſation, die er ins Leben rief, ſo ſehr den Stempel ſeines autokratiſchen
Geiſtes aufgedrückt, daß auch jetzt noch Frankreich darunter leidet.
Ausgeſprochen war nämlich, wie geſagt, das große Princip der Volks-
bildung als Pflicht der Verwaltung ſchon ſeit 1791; ausgeſprochen war
die noch heute geltende Dreitheilung in instruction primaire, secon-
daire und supérieure ſeit 1791; es kam jetzt nur darauf an, die Sache
adminiſtrativ zu organiſiren. Und hier mußte Napoleon wählen. Er
konnte der Selbſtverwaltung, wie ſie in Deutſchland beſtand, ihr
Recht namentlich in den Gemeinden für den Elementarunterricht, und
der geiſtigen Selbſtverwaltung, wie die höheren Lehranſtalten ſie be-
ſitzen, ihre Stellung geben. Er that es nicht. Ihm war das Bildungs-
weſen nichts als eine große adminiſtrative Aufgabe, und die bildende
Kraft eine große gouvernementale Maſchine. Vortrefflich bezeichnet dieſe
Auffaſſung Morin(Block, Dict. de Polit. v. Instr.). „Napoléon
adorant la discipline, fut frappé de celle du clergé, et sa première
idée fut de constituer sous le nom de l’Université une sorte de
clergé semi-laïque et semi-religieux;“ und dieſe Geſammtheit von
halbweltlichen und halbgeiſtlichen Organen ſollte nun als eine große
Einheit das ganze Unterrichtsweſen Frankreichs übernehmen. Jener
große Lehrkörper ward auf dieſe Weiſe der corps enseignant, und
das Lehrweſen Frankreichs ſelbſt nannte Napoleon die „Université.“
Die Université beſteht daher aus der in eine ſtaatliche Verwaltung
Stein, die Verwaltungslehre. V. 4
[50] gebrachten Geſammtheit aller öffentlichen Lehranſtalten, von den Ele-
mentarſchulen bis zu den Facultés (ſ. unten) und der Geſammtheit des
ganzen Lehrerperſonals von dem Profeſſor bis zum Triviallehrer. Dieſen
Gedanken führte das Geſetz vom 17. März 1808 aus, das bisher nie-
mals geändert ward und noch gegenwärtig die Baſis der ganzen Or-
ganiſation des Bildungsweſens abgibt. Die Université bietet demgemäß
ein höchſt eigenthümliches Bild, in welchem die ſtreng militäriſch-kleri-
kale Subordination ſich mit der bureaukratiſchen Form in merkwürdiger
Verbindung zu einem Ganzen verſchmolzen hat, wie es in Europa nicht
wieder vorkommt. Die Grundzüge dieſer Organiſation des ſtaatlichen
Bildungsweſens Frankreichs, d. i. ſeiner Université, ſind folgende.
Ganz Frankreich wird in große Unterrichtsprovinzen getheilt, welche
„Académies“ heißen; 1808 in 27, jetzt ſeit Geſetz vom 14. Juni 1854
nur noch 16; ſo daß jede Akademie wieder eine gewiſſe Anzahl von
Departements umfaßt. Daraus nun gehen zwei große Verwaltungs-
ſyſteme hervor. Das eine iſt das der öffentlichen Bildung als ſolcher,
der Instruction publique, beruhend auf der Akademie; das andere iſt
das der eigentlichen Adminiſtration, beruhend auf dem Präfekten und
dem einzelnen Departement. Der leitende Gedanke in dieſer Scheidung
iſt der, daß die Angelegenheiten des Unterrichts oder der eigentlichen
Lehre der Akademie, die Angelegenheiten der Perſonen und der wirth-
ſchaftlichen Verwaltung dem Präfekten untergeordnet ſind. Der Organis-
mus der Akademien iſt ziemlich einfach. An der Spitze jeder Akademie
ſteht ein Recteur, der die Oberaufſicht über das geſammte Lehrweſen
ſeiner Akademie hat. Die Ausübung dieſer Oberaufſicht ruht in den
Händen eines Syſtemes von Inspecteurs. Der Oberinſpektor (Inspec-
teur général) hat die ganze Akademie zu beaufſichtigen; die Unter-
inſpektoren, die Inspecteurs, die örtliche Oberaufſicht. Die Inspecteurs
aber ſtehen zugleich unter dem zweiten Organismus, dem der Präfektur.
Jeder Präfekt hat nämlich die Anſtellung aller öffentlichen Lehrer in
ſeinem Departement, und die Inspecteurs ſind daher die Referenten
ſowohl für den Rektor und ſeine Competenz als für den Präfekten.
Mit Recht ſind daher die franzöſiſchen Juriſten darüber einig, daß der
Inspecteur die eigentlich regierende Gewalt über die Thätigkeit der
geſammten Université in der Hand hat — „l’inspecteur exerce le
véritable gouvernement“ (Jourdain bei Block). Dieß Syſtem von bu-
reaukratiſchen Organen ſollte nun allerdings in ſeiner Machtvollkommen-
heit durch eine Theilnahme der Selbſtverwaltung gemildert werden.
Nun haben wir ſchon in der Vollziehenden Gewalt (S. 341 ff.)
den Charakter der ſpecifiſch franzöſiſchen Selbſtverwaltung bezeichnet;
es iſt das Syſtem der recht- und machtloſen Conſeils, das die Stelle
[51] derſelben vertritt. Daſſelbe ward nun auch auf den obigen Organismus
angewendet, und ein Syſtem von Conſeils allen jenen Organen an die
Seite geſtellt. Der Rektor hat ein Conceil académique, der Präfekt
ein Conceil départemental, die örtliche Organiſation hat die délégués
cantonnaux zur Seite (mit Reglement von 1850 und 29. Juli 1854,
jedoch ohne rapport hierarchique zum Inspecteur); die Verordnung
vom 29. Februar 1816 hat eine Art von Gemeinderath eingeſetzt, an
deſſen Spitze der Maire ſtand; doch iſt an deſſen Stelle ſeit 1835 der
eigentliche Inspecteur getreten, der nur den oberen Behörden berichtet.
An der Spitze des Ganzen ſteht dann das Ministère de l’Instruction
publique, das wieder einen Conseil général de l’instruction publique
zur Seite hat (Dekret vom 9. März 1852). Das ſind die allgemeinen
Grundlagen des franzöſiſchen ſtaatlichen Bildungsweſens. Der Charakter
deſſelben iſt demnach klar. Er beſteht in der ſtrengſten Durchführung
der formellen Einheit; die Université iſt „une hierarchie d’écoles
primaires et secondaires rattachées à un corps central d’établisse-
ments d’instruction supérieure qui exerce une véritable jurisdiction
scolaire“ (Jourdain a. a. O.). Der Unterſchied von dem deutſchen Unter-
richtsweſen beruht auf dem grundſätzlichen Mangel aller Selbſtändig-
keit jedes einzelnen Theiles dieſes Lehrorganismus, und zwar in der
Weiſe, daß im Volksunterricht die Ausſchließung der freien Gemeinde-
verwaltung vom Volksſchulweſen, im Berufsbildungsweſen die Beſeiti-
gung jeder ſelbſtändigen Funktion der Lehrkörper durchgeführt iſt. Und
in der That iſt dieſe völlige Aufhebung aller Selbſtändigkeit der Lehrer,
ihre grundſätzliche Abhängigkeit von den Behörden der Grund des Zu-
rückbleibens Frankreichs in allem was Volksbildung heißt. Denn die
Lehrer ſind weder ſelbſtändig in ihrer Stellung noch in ihrer geiſtigen
Thätigkeit. Die Lehrkörper aller Art beſitzen nicht das Recht noch die
Macht, die Lehre zu ordnen und dieſelbe mit der freien Entwicklung der
Wiſſenſchaft aus eigener That vorwärts zu bringen. Die individuelle
Freiheit der geiſtigen Bewegung iſt der formellen Einheit des Bildungs-
weſens zum Opfer gebracht, wie umgekehrt in England die letztere gegen-
über der erſteren nicht zur gebührenden Geltung gelangt iſt. Dennoch
iſt gerade dieſe individuelle Freiheit das wahrhaft Belebende in allem
geiſtigen Leben, nicht etwa bloß, wie Frankreich es annimmt, gegen-
über den großen Problemen der Wiſſenſchaft. Wo ſie verloren geht,
geht die Höhe und Tüchtigkeit der individuellen Bildung verloren, wie
da, wo die Einheit fehlt, die Gleichmäßigkeit derſelben unerreichbar
bleibt. Im erſten Falle gibt es hochgebildete Einzelne, im zweiten
ſehr gebildete Klaſſen der Beſitzenden, in beiden keine wahre Volks-
bildung.
[52]
Selbſt für die gelehrte Bildung iſt neben demſelben faſt gleichzeitig
ein ganz freies Bildungsweſen entſtanden, für die wirthſchaftliche Bil-
dung aber, welche in das obige Syſtem überhaupt nicht aufgenommen
war, hat ein ſolches entſtehen müſſen, um überhaupt auf dieſem Ge-
biete etwas zu leiſten. So zeigt ſich denn in Frankreich die eigenthüm-
liche Erſcheinung, daß neben und ohne die Regierung ſich ein großes,
mit dem Syſtem der Université parallel laufendes Bildungsweſen ent-
ſtanden iſt, das alle drei Gebiete umfaßt, in manchen Beziehungen
mehr leiſtet als jene, und den Erſatz für die Mängel bietet, unter
denen dieſelbe leidet. Und das Verhältniß dieſer beiden Syſteme zu ein-
ander iſt es nun eigentlich, welches dem Bildungsweſen Frankreichs ſeinen
Geſammtcharakter gibt. Dieß Verhältniß aber iſt das eines faſt gänz-
lich unvermittelten Nebeneinanderſtehens. Während die Regierung
die Université deſpotiſch beherrſcht, hat ſie über die freien Bildungsan-
ſtalten ſelbſt die Oberaufſicht faſt vollſtändig aufgegeben; in jenen thut ſie
entſchieden zu viel, in dieſen entſchieden zu wenig. Und dieſem Verhält-
niß werden wir in der folgenden Darſtellung auf jedem Schritte begegnen.
Dieß nun iſt das Napoleoniſche Bildungsſyſtem auch des gegen-
wärtigen Frankreichs, das in der Form vielfach dem deutſchen ſehr
ähnlich, aber in der Sache von ihm tief verſchieden iſt. Eben deßhalb
hat daſſelbe ſchon von Anfang an dem franzöſiſchen Volke, das denn
doch immer von germaniſchen Elementen geſättigt iſt, nicht genügen
können, und da an jenem Syſteme nichts zu ändern war, ſo hat ſich
das Bedürfniß nach einer freien geiſtigen Bildung ſelbſtändig neben
demſelben als jene Éducation libre Bahn gebrochen. Schon die Con-
ſtitution von 1793 erkennt das Princip derſelben an (a. 299). Selbſt
Napoleon hat es nicht beſeitigen können.
Deutſchland. Das deutſche Bildungsweſen, in ſeinen einzelnen
Beſtimmungen unendlich genau ausgearbeitet und mit reichſter Geſetz-
gebung verſehen, iſt eben deßhalb im Einzelnen ſehr ſchwer darzuſtellen.
Es iſt die Aufgabe der folgenden Abſchnitte, dieß zu verſuchen. Wohl
aber läßt ſich im Vergleiche zu England und Frankreich jetzt der ſpe-
cifiſche Charakter deſſelben leicht beſtimmen. Deutſchland hat von
Frankreich den Plan der adminiſtrativen Einheit des geſammten Bil-
dungsweſens angenommen; aber es hat innerhalb derſelben die
Selbſtändigkeit der geiſtigen Arbeit zu wahren verſtanden. Es iſt von
Werth, beide Elemente auf dasjenige zurückzuführen, worin ſie in
allen deutſchen Staaten, trotz mancher Verſchiedenheit im Einzelnen,
ihren beſtimmten Ausdruck finden. Die Einheit iſt vertreten durch
die Miniſterien des Unterrichts und die in ihnen gegebene centrale
Verwaltung. Die Selbſtändigkeit dagegen beim Elementarunterricht
[53] durch die Rechte der Gemeinden, bei dem Berufsbildungsweſen durch
die Rechte der Lehrkörper. Dieſe drei Elemente finden ſich in allen
Organiſationen des Unterrichtsweſens wieder, und in ihrer Wechſel-
wirkung beruht die organiſche Entwicklung unſeres geiſtigen Lebens,
welches nur eines ſtaatlichen Hintergrundes bedarf, um ſeine ganze
Bedeutung für die Geſittung der Welt zu entfalten. Eben deßhalb
kann keine Darſtellung des Bildungsweſens ausreichen, die nicht Deutſch-
lands Ordnungen und Principien zum Grunde legt. Wir glauben
aber eben deßhalb hier zu genügen, wenn wir den Charakter deſſelben
auf die angeführten drei Elemente zurückführen.
— Wir glauben nun, daß es nicht ohne Intereſſe ſein wird, an
dieſe drei großen Grundformen noch eine kurze Charakteriſtick des Bil-
dungsweſens der Staaten anzuſchließen, welche mehr oder weniger die
oben aufgeſtellten Elemente in eigenthümlicher Weiſe bei ſich verarbeitet
haben. Sie ſind es eigentlich, an denen man, wir möchten ſagen das
Verſtändniß der elementaren Verhältniſſe und Rechte des Bildungs-
weſens am beſten erprobt, weil bei ihnen die Formen oft die Sache
verdecken, oft die Namen etwas Verſchiedenes bedeuten, und doch am
Ende bei genauerer Betrachtung die großen Grundformen wieder als
das beherrſchende Element hervortreten. Ein genaues Eingehen auf
dieſelben würde freilich alles Maß unſerer Arbeit überſchreiten; eine
Ueberſicht aber würde werthlos ſein, wenn ſie nicht eben ſtets alle
einzelnen Verſchiedenheiten mit den allgemeinen Grundlagen in Har-
monie ſetzte. Wir rechnen dahin namentlich Belgien, Holland, Italien
und Rußland. So weit es thunlich iſt, werden wir im beſondern
Theil auf die beſondern Beſtimmungen derſelben zurückkommen.
Belgiens Bildungsweſen. Das Bildungsweſen Belgiens iſt
ſeiner Form nach dem franzöſiſchen nachgebildet; es bedarf aber einer
beſondern Berückſichtigung, weil ſein Inhalt durch den, weder in
Deutſchland noch in England in analoger Weiſe beſtehenden Begriff
des „Enseignement libre“ bedingt wird. Das Enseignement libre
bedeutet nicht eben die Frage nach der Freiheit von der Schulpflicht
und eben ſo wenig unmittelbar die Freiheit der Lehrordnung, ſondern
weſentlich die Frage nach dem Recht der Geiſtlichkeit in Beziehung
auf die Errichtung und die Leitung der Schulen. Wie in ganz Belgien,
ſo treten auch in Beziehung auf das Bildungsweſen die weltliche und die
geiſtliche Partei beſtändig und aufs ſchärfſte einander entgegen und der
Zuſtand des Reiches iſt in dieſer Beziehung als ein beſtändiges Com-
promiß zwiſchen beiden Faktoren anzuſehen. Die Geſchichte der betr. Geſetz-
gebung iſt der Ausdruck des Kampfes dieſer Elemente. Man ſieht
in Belgien daher zwei Syſteme des Bildungsweſens neben einander
[54] laufen wie in Frankreich; aber während hier das eine Syſtem das der
ſtaatlichen, das zweite das der privaten Bildung iſt, ſteht in Belgien
das Syſtem des geiſtlichen Bildungsweſens ausgeprägt und beſtimmt
neben dem ſtaatlichen, und der Hauptpunkt des öffentlichen Rechts des
letztern iſt hier die Frage nach dem Verhältniß der Staatsgewalt und
ihrer Oberaufſicht zu dem kirchlichen Bildungsweſen. Bis 1830 war
natürlich das belgiſche Recht dem holländiſchen untergeordnet; ſeit dieſer
Zeit aber entwickelt ſich jener ſpecifiſche Charakter des erſtern und findet
ſeinen Ausdruck in der Geſchichte der Geſetzgebung.
Schon am 12. October 1830 hob die belgiſche proviſoriſche Regie-
rung alle Beſchränkungen des Unterrichts auf; die Regierung behält
nur das Recht, bei Bewilligungen von Subſidien aus der Staatscaſſe
Bedingungen vorzuſchreiben. Das war das Enseignement libre, deren
Folge nach den einſtimmigen Urtheilen aller Fachmänner eine vollſtän-
dige Desorganiſation des Unterrichtsweſens war. Die erſten Verſuche,
in einer feſten Geſetzgebung die Staatsgewalt ihre natürliche Stellung
wiederzugeben, mißlangen. Der Entwurf vom 31. Juli 1834, der das
geſammte Bildungsweſen, alſo auch die Berufsbildung nach franzöſiſchen
Kategorien umfaßt hatte, kam nicht zur Geltung; ſtatt deſſen ward
der Elementarunterricht erſt durch das Geſetz vom 23. September 1842,
und das Vorbildungsweſen für die Fachbildung durch das Geſetz von
1830 geordnet, dem in neueſter Zeit die Verordnung vom 1. September
1866 gefolgt iſt, welche als die Grundlage des wirthſchaftlichen Vor-
bildungsweſens angeſehen werden muß. Die Grundzüge des auf dieſe
Weiſe entſtandenen Bildungsſyſtems beruhen auf einem eigenthümlichen,
ſeit 1842 mehrfach im Einzelnen genauer beſtimmten Zuſammen-
wirken der weltlichen und geiſtlichen Behörden in der Inſpektion
der Volksſchule, während dieſe Gemeinſchaft für die gelehrten Bil-
dungsanſtalten zwar nicht gilt, dafür aber die volle Freiheit der geiſt-
lichen Körperſchaften beſteht, neben den ſtaatlichen Vorbildungs- und
Fachbildungsanſtalten ſelbſtändig zu errichten. Darin beſteht der Cha-
rakter des belgiſchen Bildungsweſens; im Uebrigen iſt es der Form
nach franzöſiſch, dem Inhalte nach wendet es ſich mehr und mehr dem
deutſchen Syſteme zu.
Vergl. le Roy bei Schmid Encykl. I. S. 491 ff. mit der Literatur
und einer kurzen Geſchichte. Was Batbie (Droit de public l’adm. VI.
p. 158) ſagt, iſt ſehr unbedeutend. Dagegen iſt de Fooz (Droit admini-
stratif Belge T. IV. T. II.) ſehr genau im Einzelnen, jedoch unter
ſorgfältiger Vermeidung jeder eingehenden Betrachtung der obigen Punkte,
die wir unten ſpeciell hervorheben werden.
[55]
Holland. Vielleicht in keinem Theile des öffentlichen Rechts iſt
der tiefe Unterſchied zwiſchen Belgien und Holland ſo greifbar und
zugleich hiſtoriſch einſchneidend, als im Bildungsweſen. Holland iſt
auch in dieſer Beziehung viel zu wenig bekannt. Nur die Franzoſen
haben die Bedeutung deſſelben zu würdigen verſtanden und Couſins
Werk: De l’Instruction publique en Hollaude (1836—37, 2 Bde.) muß
noch immer als die beſte publiciſtiſche Arbeit über das frühere Recht
außerhalb Hollands angeſehen werden. Die Holländer ſelbſt haben
eine ſehr tüchtige und reiche Literatur über ihr Bildungsweſen (ſ. le Roy
bei Schmid Encykl. voc. Holland Bd. III. S. 558). Die Deutſchen
beſitzen merkwürdiger Weiſe gar keine Arbeit darüber, mit Ausnahme
des erwähnten kleinen Aufſatzes von le Roy, der übrigens die ganze
Frage ſehr einſeitig auffaßt. Brachelli hat jedoch in ſeinen Staaten
Europas S. 557 und 565 eine ſehr werthvolle Statiſtik der Zuſtände auch
des holländiſchen Bildungsweſens gegeben. De Boſch-Kemper (Nederl.
Staatsregt 1866) iſt leider ſehr karg (§. 32). Die Grundverhältniſſe des
holländiſchen Bildungsweſens, das namentlich im Gebiete der wirthſchaft-
lichen Berufsbildung von ſehr großem Intereſſe iſt, ſind folgende.
Das holländiſche Bildungsweſen war bis zum Anfang unſeres
Jahrhunderts dem deutſchen in allen formellen und unweſentlichen
Punkten gleichartig; es zeichnete ſich aber namentlich durch eine bei-
nahe vollſtändige Unabhängigkeit der örtlichen Schulverwaltung von
der Staatsverwaltung aus. Die franzöſiſche Eroberung brachte in dieſe
Zerfahrenheit dieſelbe gewaltſame Einheit hinein, welche Frankreich aus-
zeichnet; jedoch beſchränkte ſich die Epoche der franzöſiſch-holländiſchen
Geſetzgebung weſentlich auf das Volksſchulweſen. Ihr Hauptwerk war
das Geſetz vom 3. April 1816, das jedoch von der franzöſiſchen Geſetz-
gebung über die Instruction primaire ſich durch die in Holland
unverwüſtliche Selbſtändigkeit der Gemeinden und ihres Antheils am
Volksſchulweſen weſentlich unterſcheidet, und doch durch ſeine formelle
Verwandtſchaft mit der franzöſiſchen Geſetzgebung einen ſehr großen,
wenn auch wenig beachteten Einfluß auf das franzöſiſche Geſetz von
1833 hatte (ſ. unten). Die „lateiniſchen Schulen“ und Univerſitäten
blieben unberührt. Aus dieſer Epoche nun blieb der holländiſchen Re-
gierung das Streben, ihre Gewalt über das Unterrichtsweſen möglichſt
beizubehalten. Dagegen kämpften die Gemeinden und Lehrkörper. In
der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts ſiegte die erſtere. Den Aus-
druck dieſes Sieges gab der Artikel 224 der Verfaſſung von 1817.
„Der öffentliche Unterricht iſt eine beſtändige Angelegenheit (voorwerp)
der Regierungsthätigkeit (van de zorg der Regering). Der König
gibt jährlich über die Verwaltung und den Zuſtand (van den staat)
[56] des niedern, mittlern und höhern Unterrichts den General-Staaten
einen ausführlichen Vorſchlag.“ Die Macht, welche die Regierung da-
durch gewann, ward nur nach langem Streit gebrochen durch die neue
Verfaſſung. Die obigen Sätze blieben in der neuen Geſtalt, aber es
ward der Grundſatz dazwiſchen eingeſchoben, daß der öffentliche Unter-
richt durch ein Geſetz geregelt werden und daß derſelbe frei ſein ſoll
für jedermann, jedoch unter den geſetzlichen Bedingungen der Fähig-
keit und Sittlichkeit der öffentlichen Lehrer. In Folge dieſes Grund-
ſatzes werden nun neben dem beſtehenden Recht der gelehrten Berufs-
bildung (hooges onderwiis), Geſetz vom 2. Auguſt 1815, ein ausführ-
liches Geſetz über den Volksunterricht (lager onderwiis) vom 13. Auguſt
1857 und ein zweites über den ſog. mittlern Unterricht (meddelbore
onderwiis) vom 2. Februar 1864 gegeben. Das erſtere Geſetz iſt die
Ausführung des Artikels 194 in der neuen Verfaſſung: „Es wird überall
im Reiche durch öffentliche Anſtalten (im Text van overheidswege)
genügender öffentlicher Schulunterricht (lager onderwiis) gegeben.“ Das
letztere iſt in der That das einzige uns in Europa bekannte ſyſtematiſche
Geſetz über die wirthſchaftliche Berufsbildung in ihrer Scheidung von
der gelehrten Bildung, und in hohem Grade beachtenswerth. Das
leitende Princip für alle Zweige des Unterrichts iſt jetzt wieder
das deutſche — Organiſirung der Oberaufſicht der Regierung durch ein
Syſtem von Inſpektoren nach franzöſiſchem Muſter, aber beinahe völlige
Selbſtändigkeit der Gemeinden und Lehrkörper in allen drei Fächern.
Holland darf ſomit von ſich rühmen, daß es vielleicht am beſten von
allen europäiſchen Staaten den Werth der franzöſiſchen Formen mit
dem höheren des deutſchen Geiſtes zu verbinden gewußt hat.
Italiens Bildungsweſen. Was Italiens Bildungsweſen
betrifft, ſo hat daſſelbe einen doppelten, weſentlich verſchiedenen Inhalt,
den thatſächlichen und den geſetzlichen. Was den erſtern betrifft, ſo
fehlen zwar im Einzelnen zuverläſſige Angaben; im Allgemeinen jedoch
iſt wohl kein Zweifel an der in allen Gebieten erſcheinenden Ungleich-
mäßigkeit und Ungleichartigkeit deſſelben. Es iſt vollſtändig unthun-
lich, vor der Hand von einem faktiſch geordneten „italieniſchen“ Bil-
dungsweſen zu reden als von einem für das neue Königreich irgendwie
zur Geltung gebrachten Ganzen. Daſſelbe iſt vielmehr ſo ſehr im
Werden begriffen, daß jede ſtatiſtiſche Darſtellung faſt unmöglich, und
da wo ſie noch möglich iſt, Gefahr läuft, binnen Kurzem nicht mehr
zuzutreffen. Dagegen muß man geſtehen, daß die Regierung in der
kurzen Zeit ihres Beſtehens, wenigſtens auf dem Gebiete der Geſetz-
gebung, wirklich Außerordentliches geleiſtet und ein ſyſtematiſch durch-
geführtes öffentliches Bildungsrecht geſchaffen hat, wie es an Klarheit
[57] und Vollſtändigkeit kaum ein zweites gibt. Da nun dieſes ganze Ge-
biet noch viel zu ſehr im Werden iſt, ſo weit es ſich um die wirkliche
Durchführung dieſer Geſetze handelt, ſo möge es genügen, dieſelben
hier im allgemeinen Theile zu charakteriſiren, ohne daß wir bei den
Darſtellungen des Syſtems im Einzelnen darauf zurückzukommen brau-
chen. Dieſe Charakteriſtik iſt um ſo nothwendiger, als ſelbſt Schmid
in ſeiner Encyklopädie nicht in der Lage war, eine Darſtellung des
italieniſchen geſetzlichen Bildungsweſens zu finden; wir haben die gelten-
den Geſetze bereits in der Auſtria (Jahrgang 1865 und 1866) voll-
ſtändig mitgetheilt, und auf dieſer Grundlage wird es nicht ſchwer ſein,
die Grundzüge des Geſammtbildes zu geben.
Die Geſetzgebung Italiens über ſein neues Bildungsweſen iſt auf
allen Punkten von zwei Elementen zugleich beherrſcht. Das franzöſiſche
Element hat dieſer Geſetzgebung den Sinn für die vollſtändige Codification
und für formelle Klarheit und Vollſtändigkeit gegeben, und leider auch
gewiſſe ſpezifiſche Ausdrücke in die Geſetze hineingebracht, welche nur
geeignet ſind, den Inhalt und ſeine wahre Bedeutung zu verwirren.
Dieſer Inhalt nämlich und der ganze Geiſt, der durch dieſe geſammte
Geſetzgebung hindurch geht, iſt dagegen ein vollſtändig deutſcher,
obwohl ſich Italien wenigſtens bisher wohl gehütet hat, das anzuer-
kennen. Es iſt gar kein Zweifel, daß dieſer ſpecifiſch deutſche Geiſt
und ſelbſt die einzelnen deutſchen Grundgedanken von der öſterreichiſchen
Organiſation und Geſetzgebung hergenommen ſind, die Italien mit dem
Erwerb der Lombardei und Venedigs eigentlich erſt kennen gelernt hat.
Die italieniſche Geſetzgebung hat mit vollkommen richtigem Tact die
drei ſyſtematiſchen Gebiete, die Elementar-, die Berufs-, und die
künſtleriſche Bildung geſchieden, und in der zweiten eine ſtrenge Schei-
dung der gelehrten von der wiſſenſchaftlichen Bildung conſequent durch-
geführt. Es iſt das wiſſenſchaftliche Syſtem, in einem großen geſetz-
geberiſchen Syſtem verkörpert und mit Vermeidung aller der Unfrei-
heiten und Beſchränktheiten, welche das Bildungsweſen Frankreichs auf
einer ſo niedern Stufe halten. Dieß Syſtem iſt folgendes.
Was zunächſt die Elementarbildung betrifft, ſo iſt daſſelbe
durch das allgemeine Unterrichtsgeſetz vom 13. November 1859 mit
dem techniſchen zugleich geordnet (ſ. unten), jedoch haben eine Menge
leicht verſtändliche Gründe dahin gewirkt, hier die Ausführung am
ſchwierigſten zu machen. Von ihr wiſſen wir daher am wenigſten,
da dieſelbe nach deutſchem Muſter den Gemeinden zum großen Theil
überlaſſen iſt. Es iſt keine Frage, daß die definitive Organiſation und
ſpeziell das Lehrerbildungsweſen erſt dann kommen kann, wenn die
große Frage der Kirchengüter und die Stellung der Geiſtlichkeit erledigt
[58] iſt. Denn Italien hat keinen Lehrerſtand. Es wird auch kein tüch-
tiges Elementarbildungsweſen bekommen, bis es ſich einen ſolchen ge-
bildet hat, der von der Geiſtlichkeit unabhängig iſt. Hier vermag die
Regierung allein eben ſo wenig als in Frankreich; man fühlt das und
hat daher die Grundlage einer beſſern Geſtaltung durch das Princip
der Selbſtverwaltung gelegt, das ſeiner Zeit ſeine Früchte tragen wird.
Dagegen iſt innerhalb des Syſtems der Berufsbildung einerſeits
das gelehrte Berufsbildungsweſen, anderſeits das wirthſchaftliche ſowohl
in Vor- als Fachbildung durchgreifend geordnet.
Die hohen Schulen zunächſt haben ihre neue Organiſation durch
Reglement vom 1. September 1865 bekommen, mit Aufnahms- und Ab-
gangsprüfung, Schulgeld und Disciplin durch den Lehrkörper. Die
Gynnaſien mit 5 Klaſſen ſind von den Lyceen mit 3 Klaſſen unter-
ſchieden; das letztere hat vorwiegend reale Vorbildung zum Inhalt. Die
Oberaufſicht hat der Provinzialſchulrath. — Die Univerſitäten haben
allerdings ihren alten Charakter erhalten; allein einerſeits hat das
Univerſitäts-Reglement vom 14. September 1862 die Disciplin dem
Senate theils beſtätigt, theils übertragen; andrerſeits iſt nach dem Muſter
der öſterreichiſchen Univerſitäten durch Verordnung vom 8. Oktober 1865
die ſtaatswiſſenſchaftliche Bildung mit der juriſtiſchen verbunden, was
ein höchſt weſentlicher Fortſchritt gegen früher iſt. Daneben gibt es
nach franzöſiſchem Muſter durch Verordnung vom 3. September 1865
ein Baccalaureat für Naturwiſſenſchaften, was unverſtändlich iſt.
Das wirthſchaftliche Bildungsweſen iſt nun nach deutſchem Vor-
gange von dem gelehrten geſchieden, unter gänzlicher Beſeitigung des
franzöſiſchen Bifurcationsſyſtems. Zunächſt iſt das Syſtem der Schulen
für Erwachſene (neben den Sonntags- und Fortbildungsſchulen)
allgemein anerkannt und unter ſtaatliche Anerkennung und Unter-
ſtützung geſtellt; die Regierung gibt jährlich 300,000 L. an Ge-
meinden, Geſellſchaften und Körperſchaften, welche ſolche Schulen er-
richten. Das Gewerbeſchulweſen iſt dann ſpeziell organiſirt durch
das „Reglement für den induſtriellen und gewerblichen Unterricht“ vom
28. Oktober 1865 (Auſtria 1866 S. 114 f.) An der Spitze ſteht (fran-
zöſiſcher Name, deutſche Sache) die Normalſchule, welche die Lehrer
bildet. Die Schüler haben Aufnahmsprüfung; Programm iſt der Unterricht
in gewerblichen Fächern aller Art, einer oder mehreren Abtheilungen; die
Lehrer bilden einen Lehrkörper und ſtehen unter dem Aufſichtsrathe,
der wieder unter dem Unterrichtsrathe ſteht. Freie Schulen können
daneben das Recht als öffentliche haben (pareggiati). — Die wirth-
ſchaftliche Fachbildung iſt vertreten theils durch die techniſche Schule
(Ingenieurſchule, Geſetz vom 13. November 1859), theils durch die
[59] verſchiedenen Landwirthſchulen (Auſtria 1864 Nr. 47, nebſt Programm).
Das vollſtändigſte Bild aller dieſer Spezialſchulen aber, das in hohem
Grade lehrreich im Einzelnen iſt, gibt der Bericht des Miniſters Pepoli
über die „techniſchen Inſtitute, die Kunſt- und Gewerbeſchulen, die
Schifffahrtsſchulen, die Bergbauſchulen und die Landwirthſchaftsſchulen“
an die Deputirten-Kammer vom 4. Juli 1862 (992 Seiten in Quart),
der den großen Vorzug hat, alle auf dieſe Inſtitute bezüglichen Ge-
ſetze und Verordnungen vollſtändig mitzutheilen, ſo daß hier bis
zum Jahre 1862 nichts zu wünſchen bleibt. Wir dürfen dieſe amtliche
Publikation den Fachmännern dringend empfehlen. — Die amtliche
Organiſation des ganzen Bildungsweſens beſteht in dem Unterrichts-
rath für das Reich (auf Grundlage des Geſetzes vom 13. November
1859, Verordnung vom 17. Oktober 1860 und 16. Februar 1861 er-
richtet, nebſt Geſchäftsreglement vom 21. November 1865), mit drei
Sektionen (Elementar-, Mittel- und höhere Unterrichtsanſtalten), den
Provinzialſchulräthen (Verordnung vom 1. September 1865)
und den Schulräthen und Aufſichts-Commiſſion (Verordnung vom
9. November 1862, 14. Auguſt 1864 und 18. October 1865, Auſtria
1866 S. 114). So weit die Statiſtik möglich, hat ſie Brachelli in
ſeinen Staaten Europas S. 533 ff. für alle Theile aufgenommen.
Das Bildungsweſen der Schweiz. Der Charakter des Bil-
dungsweſens der Schweiz iſt im Vergleich zu den übrigen europäiſchen
Staaten ein eben ſo eigenthümlicher als der ihres übrigen Verwal-
tungsrechts, und wir müſſen denſelben hier genauer bezeichnen, da es
nicht gut thunlich iſt, darauf ſpäter zurückzukommen. Bekanntlich beruht
das öffentliche Recht der Schweiz wie das Nordamerikas auf dem lei-
tenden Grundſatz, den wir im Hinblick auf unſere ganze Darſtellung
der Verwaltungslehre hier ganz beſtimmt bezeichnen können. Die Ver-
faſſung iſt Sache des Bundesſtaates, die Verwaltung iſt Sache der
einzelnen Kantone, und die Verfaſſung der Kantone erſcheint daher
ihrerſeits weſentlich nur als die verfaſſungsmäßige Formulirung der
Selbſtverwaltung. Von dieſer örtlichen Geſtalt der Verwaltung ſind
nur einzelne Theile ausgenommen, wie Poſt- und Telegraphenweſen,
allein nicht ausgenommen iſt das Bildungsweſen. Die Grundlage des
öffentlichen Rechts deſſelben iſt daher die Ordnung nach den Kantonen.
Jeder Kanton hat ſein Bildungsweſen, und für jeden dieſer Kantone
beſteht ſeine Geſetzgebung. Es iſt uns nicht möglich geweſen, alle dieſe
Geſetze zur Einſicht zu bekommen. Der Bundesrath ſelbſt hat keine maß-
gebende Gewalt; er hat weſentlich nur die Aufgabe, das ſtatiſtiſche Mate-
rial für das ganze Unterrichtsweſen zu ſammeln, was er durch ſein ſehr
gut geleitetes eidgenöſſiſches ſtatiſtiſches Bureau thut. Eine Zuſammen-
[60] ſtellung des geltenden Rechts der Schweiz über alle die Verwaltung
betreffenden Punkte gibt es unſeres Wiſſens nicht; hier hat die Verwal-
tungslehre noch alles zu thun, und die Statiſtik iſt ihr weit voraus.
Die Hauptergebniſſe der letztern nun ſind für das Bildungsweſen folgende.
Man muß die Schweiz in Beziehung auf das letztere in zwei große
Gruppen theilen, die deutſche und die franzöſiſch-italieniſche. Die erſte
hat im Großen und Ganzen die deutſchen Grundſätze, die letztere die
franzöſiſchen angenommen, jedoch mit dem allerdings weſentlichen Unter-
ſchiede, daß zwar das franzöſiſche Inſpektionsweſen beſteht, daß aber
wohl allenthalben die Theilnahme der Gemeinde an der Schulüber-
wachung bei dem Volksunterricht grundſätzlich anerkannt iſt. Im
Ganzen iſt das Bildungsweſen ein ſehr vorgeſchrittenes und ſo viel wir
ſehen, iſt das Syſtem der Bildungsanſtalten von der unterſten Elemen-
tarſchule bis zum Univerſitätsweſen vortrefflich ausgebildet. Die ge-
lehrte Bildung iſt von der wirthſchaftlichen faſt in allen Kantonen ge-
ſchieden, und jede derſelben mit eigenen Inſtituten verſehen. Beinahe
in allen, ſelbſt in den franzöſiſch-italieniſchen, iſt die höhere Bürger-
ſchule von der Elementarſchule getrennt, in eigenen Anſtalten vertreten
und nimmt einen ſehr ehrenwerthen Platz ein. Das Vorbildungsweſen
wird in mehreren Kantonen unter der Bezeichnung „Kantonsſchule“ im
Gegenſatz zu den „Gemeinſchulen“ (Volks- und Bürgerſchule) zuſammen-
gefaßt und enthält alsdann die gelehrte Bildung in Gymnaſien (nach
den Grundſätzen des deutſchen Gymnaſialweſens) und Realſchulen.
Knaben- und Mädchenſchulen ſind allenthalben getrennt. Für die Lehrer-
bildung ſind Seminarien in vielen Kantonen errichtet; ebenſo ſchließt
ſich an das Volksbildungsweſen in mehreren Kantonen ſogar ein ſehr
genau ausgearbeitetes Syſtem von Wiederholungs- und Sonntagsſchulen.
Im wirthſchaftlichen Bildungsweſen ſind die Gewerbeſchulen von den
Realſchulen geſchieden, in einigen Kantonen ſogar, wie in Baſel und
Zürich, noch beſondere Realgymnaſien nach deutſchem Vorbilde errichtet.
Dagegen ſcheint — die einzelnen Geſetze fehlen uns — das Princip
der Schulpflicht auf dem Standpunkt von Frankreich, Holland, Belgien
und Italien zu ſtehen, als bloße Verpflichtung der Eltern, die Kinder
zur Schule zu ſenden. Faſt in allen Kantonen beſtehen Privatanſtalten.
Die Univerſitäten ſind ganz auf deutſcher Grundlage; ebenſo das neue
Polytechnikum. Das Eigenthümliche des Bildungsweſens der Schweiz
wird demnach eben nicht in dem Organismus der Anſtalten, ſondern
vielmehr in der Selbſtändigkeit der Verwaltung und Geſetzgebung je
nach den Kantonen liegen, und hier geſtehen wir, daß unſere Quellen
nicht ausreichen, und daß wir auf künftige Arbeiten hinweiſen müſſen.
Jedenfalls wird auch das nicht weſentlich von den Grundſätzen der
[61] deutſchen Bildungsordnungen abweichen. Es muß jedoch hinzu gefügt
werden, daß gerade in neueſter Zeit erſt die Kantonsgeſetzgebung für
das Schulweſen, und ſpeziell für die Elementarbildung ſehr thätig
geweſen iſt. Charakteriſtiſch iſt übrigens ein durchſtechender Mangel an
jeder Art künſtleriſcher Bildungsanſtalten, die kaum durch einige Mu-
ſeen und gewerbliche Zeichnungsanſtalten, wie in Baſel, Bern und
Zürich, dürftig erſetzt werden; das iſt der eigentliche Mangel des
ſchweizeriſchen Bildungsweſens. Die leitenden Geſetze dürften folgende
ſein. Baſel: Hauptgeſetz für Volks- und Vorbildungsanſtalten von
1852. Neue Ordnung der Univerſität von 1856. Genaue Statiſtik
aller einzelnen Inſtitute und Anſtalten in der Zeitſchrift für
ſchweizeriſche Statiſtik (Bern 1865, Nr. 1) die in drei Sprachen
Aufſätze enthält. — Teſſin (italieniſch): Die Schulgeſetzgebung datirt
eigentlich erſt von 1830 (Hauptgeſetz vom 10. Juni 1831, und allge-
meines Schulreglement vom 28. Mai 1832); jedoch die öffentliche Unter-
ſtützung der Gemeindeſchulen erſt durch Reglement vom 1. Juni 1835
bewilligt, wenn die Gemeinden ſelbſt das Ihrige thun. Neben den
Volksſchulen fünf Gymnaſien und ein Lyceum (Reglement vom 5. No-
vember 1855, als Stellvertreter der Univerſität). Zeitſchrift Nr. 3. —
Genf: Grundgeſetz das Geſetz sur l’instruction publique von 1848.
Hier herrſcht das franzöſiſche Muſter, jedoch mit dem weſentlichen, dem
deutſchen Bildungsweſen entnommenen Unterſchiede, daß das Bifurcations-
ſyſtem nicht in den Gymnaſien gilt (ſ. unter Frankreich, volkswirthſchaft-
liche Vorbildung), ſondern die Instruction classique im Collège (Unter-
gymnaſium) und Gymnase von der Ecole industrielle getrennt iſt; da-
gegen iſt es in der „Académie“ (Stellvertreterin der Univerſität) mit
dem ganzen verwirrten Apparat der bacheliers ès sciences physiques,
bacheliers ès sc. mathématiques und bacheliers ès lettres wieder auf-
genommen (Zeitſchrift Nr. 3). In Zürich iſt das Hauptgeſetz das neue
Unterrichtsgeſetz vom 23. December 1859, mit Schulpflicht der Kinder
vom ſechsten Jahre für die Volksſchule, Errichtung von Ergänzungsſchulen,
Unterordnung der Schulen unter die Gemeindeverwaltung, jedoch unter
Oberaufſicht des Regierungsrathes. — Thurgau: Geſetz über das Unter-
richtsweſen vom 5. April 1853, mit ausgeſprochener Schulpflicht bis
zum 15. Jahre. Die Statiſtik der übrigen Kantone jedoch leider ohne
Angabe der Geſetzgebung (in Zeitſchrift Nr. 10—12). Der reiche Stoff,
der hier zuſammengeſtellt iſt, wird übrigens dann leicht zu bewältigen ſein,
wenn man die Einzelheiten auf die unten aufgeſtellten Kategorien reducirt.
Im Allgemeinen übrigens dürfte kein Zweifel ſein, daß der Charakter des
ganzen ſchweizeriſchen Bildungsweſens weſentlich deutſch iſt, und daß
derſelbe mit wenigen Ausnahmen ſelbſt unter den franzöſiſchen Formen
[62] immer mehr durchgreift. Statiſtiſche Nachrichten übrigens auch in Stein,
Handbuch der Geographie und „die Schweiz“ von Brachelli.
Schwedens Bildungsweſen. Auch das Bildungsweſen in
Schweden liefert wie das der Schweiz einen Beweis dafür, daß während
das gelehrte Bildungsweſen auf den hiſtoriſchen Grundlagen des Rechts
der Univerſitäten und Gymnaſien nach dem europäiſchen Rechte der
erſteren und nach den deutſchen Vorbildern für die letzteren ziemlich
feſt geordnet iſt, das Volksſchulweſen und die wiſſenſchaftliche Bildung
den eigentlichen Gegenſtand der Geſetzgebung in unſerer Zeit bilden,
jenes, indem es eine Organiſation empfängt, dieſes, indem es neu
eingeführt wird. Die zwei Univerſitäten in Upſala und Lund haben
jedoch auch eine neue Organiſation vom 2. April 1852 erhalten. Die
Volksbildung zunächſt beruht auf dem Unterſchied der niederen und der
höheren Elementarſchulen. Das Hauptgeſetz iſt das Unterrichtsgeſetz
vom 29. Januar 1859, das ſich über den niederen und den höheren
Unterricht zugleich verbreitet. Die Oberaufſicht hat, nach den ſtrengen
Anſichten, die in Schweden gelten, der Biſchof (als Ephorus), der ſeine
Aufgabe durch einen von ihm eingeſetzten Inſpektor vollziehen laſſen
kann. Seit der Verordnung vom 15. Juni 1861 ſind jedoch königliche
Inſpektoren angeſtellt (Inſtruktion vom 30. December 1863) mit der
Verpflichtung, perſönlich die Schulen, ihre Intereſſen und Bildungs-
thätigkeit zu überwachen, und Berichte an das Ekkleſiaſtik-Departement
abzuſtatten. Die Verwaltung der Lehrangelegenheiten hat der Rektor,
in Verbindung mit dem Lehrercollegium; die Profeſſoren heißen Lektoren.
Der niedere Elementarunterricht war bereits im Weſentlichen geordnet
durch einen Schulrath, beſtehend aus dem Ortspfarrer und mehreren
Gemeindemitgliedern. Die Schulpflicht der Kinder iſt ausdrücklich
anerkannt. Die Gemeinde gibt das Schulhaus und die Lehrmittel, die
Regierung gibt den Gehalt; doch können die niederſten Elementarſchulen
(Sma Skolar) frei von Theilnehmern errichtet werden. (Verordnung
vom 23. April 1858.) Für die Errichtung von höheren Elementar-
ſchulen werden Staatsunterſtützungen bewilligt. Die Schullehrerſemi-
narien, bereits 1842 geordnet, haben weitere Entwicklung gefunden
durch Verordnung vom 29. September 1853, welche das Princip der
Seminariſtenprüfungen einführt und die letzteren fordert. Eben ſo iſt
für Lehrerinnen ein eigenes Seminar in Stockholm errichtet, ſo wie ein
gymnaſtiſches Centralinſtitut. Die höheren Elementarſchulen ſind im
Grunde Realſchulen, neben denen die Gymnaſien (zuerſt unter Guſtav
Adolf errichtet) als Vorbildung für die Univerſitäten beſtehen. Die-
ſelben haben 7 Klaſſen; nebenbei wird in Muſik, Technik und Gymnaſtik
Unterricht ertheilt. An Akademien und wiſſenſchaftlichen Geſellſchaften
[63] iſt Schweden reich genug; auch iſt die Kunſtbildung bei ihm gut ver-
treten. Die Fachliteratur iſt, ſo weit wir ſehen, nicht ſehr ausgiebig.
Die Darſtellung von E. Fahräus, Administratif och Statistisk Hand-
bock (1864), gibt eine gute Ueberſicht über die ſtatiſtiſchen Verhältniſſe.
Rußlands Bildungsweſen. Ueber das, bisher ſo gut als
unbekannte Bildungsweſen Rußlands liegen jetzt zwei Arbeiten vor,
welche in hohem Grade bedeutend genannt werden müſſen. Die eine:
„Zur Geſchichte und Statiſtik der Gelehrten- und Schulanſtalten des
k. ruſſ. Miniſteriums der Volksaufklärung,“ die zweite: „Beiträge zur
Geſchichte und Statiſtik der Gelehrten- und Schulanſtalten des k. ruſſ.
Miniſteriums der Volksaufklärung.“ Nach officiellen Quellen bearbeitet
von C. Woldemar, beide von 1865. Es iſt das Verhältniß dieſer beiden
gleichzeitigen Publikationen zu einander nicht ganz klar; im Allgemeinen
mag bemerkt werden, daß die erſtere mehr einen ſtatiſtiſchen, die zweite
mehr einen hiſtoriſchen Charakter hat. Es iſt wohl ſehr ſchwer, ſich ein
durchgreifendes Geſammtbild von den hier trefflich geordneten und ſehr
reichlich mit Material ausgeſtatteten Mittheilungen zu entwerfen. Im
Großen und Ganzen iſt der Elementarunterricht noch weit zurück, wie
Woldemar ſelbſt geſteht (1 Schule auf 1500, 1 Schüler auf 70 Ein-
wohner). Das Elementarſchulweſen ſelbſt beſteht theils aus Parochial-
ſchulen mit 1 und 2 Klaſſen, im Ganzen 1846 Schulen des Miniſteriums
oder Kronſchulen, theils aus geiſtlichen Schulen. Für das ganze Volks-
ſchulweſen iſt jedoch unter dem 14. Juli 1864 ein neues Statut erlaſſen,
nach welchem die Verwaltung und Leitung dieſer Schulen den Kreis- und
Gouvernementsſchulen untergeordnet werden ſoll (Woldemar S. 51).
Die Gymnaſialbildung iſt bedeutend vorgeſchritten; Privatlehranſtalten
auf gleicher Stufe ſcheinen nur in Petersburg und Moskau zu beſtehen.
Unklar iſt das Verhältniß der Kreisſchulen; übrigens ſollen dieſelben
demnächſt entweder zu Gymnaſien oder zu höheren Volksſchulen werden
(Woldemar S. 50). Für die Fachbildung iſt überhaupt das charakteriſtiſche
Merkmal der Mangel jeder eigenen wirthſchaftlichen Bildungsanſtalt;
das Syſtem der Realſchulen einerſeits, und das Syſtem der wirthſchaft-
lichen Fachbildungsanſtalten ſcheint nach dieſen Angaben gänzlich zu fehlen.
Eben ſo ſind die Specialbildungsanſtalten bei den Univerſitäten nicht
vorhanden oder mehr nur angedeutet. Der Geiſt übrigens, der in neuerer
Zeit dieſe Bewegung im Unterrichtsweſen belebt, ſcheint wenigſtens nach
der Intention der Regierung ein ſehr verſtändiger und freiſinniger zu
ſein. Mit welchem Ernſt die Sache, ſpeciell in Beziehung auf das Volks-
bildungsweſen, betrachtet wird, davon gibt die Darſtellung Wolde-
mars wohl ein ſchlagendes Zeugniß. Speciell bedeutſam iſt, was er
über das neue Princip des Volksſchulgeſetzes von 1863 ſagt: „Die neue
[64] Schulordnung beſeitigt die Centraliſation der Volksſchulen. In ökono-
miſcher Beziehung werden dieſelben von den Stadt- und Landgemeinden,
von Privatperſonen und denjenigen Reſſorts verwaltet, auf deren
Koſten ſie gegründet ſind; in pädagogiſcher Beziehung ſind ſie den
Schulräthen untergeordnet, die durchaus nicht den Charakter bureau-
kratiſcher Inſtitutionen haben.“ In hohem Grade intereſſant iſt, was
über die Univerſitäten geſagt wird. Charakteriſtiſch iſt der Mangel der
theologiſchen Fakultät (mit Ausnahme von Dorpat) und die Scheidung der
philoſophiſchen Fakultät in die hiſtoriſch-philologiſche und phyſiſch-mathe-
matiſche. Die Staatswiſſenſchaften erſcheinen in der juriſtiſchen. Für
die Technologie beſteht ein (ſtändiſches) Inſtitut in Riga ſeit 1864, nebſt
einigen Feldmeſſerinſtituten (Brachelli, Staaten Europas, S. 570).
Warum hat Woldemar dieſe Inſtitute weggelaſſen? Eine kurze Mit-
theilung über Woldemars Publikation mit guten Bemerkungen von Beer
und Hochegger in der Zeitſchrift für die öſterreichiſchen Gymnaſien,
Jahrgang 1866, 2. Heft. (Fortſchritte des Schulweſens in Europa).
Serbiens Bildungsweſen. Es möge uns hier geſtattet ſein,
zum Schluß dieſer kurzen Charakteriſtiken einen Blick auf das Bildungs-
weſen eines jungen Staats zu werfen, der mit großer Energie und
anerkennungswerthem Verſtändniß in einer, wir ſagen geradezu bewun-
derungswerth kurzen Zeit, bei ſich ein Bildungsweſen entwickelt hat,
das, allerdings unter dem Drucke der Verhältniſſe ſchwer arbeitend,
dennoch in bedeutſamer Weiſe den Nachbarländern vorangeht. Das
Syſtem des ſerbiſchen Bildungsweſens zeichnet ſich nämlich dadurch aus,
daß es alle Elemente ſpeciell des deutſchen Bildungsweſens in ſich auf-
genommen hat, ſo weit ſeine Verhältniſſe es erlauben. Es beſitzt näm-
lich ein ziemlich über das ganze Land ausgebreitetes Syſtem der Volks-
(oder Normal)-ſchulen für die männlichen und weiblichen Schüler, das
Syſtem der Gymnaſien mit der Unterſcheidung zwiſchen Ober- und
Untergymnaſien, die Realſchulen, und ſelbſt Realgymnaſien, dann eine
Fachſchule für Theologie, und endlich eine Akademie, welche den Athe-
näen entſpricht. Wir glauben dabei nicht auf Einzelnes eingehen zu
ſollen, bemerken aber, daß die Regierung in allem Weſentlichen das
ſehr gute öſterreichiſche Syſtem für das Recht der Schulen und für den
Lehrplan zum Grunde gelegt, und die einzelnen Beſtimmungen deſſelben
faſt in allen Hauptſachen durchgeführt hat. Dabei bleiben jedoch einige
Punkte theils unklar, theils unfertig, theils noch verſchieden. Die
Realgymnaſien (bis jetzt 4) ſind in der That nur dem Namen nach
von den Realſchulen verſchieden, und haben die lateiniſche Sprache
nicht aufgenommen. Eigentliche Gewerbeſchulen fehlen natürlich in dem
noch gewerbloſen Lande. Die Gymnaſien ihrerſeits haben vielmehr den
[65] Charakter der eigentlichen Realgymnaſien, indem auf ihnen zwar Latei-
niſch, aber kein Griechiſch gelehrt wird. Die Hochſchule oder Akademie
in Belgrad iſt eine eigenthümliche, durch die Verhältniſſe bedingte
Verſchmelzung der höchſten wiſſenſchaftlichen mit der wirthſchaftlichen
Bildung, die jedoch noch nicht Umfang und Recht einer Univerſität hat.
Sie enthält bis jetzt drei Fakultäten, die philoſophiſche (ohne Vor-
leſungen über Philoſophie, dagegen mit allen Fächern der Staats-
wiſſenſchaft, und wieder ohne Griechiſch); die techniſche, die Gegenſtände
der allgemeinen Technologie — ohne Zeichnen — enthaltend, jedoch
mit der ganz verſtändigen Verpflichtung der Techniker, die Staatswiſſen-
ſchaften zu hören, und die juridiſche. Für die Medicin ſind die Serben
noch auf fremde Univerſitäten angewieſen. Höchſt merkwürdig iſt unmittel-
bar an der türkiſchen Gränze die Errichtung einer höheren Mädchenſchule,
namentlich für Erzieherinnen, die ganz rationell organiſirt iſt. Für
alle dieſe Fächer gilt der Grundſatz, daß die Regierung dieſelben noch
erweitern kann. Die ſtudirende Jugend arbeitet mit großem und patrio-
tiſchem Eifer. Im Jahre 1866 hatte die philoſophiſche Fakultät 21,
die techniſche 15, die juridiſche 162 Studirende; die Theologie hatte
188 Studirende. In allen Gymnaſien waren 1828 Schüler, in den
männlichen Normalſchulen 17,407, in den weiblichen 2400, in der weib-
lichen höheren Schule 134 Schüler und Schülerinnen. Die Lehrkörper
haben die innere Selbſtverwaltung, doch ſind die Lehrer ſelbſt noch reine
Staatsbeamte. Dieſe Andeutungen werden genügen, um den erſten
poſitiven Schritt, den Deutſchland in der Organiſation
des ſerbiſchen Bildungsweſens nach dem Orient gethan
hat, zu charakteriſiren. (Vergl. die zwar kurze, aber gute Zuſammen-
ſtellung der Beſtimmungen über das Unterrichtsweſen in Serbien bei
Tkalac, Staatsrecht des Fürſtenthums Serbien, 1838, S. 183 ff.)
Rumänien. Der junge Staat hat mit richtigem Verſtändniß die
Herſtellung des öffentlichen Bildungsweſens für eine ſeiner erſten und
wichtigſten Aufgaben gehalten, und das betreffende Geſetz vom 25. Nov.
1864 (in 418 Artikeln) erlaſſen. Daſſelbe iſt in der That ſehr weit-
läuftig, und beweist vor allem, daß hier für das Bildungsweſen noch
alles zu ordnen iſt. Es darf uns nicht wundern, daß allerlei Dinge
darin vorkommen, die unverſtändlich bleiben, wie z. B. die Beſtimmung,
daß in den unterſten Volksſchulen bereits das „Verwaltungsrecht“ auf-
genommen iſt (Art. 32), und daß eine Univerſität entſtehen ſoll, wenn
mehrere Fakultäten in einem Gebäude zuſammen lehren. Im Uebrigen
iſt es eine an ſich nicht unintereſſante Zuſammenſtellung der Grundſätze
über das Bildungsweſen theils auf deutſcher, theils auf franzöſiſcher
Grundlage. Ein einheitlicher und beherrſchender Gedanke fehlt, wie es
Stein, die Verwaltungslehre. V. 5
[66] wahrlich bis jetzt auch noch an einer ſelbſtändig wirkenden und mehr
als formell daſeienden Behörde fehlt. Die Grundzüge des ganzen
Syſtems iſt die Unterſcheidung in den Volks-, den mittelbaren und
den höheren Unterricht, die entweder öffentlich oder privatim abgehalten
werden können. Der Volksunterricht beruht auf den Elementar-
ſchulen in Stadt und Land, mit (beabſichtigten) beſonderen Mädchen-
ſchulen; Schulpflicht unter Verantwortlichkeit der Eltern und Vormünder
von 8—12 Jahren; Lehrmittel gibt der Staat, Schulhaus und Heizung
die Gemeinde; jede Gemeinde hat die Pflicht, wenigſtens eine Schule
zu haben; Prüfungen öffentlich und halbjährlich. Der mittlere
Unterricht iſt in das Syſtem der Gymnaſien und Lyceen einerſeits
und das der Realſchulweſen andererſeits geſchieden. Die Gymnaſien
haben 4, die Lyceen 7 Klaſſen, mit Inſpection nach franzöſiſchem
Muſter, und Abgangszeugniſſen („Diplomen“), Semeſtralprüfungen,
und ſehr vielen Lehrgegenſtänden; neben den alten Sprachen auch
deutſch, italieniſch, franzöſiſch und ſogar Nationalökonomie, ſo daß
ſie den Charakter von Vorbildungsanſtalten nur noch in geringem
Maße haben und vielfach als Berufsbildungsanſtalten gelten dürfen.
Das Realſchulſyſtem iſt daneben nicht recht klar geworden; die
Realſchulen erſcheinen vorzugsweiſe als Privatunternehmungen mit ſtaat-
licher Unterſtützung. Sie gehen mindeſtens direkt in wirthſchaftliche Be-
rufsbildungsanſtalten über als Agrikultur-, Induſtrie- und Handels-
ſchulen, ohne beſtimmte Gränze. Für die Lehrerbildung ſind eigene
Seminarien errichtet, werden vom Staate unterhalten und haben für
die Volksſchullehrer 4, für die Mittelſchulen 7 Klaſſen, mit Abgangs-
prüfungen. Die wiſſenſchaftliche Berufsbildung beruht auf den vier
Fakultäten, die aber ſelbſtändig ſtehen und Diplome verleihen; neben
ihnen iſt die wirthſchaftliche Berufsbildung in den Ingenieur- und
Forſtſchulen vertreten. Das Geſetz ordnet dann im II. Abſchnitt die Ver-
waltung, an deren Spitze der Unterrichtsminiſter ſteht, dem ein Unter-
richtsrath in doppelter Form beigegeben iſt, ein dauernder, und der
jährlich nur einmal zuſammentretende General-Unterrichtsrath. Jeder
Theil des Unterrichtsweſens hat dann wieder ſeine Specialverwaltung;
Grundſatz für die Volksſchule iſt die Verwaltung durch die Gemeinde,
unter Aufſicht des Staats, für die Mittelſchule und die Fakultäten die
Verwaltung durch den Lehrkörper. Bei allen Mängeln iſt dieß Geſetz
im Ganzen als ein höchſt bedeutſamer Fortſchritt zu betrachten, und
wenn es nur unter den gegebenen Beſtimmungen auch wirklich ins
Leben treten kann, ſo wird es gewiß höchſt heilſam wirken. Aber frei-
lich wird eben die Ausführung die wahre Schwierigkeit enthalten.
[[67]]
Beſonderer Theil.
Syſtem.
Die Aufgabe des nunmehr folgenden beſonderen Theiles iſt es
nun, den großen Bildungsproceß ſelbſt, der durch das Leben jedes ein-
zelnen Volkes hindurch geht, und ſeine im öffentlichen Rechte des
Bildungsweſens der einzelnen Staaten gegebene concrete, zur objektiv
geltenden Ordnung durch das Geſetz erhobene Geſtalt in ſeine einzelnen
Gebiete und Theile aufzulöſen, und das für jeden dieſer Theile
Geltende ſelbſtändig darzuſtellen.
Dabei haben wir und jeder, der das Gleiche unternimmt, eine
zweifache Aufgabe; und bei dem geradezu unerſchöpflichen Reichthum
an Einzelheiten in dieſen Gebieten iſt es unerläßlich, ſich darüber
Rechenſchaft abzulegen.
Einerſeits kommt es natürlich zuerſt darauf an, das Beſtehende
zu ſammeln. Das iſt bei dem gegenwärtigen Zuſtande der Wiſſenſchaft
nur noch bis zu einem gewiſſen, keineswegs hohen Grade möglich. Es
iſt außerdem unmöglich, alles Geſammelte mitzutheilen, da eine ſolche
Arbeit jeden der Verwaltungslehre entſprechenden Umfang weit über-
ſchreiten würde. Für dieſen Theil der Aufgabe muß daher die Ver-
waltungslehre theils auf reine Geſetzſammlungen, theils auf Mono-
graphien verweiſen. Und es iſt daher in der Natur der Sache begründet,
daß die allgemeine Verwaltungslehre hier formell unvollſtändig iſt und
bleiben wird.
Andererſeits aber iſt es von nicht geringerer Wichtigkeit, das ganze
öffentliche Bildungsrecht als ein organiſches und einheitliches Syſtem
zu erkennen und den Inhalt dieſes Syſtems als den äußeren Maß-
ſtab an die Ausbildung der geiſtigen Verwaltung in jedem
Lande anzulegen. Die Aufſtellung eines ſolchen Syſtems enthält eine
große Zumuthung an jeden, der ſich mit dieſer Frage beſchäftigt. Es
enthält die Forderung, daſſelbe entweder als die feſte, organiſche Grund-
lage, den Knochenbau des Bildungsweſens anzuerkennen, oder ein
[68] anderes aufzuſtellen. Denn es iſt ganz unmöglich, ohne ein an-
erkanntes Syſtem zu einer Vergleichung zu gelangen; das Syſtem ſelbſt
iſt eben dasjenige, worin das Verſchiedene ſeinen gemeinſamen und
gleichartigen Ausdruck findet, und das Aufſtellen des letzteren iſt ja
eben die Vergleichung. Dagegen beſteht auch der Werth eines Syſtems
nicht eben bloß in der in ihm liegenden formellen Möglichkeit, den
ſonſt unüberſehbaren Stoff zu bewältigen, ſondern es enthält zugleich
die Grundlage des objektiven Urtheils über die Dinge, die man mit
ihm meſſen muß. Und ſo ſtehen wir nicht an, hier das Syſtem an
ſich der ſyſtematiſchen Darſtellung vorauszuſenden.
Die allgemeine Grundlage dieſes Syſtems iſt nun zunächſt aller-
dings der Unterſchied zwiſchen der Elementar-, der Berufs- und der
allgemeinen Bildung, wie wir denſelben bereits bezeichnet haben. Allein
dieſe Grundlage entwickelt ſich nun zu einem viel verzweigten Organis-
mus, und zwar vermöge des in dem Weſen aller Bildung liegenden
Satzes, daß am Ende jeder Theil der Bildung wieder Vorausſetzung
und zugleich Conſequenz aller andern Theile iſt. Es iſt nun für die
formale Auffaſſung von entſchiedener Wichtigkeit, ſich hier über die-
jenigen Ausdrücke zu einigen, welche eben dieß Verhältniß theils im
gewöhnlichen Leben, theils in der Wiſſenſchaft bezeichnen. Dieſe Aus-
drücke ſind nun je nach dem Hauptgebiete des Bildungsweſens ver-
ſchieden. Wir nennen nämlich denjenigen Theil der Bildung, der
äußerlich für ſich ein abgeſchloſſenes Ganze bildet, aber ſich ſelbſt als
ein innerlich abgeſchloſſenes nicht anerkennt, die niedere, und den
Theil, der dieſen Abſchluß bringt, die höhere Bildung. Wo dagegen
eine Bildung ihren Werth ſelbſt nur in der Vorbereitung für eine
andere Stufe ſucht, ſprechen wir von einer Vorbildung, während
die Stufe der fertigen Bildung die Fachbildung iſt. Daher ſprechen
wir von einer niederen und höheren Elementarbildung, oder von einer
Vorbildung und Fachbildung im Berufsbildungsweſen, während bei der
allgemeinen Bildung, die an ſich naturgemäß und ungemeſſen dem Ein-
zelnen überlaſſen bleibt, von dieſer Unterſcheidung keine Rede iſt. Dem-
gemäß zerfällt zunächſt die Hauptabtheilung der Elementar- und Be-
rufsbildung je in zwei Abtheilungen.
Dazu kommt nun als zweites ſyſtematiſches Element die große,
unſerem Jahrhundert eigene Thatſache, daß ſich die Berufsbildung
ſelbſt wieder in drei Haupttheile getheilt hat, die wir unten näher zu
bezeichnen haben, die gelehrte, die wirthſchaftliche und die künſt-
leriſche Berufsbildung. Jedes dieſer Gebiete hat ſeine eigene Ge-
ſchichte, ſeine eigenen Anſtalten, ſein eigenes Recht, ſeine eigene Ent-
wicklung in jedem Lande, und hier iſt zugleich die Verſchiedenheit bei
[69] weitem am größten. Für jeden dieſer drei Theile gilt aber ferner der
Satz, daß derſelbe ſich in ein Syſtem der Vorbildung und der Fach-
bildung ſcheidet; nur ſind beide allerdings in jedem Theile nicht bloß
dem Namen, ſondern auch dem Inhalte nach weſentlich anders. Das
Auftreten dieſer Elemente erzeugt daher eine weitere, zweite Entwick-
lung des formalen Syſtems, und in dieſem Theile iſt es unabweisbar,
für beſtimmte Richtungen und Anſtalten beſtimmte Namen zu acceptiren,
weil es ſonſt durchaus unmöglich bleibt, zu einem klaren, das Ganze
umfaſſenden Ueberblick zu gelangen, da hier die Gränzen ſchon an ſich
oft nur ſehr unſicher in der Wirklichkeit gezeichnet ſind.
Das dritte und ſchwierigſte Element der ſyſtematiſchen Auffaſſung
liegt nun aber wieder in dem höchſten Weſen aller Bildung, nach
welchem alle Formen und Stadien derſelben wieder eins ſind. Dieſe
innere geiſtige Einheit empfängt ihren Ausdruck in dem, was wir die
Uebergänge von einem beſtimmten Zweige der Bildung zu einem
andern nennen. Dieſe Uebergänge nämlich erſcheinen in doppelter Weiſe.
Entweder liegen ſie ſchon in der bildenden Thätigkeit einer beſtimmten
Anſtalt ſelbſt, oder ſie ſind in ſelbſtändigen, eigends die Funktion
des Ueberganges enthaltenden Anſtalten gegeben. Sie ſind von der
höchſten Wichtigkeit, weil ſie die Träger der lebendigen und freien Be-
wegung bedeuten und ſind; aber wie alle Uebergänge bedrohen ſie die
formale Auffaſſung mit Verwirrung; jedoch nur ſo lange, als man ihre
Natur nicht kennt. Wir dürfen ſie daher jetzt unbedenklich zulaſſen.
Auf dieſer Grundlage nun wird es leicht ſein, das formale Schema
des beſonderen Theiles den einzelnen poſitiven Ausführungen vorauf-
zuſenden. Die Ausfüllung der betreffenden Kategorien mit den ge-
gebenen Syſtemen der öffentlichen Bildungsanſtalten eines einzelnen
Landes würden dann die ſtatiſtiſche Geſtalt, die Ausfüllung mit den
bezüglichen Geſetzen das öffentliche Recht des Bildungsweſens geben.
Eine ſolche tabellariſche Schematiſirung hat das Recht, entweder als
Beginn oder als letzte Formulirung des Studiums zu gelten. Es kann
dieſelbe nie genügen, aber es ſollte auch niemals fehlen. Wir ſtellen
es daher dem poſitiven Recht und ſeiner Darſtellung unbedenklich vor-
auf — nicht als Wiſſenſchaft, ſondern als reine Form derſelben, die
nicht mehr ſein will als ſie ſein darf.
[70]
Bildungsweſen.
Erſter Theil.
Das Volksſchulweſen.
Allgemeiner Theil.
I. Der Elementarunterricht an ſich.
Obwohl allerdings die Verwaltungslehre Begriff und Weſen des
Elementarunterrichts als bekannt vorauszuſetzen hat, ſo muß derſelbe
hier dennoch in ſo weit feſtgeſtellt werden, als er ſeinerſeits dem öffent-
lichen Rechte zum Grunde liegt.
Der Elementarunterricht enthält nämlich ſeinem formellen Begriffe
nach diejenigen Kenntniſſe, welche zwar an und für ſich ohne In-
halt und Werth, dennoch die Bedingungen für die Erwer-
bung aller Bildung, ihres Werthes und ihres Inhalts ſind.
Allerdings kann man nun auf Grundlage dieſes Begriffes den-
ſelben für ſich betrachten. Allein ſeinem Weſen nach iſt er doch kein
abgeſchiedenes, äußerlich im geſammten Bildungsweſen getrenntes Ganze.
Er iſt vielmehr in Wahrheit ein Theil des großen organiſchen Pro-
ceſſes, den wir das Bildungsweſen des Volkes nennen. Seine wahre höhere
Bedeutung liegt nicht in dem was er iſt, ſondern in dem was er mög-
lich macht. Sein volles und richtiges Verſtändniß wird daher eben
nur in dieſem ſeinem Verhältniß zum Ganzen der geiſtigen Entwicklung
gefunden. Und das muß hervorgehoben werden, weil es in ganz ent-
ſchiedener Weiſe auf das öffentliche Recht derſelben einwirkt.
Jenes organiſche Verhältniß des Elementarunterrichts zum ge-
ſammten Bildungsweſen erzeugt nämlich die beiden Momente, welche
ihrerſeits einer höhern Auffaſſung deſſelben ihren Inhalt geben: die Frage
nach ſeiner formellen Begränzung und die nach ſeinem ſocialen Inhalt.
Zuerſt nämlich folgt aus demſelben, daß es nicht möglich iſt, für
den Elementarunterricht an ſich eine feſte äußerliche Gränze zu ſetzen.
[72] Es iſt daher nicht möglich, theoretiſch dasjenige auszuſcheiden, was
man als ſpecifiſchen „Elementarunterricht“ zu betrachten hat. Es er-
gibt ſich vielmehr, daß dieſe Gränze mit dem Stande des geſammten
Bildungsweſens nothwendig wechſeln muß, und zwar ſo, daß, je
ſtrenger die Unterſchiede in den ſocialen Bildungsverhältniſſen ſind,
deſto ſchärfer auch die Gränze des Elementarunterrichts gezogen wird,
während umgekehrt, je freier das geiſtige Leben eines Volkes iſt, um
ſo mehr Gegenſtände und Aufgaben auch in den Elementarunterricht
hineingezogen werden. Man muß daher ſagen, daß zwar die Unter-
richtslehre (Pädagogik) ſtets von der geiſtigen Natur der Kinder ab-
hängt, daß aber die Unterrichtsgegenſtände vielmehr von den Fak-
toren bedingt werden, welche überhaupt den Gang des Bildungsweſens
beherrſchen. Erſt in dieſem Sinne ſprechen wir von einer Geſchichte
des Elementarunterrichts. Dieſelbe beſteht in der Entwicklung ſeines
Umfanges und Inhaltes als Grundlage der allgemeinen Bildung, welche
ihrerſeits gefordert und geſetzt werden durch die Entwicklung der geſell-
ſchaftlichen Ordnungen, und von welcher die Geſchichte der Lehrmethode
ganz unabhängig iſt.
Es folgt daraus von ſelbſt, daß der Elementaruntericht nicht bloß
ein geiſtiger, ſondern zugleich ein gewaltiger ſocialer Faktor iſt.
Da nämlich die elementaren Kenntniſſe an und für ſich keinen
Werth haben, ſondern dieſen erſt in ihrer Verwendung für den Erwerb
der geiſtigen und wirthſchaftlichen Güter überhaupt empfangen, dieſe
aber ihrerſeits die Erfüllung und höchſte Verwirklichung der Idee der
Perſönlichkeit bilden, ſo empfängt damit der Erwerb dieſer elementaren
Bildung den Sinn und die praktiſche Bedeutung, daß der, der ſie er-
wirbt, vermöge derſelben alle geiſtigen und wirthſchaftlichen Güter
nach ſeiner Individualität zu gewinnen berufen und berechtigt
wird. In der That findet bei der reinen elementaren Bildung aller
Zeiten und Völker dieſelbe auch nie einfach um ihrer ſelbſt willen,
ſondern naturgemäß ſtets als Mittel und unabweisbare Bedingung für
den Erwerb der höhern Güter ſtatt. Es iſt unmöglich, bei ihnen ein-
fach ſtehen zu bleiben.
Indem nun aber dieſe geiſtigen Güter ihrem Weſen nach für alle
gemeinſam und gleich ſind, ſo iſt der Elementarunterricht zugleich das,
in Geſtalt des Erwerbes dieſer Güter ausgedrückte Princip der gleichen
Beſtimmung aller Perſönlichkeit, und damit des Rechts derſelben.
Inhalt, Umfang, Allgemeinheit und Freiheit des Elementarunterrichts
bedeuten daher in ihrem Kreiſe die Kraft und die Richtung der ganzen
ſocialen Bewegung einer Epoche, und zwar in der Weiſe, daß die Ent-
ſtehung und Ausdehnung deſſelben ſo wie ſeine organiſche Verbindung
[73] mit dem allgemeinen Bildungsweſen den großen Proceß der Hebung
der niedern Klaſſen überhaupt, ſpeziell aber den der Erhebung
derſelben zu dem geiſtigen Leben der höhern bedeuten. Es iſt daher
ohne eine wohl organiſirte Elementarbildung gar kein wahrer ſocialer
Fortſchritt möglich; wo derſelbe dagegen fehlt, fehlt das große ver-
mittelnde geiſtige Glied für den Uebergang von einer Klaſſe zur andern,
mit ihm das Element der Ausgleichung der Klaſſengegenſätze, und der
ſociale Kampf wird daher ein roher und gewaltſamer, der die Vernich-
tung der Wohlfahrt zum Inhalt und die Deſpotie zur Folge hat. Nur
der tüchtige und allgemeine Elementarunterricht kann das ändern, faſt
mehr noch durch ſein Princip als durch ſeinen Inhalt. Wo eine gute
und fortſchreitende Elementarbildung vorhanden iſt, da iſt einerſeits
zwar der ſociale Fortſchritt der niedern Klaſſe ein unaufhaltſamer,
aber da wird mit der ſteigenden Bildung auch die gewaltſame Revo-
lution mehr und mehr unmöglich. Der innere und lebendige Zuſammen-
hang des geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens mit dem geſellſchaftlichen
iſt ein ſo unzweifelhafter, daß dieſe Sätze keines Beweiſes bedürfen,
ja daß die gegenſeitige Einwirkung und der ſociale Proceß nicht einmal
eines Bewußtſeins von Seiten des Unterrichts bedarf; er vollzieht ſich
von ſelbſt. Aber die Verwaltungslehre muß ihn kennen, weil auf ihm
das öffentliche Recht des Elementarunterrichts überhaupt beruht.
II. Das Volksſchulweſen. — Die Principien ſeines Rechts und ſeiner Ver-
waltung.
Aus dem Elementarunterricht, welcher der Pädagogik gehört, ent-
ſteht nun das Volksſchulweſen, indem der Elementarunterricht
Gegenſtand der Verwaltung und des öffentlichen Rechts wird.
Das Volksſchulweſen iſt daher der durch die Verwaltung principiell
als nothwendig anerkannte und durch die Anſtalten der Verwaltung
(im weiteſten Sinn) öffentlich dargebotene Elementarunterricht.
Die Lehre vom Volksſchulweſen iſt daher eine ganz andere als die
Lehre vom Elementarunterricht, ſowohl in ihrem Inhalt als in ihrer
Geſchichte, obwohl die erſtere natürlich die letztere zu Vorausſetzung
hat. Während die letztere mit dem Weſen der Bildung an ſich zu thun
hat, hat die erſtere es mit dem Staate zu thun; während die letztere ihre
Grundlagen aus der Pſychologie und Pädagogik nimmt, muß die erſtere
ſie aus der Verwaltung nehmen. Alles richtige Verſtändniß wird daher
gefährdet, ſo wie man beide Standpunkte, Begriffe und Aufgaben
vermengt.
Die Elemente des Volksſchulweſens in dieſer Scheidung vom Elemen-
tarunterricht ſind nun folgende:
[74]
I. Allerdings findet aller Elementarunterricht urſprünglich und
immer zunächſt in der Familie ſtatt. Allein hier erſcheint er ſtets als
als das untergeordnete und zufällige Moment neben demjenigen, was
die Familie als ſolche vorzugsweiſe zu leiſten fähig und berufen iſt.
Dieß iſt die Bildung des Charakters und die Einfügung deſſelben in
die allgemeine Sitte, die geiſtige und geſellſchaftliche Ordnung. Dieſe
Bildung nennen wir die Erziehung. Sie hat ihre Grundſätze und
Regeln für ſich und bildet kein Gebiet der unmittelbaren Thätigkeit der
Verwaltung. Allein in der Erziehung bleibt der Unterricht zufällig in
Vorhandenſein und Umfang, willkürlich in ſeiner Geſtalt, abhängig von
allen Verhältniſſen der Familie, namentlich aber von den Beſitzesverhält-
niſſen derſelben. Der Elementarunterricht wird daher, ſo lange er auf
die Familie angewieſen iſt, durchſchnittlich ein ſehr ungleichartiger, und
bei der ganzen Klaſſe der Nichtbeſitzenden meiſt ganz hinfälliger. Mit
ihm wird die allgemeine Bildung und der in ihr enthaltene Fortſchritt
ſelbſt zufällig, unorganiſch und für die ganze Klaſſe der Nichtbeſitzenden
faſt geradezu unmöglich. Von dieſer Thatſache hat das Volksſchulweſen
zunächſt im Allgemeinen auszugehen.
Wenn es nämlich trotzdem feſtſteht, daß die Elementarbildung die
erſte Bedingung, und ihre formelle Allgemeinheit und Gleichheit die
formelle Vorausſetzung aller gleichen und gemeinſamen Entwicklung des
Geſammtlebens bleibt, ſo tritt die entſcheidende Frage auf, wie ſich die
Verwaltung des Staats als Vertreter der höchſten Geſammtintereſſen
zu dieſer abſoluten Vorausſetzung alles höheren geiſtigen Lebens ihrer-
ſeits erhalten ſoll.
Die Antwort darauf liegt principiell im höchſten Begriffe der Ver-
waltung ſelbſt.
Iſt es nämlich wahr, daß die Verwaltung ihrem Princip nach über-
haupt dieſe abſoluten Bedingungen des allgemeinen Fortſchrittes her-
ſtellen muß, ſo muß ſie auch dieſe Elementarbildung als eine ihrer
Aufgaben anſehen. Sie kann dieſelben daher weder von der zufälligen
Auffaſſung in der einzelnen Familie, noch von den Beſitzverhältniſſen
derſelben ganz abhängig laſſen; der Elementarunterricht iſt vielmehr,
da er die Bildung des Kindes enthält, eine dem Einzelnen nicht
mehr ganz zu überlaſſende Bedingung ſeiner Entwicklung, und die Ver-
waltung muß demnach hier wie immer dieſe Bedingung herſtellen, ſo
weit ſie vom Einzelnen nicht ertheilt werden kann. Daraus ergibt ſich
das allgemeine leitende Princip alles Volksſchulweſens, das iſt alſo die
Elementarbildung als Gegenſtand der Verwaltung. Die Verwaltung
muß dieſelbe von den Zufälligkeiten des Familienlebens unabhängig
machen und ſie ſelbſtändig neben die Erziehung hinſtellen; zweitens
[75] muß ſie für dieſelbe mit Anſtalten ſorgen, welche für jeden die Möglich-
keit bieten, ſie auch unabhängig von den Familienverhältniſſen zu ge-
nießen. Dieſe Anſtalten der Verwaltung für den von der Erziehung
getrennten Elementarunterricht ſind die Volksſchulen, und die Ge-
ſammtheit der auf dieſelben bezüglichen Vorſchriften und Thätigkeiten
bilden das Volksſchulweſen.
Das Volksſchulweſen iſt demnach, als das öffentliche Recht
des Elementarunterrichts, ein organiſcher ſelbſtändiger Theil der
Verwaltung. Sie iſt keine Pädagogik, ſondern enthält nur die An-
wendung der Grundſätze der letztern, ſo weit die Verwaltung den
Elementarunterricht ſelbſt herſtellt. Die Gränzen und Formen nun,
innerhalb deren dieß letztere geſchieht, bilden ihrerſeits dem Inhalt
dieſes öffentlichen Rechts oder der Verwaltung des Volksſchulweſens.
II. Der Elemente dieſes öffentlichen Rechts aber liegen allerdings
in dem Weſen des Elementarunterrichts.
Der Elementarunterricht erſcheint zunächſt als die Grundlage des
geſammten geiſtigen Lebensproceſſes des Volkes. Die Nothwendigkeit
des letztern erzeugt ſomit den Grundſatz für die Verwaltung, den Elemen-
tarunterricht ſelbſt zu einer Pflicht für den Einzelnen zu machen. So
entſteht der Begriff und das Recht der Schulpflicht im allgemeinen
Sinne des Wortes, welche neben der Pflicht der Einzelnen die Schule
für den Elementarunterricht zu beſuchen, zugleich die Pflicht für die
Verwaltung enthält, dieſe Schule mit ihren Bedingungen auch herzuſtellen.
Dieſelbe Wichtigkeit des Elementarunterrichts aber erzeugt nun mit der
allgemeinen Geſittung zugleich das Bedürfniß nach demſelben bei dem Ein-
zelnen, und damit ein von Einzelnen ſowie von den Selbſtverwaltungs-
körpern ausgehendes privates Elementarunterrichtsweſen. So weit ein
ſolches auf eigenen Mitteln beruht, tritt für daſſelbe der allgemeine Grund-
ſatz aller Funktionen der Einzelnen ein, welche eine öffentlich rechtliche
Aufgabe erfüllen. Das Recht der Verwaltung erſcheint hier als Ober-
aufſicht über jede private Elementarunterrichtsanſtalt und fällt damit
unter die Thätigkeit des öffentlichen Volksſchulweſens. Wo aber die Ver-
waltung aus was immer für Gründen ſolche Anſtalten zum Theil aus
öffentlichen Mitteln unterſtützen muß, da erweitert ſich dieß Recht der Ober-
aufſicht zur Theilnahme an der Verwaltung einer ſolchen Anſtalt, natur-
gemäß in dem Maße, in welchem die Unterſtützung ſelbſt eine größere iſt.
Auf dieſe Weiſe erſcheint das öffentliche Recht der Elementarbildung
in den drei Grundformen der Schulpflicht mit der ganzen dazu
gehörigen Verwaltung für die eigentlich öffentliche Volksſchule, der
Oberaufſicht für die Privat-Elementarſchule und der Theilnahme
an dem Schulweſen der Selbſtverwaltungskörper und Vereine.
[76]
III. Der Inhalt dieſes öffentlichen Rechts bezeichnet nun das-
jenige, was die Verwaltung in Beziehung auf den Elementarunterricht
in jenen drei Formen zu thun hat. Dieß nun beſtimmt ſich aus dem
Verhältniß der Elementarbildung zu der eigentlichen allgemeinſten Auf-
gabe der Verwaltung, der Entwicklung des Geſammtlebens der
geiſtigen Welt.
In der That wird der Elementarunterricht erſt dann ſeiner Idee
entſprechen, wenn er ſeinen pädagogiſchen Grundgedanken nach nicht
als etwas für ſich beſtehendes, ſondern als ein organiſcher Theil des
großen Bildungsproceſſes erſcheint, der durch den Erwerb der geiſtigen
Güter die Geſammtheit erheben und veredeln, namentlich aber die niedere
Klaſſe zur höhern Bildung fähig machen ſoll. Wir haben dieß Ver-
hältniß als das ſociale Element des Elementarunterrichts bezeichnet.
Die Aufgabe des öffentlichen Rechts liegt für den Staat demnach darin,
jenes ethiſch-ſociale Princip der Elementarbildung recht-
lich zum Ausdruck zu bringen, das iſt, dem Elementarunterricht
einen ſolchen Inhalt zu geben, daß er formell und materiell den orga-
ganiſchen Zuſammenhang mit der höhern Bildung, als Vorberei-
tung für dieſelbe, enthalte. In dieſem Sinn wird es das leitende
Rechtsprincip für die Verwaltung des Volksſchulweſens ſein, durch ihre
Beſtimmungen und Thätigkeiten im Unterrichte ſelbſt die Gewähr dafür
hinzuſtellen, daß der Elementarunterricht im Geiſte der ſocialen Ent-
wicklung kein abgeſchloſſenes Ganze, ſondern ein Syſtem ſei, deſſen
Schlußpunkt als Uebergang zu den höheren Bildungsſtufen erſcheine.
Das formelle Mittel dafür iſt, daß derſelbe in verſchiedenen Klaſſen
vor ſich gehe. Die Klaſſe iſt nicht bloß eine formelle Abtheilung des
Unterrichts, ſondern ſie iſt vielmehr der objektive Ausdruck des orga-
niſchen Zuſammenhangs der Elementarbildung mit der höheren Bil-
dung überhaupt, die Erklärung, daß der Elementarunterricht an und
für ſich die Aufgabe habe, nur als Stufe, Vorbereitung und Einlei-
tung zu jeder Bildung zu erſcheinen. Das Klaſſenſyſtem der
Elementarbildung erſcheint daher als die allgemeine Bedingung
der richtigen höheren Funktion der letzteren, und ſeine Aufſtellung in
höher gebildeten Völkern als ein Princip des Volksſchulweſens; es iſt
in der That das eigentlich ſociale Princip des Elementarunterrichts
und die Anerkennung deſſelben erſcheint damit als der Punkt des öffent-
lichen Rechts des letztern oder als dasjenige Princip des Volksſchul-
weſens, in welchem die höhere Idee der geſellſchaftlichen Entwicklung
in der geiſtigen Verwaltung ihren erſten und vielleicht wichtigſten Aus-
druck findet.
Der zweite große Grundſatz des Elementarſchulweſens iſt nun
[77] der, nicht bloß mehr im Allgemeinen das weibliche Geſchlecht neben
männlichen an demſelben Theil nehmen zu laſſen, ſondern ſo viel als
möglich dieſelben nach der Eigenthümlichkeit und der künftigen Beſtim-
mung derſelben in ſelbſtändigen Anſtalten neben der männlichen Schule
hinzuſtellen. Es iſt das ein großer Fortſchritt; aber wir müſſen ge-
ſtehen, daß dieß alles nur noch im Anfange iſt, und daß das eigent-
liche weibliche Element der Erziehung und Bildung noch ſtark unter dem
Gedanken leidet, daß die möglichſte Gleichartigkeit das wahre Ziel dieſer
Beſtrebungen ſein müſſe. Wir glauben, daß die hier einſchlagenden
Fragen den Fachmännern überwieſen werden ſollen; ſo viel ſcheint un-
zweifelhaft, daß wir die folgenden Sätze ohne weitere Bezeichnung zu-
gleich als für die weibliche Erziehung und Bildung annehmen dürfen,
bis es der nächſten Zukunft klar werden wird, daß es eine Lehre und
damit auch eine Bildung der Hausfrauen gibt, die dereinſt ihre eigen-
thümlichen Forderungen auch an die Verwaltung zu ſtellen wiſſen wird.
Das Mittel nun, vermöge deren die Verwaltung dieſe Aufgaben
vollzieht, ſind einerſeits die Organiſirung der Lehrerbildung, anderer-
ſeits die Beſtimmung der Lehrordnung. Das ſind die beiden großen
Gebiete, in denen der wahre Kern des Verhältniſſes der Verwaltung
zum Unterrichtsweſen liegt. Ob mit oder ohne Bewußtſein über ihre
ſociale Bedeutung öffentlich rechtlich geordnet, immer ſind es, an denen
man den eigentlichen Geiſt des öffentlichen Unterrichtsweſens verſtehen
lernt. Hier iſt die Form untergeordnet, denn der Gedanke ſchafft ſich
dieſelbe von ſelbſt; aber es iſt gänzlich einſeitig, in beiden nur päda-
gogiſche oder gar nur didaktiſche Elemente zu ſehen. Erſt in ihrer
organiſchen Beziehung zum geſammten Bildungsleben empfangen ſie ihre
wahre Bedeutung.
IV. An dieſem Standpunkt nun ſchließt ſich in einfacher Weiſe
das letzte große Element des Volksſchulweſens, die formelle Aufnahme
deſſelben in das Syſtem der Verwaltung und ihrer Organiſation.
So wie aus der Elementarbildung das Volksſchulweſen wird, ſo muß
daſſelbe das ganze Volk umfaſſen; es muß auf allen Punkten für alle
Klaſſen und Orte weſentlich gleich ſein; es muß allenthalben, ſei es
als Staats- oder Privatſchule, dieſelben Grundſätze für Lehrer und
Lehre zum Inhalt haben; die Verwaltung muß daher ihre große Funktion
als Ganzes in Ausübung bringen; ſie muß das Volksſchulweſen als
dauernden und gleichmäßigen Theil ihre Aufgabe aufnehmen und zu-
gleich mit dem geſammten übrigen Bildungsweſen in innigſte organiſche
Verbindung bringen. Dieſe Einheit deſſelben mit der geſammten
geiſtigen Welt erſcheint nun in der Verwaltung durch die Aufnahme
in das Unterrichtsminiſterium, und es iſt klar, daß das letztere
[78] daher nicht bloß ein formaler Verwaltungsorganismus iſt, ſondern als
ein großes adminiſtratives und ſociales Princip erſcheint, entſtanden
aus der Gewalt der oben dargelegten Grundſätze, und ſie wiederum
mit der ganzen Macht des Staats verwirklichend. Die innere Organi-
ſation dieſes Miniſteriums iſt dabei im Großen und Ganzen ſtets durch
gleichartige Natur ſeines Objects gleich, wenn auch im Einzelnen ſehr
verſchieden; das Weſentliche aber iſt, daß derſelbe das Volksſchulweſen
als einen ſelbſtändigen Theil ſeiner großen, das ganze geiſtige Leben
des Volkes umfaſſenden Aufgabe erfaſſe und durchführe.
Das nun ſind die leitenden Gedanken für das Volksſchulweſen.
Die Lehre von der Verwaltung deſſelben iſt daher eine, neben
der Pädagogik gänzlich ſelbſtändige. Sie gehört der Verwaltungslehre,
wie ihre Organiſation der Organiſation der Verwaltung, und ihr In-
halt iſt öffentliches Recht der Elementarbildung.
Die Darſtellung dieſes öffentlichen Rechts hat nun aber allerdings
die große Schwierigkeit, daß es bei den einzelnen Völkern ein ſehr ver-
ſchiedenes iſt. Es wird daher nothwendig, diejenigen Punkte feſtzu-
ſtellen, auf welche dieſe Verſchiedenheiten gleichmäßig zurückgeführt wer-
den können, indem ſie eben für alle gleiche Gültigkeit haben. Ohne
eine ſolche Feſtſtellung des Maßſtabes, der in keinem Volke erſchöpft,
erſt demſelben ihren wahren Charakter zuweist, gibt es keine Ver-
gleichung.
Dieſe Punkte aber beſtehen einerſeits in dem was wir den Cha-
rakter des Volksſchulweſens, anderſeits in dem, was wir ſein Syſtem
nennen. Wir werden beides bei der großen Wichtigkeit der Sache be-
ſonders behandeln und auf daſſelbe die Rechtszuſtände der großen Kul-
turvölker zurückführen.
III. Das Volksſchulweſen der großen Kulturvölker.
Dem Obigen gemäß wird nun der Charakter deſſen, was wir
im ſpecifiſchen Sinn das Volksſchulweſen nennen, nicht in den päda-
gogiſchen Elementen des Elementarunterrichts liegen. Die Begriffs-
beſtimmung dieſes Charakters, der für die ganze Wiſſenſchaft von ent-
ſcheidender Bedeutung iſt, bildet ſich vielmehr in einer andern Weiſe,
und kann nur in dieſer zum vergleichenden Verſtändniß des elementaren
Bildungsweſens führen.
Das Volksſchulweſen als Aufgabe der Verwaltung greift nämlich
zuerſt theils in die Rechtsſphäre derjenigen hinein, welche den Ele-
mentarunterricht empfangen, theils derjenigen, welche ihn geben. Zu
[79] dem Ende muß ſie ſich des hohen ethiſchen und ſocialen Princips be-
wußt ſein, welche ſie dazu berechtigt, und einen dazu beweglichen
Organismus haben; ſie muß endlich den letzteren mit denjenigen Rechten
ausſtatten, welche ſie im Namen des erſteren fordern kann. Sie iſt
daher im Volksſchulweſen ſtets eine Beſchränkung der perſönlichen
Freiheit im Namen der geiſtigen Geſammtintereſſen. Dieſe
im Volksſchulweſen liegende Beſchränkung der perſönlichen Freiheit geht
nur von der Verwaltung aus. Allein die Verwaltung ſelbſt iſt kein
einfacher Begriff. Die vollziehende Gewalt hat vielmehr gezeigt, daß
dieſelbe drei ſehr verſchiedene Grundformen hat, die ſtaatliche Verwal-
tung, die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen. Jeder dieſer drei
Organismen hat ſeinen eigenen Charakter. In der Hand eines jeden
derſelben geſtaltet ſich daher auch das Volksſchulweſen anders. Der
Einfluß der Gewalten, welche das öffentliche Recht deſſelben beſtimmen
und leiten, iſt von entſcheidender Bedeutung für die Ordnung und
ſelbſt für die Leiſtungen des Volksſchulweſens. Und nun nennen wir
die Auffaſſung der Aufgabe des Staats für den Volksunterricht,
und das organiſche und rechtliche Verhältniß jener drei Grundformen
der Verwaltung zu der Erfüllung dieſer Aufgaben oder zur Herſtellung
und Leitung des wirklichen Volksſchulweſens den Charakter deſſelben.
Dieſer allgemeine Begriff des Charakters des Volksſchulweſens be-
deutet daher wieder etwas anderes, als das Syſtem des Elementar-
unterrichts; er wird auch weſentlich durch etwas anderes gebildet; ihm
liegt nicht mehr die Pädagogik mit ihren Regeln und Principien, ſon-
dern vielmehr die Staatsidee ſelbſt zum Grunde, in dem Grade und
der Art, wie ſie in der Verwaltung jedes Volkes erſcheint. Daher denn
iſt dieſer Charakter zugleich in der Wirklichkeit etwas individuelles.
Jeder Staat hat ſeinen Charakter des Volksſchulweſens, und es kann
ganz wohl möglich ſein, daß die Pädagogik in verſchiedenen Ländern
dieſelbe, das Volksſchulweſen dagegen ein ſehr verſchiedenes iſt. Hier
iſt eben der Punkt, wo das vergleichende Verwaltungsrecht beginnt,
für welches das Folgende den Umriß geben ſoll.
Die drei Hauptgebiete, auf welche das den Charakter eines gelten-
den Volksſchulweſens bildende poſitive Volksſchulrecht ſeine Anwendung
findet, ſind nun folgende.
Jede Regierung muß zuerſt für das Volksſchulweſen ein allgemeines
Princip aufſtellen, aus welchem das Recht deſſelben hervorgeht. Dieß
Rechtsprincip beſtimmt die Schulpflicht, die Gränze der Oberaufſicht
und die wirkliche Theilnahme der Verwaltung an der Elementarbildung
des Volkes. Aus ihr geht das eigentliche Verwaltungsrecht des Volks-
ſchulweſens hervor.
[80]
Jede Regierung muß zweitens für die Vollziehung dieſer Beſtim-
mungen ihres Schulrechts einen Organismus ſchaffen, der ein dop-
pelter iſt. Einerſeits muß derſelbe das Recht vollziehen, alſo nur ein
eigentlicher Verwaltungsorganismus ſein. Andererſeits muß er in der
Organiſation der Lehranſtalten beſtehen, namentlich das Lehrer-
weſen als einen Theil der Verwaltung enthalten. In beiden liegt
der Ausdruck des pädagogiſchen Princips des Volksſchulweſens.
Endlich muß jede Regierung das letztere in ſeiner ſocialen Bedeutung
auffaſſen, und in dieſem Sinn einerſeits principiell die Lehrordnung, ander-
ſeits, als formellen Ausdruck derſelben, das Klaſſenſyſtem ordnen. Beides
zuſammen bildet das ſociale Element im Charakter des Volksſchulweſens.
In dieſen Momenten iſt nun der Maßſtab gegeben, nach welchem
die Höhe und der Werth jedes Volksſchulweſens gemeſſen werden kann.
Jedes Volksſchulweſen eines Landes beſtimmt ſich nach Schulrecht,
Schulorganismus und Umfang und Ordnung des Unterrichts. Auf
dieſe Grundverhältniſſe führt am Ende jede über die bloße Darſtellung
der gegebenen Zuſtände hinausgehende Betrachtung zurück. Und in
ihnen liegt auch das, was wir die Vergleichung, ja endlich das,
was wir die Geſchichte des Volksſchulweſens nennen.
Denn in der That iſt nicht bloß das Volksſchulweſen jedes Landes
von dem aller andern oft weſentlich verſchieden, ſondern man kann
jetzt im wiſſenſchaftlichen Sinn ſagen, daß jedes Volk ſeinen Charakter
des Volksſchulweſens hat. Es iſt eine der wichtigſten, aber auch der
ſchwierigſten Aufgaben, dieſen Charakter zu beſtimmen. Dennoch kann
ſie nicht erlaſſen werden.
Ueberblickt man nun die Staaten von Europa und ſeine großen
Verwaltungszuſtände, ſo zeigt es ſich auch hier, daß das Verwaltungs-
recht des Volksſchulweſens ſo gut wie das ganze übrige Verwaltungs-
recht die drei europäiſchen Grundformen hat, denen wir allenthalben
begegnen, die deutſche, die franzöſiſche und die engliſche. Das Weſen
des deutſchen beſteht darin, daß es von der Wiſſenſchaft erzeugt iſt,
welche in den Geſetzgebungen der einzelnen deutſchen Staaten ihren
Ausdruck gefunden hat. Das Weſen des franzöſiſchen beruht auf der
rein adminiſtrativen Organiſation, neben der ſich vermöge ihrer großen
Unvollkommenheit ein freies Elementarunterrichtsweſen ſelbſtändig und
faſt unbeaufſichtigt gebildet hat. Das Weſen der engliſchen geht aus
der völligen Abweſenheit jeder allgemeinen Verwaltungsthätigkeit und
dem Ueberlaſſenſein der Elementarbildung an die Einzelnen hervor.
Deutſchland zeigt uns daher, was die Wiſſenſchaft, Frankreich was
die Staatsverwaltung, England was die individuelle Kraft
vermag. Der Sieg, den Deutſchland auf dieſem Gebiete täglich erringt,
[81] beweist uns aber, daß es doch zuletzt keine andere wahre Leiterin auch
in den geiſtigen Fragen der Verwaltung gibt, als die freie, von ihrem
Volke und von ihren Regierungen verſtandene Wiſſenſchaft. — Alle
übrigen Staaten Europa’s haben nun neben dieſen drei Hauptkultur-
völkern keinen beſonderen Charakter. Ihr Volksſchulweſen im Ganzen
iſt allenthalben nur eine Modifikation oder Verſchmelzung deſſen,
was wir in jenen drei Ländern finden. Die Charakteriſirung derſelben
muß uns daher genügen, und kann es vollſtändig. Die Beſonderheiten
im Einzelnen ſollen dann im beſondern Theile von jeder Stelle auf-
geführt werden.
Es wird uns wohl geſtattet ſein, hier von jeder Kritik der bis-
herigen Literatur, welche ſtatt der Vergleichung nur allerdings höchſt
reichhaltige Zuſammenſtellungen geliefert hat, abzuſehen. Wenn wir
eine Hoffnung ausſprechen dürfen, ſo wäre es die, daß die künftige
vergleichende Literatur die beſte Kritik der bisherigen zuſammen-
ſtellenden durch ſich ſelbſt bilden möge. Wir bemerken nur zum Schluß,
daß das belgiſche Volksſchulweſen mit ſeinen Hauptgeſetzen vom
23. September 1842 und vom 15. Auguſt 1846 weſentlich franzöſiſche
Formen, das holländiſche dagegen mit (dem Hauptgeſetz vom 13. Aug.
1857) und eben ſo das däniſche deutſche Grundſätze hat, während
das engliſche Volksſchulweſen ohne formelle Nachfolge geblieben iſt.
(S. unten das Spezielle.)
Geſchichte.
Es iſt kein Zweifel, daß das Volksſchulweſen Deutſchlands das
beſte unter den beſtehenden, der Stolz des deutſchen Volkes iſt. Es
kommt aber für die Wiſſenſchaft darauf an, den Werth deſſelben auf
jene organiſchen Begriffe zurückzuführen, welche den Charakter des
Volksſchulweſens auch in Deutſchland bilden.
Das Rechtsprincip des deutſchen Volksſchulweſens iſt die Schul-
pflicht mit allen ihren Conſequenzen. Die Organiſation deſſelben
aber als Mittel der Verwirklichung dieſer Pflicht beruht auf der Selbſt-
thätigkeit des Volkes für ſeine eigene Elementarbildung, theils durch
das Schulweſen der Selbſtverwaltungskörper, theils durch den Privat-
unterricht, und beſteht daher weſentlich in der oberaufſehenden
Thätigkeit und ihren Organen. Das ſociale Element, die organiſche
Verbindung des Elementarunterrichts mit der höheren Bildung, iſt
durch ein ſyſtematiſch durchgeführtes Klaſſenſyſtem, an das ſich ſogar
Stein, die Verwaltungslehre. V. 6
[82] ein Prüfungsſyſtem anſchließt, in einer Weiſe anerkannt, wie es nie-
mals in der Geſchichte da war. Daher gibt es keine Volksbildung,
die mit der deutſchen in ihren Grundzügen und ihrem Beſtande ver-
glichen werden könnte. Alle Mängel, die ſie hat, liegen nicht in ihr,
ſondern in den andern Elementen des deutſchen Volksgeiſtes.
Wir ſtellen ſie daher mit den Elementen ihrer Geſchichte an die
Spitze aller Darſtellung des poſitiven Volksſchulweſens.
Die Geſchichte des Volksſchulrechts in Deutſchland iſt neben der
der Berufsbildungsanſtalten nur ſehr wenig bearbeitet; vielleicht eben
weil ſie noch ſo jung iſt. Die großen Grundzüge derſelben aber ſind
trotzdem leicht zu beſtimmen. Sie zeigen uns, wie die Volksſchule als
Bürgerſchule neben den ſtändiſchen Berufsſchulen zuerſt ſelbſtändig ent-
ſteht, wie ſie dann im achtzehnten Jahrhundert zu einer Aufgabe der
Verwaltung als kulturpolizeiliches Inſtitut wird, wie ſich aber die
Selbſtverwaltung der Gemeinde in ihr erhält, wie ſie aus den ſtän-
diſchen Körperſchaften der Berufsſchulen die Selbſtthätigkeit und das
Recht der Lehrkörper aufnimmt, wie ſie die Gemeinſchaft mit dem
Privatunterricht durch die gemeinſchaftliche Lehrerbildung aufrecht hält
und endlich den höchſten Standpunkt erreicht, indem ſie in den Ver-
faſſungen als organiſche Aufgabe der höchſten Staatsverwaltungen grund-
geſetzlich anerkannt wird; in allen dieſen Zeiten immer ihre große har-
moniſche ſociale Miſſion mit gleicher ethiſcher Hingebung erfüllend,
zur Ehre und zum Segen des deutſchen Volkes.
I. Das Volksſchulweſen beginnt, wie es ſeine Natur fordert, in
der Wiege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der Stadtgemeinde. Die
Landgemeinde, die Heimath der ſtändiſchen Herrſchaft, kennt daſſelbe
noch nicht. Aber auch in der Stadtgemeinde iſt ſie noch im ſiebzehnten
und zum Theil achtzehnten Jahrhundert Glied des geſammten Bildungs-
weſens der niederen Klaſſe. Ein Uebergang zu dem Gebiet der ſtän-
diſchen Berufsbildung in den gelehrten Schulen findet noch nicht ſtatt.
Dagegen ſteht die geſammte Volksbildung unter der kirchlichen Ver-
waltung, und dieſe wird noch im Weſtphäliſchen Frieden als dafür
naturgemäß berechtigt und berufen anerkannt. (Juſtizpolizeiordnung,
Art. V. 31. XIII. 4. 25. VII. 1. auf Grundlage des C. 1. 3. 5. de
magistris.)
Erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert wird anerkannt, daß die
elementare Bildung eine Bedingung der geſammten Wohlfahrt des
Staats ſei, und daher einen Gegenſtand der neu entſtehenden „Polizei“
und „Polizeiwiſſenſchaft“ bilde. Die ſtaatliche Verwaltung, ihren Gegen-
ſatz zu der ſtändiſchen immer beſtimmter entwickelnd, wendet ſich daher
auch dem Volksſchulweſen zu, und die junge Verwaltungslehre ſowohl
[83] im Jus naturae als in der Politia vindicirt daſſelbe dem Staate. Den
Ausdruck dieſer Bewegung bilden die Schulordnungen des achtzehnten
Jahrhunderts, die freilich anfänglich auch die Berufsſchulen (gelehrten
Schulen) mit umfaſſen, gegen Mitte des Jahrhunderts jedoch ſchon die
eigentliche Volks- oder Elementarſchule ſelbſtändig behandeln, und den
großen Grundſatz der öffentlichen Schulpflicht geſetzlich ausſprechen.
Das iſt der Beginn eines ſelbſtändigen Volksſchulweſens; denn in ihm
lag die Anerkennung der Pflicht des Einzelnen, ſich die elementaren Kennt-
niſſe zu erwerben, die Pflicht der Gemeinſchaft, die Elementarſchulen
herzuſtellen, mit der Pflicht des Staats, über Beides zu wachen. Allein
während die Schulordnungen dieß vorſchrieben, überließen ſie die Voll-
ziehung ihrer Vorſchriften den örtlichen Organen und beſchränkten die
Thätigkeit der ſtaatlichen Verwaltung auf die Oberaufſicht. Die Ge-
meinden aber trugen noch ganz den ſtändiſchen Charakter, vor allen
die Landgemeinde, ſo daß noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
die Frage entſtehen konnte, ob überhaupt „Landſtädte“ das Recht hätten,
niedere Schulen zu errichten. Schule, Lehrer und Lehre der Volksſchule
blieben daher unter der Herrſchaft der ſtändiſchen Principien, wenig
geachtet, meiſt elend ausgerüſtet, aber getragen durch das lebendige Be-
wußtſein ihrer großen, wenn auch unſcheinbaren Aufgabe, während neben
ihnen die Berufsbildungsanſtalten, reichlich ausgeſtattet und geehrt,
bereits von der freieren Bewegung getragen werden. Jene gehören noch
der Grundherrlichkeit. Die Schule iſt wie die Wege, das Armen-
weſen, die Sicherheitspolizei, eine Anſtalt des Grundherrn; der Schul-
lehrer iſt ein herrſchaftlicher Diener; die Lehre muß bei den Elementen
ſtehen bleiben, die für den halb Leibeigenen als ausreichend gelten.
Das einzige Band, welches ſie mit dem höhern geiſtigen Leben ver-
bindet, iſt und bleibt die Geiſtlichkeit, die ihr Recht an der Schule
wahrt, ohne dem Grundherrn unterthan zu ſein. Dieß Recht war noch
im vorigen Jahrhundert eine ſehr weſentliche Bedingung für die An-
erkennung der geiſtigen und ſocialen Bedeutung, ja ſogar für die Exi-
ſtenz der Volksſchule in vielen Theilen Europa’s. Man ſoll das in
dem unſirgen nicht vergeſſen.
Von dieſer Grundlage vermag ſich daher das entſtehende öffent-
liche Volksbildungsrecht der Elementarſchulen nicht loszulöſen, da eben
die Grundherrlichkeit beſtehen bleibt. Die Verwaltung der Volksſchule
beſteht daher in dieſer Zeit aus den drei Elementen der ſtaatlichen
Oberaufſicht, des Gutsherrn als örtliche (Gerichts-) Obrigkeit, und des
Ortspfarrers. Der Unterſchied zwiſchen der evangeliſchen und der katho-
liſchen Schulverwaltung beſteht nicht in einer Verſchiedenheit jener
Grundlagen, ſondern nur in dem höheren Maß der Berechtigung des
[84] kirchlichen Organismus; am deutlichſten zeigen dieß die öſterreichiſchen
Schulordnungen und die preußiſchen aus der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts.
Der geiſtige Aufſchwung des Volksſchulweſens mußte daher in dieſer
Epoche von einer andern als der rechtlichen Seite kommen.
II. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelangt die
ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft zum Bewußtſein ihres Princips, und damit
zur Erkenntniß der geiſtigen Bedingungen aller Entwicklung. Die Idee
der gleichen geiſtigen Berechtigung und Beſtimmung tritt auch in das
Bildungsweſen über. Hier erſcheint ſie negativ allerdings zuerſt in
dem Haß und Kampf gegen die auf ſtändiſchen Grundlagen ruhende
gelehrte Bildung; viel wichtiger aber iſt ihre poſitive Richtung. Die
letztere fordert zuerſt und zumeiſt, daß mit und durch den Erwerb der
Kenntniſſe zugleich der Charakter, die perſönliche geiſtige Selbſtändig-
keit und Selbſtthätigkeit ausgebildet werde. Dieſe Charakterbildung
erhebt ſich zur eigenen Wiſſenſchaft, und dieſe Wiſſenſchaft iſt die Pä-
dagogik. Für ſie iſt die Kenntniß nur ein Mittel zum Zweck, die
Bildung nur ein Moment der Erziehung. Die Aufgabe des Lehrers,
aber auch jedes Lehrers, alſo weſentlich auch des Volksſchullehrers,
iſt das Heranbilden des Individuums zu einem tüchtigen Manne. Er
ſelbſt muß daher zuerſt ein tüchtiger Mann ſein, und in ihm ſchätze
und ehre ich dann die lebendige Grundkraft der wahren Volkserzie-
hung, die alle Staatsbürger durch gleiche Bildung zu gleicher Stellung
erhebt. Das iſt das Element, welches die Pädagogik des vorigen Jahr-
hunderts in das Volksſchulweſen hinein bringt, und mit dem es daſſelbe
erhebt, veredelt, in ſeiner kläglichen Stellung zu muthiger Arbeit be-
geiſtert. In ihm lag der Keim der Befreiung von ſtändiſcher Beſchränkt-
heit; es konnte zwar das öffentliche Recht der Volksſchule noch nicht
ändern, aber es bereitete den Aufſchwung der nächſten Zeit vor, und
die Namen von Männern wie Peſtalozzi, Baſedow, Dinter und andern
werden in der Geſchichte des menſchlichen Geiſtes ewig ihren Platz
behalten.
Das, was dieſe Richtung vorbereitet, fand nun einen feſten Boden
in der mit dem neunzehnten Jahrhundert ſich umgeſtaltenden öffent-
lichen Rechtsordnung. Dieſe forderte eine Vertretung des Volkes. Was
aber nützt die Vertretung, wenn der Vertretene und der Vertretende
kein gemeinſames ſtaatliches Bewußtſein haben? Wird ein Volk
frei durch die Formen der Freiheit? Will der Staat wirklich frei ſein,
ſo mache er zunächſt freie Männer aus ſeinen Staatsangehörigen. Und
welches iſt das Mittel dafür? Es iſt kein Zweifel — Bildung und Er-
ziehung müſſen den Bürger für den Staat erziehen; nicht bloß die
[85] Berufsbildung, ſchon die Volksſchule iſt ihrer höheren Funktion nach
eine Staatserziehungsanſtalt. Dieſer Gedanke, ſchon im vorigen
Jahrhundert ausgeſprochen, kommt nun in den erſten Decennien unſers
Jahrhunderts zum Ausdruck. Jetzt erſt beginnt die praktiſche Bedeutung
der Volksſchule klar zu werden. Der alte Standpunkt der Polizei-
wiſſenſchaft und der bloßen ſtaatlichen Oberaufſicht wird überwunden;
das ganze Gebiet der Volksbildung geht jetzt in die Lehre vom Staate
über; es wird, wie einſt bei den griechiſchen Philoſophen, ein Theil der
Politik; das Volksſchulweſen iſt, wenn auch zunächſt nur im Princip,
zu einem Theile der Staatswiſſenſchaft geworden.
III. An dieſe abſtrakte Bewegung ſchlie t ſich nun eine concrete
in demſelben Geiſte an. Iſt die Volksſchule das, was jene fordert,
ſo muß ſie auch eine neue, freie Organiſation haben. Die Grundlage
dieſer Organiſation muß zunächſt die öffentliche Achtung des Lehrer-
ſtandes werden. Eine ſolche Achtung beruht allerdings zunächſt auf
der Selbſtachtung, die aus dem Bewußtſein von dem hohen ſittlichen
und ſtaatlichen Berufe hervorgeht, und die aus den einzelnen Lehrern
einen Lehrer ſtand erzeugt. Allein dieſer Lehrerſtand will, einmal durch
die Pädagogik zum Bewußtſein gebracht, nun auch die äußere An-
erkennung. Mit dieſer Forderung beginnt nun ein eigenthümlicher
Kampf, der nur indirekt der Volksſchule, direkt aber dem Lehrer-
ſtande angehört. Die Berufsgenoſſenſchaft, einmal entſtanden, fordert
für die Volksſchule das, wodurch die Berufsbildungsanſtalten ſo glän-
zend daſtehen, wodurch ſie am meiſten wirken. Sie will zuerſt die
Unabhängigkeit des einzelnen Lehrers von der bisherigen Gewalt der
Grundherrlichkeit, alſo Aufnahme in die Gemeindeverwaltung und Be-
ſoldung durch die Gemeinde, kurz den Charakter eines öffentlichen
Amtes; ſie will zweitens eine berufsmäßige Vorbildung, alſo die Ein-
richtung von Lehrerſeminarien; ſie will drittens eine den höheren
Bildungsanſtalten nachgebildete Selbſtverwaltung des Schulweſens,
namentlich durch Lehrkörper für die einzelnen Schulen, und Lehrer-
verſammlungen für das geſammte Schulweſen. Dieſen Forderungen
entgegen tritt nun aber die noch hiſtoriſch berechtigte Grundherrlichkeit
und die Geiſtlichkeit; die Unſelbſtändigkeit und Gleichgültigkeit der Ge-
meinden kommt dem Lehrerberufe nur wenig zu Hülfe, namentlich in
dem in Deutſchland noch immer in den Händen des Gutsherren befind-
lichen Schulweſen des Landes, während die Städte allerdings vielfach
die Volksſchule freier auffaſſen; ſelbſt die Volksvertretungen haben
eine Zeitlang noch nicht die geiſtige Kraft, jenes hohe ethiſche Element
im Volksſchullehrerweſen zu verſtehen. Und ſo bewegen ſich dieſe
Elemente hin und her, allein ſchon in den dreißiger Jahren iſt der
[86] Sieg der freieren Auffaſſung unzweifelhaft. Denn aus der Schule der
großen Pädagogen des vorigen Jahrhunderts iſt, namentlich auch durch
die ſtaatsrechtliche Entwicklung getragen und gefördert, eine Richtung
hervorgegangen, welche Deutſchland allein in der Welt zu verſtehen
und zu vertreten fähig war, die Conſolidirung der Regeln der Pädagogik
zu einer wiſſenſchaftlichen Behandlung des Volksunterrichts, und die
Feſtſtellung der Ueberzeugung aller Gebildeten, daß vor allem die Volks-
ſchule gefördert werden müſſe, wenn man das Wohl des Volkes will.
Damit ein freies, kräftiges Entgegenkommen von allen Seiten; die
Achtung vor dem Stande der Lehrer ſteigt; mit ihm das Streben,
ihm ſeine Unabhängigkeit und das Recht zur Theilnahme an der Leitung
der Lehre zu geben; die grundherrlichen Rechte werden entweder direkt
aufgehoben oder ſinken zu bloßen Ehrenrechten herab; die Gemeinden
ſind eifrig, die Schullaſten und mit ihnen die Rechte der Selbſtverwal-
tung zu übernehmen; das Syſtem der Schulklaſſen wird immer allge-
meiner, und die Scheidewand zwiſchen Volks- und Berufsſchule damit
grundſätzlich vernichtet; bis endlich ſeit 1848 die Aufnahme des Volks-
ſchulweſens in die Grundrechte der Verfaſſungen das höchſte rechtliche
und ſociale Princip deſſelben zur öffentlichen verfaſſungsmäßigen An-
erkennung bringt.
So geſtaltet ſich der Inhalt des gegenwärtigen Volksſchulweſens
in Deutſchland. Es iſt nicht mehr eine bloße Bürgerſchule oder poli-
zeiliche Unterrichtsanſtalt wie in der erſten Epoche, nicht bloß eine
pädagogiſche Idee wie in der zweiten, ſondern in Verbindung mit dem
freien Privatſchulweſen iſt ſie aus einer ſelbſtändigen Bildungsanſtalt
der niederen Klaſſe zu der Ehre, dem Recht und der Aufgabe einer
organiſch gegliederten Vorbereitungsanſtalt für die Bil-
dung aller Klaſſen der bürgerlichen Geſellſchaft geworden.
Das iſt im Großen und Ganzen der Gang der Entwicklung des
Volksſchulweſens ſeit dreihundert Jahren. Jede dieſer großen Stadien
hat wieder ihre Literatur, ihre Geſetze, ihre Gegenſätze und Kämpfe,
die nur durch die beſondere zeitliche Geſtaltung der Bewegung verſtänd-
lich werden. Durch dieſe organiſche Entwicklung des Ganzen hat ſich
nun aber auch jeder Theil deſſelben ſelbſtändig entwickelt, und wir
können jetzt von einem Syſtem des Volksſchulweſens reden, für welches
das deutſche Volksſchulweſen eben deßhalb die natürliche Grundlage
abgibt.
I. Die Literatur über das urſprüngliche Volksſchulrecht iſt keines-
weges unbedeutend, aber von der deutſchen Rechtsgeſchichte gänzlich
[87] vernachläſſigt, wie ſo manches andere. Ueber den Weſtphäliſchen Frieden
und ſein Schulrecht ſ. Fiſcher, Cameral- und Polizeirecht I. 147,
§. 184. Unvollendet: Rauhkopf, Geſchichte des Schul- und Er-
ziehungsweſens in Deutſchland (Bremen 1744. 1. Theil). Rochow,
Geſchichte meiner Schulen (Schleswig 1745): Mellmann, Reliquiarum
Juris Canonici in regimine scholastica discussio (Kiel 1784); Berg,
Polizeirecht II. S. 308. 309. — Entſtehen der Gemeindeſchulen und
das Recht der Landſtände, dieſelben zu errichten: Zahn, Politia muni-
cipalis. L. 2. 36. Fiſcher a. a. O. §. 147. Berg a. a. O. S. 307. —
Entſtehen der obrigkeitlichen Schulordnungen des achtzehnten
Jahrhunderts: Kur-Braunſchweig, Verordnung vom 9. Okt. 1681
und 31. Aug. 1736 (ausgeſprochene Schulpflicht). Braunſchweig-
Wolfenbüttel (Schulordnung von 1753); Kur-Sächſiſche (Ver-
ordnung vom 24. Juli 1769); Fuldaiſche Schulordnung von 1775.
Badiſche Schulordnung von 1769. Bremen und Werden (Land-
ſchulordnung von 1752); Lauenburg (Landſchulordnung von 1757);
Braunſchweig-Lüneburg 1738; Kurbayeriſches Mandat 1771.
Verzeichniſſe von andern in Heumann (Jus Politiae §. 89). Es iſt
ſehr bedauerlich, daß dieſe wichtigen Thatſachen noch immer keine Ge-
ſchichte gefunden haben!
Die Aufnahme der Schulfrage in die Polizeiwiſſenſchaft (als
damalige Form der Staatswiſſenſchaft): Juſti 10. Buch, 38. Haupſt.
§. 123. 124; deſſen moraliſche und philoſophiſche Schriften I. 106.
(„die Schullehrer ſollen hochgeehrte und reichbeſoldete Männer
ſein“); SonnenfelsI. 80 ff. Filangieri (Scienza della legis-
lazione, L. IV.);Herzberg, Gedanken über zweckmäßige Bildung der
Landſchullehrer in Seminarien, 1789; J. H. Berg, Teutſchlands Ver-
faſſung (S. 209. 352); Benſen, Staatslehre (II. 181); Aretin,
Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie (II. Bd. 2. Abth. S. 60.
61). — Ueber das Schulrecht, jedoch im allgemeinen Sinn des öffent-
lichen Rechts der Schulen: Moſer, Verordnung der Landeshoheit
in Polizeiſachen, §. 50. 54. Pütter, Inst. jur. publ. §. 236. 259.
Stryk, De jure praeceptorum, C. 2. Hohenthal, De Politia
(ſ. beſ. S. 56 ff.). Mehrere Schriftſteller bei Fiſcher, Cameral- und
Polizeirecht a. a. O. Jacobi, Polizeiwiſſenſchaft II. bildet den Ueber-
gang zur folgenden Epoche. Preußens älteres Recht: Geſchichte
deſſelben, ſowohl im Allgemeinen als in den einzelnen Territorien.
Rönne, Unterrichtsweſen des preußiſchen Staates, Bd. I. S. 51 ff.
Erſte Hauptverordnung vom 24. Oktober 1763; Grundgeſetz: General-
Landſchul-Reglement vom 12. Auguſt 1763. (Vergl. auch Rönne’s
Staatsrecht I. §. 198.) Oeſterreich: höchſt gründliche und ausführliche
[88] Geſchichte: Helfert, Die öſterreichiſche Volksſchule. Geſchichte, Syſtem,
Statiſtik. Allgemeine Schulordnung für die deutſchen Normal-, Haupt-
und Trivialſchulen von 1774. Neues, noch jetzt unter manchen aller-
dings weſentlichen Modificationen geltendes Volksſchulrecht: Verfaſſung
der deutſchen Volksſchulen (mit Ausnahme von Ungarn, Italien
und Dalmatien) vom 11. Auguſt 1805. Viele betr. Artikel auch in
Schlözers Briefwechſel und andern Zeitſchriften des vorigen Jahr-
hunderts. Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde Bd. II. S. 366 ff.
Neuere Ordnungen ſ. unten. Die beſte und nach allen Seiten hin er-
ſchöpfende Arbeit über das öſterreichiſche Volksſchulweſen iſt ohne Zweifel
die von Ficker bei Schmid Bd. IV. Art. Oeſterreich S. 242—355, der
kaum etwas hinzuzuſetzen ſein dürfte.
II. Ueber die Geſchichte der Pädagogik der Literatur und der
Hauptträger derſelben dürfen wir hier auf die Werke von Raumer,
Schmid und Körner verweiſen. Für die ſpecifiſche Literatur der
ſtaatsbürgerlichen Pädagogik beſonders Niemeyer, Grundſätze der Er-
ziehung, Bd. II. S. 453. Die ſtaatswiſſenſchaftliche Richtung,
Verbindung der neuen Idee des Staats mit ſeiner Aufgabe in Päda-
gogik und Unterricht, beginnt mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts,
zunächſt allerdings bei der allgemeinen Principienfrage ſtehen bleibend,
und erhält ſich in der Form des ſog. Allgemeinen Staatsrechts bis auf
unſere Zeit. Die leitenden Schriften der erſten Richtung ſind: für die
pädagogiſche Literatur wohl am bedeutendſten Niemeyer, Grundſätze
der Erziehung, 1825 (8. Aufl.), Erziehung zum ſtaatsbürgerlichen Be-
wußtſein); Voß, Erziehung für den Staat, Bd. I.; K. J. Zachariä,
Ueber die Erziehung des Menſchengeſchlechts durch den Staat, 1802;
Stephani, Grundriß der Staatserziehungswiſſenſchaft, 1802, und
deſſen Syſtem der öffentlichen Erziehung, 21. Aufl., 1813; Krug,
Der Staat und die Schule, 1810; Pölitz, Die Erziehungswiſſenſchaft aus
dem Zwecke der Menſchheit und des Staats, II. Bd. Ganz allgemein
gehalten dann in Pölitz, Staatsrechtswiſſenſchaft, Bd. II. (Erziehungs-
polizei!); Aretin, Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie, II. 39;
Staatslexikon (Volksſchule); Bluntſchli, Allgemeines Staatsrecht,
II. Bd. 9 Cap. S. 9—12; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft, Bd. I. Bd. II. Cap. 2.
Eine kurze, aber ſehr gute ſtatiſtiſche Ueberſicht des neueſten Standes des
Volksſchulweſens in Brachelli, Staaten Europas, S. 533 ff.
III. Die Gegenwart beginnt mit der Literatur und Geſetzgebung,
welche ſich mit der Organiſation des Volksbildungsweſens ſpezieller
beſchäftigt. Man kann ſagen, daß hier Dinter der Hauptträger der
praktiſchen Richtung, der eigentliche Vater der „Schulmänner“ iſt.
Niemeyer (Organiſation öffentlicher Schulen, 1801) hat weſentlich
[89] für das Klaſſenſyſtem gewirkt. Weſſenberg, Die Elementarbildung,
21. Aufl. 1835; Ohlert, Die Schule. Elementarſchule, Bürger-
ſchule und Gymnaſium in ihrer früheren Einheit und nothwendigen
Trennung, 1826; Schwarz, Die Schule, 1822; Mohl, Polizeiwiſſen-
ſchaft I. §. 76. Die ſtändiſche Auffaſſung der Elementarſchule als
Schule der niedern Klaſſe nimmt Abſchied von der Geſchichte in Göthe
(dem Haller des Volksſchulweſens), „Ideen über Erziehung und Unter-
richt im Geiſte der Monarchie“, 1837. Eine ſehr große Zahl von
einzelnen Arbeiten und Schriften ſtammen aus dieſen Jahrzehnten von
1820 bis 1840, welche die folgende Epoche vorbereiten. Sie ſind die
Begründer des neuen öffentlichen Schulrechts und der Schulordnungen
unſeres Jahrhunderts, die noch nirgends gehörig verarbeitet ſind. Aus
dem General-Landſchulreglement in Preußen bilden ſich zunächſt die
Grundſätze des Allgemeinen LandrechtsII. 12 heraus, nach wel-
chem alle Schulen für Staatsanſtalten erklärt und unter öffentliche
Oberaufſicht der Behörden geſtellt werden (RönneI. §. 203), wobei
jedoch die Stellung der Volksſchullehrer noch in einem ſehr unklaren
Verhältniß zum Staatsdienſt bleibt (Rönne, Staatsrecht II. §. 198),
während die Wöllnerſche Epoche 1794 den letzten Rückſchlag der
prieſterlichen Reaction zeigt, nachdem die Inſtruction von 1787 (Rönne,
Unterrichtsweſen I. 76) die Scheidung der Schule von der Kirche ſchon
durchgeſetzt hatte. Daneben entſteht das Princip der Landesver-
waltungen der Volksſchulen und der Landesſchulordnungen in
Preußen (Rönne, Staatsrecht II. Nr. 1), was ſehr trefflich wäre,
wenn es nur ein zeitgemäßes Staatsſchulrecht gäbe, das zwar ver-
ſprochen, aber nicht gegeben iſt. Kurze Ueberſicht über die Volksſchul-
geſetzgebung bei Rönne, Staatsrecht II. 441. Das öſterreichiſche
Volksſchulweſen bleibt dagegen bei der „Verfaſſung“ von 1805 im Weſent-
lichen ſtehen, nach welcher die Schule dem Geiſtlichen untergeordnet iſt.
Im Allgemeinen zeigen die Geſetzgebungen der einzelnen deutſchen Staa-
ten in dieſer Epoche eine nicht unbedeutende Thätigkeit, jedoch bei den
noch immer beſtehenden ſtändiſchen Unterſchieden eine größere für die
Berufsſchulen als für die Volksſchulen. Das Privatſchulweſen wird
eigentlich nirgends ſyſtematiſch geordnet, nur der Grundſatz der Ober-
aufſicht wird feſtgehalten (ſ. unten).
IV. Das poſitive deutſche Statsrecht unſeres Jahrhunderts hat mit der
Volksſchule offenbar ſich nicht zurecht zu finden gewußt, während es die
Berufsbildung (Univerſitäten) unbedenklich mit aufnahm. Gönner, Klüber,
Maurenbrecher erwähnen deſſelben gar nicht; ſo gut wie gar nicht ſelbſt die
Conſtitutionellen, wie Häberlin, Aretin (als Garantie der Verfaſſung)
II. §. 265, Zachariä, Deutſches Staats- und Bundesrecht II. §. 178.
[90]
Die Stellung der neuen Verfaſſungen zum Volksſchulweſen iſt
daher auch eine ſehr abſtrakte, ein unmittelbarer Einfluß derſelben auf
das letztere kommt nicht zur Erſcheinung. Man ſieht ihnen an, daß ſie
die Vollziehung ihrer Principien doch zuletzt allein von den Gemeinden
und ihrer Verwaltung erwarten; ein Verſtändniß der entſcheidenden
Bedeutung der Lehrkörper findet ſich auch nicht in den Verhand-
lungen über die deutſchen Grundrechte. Das Bezeichnendſte der prak-
tiſchen Unklarheit neben vollkommen richtigem Gefühl für die Haupt-
ſache iſt es wohl, daß man die „Freiheit“ des Lernens und Lehrens
als die grundgeſetzliche Hauptſache anſah und proclamirte, die gerade
bei der Volksſchule leicht mehr Uebel begründen als verhindern kann,
wenn man ſich darüber jede Aufhebung der Oberaufſicht denkt. Uebrigens
dachte man wohl überhaupt bei der Lehr- und Lernfreiheit nur an die
Wiſſenſchaft und wenig an den Elementarunterricht. Die Auffaſſung
des preußiſchen Rechts gut bei Rönne, Staatsrecht I. 199 und 200.
In Preußen nahm die Sache die beſtimmteſte Geſtalt an, kam
jedoch weder im Entwurf vom 20. Mai 1848 (§. 13), noch in der
Verfaſſung vom 5. December 1848, noch in der Verfaſſung vom 31. Ja-
nuar 1850 (Art. 20—26) über die allgemeine Anerkennung der „Lehr-
und Lernfreiheit“ hinaus, während das dort verſprochene Unterrichts-
Geſetz nicht erſchienen iſt. Doch hat Rönne (Staatsrecht §. 198)
vollkommen Recht, wenn er ſagt: „daß es als oberſter Grundſatz für
das Recht des Staates angeſehen wird, von jedem ſeiner Mitglieder
diejenige Geiſtes- und ſittliche (?) Bildung zu fordern, durch welche
deſſen Ausübung der ſtaatsbürgerlichen Rechte bedingt wird, was ſchon
das Allgemeine Landrecht II. 12 für den Elementarunterricht ausſprach.
Nur iſt das nichts Neues für das Bildungsrecht. In der obigen
Hauptfrage wird nichts berührt und geändert. Zöpfl hat in ſeiner
zerfahrenen Weiſe dennoch das Meiſte für die Geſchichte des Volksſchul-
rechts innerhalb des Verfaſſungsrechts gethan. Schon vor 1848 war
das Volksſchulweſen in das Verfaſſungsrecht aufgenommen, und wenn
auch nicht allgemein und nicht ganz gleichartig (württemberg. Ver-
faſſung von 1819 §. 84) als Verpflichtung des Staats ausgeſprochen,
während andere nur die Oberaufſicht deſſelben forderten (braun-
ſchweig. Landesordnung 1832 §. 230; Kurheſſen 1831 §. 137,
Sachſen-Altenburg 1831 §. 25. 29). Nach 1848 wird die Auf-
nahme in die Verfaſſungen allgemein, jedoch unklar, indem einige die
Schulen für Gemeindeanſtalten erklären, wie Oldenburg 1832 §. 83—89;
Coburg 1852 §. 29; Reuß (Geſetz vom 10. Juni 1856); Luxemburg
1856 §. 23; andere für Staats anſtalten (Sachſen-Altenburg
§. 25. 29); Zöpfl §. 480. Dabei wird die Volksſchule ausdrücklich unter
[91] die Oberaufſicht des Staats geſtellt, und (wenigſtens von der Reichs-
verfaſſung §. 153) der Grundſatz ausgeſprochen, daß ſie der Beaufſichti-
gung der Geiſtlichkeit entzogen werden ſoll (die Verfaſſungsurkunde);
doch hat weit verſtändiger Oldenburg (Verfaſſung von 1852 Art. 82)
für das Verhältniß zwiſchen Schule und Kirche ein eigenes (nicht er-
ſchienenes) Geſetz in Ausſicht geſtellt und Preußen die Frage in unent-
ſchiedener Weiſe beantwortet §. 24. Die Reichsverfaſſung gibt dann
zugleich die allgemeinſten Grundzüge der Elementarbildung und ihrer
Verwaltung. Von ihr iſt das Syſtem der geltenden Grundzüge in
viele deutſche Verfaſſungen übergegangen. (Reichsverfaſſung §. 153 ff.)
Die Grundſätze ſind, wenn ſie gleich nicht formell in allen Verfaſſungen
der fünfziger Jahre aufgenommen ſind, ſo bezeichnend, daß wir ſie hier
angeben müſſen; ſie bilden den klarſten Ausdruck des Charakters des
deutſchen Volksſchulweſens. Darnach ſoll a) die Gründung von Unter-
richtsanſtalten und Erziehungsanſtalten jedem Deutſchen freiſtehen, jedoch
gegen Nachweis der Befähigung an die Staatsgewalt (Oberaufſicht),
Reichsverfaſſung §. 154; b) der häusliche Unterricht iſt frei, ebendſ.;
c) für die Bildung der deutſchen Jugend ſoll durch öffentliche Schulen
überall geſorgt werden (ebendaſ. §. 155) und dürfen Eltern und
deren Stellvertreter die Kinder nicht ohne Elementarunterricht laſſen,
ebendaſ.; d) die öffentlichen Lehrer haben die Rechte der Staatsdiener,
ebendaſ. 156; der Staat ſtellt ſie an unter Betheiligung der Gemeinden,
§. 156; e) für die Volksſchulen kein Schulgeld §. 157. Dieſe Sätze
gehen mit Modificationen in die meiſten nord deutſchen Verfaſſungen über,
wohl deßhalb, weil ſie ohnehin praktiſch galten. Preußiſche Verfaſ-
ſung, Art. 20—26. Anhalt-Bernburg, 1850, 24. Schwarzburg-
Sondershauſen, 1849, 25. Oldenburg §. 82. Reuß §. 20.
Waldeck §. 44. Sachſen-Coburg §. 38. Man muß nur bei dieſen
kleinen Staaten nie vergeſſen, daß ſie im Grunde ſouveraine Gemeinden
ſind, und daher die großen organiſchen Begriffe der Verwaltung, nament-
lich der Unterſchied zwiſchen Staats- und Gemeinde anſtalten und Recht
auf ſie keine rechte Anwendung finden. Je größer der Staat, um ſo noth-
wendiger werden natürlich eigene Schulgeſetze (ſ. unten). Die Literatur
hat in Deutſchland ſich wenig mit dieſer ganzen Frage nach dem öffentlich
rechtlichen Charakter des Ganzen beſchäftigt. Sie iſt ſehr reich in Betreff
der pädagogiſchen Grundſätze; einige Staaten haben auch ihre ſelbſtändige
Literatur über das öffentliche Recht ihrer Volksſchulen, jedoch meiſtens
nur in den Verwaltungsgeſetzkunden. In Schmids Encyclopädie des
Erziehungs- und Unterrichtsweſens (ſeit 1859) ſind jedoch vortreffliche
einzelne Nachweiſungen ſpeciell über die kleinen deutſchen Staaten, deren
Verhältniſſe ohne die betreffenden Aufſätze gar nicht zu erfahren wäre.
[92]
Holland und Dänemark.
Das entſcheidende Princip dieſes oben charakteriſirten Syſtems des
deutſchen Volksſchulweſens, das alle einzelnen Theile und Rechtsbeſtim-
mungen deſſelben beherrſcht und das dieſelben von dem folgenden fran-
zöſiſchen auf das beſtimmteſte ſcheidet, iſt nun offenbar nicht der Grund-
ſatz, daß der Volksunterricht als eine allgemeine Aufgabe der Staats-
verwaltung angeſehen und als ſolche von den Gemeinden durchgeführt
wird, ſondern der, daß dieſe Gemeinden, welche die Laſt des Volks-
unterrichts tragen, dafür auch das Recht der Selbſtverwaltung ihrer
Volksſchulen beſitzen, natürlich unter der Oberaufſicht und zum Theil
unter Mitwirkung des Staats, welche ſich in zwei Dingen äußert:
zuerſt in einem oberaufſehenden, aber nicht direkt verwaltenden Orga-
nismus von Schulräthen oder Inſpectoren, und zweitens in der Her-
ſtellung von neuen Lehrſeminarien und mithin einer öffentlichen Verufs-
bildung für das Lehrfach mit förmlicher Prüfung. Alle diejenigen
Staaten, welche dieſe localen Grundſätze ſyſtematiſch durchgeführt haben,
rechnen wir zur deutſchen Gruppe des europäiſchen Volksſchulweſens,
und dahin gehören Holland, Dänemark, Schweden und die deutſchen
Kantone der Schweiz.
Da wir nun im beſondern Theile die einzelnen Punkte des öffent-
lichen Volksſchulrechts genauer auszuführen haben, ſo darf hier die kurze
Nachweiſung der Hauptgeſetze genügen, auf welchen das Volksſchul-
weſen der erſten beiden Länder beruht.
Was zuerſt Holland betrifft, ſo iſt das Grundgeſetz des Volks-
ſchulweſens das neue Geſetz vom 13. Aug. 1857. Die Grundlage iſt
der Unterſchied zwiſchen den öffentlichen Volksſchulen, in welchen
alle Kinder ohne allen Unterſchied der Confeſſion aufgenommen
werden müſſen und die nach dem Geſetz eingerichtet werden müſſen
(Art. 16) und den beſonderen Schulen, die entweder von Confeſſionen
oder von Privatunternehmern unterrichtet werden (Art. 37), denen aber
von der Gemeinde oder auch von den Provinzen eine Unterſtützung
gegeben werden kann (Art. 3). Jede Gemeinde hat ihre Schule herzu-
ſtellen und die Laſt zu tragen; Schulgeld kann erhoben werden; Schul-
pflicht exiſtirt nicht, ſondern die Gemeindeverwaltung befördert „ſo viel
als möglich“ den Schulbeſuch (Art. 33). Die Anſtellung und Entlaſſung
der Lehrer iſt Sache des Gemeinderathes (Gemeindeordnung vom
24. Juni 1851. Art. 232 ff. Geſetz von 1857 Art. 34). Das Lehrer-
weſen iſt ſpeciell geordnet in Tit. IV. Art. 40 ff. mit Prüfungen und
Strafen für neugeprüfte Lehrer; die Oberaufſicht wird ausgeübt durch
[93] die örtliche Schulcommiſſion, die Diſtriktsſchulaufſeher und die Pro-
vinzial-Inſpectoren. Die erſtere beſteht aus Bürgermeiſter und Rath
(Art. 54); die andern ſind angeſtellte Beamte. Auch der freie (Haus-)
Unterricht iſt ſtrengen Vorſchriften in Beziehung auf die Fähigkeit der
Lehrer unterworfen. Das Nähere über einzelne Punkte unten.
In weſentlich gleicher Weiſe ſind die däniſchen Volksſchulen geordnet.
Schon die Verordnung vom 17. April 1759 führte die Grundlagen der
allgemeinen Schulpflicht ein, und die Verordnung vom 11. Mai 1775
verpflichtete die Gemeinden, die Schulen hinzuſtellen. Das Hauptgeſetz iſt
die Verordnung vom 7. Mai 1809, dem ſich das Reſcript vom 6. Mai 1850
anſchließt. Die Schule iſt Gemeindeanſtalt, jedoch beſtehen noch in ein-
zelnen Fällen Präſentationsrechte, und in einzelnen Schulen hat die
Regierung das Recht der Ernennung, während in andern wieder die
Gemeinde ganz frei die Lehrer wählt. Die Schullehrerſeminare ſind
durch das Geſetz vom 15. Juli 1857 nach deutſchem Vorgange geordnet
und ſehr rationell eingerichtet. Das Schulweſen iſt gut geleitet; die
Geiſtlichkeit hat keinen Antheil am Unterricht, wohl aber hat ſie einen
Antheil an der Inſpektion der Schulen. Eine ſo ſyſtematiſche Geſetz-
gebung wie in Holland beſteht nicht.
unterſtützung.
Dem deutſchen Volksſchulweſen ſteht nun weſentlich verſchieden
das engliſche Syſtem gegenüber, das wie kaum ein anderer Theil
des öffentlichen Rechts, aus den Principien der engliſchen Geſellſchaft
hervorgeht.
In England iſt die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft die anerkannte
Grundlage aller Rechtspflege, allein ihre Principien ſind in die
Verwaltung nicht eingedrungen. Die rechtlich unantaſtbare Selb-
ſtändigkeit und Gleichheit aller Einzelnen hat vielmehr den Grundſatz
erzeugt, daß alle Entwicklung jeder einzelnen Perſon beſtimmt ihre
individuelle Aufgabe ſei. Die Folge davon iſt, daß ſtatt der großen
leitenden Ideen der Verwaltung, wie wir ſie in Deutſchland thätig
ſehen, das ganze Volksſchulweſen dem Volke ſelbſt überlaſſen und da-
mit die großen Unterſchiede des Beſitzes, in dem die materiellen
Bedingungen der Bildung liegen, für die Vertheilung der Bildung
maßgebend geworden ſind. Dadurch iſt nicht bloß die beſitzende Klaſſe
der engliſchen Bevölkerung die allein gebildete, ſondern ſie hat auch
die Herſtellung der Bildung der Nichtbeſitzenden nie als ihre orga-
niſche Aufgabe erkennen wollen, was von dem zweiten großen Theile
der engliſchen Bevölkerung, dem noch ganz ſtändiſch abgeſchloſſenen
[94] Element der alten Geſchlechter, natürlich lebhaft unterſtützt ward.
Der Erwerb der Bildung iſt daher auch für den Volksunterricht grund-
ſätzlich Sache der Einzelnen, welche die Verwaltung nicht
kümmert, ſo wenig als der Erwerb ſeines Vermögens; und da nun bei
dem gänzlichen Mangel einer organiſchen Volksſchule die nichtbeſitzende
Klaſſe zu keiner Bildung gelangen kann, ſo iſt der Unterſchied zwiſchen
Beſitzenden und Nichtbeſitzenden für identiſch mit dem Unterſchied
zwiſchen Gebildeten und Nichtgebildeten geworden. Das iſt
die Baſis des Verſtändniſſes alles engliſchen Unterrichtsweſens.
Dennoch giebt es bereits ein ſehr bedeutendes öffentliches Unter-
richtsweſen, und zwar theils im Volksſchulweſen der Vereine, theils
der (Armen-) Gemeinden, mit anerkannter Unterſtützung der Regierung.
Die Erklärung dieſer großen Thatſache gegenüber dem obigen Princip
liegt darin, daß das öffentliche Volksſchulweſen Englands noch immer
nicht, wie auf dem Continent, der Idee des Bildungsweſens gehört,
ſondern nur noch einen Theil des Hülfsweſens bildet. Für
die Beſitzenden gibt es kein Volksſchulweſen, ſondern nur für die
Nichtbeſitzenden. Und das iſt es, was uns Deutſchen das engliſche
Volksſchulweſen ſo unverſtändlich macht.
Ueber dieß Princip hat ſich das letztere bisher nicht zu erheben
vermocht; ſelbſt die letzte große Geſetzgebung, der Revised Code iſt nicht
eben ein Volksſchulgeſetz, ſondern nur in ſeinem neueſten Weſen ein
Armenſchulgeſetz. Die Idee eines Volksſchulgeſetzes auf Grundlage
der allgemeinen und gleichen Schulpflicht des ganzen Volkes wird nur
noch von Einzelnen, nicht aber vom Volke ſelbſt verſtanden.
Jedoch ſind es gerade dieſe einzelnen Bewegungen, welche die
Bahn für eine höhere Auffaſſung des Volksbildungsweſens brechen, und
den Kampf mit dem ſtändiſchen Widerwillen der Kirche und der Ge-
ſchlechter eröffnen. Ihnen zu Hülfe kommt namentlich in neuerer Zeit
die höhere, ſociale Richtung der Nationalökonomie, wie ſie von J. St.
Mill und von Senior vertreten wird, die den unendlichen volkswirth-
ſchaftlichen Werth der Volksbildung ſchätzen und den Mangel deſſelben
ſtatiſtiſch nachweiſen oder, wie Kay, den Zuſtand mit dem des übrigen
Europas vergleichen lehrt. Englands Volksſchulweſen wird damit zwar
nicht zu einer Urſache und Aufgabe, wohl aber zu einer Folge der
großen Reformbewegung werden, die die ſocialen Verhältniſſe umzu-
geſtalten im Begriff iſt.
Demnach muß das Elementarunterrichtsweſen Englands in zwei
großen Grundformen aufgefaßt werden. Die erſte iſt die des freien
Privatunterrichts, die zweite iſt die des öffentlichen Armenun-
terrichts. Beide ſtehen in gar keiner Verbindung unter einander,
[95] noch auch in irgend einer Verbindung mit der Berufsbildung. Senior:
„The labourer, whose children frequent the public schools, and
the ratepayer, whose children do not frequent them“ p. 9 (Ra-
tepayer iſt der Beſitzende, rate iſt die Gemeindeſteuer.) Mit Recht
bemerkt Wagner, daß umgekehrt die Privatſchulen zwar oft ſehr gut,
aber immer zu theuer, und daher von den Arbeitern nicht beſucht wer-
den. Es gibt alſo gar keine wie immer gearteten behördlichen Ein-
flüſſe auf die erſteren, während die zweiten ſich weſentlich zu einem
förmlich rechtlichen Syſtem ausgebildet haben. Man kann daher auch
von einem Recht der erſteren weder in Beziehung auf Schule, noch auf
Lehre, noch auf Lehrer reden; ſie ſind freie gewerbliche Unternehmungen.
Das Princip der deutſchen Schulpflicht exiſtirt weder für die Gemein-
den als Verpflichtung zur Herſtellung der Schulen, noch als Verpflich-
tung für die Einzelnen, den Kindern Elementarbildung zu geben. Da-
gegen iſt das zweite ein Syſtem, hat ſeine Geſchichte und ſeine Grund-
ſätze, und fordert eine eigene Darſtellung; nur muß man eben feſthalten,
daß man in dieſem Syſtem nicht etwa ein Volks-, ſondern nur ein
Armenbildungsweſen vor Augen hat, dem noch jeder andere ethiſche
rechtliche Inhalt fehlt. Die hiſtoriſche Entwicklung des letztern iſt im
Weſentlichen in drei Epochen zu ſcheiden.
Die erſte Epoche umfaßt die Beſtrebungen des vorigen Jahrhun-
derts; ſie beſteht in den Anfängen von Sonntagsſchulen und von
Freiſchulen für arme Kinder, welche vorzüglich ſtreng kirchliche Bil-
dung und nur daneben in zweiter Reihe etwas Leſen und Schreiben
lehren. Dieſe Schulen beſtehen auch jetzt noch ſelbſtändig, ohne alle
Aufſicht und Unterſtützung fort. Sie ſind begründet etwa ſeit 1781
durch die Society for promoting christian knowledge. Die Lehrer ſind
freiwillig, entweder aus dem Verein oder aus der Gemeinde, natürlich
unentgeltlich und ohne Gehalt. Wagner meint, daß die Sonntags-
ſchulen von Rakes 1785 eingeführt ſeien; Buckle dagegen (I. 1. 371)
ſagt, Rakes habe dieſelben 1785 verbeſſert, nachdem ſie ſchon 1761
eingeführt und am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein geworden.
Aber natürlich waren ſie ein kümmerliches, zum Theil zelotiſch benütztes
Aushülfsmittel.
Erſt mit dem Beginn unſeres Jahrhunderts fängt die zweite
Epoche an, welche den eigentlichen Volksunterricht zur Aufgabe
der Volksſchulen macht. Das konnte nur durch Beſeitigung des ſtreng
orthodoxen Charakters geſchehen, und das war wiederum für England
nur möglich durch das Vereinsweſen. So entſtand die British and
Foreign school Society (1805), welche in die von ihr errichteten und
unterhaltenen Schulen auch die Dissenters aufnahm und großen Erfolg
[96] hatte. Sofort trat ihr die ſtreng kirchliche Partei der National Society
(1811) entgegen, welche die kirchliche Bildung als Hauptſache aufſtellte,
und den eigentlichen Unterricht, die secular education, beinahe direkt
verdammte. Will man ſehen, bis zu welchem pädagogiſchen und metho-
diſchen Unverſtand die letztere geht, ſo vergl. man Seniors Angaben
S. 21 ff. (z. B. eine Frage an einen Schüler: „Welche Ereigniſſe
knüpfen ſich an Hobah, Berlabai, Roi, Mizbeh, Peniel, Skolem, Ske-
chem, Luz“? u. ſ. w.). Dieſe mit Recht ſo genannte Misdirected In-
struction machte aus jenen Vereinsſchulen reine Parteiſchulen, und be-
ſchränkte und ſtörte alle ihre Wirkung, trotzdem daß (nach Wagner)
Lancaſter die Methode der erſtern, Bell die der zweiten weſentlich refor-
mirte. An eine Volksſchulbildung war bei den erſten durch den Mangel
an Kräften, bei den zweiten durch den Mangel an Freiheit nicht zu
denken. Aber Armenſchulen blieben beide. Ihr gemeinſamer Haupt-
erfolg war, daß man allmählig eine gewiſſe Bildung auch der niederſten
Klaſſe für nothwendig erkannte. Daraus geht die folgende Epoche hervor.
Dieſe dritte Epoche beginnt mit dem Grundſatz, daß die Kin-
derarbeit in den Fabriken mit einem Elementarunterricht verbunden
ſein ſoll; ſie geht über zu dem Satz, daß die Armenkinder überhaupt
nicht ohne Unterricht bleiben ſollen, und langt endlich bei dem Grundſatz
an, daß die Polizei das Recht haben ſolle, herumtreibende Kinder in
die Schule zu ſchicken. So entſteht das ſpecifiſch engliſche Syſtem des
Armen- oder Hülfsſchulweſens, das mithin in den Orten, der Factory
schools, der Pauper schools und der Vagrant (ragged) schools be-
ſteht, ſich gerade dadurch nur noch ſtrenger von dem deutſchen Schul-
weſen der beſitzenden Klaſſe ſcheidet, aber andrerſeits der Verwaltung
Anlaß, Recht und Pflicht gibt, ſich wenigſtens für das Volksſchulweſen
anzunehmen, eine Behörde dafür aufzuſtellen (1833) und eine möglichſt
ſyſtematiſche Armenſchulgeſetzgebung (den Revised Code) zu erlaſſen.
Der Ganz der Entwicklung iſt folgender.
Den Beginn bildet die, von dem edlen Robert Peel (dem
Stammherrn des Hauſes) durchgeführte Kinderarbeitsbill (42 Georg. III.
73), nach welcher die Kinder nicht nur nicht länger als 12 Stunden
täglich arbeiten, ſondern die Fabrikherrn verpflichtet ſein ſollen, täg-
lich ihren arbeitenden Kindern wenigſtens vier Jahre hindurch in einer
in der Fabrik angelegten Schule, von einem von ihnen ſelbſt gezahlten
Lehrer, Unterricht im Leſen, Schreiben und Rechnen geben zu laſſen.
Dieß blieb ungeändert mehr als zwanzig Jahre hindurch Rechtens, aber
ohne Aufſicht, und mithin ohne Erfolg. Erſt in Folge der Entwicklung
des übrigen Armenſchulweſens wurden auch dieſe Fabrikſchulen ausge-
bildet und zwar durch 3. 4 Will. IV. 103 (1833), 7 Vict. 13 (1844)
[97] und 10 Vict. 29 (1847), welche überhaupt das Kinderarbeitsrecht
der arbeitenden Klaſſe (working men) organiſiren. Die Punkte, welche
den Elementarunterricht darin betreffen, ſind: jedes täglich arbeitende
Kind muß täglich drei Stunden zur Schule gehen; der Lehrer wird von
den Eltern der Kinder, ſonſt von dem Inſpektor der Fabrik gewählt:
vernachläſſigen dieß die Eltern, ſo büßen ſie von 5—20 Schill. Jeder
Fabrikinhaber büßt, wenn er Kinder ohne ausreichendes Schulzeugniß
aufnimmt. Die Eltern zahlen höchſtens 2 d. wöchentlich. Die Schul-
inſpektoren haben die Lehrer zu überwachen, ſie eventuell abzuſetzen,
und auf die Errichtung neuer Schulen anzutragen. Dieſe Grundſätze
wurden urſprünglich nur für die Hauptfabriken angenommen, einzelne
Fabriken und die eigentlichen Handwerke waren davon ganz ausge-
ſchloſſen (unregulated bussinesses). Seit 1840 verſuchte man, auch für
ſie eine Arbeiterſchulpflicht einzuführen, was dann auf Seniors
Bericht und Antrag S. 119—138 geſchehen iſt, nachdem die bis-
herigen Anträge „faſt in Verzweiflung“ das Ungenügende des bisherigen
Rechts und den elenden Zuſtand der Arbeiterſchulen dargelegt haben.
Das iſt nun jedoch nur der erſte Theil des öffentlichen Armen-
ſchulweſens. Der zweite betrifft die Kinder der Armenarbeits-
häuſer, der Workhouses. Allerdings haben die Workhouses, in
Analogie der Fabriken, ſchon bei ihrer Errichtung den Grundſatz auf-
genommen, daß die Kinder derſelben jeden Tag wenigſtens drei Stun-
den Elementarunterricht genießen ſollen. Natürlich war das innerhalb
der Arbeitshäuſer eine klägliche Einrichtung. Die Ausſchüſſe des Par-
laments von 1838 und 1841 erkannten das in ihrem Bericht und
demgemäß ward das Geſetz 7. 8. Vict. 101 (1845) erlaſſen, nach wel-
chem die Armenbehörde (Poor Law Commissioners) das Recht haben
ſollen, Diſtrikts-Armenſchulen(District Pauper Schools) durch
Zuſammenlegung von Armengemeinden (Parishes) oder gar Armenver-
bänden (Unions) zu errichten, was durch 11. 12. Vict. 82 modificirt,
aber doch praktiſch, wie natürlich, ſich als ergebnißlos erwies. 1859
gab es nur ſechs ſolcher Schulen in England, trotzdem daß 1846 und
1850 den Lehrern eigene Gehalte beſtimmt wurden. Die Gründe des
Nichtgelingens liegen natürlich nicht in formellen Gründen, wie Senior
meint, ſondern eben in der Trennung der Armenſchule vom Volks-
unterricht. In dieſem Sinne iſt es faſt ein Fortſchritt, daß man jene
Armenſchulpflicht nunmehr auch auf die dritte große Gruppe von Kin-
dern ausdehnte, die weder in den Fabriken, noch im Arbeitshaus ſind.
Dieſe Bewegung begann im vorigen Jahrzehnt als dritter Theil des
Armenſchulweſens durch die ſog. Adderley’s Act.
Die Adderley’s Act (20. 21. Vict. 48) erſcheint nämlich als ein
Stein, die Verwaltungslehre. V. 7
[98] Sicherheitspolizeigeſetz, zunächſt gegen das Vagabundenthum (vagrancy)
überhaupt (ſ. oben); das Wichtigſte in ihm iſt jedoch die Beſtimmung,
daß die Kinder ſolcher Vagabunden (vagrant children) unter be-
ſtimmten Vorſchriften in öffentliche Erziehungsanſtalten gegeben werden
ſollen. Dieſe Anſtalten ſind die „Industrial schools,“ die auf öffent-
liche Koſten errichtet und unterhalten werden, und in welche jede Be-
hörde die Kinder von Vagabunden hineinzuſenden das Recht hat. Dieſe
Schulen, unter öffentlicher Oberaufſicht ſtehend und genehmigt (daher
certified schools), ſollen dieſe Kinder „nähren und unterrichten“ („in
which children are fed as well as tought“), doch dürfen die Kinder
auch in Familien zum Unterhalt untergebracht werden. Die Schule
dauert bis zum 15. Jahre; die Eltern dürfen nur die Schule für ihr
Kind wählen. Die öffentliche Unterſtützung iſt genau bezeichnet (Senior
S. 91, 92). Das neueſte Geſetz darüber iſt die Industrial Schools Act
24. 25. Vict. 113 (6. Aug. 1861). Die weſentlichſte Beſtimmung dieſes
Geſetzes iſt, daß die Justices das Recht daben, die unbeſchäftigten
Kinder in dieſe Schulen zu ſchicken, und daß jeder, der ein aufge-
nommenes Kind der Schule entzieht, bis 5 Pfd. gebüßt werden kann.
Daſſelbe Geſetz iſt unter gleichem Datum für Schottland erlaſſen.
Beide Geſetze ſollen nur bis 1867 Gültigkeit haben. Das St. 25. 26.
Vict. 43 dehnt das Recht, die Armenkinder der Kirchſpielsarmen in dieſe
Schulen zu ſchicken, auf die Overseers of the Poors aus. An dieſe
Schulen haben ſich die „Ragged schools“ (Lumpen-Schulen) ange-
ſchloſſen, die von Einzelnen unterhalten und mit Recht als „provisional
institutions“ betrachtet werden, die beſtändig zu Industrial schools über-
zugehen ſtreben, da ſie doch im Grunde eben ſo nothwendig ſind und
eben ſo tüchtig ſein müſſen, als die letztern (Senior 161).
Dieß ſind die Grundverhältniſſe des Armenſchulweſens Englands.
Die Nothwendigkeit deſſelben, einmal anerkannt, erzeugte die zweite
einer regelmäßigen Unterſtützung, und dieſe wieder die dritte eines
eigenen Organes theils für die Austheilung der Unterſtützung ſelbſt,
theils für die Oberaufſicht über die unterſtützten Schulen. Denn wie
ſchon früher bemerkt, bildet und wächst die behördliche Thätigkeit mit
der Pflicht des Staats, an der materiellen Hülfe Theil zu nehmen.
So entſtand das Committee of the Privy Council, wie es gewöhnlich
genannt wird, oder genauer das Committee for Education des Privy
Council, als oberſte Armenſchulbehörde. Schon 1833 waren für jene
drei Klaſſen der Armenſchulen 20,000 Pfd. St. bewilligt. Natürlich
entſtand ein vielfacher Streit, theils von Seiten der obenerwähnten
Geſellſchaften, theils von Seiten der Gemeinden und einzelnen Vereine,
um an jenem Gelde Theil zu nehmen. Die Geſetzgebung ihrerſeits
[99] mußte daher ein Organ für die Vertheilung einſetzen und beſtimmte
Bedingungen für die einzelnen Schulen vorſchreiben. Das erſtere war
das obenerwähnte Committee mit ſeinen Schulinſpektoren; das zweite
iſt dann durch die Beſtimmungen durchgeführt, welche im Syſtem ge-
nauer anzugeben ſind. Es iſt nur feſtzuhalten, daß das Committee
for Education nicht etwa als eine Art Unterrichtsminiſterium angeſehen
werden darf; es hat weder mit dem Privatunterricht, noch mit dem
Berufsbildungsweſen irgend etwas zu thun. England bildet daher
ſchon mit ſeinem Volksunterricht einen weſentlichen Gegenſatz zu
Deutſchland. Eine Vergleichung im eigentlichen Sinne des Wortes iſt
hier faſt nur denkbar von dem höchſten ſocialen Standpunkt. Es iſt
indeß nicht zu verkennen, daß die internationalen Begriffe und For-
derungen hier wie überhaupt in der Verwaltung allmählig zur Geltung
kommen. Den Ausdruck hiefür bietet für das Volksſchulweſen das
Auftreten des Princips der allgemeinen Schulpflicht unter dem
Namen des „compulsory system,“ das freilich nur noch eine kleine,
aber energiſche Partei für ſich hat, jedoch täglich mehr Boden gewinnt;
namentlich auf Grundlage des ſich immer mehr entwickelnden öffent-
lichen Lehrerbildungsweſens (pupil-teachers), die freilich vor der Hand
nur noch für die Armen- und Hülfsſchulen beſtimmt ſind. Englands
Volksſchulweſen muß daher nicht wie das deutſche und franzöſiſche, als
ein im Weſentlichen feſtgeſchloſſenes Syſtem, ſondern als ein mitten
in der Bildung auch ſeiner Grundprincipien begriffener Proceß be-
trachtet werden, in welchem nicht ſo ſehr die Zuſtände, als eben dieſe
ſich bildenden Principien das wahre Objekt einerſeits der Beobachtung,
anderſeits der Vergleichung abgeben.
Die Literatur über das engliſche Volksſchulweſen und ſeine frühere
Geſchichte bei Buckle, Geſchichte der Civiliſation I. S. 202. (Warum
hat Ruge in ſeiner Ueberſetzung die deutſche nicht nachgetragen?)
Ueber die Commiſſion für Education ſ. GneiſtI. S. 326. Ueber die
District schools (Armenhäuſer) daſ. II. S. 107. Spezielle Literatur:
Wieſe, Briefe über engliſche Erziehung 1852, ſpeziell gut für die
Bezeichnung des Charakters derſelben; J. A. Vogt, Mittheilungen
über das Unterrichtsweſen Englands und Schottlands 1857, namentlich
für das ſchottiſche Volksſchulweſen wichtig; A. Tylor, Induſtrie und
Schule 1865, von B. v. Gugler. Der Anhang des letztern iſt viel
mehr werth als das Buch ſelbſt und gibt namentlich über die Volks-
ſchule eine ſehr gute Darſtellung S. 228—240; E. Wagner, das
Volksſchulweſen Englands und ſeine neueſte Entwicklung 1865; beſonders
[100] werthvoll durch die Beziehung auf den Revised Code von 1859 und
1863; dabei gute hiſtoriſche Darſtellung. Kurz und brauchbar ein
Artikel in Schmids Encyclopädie (Art. Großbritannien):
Neben Deutſchland und England iſt nun der Charakter des Volks-
ſchulweſens in Frankreich ein nicht minder beſtimmter als in jenen
Ländern. In Frankreich iſt die Volksſchule principiell und praktiſch
eine amtliche Anſtalt, mit ſtrengſter amtlicher Leitung, während
der freie Elementarunterricht ſich daneben faſt ohne Aufſicht wie in
England bewegt. Das Volksſchulweſen gibt daher hier ein ganz anderes
Bild als in jenen Ländern.
Der Grund dieſer Erſcheinung iſt nun unzweifelhaft mit dem ſo-
cialen Inhalt der franzöſiſchen Revolution verbunden.
Die Revolution hat, wie wir an einer andern Stelle gezeigt,
alle ſtändiſchen Unterſchiede rechtlich vernichtet, und das Volk als Ein
ſocial homogenes Ganze anerkannt. Die naturgemäße Folge davon
war, daß dem entſprechend auch das Bildungsweſen des Volkes gleich-
falls als ein Ganzes betrachtet wurde. Frankreichs Geſetzgebung hat
daher zuerſt in Europa den Volksunterricht ſyſtematiſch als einen Theil
des Bildungsweſens eingereiht, durch die Université daſſelbe in die-
ſelben Ordnungen der Verwaltung hineingebracht wie die höchſten Bil-
dungsanſtalten, und die Pflicht des Staats grundgeſetzlich anerkannt,
für die Volksbildung alter Klaſſen zu ſorgen. Den Ausdruck dieſer
Verhältniſſe bilden ſchon die formalen Abſtufungen der instruction pri-
maire, secondaire und supérieure, die Akademien als Bildungs- oder
Unterrichtsprovinzen, die ganz gleichmäßig die Volksſchule, die gelehrten
Anſtalten wie die Facultäten verwalten und die Aufſtellung des erſten
eigentlichen Miniſteriums des Unterrichts. So entſprach die Ordnung des
Volksſchulweſens formell der Ordnung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft.
Allein indem auch die Revolution Frankreichs es natürlich nicht
vermochte, innerhalb jener Geſellſchaftsordnung den Klaſſenunterſchied
der Beſitzenden und Nichtbeſitzenden zu beſeitigen, vermochte ſie es auch
nicht, die Conſequenzen dieſes Unterſchiedes für Art und Umfang des
Elementarunterrichts zu überwinden. Dieſe Conſequenzen beſtanden hier
wie immer darin, daß die Beſitzenden ſich ſelbſt den Elementarunter-
richt für ihre Kinder verſchafften, während derſelbe für die Kinder der
Nichtbeſitzenden durch den Staat geſchaffen werden mußte. So erzeugten
ſich gleich anfangs mit der organiſchen Einheit des geſammten Bil-
dungsweſens in der Universitézwei Grundformen des Elementar-
[101] unterrichts, den beiden Klaſſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, den
Beſitzenden und Nichtbeſitzenden entſprechend. Dieſe beiden Grundformen
ſind die Écoles publiques und die Écoles libres mit ihren
Pensionnats. Jene bilden das Elementarſchulſyſtem der Verwaltung
des Staats, dieſe dasjenige der freien Unterrichtsthätigkeit. Und dieß iſt
zunächſt das Grundverhältniß in dem Elementarunterrichtsweſen Frank-
reichs; dem Inhalte nach ähnlich wie in England, wo auch die be-
ſitzende ihren von der nichtbeſitzenden geſchiedenen Elementarunterricht hat.
Nur in Einem Punkte unterſcheidet ſich das franzöſiſche Syſtem weſentlich
von dem engliſchen. Während in dem letztern die Public schools den
Charakter und das Recht von Armenſchulen haben, ſowohl im Lehr-
weſen als in der Schulpflicht, haben die Écoles publiques in Frank-
reich dieſen Charakter eben ſo wenig als in Deutſchland. Sie ſind hier
wie dort Verwaltungsanſtalten, im Princip für alle Kinder einge-
richtet, während der Elementarunterricht außerhalb der Volksſchule
grundſätzlich als Ausnahme gilt, faktiſch aber die Hauptſache bildet. In
England iſt gerade das Umgekehrte der Fall; die Benutzung der Public
schools iſt rechtlich Ausnahme, und die Privats teaching iſt Regel.
Und daraus ergeben ſich dann die weiteren Unterſchiede im öffentlichen
Schulrecht, ganz abgeſehen von der Lehrordnung ſelbſt, auf die wir
hier keine Rückſicht zu nehmen haben.
Jene Stellung der Écoles publiques als der eigentlichen Staats-
ſchulen für den Elementarunterricht des ganzen Volkes fordert näm-
lich zunächſt, daß die Unterrichtsgeſetzgebung nicht, wie England, bloß
für die Armenſchulinſtitute, ſondern für das ganze Reich gleichmäßig
gelte und daß daher das Syſtem der Volksſchule gleichförmig für alle
Theile des Ganzen durchgeführt werde. Es folgt aber zweitens daraus,
daß auch das Syſtem der freien Elementarbildungsanſtalten der ein-
heitlichen Geſetzgebung und der einheitlichen Oberaufſicht unterworfen
werde. Und ſo enthält nun das Volksſchulweſen, oder vielmehr das,
was man in Frankreich als die „Instruction primaire“ innerhalb der
Université zuſammenfaßt, drei Momente, welche ſeinen Charakter und
Inhalt bilden; das öffentliche Recht der Écoles publiques, das öffent-
liche Recht der Écoles libres, und endlich das Verhältniß zwiſchen jenen
beiden Grundformen des franzöſiſchen Elementarunterrichts. Ohne Schei-
dung und ſelbſtändige Behandlung dieſer drei Elemente läßt ſich kein
klares Bild vom franzöſiſchen Volksſchulweſen geben.
A) Das Syſtem des Verwaltungsrechts der öffentlichen Elemen-
tarſchulen der Instruction primaire beruht, nach dem deutſchen Muſter,
das der franzöſiſchen Geſetzgebung vorgeſchwebt hat, auf dem oberſten
Princip, daß die Elementarſchulen öffentliche und Staatsanſtalten
[102] ſein ſollen, und auf dem Zuſammenwirken der Staatsbehörden, der
Gemeinden und der Geiſtlichkeit. Nur in ſeiner Verwaltung iſt es
von dem deutſchen Volksſchulweſen grundſätzlich darin verſchieden, daß
die Schulpflicht nicht geſetzlich eingeführt iſt, und daß das Verhältniß
der Gemeinde weſentlich anders aufgefaßt wird, ſowie daß das Lehrer-
weſen ohne alle Selbſtändigkeit iſt. Die Aehnlichkeit iſt daher vielmehr
eine formale, als eine weſentliche. Die Grundverhältniſſe dieſes öffent-
lichen Rechts ſind folgende.
1) Das oberſte Princip der Volksſchulverwaltung iſt hier wie in allen
Theilen der Administration publique die unbedingte Unterordnung der
Volksſchule unter die Behörde, welche durch eine ſtrenge Organiſation
der Oberleitung bis ins Einzelne verwirklicht wird. Daß das Ganze
unter dem Ministre de l’Instruction publique ſteht, iſt ſelbſtverſtänd-
lich. Das Behördenſyſtem (Begriff der Behörde ſ. in der vollziehenden
Gewalt) dagegen enthält eine ſcharfe und ſtreng durchgeführte Tren-
nung der Vollziehung in zwei Organen, den Recteurs de l’Académie
(ſ. oben) und den Préfets. Die Recteurs haben nämlich die aus-
ſchließliche Leitung der Lehre und der Erziehung (tout ce qui con-
cerne le gouvernement intellectuel et moral de l’enseignement).
Die Préfets dagegen haben die ebenſo ausſchließliche Verwaltung aller
perſönlichen, wirthſchaftlichen und rechtlichen Angelegenheiten der Schule,
namentlich die Errichtung von Schulen und die Anſtellung der Lehrer;
die Perſonalverhältniſſe der Lehrer ſind ihnen namentlich unter völliger
Ausſchließung des Recteur durch die Verordnung vom 22. Auguſt 1854
ſpeciell übertragen. Der Lehrer iſt daher geiſtig vom Recteur und materiell
vom Préfet vollſtändig abhängig, und die Bildung eines Lehrerſtandes,
dieſes wahren Kernes aller Volksbildung, grundſätzlich unmöglich
gemacht. Recteur und Préfet üben ihre Rechte vorzugsweiſe aus durch
das Inſtitut der Inſpektoren. Dieſes Inſtitut, eingeführt und or-
ganiſirt durch das Geſetz von 1850 auch für die Volksſchule, hat alle
Keime der Selbſtändigkeit der letztern durch Anſchluß an die
Selbſtverwaltung gründlich vernichtet. So lange daſſelbe in ſeiner jetzigen
Form beſteht, iſt keine Hebung des Volksſchulweſens in Frankreich mög-
lich, weil keine Selbſtändigkeit des Lehrerſtandes möglich iſt (ſ. unten).
Die Inſpektoren nämlich ſind theils Inspecteurs d’académie, Oberin-
ſpektoren für die ganze Unterrichtsprovinz, die alſo auch die höheren
Bildungsanſtalten überwachen, theils die Inspecteurs d’arrondissement
(pour l’instruction primaire), die eigentlichen Schulräthe für die Volks-
ſchule. Die letzteren haben Bericht und Referat an den erſteren, der
erſtere an den Recteur und den Préfet, je nach ihrer Competenz. Die
praktiſche Folge iſt die ſouveraine Herrſchaft des Inspecteur d’arron-
[103] dissement über das ganze Volksſchulweſen. „Le véritable gouverne-
ment de l’instruction primaire, c’est l’inspection“ (Eug. Rendu).
Die einzelne Ortsſchule wird vom Maire als Vertreter der Präfektal-
gewalt mit dem Recht der Suſpenſion des Lehrers, und vom Geiſtlichen
als Vertreter der Rektoralgewalt ausgeübt. Es iſt der vollſtändigſte
Organismus der Beherrſchung der Volksſchule.
2) Daneben hat nun allerdings das franzöſiſche Syſtem der Selbſt-
verwaltung Platz gegriffen. Es iſt in der vollziehenden Gewalt gezeigt, daß
das Weſen derſelben in Frankreich in den Conseils, unter Ausſchließung
wirklicher Selbſtthätigkeit der Selbſtverwaltungskörper, beſteht. So iſt
es auch im geſammten Bildungsweſen, und ſpeziell im Volksſchulweſen.
Es iſt jedoch von nicht geringem Intereſſe, den Gang der Selbſt-
verwaltung in Beziehung auf das Schulweſen, wenn auch nur in den
Hauptzügen zu verfolgen.
Die erſten Geſetzgebungen von 1789 und 1793 hatten das Volks-
ſchulweſen ganz in die Hand der Gemeinden gegeben. Der damit ent-
ſtehende völlige Mangel an Einheit und Gleichmäßigkeit machte die
ſtrenge Geſetzgebung Napoleons I. erklärlich. Sein Syſtem war ein
einfaches und auch hier allenthalben gleiches. Die Gemeindeſchulen
wurden wie alle andern Gemeindeangelegenheiten dem Conseil municipal
als berathende, dem Maire als vollziehende Gewalt unterworfen. Doch
wurde dieſes Syſtem in der Wirklichkeit nur ſehr theilweiſe ausgeführt,
da die Regierung nur wenige wirkliche Schulen herſtellte. Die Reſtau-
ration nahm dann das Napoleoniſche Princip auf, nur mit leichter Mo-
dification in Beziehung auf die Conseils. Das Geſetz vom 22. Febr. 1816
ſetzte in jeden Kanton ein „Comité de surveillance pour encourager
et surveiller l’instruction primaire“ (Art. 1); doch ſtand die Gemeinde-
ſchule noch ausſchließlich unter dem Maire und dem Geiſtlichen (Art. 8).
Das Geſetz vom 28. Juni 1833 ging einen weſentlichen Schritt weiter,
indem es in jeder Gemeinde ein Comité local de surveillance aus
dem Maire, dem Geiſtlichen und einigen angeſehenen Bürgern, vom
Comité d’arrondissement ernannt, bildete. Dieß, in Verbindung mit
dem Princip der Wahl des Schulausſchuſſes im Gemeinderathe, und
der freien Wahl des Lehrers durch die Gemeinde bei öffentlicher Be-
werbung (ſ. unten) war ein großer Fortſchritt. Das Volksſchulweſen
begann ſelbſtändig zu werden. Da fing die centrale Bureaukratie
an zu reagiren. Seit 1835 wurden zunächſt Inſpektoren der Akade-
mieen eingeſetzt, die freilich anfänglich mit den Volksſchulen wenig zu
thun hatten. Die letzteren blieben dabei unter der Herrſchaft des
Préfet; da aber derſelbe ſich um das Detail nicht kümmern konnte, ſo
erhielt ſich, trotz des Inſpektorats während der ganzen Juliregierung,
[104] das Princip des Guizot’ſchen Geſetzes von 1833. Erſt die Februar-
Revolution vernichtete vollſtändig, zum tiefen Bedauern der intelligenten
Klaſſe, die freiſinnige Ordnung des Guizot’ſchen Geſetzes. Um nämlich
dem entgegen die einzelne Ortsſchule der centralen Herrſchaft zu unter-
werfen, ward durch die Verordnung von 1850 das ganze Syſtem der
Comité locaux aufgehoben, und das Syſtem der Inspecteurs d’arron-
dissements für die Volksſchule mit faſt unbegränztem Recht als chef
de service eingeführt (Art. 20) mit genauem Reglement von 1850
über die Ernennung jedes Inſpecteurs. Nur das Comité d’arrondisse-
ment blieb in der neuen, gleichfalls durch die Verordnung von 1850
eingeführten Form der délégués cantonaux beſtehen, von dem Robert
(Dict. de la Politique) mit Recht ſagt: „ils sont restés dans un état
d’inertie complète.“ So iſt die ganze Volksſchule nunmehr der Ge-
meindethätigkeit entzogen, die Selbſtverwaltung in derſelben zu einem
bloßen Schein gemacht und durch die völlige Herrſchaft des behördlichen
Elements der Reſt der Selbſtändigkeit des Volksſchulweſens zu Grunde
gegangen. „Dans les écoles communales tout émane et relève des
pouvoirs publics: composition du personel, méthode, enseignement.“
(Rendu, bei Blockl. c.)
3) Dem entſprechend iſt mit dem letzten Geſetze die Bildung eines
ſelbſtändigen Lehrerſtandes in Frankreich unmöglich geworden. Der
Gang der franzöſiſchen Geſetzgebung zeigt, daß die Verwaltung mit
richtigem Gefühl die Grundlage des letztern in der Anſtellung des
Lehrers erkannt hat. Daher iſt auch gerade auf dieſem Punkt ein lang-
ſamer Uebergang von der durch die Revolution hergeſtellten Freiheit zu
der gegenwärtigen vollſtändigen Abhängigkeit des einzelnen Lehrers leicht
erkennbar. Die Geſetze der Revolution (D. 27 Brum. a. III) laſſen den
Lehrer noch durch eine Jury aus der Gemeinde wählen; das Geſetz
vom 1. Mai 1802 ſchon durch den Maire in Gemeinſchaft mit dem
Conseil municipal, die Verordnung vom 29. Februar 1816 durch den
Recteur, jedoch mit Vorſchlag von Seiten des Kantons; die Verord-
nung vom 21. April 1828 durch den Biſchof, das Geſetz von 1833
Wahl durch das Comité d’arrondissement auf Vorſchlag des Conseil
municipal;Ernennung durch den Miniſter. Von da an beginnt,
unter Vorbereitung durch das Syſtem der Inſpektion, der Rückſchritt.
Das Geſetz vom 15. März 1830 läßt noch die Präſentation durch den
Gemeinderath zu, mit Ernennung durch den Miniſter; die Verordnung
vom 9. März 1852 dagegen läßt nur eine Präſentationsliſte (liste d’ad-
missibilité) des Conseil départemental, als leere Form, der Ernennung
durch den Recteur voraufgehen, bis endlich, nach völliger Organiſirung
der Inspection de l’instruction primaire, das Geſetz vom 14. Juni 1854
[105] (Art. 8) die Ernennung einſeitig dem Préfet überträgt. Damit iſt die
völlige Abhängigkeit des Lehrers und die Aufhebung der Gemeinderechte
endlich vollzogen; wenig hat daneben das Recht der Gemeinde zu be-
deuten, einen Wunſch darüber zu äußern, ob der vom Préfet ernannte
Lehrer weltlich oder geiſtlich ſein ſoll (Decret vom 31. Oktober 1854).
Ein Lehrerſtand iſt auf dieſer Grundlage in Frankreich unmöglich;
mit ihm eine tüchtige Volksbildung.
4) Indeſſen iſt für die Lehrerbildung Einiges geſchehen, wäh-
rend die Bedingungen eines ſelbſtändigen Charakters dem Lehrer
durch die obigen Rechtsordnungen gänzlich entzogen ſind. Freilich ſind
die Schulbücher (livres classiques) unter die ſtrengſte Controle ge-
ſtellt und natürlich die Lehre auch; allein man hat denn doch in den
Écoles normales primaires den Anfang von Schullehrerſeminarien ge-
macht (Reglement vom 21. März 1851), ohne daß jedoch die Seminar-
bildung nothwendig erklärt wäre für die Befähigung zur Lehre;
dazu genügt einfach ein brévet de capacité, welches von einer Com-
miſſion des Conseil départemental, dem Reſte der alten Jury, nach einer
höchſt unbedeutenden Prüfung ausgeſtellt werden (Rechnen, Schreiben,
Leſen, die Elemente der franzöſiſchen Sprachlehre und — das Maß-
und Gewichtsſyſtem! Geſetz von 1850, Art. 13). Doch können die
Candidaten ſich auch über andere Gegenſtände prüfen laſſen (Art. 46).
Uebrigens iſt ſelbſt dieſe Prüfung und das Zeugniß nicht einmal noth-
wendig; es genügt ſchon dreijähriger Dienſt als Hülfslehrer („stage“
Art. 43. 25). Das geiſtige Element der Lehrerbildung iſt damit na-
türlich ſo gut als überflüſſig erklärt. Von einem Lehrkörper oder
gar von Lehrerverſammlungen iſt natürlich dabei gar keine Rede.
Dieß ſind die Grundlagen des Rechts der öffentlichen Volksſchulen
der Instruction primaire in Frankreich. Die natürliche Folge davon iſt
die, daß die beſitzende Klaſſe ſich ſo weit als möglich denſelben entzieht
und ein eigenes Syſtem des Elementarunterrichts bildet. Daſſelbe be-
ſteht aus den Écoles libres und den Pensionnats.
B) Die Écoles libres ſind ihrem Princip nach eben ſo wie die Pen-
sionnats, was ſie in England ſind, gewerbliche Unternehmungen für den
Unterricht, während ſie ihrem Rechte nach dennoch im Geiſte aller fran-
zöſiſchen Verwaltung der Oberaufſicht der Behörden unterworfen bleiben.
Im erſten Sinne ſind ſie frei, und mußten es um ſo mehr ſein, als
die geiſtlichen Körperſchaften, um ſich der ſtaatlichen Gewalt der Écoles
publiques zu entziehen, eigene Elementarſchulen und Erziehungsanſtalten
gründeten. Das Verhältniß der Behörden zu denſelben hat aber dem
ganzen Gange des Volksſchulweſens analog drei Hauptepochen durch-
gemacht. Die erſte Epoche geht bis 1833 und erlaubt gegen Autoriſation
[106] die Errichtung von Schulen und Penſionaten aller Art, die einmal
errichtet, dann wie jedes Gewerbe, ohne alle weitere Oberaufſicht
bleiben. Die zweite ward durch das Geſetz von 1833 begründet, nach
welchem jeder 18jährige Franzoſe, der ſein brevet de capacité be-
ſitzt und ein certificat de moralité von ſeinem Maire hat, eine ſolche
errichten kann (Art. 4—8). Allein das Weſentliche war damals die
Ueberwachung dieſer Anſtalten durch das Comité d’arrondissement
(Art. 19) mit regelmäßigen Inſpektionen aller Écoles primaires, alſo auch
der geiſtlichen und dem Rechte der Suſpenſion, nebſt jährlichem Bericht
an den Préfet; alſo eine wirkliche und ernſthaft gemeinte Betheiligung
der Selbſtverwaltung auch an dem Gange der École libre. Das Geſetz
von 1850 hat dagegen die letztere wieder gänzlich aufgehoben, und
an deren Stelle zwei Grundſätze geſtellt, welche in hohem Grade ernſte
Folgen haben. Zuerſt hat der Inſpecteur die Genehmigung zu
geben; dagegen hat der Inſpecteur gar keine Berechtigung in Be-
ziehung auf den Unterricht, ſondern nur in Beziehung auf die Geſund-
heit und Sittlichkeit (Art. 21). Es iſt klar, daß, da hiemit auch jeder
Bericht ausgeſchloſſen iſt, der Elementarunterricht der beſitzenden Klaſſen
in Frankreich ein rein zufälliger, unorganiſcher, gegen keine Art von
Einſeitigkeit und Verkehrtheit geſchützter, und im Ganzen der Literatur
und dem Volke ſelbſt gänzlich unbekannter werden mußte. Nirgends iſt
die Aufhebung des Geſetzes von 1833 verderblicher geweſen, als gerade
für dieſe freien Schulen. Sie ſind außerhalb der Selbſtverwaltung und
ſelbſt der ſtaatlichen Verwaltung.
C) Es ergiebt ſich aus der obigen Darſtellung, daß der ganze
Charakter des franzöſiſchen Elementarunterrichtsweſens auf dem tiefen
Unterſchiede der Écoles publics mit ihrer vollſtändigen Abhängigkeit
von der Regierung und den Écoles libres mit ihrer völligen Freiheit
von derſelben beruht. Beide ſind gleichmäßig von der Selbſtverwaltung
der Gemeinde ausgeſchloſſen; beide haben keinen Lehrerſtand; beide
haben durch den Mangel an jeder gemeinſamen Vorbereitung auch keine
pädagogiſche Literatur; jedes Gebiet ſteht für ſich ſelbſt da, und in dieſer
Scheidung drücken ſie die tiefe Scheidung zwiſchen den beiden
Klaſſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der beſitzenden
und der nichtbeſitzenden aus.
Das Gefühl dieſer großen Thatſache ſcheint nun auch der Regierung
ſchon ſeit Jahrzehnten klar geworden zu ſein. Guizots Geſetz von 1833
war, durch die Betheiligung der Gemeinde an der Volksſchule, nicht
bloß eine abſtrakte Einführung der Selbſtverwaltung in das Volksſchul-
weſen nach dem Muſter der deutſchen Volksſchule, ſondern vielmehr der
erſte große Verſuch, den Klaſſengegenſatz der Geſellſchaft eben durch
[107] dieſe Theilnahme der Selbſtverwaltung an dem Schulweſen ohne Un-
terſchied der öffentlichen und freien Schulen zu bekämpfen und zu be-
ſeitigen. Es iſt daher die Aufhebung der Principien dieſes Geſetzes und
die Einführung des rein bureaukratiſchen, gegen die niederen Klaſſen
unbeſchränkten, gegen die beſitzenden und religiöſen Körperſchaften da-
gegen geſetzlich machtloſen Syſtems der Inſpektorate zugleich eine Maß-
regel großer rein ſocialer Bedenken und Gefahren, die Niemand
überſehen ſollte, der über dieſe Dinge redet. Es wäre hohe Zeit, den
eingeſchlagenen Weg zu verlaſſen und durch die Herſtellung eines dem
deutſchen Schulweſen entſprechenden Syſtems jenen Gefahren vorzubeugen.
Wir bemerken dieß ausdrücklich, da durch die Erweiterung des
Syſtems der Volksſchule, namentlich durch die Verſuche der Einführung
des Klaſſenſyſtems nicht allein geholfen werden kann. Schon das Ge-
ſetz von 1833 hatte nämlich die Unterſcheidung der Instruction primaire
élementaire und supérieure gemacht; die letztere ſollte die Elemente der
Naturgeſchichte, der Geſchichte, der Geographie und der Geometrie ent-
halten, und je nach Bedürfniß (als höhere Volksſchule) eingeführt wer-
den (Art. 1). Es iſt eine ſehr ernſte Thatſache, daß dieſe höheren
Klaſſen der Volksſchule durch das Geſetz von 1850 direkt unterdrückt
ſind; nur daß dagegen den Gemeinden die Erlaubniß gegeben wird,
an ihrer Stelle Specialſchulen (Écoles speciales, intermédiaires,
professionelles) und etwa noch Sonntagsſchulen als Écoles d’apprentis
zu errichten. Der weſentliche Unterſchied dieſer Beſtimmung von dem
Guizot’ſchen Geſetz beſteht darin, daß das letztere die höhere Volksſchule
zu einem organiſchen Theile der Volksbildung machte, und damit
die Vermittlung zwiſchen den geſellſchaftlichen Klaſſen, den Uebergang
von der niedern zur höhern, in das Syſtem des Volksunterrichts auf-
nahm, während die Gegenſtände der höheren Schulklaſſen den Charakter
allgemeiner geiſtiger Bildung behalten; der Hauch des freieren geiſtigen
Lebens, der die höheren Geſellſchaftsklaſſen hebt und trägt, ward durch
Geſchichte und Geographie, durch Naturgeſchichte und Geometrie in die
Volksſchule übertragen und für die Geſammtbildung des Volkes ſo ein
edlerer Boden gewonnen. Das Napoleoniſche Geſetz von 1850 dagegen
beſchränkt dieſe höheren Klaſſen zuerſt auf diejenigen Kinder, „que leur
vocation (!) commerciale, industrielle, entraine au déla de l’enseigne-
ment primaire“ — die formelle geſetzliche Anerkennung des Klaſſen-
unterſchiedes in der Geſellſchaft. Dann aber erſcheinen dieſe höheren
Volksſchulklaſſen in der That auch als einfache Gewerbeſchulen, alſo
nicht als ein Theil der Volks-, ſondern vielmehr ſchon der gewerblichen
Berufsbildung, als Uebergang zu den Écoles industrielles (ſ. unten),
die von den höheren geiſtigen Elementen der Bildung ferne gehalten
[108] werden. Man muß daher auch auf dieſem Punkte den geſchehenen
Rückſchritt nicht bloß in dieſem Sinne, ſondern eben ſo ſehr in dem
der ſocialen Gegenſätze beklagen.
Dieß ſind die allgemeinen Grundzüge des franzöſiſchen Volksſchul-
weſens. Einzelnes zur Vergleichung im Folgenden.
Geſetzgebung. Im Allgemeinen wird man hier drei Abſchnitte
unterſcheiden. Der erſte umfaßt alle Geſetze bis 1833. In dieſer Zeit
kümmert ſich die Geſetzgebung noch wenig um die Volksſchule, und über-
läßt die Sache faſt ganz den Ortsſchulbehörden. Der zweite geht von
1830 bis 1850; er enthält die Aufſtellung und Durchführung des
großen Princips der (deutſchen) Selbſtverwaltung des (Gemeinde-)
Schulweſens, und bildet die Epoche des Aufſchwunges der ganzen
Volksbildung. Der dritte beginnt mit dem organiſchen Geſetze vom
15. März 1850 und der Inſpektoralorganiſation, nebſt dem Reglement
vom 29. Juli und 7. Oktober; das Décret organique vom 9. März 1852
organiſirte die Aufgabe und Competenz der Präfektur und mit ihm
der Behörden; auch im Schulweſen das Geſetz vom 14. Juni 1854
beſtimmte namentlich das Verhältniß des Recteur zu den Préfets und
organiſirte die Scheidung des öffentlichen Rechts der Lehre von dem der
Lehrer, was durch das hochwichtige Dekret vom 31. Oktober 1854 dann
genauer durchgeführt ward. Eine ſehr gute Sammlung dieſer Geſetze
der neueſten Epoche in: Lois, décrets et réglements rélatifs à l’in-
struction publique (vom 2. December 1851 bis 1855). Andere Samm-
lungen bei Block (Dictionnaire de l’Administration v. Instruction
publique). Spezielle Bearbeitungen bei Laferrière, Cours de droit
administratif III. Tom. IV. Ch. 2 und 3; Batbie, Traité du droit
public et administratif III. Ch. §. 165—179; beide mit großer Be-
rückſichtigung des Lehrer- und Schulrechts. — Die franzöſiſche Volks-
ſchulliteratur iſt in hohem Grade unbedeutend und beſteht meiſtens
nur in Interpretation der Geſetze; es mangelt mit dem ethiſchen Ele-
ment des Berufes und Standes das höhere Element der Pädagogik.
Zwei gute Schriften von Eugène Rendu: De la loi de l’enseigne-
ment, und de l’Education populaire dans l’Allemagne du Nord. —
Durch dieſen Mangel jedes Standesbewußtſeins und ſelbſt jeder tüchtigen
Statiſtik hat auch die deutſche Literatur ſich kein rechtes Urtheil bilden
können, um ſo weniger, da den Pädagogen, den einzigen, die ſich bei
dem völligen Mangel der Verwaltungslehre mit dem Gegenſtand ernſtlich
beſchäftigten, die Hauptſache, das öffentliche Recht und die organiſche
Bedeutung der Selbſtverwaltung denn doch nicht ſo geläufig ſein konnte.
[109]
Erſt in der neueſten Zeit iſt nun die Hauptfrage des franzöſiſchen
Unterrichtsweſens, die Frage nach der Schulpflicht wieder aufge-
nommen, und die Diskuſſion hat weſentlich die Formen und den Cha-
rakter der Gegenſätze zwiſchen dem voluntary und obligatory system
angenommen. Der Ausgangspunkt war ſchon ſeit der Conſtitution vom
3. September 1791 (Art. 17) die Frage, ob der Elementarſchulbeſuch
unentgeltlich ſein ſolle. „Cette égalité, profitable aux riches, aurait
pour objet d’effacer toute distinction entre les enfants et de leur
apprendre l’égalité dès l’age le plus tendre.“ Batbie, Traité de
droit publique et administratif, Tom. III. p. 227. Daher hatte die
Conſtitution vom 19. Juni 1793 die Eltern unter ſtrenger Buße
verpflichtet, ihre Kinder ohne Unterſchied drei Jahre lang in die
öffentliche Schule zu ſenden (Art. 6. 8. 9). Von einer Durchführung
dieſes Geſetzes konnte um ſo weniger die Rede ſein, als dieſe Schulen
eben nicht allenthalben beſtanden. Man ließ daher das Princip auf
ſich beruhen. Guizot ſah den richtigen Weg, indem er damit begann,
die Selbſtverwaltung an die Spitze der Schule zu ſtellen durch das
treffliche Geſetz von 1833. Das Geſetz vom 15. März 1850 ſagt aus-
weichend (Art. 24): „L’enseignement primaire est donné gratuite-
ment à tous les enfants, dont les familles sont hors d’état de le
payer.“ Zur Entſcheidung kann die Sache nicht gelangen, ſo lange
die Elementarſchulen ſelbſt ſo unfrei bleiben, wie ſie das gegenwärtige
Regime gemacht hat (ſ. unten Schulrecht).
von Belgien, Italien und der Schweiz.
Wir ſchließen unmittelbar an die Darſtellung Frankreichs die
Darſtellung der franzöſiſchen Nachbildungen an, die im Grunde nichts
weiter ſind, als die einfache Uebertragung der franzöſiſchen Grundformen
auf das Schulweſen dieſer Länder, jedoch mit kleinen Modifikationen,
welche aus den Eigenthümlichkeiten der betreffenden Länder hervorgehen.
Dahin rechnen wir Belgien, Italien und die franzöſiſchen Kantone der
Schweiz.
Was zunächſt Belgien betrifft, ſo haben wir ſchon oben auf das
Grundgeſetz ſeines Volksſchulweſens von 1842 hingewieſen; die Grund-
züge ſind formell und materiell die franzöſiſchen. Die Écoles primaires
ſind von der Instruction secondaire geſchieden. Jede Gemeinde ſoll
eine Volksſchule haben; jedoch zeigt ſich hier der eigentliche Charakter
des Unterſchiedes darin, daß die Gemeindeſchule nicht als ein ſtaat-
liches Inſtitut, ſondern als eine ſubſidiäre Anſtalt aufgefaßt wird.
[110]„L’enseignement officiel n’a d’autre but, ici que de venir en aide à
l’enseignement libre; aussi lorsque dans une localité il est suffisam-
ment pourvu aux lections de l’enseignement primaire par les écoles
privées, la commune peut être dispensée dé l’obligation d’établir
elle même une école.“ Geſetz von 1842 (Art. 1. 2. 3); de Fooz,
Administration Belge IV. Tom. II. §. IV. Darüber entſcheidet die
Deputation; jedoch ſtellt die Gemeinde die Lehrer in den öffentlichen
Volksſchulen an, was ſchon das Gemeindegeſetz (Art. 84) ihr zugeſprochen
hatte. Auch hat die Gemeinde ſowohl die Oberaufſicht über die Lehrord-
nung als über die Verwaltung; jedoch haben die Geiſtlichen zu aller
Zeit das Recht, die Schulen zu beſuchen. Auf dieſe Weiſe unterſcheidet
ſich das belgiſche Volksſchulweſen wie das geſammte belgiſche Bildungs-
weſen von dem franzöſiſchen dadurch, daß wir hier beide Syſteme
auch formell als gleichberechtigt neben einander auftreten ſehen;
das Syſtem der freien Schulen mit dem Recht die öffentlichen Schulen
zu vertreten, und das der Gemeindeſchulen; und die belgiſchen
Verhältniſſe bringen es mit ſich, daß die erſteren meiſt von den geiſt-
lichen Körperſchaften ausgehen. Beide Syſteme bekämpfen ſich ſeit
1830 aufs hartnäckigſte, und einer der großen Unterſchiede des ganzen
belgiſchen Lebens und Rechts von dem holländiſchen beſteht eben in dieſer
Anerkennung der Macht der Geiſtlichkeit, von der ſich Holland in der
neueſten Zeit ganz freigemacht hat. — Gleichfalls dem franzöſiſchen
Vorbilde entſprechend ſind die Écoles primaires supérieures, Bürger-
ſchulen mit der Unklarheit ihrer Stellung; ebenſo die Écoles normales,
welche die Lehrerſeminarien vertreten (ſ. unten). Die Geſetze und Ver-
ordnungen, welche dem Geſetze von 1832 folgen, haben an dieſem
Charakter nichts Weſentliches geändert. Belgien iſt, und wohl auf
lange Zeit, dasjenige Land, in welchem die Frage nach der Stellung
der Geiſtlichkeit zur Volksſchule einfach durch die Scheidung der
geiſtlichen von der weltlichen Volksſchule erledigt iſt, ohne daß
jedoch die letztere damit ganz von der geiſtlichen Oberaufſicht und Ein-
wirkung befreit wäre.
II. Eine formell noch klarere und ausgebildetere Nachahmung des
franzöſiſchen Syſtems tritt uns in dem allerdings noch ſehr jungen,
und für den größten Theil des neuen Reiches noch ganz auf dem Papier
ſtehenden Volksſchulweſen Italiens entgegen. Wir haben den Cha-
rakter des italieniſchen Bildungsweſens ſchon oben bezeichnet. Vergleicht
man damit ſpeziell das Volksſchulweſen, ſo muß man ſagen, daß
während die gelehrte Bildung weſentlich auf dem Syſtem der alten
Univerſitäten, die wirthſchaftliche auf dem der deutſchen Vorbilder be-
ruht, der Gang des Volksſchulweſens ſich allerdings der Form nach dem
[111] franzöſiſchen anſchließt. Allein während ſie die Herſtellung der Schulen
und die Schullaſt wie in Frankreich zum Gegenſtand einer centralen
Reichsgeſetzgebung gemacht, und das ganze Schulweſen einer centralen
Inſpektion untergeordnet hat, iſt die einzelne Schule dennoch Gegen-
ſtand einer beinahe ganz freien Selbſtverwaltung. Bei aller formellen
Ueberſtimmung mit dem den Italienern verſtändlichen franzöſiſchen Recht
iſt der Geiſt des neuen Schulweſens ein deutſcher, und man erkennt
deutlich, daß nur die noch ſehr große Unfertigkeit des communalen Lebens,
namentlich auf dem Lande, die Regierung zwingt, ihrerſeits mehr einzu-
greifen, als ſie ſelbſt möchte. In der That hat die neue Geſetzgebung
ſich offenbar von dem vielleicht ganz richtigen Gefühle leiten laſſen, daß
es ſich hier, um überhaupt zu einem Reſultate zu gelangen, noch nicht
ſo ſehr um freie Selbſtverwaltung der Gemeinden, als vielmehr über-
haupt nur um ein durch die centrale Gewalt herzuſtellendes Volksſchul-
weſen handelt. Das iſt das Princip der neuen Geſetzgebung, welche mit
dem Grundgeſetz für die Volksſchule vom 13. November 1859 beginnt.
Die leitenden Gedanken dieſes Geſetzes ſind: Scheidung der istruzione
inferiore (Elementarſchule) von der istruzione superiore (Bürgerſchule),
jede mit zweijährigem Curſus. Aller Volksunterricht ſoll unentgeltlich
ſein, und die Gemeinden ſind verpflichtet, den Unterricht darzubieten.
Derſelbe iſt geſchieden in Knaben- und Mädchenſchulen. Die Schul-
pflicht iſt nach franzöſiſchem Muſter nicht eingeführt, jedoch ſollen die
Eltern der ſchulfähigen Kinder vom Sindaco aufgefordert werden, die
Kinder zur Schule zu ſchicken, eventuell können ſie mit Bußen dazu
angehalten werden; eine Beſtimmung des Geſetzes von 1859, welche
ſpeziell in Neapel durch Verordnung vom 7. Januar 1861 eingeſchärft
worden iſt. Daneben haben die Gemeinden ihrerſeits ihre Schulen her-
zuſtellen und zu erhalten; doch können zwei Gemeinden zuſammengelegt
werden. Können ſie dennoch die Laſt nicht tragen, ſo werden ihnen nach
dem Geſetze von 1859 (Art. 345) vom Staate Unterſtützungen bewilligt.
Das Lehrerweſen beruht wie in Frankreich auf den scuole normale,
die theils vom Staate unmittelbar hergeſtellt, theils von den Gemeinden
errichtet und den Staatsnormalſchulen gleichgeſtellt ſind. Jeder Schul-
lehrer muß eine Prüfung beſtehen und bekommt alsdann die patente
di capacita (brevet de capacité). Die Zeugniſſe ſind wieder definitive
und proviſoriſche. Die Schulbildung iſt durch das Reglement vom
23. Juni 1860 genauer geregelt. Jede Provinz hat das Recht, ſolche
Lehrerſeminarien (scuole magistrale) zu gründen; die Profeſſoren der
Lehrerſeminarien haben ſelbſtändige Conferenzen über die Lehrordnung;
der Curs dauert drei Jahre; die Prüfungen werden öffentlich, theils
ſchriftlich, theils mündlich abgehalten; das patente wird jedoch erſt
[112] bewilligt, wenn die Seminariſten ein Jahr an einer öffentlichen Schule
als Gehülfen gedient haben (Geſetz von 1859, Art. 170. 171). An
dieß Syſtem der Volksſchule hat ſich ein Syſtem von Fortbildungs-
ſchulen (scuole per gli adulti), ſowohl Abendſchulen als Feiertags-
ſchulen angeſchloſſen, ſowie ein Verein für Worteſchulen. (asili rurali
per la infanzia Decr. reale vom 1. Oktober 1866). Dieß Syſtem ward
nun ſeit 1859 beſtändig weiter ausgebildet. Die Beſtimmungen über die
Bewilligung der Staatsunterſtützung ſind in einem Decr. reale vom
7. Juli 1863 genauer ausgeführt; dieſelbe ſoll in Nothfällen, in Fällen
der Verarmung, und endlich da bewilligt werden, wo die Gemeinden ſich
durch Wiederholungsſchulen auszeichnen. Das Geſetz vom 22. April 1866
hat die Summe von 300,000 Lire für die Herſtellung von Wieder-
holungsſchulen bewilligt, welche übrigens nicht bloß für Gemeinden,
ſondern auch für Geſellſchaften und ſelbſt für Privatunternehmungen
beſtimmt werden. Für die Lehrer ſind Prämien und Medaillen aus-
geſetzt (Decr. reale vom 3. Januar 1865 und 10. Juli 1866). Die
Inſpektion der Volksſchulen wurde durch Decr. reale vom 12. Dec. 1865
geordnet; das Geſetz vom 6. December 1866 hat endlich endgültig die
ganze Organiſation der Verwaltung beſtimmt, welche wir hier in ihren
Grundzügen aufführen, als Anhang zu den früheren Bemerkungen; die
Grundzüge ſelbſt ſind ganz nach franzöſiſchem Muſter. Das Consiglio
superiore iſt in die drei franzöſiſchen Sektionen getheilt, die Comitati
per l’istruzione universitara, die Istruzione secondaria und die Istru-
zione primaria. Jedes dieſer Comitati beſteht aus ordentlichen und
außerordentlichen Unterrichtsräthen. Hauptaufgabe iſt die Oberaufſicht
und die Abfaſſung von Berichten über den Zuſtand des Bildungs-
weſens, jedes in ſeinem Gebiete. Unter dieſen Comitati beſteht ein
Syſtem von Ispettori (20), jedoch hier beginnt der weſentliche Unter-
ſchied von dem franzöſiſchen Syſteme. Schon dieſe Ispettori haben nicht
das Recht, ſich in die eigentliche Verwaltung zu miſchen, ſondern ſollen
nur die Zuſtände des Unterrichtsweſens conſtatiren, mit gutem Rath
zur Hand gehen und berichten. Unter ihnen wieder ſtehen die Kreis-
inſpektoren (ispettori di circondario), die zunächſt dem Provinzial-
Collegium untergeordnet ſind, welche aus drei gewählten Mitgliedern der
Deputatione provinciale, und den Lehrern der erſten Schulen beſtehen.
Von der Gewalt der franzöſiſchen Préfets iſt hier keine Rede und die
Inſpektoren ſind in der That unter franzöſiſchem Namen deutſche Schul-
räthe. Die unterſte Stufe der Oberaufſicht führt der delegato sco-
lastico, den der Miniſter für jedes Mandamento (Bezirk) ernennt, der
aber kein Beamteter iſt, ſondern eine untergeordnete Stellung hat, und
deſſen wichtigſte Funktion der Bericht an das Miniſterium über die
[113] örtlichen Bedürfniſſe der Schule iſt. Auf dieſen Grundlagen baut Italien
an ſeinem Volksſchulweſen, das offenbar, wenn die angegebenen Ge-
danken durchgeführt werden, ein ſehr wohlgeordnetes und ſegensreiches
werden kann, da es die franzöſiſche Bureaukratie nur ſo weit mit ihren
Formen in ſich aufgenommen hat, als ſie der Lehrfreiheit nicht hinder-
lich iſt. Von der Herrſchaft der Geiſtlichkeit iſt gar keine Rede mehr.
Die neueſten eben ſo reichhaltigen, als wie es ſcheint ehrlichen Nach-
richten in der Statistica del Regno d’Italia Istruzione publica e pri-
vata 1866. 4. Frühere Angaben bei Brachelli, Staaten Europas,
S. 537. Die erwähnte Statistica geſteht ſelbſt, daß hier noch viel zu
wünſchen übrig bleiben wird.
III. Die Schweiz endlich hat in ihren franzöſiſchen Kantonen das
franzöſiſche Syſtem aufgenommen. Doch müſſen wir uns bei mangeln-
den genaueren Angaben über das Recht des Schulweſens auf die von
Brachelli angegebenen ſtatiſtiſchen Daten beſchränken.
Beſonderer Theil.
Das Syſtem des Volksſchulrechts.
Das Syſtem des Volksſchulweſens zeigt nun die Anwendung der
im Charakter des letztern liegenden Grundſätze in den einzelnen orga-
niſchen Verhältniſſen der Volksſchule. Da dieſe ihrem Weſen nach gleich
und daher, wenn auch mit dem verſchiedenſten Rechte, bei allen Volks-
ſchulen vorhanden ſind, ſo ſind ſie die Grundlagen der Vergleichung für
alle einzelnen Beſtimmungen des Volksſchulrechts, während der Cha-
rakter daſſelbe als ein Ganzes auffaßt.
Die Grundlagen dieſes Syſtems ſind die Organiſation (der
Verwaltung), das eigentliche Schulrecht (als die Geſammtheit der
Beſtimmungen, durch welche das Princip der Schulpflicht für Verwal-
tung und Individuum zum Ausdruck gelangt), das Lehrerweſen (als
Grundlage der beſondern Funktion) und die Lehrordnung (als Aus-
druck der ſocialen Auffaſſung des Elementarunterrichts).
Jede einzelne Beſtimmung dieſes Syſtems muß nun ihrerſeits als
Ausdruck des Charakters des Schulweſens aufgefaßt und von dem
Standpunkt deſſelben zur Vergleichung gebracht werden. Man wird
dabei die öffentliche Schule von der Privatſchule ſtets deßhalb ſcheiden
müſſen, weil nur in der erſteren Princip und Thätigkeit der Verwal-
tung vollſtändig zu Tage tritt, während der Regel nach die letztere,
Stein, die Verwaltungslehre. V. 8
[114] auf die höheren Klaſſen der Geſellſchaft berechnet, in ihrer Lehrordnung
den Uebergang zu den Berufsſchulen in ſich trägt.
Es iſt dabei feſtzuhalten, daß, je höher die Geſittung eines Volkes
ſteht, um ſo mehr der Unterſchied zwiſchen Volks- und Be-
rufsſchulen ſich auch im Rechtsſyſtem derſelben verwiſcht, und
der letzteren daher ſo weit möglich die Aufgabe geſtellt wird, daſſelbe
zu leiſten, was die Privatſchulen leiſten. Je mehr dieß erreicht
wird — und das Kriterium dafür ſind Klaſſenſyſtem und Lehrordnung
— um ſo höher ſteht das Volksſchulweſen.
Erſte Gruppe. Oeffentliche Volksſchule.
Der Organismus der Schulverwaltung enthält die Organe der
vollziehenden Gewalt und ihre Competenz, welche für die Ausführung
der den Elementarunterricht durch die öffentliche Volksſchule betreffenden
öffentlich rechtlichen Beſtimmungen zu ſorgen haben.
Die Einheit dieſes Organismus wird ſtets von dem Vorhandenſein
des Miniſterialſyſtems, die Klarheit der Gliederung von der allgemeinen
hierarchiſchen Eintheilung, das Princip ihres Rechts von der Aner-
kennung und dem Rechte der Selbſtverwaltung, ſpeziell der Gemeinde,
Umfang und Inhalt der einzelnen Competenzen dagegen vorzugsweiſe
von dem Maße abhangen, nach welchem der Staat oder die Gemeinde
zu den Schullaſten beitragen.
Das Syſtem des Organismus wird ſtets auf die drei großen Ka-
tegorien: Miniſterium, Behörden und Selbſtverwaltung zurückgeführt
werden. Die hiſtoriſche Entwicklung dieſes Syſtems beruht in allen
Ländern zunächſt formell darauf, daß der Antheil, den jedes jener
drei Elemente an die Verwaltung hat, immer genauer beſtimmt oder
die Competenz derſelben immer mehr mit der naturgemäßen Funktion
jener Elemente in Harmonie gebracht wird. Dem Inhalte nach geht
dann dieſe Entwicklung dahin, die Schulverwaltung mit der
Schullaſt mehr und mehr in die Hände der Gemeinden zu legen,
den Behörden aller Art die Oberaufſicht über die Harmonie dieſer
Gemeindeverwaltung mit den beſtehenden rechtlichen Vorſchriften zu
geben, durch die Miniſterien aber die Geſetze zu entwerfen und für
die Gleichartigkeit ihrer Befolgung für alle einzelnen Grundverhält-
niſſe des Volksſchulweſens zu ſorgen. Dieſen drei Competenzen ent-
ſprechen die Bezeichnungen: Ortsſchulweſen, Landesſchulweſen und
Volksſchulweſen.
[115]
Während in dieſem Syſtem die Stellung und Competenz des
Miniſteriums kaum irgendwo zweifelhaft iſt, iſt dagegen das Be-
hördenſyſtem weſentlich verſchieden, und zwar, indem es einerſeits
ſtets aus zwei Elementen beſteht, dem weltlichen und dem kirchlichen,
andererſeits aber die Competenz beider gegenüber der Gemeinde den
eigentlichen Kern der hiſtoriſchen Entwicklung enthält.
Die urſprünglich einzige Behörde für die Volksſchule iſt unzweifel-
haft die Geiſtlichkeit. Erſt im vorigen Jahrhundert, wo der Staat die
Volksſchule für eine Anſtalt der Verwaltung erklärt, beginnt er für
die Verwaltungsbehörde bei dem Elementarunterricht Rechte zu fordern.
Dieſe Rechte entwickeln ſich langſam, und in jedem Staat wohl in
verſchiedener Weiſe dahin, daß ſie ſich urſprünglich nur auf die Her-
ſtellung und wirthſchaftliche Verwaltung der Schule beziehen, dann
aber, namentlich durch die Errichtung der Lehrerſeminarien aus Staats-
mitteln, einen Antheil, und an manchen Orten das ausſchließliche
Anſtellungsrecht der Lehrer erzeugen, und endlich auch die
Lehre ſelbſt, den Unterricht, umfaſſen. Hier nun gelten meiſt zwei
Syſteme: entweder die Verbindung der geiſtlichen Behörde mit der
weltlichen in der Oberaufſicht, oder die Scheidung derſelben, in
welcher wieder die weltliche Behörde die äußeren Angelegenheiten der
Schulverwaltung, die kirchliche Behörde dagegen bald den ganzen
Unterricht oder nur den religiöſen Unterricht leitet, Verhältniſſe deren
rechtlichen Ausdruck dann die Unterordnung des Schullehrers
unter den Geiſtlichen oder weltliche Behörde bildet, die oft nicht einmal
genau definirt iſt.
Nachdem auf dieſe Weiſe beide Elemente der Organiſation ſich
verbunden, entſteht nun mit der höheren Entwicklung der hierarchiſchen
Gliederung auch das Syſtem der Behörden in den Schulcollegien,
die wieder zum Theil zugleich für die Berufsſchulen competent ſind, und
ihre Funktion theils als entſcheidendes Organ, theils als Aufſichts-
organ mit verſchiedenen Formen und Namen vollziehen. Die Noth-
wendigkeit und Einheit aller Verwaltung und die immer wachſende
Gleichheit der Bildungs- und Lebensverhältniſſe erzeugt dann das
Inſtitut der allgemeinen, wir möchten ſagen, der miniſteriellen Auf-
ſicht, unter der die Landesbehörde mit der ihrigen und endlich die
Ortsbehörde in Verbindung mit der Geiſtlichkeit und Selbſtverwal-
tung ſteht.
Auf dieſe Weiſe ergeben ſich folgende elementare Kategorien der
Organiſation der Volksſchulverwaltung in ihrer Vergleichung, bei denen
natürlich nur feſtzuhalten iſt, daß die höheren Organe ſtets auch mit
der Berufsbildung zu thun haben.
[116]
Einer wirklichen Vergleichung, die nur durch Reduktion auf die obigen
Kategorien möglich iſt, entbehren wir. Es iſt klar, von welcher entſcheiden-
den Wichtigkeit ſie wäre. Die Anhaltspunkte dafür dürften folgende ſein.
England, Frankreich und Deutſchland zeigen den verſchiedenen
Charakter ihrer Geſammtauffaſſung am deutlichſten gerade in dem Ver-
hältniß jener Organiſationen.
England hat keine Miniſterial-Organiſation und kann keine haben
(ſ. oben). Die Unklarheit in der geltenden Organiſation iſt jedoch — natur-
gemäß — eben ſo groß als in dem Princip des Schulweſens überhaupt.
Man muß hier drei Syſteme des Organismus unterſcheiden. Zuerſt das
des „Committee“, das unter ſich 50 Schulinſpektoren hat, welche jährlich
genauen Bericht erſtatten. „Die Autorität dieſer Behörde iſt aber nur eine
moraliſche, keine legale,“ d. i. vollziehende. (Schöll in Schmids Encyklo-
pädie, Art. Großbritannien S. 87); jedoch kann ſie Regulations aufſtellen,
wenn die Schule Unterſtützung annimmt. Zweitens iſt durch Ordre in
Council vom 25. Februar 1856 ein Education Departement mit zwei
Sektionen, dem Elementar- und dem Vorbildungsunterricht der Armen
(Dep. of Science and Art) errichtet, das unter dem Lord President ſteht
(ſ. unten und Gugler S. 198); offenbar eine proviſoriſche Einrichtung.
Drittens beſtehen neben beiden ganz ſelbſtändig die Syſteme der großen
Schulvereine, namentlich das der National school und der High Church
mit ihrer an das biſchöfliche Syſtem angeſchloſſenen Organiſation: Primas
von England, Biſchöfe mit zehn Pairs; die Diöceſanbehörde unter den
Biſchöfen und örtlich die Dekanate (Schöll a. a. O. 89. 90). Es iſt klar,
daß das Inſpektionsſyſtem aus Frankreich ſtammt, während das National
school System ächt engliſch-kirchlich iſt. Hier iſt aber noch alles im Werden.
[117]
Frankreichs Schulverwaltung iſt ein Theil ſeines Beamten-
organismus und ſeines Syſtems der Conseils, nur daß hier der
Unterſchied des weltlichen und geiſtlichen Elements ſchon in dem von
uns ſog. Landes- (Departemental-) Schulweſen auftritt. Das Schema
iſt folgendes (ſ. die Quellen oben):
- I. Ministre Conseil impérial
- II. Préfet et Recteur Conseil départemental
et Conseil académique
Inspecteur général - III. Maire et Curé Délégués cantonaux
Conseil municipal
Inspecteur de l’in-
struction primaire.
Princip: Die Lehre gehört dem geiſtlichen, die Anſtellung und
Verwaltung dem weltlichen Element, die Gemeinde hat nur über die
Schullaſten zu berathen (ſeit 1850), der wahre herrſchende Beamte iſt
der Inspecteur de l’instruction primaire.
Deutſchland. Bei aller Verſchiedenheit hat dennoch die Ver-
waltungsorganiſation Deutſchlands im Weſentlichen denſelben Charakter.
Der Schwerpunkt liegt hier, ſtatt wie in Frankreich im Landesſchul-
weſen, vielmehr im Ortsſchulweſen, und das Princip des Ortsſchul-
weſens iſt das Recht der Selbſtverwaltung, das eigentlich die Ortsbe-
hörde nur erſetzt, wo es fehlt, und durch die Inſpektion auf die
geſetzlichen Vorſchriften zurückgeführt wird, wo dieſe von der Gemeinde
nicht befolgt werden. Das geiſtliche Element ſteht verſchieden; —
theils hat es den ganzen Unterricht zu leiten, theils nur den Religions-
unterricht, theils iſt es die oberaufſehende, überhaupt nicht mehr unter-
richtende Ortsbehörde ſelbſt. Hier fehlt uns leider viel Kenntniß im
Einzelnen.
Oeſterreich. Geſetzgebung auf Grundlage der Thereſianiſchen
Geſetze, die noch bei dem Ortsſchulweſen ſtehen bleiben. Die Ver-
faſſung der deutſchen Volksſchule vom 11. Auguſt 1805, revidirt 1838,
welche das Landesſchulweſen durch die Conſiſtorien begründen. Errich-
tung des Unterrichts-Miniſteriums am 23. März 1848, Errichtung der
Landesſchulbehörden 1850, mit Inſtruktion vom 15. April 1850.
Daneben Lehrerverſammlungen unter dem Schuldiſtrikts-
Aufſeher (Verordnung vom 26. Mai 1851); Errichtung des Unter-
richts-Miniſteriums (Entſchließung vom 12. April 1852);
Gemeinde-Ordnungen von 1849 und 1862); Einrichtung der
Schulräthe (28. Auguſt 1854); der Ortsſchulaufſeher (Erlaß
vom 15. Januar 1853); des Unterrichtsraths mit der Sektion für
Volksſchulen (ſ. Helfert an mehreren Orten. StubenrauchII.
367—392. Vorzüglich Ficker bei Schmid V. 274 ff. Spezielle An-
gaben der Organiſation S. 299 ff). Darnach iſt das Schema:
[118]
- I.Miniſter. Unterrichtsrath.
- II.Statthalter
mit Referenten
(Verordnung vom
19. Sept. 1853).
Landesſchulbehörde
(Conſiſtorium).
Schulrath und
Dechant. - III. Ortsbehörde. Gemeinde.
(Präſentationsrecht).
Geiſtlicher und Orts-
ſchulaufſeher.
In dieſer an ſich ſehr guten Organiſation fehlt nur eins, um ihren
ganzen Erfolg zu ſichern, und das iſt eine allgemeine und freie Lehrer-
bildung (ſ. unten).
Preußen. Princip des Allgemeinen Landrechts II. 12. 9.: alle
Volksſchulen unter Aufſicht des Staats zu ſtellen, ohne das Verhältniß
der Grundformen zu regeln. Organiſirung daher von unten hinauf,
im Anſchluß an die Regierungen (Landesſchulweſen). Inſtruktion für
die Regierung vom 23. Oktober 1817 und Beſchränkung der Geiſtlichen
auf den Religionsunterricht unter den Conſiſtorien (Inſtruktion ebend.
und Verfaſſung von 1850, Art. 24). Errichtung des Miniſteriums
(Verordnung vom 3. November 1817); der religiöſe Unterricht dem
evang. Oberkirchenrathe zugewieſen (Reglement vom 29. Juni 1850). Un-
klarheit des Allgemeinen Landrechts über die Ortsſchule; Einführung
der Schulvorſtände auf dem Lande. Circ. vom 28. Oktober 1812
(Prediger, Gemeinde und Patron) und der ſtädtiſchen Schuldepu-
tationen. Städteordnung vom 19. November 1818, was in allen
folgenden Städteordnungen beibehalten iſt. Ueber die nichterfüllte Ab-
ſicht, eine neue Organiſation auf Grundlage der Verfaſſung von 1850
(Art. 24—26) zu erlaſſen, ſowie über die noch beſtehenden Landesſchul-
verwaltungen und die einzelnen Geſetze: Rönne, Unterrichtsweſen I.
und deſſen Staatsrecht I. 203 und II. 441. 442.
Die Grundverhältniſſe ſind demnach:
- I. Miniſter. Evangeliſcher Ober-
Kirchenrath (für Real-
Unterricht). - II. (Oberpräſidium)
Regierungen.
Provinzial-Schulcol-
legien.
Landräthe und Seminar-
Direktoren (evangeliſch).
Dechant (katholiſch). - III. (vacat) Gemeindevertretung.
Patron.
Geiſtliche.
(vacat).
Es iſt klar, was hier fehlt: die Beſtimmung der Competenzen
in Beziehung auf die Aufgaben der Ortsſchule, da hier im Grunde
dieſelben Organe vorwalten, beaufſichtigen und an die entſcheidende
[119] Stelle (Regierung) verichten, da die Landesaufſicht (Landrath ꝛc.) gleich-
falls ohne feſte Competenz iſt. Die Tüchtigkeit des Lehrerſtandes gleicht
aber alles aus.
Bayern. Die Grundlage der Organiſation bildet die Beil. VI.
zur Verfaſſungsurkunde; dann als Ausführung die Formations-
Verordnung vom 17. December 1825. Einzelne Beſtimmungen ſ.
unten. Die Rechtsverhältniſſe beruhen auf dem Gegenſatz der zwei
unfertigen Gedanken, daß erſtlich alle Schullehrer unter der Oberauf-
ſicht des Staats ſtehen und daher auch von der Behörde angeſtellt
werden, zweitens daß ſie trotzdem keine „pragmatiſche Stellung“ (amt-
liche) haben. (Pözl, Verwaltungsrecht §. 186.) Das Syſtem iſt folgendes:
- I.Miniſterium.
- II.Kreisregierung. (vacat). Diſtriktsſchulinſpektor, eventuell
Viſitationen durch Regierungs-
Commiſſäre. - III. Ortsſchulorgane als „Lokalſchulinſpektion“ mit Viſitation. Zuſam-
mengeſetzt aus Ortsvorſteher, Geiſtlichen und Gemeinderäthen
ohne Scheidung ihrer Funktionen. — Verwaltung der Stiftungen
bloß unter der Gemeinde.
Hier mangelt vor allem Klarheit in den Funktionen, nament-
lich bei der Ortsſchule; wodurch die Organe der letztern in der Un-
möglichkeit ſind, Mängel der Ortsverwaltung ſelbſtändig zur Sprache
zu bringen, ohne ſich ſelbſt anzuklagen. Die Scheidung der Aufſicht
und der Ortsſchulverwaltung erſcheint als durchaus nothwendig. Die
Organiſirung der Lokalinſpektion noch jetzt nach der Inſtruktion vom
3. September 1808. Qualifikationsliſten des Diſtriktsinſpektors über
die ganze Localſchulinſpektion (Miniſterial-Erlaß vom 9. März und
31. Auguſt 1833); Organiſirung der Viſitationen (Verordnung vom
1. April 1832). Pözl, Verwaltungsrecht §. 188. Approbation der
Schulbücher von den Biſchöfen (Reſcript vom 8. April 1852. Vgl.
Klemm bei Schmid, Encyklopädie I. S. 430—32).
Baden. Vor 1830 ſehr große Ungleichartigkeit. Entſcheidend
dann die Verordnung über das Volksſchulweſen vom 15. Mai 1834,
welche auch jetzt noch die Grundlage des beſtehenden, mit vielen einzelnen
Verordnungen erweiterten Rechts iſt. Sammlungen von Offenburg
und Schmid nebſt der Literatur bei Holtzmann in Schmid, Ency-
clopädie I. S. 387. — Weitläuftiges und verwickeltes Syſtem der Schul-
behörden. Oberſchulbehörde (Oberrath für Juden) mit Religions-
und Schulconferenzen; dann die Bezirksbehörden mit Bezirksviſitationen;
örtlich der Pfarrer als Schulinſpektor mit dem Schulvorſtand aus
der Gemeinde gebildet. Ueber oder neben der Oberſchulbehörde wieder
[120] eine Oberſchulconferenz; für die mit den Volksſchulen verbundenen
Induſtrieſchulen wieder die vier Regierungen als Oberſchulbehörde; und
dieß alles in unklar geordneten Competenzverhältniſſen unter dem
Miniſterium des Innern.
Hannover. Die Grundlagen der geſchichtlichen Rechtsentwicklung
kurz und klar von Pabſt bei Schmid, Encyklopädie IV. S. 319.
Hier auch die für Hannover keineswegs unbedeutende Volksſchul-Literatur
deſſelben S. 326. Die Grundlage der gegenwärtigen Ordnung iſt das
Geſetz vom 26. Mai 1845, nebſt der Inſtruktion vom 31. December,
welche zuerſt ein gemeinſames und gleichartiges Volksſchulweſen her-
ſtellte. Die Organiſation iſt durch eine Reihe von Verordnungen ſeit
1850 geregelt und zwar in Ausführung des Geſetzes über Kirchen- und
Schulvorſtände vom 14. Oktober 1848 und Zuſatzgeſetz vom 5. No-
vember 1850. Cultus-Miniſterium mit einem Schulreferenten, mit Ge-
neralinſpektion; in jedem evangeliſchen Conſiſtorium ein Oberſchulinſpektor;
örtlich Schulvorſtände in jedem Schulbezirk (Geiſtliche, Schullehrer und
Gemeindevorſtände), die Verordnung vom 19. Mai 1859 hat dann das
„Oberaufſichtsrecht“ geregelt, indem auch alle Privatſchulen unter die
(kirchlichen) Oberſchulinſpektoren geſtellt ſind, wie denn überhaupt Han-
nover ſich durch ſtrenge Unterordnung der Schule unter die Kirche aus-
zeichnet. Pabſt a. a. O. S. 326.
Kurheſſen. Ein ziemlich eingehender Artikel von Bezzenberger
bei SchmidIII. S. 475 ff. Geſchichte deſſelben (Heppe, Geſchichte
des deutſchen Volksſchulweſens. Bd. I. und II. 1858, und deſſen Bei-
träge zur Geſchichte des heſſiſchen Schulweſens 1850). Organiſation:
Schulvorſtand; auf dem Lande Landrath und Pfarrer ohne, in den
Städten mit Gemeindemitgliedern; Inſpektion durch die Pfarrer.
Oberſchulinſpektor ohne beſtimmte Competenz; dritte Inſtanz die
Provinzialregierung, jedoch mit Beſchwerderecht an das Miniſterium des
Innern.
Heſſen-Darmſtadt. (Strack in Schmid Encyklopädie III.
S. 511 ff.) Kurze Geſchichte des früheren Zuſtandes bis zum Geſetze
vom 6. Juni 1832, welches die einheitliche Grundlage des ganzen
Schulweſens iſt, insbeſondere der Organiſation derſelben, nebſt In-
ſtruktion vom 10. Juni 1832. Princip iſt hier im Gegenſatz zu
Hannover die ſtrenge Trennung der Schule von der Kirche und
Aufſtellung von eigenen Schulbehörden, des Oberſchulraths, der ſeit
1849 mit dem Oberſtudienrathe verbunden iſt, unter dem Namen
der Oberſtudien-Direktion. Von da an raſche und gedeihliche
Entwicklung des ganzen Volksſchulweſens. Die Bezirks-Schulcom-
miſſionen haben die Aufſicht in den Kreiſen; örtlich verwaltet der
[121] Ortsſchulvorſtand: Geiſtliche, Bürgermeiſter und zwei Gemeinde-
vertreter (Strack a. a. O. S. 513).
Schwarzburg-Rudolſtadt. Volksſchulgeſetz vom 23. März 1861.
Dazu einige Abänderungen, Verbeſſerung der Lage des Lehrers. Geſetz
vom 18. März 1864.
Belgien. Grundgeſetz für das Volksſchulweſen (instruction pri-
maire) vom 23. September 1842. Syſtem der Organiſation: 1) bür-
gerliche Civilinſpektion, für je einen der 108 Kantone einen Inspecteur
cantonal; dieſe Inspecteurs ſtehen nach franzöſiſchem Muſter unter
dem Inspecteur général der Provinz; 2) geiſtliche Inſpektion: Recht
auf Beaufſichtigung durch die Geiſtlichkeit und Bericht an die Miniſter;
3) die Inspecteurs généraux verſammeln ſich jährlich zu einem ober-
ſten Schulrath (Commission centrale, Verordnung vom 5. Dec. 1843),
wobei die Geiſtlichkeit berathende Stimme hat. (Le Roy bei Schmid
I. 497. 498. De Fooz, Droit administrativ Belge IV. T. II.)
Holland. Grundgeſetz vom 13. Auguſt 1857. Oberaufſicht durch
die Gemeinden, die in Belgien abgeſchafft iſt; im Uebrigen derſelben
gleich, mit Bezirks- und Provinzialinſpektoren und jährlicher Conferenz
derſelben, unter Ausſchließung der Geiſtlichkeit, und ohne einen
Generalinſpektor. (Le Roy bei Schmid III. 566. Geſetz von 1857.
Tit. V. 52 ff.)
Schulpflicht und Schullaſt.
Es würde von nicht geringem Werthe ſein, ſich über den Begriff
des Schulrechts zu einigen, da wohl nur von ihm aus die Grund-
lage einer Geſammtauffaſſung der betreffenden Verhältniſſe und Rechte,
namentlich aber eine Vergleichung der verſchiedenen Länder möglich
wird.
Ein Schulrecht kann nur da entſtehen, wo die Schule als eine
Anſtalt der Verwaltung erſcheint. Sowie nämlich dieſelbe den Ele-
mentarunterricht als in ihrer Aufgabe liegend erkennt, ſo muß ſie ſich
zwei Fragen vorlegen. Die erſte iſt die, ob die Einzelnen die Ver-
pflichtung haben, den in der Volksſchule gebotenen Elementarunter-
richt zu benutzen; die zweite iſt die, wie die materiellen Bedingungen
dieſes obligat gewordenen Elementarunterrichts zu beſchaffen ſind. Die
Antwort auf die erſte Frage erzeugt den Begriff der Schulpflicht;
das iſt die geſetzlich ausgeſprochene Pflicht zur Benutzung der Elementar-
ſchulen; die zweite Frage den Begriff der Schullaſt, das iſt die Ver-
theilung und Herſtellung der öffentlichen Leiſtungen für die beiden
[122] Hauptbedingungen der Schule, die Schulhäuſer und das Einkom-
men der Lehrer. Die Geſammtheit aller über dieſe drei Punkte
beſtehenden öffentlich rechtlichen Vorſchriften bilden dann das Schul-
recht (im engeren Sinn).
Es leuchtet nun ein, daß das rechtliche Princip der Schulpflicht
die beiden letztern Punkte nicht bloß erzeugt, ſondern auch ihrer Ord-
nung zu Grunde liegt, während das Umgekehrte nicht der Fall iſt. Und
hier nun unterſcheidet ſich zunächſt die deutſche Bildung von der fran-
zöſiſchen und engliſchen. Während das deutſche Schulrecht aus dem
geſetzlichen Princip der Schulpflicht hervorgegangen iſt und der Ge-
meinde die Schullaſt überläßt, enthält das franzöſiſche den Widerſpruch,
die Schullaſt zur geſetzlichen Pflicht der Gemeinde zu machen, während
die individuelle Schulpflicht nicht exiſtirt, endlich der Schulbeſuch zu-
letzt ſelbſt zu Grunde geht; England endlich hat auch keine ſelbſtändige
Schullaſt, ſondern nur das Syſtem von freien Unterſtützungen durch die
Regierung.
Urſprünglich erſcheint jede Schule als Stiftung und die Verwaltung
ihres Vermögens iſt eine rein corporative, ſo weit der Elementarun-
terricht nicht unmittelbare Aufgabe einer kirchlichen Corporation iſt.
Mit der geſetzlichen Schulpflicht dagegen wird die Herſtellung der Schule
eine Gemeindelaſt. Da nun aber die Gemeinden theils grundherrliche,
theils bürgerliche ſind, ſo entſteht der Grundſatz, daß dieſe Laſt ent-
weder dem Grundherrn oder der Stadt zufalle; der Staat erkennt
im vorigen Jahrhundert noch keine Unterſtützungspflicht an, wohl aber
fängt man an, die Gemeinden zu nöthigen, die mit der Schulpflicht
entſtehende Schullaſt zu übernehmen. Die unbedingte und allgemeine
Ausführung dieſer Pflicht erzeugt nun aber einerſeits die Nothwendig-
keit, der wirthſchaftlich unfähigen Gemeinde eine öffentliche Hülfe zu
gewähren, andererſeits die Forderung nach einem feſten Syſtem für
die Vertheilung der Schullaſt. Dieß Syſtem der Schullaſt empfängt
nun in jedem Staate ſeine Geſtalt je nach dem Verhältniß, in welchem
die Schule zur Gemeinde ſteht. Da wo die Gemeinde als ſolche
mit der Volksſchule gar nichts zu thun hat, wie in England, iſt die
Schullaſt keine Gemeinde-, ſondern eine Armenlaſt, wenn ſie nicht
durch Vereine hergeſtellt wird. Da wo die Gemeinde als reine Ver-
waltungsaufgabe daſteht, wie in Frankreich, iſt die Schullaſt grundſätz-
lich zum Theil Staats-, zum Theil Gemeindelaſt. Da wo die Ge-
meinde die Schule verwaltet, wird ſie weſentlich Gemeindelaſt. Und
hier wird dann wieder die Vertheilung dieſer Laſt durch das Princip
des Gemeinderechts beſtimmt. Die Reſte der ſtändiſchen Grundherrlich-
keit erhalten lange — zu lange — den Grundſatz, daß der Grundherr
[123] vorzugsweiſe das Schulhaus zu bauen habe, der Gehalt der Lehrer
aber nach den Formen der grundherrlichen Abgaben (Naturalleiſtun-
gen und Zehenten) von den Anſäßigen zuſammen zu bringen ſei. Erſt
mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Gemeinde auch auf dem Lande
tritt an die Stelle dieſer Naturalleiſtungen eine dem ſtaatlichen Steuer-
ſyſtem ſich anſchließende Steuer für das Schulweſen; das Einkommen
des Lehrers wird ein feſter Gehalt, und jetzt ſcheiden ſich die beiden
Syſteme, nachdem die Verwaltung der Schule in materieller Beziehung
entweder durchgreifend amtliche oder Selbſtverwaltung iſt. Da
wo im Sinne der erſteren Princip und Ausführung des Schulweſens
Sache der amtlichen Verwaltung wird (Frankreich), wird die erforder-
liche Summe amtlich feſtgeſtellt, durch den Staat erforderlichen Falles
ergänzt und durch die Gemeinde höchſtens repartirt, während der Gehalt
der Lehrer ein feſter und von einem Schulgeld keine Rede iſt. Da wo
im Sinne der zweiten die Volksſchule zwar im Princip Staatsſache, in
der Ausführung aber Gemeindeſache iſt, verwaltet die Gemeinde ſelbſt
das Schuleinkommen, und erſcheint in den höchſten Formen (Preußen)
als ſelbſtändige Corporation mit dem Rechte der Selbſtbeſteuerung, der
Erhöhung der Gehalte und einem Schulgelde, das jedoch meiſtens von
den Behörden feſtgeſtellt wird. Die hiſtoriſchen Verhältniſſe bei der
Entſtehung des Schulweſens haben dabei vielfache Einzelheiten in den
örtlichen Rechtsverhältniſſen hervorgerufen, namentlich in Beziehung
auf die Verpflichtung der früheren Gutsherren, welche jedoch mehr und
mehr in den Hintergrund traten vor der Frage, ob und wie weit die
Gemeinde ein Selbſtbeſteuerungsrecht für die Schule ausüben,
die Einnahmen ſelbſtändig verwalten und endlich das Schulgeld
aufrecht halten ſolle. Das erſtere erſcheint nothwendig, das zweite,
jedoch unter Genehmigung der Landesverwaltung, richtig, und das letztere
trotz aller Gegengründe, als die materielle Baſis für das individuelle
Vorwärtsſtreben der einzelnen Lehrer, vorbehaltlich der Modifika-
tionen, die in Beſtimmung der Höhe und der Erhebung deſſelben im
Intereſſe des Lehrerſtandes erforderlich ſcheinen.
Es bleibt die Aufgabe ſpezieller Arbeiten, in dieſem Gebiete die
Richtigkeit des Satzes nachzuweiſen, daß die Competenzen der Ver-
waltungsorgane ſich ſtets nach dem Verhältniß der Theil-
nahme von Staat, Gemeinde und Einzelnen (Schulgeld) an der Schul-
laſt richten. Die hervorragenden Syſteme des geltenden Rechts ſind
folgende.
Das engliſche Syſtem iſt ſehr intereſſant, weil es dieſes Verhältniß
[124] vielleicht von allen am deutlichſten zeigt. Was zuerſt das Princip
der Schulpflicht betrifft, ſo iſt es erſt in der neueſten Zeit überhaupt
zur Sprache gekommen, und die zwei Parteien oder Anſichten des
Voluntary system und des Compulsory system (ſpeziell vielfach als
das „preußiſche“ bezeichnet) ſtehen einander ſcharf gegenüber. (Gut
bei Schöll a. a. O. S. 85. Gugler bei Tyler S. 228 ff. und 278.)
Rechtlich iſt die Schulpflicht nur noch als ein Stück Sicherheitspolizei
betrachtet, indem nur die „herumſchweifenden Kinder,“ vagrant children,
polizeilich in die Industrial schools geſchickt werden können, und dieß iſt
erſt durch die Adderley’s Act. 20. 21. Vict. 48 beſtimmt worden (ſ. oben).
Hier iſt noch alles im Bilden definitiver Anſichten begriffen. Die Unter-
ſtützung durch das Committee for Education hat ein förmliches Syſtem
von Verpflichtungen der unterſtützten Schulen hervorgerufen, und dieſes
Syſtem iſt es, welches den Inhalt des Revised Code (1863) bildet.
(ſ. Schöll S. 87. Gugler S. 230; beſonders Wagners Volksſchul-
weſen Englands und ſeine neueſte Entwicklung 1865, ausführlich und
gut, mit hiſtoriſcher Darſtellung.) Die dafür geltenden Grundſätze ſind
nach dem Revised Code: 1) jede Schule (alſo auch alle Vereins-
ſchulen; Statiſtik derſelben ſehr gut bei Schöll S. 91 ff.) hat das
Recht auf Annahme und Ablehnung der Unterſtützung; 2) die gewährte
Unterſtützung wird ſpeziell zur Erbauung der Schulen, zur Herſtellung
der Lehrmittel und zur Verbeſſerung der Gehalte der — öffentlich ge-
prüften — Lehrer berechnet; 3) die Rechte der Verwaltung dafür
beſtehen in der Ausübung der Inſtruktion (ſ. oben), namentlich in
den von ihnen vorgenommenen öffentlichen Prüfungen, der Anſtellung
der Lehrer und der Aufſicht über die ſanitäre Einrichtung der Schul-
häuſer. Eine vielbeſtrittene Frage iſt die nach dem Schulgeld(Ca-
pitation). Dieſe kann nach engliſchem Princip nur bei Armenſchulen
als Pflicht aufgeſtellt werden, und iſt in dieſem Sinne auch geſetzlich
geregelt. Die Verpflichtung zur Tragung der Schullaſten liegt grund-
ſätzlich auf der Armengemeinde, ſo weit die Schule nicht Vereinsſchule
iſt. Speziell ſind namentlich die Beſtimmungen von 7. 8. Vict. 161.
1845 (Art. 40), wornach die Poor Law Commissioners, Armen-
gemeinden (parishes) zu Schulgemeinden zuſammen zu legen, und
Schulhäuſer zu bauen oder zu miethen, bis zu ein Fünftel der ganzen
Armenſteuer. Die Unterſtützungen (Privy Council grants) haben wie
geſagt das Syſtem der Inſpektion erzeugt, und damit die Frage, ob
es nicht beſſer wäre, auch dieſe Summe durch Armenſteuer (rates) einzu-
bringen. Wohlbegründete Oppoſition dagegen: Senior a. a. O. S. 2—11.
und 33—47. Rückſichtsloſe Belaſtung der Geiſtlichkeit ebend. S. 12—14.
Schulgeld anerkannt für die Arbeiterklaſſe, ſo weit ſie nicht Unter-
[125] ſtützung findet. Dabei beſtändige freiwillige Beiträge im Wachs-
thum. Bezeichnende Antwort in der Schul-Enquête. Auf die Frage:
ob die Theilnahme der Beſitzenden an der Bildung der Nichtbeſitzenden
wachſe? antwortet ein Hr. Watkinds: „Taking the voluntary contri-
bution as representing the interest, which the richer classes takes
in the education of the poor — there can be no doubt about it,
because those voluntary contribution have increased.“ (Senior
S. 18.) Die Schrift von Tyler iſt für die ganze engliſche Auffaſſung
ſehr inſtruktiv, beſonders S. 85 ff. Die Ueberzeugung davon, daß die
Schulverwaltung eine Staatsangelegenheit werden müſſe, drückt ſich in
dem Satze aus, daß das Privy Council System für das ganze Reich
eingeführt werden ſolle. (S. 39.) Senior gibt übrigens für die be-
rufsmäßig (ſ. unten) gebildeten Lehrer den Gehalt von 20 bis 60 L.
nebſt Wohnung an, partly supplied by the Government, partly
from the school p. 21.
Frankreich. Die Gemeinde gibt nothwendig Schulhaus und
Wohnung (Geſetz von 1850 Art. 37). Gehalt der Lehrer: feſter
Gehalt: 200 Fr., als Minimum, durch die Gemeinde repartirt; die
rétribution scolaire iſt das Schulgeld; wenn beides nicht zuſammen
600 Fr. ausmacht, gibt der Staat den Zuſchuß; dieſer Gehalt ſteigt mit
5 Jahren auf 700, mit 10 Jahren auf 800 Fr., aber wird jähr-
lich vom Préfetbewilligt! Das Schulgeld wird jährlich von dem
Conseil municipal beſtimmt; Arme ſind vom Schulgeld frei. Sehr
genaue Vorſchriften über die Rechnungslegung beim Gemeinderath durch
den Maire, namentlich durch das Geſetz von 1850 regulirt (ſ. oben).
Deutſchland. Bei großer örtlicher Verſchiedenheit gelten folgende
ziemlich allgemein angenommene Grundſätze: das Schulhaus baut
die Gemeinde; die Ausgaben werden als Steuerzuſchläge umgelegt; für
die Wohnung des Lehrers exiſtiren nur wenige Verpflichtungen, doch
iſt ſie wohl in den meiſten neuen Schulhäuſern inbegriffen. Der Ge-
halt der Lehrer hat nur noch in einzelnen Staaten ein geſetzliches Mi-
nimum gefunden; zum Theil beſtehen leider! noch Naturalleiſtungen,
Grundbeſitzungen, die der Lehrer ſelbſt verwalten muß. Das Schulgeld
iſt ziemlich allgemein; jedoch muß oft leider! der Lehrer ſelbſt es ein-
treiben. Meiſtens wird daſſelbe unter Genehmigung der Behörde feſtgeſtellt;
die Armen ſind wohl allenthalben frei. Die tiefe Kluft zwiſchen Beſitz
und Nichtbeſitz iſt durch die Vermeidung eigener Aufſtellung von Armen-
ſchulen wohl ziemlich allgemein beſeitigt. Das ſchulpflichtige Alter iſt
kein ganz gleiches. Meiſtens zwiſchen dem 6. und 12. oder 14. Jahr.
Vgl. Brachelli, Staaten Europas S. 534. Die Verwaltung der
Schullaſt iſt meiſt Gemeindeſache, unter Oberaufſicht der Behörde,
[126] nicht wie in Frankreich, Sache der Behörde unter Vorlage an die Ge-
meinde. Uebrigens ſind dieſe Verhältniſſe nirgends gehörig zuſam-
mengeſtellt. In den einzelnen Staaten gilt folgendes.
Preußens Schulrecht (im obigen Sinn) leidet in ſeiner Klarheit
darunter, daß die Verpflichtung des Staats, für genügende Schulan-
anſtalten zu ſorgen, allerdings durch die Verfaſſung von 1850 aner-
kannt, aber in ihrer Ausführung noch immer nicht durch ein allgemeines
Schulgeſetz geordnet iſt. Princip iſt jedoch nach Art. 25, daß zu-
nächſt die Gemeinde, der Staat erſt in zweiter Linie zu Herſtellung
der Schulen verpflichtet iſt. In Gemäßheit dieſer leitenden Grundſätze
iſt die Schulgemeinde eine ſelbſtändige Corporation, welche für jede
einzelne Schule eine ſelbſtändige „Societät“ bildet (alſo eigentlich eine
Verwaltungsgemeinde für die Elementarſchule). Die Schullaſt iſt ſchon
ſeit dem Allgemeinen Landrecht II. S. 12, 29—38 eine Laſt dieſer So-
cietät, ertheilt „nach Verhältniß der Beſitzungen und Nahrungen“ §. 31.
Das Verhältniß der alten Grundherren erſt 1855 nach dem Einkommen
beſtimmt. Minimalſätze ſind noch nicht allgemein beſtimmt; ebenſo
iſt die Pflicht des Staats zur Unterſtützung nicht organiſirt, jedoch
werden dieſelben erforderlichen Falles regelmäßig bewilligt. Rönne
hat dieſe Verhältniſſe ſehr gut zuſammengefaßt in ſeinem Staatsrecht I.
§. 201. Das Schulgeld iſt Gegenſtand heftiger Controverſen. Früher
faſt allgemein, iſt es zwar durch die Verfaſſung von 1850 (Art. 25) auf-
gehoben, beſteht aber nicht nur fort, ſondern ward ausdrücklich als das
„naturgemäßeſte Emolument der Lehrerbeſoldung“ anerkannt. (Circ.
vom 6. März 1852.) Regulirung deſſelben durch die Regierungen,
Erhebung durch die Gemeinden. Schulhaus und Lehrerwohnung
durch die Societät herzuſtellen, ſchon nach dem Allgemeinen Landrecht
a. a. O. §. 31. Die Verwaltung geſchieht durch die Schuldeputationen,
die wieder theils unter den „Patronen“ der ſtändiſchen, theils unter
den „Landräthen“ der polizeilichen Epoche ſtehen. Auch hier ſehr genaue
Vorſchriften. Im Ganzen hat jedoch bei aller principiellen Gleichheit
noch immer jede Provinz ihr Schulrecht (ſ. Ebmeyer, Rechtsver-
hältniſſe der preußiſchen Elementarſchule 1861; Rönne, Unterrichts-
weſen Bd. I.Deſſelben Staatsrecht I. §. 201 und II. §. 445).
Oeſterreich. Schulhäuſer früher gemeinſchaftlich durch die
„Patrone“ und Gemeinden, jetzt durch Grundſteuerzuſchläge (Erlaß
vom 3. September 1849.) Genaue Vorſchriften über die Errichtung und
Erhaltung der Schulen ſchon ſeit der Verfügung von 1805. Die ſog.
„Schul-Concurrenz“ ſ. bei Ficker a. a. O. S. 244 ff.; die Geſetze
ſeit 1848; Darſtellung S. 294 ff. In jeder Gemeinde ſoll mindeſtens
eine Gemeindeſchule bei 100 ſchulpflichtigen Kindern ſein. Gehalt
[127] der Lehrer ſchon 1785 mit dem Minimum von 130 fl., eines Gehülfen
mit 70 fl. beſtimmt. Leider beruht ein großer Theil davon auf den
mit den Lehrerſtellen nur zu gewöhnlich verbundenen Meßnerdienſten.
Doch ſind die Lehrer, ſelbſt die Gehilfen penſionsfähig. Schulgeld
allgemein eingeführt, nach den Ortsverhältniſſen beſtimmt; Arme ſind
frei. Die Gemeinde hebt leider noch nicht allenthalben ſelbſt ein, und
noch beſtehen Naturaleinkünfte. Unterſtützungen werden vom Un-
terrichts-Miniſterium bewilligt. Landesſchulfonds und ſein Ein-
treten bei bedürftigen Gemeinden. (Ficker a. a. O. S. 290 f. — Die
hiſtoriſche Entwicklung bei Helfert a. a. O. mehrfach; das geltende
Recht kurz bei StubenrauchII. 76. 379.)
Bayern. Schulhäuſer und Lehrerwohnung theils noch
grundherrlich unter Mitwirkung der Gemeinde, theils durch die letztere
allein. Schulgeld anerkannt; beſtimmt durch die Kreisregierung.
Arme frei; die Gemeinde zahlt für ſie. Leider gilt auch hier noch
der niedere Kirchendienſt als zweite Haupteinnahmsquelle; die Gemeinde
zahlt erſt dann Schulſteuer, wenn das Minimum von 250 fl. nicht
dadurch erreicht wird. Eventuell Zuſchuß aus Kreismitteln. Leider
denkt man ſich das Amt des Lehrers nach dem Gemeinde-Edikt noch mit
allerlei Gemeindeſchreibereien wohl vereinbarlich (Gemeinde-Edikt §. 94).
Die beſtehenden Rechte ſchon in der Beilage zur Verfaſſungsurkunde
VI. §. 21 und der Formativverordnung von 1825 aufgeſtellt.
Das Verhältniß, in welchem die Gemeinden, der Kreisfonds und die
Centralkaſſe beitragen, hängt wohl vom Ermeſſen des Unterrichts-
Miniſters ab (ſ. Pözl, Verfaſſungsrecht Abſchnitt II). Verwaltungs-
recht §. 184. Penſionsfähig ſind die Lehrer nicht; doch ſucht man da-
für durch Vereine zu ſorgen (Pözl §. 185, 186).
Baden. Syſtemiſirung der Schullaſten, Herſtellung der Schul-
häuſer, Beſteuerung der Gemeinden durch Umlagen, Schulgeld durch
das (ausführliche) Geſetz vom 28. Auguſt 1835, als Folge der Volks-
ſchulordnung von 1834. Vergleiche Holtzmann bei Schmid I. 388
(ſ. unten über Lehrerrecht).
Hannover. Pflicht der Schulgemeinden zur Tragung der
Schullaſt; Staatshülfe nur ſubſidiär; wenn das Fehlende nicht durch
Umlagen aufgebracht werden kann. Leider beſtehen auch theilweiſe
Naturallieferungen und Küſterſtellen. Schulgeld allgemein; mit Be-
freiungen (Papſt a. a. O. 328).
Kurheſſen. Die Rechte und Pflichten ſcheinen hier örtlich be-
ſtimmt und hiſtoriſch feſtgeſtellt zu ſein, da ein Schulgeſetz mangelt.
Leider auch hier noch Kirchendienſt als Einkommensquelle der Lehrer,
nebſt Naturalien. Verbindung der Staatsſubvention mit der Gemeinde-
[128] beiſteuer, und vielfach Schulgeld. Landſchulkaſſe: Bezzenberger a. a. O.
S. 488, 89.
Heſſen-Darmſtadt. Der Staat hat namentlich ſeit 1832 ſehr
viel gethan, und die Schullaſten unter öffentlicher Unterſtützung ge-
regelt, neue Schulen, vorzüglich Winterſchulen, eingeführt; die Grund-
lage jedoch iſt der Gemeindebeitrag; zu dem Ende Eintheilung in
26 Schulbezirke (Strack a. a. O. 514).
Belgien. Das Geſetz von 1842 hat drei Klaſſen von Elemen-
tarſchulen eingeführt: 1) Gemeindeſchulen, ganz auf Koſten und
unter Verwaltung der Gemeinde; 2) Privatſchulen mit Unterſtützung.
Jede Gemeinde kann auch eine öffentliche Unterſtützung (par la province
ou par l’Etat) erhalten, wird jedoch alsdann (engliſches Vorbild) unter
die leitende Oberaufſicht der Staatsbehörden geſtellt; 3) ganz freie
Elementarſchulen ohne Schulgeld. Jede Gemeinde ſoll wenigſtens
Eine Gemeindeſchule haben. (Le Roy a. a. O. I. S. 496. De Fooz
a. a. O. S. 339.)
Holland. Eine Schulpflicht exiſtirt nicht; nur geſetzliche Auf-
forderung an die Eltern (Geſetz von 1837 Art. 31): jede Gemeinde
hat ihre Elementarſchule herzuſtellen, doch haben die Provinzialſtände
das Recht, die Zahl der Schulen zu vermehren. Schulgeld gilt. Arme
unentgeldlich. (Le Roy a. a. O. III. 567 ff.) Beinahe komiſch klingt,
was de Boſch-Kemper a. a. O. §. 32 ſagt: „Die Vertreter der Schul-
pflicht, meiſt Franzoſen (?) und Deutſche, ſind in dieſer Frage nicht
frei von ſocialiſtiſchen und (zugleich!) „einſeitig monarchiſchen Grund-
ſätzen, die in dem Weſen der Sache eben ſo ſehr mit einander verbunden
ſind, als die protektioniſtiſchen (der Großinduſtriellen!) und ſocialiſtiſchen
Theorien in der Volkswirthſchaftspflege.“ Warum hat er nicht hinzu-
gefügt, daß am Ende im „Weſen der Sache Republik, Königthum,
Deſpotie, Verfaſſung und Verwaltungsrecht überhaupt „mit einander
verbunden ſind!“
Das Lehrerrecht umfaßt alle geltenden Rechtsbeſtimmungen,
welche ſich auf die berufsmäßige perſönliche Stellung des Lehrers
beziehen.
Dieß Lehrerrecht iſt es nun, in deſſen innerer und äußerer Ent-
wicklung ſich die Auffaſſung von dem Weſen und der Bedeutung des
Volksunterrichtes, und mittelbar von dem geiſtigen Verhältniß der
beſitzenden zur nichtbeſitzenden Klaſſe ſpiegelt. Es iſt in dieſem Sinne
ein hochwichtiger Theil der innern Geſchichte eines jeden Landes.
[129]
Der Lehrerſtand entſteht nicht mit der Volksſchule; das Entſtehen
eines ſelbſtändigen Standes und Berufes der Volksſchullehrer iſt viel-
mehr erſt mit unſerer Zeit und ihrer höheren Auffaſſung gewonnen.
Urſprünglich iſt der Elementarunterricht eine Sache der Ortsgeiſt-
lichkeit, oder der bürgerlichen Gemeinde. Es gibt daher anfangs zwar
einzelne Elementarlehrer, aber keinen Stand und Beruf derſelben. Die
Einführung der Schulpflicht, die weder England noch Frankreich kennen,
verpflichtet dann allerdings auch die Landgemeinde zur Aufſtellung von
Elementarlehrern, die aber die Verachtung der hörigen Klaſſe mittragen,
für die ſie beſtimmt ſind. Die Elementarlehrer ſind daher Diener des
Herrn, ohne Ehre, ohne Geltung, ohne ſocialen und ethiſchen Werth.
Erſt das Auftreten der großen Principien der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft, ausgedrückt in der Pädagogik, erhebt zunächſt ihre Funktion zur
Anerkennung. Dieſe Anerkennung ſpricht ſich zuerſt in der Forderung
einer materiell ſelbſtändigen Stellung (Gehalt, Schulgeld, Wohnung),
dann in dem Grundſatz aus, daß ihre Funktion eine öffentliche, mit
dem Volkswohl organiſch verbundene, alſo eine amtliche ſei, womit
ſie ſich von der abſoluten Abhängigkeit von den ſtändiſchen Herren ab-
zulöſen beginnen. Damit ſind in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts die wirthſchaftlichen und rechtlichen Elemente des Lehrerſtandes
gegeben; dann tritt mit unſerm Jahrhundert das geiſtige hinzu, die
fachmäßige Lehrerbildung. Die Epoche des eigentlichen Volks-
lehrerſtandes beginnt allenthalben mit dem Grundſatz, daß eine
fachgemäße Bildung die Bedingung zur Anſtellung, alſo die Voraus-
ſetzung der Erfüllung des Berufes ſei. Das iſt die wichtigſte Er-
rungenſchaft der großen pädagogiſchen Literatur des vorigen Jahr-
hunderts. Aus dieſem Grundſatz entſteht zuerſt das Syſtem der
Schullehrerſeminarien, welche das Bewußtſein der ſittlichen Ge-
meinſchaft des ſchweren Berufes erzeugen und veredeln, und mit ihren
Prüfungen die Gewähr für den Volksunterricht ſelbſt geben. An dieſe
Seminarien ſchließt ſich naturgemäß die genauere Ordnung des öffent-
lichen Rechts der Anſtellung und Entlaſſung der Schullehrer, ſo wie
der Organismus ihrer Inſpektion, theils durch das ſtaatliche Element
der Regierung, theils durch das ſtändiſche der Geiſtlichkeit und Patrone,
theils durch das freie der Gemeindeorgane. Alles dieß, zuſammen-
wirkend, beſeitigt nun nach vielen Kämpfen die tiefe und verderbliche
Scheidewand zwiſchen dem Lehrerſtande der Volks- und dem
der Berufsſchulen, in der ſich im Grunde die Scheidung der höhern
und niederen Claſſe ausdrückt, und bewirkt die allmählige Anerkennung
der großen Idee, daß alle Glieder des Lehrberufs ein großes, das
ganze geiſtige Leben der Völker umfaſſendes Ganze, mit dem gleichen
Stein, die Verwaltungslehre. V. 9
[130] Recht und der gleichen Aufgabe ſein ſollen. Erſt mit dieſer Aufnahme
des Volkslehrerſtandes in den Lehrerſtand, mit der Beſeitigung ſeiner
niedrigen Stellung in Gemeinde und Geſellſchaft beginnt die beſſere
Zukunft deſſelben, und man kann erſt jetzt ſagen, daß das Maß der
Stellung, des öffentlichen Rechts und der Achtung der Volkslehrer
den Maßſtab für die Volksbildung ſelber abgeben.
Einen ſolchen, über jeden örtlichen Dienſt und jede Mißachtung in
geſellſchaftlicher Beziehung erhobenen Lehrerſtand, der ſich mit den Be-
rufslehrern als Eins fühlt, hat nur Deutſchland. Daher hat auch
nur das deutſche Volksſchulweſen ein Syſtem des Lehrerrechts. Dieß
beruht auf folgenden Punkten.
I. Die Lehrerbildung enthält die Grundſätze, nach welchen die
fachgemäße Bildung für den Volksunterricht hergeſtellt wird. Dieſe
Herſtellung wieder hat drei Elemente, jedes mit eigenem Recht und
eigener Ordnung.
Das erſte iſt das Lehrerbildungsinſtitut ſelbſt, das Lehrerſemi-
nar, und deſſen Stellvertretungen.
Das zweite beſteht in dem Umfang und Inhalt der auf dem
Seminar gebotenen Lehrerbildung.
Das dritte iſt die Seminariſtenprüfung und ihr Recht bei
Anſtellungen.
Die Vergleichung der verſchiedenen Rechte beruht für dieſen Theil
darauf, ob und in wieweit die regelmäßige, öffentliche Seminariſten-
bildung und Prüfung als Vorzug oder als rechtliche Bedingung
der Anſtellung angeſehen wird.
II. Die Anſtellung. Dieſelbe hat ein berufsmäßiges und ein
formell rechtliches Element. Das erſte liegt in dem oben bezeichneten
Verhältniß zur berufsmäßigen Bildung. Der Charakter des öffentlichen
Rechts der Anſtellung beruht auf dem Antheil, den das Amt, die
Geiſtlichkeit und die Gemeinde an Anſtellung und Entlaſſung
beſitzen. Dieſes öffentliche Recht aber wird ſeinerſeits naturgemäß in
ſeiner Geſtaltung eben von dem Grade der Bildung abhängen, den
man für den Lehrerberuf fordert; und das iſt es anderſeits wieder, was
die Verſchiedenheit jenes Rechts und zuletzt auch die Bewegungen in
demſelben erklärt.
III. Das Recht des Lehrweſens endlich beſtimmt den Antheil,
den entweder die einzelnen Elementarlehrer oder der ganze Lehrkörper
auf Berathung und Beſchluß über die didaktiſchen und disciplinaren
Verhältniſſe der Lehrer ſelbſt haben. — Es iſt klar, daß dieß Recht des
Lehrweſens ſtets weſentlich der Ausdruck und die Conſequenz der orga-
niſchen, zu einer öffentlich rechtlichen Aufgabe gewordenen Lehrerbildung
[131] ſein, mit ihr entſtehen, durch ſie gelten und in ihr ihr richtiges Maß
finden wird.
Auf der Grundlage dieſer Elemente des Lehrerrechts, die aller-
dings, wie geſagt, nur in Deutſchland vollſtändig ausgebildet ſind, wird
ſich nun eine Darſtellung und Vergleichung des Lehrerweſens in den
verſchiedenen Ländern Europas, vor allen Dingen aber, vermöge des
innern geiſtigen Zuſammenhanges derſelben, eine wahre Geſchichte
dieſes Lehrerweſens im Ganzen wie im Einzelnen geben laſſen. Das
Folgende kann daher nur die wichtigſten leitenden Thatſachen enthalten.
England. Die Geſchichte der Lehrerbildung, ſpeziell der Semi-
narien, iſt höchſt bezeichnend. So lange nur die Vereine die Volks-
ſchulen unterhalten, iſt natürlich von denſelben keine Rede. Der Ver-
ein ſtellt die Lehrer (teachers) an, wobei die National Society
vorzugsweiſe auf religiöſe (bibliſche), die British Society dagegen auf
allgemeine Bildung ſah. Wieſe (S. 158 ff.) hat die folgenden Ver-
hältniſſe nicht gut verſtanden. (Siehe dagegen über den Unterſchied der
Secular Education von der kirchlichen ſehr gut Schöll a. a. O.
Senior, Heads of Report.Wagner a. a. O. mehrfach.) Das Ent-
ſtehen der öffentlichen Unterſtützung erzeugte nun die Erkenntniß, daß
die Lehrerbildung die Vorausſetzung der Volksbildung ſei. Daher erſter
Verſuch des Privy Committee, Seminarien zu errichten (normal
school, nach franzöſiſchem Muſter). Dagegen ſofort heftige Oppoſition
des Klerus. Eine eigene Deputation der Biſchöfe bewirkte das Auf-
geben des Planes. Jetzt nahmen aber Private ſich der Sache an,
namentlich Sir Shuttleworth in Tufnell. Sie errichteten die „Training
Colleges“, und dieſe empfingen nun vom Committee Unterſtützung,
wie die Schulen ſelbſt, und unter den gleichen Bedingungen. Daraus
ergab ſich das gegenwärtige Syſtem, nach welchem allerdings nur „ge-
prüfte“ Lehrer und Lehrerinnen bei den Schulen zugelaſſen werden, ſo
weit eine Volksſchule Unterſtützung fordert. In jenen Training Colleges
als Privatſeminarien gibt es zwei Klaſſen von Seminariſten, private
(auf eigene Koſten) und öffentliche (eine jährliche Unterſtützung von
10—20 Pfd.) Dieſe Seminariſten werden mit dem achtzehnten Jahre
zur Bewerbung um eine Stelle in den Seminarien zugelaſſen, und
wenn ſie arm ſind, als Queens scholars auf Staatskoſten aufge-
nommen und unterhalten. Jährliche Prüfungen finden ſtatt. Dieſe
Prüfungen ſind ſo unvernünftig, daß an eine wahre Lehrerbildung
nicht gedacht werden kann. Siehe Seniors Klagen S. 21 ff. (mis-
directed instruction). Nach dreijährigem Kurs Entlaſſungs-Prüfungen
[132] mit elf (!) verſchiedenen Zeugnißgraden. Die Anſtellung iſt dann
Sache der Schulverwaltung. Die Lehrer haben ihrerſeits auf die Lehre
ſelbſt keinen ſelbſtändigen Einfluß; das iſt nur bei den Privatſchülern
der Fall. Von einer amtlichen Stellung iſt keine Rede, und die
angeſtellten pupil-teachers können wie aus jedem bürgerlichen Dienſt
jeden Augenblick entlaſſen werden. So lange dieſe Verhältniſſe nicht
geändert werden, iſt an einen Aufſchwung der engliſchen Volksbildung
nicht zu denken.
Schöll hat auf die Prüfungen der Seminariſten zu wenig Rück-
ſicht genommen. Sehr gute Bemerkungen bei Gugler S. 242.
Uebrigens ſind die Angaben Schölls (S. 105—113) das beſte was
über das Seminariſtenweſen Englands exiſtirt. — Anſtellung der
Lehrer iſt Sache des Local Government; Penſion nach 15 Jahren.
Gehalte der Lehrer und Lehrerinnen Schöll S. 112.
Frankreich. Hier ward allerdings das Lehrerbildungsweſen gleich
anfangs in das Syſtem der Université aufgenommen, aber nur für die
Berufsbildung (ſiehe unten die École normale). Die Folge war, daß
die Bildung eines Lehrerſtandes für das Volk unmöglich war, und
man zu dem kläglichen Auskunftsmittel des „brevet de capacité“
greifen mußte. Dieß wird jährlich auf Grund einer Prüfung ertheilt,
welche eine vom Conseil départemental aufgeſtellte Commiſſion abhält.
Die Prüfung iſt ſelbſt durchaus elementar und kurz, mündlich und
ſchriftlich. Die Lehrerinnen müſſen eine Probehandarbeit machen. Dieſes
höchſt untergeordnete Syſtem ward etwas erweitert durch die Einführung
der zweiten, höhern Klaſſen in den Elementarſchulen ſeit 1833 (ſiehe
unten), ſo daß die Lehrer auch für dieſe partie facultative de l’enseigne-
ment primaire ein zweites Examen machen können. Allein da die
höchſt unfreie Stellung der Lehrer nur wenig Concurrenz erzeugte, ſo
mußte man jenes brevet de capacité erſetzen durch ein einfaches Zeug-
niß über einen dreijährigen Dienſt als Schulgehülfe (certificat de
stage); ja durch eine autorisation provisoire ſelbſt ohne das Certificat
— ein Zuſtand, von dem das Brevet vom 24. December 1850 ſelbſt
ſagt, daß nur „l’intérêt public seul pourra légitimer une telle mesure.“
Bei ſo unfertiger Bildung iſt die völlige Unfreiheit des Lehrerſtandes
und die Abhängigkeit des Lehrers in der Anſtellung ganz natürlich
(ſiehe oben); eben ſo die völlige Unterordnung unter die Geiſtlichen in
der Lehre ſelbſt. Frankreichs Volksbildungsweſen bewegt ſich in dem
falſchen Cirkel, daß die Abhängigkeit der Lehrer keine ſelbſtändige Bil-
dung derſelben, die letztere wieder keine Unabhängigkeit der Lehrer zu-
läßt. Der Verſuch, eigentlich Volkslehrerſeminarien Ecoles normales
primaires zu errichten (Geſetz von 1850 und Reglement vom 24. März
[133] 1851, nebſt Arrêté vom 31. October 1854) hat eben deßhalb noch kaum
weſentliche Erfolge gehabt. Das Geſetz von 1850 beſtimmt indeß, daß
jedes Departement ein Seminar (école normale primaire) haben ſoll;
die Ordnung derſelben iſt jedoch eine äußerſt ſtrenge und ganz bureau-
kratiſch (mit Conduitenliſten ꝛc.) eingerichtete. Daneben beſtehen eine
große Anzahl von Privatſeminarien, worunter mehrere für Mäd-
chenlehrerinnen; ein großer Theil wieder gehört kirchlichen Körperſchaften.
Das Decret vom 28. März 1866 hat Écoles normales für die Aus-
bildung der Reallehrer angeordnet, womit der Uebergang zur wirth-
ſchaftlichen Berufsbildung auch hier gegeben iſt. Obgleich auf dieſe
Weiſe die instituteurs den Charakter von Beamteten haben, ſind ſie
doch keine wahren Lehrer, und in Folge deſſen liegt der höhere Elemen-
tarunterricht außerhalb der Volksſchule.
Deutſchland. In Deutſchland entſteht der Gedanke einer ſelb-
ſtändigen berufsmäßigen Volkslehrerbildung zugleich mit dem öffentlichen
Volksſchulweſen. Seminarien finden ſich daher ſchon im vorigen Jahr-
hundert. (Vergl. Berg a. a. O.) Zu einem ſelbſtändigen Syſtem
entwickelt ſich das Lehrerbildungsweſen jedoch erſt in unſerm Jahr-
hundert, und iſt bei allgemeiner gleichartiger Grundlage wieder im Ein-
zelnen verſchieden. Dieſe allgemeine Grundlage beſteht darin, daß
die Schullehrer die Rechte der Beamteten haben, alſo namentlich
penſionsfähig ſind. Die Anſtellungsverhältniſſe beruhen durch-
gehends darauf, daß das Princip der unmittelbaren Anſtellung von
Seiten der Regierung neben dem der Beſtätigung derſelben von Ge-
meindewahlen aufrecht geblieben iſt, obwohl das Letztere bei tüchtiger
Bildung das einzig richtige ſein ſollte. Die Lehrerbildung oder das
Seminarweſen beruht ſeinerſeits durchgehend auf den leitenden
Grundſätzen der nothwendigen praktiſchen Vorbildung als Schul-
gehülfe, Aufnahmsprüfung im Seminar, Seminariſtenbildung,
Abgangsprüfung, und auf dem Abgangszeugniß baſirter Anſtellung.
Bei dem ſo gebildeten Lehrer iſt ein entſcheidender Einfluß auf die
Lehre ſelbſtverſtändlich. Bei größern Schulen bilden die Lehrer einen
Lehrkörper; außerdem ſind in einigen Ländern noch beſondere Lehrer-
verſammlungen geſetzlich angeordnet. (Oeſterreich).
Preußen. Lehrerbildung. Vorbildung zum Seminar (Regulativ
vom 2. October 1854 über die Berechtigung, Präparanden-Kurſe zu
halten). Die Seminarien ſelbſt haben noch keine ganz gleichartige Ein-
richtung; Specialinſtruktionen für die einzelnen Provinzen (Rönne,
Unterrichtsweſen Bd. I. S. 391). Prüfung vor der Anſtellung ſchon
im Allgemeinen Landrecht II. 12 aus dem General-Schulreglement von
1763; ſeit 1826 eine Abgangsprüfung (theoretiſch) und die praktiſche
[134] Prüfung für definitive Anſtellung; durch Reſcript vom 22. März,
19. Oktober 1832 genauer geregelt. — Prüfung und Zulaſſung ohne
regelmäßige Seminarbildung zuläſſig (Reſcript vom 1. Juni 1826).
Anſtellung theils direkt von der Regierung, theils auf Präſentation der
Patrone und Gemeinden (Rönne, Staatsrecht Bd. VI. S. 443).
Oeſterreich. Lehrerbildung: Erſcheint hier theils als Aufgabe
des geiſtlichen Standes in den biſchöflichen Seminarien, daher Ver-
pflichtung jedes Weltprieſters, dem Unterricht in der Hauptſchule bei-
zuwohnen, theils als ſelbſtändige Inſtitute. Grundlage ſchon die Ver-
faſſung der deutſchen Volksſchule von 1808. Siehe Elementarlehrer-
und Präparanden-Kurs; weſentlich verbeſſert durch Erlaß vom
17. September 1848 und 13. Juli 1849 (zwei Jahre), theoretiſch und
praktiſch. Darauf Prüfung und Zeugniß. Eigene Prüfung für die
Katechetenſtellen; daneben eine Reihe ſpezieller Vorſchriften (Stuben-
rauchI. §. 54. II. §. 374; vorzüglich Ficker a. a. O. S. 305 ff.)
Lehrerbildungsweſen ebend. S. 333 ff.
Anſtellung. Weſentliche Bedeutung des Patronats eventuell das
der Gemeinde als präſentationsberechtigt. Prüfung vom Dechanten;
Genehmigung der Präſentation durch das Conſiſtorium; dann Probe-
zeit, und dann auf Antrag des Schuldiſtriktsaufſehers das Beſtätigungs-
decret der Landesſchulbehörde. Schulverfaſſung §. 143—152. (Stu-
benrauchII. 375. Ficker S. 308.)
Bayern. Grundlage des gegenwärtigen Rechts das Regulativ
über die Bildung der Schullehrer vom 31. Januar 1836 und Verord-
nung vom 15. Mai 1857. Vorbildung: dreijähriger Präparanden-
kurs mit Prüfung. Seminarien: öffentliche Einrichtung, unter der
Kreisregierung, nebſt Mitwirkung des Lehrkörpers im „Lehrerrath“.
Anſtellung: Anſtellungsprüfung durch die Commiſſion nach vier Jahren
durch die Kreisregierung theils unmittelbar, theils durch Beſtätigung der
Präſentation (Immediat- und Mediatſchulen). Pözl, Verwaltungsrecht
§. 185. 186. Anſtellungstage und Gehalte bei Schiller in Schmids
Encykl. von Bayern S. 439 f. Ueber die Seminarien S. 438.
Uebrigens ſteht noch ein Viertel aller Stellen unter Patronat, theils
der Gemeinden, theils der Gutsherren. Errichtung von 35 Präparanden-
ſchulen als Vorbereitungsanſtalten für die Schullehrerſeminarien (Ver-
ordnung vom 29. September 1866 (vgl. Brachelli, Staaten Europas
S. 538).
Baden. Grundlage iſt das Geſetz vom 28. Auguſt 1835 über
die Rechtsverhältniſſe der Schullehrer und den Aufwand für das Volks-
ſchulweſen. Vorbildung der Lehrer, zwei Jahre Dienſt bei einem Lehrer,
mit gelegentlicher Prüfung. Dann Eintritt in die (3) Seminarien (mit
[135] Stipendien), die mit Seminarſchulen verbunden ſind. Abgangs-
prüfung als erſte Dienſtprüfung; dann Dienſt als Unterlehrer drei
Jahre, dann zweite Dienſtprüfung mit Recht zur Anſtellung als Haupt-
ſchullehrer, jedoch mit Unterſchied von Stadt und Land. — Die Fort-
bildung der Lehrer iſt hier organiſirt; Pflicht zur Lieferung von Auf-
ſätzen (vierteljährig); Leſeverein obligat in jedem Viſitationsbezirk; dann
„Lehrerconferenzen“ unter dem Viſitator. — Anſtellung durch die
Oberſchulbehörde; Vorſchlag eventuell durch Patrone; Erlaubniß zu
Nebenämtern; Penſionsfähigkeit (Holtzmann a. a. O. S. 396 ff). —
Das neueſte Recht bildet die Verordnung vom 15. Januar 1867 die
„Beſſerſtellung der Volksſchullehrer betreffend,“ freilich nur für 1867
eine Gehaltsaufbeſſerung enthaltend.
Hannover. Das Seminar- und Lehrerbildungsweſen ſeit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts bei Pabſt a. a. O. S. 321 f. Die
neue Organiſation des Schullehrerſeminarweſens ſeit der dafür beſchloſ-
ſenen Bewilligung der allgemeinen Stände von 1850, ebend. S. 324; Ge-
ſetz vom 2. Auguſt 1856, die Verbeſſerung der Volksſchulſtellen be-
treffend nebſt Verordnung vom 25. Febr. 1859 (Pabſt ebend. S. 326).
Anſtellung im Weſentlichen erſt nach Prüfungszeit (Präparandenlehre).
Abgangsprüfung unter einer Prüfungscommiſſion. Lehrerconferenzen
zur Weiterbildung ſchon ſeit 1736. Anſtellung ſelbſt durch die Con-
ſiſtorialbehörde. Penſion und ſonſtige Emolumente (Pabſt S. 334).
Kurheſſen. Seminarien als reine Staatsanſtalten; dreijähriger
Kurſus; Abgangsprüfung; darauf zweijährige Dienſtzeit; dann prak-
tiſche Prüfung nebſt Zeugniß. Conferenzen zur Weiterbildung auch
hier eingerichtet. Anſtellung durch die Provinzialregierung; Patro-
natsrechte und Wahlrecht der Gemeinden kommen einzeln vor (Bezzen-
berger a. a. S. 386—488).
Heſſen-Darmſtadt. Seminarien auch hier Staatsanſtalt (Lite-
ratur über dieſelbe bei Strack a. a. O. S. 516.) Doch iſt die auto-
didaktiſche Bildung noch zugelaſſen, und das Seminar dauert nur zwei
Jahre. Abgangsprüfung; ſpäter die praktiſche Prüfung. Conferenzen
zur Weiterbildung. Anſtellung durch das Miniſterium des Innern;
daneben Patronatsrechte zur Präſentation; oder Ausſchluß der Kirche.
Geſetzliche Beſtimmungen über Gehalt, Penſion u. ſ. w. fehlen. An-
deutungen bei Strack a. a. S. 517.
Belgien. Écoles normales nach franzöſiſchem Muſter, bereits
durch das Geſetz von 1842 geordnet; das Reglement vom 1. Februar 1861
hat die Lehrordnung der Écoles normales definitiv feſtgeſtellt; Geſetz
vom 30. Auguſt 1854 für die Lehrerinnen; jedoch auch hier Unterſchied
zwiſchen Staats- und biſchöflichen Normalſchulen (Seminarien),
[136] letztere unter geiſtlicher Verwaltung. Die Gemeinde ſtellt die Lehrer an,
aber die Regierung kann ſie ſuſpendiren und abſetzen. Die Gemeinde
trägt die Koſten auch des Lehrers; ſtatt der Penſion ſind caisses de
prévoyance für die Lehrer errichtet (Geſetz von 1847; de Fooz a. a. O.
S. 332). Bei den Écoles supérieures und normales hat jedoch die
Regierung das Anſtellungsrecht (de Fooz a. a. O. S. 345).
Holland. Lehrerbildung durch das K. Seminar ſeit 1816. Das
Volksſchulgeſetz von 1857 hat ein Syſtem von Seminariſtenprüfungen
(jährlich zweimal) angeordnet, in welchen jedoch, wie es ſcheint (Art. 44)
nicht eben zu viel gefordert wird. Darauf wird ein Fähigkeitszeugniß aus-
geſtellt (acte van bequaamheid) ohne welches niemand Elementarunterricht
geben darf. Das Minimum des Gehalts Art. 19 ff. Die Gemeinde ernennt
die Hülfslehrer; der Hauptlehrer auf Vorſchlag von drei, vom Bürger-
meiſter vorgeſchlagenen Kandidaten. Neuerdings Herſtellung von mehreren
Seminarien und Uebungsſchulen. Daneben Lehrerconferenzen und zahl-
reiche Lehrervereine im Anſchluß an die Inſpektorate; letzteres eine treff-
liche Einrichtung (S. darüber Le Roy bei Schmid Bd. III. S. 366 ff.)
Das Schulenſyſtem, das Klaſſenſyſtem und die Bürgerſchule.
I. Die Lehrordnung begreift nun ihrer formellen Definition
nach die Geſammtheit der Vorſchriften über dasjenige, was als Ele-
mentarkenntniß angeſehen worden, und in welcher Ordnung daſſelbe
gelehrt worden iſt.
So einfach und ſo rein pädagogiſch dieſe Sache nun auch auf den
erſten Blick erſcheint, ſo ergibt ſich ihr hochbedeutſamer und auch ſyſte-
matiſch ſelbſtändiger Inhalt, ſo wie man auf das höhere Weſen der
Elementarbildung zurückgeht, und dieſelbe mit der ſtaatsbürgerlichen
und ſocialen Aufgabe der Verwaltung in Verbindung bringt.
Alle Elementarbildung iſt nämlich die abſolute Bedingung der
Bildung für alle Angehörigen des Staats und zugleich die Voraus-
ſetzung, und daher die Einleitung für alle Weiterbildung in allen
Zweigen des Lebens.
Man kann daher mit voller Beſtimmtheit ſagen, daß alle Klaſſen
der Geſellſchaft, welche ihre Kinder für irgend einen Beruf beſtimmen,
die Elementarübung für die letzteren ſelbſt beſorgen werden, ohne daß
die Verpflichtung zur Benützung der Volksſchule für ſie adminiſtrativ
erzwungen werden müßte. Für alle beſitzenden Klaſſen der Geſell-
ſchaft im weiteſten Sinne des Wortes wird daher mit Recht ange-
nommen, daß hier die Elementarbildung mit der häuslichen
[137] Erziehung zuſammenfällt, ſo daß man das Princip der Schulpflicht
für dieſe in einer anderen Weiſe als durch den Schulbeſuch verwirk-
lichen muß. Dieſe letztere beſteht nun darin, daß der Beſitz der Ele-
mentarkenntniſſe zur Bedingung für die Aufnahme in die unterſte
Klaſſe der Berufsbildung macht, und daß auf dieſe Weiſe die
unterſte Klaſſe der Berufsbildungsanſtalten als Schulen den Charakter
der Elementarbildungsanſtalten annehmen, ohne doch Volksſchulen zu
ſein. Dieß Verhältniß iſt ſo naturgemäß, daß es in allen Ländern
Europas zur Geltung kommt; und man muß mithin davon ausgehen,
daß einer der Hauptunterſchiede der beſitzenden und nicht beſitzenden
Klaſſe in dem Kriterium beſteht, ob die Familien in der Lage ſind,
für ihre Kinder den Elementarunterricht mit der häuslichen Erziehung
zu verbinden oder nicht; indem für die erſte Klaſſe ſomit die Elementar-
berufsbildung in der That als reine Elementarbildung erſcheint, was
für die zweite nicht der Fall iſt. Dieß Verhältniß macht das reine
Volksſchulweſen und ſelbſt den Begriff und Umfang der Elementar-
bildung leicht unklar und iſt der Grund, weßhalb ſich die Literatur
über den Begriff der Volksſchule ſo wenig einig iſt. Jedoch ſtellt ſich
der letztere ſofort her, wenn man einen Schritt weiter geht.
Soll nämlich, mit Zurückgehen auf den reinen Begriff der Ele-
mentarbildung, dieſelbe einerſeits für alle Staatsangehörigen gelten
und die Einleitung für alle Bildung bieten, ſo muß die Verwaltung
dieſelbe ſo einrichten, daß ſie ſo weit möglich die erſte Erziehung mit
der Elementarbildung verbindet, und daß ſie zweitens die Elementar-
bildung ſelbſt zur Vorbildung für den Lebensberuf erhebt. Erſt da-
durch kann und wird das höchſte Ziel erreicht werden, das das Volks-
bildungsweſen unſrer Epoche charakteriſirt — die Unabhängigkeit des
Erwerbes geiſtiger Güter vom Beſitze, und die Möglichkeit, dieſen
Erwerb für alle Klaſſen gleich zu machen. Und auf dieſem Punkte
nun wird die eigentliche Bedeutung der beiden Kategorien des Schulen-
ſyſtems und des Klaſſenſyſtems klar; denn hier erſt gewinnt das öffent-
liche Volksbildungsweſen ſeine wahre ſociale Bedeutung.
II. Wenn nämlich die Verwaltung jene Aufgaben in ihrem ganzen
Umfange erfüllen ſoll, ſo darf ſie nicht mehr bei der einfachen Volks-
ſchule, wie ſie eben im vorigen Jahrhundert beſtand, ſtehen bleiben.
Sie muß alsdann vielmehr mit den für die Elementarbildung beſtimm-
ten Anſtalten zugleich die Erziehungsverhältniſſe der niederen
Klaſſen umfaſſen und ſelbſt ganz ſpecielle Verhältniſſe Einzelner mit
in ihre Thätigkeit aufnehmen. Sie muß daher ſtatt der einfachen Ele-
mentarvolksſchule ein Syſtem von Schulen, ſelbſt im weiteſten Sinne
des Wortes genommen, aufſtellen. Dieſe müſſen ſelbſt bei der erſten
[138] Kindheit beginnen, hier die häusliche Erziehung erſetzen und wo mög-
lich die Elemente aller Bildung mit der letzteren verbinden. Sie muß
ferner die Erhaltung der in der Volksſchule gewonnenen, durch die
praktiſche Beſchäftigung der Erwachſenden vielfach gefährdeten Kennt-
niſſe durch eigene Anſtalten ſichern; und ſie muß endlich den Elementar-
unterricht ſelbſt auf diejenigen ausdehnen, welche durch natürliche
Gebrechen von jeder Bildung ausgeſchloſſen ſind. Es kann das durch
die einſeitige Thätigkeit der Regierung geſchehen; allein offenbar be-
ginnt hier das Gebiet des Vereinsweſens einzugreifen, da die Ver-
hältniſſe, welche ſolche Anſtalten nothwendig machen, zu ſehr an ört-
liche Dinge ſich anſchließen, und nur durch freie Thätigkeit Einzelner
bewältigt werden können. Aber daß es geſchehe, iſt eine der großen
Bedingungen alles wahren Fortſchrittes, und das Bild der Leiſtungen
eines Volkes auf dieſem Gebiete iſt für die Höhe ſeines geſammten
geiſtigen Lebens ein entſcheidendes Merkmal. In dieſem Sinne reden
wir zunächſt von dem Schulenſyſtem, und daſſelbe ſtellt ſich in drei
Hauptgruppen dar, von denen die erſte der Volksſchule vorausgeht,
die zweite aus der eigentlichen Volksſchule beſteht, und die dritte ihr
folgt. Die allgemeinſte Grundlage dieſes Syſtems, in welcher das
Princip der Erziehung der formellen Eintheilung der Schulen zur Geltung
gelangt, iſt die Unterſcheidung zwiſchen Knaben- und Mädchenſchule,
die in der Volksſchule durchgeführt wird. Die Schularten aber ſind
demnach die Krippen, die Warte- oder Kleinkinderſchule, welche
eben die Erziehung mit der Elementarbildung vereinigt und der nicht-
beſetzenden Klaſſe die Familie erſetzt — die eigentliche Elementar- oder
Volksſchule — und die Wiederholungsſchulen, die meiſtens aus
naheliegenden Gründen als Sonn- oder Feiertagsſchulen erſcheinen.
An dieſe ſchließen ſich dann die Special-Elementarſchulen der Blinden
und Taubſtummen. Das Schema des Schulenſyſtems, auf welches die
Vergleichung zu reduciren iſt, iſt demnach folgendes:
Es muß dabei feſtgehalten werden, daß das öffentliche Recht dieſer
Anſtalten noch im Werden begriffen iſt. Doch iſt das Recht der Volks-
ſchule als die Grundlage anzuſehen, und es iſt kein Zweifel,
daß dieß Recht, wie es ſich allmählig über die Wiederholungs- und
Blindenſchulen ausgebreitet hat, mit der Zeit auch die Krippen und
Warteſchulen aus zufälligen und örtlichen Anſtalten zu öffentlichen
[139] Anſtalten, zu Organen des Schulrechts erheben wird, für welche die
Gemeinſchaft die Pflicht der Herſtellung übernimmt, wo die Vereine
nicht ausreichen. Die Erziehung und Bildung in denſelben iſt dann
Sache der Pädagogik.
III. Während nun das Schulenſyſtem die Anſtalten als ſolche um-
faßt, bezieht ſich das Klaſſenſyſtem auf die zweite der obigen For-
derungen.
Wir haben ſchon früher geſagt, daß die „Klaſſe“ nicht ſo ſehr
eine pädagogiſche, als vielmehr ein ſocialer Begriff iſt, ſobald ſie in
der Volksſchule auftritt. Das Weſen der Klaſſe beſteht nämlich nicht
in dem Abſchnitt einer größeren oder geringeren Fertigkeit in den Ele-
mentarleiſtungen, ſondern daſſelbe muß darin geſucht werden, daß jede
Klaſſe an und für ſich als Vorbereitung für eine höhere Stufe der
Bildung aufgefaßt wird. Die „Klaſſen“ ſind daher in der Berufs-
bildung natürlich und nothwendig; ſo wie ſie aber in der Volksſchule
auftreten, bedeuten ſie den principiellen Zuſammenhang der
Elementarbildung mit der höheren Bildung. Durch das
Klaſſenſyſtem in der Volksſchule iſt ſie ſelbſt ein Glied des ganzen
Bildungsſyſtems außer derſelben; ſie bedeutet die Möglichkeit und mit
ihr das Recht auf Weiterbildung; ſie iſt an ſich undenkbar, ohne daß
in den höheren Klaſſen ſchon die Elemente der allgemeinen Bildung
ſelbſt als Elementarbildung anerkannt werden. Der Fortſchritt von der
einfachen Volksſchule zur Klaſſenſchule iſt daher ein tiefgehender, faſt
ganz gleichgültig gegen das, was den Gegenſtand der höheren Klaſſen
bildet, und die Vergleichung des Elementarbildungsweſens muß ſich
daher an dieſen zweiten Punkt eben ſo nothwendig anſchließen, als an
den erſten.
Allerdings wird nun durch das Klaſſenſyſtem die formelle Beſtim-
mung der Gränze zwiſchen der Volksſchule und dem Berufsunterricht
ſchwierig. In der That ſtellt die Klaſſe eben den organiſchen Zuſam-
menhang aller geiſtigen Entwicklung von den erſten Elementen bis
zur höchſten Ausbildung auch für den unterſten Unterricht her und es
bleibt vergeblich, jene für das öffentliche Recht dennoch nothwendige
Gränze in der Sache ſelbſt zu finden. Man muß ihn daher in der
Form ſuchen und ſetzen. Dieß nun iſt um ſo nothwendiger, als ſich
an den Begriff der Klaſſe in der Volksſchule mehr und mehr ein zweiter
anſchließt, über deſſen Stellung und Bedeutung ſich das Bildungsweſen
klar ſein muß. Das iſt der Begriff der Bürgerſchule. Dieſelbe iſt
weder eine Volksſchule, noch eine Berufsſchule. Sie iſt ein Bildungs-
inſtitut, das in ſich abgeſchloſſen da ſteht und, die Klaſſenordnung in
ſich aufnehmend, ſelbſt wieder den Charakter einer Vorbildungsanſtalt
[140] haben kann, während ſie zugleich mit ihrem Bildungsgrade abſchließt.
Die „Bürgerſchule“ erſcheint in dieſer Scheidung mehr oder weniger
klar getrennt von der Elementarſchule bei allen Völkern; ihre Grund-
lage iſt der Gedanke einer Elementarbildungsanſtalt für die niederſte
Klaſſe der Beſitzenden, denen die Volksſchule nicht genügt und die zur
Berufsſchule nicht nothwendig übergehen wollen. Sie wird ſich daher
ſtets an das kleinere Gewerbe anſchließen und zugleich die Vermitt-
lung zwiſchen Elementar- und Berufsſchule bilden. Darnach
wird ſich natürlich ihr Unterricht und ihr Klaſſenſyſtem richten; es iſt
nicht Sache der Verwaltungslehre, darauf ſpeciell einzugehen. Allein
eine Gränze muß geſetzt werden und dieſe liegt offenbar in dem Grund-
ſatz, daß die Bürgerſchule diejenige Anſtalt iſt, bei welcher die drei
Elemente bereits als erworbene Fähigkeiten vorausgeſetzt werden
und welche daher in allen ihren Klaſſen nicht mehr den Erwerb, wie
die Volksſchule, ſondern die Verwendung derſelben zu zeigen und
zugleich die Elemente der allgemeinen Bildung, Geographie, Natur-
lehre und Geſchichte nebſt Mathematik und Wirthſchaftsrechnung zu lehren
hat. Eine Begränzung durch das Alter ſollte nicht ſtattfinden; ſie
wird ſich von ſelbſt machen.
Es iſt nun ſehr ſchwer, die ſehr verſchiedenen Zuſtände, Anſtalten,
Namen und Eintheilungen auf die obigen einfachen Kategorien zurück-
zuführen. Natürlich wird jedes Volksſchulweſen viel verſtändlicher, wenn
man es ohne Rückſicht auf dieſelben einfach ſtatiſtiſch darſtellt. Allein
eine wahre Vergleichung, ein gemeinſchaftliches Bild dieſes Theiles
des geiſtigen Lebens von Europa dürfte ohne dieſelben kaum zu er-
reichen ſein.
Wir dürfen wohl darauf aufmerkſam machen, daß in der Literatur
bei großer und eingehender Beſchäftigung mit dem Einzelnen der Zu-
ſammenhang aller Elementarbildungsanſtalten nicht immer gehörig
beachtet wird. Wir legen um ſo mehr Nachdruck hierauf, als nament-
lich das Verhältniß der Krippen und Warteſchulen zum Elementarunter-
richt dadurch nicht gehörig gewürdigt wird, während in der That gut
eingerichtete Warteſchulen faſt die Aufgabe der unterſten Klaſſe der
Volksſchulen erfüllen konnten und ſollten. — Ferner ſteht bei der Un-
fertigkeit der Terminologie die Bedeutung der „Bürgerſchule“ nicht feſt;
das kann freilich erſt dann ganz erreicht werden, wenn man über das
einig wird, was wir als Syſtem der volkswirthſchaftlichen Bildungs-
und Vorbildungsanſtalten bezeichnen. Jedenfalls ſind die concreten Ver-
hältniſſe des Unterrichtsweſens noch nicht dazu angethan, durch die
[141] Thatſachen eine Klarheit hineinzubringen, welche die Theorie noch nicht
beſitzt.
Was zuerſt England betrifft, ſo ſind hier allerdings alle Ele-
mente des obigen Syſtems vorhanden, aber allerdings noch ohne innere
Verbindung und ohne äußeres Syſtem. Da nämlich weder Begriff noch
Recht der eigentlichen Volksſchule feſtſtehen, ſo ſehen wir eine ziemlich
ungeordnete Reihe von Erſcheinungen und Verſuchen auftreten, welche
zuſammengenommen ungefähr das erfüllen, was das obige Syſtem
fordert. Die Krippen und Warteſchulen ſind zum Theil ſehr gut,
und „berufsfreudige Lehrerinnen bringen die Kinder ſo weit, daß viele
mit 7 Jahren leſen, erträglich ſchreiben, ſelbſt etwas rechnen können.“
(Gugler S. 215.) Daneben beſtehen die ſog. Industrial schools (die
Schulen der Union houses, Zwangsſchulen für die vagrant children),
die ragged schools, Vereinsſchulen für verwahrloste Kinder, die Eve-
ning schools (Gugler S. 255). Sonn- und Feiertagsſchulen ſind aus
dem vorigen Jahrhundert (ſ. oben) und gewiß noch eine Menge anderer
örtlicher Unternehmungen. Die „Upper schools“ ſind offenbar beſſere
Volksſchulen, ohne beſtimmtes Syſtem, für zahlende Kinder (Gugler
S. 249). Vergl. über die verſchiedenen Verhältniſſe zum Vereinsweſen
Schöll a. a. O., der die Vorſchulen ſpeciell S. 112 ff. behandelt. Die
half-time schools ſind eine Modification der Fabrikſchulen (Tyler bei
Gugler S. 111, Gugler S. 201.) — Man muß feſthalten, daß bei dem
Mangel eines adminiſtrativen Volksſchulweſens an eine Syſtemiſirung
wie in Deutſchland nicht zu denken iſt. — Ebenſo iſt es nicht thunlich,
etwas allgemein Gültiges für das Klaſſenſyſtem anzugeben. Das Beſte
ſteht bei Schöll S. 103. Wie weit daſſelbe praktiſch durchgeführt iſt,
läßt ſich kaum ſagen. Selbſt Senior (Heads of Report 91. 95) kommt
zu keiner feſten Angabe. Doch iſt das Bedürfniß nach einer ſyſtemati-
ſchen Ordnung und namentlich die Aufnahme wirklicher Bildungsgegen-
ſtände an der Stelle des geiſttödtenden Auswendiglernens von Bibel-
ſtellen ſehr groß (ſ. Senior an mehreren Orten).
Frankreich hat keine Schulpflicht. Die Vorſchulen be-
ſchränken ſich noch bloß auf die Krippen (Kinder in der Wiege) und
dieſe wieder faſt nur in Paris. Sie ſind von Vereinen geſtiftet und die
Eltern zahlen eine tägliche kleine Rate (20 und 30 Cent.). Warte-
ſchulen gibt es nicht. Die Volksſchule beſtand bis 1833 aus Einer
Klaſſe, der einfachen instruction primaire. Das Geſetz vom 28. Juni
1833 führte dann mit dem Unterſchied der instr. prim. élémentaire und
supérieure die Grundlage des Klaſſenſyſtems ein, wobei die Lehrordnung
der erſtern außer den Elementen auch noch die Lehre von Maaß und
Gewicht empfing, die zweite dagegen die Elemente der Geometrie, Natur-
[142] geſchichte, Geographie und Geſchichte, mit der Erlaubniß einer Er-
weiterung dieſer Fächer. Wie alle andern freieren Elemente der
Volksbildung hat das Geſetz von 1850 dieſe instr. pr. supérieure ge-
radezu aufgehoben und nur die Erlaubniß übrig gelaſſen, die höheren
Klaſſen als écoles intermédiaires professionelles etc. herzuſtellen. Der
Rückſchritt, der darin liegt, bedarf keiner Erörterung. Die organiſche
Verbindung der geſellſchaftlichen Klaſſen iſt aus der Geſetzgebung der
Volksbildung damit ausgeſtrichen.
Deutſchland. Es muß für die deutſchen Staaten feſtgehalten
werden, daß die ausgezeichnete Bildung und die rechtliche Selbſtändig-
keit des Lehrerſtandes, die wieder eine höchſt einflußreiche Literatur er-
zeugt hat, die zum Theil ſehr mangelhafte Geſetzgebung erſetzt. Eigen-
thümlich iſt es, daß in Preußen die Geſetzgebung des Lehrſyſtems viel
weiter zurück iſt als in Oeſterreich, während das Verhältniß der Land-
ſchullehrer das umgekehrte ſein dürfte. — Allgemein iſt die Schul-
pflicht und zwar bereits ſeit dem vorigen Jahrhundert, faſt durch-
gehend geſetzlich anerkannt, nicht allein im preußiſchen Allgemeinen
Landrecht II. 12. 43, ſondern auch in Sachſen (1769), Fulda 1775,
Lauenburg, Baden u. a. m. (Berg, Polizeirecht Bd. II. S. 314).
Ebenſo gab es bereits 1786 Töchterſchulen in Deſſau, Hanau,
Hannover (Berg a. a. O. S. 302). Doch mangelten bis zu unſerem Jahr-
hundert nicht bloß die Vorſchulen gänzlich, ſondern faſt auch alle Special-
ſchulen, und das Klaſſenſyſtem war eine große Ausnahme. Erſt in
unſerem Jahrhundert iſt dieß Lehrſyſtem organiſch ausgebildet und dann
von der Wiſſenſchaft, wenn auch nur noch in den territorialen Ver-
waltungsgeſetzkunden ausgebildet.
Preußen. Warteſchulen bereits organiſirt durch Reſcript
vom 24. Juni 1827. Sie fallen noch unter die Kategorie des Privat-
ſchulweſens, können jedoch als Corporationen behandelt werden (königl.
Ordre vom 28. Februar und 3. Juli 1842. Rönne, Unterrichts-
weſen I. 865, deſſen Staatsrecht II. §. 446 und 361. Ebendaſ. über
die Vereine zur Beſſerung verwahrloster Kinder; namentlich Reſcript
vom 11. Juni 1828). — Die Elementarlehre ſteht geſetzlich ganz
auf dem niederſten, franzöſiſchen Standpunkt; für den höheren Ele-
mentarunterricht iſt keine Stunde angewieſen, ſondern derſelbe nur
„geſtattet“ ganz wie vor hundert Jahren im General-Schulregelement von
1763 (Regulativ vom 3. Oktober 1834 und Kampf dagegen; ſ. Rönne,
Staatsrecht II. 444). Doch ſind beſondere Anordnungen über Hand-
arbeiten, Obſtbaulehre, Turnunterricht (verboten 1819, dann ſeit 1834
wieder eingeführt bei dem Gymnaſium, von da aus ſeit 1842 allgemein).
Rönne, Unterrichtsweſen I. 706—712; durch Reſcript vom 28. Febr.
[143] 1862 als integrirender Theil des Volksunterrichts anerkannt
(Rönne, Staatsrecht II. 444). Die Entlaſſungsprüfung iſt jedoch,
was entſcheidend wird, ſtrenge durchgeführt und zur Bedingung der
Confirmation und damit zum Eintritt in das ganze bürgerliche Leben
gemacht (Rönne, Unterrichtsweſen I. 335).
Oeſterreich hat das Vorſchulweſen, Krippen und Warteſchulen,
gleichfalls noch ganz im freien Vereinsweſen und zwar als Theil des
Hülfsweſens aufgenommen. Krippenkalender erſcheinen jährlich
in Wien mit ſehr guten und ausführlichen ſtatiſtiſchen Nachweiſungen.
Sein Lehrſyſtem iſt geſetzlich viel beſſer und freier als das preußiſche.
Unterſchied von Knaben- und Mädchenſchulen ſchon in der Verfaſſung
der deutſchen Volksſchule. Das Schulſyſtem beruht auf dem Unterſchied
der Trivialſchule von den Hauptſchulen mit vier Klaſſen und den
Normalſchulen in den Hauptſtädten, mit Uebergang von der Trivial-
ſchule in die vierte Klaſſe der Hauptſchule. In dieſer wird auch Natur-
und Landeskunde aufgenommen. Die großen Verſchiedenheiten der Kron-
länder bringen natürlich auch große Unterſchiede in der Praxis zu Wege.
Schulpflicht iſt geſetzlich ſtreng organiſirt (vom ſechsten Jahre an ſechs
Jahre). „Schulbeſchreibung“ als Mittel für ihre Erfüllung durch die
Ortsinſpektion (StubenrauchII. §. 380). Das geſammte Klaſſenſyſtem
mit den Prüfungen bei Ficker S. 315 ff. Die geſetzlichen Vorſchriften
bei demſ. S. 275. Die Wiederholungs- und Sonntagsſchulen
ſchon eingeführt durch Decret vom 27. September 1828 und zwar mit
Schulpflicht und möglichſt durchgeführter Klaſſeneintheilung (Stuben-
rauchII. 381. Ficker a. a. O. 327 ff.). Prüfungen halbjährlich und
öffentlich, nach der Verfaſſung von 1808 (StubenrauchII. 373). Die
Bürgerſchule in Oeſterreich iſt die Erweiterung der Hauptſchule um
zwei bis drei Klaſſen und führt auch den Namen der (unſelbſtändigen)
Unterrealſchule (Darſtellung bei Ficker 329 ff.).
Bayern. Eine ausführliche und mit der betreffenden Literatur
verſehene Darſtellung von Klemm bei Schmid Encyklopädie I. 429 ff.
Sammlung der das deutſche Schulweſen betreffenden Geſetze, Ver-
ordnungen ꝛc. 3 Bände. Einführung der Schulpflicht bereits durch
Verordnung vom 23. December 1802. — Syſtem der Klaſſen: drei
Klaſſen, nebſt Vorbereitungsklaſſe; Normallehrpläne von 1804 und 1811;
ausführliche Darſtellung bei Schiller, Schmid Encyklopädie I. 435 ff.
Sonn- und Feiertagsſchulen, errichtet im Jahr 1811; doch noch unbe-
deutend (vergl. Pözl, Verwaltungsrecht §. 184).
Baden. Schulpflicht allgemein. Das Syſtem der Schulen
ſcheint nicht objektiv feſtgeſtellt, ſondern von der Größe der Schülerzahl
abhängig. Die Grundlage iſt die Eintheilung in drei Klaſſen. Die
[144] Entwicklung zu einem Syſteme iſt fakultativ: „für größere Städte iſt es
erlaubt, Schulen mit erweitertem Lehrplan einzurichten“ (Holtzmann
a. a. O. 392). Die höhere Bürgerſchule jedoch erſcheint ſchon als Real-
ſchule. Ueber Waiſenhäuſer, Rettungsanſtalten u. ſ. w. (Holtzmann
S. 416). Das Ganze iſt noch rein dem Vereinsweſen überlaſſen und
wenig ausgebildet. Taubſtummenlehranſtalt ſeit 1783. Ein Kinder-
hoſpital in Heidelberg iſt eine Art Kinderſchule.
Hannover. Schulpflicht ſchon ſeit der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts. Landſchulen einklaſſig, Stadtſchulen mehrklaſſig. Rettungs-
anſtalten, Taubſtummen- und Bildungsanſtalten bei Pabſt a. a. O. 335.
Der Mangel des hannover’ſchen Volksſchulweſens liegt in dem des
mangelnden Syſtems, das die individuelle Tüchtigkeit der Lehrer er-
ſetzen muß.
Kurheſſen. Ein eigentliches Syſtem mangelt offenbar; es iſt
den örtlichen Verhältniſſen überlaſſen. Grund iſt der Mangel an einem
Schulgeſetz. Meiſt beſtehen drei Abtheilungen. Normallehrplan fehlt.
Neben den Volksſchulen beſtehen einzelne Fabrikſchulen (Hanau).
Die Handwerksſchulen ſind unorganiſche Reſte der Zunftepoche und
vertreten die Sonn- und Feiertagsſchulen, ohne öffentlichen Lehrplan
(Bezzenberger a. a. O. 483. 484). Ueber die Waiſenhäuſer und Ret-
tungsanſtalten, zum Theil ſchon ſeit dem 17ten Jahrhundert als ein-
zelne Stiftungen beſtehend (Bezzenberger daſ. 507 ff.); Taubſtummen-
anſtalt ſeit 1838. Kleinkinderſchulen ſind auch hier nur ſtädtiſche Ver-
einsanſtalten.
Heſſen-Darmſtadt. Schulpflicht ſeit dem 17ten Jahrhundert
ausgeſprochen. 1634 Ordnung von fleißiger Uebung Katechismi. Das
Klaſſenſyſtem ſcheint auch hier in ſeiner Ausführung von localen Ver-
hältniſſen abhängig. In allen Provinzen Rettungsanſtalten; daneben
Waiſenhäuſer, Taubſtummen- und Blindenanſtalt. Kleinkinderſchulen
werden 24 angegeben; Fortbildungsanſtalten finden ſich nicht (Strack
a. a. O. 530 ff.).
Waldeck. Frühere Schulordnung Geſetz vom 30. Januar 1846;
neuere Organiſation im Weſentlichen nach preußiſchem Muſter und ſehr
rationell durchgeführt (Geſetz vom 9. Juli 1855).
Belgien. Schulpflicht exiſtirt nicht; vergeblicher Verſuch im Jahre
1859, dieſelbe einzuführen (Batbie, Dr. publ. et adm. III. S. 259).
Das Klaſſenſyſtem iſt dem franzöſiſchen der inst. primaire élémentaire
und supérieure nachgebildet. Nach de Fooz (Droit administrativ.
Belge IV. 343) hat man die écoles primaires supérieures parmi les
établissements d’instruction moyenne gereiht und damit unter das
Geſetz von 1850 geſtellt. Das Verhältniß wird nicht recht klar (vergl.
[145]Le Noy a. a. O. S. 502). Dafür aber iſt in neueſter Zeit durch die
Verordnung vom 1. September 1866 das Syſtem der Écoles d’adultes
eingeführt, unſern Fortbildungsſchulen entſprechend, zugleich für Mädchen.
Dieſelben ſollen wieder in eine division élémentaire und eine supérieure
eingetheilt werden. Das Lehrſyſtem iſt nach dem Geſetz von 1842 ge-
regelt und umfaßt die Grundbegriffe des verfaſſungsmäßigen Rechts
neben der Elementarlehre (Art. 6). Der Staat kann dafür Unterſtützung
gewähren (Art. 29). In jeder dieſer Schulen ſollen wo möglich öffentliche
Vorträge, wöchentlich einmal, abgehalten werden.
Holland. Sehr entwickeltes Syſtem von Warteſchulen, daneben
Wiederholungsſchulen, Sonntagsſchulen in großer Zahl. Die Schulen
ſelbſt zerfallen in zwei Hauptklaſſen, von denen die erſte den Elementar-,
die zweite den höheren Bürgerſchulen entſpricht. Die eigentliche Schei-
dung trat wohl erſt in neueſter Zeit ein durch das Geſetz von 1857
über das Volksſchulweſen (laager Onderwiis) und das Geſetz vom
2. Februar 1861, welches den mittleren Unterricht (middelbaar Onder-
wiis) davon trennte. Das Syſtem des letzteren umfaßt die wirthſchaftliche
Vorbildung in den „Bürgerſchulen, höheren Bürgerſchulen und den Land-
bauſchulen.“ Offenbar ſind die „Bürgerſchulen“ (mit nur zweijährigem
Curs) ungefähr wie die Écoles primaires supérieures in Belgien doch
nur die höheren Klaſſen der Volksſchule, wie auch ihr Programm (Geſetz
von 1861, Art. 13) und die Beſtimmung zeigt, daß ſie aus Tag- und
Abendſchulen beſtehen und daß in jeder Gemeinde von 10,000 Seelen
(ſehr hoch gegriffen!) eine ſolche Tag- und Abend-Bürgerſchule errichtet
werden ſoll (Geſetz von 1861, Art. 14). Bemerkenswerth iſt die Ein-
führung des Turnunterrichts. Jedoch fehlt eben wegen des Princips der
faſt gänzlich freien Gemeindeverwaltung die Einheit und Gleichheit in
dieſen Anſtalten. Le Roy bei Schmid III. 566 hat nur Andeutungen.
Zweite Gruppe. Privatſchulen.
Weſen und Recht derſelben.
Bei der auch im beſten Falle beſchränkten Thätigkeit der öffent-
lichen Volksſchule bilden die Privatſchulen ein weſentliches Element
der Elementarbildung. Allein ihr Einfluß ſowie ihr Umfang hängt
vorzugsweiſe in allen Ländern davon ab, ob und in wie weit die Be-
rufsſchulen in den Vorbildungsanſtalten auf die unterſte Stufe der
Bildung zurückgreifen. Wo dieß wie in Deutſchland der Fall iſt, da
werden die elementaren Privatſchulen niemals eine große Bedeutung
empfangen, während ſie da, wo die Berufsbildung ſchlecht organiſirt iſt
Stein, die Verwaltungslehre. V. 10
[146] wie in England, ſtets zugleich einen nicht unbedeutenden Grad von
Vorbildung des Berufes in ſich aufnehmen. Es muß daher als leiten-
der Grundſatz gelten, daß ſie in Umfang und Wirkung von dem Syſtem
der öffentlichen Berufsbildung abhängen.
Urſprünglich vollkommen frei in jeder Beziehung entſteht mit dem
Auftreten des Princips der Schulpflicht der Gedanke, daß auch ſie eine
öffentliche Funktion vollziehe und daher wie jede ähnliche Thätig-
keit unter der öffentlichen Oberaufſicht ſtehe. Und die Aufgabe und
Gränze dieſer Oberaufſicht iſt es, welche ihrerſeits das öffentliche
Recht der Privatſchulen bildet.
Daſſelbe zerfällt in zwei Theile. Das Recht der Genehmigung zu
Errichtung einer ſolchen und das Recht der Aufſicht auf das Lehrweſen.
Das Recht der Genehmigung hat ſich faſt allenthalben an den Ge-
danken angeſchloſſen, daß eine Privatſchule ein Gewerbe ſei; jedoch
iſt ebenſo allgemeines Princip, daß der Unternehmer die Fähigkeit
zum Elementarunterricht in einer dem öffentlichen Lehrer entſprechenden
Weiſe nachweiſen müſſe.
Die Aufſicht auf das Lehrweſen geht davon aus, daß ſie nur
eine polizeiliche zu ſein, alſo die Kinder nur vor Mißbräuchen zu
ſchützen, um den Lehrgang ſelbſt ſich aber nicht zu kümmern habe.
Dieſe an ſich einfachen Sätze empfangen nur da praktiſch eine
größere Bedeutung, wo ſolche Privatſchulen von Körperſchaften er-
richtet werden und dadurch einen beſtimmten und mächtigen Einfluß
auf den Geiſt der niederen Klaſſen ausüben. Gegen die damit verbun-
denen Gefahren gibt es nur zwei Mittel; zuerſt die Unterſtellung der-
ſelben unter die Oberaufſicht der Gemeinde und dann die vollſte
Oeffentlichkeit der Lehre ſelbſt. Die amtliche Oberaufſicht wird hier
ſchwerlich je genügen.
Aus den angeführten Gründen ſteht das Privatſchulweſen ſtets in
engſter Verbindung mit den kirchlichen Verhältniſſen des Landes und
erſcheint daher in jedem Lande ſehr verſchieden. Die Literatur hat ſich
mit demſelben viel zu wenig beſchäftigt und nirgends fühlt man mehr
den Mangel der Statiſtik. Was England betrifft, ſo ſind eben die
früher erwähnten Vereinsſchulen, die National Schools und die British
and Foreign Schools, Privatſchulen von Vereinen, welche die beiden
großen kirchlichen Richtungen in England vertreten, und durch den
Mangel eines öffentlichen Volksſchulweſens von größtem Einfluß; Ge-
nehmigung iſt unbekannt und Aufſicht tritt nur ein, wenn die Unter-
ſtützung erbeten wird. Die ſog. „Dame Schools“ ſind eben ein höchſt
[147] unfertiges Mittelding zwiſchen Elementarſchulen und Warteſchulen; ge-
wiß berechtigte harte Urtheile darüber bei Schöll und Gugler a. a. O.
— In Frankreich ſind die Privatſchulen oder Écoles libres in das
Syſtem der Université mit aufgenommen. Die großen Mängel der
öffentlichen Schulen hatten ſie ſchon von 1833 zu einem wichtigen Ele-
mente der Volksbildung gemacht; ſie bedurften aber der autorisation
préalable, die von den kirchlichen Behörden weſentlich abhängig war.
Das Geſetz vom 28. Juni 1833 machte ſie als écoles primaires pri-
vées (T. II) davon frei und ſchrieb nur vor ein brévet de capacité
und ein certificat de moralité vom Maire und drei Mitgliedern des
Gemeinderathes; die Aufſicht ſollte gleichmäßig über die Privat- und
öffentlichen Schulen vom Schulcomité des Gemeinderathes ausgehen
(art. 21). Das Geſetz von 1850 hat dieß alles dahin geändert, daß
außer dem brevet de capacité auch ein certificat de stage genügt, daß
der Maire kein Recht des Widerſpruches hat, daß jedoch jetzt der In-
specteur entſcheidet und mit völliger Ausſchließung des Gemeinderathes
eine Aufſicht übt, die ſtrenge die Aufſicht über das Lehrweſen aus-
ſchließt und nur Moralität und Geſundheit betreffen ſoll. Bei geiſt-
lichen Körperſchaften genügt ſogar die einfache lettre d’obédience ſtatt
aller Genehmigung. Der Rückſchritt, der hierin liegt, iſt klar genug.
— In Deutſchland hat die Tüchtigkeit der Volksſchule die Privat-
ſchulen zu ſehr untergeordneten Elementen gemacht. Das Princip der
Genehmigung iſt wohl allgemein, nach den Grundſätzen des Gewerbe-
rechts; die Aufſicht beſteht meiſtens wohl nur in dem Grundſatz, daß
die Zulaſſung zu den Vorbildungsanſtalten von einer Prüfung, ent-
weder in den Hauptſchulen wie in Oeſterreich (Verfaſſung der deutſchen
Volksſchule §. 96) oder bei der Aufnahme, reſp. bei der Confir-
mation (Preußen) abhängig iſt. Ueber Oeſterreichs Verhältniſſe
ſiehe Ficker a. a. O. S. 325 ff. Das preußiſche Recht iſt in ſeinen
Grundzügen bereits durch das Allgemeine Landrecht II. 12 feſtgeſtellt:
Anzeige, Genehmigung, Oberaufſicht, Verbot der Winkelſchulen. Edikt
vom 12. Juli 1810 entbindet die Privatlehrer der Prüfung; die Ge-
werbeordnung vom 7. September 1811 gibt den Privatunterricht ganz
frei; dann Geſetz vom 10. Juli 1834, welches wieder die Erlaubniß
fordert, nebſt Zeugniß. Dieſe Beſtimmung macht dann eine genauere
Competenzordnung nöthig und dieſe erſchien in der Inſtruktion vom
31. December 1839, welche auch hier neben dem Syſtem der Oberauf-
ſicht und Zeugniſſe ein ſtrenges Prüfungsſyſtem durchführt (Rönne,
Staatsrecht I. §. 200). Die verſchiedenen Artikel bei Schmid liefern für
die Frage leider kein Material; Geſetze ſcheinen vielfach ganz zu fehlen.
[[148]]
Zweiter Theil.
Das Berufsbildungsweſen.
Es iſt nicht thunlich, das Berufsbildungsweſen Europas in ſeinem
ungeheuren Umfang, ſeiner Vielgeſtaltigkeit und ſeiner Unklarheit dar-
zuſtellen und durch ein feſtes Syſtem den einzig möglichen Ausgangs-
punkt für eine vergleichende Auffaſſung zu gewinnen, wenn man ſich
nicht über die Grundbegriffe und über die Bedeutung der Worte einigt,
welche man für jede Darſtellung und Vergleichung auf dieſem zwar
ſtatiſtiſch wohlbekannten, ſyſtematiſch aber ganz unbearbeiteten Felde
gebraucht. Wir müſſen daher auch hier, um zu einem feſten Reſultat
zu gelangen, einen allgemeinen Theil dem beſondern vorausſenden;
denn bei aller Verſchiedenheit im Einzelnen iſt das Volksſchulweſen den-
noch ſeiner Natur nach in allen Ländern gleichartig und leichtverſtänd-
lich; das Berufsbildungsweſen dagegen iſt in Umfang, Geſtalt, Namen
und Entwicklung ſo ſehr verſchieden, daß eine gemeinſchaftliche Auffaſſung
aller jener Verhältniſſe ohne völlige Klarheit über ſeine Grundbegriffe
und ohne jene Einigung über Sinn und Umfang der Wörter nicht
erzielt werden kann.
Wir werden daher in dem folgenden allgemeinen Theil zunächſt
den Begriff des Berufs und das Syſtem des Berufsbildungsweſens an
ſich darlegen und dann das Berufsbildungsrecht als die ſelbſtändig zu
betrachtende Thätigkeit der Verwaltung für das erſtere auf ſeine allge-
meinen Principien zurückführen. Erſt dann wird es möglich ſein, auch
hier von den Elementen der Geſchichte des letzteren zu reden, die uns
bis zur Gegenwart führen. Die letztere bildet dann in ihrer Darſtellung
den beſondern Theil. Und hier kann es keinem Zweifel unterliegen,
daß das poſitive Recht des deutſchen Berufsbildungsweſens ſo hoch über
allem ähnlichen ſteht, daß wir das deutſche Syſtem zugleich als das
allgemeine Rechtsſyſtem der Berufsbildung aufſtellen und die franzöſiſchen
und engliſchen Verhältniſſe als unvollſtändige Nachbildungen deſſelben
daran anſchließen können.
[149]
Möge es uns dabei erlaubt ſein, ausdrücklich zu bemerken, daß
wir die von uns gebrauchten neuen Begriffe und Ausdrücke nur an-
genommen haben, weil ohne ſie eine organiſche Auffaſſung unthunlich
erſcheint. Wir dürfen endlich hinzufügen, daß eine vollſtändige Mit-
theilung des Materials geradezu unmöglich iſt, wenn man ſich auf
irgend eine Weiſe zu beſchränken hat. Das was wir dagegen ange-
ſtrebt haben, iſt zweierlei — Vollſtändigkeit der Grundbegriffe und
ihres Syſtems und Klarheit des großen Bildes, das ſich vor uns aufrollt.
Allgemeiner Theil.
I. Der Beruf und die Berufsbildung an ſich.
Es iſt vielleicht ſchwierig, einen formell beſtimmten Begriff des
Berufes anzuerkennen. Dennoch iſt ſchon im Allgemeinen das was
wir den „Beruf“ nennen, ein ſo entſcheidendes Element für jedes Einzel-
leben und ein ſo gewaltiger Faktor für das Leben der Weltgeſchichte,
daß wir deſſelben nicht entbehren können. Aber ſpeciell das Bildungs-
weſen der verſchiedenen Völker und Zeiten bleibt ohne beſtimmte Auf-
faſſung des Berufes immer unklar. Wir können uns daher der Auf-
gabe nicht entziehen, den Begriff deſſelben hier zu entwickeln, um auf
Grundlage deſſelben zu einem Syſtem des Berufsbildungsweſens zu ge-
langen.
I.Begriff und Inhalt des Berufes. Der Beruf an ſich
und der öffentliche Beruf. — Der Beruf iſt ſeinem abſtrakten
Begriffe nach die beſtimmte Lebensaufgabe des Einzelnen, und zwar
inſofern die letztere demſelben als ſolche zum Bewußtſein kommt und
dieß Bewußtſein allen Beſtrebungen und Thätigkeiten eine dieſer Lebens-
aufgabe dienende Richtung gibt. In dieſem Sinne hat jeder Menſch
mit ſeiner Lebensaufgabe auch ſeinen Beruf. Derſelbe aber iſt für ihn
nicht bloß der Ausdruck eines Zweckes, ſondern er iſt zugleich ein hohes
ethiſches Element ſeines Lebens. Denn in ihm iſt mit dem Bewußtſein
von der beſondern Aufgabe jedes Einzelnen zugleich das der höheren
geiſtigen Gemeinſchaft mit allen andern, das Gefühl der inneren Ein-
heit des ganzen Menſchenlebens gegeben, welche das Bedingtwerden aller
Lebensberufe durcheinander, die lebengebende Gegenſeitigkeit aller be-
ſondern Thätigkeiten, die Erhebung des Einzelnen zum Ganzen zum
Bewußtſein bringt und dadurch auch das Beſondere adelt und veredelt.
Die Idee des Berufs, in jedem Einzelnen lebendig werdend, iſt deßhalb
von jeher der Anfang aller Geſittung in der Menſchheit geweſen.
[150]
Allein dieſe Idee des Berufes bleibt, ſo lange ſie nur noch dem
ethiſchen Bewußtſein des Einzelnen gehört, unbeſtimmt, zufällig und
willkürlich. Sie fordert daher, wie alle großen Elemente des Geſammt-
lebens, eine feſte, äußerliche Geſtaltung. Dieſe nun liegt an ſich ſchon
im Weſen des Berufes und zwar in der Gleichartigkeit der Lebens-
aufgaben ſelbſt, die der Einzelne zwar verſchieden für ſich auffaſſen und
vollziehen, aber ſelbſt nicht ändern kann. Dieſe Gleichartigkeit erzeugt
dann äußerlich die Gleichförmigkeit der Berufsthätigkeit; die Gemein-
ſchaft in den Bedingungen und Erfolgen der letzteren ruft die Gemein-
ſchaft unter den Berufsgenoſſen hervor; in dieſer Gemeinſchaft tritt die
Lebensaufgabe aller Einzelnen als eine große öffentliche Thatſache und
alsbald als ein ſelbſtändiger, ſelbſtthätiger Faktor hervor, die Geſammt-
heit der Menſchen erkennt ſie als ſolche an; die öffentliche Anerkennung
tritt zu der individuellen hinzu, und ſo wird aus dem Begriffe des
Berufs an ſich der wirkliche, öffentliche, im eigentlichen Sinne
ſogenannte Beruf.
Man wird daher recht wohl ſagen können, daß jeder Menſch im
ethiſchen Sinne des Wortes ſeinen Beruf habe. Allein ein öffentlicher
Beruf entſteht erſt da, wo die Gemeinſchaft des Menſchen einen ſolchen
anerkennt.
An dieſen Begriff des Berufes ſchließt ſich nun der der Berufs-
bildung und zwar zunächſt im Allgemeinen, bis er ſich zu dem ihm
eignenden Syſtem entwickelt.
II.Die Berufsbildung. Die Begriffe von Vorbildung
und Fachbildung. — Die Lebensaufgabe des Berufes iſt ein geiſtiges
Ganze; aber ſie hat in dieſer ihrer Einheit zwei Elemente. Das erſte
dieſer Elemente, das nächſte und verſtändlichſte, beſteht aus der Ge-
ſammtheit derjenigen Kenntniſſe und Fähigkeiten, welche ſpeciell der
beſtimmte Beruf fordert. Das zweite dagegen iſt anderer, höherer Natur.
Wie der einzelne Beruf ſelbſt ein Theil des Geſammtlebens der Menſchen
iſt, ſo muß derſelbe auch durchdrungen und belebt ſein von dieſem Be-
wußtſein, daß er organiſch, ethiſch und praktiſch zu dieſer großen Ge-
meinſchaft der menſchlichen Arbeit gehöre. Und wie daher einerſeits
der einzelne Beruf von der Tiefe und Höhe der geſammten menſchlichen
Arbeit abhängt, ſo wird auch der Einzelne in ſeinem Berufe von dem
Bewußtſein der Größe und Gewalt dieſer Thätigkeit getragen und ge-
hoben. Jeder Beruf fordert daher für ſeine höchſte Entwicklung neben
ſeinen ſpeciellen Kenntniſſen und Fähigkeiten eine Weltanſchauung, deren
Werth oft unmeßbar, aber immer unverkennbar bleibt. Sie muß ſich
mit ſeiner ſpeciellen Aufgabe auf das Innigſte verſchmelzen und damit
die unendliche Entwicklung derſelben möglich machen; ſie muß dem
[151] Einzelnen immer lebendig ſein, um ihn über die oft ſo harte und nieder-
drückende Begränzung ſeines beſſeren Selbſt auf den engen Kreis ſeiner
Lebensaufgabe zu tröſten und zu erheben; ſie iſt daher unbrauchbar, wie
Left und Sonnenlicht, aber wie ſie unſchätzbar für alles, was in ihnen
gedeihen ſoll. Und darum ſoll jede Berufsbildung neben ihrer ſpeciellen
Aufgabe zugleich die allgemeine der höchſten, freieſten Bildung, wenn
nicht geradezu enthalten, ſo doch als Keim in den Geiſt des Menſchen
legen, damit er denſelben in ſich mit eigener Arbeit auf ſeinem Lebens-
wege weiter ausbilde.
Den formellen Ausdruck dieſer beiden großen Elemente aller Be-
rufsbildung bieten nun zwei Worte, welche aber vermöge jenes innern
Zuſammenhanges mit der Idee des Berufes ſelbſt mehr ein Princip
als ein Syſtem ausdrücken. Das ſind die Vorbildung und die Fach-
bildung.
Die Vorbildung für den Beruf bedeutet zwei Dinge zugleich und
ſteht demgemäß um ſo höher, je mehr beide neben einander zum Bewußt-
ſein gebracht und zur Geltung gelangt ſind. Einerſeits enthält die Vor-
bildung die formelle Vorübung in den Kenntniſſen und Fähigkeiten,
welche die praktiſche Thätigkeit in der beſtimmten Lebensaufgabe voraus-
ſetzt. Allein andererſeits hat die Vorbildung jene andere, zwar nicht
unmittelbar praktiſche, aber dennoch höhere Funktion, auf die wir oben
hingewieſen haben. Sie iſt es nämlich, welche der Bildung des Ein-
zelnen jene allgemeine Grundlage geben ſoll, die der geiſtigen, organiſchen
Einheit aller Berufe zum Grunde liegt. Sie ſoll den Blick über die
Sphäre des Einzelnen hinausheben und die ganze Welt des geiſtigen
Lebens zeigen, ehe der Menſch ſich der einzelnen begränzten Aufgabe
hingibt. Sie ſoll das Band ſein, welches innerlich jeden Beruf mit
allen andern verbindet, die große Linie, welche von jedem Punkte der
menſchlichen Arbeit auf den Mittelpunkt aller lebendigen Anſchauung
und That zurückführt. Sie kann das zwar nicht durch Vollendung deſſen,
was eine ſolche Bildung fordert; allein ſie kann und ſoll es, indem ſie
dem Einzelnen das Bewußtſein davon wach erhält und es ihm als Be-
gleiter in ſeinem Leben mitgibt. Iſt durch ſie die Fähigkeit gewonnen,
den Blick auf das Ganze zu richten und zu erhalten, hat ſie jenes Be-
wußtſein zur Reife gebracht an beſtimmten einzelnen Gebieten des menſch-
lichen Wiſſens, ſo kann nun die Fachbildung eintreten, das Syſtem,
welches das große Princip der Theilung der Arbeit in der geiſtigen
Welt verwirklicht und welche in dieſem Sinne die für die nunmehr
ſcharf begränzte individuelle Lebensaufgabe geforderten Kenntniſſe und
Fähigkeiten darbietet.
Auf dieſe Weiſe ergibt ſich der Grundſatz, der das ganze Bildungs-
[152] weſen für alle Berufe zu beherrſchen hat. Es iſt der der möglichſt
gleichartigen Vorbildung und der möglichſt beſonderen
Fachbildung. Da aber die Idee des Berufes auch in dem be-
ſtimmteſten Einzelberuf fortlebt, ſo ſoll auch die nach dem obigen
Grundſatze ſpecialiſirte Fachbildung trotz ihrer Beſonderheit ſich niemals
auf ihre formale Gränze beſchränken. Sie ſoll vielmehr von einer Ar-
beit der allgemeinen Bildung begleitet ſein, welche jene höhere Auf-
faſſung in dem Einzelnen lebendig erhält; ſie iſt neben der Special-
bildung ihrem höheren Weſen nach ſtets eine Fortſetzung der Vor-
bildung; ſie bildet in jener für das Fach, in dieſer für das Leben
der Menſchheit und verläßt ihn erſt da, wo mit der vollen Selbſtändig-
keit des Einzelnen die Funktion des dritten Gebiets des Bildungsweſens,
der allgemeinen Bildung, beginnt.
III.Das formale Syſtem der Berufe und der Berufs-
bildung. — Auf dieſen einfachen, für den Beruf überhaupt geltenden
Grundlagen entſteht nun das, was wir das Syſtem der Berufsbildung
nennen, indem die Berufe ſelbſt ſich in große, innerlich und äußerlich
gleichartige Gruppen ſondern.
Es gibt nur Einen Weg, in der ungemeſſenen Mannichfaltigkeit
der Lebensberufe zu einer Eintheilung derſelben zu gelangen, welche zu-
gleich der Sache und der Form entſpräche. Denn es iſt allen Lebens-
aufgaben ohne Unterſchied gemein, daß ſie eine geiſtige und zugleich
äußerliche Arbeit enthalten; jede Lebensaufgabe wird in ihrer Erfüllung
weſentlich durch das Individuum bedingt; jede Lebensaufgabe hat ihr
nächſtes Ziel in dem Einzelnen, ihr ferneres in der Gemeinſchaft, die
zuletzt alle Unterſchiede verſchwinden läßt. Daher kann nur Eins dieſe
Unterſchiede für alle gleichmäßig feſthalten. Das iſt die Natur des
Objekts oder des Stoffes, dem die Lebensthätigkeit des Einzelnen ſich
unterwirft. Dieſes Objekt iſt nun entweder die Welt der geiſtigen, der
äußeren Begränzung ſich entziehenden Thatſachen, oder die Welt der
natürlichen Dinge, oder endlich die Welt der unmittelbar ſchöpferiſchen
Kräfte des menſchlichen Geiſtes. Die Lebensaufgaben nun, welche die
Thatſachen des geiſtigen Lebens durch Einzelarbeit dem menſchlichen
Leben unterwerfen, bilden den geiſtigen Beruf; diejenigen, welche das
natürliche Daſein den menſchlichen Zwecken dienſtbar machen, bilden den
wirthſchaftlichen Beruf; diejenigen, welche die reine Anſchauung
zur wirklichen Darſtellung bringen, bilden den künſtleriſchen Beruf.
Eine äußere Gränze iſt dabei nicht zu ziehen, wenn man darunter eine
materielle Trennung der verſchiedenen Funktionen verſteht. Es iſt nicht
einmal eine ſcharfe innere Gränze denkbar, denn jeder Beruf nimmt in
ſeiner Weiſe die Thätigkeit des anderen in ſich auf. Wohl aber ſind
[153] jene Berufe ihrem Weſen nach verſchieden, denn die Natur des Objekts
erzeugt für jeden Beruf eine charakteriſtiſche Geſtaltung der geiſtigen
und äußern Thätigkeiten, deren Grund in dem Streben liegt, alles
was der Menſch geiſtig und äußerlich vermag, für die Erfüllung jenes
Berufes zu eignen. Die Macht des Berufes wird dadurch über den
Einzelnen ſo groß, daß er ſich mit ſeiner geiſtigen ja zum Theil mit
ſeiner phyſiſchen Individualität identificirt; der Menſch wird erſt zum
Träger, dann zum Bilde ſeines Berufes, bis ihm die Geſellſchaft oder
der Staat gar die Symbole des letzteren geben. Doch iſt es nicht unſere
Sache, hierauf einzugehen. Wohl aber haben wir es zu bezeichnen,
wie ſich dazu nun der Begriff des öffentlichen Berufes verhält; denn
daran knüpft ſich die ſpätere Geſtalt des Bildungsweſens.
Allerdings nun müſſen wir hier auf ein anderes Gebiet der Wiſſen-
ſchaft verweiſen, die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft. Es iſt eine ihrer
Hauptaufgaben, eben die Entſtehung des öffentlichen Berufes, ſeine
Anerkennung und ſeine Macht aus dem Berufe an ſich zu zeigen. Ein-
fach nun iſt dieſer Proceß in dem geiſtigen Berufe und es darf uns
vielleicht verſtattet werden, das hier näher zu bezeichnen, weil wir es
unten zu gebrauchen haben. So wie ſich nämlich bei ſteigender Ge-
ſittung die Nothwendigkeit und damit die Selbſtändigkeit derjenigen
Funktionen zeigt, welche den Inhalt des geiſtigen Berufes bilden, ſo
ſcheidet er ſich von dem Geſammtleben aus und fordert und erzeugt
im Namen ſeiner geiſtigen Berechtigung einen ihm eigenen ſpeciell für
ihn beſtimmten Beſitz, der die wirthſchaftliche Grundlage der ſelbſtän-
digen Berufsfunktion bildet und der daher ein Eigenthum der Berufs-
genoſſen iſt. Sowie das geſchieht, iſt der Beruf eine zugleich öffentlich
rechtliche Thatſache mit beſtimmtem Recht, beſtimmter Macht, beſtimmter
innerer Ordnung; und dieſen mit eigenem Beſitz, Macht und Ordnung
verſehenen Beruf nennen wir den Stand. Jeder geiſtige Beruf wird
daher ſtets zu einem Stande; der Stand iſt die Form der Anerkennung
und des Daſeins des öffentlichen Berufes. Indem nun dieſer geiſtige
Beruf ſich ſelbſt wieder in beſtimmte große Funktionen theilt, entſtehen
die Berufsarten, welche im obigen Sinne die Stände ſind. Die Natur
des Berufs enthält dafür drei Grundformen — die Funktion, die Kraft
der Gemeinſchaft als ſolche darzuſtellen, den Wehrſtand, den Krieger-
ſtand; die Funktion der Entwicklung des rein geiſtigen Lebens, Geiſt-
lichkeit und Lehre — den Lehrſtand; und die Funktion der Thätigkeit
des Staats im weiteſten Sinne — den Stand des Amts. Wie nun dieſe
Funktionen in vielfachſter Weiſe geordnet, oft in denſelben Perſonen
vereinigt, oft getrennt, feindlich und freundlich neben einander ſtehen,
hat die Geſchichte zu entwickeln; wie jeder Stand wieder in ſich die
[154] Klaſſen mit ihren Gegenſätzen in ſich entwickelt, zeigt die Geſellſchafts-
lehre; wir haben zunächſt uns nur an die obigen Thatſachen zu halten.
Während nun auf dieſe Weiſe der geiſtige Beruf in allen Völkern
die Tendenz hat, in der Geſtalt der Stände zu einem öffentlichen Be-
rufe zu werden, iſt der künſtleriſche Beruf ſeinem Weſen nach unfähig,
zu einem Stande zu werden. Seine Leiſtung iſt an ſich individuell,
der Werth derſelben iſt von der individuellen Bildung abhängig. Es
iſt daher ein zwar weſentliches, aber kein ſtändiſches Element der Ge-
ſellſchaft; er iſt der ſtandesloſe und daher der freie Beruf. Das be-
darf wohl keiner Darſtellung.
Die wahre Schwierigkeit für die organiſche Auffaſſung des Berufes
iſt dagegen der wirthſchaftliche Beruf. Der wirthſchaftliche Beruf
hat zu ſeinem Zwecke zunächſt eine für das Individuum berechnete
Funktion, den Erwerb; zu ſeiner Grundlage den individuellen Beſitz,
das Kapital; zu ſeiner bewegenden Kraft die individuelle Fähigkeit und
Thätigkeit, die Arbeit. Der wirthſchaftliche Beruf erſcheint daher ſtets
als ein individueller. Er entſteht daher ohne Zuthun des Ganzen;
der Einzelne iſt ſeine Quelle, ſein Maß, ſein Ziel; das ſpecifiſche Ele-
ment des öffentlichen Berufes ſcheint ihm ſeinem Weſen nach zu fehlen;
und das iſt von entſcheidender Bedeutung, weil ohne dieß Moment von
einer Berufsbildung nicht die Rede ſein kann.
Daher denn kommt es auch, daß Jahrtauſende hindurch der Be-
griff des Berufes auf das wirthſchaftliche Leben keine Anwendung findet.
Der Charakter des wirthſchaftlichen Lebens iſt der des Standes und
damit der öffentlichen Rechtloſigkeit. Erſt die germaniſche Welt gelangt
zum Begriffe des wirthſchaftlichen Berufes; aber weder ſchnell noch in
einfacher Weiſe. Es iſt gut, ſich den Proceß zu vergegenwärtigen, durch
den dieß geſchieht, denn wie es in der Natur der Sache liegt, iſt dieſer
Proceß die Grundlage der Geſchichte der wirthſchaftlichen Berufsbildung.
Während nämlich bei dem geiſtigen Berufe aus dem Berufe ſelbſt
der Stand geworden iſt, iſt umgekehrt in Beziehung auf das öffentliche
Recht hin aus dem Stande der Beruf geworden. Wir haben daher zwei
Epochen zu unterſcheiden. Die erſte umfaßt die ganze Geſchichte der
Städtebildung und ihres Rechts; denn dieſelbe iſt nichts als die
erſte Form, in welcher das wirthſchaftliche Leben ſeine Individualiſirung
verläßt, ſich zur Gemeinſchaft aller ſeiner Mitglieder erhebt, und ſich
auf Grundlage des eigenen Grundbeſitzes ſelbſt als öffentlich-rechtlich
anerkannter Stand, der Bürgerſtand hinſtellt. Es iſt nicht unſere
Sache, die Geſchichte deſſelben zu ſchreiben. Aber das Element, das er
vertritt, gewinnt mit dem vorigen Jahrhundert eine andere Geſtalt und
Stellung und die iſt es, welche den Inhalt der zweiten Epoche bildet.
[155]
Sowie nämlich die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung mit ihrem
großen Princip des gleichen Rechts aller auftritt, treten zugleich zwei
mächtige geiſtige Thatſachen in den Vordergrund aller neueren Geſchichte
Europas. Die erſte iſt die, daß der Beſitz die materielle Grundlage
der bürgerlichen Freiheit des Einzelnen für ſich und ſeiner geſellſchaft-
lichen Geltung für andere iſt. Die zweite iſt die, daß vermöge der
Dampfkraft die Produktion und damit Handel und Verkehr das Ge-
ſammtleben Europas zu umfaſſen beginnt. Damit gewinnt das wirth-
ſchaftliche Leben als ſolches einen neuen Charakter. Er iſt nicht mehr
auf das Individuum und ſeinen engen Lebenskreis beſchränkt. Das
Vermögen und die Grundlage des Staatsbürgerthums, der Erwerb und
die Grundlage der einheitlichen Arbeit der europäiſchen Völker, der
Begriff und das Werden des Gutes ſind dadurch zu etwas anderem
geworden. Sie ſind ſtatt der einfachen materiellen Baſis der Einzel-
exiſtenz eine der großen Grundlagen der europäiſchen Geſittung.
Der Fleiß, die wirthſchaftliche Tüchtigkeit, die Sparſamkeit erzeugen
nicht bloß mehr Reichthum, ſondern vielmehr ein Staatsbürgerthum;
das Unternehmen wird aus dem einfachen Mittel, ſich anſtändig durch
die Welt zu bringen, zu einer ganze Völker und ihre Lebensverhältniſſe
umfaſſenden Aufgabe des kühnen und umſichtigen Mannes. Sie ver-
laſſen gleichſam die enge Heimath, in der ſie bisher gelebt, die Kund-
ſchaft der einzelnen Straße, der nächſten Nachbarſchaft, der Beſchränkung
auf das Gebiet des heimiſchen Marktes, ſie ziehen hinaus in die weite
Welt; ſie rufen die ganze Kraft, die ganze Kühnheit, die ganze Energie
des Mannes ins Feld; ſie zwingen ihn, den freien Blick weit über die
Gränze des eigenen Landes zu erheben; ſie fordern von ihm Kenntniſſe,
die früher kaum der Gelehrte gehabt, Fähigkeiten, die er für unerreich-
bar gehalten, Leiſtungen, die die ganze Fülle perſönlicher Entwicklung
vorausſetzen; ſie ſind nicht möglich, ohne das Bewußtſein geiſtiger Kraft,
und indem ſie gelingen, erfüllen ſie ihn mit dem Stolze des ganzen
Mannes. Da bleibt denn allerdings die geſammte frühere Auffaſſung
des „Gewerbes“ und des „Bürgerſtandes“ unmöglich; das wirthſchaft-
liche Leben wird zu einem ſittlichen Element; es fordert in der Wiſſenſchaft
unabweisbar ſeine volle Berechtigung neben der Gelehrſamkeit und der
abſtrakten Philoſophie, in der ſtaatlichen aber die öffentliche Aner-
kennung als eine mit jeder andern gleichberechtigten Bedingung der
Geſammtentwicklung; der Einzelne, der ſich ihnen widmet, widmet ſich
nicht bloß mehr wie einſtens ſich ſelber und höchſtens der Zunft oder
Innung, die unter dem Schutze des heimiſchen Reichthums gedeihen,
ſondern dem Leben des Ganzen; und mit vollem Recht wird ſo aus
dem wirthſchaftlichen Erwerbe ein ſelbſtändiger öffentlicher Beruf.
[156]
Auf dieſe Weiſe iſt das, was das neunzehnte Jahrhundert aus-
zeichnet, das Auftreten des wirthſchaftlichen Berufes an der
Seite des rein geiſtigen, des gelehrten und des künſtleriſchen. Aber
während derſelbe auf allen Punkten des Geſammtlebens ſich zur vollen
Geltung bringt, kann er ſeiner Natur nach niemals ein Stand werden.
Denn als Ganzes hat er keinen Beſitz; der Beſitz muß für jeden Einzelnen
durch eigene Thätigkeit immer wieder aufs neue erzeugt, kann von jedem
immer wieder aufs neue verloren werden. Sein Charakter beſteht darin,
daß er zwar für den Einzelnen ein freier, aber in ſeiner geſammten Auf-
gabe ein begränzter iſt. So iſt derſelbe die dritte Grundform des Berufes;
und jetzt erſcheinen mithin die drei Formen des letzteren, der geiſtige, der
wirthſchaftliche und der künſtleriſche Beruf als die drei Faktoren, durch
welche und in welchen ſich die Geſittung der Geſammtheit verwirklicht.
Stehen nun dieſe Begriffe feſt, ſo iſt auch das Syſtem der Berufs-
bildung einfach und leicht verſtändlich. Jeder Beruf hat ſeine Bildung,
denn ſeine Erfüllung hat beſtimmte Kenntniſſe und Fähigkeiten zur
Vorausſetzung, die keiner unmittelbaren Anwendung auf den andern
fähig ſind. Jeder Beruf iſt zugleich durch den mächtigen Umfang der
Aufgaben, welche ihm vorliegen, ſo groß, daß eine Verſchmelzung der-
ſelben mit jedem Tage ſchwieriger erſcheint. Jeder Beruf fordert den
ganzen Menſchen; jeder Beruf kann nur durch die Hingabe des Beſten,
was die Perſönlichkeit vermag, erfüllt werden; jeder Beruf aber ver-
mag jetzt auch durch ſeinen ethiſchen Inhalt dem Menſchen zu ge-
nügen; und während die Scheidewand der ſtändiſchen Epoche zwiſchen
den Berufen gefallen iſt, trennen ſich dafür die Gebiete der Berufs-
bildung um ſo ſchärfer. Die Entwicklung der Berufe ſelbſt aber erzeugt
für jeden Beruf wieder den allgemeinen Unterſchied zwiſchen der Vor-
bildung und der Fachbildung, denn die letztere erſcheint jetzt unerreich-
bar ohne beſtimmte Beziehung der erſteren auf das, was die letztere
fordert. Und ſo erſcheint jetzt das der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
eignende formale Syſtem der Berufsbildung als gelehrte, wirthſchaft-
liche und künſtleriſche Berufsbildung, jede derſelben mit ihrer, auf ſie
berechneten Vor- und Fachbildung, jede derſelben in ihrer Weiſe das
ganze Leben umfaſſend, den ganzen Menſchen erfüllend; an die höch-
ſten Elemente der geiſtigen Welt anknüpfend, und damit jede für ſich
ein ſelbſtändiger Organismus und eine ſelbſtändige Macht im Geſammt-
leben. Es iſt kein Zweifel, daß es unſere Zeit, und in unſerer Zeit
Deutſchland iſt, das dieſem Syſtem, wie es an ſich im Weſen des
Berufes lebt, ſeinen Ausdruck gegeben hat.
Und was iſt es jetzt, was über dieſe Berufsbildung noch weiter
geſagt werden kann?
[157]
IV.Das gemeinſame Element der höhern Berufsbil-
dung; Geſchichte, Philoſophie und die klaſſiſche Bildung.
— Offenbar, ſo groß auch das Bild iſt, das ſich uns in dieſem for-
malen Syſtem der Berufsbildung entfaltet, ſo hat es doch Eine Gefahr.
Indem jede Berufsbildung jetzt mächtig genug iſt, den ganzen Menſchen
zu erfaſſen und in ſich aufzunehmen, und ihn geiſtig zu erfüllen, hat
ſie auch die Gewalt, ihn zu beſchränken. Sie beſchränkt ihn aber
nicht bloß äußerlich; ſie zieht nicht bloß äußerlich um die Thätigkeit und
die Entwicklung ſeines Geiſtes die Gränzen deſſen, was etwa der be-
ſtimmte einzelne Beruf fordert, und macht es ihm durch die Maſſe des
Geforderten ſchwer darüber hinauszugehen, ſondern je höher ſie ſelber
ſteht, um ſo mehr greift ſie auch in ſein inneres Leben hinein, und
läßt in ihm neben der Tiefe der ſpeciellen Auffaſſung die Beſchränkung
der allgemeinen Entwicklung entſtehen. Die Macht der ſpeciellen Be-
rufsbildung iſt eine gewaltige für alles, was der Einzelne lernt oder
zu verſtehen hat. Sie biegt gleichſam alles Wiſſen und Denken wie
mit ſtarker Hand zuſammen, und wendet es auf einen und denſelben
Punkt; ſie läßt durch die Mühe die ſie koſtet, durch die Höhe die ſie
im Einzelnen erreicht, durch den praktiſchen Werth den ſie beſitzt, jede
andere Bildungsart als minder bedeutend erſcheinen; ſie macht den Men-
ſchen einſeitig, und gefährdet das Höchſte der geiſtigen Welt, indem ſie
das beſchränkte Genügen im beſondern an die Stelle des Strebens nach
der Geſammtanſchauung des menſchlichen Lebens ſetzt, und damit ſogar
die Keime der Mißachtung der einen Bildungsform gegenüber der andern
begründet. Das iſt die Gefahr der ſyſtematiſchen Entwicklung des
eigentlichen Berufsbildungsweſens.
Aus dieſer Gefahr rettet nun die Wiſſenſchaft. Es iſt natürlich
hier nicht der Ort, von dem Weſen der reinen Wiſſenſchaft zu reden.
Das, warum es ſich für uns allein handeln darf, iſt die Funktion
derſelben eben in Beziehung auf jene Auflöſung der höhern Berufs-
bildung in geſchiedene, gegen einander gleichgültige, ja feindliche Fach-
bildungen, die durch die objektive und zuletzt auch ſubjektive Beſchrän-
kung am Ende zur Erſtarrung des geſammten geiſtigen Lebens führen
muß. Das Weſen derſelben beſteht darin, nicht bloß den innern Zu-
ſammenhang aller geiſtigen Güter und Arbeiten zu erkennen, ſondern
auch die gewaltige Thatſache feſtzuhalten und nachzuweiſen, daß zuletzt
doch nur eben in dieſem Zuſammenhange die wahre Erfüllung des Ein-
zelnen, die Möglichkeit der höchſten Entwicklung jedes Theiles liege.
Sie erreicht dieß Ziel auf zweifachem Wege. Sie hält zuerſt die hiſto-
riſche Entwicklung des Menſchengeſchlechts im Ganzen und die der
einzelnen Theile ſeiner Erkenntniſſe im Einzelnen feſt, und zweitens
[158] ſtellt ſie den innern Organismus des Ganzen als Syſtem dar. Wir
nennen, in möglichſter Kürze, das erſte die Wiſſenſchaft der Geſchichte,
das zweite die Philoſophie.
Die Geſchichte zeigt uns den Werth deſſen, was andere gedacht
und gethan haben, und lehrt uns, daß das, was wir vermögen, nur
durch dasjenige möglich ward, was Andere, wenn auch oft in unvoll-
kommener Weiſe, geleiſtet. Sie zeigt uns den bildenden Zuſammenhang
der geiſtigen und materiellen Thatſachen, die Unmöglichkeit des Beſon-
dern, für ſich zu ſein und ſich zu entwickeln. Das geſchichtliche Be-
wußtſein iſt daher die thatſächliche, wirkende Einheit aller Berufe und
ihrer Leiſtungen; vor ihr gibt es keine Vollendung des Beſonderen und
keinen ſelbſteigenen Werth des Einzelnen. Die Philoſophie dagegen
zeigt uns den Werth deſſen, was wir noch nicht gedacht haben; ſie lehrt
uns, daß die wahre Erfüllung des Verſtändniſſes aller Dinge, und ſo
auch des einzelnen Berufes, erſt in der Anſchauung des Ganzen ge-
funden werde, und daß das Streben nach dieſer Anſchauung die gleiche
Aufgabe aller, die höchſte Gemeinſamkeit der geiſtigen Arbeit iſt. In
Geſchichte und Philoſophie verſchwinden daher die Beſchränkungen der
einzelnen Berufsbildung. Geſchichte und Philoſophie werden daher da,
wo die Fachbildung die höhere Berufsbildung aufzulöſen droht, die
eigentlichen Träger der Idee des Berufes und der höhern Berufsbil-
dung; ſie ſind ihrem innerſten Weſen nach nicht für einen Zweck da;
ſie ſind nicht benutzbar, und wollen nicht brauchbar ſein. Ihre große
Funktion iſt es vielmehr nur, das hohe ethiſche Moment des Berufes
an ſich aus der Fachbildung nicht verſchwinden zu laſſen, es lebendig
zu erhalten, und in ihm die Einheit der geiſtigen Thatſachen und Ar-
beiten wieder zu finden, die ohne ſie verloren wäre. Ein geiſtig leben-
diges Volk wird daher allerdings aus dem einzelnen Berufe ſtets die
höchſte einzelne Fachbildung entwickeln, es wird aber zugleich die
ethiſche Idee des Berufes durch Geſchichte und Philoſophie lebendig er-
halten. Die große Aufgabe aller höhern Berufsbildung beſteht deßhalb
darin, die Geſchichte und die Philoſophie, das geſchichtliche und philo-
ſophiſche Bewußtſein als das lebendige Element in der neuen Berufs-
bildung und ihrer Theilung der Arbeit zu erhalten.
Das große Mittel dafür nun iſt die klaſſiſche Bildung. Wir
dürfen alles, was über die klaſſiſche Bildung geſagt iſt, theils hier vor-
ausſetzen, theils kommen wir auf daſſelbe zurück. Die Anſichten dar-
über ſind nun verſchieden genug. Allein es wird wohl kaum bezweifelt
werden, daß ſchon die klaſſiſche Grammatik undenkbar iſt ohne tauſend
Anknüpfungen an die große hiſtoriſche und philoſophiſche Welt, die in
den klaſſiſchen Sprachen bei uns fortlebt; und daß die Beſchäftigung
[159] mit den Klaſſikern ſelbſt die ewig junge Quelle ſolcher Auffaſſungen
und Anſchauungen iſt, das wird von Niemanden beſtritten. Die klaſſiſche
Bildung iſt daher unſchätzbar, vielleicht nicht ſo ſehr durch das was ſie
enthält und bietet, ſondern vielmehr durch das was ſie anregt. Die
Kenntniſſe, die man durch ſie gewinnt, ſind zum Theil unbedeutend;
aber die Fähigkeit ſie zu behandeln, wird zur Fähigkeit des Einzelnen,
auch die am fernſten liegenden Dinge in ſeinen Geſichtskreis zu ziehen
und ſich anzueignen; und die Entwicklung jedes Berufs zu einem Theile
des Weltlebens gibt eben dieſer Fähigkeit einen unſchätzbaren Werth.
Durch die Klaſſiker haben wir die geiſtige Berufsbildung von der ſtän-
diſchen Beſchränktheit frei gemacht; die klaſſiſche Bildung iſt es, welche
uns vor der ſtaatsbürgerlichen Beſchränktheit zu bewahren berufen iſt.
Dieß nun iſt das Berufsbildungsweſen an ſich, ſeinem Begriff und
ſeinem organiſchen Inhalt nach. In der Wirklichkeit aber empfängt
daſſelbe erſt ſeine Geſtalt und Geltung durch ſein Verhältniß zum Staat
und ſeiner Verwaltung, durch welche es zu einem Theile des öffent-
lichen Rechts wird. Für dieß iſt das Obige nur noch die Vorausſetzung:
aber freilich iſt das letztere ohne das erſtere in ſeiner feſten Ordnung
wie in ſeiner Entwicklung nicht zu verſtehen.
II. Das öffentliche Berufsbildungsweſen, ſein Recht und ſein Syſtem.
Dem organiſchen Begriffe des Berufsbildungsweſens gegenüber ent-
ſteht nun der formelle Begriff und Inhalt des öffentlichen Rechts
deſſelben, indem die Geſammtheit der für dieſe Berufsbildungsanſtalten
im weiteſten Sinne beſtimmten oder nothwendigen Thätigkeiten als
Aufgaben der Verwaltung erſcheinen. Das öffentliche Berufsbildungs-
weſen iſt demnach die Geſammtheit deſſen, was die Organe der Ver-
waltung mit den ihnen zu Gebot ſtehenden Mitteln für wiſſenſchaftliche,
volkswirthſchaftliche und künſtleriſche Berufsbildung in Vorbildung und
Fachbildung wirklich leiſten. Das iſt der formale Begriff deſſelben.
Das Verſtändniß einerſeits, und das formale Syſtem andererſeits
für das öffentliche Berufsbildungsweſen beruhen nun hier wie bei der
Volksbildung auf dem Gegenſatz, der zwiſchen der individuellen Thätig-
keit und der des perſönlichen Staats erſcheint, und deſſen Ausgang
hier wie immer in allem dem, was als Bedingung der Geſammtent-
wicklung daſteht, in der Unterordnung des Individuellen unter das
Gemeinſame erſcheint.
[160]
An ſich und urſprünglich hat nämlich alle Berufsbildung den
Charakter der Berufswahl. Jede Berufswahl und jede Berufsbildung
iſt nothwendig frei. Und zwar ſowohl in dem Beginn und dem Feſt-
halten der individuellen Bildung für den Beruf, als in der Art und
dem Maße deſſen, was als die für den Beruf nothwendige Bildung
angeſehen wird.
Dieſe volle Freiheit iſt mithin das allgemeinſte Princip alles öffent-
lichen Rechts der Berufsbildung. Es kann keine Berufsbildungspflicht
für den Einzelnen geben, wie es eine Volksbildungs- oder Schulpflicht
gibt; und das iſt das erſte unterſcheidende Merkmal dieſer beiden großen
Gebiete des öffentlichen Bildungsweſens.
Allein dieſes Princip der Freiheit genügt nicht, um das Berufs-
bildungsrecht zu erſchöpfen. Es iſt das Weſen des öffentlichen Berufes
in ſeinem Unterſchiede von dem Berufe an ſich, der das letztere bei
jenem rein negativen Grundſatze nicht ſtehen läßt.
So wie nämlich mit dem öffentlichen Berufe die geiſtige Arbeits-
theilung eintritt, und ſich in der Beſonderung der Vorbildung und
Fachbildung äußert, ſo wird offenbar die Erfüllung des Berufes von
Seite des Einzelnen mehr oder weniger von der Bildung abhängig,
die er für ſeinen Beruf mit ſich bringt. Dieſe Erfüllung ſelbſt iſt
aber jetzt ein öffentliches Bedürfniß des Geſammtlebens, und es iſt
einleuchtend, daß die Entwicklung, die Sicherheit und die geiſtige
Höhe des letzteren weſentlich davon abhängig wird, ob und wie
weit die Berufsgenoſſen im Stande ſind, auch wirklich ihren Beruf
ganz auszufüllen. Andererſeits ſind die Einzelnen in der Gemein-
ſchaft gerade durch jene Theilung der Arbeit, welche im Weſen des
öffentlichen Berufes liegt, angewieſen auf diejenigen, welche ſich dem-
ſelben gewidmet haben. Die Tüchtigkeit in der Erfüllung des Be-
rufes gewinnt damit einen anderen Charakter. Aus einer Angelegen-
heit der freien Wahl und Selbſtbeſtimmung wird ſie zu einer der
großen Bedingungen des öffentlichen Lebens und ſeiner Entwicklung,
zu einer Vorausſetzung für die Erhaltung der Intereſſen der Ein-
zelnen, die ſich die letzteren nicht mehr durch eigene Kraft zu ver-
ſchaffen im Stande ſind; die Berufserfüllung erſcheint ſogar in einigen
ihrer Gebiete unmittelbar als ein Theil der Verwaltungsthätigkeit
ſelber; der Staat kann ohne ſie nicht mehr ſeinen eigenen Aufgaben
entſprechen. So wird dieſelbe zu einer öffentlichen Angelegenheit,
und die öffentlichen Pflichten und Rechte, welche auf dieſe Weiſe
aus dem öffentlichen Berufe und ſeiner Stellung im Geſammtleben
hervorgehen, bilden nun das öffentliche Berufsbildungs-
weſen.
[161]
Allerdings nun entwickelt ſich dieß öffentliche Berufsbildungsweſen
nicht mit einemmale. Wir werden unten die Stadien bezeichnen, welche
es zu durchlaufen hatte, um ſeinen gegenwärtigen Standpunkt zu ge-
winnen. Allein ſo wie es demſelben ſich nähert, kann die Verwaltung
nicht mehr bei dem allgemeinen Verhalten zu demſelben ſtehen bleiben.
Sie muß thätig eingreifen, alle Punkte deſſelben erfaſſen, für alle
Fragen eine beſtimmte Auffaſſung beſitzen, und mithin aus den beiden
obigen Principien der Freiheit des Berufes an ſich und dem öffent-
lichen Recht deſſelben ein Rechtsſyſtem des öffentlichen Bildungsweſens
entwickeln.
weſens an ſich.
Das Rechtsſyſtem des Berufsbildungsweſens iſt nun ſeinem Weſen
nach die Verſchmelzung jener beiden Principien zu einem organiſchen
Ganzen von Beſtimmungen, in welchem die Freiheit des Berufs neben
und in dem Principe der Verwaltung der Berufsbildung gewahrt wird.
Dieſes Rechtsſyſtem iſt nun ein ſehr einfaches, hiſtoriſch wie ſyſtematiſch,
ſo lange es ſich nur noch um den geiſtigen Beruf handelt; denn die
Funktionen deſſelben haben, wie wir ſehen werden, den Charakter von
öffentlichen Funktionen. So wie aber der künſtleriſche Beruf öffentliche
Geltung bekommt, und der wirthſchaftliche Erwerb überhaupt als eine
beſtimmte Form des Berufes anerkannt wird, treten neue Geſichtspunkte
hinzu, welche für das ganze Rechtsſyſtem maßgebend werden, indem
ſie das Recht der Berufsbildung für jede einzelne Gruppe des Berufes
als ein beſonderes erſcheinen laſſen. Dieſe tiefe Verſchiedenheit
iſt es, welche der Geſammtauffaſſung des Berufsbildungsweſens am
meiſten entgegen ſteht. Um ſo mehr iſt es nothwendig, jenes Syſtem
zunächſt als ein Ganzes darzuſtellen.
Wir müſſen nun die Grundlagen deſſelben auf drei Punkte zurück-
führen: auf die Grundſätze für die Berufsbildungsanſtalten, für die Be-
rufsbildungsfreiheit und für das Recht der wirklichen erworbenen
Berufsbildung.
I. Das öffentliche Recht der Berufsbildungsanſtalten ent-
hält die Grundſätze für die Errichtung und für die Verwaltung
derſelben.
So lange die Berufsbildung in ihrer organiſchen Bedeutung von
der Gemeinſchaft nicht anerkannt iſt, wird natürlich die Errichtung der
für ſie beſtimmten Anſtalten dem Zufall, dem Einzelbedürfniß oder
den rein geſellſchaftlichen Verhältniſſen überlaſſen. Sobald dagegen
jene Bildung ihrerſeits als eine Bedingung der allgemeinen Wohlfahrt
Stein, die Verwaltungslehre. V. 11
[162] erſcheint, tritt auch die Anerkennung als Pflicht des Staats auf, die
Bedingungen der Berufsbildung in den dafür geeigneten Anſtalten
herzuſtellen. Dieſe Herſtellung wird damit eine Aufgabe der Verwaltung
des geiſtigen Lebens eines Volkes. Es iſt natürlich, daß ſich dieſelbe
nach der Auffaſſung richtet, welche das Volk ſelbſt von dem Weſen und
den Arten des Berufes hat. Es wird daher ſtets mit der Herſtellung
ſolcher Bildungsanſtalten für den geiſtigen Beruf begonnen und erſt
allmählig zu den wirthſchaftlichen und künſtleriſchen übergehen. Je
höher nun ein Volk ſteht, um ſo mehr wird daſſelbe in dem Syſtem
ſeiner wirklich vorhandenen Berufsbildungsanſtalten den oben ausge-
ſprochenen Grundſatz zur Gültigkeit bringen, nach welchem die Vor-
bildung gleichartig und die Fachbildung ſpecialiſirt ſein muß, um dem
Weſen des Berufes ſelbſt zu entſprechen. Die Statiſtik der beſtehen-
den Berufsbildungsanſtalten iſt daher, auf das obige Princip zurückge-
führt, eines der wichtigſten Mittel, um das geiſtige Leben eines Volkes
zu beurtheilen, und es muß daher ein entſcheidender Fortſchritt aner-
kannt werden, wenn die reinere Statiſtik, wie namentlich in der ſchönen
Arbeit von Brachelli (Staaten Europas) grundſätzlich dieß Syſtem
und die allgemeinen Zuſtände dieſer Bildungsanſtalten nicht bloß an-
führt, ſondern auf die großen Kategorien der Vorbildung und Fach-
bildung in ihren Grundformen zurückführt. Hält man die obigen Dar-
ſtellungen im Auge, ſo wird die Betrachtung ſolcher ſtatiſtiſchen Nach-
weiſungen zu einer Quelle der reichſten Beobachtungen.
Die Verwaltung der errichteten Anſtalten enthält nun drei
Punkte. Sie betrifft zuerſt die wirthſchaftlichen Mittel derſelben, die
ökonomiſche Verwaltung; dann das Recht des beſondern Perſonals; end-
lich das Recht der Lehrordnung. Der leitende Grundſatz für dieß Recht
iſt, daß die Beſtimmungen über die erſten beiden Punkte von dem An-
theil abhängen, den die Staatsverwaltung für den Unterhalt der
Anſtalt hingibt. Dagegen hat der Staat das Recht, für diejenigen
Zweige der Berufsbildung, welche zu öffentlichen Funktionen vorbereiten,
nicht bloß über die Fähigkeit der Lehrer, ſondern auch über die Lehr-
ordnung in entſcheidender Weiſe zu beſtimmen. Auch hier nun ergeben
ſich leitende Geſichtspunkte, welche für den geſammten Zuſtand des
Berufsbildungsweſens maßgebend ſind und ihrerſeits aus dem Weſen
des Berufes folgen. Es iſt für die höhere Vergleichung von großer Be-
deutung, dieſelben feſtzuſtellen.
Zuerſt nämlich wird jede Verwaltung die Lehre ſelbſt da, wo die
Anſtalten nicht ihr gehören, nicht ſich ſelbſt überlaſſen. Sie wird ihr
Oberaufſichtsrecht in der Weiſe zur Geltung bringen, daß ſie das Lehren
hier wie beim Volksſchulweſen ſelbſt wieder als Beruf erkennt, daher
[163] für die Lehrerbildung eigene Anſtalten errichten und das Recht zur
Lehre von dem öffentlichen Nachweis der erworbenen Berufsbildung ab-
hängig machen.
In dem Lehrerbildungsweſen für die Berufsbildungsanſtalten aller
Art liegt daher der erſte, den Charakter des Berufsbildungsweſens eines
Staates beſtimmende Grundſatz.
Das zweite Moment iſt das Verhältniß, welches die Verwaltung
zu den beiden Elementen der Bildung, der allgemeinen und der ſpeciellen
Fachbildung für die Lehrordnung einnimmt. Der Grundſatz dafür iſt
einfach. Je höher ein Volk ſteht, um ſo mehr wird die Verwaltung
deſſelben die Erhaltung und Förderung der allgemeinen Bildung, alſo
ſpeciell die Claſſicität, die Geſchichte und Philoſophie, zu einem organi-
ſchen Theil der geſammten Vor- und Fachbildung machen, während ſie
zugleich in der Herſtellung der ſpeciellen Fachbildungsanſtalten die Voraus-
ſetzung für die höchſte Entwicklung der ſpeciellen Bildung finden wird.
Das Syſtem der Lehrgegenſtände ergibt daher den zweiten Geſichts-
punkt für die höhere Vergleichung.
Das dritte Moment iſt nun das Verhältniß des Lehrkörpers.
Die Selbſtändigkeit des Lehrkörpers iſt die erſte und wichtigſte Conſe-
quenz der fachgemäßen Bildung des Lehrerſtandes. Sie iſt die Gewähr
der geiſtigen Freiheit innerhalb der öffentlich rechtlich beſtimmten Lehr-
ordnung. Dieſe geiſtige Freiheit aber iſt die große Grundlage aller
wahren Entwicklung, und man kann unbedenklich ſagen, daß das Maß
der Selbſtverwaltung, das dem Lehrkörper der einzelnen Anſtalten ge-
geben iſt, den Maßſtab für die Freiheit der geiſtigen Bewegung über-
haupt abgibt, die ein Volk gewonnen hat.
Dieß ſind nun die drei Geſichtspunkte, welche für das Recht der
Lehranſtalten maßgebend ſind. Das zweite Gebiet iſt nun das der
Freiheit der Berufsbildung ſelbſt.
II. Das Weſen der Freiheit in der Berufsbildung beſteht, der
höhern Natur des Berufes nach, nicht in der Willkür des Einzelnen,
ſeinen Bildungsgang ganz nach eignem Ermeſſen einzurichten. Ein
ſolches Recht würde im Grunde bedeuten, daß die Bildung ſelbſt keine
feſten organiſchen Grundlagen und Stadien habe, ſondern je nach der
Individualität eine andere ſein könne. Die Freiheit der Berufsbildung
ſteht daher nicht mit der öffentlich rechtlichen Lehrordnung und ihrer
geſetzlichen Feſtſtellung im Widerſpruch, ſondern ſie beſteht in der Frei-
heit des Einzelnen, nach ganz freiem Entſchluß ſich dem einzelnen Be-
rufe zu widmen, von ihm zurückzutreten oder zu einem andern über-
zugehen — alſo in der vollkommenen freien Bewegung des Individuums
innerhalb der geſetzlich beſtimmten Bildungsordnung. Der formelle
[164] Ausdruck dieſer Freiheit erſcheint in zwei Dingen. Erſtlich in dem
Recht des freien Eintritts und Austritts für jeden Einzelnen in jeder
Anſtalt, und damit in jedem Zweig der Berufsbildung. Das iſt das
negative Moment der freien Bewegung in der letzteren. Zweitens
aber muß die Verwaltung dieſe Freiheit auch poſitiv fördern, und das
geſchieht dadurch, daß die Uebergänge von einem Beruf zum andern in
ſelbſtändigen Bildungsanſtalten aufgeſtellt werden, welche die
Vor- und Fachbildung des einen Berufes mit der des andern in ſich
verbinden. Es iſt dann Sache des Rechts der Lehrordnung, nament-
lich die Vorbildung hier ſo zu ordnen, daß ſie in dieſer Beziehung
ihrer Aufgaben entſpreche. Denn wo der Uebergang von einer Be-
rufsbildung zur andern formell unmöglich iſt, wird dieſelbe unfrei; wo
ſie bloß auf individueller Willkür beruht, wird ſie ungenügend. Im
Ganzen aber ſteht feſt, daß die Organiſation des freien Ueberganges
von einer Berufsbildung zur andern das zweite große Moment in dem
Charakter eines jeden Berufsbildungsſyſtems abzugeben hat.
III. Das dritte Moment iſt nun das öffentliche Recht der er-
worbenen Berufsbildung. Daſſelbe beſteht in dem öffentlichen
Recht der Prüfungen und in dem der Geprüften, oder beſſer der
Zeugniſſe. Es iſt von hoher Wichtigkeit, dieß Moment ins Auge zu
faſſen; um ſo mehr, als unſeres Wiſſens bisher die Theorie trotz einer
ſehr reichen Geſetzgebung ſich mit der Sache überhaupt noch nicht be-
ſchäftigt hat.
Das Weſen alles Prüfungsrechts enthält nämlich zwei ſtreng zu
unterſcheidende Fragen, die ihrerſeits nicht etwa didaktiſcher, ſondern in
der That rein verwaltungsrechtlicher Natur ſind. Die erſte Frage iſt
die, ob die Prüfung die Bedingung für die Theilnahme an der Be-
rufsbildung ſein ſolle; die zweite iſt die, ob dieſelbe die rechtliche Voraus-
ſetzung für die wirkliche Ausübung des Berufes zu enthalten habe. Die
Entſcheidung über dieſe Fragen bildet das Recht des Prüfungsweſens.
An ſich nun ſind die Grundlagen des letztern wohl einfacher Natur.
Inſofern nämlich das Berufsbildungsweſen Gegenſtand der Staatsver-
waltung iſt, hat dieſelbe unzweifelhaft das Recht, ein gewiſſes Maß
von Bildung als Bedingung für die Theilnahme an den Berufsbildungs-
anſtalten aufzuſtellen; und wo die Didaktik zeigt, daß dieſes Maß die
Vorausſetzung für die beſondere Wirkſamkeit einer ſolchen Anſtalt über-
haupt iſt, hat die Verwaltung ſogar die Pflicht, eine ſolche Prüfung
vorzuſchreiben, deren Inhalt ihr dann von der höheren Methodologie
geſetzt wird. Inſofern ferner ein Minimum der Berufsbildung die
Vorausſetzung für die geſicherte Vollziehung einer, als öffentlich an-
erkannten Berufsfunktion iſt, muß dieß Minimum im öffentlichen
[165] Intereſſe gefordert und ſein Vorhandenſein durch eine Prüfung con-
ſtatirt werden. So erſcheinen zwei Grundformen aller Prüfungen und
zwei leitende Principien ihres Rechts, diejenige, welche wir die Studien-
prüfung, und diejenige, welche wir die Berufsprüfung nennen,
und zwar mit dem Grundſatz, daß die Studienprüfung als Aufnahms-
und Abgangsprüfung bei allen ſtaatlichen Bildungsanſtalten Rechtens
ſind, und daß die Berufsprüfungen bei allen öffentlichen Berufen ge-
fordert werden müſſen, in denen eine Verwaltungsfunktion von den
Berufsgenoſſen vollzogen wird, während dieſelben für jeden anderen
Zweig des Berufes frei bleiben. Allein es leuchtet ſchon hier ein, daß
das ganze Prüfungsweſen ſo eng mit dem Charakter des geſammten
Berufsbildungsweſens zuſammenhängt, daß wir es erſt bei der Dar-
ſtellung des letzteren in ſeiner hiſtoriſchen und organiſchen Stellung
genauer darlegen können.
Auf dieſen drei Punkten beruht nun das Rechtsſyſtem des öffent-
lichen Berufsbildungsweſens an ſich. Und jetzt dürfen wir verſuchen,
dasjenige zu entwickeln, was wir den poſitiven Charakter deſſelben
in den einzelnen Staaten nennen können.
III. Charakter des öffentlichen Rechts der Berufsbildung bei den großen
Kulturvölkern.
lands, Frankreichs und Deutſchlands.
Das was wir nun den poſitiv rechtlichen Charakter des Bildungs-
weſens nennen, entſteht nun, indem die Staatsverwaltung nach den
obigen Geſichtspunkten für jenes durch die Natur des Berufs gegebene
Bildungsweſen ein poſitiv geltendes Recht aufſtellt. Jedes ſolches Recht
enthält naturgemäß eine beſtimmte Beſchränkung der an ſich freien Bil-
dung für den individuellen Lebensberuf. Der Charakter deſſelben be-
zeichnet uns daher hier die Form und das Maß, in welchem die
Staatsverwaltung der abſtrakten Freiheit der Berufsbildung ihre öffent-
lich rechtliche Geſtalt gibt.
Es iſt kein Zweifel, daß das, was wir als den poſitiv rechtlichen
Charakter des letztern bezeichnen, weſentlich von der Stellung und von
dem ganzen Geiſte der Staatsverwaltung überhaupt abhängt. Das
Berufsbildungsrecht begleitet daher die Geſchichte der letztern; es be-
deutet formell den Antheil und das Anrecht, den die Staatsgewalt für
die geiſtige Bildung der Staatsbürger in Anſpruch nimmt und zeigt
ſeinem geiſtigen Inhalt nach den Ausdruck für die Höhe der Auffaſſung
des Berufsweſens überhaupt, wie ſie in einem gegebenen Staate lebt,
[166] Das öffentliche Recht des Berufsbildungsweſens hat daher dieſelben
Stadien zu durchlaufen, welche für die Entwicklung der Verwaltung
überhaupt gelten. Es wird daſſelbe naturgemäß in der Epoche der Ge-
ſchlechterordnung als ſtaatliches Recht ganz verſchwinden und das was
wir die Berufsbildung nennen, der Familie oder den Geſchlechtern ſelbſt
überlaſſen. Es wird in der ſtändiſchen Epoche, die eben auf dem Syſtem
der Berufe ruht, die Berufsbildung den ſtändiſchen Körperſchaften über-
laſſen und es wird erſt in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ein für alle
Staatsbürger gültiges, aber auch für alle Staatsbürger gleiches Berufs-
bildungsrecht aufſtellen.
Da nun die einzelnen Staaten jene drei großen geſellſchaftlichen
Epochen weder gleichmäßig durchgemacht, noch auch die Elemente der-
ſelben in gleicher Weiſe beibehalten oder beſeitigt haben, ſo ergibt ſich
wie für das geſammte Verwaltungsrecht, ſo auch für das Berufsbil-
dungsweſen, daß der Charakter des letzteren in jedem einzelnen Staate
in dem Verhältniß beſteht, in welchem der Staat gegenüber ſeinen ge-
ſellſchaftlichen Elementen das Princip des ſtaatsbürgerlichen Verwaltungs-
rechts zur Geltung gebracht hat.
So allgemein nun auch, ſo hingeſtellt dieſer Satz lauten mag, ſo
bildet er dennoch die Grundlage aller Vergleichung des ſo tief verſchie-
denen Bildungsrechts in den einzelnen Staaten Europas. Und zwar
wird man hier das eigentliche Syſtem des Bildungsweſens und ſeinen
Charakter von dem des Prüfungsweſens ſcheiden müſſen.
Der öffentliche Charakter des Bildungsweſens im Allgemeinen be-
ruht nämlich darauf, daß ſo wie die Verwaltung die öffentliche Bedeu-
tung des Berufes anerkennt, ſie auch die Berufsbildungsanſtalten nicht
mehr dem Zufall und der Einzelwillkür überlaſſen kann, ſondern ihnen
die Natur und das Recht öffentlicher Anſtalten verleihen muß.
Der Inhalt dieſes Rechts erſcheint dann durch die Entwicklung der
Momente, welche in dem Begriff einer öffentlichen Bildungsanſtalt liegen.
Das erſte Moment iſt offenbar die Beſtimmung deſſen, was der
Staat als öffentlichen Beruf betrachtet. Das Syſtem der öffent-
lichen Berufe wird dann naturgemäß zum Syſtem der öffentlichen Bil-
dungsanſtalten ſelber werden. Denn die Verwaltung muß die Pflicht
anerkennen, diejenigen öffentlichen Bildungsanſtalten herzuſtellen und
zweitens in ihrer Bildungsthätigkeit zu ordnen, die für den aner-
kannten Beruf die geiſtigen Bedingungen liefern.
Hier nun gibt es drei Standpunkte, welche der Vergleichung zum
Grunde liegen und welche wohl um ſo leichter verſtändlich ſein werden, als
die drei großen Culturvölker, England, Frankreich und Deutſchland, die-
ſelben ihrem ganzen öffentlichen Bildungsweſen zum Grunde gelegt haben.
[167]
Der erſte und einfachſte Standpunkt iſt der, nach welchem der
Beruf ganz als Sache der individuellen Thätigkeit erſcheint, für die
der Einzelne durch ſich ſelbſt zu ſorgen habe. Dieſer Standpunkt iſt
ſeinerſeits die natürliche Folge des Mangels einer Staatsverwaltung
im engeren Sinne des Wortes, welche die Entwicklung des Einzelnen
ganz ſich ſelber überläßt, und keine Verpflichtung des Ganzen für die-
ſelbe anerkennt als die, ihn in dieſer freien Selbſtthätigkeit zu ſchützen.
Da nun aber auch in einem ſolchen Zuſtand das Weſen der höheren
Bildung ſich ſelbſt ſeine Organe und ſeinen Bildungsproceß erzeugt, ſo
beſteht das öffentliche Recht des Bildungsweſens hier in dem Verhalten
der Staatsgewalt zu dieſen, auf ſelbſtändigen Körperſchaften, Vereinen
oder Einzelunternehmungen beruhenden Bildungsanſtalten. Und dieß
Verhältniß wird dann durch den Grundſatz beherrſcht, daß die Thätig-
keit aller dieſer Bildungsanſtalten eine außerſtaatliche, der Verwal-
tung und ihrem Recht nicht unterworfene, von derſelben in keiner
Weiſe zu fördernde oder zu hemmende, das iſt eine vollkommen freie,
damit aber auch unberechtigte ſein ſolle. In dieſem Zuſtande iſt von
einem Verwaltungsrecht der Berufsbildung keine Rede; aus der ſtaat-
lichen Thätigkeit geht weder ein Syſtem der Berufsbildung, noch eine
öffentliche Ordnung derſelben, noch eine Oberaufſicht hervor. Hier
ſcheidet kein Unterrichtsgeſetz die gelehrte, wirthſchaftliche und künſtleriſche
Bildung, kein Miniſterium übernimmt es, die Intereſſen derſelben zu
vertreten, kein Theil des Budgets iſt ihnen gewidmet, aber auch kein
Recht der Verwaltung vorhanden, in den freien Entwicklungsgang ein-
zugreifen. Allerdings wird der letztere, wie es die höhere Natur der
Sache fordert, ſich ſelbſt in jenen drei großen Gruppen ein Syſtem er-
ringen und eine gewiſſe Gleichartigkeit im Großen und Ganzen hervor-
rufen. Allein dieſes Syſtem iſt dann kein öffentliches Recht, ſondern
eine ſtatiſtiſche Thatſache; es iſt durch kein Geſetz beherrſcht und ge-
ordnet, ſondern durch die mehr oder weniger zur Erkenntniß gelangende
Natur der Sache; es iſt nicht in ſeiner Gleichartigkeit objektiv gegeben,
ſondern der individuellen Anſchauung überlaſſen. Hier entſcheiden daher
nicht mehr Principien, ſondern meiſt der hiſtoriſche Gang der Dinge,
oder individuelle Intereſſen; es iſt beinahe unmöglich, zu überſehen,
was geleiſtet wird, und ein Lehrerſtand exiſtirt entweder gar nicht oder
nur für einzelne hiſtoriſche Inſtitute. Dafür genügt die Verwaltungs-
loſigkeit dieſes Gebietes dem Einzelnen, ſich nun auch ganz auf ſich ſelbſt
zu verlaſſen und je weniger das Ganze für ihn thut, um ſo mehr muß
er durch ſich ſelber leiſten. Dieſer Standpunkt iſt der des engliſchen
Berufsbildungsweſens. Hier iſt nicht bloß die Conſtatirung der That-
ſachen, Anſtalten und innern Ordnungen deſſelben ſchwer, ſondern auch
[168] die Vergleichung; denn dieſelbe liegt hier nicht mehr in poſitiven Rechts-
beſtimmungen, ſondern in dem abſtrakten Weſen des Berufes und der
Idee der individuellen Freiheit. Und vielleicht iſt daher in keinem
Gebiete der Staatswiſſenſchaft das Verſtändniß und das Zuſammen-
ſtellen des engliſchen Weſens mit dem continentalen ſo ſchwierig als
hier und eben daraus erklärt es ſich, daß wir dieſes eigenthümliche
engliſche Syſtem erſt in der allerneueſten Zeit in der continentalen
Literatur bearbeitet finden.
Der zweite Standpunkt iſt dem direkt entgegengeſetzt und wieder
tritt uns hier der tiefe Unterſchied des Charakters von Frankreich und
England entgegen. Wo die Staatsgewalt dem Einzelnen ganz ſich ſelber
überläßt, überläßt ſie ihm auch den Beruf; wo ſie dagegen alle öffent-
liche Thätigkeit ausſchließlich als ihre Angelegenheit betrachtet, da gilt
ihr nur das als Beruf, was eben der Verwaltung angehört und das,
was auf dieſe Weiſe der Verwaltung angehört, unterordnet ſie dann
auch unbedingt ihren Geſetzen. Hier wird daher der Staat allerdings
die Pflicht, die Berufsbildung zu fördern und zu gründen, auch aner-
kennen, aber er wird dieß nur da thun, wo es ſich um eine der Ver-
waltung angehörende Funktion handelt. Alles was dem nicht an-
gehört, wird er als Sache des Einzelnen, als eine die Thätigkeit des Staats
nicht berührende Angelegenheit anſehen. Hier werden daher auch nicht
bloß öffentliche, durch Staatsmittel hergeſtellte Berufsbildungsanſtalten
entſtehen, ſondern ſie werden ſich auch zu einem Syſteme entwickeln;
aber dieß Syſtem wird auf diejenigen Fächer beſchränken, in welchen
die Verwaltung eine Berufsbildung fordern muß. Hier wird daher
auch eine ſtaatliche Oberleitung, ja eine ebenſo ſtrenge Verwaltung
der Berufsbildung ſtattfinden, wie die des Staatsdienſtes ſelber, da
jene grundſätzlich nur für dieſen da iſt; aber dieſe Oberaufſicht und
Verwaltung wird nicht weiter gehen, als bis zu der Gränze des öffent-
lichen Berufes; das übrige wird der Staat ſich ſelber überlaſſen.
Das Syſtem nun wird ſich naturgemäß dahin geſtalten, daß die ge-
lehrte Berufsbildung und diejenigen Zweige des wirthſchaftlichen, welche
der Staat braucht, das eigentliche Gebiet des öffentlichen Berufsbildungs-
weſens ausmachen, während der rein wirthſchaftliche Beruf ohne Orga-
niſirung bleibt und das künſtleriſche nur in Ausnahmsfällen ſelbſtändige
Anſtalten empfängt. Die innere Ordnung der erſten Gruppe wird
daher eine ſtreng geſetzliche, die der zweiten eine ganz willkürliche
bleiben; es ſind gleichſam zwei Welten, zwei große Bildungsproceſſe
neben einander, denen dann, wie wir ſehen werden, auch das Syſtem
des Prüfungsweſens entſpricht. Und dieß iſt der Charakter des Berufs-
bildungsweſens Frankreichs.
[169]
Der dritte Standpunkt iſt nun unzweifelhaft der höhere. Derſelbe
geht davon aus, daß jede Lebensaufgabe an ſich einen öffentlichen
Beruf enthalte; daß die Bildung für jeden öffentlichen Beruf eine
der großen Bedingungen der Geſammtentwicklung ſei und daß daher
der Staat als Träger des Geſammtintereſſes die Verpflichtung habe,
dieſe Berufsbildung für jeden herzuſtellen. Es folgt daraus, daß das
Berufsbildungsweſen mit ſeinem Syſteme das geſammte menſch-
liche Leben umfaſſe und in ſich ſelbſt nach den Geſetzen der höheren
Pädagogik geordnet werde. Es ergibt ſich namentlich, daß ſich die
wirthſchaftliche und künſtleriſche Berufsbildung neben der gelehrten
in gleichem Maße vollſtändig zu einem organiſchen Syſteme von
öffentlichen Anſtalten entwickle, welche in ihren entſcheidenden Punkten
eine geſetzliche innere Ordnung und eine Oberaufſicht der Verwal-
tung dahin fordert, daß die Freiheit der bildenden Thätigkeit dieſe
Ordnung nicht übertrete. Es folgt weiter, daß der Staat nur für
denjenigen Beruf eine wirklich erworbene Bildung fordere, welcher
eine adminiſtrative Funktion enthält, während er für jeden andern
Beruf die volle Freiheit der individuellen Thätigkeit anerkennt. Es
folgt endlich, daß er im Namen des Berufes die Lehre der freien
Selbſtverwaltung überlaſſe und daß er ſich in ſeiner verwaltenden
Thätigkeit darauf beſchränke, nur die Einheit und Gleichheit in
der Function der Bildungskörper herzuſtellen und zu erhalten. Hier
wird daher ein viel großartigeres, freies und doch organiſches Bild
entſtehen; es wird der Inhalt deſſelben in Princip und Form den
natürlichen Maßſtab für die übrigen Ordnungen anderer Völker ab-
geben und das Höchſte in ihm geleiſtet werden, was überhaupt von
einem Volke für ſein geiſtiges Leben geleiſtet werden kann. Und das
Land, das dieſen Charakter des Berufsbildungsweſens bei ſich entwickelt
hat, iſt Deutſchland.
Von dieſen Geſichtspunkten aus muß nun das Berufsbildungsweſen
Europas als ein Ganzes aufgefaßt werden. In dieſem Ganzen hat
jeder Staat und jedes Land ſeine ihm eigenthümliche Stellung; in ihm
iſt die Einheit in der vielgeſtaltigen Verſchiedenheit zu ſuchen, die uns
hier entgegentritt; und es wird wieder als wohlberechtigt anerkannt
werden müſſen, wenn wir Deutſchlands Berufsbildungsweſen an die
Spitze ſtellen und auf ſeine drei Kategorien der gelehrten, wirthſchaft-
lichen und künſtleriſchen Bildung die Vergleichung zurückführen.
Die Erfüllung dieſes Bildes kann jedoch erſt die Darſtellung des
Prüfungsweſens geben, deſſen Recht in vieler Beziehung für den Cha-
rakter der öffentlichen Berufsbildung noch bezeichnender iſt, als das der
Bildungsanſtalten.
[170]
Während auf dieſe Weiſe der Charakter des Bildungsweſens uns
zeigt, nach welchem leitenden Princip die Verwaltung für die Bildung
zum Berufe thätig iſt, zeigt uns das Prüfungsweſen, was der Staat
von dieſem Bildungsproceß fordert. Es iſt das erſtere ohne das
letztere nicht füglich ausführbar, das letztere ohne das erſtere im
Grunde nicht denkbar. Jedes öffentliche Bildungsweſen hat ein Prü-
fungsweſen zur Folge; jedes Prüfungsweſen hat ein öffentliches Bil-
dungsweſen zur Vorausſetzung. Allein es folgt ferner, daß auch Gegen-
ſtand und Umfang beider ſtets ſich gegenſeitig bedingen und beſtimmen,
und daß in dem Prüfungsſyſtem ſomit der erſte ſelbſtändige Ausdruck
des Berufsbildungsſyſtems gegeben iſt. Schon deßhalb iſt jede Dar-
ſtellung des Bildungsſyſtems ohne das Prüfungsſyſtem einſeitig; allein
das letztere enthält zu gleicher Zeit außer ſeinem ethiſchen Princip ein
rechtliches. Das rechtliche Moment enthält das Verhältniß der beſtan-
denen Prüfung zur Ausübung des Berufes, und die Forderung einer
Prüfung für die letztere hat daher wiederum die Pflicht des Staats
zur Vorausſetzung, einerſeits die Mittel der Bildung im Verhältniß zu
der Prüfung darzubieten, andrerſeits den Inhalt der Prüfung mit den
Leiſtungen der Bildungsanſtalten in Harmonie zu bringen. Man kann
daher ſagen, daß das Prüfungsweſen den — organiſirten — Aus-
druck des Bewußtſeins des Staats vom Weſen und Be-
deutung des Berufes für die Verwaltung im Allgemeinen, und für
jeden einzelnen Stand im Beſondern enthält. Und darum bedarf daſſelbe
neben dem eigentlichen Bildungsweſen einer beſonderen Beachtung und
Darſtellung, um ſo mehr als die Wiſſenſchaft bisher ſtillſchweigend über
das ſo wichtige Gebiet hinweggegangen iſt. Das Prüfungsweſen hat
aber gerade in Deutſchland keineswegs eine bloß formelle Bedeutung.
Es durchdringt nicht etwa bloß das geſammte Berufsbildungsweſen auf
allen ſeinen Punkten, begleitet den Knaben und Jüngling bis zum
Mannesalter in allen Stadien ſeiner Entwicklung, und iſt zugleich für
ſeine geſammte öffentliche Laufbahn von entſcheidender Bedeutung, ſon-
dern es iſt zugleich ein nicht gering anzuſchlagender geſellſchaftlicher
Faktor; denn es umfaßt jetzt in Deutſchland alle Schichten der Geſell-
ſchaft, drängt ſich in jeden Lebenskreis hinein, bringt jedem derſelben
ſeine guten und üblen Folgen mit, und ſollte daher eben mit dieſer
über die ſpecielle Berufsausübung weit hinausgehenden Einwirkung Gegen-
ſtand der vollen Aufmerkſamkeit ſowohl von Seite der Wiſſenſchaft ſein,
[171] welche nach Grund und Folgen ſucht, als von Seiten der Verwaltung,
welche dieſelben organiſirt und feſthält. Denn das Prüfungsweſen ſcheidet
die ganze Bevölkerung bis zum vollen Mannesalter in zwei große Klaſſen,
von denen die eine beſtändig damit beſchäftigt iſt die andere zu prüfen.
Es iſt ſomit kein vollſtändiges Verſtändniß des ganzen Berufsbildungs-
weſens möglich, ohne ein klares Bild des Prüfungsweſens vor Augen
zu haben.
Das Prüfungsweſen ſpeciell Deutſchlands, allein eben ſo ſehr das
der übrigen Länder, hat ſich nun allerdings nicht mit einemmale ent-
wickelt. Schon ſein doppelter Zuſammenhang, einerſeits mit dem Bil-
dungsweſen, andrerſeits mit dem Recht und der Stellung der Staats-
verwaltung, hat das gehindert. Es gibt daher nicht bloß eine Ge-
ſchichte deſſelben, ſondern ſie hat ſogar eine große Bedeutung; der
gegenwärtige Zuſtand dieſes wichtigen Theiles des Verwaltungsrechts iſt
auf allen Punkten in der That eine durchſichtige Conſequenz derſelben.
Um aber den alle verſchiedenen Geſtaltungen zuſammenfaſſenden Ge-
ſichtspunkt feſtzuhalten, möge es uns ſchon hier geſtattet ſein, die wiſſen-
ſchaftlichen Hauptkategorien, auf welche es ankommt, zu beſtimmen.
Dieſe ſind das Syſtem, die Organiſation und das Recht
der Prüfungen. Das Syſtem zeigt uns drei Grundformen: die
Studienprüfung als Aufnahms-, Uebergangs-(Klaſſen) und Abgangs-
prüfung; die Fachprüfung als Prüfung der erworbenen theoretiſchen
Berufsfähigkeit, und die Dienſtprüfung, die die ſtaatliche Fähigkeit
conſtatirt. Die Prüfungs-Ordnungen zeigen einerſeits die öffentliche
Organiſation des Verfahrens, andrerſeits die geſetzlichen Organe, die
für die Studienprüfungen aus dem Lehrkörper der Vorbildungsanſtal-
ten, für die Fachprüfung theils aus dem der Fachbildungsanſtalten
(Doctorat ꝛc.), theils aus einer Vorbildung derſelben mit ſtaatlichen
Prüfungscommiſſarien, für die Dienſtprüfung nur aus den letzteren
beſtehen. Das Prüfungsrecht endlich zeigt, wo und wie weit die be-
ſtandene Prüfung nach öffentlichem Recht die Bedingung der wirklichen
Ausübung des Berufes iſt. Nach dieſen Geſichtspunkten beſtimmen ſich
dann die Fragen, deren Beantwortung die hiſtoriſche Entwicklung und
das gegenwärtige geltende Rechtsſyſtem der Prüfung darbieten.
Es gibt vielleicht wenig Theile in der neueren Geſchichte Europas, in
welchen Charakter und Stellung der großen geſellſchaftlichen Ordnungen ſo
klar hervortreten, als gerade im Prüfungsweſen; ja man kann faſt ſagen,
daß das letztere geradezu ohne Beziehung auf jene unverſtändlich bleibt.
[172]
Die Geſchlechterordnung hat zwar einen Beruf und ein Recht des
öffentlichen Berufes, aber es hat kein Prüfungsweſen. Die Stelle
deſſelben wird durch den natürlichen Proceß des Alters vertreten; die
Waffenmündigkeit und die öffentliche Aufnahme in die Gemeinſchaft des
Wahrhaften iſt das, was die Berufsprüfung unſerer Zeit erſetzt. Der
Ritterſchlag der ſpäteren Zeit gehört bereits der Epoche an, wo die
herrſchenden Geſchlechter durch die Entwicklung des Syſtems der Grund-
herrlichkeit und des adlichen Beſitzes zu einem öffentlichen Stande ge-
worden ſind. Die weitere Ausbildung dieſer Grundlage erſcheint dann
durch die ſtehenden Heere in dem ſelbſtändigen Wehrſtand, dem Waffen-
berufe, der ſein eigenes Bildungsſyſtem und dann auch ſein eigenes
Prüfungsſyſtem hat, das wir hier nur berühren, um die Vollſtändig-
keit des Bildes nicht zu beſchränken.
Ein eigenes und eigenthümliches Prüfungsſyſtem erſcheint erſt mit
der ſtändiſchen Geſellſchaft und ihrer ſtrengen Ordnung des geſammten
Berufsweſens. Der innige Zuſammenhang dieſer Epoche mit der gegen-
wärtigen macht es unabweisbar, ſich bei der mannichfachen formalen
Gleichheit dieſer Zeit mit der folgenden über die tiefe Verſchiedenheit
des Princips der ſtändiſchen Prüfung von der folgenden der ſtaats-
bürgerlichen, klar zu werden.
In der ſtändiſchen Epoche nämlich erſcheint der Beruf nicht bloß
als eine geiſtige und ethiſche Funktion, ſondern er erhebt ſich ſofort
durch Entwicklung des ihm eigenthümlichen Beſitzes und wirthſchaftlichen
Lebens zu einem Stande. Dieſer Stand, auf Beſitz beruhend, erſcheint
vermöge des letztern ſtets als eine ſelbſtändige Körperſchaft. Die Körper-
ſchaft nun hat die in dem Weſen des Berufes liegende Funktion zu
vollziehen. Sie hat mithin als ſolche die öffentliche Verantwortlichkeit
dafür, daß der Beruf als Theil des Geſammtlebens richtig vollzogen
werde. Es iſt daher natürlich, daß ſie es zugleich iſt, welche die Be-
rufsbildung vorſchreibt und daß ſie den Einzelnen zur Erfüllung des
Berufes erſt dann zuläßt, wenn er ihr bewieſen hat, daß er die noth-
wendige Berufsbildung auch wirklich beſitze. Das Urtheil darüber ſteht
alsdann nie einer andern als eben dieſer Körperſchaft ſelber zu. Sie
gewinnt daſſelbe durch die Prüfung, die ſie ſelbſt vorſchreibt und voll-
zieht. Das Ergebniß der Prüfung iſt daher aber auch nicht bloß die
Anerkennung der Bildung für den Beruf und der öffentlichen Fähigkeit
ſeiner Ausübung, ſondern zugleich die definitive Aufnahme in die
Körperſchaft, das iſt der Erwerb des Rechts, an der Ausübung des
Berufes vermöge dieſes Angehörens an die beſtimmte einzelne Körper-
ſchaft Theil zu nehmen, ſich als Mitglied einer ſolchen Körperſchaft
zu bezeichnen und ſogar Miteigenthümer und Mitdisponent über das
[173] Vermögen der Körperſchaft zu ſein. Und da nun dieſe Aufnahme in
die letztere der eigentliche Erfolg der Prüfung iſt, ſo war es wohl ſehr
natürlich, daß auch die Körperſchaft ſelbſt einſeitig und vollkommen
ſelbſtherrlich die Formen und Bedingungen der Prüfung vorſchrieb und
einſeitig über das Ergebniß entſchied. Und dieſes körperſchaftliche
Recht der Prüfung iſt der eigentliche Charakter des ſtändiſchen Prüfungs-
weſens.
Dieß ſtändiſche Prüfungsweſen hat nun, und zwar innerhalb ſeines
Charakters, ſeine eigene hiſtoriſche Entwicklung gehabt, die zum Theil
bis auf unſere Tage herabreicht. Die weſentlichſten Punkte deſſelben
ſind folgende.
Das ſtändiſche Prüfungsweſen beginnt nicht gleich mit dem Auf-
treten der Ständebildung in der Kirche, ſondern erſt da, wo die Wiſſen-
ſchaft in den Univerſitäten zu einem ſtändiſchen Körper wird. Die ur-
ſprüngliche Prüfung iſt ſtets die Berufsprüfung des Doktorats; ſein
Beruf iſt Leſen, und jeder Doktor iſt anfänglich ein Doctor legens.
Bei den Medicinern dagegen entſteht zuerſt der Gedanke des über den
Lehrberuf hinausgehenden ärztlichen Berufes, ſelbſt für die Apotheker.
Daran ſchließt ſich bei den Juriſten der Gedanke der Berufsbildung
für die Rechtsanwälte; es tritt auch hier die Unterſcheidung des Doctor
legens und non legens ein, und es wäre von Intereſſe, zu wiſſen,
wann die habilitatio als Lehrberufsprüfung zuerſt rechtens geworden.
Noch aber gibt es kein weiteres Prüfungsweſen; von einer Scheidung
der Studien- und Dienſtprüfung iſt noch keine Rede. An die Stelle
der erſteren ſteht noch immer die freie Aufnahme in die Körperſchaft
der Univerſität. Eben ſo hat ſich anfänglich noch keine Prüfung der
Zünfte und Innungen gebildet; auch hier vertritt die einfache Auf-
nahme nach der Weiſe der Gilde die Berufsprüfung. Man kann dieß
als die erſte Epoche bezeichen.
Die zweite Epoche beginnt nun da, wo ſich einerſeits das Vor-
bildungs- von dem Fachbildungsweſen, und andererſeits das ſtrenge
Zunftweſen von dem Reſte des Gildeweſens ſcheidet. Die ſtändiſche
Geſellſchaftsordnung entwickelt ſich. Den Grundzug deſſelben bildet jetzt
der durchgreifende Unterſchied des geiſtigen Standes von dem wirth-
ſchaftlichen, deſſen allgemeiner Name der des Bürgerſtandes iſt, in wel-
chem aber der Beruf in der Form der körperſchaftlichen Zunft und
Innung erſcheint. So wie dieß ſich entwickelt, muß auch das Prüfungs-
weſen mit ihm gleichen Schritt halten, und ſich mit ihm entwickeln.
Auf dieſe Weiſe entſteht nun ein ganzes, zum Theil höchſt eigenthüm-
liches Syſtem der Berufsprüfungen, das mit wenig Abweichungen in
ganz Europa ziemlich gleichartig iſt; nur England bildet auch hier eine
[174] durchgreifende Ausnahme. Dieß Syſtem beruht zunächſt auf dem Unter-
ſchied der Vorprüfungen und der Fachprüfungen. Die Vor-
prüfungen ſchließen ſich an die Vorbildungsanſtalten. Sie erſcheinen für
die gelehrte Bildung als das Syſtem der Prüfungen in allen Formen
der gelehrten Schulen (Gymnaſien, Lyceen, Athenäen ſ. unten); für
die wirthſchaftlichen Bildungen in dem Princip der Geſellenprüfung.
der Freiſprechung der Lehrburſchen. Die Fachprüfungen entfalten
ſich dabei natürlich zu großer Mannigfaltigkeit. Jede Fakultät hat
ihre Fachprüfung; ſie behält den alten Namen und das alte Recht für
die vollendete Fachprüfung in dem Doktorat bei, während der Laureatus
und Magiſter mehr den Charakter einer Vorprüfung haben. Wir wiſſen
noch zu wenig von den Einzelheiten dieſes Syſtems der Prüfungen;
im Großen und Ganzen aber iſt es ein Syſtem geworden, und dieß
Syſtem iſt auf gleichmäßiger ſtändiſcher Grundlage ſelbſt gleichartig.
Auf allen Punkten aber behält es ſeinen urſprünglichen Charakter; es
iſt ein ſtändiſches Prüfungsweſen. Jede Körperſchaft beſtimmt, wor-
über zu prüfen iſt; jede Körperſchaft iſt ſelbſt das ausſchließlich zur
Prüfung berechtigte Organ, und das öffentliche Recht der Prüfungen iſt
nach wie vor die Aufnahme in die betreffende Körperſchaft ſelbſt, und
die Berufsausübung vermöge dieſer Aufnahme.
Dieß ſtändiſche Prüfungsweſen hat nun in der hiſtoriſchen Ent-
wicklung in gewaltiger Weiſe gewirkt. Es hat namentlich im Anfange
dem geiſtigen wie dem wirthſchaftlichen Leben unendlich genützt. Es
hat nicht bloß eine gewiſſe Tüchtigkeit und Kraft in die Berufsbildung
aller Klaſſen hineingebracht, ſondern es hat auch demſelben einen mäch-
tigen ethiſchen Halt gegeben in dem Bewußtſein, daß jeder bereits für
die Sache an ſich etwas geleiſtet haben müſſe, ehe er für das Ganze
etwas leiſtet. Es hat dadurch der perſönlichen Bildung einen Werth
und deren Tüchtigkeit eine Achtung verſchafft, welche als eine der großen
Bedingungen der geiſtigen Arbeit jener Epoche angeſehen werden
müſſen. Aber es hatte nicht minder ſeine großen Gefahren.
Gerade jene Körperſchaftlichkeit der Berufsprüfung nämlich und
das Sonderintereſſe, das ſich an und aus der Souveränetät der ſtändi-
ſchen Körper entwickelt, gibt allmählig den Organen der letzteren ver-
möge der Berufsprüfung eine Gewalt, welche dem ewigen Element der
wahren geiſtigen Jugend eines Volkes, der freien und muthigen Selbſt-
thätigkeit des Einzelnen, feindlich entgegentritt. Der Kern dieſer Ge-
walt beſteht darin, daß die Prüfenden unverantwortlich ſind für ihr
Urtheil; der Kern der Gefahr darin, daß dieſelben, welche ein Intereſſe
an der Zulaſſung oder Abweiſung der Geprüften zur Berufsausübung
haben, auch die ſouveräne Entſcheidung über die letztere beſitzen. Das
[175] erſtere bedroht die geiſtige und wirthſchaftliche freie Bewegung des Ein-
zelnen, das letztere die objektive Wahrheit des Urtheils der Prüfenden.
Beides zuſammenwirkend macht die Erhaltung des rein ſtändiſchen
Prüfungsweſens mit dem lebendigen Fortſchritte der Entwicklung des
geiſtigen und wirthſchaftlichen Lebens unvereinbar. Aus einem urſprüng-
lich trefflichen Elemente der Geſammtentwicklung wird das Prüfungs-
weſen dieſer Epoche daher zu einem verderblichen Feind des geiſtigen
und materiellen Aufſchwunges. Es wird klar, daß es die große und
allein lebendige Quelle des letzteren, die freie geiſtige und wirthſchaft-
liche Arbeit des Einzelnen vernichtet. Es iſt der formelle Ausdruck der
Gefahr, welche das Alter der ſtändiſchen Epoche bezeichnet, des Er-
ſtarrens alles geiſtigen Lebens in der Ueberlieferung für den Beruf und
ſeine organiſche Funktion im Geſammtleben. Und mit dem Eintreten
der neueren Zeit muß daher nebſt den alten Körperſchaften auch das
Prüfungsweſen derſelben verſchwinden.
Wir haben nun dieſe neue Zeit bereits früher als die Epoche der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft bezeichnet und das Recht ihres Bildungs-
weſens charakteriſirt. Das weſentliche Complement des letzteren iſt nun
auch hier das Prüfungsweſen, und das Princip des letzteren, wie es
aus dem Geiſte der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft überhaupt hervorgeht,
iſt nun nicht ſchwer zu beſtimmen. Daſſelbe beſteht in der Aufhebung
des ſtändiſchen Rechts der Körperſchaftsprüfungen, und in der
Aufſtellung von öffentlichen, nach allgemein gültigen Vorſchriften
angeordneten Prüfungsorganen an der Stelle derſelben. Wie der
Beruf nicht mehr bloß Sache der ſouveränen Körperſchaft, ſondern der
Geſammtheit iſt, ſo ſoll es auch der geſammte Bildungsproceß für dieſen
Beruf, alſo auch die Prüfung werden. So entſteht das, was wir das
ſtaatsbürgerliche Prüfungsweſen nennen und das jetzt wohl in
ganz Europa auf allen Punkten an die Stelle des ſtändiſchen ge-
treten iſt.
Nur muß man ſich den Proceß, der dieſe Umgeſtaltung enthält,
weder als einen ſehr raſchen, noch als einen für alle Gebiete der Be-
rufsbildung oder für alle Länder Europas gleichmäßigen denken. Bei
der im Gegentheil noch viel zu großen Mannichfaltigkeit deſſelben kommt
es gerade hier weſentlich darauf an, denſelben auf ſeine gleichartigen
Faktoren zurückzuführen und durch ihre Berückſichtigung das Verſtändniß
der Verſchiedenheit und damit die höhere Vergleichung zu begründen.
Dieſe Faktoren ſind nämlich dieſelben, welche über den Gang und
die Organiſation des Bildungsweſens entſchieden haben. Der erſte der-
ſelben iſt der Grundſatz, daß der Beruf eine ethiſche Funktion und als
ſolche eine der großen Bedingungen der Entwicklung der Gemeinſchaft
[176] enthalte; der zweite, daß die Berufsbildungsanſtalten Staats-
anſtalten ſind und daher mit ihrem Recht und ihrer Ordnung auch in
den Angelegenheiten der Berufsprüfung keine ſelbſtändigen ſtändiſchen
Körperſchaften mehr bilden; der dritte, daß der Beruf frei iſt. Aus
dem Zuſammenwirken dieſer Faktoren hat ſich das öffentliche Prüfungs-
recht unſerer Gegenwart gebildet, indem es ſich formell in vielen Punkten
an das ſtändiſche Prüfungsrecht anſchloß.
Aus dem erſten Punkte ergab ſich nämlich, daß die Prüfung jetzt
für alle Zweige des Berufs, die wirthſchaftlichen ſowohl als die ge-
lehrten, dem Einzelnen möglich gemacht werden müſſe. Aus dem zweiten
ergab ſich, daß ſie eine für alle Punkte gleichmäßige und unter der
Verwaltung des Staats ſtehende ſein ſolle. Aus dem dritten endlich,
daß ſie nur da als öffentlich rechtliche Bedingung der Berufsausübung
erſcheinen könne, wo der Einzelne ſich der letzteren nicht zu entziehen
vermag, ſondern von derſelben in ſeinen Intereſſen abhängig gemacht
wird. Das erſte erzeugte daher das Prüfungsſyſtem, das zweite die
Prüfungsordnungen, das dritte das Prüfungsrecht des neuen Prüfungs-
weſens. Dieſe Grundſätze empfangen nun in ihrer Anwendung auf das
Syſtem der Bildungsanſtalten folgende Geſtalt, die freilich wieder nur
in Deutſchland ausgebildet erſcheint.
1) Studienprüfungsſyſtem. Das Prüfungsweſen wird näm-
lich zuerſt die Grundlage des geſammten Studienweſens und zwar ver-
möge des Princips, daß erſtlich die Aufnahme in die beſtimmte Gruppe
von Bildungsanſtalten und zweitens jeder Uebergang von einer Stufe
zur andern (Klaſſe) auf einer dafür beſtimmten Prüfung beruhen ſoll,
ſo daß das Syſtem der Studienprüfungen das ganze Syſtem des Stu-
dienganges ſchrittweiſe begleitet, und jede Bildungsſtufe durch eine Prüfung
erworben und bezeichnet wird. Die Prüfungsorgane ſind dabei zwar
die Mitglieder der Lehrkörper, aber nicht als ſtändiſche, ſondern als
Staatsbeamtete. Das Prüfungsverfahren iſt hier für einzelne An-
ſtalten und ſelbſt wieder innerhalb der einzelnen Länder ein verſchie-
denes, indem theils förmliche Prüfungen abgehalten, theils indirekte
Prüfungen durch Erzielung von Durchſchnittszeugniſſen (wie namentlich
bei den Klaſſenprüfungen vieler Gymnaſien) angeſtellt werden. Die
Vorſchriften für dieſe Uebergangsprüfungen ſind in vielen Fällen ſehr
unbeſtimmt und man kann als Regel annehmen, daß ſie durch die
Uebung des Lehrkörpers erſetzt werden. Das Prüfungsrecht beſteht
endlich für dieſe Studienprüfungen in der Anwendung des Grundſatzes,
[177] daß das Beſtehen der Prüfung die rechtliche Bedingung des Ueberganges
von einer Klaſſe zur andern iſt, meiſtens mit dem Zuſatz, daß nach
ein- oder zweimaligem Nichtbeſtehen der Betreffende von der ganzen
Bildungsanſtalt ausgeſchloſſen wird. Dieſes Prüfungsſyſtem iſt im
Weſentlichen das der Vorbildungsanſtalten und zwar weſentlich der
gelehrten; zum Theil aber auch der wirthſchaftlichen wie der Realſchule
und der Realgymnaſien; doch bemerken wir, daß wir außer Stande
waren, darüber etwas Genaueres zu erfahren, indem hier in den ein-
zelnen Ländern nicht unbedeutende Unterſchiede obwalten. Bei den Fach-
bildungsanſtalten iſt das Verhältniß in Deutſchland weſentlich verſchie-
den von dem in den romaniſchen Ländern. Deutſchland hat im All-
gemeinen gar keine Studienprüfungen für dieſelben, da die Abgangs-
prüfung der Vorbildungsanſtalt als Aufnahmsprüfung für die Fach-
bildungsanſtalt gilt. Nur in Oeſterreich exiſtirt an den Univerſitäten
bei Juriſten die rechtshiſtoriſche Staatsprüfung als Uebergangsprüfung
vom zweiten Studienjahre zum dritten; daneben das eigenthümliche,
ſehr beachtenswerthe Inſtitut der „Colloquien,“ eine Einzelprüfung,
die für gewiſſe Fälle vorgeſchrieben iſt, wo der Studienfleiß des Einzel-
nen als Bedingung für gewiſſe Benefizien (Stipendien ꝛc.) erſcheint.
In Frankreich dagegen ſehen wir noch das alte Baccalaureat als eigent-
liche Studienprüfung beſtehen, jedoch mit dem eigenthümlichen Charakter
zugleich eine Art von Berufsprüfung zu gelten. Das Element der Bil-
dungsfreiheit wird dadurch gewahrt, daß nicht bloß jeder in jedem Augen-
blick aus dem Bildungsgange austreten kann, ſondern daß ſo weit es
irgend thunlich iſt, die Prüfung der einen Studienanſtalt als Aufnahms-
prüfung für die andere gilt, was namentlich das entſcheidende Moment
für die ganze Stellung der Realgymnaſien geworden iſt. Zweitens aber
erſcheint das Moment der Bildungsfreiheit in dem Studienprüfungs-
ſyſtem darin, daß die nicht ſtaatlichen Bildungsanſtalten ihrerſeits an
gar kein Prüfungsſyſtem gebunden ſind, ſondern ſich daſſelbe ſelbſt
ordnen und über den Werth und die Formen deſſelben ſelbſt entſcheiden
können. Die allerdings durchgreifende Gleichartigkeit des Prüfungs-
ſyſtems der letzteren mit denen der ſtaatlichen Anſtalten hat nun eine,
weſentlich auf dem Prüfungsrecht beruhende Kategorie im Recht der
Bildungsanſtalten hervorgerufen. Das ſind nämlich die Privatbil-
dungsanſtalten mit öffentlichem Recht. Dieſe letzteren ſind
bekanntlich ſolche, deren Prüfungen das Recht der öffentlichen Studien-
prüfungen haben, und daher namentlich als Uebergangsprüfungen zu
den Fachbildungsanſtalten gelten. Die Vorausſetzung für den Erwerb
dieſes Prüfungsrechts bildet die Gleichheit des Bildungsganges dieſer
Anſtalten mit denen des Staats und die formelle Approbation des
Stein, die Verwaltungslehre. V. 12
[178] letzteren, ſowie der Prüfungsordnung. In Deutſchland gibt es nur als
ſolche Vorbildungsanſtalten; die Universités libres ſind ja doch ſchon
Fachbildungsanſtalten in dieſem Sinne. So iſt das Studienprüfungs-
ſyſtem ein Ganzes geworden, deſſen Darſtellung wohl einer ſpeciellen
Arbeit würdig wäre.
2) Berufsprüfungsſyſtem. Während nun das Studien-
prüfungsſyſtem naturgemäß noch in den meiſten Punkten genau mit
den Formen der ſtändiſchen Vorbildung zuſammenhängt und ſich weſent-
lich von der letzteren nur dadurch unterſcheidet, daß die Lehrkörper in
den Staatsbildungsanſtalten als Staatsbeamtete fungiren, iſt das Be-
rufsbildungsweſen ein von der ſtändiſchen Epoche weſentlich und auch
formell ganz verſchiedenes geworden. Die mannichfach verſchiedenen Ver-
hältniſſe deſſelben müſſen nun dieſer Epoche auf folgende einfache Kate-
gorie reducirt und darauf die Vergleichung des geltenden Prüfungs-
ſyſtems begründet werden.
Zuerſt gilt auch hier der Grundſatz, daß jede Fachbildungsanſtalt
mit einer ſpeciell auf ihr Fach berechneten öffentlichen Prüfung ver-
ſehen ſein ſoll und iſt und zwar ganz abgeſehen von dem öffent-
lichen Recht dieſer Prüfung, das für die einzelnen Fächer ſehr verſchie-
den iſt, weil das Beſtehen der Prüfung den großen Werth hat, die
öffentliche Conſtatirung des Erwerbs eines gewiſſen Maßes der Fach-
bildung für den Geprüften und damit eines gewiſſen Werthes ſeiner
Fähigkeiten zu erhalten. Selbſt da, wo daher keine geſetzliche Prüfung
vorgeſchrieben iſt, wie bei den freien Lehranſtalten, bildet ſich eine ſolche
durch das Intereſſe der Betheiligten von ſelbſt heraus (Handelsaka-
demien ꝛc.) oder wird durch anderes ſo weit thunlich erſetzt (Kunſt-
akademien mit Prämien); die Nothwendigkeit der Fachprüfung bei Staats-
anſtalten iſt dabei ſelbſtverſtändlich. Dieß iſt der erſte leitende Grund-
ſatz. Dennoch unterſcheiden ſich die Staatsanſtalten von den öffentlichen
auf dieſem Punkte dadurch, daß die Fachprüfung für die erſteren als
ein öffentliches Recht, für die letzteren als eine Maßregel der Zweck-
mäßigkeit, für alle aber als ein allgemein gültiges Princip des Bil-
dungsweſens anerkannt wird. Die weitere Entwicklung des Prüfungs-
weſens liegt erſt in den folgenden Punkten.
Das zweite iſt nun die Beſtellung der Prüfungsorgane und der
Prüfungsordnungen. Und hier ſcheiden ſich nun zwei Syſteme.
Nachdem nämlich bereits mit dem vorigen Jahrhundert die Fach-
bildungsanſtalten dem Charakter, wenn auch nicht der Form nach aus
ſtändiſchen Körperſchaften ſtaatliche Anſtalten mit ſtaatlichen Funktionen
und Unterſtützungen geworden ſind, bei denen nunmehr das Princip
der Selbſtverwaltung an die Stelle der ſtändiſchen mit Selbſtherrlichkeit
[179] getreten, mußte die Frage entſtehen, ob dieſe Körperſchaften in ihrer
neuen Geſtalt geeignet ſeien, auch die neue ſtaatsbürgerliche Berufs-
prüfung zu übernehmen, wie ſie die ſtändiſche in Händen gehabt. Aus
der Beantwortung dieſer Frage ging nun das doppelte Syſtem von
Prüfungsorganen hervor, das auch zum Theil dem folgenden Syſtem
des Prüfungsrechts zum Grunde liegt.
Das erſte dieſer Syſteme beruht darauf, daß die Verwaltung zum
Theil neben, zum Theil an der Stelle der alten Fachprüfungsorgane,
welche aus dem Lehrkörper beſtanden, eigene Staatsorgane für die
Prüfungen einſetzte, die in verſchiedenſter Weiſe componirt ſind. Zum
Theil ſind es Gerichtskörper, zum Theil ſind es vom Staat ernannte
Prüfungscommiſſäre, zum Theil ſogar (wie in Frankreich) Geſchworne.
In den meiſten Fällen nahm man dabei Glieder des Lehrkörpers (Pro-
feſſoren) als Mitglieder dieſer Prüfungscommiſſionen auf, theils facul-
tativ, theils principiell. Es verſteht ſich dabei von ſelbſt, daß jenes
für die freien Fachbildungsanſtalten nicht der Fall war.
Das zweite Syſtem dagegen enthält die Anerkennung der Lehr
körper als Prüfungsorgane, ſo daß der Form nach das Recht derſelben
jetzt daſſelbe iſt wie früher. Dieß war namentlich der Fall bei den Uni-
verſitäten und ihrem ſtändiſchen Berufsprüfungsſyſtem dem Doctorat,
während es bei den neuen wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten (poly-
techniſchen Schulen ꝛc.) deßhalb nicht anders ſein konnte, weil die be-
treffenden Fachkenntniſſe oder die nöthige Zeit eben nur bei dieſen vor-
handen waren. Auf dieſe Weiſe entſtand der Unterſchied der Doctorats-
prüfungen von den eigentlichen Staatsprüfungen, der unſerer Zeit
eigenthümlich iſt. Regel iſt, daß natürlich da, wo es keine Staatsprüfung
gibt (wie z. B. bei den Medicinern), die Doctoratsprüfung dieſelbe er-
ſetzt (in den kleineren deutſchen Staaten iſt das auch bei den Juriſten
der Fall); daß dagegen ſonſt beide einander gleichſtehen, wenn nicht (wie
in Oeſterreich) das Doctorat die Vorausſetzung der Praxis als Advokat iſt.
— In jedem Falle iſt daraus die Verpflichtung der Verwaltung ent-
ſtanden, das Prüfungsweſen zum Gegenſtand einer eigenen Geſetzgebung
zu machen, ſo daß jetzt wohl in den meiſten Staaten ein förmliches
Syſtem von Prüfungsordnungen beſteht, das die alten Doctoratsprüfungen
in ſich aufgenommen und bei mancher Modification im Einzelnen doch im
Großen und Ganzen erhalten hat. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß
für die gelehrte Bildung theils Doctorats-, theils Staatsprüfungen (wohl
zu unterſcheiden von den Dienſtprüfungen, ſ. unten) gelten, während
für die wirthſchaftliche Bildung das Syſtem der Prüfungen durch den
Lehrkörper gehandhabt wird, das wiederum bei den freien Bildungsan-
ſtalten oft durch bloße Zeugniſſe ohne eigentliche Prüfung erſetzt iſt.
[180]
3) An dieſe Prüfungen ſchließt ſich nun die dritte Kategorie, die
Dienſtprüfung. Eine Dienſtprüfung gibt es in der ſtändiſchen Zeit
überhaupt nicht, da jede Prüfung den Einzelnen unmittelbar in die
Körperſchaft aufnimmt. Erſt da, wo ſich der Staat mit ſeiner Ver-
waltung von der ſtändiſchen Ordnung trennt, kommt der Gedanke zur
Geltung, daß die Berufserfüllung ſtatt einer ſtändiſchen eine ſtaats-
bürgerliche Pflicht enthalte, und daß daher der Staat nunmehr nicht
bloß die theoretiſche, ſondern auch die praktiſche Fähigkeit des Betreffen-
den zu conſtatiren habe. Ganz nahe lag das in den Gebieten, wo der
Beruf als Amt erſchien, oder wo der Staat für ſeine wirthſchaftlichen
Aufgaben einer tüchtigen techniſchen Bildung bedurfte. Hier nun ge-
nügte die auf rein wiſſenſchaftliche Gegenſtände bezogene Berufsprüfung
nicht, ſondern die Verwaltung forderte außerdem eine praktiſche und
zwar meiſtens nach einer gewiſſen Zeit des praktiſchen Dienſtes, deren
Gegenſtand dann naturgemäß weſentlich die Kenntniß praktiſcher Ver-
hältniſſe ſein mußte. Dieſe, den Berufsprüfungen folgenden Prüfungen
nennen wir kurz die Dienſtprüfungen. Sie bilden das dritte Glied
im Syſteme der Prüfungen; zwiſchen ihnen und der Berufsprüfung liegen
meiſt mehrere Jahre und die Prüfungsorgane ſind dabei die höhern
Behörden ſelbſt. Auch hier wird die Prüfungsordnung geſetzlich feſt-
geſtellt und natürlich ſpeciell auf den einzelnen Beruf berechnet. Dieſe
Dienſtprüfungen ſind nun zum Theil ſehr einfach, zum Theil (wie na-
mentlich bei dem Gymnaſiallehrerſtand in Oeſterreich) höchſt verwickelt;
ſie ſtehen zum Theil ganz ſelbſtändig, ohne eine Vorbildung da (wie
bei einzelnen techniſchen Gebieten: Poſt, Eiſenbahnen ꝛc.), zum Theil und
zwar allenthalben bei der gelehrten Fachbildung haben ſie die Studien-
und Berufsprüfungen zur Vorausſetzung, in den meiſten Fällen auch
bei der höheren Technik. Bei der niederen Technik, wie bei einzelnen
Gewerben, ſind ſie der Reſt der alten ſtändiſchen Zunftprüfung. Es
liegt in der Natur aller dieſer Prüfungen, daß ſie mit dem Verwal-
tungsſyſteme aufs Engſte zuſammenhängen und daher die verſchiedenſten
Formen annehmen. Wir ſind nicht im Stande, nach dem uns vor-
liegenden Material ſchon jetzt ein vollſtändiges Bild derſelben zu geben.
An dieſes weitverzweigte Syſtem der Prüfungen ſchließt ſich nun
das, was wir das Recht der Prüfungen nennen.
Das Recht der Prüfungen beſteht nun in denjenigen Beſtim-
mungen, nach denen die beſtandene Prüfung die rechtliche Bedingung
für die Berufsthätigkeit des Einzelnen iſt. Dieß Recht iſt natür-
lich weder ein einfaches, noch auch ein gleiches in den verſchiedenen
Ländern Europas. Dennoch ſind ſeine Grundlagen im Weſentlichen
dieſelben. Man kann ſie im Allgemeinen auf drei Beſtimmungen zurück-
[181] führen, von denen es allerdings Ausnahmen genug gibt. Nach dem Ver-
ſchwinden des ſtändiſchen Prüfungsrechts iſt das Beſtehen der Staats-,
beziehungsweiſe Dienſtprüfung für die Ausübung des gelehrten Berufs
obligatoriſch, für den wirthſchaftlichen facultativ und für den
künſtleriſchen überhaupt nicht vorhanden. So lange es ſich dabei nicht
um öffentliche Ausübung des Berufes handelt, iſt auch für den gelehrten
Beruf die Prüfung facultativ; wo dagegen die Ausübung des wirth-
ſchaftlichen Berufes eine Funktion für die wirthſchaftliche Staatsver-
waltung enthält, wie z. B. bei Poſt, Steuern ꝛc., da hat der Staat
ſeinerſeits techniſche Fachprüfungen für ſich als obligatoriſch eingeführt;
wo es ſich endlich um techniſche Leiſtungen handelt, deren Kenntniß als
Bedingung der öffentlichen Sicherheit oder als Theil der Volkswirth-
ſchaftspflege erſcheint (Maſchinenperſonal, Baumeiſter, Forſtmänner, Berg-
männer), da ſind die Prüfungen überhaupt obligatoriſch. Aber auch
die ganz facultativen Prüfungen werden faſt von allen Betheiligten
durchgemacht und zwar wegen des Werthes, den das Prüfungszeugniß
für den Einzelnen und ſeine Bewerbungen hat. Die geſetzlichen Be-
ſtimmungen über dieß Recht der Prüfungen ſind gewöhnlich in den
öffentlichen Prüfungsordnungen enthalten; jedoch iſt es beachtenswerth,
daß ſie vielfach als ſelbſtverſtändlich fehlen.
— Dieß ſind nun die leitenden Grundſätze und Begriffe für das
Prüfungsweſen als zweiter großer Theil des öffentlichen Rechts des
Berufsbildungsweſens. Bei dem Mangel an gehöriger Beachtung deſſel-
ben iſt es uns nicht möglich geweſen, das geltende Recht derſelben mit
Vollſtändigkeit zu ſammeln. Wohl aber glauben wir, daß es nunmehr
thunlich iſt, den Charakter der drei großen Kulturvölker in Beziehung
auf dieß Gebiet zu beſtimmen. Es hat das eine nicht unwichtige Be-
deutung zu dem ganzen Verwaltungsrecht ihres geiſtigen Lebens.
Nachdem wir ſo die Elemente des Prüfungsweſens feſtgeſtellt haben,
müſſen wir uns nun für dieſen Charakter deſſelben, wie er ſich in den
Hauptſtaaten ausgebildet hat, und auch für das poſitive Recht mit einer
kurzen Nachweiſung begnügen.
Der erſte Grundſatz iſt, daß die Prüfung für drei Arten des
Berufes auf dem ganzen Continent gemeinſam iſt; für die Aerzte, die
Rechtsverwaltung und den Lehrerſtand; für England iſt auch dieß nicht
eingeführt. Dagegen gibt es für die Verwaltung nur in einigen
Ländern ein Princip der Prüfung, und dieß iſt auch hier wieder ſehr
verſchieden. Dieſe Verſchiedenheit reducirt ſich auf folgende Punkte.
[182]
Für die ärztliche Berufsbildung gilt als durchgehende Regel, daß
die Berufsprüfung zugleich Dienſtprüfung iſt, und zwar ſo, daß faſt
allenthalben dieſe Prüfung als Doktoratsprüfung erſcheint. Dieß gilt
nicht bloß für Deutſchland, ſondern auch für die übrigen romaniſch-
germaniſchen Länder.
Die Lehrerprüfungen ſind dagegen höchſt verſchieden, und zwar
für den Elementar- und Berufslehrerſtand. In Deutſchland und Holland
iſt die Prüfung genau vorgeſchrieben, zum Theil mit übergroßer Ge-
nauigkeit. In Frankreich wird ſie durch Nachweiſung eines praktiſchen
Dienſtes vielfach erſetzt; in England gilt ſie überhaupt nur bei den vom
Staate unterſtützten Schulen.
Die Prüfungen des Juriſtenſtandes ſind wieder principiell allgemein,
ſelbſt in England; aber während ſie dort und in Frankreich nur für die
Anwälte gelten, ſind in Deutſchland neben den Anwaltsprüfungen auch
noch Richteramtsprüfungen. In Beziehung auf dieſelben haben die
meiſten deutſchen Staaten die Berufsprüfung an den Univerſitäten als
erſte, und dann noch eine ſpecielle Advokaturs- und Richteramtsprüfung
als zweite Dienſtprüfung aufgeſtellt, was in den übrigen Ländern fehlt.
Die größte Verſchiedenheit herrſcht in Beziehung auf die Prüfungen
für den Verwaltungsdienſt. Hier hat England noch gar kein
Syſtem; Frankreich hat ein ſolches, ſo viel wir ſehen nur für gewiſſe
techniſche Staatsdienſte, ſonſt keine; ebenſo ſtehen Belgien und Holland.
Deutſchland dagegen hat ſich hier ein vollſtändiges, aber wohl in den
meiſten Staaten in Form und Inhalt verſchiedenes Syſtem gebildet,
das meiſt in lauter einzelnen, höchſt zerſtreuten und von Fall zu Fall
erlaſſenen Beſtimmungen beſteht.
Ebenſo verſchieden ſind die Beſtimmungen über die Prüfungsorgane.
Regel iſt, daß die Berufsprüfungen von den Profeſſoren ganz oder zum
Theil, die Dienſtprüfungen dagegen von Beamten allein gepflogen werden.
In England prüft die Corporation, in Frankreich die Jury, in Deutſch-
land eine geſetzliche Commiſſion. Man darf dabei noch von keinem einheit-
lichen Syſteme reden. Soll es kommen, ſo muß erſt die Wiſſenſchaft es
ſuchen und verarbeiten. Die ſehr große Wichtigkeit der Sache würde
eine ſolche Arbeit in höherem Grade wünſchenswerth machen.
Das einzige Werk, das ſich bisher mit dieſer Frage und ihrem
poſitiven Recht im Allgemeinen beſchäftigt, iſt Ortloff, Methodologie
der Rechts- und Staatswiſſenſchaft nebſt deutſchen Studien und Examens-
ordnungen 1863, der in ſeiner erſten Abtheilung die Methodologie des
Studiums gibt, ohne ſich mit derjenigen der Prüfungen zu beſchäftigen
[183] in der zweiten die wichtigen Prüfungsordnungen der kleineren Staaten
(Oeſterreich und Preußen ſind bis zur Unbrauchbarkeit unvollſtändig)
ohne die Studienordnungen mitzutheilen. Wir glauben aber in Folgen-
dem, indem wir das Studienprüfungsweſen hier übergehen, das geltende
Recht der Dienſtprüfungen ſoweit mittheilen zu ſollen, als uns
daſſelbe zugänglich war, indem wir zugleich die Beſtimmungen über die
Berufsprüfung der wirthſchaftlichen Fächer mit aufnehmen.
Oeſterreichs Staatsprüfungsſyſtem. Literatur und genauere An-
gaben bei Stubenrauch (Verwaltungs-Geſetzkunde Bd. I. §. 24 ff.).
Studienordnung von 1855 bei Ortloff S. 135—145. Organiſation
der Univerſitäten und Recht derſelben. Stubenrauch Bd. II. §. 405 ff.;
der Rechtsakademien ebendaſ. Bd. II. §. 414. Theoretiſche Prüfungen:
doppelte Geſtalt a.Doktoratsprüfungen: 1) für die Theologie: Zu-
laſſung nach Decret vom 7. und 28. Januar 1809 und Reſcript vom
16. Sept. 1851; Prüfungscommiſſion zur Hälfte vom Biſchof ernannt
(Entſchließung vom 23. April 1850). 2) Jurisprudenz: die drei
Rigoroſen des Erlaſſes vom 2. Oktober 1855 ſind noch immer nicht ein-
geführt: es beſtehen noch vier Rigoroſen nach altem Recht (Decret vom
19. März 1850. Stubenrauch Bd. II. §. 406). 3) Medicin (Studien-
ordnung vom 1. Oktober 1830 mit fünf Jahren (zwei Jahre Klinik, welche
den Probedienſt vertreten); Doctorsprüfung: unbedingt vorgeſchrieben
(Decret vom 19. Juni 1819); Prüfungen der Wundärzte (Decret vom
10. Auguſt 1849); die Prüfungen der Patrone der Chirurgie und der Lehr-
linge (Stubenrauch Bd. II. §. 280. 281). 4) Philoſophie: Doctors-
prüfung nach Decret vom 7. und 28. Januar 1809); b.theoretiſche
Staatsprüfung: gültig nur für die Rechts- und Staatswiſſenſchaft als
eigentliche Staatsdienſtprüfung; drei Prüfungen: rechtshiſtoriſche
(als Zwiſchenprüfung nach dem vierten Semeſter), judicielle und ſtaats-
wiſſenſchaftliche, vor einer ſtaatlichen Prüfungscommiſſion (Erlaß vom
2. Oktober; Hauptgeſetz vom 16. April 1856. Stubenrauch Bd. II. §. 31).
II.Staatsdienſtprüfung. Dieſelbe iſt bei den Theologen nach
dem Kirchenrecht, bei den Medicinern in der Doctoratsprüfung ent-
halten. Bei der Beſtimmung zum Lehrerberuf an den Univerſitäten
tritt die Habilitationsordnung für die Privatdocenten ein. Erſte
Ordnung derſelben zugleich als Einführung des Privatdocententhums
(Miniſterial-Erlaß vom 19. December 1848); nähere Beſtimmungen:
Erlaß vom 27. April 1850 (Beſchränkung auf beſtimmte Fächer); Recht
auf Zeugnißausſtellung (Erlaß vom 5. Januar 1849. Stubenrauch
Bd. II. §. 407); Lehrerberuf an den Gymnaſien: 1) theoretiſche
Prüfung nach Erlaß vom 24. Juli 1856; ausführlich bei Stuben-
rauch Bd. I. §. 55. Dann ein Probejahr, jedoch nach demſelben keine
[184] Dienſtprüfung, ſondern Zeugniß des betreffenden Gymnaſialdirektors.
Für den Verwaltungsdienſt dagegen beſteht ein vollſtändiges Syſtem
von Staatsprüfungen, deſſen Charakter keinesweges allenthalben gleich
iſt, und namentlich für die Finanzverwaltung bis zur bloßen techniſchen
Manipulationsprüfung hinabſinkt, während die Finanzwiſſenſchaft im
Grunde mit der ſtaatswirthſchaftlichen Prüfung abſchließt — ein nicht
geringer Mangel. Nach den Fächern getheilt erſcheint folgendes Syſtem.
1. Finanzverwaltung. a. ſtaatswiſſenſchaftliche oder juriſtiſche Docto-
ratsprüfung; dann 6—12 Wochen Probezeit; dann Conceptsdienſt-
prüfung (meiſt reine Verwaltungsgeſetzkunde) nach Decret vom 24. Juni
1829 und Decret vom 21. Auguſt 1839; wiſſenſchaftlicher iſt die Prokura-
tursprüfung (Dienſtesinſtruktion vom 16. Februar 1855); warum
gilt keine ähnliche für den Conceptsdienſt überhaupt? b. untergeordnete
Dienſtprüfungen, bei denen keine wiſſenſchaftliche Fachbildung voraus-
geſetzt wird, meiſt erſt nach 1850 auf Grundlage praktiſcher Forderungen
eingeführt oder geordnet; für Anſtellung bei 1) Steuerämtern (Ver-
ordnung vom 28. Juli 1858). 2) Zollämtern (Verordnung vom
25. Auguſt 1858); 3) Verzehrungsſteuer (Verordnung vom
18. Februar 1857); 4) Kaſſendienſt (Erlaß vom 28. Sept. 1853);
5) Staatsgüter (Verordnung vom 11. Januar 1822); 6) Staats-
forſtdienſt (Verordnung vom 16. Januar 1850); 7) Finanzweſen
(Dienſtvorſchriften von 1843); 8) Poſtdienſt (Verordnung vom 23. April
1850); 9) Telegraphendienſt (Verordnung vom 1. December 1854);
10) Buchhaltungsdienſt (Erlaß vom 11. November 1852).
2. Rechtspflege. 1) Richteramtsprüfung a. als Auscultant:
Probezeit, ohne Prüfung; b.Richter: Ein Jahr Praxis, dann Prüfung
(Verordnung vom 3. Mai 1853, vom 10. Oktober 1854); 2) Advo-
katursprüfung (Verordnung vom 11. Oktober 1854); 3) Polizei-
gerichte (Verordnung vom 10. Oktober 1854).
3. Innere Verwaltung. 1) Allgemeiner Dienſt in der Ver-
waltung: Probepraxis von 6—12 Wochen; dann Beeidigung; ein Jahr
Probezeit für die Prüfung; dieſe iſt ſchriftlich und mündlich (Verordnung
vom 10. Oktober 1854); 2) Manipulationsdienſt: ſpecieller Grund-
buchsbeamten- und Rechnungsdienſt: eine Art von Elementarprüfung
(Patent vom 3. Mai 1853); 3) Baudienſt (Erlaß vom 13. März 1850).
Geſundheitsweſen. 1) Mediciniſches Doctorat; 2) Apotheker-
prüfung, Lehrzeit drei Jahre (Verordnung vom 28. Februar 1854);
Prüfung (Inſtruktion vom 3. November 1808); Magiſterium der Phar-
macie (Erlaß vom 14. Juni 1859); 3) Hebammenprüfung (Decret
vom 19. Mai 1827); 4) Hafen- und Seeſanitätsdienſt (Verord-
nung vom 15. Mai 1851).
[185]
Lehrfach. 1) Volksſchullehrer: Präparanden-Curs (Erlaß vom
17. Sept. 1848) nebſt Prüfung (ſ. oben); 2) Gymnaſiallehrer:
Prüfungsordnung (Erlaß vom 24. Juli 1854); 3) Realſchullehrer:
Errichtung von Bildungscurſen (Verordnung vom 2. Nov. 1854) nebſt
Prüfung bei ſechsklaſſigen Realſchulen (Erlaß vom 24. April 1853);
4) Polytechniſche Anſtalt (Erlaß vom 11. und 19. Dec. 1848);
5) Habilitations- und Privatdocenten (Erlaß vom 19. Dec. 1848).
Auswärtiges. 1) Conſular-Prüfung (Erlaß vom 20. Okt.
1849); 2) Diplomaten-Prüfung (Erlaß vom 6. Juni 1856).
Preußen. Grundlage iſt für allen Staatsdienſt die wiſſenſchaft-
liche Fachbildung und daher die Studienprüfung und Fachprüfung als
Abgangsprüfung. Die praktiſche Berufsbildung ihrerſeits wird daneben
durch ein vollſtändiges Syſtem von Dienſtprüfungen abgeſchloſſen, die
zum Theil viel ſpecieller ſind als in Oeſterreich, aber ihrem Inhalte
nach allerdings ſyſtematiſcher erſcheinen. Das öffentliche Recht der
Dienſtprüfung iſt im Grundſatz ſchon vom Allgem. Landrecht als ganz
allgemein anerkannt, und auf die einzelnen Prüfungsordnungen dabei
verwieſen (Thl. II. 10. §. 70. 71). Das Princip des Unterſchiedes zwi-
ſchen den höheren und niederen Prüfungen iſt dabei viel klarer durch-
geführt, was ohne Zweifel als das Rationellere erkannt werden muß.
Nur läßt ſich ein Uebermaß dabei durchaus nicht wegläugnen; es
iſt als ob man alle Garantie nur von den Prüfungen zu hoffen habe.
Das Syſtem der höheren Prüfungen iſt bei RönneII. §. 293 auf-
geſtellt, die Literatur S. 311. A. Höherer Juſtizdienſt mit drei
Dienſtprüfungen: Auskultatur, Referendariat und Aſſeſſorat. Haupt-
organiſation dieſer Prüfungsweſen die Verordnung vom 10. Dec. 1849.
B. Höherer Verwaltungsdienſt: hat die zwei erſten Juſtizprüfungen
zur Vorausſetzung und fordert dann eine Referendariatsprüfung (Re-
gulativ vom 14. Febr. 1846); dazu noch eine Landrathsprüfung
(Regulativ vom 10. Juli 1838; RönneII. §. 264). Forſtverwal-
tungsdienſt: Prüfung nach Regulativ vom 7. Febr. 1864; Bauver-
waltungsprüfung (Verordnung vom 22. Dec. 1849); Feldmeſſer
(Regulativ vom 8. Sept. 1831 und 8. Juli 1833); Bergbeamten
(Regulativ vom 21. Dec. 1863); Poſtverwaltung: neueſte Inſpektion
vom 3. Juni 1863; Intendantur-Beamten (Regulativ vom 23.
Mai 1839); Eiſenbahndienſt, königl. (Reſcript vom 26. Juli 1863).
Für den Subaltern- (Manipulations-) Dienſt finden keine eigentlichen
Prüfungen ſtatt, ſondern es iſt ausdrücklich ausgeſprochen, daß die
Abgangsprüfungen der Oberrealſchulen (erſter Ordnung) und Gymnaſium
die Stelle derſelben bei Anſtellungen zu vertreten haben (Unterrichts-
und Prüfungsordnung vom 6. Oct. 1859. RönneII. 293 und 451).
[186]
Geſundheitsweſen. Auch der Unterſchied des höheren und nie-
deren Dienſtes im Prüfungsſyſtem; Claſſifikations- und Prüfungsord-
nung vom 24. Auguſt 1825. Die Unterſchiede dieſer Ordnung werden
für die verſchiedenen Klaſſen der Aerzte aufgehoben, und die einheit-
liche Staatsprüfung für alle Aerzte, Wundärzte und Geburtshelfer
hergeſtellt durch Regulativ vom 8. Oct. 1852. Daneben noch Prüfungen
für Zahn- und Thierärzte und Hühneraugenoperateuren (RönneII.
353 und 367); Hebammenprüfung (Regulativ vom 1. Dec. 1825);
Apothekerprüfung mit Aufhebung des Unterſchiedes der zwei Klaſſen
durch die Verordnung vom 1. Dec. 1825 nach k. Ordre vom 26. Nov.
1853. Das niedere Heilperſonal ohne Prüfung.
Lehrfach. a)Volksſchullehrer-Prüfung ſchon nach dem General-
Landſchulreglement vom 12. Auguſt 1763 und Allgem. Landrecht II.
12. §. 24. 25; theoretiſche und nach Probezeit praktiſche (Rönne,
Staatsrecht II. §. 293. 443); b)Gymnaſiallehrfach. Grundlage:
Edikt vom 12. Juli 1810 und Reglement vom 20. April 1831 (Rönne,
Unterrichtsweſen II. S. 338); c)Reallehrfach (Reſcript vom 20. Ja-
nuar 1863); d)Habilitations-Ordnungen (RönneII. 460).
Aeußeres. Diplomatenprüfung: K. Ordre vom 4. Febr. 1827.
Bayern. Grundlage für den Verwaltungsdienſt iſt die Ver-
ordnung vom 6. Mai 1830 nebſt Zuſätzen vom 5. December 1850 und
24. Mai 1852; bei Ortloff S. 147—159 (die übrigen fehlen bei dem-
ſelben). Für das Geſundheitsweſen mediciniſche Admiſſionsprüfung:
drei Jahre theoretiſche, zwei Jahre praktiſche Bildung (Verordnung vom
30. Mai 1843); Apothekerprüfung (Apothekerordnung vom 27. Jan.
1842); Hebammenweſen (Verordnung vom 7. Januar 1816); Pözl,
Verwaltungsrecht §. 117.
Lehrfach. Gymnaſiallehrer: Schulordnung vom 24. Februar
1854; Volksſchullehrer (Regulativ vom 31. Januar 1836); Pözl
§. 185. Das wirthſchaftliche Prüfungsweſen iſt mit der neueſten
Organiſation des wirthſchaftlichen Bildungsweſens durch die neue Ver-
ordnung vom 14. Mai 1864 geordnet. Darnach finden bei der niederen
Stufe der Gewerbeſchulen keine Abſolutorialprüfungen ſtatt, wohl aber
am Schluſſe jedes Schuljahrs öffentliche Prüfungen, welche mit Preis-
vertheilungen verbunden ſind (§. 21). In der zweiten Stufe, den Real-
gymnaſien dagegen iſt eine vollſtändige Abſolutorialprüfung aufgeſtellt
nebſt Preisvertheilung (§. 43 ff.). In der polytechniſchen Schule treten
ſogar halbjährliche Studienprüfungen ein, außerdem jährliche Abſolu-
orialprüfungen an den Fachabtheilungen (§. 73. 75 ff.); Prüfungs-
gegenſtände ſind geſetzlich beſtimmt; Prüfungscommiſſion vom Staate
eingeſetzt. Für den Staatsbaudienſt ſind außerdem durch Bekannt-
[187] machung vom 24. Auguſt 1864 eigene Prüfungen eingeführt. Ebenſo
Prüfungen in der landwirthſchaftlichen Akademie von Weihen-Stephan.
Ein gleichartiges, ſehr ausgebildetes Staatsdienſtprüfungsſyſtem
neben dem Fachprüfungsſyſtem der Univerſitäten hat Württemberg.
Mohl hat in ſeinem württembergiſchen Verwaltungsrecht S. 95 dieß
Syſtem ausführlich dargeſtellt; der erſte, ſo viel wir ſehen, der den
Gegenſtand in das Verwaltungsrecht aufgenommen hat; vergl. beſonders
S. 99 Note 6. (die Hauptverordnung iſt vom 25. April 1839 und für
den Juſtizdienſt vom 29. April 1839). Die Prüfungen ſind in höhere und
niedere Dienſtprüfungen geſchieden, jedoch nicht nach den einzelnen Ver-
waltungsfächern; daneben iſt ein Dienſtprobejahr eingeführt (Verordnung
vom 27. Auguſt 1836 und Zuſatz vom 3. Januar 1850. Abgedruckt bei
Ortloff a. a. O. S. 170—204). Die Lehrerprüfung für Ober- und
Unterrealſchulen organiſirt durch Verordnung vom 20. Juli 1864.
Was die übrigen deutſchen Länder betrifft, ſo iſt im Allgemeinen
das Fachprüfungsweſen an den Univerſitäten maßgebend geweſen, jedoch
meiſtens in der Weiſe, daß das Doktorat nur für die Medicin als
Dienſtprüfung zugleich gilt, oft auch für den Lehrberuf, während die
Richteramtsprüfung ſelbſtändig daneben beſteht, und oft auch eine eigene
Advokatenprüfung. Es iſt nicht zu verkennen, daß erſt ſeit 1848 die
Prüfungsordnungen theils ganz neu eingeführt, theils neu organiſirt
und theils in der Umgeſtaltung begriffen ſind. Wir ſind nicht im
Stande geweſen, ein vollſtändiges Bild zuſammenzuſtellen; Ortloff
iſt ſehr unvollſtändig. Meiſtens ſind die Lehramtsprüfungen ſehr genau
beſtimmt; die Baumeiſterprüfungen in den kleinen norddeutſchen Staaten
vielfach an Preußen verwieſen. Die Hauptdaten über das Fach- und
Dienſtprüfungsweſen dürften folgende ſein: Königreich Sachſen: Dienſt-
prüfungsordnung für die juriſtiſche und Richteramtsprüfung (Verord-
nung vom 16. November 1859); Ortloff S. 173; Hannover (All-
gemeines Reglement vom 30. Mai 1848); Prüfungsordnung für den
Juſtizdienſt (Verordnung vom 8. Januar 1858); Ortloff S. 160 bis
168). Kurfürſtenthum Heſſen: zwei Staatsprüfungen ſeit Verordnung
vom 18. April und 21. Mai 1861 (Ortloff S. 205). Baden: gleich-
falls zwei Prüfungen (Verordnung von 1853); nebſt Probezeit (Ver-
ordnung vom 7. April 1854 und 23. Juli 1857); Ortloff S. 206
bis 216. Die neueſte Prüfungsordnung für die Lehrer an den Ge-
lehrten- oder höheren Bürgerſchulen vom 5. Januar 1867. Ebenſo
Großherzogthum Heſſen (Verordnung vom 10. September 1851). Das
Dienſtprüfungsweſen in Naſſau war bereits durch Verordnung vom
20. Januar 1845 in ſehr rationeller Weiſe geordnet; ähnlich in Sachſen-
Altenburg (Verordnung von 1831), nebſt ausführlichem Reglement
[188] vom 9. Juni 1846, wozu eine Novelle vom 28. Februar 1861 gekom-
men iſt (Auſtria 1864, S. 149). Das Dienſtprüfungsweſen von
Sachſen-Coburg beruht auf der Verordnung vom 24. April 1860;
die Prüfung der Baugewerbtreibenden iſt nach Aufhebung der Zunft-
verfaſſung und Einführung des neuen Gewerbegeſetzes vom 26. Juni
1863 durch Bekanntmachung vom 3. Februar 1864 geordnet (Auſtria
1864, Nro. 18). In Oldenburg iſt die frühere Organiſation der
Dienſtprüfungen vom 20. März 1830 durch die neue Organiſation
vom 21. Auguſt 1856 aufgehoben, und ſpecielle Prüfungen für Steuer-
ämter durch Geſetz vom 13. April 1864 als Complement des neuen
Schifffahrtsgeſetzes von 1856, ſo wie Prüfungen für Forſtmänner
durch Geſetz vom 14. April 1864 eingeführt (Auſtria ebend. S. 157 und
190). Sachſen-Weimar (Prüfungsordnung vom 11. Februar 1853);
Anhalt-Deſſau (Verordnung vom 22. Juli 1852). Aehnlich Braun-
ſchweig (Verordnung vom 5. März und Inſtruktion vom 27. November
1850). In Mecklenburg bildet die Verordnung von 1837 die Grund-
lage; reorganiſirt wurde das ganze Prüfungsweſen durch Verordnung
von 1859, welche ſpeciell Richteramtsprüfungen eingeführt hat. Die
thierärztliche Prüfung iſt durch Reglement vom 14. Juni 1858 und
genauere Ausführung im Nachtrag vom 24. Oktober 1864 geordnet.
In einigen kleineren Ländern wie Waldeck iſt das örtliche Prüfungs-
weſen dem preußiſchen Prüfungsrecht analog. Es iſt klar, daß das
hier Angeführte nur als Andeutung für eine ſelbſtändige Bearbeitung
Werth hat; wir müſſen die letztere für höchſt wünſchenswerth halten;
manche weitere Beiträge ſiehe unten unter wirthſchaftlicher Fachbildung.
Was nun das Prüfungsweſen Frankreichs betrifft, ſo beſteht
das, was wir darüber haben finden können, in Folgendem. Eine all-
gemeine Geſetzgebung gibt es nicht. Grundſatz iſt, daß für die Medi-
ciner das mediciniſche Doktorat Berufs- und Staatsprüfung zugleich
iſt; für die Lehrer gilt die Berufsprüfung der Facultés als Dienſt-
prüfung, eben ſo für die Juriſten. Es wird für die letzteren angenom-
men, daß jeder Juriſt wenigſtens Licencié en droit ſein muß; die Be-
dingungen dieſer akademiſchen Grade unten bei der Darſtellung der
Facultés. Eine Richteramtsprüfung exiſtirt unſeres Wiſſens nicht; ein
Geſetz über die Anſtellung der Richter auch nicht. Nur über die An-
ſtellung der Notaires iſt bereits durch die Notariatsordnung vom Jahr
XI vorgeſchrieben, daß jeder Licencié en droit erſt ſechsjährige stage
und dann ein „Zeugniß“ der Befähigung von der Corporation der
Notaires haben muß; eben ſo ſoll jeder Advokat nach der Advokaten-
ordnung von 1822 dreijährige Stage (Conceptsdienſt) und ein Zeug-
niß der Befähigung von der Advokatenkammer beibringen. Für die
[189] Anſtellung der Verwaltungsbeamteten kennen wir gar kein Geſetz, nicht
einmal die geſetzliche Nothwendigkeit, die Faculté de droit durchgemacht
zu haben — in der That gibt es dort ja auch keine rechte Theorie des
droit administratif, viel weniger Polizeiwiſſenſchaft oder Nationalökonomie.
Das belgiſche Prüfungsſyſtem iſt dem franzöſiſchen entſprechend, wie
das holländiſche dem deutſchen. Die Vorſchriften des letzteren ſind
ſpecialiſirt in den drei Geſetzen über den niederen, mittleren und höheren
Unterricht (ſ. oben). Das belgiſche Recht der Berufsprüfungen bei
Le Roy in Schmid, Encyclopädie, v. Belgien. Dazu bemerkt de
Fooz (Droit adm. belge): „Il y a deux grades pour chacune des
branches de l’enseignement supérieur, celui de candidat, celui de
docteur. Il y a de plus un grade de docteur en sciences politiques
et administratives, un grade de candidat en pharmacie, de phar-
macien et de candidat notaire. (Geſetz vom 1. Mai 1857.) Un
diplome scientifique spécial est institué en faveur des personnes,
qui après avoir obtenu le grade légal de docteur, se sont appliquées
à certaines spécialités de la science, p. e. à celle de droit admini-
stratif. Ce sont les Universités de l’État qui le confèrent. Aber
Rechte geben dieſe Prüfungen nicht. C’est une simple attestation de
capacité, qui ne confère aucun droit ni prérogative dans l’État.“
Fooz, T. IV. p. 314. 315. — In England iſt das Prüfungsweſen
nicht einmal für die Mediciner vorgeſchrieben (ſ. Geſundheitsweſen
S. 106 ff.), eben ſo wenig für die Lehrer, die in freien Schulen wirken,
oder die Profeſſoren, die gewählt werden, ſondern nur für die Schul-
lehrer der vom Staat unterſtützten Armenſchulen (ſ. daſ.). Für die
Verwaltungsbeamteten gibt es trotz der in der vollziehenden Gewalt
(S. 353. 354.) erwähnten Verhältniſſe keine Prüfungen; das Syſtem
derſelben hat jedoch ſeit 1853 für die indiſchen Beamteten Platz ge-
griffen, und iſt von da auf einige andere Klaſſen übergegangen (vgl.
die leider dürftige Notiz von Gugler im Anfang zu deſſen Ueberſetzung
von Taylor, Induſtrie und Schule S. 175. 176). Geſetze gibt es
keine. Nur die Rechtspflege hat das Prüfungsweſen in allerneueſter
Zeit in ſich aufgenommen, indem nach 23. 24. Vict. 127. dem Lord
Chief of Justice das Recht eingeräumt iſt: „from time to time to
make regulations for the examinations“ wenn die betreffende Perſon
nicht die Univerſitätsprüfungen beſtanden habe; derſelbe ſetzt dann auch
die Prüfungscommiſſion zuſammen; dieſe gelten nur für attorneys und
sollicitors, aber da aus dieſen die judges genommen werden, ſo er-
ſcheint dieſe erſte engliſche Advokatenprüfung zugleich als Richteramts-
prüfung. (Chitly Archibald, Practice of the Court of Queens
Bench, 11. Ed., by J. Prentice. p. 31. 32.)
[190]
Beſonderer Theil.
Die öffentlich rechtliche Organiſation der Berufsbildungsſyſteme
bei den Hauptvölkern Europas.
Bei dem äußeren Reichthum an Beſtrebungen, Leiſtungen und An-
ſtalten für das Berufsbildungsweſen in den organiſchen Kulturländern
iſt es nicht möglich, hier auf das Einzelne einzugehen. In der That
muß die Verwaltungslehre im Allgemeinen ſich darauf beſchränken, nach-
dem der Charakter deſſelben dargeſtellt iſt, nur noch das Bild des
ganzen Syſtems zu geben. Unter dem Berufsbildungsſyſtem verſtehen
wir nun die öffentliche Ordnung, nach welcher die einzelnen Staaten
die drei großen Hauptgebiete des geſammten Bildungsweſens, die ge-
lehrte, die wirthſchaftliche und die künſtleriſche zum Gegenſtande ihrer
Geſetzgebung und ihrer Thätigkeit gemacht haben, als die poſitiv
rechtliche Geſtalt der geltenden öffentlichen Berufsbildung.
Hier nun ſcheiden ſich die Hauptvölker Europas weſentlich von ein-
ander, während ſie in der Idee des Berufsbildungsweſens ſich natür-
lich aufs Engſte verwandt ſind.
Bei aller Tiefe und Gründlichkeit der bisherigen Unterſuchungen
iſt es nicht zu läugnen, daß eine organiſche Geſammtüberſicht,
eine nebeneinanderſtellung der Syſteme noch fehlt. Es iſt für uns im
Einzelnen ſo gut als gar nichts zu leiſten übrig. Der Werth und die
Aufgabe des Folgenden kann nur darin beſtehen, in jedem Lande das
wiſſenſchaftliche, wirthſchaftliche und künſtleriſche Berufsbildungsſyſtem
als Ein Ganzes zuſammenzufaſſen, demſelben für die Staatswiſſenſchaft
ſeine organiſche Stelle, für die Vergleichung mit andern Völkern ſeine
hohe Berechtigung als Grundlage und für die Behandlung der Einzel-
fragen ſeinen wichtigen, oft maßgebenden Einfluß zu ſichern. Dabei
wird es auch nur auf dieſem Wege möglich ſein, auf gewiſſen Punkten
durch beſtimmte und durchgreifende Begriffsbeſtimmungen einer zuweilen
peinlichen Verwirrung in Bezeichnungen, Anſichten und Fragen zu be-
gegnen. Wir halten auch hier die Hoffnung feſt, daß auf der gegebenen
Grundlage jeder Fachmann das ſpecielle Recht ſeines eignen Landes ſich
hinzuſetzen, und dadurch dem vorliegenden, vorwaltend theoretiſchen
Verſuche ſeinen praktiſchen Werth geben möge.
Ohne allen Zweifel wird nun das Ziel auch hier am beſten erreicht,
wenn wir das deutſche Bildungsſyſtem als maßgebend an die Spitze
ſtellen, indem wir dabei ſtets feſthalten, daß zwar die pädagogiſchen
Begriffe und Forderungen maßgebend ſind und bleiben werden, daß
[191] ſie aber nicht dem Verwaltungsrecht angehören, ſondern von demſelben
als bekannt vorausgeſetzt werden müſſen. Es muß uns daher genügen,
hier ein Bild darzubieten, welches die gewaltigen Verſchiedenheiten des
Berufsbildungsweſens auf die oben aufgeſtellten einfacheren Kategorien
reducirt und dadurch das europäiſche Leben und ſein öffentliches Recht
hier als Ganzes erſcheinen läßt und verſtändlich macht.
Die Urſache des Mangels einer Geſammtdarſtellung des Berufs-
bildungsweſens in Deutſchland beruht auf der bisher überwiegenden
Bedeutung der wiſſenſchaftlichen Bildung, welche die größte Kraft ab-
ſorbirt, und zweitens in der noch vielfach geltenden Vorſtellung von
der Scheidung des wirthſchaftlichen vom wiſſenſchaftlichen Berufe. Daher
gibt es über das Ganze gar keine Literatur. Im vorigen Jahr-
hundert kommt natürlich die wirthſchaftliche und künſtleriſche den Syſte-
matikern, wie Juſti, gar nicht zum Bewußtſein; die Rechtslehrer kennen
nur die Univerſitäten als öffentlich rechtliche Körperſchaften, und die
Beſchränkung auf dieſelben unter völliger Weglaſſung der wirthſchaft-
lichen und künſtleriſchen Anſtalten hat ſich erhalten (ſ. Mauren-
brecher, Zachariä und ſelbſt den unermüdlichen Zöpfl.) Die neuere
Polizeiwiſſenſchaft, wie Jacob, Pölitz und Mohl bleiben bei allge-
meinen Redensarten, ohne Beziehung auf Deutſchland; die neueſte
encyclopädiſche Literatur, wie das Staatswörterbuch und nament-
lich Schmids Encyclopädie des geſammten Erziehungs- und Unter-
richtsweſens (ſeit 1859) geben bei den zum Theil für das Detail-
ſtudium unſchätzbaren Mittheilungen der tüchtigſten Fachmänner, ohne
die eine Geſammtdarſtellung für viele Theile Deutſchlands geradezu
unmöglich bliebe, manche Mittheilungen, die von Werth ſind; doch, wie
es ihre Natur mit ſich bringt, beſchränken ſich dieſe Arbeiten in ihrer
Anordnung auf eine mehr äußerliche Eintheilung, welche auch hier
wie beim Volksſchulweſen die Vergleichung dem Leſer ſelbſt überläßt.
Für das Einzelne iſt daher wenig, für das Ganze noch alles zu thun.
Deutſchlands Berufsbildungsſyſtem.
Charakter.
Während es eine außerordentliche ſchwierige Aufgabe iſt, das Be-
rufsbildungsſyſtem Deutſchlands in ſeinen einzelnen Theilen und Be-
ſtimmungen vollſtändig darzuſtellen, glauben wir dagegen, daß es nun-
mehr leicht iſt, den Charakter deſſelben im Verhältniß zu den bisher
[192] dargelegten Grundbegriffen zu beſtimmen. Deutſchlands Berufsbildungs-
ſyſtem beruht zunächſt darauf, jede allgemeine, der Geſammtheit
dienende, öffentliche Thätigkeit als einen Beruf anzuerkennen, und
daher für jeden Lebensberuf eine berufsmäßige Bildung zu fordern.
An dieſe Forderung hat ſich das zweite Moment angeſchloſſen, wornach
Deutſchland das wirthſchaftliche Berufsbildungsweſen neben
dem gelehrten zu einer ſelbſtändigen, organiſch geordneten und vom
Staate als öffentliche Aufgabe anerkannten, erhoben hat, ſo daß wir
in Deutſchland die zwei großen Berufsbildungsſyſteme der gelehrten
oder geiſtigen und der wirthſchaftlichen Berufe neben einander beſtehen
und funktioniren ſehen, während ſie dennoch ſich nicht nach ſtändiſchen
Principien ſcheiden, ſondern innerlich und zum Theil äußerlich ver-
bunden ſind. Dabei hat das gelehrte Berufsbildungsweſen dem wirth-
ſchaftlichen das Princip der geiſtigen Selbſtverwaltung, das wirth-
ſchaftliche dem gelehrten ſeine praktiſche Richtung der Studienord-
nung mitgetheilt, beide aber, in ihrer Nothwendigkeit vom Staate
anerkannt, ſind eben deßhalb durchſtehend Staatsanſtalten, die beide
mit gleichem Nachdrucke gefordert, mit gleicher Liebe gepflegt, mit
gleicher Ehre betheilt werden. An ſie hat ſich in neueſter Zeit die
künſtleriſche Bildung angeſchloſſen, die nunmehr gleichfalls, wenn
auch nur noch theilweiſe in das Syſtem mit gleichen Bedingungen
aufgenommen iſt. Und ſo kann man unbedenklich das deutſche Berufs-
bildungsſyſtem als Muſter und Maßſtab für alle andern aufſtellen;
es iſt der Standpunkt, von welchem aus das übrige Europa beur-
theilt worden, und das in ſeiner klaren und ernſten Totalität und
ſeiner machtvollen Wirkſamkeit eine der großartigſten Thatſachen der
Weltgeſchichte darbietet.
Dennoch ſind jene beiden Arten des Berufsbildungsweſens weſent-
lich von einander verſchieden, ſowohl im Princip als im Syſtem
ihres öffentlichen Rechts. Sie haben eine ſelbſtändige Geſchichte und
ſelbſtändige Stellung und es wird darauf ankommen, ſie in dieſem
Sinne ſelbſtändig neben einander zu ſtellen. Es iſt dabei nicht unſere
Sache, ſie zu erſchöpfen, ſondern nur in ihrem Charakter zu be-
zeichnen. Gelingt das, ſo iſt es wohl nicht ſehr ſchwierig mehr,
die poſitiven Rechtszuſtände der einzelnen Theile daran anzuſchließen
und die Umriſſe des Bildes mit dem lebendigen Inhalt auch der
poſitiven Thatſachen auszufüllen. Unſere Arbeit wird gerade hier
auf Vollſtändigkeit nur ſehr geringe Anſprüche machen können; es
muß uns genügen, das reiche Bild als ein organiſches Ganze auf-
gefaßt zu haben.
[193]
(Die gelehrten und hohen Schulen, Gymnaſien, Lyceen, Athenäen, Collegien.)
Das gelehrte Vorbildungsſyſtem umfaßt nun ſeinem formalen Be-
griff nach die Geſammtheit der Anſtalten, welche für die von der
Fachbildung getrennte gelehrte Vorbildung getrennt ſind und unter den
oben angeführten Namen funktioniren.
Wir dürfen nun gewiß zunächſt darauf hinweiſen, daß es nicht
unſere Aufgabe ſein ſoll, das ganze Gymnaſialweſen mit ſeiner Viel-
geſtaltigkeit und ſeinen wichtigen Fragen hier zu erſchöpfen. Für die
Verwaltungslehre iſt die gelehrte Schule oder das Gymnaſium zunächſt
ein einzelnes ganz beſtimmtes Organ in dem großen Ganzen des
Bildungsorganismus und hat eine ganz beſtimmte Funktion innerhalb
deſſelben zu vollziehen. Dieſe Funktion liegt, wie alle organiſche
Funktion, nicht in der Willkür des Einzelnen oder ſelbſt der Geſetzgeber,
ſondern ſie iſt durch die höhere Natur der Sache ſelbſt gegeben. Nirgends
aber iſt dieſe Idee in ſo beſtimmter Weiſe entwickelt und auch hiſtoriſch
zu einem klaren Abſchluß gekommen als in Deutſchland; und wir dürfen
daher die Darſtellung von Deutſchlands Gymnaſialweſen als die Grund-
lage für das geſammte gelehrte Vorbildungsweſen von Europa anſehen.
Nur muß man dabei gleich anfangs die beiden großen Seiten alles
gelehrten Schulweſens wohl unterſcheiden und auf ſie die verſchiedenen
Formen deſſelben zurückführen.
Die Stellung, welche das gelehrte Schulweſen im großen Bildungs-
organismus einnimmt, iſt nämlich eine doppelte, und eben dieſer doppelte
Inhalt derſelben hat es ſchwierig gemacht, daſſelbe zu verſtehen. Dennoch
bleibt es die einzige Grundlage ſeiner Geſchichte und der Vergleichung
ſeiner verſchiedenen Geſtaltungen.
Zuerſt und formell iſt nämlich die gelehrte Schule die reine Vor-
bildungsanſtalt für das gelehrte Fachbildungsweſen. Sie hat daher
zur Aufgabe, alles dasjenige zu lehren, was als Vorausſetzung und
Bedingung des letzteren angeſehen werden muß. In ihrer ſyſtematiſchen
Stellung wird daher die ganze innere und äußere Ordnung der ge-
lehrten Schule durch dasjenige gegeben, was die gelehrte Fachbildung
fordert, und zwar in der [Weiſe], daß jene für alle einzelnen Fächer
die Vorbildung zu leiten hat. Oder, da das Fachbildungsweſen in
Stein, die Verwaltungslehre. V. 13
[194] den Univerſitäten enthalten iſt, die gelehrten Schulen ſind die Vor-
bildungsanſtalten für die Univerſität. Ordnung, Form, Inhalt und
Werth ihrer Funktion findet demnach zunächſt und zuerſt ihren Maß-
ſtab eben an dieſem Verhalten zur Univerſitätsbildung.
Allein die höhere wiſſenſchaftliche Bildung, welche die gelehrte
Schule gibt, kann ſich auf die ſtrenge Funktion der Vorbildung für die
Fächer nicht beſchränken. Sie hat auch an und für ſich einen Werth; und
die gelehrte Schule iſt daher ihrem Weſen nach zugleich eine Bildungs-
anſtalt für die allgemeine Bildung. Sie muß daher in ihrer Funktion an
ſich nicht bloß ſtrenge an die Vorbildung gebunden ſein; ſie muß auch
die Fähigkeit beſitzen, an und für ſich eine Bildungsſtufe darzubieten,
welche auch ohne Anſchluß an die Univerſität ein ſelbſtändiges Maß
der Bildung gibt. Sie muß daher den Abſchluß ihres Bildungsganges
nicht bloß in den Fachbildungen der Univerſität, ſondern ſie muß ihn auch
in ſich ſelber zu finden im Stande ſein. Das iſt die zweite Forderung,
welche das Bildungsweſen an das gelehrte Schulweſen zu ſtellen hat.
So einfach nun an ſich dieſe beiden Geſichtspunkte ſind, ſo ſchwierig
iſt es, ſie in der praktiſchen Ordnung und Thätigkeit der gelehrten
Schulen zu verbinden. Denn dieſe Verbindung beruht nicht bloß auf
den Gegenſtänden der Lehre, ſondern weſentlich auch auf dem Geiſte,
in dem ſie gelehrt werden, und jeder Schulmann wird zugeſtehen, daß
das, was wir den pädagogiſchen Charakter der einzelnen gelehrten Schule
nennen, gerade auf dieſer Verbindung jener Elemente in derſelben beruht.
Allein es iſt klar, daß dieſe Doppelfunktion zugleich die Stellung begründet,
welche das öffentliche Recht der gelehrten Schulen gegenüber einnimmt.
Die Verwaltung wird etwas anderes fordern, wo die letztere nur Vorbil-
dungsanſtalten, und etwas anderes, wo ſie allgemeine Bildungsanſtalten
ſind, wenn auch die Grundzüge des öffentlichen Rechts dieſelben bleiben.
Der Regel nach wird im erſten Falle der Bildungsgang und die Studien-
ordnung eine enger begränzte, im letzteren eine weiter angelegte ſein.
So ergibt ſich ſchon hier, daß das, was wir die gelehrte Schule nennen,
eine Reihe ſehr verſchiedener Geſtalten bezeichnet; und in der That hat
dieſer Unterſchied, hiſtoriſch begründet, auch in den Namen Platz ergriffen.
Es iſt deßhalb wohl nothwendig, ſich über die Bedeutung der Ausdrücke
ſelbſt auch hier einig zu werden. Wir faſſen dieſelbe nun in folgender Weiſe.
Der Ausdruck „hohe“ oder „gelehrte Schule“ bedeutet alle Vor-
bildungsanſtalten für jede wiſſenſchaftliche Entwicklung; er iſt der
Gattungsname.
Das Wort „Gymnaſium“ dagegen bezeichnet uns die gelehrte Schule
in dem ſtrengen Sinne der Vorbildungsanſtalt für die Fachbildung, nament-
lich alſo für die Univerſität. Mit dem Ausdruck Gymnaſium erſcheint
[195] gegenwärtig vielfach gleich bedeutend der Ausdruck „Lyceum,“ namentlich
in den Ländern, welche ganz oder theilweiſe das franzöſiſche Berufsbil-
dungsweſen aufgenommen haben; der weſentliche Unterſchied zwiſchen dem
Gymnaſial- und Lycealſyſtem iſt jedoch der, daß im erſteren nur,
oder doch bei weitem vorwiegend, die gelehrte Bildung geboten wird,
an die ſich die Elemente der wirthſchaftlichen anſchließen, während das
Lycealſyſtem die gelehrte und wirthſchaftliche Vorbildung als ein Ganzes
in zwei Theilen behandelt (das ſogenannte Bifurcationsſyſtem; ſ. Frank-
reich). Es iſt kein Zweifel, daß Deutſchland der Träger des ſtrengen Gym-
naſialſyſtems iſt. Wir haben daher ſeine Bedeutung unten darzuſtellen.
Das „Athenäum“ und die „Collèges“ dagegen bedeuten die hohen
Schulen, inſofern ſie als ſelbſtändige allgemeine Bildungsanſtalten da-
ſtehen, und mithin auf den Eintritt in das praktiſche Leben ohne be-
ſtimmte Berufsbildung, alſo auf das Angehören an die geiſtig gebildete
Welt berechnet ſind. Sie gehören weſentlich als hiſtoriſche Formationen
noch einigen Ländern an, wie England, Belgien und einem Theile der
Schweiz, und ſind nicht bloß an ſich von dem Gymnaſium verſchieden,
ſondern bedeuten auch wo ſie vorkommen, eine weſentlich andere Auf-
faſſung des geſammten Vorbildungsweſens, wie es ſich unten zeigen wird.
Deutſchlands gelehrtes Schulweſen zeichnet ſich nun dadurch aus,
daß es beide großen Grundformen der gelehrten Vorbildung bei ſich
mit voller Beſtimmtheit ausgebildet und jeder derſelben ihr eigenthüm-
liches öffentliches Recht gegeben hat. Deutſchland beſitzt nämlich in
ſeinem Gymnaſialſyſtem ein ſpeciell für das Vorbildungsweſen der
Fachbildung (Univerſität) beſtimmtes Syſtem von gelehrten Schulan-
ſtalten, während das durch die Athenäen oder Collèges ausgedrückte
Element in — bis jetzt nur einzeln daſtehenden — Privatunter-
nehmungen vertreten iſt. Das Verhältniß beider zu einander be-
ruht dann wieder darauf, daß die letzteren zugleich meiſt die Fähigkeit
haben, auch als Gymnaſien für die Univerſität vorzubereiten. Daß
jedoch ihre Stellung von der der Gymnaſien im Grunde weſentlich ver-
ſchieden und ſie die alten engliſchen Colleges auf dem Continent ſind,
wird denſelben erſt dann recht klar werden, wenn das Weſen der eigent-
lichen Gymnaſien beſtimmt feſtgeſtellt iſt. Dieß nun kann nur auf
hiſtoriſchem Wege geſchehen. Allerdings gehört dieſe geſchichtliche Ent-
wicklung im Grunde ganz Europa an; allein nirgends wird es ſo klar
wie in Deutſchland, in welcher Weiſe ſich das eigentliche Gymnaſial-
weſen aus der hiſtoriſchen Geſtalt der alten hohen Schule zu ſeiner
ſpecifiſchen Stellung und Aufgabe entwickelt. Wir müſſen daher die
Elemente dieſer Geſchichte hier vorausſenden.
[196]
Auf den Unterſchied der obigen Formen der gelehrten Schulen hat
namentlich Pfaff in einem leider ſehr kurzen Aufſatz im deutſchen
Staatswörterbuch Bd. IV Rückſicht genommen. Er bezeichnet die Ver-
hältniſſe annähernd richtig, aber es läßt ſich das Ganze eben gar nicht
anders als auf hiſtoriſchem Wege verſtehen. Palmer und Pfaff
waren offenbar berufen, in dieſem Sinne die ganze Frage zu einer end-
gültigen Entſcheidung zu bringen. Rümelin, Thaulow und andere
ſtehen dagegen ganz auf dem Standpunkte, den wir als die „Gymnaſial-
frage“ bezeichnen werden. Wir würden eine viel leichtere Aufgabe haben,
wenn wir überhaupt eine Geſchichte der hohen Schulen von einem höheren
Standpunkte beſäßen; denn Meiners hat bei allem Fleiße im Einzelnen
dafür nicht einmal rechtes Material gegeben und Raumer ſie in dem Be-
griff der allgemeinen Culturentwicklung verloren. Vielleicht daß die Ver-
waltungslehre dafür den Anſtoß zu geben berufen iſt; gewiß iſt es, daß ſie
ohne dieſelbe das Gymnaſialrecht nicht zu beherrſchen im Stande ſein wird.
der Gegenwart. (Die Gymnaſialfragen.)
Die Geſchichte des hohen Schulweſens muß davon ausgehen, daß
die concrete Geſtalt und das poſitive Recht deſſelben nicht eben bloß
auf Zufälligkeiten und örtlichen Verhältniſſen und ebenſo wenig auf
den Anſichten der Einzelnen oder der Willkür der Geſetzgeber beruht.
Die hohe Schule als allgemeine germaniſche Inſtitution hat vielmehr
ihre eigene, in ihrer organiſchen Beſtimmung liegende Natur und dieſe
iſt es, welche das Recht derſelben, wenn auch langſam und in ſehr ver-
ſchiedenen Formen, ausgebildet hat. Das Ziel dieſer Geſchichte iſt, wie
ſchon bemerkt, die Ausbildung des ſpecifiſch deutſchen Gymnaſialweſens;
den Inhalt derſelben bilden die verſchiedenen Geſtalten, welche dieſe
Geſchichte hervorgebracht hat; aber die eigentlich bewegende, den Wechſel
dieſer Geſtaltungen erzeugende Kraft iſt jener Unterſchied in der großen
civiliſatoriſchen Funktion der gelehrten Schule, die wir oben bezeichnet
haben und die ſich allmählig an dem Verhältniß zur Univerſität als
ſpecifiſche öffentliche Fachbildungsanſtalt herausbildet.
In dieſem Sinne erſcheint die Geſchichte des hohen Schulweſens
in drei großen Abſchnitten; unſere Gegenwart ſteht im Beginn des
letzten; der Charakter jeder dieſer Abſchnitte iſt im Allgemeinen leicht
zu bezeichnen, aber im Einzelnen bieten dieſelben ein reiches, leider noch
viel zu wenig beachtetes Bild, deſſen Hauptmerkmale wiederum nicht
ſo ſehr in dem didaktiſchen und pädagogiſchen Elemente zu ſuchen
ſind. Es muß vielmehr feſtgehalten werden, daß eben dieſe didaktiſche
[197] Aufgabe der hohen Schulen, ganz gleichgültig dagegen, ob es mit oder
ohne Bewußtſein geſchieht, beſtimmt wird durch die Stellung, welche
die hohe Schule im geſammten Bildungsſyſtem einnimmt. Die Ge-
ſchichte der Lehrpläne und ihres Rechts iſt der Ausdruck der geſchicht-
lichen Entwicklung dieſer organiſchen Stellung jenes Bildungsſyſtems,
während die Geſchichte ihrer Verwaltung durch ihr Verhältniß zur ſtaat-
lichen (adminiſtrativen) Auffaſſung des gelehrten Berufsbildungsweſens
überhaupt bedingt wird.
Die erſte Epoche dieſer Entwicklung des hohen Schulweſens zeigt
uns die hohe Schule in der Geſtalt, in welcher ſie noch eigentlich gar
keine Vorbildungsanſtalt, ſondern die allgemeine höhere Bildungsanſtalt
überhaupt iſt. Man wird dieſe Epoche wieder in zwei Theile ſcheiden
müſſen. Der erſte Zeitraum geht bis zur Erfindung der Buchdrucker-
kunſt. In dieſem Zeitraum beſtehen die Lehrmittel nur noch in den
Manuſcripten, welche ihrerſeits wieder faſt nur in den Klöſtern vor-
handen ſind. An dieſe ſchließt ſich daher das erſte höhere Bildungs-
weſen an; der Mönch iſt der einzige Gelehrte; ſeine Vorleſungen ſind
noch an keine äußere Ordnung gebunden; er hält ſie meiſtens auf Grund-
lage eines Manuſcripts und bringt dann in die Vorträge hinein, was
ihm als nothwendig erſcheint. Das ſind die alten Scholae, die Kloſter-
ſchulen. Die erſte Vorbildung, die claſſiſche Sprache, iſt dabei meiſt
dem Einzelunterricht überlaſſen. Niemand denkt noch daran, eine ſolche
Bildung als Bedingung einer öffentlichen Berufsthätigkeit anzuſehen;
es iſt ein ganz freier Anfang der noch durch keine Tradition und noch
weniger durch ein Geſetz geregelten höhern Bildung überhaupt. Bis
zum dreizehnten Jahrhundert ſtehen dieſe Scholae noch ganz allein da.
Mit dem Auftreten der Univerſitäten aber nehmen ſie allmählig einen
andern Charakter an. Da es nur wenig Univerſitäten gibt, ſo bleiben
ſie noch ein paar Jahrhunderte hindurch die eigentliche höhere Bildungs-
anſtalt; allein für diejenigen, welche die Universitas beſuchen wollen,
werden ſie ſchon jetzt Vorbildungsanſtalten. An ihnen lernt der
künftige Studioſus ſein Latein, die Elemente der Rhetorik, Philoſophie
und Claſſicität; aber er kann ſich auch noch eben ſo gut zu Hauſe für
die Universitas vorbereiten und ebenſowohl kann er von ihnen aus un-
mittelbar ins öffentliche Leben übertreten. Es iſt ein noch ſporadiſches,
nur örtlich geſtaltetes Bildungsweſen. Erſt dann, als die Claſſiker durch
die Buchdruckerei allgemein werden und als ſich an dieſelbe eine ſelb-
ſtändige Literatur und in der letztern eine allgemein gültige, öffentlich
rechtliche Scheidung ihrer Gebiete in Theologie, Medicin, Jurisprudenz
und Philoſophie entwickelt und die Univerſitäten ſelbſt ſich vermehren,
wird das Bedürfniß nach hohen Schulen allgemeiner. Der höhere
[198] Bürgerſtand namentlich fordert ſie; die öffentliche Meinung begrüßt ſie
mit hoher Achtung und allmählig verbreiten ſie ſich, bald durch die
Bürgerſchaften, bald durch Stiftungen gegründet, über alle bedeutenderen
Städte. Aber noch immer haben ſie keinen öffentlich rechtlichen Cha-
rakter als Theil und Glied eines allgemeinen Bildungsſyſtems; ſie ſind
in der That Univerſitäten im Kleinen. Das aber iſt es, was ihnen
zugleich die Grundlagen ihrer inneren Rechtsordnung gegeben hat, die
ſie wenigſtens nach einer Seite hin bis auf den heutigen Tag behalten.
Sie erſcheinen nämlich wie dieſe ihre Vorbilder, als wiſſenſchaftliche
Selbſtverwaltungskörper, oft mit denſelben Namen ihrer Mitglieder
(Rectores, Professores), oft mit andern (Gymnasiarcha etc.); doch
ſtehen ſie nicht mit der ſtändiſchen Souveränetät der Universitas da,
ſondern ſind meiſtens den Biſchöfen oder den Stadtorganen unter-
geordnet. Eben deßhalb iſt auch ihr Name verſchieden; ſie heißen hohe
und gelehrte Schulen, Lyceen, Athenäen; alle dieſe Bezeichnungen be-
deuten, daß ſie die höhere Vorbildung nur noch und ausſchließlich in
der claſſiſchen Bildung finden. Eine Gleichartigkeit des Lehrplanes gibt
es dabei nur ſo weit, als ſie in der Natur der Claſſicität ſelber liegt;
innere Abtheilungen ſind durch die Natur des Bildungsganges ange-
deutet; ihre vorbereitende Stellung gegenüber den Univerſitäten liegt
gleichfalls in der Natur der Sache; ſo ſind alle Elemente der öffentlichen
Geſtaltung vorhanden, aber um die letztere ſelbſt hervorzurufen, muß
ein äußeres Moment hinzukommen. Und dieß bringt die neue, mit dem
ſiebzehnten Jahrhundert allmählig ſich entwickelnde Stellung der Univer-
ſitäten, welche die zweite große Epoche des hohen Schulweſens begründet.
Sowie nämlich mit dem ſelbſtändigen Auftreten der jungen, eigent-
lichen, an das Königthum ſich anſchließenden Staatsverwaltung die
Forderung entſteht, daß jeder öffentliche Beruf zugleich eine beſtimmte
Fachbildung zur Vorausſetzung haben müſſe, ſcheiden ſich die hohen
Schulen mehr und mehr als ſelbſtändige Vorbildungsanſtalten
für die Univerſität. Die ſtrenge Scheidung der Fachbildung an den
letzteren (ſ. unten) macht es ihnen unmöglich, ſich mit der Vorbereitung
weiter zu beſchäftigen; die Univerſität fordert jetzt, daß die Vorbildung
eine fertige ſei, um den Lernenden bei ſich zuzulaſſen und da jetzt
die Verwaltung ihrerſeits die Fachbildung der Univerſität für die öffent-
liche Berufsthätigkeit vorausſetzt, ſo ergibt ſich, daß nunmehr auch das
Vorbildungsweſen für die Univerſität, die hohe Schule, den Charakter
einer öffentlichen, ſtaatlichen Bildungsanſtalt annehmen müſſe.
Das nun wird für das hohe Schulweſen entſcheidend, und jetzt treten
diejenigen Erſcheinungen auf, welche wir in unſerer Zeit als die „Gym-
naſialfragen“ zu bezeichnen pflegen.
[199]
Die erſte und nächſtliegende Frage iſt natürlich die nach dem Ver-
waltungsrecht dieſer Anſtalten. Und hier tritt nun zuerſt die ſtaat-
liche Verwaltung neben der Selbſtverwaltung auf. Der Staat gibt
entweder ganz oder zum Theil die Mittel; der Staat nimmt daher auch
das Recht in Anſpruch, die wirthſchaftliche Verwaltung zu leiten. Er
beſoldet die Lehrer; er gewinnt daher auch das Recht, ſie anzuſtellen
und damit die Berechtigung und Verpflichtung, die Lehrbildung der
Gymnaſiallehrer ſelbſt zu beſtimmen; die letzteren werden Staats-
beamte. Dagegen bleibt die Lehre und neben ihr die innere Disciplin
Sache der hohen Schule ſelbſt; das iſt ihr Erbtheil aus der frühern
Zeit. Um beide zu ordnen, bilden die Lehrer einen ſelbſtändigen Lehr-
körper mit dem Recht der Selbſtverwaltung in dieſen Gebieten. Auf
dieſen formalen Grundſätzen entwickelt ſich die ernſtere und innere Ord-
nung des neuen Lehrweſens.
Die zweite Frage iſt die nach dem Gegenſtand der Lehre. Hier
entſcheidet zuerſt der hiſtoriſche Gang der allgemeinen Bildung. Europa
dankt die letztere den Claſſikern. Es hat noch ſelbſt nicht die Fähigkeit,
etwas Beſſeres zu liefern, als was die Alten darbieten. Seine Hoch-
achtung vor der Claſſicität iſt eine unbedingte. Noch immer iſt die
lateiniſche und griechiſche Bildung mit der allgemeinen Bildung identiſch.
Es entſteht daher anfänglich die Frage gar nicht, worin eigentlich die
Vorbildung für die Univerſität, der Gegenſtand der Lehre an der ge-
lehrten Schule zu beſtehen habe. Sie muß weſentlich und auf allen
Punkten im Griechiſchen und Lateiniſchen beſtehen; daneben gibt es
keine weitere Berechtigung irgend einer Wiſſenſchaft; kaum daß hie und
da die erſten Spuren einer Berückſichtigung der Mathematik ſich an den
Euklid anſchließen; denn nicht daß er Mathematiker, ſondern daß er
ein lateiniſcher Autor war, hat die Mathematik in den hohen Schulen
eingebürgert. Mit dieſer Bildungsaufgabe iſt denn auch das Element
der Klaſſen gegeben. Sie entſtehen von ſelbſt und zwar iſt das
charakteriſtiſche Merkmal ihre Unterſcheidung ganz auf Grundlage der
hiſtoriſchen Entwicklung nicht der Gegenſtand, ſondern der Autor, der
behandelt wird. Endlich tritt allmählig der Grundſatz ein, daß nur
die Abſolvirung der gelehrten Schule das Recht zum Beſuch der Uni-
verſität gebe. Damit iſt denn die Stellung und die ſyſtematiſche Ord-
nung der hohen Schulen feſt begründet. Der Begriff und das Recht
der Gymnaſien ſcheidet ſich von dem der übrigen hohen Schulen;
die Gymnaſien werden die ſyſtematiſche Vorbildungsanſtalt für die Uni-
verſität und weil dieſe die geſetzliche Fachbildungsanſtalt für den Beruf
iſt, die geſetzliche Vorbildungsanſtalt für den Beruf ſelbſt.
Die ſyſtematiſche Stellung der hohen Schulen ſteht feſt; es folgen die
[200] geſetzlichen Statuten und allmählig die geſetzlichen Lehrpläne und mit
dem achtzehnten Jahrhundert gibt es auf dieſe Weiſe ein öffentlich
rechtliches Gymnaſialweſen.
Dieß iſt nun der Begriff, auf deſſen Grundlage es nicht mehr
ſchwierig iſt, ſich über die Entſtehung und Bedeutung der „Gymnaſial-
frage“ einig zu werden.
Trotz jener Stellung nämlich als Vorbildungsanſtalt für die Uni-
verſität bleibt die hohe Schule und ſpeciell auch das Gymnaſium eine
allgemeine Bildungsanſtalt. Für jede Bildung, die über die Volks-
bildung hinausgeht, gibt es noch keine andere Inſtitution. Die hohe
Schule muß daher allein mit ihrer höchſt ſtrengen, ſcharf auf die gram-
matiſche Claſſicität begränzten Lehrordnung allen Anforderungen der
wachſenden Bildung genügen. Hier entſteht nun der erſte Zweifel, ob
ſie das vermag. Und dieſer Zweifel iſt ein wohlbegründeter.
Während nämlich einerſeits die gelehrte Fachbildung ſich immer
beſtimmter entwickelt, ſchreitet nicht bloß im Allgemeinen die Wiſſen-
ſchaft vorwärts, ſondern die mächtigen Elemente der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft beginnen faſt gleichzeitig ſich zu regen. Die freie Selbſt-
thätigkeit des entſtehenden Bürgerthums fordert allmählig auch für das-
jenige eine Bildung, was nicht gerade den wiſſenſchaftlichen Fächern
angehört. Damit entſteht das Bedürfniß nach einer, nicht mehr an
die ausſchließliche Claſſicität gebundenen Bildung und mit ihm das Ver-
ſtändniß derſelben. Man will eine praktiſche Bildung; man beginnt
die rein claſſiſche zu bekämpfen; man kann nicht mehr bei der claſſiſchen
Vorbildung ſtehen bleiben; das geſammte alte, auf der ſtrengen Claſſi-
cität ruhende und ſelbſt geſetzlich anerkannte Bildungsweſen wird er-
ſchüttert und die Frage entſteht, wie ſich das in ſeiner Stellung abge-
ſchloſſene, feſtgeordnete Gymnaſialweſen zu dieſen Anforderungen der
allgemeinen bürgerlichen Bildung zu verhalten habe. Dieſe Frage iſt
die „Gymnaſialfrage.“
Dieſe Frage hat in der ganzen folgenden Zeit zwar denſelben In-
halt, aber nicht dieſelbe Form gehabt. Es iſt von großer Bedeutung,
die verſchiedenen Epochen derſelben zu unterſcheiden.
Die erſte Geſtalt der ganzen Frage beſteht in der Aufſtellung neuer
Methoden für die Vorbildung, aber noch innerhalb der beſtehenden
gelehrten Schulen. Schon das ſechzehnte Jahrhundert bringt die noch
ſehr unklaren Anfänge derſelben mit Ratich (1531—1635), Comenius
(1592—1623) und andern, die, wie das ſtets in ſolchen Fällen ge-
ſchieht, die richtige Gränze überſchreiten und die Funktionen des bloßen
Verſtandes ganz an die Stelle der theoretiſchen Erarbeitung des wiſſen-
ſchaftlichen Stoffes ſetzen. Allerdings wurden dieſe Beſtrebungen von
[201] mancher Seite mit großem Beifall begrüßt; allein hier trat nun die
von dieſen Männern nicht verſtandene Forderung der Verwaltung
viel beſtimmter entgegen, als die theoretiſche Anſicht über den Werth
der Claſſicität gegenüber dem praktiſch-bürgerlichen Bedürfniß. Die
Verwaltung mußte nach wie vor wiſſenſchaftlich auf den Univerſitäten
gebildete Fachmänner für die geiſtigen Berufe fordern; die Univerſitäts-
bildung als Fachbildung aber konnte der ſtrengen Claſſicität nicht ent-
behren; es war daher naturgemäß, daß jene Beſtrebungen die claſſiſchen
Bildungsordnungen der gelehrten Schulen auch nicht zu ändern ver-
mochten. Sie kamen daher in den letzteren nicht nur nicht zur Geltung,
ſondern ſie konnten vernünftiger Weiſe nicht zur Geltung kommen.
Es war nach der ganzen Lage des Fach- und Berufsbildungsweſens
nutzlos, den gelehrten Schulen daraus einen Vorwurf zu machen; in
ihnen war kein Raum für jene Richtung; die gelehrten Schulen blieben,
was ſie waren, die Studienordnungen beſtanden fort und es ergab ſich
daher, daß die praktiſche Bildung aus den gelehrten Schulen aus-
ſcheiden mußte, wenn ſie überhaupt zur Geltung kommen wollte.
Damit beginnt nun eine neue Geſtalt des gelehrten Vorbildungs-
weſens, deren Inhalt der bewußte Gegenſatz derſelben gegen die
in ihren erſten Andeutungen auftretende wirthſchaftliche Bildung iſt.
Der Inhalt derſelben iſt einerſeits allerdings die auch öffentlich recht-
liche Erhaltung der claſſiſchen Bildung als Gegenſtand der Gymnaſien,
mit einer faſt vollſtändigen Ausſchließung der praktiſchen Vorbildung;
er iſt andrerſeits die noch immer geltende Anſicht, daß die wahre höhere
Bildung denn doch nur in den Gymnaſien und Univerſitäten gefunden
werden kann; er behält drittens den öffentlich rechtlichen Grundſatz bei,
daß die Staatsverwaltung demgemäß auch nur die Gymnaſien und
keine andern Vorbildungsanſtalten aus öffentlichen Mitteln zu errichten
verbunden ſei; allein endlich entſteht neben dem Syſtem der gelehrten
Schulen denn doch langſam, aber ſicher das Syſtem des wirthſchaftlichen
Vorbildungsweſens in den Realſchulen. Dieſe ſind noch keine öffent-
lichen Anſtalten; ſie ſind noch nicht allgemein; aber ſie ſind es, welche
in ihrer formellen und rechtlichen Selbſtändigkeit neben den gelehrten
Schulen bereits das wirthſchaftliche Berufsbildungsweſen als zweites
Gebiet des letztern hinſtellen. Eine neue Geſtalt des letztern beginnt
mit ihnen; der Einfluß der praktiſchen Forderungen der großen Grund-
lage der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die Bildung für den Erwerb
und die Anerkennung des Erwerbes als eines ethiſchen Elementes des
Volkslebens, treten in ihnen zuerſt mit entſchiedener Berechtigung auf;
die wiſſenſchaftliche Vorbildung iſt nicht mehr die einzige geiſtige Bil-
dung; und dieſer allerdings in Umfang und Inhalt noch ſehr unſichere,
[202] im Princip dagegen ſchon ſehr beſtimmte Gegenſatz bildet den Charakter
des achtzehnten Jahrhunderts. Es iſt die erſte Form der „Gymnaſial-
frage“ entſchieden als Ausweiſung der praktiſchen Vorbildung aus
den Gymnaſien und Erhaltung ihrer claſſiſchen Aufgabe, durch welche
dann die wirthſchaftliche Berufsbildung des neunzehnten Jahrhunderts
ſelbſtändig ſich entwickelt. Die faſt ausſchließliche Beziehung dieſes ganzen
Gegenſatzes auf die lateiniſche Sprache war nicht, wie der Inhalt
des obigen glauben machen möchte, die Hauptſache, ſondern nur das
Symptom der eigentlichen Gegenſätze; denn in der Erlernung dieſer
Sprache culminirte nur die claſſiſche Bildung im Gegenſatz zur gewerb-
lichen; das Princip der erſteren ging vielmehr weiter und das zeigte
nun das neunzehnte Jahrhundert mit ſeiner gegenwärtigen Geſtalt
der „Gymnaſialfrage.“
Während nämlich in der obigen Weiſe ſich die wirthſchaftliche Be-
rufsbildung neben die claſſiſche ſtellt, bleibt doch die letztere noch
immer die höhere. Unterdeß aber gewinnt das wirthſchaftliche Leben
immer größere Bedeutung und zugleich fallen mit dem neunzehnten Jahr-
hundert die alten ſtändiſchen Schranken zwiſchen den verſchiedenen Lebens-
berufen. Der Maßſtab, den in Folge deſſen das öffentliche Bewußt-
ſein an die Bildung überhaupt legt, wird ein für alle Zweige der-
ſelben gemeinſamer; die wirthſchaftlichen Aufgaben treten in die Sphäre
des „Berufes“ mit ein und der Ausdruck dieſer hochwichtigen Thatſache
iſt die Forderung, daß die Bildung auf allen Punkten die Fähigkeit
enthalten und erzeugen müſſe, die jungen Männer für jeden Beruf
fähig zu machen, oder, wie man zu ſagen pflegte, daß die Bildung
überhaupt, alſo ſpeciell auch Vorbildung, eine „Bildung für das Leben“
und ſeine Bedürfniſſe ſein müſſe. Nun erſchien in der That das bis-
herige Syſtem der claſſiſchen Vorbildung dafür nicht geeignet. Obwohl
es als die höchſte Vorbildung galt, bot es mit ſeiner faſt ausſchließlichen
Beſchränkung auf das claſſiſche Alterthum, doch wie es ſchien jene
Vorbildung „für das Leben“ nicht, welche die Zeit forderte, während
andererſeits die zu immer größerer Bedeutung herangewachſene Real-
bildung wieder unfähig erſchien, das abſtracte höhere Element der
ethiſchen Bildung zu verleihen. So entſtand einerſeits aufs neue der
Kampf gegen das bisherige Gymnaſialweſen als claſſiſches Vorbildungs-
weſen; dießmal aber nicht mehr wie im achtzehnten Jahrhundert, um
die claſſiſche Vorbildung durch die reale wo möglich zu verdrängen und
zu erſetzen, da man recht gut einſah, daß dieß unmöglich ſei, ſo lange
es noch wiſſenſchaftliche Fachbildung gebe, die am Ende niemand läug-
nete; ſondern vielmehr in dem Sinne, daß die reale Bildung ſo weit
als möglich in die claſſiſche aufgenommen und die zu ſtrenge Scheide-
[203] wand zwiſchen den beiden großen Vorbildungsanſtalten damit aufgehoben
werden ſolle. Und dieſe Verbindung der realen Bildung, der Bil-
dung für das Leben mit der claſſiſchen Vorbildung innerhalb der
Gymnaſien iſt nun die Gymnaſialfrage des gegenwärtigen Jahr-
hunderts.
Natürlich konnte dieſer Streit, da die Gymnaſien Staatsanſtalten
waren und bleiben ſollten, nicht bloß ein theoretiſcher ſein, ſondern er
griff auf das Tiefſte auch in das öffentliche Recht der Gymnaſien ſelbſt
hinein, und die Verwaltung — mit ihr die Verwaltungslehre — muß
ihm gegenüber eine beſtimmte Stellung einnehmen. Es iſt aber um ſo
nothwendiger, die letzte zu bezeichnen, als der Streit ſelbſt der Staats-
wiſſenſchaft ganz aus den Händen entglitten und ein rein pädagogiſcher
geworden iſt, wodurch er zwar an Tiefe und Gründlichkeit in allem
Einzelnen gewonnen, an richtigem Ueberblick des Verhältniſſes zum
Ganzen aber verloren hat.
Der Standpunkt der Verwaltungslehre als Lehre vom Bildungs-
weſen iſt nun wie es ſcheint, ein einfacher und klarer.
Wenn die lateiniſche und griechiſche Sprache als Hauptgegenſtand
der Gymnaſien wirklich nichts anderes wären als Vorbildung für die
einzelnen Fächer auf der Univerſität, ſo würden ſie nicht berechtigt ſein,
die bildungsfähigſte Lebenszeit des Menſchen unter dem Namen der
claſſiſchen Bildung auszufüllen. Die Verwaltung müßte daher von
dieſem Standpunkt die Claſſicität auf das äußerſte Maß der wirklich
nothwendigen Spracherlernung zurückführen. Allein jenes erſtere iſt
eben nicht der Fall. Seit namentlich F. A. Wolf in dem Studium
der Claſſiker die Quelle der höheren geiſtigen Bildung und Entwicklung
überhaupt wieder gefunden hat, ſeit damit der Begriff und das Ver-
ſtändniß der „humaniſtiſchen Bildung“ an die Stelle der „gelehrten“
getreten iſt, ſind die alten Sprachen das geworden, was ſie ſein ſollen,
das Medium, durch welches das claſſiſche Leben in dem Leben unſrer
Zeit lebendig erhalten, und das Edelſte der großen Vergangenheit zu
einem integrirenden Theil unſres gegenwärtigen Lebens erhoben wird.
Der Unterſchied des Gymnaſiums des 19. von dem des 18. Jahr-
hunderts beſteht demnach darin, daß die claſſiſchen Sprachen nicht mehr
als ein ſelbſtändiger Zweck, nicht mehr als das Ziel und der Inhalt
der höheren Bildung, ſondern nur als das allerdings einzige
Mittel derſelben erkannt werden. Es iſt unmöglich, in dieſem
Sinne ſie durch etwas vollſtändig zu erſetzen, das nichts als die Vor-
übung für einen poſitiven, wirthſchaftlich nützlichen Zweck
enthält. Wir müſſen das als im tieferen Weſen des geiſtigen Lebens
liegend anerkennen. Wir müſſen das um ſo mehr, als die Erfahrung
[204] zeigt, daß mit der höheren Aufgabe die Fähigkeit der Löſung ſelbſt für
rein praktiſche Zwecke wächst und die Befruchtung des jungen Geiſtes
mit höheren Geſichtspunkten auch für das praktiſche Leben thatſächlich
beſſere Erfolge mit ſich bringt, als die Erlernung von Poſitivem, die
ſtets ohne große Mühe nachgeholt werden kann. Die Unterordnung der
claſſiſchen unter die wirthſchaftliche Vorbildung würde daneben wieder einen
Stand ausſchließlich claſſiſch Gebildeter erzeugen, was ein definitiver
Rückſchritt wäre. Es iſt daher keine Frage, daß grundſätzlich die
claſſiſche Vorbildung auf den Gymnaſien die Grundlage
bilden muß, und daß die praktiſchen Vorbildungen auf demſelben nur
ſo weit Platz greifen darf, als ſie die gründliche claſſiſche Vorbildung
nicht beeinträchtigt. Die Gränze muß von den Pädagogen geſetzt
und von den verwaltungsrechtlichen Studienordnungen zur öffentlichen
Geltung erhoben werden. Auf dieſer Grundlage iſt die Studien-
ordnung des wiſſenſchaftlichen Vorbildungsweſens feſtzu-
ſtellen; in demſelben aber formell der Uebergang zu den Realſchulen
ſtets dem Einzelnen offen zu halten.
Man kann nun wohl ſagen, daß im Großen und Ganzen mit
dieſem Ergebniß die zweite Geſtalt der Gymnaſialfrage abgeſchloſſen hat.
Allein ſie ſelbſt iſt damit nicht erledigt, und namentlich die Verwaltungs-
lehre darf bei ihr nicht ſtehen bleiben, da ſie vor allem berufen iſt,
die Gymnaſien nicht etwa bloß als eine Bildungsanſtalt für ſich,
ſondern eben als Glied des Ganzen, als ein beſtimmtes Organ des
ſich ſelber bildenden Geiſtes der Gemeinſchaft aufzufaſſen.
Indem nämlich durch die möglichſte Verbindung der allgemeinen
Bildung mit der humaniſtiſchen das Gymnaſium ſeine innere Verwandt-
ſchaft mit der Geſittung im ganzen Volksgeiſte bethätigt, tritt es zu-
gleich aus ſeiner beſchränkten Stellung als rein claſſiſche Vorbildungs-
anſtalt hinaus, und es wird nothwendig, in ſeinem Lehrplan das
Princip des Ueberganges nach unten und oben zum Ausdruck zu
bringen. Damit entſteht die Aufgabe, demſelben diejenige Erweiterung
zu geben, mit der es ſich einerſeits der höheren Bürgerſchule nähert,
andererſeits den beſchränkten Charakter als Vorbereitung ſpeciell für die
Univerſität verliert und wieder eine Stellung als Bildungsanſtalt für
die allgemeine höhere Bildung derjenigen einnimmt, welche nicht gerade
in der Lage ſind, die Univerſität benutzen zu können. Die Gymnaſial-
frage der neueſten Zeit beſteht demnach nicht mehr in der Frage nach
dem Verhältniß der Humaniora zu den praktiſchen Fächern, ſondern
ſpeciell in der Frage nach dem Verhältniß der Gymnaſialbildung zum
allgemeinen Bildungsſyſtem. Und dieſe Frage iſt bis jetzt erſt nach
einer Seite hin entſchieden.
[205]
Dieſe Seite beſteht nämlich in der ſyſtematiſchen Verbindung des
Gymnaſialweſens mit dem Elementarſchulweſen. Das Princip
dieſer Verbindung iſt die Idee der inneren Einheit des geſammten
Bildungsganges; der Ausdruck deſſelben iſt die Errichtung der unterſten
Gymnaſialclaſſen, die ſich unmittelbar an die Volksſchule anſchließen.
Darüber iſt im Allgemeinen keine Ungewißheit mehr vorhanden. Wohl
aber iſt die zweite Seite der Sache unentwickelt geblieben. Das iſt
die Fähigkeit der Gymnaſien, eine Bildung zu geben, welche, obwohl
auf dem claſſiſchen Unterricht und ſeinen großen Erfolgen beruhend,
dennoch in ſich ſelbſt und nicht bloß als Vorbereitung für die Univerſität
ihren Abſchluß finde. Das deutſche Gymnaſialweſen hat in ſeiner ſtrengen
Stellung als gelehrte Vorbildungsanſtalt dieſe Fähigkeit verloren.
Wir müſſen auf dieſelbe zurückkommen. Wir müſſen unſere Gymnaſien
hinſtellen als Bildungsanſtalt für die allgemeine Bildung, die der
Fachbildung an der Univerſität entbehren kann, wo der Schüler kein
Fachmann werden will, die aber von jedem der gebildeten Klaſſe Ange-
hörigen beſucht werden muß, und daher neben der Claſſicität die großen
Gebiete der Geſchichte, der Philoſophie, der Staatswiſſenſchaft und der
Naturkunde in ihren allgemeinen Grundzügen ſelbſtändig darbietet. Zu
dem Ende muß an das Gymnaſium eine letzte Claſſe, eine philoſophiſche,
eine Selecta, oder wie man ſie ſonſt nennen will, hinzugefügt werden,
welche dieß für die allgemeine Bildung leiſtet, mit dem beſtimmten Zu-
ſatz, daß ihr Beſuch für das Eintreten in die Univerſität nicht er-
forderlich, wohl aber mit dem Recht der Abgangsprüfung verſehen iſt.
Wir haben die Elemente für dieſe Forderung theils in der Geſchichte,
theils in gewiſſen Privatanſtalten, welche gerade das leiſten. Wir haben
dafür noch die letzten Reſte der alten, allgemeinen Geſchichte in den
Athenäen und Lyceen, die nur in zeitgemäßer Form neu belebt werden
brauchen. Wir haben endlich den Anlaß dazu in der Forderung der
Zeit, welche die höchſte allgemeine Bildung will, und in der ſtrengen,
immer fachgemäßeren Geſtalt der Univerſitäten, welche die Hauptkraft
auf die Specialität wirft. Hier liegt daher, wie wir überzeugt ſind,
die Aufgabe der Zukunft; Deutſchlands Gymnaſialweſen, das beſte der
Welt als Vorbildungsanſtalt für das Fach muß es wieder werden als
Vorbildungsanſtalt der allgemeinen Bildung. Wenn nicht alle Zeichen
täuſchen, ſo gehen wir jetzt dieſer letzten Geſtalt der „Gymnaſialfrage“
entgegen.
Wir können nicht ſchließen, ohne das Verhältniß der Gymnaſial-
literatur zu der oben dargelegten Entwicklung zu charakteriſiren. Dieſe
Literatur iſt in Deutſchland eine faſt unerſchöpfliche; aber ſie bezieht
[206] ſich weſentlich auf die didaktiſche Seite der Sache und ſpeciell auf die
zweite Aufgabe der Gymnaſialfrage, das Verhältniß der humaniſtiſchen
Bildung zur Stellung der Gymnaſien. Dieſe Literatur iſt in ziemlicher
Vollſtändigkeit aufgeführt bei Palmer „Gelehrtenſchulweſen,“ in Schmid,
Encyclopädie, und bei Bauer „Gymnaſien“ ebendaſ. Es läßt ſich
dabei kaum verkennen, daß alle dieſe Arbeiten, und ſo auch die neueſten
von Rümelin und Thaulow darum unzureichend ſind, weil ſie eben
nur vom Gymnaſium ſprechen, ohne die Beurtheilung deſſelben ein
organiſches Syſtem des geſammten Bildungsweſens zum Grunde zu
legen. Es fehlt daher durchgehend die Betonung und Unterſuchung
des Verhältniſſes zur allgemeinen Bildung, und die — gerade für dieſe
ausgezeichneten Fachmänner recht ſchwierige — Erkenntniß, daß Deutſch-
lands Gymnaſialweſen Gefahr läuft, ſich zu pedantiſch auf das reine
Vorbildungsweſen zu beſchränken. Der Gedanke, daß der junge ſelb-
ſtändige Mann ſich nicht für ein Fachſtudium an der Univerſität bilde,
ſondern nur überhaupt die Elemente einer größeren Weltanſchauung
im Gymnaſium ohne eigentliche berufsmäßige Lebensaufgabe gewinne
und grundſätzlich mit dem Gymnaſium abſchließe, iſt der deutſchen
Gymnaſialliteratur verloren gegangen. Ihr fehlt daher auch die Ver-
gleichung ſowohl mit England und ſeinen Colleges, als mit Holland
und der Schweiz und ihren Athenäen, ja ſogar vielfach mit den Lyceen
Frankreichs; der größere Blick iſt nicht ausgebildet; die Gränze iſt das
deutſche Leben und das iſt bei all ſeinem Reichthum denn doch nicht
das Leben der Welt. Speciell aber die Verwaltungslehre darf bei dieſer
Auffaſſung um ſo weniger ſtehen bleiben, als der hiſtoriſche Gang der
großen Gymnaſialfrage die Nichtbeachtung einerſeits des poſitiven Rechts
der Gymnaſien, und andrerſeits ihrer Geſchichte in dem oben ange-
deuteten Sinne erzeugt hat. Wir müſſen es als einen direkten Mangel
in der Gymnaſialliteratur bezeichnen, daß ſie mitten in ihrer großen
Gründlichkeit die eigentliche Thatſache überſieht, daß die bisherige Ver-
waltungslehre, und daß ſpeciell die Rechtsgeſchichte von dem Gymnaſial-
weſen nichts wiſſen. In den ſogenannten Polizeiwiſſenſchaften findet
ſich allerdings, wie wir auch unſererſeits conſtatiren müſſen, gar
kein Verſtändniß für die Sache; in den meiſten wird ſie nicht einmal
mit ihrem Namen erwähnt, und es iſt daher ganz natürlich, daß
ſich ſelbſt die ſchönen neuen Arbeiten von Schmid einfach darauf be-
ſchränken, das beſtehende Recht ohne weitere Entwicklung allgemeiner
Geſichtspunkte ſtatiſtiſch anzuführen. Dennoch gibt es wenig Gebiete,
in denen die wiſſenſchaftliche Auffaſſung mit der poſitiven des Verwal-
tungsrechts ſo eng Hand in Hand gehen ſollten. Denn es darf
nie verkannt werden, daß die pädagogiſchen und methodologiſchen
[207] Arbeiten der Schulmänner bei weitem einflußreicher für das Gymnaſial-
weſen auch in rechtlicher Beziehung ſind, als die juriſtiſchen. Und zwar
zum Ruhme Deutſchlands deßhalb, weil die deutſchen Regierungen faſt
ausnahmslos das öffentliche Recht der Gymnaſialordnungen nach den
Ergebniſſen der theoretiſchen Diskuſſionen gebildet haben. Es müßte
daher nur gewünſcht werden, daß die Gymnaſialliteratur eben das,
was aus ihrer Arbeit direkt oder indirekt hervorgegangen iſt, das Recht
der Anſtalten mehr beachteten.
Freilich hat das wieder eine andere große Vorausſetzung. Wir
ſagen, faſt merkwürdiger Weiſe fehlt eine Geſchichte der hohen Schulen
und zwar in dem Sinne, daß das Verhältniß nicht eben bloß der Lehr-
pläne, ſondern namentlich der hohen Schulen zu dem öffentlichen Recht
und der Verwaltung ohne Berückſichtigung bleibt. Eine ſolche Geſchichte
würde allerdings die Geſchichte des öffentlichen Bewußtſeins über Werth
und Inhalt der höheren Bildung in ihrer juriſtiſchen, legislativen Form
enthalten müſſen; ſie würde mit den tiefſten Beziehungen des geiſtigen
Lebens zuſammenhängen, und könnte gar nicht, weder bloß für Deutſch-
land, noch auch bloß für die Gymnaſien geſchrieben werden. Sie müßte
grundſätzlich einen Theil des öffentlichen Rechts der Volksbildung und
gewiß die rechtliche Stellung der Univerſitäten zur Berufsbildung,
namentlich auch die Geſchichte des Prüfungsweſens umfaſſen. Die Ele-
mente dieſer neuen Geſchichte ſind ſehr gut bei Palmer a. a. O. ge-
geben, jedoch ohne Rückſicht auf das öffentliche Recht; Pfaff im Staats-
wörterbuch iſt ſehr kurz, aber mit richtigem Verſtändniß. Das ältere
Recht entbehrt gänzlich der Bearbeitung. Dennoch hat ſchon Secken-
dorf in ſeinem deutſchen Fürſtenſtaat Th. II. §. 4 „die dritte
Art der Schulen, nämlich ein Gymnaſium oder Landesſchule“ in ihrer
ganzen damaligen Stellung ſehr gut bezeichnet (1660). Wir dürfen hier
den betreffenden Paſſus aufführen, da er den Zuſtand des 17. Jahr-
hunderts gut kennzeichnet. Seckendorf unterſcheidet die „gemeinen
Stadtſchulen,“ in denen „die lateiniſche Sprache nur ſo weit mit Nutz
getrieben wird, daß die Schüler nach Erforderniß der Sprachkunſt oder
Grammatik etwas füglich zuſammen ſetzen und leichte Lateiniſche Schrifften
verſtehen und erklären lernen“ von dem Gymnaſium. In dieſem werden
„die erſten und leichteſten praecepta Rhetorica et Logica, auch wohl
Physica und Mathematica, nichtsweniger auch ein kurzer Auszug der
Welt- und Kirchengeſchichte getrieben. Eine General-Superintendenz
aber, oder andere deß Landesherrn Geiſt- und Weltliche Räthe führen
nächſt denſelben in ſolchen Gymnasiis die oberſte Inſpektion, fordern
zu dem Ende gewiſſe Instructiones, und liegt Ihnen ob, die Praecep-
tores Gymnasii öfters zu viſitiren und Erforſchung zu haben, wie ſie
[208] dem fürgeſchriebenen Methodo (!) nachgehen.“ Auch gibt es ſchon Examina
für die „Fortſetzung der Schuljugend von einer Claß zur andern“ und
„was dergleichen Punkten mehr ſind, welche bei wohlverfaßten Schulen
pflegen in Acht genommen zu werden.“ Hier ſind alſo ſchon alle Ele-
mente des eigentlichen öffentlichen Gymnaſialweſens angedeutet; es
käme nur darauf an, dieſen Angaben nachzugehen. Was die Ent-
ſtehung der Gymnaſien betrifft, ſo hatte das 17. Jahrhundert eine ſehr
reiche Literatur darüber, die ſich ſpeciell an die Frage anſchloß, ob
der Status Imperii das Recht hatten, ſolche Gymnasia zu errichten.
Dieſe — gänzlich unbenützte Literatur iſt wohl vollſtändig bei
Vitriarius III. L. III. T. V. 55. aufgeführt. Hier ſind auch die
erſten Gymnaſien angegeben; 1523 Gymn. Goldbergense in Schleſien,
1538 Gymn. Argentoratense (a senatu Oppidano), 1542 Elbigensis
Schola, 1543 Meißen und Merſeburg, Pfordta, 1544 Gotha und
Lauingen. Die übrigen Scholae des 16. Jahrhunderts mit der be-
treffenden Literatur und den Quellen bei Vitriarius Ill. L. III. T. II. 55.
(ſ. auch unten bei den Univerſitäten). Außerdem Heineccius Dis-
sertatio de jure principis circa studia 1738. Dazu Moſer (Ver-
ordnung der Landeshoheit in Polizeiſachen Bd. III. §. 10). Die aus-
führlichſte, aber ſyſtemloſe Behandlung bei Meiners, Geſchichte der
Entſtehung der hohen Schulen (Göttingen 1802, 4 Bd.), noch immer
das bedeutendſte Werk. Die innere Staatsrechtslehre hat, man kann
ſagen, mehr und mehr die Gymnaſialfrage fallen laſſen, da ſie als
reine Verwaltungsmaßregel erſchien und der Begriff der Verwaltung
und ihres Rechts nicht vorhanden war. Auch das was Berg in
ſeinem Polizeirecht Th. VI. Bd. II. S. 383—627 darüber an einzelnen
Geſetzen des vorigen Jahrhunderts ſammelt, iſt weder irgendwie voll-
ſtändig, noch auch nach einem beſtimmten Princip zuſammengetragen,
während ſeine eigene Darſtellung (der Benützung werth) Bd. II. S. 299
vielfache richtige Momente enthält, ohne doch zu einem ſyſtematiſchen
Abſchluß zu gelangen. Ihm iſt wie ſeinen Vorgängern das Recht
auf Errichtung meiſt wichtiger als der Lehrplan. Nachher verſchwindet
das Gebiet ganz. Wie kurz und unbedeutend iſt was Klüber (Oeffent-
liches Recht §. 499), Zachariä (Deutſches Staats- und Bundesrecht
Bd. II. §. 178), ſelbſt der treffliche Aretin (Conſtitutionelles Staats-
recht Bd. II. 1. Abth. §. 5) darüber ſagen? Andere wie Gönner,
Leiſt, Maurenbrecher, ſelbſt der ſonſt ſo unermüdliche Zöpfl be-
rühren die ganze Frage gar nicht, ſo daß wir bis jetzt nicht bloß das
Urtheil, ſondern ſelbſt das Material aus den Händen der Pädagogen
empfangen. Hier iſt alſo für die neuere Geſchichtsforſchung noch faſt
alles zu leiſten.
[209]
Das öffentliche Recht der Gymnaſien beſteht demnach in der Ge-
ſammtheit derjenigen Beſtimmungen, durch welche die Verwaltung die
in den Gymnaſien zu gebende wiſſenſchaftliche Vorbildung für die Fächer
der Univerſität ordnet.
Die Gebiete des Syſtems dieſes Rechts ſind naturgemäß die-
ſelben wie beim Volksſchulrecht. Die Beſtimmungen deſſelben ſind aber
im Weſentlichen in allen deutſchen Ländern ſo gleichartig, daß faſt nur
auf dem Gebiete der Methodologie noch bedeutſame Unterſchiede ob-
walten. Dieſe ſpeciellen Beſtimmungen müſſen daher für jedes Land
auf die feſten Kategorien des Syſtems zurückgeführt werden. Dieſe ſind
folgende.
I. Die Gymnaſien oder gelehrte Schulen ſind der Regel nach
Staatsanſtalten. Sie ſtehen daher unter der Staatsverwaltung.
Allein ihr Organismus iſt ein von dem der Volksſchulen weſentlich
verſchiedener. Die Verhältniſſe deſſelben theilen ſich in zwei Gebiete:
dem zur allgemeinen Verwaltung des ſtaatlichen Bildungsweſens
oder dem Unterrichtsminiſterium, und dem ihrer inneren Verwaltung.
Das Verhältniß zum Miniſterium iſt in dem allgemeinen Orga-
nismus deſſelben gegeben. Die gelehrten Schulen ſtehen jedoch faſt
nirgends direkt unter der höchſten Reichsſtelle, ſondern zunächſt unter
der höchſten Landesſtelle. Das Referat iſt einem eigenen Departe-
ment übergeben.
Die innere Verwaltung dagegen iſt nach der Grundlage ihrer
Vorbilder, der Univerſitäten geordnet und beruht auf dem Princip der
im Lehrkörper gegebenen Selbſtverwaltung für das Lehrweſen.
Das Gymnaſium tritt dabei nach außen vermöge des Lehrkörpers als
ein Ganzes auf und entſcheidet ſeine Lehrangelegenheiten gleichfalls
durch denſelben. Die Spitze bildet meiſt der Rektor; doch wird der-
ſelbe nicht gewählt, ſondern von der Regierung ernannt. Die Rechte
deſſelben ſind zwar nicht allenthalben gleich, aber doch faſt durchgehend
formeller Natur.
Da endlich die Gymnaſien Staatsanſtalten ſind, ſo trägt der
Staat die Koſten derſelben und hat daher auch über die Ausgaben die
allein entſcheidende Stimme. Der Lehrkörper hat nur Wünſche auszu-
ſprechen. Die Frage, wie weit neben dem Staate die Landſchaften mit
beizutragen haben, iſt verſchieden geordnet.
Auf Grundlage dieſer ſeiner Leiſtungen hat nun der Staat das
Gymnaſialweſen einer eigenen Geſetzgebung unterworfen, welche die
Stein, die Verwaltungslehre. V. 14
[210] obigen, ſo wie die folgenden Punkte als öffentliches Recht derſelben
beſtimmen. Es verſteht ſich, daß dieſelben wieder ihre Geſchichte haben;
die neueſten Grundſätze ſind dagegen noch nicht allenthalben in dieſe
Geſetzgebungen aufgenommen.
II. Die Lehrer ſind aus dem obigen Grunde Staatsbeamtete
mit feſtem Gehalte und Penſion. Das Schulgeld iſt nach dem
Muſter der Univerſitäten wohl allenthalben eingeführt, wird aber meiſtens
nach der Zahl der Lehrer vertheilt. Von großer Wichtigkeit iſt die
Lehrerbildung. Die Grundlage derſelben iſt meiſt die Fachbildung
der Philologie an den Univerſitäten; mit richtigem Verſtändniß haben
jedoch die meiſten Regierungen den Schwerpunkt in die Lehrer-
prüfungen gelegt und dieſe durch oft ſehr genaue Beſtimmungen ge-
ordnet. Ihre Grundlage iſt meiſtens die Aufſtellung eigener Lehrer-
ſeminarien (philologiſche Seminarien) an den philoſophiſchen Facul-
täten mit beſtimmter Organiſation. Mit großem Recht halten die Re-
gierungen allgemein daran feſt, daß die wahre Grundlage der Bildung
nicht in formalen Anordnungen, ſondern in der perſönlichen Thätigkeit,
in dem intellectuellen und ſittlichen Einfluß der Lehrer liege.
III. Die Lehrordnung beruht zunächſt auf dem ſtreng durch-
geführten, ſyſtematiſch geordneten Claſſenſyſtem; mit Aufnahms-,
Uebergangs- und Abgangsprüfungen. Hier iſt natürlich das
eigentliche Gebiet der Gymnaſialfragen, auf welchem die Pädagogik
ſich faſt ausſchließlich bewegt. Der Streit der Anſichten, der wie
oben dargelegt, weſentlich auf dem Werthe der claſſiſchen Bildung
für das praktiſche Leben beruht, hat nun aus dem früher einfachen
Gymnaſium mit ſeinen naturgemäßen Claſſenabſtufungen ein Schul-
ſyſtem erzeugt, deſſen Weſen und Bedeutung darin beſteht, einer-
ſeits mit der claſſiſchen Vorbildung ſogleich an die Elementarbildung
anzuſchließen, anderſeits in einer formell noch unklaren Weiſe
die Elemente der claſſiſchen Bildung in das wirthſchaftliche Vorbildungs-
ſyſtem ſo weit aufzunehmen, als der Einzelne es wünſcht. Aus
dieſen beiden Richtungen ſind nun die zwei Formen des Gymnaſiums
hervorgegangen, welche wir die Untergymnaſien und die Real-
gymnaſien nennen und welche für das Verhältniß der claſſiſchen
Bildung und ihre Auffaſſung in unſerer Gegenwart von hoher Bedeu-
tung ſind.
Die Untergymnaſien ſetzen die vollendete Elementarbildung
voraus. Sie unterſcheiden ſich jedoch von den Bürgerſchulen dadurch,
daß ſie mit ihrer Lehre nicht auf eine abgeſchloſſene Bildungsſtufe be-
rechnet, ſondern in ihrem Lehr- und Claſſenſyſtem ſo eingerichtet ſind,
daß ſie eine Weiterbildung grundſätzlich vorausſetzen. Sie ſind daher
[211] für die erſten Jahre des wirklichen Lernens beſtimmt und ihr Lehr-
princip iſt es, den Elementarunterricht, namentlich der alten
Sprachen zu geben, in dem Sinne und Umfang, daß das, was ſie
hier bieten, werthlos bleibt, wenn nicht irgend eine andere Weiter-
bildung ſtattfindet. Während daher der Eintritt in die Bürgerſchule
die Abſicht vorausſetzt, mit derſelben abzuſchließen, hat der Eintritt
in das Untergymnaſium nur dann einen Sinn, wenn der Uebergang
in eine der beiden folgenden Stufen beabſichtigt wird. Dadurch ſind
ſie ein ſelbſtändiges Bildungsorgan.
Freilich iſt es dabei der Sache nach gleichgültig, ob dieſe Unter-
gymnaſien auch formell und räumlich von den Obergymnaſien getrennt
ſind oder nur als die unteren Claſſen des Gymnaſiums überhaupt
erſcheinen, das in dieſem Falle für ſeine unterſte Claſſe mit dem
neunten Jahre anfängt und mit ſeiner oberſten bei dem Abgang für
die Univerſität aufhört; denn jene unterſten Claſſen haben hier in allen
wohl eingerichteten Gymnaſien genau die Funktion der Untergymnaſien.
Die Gränze liegt dabei im Objekt. Das Obergymnaſium — oder
die höhere Claſſengruppe — beginnt da, wo der Schüler von der Gram-
matik zum Leſen eines Claſſikers übergeht, womit dann wieder der
griechiſche Elementarunterricht verbunden wird. So greifen dieſe
Studien in einander und erſt jetzt iſt das Weſen der Realgymnaſien
klar zu beſtimmen.
Von den Untergymnaſien kann nämlich die weitere Vorbildung
entweder zur eigentlich claſſiſchen, oder zur wirthſchaftlichen über-
gehen. Aus dem Bedürfniß nun, die letztere des höheren claſſiſchen
Elementes nicht entbehren zu laſſen, iſt nun der Verſuch hervorge-
gangen, Anſtalten zu errichten, in welchen die wirthſchaftliche Vorbildung
allerdings die Hauptſache iſt, jedoch die claſſiſche auf Grundlage der
in dem Untergymnaſium erworbenen lateiniſchen Elementarbildung
ſpeciell für das Lateiniſche ſo weit zu führen, daß die römiſche Claſſi-
cität gewonnen wird, während die griechiſche Elementarbildung des
Obergymnaſiums wegfällt und an ihre Stelle die wiſſenſchaftlich-reale
Vorbildung tritt. Eine ſolche Anſtalt, welche ſo in eigenthümlicher
Weiſe die Realbildung mit der claſſiſchen verbindet und in der römiſchen
Claſſicität den inneren Uebergang zur claſſiſchen Bildung überhaupt
feſthält, iſt das ſogenannte Realgymnaſium. Obwohl nur noch in
einzelnen Beiſpielen vorkommend, hat es dennoch eine große Zukunft.
Bei der Unfertigkeit des Bildungsproceſſes dieſer Organiſation hat
es nun einen entſchiedenen Werth, ſich dieſe Verhältniſſe in ein feſtes
Schema zu bringen. Daſſelbe iſt folgendes, mit ſyſtematiſcher Beziehung
auf die Elementarbildung.
[212]
IV.Neben den Staatsanſtalten beſtehen nun Privatlehran-
ſtalten. Das Princip für dieſelben iſt, daß ſie das Recht der Gym-
naſien, ſpeciell alſo das Recht durch ihre Prüfungen die Reife zum
Uebergange an die Univerſität zu conſtatiren, nur unter den geſetzlich
vorgeſchriebenen Bedingungen in Beziehung namentlich auf das Lehrer-
weſen und das Lehr- und Claſſenſyſtem erfüllen. Keinenfalls kann die
Entwicklung ſolcher Privatgymnaſien als etwas wünſchenswerthes be-
zeichnet werden, da ſie entweder einen Mangel im öffentlichen Syſtem
der wiſſenſchaftlichen Vorbildung anzeigen, oder zu einem ebenſo be-
denklichen Mangel an Strenge der Bildung hinneigen.
Im Allgemeinen iſt ein großer Unterſchied in der Entwicklung des
öffentlichen Rechts und der Organiſation des Gymnaſialweſens zwiſchen
Nord- und Süddeutſchland unverkennbar. Jenes hat den Charakter
der Staatsanſtalten und der ſtaatlichen Leitung ſchon faſt mit Anfang
dieſes Jahrhunderts ausgeprägt; dieſes hat das Gymnaſialweſen erſt
zum Theil ſeit 1830 und entſchiedener ſeit 1848 aus ſeiner ſtändiſchen,
unfreien und vielfach ganz äußerlichen Begränzung auf claſſiſche
Grammatik zum humaniſtiſchen Geiſte erhoben. Es iſt höchſt merk-
würdig, wie Oeſterreich, bis 1848 mit der unfreieſten ſeit 1848 ſich
zur freieſten Gymnaſialordnung erhoben und in jener Geſetzgebung
ſich neben die andern Staaten geſtellt hat. Leider fehlen uns ge-
nügende Zuſammenſtellungen; die betreffenden Artikel in Schmid ſind
in Beziehung auf das öffentliche Recht ſehr ungleichmäßig gearbeitet
und dennoch für manches die bisher einzige Quelle.
Oeſterreich. Der Unterſchied von öffentlichen und Privatgym-
naſien geſetzlich anerkannt, jedoch Grundſatz des Beſtehens einer Prüfung
an einem öffentlichen Gymnaſium, um ſtaatsgültige Zeugniſſe zu er-
werben (Organiſation vom 15. September 1849, §. 8). — Organi-
[213] ſation: Landesſchulbehörde, Miniſterium. Das Patronat iſt gänzlich
beſeitigt. Inneres: Direktor und Lehrerconferenz, ſämmtliche ordent-
liche und Hülfslehrer. Hauptgeſetz: Organiſation der Gymnaſien (und
Realſchulen) in Oeſterreich, publicirt 15. September 1849, nebſt einigen
neueren Anordnungen (StubenrauchII. §. 394). Lehrer ſind ordent-
liche und Hülfslehrer. Das Lehrerbildungsweſen durch Miniſterial-
Erlaß vom 24. Juli 1856 ſtreng geordnet: Maturitätsprüfung, drei-
jähriger Curſus an der Univerſität; Lehramtsprüfung; darauf noch ein
Probejahr als Hülfslehrer (ſpecielle Darſtellung bei StubenrauchI.
§. 55). — Gymnaſien ſind vollſtändig in acht Klaſſen, je vier das
Unter- und Obergymnaſium; erſteres kann mit einer Realſchule ver-
bunden ſein (Verhältniß des Realgymnaſiums nicht klar). Lehrplan
vorgeſchrieben. Aufnahms-, Verſetzungs- und Abgangsprüfungsſyſtem
(StubenrauchII. 395—398).
Die vollſtändigſte und gründlichſte Darſtellung des öſterreichiſchen
Gymnaſialweſens iſt die von Ficker bei Schmid V. S. 355—476. Die
Geſchichte hauptſächlich nach Hochegger, öſterreichiſche Gymnaſien,
(Oeſterreichiſche Revue 1863. Bd. I.) Charakteriſtiſch iſt dabei die Stellung
der philoſophiſchen Studien vor und nach 1848. (Alte Ordnung vom
12. Juli 1805; neuer Lehrplan vom 10. Juli 1819. Aeltere Verſuche
und Beſtrebungen bis 1849.)
Preußen. Hier iſt noch keine Einheit und kein einheitliches
Geſetz, weil viele Gymnaſien noch auf alten Stiftungen beruhen und
die Rechtsverhältniſſe von Körperſchaften haben. Rönne, Unterrichts-
weſen II. 73. 74. Deſſen Staatsrecht II. §. 449. Note 9). Das
Gymnaſialrecht erſcheint daher bei aller Uebereinſtimmung in der
Hauptſache doch als ein provinzielles; nur in einzelnen Punkten
iſt auch die formelle Einheit hergeſtellt. Daher zwar Aufſicht der
Provinzialſchulcollegien, allein daneben noch vielfach die Patrone der
ſtändiſchen Epoche. Die Schulordnungen daher noch örtlich, nach
dem noch geltenden Princip des Allgemeinen Landrechts II. 12. 55
(Rönne, Staatsrecht I. §. 203. II. 241). Rechte der Patrone jedoch
weſentlich nur bei Beſetzung der Lehrerſtellen (RönneII. 448 u. 449).
Lehrerbildung an den Univerſitäten; der Schwerpunkt auch hier im
Prüfungsweſen daſſelbe. Genau bei Rönne, Unterrichtsweſen II.
22—64. Grundlage das Edikt vom 12. Juli 1810; genauer ausge-
führt im Reſcript vom 20. April 1831 und Reſcript vom 29. September
1838. Probejahr: Reſcript vom 27. November 1858. Charakteriſirt
bei Lübker, „Gelehrtenſchulweſen“ (Schmid, Encykl. II. 679). Rönne,
Staatsrecht II. §. 293. Anerkennung als Commentator (Rönne ebend.
I. §. 203). Die Lehrerverhältniſſe in Preußen ſind ſehr gut charakteriſirt
[214] von Palmer „Gelehrtenſchulen“ bei Schmid a. a. O. S. 678 f. nebſt
Literatur. Ueber das Klaſſenſyſtem Thilo ebend. I. 787.
Bayern. Kurze Geſchichte von Klemm bei Schmid I. 445. —
Erſter eigentlich ſtaatlicher, allgemeiner Schulplan im Allg. Normativ
von 1808; vier Klaſſen. Darauf ſeit 1820 heftige Schwankungen; es
iſt der Proceß des Losreißens des Gymnaſialweſens von den noch immer
nicht überwundenen Elementen der alten Kloſterſchulen, unter denen es
ſo lange gelitten; Schul- und Studienordnungen von 1824; Aufgabe
der Gymnaſien: „das geſteigerte grammatiſche und humaniſtiſche Stu-
dium“ (Formationsverordnung vom 17. December 1825). Erſt 1829 der
Standpunkt klar ausgeſprochen: „die dem Studium ſich widmende Jugend
für die Univerſität geiſtig zu ſtärken und gründlich vorzubereiten,“
dabei viel Unfertigkeit und experimentirendes Schwanken; ſ. die Re-
daktionsbemerkung bei Klemms Aufſatz S. 457. 458 und Ingrelio,
über den Zuſtand der gelehrten Schulen 1841. Die Schulordnung vom
13. März 1830 durch die revidirte Schulordnung vom 24. Febr. 1854
aufgehoben; die nothwendige Einheit jedoch nicht gewonnen. Das
Schulſyſtem enthält den Unterſchied der „lateiniſchen“ Schule,
die den Untergymnaſien entſprechen, jedoch noch großentheils als ſog.
„iſolirte“ Schulen weder das, noch Realgymnaſien ſind, ſondern den
Charakter von Bürgerſchulen haben; mit Abgangsprüfungen (Pözl,
Verwaltungsrecht §. 191). Die „Gymnaſien,“ vier Klaſſen, ſind die
Obergymnaſien, Staatsanſtalten, mit humaniſtiſcher Aufgabe, miniſterielle
Anſtellung der Lehrer, Lehrerconferenz der „Gymnaſialprofeſſoren“ und
dem Rector; doch ſollen die Gymnaſien weſentlich auch „durch fortge-
ſetzte Unterweiſung im Chriſtenthum durch Uebung und Zucht die chriſt-
liche Bildung fördern“ (Pözl §. 192). Lehramtscandidaten werden
geprüft; hier ſcheint die Vorbildung mangelhaft. Die Kreisregierungen
haben nur die Oberaufſicht. — Neben dieſen Gymnaſien beſtehen noch
„Alumnate“ aus der ſtändiſchen Zeit, prieſterliche Gymnaſien mit eigener
Verwaltung, die mit der Schulordnung nur nicht „in Widerſpruch
ſtehen dürfen“ (Schulordnung §. 99. Concordat und Vollzugsverord-
nungen vom 8. April 1852) und außerdem noch „Lyceen“ mit zwei-
jährigem Curſus für „philoſophiſche“ Disciplinen als Vorbereitung für
die Univerſität, die entweder nothwendig ſind und dann den Gymnaſien
allgemein eingeordnet werden, oder überflüſſig und dann aufgehoben
werden müßten; ganz unorganiſch iſt die Beſtimmung, daß ihre „Vor-
leſungen“ dann der Univerſitäten gleich geachtet werden müßten (vgl.
Pözl, Verwaltungsrecht §. 194. 195). Thierſch wichtige Thätigkeit
dabei. Seine Schrift: Ueber gelehrte Schulen, mit beſonderer Rückſicht
auf Bayern. Privatſchulen: unter Genehmigung und Oberaufſicht;
[215] gleichfalls unbeſtimmt (Roth, das Gymnaſialſchulweſen in Bayern
zwiſchen 1824 und 1843). So gehört das bayriſche wiſſenſchaftliche
Vorbildungsweſen zu dem unfertigſten in Deutſchland.
Baden. Auch hier iſt die Klarheit über das Verhältniß zwiſchen der
ſtaatlichen und ſtändiſchen Leitung der wiſſenſchaftlichen Vorbildung noch
nicht ganz entſchieden. Das Jahr 1834 brachte einen weſentlichen Fort-
ſchritt in der Verordnung über das Gelehrtenſchulweſen vom 31. Dec. 1836
und 18. Februar 1837. Grundlage iſt noch die confeſſionelle Be-
ſtimmtheit, ein im übrigen Deutſchland lang überwundener Standpunkt.
Organiſation: Oberſtudienrath, zum Theil Oberkirchenrath; Beſtimmung
der Lehrbücher noch nach der Beſtätigung der letzteren. Die Lehrer
ſind nur zum Theil Staatsdiener; philologiſche Seminare an den Univer-
ſitäten, jedoch bisher noch ohne Prüfungsſyſtem; Anſtellung trotzdem vom
Staate. Eine beſtimmte Organiſation in Unter- und Obergymnaſien findet
nicht ſtatt; ſtatt deſſen allerlei Combinationen. Die Gymnaſien (Lyceen)
haben acht Klaſſen (Dr.Holtzmann bei Schmid I. 400—412). Indeſſen
iſt man auch hier im Fortſchritt begriffen, zunächſt in dem wichtigſten
Punkte, der Lehrerbildung. Die Verordnung vom 5. Jan. 1867 hat ein
vollſtändiges Bildungs- und Prüfungsſyſtem für alle Lehrer an den gelehrten
und höheren Bürgerſchulen eingeführt, nebſt den philologiſchen und päda-
gogiſchen Seminarien; die Prüfungen ſind in obligatoriſche und facultative
getheilt; das Syſtem derſelben erſcheint als ein ſehr beachtenswerthes.
Hannover. Ein trefflicher Artikel von Geffert bei Schmid III.
263—319 mit ſchöner hiſtoriſcher Einleitung; die einzige uns bekannte
geſchichtliche Behandlung des Gymnaſialweſens (vgl. dazu über die neueſte
Entwicklung Kohlrauſch, das höhere Schulweſen des Königreichs Han-
nover ſeit ihrer Organiſation im Jahr 1830. Hannover 1850). Grund-
lage der neuen Geſtaltung (Verordnung vom 11. September 1829), wo-
durch die Gymnaſien definitiv als Vorbildungsanſtalten für die Uni-
verſitäten aufgeſtellt werden; Schwerpunkt die Maturitätsprüfungen.
Errichtung des Oberſchulcollegiums (Patent vom 2. Juli 1830);
Gründung des Seminars 1842, mit Statuten vom 27. Febr. 1846,
nebſt zwei wichtigen Circulären über die Lehrerbildung vom 10. und
11. December 1840. Bemerkenswerth die Organiſation der Schul-
collegien, in welchen die Organe der Gemeinde, der Kirche und des
Staats Lehrerconferenzen bilden. Die gelehrten Schulen ſind ſelbſt theils
königliche (10), theils ſtädtiſche (16), theils Stiftungsſchulen (2). Vor-
ſtand der Rector (Director). Syſtem in Gymnaſien und Progymnaſien;
doch iſt das Verhältniß zur wirthſchaftlichen Vorbildung noch nicht recht
klar, da die letztere ihrem Weſen nach Realgymnaſien, ihrer Form nach
Untergymnaſien ſind (vgl. Geffert S. 293).
[216]
Braunſchweig. Unbedeutende Angaben von J. H. C. Schmid
in Schmids Encyklopädie I. S. 746.
Kurheſſen. Einzelne Monographien über die einzelnen gelehrten
Schulen bei Bezzenberger in Schmid, Encyklopädie v. Kurheſſen
S. 499. Die neue Organiſation iſt von 1833—1835; Dienſtanweiſung
für die Lehrer der kurheſſiſchen Gymnaſien 1849 und Regulative für
Abhaltung von Lehrerconferenzen 1849. Ein allgemeines Geſetz beſteht
nicht. Doch ſind die Gymnaſien Staatsanſtalten, mit je ſechs Klaſſen;
ſtehen unmittelbar unter dem Miniſter des Innern. Ein feſtes Prü-
fungsſyſtem ſcheint zu fehlen. Ueber die Lehrordnung auch noch in
neueſter Zeit viel Streit, mit ſpezieller Beziehung auf den Verſuch,
ſtatt ſelbſtändige Realgymnaſien zu errichten, vielmehr Realfächer in die
Gymnaſien hineinzubringen, was zur Ueberlaſtung der letzteren führte.
Literatur dieſes Streits bei Bezzenberger a. a. O. S. 506 bis 507.
Heſſen-Darmſtadt. Die Gymnaſien ſind Staatsanſtalten. Ein-
theilung in acht Klaſſen. Griechiſch erſt von VI. an. Akademiſche Bil-
dung der Lehrer; ſpezielle Prüfung derſelben und ein Probejahr. Lehrer
ſind Staatsdiener. Anſtellung vom Großherzog. Abgangszeugniſſe für
die Univerſität (Strack bei Schmid Encykl. v. Heſſen-Darmſtadt. Nebſt
Literatur des dortigen Gymnaſialweſens III. 518—526).
Sachſen. Verordnung vom 21. März 1835, die Verhältniſſe der
Behörden für die ſtädtiſchen Gymnaſien betreffend. Grundſatz: „daß
alle wichtigeren Angelegenheiten der Gymnaſien der gemeinſamen Be-
rathung und Beſchlußnahme der Lehrercollegii unterliegen.“
Monatliche Verſammlung. Zweite Inſtanz: Schulcommiſſion: aus dem
Geiſtlichen, einem Stadtrath und einem Gemeindeglied, mit Oberauf-
ſichtsrecht über Lehrer und Schüler und weſentlich auch der ökonomiſchen
Verhältniſſe der Schule. Halbjährliche Prüfungen und Maturitäts-
prüfung (claſſiſche Schriftſteller). Ueber die Gymnaſialprüfungen iſt das
Mandat vom 4. Juli 1829 erlaſſen, nebſt Regulativ von 1831. Oberſte
Behörde: Miniſterium des Cultus.
— Wir glauben hieran einen Blick auf Holland anſchließen zu
ſollen, da die Gymnaſialverhältniſſe dieſes Landes dadurch ſo intereſſant
ſind, daß ſie uns den Kampf zwiſchen dem deutſchen und franzöſiſchen
Syſtem und den definitiven Sieg des erſteren über das letztere zeigen,
zugleich aber in hohem Grade wichtig ſind für die Beurtheilung der
gegenwärtigen Gymnaſialfrage. In Holland ſtand das ganze gelehrte
Berufsbildungsweſen bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts für die
Vorbildung auf dem engliſchen, für die Fachbildung (Univerſitäten) auf
dem deutſchen Standpunkt. Das hohe Schulweſen theilte ſich in Latei-
niſche und Athenäen; die erſteren waren Vorbildungsanſtalten für die
[217] letzteren, die letzteren aber hatten neben ihrer Vorbildung für die Uni-
verſität zugleich die allgemeine Bildung zur Aufgabe, jedoch wie noch
jetzt in England mit weſentlicher Beſchränkung auf die claſſiſche Bil-
dung. Mit der Eroberung Hollands durch die Franzoſen wurde nun
das franzöſiſche Syſtem, wenn auch nicht für die Fachbildung, ſo doch
für die Vorbildung eingeführt, trotz der Abneigung der Bevölkerung.
Kaum war nun die franzöſiſche Herrſchaft geſtürzt, ſo griff das hollän-
diſche Volk ſofort wieder auf die germaniſche Grundform ſeines Bil-
dungsweſens zurück. „Die geſetzlichen Beſtimmungen, unter denen die
höhere Bildung in unſerem Vaterland litt, ſo lange der Kaiſer der
Franzoſen das Land beherrſchte, konnten unter der Regierung unſeres
Königs nicht lange geduldet werden. Ein neues Geſetz für den höheren
Unterricht mit dem Geiſte unſerer niederländiſchen Volksthümlichkeit
(land aard), deſſen Ueberlieferungen (gehedstheid) und alten Gewohn-
heiten übereinſtimmend, ſchien nothwendig und wird in den nördlichen
Provinzen am 2. Auguſt 1815 ins Werk geſetzt“ (Vorrede zur Samm-
lung der Geſetze und Verordnungen über den höheren Unterricht, mehr-
fach aufgelegt ſeit 1834). Die Auffaſſung iſt in dieſem Geſetz vom
2. Auguſt 1815, das gegenwärtig in voller Kraft beſteht, höchſt be-
zeichnend. Art. 1 lautet: „Unter dem Namen des höheren Unterrichts
(hooger onderwijs) wird derjenige Unterricht verſtanden, der zum Zweck
hat, den Schüler nach Ablauf des niederen und mittleren Unterrichts
zu einem gelehrten Stand in der Geſellſchaft vorzubereiten.“
Die gelehrte Vorbildung ſelbſt zerfällt in zwei große Abtheilungen, die
lateiniſchen Schulen und die Athenäen. Wir müſſen dieß hier beſonders
hervorheben, weil unſres Wiſſens nirgends der Charakter der Athe-
näen gegenüber den Gymnaſien ſo deutlich ausgeſprochen iſt als in
Holland; denn die lateiniſchen Schulen ſind nicht Untergymnaſien,
ſondern wahre Gymnaſien, indem der Abgang von ihnen zum unmittel-
baren Eintritt in die Univerſität befähigt (Art. 148 u. 149). Der Lehr-
plan der lateiniſchen Schulen iſt durch ein eigenes, übrigens viel zu
engherziges Reglement vom 20. April 1816 feſtgeſtellt, welches ſogar
die Lehr- und Leſebücher geſetzlich vorſchreibt. Die Athenäen dagegen
(11 Hauptſt.) werden in ſo klarer Weiſe in ihrer ganzen Stellung
bezeichnet, daß wir uns zur näheren Erklärung unſerer oben ausge-
ſprochenen Anſicht nicht verſagen können, die geſetzliche Beſtimmung hier
wörtlich wiederzugeben. Die Aufgabe der Athenäen iſt nach Art. 36:
1) „ſo viel als möglich die allgemeine Verbreitung von Geſchmack
und geiſtiger Bildung (beschauing geleerdheid); 2) die wenigſtens
theilweiſe Vertretung der hohen Schulen und des akademiſchen Unter-
richts für diejenigen jungen Leute, welche durch die Umſtände
[218] verhindert werden, die Zeit, die für eine akademiſche Laufbahn noth-
wendig iſt, an einer der Univerſitäten zuzubringen.“ Das Charakteriſtiſche
dabei iſt, daß in dieſen Athenäen Vorleſungen über alle Fächer der
Univerſität gehalten werden. Das ausführliche Lehrreglement iſt
vom 18. Juli 1816 (Deventer). Die Städte ſelbſt tragen die Koſten
der Athenäen und haben daher die Verwaltung derſelben; nur wo der
Staat die Gehalte zahlt (Harderwijk and Franeker), ſetzt er die Pro-
feſſoren ein. Der Uebergang von den Athenäen an die Univerſitäten
iſt zugelaſſen (Art. 47). Der Mangel dieſer Einrichtung beſteht nun
nicht in den Athenäen, ſondern offenbar darin, daß dieſelben hier noch
wie in früherer Zeit in Deutſchland, bis zu einem gewiſſen Grade das
Recht auf Ausübung der Berufsthätigkeit geben. Das iſt allerdings
zu vermeiden und Deutſchland hat volles Recht, dafür nur ſeine
Univerſitäten anzuerkennen. — In Belgien iſt das Vorbildungsweſen
durch das Geſetz vom 1. Juni 1850 geordnet, in welchem das obige
holländiſche Syſtem nach franzöſiſchem Muſter umgeſtaltet iſt; hier exiſtiren
die Athenées royaux als höheres Gymnaſium und die Écoles moyennes
inférieures. Jene ſind halb Staats- und halb Gemeindeanſtalten und
haben das franzöſiſche Bifurcationsſyſtem aufgenommen (de Fooz,
Droit adm. belge. T. IV. T. 2. p. 331 sq.; ſ. aber beſonders Belgien
von Le Roy in Schmids Encyklopädie). Die belgiſche Gränze iſt daher
auch hier die Gränze zwiſchen dem germaniſchen und romaniſchen Princip.
(Das Univerſitätsweſen.)
Das deutſche wiſſenſchaftliche Fachbildungsweſen für die ſpeziellen
geiſtigen Lebensberufe beſteht in ſeinen Univerſitäten. Daſſelbe hat
einen ſo klaren, ausgeprägten Charakter, daß ſelbſt die Einzelheiten
nur in unbedeutendem Grade verſchieden ſind. Es iſt gar kein Zweifel,
daß es in allen Punkten die höchſte Organiſation der Fachbildung dar-
bietet. Es iſt die freieſte edelſte Verbindung des ſtändiſchen mit dem
ſtaatsbürgerlichen Element, welche die Geſchichte kennt, und dadurch
nicht bloß die Grundlage der wiſſenſchaftlichen Entwicklung, ſondern
auch der tüchtigen Verwaltung. Es iſt, wenn man ins Einzelne ein-
geht, ein unendlich reiches, wenn man bei dem Ganzen ſtehen bleibt,
ein unendlich einfaches Gebiet. Wir dürfen das erſtere als bekannt
vorausſetzen; es wird für die Verwaltungslehre hier kaum noch vieles
fraglich ſein. Eine Darſtellung des Univerſitätsweſens in Deutſchland
in ſeinen einzelnen Theilen, Beziehungen und Aufgaben könnte nur bei
einer Bearbeitung Werth haben, welche einen Umfang hätte, der in
[219] keiner allgemeinen Verwaltungslehre überhaupt Raum finden würde.
Dagegen glauben wir allerdings, daß das Univerſitätsweſen als Gan-
zes nicht als eine abgeſchloſſene Frage zu betrachten, und daß es die
Verwaltungslehre iſt, welche berufen erſcheint, dieſe Seite der Sache
theils anzuregen, theils zum Abſchluß zu bringen.
In der That nämlich ſtehen die Univerſitäten in ihrer gegenwär-
tigen Stellung namentlich in Deutſchland, eben ſo wie die hohen Schulen,
in einem doppelten Verhältniß, deſſen beide Seiten auch hier wohl ge-
ſchieden werden müſſen, um das Univerſitätsweſen und die ſich daran
knüpfenden Fragen zu beantworten. Die Univerſitäten ſind nämlich
einerſeits die Vertreter der höchſten Wiſſenſchaft und mithin der höchſten
geiſtigen Bildung an ſich, ganz abgeſehen von der praktiſchen Brauch-
barkeit derſelben; anderſeits ſind ſie derjenige Organismus, vermöge
deſſen die Verwaltung die höchſte Ausbildung für die ſpeciellen geiſtigen
Berufe darbietet. Die Forderungen, welche aus dem erſten dieſer Mo-
mente hervorgehen, beziehen ſich daher auf die reine Wiſſenſchaft, und
erzeugen die freien geiſtigen Funktionen derſelben. Die Forderungen
dagegen, welche durch das zweite geſetzt werden, ſind durch die Ver-
waltung bedingt, und ſchließen ſich an die Natur derjenigen Funk-
tionen, welche die letztere im weiteſten Sinne zu vollziehen hat. Immer
aber und ſo auch hier, gehen nun die geltenden rechtlichen Beſtimmun-
gen aus ſolchen Forderungen hervor, die das Leben mit ſeinem geiſti-
gen oder ſtaatlichen Inhalt an ſeine Organe ſtellt. Die Natur der
Univerſitäten bringt es daher mit ſich, daß ſich vermöge jener Doppel-
aufgabe beſtändig zwei große Rechtsſyſteme in demſelben kreuzen, be-
gegnen und beſtimmen; die Geſtalt des öffentlichen Rechts derſelben
drückt ſtets das Verhältniß dieſer beiden Elemente zu einander in irgend
einem gegebenen Zeitpunkt aus; der poſitive Charakter des Univerſitäts-
weſens hängt ſeinerſeits davon ab, und die Geſchichte des letzteren iſt
daher im Großen und Ganzen als das Ergebniß der Stellung anzu-
ſehen, welche die Verwaltung zu der berufbildenden Funktion
der Univerſität in den verſchiedenen Zeiten eingenommen hat. In
dieſem Sinne nun hat jede Epoche ihre „Univerſitätsfrage“; die Ver-
waltungslehre aber muß ihrerſeits gerade das, was wir als Univer-
ſitätsfrage bezeichnen, als ihre ſpecifiſche Aufgabe betrachten.
Indem wir nun wie geſagt die allgemeine Bekanntſchaft mit der
Organiſation und der Thätigkeit der Univerſitäten vorausſetzen, können
wir jene Aufgabe der Verwaltungslehre, und damit den Standpunkt
der Beurtheilung des poſitiven Univerſitätsweſens am klarſten formu-
liren, indem wir dasjenige bezeichnen, was jenen beiden Elementen
ihren faßbarſten Ausdruck gibt, und daher in ſeiner Wechſelwirkung
[220] auch die Grundlage des poſitiven Univerſitätsrechts gibt. Die an ſich
freie wiſſenſchaftliche Funktion der Univerſitäten iſt nämlich gegeben in
dem großen hiſtoriſchen Princip der Selbſtverwaltung des Lehrweſens.
Das Verhältniß zum Staat und ſeinem Berufsbildungsweſen dagegen
erſcheint in den geſetzlichen Studienordnungen. Die Oberaufſicht des
Staats über die Univerſitäten iſt wiederum nicht ſpeciell durch das
Weſen der letztern, ſondern durch den Begriff des Selbſtverwaltungs-
körpers überhaupt geſetzt, eben ſo wie die Pflicht des Staats die Uni-
verſitäten zu erhalten, nicht aus ihm allein, ſondern aus dem Begriff
des Bildungsweſens überhaupt folgt. Der Kern der Univerſitätsfrage
liegt daher für dieſelben ſpeciell in jenem, den Univerſitäten als orga-
niſchem Gliede des ganzen Bildungsweſens eigenthümlichen Gegenſatz.
Ihn zu finden iſt aber nicht Sache der Methodologie, welche durch
das reine Weſen der Wiſſenſchaft, ſondern Sache der Verwaltungslehre,
welche durch die Bedürfniſſe und den Entwicklungsgang des öffentlichen
Lebens beſtimmt wird.
Von dieſem Standpunkt aus ſcheidet ſich nun die Geſchichte des
Univerſitätsweſens in gewiſſe große Perioden, bei deren Darſtellung und
Charakteriſirung wir natürlich die ganze bisherige Auffaſſung voraus-
ſetzen dürfen. Vielleicht daß das beſte Kriterium des Werthes der
letzteren gerade darin liegt, die ſonſt faſt endloſe Entwicklungsgeſchichte
der deutſchen Univerſitäten auf ihren einfachſten Grund leichtverſtändlich
zurückzuführen.
Die erſte große Epoche des öffentlich rechtlichen Univerſitätsweſens
beruht darauf, daß die Univerſität noch gar nichts anders iſt, als ein
durchaus ſelbſtändiger, ſtändiſcher Körper für die ſtändiſche Berufs-
bildung. Sie macht in dieſer erſten Periode noch gar nicht den An-
ſpruch darauf, daß ihre Bildung die rechtliche Bedingung für die öffent-
liche Ausübung des Berufes ſein ſolle. Sie läßt den Geiſtlichen, den
Richter, den Arzt, den Lehrer und Gelehrten ſich bilden wie er will;
ſie nimmt jeden auf; ſie fragt nicht, ob das was ſie ihm in ihrer Lehre
bietet, für ihn praktiſch zu gebrauchen iſt oder nicht; ſie ſchließt nieman-
den aus von irgend einem Theile ihrer Lehre; ſie prüft niemanden als
wer ſich ſelbſt prüfen laſſen will; ſie ſchreibt ſich ſelber vor worüber ſie
zu prüfen hat; ihre Grade ſind nicht das Recht einen Beruf auszu-
üben, ſondern nur das Recht zu ſagen, daß man eine Fachbildung
durchgemacht hat. Sie iſt daher auch in ihrer Verwaltung ſouverain.
Sie hat ihr eigenes Haupt, ihr eigenes Vermögen, ihre eigene Gerichts-
barkeit; kurz ſie iſt im vollſten Sinne des Wortes ein ſtändiſcher Kör-
per. Die Verwaltung des Staats hat mit ihr noch gar nichts zu thun;
wollte ſie aber auch in ſie hineingreifen, ſie vermöchte es nicht, denn in
[221] dieſer erſten Epoche iſt ſie ſelbſt noch gar nicht genug entwickelt, um
mehr als die abſtrakte Vorſtellung von dem Werthe und der Funktion
der Univerſität zu haben. Beide große Faktoren der künftigen Staats-
bildung ſtehen noch ganz getrennt. Das geſammte öffentliche Recht der
Univerſität iſt das der ſtändiſchen Selbſtverwaltung.
Den Uebergang von dieſer erſten Periode zur zweiten bildet das
Auftreten der ſelbſtändigen Entwicklung der eigentlichen Verwaltung,
die ſich allenthalben an das Königthum anſchließt. Wir können dieſe
Zeit ungefähr ins ſechzehnte Jahrhundert ſetzen. Die Buchdruckerkunſt
hat bereits die Werke der alten Claſſiker und der jungen Gelehrten all-
gemein gemacht; die Zahl der Univerſitäten iſt vermehrt; auch dem
Minderbemittelten iſt es möglich ſie zu beſuchen; die Zahl der wiſſen-
ſchaftlich Gebildeten ſteigt mit jedem Jahre; die neue Verwaltung, ihrer-
ſeits vielfach in heftigem Gegenſatz zu der Unwirthſchaft der grundherr-
lichen Verwaltung, ſieht ſich mehr und mehr um nach Männern, die
eine ſelbſtändige Bildung haben; ſie fängt allmählig an, dieſelbe als
Bedingung für gewiſſe Berufsthätigkeiten zu fordern; die Funktion der
Univerſitäten wird als eine der großen Vorausſetzungen des Sieges der
neuen Staatsgewalt über das ſtändiſche Weſen erkannt; in allen Theilen
der Verwaltung ſitzen bereits Beamtete, die ihre Univerſitätslaufbahn
durchgemacht; der Richter muß das römiſche Recht, der Arzt die wiſſen-
ſchaftliche Medicin, der Lehrer die Philoſophie, ſelbſt der Geiſtliche muß
die Theologie methodiſch kennen. So kann denn nun auch die Univer-
ſität nicht länger in ihrer ſtarren Abgeſchiedenheit von dem Fortſchritte
der übrigen Welt bleiben. Was ſie wiſſenſchaftlich leiſtet, iſt hier nicht
die Frage; aber es iſt ihr Verhältniß zur Verwaltung, es iſt ihr öffent-
liches Recht, das durch jene Bewegung erfaßt wird. Indem der Staat
die wiſſenſchaftliche Bildung fordert, muß er die Mittel derſelben her-
ſtellen; indem er die Mittel hergibt, gewinnt er ein Recht auf Theil-
nahme an der Thätigkeit jener Organe; ſo zieht er allmählig aber un-
widerſtehlich die altſtändiſche Univerſität in das junge Syſtem ſeines
Bildungsweſens hinein; ſie wird faſt unwillkürlich ein Glied deſſelben;
ſie muß, wollend oder nicht, allmählig ihre wiſſenſchaftlichen Funktionen
nach den Forderungen richten, welche der Staat an den künftigen Be-
amteten ſtellt; ſie muß daran denken, den Prüfungen zu genügen, um
derentwillen der Student die Vorleſung beſucht; es bildet ſich ein tra-
ditioneller Lehrplan aus; derſelbe erweitert ſich allmählig mit dem wach-
ſenden Bedürfniß, und wird in ſich immer abgeſchloſſener und feſter mit
der wachſenden Gleichartigkeit des Amtsweſens; und ſo entſteht einer-
ſeits der Grundſatz, daß die Univerſitätsglieder Staatsbeamtete ſind,
und anderſeits wird die unabweisbare Nothwendigkeit der Harmonie
[222] zwiſchen der Lehre und den Prüfungen in geſetzlichen Studien-
ordnungen ausgeſprochen. So hat ſich jetzt die neue Stellung der
Univerſitäten gebildet. In dieſer iſt das Princip der Selbſtverwaltung
nicht aufgehoben, aber es iſt durch den geſetzlichen Studienplan be-
ſchränkt, und zwar deßhalb, weil dieſe Studienordnung als die Be-
ſtimmung desjenigen erſcheint, was das öffentliche Leben als Minimum
der Bildung für einen öffentlichen Beruf fordert. Die Ver-
waltungslehre muß ausdrücklich betonen, daß dieß der Sinn der ge-
ſetzlichen Studienpläne iſt, und daß darauf ihr Recht beruht, die freie
Bewegung der Wiſſenſchaft in feſte Geſtalt zu bringen. Sie ſind es,
welche das Verhalten der ſpeciellen Univerſitätsbildung zum Bildungs-
weſen überhaupt formuliren; ihr Inhalt geht nicht von der Wiſſenſchaft
als ſolche, ſondern von den Forderungen der Verwaltung aus; ſie ſind
die wichtigſten Verwaltungsmaßregeln für das höhere geiſtige Leben
des Volkes geworden.
Das nun, was wir hier bezeichnet haben, bildet im Großen und
Ganzen den Gang des öffentlichen Rechts der Univerſitäten während des
ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Am Ende deſſelben und im
neunzehnten iſt die große hiſtoriſche Univerſitätsfrage entſchieden. Die
Univerſitäten ſind jetzt Staatsanſtalten des Berufsbildungs-
weſens, empfangen ihre ſpezielle Lehraufgabe vom Staate, werden
von ihm erhalten, ſtehen unter dem allgemein bürgerlichen Recht, und
es bleibt ihnen aus der ſtändiſchen Epoche nichts als die Selbſtverwal-
tung der Lehre innerhalb der geſetzlichen Gränze. Das iſt der Zu-
ſtand in dem wir uns befinden.
Indem wir nun dabei ganz von dem fachwiſſenſchaftlichen Inhalt
dieſer Stellung abſehen, müſſen wir es verſuchen, dieſelbe auf diejeni-
gen Punkte zurückzuführen, in denen ſich dieſes Princip des öffentlichen
Rechts der Univerſität als Charakter des deutſchen Univerſitätsweſens
der Gegenwart zu einem Syſtem formulirt. Dieſes Syſtem des Uni-
verſitätsrechts iſt einfach, ſo wie man es an die oben angelegten Punkte
anſchließt.
In der That hat nämlich der Staat, indem er die Univerſitäten
zu Staatsanſtalten machte, das Weſen derſelben bei ſeinem Eingreifen
in ihre Selbſtverwaltung mit vollem Bewußtſein feſtgehalten und einer-
ſeits das Verhältniß derſelben zur allgemeinen, anderſeits zur Fachbil-
dung zum Ausdruck gebracht. Die beiden leitenden Grundſätze für das
dadurch entſtandene Univerſitätsrecht, an welches ſich dann die Univer-
ſitätsformen der Gegenwart anſchließen, ſind folgende.
Zuerſt hat die Staatsverwaltung das im Weſen der Univerſität
liegende Princip geſetzlich durchgeführt, daß die allgemeine Bildung
[223] einen geſetzlich anerkannten Theil der Fachbildung ausmachen ſoll.
Die Anerkennung dieſes Princips erſcheint in der Beſtimmung, daß für
jedes Fach die Theilnahme an Vorleſungen über Geſchichte und Philo-
ſophie vorgeſchrieben ſind. Die weitere Ausführung deſſelben iſt in der
Zuſammenſtellung der obligaten Vorleſungen, beziehungsweiſe der Prü-
fungsgegenſtände jedes einzelnen Faches enthalten. Das Streben, die
allgemeine Bildung in der Univerſitätsbildung feſtzuhalten und dadurch
außer dem Zweck der Fachwiſſenſchaft auch die Idee der Wiſſenſchaft an
ſich zu verwirklichen, das Aufrechthalten des urſprünglichen Weſens der
Universitas literarum gehört Deutſchland an, und bildet eine der großen
Grundlagen der Stellung der Univerſitäten überhaupt. In dieſem
Punkte muß der eigentliche, ſpecifiſche Charakter der deutſchen Uni-
verſität geſucht werden; der Grundſatz, daß jede Univerſität aus der
Verbindung aller Fakultäten beſtehen müſſe, iſt in der That nur eine
äußerliche Form und Bedingung deſſelben Princips, welches die Ge-
ſchichte und Philoſophie zu integrirenden Theilen der Fachwiſſenſchaft
gemacht hat. Es wäre eine der wichtigſten culturhiſtoriſchen Aufgaben
der Geſchichte der Univerſitäten, nachzuweiſen, wie ſich das Princip der
Theilnahme der Fachbildung an der philoſophiſchen Fakultät und ihren
Vorleſungen bei den einzelnen Univerſitäten geſtaltet hat, wie es im
ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhundert damit gehalten wurde, und
wie weit dieſer Grundſatz in die obligaten Studienplane aufgenommen
iſt. Es iſt eine andere Frage, ob und in welcher Weiſe namentlich die
Philoſophie Schuld trägt an ihrer Entfremdung von den praktiſchen
Wiſſenſchaften; wir haben dieſe Frage hier nicht zu unterſuchen. Wohl
aber dürfen wir die Thatſache conſtatiren, daß der Geiſt der deutſchen
Univerſitäten ſich eben durch Philoſophie und Geſchichte als Gemeingut
aller Fakultätsbildung die volle Empfänglichkeit für die höchſte allge-
meine Bildung erhalten hat, und wir haben alles Recht, das an und
für ſich nicht bloß als einen wahren Schatz unſeres höheren Lebens an-
zuſehen, ſondern auch mit allen Mitteln dahin zu trachten, daß dieß
Streben gefördert und damit der Verflachung der wiſſenſchaftlichen Auf-
faſſung vorgebeugt werde!
Der zweite Moment des Univerſitätslebens, die ſpecielle Fachbil-
dung, iſt nun daneben von den Verwaltungen gleichfalls, und im Grunde
mit noch mehr Nachdruck gefördert worden. Den Ausdruck dafür bildet
das das ganze Univerſitätsweſen durchziehende Princip der Speciali-
ſirung der Fächer, und der Aufſtellung von Specialanſtalten für
einzelne Berufszweige. Es wäre eine zweite Aufgabe der Geſchichte der
Univerſitäten, das Entſtehen und die Entwicklung dieſer Specialfächer
und Anſtalten genauer zu verfolgen und nachzuweiſen, wie ſie meiſtens
[224] im Anfange als freie Collegien auftraten, bis ſie allmählig zu feſten
Beſtandtheilen der Lehre wurden; wie anderſeits ſich durch Sammlungen
und Nebenanſtalten (Bibliotheken, botaniſche Gärten, Kliniken u. ſ. w.)
ſelbſtändige Zweige herausbilden, und wie endlich die Verwaltung durch
eigene Prüfungen dieſe ſpeciellen Richtungen ſanktionirt. Freilich be-
ſteht hierin wohl der größte Unterſchied unter den deutſchen Univerſi-
täten, und hier liegt auch die Entſcheidung über die Frage der Anlage
von Univerſitäten in großen Städten. Die Grundlage und das Streben
iſt jedoch allen gleich, und die Verſchmelzung gerade dieſer Specialbil-
dungen mit den allgemeinen macht aus den deutſchen Univerſitäten das
was ſie ſind und ſein ſollen.
Allein gerade dies letztere Element hat nun wieder eine, unſerer
Epoche ſpecifiſch angehörige Frage hervorgerufen. Die formelle Auf-
nahme der Univerſitäten in das geſammte Bildungsweſen des Staats
hat die ſpecielle Berufsbildung für jedes einzelne Fach nicht länger als
eine freie Aufgabe eines Einzelnen, ſondern als eine Angelegenheit des
öffentlichen Rechts erſcheinen laſſen. Daraus hat die Verwaltung die
Berechtigung abgeleitet, den Bildungsgang des Einzelnen geſetzlich vor-
zuſchreiben. So iſt dasjenige entſtanden, was wir den geſetzlichen
Studienplan, und die in ihm entſprechenden obligaten Collegien oder
Pflichtvorleſungen nennen. Gegen dieß Princip der Pflichtvor-
leſungen hat ſich nun ein heftiger Kampf erhoben. Ihnen gegenüber
wird der Grundſatz aufgeſtellt, daß die Bildung, und vor allem die
höhere Bildung frei ſein, das heißt in Umfang und Inhalt von der
freien Selbſtbeſtimmung des Studirenden und nicht von formalen Vor-
ſchriften abhängig ſein ſolle. Dieſen Grundſatz bezeichnete man als den
der Lernfreiheit. Pflichtvorleſungen und Lernfreiheit gehören dem-
nach nicht dem Begriff der Wiſſenſchaft, ſondern dem der Verwaltung
an; die Ordnung derſelben iſt eine Sache des öffentlichen Rechts, und
es iſt daher die Verwaltungslehre, welche über dieſe Frage zu ent-
ſcheiden hat.
Für dieſe Entſcheidung nun muß man den hiſtoriſchen von dem
adminiſtrativen Standpunkt unterſcheiden. Der geſetzliche Studienplan
nämlich iſt zunächſt ein Ausfluß der polizeilichen Epoche überhaupt,
welche die Wohlfahrt durch Regierungsmaßregeln, und nur durch ſie,
erzwingen wollte. In ihrem Sinne war auch die Univerſität nichts
als eine ſtaatliche Bildungsanſtalt, und der geſetzliche Studienplan
ſetzte an die Stelle der freien individuellen Entwicklung des Geiſtes die
obrigkeitliche Bevormundung ſelbſt auf dem Punkte, wo ſie dem Weſen
der Sache nach am unmöglichſten erſchien, in dem höchſten geiſtigen
Bildungsproceß der Univerſitätslehre. Es war natürlich, daß mit
[225] unſerem Jahrhundert das Princip der Freiheit des Staatsbürgerthums
ſich auch dagegen empörte; die Lernfreiheit war der Ausdruck der allge-
meinen Bewegung der Geiſter innerhalb des Gebietes des Univerſitäts-
ſtudiums und ſchien daher mit ihr ſtehen und fallen zu müſſen. Das
iſt ihre hiſtoriſche Stellung; ſie iſt ein Theil des großen Kampfes gegen
die polizeiliche Bevormundung des Geiſtes, und in dieſem Sinne eine
natürliche, vollberechtigte Erſcheinung unſeres Jahrhunderts.
Allein wie alle dieſe Bewegungen war ſie naturgemäß nur negativ.
Sie überſah das zweite Element in jener geſetzlichen Ordnung. Sie
vergaß, daß der geſetzliche Studienplan zugleich die Aufgabe hatte,
durch ſeine Vorſchriften ein Minimum der organiſchen Fachbildung
im öffentlichen Intereſſe zu ſichern. Sie ſah zwar ſehr deutlich, auf
welchen Punkten dieſe geſetzliche Ordnung nichts nützten und geradezu
ſchadeten; ſie ſah aber nicht, wo und wie ſie daneben zugleich heilſam
wirkte. Sie begnügte ſich mit der an ſich richtigen Ueberzeugung, daß
die Verwaltung die Bildung durch keine geſetzlichen Vorſchriften er-
zwingen könne, und mit der abſtrakten Hoffnung, daß die Macht des
Geiſtes an ſich ſtark genug ſein werde, um die jungen Männer zur
Wiſſenſchaft auch ohne alle Vorſchrift zu ſich heran zu ziehen. Sie ließ
aber die Frage unerörtert was zu geſchehen habe, wenn dieß nicht der
Fall wäre. Sie entſprach daher dem Geiſte der Zeit und ſeinem leben-
digen Aufſchwung; aber ſie entſprach nicht dem richtigen, durch keine
glanzvolle Anſchauung geblendeten praktiſchen Bedürfniß der Fachmänner.
Sie vermochte daher auch nicht, durch ihre viel zu allgemeine Tendenz
das Gegebene zu ändern. Bis zu unſerer Zeit blieben trotz derſelben
die geſetzlichen Studienpläne beſtehen, und neben ihnen ſtand unver-
mittelt ihr Gegenſatz in der abſtrakten Forderung der Lernfreiheit. Dieß
ſcheint die gegenwärtige Sachlage.
In unſerer Zeit nun iſt es wohl kein Zweifel, daß wir dieſe Lern-
freiheit nicht mehr im Namen der allgemeinen ſtaatsbürgerlichen Frei-
heit, wie zur Zeit Schleiermachers zu fordern haben. Die Verwaltungs-
lehre erkennt das Princip der Lernfreiheit unbedingt an. Aber ſie muß
im Namen des öffentlichen Intereſſes die Frage aufſtellen, ob dieſe
unbedingte Lernfreiheit im Stande iſt, die Gewähr für dasjenige
Maß der Berufsbildung zu bieten, ohne welches die Berufsfunktionen
den Anforderungen unſerer Zeit nicht genügen. Iſt das nicht der Fall,
ſo muß auch hier die Verwaltung fordern, daß die individuelle Freiheit
ſich dem Geſammtintereſſe unterordne, und ſomit die Begränzung des-
ſelben zu einem Theile des öffentlichen Bildungsrechts mache.
Offenbar nun wäre jene Gewähr bei unbedingter Lernfreiheit nur da
denkbar, wo das Syſtem der Prüfungen ausreichte, jenes Minimum
Stein, die Verwaltungslehre. V. 15
[226] der Berufsbildung in jedem Falle zu garantiren. Da nun dieß nicht
der Fall iſt, ſo folgt, daß eine gewiſſe geſetzliche Studienordnung
als ein nicht füglich zu entbehrendes Element des Fachbildungsrechts
angeſehen werden muß. Allein dieſe Beſtimmung des individuellen
Lehrganges muß auf dem Grundſatze beruhen, daß ſie nur dasjenige
geſetzlich vorſchreibt, was die Natur des Bildungsganges als ſelbſtver-
ſtändlich fordert, ſo daß die Nichtbeachtung deſſelben an und für ſich
ſchon als eine Gefährdung einer tüchtigen Bildung angeſehen werden
muß. Innerhalb dieſer Gränzen darf ſie nicht die freie Wahl erſetzen.
Sie ſoll daher das geringſte Maaß der Pflichtcollegien fordern, die Ord-
nung und Reihenfolge derſelben aber dem individuellen Ermeſſen über-
laſſen. Ihr Werth kann vernünftiger Weiſe nicht dadurch beſtritten
werden, daß man ſagt, die Uebung oder der geſunde Verſtand werde
jenes Maß von Collegienbeſuch auch ohne Geſetz herſtellen, oder da-
durch, daß die Ausführung der geſetzlichen Vorſchrift im einzelnen Falle
doch nicht erzwungen werden kann. Denn der erſte Grund würde jede
verwaltungsrechtliche Beſtimmung überflüſſig machen, da am Ende jede
nur das fordern ſoll, was der Verſtändige auch ohne ſie thut oder
unterläßt, und das zweite hat ſie mit gar vielen andern öffentlichen
Vorſchriften gemein. Gewiß iſt nur das, daß zu ausgedehnte geſetz-
liche Studienpläne, wie ſie namentlich bei den techniſchen Anſtalten
in neuerer Zeit eingeführt ſind, den geiſtigen Bildungsgang zu einem
mechaniſchen zu machen drohen, während das völlige Aufheben jeder
Verpflichtung zum Beſuche von Vorleſungen gleichbedeutend mit der
Aufhebung der Verpflichtung zum Beſuche der Univerſität überhaupt
iſt, und zu einem Vorwande entweder für Trägheit oder für eine ganz
unſyſtematiſche und willkürliche Berufsbildung wird. Die große Un-
klarheit in der Vorſtellung von der Lernfreiheit beſteht nämlich darin,
die Freiheit allgemeiner Bildung auf die Bildung für den Beruf
anwenden zu wollen, und den zu Bildenden als einen fertigen Mann
anzuſehen, während der zu ſtrenge Studienplan den angehenden Mann
noch als einen reinen Schüler behandelt. So iſt hier die Hauptſache
das richtige Maß in den Beſtimmungen über den Studienplan, und
das muß für jeden Beruf beſonders beſtimmt werden. Eine gänzliche
Beſeitigung iſt undenkbar; welches Vertrauen würde man zu einer ärzt-
lichen Bildung haben, in der die Verwaltung geſetzlich den Beſuch der
Klinik, oder zu einer Lehrerbildung, in der dieſelbe die Theilnahme an
den Seminarien ganz in das Ermeſſen des Einzelnen ſtellt? Kommt
doch ſelbſt England in neueſter Zeit zur Ueberzeugung, daß ſeine ab-
ſolute Lernfreiheit ein nicht haltbarer Standpunkt iſt. Wohl aber muß
es vollkommen freiſtehen, die Univerſität auch ohne formell abſolvirte
[227] Vorbildung zu beſuchen und ohne alle Beſchränkung Collegien zu hören
oder nicht zu hören, wo der Betreffende nicht den Anſpruch macht ſpäter
in einen öffentlichen Beruf einzutreten. Die Verwaltung hat nur da
die Pflicht und damit auch das Recht zur Aufſtellung eines geſetzlichen
Studienplanes und eines öffentlichen Prüfungsſyſtems, wo große öffent-
liche Intereſſen der Thätigkeit des Einzelnen vom Publikum übergeben
werden müſſen; das Recht zur geſetzlichen Anordnung eines Studien-
planes aber beruht genau auf denſelben Gründen, wie das der Prü-
fungen, und der Kampf gegen den erſtern, ſoweit er nicht gegen eine
unverkennbare geiſtige Bevormundung in demſelben geht, iſt weſentlich
als eine hiſtoriſche Thatſache zu erkennen.
Dagegen hat der eben bezeichnete Gang der Dinge, die ſtrenge
Organiſirung der ſpeziellen Fachbildung an den Univerſitäten, in neue-
ſter Zeit eine zweite Univerſitätsfrage nahe gelegt, die hier aber wegen
ihrer innigen Beziehung zur Verwaltungslehre nicht übergangen werden
kann. Dieſelbe beruht auf der ſcharfen Trennung der Univerſitätsbil-
dung vom praktiſchen Berufe, aus der zum Theil eine Mißachtung der
erſteren hervorgegangen iſt. Die innere Geſchichte der Univerſitäten
zeigt uns ſchon im vorigen Jahrhundert das Entſtehen des Bewußt-
ſeins, daß die tüchtige Ausübung des Berufes neben der theoretiſchen
auch eine praktiſche Fachbildung fordere; die Entwicklung der Special-
bildung an den Univerſitäten geht daher Hand in Hand mit dem Be-
ſtreben, ſolche praktiſche Fachbildungseinrichtungen an die theoretiſchen
anzuſchließen. Dieß nun iſt bisher nur in einzelnen Fakultäten gelun-
gen. In der mediciniſchen iſt die Klinik ſogar ein integrirender Theil
der theoretiſchen Bildung geworden; in der philologiſchen ſehen wir
die philologiſchen, in der theologiſchen die theologiſchen Seminarien
entſtehen; nur in der juriſtiſchen iſt die deutſche Univerſität bisher nicht
fähig geweſen, etwas Aehnliches bei ſich auszubilden. Die praktiſche
Vorbildung iſt hier von der Univerſität getrennt, und zwar ſowohl für
die Rechtsverwaltung als für die übrigen Staatsbeamten. Das zeigt
ſich namentlich in dem nicht bloß der Univerſität, ſondern meiſt auch
der Wiſſenſchaft entfremdeten Dienſtprüfungsſyſtem, das dem Berufs-
prüfungsſyſtem ſelbſtändig folgt und ſich meiſt auf reine Spezialia,
ohne tiefere wiſſenſchaftliche Beziehungen, beſchränkt. Das iſt ein großer
Mangel. Aber er liegt nicht in der Praxis, ſondern er liegt in der
Theorie. Es fehlt geradezu an den Univerſitäten die praktiſche Rich-
tung der Rechts- und noch mehr der Staatswiſſenſchaften; namentlich
iſt eine ſolche bei den letzteren ohne eine ſyſtematiſche Special-
bildung der Verwaltungslehre nicht zu denken. Die Univerſi-
täten werden erſt dann für das öffentliche Leben ihre wahre Stellung
[228] wieder gewinnen, wenn die einzelnen Gebiete der Verwaltung als
ſelbſtändige Doctrinen ſich an die allgemeine Bildung des öffentlichen
Rechts an den Univerſitäten anſchließen und das Bewußtſein der Ein-
heit in ihrer Form, der Beſonderheit und der praktiſchen Aufgabe in
ihrem Inhalt enthalten. Das nun iſt ein Gebiet, welches eine beſon-
dere Darſtellung bedarf; hier möge es genügen auf dieſen Punkt hin-
gewieſen zu haben.
Das öffentliche Fachbildungsrecht der deutſchen Univerſität läßt
ſich daher nunmehr wohl in folgenden Punkten zuſammenfaſſen.
Das Princip der höchſten allgemeinen Bildung in ihrer Verbindung
mit der höchſten Fachbildung iſt durch zwei Rechtsſätze ausgedrückt.
Zuerſt dadurch, daß die Univerſität die ſyſtematiſche Einheit aller Facul-
täten unter Selbſtverwaltung und Freiheit ihrer geiſtigen Arbeit ſein
ſoll. Zweitens dadurch, daß zu jeder vollendeten Fachbildung die
Theilnahme an der geſchichtlichen und philoſophiſchen Specialbildung,
durch Studienplan und Prüfung conſtatirt, gehören ſoll.
Das Princip der höchſten Fachbildung iſt ausgedrückt durch Spe-
cialiſirung der Fächer, verwirklicht durch ſpecielle Fachprofeſſoren und
anderſeits durch die Erhaltung des Bewußtſeins der inneren Einheit
der Einzelfächer in der äußeren Einheit der Facultäten und ihrer ſpeciellen
Selbſtverwaltung.
Das Princip der praktiſchen Fachbildung empfängt ſeinen Ausdruck
durch das Syſtem von Kliniken, Seminarien und Specialcollegien der
einzelnen Facultäten.
Auf dieſe Elemente iſt die Vergleichung der einzelnen Univerſitäten
und ihrer inneren und äußeren Organiſation zurückzuführen — eine
Arbeit, deren die Literatur bisher entbehrt.
Trotz der hohen Wichtigkeit, welche das deutſche Univerſitätsweſen
für das ganze Volk hat, und trotz des ſehr lebendigen Bewußtſeins
von derſelben iſt die Literatur über das Univerſitätsweſen geradezu die
dürftigſte im geſammten Gebiete des Bildungsweſens. Das liegt
zum Theil daran, daß die Gemeinſchaft des geiſtigen Lebens und die
Gleichartigkeit ihrer inneren und äußeren Organiſation nur auf dem
Weſen der Sache ſelbſt beruht und niemals, ſelbſt nicht in dem ſtreng
centraliſirten Preußen eine gemeinſame Geſetzgebung empfangen hat. Das
deutſche Univerſitätsweſen iſt zwar innerlich Eins, aber äußerlich er-
ſcheint es als eine Geſammtheit von lauter beinahe gänzlich ſelbſtän-
digen Berufsbildungskörpern. Daß das Recht deſſelben ein hochwichtiger
Theil des Verwaltungsrechts des Bildungsweſens ſei und als ſolches
[229] nur in ſeinem organiſchen Zuſammenhange mit dem aller übrigen
Bildungsanſtalten und Stufen betrachtet werden müſſe, iſt zwar nie be-
ſtritten, aber auch nie ausgeſprochen. Es gibt daher bis jetzt weder eine
gründliche ſyſtematiſche Behandlung des Univerſitätsweſens in Beziehung
auf ſein Recht, noch in Beziehung auf ſeine Geſchichte. Es wird daher
geſtattet ſein, ohne auf Einzelnes einzugehen, im Allgemeinen den
Gang der Literatur über das Univerſitätsweſen hier zu charakteriſiren.
Man wird in dieſer Beziehung zwei große Epochen zu unterſcheiden
haben, von denen die erſte bis zum Anfang unſres Jahrhunderts reicht,
während wir uns jetzt in der zweiten, noch nicht vollſtändig entwickelten
befinden. Wenn die Frage gründlicher behandelt wäre, ſo würden wir
dabei namentlich im Stande ſein, den Charakter und Inhalt des
18. Jahrhunderts als der Uebergangsepoche von der erſten zur zweiten
mit Hinweiſung auf beſtimmte Verwaltungsmaßregeln viel beſtimmter
zu formuliren, als uns das jetzt noch möglich iſt. — In der erſten
Epoche nun beſchäftigt ſich die Literatur des Univerſitätsweſens mit zwei
Fragen. Zuerſt mit der nach dem Recht, Univerſitäten zu gründen.
Darüber beſteht bereits im 16. Jahrhundert und mehr noch im 17.
eine vollſtändige Literatur. Dieſe Frage nach dem „Jus Academias
erigendi“ umfaßte zugleich die Gymnasia und Scholas, und bildete
einen der Punkte, auf welchen ſich die Anſprüche einerſeits der Kirche
und andrerſeits des Kaiſerthums gegenüber der ſich raſch entwickelnden
Territorialhoheit begegnen. Es iſt dabei höchſt bezeichnend, daß man ſich
über den eigentlichen Unterſchied zwiſchen Universitas, Schola und Colle-
gien keineswegs ganz einig war. Rechtlich faßte man ſie alle zuſammen
unter dem Ausdruck Academia. Der Gang dieſes Streites war folgen-
der. Urſprünglich war man ziemlich darüber einig, daß ohne Unter-
ſchied nur der Kaiſer das Recht habe, Academias erigendi, indem die
anfängliche juriſtiſche Literatur das Recht als ein kaiſerliches Regal be-
trachtete; vergl. Boierus de Regalibus, Cap. 2 §. 121; Limnaeus Jus
Publ. L. VIII; vergl. die vollſtändige Literatur bei Pfeffinger, Vitr.
III. III. II. 55, obwohl Vitriarius ſelbſt noch der ſtrengeren Meinung iſt.
Mit der Mitte des 16. Jahrhunderts ſcheint jedoch ſchon praktiſch der
Unterſchied ſich feſtzuſtellen, daß die Territorialherrn das Recht auf Er-
richtung von Scholis und Academiis beſitzen, ſo weit dieſelben keine aca-
demiſchen Würden ertheilen, während die eigentlichen Univerſitäten
mit der „potestas omne genus honorum Academicorum per totum
Imperium conferendi“ nur unter Beſtätigung des Kaiſers er-
richtet werden dürfen. S. die Diſtinction von Pfeffinger a. a. O.;
ebenſo bei Seckendorf Teutſcher Fürſtenſtaat (1660) Th. II. S. 227.
(Stiftung und kaiſerliche Begnadigung); dieſer Grundſatz bleibt beſtehen
[230] bis zum Untergang des deutſchen Reiches; allein im 18. Jahrhundert
nimmt er eine etwas andere Geſtalt an. Die Landesherren nahmen
jetzt das Recht in Anſpruch, auch „Universitates seu Academias“
zu gründen; jedoch „honoris autem academici uti citra auctorita-
tem caesariam impertiri omnino nequeunt.“Pütter, Jus publ. L.
VIII. §. 359 und L. VI. 236. (Vergl. die Literatur in Pütter, Literatur
des deutſchen Staatsrechts I. 55. III. 589, zu dem aber Pfeffingers
Angaben hinzugefügt werden müſſen. Auf dieſem deutſchen Standpunkt
ſteht noch Gönner, deutſches Staatsrecht 1805 Th. I. §. 372. Erſt
damit war im Grunde die formale Unterſcheidung der Univerſität und
der höheren Formen der Akademie feſtgeſtellt und das Princip ausge-
ſprochen, daß die akademiſchen Grade für das ganze Reich Gültigkeit
haben, was noch heute gilt, und eine der Grundlagen des formellen
deutſchen Univerſitätsrechts iſt. Daß mit der Bundesakte das Be-
ſtätigungsrecht wegfällt, verſteht ſich zwar von ſelbſt; allein der Ge-
danke, daß das Univerſitätsweſen dennoch keine territoriale, ſondern
eine gemeinſame deutſche Angelegenheit ſei, lebt fort. Die Univerſi-
täten, obwohl ganz unter der ſelbſtändigen Leitung der einzelnen
Staaten, bleiben ebenſo Gegenſtand des deutſchen Staats- und Bundes-
rechts; daß ſie zugleich im Territorial-Staatsrecht erſcheinen, iſt natür-
lich (MaurenbrecherB. V. II. §. 184). Der Bund ſeinerſeits hat
ſich übrigens um das öffentliche Univerſitätsleben nur polizeilich ge-
kümmert; die beiden Bundesbeſchlüſſe vom 20. Sept. 1819 und vom
13. Nov. 1834 erſcheinen als Fortſetzung der Reichspolizei der Univer-
ſitäten (Reichsgutachten vom 14. Juni 1793 vergl. Zöpfl, deutſches
Staatsrecht Bd. II. §. 464). Neben dieſer Entwicklung des öffentlichen
Rechts der Univerſitäten als ſtändiſcher Corporation geht nun eine
zweite einher, welche ihre innere Verwaltung und ſpeciell ihre Lehr-
ordnung betrifft. Hier iſt der gegenwärtige Charakter bereits im 17.
Jahrhundert ſehr klar ausgebildet; der Uebergang von der Epoche der
vollkommen ſelbſtherrlichen ſtändiſchen Körper zu der der Staatsan-
ſtalt iſt nicht bloß angedeutet, ſondern zum Theil vollſtändig ausge-
prägt. Seckendorf: „In einer jede Facultät ſind etliche Doctores und
Profeſſores geordnet, dieſelben haben gewiſſe Ordnung unter ſich auff-
gerichtet, und von der landesfürſtlichen Herrſchaft beſtettigen laſſen,
was ein jeder der ſtudirenden Jugend leſen und fürtragen — ſoll.“
Der Rector wird ſchon damals „von dem Landes-Fürſten beſtetigt.“
Das Princip der geſetzlichen Vorbildung durch die „nidern Schulen
und Gymnasii“ iſt ausgeſprochen „wie denn an etzlichen Orten (?) mit
Nutz verordnet, daß keiner mit Gunſt und Willen, oder Vertröſtung
künfftiger Förderung auß den Schulen dahin gelaſſen wird, biß er,
[231] wie jetzt gemeldt, in Examinibus beſtanden.“ Teutſcher Fürſten-
Staat Bd. II. Cap. 14. 7.) Damit nun war der Weg betreten, auf
welchem die Univerſitäten Staatsanſtalten wurden und die volle amt-
liche Härte der polizeilichen Grundſätze auf ſie angewendet ward.
Natürlich begann aber eben dadurch zugleich der Kampf gegen die Bevor-
mundung; bei den Studirenden durch eine immer wachſende Ver-
wilderung des Studentenweſens, in der Wiſſenſchaft aber als das erſte
Auftreten der Univerſitätsfrage. Schon Juſti konnte geradezu die
Frage aufwerfen: „Ob Univerſitäten nothwendig ſind“; ſeine Antwort
lautet halb zweifelhaft bejahend, aber mit dem eigenthümlichen Zuſatz:
„Eine der hauptſächlichſten Urſachen iſt, um einen großen Geld-Aus-
fluß aus dem Lande zu verhintern“ Bd. IX. 37. Hauptſt. §. 88 ff.
Seine Kritik der deutſchen Univerſitäten (§. 90) iſt jedoch weſentlich
gegen die Ungebundenheit, ja Roheit der damaligen Studenten ge-
richtet; er hält das engliſche Univerſitätsleben, als deſſen Nachahmung
er das Coll. Theresianum in Wien und das Coll. Carolinum in Braun-
ſchwerg bezeichnet, für viel vorzüglicher. In ſeinem Schmerze über die
Verwilderung der Studenten geht ihm die Idee der Univerſitäten ganz
verloren. Auf einem ganz andern, aber eben ſo niedern Standpunkt
ſteht ein Mann, von dem man eine ſolche Auffaſſung am wenigſten
hätte erwarten ſollen. Das iſt Adam Smith. Trotz ſeiner geiſt-
reichen Auffaſſung des geſammten Bildungsweſens iſt ihm doch das
Verſtändniß deſſen, was eine deutſche Univerſität iſt und ſein kann,
nicht geworden. Ihm ſind die Univerſitäten nur Unterrichtsanſtalten,
deren Werth nach den allgemeinen Principien des gewerblichen Lebens
gemeſſen werden muß. Auch vermag er nicht über die ſchlechte Univer-
ſitätswirthſchaft Englands wegzuſehen. Das erſte Kapitel des fünften
Buches gehört dem Bildungsweſen. Er ſagt: „In England ſind
die öffentlichen Schulen viel weniger verderbt, als die Univerſitäten.“
Allein in der Beurtheilung des Lehrweſens der Univerſitäten fällt er
ganz in den Standpunkt der gewerblichen Freiheit. Er iſt der erſte,
der ſich ausdrücklich gegen jedes Zwangscollegium ausſpricht. „Eine
gewiſſe Anzahl von Studirenden zwingen, irgend eine beſtimmte
Univerſität oder Vorleſung zu hören, heißt die Profeſſoren von der
Verpflichtung freiſprechen, Verdienſt oder Ruhm zu erwerben.“ Die
akademiſchen Grade ſind ihm „Privilegien.“ „Es iſt unmöglich, daß
die feſten Einkünfte der hohen Schulen nicht wenigſtens dem Eifer
der Lehrer ſchmeicheln ſollten, ſich Mühe zu geben;“ und „der größte
Theil von demjenigen, was man in den Schulen und Univerſitäten
lehrt, erſcheint nicht ſehr geeignet, diejenigen Leute für den Stand
vorzubereiten, den ſie ergreifen werden.“ Ja Adam Smith erklärt ſich
[232] ſogar gegen die Reiſen der jungen Leute, „auf denen ſie ihre guten
Sitten verlieren.“ Eine unverkennbare Abneigung gegen die claſſiſche
Bildung ſpricht aus ſeiner ganzen Darſtellung; Deutſchland kennt er
übrigens nicht. Als ſein Werk nach Deutſchland kam, machte es einen
großen Eindruck: „Die meiſten dieſer Vorwürfe ſind gegründet,“ ſagt
darüber Jacob (Polizeiwiſſenſchaft Th. II. §. 153). Allein den Ge-
danken einer Aufhebung der Univerſitäten faßte denn doch niemand. Im
Gegentheil trat mit den napoleoniſchen Kriegen eine Bewegung ein, in
welcher der ächt deutſche Geiſt auch auf den Univerſitäten zum Siege
gelangte. Die Studentſchaften wurden durch den Ernſt der Zeit auf
das Tiefſte ergriffen; ſie begannen die große Arbeit, ſich durch eigene
Kraft zu reformiren; ſie fingen an, jede geiſtige und phyſiſche Ver-
wilderung offen zu brandmarken, und aus dem tief ſittlichen Bewußt-
ſein, daß das Vaterland und die Freiheit in ihnen die wahre Stütze
ihrer Zukunft zu ſuchen habe, entſtanden die Burſchenſchaften, dieſe
hiſtoriſch eben ſo wichtige, als ehrenwerthe und ſegensreiche Erſcheinung.
Zugleich erſchienen die erſten Geiſter Deutſchlands auf dem faſt ſchon
mißachteten Katheder, und es geſchah, daß die Gründung der Univer-
ſität Berlin als dem großen Wehrſyſtem von Scharnhorſt in Bedeutung
und Kraft gleichſtehend anerkannt werden konnte. Da war es denn
natürlich, daß dieſe Zeit der Verjüngung deutſcher Univerſitäten den
alten polizeilichen Standpunkt nicht mehr ertragen konnte. Die Univer-
ſitätsfrage war eine der Lebensfragen Deutſchlands, die Univerſitäts-
freiheit eine Grundveſte der deutſchen Freiheit geworden. Hatte man
noch am Ende des vorigen Jahrhunderts es für zeitgemäß gehalten,
eine Beſchränkung des Univerſitätsbeſuches zu wünſchen (Böttiger,
über die beſten Mittel, die Studierſucht zu hemmen 1787; Weiler,
über die Nothwendigkeit den Eintritt in gelehrte Schulen zu erſchweren
1803), ſo ward jetzt das höhere geiſtige Weſen, die zugleich ethiſche und
politiſche Seite der Univerſität von den erſten Männern laut ausge-
ſprochen; formell bekämpft Villers (Blick auf die Univerſitäten Deutſch-
lands 1808) die Auflöſung derſelben in Fachſchulen nach franzöſiſchem
Muſter; Schleiermacher dagegen (gelegentliche Gedanken über Univer-
ſitäten); Schelling, (Vorleſungen über die Methode des akademiſchen
Studiums) und Savigny (Weſen und Werth der deutſchen Univer-
ſitäten) haben das Verdienſt, dauernd im deutſchen Volke die Ueber-
zeugung begründet zu haben, daß die wahre wiſſenſchaftliche Bildung
nur in der Einheit aller Gebiete derſelben gefunden werden kann und
daß eben darin die deutſche Univerſität die Heimath der Wiſſenſchaft
ſei; als der ehrenwerthe Scheidler ſein Buch „die Idee der Univer-
ſität“ 1838 ſchrieb, war die Frage zum Heile Deutſchlands entſchieden
[233] und von jetzt an ſtehen die Univerſitäten als organiſches Glied des
deutſchen Bildungsweſens da, wie ſie namentlich Thierſch im zweiten
Bande ſeines ſchönen Werkes über Gelehrte Schulen ſo trefflich auf-
faßt und darſtellt. Daß die Polizeiwiſſenſchaft und Staatsrechtslehre
ſich nicht weiter um ſie kümmern, beruht dann einfach darauf, daß
Beiden das [Verſtändniß] der Verwaltung fehlt; nur Mohl hat ſie in
ſeiner Polizeiwiſſenſchaft Bd. I. §. 30 in würdiger und eingehender
Weiſe behandelt. Es iſt aber nicht zu verkennen, daß ſie ſeit dem erſten
Decennium unſeres Jahrhunderts gar keine Literatur gehabt haben,
während das übrige Bildungsweſen an Bearbeitungen überreich iſt.
Die Geſchichte der Univerſitäten iſt ſeit Meiners Geſchichte der Univer-
ſitäten 1802 ganz vernachläſſigt, denn Werke über einzelne Univerſitäten,
wie das von Kink über die Univerſität Wien, haben bei aller Treff-
lichkeit doch nur den Werth hochſchätzbarer Beiträge, und Meiners
hat im Grunde von dem wahren Weſen der Univerſität ein gar ge-
ringes Verſtändniß. Nachdem aber das letztere für das deutſche Be-
wußtſein dauernd gewonnen, wird der Fortſchritt nunmehr auf der Er-
kenntniß ihres organiſchen Verhältniſſes zu dem ganzen, gewaltigen Lebens-
proceß beruhen, der als das Bildungsweſen die Völker in Wiſſenſchaft,
Wirthſchaft und Kunſt, in Anſtalten, Unternehmungen und Selbſt-
bildung durch die Preſſe gleichmäßig und zur Ehre unſres Jahrhunderts
unwiderſtehlich erfaßt.
Deutſchland iſt unter allen Völkern dasjenige, welches das wirth-
ſchaftliche Berufsbildungsweſen nicht bloß ſelbſtändig aufgefaßt, ſondern
auch in ſeinem geſammten Bildungsweſen zu einem ſelbſtändigen Syſtem
neben dem gelehrten ausgebildet hat. Es hat damit das Recht ge-
wonnen, für andere Länder als Vorbild zu dienen; aber es hat zugleich
die Pflicht, dieſe ſeine Stellung als Muſter in dieſem Gebiete durch
die ernſteſte Behandlung der Sache auch würdig auszufüllen. Dieß nun
wird in doppelter Weiſe zu geſchehen haben. Einerſeits dadurch, daß
Deutſchland im Einzelnen, in einzelnen Anſtalten und ihren Ein-
richtungen, das Höchſte leiſtet, was hier geleiſtet werden kann; anderer-
ſeits aber dadurch, daß es ſich über das Ganze dieſes Syſtems und
ſeinen hiſtoriſchen und organiſchen Inhalt vollſtändig klar wird. Offen-
bar nun iſt das erſtere die Aufgabe der eigentlichen Fachmänner; aber
das zweite iſt die Aufgabe der Verwaltungslehre. Denn in der That
[234] kann das, was der Staat hier zu thun und bereits gethan hat, nur
von dieſem höheren Standpunkt richtig überſchaut werden, wie andrer-
ſeits ohne denſelben eine Vergleichung mit den übrigen Völkern nicht
möglich, oder wenigſtens nicht fruchtbar werden kann.
Das wirthſchaftliche Berufsbildungsſyſtem Deutſchlands iſt nun
jung und ſein Verhältniß ſowohl zur Elementar- als zur gelehrten Bil-
dung nicht auf allen Punkten klar. Es hat auch eine viel tiefer ein-
greifende Geſchichte durchgemacht und eigentlich erſt in unſerem Jahr-
hundert ſich ſeine rechte Stellung erworben. Auch dieſe iſt zwar praktiſch,
aber wie wir geſtehen müſſen, noch nicht ethiſch formulirt. Bei aller
Anerkennung, die es im wirklichen Leben gefunden, fehlt ihm doch noch
immer jenes höhere Element in der öffentlichen Auffaſſung, welches ihm
ſeine rechte Würde gibt. Und das iſt ein Mangel, weil es die innige Ver-
bindung der geſammten wirthſchaftlichen Welt mit der geiſtigen hindert
und das Gefühl des Gegenſatzes fortſetzt, aus dem die Scheidung der
wirthſchaftlichen von der gelehrten Bildung und ein nicht heilſames, gegen-
ſeitiges Meſſen und Schätzen des gegenſeitigen Werthes hervorgegangen iſt.
Daher muß es die Aufgabe der Verwaltungslehre ſein, nicht bloß das
formelle Verhältniß der letzteren zu der erſteren darzulegen, ſondern auch
das ethiſche. Und wir verweiſen dieſe Darlegung am beſten gerade in
den Theil, der von Deutſchland redet, weil hier jene Scheidung die bei
weitem vollſtändigſte und weil hier zugleich die Empfänglichkeit für die
tiefere Auffaſſung der Einheit des ſo Geſchiedenen bei weitem die größte iſt.
Die Grundlage des ethiſchen Verſtändniſſes der wirthſchaftlichen
Berufsbildung iſt ohne Zweifel die Erkenntniß, daß das Kapital und
der Erwerb nicht bloß volkswirthſchaftliche, ſondern zugleich geiſtige
Faktoren unſeres Lebens ſind. Der Beſitz iſt die materielle Grund-
lage der Freiheit. Keine Auffaſſung, keine Form der letzteren, weder
die ſtaatliche, noch die geſellſchaftliche, kann ſich ohne den Beſitz ver-
wirklichen. Das Streben nach dem Beſitz iſt daher ein Streben nach
Unabhängigkeit; das Werden des Reichthums iſt für die edleren Völker
das Werden der Freiheit des Einzelnen. Der Erwerb des Beſitzes iſt
daher eine im höchſten ethiſchen Sinne ſtaatsbürgerliche Pflicht; die
Trägheit und die Unwirthſchaftlichkeit ſind im höchſten ethiſchen Sinne
Vergehen gegen die ſittliche Ordnung, da ſie die Freiheit des Indivi-
duums und mit ihr die des Ganzen untergraben. Die Ehre des Be-
ſitzes iſt nicht Achtung vor dem Reichthum, ſondern Achtung vor den
materiellen Bedingungen der geiſtigen Entwicklung; die Macht deſſelben
iſt eine unabweisbare, nicht weil ſie ein materielles Element enthält,
ſondern weil ſie der elementare Faktor der geiſtigen Entwicklung dar-
bietet. Der naive Zuſtand, in welchem die Armuth als der Boden
[235] der edleren Auffaſſung und die Verachtung der wirthſchaftlichen Güter
als ein Beweis der Seelenſtärke gedacht ward, iſt überwunden; unſer
Jahrhundert hat keine großartigere Thatſache aufzuweiſen als die, daß
der Beſitz zu ſeiner ethiſchen Berechtigung und der Anerkennung ſeiner
Bedeutung für die Verfaſſung und die geſellſchaftliche Entwicklung der
Völker Europas gelangt iſt. Dieſe Thatſache wirkt in tauſend Formen,
mit und ohne unſer Bewußtſein von ihrer Gewalt; ſie iſt das mächtigſte
culturhiſtoriſche Element unſrer Zeit und wir verdanken das Verſtänd-
niß ſeiner Macht, ſeiner Gefahren und ſeines Segens in der That der
neuen Weltanſchauung, welche in der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft und
der Theorie des Fanatismus und Communismus gegeben iſt. Wir
werden ein Jahrhundert brauchen, um daſſelbe ganz zu verarbeiten;
aber ſeinen erſten Ausdruck findet es in dem wirthſchaftlichen Berufe
und ſeinem Bildungsſyſtem in Deutſchland.
Dieß Bildungsſyſtem, obwohl formell eine rein pädagogiſche An-
ſtalt und im Anfang auch nur als pädagogiſche Aufgabe aufgefaßt und
begründet, iſt daher vielmehr der Ausdruck des großen Princips der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, die in ihrem Siege über die ſtändiſche
Weltordnung vor allen Dingen nach der feſten Baſis der individuellen
Freiheit, nach Kapital und Erwerb, geſtützt auf individuelle Bildung,
trachtet. Die wirthſchaftliche Bildung des Volkes tritt daher, wie alle
ſolche ſocialen Bewegungen, zuerſt als Beſtreben Einzelner auf und hält
ſich durch einen, oft ungerechten, immer aber ſcharfen Gegenſatz gegen
die ſtändiſche Berufsbildung aufrecht. Als aber mit dem neunzehnten
Jahrhundert die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſiegt, wird ſie zu einer
organiſchen Aufgabe der Verwaltung. Und jetzt muß die letztere ſich
für dieſe Aufgabe ein allgemeines und feſtes Princip ſchaffen, um von
dieſem Princip aus das Einzelne zu beſtimmen und zu ordnen. Dieſes
Princip iſt aber jetzt nicht mehr ein einfacher adminiſtrativer Grundſatz.
Es enthält vielmehr den Ausdruck des Verhältniſſes der Staats-
gewalt zu der geſellſchaftlichen Entwicklung, ſpeziell zu der
Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen und der ſtändiſchen Geſellſchaft. Und
von dieſem Standpunkt aus muß das geltende wirthſchaftliche Berufs-
bildungsſyſtem überhaupt, ſpeziell aber das deutſche, betrachtet und mit
andern verglichen werden.
Während nun in Frankreich dieß Princip mit der franzöſiſchen
Revolution plötzlich und unvermittelt entſtanden und in England über-
haupt kein Objekt der Staatsverwaltung geworden iſt, hat es ſich in
Deutſchland allmählig und hiſtoriſch zu jener gegenwärtigen Geſtalt
ausgebildet. Seine Aufgabe war, die geſellſchaftliche und volkswirth-
ſchaftliche Nothwendigkeit der wirthſchaftlichen Berufsbildung mit der
[236] individuellen Freiheit und Selbſtthätigkeit zu vereinigen. Aus dem erſten
Element folgt die Verpflichtung der Verwaltung ein öffentliches Syſtem
von wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten herzuſtellen; aus dem zweiten
der Grundſatz, die Benutzung derſelben ganz dem individuellen Ermeſſen
zu überlaſſen. Durch das erſtere iſt es dem gelehrten Berufsbildungs-
weſen gleichartig geworden; auf dem zweiten beruht die tiefe Verſchie-
denheit ſeines öffentlichen Rechts von demſelben. Wir verſtatten uns,
die Elemente dieſer hiſtoriſchen Entwicklung hier anzuſchließen.
Wer den geſchichtlichen Gang des wirthſchaftlichen Bildungsweſens
im Einzelnen mit der entſprechenden Gründlichkeit verfolgen will, der
wird wegen des Mangels faſt aller Vorarbeit nicht bloß eine höchſt
ſchwierige, ſondern auch höchſt umfaſſende, daher aber auch hochwichtige
Aufgabe löſen, ohne welche eine Geſchichte des deutſchen Geiſtes nicht
gegeben werden kann. Die Verwaltungslehre hat indeß ihren Stand-
punkt und ihr Gebiet innerhalb derſelben zu ſuchen. Ihre Aufgabe iſt
es, vor allem das Verhalten des Staats zu dieſem Theile der öffent-
lichen Bildung und damit die Geſchichte des öffentlichen Rechts derſel-
ben zu charakteriſiren, welche allerdings den geſammten Bildungsproceß
ſelbſt in ſich wiederſpiegelt.
Erſte Epoche. — Der Gedanke, daß in dem wirthſchaftlichen
Kapital ein ethiſches Element und mithin in der wirthſchaftlichen Arbeit
ein Beruf liege, iſt der alten Welt und dem feudalen Syſtem der Ge-
ſchlechterordnung gänzlich unbekannt. Er beginnt erſt mit der rein
ſtändiſchen Epoche und wie es in der Natur der Sache lag, erſcheint
er hier zunächſt als ſtrenger, auch rechtlich ſcharf geſchiedener Gegenſatz
zu dem übrigen ſtändiſchen Weſen. Dieſe Scheidung des wirthſchaft-
lichen Berufes von dem der beiden andern Stände iſt es, welche den
Bürgerſtand erzeugt. Nur im Bürgerſtande gilt die Arbeit und der
Erwerb als Pflicht; nur in ihm lebt das Bewußtſein, daß die Ehre
und Achtung der Arbeit die Baſis der Freiheit ſei; nur in ihm öffnet
ſich das öffentliche Recht nach Arbeit und Kapital, wird in „Zünften
und Innungen“ zu einer feſten Organiſation, erhebt ſich durch ſie zu
einem Faktor der ſtädtiſchen Verfaſſung, und erzeugt in ihm das Recht
und die Ordnung der öffentlichen Unterſtützung, die Polizei der Arbeits-
loſigkeit, die Unehrenhaftigkeit des Bettels und den Stolz des freien
Bürgerthums. Der Bürgerſtand iſt daher in der germaniſchen Welt
nicht bloß der Stand des Erwerbes, ſondern der Träger und der Aus-
druck des großen ethiſchen Elements, das in Arbeit und Kapital liegt;
[237] ohne dieß Bewußtſein hätte er ſeine große hiſtoriſche Aufgabe nie voll-
zogen; was er war, war er nicht durch den Reichthum an ſich, der
bei dem Mittelſtande Roms in gewiſſen Zeiten viel größer war, ſon-
dern durch das, wodurch der Reichthum entſteht und was er in einem
edlen Volke zu erzeugen vermag. Daher hat dieſe gewerbliche Arbeit
der germaniſchen Zeit auch einen weſentlich andern Charakter, als die
der früheren hiſtoriſchen Völker. Der Bürger achtet ſich ſelbſt wegen
ſeiner Arbeit; ſie iſt ihm keine bloß wirthſchaftliche, ſie iſt ihm eine
Lebensaufgabe; ſie enthält ihm daher nicht bloß das Mittel zur gewerb-
lichen Gütererzeugung, ſondern eine moraliſche Verpflichtung, ſich und
damit ſeinem Stande mit ſeinen Produkten Ehre zu machen — ein
Gedanke, den die alte Welt nicht kennt; er iſt durchdrungen von dem
Bewußtſein, daß nicht in der Größe ſeines Kapitals, ſondern in der
Tüchtigkeit ſeiner Arbeit, in der Hingabe ſeiner ſelbſt an dieſelbe die
wahre Grundlage ſeiner Stellung in der ſtändiſchen Welt liege. Mit
ihr, mit der Achtung vor ihren Leiſtungen ſteht und fällt er ſelbſt;
das weiß er und darnach handelt er. Und ſo entſteht von ſelbſt das
Bedürfniß, dieſe Arbeit, welche ihm ſeinen eigentlichen Halt gegenüber
der Macht und dem Glanze der beiden andern Stände gibt, vor dem
Hinabſinken in Untüchtigkeit zu bewahren. Sie gewinnt damit einen
neuen, der ganzen alten Welt unbekannten Charakter; ſie tritt auf nicht
als Sache des Individuums, ſondern als eine Angelegenheit des ganzen
Standes; ſie wird, obwohl ſie zunächſt nur von dem Einzelnen aus-
geht und nur für den Einzelnen geſchieht, dennoch ein Gegenſtand des
Geſammtintereſſes. Und mit dieſem Element, das die Arbeit in dieſer
Epoche in ſich aufnimmt, entwickelt ſich nun auch zum erſtenmal in der
Geſchichte Europas ein öffentliches Recht der Arbeit. Dieß öffentliche
Recht iſt es nun, welches jetzt unſerem Gebiete mit einem weſentlichen
Theil ſeines Inhalts angehört. Zuerſt wird es zum Vorrecht der
Produktion für diejenigen, welche die einzelne gewerbliche Körperſchaft,
die Zunft und Innung, in ſich aufgenommen hat; das iſt das Meiſter-
recht, das der Geſchichte der Organiſation der Gewerbe angehört. Dann
aber wird es zu einem großen, die ganze germaniſche Welt umfaſſen-
den, in allen Ländern ſich wiederholenden und die geſammte geſell-
ſchaftliche Entwicklung durchdringenden Bildungsrecht der gewerb-
lichen Arbeit, an das ſich das Prüfungsrecht derſelben anſchließt.
Das große Princip dieſes Bildungs- und Prüfungsrechts der gewerb-
lichen Arbeit iſt das Recht der einzelnen gewerblichen Körperſchaft, der
einzelnen Zunft und Innung, ſelbſt die Bedingungen für den gewerb-
lichen Bildungsgang und das Beſtehen der Prüfung vorzuſchreiben und
auszuführen. In der Feſtſtellung dieſer Punkte, in der Aufſtellung
[238] und Durchführung der Lehrordnungen, Geſellenordnungen, Freiſprechung,
Meiſterprüfungen u. ſ. w. erſcheint ſomit die erſte ſtändiſche Geſtalt
des öffentlich rechtlichen Bildungsweſens der gewerblichen Arbeit. Und
das iſt für unſere Frage die erſte Epoche.
Auf dieſe Weiſe tritt nun zum erſtenmal in der Geſchichte ein voll-
ſtändiges Syſtem der gewerblichen Bildung neben das der gelehrten.
In der That läßt es ſich nicht läugnen — das was die scholae aller
Art für die ſtändiſch geſtaltete Wiſſenſchaft ſind, das ſind die zunft-
mäßigen Vorſchriften über die gewerbliche Lehre für den Bürgerſtand.
Die gegenwärtige Ordnung liegt daher ſchon hier in ihren Grundlagen
vor. Die nachfolgende Zeit hatte nichts zu thun, als das weiter zu
entwickeln, was hier bereits begründet war. Aber der innere Unter-
ſchied iſt ſo groß, daß man dieſen Zuſammenhang ſich noch nie ver-
gegenwärtigt hat. In der That beruht das gewerbliche Bildungsweſen
auf derſelben Idee, auf der das Prüfungsweſen beruht. Es ſoll nicht
etwa in erſter Reihe die Tüchtigkeit des Einzelnen ſichern, ſondern es
ſoll ihn in die arbeitende Körperſchaft der Zunft aufnehmen. Das
Bildungsweſen der letzteren iſt daher kein allgemeines, ſondern es iſt
rein für die Arbeit der ſpeziellen Zunft beſtimmt. Wie dieſelbe allein
über ſeinen Erfolg entſcheidet, ſo hat ſie auch allein zu ſetzen, was es
enthalten ſoll. Je ſtrenger ſich das körperſchaftliche Weſen der Gewerbe
geſtaltet, um ſo ſtrenger beſchränkt ſich auch die Bildung auf den be-
ſtimmten gewerblichen Betrieb. Es iſt kein bürgerliches, es iſt ein rein
zunftmäßiges wirthſchaftliches Bildungsweſen.
Zweite Epoche. — Es war das achtzehnte Jahrhundert, das
Jahrhundert der Auflöſung in allen Dingen, das auch hier eine neue
Ordnung brachte. Schon hatte die gewerbliche Produktion auf allen
Punkten den Kampf mit der Beſchränkung der Zunft begonnen; der
entſtehende innere Handel, die Ausdehnung deſſelben über die Meere
hinaus hatte den Blick erweitert; die gewerbliche Produktion begann ſich
von der engen Kundſchaft von Stadt und Ort zu befreien; der Arbeiter
fängt an zu fühlen, daß er etwas für die Welt zu bedeuten, zu ar-
beiten habe. Die Produktion löst ſich von ihrer örtlichen Beſchränkung
los; die erſte Geſtalt eines Güterlebens der Welt begann, ſich über die
beſchränkte Ordnung der ſtändiſchen Körperſchaft zu erheben. Da tritt
denn auch in die geiſtige Anſchauung dieſer Dinge ein neues Element
hinein. Das bloße zunftmäßige Lernen genügt nicht mehr; es iſt zwar
nothwendig wie früher, aber die Arbeit von Geſell und Meiſter wird
durch eine andere überragt, welche die Produktionen der Länder und
Welttheile unter einander in Verbindung bringt, ſie in ihrer gegen-
ſeitigen Abhängigkeit von Produktion und Conſumtion erfaßt und die
[239] gewerbliche Erzeugung den großen Bedürfniſſen und Bewegungen des
Geſammtlebens dienſtbar macht. Das iſt die Arbeit des Welthandels.
Seine geiſtigen Vorausſetzungen ſind andere, ſo gut wie ſeine wirthſchaft-
lichen; er iſt unfähig, in der alten Beſchränkung des Gewerbes zu
exiſtiren; er ordnet ſich daſſelbe unter; und ſo entſteht das, was das
vorige Jahrhundert auf dieſem Punkte charakteriſirt, den tief bedeut-
ſamen Unterſchied zwiſchen dem Handwerk und dem Gewerbe. Das
Handwerk iſt damit nicht mehr, was es einſt geweſen, der Kern und
die Grundlage des ſtolzen und ſtarken Bürgerſtandes; es verliert ſeine
Herrſchaft über die Städte und iſt nicht länger das Weſen des Bürger-
thums. Neue Thatſachen, neue Forderungen entſtehen mit jedem Tage;
der Anfang des Jahrhunderts hat einen, von der früheren Zeit tief
verſchiedenen Charakter; als aber die Maſchine auftritt, als die alten
zunftmäßigen Handelscompagnien verſchwinden, als der Kredit und der
Gebrauch des Wechſels Raum gewinnt und die Börſen anfangen, über
Handel und Produktion zu entſcheiden, da ſinkt das Handwerk tief
herab; es iſt nicht mehr der Träger eines ſittlichen Elements, es iſt
ein bloßes Ernährungsmittel für die Familie geworden; es hat noch
einen goldenen Boden, aber es klebt an demſelben; über daſſelbe hin-
aus geht der junge Bürgerſtand, fähig und willig aus dem alten Orts-
bürgerthum zu einem Weltbürgerſtande zu werden; es iſt klar, daß die
alte in ſich ruhende ſich ſelbſt genügende Ordnung der Dinge aufhört
und daß eine neue beginnt.
In dieſer gewaltigen, wenn auch noch mannigfach unſicheren Be-
wegung kann nun auch die alte Geſtalt des Bildungsweſens ſich nicht
erhalten. Das Mitglied der Zunft und Innung hat gelernt zu arbeiten
in ſeinem beſchränkten Sinne des Worts, aber er hat nicht gelernt,
die höhere Arbeit des Verkehrs zu bewältigen. Dieſe will, wie der
Verkehr ſelbſt eine allgemeine Bildung. Die allgemeine Bildung wie-
derum beginnt alsbald mit der allem Geiſtigen ewig eigenen Kraft, die
Kraft der höher ſtehenden Elemente an ſich zu ziehen. Die Kinder der
höheren Klaſſen, in dem höheren Verkehr ihre Lebensaufgabe ſuchend,
ſuchen auch nach einer demſelben entſprechenden Bildung. Sie wenden
ſich an die alten Scholae und Gymnasia der ſtändiſchen Epoche. Allein
dieſe ſind unfähig ihnen zu bieten, was ſie fordern. Für die Zeit, in
welcher jene leben und wirken ſollen, handelt es ſich nicht mehr um
Cicero und Herodot; es handelt ſich darum einen guten Brief zu ſchreiben,
die großen Elemente der Weltgeographie vor Augen zu haben, von
der Natur etwas zu wiſſen, mit ihren Stoffen bekannt zu ſein, Länder-
und Völkerkunde zu beſitzen, und Vorſtellungen, Pläne, Ergebniſſe und
Wahrſcheinlichkeiten in beſtimmten Ziffern nach den Regeln der höheren
[240] Mathematik zum Ausdruck zu bringen. Alles das hat die alte Schola
nicht, und iſt in der That unfähig es zu haben. Denn gerade in der-
ſelben Zeit wird ſie mehr und mehr was ſie eigentlich ſein ſoll; aus
einem für ganze geſellſchaftliche Gruppen die allgemeine Bildung der
Univerſität erſetzenden Organismus wird ſie zu einer ſtrengen Vor-
bildungsanſtalt für die letztere und ihrer immer ſchärfer hervortretenden
Fachbildung, während die frühere Zunftbildung immer tiefer in den
Mechanismus des Lernens hinabſinkt, aus dem das alte ſchöne Princip
des „Wanderns“ des Handwerksgeſellen, der einzige Halt einer freieren
Bewegung im Handwerkerſtande, wie eine kaum noch verſtandene Ruine
hervorragt. Jene neue Welt von Anſchauungen und Bedürfniſſen
muß ſich daher eine neue Organiſation der Bildung erſchaffen, die
zwiſchen beiden ſteht. Und dieſe Organiſation hat nun ihren ganz be-
ſtimmten Charakter. Sie will nicht claſſiſch ſein, aber auch nicht
mechaniſch; ſie hat eigentlich noch gar kein beſtimmtes Objekt, das zu
lernen nothwendig iſt, denn es wird ihr eigentlich kein beſtimmtes
Objekt genügen; ſie will vielmehr nur diejenigen allgemeinen Be-
dingungen der künftigen Thätigkeit geben, welche nicht ſelbſt ein Lernen
enthalten, ſondern vielmehr nur das Lernen, das Verſtehen und die
Bewältigung der künftigen Lebensaufgabe möglich machen ſollen. Es
handelt ſich in dieſer neuen Ordnung der Dinge darum, die Kraft
zu ſtärken, mit der der Einzelne ins Leben tritt; hat er die, hat er
die Fähigkeit, den materiellen Thatſachen ins Auge zu ſehen, ſo wird
er ſich in der lebendigen Welt wohl zurecht finden. Dem Thatſächlichen
wendet ſich daher dieſe neue Geſtalt der Dinge zu; und ſo entſteht
Namen und Inhalt eines neuen Bildungsweſens, die Realbildung.
Sie iſt, und zwar eben in dieſer noch unbeſtimmten Geſtalt, das was
die zweite Epoche charakteriſirt.
Dieſe Realbildung und ihre Realſchule iſt nun allerdings noch
weſentlich verſchieden von dem heutigen gewerblichen Bildungsweſen,
und eben ſo verſchieden von dem der ſtändiſchen Zunft und Innung.
Sie iſt ihrer Natur und ihrer Beſtimmung nach frei von jeder Be-
ſchränkung der letzteren. Sie hat kein einzelnes Gewerbe zu ihrem
Gegenſtand. Sie befähigt, für ſich genommen, zu keinem Betriebe. Das
Eintreten in dieſelbe gibt daher kein Recht, künftig ein Handwerk zu
betreiben, und kein Recht, einen gelehrten Beruf und eine öffentliche
Funktion zu übernehmen. Es bedeutet vielmehr, daß man beides eben
nicht will. Aber eben dadurch iſt gerade dieſe Bildung der Ausdruck
eines ganz neuen Princips in der geſellſchaftlichen Ordnung. Sie kann
von jedem gewonnen werden; ſie iſt für jede größere wirthſchaftliche
Thätigkeit geeignet; ſie greift nicht in den individuellen Lebensberuf
[241] ein; ſie iſt die Bildung der höheren, aber nicht mehr die einer beſtimm-
ten ſtändiſchen Klaſſe. Sie trägt daher von Anfang an den Charakter
der ſtaatsbürgerlichen, freien Geſellſchaft an ſich. Sie iſt mit dem be-
ſchränkten Standpunkt der ſtändiſchen Ordnung unvereinbar; aber ſie
iſt mehr, ſie iſt zugleich ein Feind derſelben. Denn ſie iſt es, welche
zum erſtenmale erklärt, daß es eine höhere geiſtige Entwicklung auch
neben der ſtändiſchen Gelehrſamkeit gibt, und daß die perſönliche Tüchtig-
keit nicht bloß durch das handwerksmäßige Erlernen gegeben wird.
Sie muß ſich daher von den beiden bisherigen Bildungsformen ſchei-
den; ja ſie wird gezwungen, mit ihnen geradezu zu kämpfen. Es
wundert uns nicht, wenn ſie in dieſem Kampfe gegen den Werth beider
negativ, hart, einſeitig wird, wenn ſie das Handwerk unter ſich ſieht,
und die gelehrte Bildung als unfähig für die geiſtige Entwicklung er-
klärt. Wir verſtehen es, wenn aus ihr zuerſt jener, nur hiſtoriſch zu
erklärende Begriff des „Praktiſchen“ im ſcharfen Gegenſatze zu dem
Theoretiſchen entſteht, der nunmehr mit aller ſeiner praktiſchen Tendenz
ſofort ſich natürlich eine neue Theorie des Praktiſchen erſchafft, ohne
es ſelbſt recht zu wiſſen. Aber es iſt uns auch klar, daß alle dieſe
Beſtrebungen in dieſer zweiten Epoche noch vereinzelt daſtehen. Noch
herrſcht formell und auf der Oberfläche die ſtändiſche Ordnung; noch
iſt alles ſcharf eingetheilt, mit Zeichen und Symbolen, mit Rechten
und Pflichten wohl verſehen; noch ſtehen ſtreng geſchieden die Körper-
ſchaften aller Art neben einander, das geſammte öffentliche Leben um-
faſſend; in dieſe Ordnung paßt jene Richtung nicht. Welcher „Cor-
poration“ hätte denn dieſe Realſchule und ihre Realſchüler angehören
ſollen? Und ſo ergab ſich das, allen Verſuchen dieſer Epoche gemein-
ſame Reſultat. Die Realſchule, die Realbildung iſt und bleibt ein
Privatunternehmen. Die Verwaltung, welche bereits das ganze
gelehrte Bildungsweſen ſich unterworfen und zu Staatsanſtalten ge-
macht, kümmert ſich um dieſe Privatanſtalten nicht; ſie führen ein
Leben für ſich; ſie bedeuten mehr als ſie ſind; aber ſchon am Ende
des vorigen Jahrhunderts ſtehen ſie vor der Frage, wie ſich denn
die Staatsverwaltung zu dieſem neuen, mit jedem Jahre wichtiger
werdenden Gebiet des Bildungsorganismus verhalten werde? Und in
dieſer Frage liegt der Uebergang zur dritten gegenwärtigen Epoche.
Das Bild, das uns auf dieſe Weiſe dieſe zweite Epoche darbietet,
iſt nun in ſeinen Grundzügen auch für das rechte Verſtändniß der
Gegenwart ſo wichtig, daß wir es noch einmal kurz zuſammen faſſen.
Das vorige und allerdings auch ein Theil des gegenwärtigen Jahr-
hunderts zeigt uns nämlich drei Grundformen der Bildung. Die ge-
lehrte mit ihrem ganzen Apparat von Inſtituten, Vorſchriften, Lehren
Stein, die Verwaltungslehre. V. 16
[242] und Rechten; die Handwerkerbildung mit ihren Lehr- und Prüfungs-
ordnungen; und endlich die Realbildung mit ihren neuen, noch unbe-
ſtimmten örtlich entſtehenden Realſchulen, im heftigen Kampfe mit beiden
andern, aber doch, wenn auch in unſicherer Weiſe, von der gleichfalls
neuen „Polizeiwiſſenſchaft“ nicht mehr verkannt, und in einzelnen Fällen
ſogar ſchon vom Staate unterſtützt. Es iſt klar, daß dieſer Zuſtand
den Charakter einer Uebergangsepoche hat. Die dritte Zeit nun zeigt
uns zu einem öffentlich rechtlichen Syſteme entwickelt, was hier durch
die Natur der Sache und durch muthige Einzelbeſtrebungen begonnen iſt.
Dritte Epoche. Die dritte Epoche, in der wir uns noch gegen-
wärtig befinden, hat nun einen ganz beſtimmten und deßhalb auch
leicht zu bezeichnenden Charakter. In ihr wird nämlich jene, bis dahin
ſporadiſche, für ſich beſtehende Realbildung im Allgemeinen zu einem
öffentlichen Bildungsweſen, nimmt die Handwerkerbildung ihrem größten
Theil nach in ſich auf, und ſtellt ſich gleichberechtigt und mit einer im
Weſentlichen gleichartigen Organiſation neben das gelehrte Bildungs-
weſen, ohne dabei jedoch im Großen und Ganzen ſeinen eigenthümlichen
Charakter der Bildungsfreiheit zu verlieren. Auch dieß nun iſt erſt
allmählig entwickelt, und bildet in dieſer ſeiner Entwicklung einen hoch-
bedeutenden Theil der inneren Geſchichte Deutſchlands.
Je mehr nämlich die ſtändiſche Welt der ſtaatsbürgerlichen Platz
macht, um ſo allgemeiner wird das Gefühl, daß Erwerb und Beſitz
nicht bloß zwei wirthſchaftliche, ſondern zugleich zwei ſociale Faktoren
der neuen Ordnung der Dinge ſind, und daß deßhalb die Realbildung
als eine der allgemeinen Bedingungen der inneren Entwicklung des
Volkes angeſehen werden müſſe. Dieß Gefühl äußert ſich nun in
Deutſchland in der Weiſe, in welcher jede Ueberzeugung hier zur
öffentlichen Geltung gelangt. Es wird Gegenſtand wiſſenſchaftlicher
Unterſuchung, und die Wiſſenſchaft iſt es, welche ihm ſeine Aufgaben
und die Organe ſeiner Erfüllung anweist. Und jetzt beginnt eine zweifache
Bewegung, welche dem heutigen wirthſchaftlichen Berufsbildungsweſen ſeine
allerdings noch keinesweges fertige Geſtalt und Ordnung gegeben hat.
Die erſte geht dahin, dieſe wirthſchaftliche Bildung zu dem Range
und der Aufgabe einer wiſſenſchaftlichen zu erheben. Die Grund-
lage dafür iſt hier wie immer die Aufſtellung eigener theoretiſcher Begriffe
und eigener Studien für dieſelben. Die Form, in der dieß geſchieht,
iſt die damals gewöhnliche, die Ausübung gewiſſer Berufe an dieſe Studien
und die ihnen entſprechenden Prüfungen anzuſchließen. Wir bezeichnen
dieſes Gebiet hier kurz als das der Cameralwiſſenſchaften. Durch
ſie entſteht das, was wir die wirthſchaftliche Fachbildung nennen, und
die wir unten genauer darzulegen haben. Ihre wichtige hiſtoriſche
[243] Stellung beruht darauf, daß in ihnen zuerſt die Verwaltung überhaupt
die wirthſchaftliche Berufsbildung als eine ihrer Aufgaben anerkennt;
durch ſie iſt die letztere formell in das Syſtem des öffentlichen Bildungs-
weſens hinein gezogen; damit iſt der Keim gelegt, der ſich nunmehr
namentlich in den folgenden Jahrzehnten unſeres Jahrhunderts weiter
entwickelt, und eine ſelbſtändige Ordnung für ſich und für das Ganze
hervorruft. Die zweite jener Bewegungen ſchließt ſich dagegen wie die
erſte an die gelehrte Bildung, ſo ihrerſeits an die Volksbildung.
Mit der Neugeſtaltung des inneren Lebens der Völker Europas
wird nämlich das alte ſtändiſche Recht der Zünfte und Innungen immer
unhaltbarer; mit ihm die Meinung, als könne die bisherige rein zunft-
mäßige Bildung der Handwerker in dem großen Produktionskampfe, den
jetzt die Völker Europas unter einander beginnen, ferner noch aus-
reichen. Der Erwerb iſt eines der großen, gewiß eines der allgemeinſten
Elemente der Volksentwicklung; ſchon die unterſte Bildung kann daher nicht
mehr bei der Volksſchule ſtehen bleiben. Sie nimmt vielmehr den Ge-
danken einer wirthſchaftlichen Elementarbildung in ſich auf; ſie ſtellt
dieſelbe auf allen Punkten neben die Volksbildung, ſie ſetzt die letzteren
durch die erſtere fort; ſie wird eine allgemeine Verpflichtung des Volkes
gegen ſich ſelbſt, und ſo entſteht das, was wir im weiteren Sinne das
Realſchulweſen nennen. So wie dieſer Gedanke auftritt, bemächtigt
ſich nun auch die Wiſſenſchaft deſſelben. Die Realbildung, und zwar
eben die des Volkes, wird in die Pädagogik aufgenommen; ſie fängt
an, einen integrirenden Theil derſelben zu bilden; ſie wird den Päda-
gogen allmählig gleichberechtigt mit der wiſſenſchaftlichen und geſtaltet
ſich unter ihren Händen allmählig zu einem Syſtem von Anſtalten,
das wir das Realſchulſyſtem nennen können. Damit hat nun die wirth-
ſchaftliche Bildung aber auch die beiden großen Formen der gelehrten
gewonnen. Es gibt jetzt auf Grundlage der Cameralwiſſenſchaften ein
wirthſchaftliches Fachbildungs-, auf Grundlage der Realſchulen ein wirth-
ſchaftliches Vorbildungsweſen. Beide ſind von der Idee durchdrungen,
daß Kapital und Erwerb mächtige ſociale Faktoren ſind, daß beide nicht
bloß wirthſchaftliche Zwecke, ſondern die Erfüllung eines Lebensberufes
enthalten, der ſich jetzt dem gelehrten als gleichberechtigt an die Seite
ſtellt. Der weitere Ausbau dieſer beiden Elemente geht nun langſam,
aber ſicher vor ſich; er iſt in der Form und in dem Maße ſeiner Ent-
wicklung in den einzelnen Staaten verſchieden, aber er iſt allenthalben
gleich in ſeinem Princip; und indem dieſes weite, einer größern Ent-
faltung ſeiner einzelnen Momente entgegen gehende Bildungsgebiet ſomit
eine allgemeine Aufgabe des Staatslebens wird, entſteht jetzt auch die
Forderung, ein öffentliches Recht deſſelben aufzuſtellen und es vermöge
[244] dieſes Rechts auch formell in das Gebiet der öffentlichen Verwaltung
des Bildungsweſens aufzunehmen.
In dieſer neuen Rechtsordnung des wirthſchaftlichen Berufsbildungs-
weſens zeigt ſich nun ſein tiefer Unterſchied von dem gelehrten. Der
wirthſchaftliche Beruf behält den Charakter des individuellen. Es gibt
daher keine Pflicht zur wirthſchaftlichen Vor- oder Fachbildung; die
wirthſchaftliche Bildung bleibt principiell frei. Von dieſer Freiheit gibt
es ſchon im Anfange Ausnahmen, die ſich freilich nur noch auf die An-
ſtellung der fachmäßig Gebildeten als Staatsbeamtete und auf große
einzelne Erwerbsformen beziehen, bei denen die Sicherheitspolizei zur
Sprache kommt. Allmählig aber entſteht die Frage, ob die Freiheit
der Vorbildung, die mehr und mehr gleichen Rang mit der Handwerks-
bildung in den einzelnen Handwerken einnimmt, namentlich nach Ein-
führung der Gewerbefreiheit, auch jetzt noch eine allgemein geltende
ſein ſolle; und das iſt der Inhalt der Gewerbeſchulfrage, die wir
unten zu beleuchten haben. Im Großen und Ganzen aber erhält ſich
der Gedanke dieſer Freiheit der wirthſchaftlichen Berufsbildung, und
aus ihr geht nun auch die Geſtalt der öffentlichen Verwaltung derſelben
hervor. Da ſie und ſo weit ſie eine freie iſt, kann der Staat ſie nicht
als Staatsaufgabe anerkennen; da ſie aber zugleich eine organiſch noth-
wendige iſt, muß ſie demnach eine allgemeine ſein. Die Vereinigung
beider Grundſätze beſteht nun darin, daß die Anerkennung des letzteren
als Forderung an die Selbſtverwaltungskörper erſcheint, durch
Herſtellung von wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten denen, welche ſie be-
nützen wollen, das Mittel der Bildung zu geben. Wiederum kann
das offenbar nur für die Vorbildungsanſtalten gefordert werden, da
die Fachbildungsanſtalten wenigſtens zum Theil für einen beſtimmten
öffentlichen Beruf vorbereiten. Die letzteren werden daher zum Theil
vom Staate übernommen oder hergeſtellt. So bilden ſich hier Staats-
anſtalten neben Privat- und Körperſchaftsanſtalten zwar mit gleicher
Beſtimmung, aber mit ſehr verſchiedenen Rechten und verſchiedener
öffentlicher Stellung; und es wird mit langſamer, aber ſicher fort-
ſchreitender Entwicklung aus dem Zuſammenwirken dieſer Elemente ein
vollſtändiges wirthſchaftliches Berufsbildungsſyſtem, deſſen
Vollendung jetzt noch ein letztes Glied fordert, um ſeine ganze organiſche
Stellung zu erfüllen.
Dieß Glied nun beſteht in dem Verhältniß deſſelben zur
gelehrten Bildung. Es iſt um ſo entſcheidender, darüber zu einer
beſtimmten Anſchauung zu gelangen, als man gerade dieſe ſo hochwich-
tige Seite meiſtens gar nicht beachtet.
Mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft nämlich
[245] verſchwindet, wie ſchon in der Darſtellung des gelehrten Schulweſens
erwähnt, der frühere ſcharfe Gegenſatz der gelehrten und wirthſchaftlichen
Bildung. Beide, von der Wiſſenſchaft erfaßt, erſcheinen allmählig als
zwei Seiten deſſelben Geſammtlebens, als zwei gleichberechtigte, gleich
nothwendige Bildungsproceſſe im Leben der Völker. Je weiter die
geiſtige Entwicklung fortſchreitet, um ſo klarer wird der Werth des
einen Gebietes für das andere, um ſo unmöglicher alſo auch der Ge-
danke einer principiellen äußeren Scheidung derſelben. Aber ſo wie das
feſtſteht, kommt es nunmehr darauf an, dieſer inneren Verbindung auch
in einer äußeren Form ihre objektive Anerkennung zu verſchaffen. Und
daraus geht eine Reihe von Erſcheinungen hervor, die in hohem
Grade eben durch dieſe ihre Beziehung zu der inneren Einheit des Bil-
dungsweſens beachtenswerth ſind. Zuerſt findet die Verbindung der
Vorbildungsanſtalten ihren ſelbſtändigen Ausdruck im Realgymna-
ſium, das zugleich eine gelehrte und wirthſchaftliche Vorbildungsanſtalt
iſt, und daher in beiden Gebieten ſeine Stellung findet. Dann aber
kommt es darauf an, dieſelbe Verbindung auch für die Fachbildung
herzuſtellen. Hier iſt die äußerliche Verſchmelzung unmöglich; ſie muß
durch eine innere erſetzt werden, und dieſe erſcheint in der gegenſeitigen
Aufnahme der Gegenſtände der Lehre in die ſpeciellen Fächer und
ihren Lehrgang. Das Gebiet nun, in welchem die höchſte wirthſchaft-
liche Bildung als Theil der gelehrten Fachbildung, und damit als eine
der jetzt organiſch werdenden Aufgaben der Univerſitäten auftritt, iſt
das der Staatswiſſenſchaften. Ihr charakteriſtiſches Element iſt
nicht mehr die Philoſophie des Staats, welche der allgemeinen, und
nicht mehr das Staatsrecht, welches der juriſtiſchen Bildung angehört,
ſondern ſpeciell die Nationalökonomie, Finanzwiſſenſchaft und endlich
die Verwaltungslehre. Das ſind die eigentlichen Staatswiſſenſchaften,
und in ihnen iſt der Grundſatz ausgeſprochen, daß die höchſte gelehrte
Bildung nicht mehr ohne die höchſte wirthſchaftliche ſein ſoll; die Stel-
lung der Staatswiſſenſchaften an den Univerſitäten bildet in dieſem
Sinne das Kriterium des Verhältniſſes derſelben zur Entwicklung unſerer
Gegenwart und nächſten Zukunft. Andererſeits kann auch die wirth-
ſchaftliche Fachbildung nicht mehr ohne dieſe höchſte wiſſenſchaftliche
Auffaſſung des wirthſchaftlichen Lebens bleiben; und ſo ſehen wir wenig-
ſtens die Nationalökonomie bei den beſten wirthſchaftlichen Fachbildungs-
anſtalten, aber auch ſchon die Verwaltungslehre neben der Statiſtik in
die Lehre derſelben aufgenommen. Das alles iſt nun noch vielfach un-
fertig, zum Theil noch im Stadium des richtigen Gefühles, ſtatt in dem
des klaren Verſtändniſſes, und vielfach, wie in ſolchen Bewegungen
Regel iſt, in Einzelfragen verloren, anſtatt von Einem das Ganze
[246] umfaſſenden Gedanken beherrſcht zu ſein. Aber der Entwicklungsgang
iſt im Großen und Ganzen nicht zweifelhaft; es iſt der Proceß der Her-
ſtellung der organiſchen Harmonie zwiſchen den beiden großen Bildungs-
gruppen, ein Proceß, der um ſo raſcher und beſſer ſeine definitive Ge-
ſtalt annehmen wird, je klarer man die inneren und äußeren weſent-
lichen Unterſchiede ſeiner beiden großen Elemente erkennt, um von da
aus zum Verſtändniß des weſentlich Gemeinſchaftlichen zu gelangen.
Das nun iſt Inhalt und Bedeutung der dritten Epoche des wirth-
ſchaftlichen Berufsbildungsſyſtems, der Epoche, der wir angehören. Es
iſt kein Zweifel, daß die wirkliche Geſtalt des Einzelnen in derſelben,
und der Organismus und das Recht der Anſtalten in den einzelnen
Staaten ſehr verſchieden iſt. Man iſt ſich eigentlich über wenig Ein-
zelnes, nicht einmal über die Bedeutung der Namen einig; das Ganze
jedoch wird kaum zweifelhaft ſein. Die Verwaltungslehre hat nun da-
bei die nicht leichte Aufgabe, auch hier ſo viel als irgend möglich feſte
Kategorien, feſte Begriffe und feſte Namen aufzuſtellen, denn ſie ſoll
die Grundlage deſſen ſein, was am Ende den definitiven Ausdruck des
Ganzen zu geben hat, des geltenden öffentlichen Rechts dieſes Bil-
dungsweſens. Es muß ihr daher verſtattet werden, dieß Gebiet zu
formuliren, ſo weit ſie damit zu thun hat. Dieß geſchieht für das
Einzelne im Folgenden. Das Bild des Ganzen aber, auf ſeine ein-
fachſten Elemente zurückgeführt, ſtellt ſich wohl faßlich in dem folgenden
Schema dar:
Literatur. Was den Gang und Geiſt der auf das wirthſchaft-
liche Bildungsweſen im Allgemeinen bezüglichen Literatur betrifft, ſo iſt
der Charakter derſelben ein ganz ſpecifiſcher, und hängt innig mit dem
geſammten Bildungsgange des deutſchen Geiſtes zuſammen. Man muß
dabei vor allem die ſtaatsrechtliche oder publiciſtiſche Literatur und die
pädagogiſche unterſcheiden. Die erſte hat ſich mit dem Bildungsweſen
überhaupt wenig, mit dem wirthſchaftlichen aber im Beſonderen bis auf
[247] die neueſte Zeit gar nicht befaßt. Man kann dabei füglich zwei Epochen
unterſcheiden, die des früheren Staatsrechts und der Staatswiſſenſchaft,
und die neue und noch ſehr unfertige des Verwaltungsrechts.
Die ſtaatswiſſenſchaftliche Literatur gehört während ihrer vollen
Blüthe einer Zeit, wo die wirthſchaftliche Bildung noch keine Selb-
ſtändigkeit hatte. Es iſt daher ſehr bezeichnend, daß nicht nur Juſti,
Sonnenfels, Jacob u. A., ſondern ſogar die bedeutendſten politiſchen
Schriftſteller unſeres Jahrhunderts bei allem Eifer, mit dem ſie ſich der
wiſſenſchaftlichen Bildung annahmen, der realen Bildung mit keinem
Worte erwähnen, wie Aretin Conſtit. Staatsrecht II, S. 35 ff. 1827.
Selbſt Soden nicht in ſeiner Staatsnationalbildung, 1831, die doch den
8. Band ſeiner Nationalökonomie bildet. Ebenſo Pölitz, Zachariä
u. a. Die ſtaatsrechtliche Literatur hat in gleicher Weiſe bisher
das ganze wirthſchaftliche Bildungsweſen weggelaſſen; kümmerte ſie ſich
doch kaum noch um das Univerſitätsweſen! Dagegen hat die bisherige
Verwaltungslehre die Bedeutung der Sache zum Theil verſtanden, aber
nicht recht zur Ausbildung gebracht. Schon Berg im Polizeirecht
II. Band gibt einige ſporadiſche Notizen über die Realſchulen; natür-
lich konnte er über die Fachbildung noch nichts ſagen, da ſie nicht be-
ſtand. Entſcheidend war dagegen das Auftreten von Mohl in ſeinem
Württembergiſchen Verwaltungsrecht, der dem „Gewerbeſchul-
weſen“ mit der geſammten Förderung der Gewerbe definitiv ſeine Stel-
lung in dem Verwaltungsrecht anwies (II. Bd. §. 238 ff). Leider ließ er
dabei die Cameralwiſſenſchaften und ihre Pflege weg, und das hat den
üblen Einfluß gehabt, daß die hinter ihm entſtehenden Bearbeitungen
des territorialen Verwaltungsrechts, wie Rönne, Stubenrauch, Pötzl,
Roller, Funke gleichfalls den inneren Zuſammenhang der wirthſchaft-
lichen Vor- und Fachbildungsanſtalten nicht recht zum Ausdruck brach-
ten und daher bei der einfachen, unzuſammenhängenden Darſtellung des
Rechts der einzelnen Inſtitute ſtehen blieben. Das konnte Mohl durch die
ſyſtematiſche Aufnahme in ſeine Polizeiwiſſenſchaft (I. Bd., S. 78)
nicht wieder gut machen. Es wird eine der unabweisbaren Aufgaben
des künftigen Verwaltungsrechts bleiben, jene innere Einheit des gan-
zen Syſtems auch äußerlich im öffentlichen Recht feſtzuſtellen. Die
Statiſtik hat wiederum ihrerſeits ſehr viel, jedoch meiſt Oertliches
und nicht immer Zuſammenhängendes geleiſtet; ſie hatte freilich das
Recht, von der Verwaltungslehre ihre feſten Kategorien zu fordern, die
dieſe ihr nicht bot. Ein ſehr gutes, wenn auch kurzgefaßtes Bild gibt
Brachelli in ſeiner ſchönen Arbeit: die Staaten Europas, 1866, S. 530.
Eine Geſchichte des wirthſchaftlichen Bildungsweſens als Ganzes gibt
es nicht. Nicht einmal die ſpeciellen Facharbeiten, wie Maſcher, das
[248] deutſche Gewerbeweſen von der früheſten Zeit bis auf die Gegenwart
1866, hat an den Stellen, wo es doch ſo nahe lag, etwas über die
Lehr- und Bildungsordnung der Zünfte geſagt (Abſchnitt III, Cap. VIII,
und Abſchnitt IV, Cap. VII.). Die Geſchichten des Handels ſchweigen.
— Einen ganz andern Charakter hat die pädagogiſche Literatur. Da
ſich die gelehrte Pädagogik wiederum ihrerſeits nie dieſe große Frage
weder im Gebiet der Vorbildungs-, noch der Fachbildungsfragen kümmerte,
ſo mußte ſie auf eigener Grundlage ſtehen. Dieſe wurde nun zwar
beſchränkt, aber innerhalb ihrer Gränzen um ſo tüchtiger gefördert.
Ihre Frage war die nach dem Verhältniß zwiſchen der gelehrten und
wirthſchaftlichen Bildung und der Organiſation des letzteren; aber da-
bei hat ſie die höhere Fachbildung der wirthſchaftlichen Welt wieder
übergangen und ſich faſt ausnahmslos in der Vorbildung bewegt.
Hier exiſtirt eine ſehr reiche und höchſt gehaltvolle Literatur; die Ency-
klopädie Schmids hat vortreffliche Aufſätze, bei dem leider das geſetz-
liche Material nicht immer gleichmäßig behandelt iſt. Wir heben außer
den beiden Artikeln von Lange und Gugler namentlich den ſchönen
Aufſatz von Geffers „Humanismus und Realismus“ hervor, der den
Proceß der Ablöſung der wirthſchaftlichen von der gelehrten Bildung —
freilich wieder nur für das Vorbildungsweſen der eigentlichen Real-
ſchulen, ohne weitere Aufnahme der Fachbildungen — ſehr gut dar-
ſtellt. Fiel es denn dem ſo umſichtigen Baumſtark in ſeiner Ency-
klopädie der Cameralwiſſenſchaften gar nicht ein, daß dieſelben denn
doch auch ihrerſeits nur ein Theil eines größeren Ganzen ſeien? —
Ueberblickt man nun auf Grundlage der obigen allgemeinen hiſto-
riſchen Entwicklung, was für das erſte Gebiet des wirthſchaftlichen Vor-
bildungsſyſtems geſchehen iſt und für daſſelbe beſteht, ſo ergeben ſich ge-
wiſſe Reſultate, ohne welche es faſt unmöglich iſt, einen Ueberblick über
das Ganze zu erlangen.
Zuerſt muß man offenbar davon ausgehen, daß das Syſtem dieſer
Vorbildungsanſtalten nicht eben in ſyſtematiſcher Weiſe, ſondern hiſto-
riſch zu ſeiner gegenwärtigen Geſtalt gelangt iſt. Die Elemente der
Bildung dieſer letzteren aber ſind zweifacher Natur, und es iſt ihr Zu-
ſammenwirken, das man ſich auf jedem Punkte vergegenwärtigen muß.
Einerſeits nämlich liegt denſelben der mit der ganzen geſellſchaftlichen
Bewegung unſerer ſtaatsbürgerlichen Epoche gegebene Drang zum
Grunde, die wirthſchaftliche Bildung zu einem Gemeingut des ganzen
[249] Volkes zu machen und ſie daher auf jedem Punkte zu beginnen, ohne
viel zu fragen, ob man gerade dieſe oder jene theoretiſche Kategorie von
Vorbildungsanſtalten errichten wolle. Andrerſeits überließ die Ver-
waltung dieſe Errichtung den Selbſtverwaltungskörpern und that Recht
daran, kein abſolut gültiges, formales Syſtem derſelben geſetzlich vor-
zuſchreiben, ſondern nur von Fall zu Fall mit beſtimmten Vorſchriften
einzuſchreiten. Die natürliche Folge davon war, daß nunmehr dieſe
Vorbildungsanſtalten, obwohl von demſelben Gedanken ausgehend, in
Form, Inhalt und Funktion im Einzelnen verſchieden ſind. Ihre Ge-
ſtalt, ja ihr ganzer Bildungsproceß iſt vorwiegend ein örtlicher. Der
Umfang ihrer Aufgaben richtet ſich mehr nach dem Bedürfniß, als
nach einem ſyſtematiſchen Princip; oft haben ſie verſchiedene Funktionen
zugleich; oft beſtehen ſie wieder neben einander; oft ſind ſie bei äußer-
licher Verſchiedenheit innerlich weſentlich gleich. Es iſt das bei aller
Unklarheit im Einzelnen dennoch im Großen und Ganzen ein ganz
naturgemäßer Zuſtand, wie er in jedem noch nicht fertigen Entwicklungs-
ſtadium vorkommt. Er beweist nur, daß dieß ganze Gebiet noch im
Werden iſt und ſeine Zeit gebrauchen wird, ehe man zu einer feſten
Geſtalt gelangt. Die wichtigſte Folge aber von dieſer Unbeſtimmtheit
im Einzelnen iſt es nun unzweifelhaft, daß vermöge derſelben das
öffentliche Recht dieſer verſchiedenen Anſtalten noch kein feſt abge-
ſchloſſenes iſt; denn auch hier iſt das Recht die natürliche Folge, oder
genauer der natürliche, feſte Ausdruck und die formale Anerkennung
des organiſchen Weſens und der Stellung dieſer Anſtalten. Es wird
uns daher nicht wundern, daß auch für die ganze äußere Geſtalt und
Ordnung derſelben keine Einheit und Gleichartigkeit erzielt iſt, und
zwar ebenſo wenig in der Theorie, als in der Praxis. Dieß nun zeigt
ſich hier wie immer am deutlichſten in den Benennungen der ver-
ſchiedenen dahin gehörigen Anſtalten. Dieſe Namen ſind: Sonn-
tags-, Feiertags-, Handwerks-, Gewerbe-, Fortbildungs-, Real- und
andere Schulen. Daß ſie alle etwas Gemeinſames haben, darüber
exiſtirt kein Zweifel. Daß ſie aber zugleich nicht bloß verſchiedene
Namen derſelben Sache, ſondern in der That als ſelbſtändige Organe
im großen Syſtem des Bildungsweſens, verſehen mit ſelbſtändigen Auf-
gaben und daher eine eigene innere Organiſation bedürfend, anerkannt
werden müſſen, das iſt noch nicht recht zur Entſcheidung gelangt. Hier
iſt daher bei voller Klarheit im Ganzen ſo viel Verwirrung im Ein-
zelnen, daß zu einem Syſtem des Rechts nicht zu gelangen iſt, ohne
daß wir verſuchen, feſte und dem Ganzen entſprechende Kategorien auf-
zuſtellen. In der That wird es ſpeciell der Verwaltungslehre unmöglich
bleiben, ohne eine ſolche formale Ordnung ihrer Aufgabe zu genügen.
[250]
Wir müſſen daher verſuchen, dieſe Grundlage aufzuſtellen und
dadurch zu einem Princip und Syſtem des öffentlichen Rechts der-
ſelben zu gelangen. In der That iſt dieſelbe an ſich ſehr einfach, wenn
man ſie nur in ihrer gehörigen, organiſchen Verbindung mit dem ge-
ſammten Bildungsweſen auffaßt.
(Die Fortbildungs- und die Vorbildungsſchulen.)
Das, was wir das Syſtem dieſer Anſtalten nennen, beruht natür-
lich nicht auf einer äußerlichen Schematiſirung. Es geht vielmehr aus
dem Verhältniß jeder einzelnen Art derſelben zu demjenigen hervor,
von welchem ſie ſelber erzeugt ſind und für welches ſie arbeiten. Nur
das, was ſie zu leiſten haben, darf uns endgültig erklären, was ſie
ſind und ſein ſollen. Und das iſt das praktiſche Leben und ſein Be-
dürfniß nach einer, für die wirthſchaftlichen Zwecke deſſelben geordneten
und begränzten gewerblichen Bildung. Das praktiſche Leben aber zeigt
uns bei der zu bildenden Maſſe den angehenden Gliedern der wirth-
ſchaftlichen Volksthätigkeit zwei große Gruppen, welche der Bildung be-
dürfen. Die erſte dieſer Gruppen hat ſchon ihre künftige Beſtimmung
gewählt und will für dieſe ſchon feſtſtehende Lebensaufgabe eine Weiter-
bildung, welche daher die Aufgabe hat, für dieſelbe den Berufs-
bildungsproceß abzuſchließen. Dieſe Gruppe wird gebildet durch die
bereits in ein beſtimmtes Handwerk eingetretenen Handwerker, die nun
wieder Lehrlinge oder Geſellen ſein können. Die zweite Gruppe da-
gegen beſteht aus denen, welche ihre ſpecielle wirthſchaftliche Laufbahn
überhaupt erſt wählen wollen. Für dieſe hat die wirthſchaftliche Bildung
einen ganz anderen Charakter. Hier iſt ſie nicht mehr eine Weiter-
bildung, ſondern vielmehr eine eigentliche Vorbildung. Dieſe Vor-
bildung ſelbſt iſt eben deßhalb keine einfache mehr. Sie kann ihrer-
ſeits die allgemeine Vorbildung für das eigentliche wirthſchaftliche Leben
ſein (Realſchule); ſie kann aber auch noch die Möglichkeit des Ueber-
ganges in die gelehrte Bildung vorausſetzen und muß daher gewiſſe Ele-
mente derſelben aufnehmen (Realgymnaſium). Das ſind die natürlichen
Grundlagen dieſes Syſtems, und mit ihr iſt es nun wohl nicht mehr
ſchwierig, daſſelbe in feſte Kategorien zu ordnen und damit — wo möglich!
— zu einer Uebereinſtimmung in Wort und Sinn der gebrauchten
Ausdrücke zu gelangen, ohne welche, wie wir wiederholen dürfen, zu
einer feſten Ordnung des öffentlichen Rechts nicht zu gelangen iſt.
I. Die erſte Gruppe bezeichnen wir demnach als die der Fort-
bildungsſchulen für das wirthſchaftliche Leben. Dieſe nun ſcheiden
[251] ſich wieder in die Sonn- und Feiertagsſchulen und die eigentlichen Ge-
werbeſchulen.
a) Die Sonn- und Feiertagsſchulen bilden in der That nichts
anders als die Fortſetzung der Elementarbildung für die Lehrlinge.
Sie ſind meiſtens aus der Unmöglichkeit entſtanden, einen genügenden
Elementarunterricht für die Kinder der arbeitenden Klaſſe zu bieten und
vertreten daher die Volksſchule. Darauf beruht nicht bloß ihre
Lehrordnung, ſondern auch ihr öffentliches Recht. Die Frage der
Sonntagsſchulen entſteht nun aber da, wo der Elementarunterricht ge-
nügend vorhanden iſt und beſteht darin, ob auch nach dem fertigen
Elementarunterricht ſolche Schulen vorhanden ſein und was ſie in ſolchem
Falle enthalten ſollen? Offenbar ruht die Antwort auf dieſe Frage in
der Beſtimmung deſſen, was man als Elementarunterricht bezeichnet.
Wo die drei Elemente fehlen, ſind ſie unbedingt nothwendig; wo ſie
ſind, ſind ſie unbedingt nützlich, müſſen aber einen höheren Inhalt
haben und den Charakter der allgemeinen Gewerbeſchulen annehmen;
ſie werden dann ſpeciell für die höhere Rechnung und das Zeichnen be-
ſtimmt ſein müſſen. Das Mittel, beide Zwecke zu erreichen, beſteht
in der Einrichtung des Klaſſenſyſtems; dem doppelten Zwecke müſſen
zwei Klaſſen entſprechen, die Elementar- und die höhere Klaſſe, welche
den Uebergang zur Gewerbeſchule bietet.
b) Das, was wir nun als die zweite Abtheilung der Fortbildungs-
ſchule bezeichnen, nennen wir die Gewerbeſchulen. Die Gewerbe-
ſchulen haben zwei Vorausſetzungen. Die erſte iſt ein vollendeter
Elementarunterricht; die zweite iſt die bereits geſchehene Berufswahl
des Lernenden; derſelbe muß — ebenſo wie der Sonntagsſchüler —
bereits ſein Gewerbe gewählt haben. Innerhalb dieſer Gränzen aber
ſcheiden ſich nun wieder zwei Formen.
Die erſte iſt die allgemeine Fortbildungsſchule. Die Auf-
gabe derſelben iſt die Bildung für diejenigen Kenntniſſe und Fähig-
keiten, welche allen Handwerken gemeinſam ſind. Ohne Zweifel
beſtehen die Hauptgebiete derſelben in den Elementen der höheren Rech-
nung, und dann im Zeichnen, „der Sprache der Technik.“ An jenes
hat ſich das anzuſchließen, was leider noch wenig ausgebildet iſt, näm-
lich die einfache Buchführung über die Wirthſchaft der Handwerker.
Nicht blos die Nationalökonomie, ſondern auch die Verwaltungslehre
kann nicht genug betonen, daß dieſe Aufgabe eine unabweisbare, daß
der Segen, den das Verſtändniß der Haushalts- und Handwerksrech-
nung bringt, ein unmeßbarer iſt! Sie iſt das Maß des wirthſchaft-
lichen Wohlergehens jedes Einzelnen, und ihr Reſultat das Bewußt-
ſein deſſelben! Wie gerne verweilten wir hier einen Augenblick! Aber
[252] der Mann, der das zu einem ſyſtematiſchen Inhalt der Lehre macht,
wird ſich ein unſterbliches Verdienſt um ſein Volk erwerben! — An das
zweite ſchließt ſich die Lehre von den Elementen der Mechanik und der
Chemie. Es iſt nicht unſere Sache, über die Gränze dieſes Theiles ein
Urtheil abzugeben; aber die Nothwendigkeit leuchtet von ſelber ein. —
An dieſe allgemeine Fortbildungsanſtalten kann ſich nun ſchon das
Vereinsweſen der Handwerker anſchließen und durch allgemeine Bildungs-
vereine die allgemeine Bildung in das gewerbliche Leben aufnehmen.
Daß dabei namentlich öffentliche Leſezimmer und Bibliotheken von
größter Bedeutung ſind, verſteht ſich von ſelbſt; mit ihnen tritt dann
das Fortbildungsweſen in das Gebiet der allgemeinen Bildung über.
Die zweite Hauptform möchten wir nun die eigentlichen Ge-
werbeſchulen nennen. Wir verſtehen darunter diejenigen, deren
Zweck die Bildung für ein einzelnes, beſtimmtes Gewerbe oder
Handwerk iſt. Die Natur ſolcher Schulen fordert, daß ſie mit ihrem
ganz ſpeciellen Zweck auch ganz ſpecielle Aufgaben haben, die ſich nach
den Bedürfniſſen und Vorausſetzungen jedes einzelnen Gewerbes richten.
Dahin gehören z. B. Spinnſchulen, Webeſchulen, Schloſſerſchulen,
Tiſchlerſchulen ꝛc. Sie können nur in größeren Städten vorkommen
und nur für einzelne Gewerbe gelten. Bisher hat nur die Noth (Spinn-
ſchulen, Strohflechten) oder die gewaltige Mitwerbung (Weberſchulen)
ſie erzeugt; wenn wir durch die Natur der Sache die Kraft haben, zu
erſetzen, was hier mangelt?
II. Die zweite große Gruppe umfaſſen wir nun mit der allge-
meinen Bezeichnung des Realunterrichts und der Realbildung. Sie
zerfällt wieder, wie ſchon erwähnt, in zwei Formen, die Realſchule
und das Realgymnaſium.
Die Realſchule, welche als der eigentliche Träger der wirthſchaft-
lichen Berufsbildung in Deutſchland anerkannt iſt, hat nun einen,
wohl auch ganz unbezweifelt weſentlich von dem der Gewerbeſchule
verſchiedenen Charakter. Wir halten daran feſt, daß die Verwaltungs-
lehre den pädagogiſchen Inhalt auch hier vorauszuſetzen hat. Im orga-
niſchen Syſtem des öffentlichen Bildungsweſens aber kommt nur ihnen der
Charakter der eigentlichen Vorbildungsanſtalten zu, indem die in ihnen
gegebene Bildung ihren Werth wenigſtens principiell erſt durch die ihnen
folgende Fachbildung empfängt. Während daher die Gewerbeſchulen
lehren, was der Gewerbsmann anwenden kann, lehren die Realſchulen
nur die Vorausſetzungen der höheren gewerblichen Bildung. In ihnen
wird die Wahl eines Berufes noch als ganz unbeſtimmt vorausgeſetzt,
mit der einzigen Beſchränkung, daß der wiſſenſchaftliche Beruf ausge-
ſchloſſen bleibt. Die Realſchulen ſchließen ſich daher unmittelbar an
[253] die höhere Elementarbildung an und erſcheinen in ihren unterſten Stufen
geradezu als die höheren Bürgerſchulen, von denen aus jeder zu jedem
Gewerbe übergehen kann, während die Gewerbeſchulen für das reifere
Jugendalter beſtimmt ſind. Jene erſteren entſprechen daher dem Syſtem
der gelehrten Schulen, während die letzteren vielmehr ſelbſtändig da-
ſtehen. Realſchulen ſind demnach für alle Zweige des Erwerbes die
geeignete Vorbildung, Gewerbeſchulen dagegen nur für das eigentliche
Handwerk. Das Syſtem der Gewerbeſchulen iſt aus demſelben Grunde
ſtets örtlich und ſeinen Fächern nach beſchränkt. Das Syſtem der
Realſchulen dagegen iſt offenbar ein integrirender, ja ein organiſcher
Theil des geſammten Bildungsweſens; und das iſt es auch, was
das öffentliche Recht derſelben beſtimmt hat. Ihre hiſtoriſche Wichtigkeit
beruht auf dieſer ihrer Stellung; ſie ſind es, in denen ſich die wirth-
ſchaftliche Berufsbildung von der gelehrten losgelöſt und in denen die
letzteren eigentlich erſt ihre ſyſtematiſche, öffentlich anerkannte Stellung
empfangen hat. Es darf uns daher wohl nicht wundern, wenn man
vielfach das ganze wirthſchaftliche Bildungsweſen oft als das Realſchul-
weſen bezeichnet, oft aber auch das erſtere mit dem letzteren erſchöpft
zu haben glaubt, wodurch wieder der Zuſammenhang mit dem Ganzen,
der ſich das wirkliche Leben in trefflicher Weiſe zu bewahren verſtanden
hat, theoretiſch nur zu leicht verwiſcht wird.
Das Realgymnaſium endlich bildet den Uebergang von der
gelehrten Bildung zur wirthſchaftlichen und umgekehrt. Der Ausdruck
dieſer innigen Verbindung beider iſt die Aufnahme der lateiniſchen
Claſſicität, mit dem Anſchluß der griechiſchen. Wir glauben im Hin-
blick auf das früher Geſagte damit den Charakter der Realgymnaſien
hinreichend zu bezeichnen. Die große Frage der Zukunft, die auch die
Verwaltungslehre nicht nebenſächlich betrachten ſollte, iſt die, ob und
wie weit die abſolvirte Bildung in einem Realgymnaſium zu dem
Eintritt in die Univerſität berechtigt. Und es iſt vorauszuſehen, daß
ſie dieſe Berechtigung für gewiſſe Berufe dereinſt ganz beſtimmt ge-
winnen wird.
An dieſes Syſtem der wirthſchaftlichen Vorbildungsanſtalten ſchließt
ſich nun dasjenige, was wir als das öffentliche Recht derſelben be-
zeichnen müſſen.
Während nun Objekt und Syſtem dieſer Anſtalten in der ange-
gebenen Weiſe aus der Natur der Sache folgen, entſteht das öffentliche
Recht derſelben, indem dieſe Vorbildung zum Gegenſtand des öffent-
lichen Willens und damit zum Objekt von Geſetzen und Verordnungen
[254] wird. Die hohe Bedeutung dieſes öffentlichen Rechts beſteht darin,
daß in ihm das durch die Natur der Sache ſich Bildende und Werdende
erſt ſeine feſte äußere Geſtalt gewinnt; formell aber bildet das öffent-
liche Recht den Punkt, auf welchem das ganze Gebiet aus der reinen
Pädagogik in die Verwaltungslehre übergeht und einen Theil derſelben
bildet.
Der Inhalt dieſes Rechts iſt nun ein ganz beſtimmter. Er be-
ruht auf dem Verhältniß, in welchem die Staatsverwaltung in Be-
ziehung auf das Vorbildungsweſen zu der Selbſtverwaltung ſteht; er
zeigt daher die Punkte, das Maß und die Form, in denen der Staat
in die Thätigkeit der letzteren entſcheidend eingreift. Die Beſtimmung
dieſer Momente iſt aber darum von ſo hoher Bedeutung, weil das Ein-
greifen des Staats, ſei es durch geſetzliche Vorſchriften, ſei es durch
Unterſtützung oder ſonſtige Theilnahme den formellen Ausdruck der
Anerkennung eines großen, für das Geſammtleben des Volkes wich-
tigen Geſammtintereſſes enthält und daher den Uebergang aus dem
örtlichen und zufälligen in das allgemeine Verwaltungsſyſtem bedeutet.
Offenbar nun kann dieß Recht ebenſo wenig ein einfaches ſein,
wie ſein Objekt. Es iſt ein Syſtem und zwar ein reiches Syſtem, weil
die Grundverhältniſſe dieſes Rechts wiederum nicht die gleichen ſein
können für die höchſt verſchiedenen Verhältniſſe der einzelnen Arten der
Vorbildungsanſtalten, von denen wir hier zu reden haben.
Die Punkte, auf welche das Syſtem zurückgeführt werden muß,
und die mithin das Gebiet der Vergleichung zu bilden haben, ſind die
Herſtellung der Anſtalt, das Lehrerweſen, die Lehrordnung
und das Prüfungsweſen.
1) Das Rechtsprincip für die Herſtellung dieſer Anſtalten beruht
darauf, daß eine Gleichheit derſelben nicht erreichbar iſt, ſondern daß
ſowohl die Bedingungen als die Wirkungen bei weitem vorwiegend
örtlicher Natur ſind, und daher weſentlich der Gemeinde angehören,
während ſie zugleich eine allgemeine Funktion im Bildungsproceſſe des
Volkes ausüben. Aus dem erſten Elemente geht der Grundſatz hervor,
daß die Anlage und Erhaltung derſelben Sache der Gemeinde iſt; aus
dem zweiten der, daß der Staat die letztere, wo ſie nicht im Stande
iſt die Laſt zu tragen, mit ſeinen Mitteln unterſtützt. Nur nimmt
dieſer Grundſatz in ſeiner Anwendung auf die einzelnen Arten eine
verſchiedene Geſtalt an.
Die Sonntagsſchulen bilden einen Theil des Elementarunter-
richts, gehören daher dem Volksſchulrecht und ſtehen in Beziehung auf
Anlage und Erhaltung unter den für die Volksſchule geltenden Regeln.
Die allgemeine Fortbildungsſchule iſt offenbar Sache der Gemeinde;
[255] die ſpecielle Gewerbeſchule dagegen iſt Sache der Gewerbsgenoſſen-
ſchaft und mit Recht derſelben — wenigſtens zum Theil — als eine
ihrer wichtigſten Pflichten überwieſen, wobei ſie ihre Unterſtützung von
der Gemeinde zu erwarten hat und daher unter der Oberaufſicht der
Gemeinde ſtehen muß. Es liegt nahe, dabei dem freien Vereinsweſen
einen ebenſo großen Antheil an dieſen Anſtalten zu laſſen, als der
Gemeinde und den Genoſſenſchaften. Die Realſchulen dagegen ſind
zwar zunächſt auch Gemeindeanſtalten, haben aber doch ihre allgemeinere
Bedeutung und größeren Anſpruch auf den Charakter von Staatsan-
ſtalten; es folgt, daß der Staat berechtigt, ja verpflichtet iſt, ihre An-
lage zu fordern, auch wieder eben deßhalb gleichfalls verpflichtet iſt,
die Gemeinde bei derſelben zu unterſtützen. Die Realgymnaſien
dagegen müſſen wieder als Gemeindeanſtalten oder als freie Unter-
nehmungen angeſehen werden.
II. Das Lehrerweſen dieſer Anſtalten empfängt auf gleiche
Weiſe durch den doppelten Charakter derſelben ſeinen doppelten Inhalt.
Princip muß ſein, daß der Staat die Lehrerbildung als Staats-
aufgabe und Anſtalt anerkennt, daß dagegen die Anſtellung der
Lehrer den Selbſtverwaltungskörpern überlaſſen bleibt. Aber auch in
dieſer Beziehung iſt eine Verſchiedenheit klar. Die Lehrer der Sonntags-
ſchulen ſind Volkslehrer; die der allgemeinen Fortbildungsſchule, die
der Realſchulen und Gymnaſien ſind ſchon Fachlehrer und fordern daher
eine öffentliche Lehrerbildungsanſtalt, während die Lehrer der ſpeciellen
Gewerbeſchulen keine fachmäßig gebildete Lehrer zu ſein brauchen, ſondern
vielfach geradezu durch freiwillige Thätigkeit tüchtiger Meiſter erſetzt werden
können. Die Geſetzgebung hierüber iſt ziemlich einig und vollſtändig.
III. Die Lehrordnung iſt natürlich verſchieden nach den ver-
ſchiedenen Anſtalten. Es iſt Sache der ſpeciellen Fachkunde, hier auf
das Einzelne einzugehen. Doch beruht auch dieß Rechtsgebiet auf be-
ſtimmten allgemeinen Principien. Grundſatz iſt, daß die Lehrordnung
der Sonntagsſchulen unter denſelben Regeln ſtehen, wie die der
Volksſchulen. Für die übrigen Anſtalten gilt dagegen der Satz, daß
der Staat in allen den Fällen, wo er Unterſtützung gibt, auch das
Recht haben ſoll, die Lehrordnung zu beſtätigen, welche die Ge-
meinde unter Zuziehung der Fachlehrer vorzuſchlagen hat. Bei den
ſpeciellen Fachſchulen bedarf es auch einer ſolchen Beſtätigung nicht.
Die Oberaufſicht, durch den Organismus der Unterrichtsverwaltung
ausgeübt, verſteht ſich von ſelbſt. Das Klaſſenſyſtem iſt allenthalben
wichtig, mit Ausnahme der ſpeciellen Handwerkerſchulen; nur ſoll es in
den Sonntagsſchulen von den Verhältniſſen abhängen, in den allge-
meinen Fortbildungsſchulen ſich höchſtens auf zwei Klaſſen reduciren und
[256] nur in Realſchulen und Gymnaſien ein, den gelehrten Schulen ent-
ſprechendes Klaſſenſyſtem ſein.
IV. Das Prüfungsweſen endlich hat die eine Seite der bloßen
Zweckmäßigkeit, die zweite des öffentlichen Rechts. Es iſt zweckmäßig
allenthalben, mit Ausnahme der ſpeciellen Gewerbeſchulen, wo es durch
Ausſtellungen, eventuell durch Prämien erſetzt werden muß. Als eine
Pflicht zur Prüfung kann es jedoch hier nirgends gefordert werden.
Dagegen erſcheint das Recht der — freiwillig — beſtandenen Prüfung
in zweifacher Form. Zuerſt iſt es wichtig, in denjenigen Anſtalten,
in denen es Klaſſen gibt, die beſtandene Prüfung als Bedingung des
Ueberganges von einer Klaſſe zur andern anzuerkennen. Zweitens
iſt es zweckmäßig, die Abgangsprüfung mit einem öffentlichen Zeugniß
einzuführen, welches kein weiteres Recht hat als das, dem Einzelnen
als öffentliches Beweismittel ſeiner vorhergegangenen Bildung zu dienen.
Bei den beiden eigentlichen Vorbildungsanſtalten muß dagegen
dieſes Zeugniß das Recht zum Eintritt in die betreffende Fachbildungs-
anſtalt mit enthalten.
Dieß ſind die objektiven Verhältniſſe des öffentlichen Rechts dieſes
ſo wichtigen Gebietes. Vielleicht daß es uns nunmehr geſtattet ſein
wird, auch hier zur leichteren Vergleichung, beziehungsweiſe zur Bear-
beitung des poſitiven Rechts nach den angegebenen Geſichtspunkten das
formale Schema dieſes Theils des Bildungsweſens anzufügen.
Wir unterfangen uns hier nicht, eine Darſtellung der beſtehenden
Anſtalten, ihrer Organiſation und ihres öffentlichen Rechts in den ein-
zelnen Staaten und Ländern Deutſchlands und der mit ihm auf dieſem
Gebiete verwandten Länder auch nur annähernd geben zu wollen. Wohl
aber dürfen wir bemerken, daß die deutſche Literatur hier noch gar
nichts, das Ganze umfaſſende beſitzt, weder im Gebiete der Pädagogik,
[257] noch im Gebiete des rechtlichen Unterrichtsweſens. Der Grund liegt
offenbar in der völligen Unſicherheit der einzelnen Kategorien und Aus-
drücke, die man anwendet, und die eine jede Zuſammenſtellung zu einem
bloßen Materiale macht, in welchem zwar das Princip, nicht aber der
das Einzelne beherrſchende Gedanke klar iſt. Dagegen muß in hohem
Grade der Ernſt und die tiefgehende Tüchtigkeit anerkannt werden, mit
der die pädagogiſche Literatur die Sache in ihren einzelnen, vorwiegend
pädagogiſchen Seiten erfaßt und durchgearbeitet hat. Der tiefe, gründ-
liche und ſinnige, für jeden höheren Anklang in edelſter Weiſe empfäng-
liche Geiſt des deutſchen Lehrſtandes, dieſes Stolzes unſeres Volkes, hat
ſich hier in glänzender Weiſe bewährt, und gerade die Verwaltungs-
lehre iſt berufen und verpflichtet, dieß auszuſprechen. Daß die päda-
gogiſche Literatur hier nicht zu einem Geſammtreſultat gekommen iſt,
iſt nicht ihre, ſondern iſt Schuld der Verwaltungslehre. Auch hier
müſſen wir der trefflichen Arbeiten in Schmids Encyclopädie rühmend
erwähnen, die bei jedem Artikel über Schul- und Gymnaſialweſen das
Beſtehende — leider zuweilen unvollſtändig, noch öfter ungleichmäßig —
mit aufgenommen haben. Die territorialen Verwaltungsrechte haben
ſich nur mit dem formellen Recht beſchäftigt. In der Statiſtik da-
gegen hat Brachelli in ſeinen Staaten Europas das Verdienſt, die
Statiſtik auch dieſer Anſtalten zu einem integrirenden Theile der
Staatenkunde gemacht zu haben. Er gibt (Staaten Europas S. 535 ff.)
eine ſehr gute Grundlage, auf der weiter gebaut werden wird.
Was nun die einzelnen Staaten betrifft, ſo mögen hier folgende
Daten genügen, die erſt dann rechte Geſtalt gewinnen werden, wenn
man über die Grundbegriffe einig ſein wird.
Preußen hat das wirthſchaftliche Vorbildungsweſen zuerſt als ein
öffentliches organiſirt, wenn gleich auch hier der Unterſchied zwiſchen
der Gewerbe- und der Realſchule noch nicht ganz klar geworden iſt.
Das Syſtem deſſelben iſt folgendes. Das Gewerbeſchulweſen da-
tirt bereits ſeit 1817, wo die erſten Provinzialgewerbeſchulen errichtet
wurden, noch unbeſtimmt und ohne ſcharfe Gränze, da das Realſchul-
weſen noch nicht exiſtirt. Das letztere wird dann durch das Geſetz
vom 8. März 1832 als ein ſelbſtändiger Organismus neben den ge-
lehrten und Gewerbeſchulen hingeſtellt mit ſechs Klaſſen, zwei Ordnungen,
(höhere und niedere) Prüfungen und eigenem Lehrerweſen. Von da an
wird es nun nothwendig, das Gewerbeſchulweſen dem Realſchulweſen
gegenüber klarer zu definiren und zu ordnen. Nachdem die vierziger
Jahre dieß erſtere allgemein, und damit das Bedürfniß nach einer ſolchen
geſetzlichen Ordnung dringend gemacht hat, tritt nun mit den fünfziger
Jahren die betreffende Geſetzgebung ins Leben. Das (Provinzial-)
Stein, die Verwaltungslehre. V. 17
[258]Gewerbeſchulweſen empfängt ſeine Organiſation durch das Reſcript
vom 5. Juni 1850; einjähriger Kurſus; Verbindung mit den der Hand-
werker-Fortbildungsſchulen (zwei Klaſſen), Entlaſſungsprüfungen von
ſehr zweifelhaftem Werth, Vorbereitung für das techniſche Gewerbe-
inſtitut; mit der naturgemäßen geringen Berückſichtigung der allge-
meinen Bildung. Die Organiſation der Realſchulen auf der neuen
Grundlage durch Erlaß vom 6. Oktober 1859, mit der ſpeciellen Be-
zeichnung, „daß ſie die Vorbildung zu denjenigen Berufsarten geben
ſolle, für welche Univerſitätsſtudien nicht erforderlich ſind.“ Das
Syſtem der Prüfungen iſt auch hier ſtreng durchgeführt und denſelben
für den unteren Staatsdienſt beſtimmte Rechte gegeben. Alles Material
in Rönne, Unterrichtsweſen Bd. II. Literatur in Rönne, Staatsrecht
Bd. II. §. 451. 452.
Oeſterreichs gewerbliches Vorbildungsweſen hat einen etwas an-
deren Charakter. Erſte Entſtehung mit einzelnen Verſuchen ſeit 1751 (mecha-
niſche Lehrſchule), 1776 (Realhandlungsakademie), Rottenhauers Be-
richt 1795: „die Realſchulen ſind die Lyceen des Bürgerſtandes.“ Dabei
fehlen urſprünglich wie jetzt die Gewerbeſchulen; die beſte Arbeit über
die hiſtoriſche Entwicklung dieſes Gebietes, nur etwas zu beſchränkt auf
das techniſche Element, aber ſonſt ſehr reich an Mittheilungen und
Studien, iſt die Arbeit von H. Biedermann (Die techniſche Bildung im
Kaiſerthum Oeſterreich 1854). Das Gewerbeſchulweſen iſt noch immer
den durch die Gewerbeordnung errichteten Genoſſenſchaften — wohl zu
ſehr — überlaſſen und daher noch viel zu wenig ausgebildet, ein Be-
weis für die viel zu enge Auffaſſung dieſes Genoſſenſchaftsweſens
(Stubenrauch Bd. II. §. 411). Das Realſchulweſen iſt dagegen ge-
ſetzlich geordnet durch Entwurf vom 6. September 1848 und Verord-
nung vom 2. März 1851 (Stubenrauch Bd. II. S. 393). Grund-
lage: Eintheilung in Unter- und Oberrealſchulweſen; die zwei erſten
Jahrgänge der erſteren ſind in unmittelbarer Verbindung mit der Ele-
mentarſchule und vertreten die Bürgerſchule, Prüfungsſyſtem §. 55.
Die ſpecielle, nach den Ländern verſchiedene Geſtalt des Realſchulweſens
erſchöpfend von Ficker a. a. O. S. 416 ff. nebſt der (einzigen) Ge-
ſchichte des Realſchulweſens für Oeſterreich. Leider lag die genauere
Darſtellung des Gewerbeſchulweſens außerhalb ſeines Planes (S. 511.
512). Sie mangelt uns, ſo wie eine ausreichende Statiſtik. Für die
übrigen Organiſationen müſſen wir uns auf die betreffenden Artikel in
Schmid berufen, die übrigens leider Biedermanns Arbeit nicht kennen.
Bayern. Sonn- und Feiertagsſchulen nach dem Lehrplan vom
24. April 1811; Errichtung der eigentlichen Gewerbeſchulen (Ver-
ordnung vom 16. Februar 1833); weitere Entwicklung (Inſtruction vom
[259] 4. April 1836); neueſte Organiſation ſeit 1858 (Pözl §. 153). Sie
ſind zugleich die eigentlichen Realſchulen; eine ſyſtematiſche Ordnung und
Scheidung waren nicht erzielt; doch gibt es beſondere Zeichenſchulen
(Hopf bei Schmid Bd. I. S. 434 ff. Gugler ebend. II. S. 873).
Die neue Organiſation des techniſchen Unterrichts iſt durch
die Verordnung vom 14. Mai 1864 aufgeſtellt und in jeder Beziehung
als Fortſchritt zu betrachten. Aufſtellung der künftigen drei Grund-
kategorien: Gewerbeſchule, Realgymnaſium und polytechniſche
Schule. Die erſten treten an die Stelle der bisherigen Landwirth-
ſchafts- und Gewerbeſchulen und ſind „Kreisanſtalten.“ Alter der
Schüler 12—14 Jahre, nebſt Aufnahmsprüfung. Daran ſchließen ſich
künftig noch auszubildende „gewerbliche Fortbildungsſchulen.“ Die
Realgymnaſien ſetzen die vollſtändige lateiniſche Bildung voraus und
befähigen zugleich zum Uebertritt an die polytechniſche Schule und
die Univerſität; Aufnahms- und Abgangsprüfung; vier Jahrescurſe.
Sie ſind neue Staatsanſtalten: es exiſtiren vorderhand ſechs.
Baden. Hier iſt der Unterſchied zwiſchen den Gewerbeſchulen und
den Realſchulen zwar gegeben, und die letzteren als „höhere Bürger-
ſchulen“ durch Verordnung vom 15. Mai 1834 eingeführt, aber nicht
entſprechend organiſirt. (Holtzmann bei Schmid Bd. I. S. 412.)
Warum iſt Dietz in ſeinem ſchönen Werke „Die Gewerbe im Groß-
herzogthum Baden 1863“ nicht etwas genauer auf den Gegenſtand ein-
gegangen? (S. 748. 749.) Uebrigens hat das Geſetz vom 4. Juni 1864
dem fünften Theile der Lehrer an den Gewerbeſchulen das Staatsdiener-
recht eingeräumt (nach dem Geſetz vom 30. Juli 1840.) Es iſt ſehr zu
bedauern, daß Dietz a. a. O. nur das einfache Budget für das
gewerbliche Unterrichtsweſen ohne weitere Angaben mitgetheilt hat
(S. 55—75).
Württembergs Geſchichte des wirthſchaftlichen Vorbildungs-
weſens iſt durch den beinahe wunderlichen Gegenſatz zwiſchen dem Treff-
lichen, was darüber ſeit 1836 geſagt, und dem wenig ſyſtematiſchen,
was dafür geſchehen iſt, ſehr interreſſant (vergl. Mohl, württemb.
Verwaltungsrecht §. 214. Gugler, gewerbliche Fortbildungsſchulen bei
Schmid Bd. II. 875). Man hat nur noch ſehr unvollkommene Gewerbe-
fortbildungsſchulen (Lange bei Schmid Bd. I. 804). Brachelli citirt
dagegen 62 Real- und 9 Oberrealſchulen (a. a. O. S. 542), jene mit
zweijährigem Curſus, dieſe in Verbindung mit einem Gymnaſium und
Lyceum. Wie ſich jene Fortbildungsſchulen verhalten, iſt nicht recht
abzuſehen.
Königreich Sachſen. Hier iſt die eigentliche Gewerbeſchule ſchon
in die gewerbliche Fachſchule übergegangen; das Realſchulweſen iſt als
[260] ſelbſtändiges Bildungsſyſtem erſt im Jahre 1860 und 1861 geordnet
worden (Gugler a. a. O. S. 877. Brachelli a. a. O. S. 541).
Hannover. Hier ſind die Gewerbeſchulen ſelbſtändig, vertreten
zum Theil die Sonntagsſchulen; daneben eine ſelbſtändige „Handwerker-
ſchule“ in Hannover (Gugler, S. 877). Das Realſchulweſen in
Hannover iſt dagegen nicht zur Selbſtändigkeit neben dem Gymnaſial-
weſen gediehen; es erſcheint in der Form der Realklaſſen an den
Gymnaſien und Progymnaſien (Geffers bei Schmid Bd. III. 310 ff).
Kurheſſen. Handwerkerſchulen ſeit der Zunftordnung von 1816
in den größeren Städten vorgeſchrieben, vertreten die Gewerbeſchulen;
Realſchulen ſeit Verordnung vom 15. Oktober 1838 geſetzlich geordnet,
waren ſchon örtlich vorhanden ſeit den dreißiger Jahren. (Bezzen-
berger bei SchmidIII. 491 ff.)
Heſſen-Darmſtadt. Realſchulen ſeit 1834 unter ſtaatlicher Hülfe;
doch wie es ſcheint, ohne geſetzliche Ordnung; die Regierung gibt eine
Inſtruction (Strack bei SchmidIII. 526); die Handwerkerſchulen ſeit
1837 durch den Landgewerbeverein gegründet (Gugler ebend. S. 878).
Man erkennt aus den hier angedeuteten Thatſachen, daß im Großen
und Ganzen die Elemente des Syſtems vorhanden, das Syſtem ſelbſt
aber noch nicht ausgebildet iſt. Hier iſt daher noch ſehr viel zu thun;
es fehlt Gleichförmigkeit der Ausführung bei entſchiedener Anerkennung
des gemeinſamen Princips; doch mag uns auch wegen Mangels an
Material ſehr viel entgangen ſein, was wir künftigen Arbeiten über-
weiſen. Zum Theil liegt dieß auch an der Unklarheit der techniſchen
Fachbildungsanſtalten, die ein noch verſchiedeneres Bild geben.
Holland. Von beſonderem Intereſſe iſt die neue holländiſche
Organiſation des wirthſchaftlichen Vorbildungsweſens, das hier der
mittlere Unterricht (middelbar Onderwiis) genannt wird. Das
betreffende ausführliche Geſetz iſt vom 2. Mai 1863. Eine ausführ-
liche, mit genauen Angaben aller betreffenden Beſtimmungen verſehene
commentirende Ausgabe deſſelben von Dr. D. J. Stein 1863. Das
ganze ſehr ausführliche Prüfungsweſen iſt für jedes ſpecielle Gebiet
geordnet durch nicht weniger als ſechzehn verſchiedene Reglements vom
2. Februar 1864. Das Geſetz unterſcheidet öffentliche und beſondere
Mittelſchulen; letztere ſind Privatlehranſtalten. Die erſteren werden
entweder von den Gemeinden oder von den Provinzen hergeſtellt und
erhalten; das Reich unterſtützt ſie eventuell. Die Lehrerbildung wird nach
Geſetz vom 13. Auguſt 1857 geregelt. Das Syſtem dieſes wirthſchaft-
lichen Bildungsweſens hat vier Abtheilungen, von denen allerdings nur
die beiden erſten dem Vorbildungsweſen angehören: Bürgerſchulen, höhere
Bürgerſchulen, Landwirthſchaftsſchulen, die polytechniſche Anſtalt. Eine
[261] Bürgerſchule ſoll in jeder Gemeinde mit wenigſtens 10,000 Einwohnern
errichtet werden. Die höheren Bürgerſchulen haben entweder einen drei-
jährigen oder einen fünfjährigen Curs und entſprechen ganz unſern
Realſchulen; die Gymnaſtik iſt obligat! Das Lehrerweſen dafür iſt genau
geordnet in §. 23 ff. Die Lehrer werden vorgeſchlagen durch die Ge-
meinde; der König ernennt die Lehrer der höheren Schulen. Das
Penſionsrecht der Lehrer iſt bereits durch Geſetz vom 9. Mai 1846 all-
gemein feſtgeſtellt und ſpeciell durch Geſetz vom 3. Mai 1851 und
24. December 1863 geregelt; dazu die §§. 32 ff. des Geſetzes vom
2. Mai 1863. Schulgeld iſt anerkannt; Lehrordnung geſetzlich für jede
Art der Schulen geregelt §. 16. 17. — Ueber Gewerbeſchulen fehlen
uns weitere Angaben; warum hat le Roy (Art. Holland) bei Schmid
auf jenes Geſetz und auf die letzteren keine Rückſicht genommen? —
Realgymnaſien fehlen dagegen gänzlich.
Wenn wir gegenüber der klaren und in ſich einfachen Geſtalt und
Stellung, welche das Univerſitätsweſen als gelehrte Fachbildungsanſtalt
einnimmt, ein höchſt verſchiedenartiges, zum Theil ſogar unklares Bild
der wirthſchaftlichen Fachbildung finden, ſo wird es wohl nothwendig,
ſich über die in dem Weſen der Sache ſelbſt liegenden Grunde zu ver-
ſtändigen, die dieſen Unterſchied hervorgerufen haben; denn in der That
werden wir nur von ihnen aus einen klaren Ueberblick über ein Gebiet
gewinnen, das bis jetzt noch auf allen ſeinen Punkten nach einer feſten
Geſtaltung ringt, und erſt mit dieſer in Praxis und Theorie ſeine
definitive Stellung gewinnen wird.
Die wirthſchaftliche Fachbildung unterſcheidet ſich nämlich weſentlich
von der gelehrten dadurch, daß bei jener der praktiſche Werth des einen
Gebietes derſelben für das andere als ein ſehr geringer erſcheint und
daher die Verbindung der bildenden Thätigkeiten auf den erſten Blick
mehr ein Beweis als eine Forderung wird. Während daher bei dem
gelehrten Fachbildungsweſen ſich die Specialität der Fächer nur lang-
ſam aus der wiſſenſchaftlichen Einheit des Ganzen, der Universitas
literarum, entwickelt hat, hat die wirthſchaftliche Fachbildung vielmehr
auf dem umgekehrten Wege bei der ſtrengen Specialität begonnen und
jene Einheit überhaupt noch nicht erreicht. Während für jene eben deß-
halb gleich von Anfang an die Gleichmäßigkeit und Gleichartigkeit des
geſammten Bildungsganges in Fakultäten, Vorleſungen, Prüfungen
und wiſſenſchaftlichen Würden feſtſteht, erſcheint für dieſe dagegen eine
[262] nicht bloß äußerliche, ſondern auch innerliche Scheidung mit vollſtän-
diger Selbſtändigkeit jeder Fachbildungsanſtalt von der andern. Wäh-
rend für jene das Verhältniß der Vorbildungsanſtalten in dem gelehrten
Schulweſen ſich leicht und ſicher geordnet hat, iſt das Verhältniß von
Anfang an für dieſe ſehr unſicher geweſen, und auch jetzt noch keines-
wegs ein feſtgeordnetes oder gleichartiges. Während für jene daher das
öffentliche Recht und die Aufgabe des Staats als ein geſchloſſenes
Ganze auftritt und die Ordnung eine einheitliche iſt, iſt das erſtere
für jede Anſtalt des letztern verſchieden, und die letztere beruht auf
den ſpeciellen Verhältniſſen der einzelnen Inſtitute. Während endlich
jene als Staatsanſtalten anerkannt ſind und als ſolche behandelt wer-
den, treten hier theils Vereine, theils ſogar Privatunternehmungen in
gleicher Weiſe auf; und ſo iſt es nicht möglich, den viel zerfahrenen
Stoff der wirthſchaftlichen Fachbildung in gleicher Weiſe wie den der
wiſſenſchaftlichen zu behandeln. Das iſt unzweifelhaft der Grund, weß-
halb wir überhaupt noch keine umfaſſende Darſtellung, ja nicht einmal
eine einheitliche Auffaſſung der erſteren beſitzen.
Die Verwaltungslehre wird daher gezwungen, hier die Elemente
eines feſten Syſtems aufzuſtellen und kann erſt auf dieſer Grundlage
zur Ueberſicht über das Recht und die Funktion des Ganzen und der
einzelnen Theile dieſes Gebietes gelangen.
Dieß nun wird kaum beſſer geſchehen können, als indem wir den
hiſtoriſchen Entwicklungsgang der Sache auf Grundlage ihres allgemeinen
Begriffes kurz andeuten.
Fachbildung.
Das, was wir dem Begriffe nach als wirthſchaftliche Fachbildung
bezeichnen müſſen, beſteht in dem Erwerb derjenigen Kenntniſſe und
Fähigkeiten für wirthſchaftliche Produktionen, welche durch den wirk-
lichen Betrieb von Unternehmungen aller Art nicht erſt erworben wer-
den können, ſondern vielmehr die geiſtige Bedingung der Leitung und
Entwicklung deſſelben bilden.
Es iſt daher an ſich kein Zweifel, daß jede Art der Unternehmungen
eine eigene Fachbildung vorausſetzt und wünſchenswerth macht. Es iſt
aber auch klar, daß dieſe Fachbildung zunächſt Sache des Einzelnen iſt,
und durch den Einzelnen erworben werden muß, wie ſie für den Nutzen
des Einzelnen dient. Allerdings liegt ſie daher in der Natur der volks-
wirthſchaftlichen Entwicklung; allein eben darum erſcheint ſie nicht als
Angelegenheit und Aufgabe des Staats, wenn nicht ein beſonderes
Moment hinzutritt. Und in der That hat ſich die Verwaltung um
[263] dieſe Fachbildung bis auf die neueſte Zeit ſo gut als gar nicht geküm-
mert. Erſt unſer Jahrhundert hat ſie als öffentliche Angelegenheit er-
kannt, und es iſt daher nicht thunlich, ſie ohne Anſchluß an den allge-
meinen Gang der Geſchichte zu überſehen.
In der That nämlich bleibt die Entwicklung des wirthſchaftlichen
Bildungsproceſſes, die wir als Grundlage des Vorbildungsſyſtemes oben
bezeichnet haben, bei dieſen Vorbildungsanſtalten faſt ein Jahrhundert
lang ſtehen, ohne zu Fachbildungsanſtalten überzugehen. Die Real-
ſchulen und höheren Bürgerſchulen ſind die höchſten Bildungsſchulen
des Bürgerſtandes; alles Weitere muß derſelbe dann im wirklichen
praktiſchen Leben ſelber lernen. Daß ein innerer Zuſammenhang zwiſchen
den einzelnen Fächern ſei, wird zwar geahnt, aber bei der vorwiegend
gelehrten Richtung der Wiſſenſchaft nicht verſtanden; an eine Bethei-
ligung der Verwaltung über dasjenige hinaus, was die Univerſitäten
höchſtens in der Cameralwiſſenſchaft darboten, ward noch nicht gedacht.
Ein Syſtem von wirthſchaftlichen Fächern und von öffentlichen ihnen
entſprechenden Anſtalten konnte ſich erſt auf Grundlage äußerer Veran-
laſſung entwickeln. Daſſelbe iſt daher kein Kind der pädagogiſchen Re-
flexion, ſondern ein Produkt der langſam fortſchreitenden Geſchichte.
Den erſten Anſtoß dazu gab die Anwendung der mit dem vorigen
Jahrhundert entſtehenden Finanzwiſſenſchaft auf die Regalien. Wir
haben hier nicht über den hiſtoriſchen Begriff derſelben zu ſtreiten. Als
feſtſtehend wird man uns zugeben, daß ein Regal ein Hoheitsrecht war,
das als Einnahmsquelle benutzt ward. Zu den Regalien als Ein-
nahmsquellen kamen dann die Domänen aller Art hinzu, die bald
als Grundbeſitz, bald als Nutzrechte, bald als Unternehmungen auf-
traten. Regalien und Domänen forderten eine Verwaltung; dieſe Ver-
waltung ſollte eine weſentlich nutzbringende ſein; um ſie dazu zu machen,
wurden ſeit dem Entſtehen der Polizei- und Finanzwiſſenſchaft gewiſſe
Kenntniſſe erfordert; den Erwerb dieſer wirthſchaftlichen Kenntniſſe mußte
daher der Staat jetzt für die Beamteten ſeiner Regalien und Domänen
fordern; um ſie fordern zu können, mußten ſie als ſelbſtändige Wiſſen-
ſchaft da ſein und als ſolche gelehrt werden. So entſtand das Gebiet
der Cameralwiſſenſchaften. Sie hängen allerdings auf das Engſte
mit den Staatswiſſenſchaften zuſammen; aber dieſe Verbindung war
und blieb eine äußerliche. Ihrem Weſen nach ſind ſie die erſte Form
einer ſelbſtändigen wirthſchaftlichen Fachbildung neben der gelehrten.
Mit ihnen tritt das Fachbildungsweſen zuerſt öffentlich neben dem ge-
lehrten auf. Zwar ſind ſie noch ſehr einſeitig und beſchränkt; ſie ſind
eigentlich nur die Fachbildung für die wirthſchaftlichen Erwerbsthätig-
keiten der Verwaltung; aber ſie ſind dennoch der erſte ſelbſtändige
[264] Beginn einer weiteren Entwicklung, deren Schickſal auch für das übrige
Bildungsweſen von nicht geringem Intereſſe iſt.
Als nämlich mit der Auflöſung der ſtändiſchen Ordnung der Staat
aus ſeinem faſt privatrechtlich formulirten Gegenſatze zu der Geſellſchaft
hinaustritt und zum Organismus der Gemeinſchaft wird, verſchwindet
gleichſam von ſelbſt der Gedanke, daß er als Privatſubjekt einen wirth-
ſchaftlichen Beruf, Erwerb und Beſitz haben und mithin Unterneh-
mungen betreiben ſolle, wie ein Einzelner. Gerade das aber war die
Grundlage der Cameralwiſſenſchaft und Bildung geweſen. Sie ver-
ſchwanden daher in ihrer alten Form; und an ihre Stelle trat nun
ein weſentlich anderer Standpunkt mit einer anderen Aufgabe.
Während nämlich einerſeits die Cameralien in die eigentliche Finanz-
verwaltung übergehen, entwickelt ſich der Gedanke der Verwaltung
der Volkswirthſchaft, die Idee der Volkswirthſchaftspflege. Dieſe Idee
fordert von dem Staate in ſeinem Verhältniß zur Volkswirthſchaft ein
Doppeltes. Einerſeits ſoll derſelbe die Einzelnen nun auch in der Volks-
wirthſchaft gegen wirthſchaftliche und weiter gehende Gefahren ſchützen,
die in gewiſſen Unternehmungen liegen, andererſeits ſoll er das Seinige
thun, um die Produktion zu fördern, und zwar beides in Beziehung
auf beſtimmte einzelne Arten von Unternehmungen. Die Verwaltung,
noch im Anfange dieſes Jahrhunderts nur zu ſehr bereit, jeden Theil
des öffentlichen Lebens unter ihre Vormundſchaft im Sinne der eu-
dämoniſtiſchen Theorien aufzunehmen, gab ihrerſeits ſelbſt Anlaß zu jener
Forderung. Bis dahin hatten die alten ſtändiſchen Körperſchaften eine
gewiſſe Polizei, ſowie eine gewiſſe Unterſtützung der gewerblichen Pro-
duktion übernommen. Jetzt hören ſie auf; zum Theil wie in Frankreich
vollſtändig, zum Theil dem Weſen nach wie in Deutſchland. Dieſelbe
Geſetzgebung, welche auf dieſe Weiſe den Zünften und Innungen ihre
Funktion der Volkswirthſchaftspflege nahm, war damit auch berufen,
ſich an ihre Stelle zu ſetzen. Das Mittel dafür lag nahe. Sie mußte
nunmehr eine öffentliche Fachbildung an die Stelle der zünftigen ſetzen,
theils als Schutz, theils als Bedingung der Förderung der höheren
volkswirthſchaftlichen Intereſſen. So entſtand die zweite Geſtalt der
Forderung nach einer öffentlichen wirthſchaftlichen Fachbildung und der
der Anſtalten ſelbſt. Es bilden ſich allmählig, meiſt ganz unabhängig
von einander, ſtaatliche Lehranſtalten, die eigens zum Zweck der
wirthſchaftlichen Fachbildung aufgeſtellt werden. Dieſelben theilen ſich
nach Zweck und Entſtehungsgrund in zwei Hauptarten. In der erſten
Art zeugt das ſicherheitspolizeiliche und zum Theil wirthſchaftlich polizei-
liche Element vor; in der zweiten dagegen die eigentliche Pflege der
Volkswirthſchaft. Es iſt klar, daß erſt hiemit die wirthſchaftliche Fach-
[265] bildung beginnt, ſelbſtändig und allgemein zu werden. Hier iſt ein
anderer Faktor lebendig als der der Cameralwiſſenſchaften und ihrer
Lehrfächer. Es iſt nicht mehr das Intereſſe des dem Volke gegen-
überſtehenden Staats, das ſie erzeugt und leitet, ſondern das Geſammt-
intereſſe. Es iſt nicht mehr der Geſichtspunkt einer guten Verwaltung
der Staatsaufgaben, von dem aus das Ganze entſteht, ſondern der
der Beförderung des höchſten volkswirthſchaftlichen Fortſchrittes. Wäh-
rend daher die Cameralien der polizeilichen Epoche angehören, gehören
dieſe Anſtalten der ſtaatsbürgerlichen, und es wird uns daher auch nicht
wundern, daß ſie, vorher kaum in Andeutungen vorhanden, erſt in
unſerem Jahrhundert zur rechten Blüthe kommen, und in ihrer Ent-
wicklung noch keineswegs fertig, ebenſo wenig in allen Staaten gleich-
artig ſind. Es ſind weder alle einzelnen Arten dieſer Anſtalten aus-
gebildet, noch haben ſie allenthalben die gleiche Aufgabe, noch auch das
gleiche öffentliche Recht. Hier ſind wir auch in Deutſchland noch ſo ſehr
im Werden, daß kaum noch einmal eine Geſchichte dieſer Bewegung
mit rechtem Erfolg geſchrieben werden kann und daß ſich die Behandlung
noch einige Zeit ziemlich ſtrenge auf der Baſis der allgemeinen Unter-
ſcheidung von Realismus und Humanismus halten muß. Wohl aber
iſt es ganz nothwendig, ſchon jetzt aus der Natur jener Entwicklung hin-
aus ein feſtes Syſtem aufzuſtellen, das man als Grundlage für das
öffentliche Recht für die Beſtimmung der nächſten Aufgabe des Staats,
und endlich für die ſtatiſtiſche Vergleichung deſſen gebrauchen kann, was
hier bisher geſchehen iſt.
Legt man nämlich die obige Unterſcheidung zum Grunde zwiſchen
dem höheren polizeilichen und dem volkswirthſchaftlichen Geſichtspunkte,
das die Verwaltung bei der Herſtellung dieſer Anſtalten bietet, ſo erſcheint
folgendes Bild.
Diejenigen wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten, welche das Maß
der Fachbildung ſichern ſollen, ohne welches die allgemeinen Intereſſen
bei Betrieb gewiſſer Unternehmungen gefährdet erſcheint, und bei denen
die volkswirthſchaftliche Fortentwicklung erſt in zweiter Reihe ſteht, ſind:
die Schifffahrtsſchulen, die Bauſchulen, die Forſtſchulen, die
Bergbauſchulen.
Diejenigen dagegen, bei denen die allgemeine Entwicklung des wirth-
ſchaftlichen Lebens Aufgabe und Ziel der Anſtalt iſt, ſind die poly-
techniſchen Anſtalten, die Landwirthſchaftsſchulen und die ge-
werblichen Kunſtſchulen.
Natürlich ſind dieſe Schulen oder Bildungsanſtalten nicht auf allen
Punkten ſcharf zu ſcheiden; es iſt ferner klar, daß die eigentlichen Ge-
werbeſchulen bis zu einem gewiſſen Grade auch dahin gehören; allein
[266] jene bilden dennoch ein Syſtem für ſich, weil ſie ſelbſt als Theil eines
größeren Syſtems erſcheinen; und das findet nun, wie wir gleich ſehen
werden, ſeinen Ausdruck in dem Verhältniß derſelben einerſeits zum
Staate ſelbſt, andererſeits zu dem Syſtem der Vorbildungsanſtalten,
das eben durch ſie erſt ſeinen Abſchluß empfangen könnte.
Neben dieſem Syſtem von Anſtalten trat nun allmählig das Be-
dürfniß auf, auch für diejenigen volkswirthſchaftlichen Gebiete, die durch
jene nicht umfaßt waren, eine ſyſtematiſche Fachbildung herzuſtellen. Hier
aber konnte die Verwaltung nicht weiter eingreifen, weil hier die Gränze
begann, an der das Einzelintereſſe für die Bildung das Entſcheidende
wird. Sie mußte daher das übrige Gebiet der freien Selbſtthätigkeit
des Volkes überlaſſen. Dieß Gebiet nun, deſſen Charakter darin be-
ſteht, daß in ihm die individuelle Tüchtigkeit und Kraft zuerſt und zu-
letzt das Maßgebende wird und das deßhalb die Fähigkeit beſitzt, die
beſte Fachbildung durch ſich ſelbſt zu bieten, iſt der Verkehr.
Das letztere iſt ſein eigenthümliches Weſen, ſeine hohe Bedeutung für
die Entwicklung der Völker, aber auch ſeine Gefahr. Den Verkehr,
die durch freien Vertrag vom Einzelnen zum Einzelnen übergehende Be-
wegung der Güter, kann und ſoll kein Gegenſtand der unmittelbaren
Thätigkeit des Staats ſein; die Errichtung von Produktions-Bil-
dungsanſtalten fällt ihm zum Theil, die von Verkehrsſchulen
gar nicht anheim. Wir nennen dieſe Verkehrsſchulen mit ihrem gewöhn-
lichen Namen Handelsſchulen. Handelsſchulen ſind daher ihrem
Weſen nach Sache des Vereinsweſens, oder der Privatunternehmung.
Für ſie kann es, wegen ihres an ſich unbegränzten Gebietes, kein öffent-
liches Recht geben, die Verwaltung muß ſie den Einzelnen überlaſſen.
Dennoch ſind ſie unzweifelhaft ein ſelbſtändiges, drittes Organ des
wirthſchaftlichen Fachbildungsweſens und das Bild des letzteren iſt ohne
ſie kein vollſtändiges zu nennen.
— Dieß nun ſind die Elemente des Syſtems der wirthſchaftlichen
Fachbildungsanſtalten. Es iſt auf den erſten Blick klar, daß es den
Charakter der Vereinzelung hat, und daß andererſeits eine für das
Ganze entſcheidende Frage darin beſteht, in welchem Verhältniß die-
ſelben zum allgemeinen Bildungsweſen und ſeiner öffentlichen Rechte
ſtehen ſollte. Dieß zu unterſuchen und zu beſtimmen, iſt nicht Sache
der wirthſchaftlichen Methodologie, ſondern der Verwaltungslehre über-
haupt; der deutſchen aber im Beſondern, weil hier wieder Deutſchland
das Muſter und der Lehrer aller andern Völker zu ſein berufen iſt.
[267]
Es iſt, wie ſchon oben erwähnt, noch ſehr ſchwer, eine Geſchichte
des wirthſchaftlichen Fachbildungsweſens zu ſchreiben, da es faſt auf
allen Punkten noch in der Entwicklung begriffen iſt. Bisher hat ſich
eigentlich gar kein Zweig der Literatur um daſſelbe als Ganzes geküm-
mert und zwar weder die Staats- oder Polizeiwiſſenſchaft, die doch
auf das Staatsſchulweſen Rückſicht nahm, noch ſelbſt die pädagogiſche,
ſonſt ſo reiche Literatur, die bisher in den Vorbildungsſchulen ſtecken
geblieben iſt, wie ſelbſt die ſonſt ſo gründlichen Aufſätze in Schmids
Encyklopädie. Feſt ſteht jedoch wohl das eine, daß man die obigen
Epochen auch in der Literatur unterſcheiden kann. Man darf ſagen,
daß die erſte Epoche die cameraliſtiſche, die zweite die polytech-
niſche iſt. Wir meinen nun unter der erſtern nicht diejenige, welche
überhaupt die Staatswiſſenſchaften in der Form der Cameralwiſſen-
ſchaften verſtand und lehrte und die namentlich Baumſtark, Came-
raliſtiſche Encyklopädie 1835. S. 31—38 für die letzte Hälfte des vorigen
Jahrhunderts ziemlich vollſtändig anführt, ſondern diejenige, welche die
cameraliſtiſche Bildung und die Herſtellung darauf gerichteter Anſtalten
als Aufgabe der Verwaltung fordert. Den Anſtoß dazu gab allerdings
die Aufnahme der cameraliſtiſchen Studien an den Univerſitäten; ſchon
1730 die erſte cameraliſtiſche Profeſſur in Rinteln, 1742 in Leipzig,
1741 in Upſala. Dann erſcheinen dieſe Profeſſuren an den hohen
Schulen, welche die Univerſität vertreten, 1745 am Carolinum in Braun-
ſchweig, 1752 am Thereſianum in Wien, 1774 eine „Cameralſchule“
in Kaiſerslautern, 1782 eine ökonomiſche Sektion an der Stuttgarter
Akademie, 1789 ein cameraliſtiſches Inſtitut in Marburg. Seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts aber treten dieſelben Beſtrebungen nun
auch an den Univerſitäten auf, 1755 in Göttingen, 1742 in Leipzig,
1770 in Jena, 1784 in Mainz; von da an faſt auf allen Univerſitäten.
Allein hier erfaßte die höhere Bewegung der Staatslehre dieſe Pro-
feſſuren und machte aus ihnen Lehrſtühle der Staatswiſſenſchaften; nur
Tübingen behielt ſeine cameraliſtiſche Richtung ſelbſtändig (Baumſtark
§. 28). Das Element der wirthſchaftlichen Fachbildung verſchwindet
damit und löst ſich in ganz allgemeine, rein theoretiſche Vorleſungen
auf, die gleichmäßig für Juriſten und Fachmänner gelten ſollen. Das
war ein Fortſchritt für die Univerſitäten, aber konnte freilich dem Fache
nicht genügen. Daher begann jetzt die zweite Bewegung, welche dieſe
Fachbildung zwar ſelbſtändig herſtellte, aber eben in lauter einzelnen,
ohne inneren Zuſammenhang daſtehenden Schulen. Eine Ueberſicht dieſer
Entwicklung fehlt uns noch gänzlich; auch hat ſie bisher wohl darum
niemand geſucht, weil die Verbindung ihrer Funktion mit dem Ganzen
nicht herausgefühlt ward. Erſt die polytechniſche Bildung und
[268] Literatur begründet hier eine neue, für den deutſchen Geiſt höchſt be-
zeichnende Epoche. Die polytechniſche Schule in Paris ward zwar von
Vielen damals wie jetzt für etwas ganz anderes gehalten, als was ſie
wirklich iſt, ein ſehr untergeordnetes Glied im franzöſiſchen Bildungs-
ſyſtem; aber die techniſche Bildung ſelbſt ward ſeit dem zweiten
Jahrzehent in Deutſchland mit jedem Jahre nothwendiger, weil Deutſch-
land begann, den großen induſtriellen Kampf mit England durch An-
lage von Maſchinen und durch Schöpfung einer eigenen Induſtrie auf-
zunehmen. Von jetzt an erſchien dieſe techniſche Bildung als eine Volks-
angelegenheit, der die junge Induſtrie die Hand reichte. Sie ſchloß ſich
dabei an das Entſtehen der Realſchule an und ſo entſtand das, was
die gegenwärtige Auffaſſung noch mehr charakteriſirt als die damalige,
die Vorſtellung, daß die techniſche Fachbildung die eigentliche Höhe der
Fachbildung enthalte, neben der alle andern von ſehr geringer Bedeu-
tung ſeien. Den literariſchen Anſtoß dafür gab Dingler in ſeiner
Schrift: „Nothwendigkeit der Gründung einer polytechniſchen Akademie.
Augsburg 1821.“ Dann Hermann mit ſeiner Arbeit: „Ueber poly-
techniſche Inſtitute 1826“ und ſpäter Nebenius: „Ueber techniſche Lehr-
anſtalten 1833,“ nebſt einer Reihe anderer folgten. Alle übrigen Fach-
ſchulen wurden daneben vernachläſſigt; die Literatur ließ ſie ganz bei
Seite, ſo daß ſelbſt Baumſtark trotz ſeines Fleißes keinen Anlaß
findet, auf ſie einzugehen und ſelbſt die Territorialgeſetzkunde ſie kaum
berühren, wovon wieder nur Mohl, Württembergiſches Verwaltungs-
recht II. §. 214 eine rühmliche Ausnahme macht. Die Beſchäftigung
mit den polytechniſchen Anſtalten hatte dagegen den wichtigen, wenn
auch nur langſam eintretenden Erfolg, die wirthſchaftliche Fachbildung
überhaupt in ihrer hohen und allgemeinen Bedeutung dem Volke zum
Bewußtſein zu bringen. Sie iſt als der Keim anzuſehen, von dem das
eigentlich ſyſtematiſche und einheitliche Element derſelben ausgeht. Es
darf dabei nicht verkannt werden, daß die Statiſtik hier viel geleiſtet
hat und auch ihrerſeits an der einheitlichen Auffaſſung redlich mit-
gearbeitet hat. Die Staatswiſſenſchaft dagegen hat ſich weder im Ge-
biete des Staatsrechts noch in dem der Polizeiwiſſenſchaft der Frage
angenommen. Eine ſyſtematiſche Behandlung exiſtirt nicht.
bildungsſyſtems.
(Herſtellung der Anſtalten, Lehrſyſtem, Prüfungsweſen.)
Das öffentliche Recht dieſer Anſtalten entſteht nun, indem man
ſich jene Anſtalten als naturgemäße Glieder des geſammten Bildungs-
[269] organismus, gefordert von der Natur der Sache und erzeugt durch
das Bedürfniß der ſtaatsbürgerlichen Volkswirthſchaftsordnung denkt,
und ſich nun die Frage ſtellt, ob und was die Verwaltung theils im
Wege der materiellen Hülfe, theils im Wege der Geſetzgebung für die
Herſtellung und Benützung zu thun habe. Die Geſammtheit der
darauf bezüglichen Beſtimmungen iſt es, welche jenes öffentliche Recht
derſelben bildet.
Indem wir nun vorausſenden, daß eine genauere Entwicklung des-
ſelben Sache eigener und eingehender Arbeiten ſein muß, muß den-
noch die Verwaltungslehre zu einem beſtimmten Reſultat über die we-
ſentlichen Grundlagen dieſes Rechts gelangen. Wir betonen dieſelben
aber um ſo mehr, als ſie bisher unſeres Wiſſens noch gar nicht Gegen-
ſtand von allgemeinen Unterſuchungen geworden ſind, ſondern die Ver-
waltungen vielmehr von Fall zu Fall nach Maßgabe der Verhältniſſe
entſchieden haben, was für die ganze Ordnung dieſes Rechtsgebietes
entſcheidend geworden iſt.
Die Punkte auf denen das letztere beruht, ſind die Pflicht zur
materiellen Herſtellung ſolcher Anſtalten und ihrer Bedingungen, das
Bildungs- oder Lehrſyſtem derſelben, und endlich das Recht der be-
ſtandenen Prüfung.
1) Das Rechtsverhältniß der Herſtellung oder Unterſtützung iſt
einfach. Alle Verkehrs- oder Handelsſchulen ſind principiell Vereins-
oder Privatunternehmungen, und beruhen auf örtlichen Bedürfniſſen
und Verhältniſſen. Sie ſind Sache des Einzelnen, und darum frei,
wie der Gegenſtand, mit dem ſie zu thun haben. Sie können keine
Staatsanſtalten ſein; in Folge deſſen hat auch die Verwaltung weder
das Recht, ihre Organiſation vorzuſchreiben, noch an die von ihnen
aufgeſtellten Lehrkurſe oder Lehrer andere beſtimmte Forderungen zu
ſtellen, als die, welche in allgemeinen polizeilichen Vorſchriften liegen.
Dagegen iſt natürlich eine Unterſtützung nicht ausgeſchloſſen, und es
bleibt in ſolchem Falle der Verwaltung frei, diejenigen Bedingungen
zu ſtellen, welche ſie für angemeſſen hält; daſſelbe gilt, wo ein Selbſt-
verwaltungskörper eine Unterſtützung gewährt.
Dagegen müſſen die oben genannten Produktions-Fachbildungs-
anſtalten als nothwendige Glieder des öffentlichen Bildungsweſens
anerkannt, und daher auch vom Staate hergeſtellt werden. Sie ſind
daher grundſätzlich Staatsanſtalten, ihre Organiſation iſt ein öffent-
liches Recht, ihre Lehrer ſind Beamtete des Staats, und die Fragen,
die ſich an ihre formale Organiſirung anknüpfen, erſcheinen als Fragen
des Rechts des öffentlichen Bildungsweſens.
Zunächſt treten damit dieſe Fachanſtalten in dieſelbe Reihe mit
[270] den öffentlichen Vorbildungsanſtalten. Allein vermöge ihres Objekts
haben ſie dennoch einen andern Charakter. Sie können nicht für jeden
Ort hergeſtellt werden; die Verwaltung kann nicht fordern, daß wie
bei den Staatsſchulen, jede größere Gemeinde ſolche Anſtalten errichte.
Sie müſſen daher im engeren Sinne des Wortes Staats- oder Reichs-
anſtalten ſein; der Staat muß ihre Koſten tragen, und muß daher
auch ihre Verwaltung leiten. Allein anderſeits ſind ſie doch zugleich
wiſſenſchaftliche Lehranſtalten. Sie ſollen daher an der großen Er-
rungenſchaft Theil nehmen, welche die Univerſitäten aus der ſtändiſchen
Epoche uns erhalten haben, der Selbſtverwaltung ihrer geiſtigen,
wiſſenſchaftlichen Funktion durch die eigenen Lehrkörper. In der
That treten ſie erſt damit in den Rang der höchſten Fachbildungs-
anſtalten ein, und der Hauptbeweis des richtigen Verſtändniſſes ihrer
Aufgabe von Seiten der Regierungen Deutſchlands beſteht eben in der
Uebertragung dieſes großen Princips des Univerſitätslebens auf jene
wirthſchaftlichen Fachbildungsanſtalten.
2) Die Fragen des Lehrſyſtems derſelben ſind nicht minder be-
deutſam. Wir haben drei Hauptpunkte für dieſelben zu beweiſen.
Der erſte Punkt betrifft das Verhältniß vom Syſteme der Vor-
bildungsanſtalten und zwar einmal welche Art, und dann welche
Klaſſe derſelben als genügende Vorbereitung angeſehen werden ſoll.
Die Antwort iſt nach der Natur der Sache einfach. Das ganze Sy-
ſtem der Fortbildungsſchulen iſt nicht fähig, als Vorbildung für die
Fachbildung zu gelten; nur die Realſchulen und die Realgymnaſien
können das Recht zum Eintritt in die letztere geben. Dabei darf man
als unzweifelhaft annehmen, daß die Abſolvirung der höchſten Klaſſen
der letzteren für die drei letzteren Arten der Fachbildungsſchulen ge-
fordert werden muß, während die erſten Arten ſich mit der Abſol-
virung der untern Klaſſen (Unterrealſchule als höhere Bürgerſchule)
begnügen können. Das Eintreten muß im einzelnen Falle beſtimmt
werden. Auf dieſe Weiſe ſchließt ſich hier das Syſtem der Fachbildung
äußerlich formell ab, und gerade in dieſem Sinne ſind die Realſchulen
Vorbildungsanſtalten, während ſie für alle diejenigen, die nicht in
ſolche Fachbildungsanſtalten eintraten, den Abſchluß der Bildung dar-
bieten. Das bedarf keiner weitern Darlegung.
Der zweite Punkt betrifft den Lehrplan. Der Lehrplan iſt
auch hier, wie bei der gelehrten Bildung, nicht mehr Angelegenheit
des ſubjektiven Ermeſſens, denn das zu Lernende enthält die theore-
tiſchen Bedingungen einer öffentlichen Funktion, und die Verwaltung
hat daher mit der Pflicht zugleich das Recht, maßgebenden Einfluß
auf die Gegenſtände und den Gang der Lehre zu nehmen — ein Recht,
[271] das dieſelbe auch in vollem Maße auszuüben pflegt, denn die Lehr-
kurſe ſind allenthalben ſtreng geſetzlich vorgeſchrieben. Für dieſen
Plan nun müſſen zwei Geſichtspunkte maßgebend werden, und es iſt
von entſcheidender Bedeutung, daß Pädagogik und Verwaltungsrecht
gleich ſehr auf ſie Rückſicht nehmen.
Der erſte iſt einfach der Grundſatz, daß jede dieſer Fachſchulen
vermöge ihrer ſpeciellen Aufgabe natürlich auch ihren ſpeciellen,
unter Mitwirkung der Lehrer geordneten Studienplan aufſtelle. Der
zweite dagegen enthält die Forderung, daß dieſe Fachbildungen zugleich
die allgemeine Bildung enthalten und darbieten, und ſomit die Er-
weiterung des geiſtigen Geſichtskreiſes mit den ſpeciellen Kenntniſſen
zugleich gewinnen ſollen. Daß beide Aufgaben nothwendig ſind, iſt
kein Zweifel. Die erſte bedeutet das Verhältniß dieſer Fachbildung
zur Praxis, die zweite das zur Wiſſenſchaft. Das, worauf es an-
kommt, iſt daher die Beſtimmung des Verhältniſſes, in welchem beide
zu einander ſtehen ſollen. Dieſe Beſtimmung aber iſt Sache der
Verwaltungslehre.
Dafür insbeſondre gibt es nun zwei Syſteme. Das erſte und
allgemeinſte beſteht darin, in jeder einzelnen Fachbildungsanſtalt die
allgemein wiſſenſchaftliche Bildung mit der Specialbildung, ſo weit die
Verhältniſſe es zulaſſen, zu verbinden. Das zweite enthält die un-
klare und gänzlich unausführbare Vorſtellung von einer höchſten wirth-
ſchaftlichen Bildungsanſtalt, welche den andern einzelnen Anſtalten
gegenüber gleichſam die Stellung der Univerſität zu vertreten habe,
und neben der die übrigen Anſtalten daher als untergeordnete Glieder
ſtehen ſollen. Das dieſer letztern Vorſtellung zum Grunde liegende,
unverarbeitete Gefühl iſt das, daß das ganze wirthſchaftliche Bil-
dungsweſen nur ſeinem Inhalt nach zwar von dem gelehrten weſent-
lich verſchiedenes, aber dennoch ſeiner wiſſenſchaftlichen Bedeutung nach
gleichberechtigtes Syſtem enthalte, und daher in denſelben Formen,
aber äußerlich beſtimmt getrennt, als ein großer Bildungsorganismus
ſich hinzuſtellen beſtimmt ſei. Seinen poſitiven Ausdruck hat dieſes
Gefühl in dem Satze gefunden, daß die polytechniſchen Anſtalten
dieſe volkswirthſchaftlichen oder techniſchen Univerſitäten ſeien, oder
dazu ausgebildet werden müſſen, ohne daß man bisher zugleich im Stande
geweſen wäre, ſich dabei über das Verhältniß der übrigen Fachbildungs-
anſtalten zu einem ſolchen polytechniſchen Inſtitut Rechenſchaft ab-
zulegen.
Es iſt auf den erſten Blick klar, daß dieß theoretiſch eine voll-
kommen falſche und praktiſch unausführbare Vorſtellung iſt. Ihre
formale Conſequenz wäre offenbar, daß nicht eben bloß Technik und
[272] Naturwiſſenſchaft, ſondern auch Landbau, Forſtweſen, Schifffahrt, und
gewerbliche Kunſt gleichſam als Fakultäten in die polytechniſchen
Schulen aufgenommen werden müßten, was ſchon an und für ſich,
ſelbſt äußerlich, unthunlich iſt. Die polytechniſche Univerſität iſt ſchon
deßhalb nicht darzuſtellen. Allein der Widerſpruch iſt ein viel tieferer,
wirklicherer. Die Vorausſetzung jeder Univerſität, das, was ſie eigent-
lich zur Univerſität macht, beſteht darin, daß das alle Fakultäten
Umſchließende und Vereinende wieder eine ſelbſtändige Fakultät (die
philoſophiſche) iſt, welche die geiſtige Einheit des Verſchiedenen zu
einer ſelbſtändigen Aufgabe der Bildung macht. Nun aber iſt es klar,
daß die Technik, die Lehre von den mechaniſch oder chemiſch wirkenden
Kräften der Natur, dieſe Einheit nicht bietet, ſo wenig als die bloße
Nationalökonomie oder die Statiſtik. Das was die techniſchen oder
polytechniſchen Schulen lehren, iſt ſelbſt nichts als Theil des Ganzen;
ſie ſind in der That nur die Fachbildungsanſtalten für Bau- und
Maſchinenweſen, und ſtehen ſomit einfach neben den übrigen Fach-
ſchulen. Der Verſuch, durch einfache äußerliche Hinzufügung aller
höheren, auf die wirthſchaftliche Bildung bezüglichen Fächer zu der
techniſchen Fachbildung dem Polytechnikum die Funktion der Univer-
ſität beizulegen, muß daher ſtets mißlingen, ſchon phyſiſch deßhalb,
weil die ſpecielle techniſche Bildung doch die Anſprüche, die ſie an die
Zeit der Schüler macht, entweder die allgemeinen Fächer erdrückt, oder
von dieſen erdrückt wird. Der entſchiedenſte Verſuch, jenen Gedanken
zu verwirklichen, hat die Wiener polytechniſche Anſtalt in ihrer
neuen Organiſation gemacht, und dieſer Verſuch muß nach dieſer Rich-
tung als ein vollkommen mißlungener angeſehen werden, da die Theil-
nahme an den rein techniſchen Gebieten die Betheiligung ſelbſt an der
allgemeinen volkswirthſchaftlichen Bildung, namentlich Nationalöko-
nomie und Statiſtik, zu einer bloßen Form machen muß. Man muß
daher principiell davon ausgehen, daß jede jener Fachſchulen ihr ſpe-
cielles Gebiet hat; und daß es nicht ihre Beſtimmung iſt, das All-
gemeine dieſes Gebietes zu erſchöpfen, ſondern vielmehr nur die An-
wendung derſelben auf das wirthſchaftliche Leben und ſeine großen
Unternehmungen zu lehren. Die übrigen Fachbildungsanſtalten be-
zeichnen ſchon durch ihren Namen, was in dieſem Sinne ihr Gegen-
ſtand iſt. Die polytechniſche Schule, auf ihr organiſches Maß zurück-
geführt, iſt die Lehre von der Anwendung der natürlichen Kräfte in
zwei ganz beſtimmten Gebieten, der Baukunde und der Maſchinenkunde.
Alles andere liegt außerhalb ihres Kreiſes, und muß in der unnatür-
lichen Verbindung mit dieſen beſchränkten Specialfächern eben ſo zu
Grunde gehen, als wenn man eine mediciniſche Fakultät mit einer
[273] philoſophiſchen verbinden, und Vorträge und Studien beider für alle
Hörer obligatoriſch machen wollte. Der großartig, aber einſeitig an-
gelegte Verſuch des Wiener Polytechnikums iſt daher von großem In-
tereſſe, kann aber nur als ein Beweis für die Unmöglichkeit angeſehen
werden, auf dieſem Wege das Ziel zu erreichen. Es iſt vielmehr auch
theoretiſch der ohnehin praktiſch nicht abzuweiſende Satz als maßgebend
anzuſehen, daß die allgemeine wirthſchaftliche Bildung in die ein-
zelne Fachbildungsſchule aufgenommen, und hier ſo weit thunlich dar-
geboten werden muß, und daß der Lehrplan dieſer Anſtalten ſpeciell
für jede einzelne aufzuſtellen iſt, was auch in der That allent-
halben mit gutem Rechte geſchieht.
Allerdings aber bleibt dabei die keineswegs unbedeutſame Frage
übrig, ob denn nun das verhältnißmäßig wenige, was die letzteren für
die allgemein wirthſchaftliche Bildung bieten können, für das geſammte
wirthſchaftliche Bildungsweſen zu genügen habe? Es iſt das große
Verdienſt der polytechniſchen Inſtitute, dieſe Frage ernſtlich angeregt
zu haben. Offenbar wird ſie es ſein, welche, indem ſie alle jene
Specialanſtalten wieder als ein Ganzes zuſammen faſſen lehrt, die
Idee der höheren wiſſenſchaftlichen Einheit in derſelben lebendig erhält.
In ihr beſteht die gegenwärtige wirthſchaftliche Berufsbildungsfrage;
nur von ihr kann von dem künftigen wirthſchaftlichen höheren Berufs-
bildungsſyſtem im Unterrichtsweſen die Rede ſein.
Um ſie nun zu beantworten, muß dasjenige Gebiet beſtimmt
werden, das einerſeits jene Einheit aller dieſer Specialfächer unzweifel-
haft umfaßt, und andrerſeits für alle gleich praktiſch verwendbar und
wichtig iſt. Das nun iſt weder Philoſophie noch Geſchichte, weder
Nationalökonomie noch Statiſtik, ſondern das iſt die Lehre vom öffent-
lichen Recht in ihrer Anwendung auf den wirthſchaftlichen, öffentlichen
Beruf, oder die Verwaltungslehre und das Verwaltungsrecht.
Die erſtere zeigt jede wirthſchaftliche Berufsbildung in ihrer öffentlichen
Bedeutung, in ihrem Eingreifen in das Geſammtleben, in ihrer orga-
niſchen Stellung zur Geſammtheit; die zweite zeigt, wie ſie in dieſer
Stellung durch den Willen dieſer Geſammtheit, durch Geſetz und Ver-
ordnung, theils in Polizei-, theils in Volkswirthſchaftspflege vom
Staate beſtimmt wird. Die Verwaltungslehre iſt daher in der That
das wiſſenſchaftliche Bewußtſein des Staats von ſeiner Volkswirth-
ſchaftspflege, das Verwaltungsrecht die Formulirung ſeiner Thätigkeit
für die letztere. Beide ſind es, in denen alles das, was jene An-
ſtalten lehren, als Theil und Moment eines größern Ganzen erſcheint,
beide bieten diejenigen Beziehungen dar, in welchen jene Fachbildungen
und Fächer mit dem öffentlichen Leben in Berührung ſtehen; beide
Stein, die Verwaltungslehre. V. 18
[274] geben daher dasjenige, was jene gemeinſam umfaßt, und doch ſelbſt
nur wieder als Theil eines größern Ganzen erſcheint. In ihnen
liegt daher die Löſung des Problems, welches mit der wirthſchaftlichen
Fachbildung gekommen iſt. Die Verwaltungslehre und das Verwal-
tungsrecht bilden das für die letztere, was Philoſophie und Geſchichte
für die Fakultäten ſind; der Uebergang zu der Gemeinſchaft mit den
Studien der juriſtiſchen Fakultät wird dann in Nationalökonomie und
Statiſtik gegeben, und erſt auf dieſer Baſis darf man von einem or-
ganiſchen Syſtem der wirthſchaftlichen Fachbildung reden.
Zunächſt als formelle Frage erſcheint die, ob die Fachbildung für
Verwaltungslehre und Recht ein Theil der Univerſität, oder ein Theil
der wirthſchaftlichen, ſpeciell der techniſchen Anſtalten bilden ſoll. In
der That aber kann die Sache kaum zweifelhaft erſcheinen. Die natür-
liche Stellung iſt die Anlehnung an die Univerſität, und zwar als ein
innerhalb der juriſtiſch-ſtaatswiſſenſchaftlichen Fakultät beſtehendes
Glied der letzteren. Abgeſehen von allen wiſſenſchaftlichen und dog-
matiſchen Gründen ſprechen dafür auch praktiſche Gründe in entſchei-
dender Weiſe. Wir betreten damit das letzte Gebiet der öffentlichen
Lehrordnungsfrage der wirthſchaftlichen Fachbildung.
Durch das Auftreten der letzteren nämlich iſt das weite und un-
beſtimmte Gebiet der Cameralien eigentlich verſchwunden und ihre
Fächer ſind gewiſſermaßen heimathslos geworden. Dennoch iſt es kein
Zweifel, daß die Verwaltung, während ſie für gewiſſe Gebiete mit der
allgemein ſtaatswiſſenſchaftlichen Bildung des Juriſten ſich genügen
kann, für andere eine ſpecielle Fachbildung wünſchen muß, der die
Breite einer wiſſenſchaftlichen Baſis fehlt, die aber dennoch innerhalb
ihres Kreiſes ihre theoretiſche Grundlage fordert (z. B. Zoll-, Poſt-,
Eiſenbahn-, Steuerverwaltung ꝛc.). Für dieſe Berufe iſt mit der neuen
Ordnung die organiſche Fachbildung verſchwunden, und es iſt der
Widerſpruch entſtanden, daß der Staat zwar ein Prüfungs-, nicht aber
ein Bildungsſyſtem für dieſelben beſitzt. So lange nun die Verwaltung
ſelbſt noch eine mechaniſche war, konnte das genügen. Allein das Auf-
treten der Volksvertretungen und der Publiciſtik macht es ſchon jetzt
unmöglich, eine wiſſenſchaftliche Bildung durch dieſe mechaniſche Routine
zu erſetzen. Die Verwaltung muß daher über kurz oder lang dazu ſchrei-
ten auch für dieſe, neben der ſtreng volkswirthſchaftlichen Fachbildung
ſtehende ſtaatswirthſchaftliche Bildung Lehrorgane und einen Lehrplans
aufzuſtellen, der wiederum auch hier in dem Zuſammenhange mit
dem Ganzen ſein rechtes lebendiges Element empfangen ſoll. Da
nun kann wiederum nur geſchehen, indem dieſe Lehrgegenſtände als
das aufgefaßt und aufgeſtellt werden, was ſie ſind, als Theile der
[275] Verwaltungslehre und ihres Rechts. Die Cameralia haben den Ruhm,
das wiſſenſchaftliche Element auch für dieſe Gebiete feſtgehalten zu
haben; die Verwaltungslehre hat die Aufgabe, daſſelbe zu einem organi-
ſchen Ganzen ſyſtematiſch zu entwickeln.
Auf dieſe Weiſe beruht nun das Syſtem des Lehrplanes für die
(volks- und ſtaats-) wirthſchaftliche Fachbildung auf dem Princip, daß
jede Fachbildungsanſtalt ihren eigenen Lehrplan habe, daß aber die
höchſte wiſſenſchaftliche Einheit nicht etwa in einem Polytechnikum,
ſondern in der Verwaltungslehre an den Univerſitäten liegen muß, die
dann freilich wieder vermöge ihres vielartigen Stoffes einen eigenen
Lehrplan fordert, deſſen Baſis übrigens einfach iſt. Derſelbe muß
aus Einem Jahrgang, und kann aus zweien beſtehen. Er enthält
Vorleſungen über den allgemeinen Theil, beſtehend aus Nationalökonomie,
Statiſtik und den Inſtitutionen der Verwaltungslehre; es iſt gar nichts
dagegen einzuwenden, daß die letzteren im zweiten Semeſter gehört
werden. Der beſondere Theil enthält das poſitive Verwaltungsrecht
der einzelnen Fächer (z. B. Bergrecht, Baurecht, Maſchinenpolizei,
Waſſerrecht, Gewerberecht, Forſtrecht, geiſtiges Eigenthumsrecht, Land-
wirthſchaftsrecht etwa mit Geſinderecht, daneben die Elemente des
Wechſelrechts, des Grundbuchsrechts, des Wegerechts, des Poſtweſens,
Zollweſens, Münzweſens u. ſ. w.) in der Weiſe, daß jeder wirthſchaft-
liche Fachmann ſein Verwaltungsrecht höre. Die Specialität gerade
dieſer Fächer iſt von hoher Wichtigkeit; ihren praktiſchen Werth wird
niemand beſtreiten; da jeder nur Ein, höchſtens zwei von dieſen (kleinen)
Collegien hören wird, ſo bleibt die Zeit durch Betheiligung an den all-
gemeinen Univerſitätscollegien den Blick zu erweitern; der Werth dieſer
inneren Verbindung mit den letztern iſt nicht zweifelhaft; und ſo wird
gerade auf dieſe Weiſe dasjenige auch äußerlich hergeſtellt, was in der
höheren Natur der Sache liegt, das Aufſtellen einer formalen Einheit
des Bildungsweſens, welche die innere geiſtige Einheit zum geltenden
Ausdruck bringt. Die Ausführung des Einzelnen gehört nicht hierher.
Gewiß iſt aber, daß nur dadurch auch in das dritte Gebiet endgültige
Klarheit gebracht werden kann, die Studienpflicht und das Prüfungsweſen.
Was nun dieſe beiden Punkte betrifft, ſo iſt es allerdings klar, daß
von einer durchgreifenden Aufſtellung derſelben wie bei der gelehrten Fach-
bildung keine Rede ſein kann; dem widerſpricht die Freiheit des wirthſchaft-
lichen Berufes. Wo aber dieſer Beruf eine öffentliche, ſelbſtändige, wirth-
ſchaftliche Funktion enthält (Schiffer, Forſtleute, Bergmänner, Bauleute,
Maſchinenbauer), da hat die Verwaltung das Recht und die Aufgabe, ein
Minimum der Berufsbildung zu fordern, als Sicherung des Geſammtinter-
eſſes, das ſich der Benützung dieſer beſtimmten Perſonen nicht entziehen
[276] kann. Das Mittel dafür iſt zunächſt ein Prüfungsweſen. Aus demſelben
erzeugt ſich von ſelbſt ein geſetzlicher Studienplan, mit der Pflicht der
Schüler, ſich nach demſelben zu verhalten. Der Regel nach iſt derſelbe
ſehr minutiös und ſtrenge gehalten und darauf berechnet, die Selbſt-
thätigkeit der Lernenden durch Arbeiten in und für die Anſtalt faſt ganz
zu erſetzen. Das iſt ein Mangel. Der Begriff der Lernfreiheit exiſtirt
noch gar nicht für dieſe wirthſchaftliche Fachbildung; aber er wird auch
kommen. Und für ſie wie für die gelehrte Bildung ſprechen wir den Satz
aus, daß auch hier der Bildungsproceß in zwei Elementen beſteht, von
denen keins das andere ganz abſorbiren darf, in dem Elemente des ob-
jektiven Lernens und dem der ſubjektiven Selbſtthätigkeit. Völlige Lern-
freiheit unter Aufhebung jeder Vorſchrift iſt eben ſo falſch als völlige
Abſorbirung der geſammten Lernkraft durch zu große Zahl von obligaten
Fächern. Die Neigung wendet ſich jetzt nach der letztern Richtung zu.
Der Gegenſatz wird kommen. In dem richtigen Maße für beide liegt
das Wahre, weil es der Natur der beiden Faktoren entſpricht. Die
Fachmänner ſollen für jede Art der Fachbildung dieß Maß finden. Die
Verwaltungslehre hat an dem obigen Princip feſtzuhalten.
Dem entſprechend kann die Verwaltung ein Prüfungsſyſtem als
rechtliche Bedingung der Berufsausübung nur für diejenigen Fächer
aufſtellen, in denen aus volkswirtſchaftlichen Rückſichten jenes Mini-
mum gefordert werden muß; nicht bloß für die Staatsbeamteten (Zoll-,
Steuer-, Grundbuch-, Poſt-, Forſt-, Bau- u. ſ. w.), ſondern auch für rein
wirthſchaftliche Erwerbszweige (Civilbau, Maſchinenbau ꝛc.). Wo da-
gegen dieß nicht der Fall iſt, muß ſie ſtatt eines Rechts der beſtan-
denen Prüfung ein Recht auf Beſtehen der Prüfung und mithin
auf Ertheilung eines Zeugniſſes anerkennen, und die Lehrer ver-
pflichten, ein ſolches zu ertheilen, es dem Einzelnen und dem Publikum
überlaſſend, dieſen Zeugniſſen den ihnen geeignet ſcheinenden Werth beizu-
legen. Daß ſie einen ſolchen haben und behalten werden, wird wohl
nicht in Frage ſtehen; nicht das letzte Element deſſelben beſteht in dem
indirekten Einfluß, den ein ſolcher Werth auf die Anſtrengungen des
Lehrkörpers ausübt; denn dieſer Werth iſt die öffentliche Ehre des letztern.
Demgemäß nun dürfen wir zur Verdeutlichung dieſer Sätze viel-
leicht auch hier ein Schema aufſtellen.
Wirthſchaftliche Fachbildung.
- A.Produktionsſchulen (etwa vierjähriger Curſus).
- Erſter Theil: Curſus der Specialanſtalten. Vorbildung
auf einer der beiden Vorbildungsanſtalten. Abgangszeugniß
derſelben als Aufnahmszeugniß. Etwa dreijähriger Curſus.
Jede hat eigenen Lehrplan. Abgangsprüfung. - Zweiter Theil: Verwaltungsrechtlicher Curſus an
der Univerſität. Aufnahme ohne Abgangsprüfung der
Specialfachſchule, auch gegen bloße Abgangsprüfung der
Vorbildungsanſtalten. Ein- bis zweijähriger Curſus. Ohne
Pflicht, aber mit dem Recht auf Abgangsprüfung.
- Erſter Theil: Curſus der Specialanſtalten. Vorbildung
- B.Handelsſchulen. Frei, mit freier Prüfung. Recht auf Theil-
nahme an dem verwaltungsrechtlichen Curſus.
Die nächſte Aufgabe der auf alle dieſe Fragen bezüglichen Literatur
wird wohl darin beſtehen, ſich von dem gegenwärtigen Zuſtande zu
befreien, der, wie ſchon erwähnt, den ganz beſtimmten Charakter hat,
alle Fragen durch die Unterſuchung der polytechniſchen zu beantworten
und mit der Organiſation der letzteren dieß ganze Gebiet für definitiv
erledigt zu halten. Es iſt ein großer Mangel, daß die geſammte Fachbil-
dung der Landwirthſchaft, gewerblichen Kunſt, Forſt- und Bergwirthſchaft,
und Schifffahrt ſo gut als gar nicht exiſtent betrachtet wird, wo es
ſich um die höchſte „reale“ Fachbildung handelt. Doch darf man den
Technikern dieſe große Einſeitigkeit nicht verargen, die alle ihre Thätig-
keit in der reinen Technik oder Polytechnik erſchöpfen. In der That
ſoll man endlich die noch vielfach vorhandene Anſicht beſeitigen, als ob
die höchſt untergeordnete franzöſiſche École polytechnique das Muſter
der deutſchen polytechniſchen Anſtalten ſei. Die letzteren ſind vielmehr
ein ächt deutſches Inſtitut, deſſen Weſen das Beſtreben iſt, die höchſte
und allgemeinſte wirthſchaftliche Bildung ſpeciell mit der techniſchen zu
verbinden, was ein entſchiedener Irrthum für die Ausführung, aber
richtig für die Auffaſſung iſt. Selbſt die neueſte, an Mittheilungen
reiche Schrift von Koriſtka über die polytechniſchen Inſtitute der
verſchiedenen Länder Europas hat in dieſer Beziehung von dem alten
Standpunkt ſich nicht losmachen können.
Was nun das gegebene Recht und die Geſetzgebung betrifft,
ſo ergibt ſich aus dem Obigen der Grund, weßhalb es keine Gleichheit
und Gemeinſchaft der letzteren gibt; nicht einmal in den einzelnen
Staaten iſt dieſelbe in ein Ganzes zuſammengefaßt. Da, wo ſie noch
am meiſten ſyſtematiſch auftritt, wie in Bayern, beſchäftigt ſie ſich
doch wieder nur mit dem techniſchen Element der Bildung.
Sie hat vielleicht volles Recht, in dieſer Beziehung auf die Aus-
bildung eines ſelbſtändigen Lehramtes zu warten; denn hier wie immer
wird ſich Deutſchland für ſein Bildungsweſen dadurch auszeichnen,
daß es ſeine Geſetze nach dem Vorgange der wiſſenſchaftlichen Behand-
lung beſtimmt. Bei dieſer Verſchiedenheit iſt nun auch eine mittelbare
[278] Vergleichung der wirthſchaftlichen Fachbildungsſyſteme und Anſtalten
noch nicht thunlich. Es muß genügen, diejenigen Punkte hervorzuheben,
welche den Charakter derſelben bilden.
Dieſer Charakter beruht zuerſt auf dem Verhältniß zur wirth-
ſchaftlichen Vorbildung, namentlich dem Realſchulſyſtem; maßgebend iſt
die Entſcheidung über die Frage, ob ein Abgangszeugniß des letzteren
für den Eintritt in die erſteren gefordert wird oder nicht.
Das Verhältniß des wirthſchaftlichen Fachbildungsſyſtemes zum ge-
ſammten Bildungsweſen iſt in der ſyſtematiſchen Aufſtellung von Special-
ſchulen einerſeits und für die höhere Bildung weſentlich in der Berück-
ſichtigung der Staatswiſſenſchaften als Lehr- und Prüfungsgegen-
ſtand gegeben.
Die Auffaſſung des Bildungsproceſſes und ſeines Umfanges iſt
ausgedrückt in dem Klaſſenſyſtem, welches das Lehrſyſtem in ſich
aufnimmt und damit den Umfang der ſpeciellen Fachbildung charakteriſirt.
Das Verhältniß derſelben zum öffentlichen Dienſt und damit die
formelle und öffentliche Anerkennung des Berufes iſt gegeben durch das
Prüfungsſyſtem und zwar weſentlich durch die Beſtimmung, ob und
wie weit die beſtandene Prüfung das öffentliche Recht zur Ausübung
des Berufes gibt.
Neben dem, in jenen Momenten gegebenen Syſtem der Staats-
anſtalten der wirthſchaftlichen Fachbildung ſind nun die Privatanſtalten,
die Verkehrs- oder Handelsſchulen, von nicht geringer Bedeutung. Sie
ſind noch ſehr örtlich, aber im Weſentlichen gleichartig. Das Erſte wäre
hier, eine tüchtige und nach ſpeciellen Geſichtspunkten zu Werke gehende
Statiſtik derſelben aufzuſtellen, wie Brachelli ſie in ſeinen Staaten
Europas begonnen hat. Erſt dann dürfte eine ſyſtematiſche Behand-
lung des poſitiven Rechts mit Erfolg thunlich ſein. Die Hauptdaten
ſind vor der Hand folgende.
Oeſterreich. Syſtem: 1) Polytechniſches Inſtitut (Organ.
Statut vom 17. Okt. 1865. Allgemeine Abtheilung; vier Fachſchulen
(Bau, Maſchinen, Chemie). Vorausſetzung: Realſchulprüfung oder
Obergymnaſien. Jahreszeugniſſe; Abgangsprüfung mit Diplom; Lehrer-
weſen dem Univerſitätsweſen nachgebildet. Staatswiſſenſchaften dabei
nicht obligat und kein Gegenſtand der Prüfung (höhere Gewerbeſchulen
fehlen dafür). (Techniſches) Johanneum in Graz. 2) Landwirth-
ſchaftliche Lehranſtalt. Eine in Ungariſch-Altenburg (Organ. vom
31. Okt. 1850) mit zweijährigem Curs. 3) Forſtlehranſtalt: eine in
Mariabrunn (Organ. vom 27. April 1852). 4) Bergweſen: Berg-
Akademie zu Chemnitz (Organ. vom 25. März 1851). Bergſchulen
in Vordernberg (Organ. vom 21. Sept. 1848), Leoben und Przibram
[279] (Organ. vom 6. Febr. 1849). 5) Schifffahrt: Nautiſche Schule
in Trieſt (Organ. vom 23. Febr. 1851). 6) Handelsakademie in
Wien 1863. Handelsſchule in Reichenberg.
Preußen. Syſtem: 1) Gewerbe-Inſtitut zu Berlin (Neue
Organ. vom 23. Auguſt 1860). Allgemeine techniſche Abtheilung; drei
Fächer (Mechanik, Chemie, Seeſchiffsbau), Realſchule oder Obergym-
naſien. Ohne Lehrzwang; Abgangszeugniß ohne Prüfung. 2) Bau-
akademie (Neue Organ. von 1849 und 18. März 1855); bloß für
Bauweſen; zweijähriger Curſus; ohne Prüfung; nur mit Dienſtprüfung
für den Staatsdienſt. Damit verbunden die Bau- und Gewerbe-
ſchule in Berlin (Winterkurſe, 1854); 3) Landwirthſchaft: landw.
Staatslehranſtalten: Greifswald (Organ ſeit 1850), Bonn, Oppeln
(1847), Waldau (RönneII. §. 229 u. 455). Daneben zahlreiche
landwirthſchaftliche Lehranſtalten theils der Gemeinden, theils Privat-
unternehmungen mit ſtaatlicher Unterſtützung, theils ohne dieſelben
(Franz, preuß. Staat I. 123; RönneII. 445). Gärtnerlehranſtalt
zu Sansſouci und in Erfurt (Rönne, Unterrichtsweſen II. 361).
4) Forſtweſen: höhere Forſtlehranſtalt zu Neu-Eberswalde (Regulativ
vom 7. Febr. 1864), Forſtſchulen in Königsberg und Düben; Jagd-
Lehrinſtitut zu Berlin (Rönne, Unterrichtsweſen II. 362). 5) Berg-
weſen: Berg-Akademie, Berlin 1866; daneben Bergſchulen in
ſämmtlichen Bergrevieren für untere Beamtete. 6) Schifffahrt:
Navigationsſchulen, ſechs (Organiſation vom 24. April 1863;
Rönne, Staatsrecht II. §. 228). 7) Handelsakademie: Danzig
(1835), Berlin (1843) mit Staatsunterſtützungen; ferner bei Franz,
preuß. Staat I. 230). 8) Webeſchule in Elberfeld mit künſtleriſcher
Vorbildung ſeit 1853. Außer den, mit allen dieſen Inſtituten ver-
bundenen Prüfungen erſtreckt ſich das Prüfungsſyſtem auch über dieſe
ganze Fachbildung hinaus und hat die Regierung faſt die Stellung und
Aufgabe der alten Zunft übernommen. Syſtem der Handwerker-
Prüfungen (Allgem. Gewerbeordnung von 1845; Verordnung vom
9. Febr. 1849 und Geſetz vom 15. Mai 1854); Bauhandwerker-
Prüfung; ebend. Buchhändler- und Buchdrucker-Prüfung
(Preßgeſetz vom 12. Mai 1851), ja ſogar neben dem ärztlichen Heil-
perſonal die Abdecker und Caſtrirer nach Reglement vom 29. Sep-
tember 1846.
Bayern. 1) Fabriks-Ingenieurſchule (Schulordnung von
1861 mit den Aufgaben und Abtheilungen der obigen polytechniſchen
Schulen); 2) polytechniſche Schule als höhere Landmeſſerſchule, un-
klar; 3) die polytechniſchen Schulen von München (1827), Nürn-
berg (1833) und Augsburg waren eigentlich höhere Gewerbeſchulen.
[280] Die neue Organiſation der techniſchen Lehranſtalten vom 14. Mai
1864 hat jetzt eine eigentliche polytechniſche Schule mit Einer allge-
meinen und vier Fachabtheilungen und Abgangsprüfungen als Staats-
anſtalt hergeſtellt (ſ. Auſtria 1864. S. 253). Ein Jahrescurs gilt auch
als Grundlage zur Zulaſſung zum Zollweſen (Bekanntmachung vom
25. Auguſt 1864). Die Stellung der Univerſitäten iſt durch Mi-
niſterialerlaß vom 19. Auguſt 1839 und 23. November 1840 als die
leitende für die höchſte gewerbliche Bildung erkannt (Pözl, Verwaltungs-
recht §. 154); 4) Landwirthſchaft. Landw. Centralſchule Weihen-
Stephan (organiſirt am 18. Sept. 1852); Prüfungsordnung vom
April 1864 (Auſtria 1864. Nr. 26); Ackerbauſchule von Schleißheim
(1847), Triesdorf (1856), Neudeck (1857); daneben Verſuch von Muſter-
wirthſchaften, Kreis-Wieſenbauſchule u. a. (Pözl §. 146). 4) Forſt-
weſen. Forſtſchule Aſchaffenburg (1844) für Staatsdienſt, mit einem
Jahr Univerſitätsſtudium! 5) Bergweſen. Ein zweijähriger Curs
an der ſtaatswirthſchaftlichen Fakultät in München. 6) Kunſtberuf,
Civilbau (königl. Akademie der Künſte in München).
Hannover. 1) Polytechniſche Schule in Hannover ſeit 1831
(Karmarſch, die polytechniſche Schule in Hannover 1856). Maſchinen-
bau und Chemie. Baugewerkeſchule zu Nienburg. Prüfungsordnung
für die Baufächer ſeit 1847 verſchieden; Maſchinenbau vom 7. Oktober
1852; landwirthſchaftliche Akademie zu Weende (Geffken bei Schmid
hat nichts weiter; auch Karmarſch nicht).
Sachſen. 1) Polytechniſche Schule in Dresden 1828 (neue Or-
ganiſation vom 14. März 1855); Staatsprüfungsordnung für Techniker
vom 24. April 1852; 2) k. Gewerbeſchule (Baugewerke und mecha-
niſche Gewerke); Chemnitz; 3) Landwirths- und Forſtſchule Tharand;
4) Handelsſchulen in Leipzig, Dresden, Chemnitz u. a. m.; 5) Prüfungs-
ordnung der Techniker vom 24. December 1851 (dreijährige praktiſche
Uebungen und vier Arten der Diplome).
Baden. 1) Polytechniſche Schule ſeit Verordnung vom 7. Okt.
1825; ſchon damals: Allgemeine Klaſſe, mathematiſche Klaſſe, Handels-
und Gewerbeklaſſe; Fachſchule für die Baum- (ſeit 1852) mit Forſtſchule
verbunden; Staatsprüfungsordnung der Ingenieur-Candidaten
(unter Aufhebung der früheren vom 6. April 1837), vom 20. Sept.
1844. Daran ſchließt ſich die Organiſation des Bauweſens durch Ver-
ordnung vom 15. Juni 1859 und die Prüfungsordnung für das
Civilbaufach von demſelben Datum. 2) Forſtweſen: Vorbereitungs-
curs der Forſteleven an der polytechniſchen Schule; dann Beſuch einer
auswärtigen Forſtanſtalt oder einer Univerſität (Prüfungsordnung vom
15. Januar 1835).
[281]
Württemberg. 1) Polytechniſche Schule ſeit 1829, neue
Organiſation von 1847 und 1862 (ſ. Mohl, Württemb. Verwaltungs-
recht §. 214). 2) Bauweſen: Prüfungsordnung vom 22. Auguſt 1843
(mit einer theoretiſchen und einer praktiſchen Prüfung). 3) Landwirth-
ſchaft und Forſtwirthſchaft: Inſtitut zu Hohenheim ſeit 1818. 4) Prü-
fungsordnung für das Berg-, Hütten- und Salinenfach (theoretiſche
und praktiſche) vom 30. December 1852. 5) Prüfungsordnung für die
Feldmeſſer vom 25. November 1849 (ohne nothwendige polytechniſche
Vorbildung). 6) Kaufmänniſche Fortbildungsſchule in Stuttgart
(mit unterem und oberem Curs).
In Braunſchweig iſt ſeit 1835 zu dem Carolinum eine techniſche
und eine mercantile Abtheilung hinzugetreten. In Kurheſſen beſteht
die höhere Gewerbeſchule ſeit 1832, reorganiſirt 1853; in Heſſen-Darm-
ſtadt eine ähnliche ſeit 1835; welche ſo weit thunlich alle Aufgaben
der obigen Fachbildungsanſtalten haben.
Die ſpeciellen ſtatiſtiſchen (kurzen) Angaben über alle einzelnen in
den deutſchen kleineren Staaten beſtehenden wirthſchaftlichen Fachbil-
dungsanſtalten enthält wohl allein Brachelli in ſeiner Staatenkunde
Europas S. 566 ff.
Was Holland betrifft, ſo iſt ſeine wirthſchaftliche Fachbildung in
das Geſetz vom 2. Mai 1863 über den mittleren Unterricht als integri-
render Theil deſſelben aufgenommen und zwar im (einſeitigen) Gegen-
ſatz zum gelehrten („höheren“) Unterricht. Das Geſetz erkennt dabei
die landwirthſchaftliche Schule und die polytechniſche Schule
als Theile des erſteren an und gibt das genauere Programm Art. 19.
Die polytechniſche Schule (Hauptſtück II.) iſt ſelbſtändig behandelt und
beſtimmt, namentlich für Ingenieure; die Bau- und Schiffsbaukunde
ſind darin aufgenommen; ebenſo Volkswirthſchaftslehre und Verwaltungs-
recht. Auch dieß Programm iſt offenbar zu weitumfaſſend und beruht
auf denſelben Vorſtellungen, wie das des Wiener polytechniſchen Inſti-
tuts, mit all ſeinen Vorzügen und üblen Folgen.
Vergleicht man die vorliegenden Angaben mit dem, was im Weſen
der volkswirthſchaftlichen Fachbildung liegt und von derſelben gefordert
werden muß, ſo iſt es kein Zweifel, daß die letztere in Deutſchland noch
weit hinter der wiſſenſchaftlichen ſowohl in organiſcher innerer Klarheit
und Einheit als in allgemeiner Ausdehnung zurückſteht. Die große
Lebendigkeit, die in dieſem Gebiete herrſcht, läßt jedoch mit Beſtimmt-
heit vorherſagen, daß daſſelbe an Gleichmäßigkeit und Durchbildung nicht
lange auf einen entſcheidenden Fortſchritt zu warten haben wird, wenn
nur erſt die Grundbegriffe über das Nothwendige und Erreichbare ſich
auch hier geklärt haben werden.
[282]
Die neueſte fachmänniſch aufgefaßte und ſehr beachtenswerthe Ar-
beit in dieſem Gebiet, die das Verhältniß zur Elementarbildung zugleich
theoretiſch und praktiſch zur vollen Geltung bringt, iſt Dr. H. W. Pabſt
(über landwirthſchaftliche Fortbildungsſchulen und Wanderlehrer, ſowie
über die Mittel zur Bildung und Belehrung des Bauernſtandes über-
haupt. Wien 1867). Die Schrift iſt zunächſt an die landwirthſchaft-
lichen Geſellſchaften und Vereine adreſſirt, die Rathſchläge des Verfaſſers
aber umfaſſen folgende ſechs Abtheilungen: 1) Vervollkommnung des
Volksſchulweſens; 2) allgemeiner Fortbildungsunterricht mit Begründung
der landwirthſchaftlichen Berufsbildung, anlehnend an die Volksſchule;
3) landwirthſchaftliche Wanderlehrer; 4) Ortsvereine (winterliche Abend-
verſammlungen) zur Beſprechung der Maßregeln zum landwirthſchaft-
lichen Fortſchritte; 5) Verbreitung belehrender Schriften unter dem
Bauernſtande; 6) Ackerbauſchulen für Bauernſöhne.
Die Kunſt iſt die freie äußere That, welche einen inneren Seelen-
zuſtand in einer äußeren Erſcheinung darſtellt. Sie iſt daher in ihrer
Bildung, wie in dem, was ſie leiſtet, Sache des Einzelnen. Sie iſt
eine Lebensaufgabe; aber ſie iſt unfähig, eine öffentliche Pflicht zu
werden; und nur langſam und unter beſonderen Verhältniſſen bildet
ſich aus ihr das, was wir einen öffentlichen Beruf und einen Stand
nennen. Erſt aber auf dieſem Punkte tritt die Kunſt aus ihrer ethiſchen
Sphäre in das rechtliche Leben des Staats hinein und läßt die Ein-
wirkung der Verwaltung auf ſich und ihre Leiſtungen zu. Und die Ge-
ſammtheit dieſer Thätigkeiten der Verwaltung, mit welcher ſie die Bildung
für den künſtleriſchen Beruf fördert und ordnet, nennen wir das künſt-
leriſche Berufsbildungsweſen.
Man kann nun in dieſem künſtleriſchen Berufsbildungsweſen im
Allgemeinen drei Stadien unterſcheiden, die wieder zu einander in dem-
ſelben Verhältniß ſtehen, wie alle ſolche Entwicklungsepochen, daß näm-
lich jedes derſelben die frühere nicht vernichtet, ſondern ſie vielmehr in
ſich aufnimmt und in ihrer Weiſe verarbeitet.
Das erſte Stadium iſt dasjenige, wo die künſtleriſche Bildung den
Charakter und die Geſtalt einer rein individuellen hat: ſie wird
hier gegeben und empfangen durch das Anſchließen des Jüngers an
den Meiſter. Es iſt rein der Name und die perſönliche Bedeutung
des letzteren, welche einen größeren Kreis von jungen Kräften einem
hervorragenden Namen zuführen; der perſönliche und künſtleriſche An-
ſchluß an den Lehrer, das Arbeiten unter ſeiner Leitung und oft in
[283] ſeiner eigenen Werkſtatt erzeugen dann den (kunſtgeſchichtlichen) Begriff
der Schule, der aber mit dem öffentlichen Recht und der Verwaltung
noch nichts zu thun hat und ſich auch als kunſthiſtoriſcher Begriff dauernd
in den folgenden Epochen erhält.
Das zweite Stadium dagegen beginnt mit der Zeit, wo mit dem
Siege des Königthums die Fürſten den Glanz der Krone auch in der
poſitiven Forderung der Kunſt nach allen Richtungen zu befördern ſuchen.
Das Streben nach dieſem Ziel erzeugt zwei Erſcheinungen, die für die
Geſchichte der Kunſtbildung wichtiger werden, als für die der Kunſt
ſelbſt. Einerſeits gehen aus demſelben die großen Kunſtſammlungen
und Kunſtanſtalten (Gallerien, Muſeum, Theater, Muſikconſer-
vatorien ꝛc.) hervor, welche gleich von Anfang an den ſeit jener Zeit
immer mehr ausgebildeten Charakter von öffentlichen Anſtalten für die
allgemeine Bildung haben; anderſeits aber ſchließen ſich an dieſe An-
ſtalten die erſten noch unorganiſchen Verſuche einer formellen Kunſt-
bildung an, welche dann in den großen Reichsakademien ihre feſte
Organiſation und öffentliche Geſtalt empfangen. Das 18. Jahrhundert
iſt die Zeit dieſer Entwicklung, die ſich in Deutſchland an das fran-
zöſiſche Muſter anſchließt, jedoch faſt allgemein ohne die Vorzüge des
letzteren.
Das dritte Stadium gehört unſerm Jahrhundert an. Sein Charakter
beruht auf einer, wenigſtens für Deutſchland ganz neuen Auffaſſung.
Die induſtrielle Epoche, die mit der franzöſiſchen Revolution den Rhein
überſchreitet, erzeugt zuerſt die Vorſtellung von dem wirthſchaftlichen
Werthe der Kunſt überhaupt, dann die Erkenntniß, daß die reine Kunſt
am Ende die einzig dauernde Grundlage der gewerblichen Kunſt ſei.
Die Kunſtbildung tritt damit in die Reihe der großen Aufgaben der
Verwaltung hinein und wird zu einem öffentlich rechtlichen Theile des
Bildungsweſens, obgleich die Theorie ſich noch immer nicht daran ge-
wöhnen kann, es als ſolches ſyſtematiſch zu behandeln. Naturgemäß
war es dabei, daß ſich dieſe neu organiſirte Kunſtbildung einerſeits an
die großen Sammlungen anſchloß und anderſeits eine Organiſation
empfing, deren Hauptpunkte denn doch am Ende ſich nach der wiſſen-
ſchaftlichen Bildung richteten, während ſie zu gleicher Zeit, namentlich
in den Zeichenſchulen, ſich dem rein gewerblichen Bildungsweſen anſchloß.
Dabei blieb natürlich der Privatthätigkeit ſtets das meiſte überlaſſen;
wo aber die Verwaltung auftrat, führte ſie auch hier ſo weit möglich
den Unterſchied zwiſchen Vorbildung und Fachbildung durch, und ſo
hat jeder Zweig der Kunſt ſeine eigene Berufsbildung empfangen, die
zwar, wie es ihre Natur mit ſich bringt, nur eine örtliche iſt, die aber,
und darin liegt die hohe Bedeutung für das geſammte Bildungsweſen,
[284] allmählig und ſicher das künſtleriſche Element ſowohl in die Volks-
ſchule als in die für daſſelbe empfänglichen Gebiete der
Berufsbildung belebend und veredelnd hinüberträgt.
Dieſer Proceß beruht ſeinerſeits auf zwei großen Elementen, welche
wiederum ebenſo ſehr der gewerblichen Fortbildung, als dem künſtleri-
ſchen Berufe angehören. Das iſt einerſeits das Zeichnen, das neben
ſeiner techniſchen Bedeutung eine nicht geringere künſtleriſche hat, und
dann die Sammlung und Aufſtellung von Muſtern aller Art, an die
ſich Vorträge, Lehre und Uebungen in mannigfachſter Weiſe anſchließen.
Die Gewerbelehre iſt ſich über den hohen Werth dieſer Verbindung der
Kunſt mit der Induſtrie klar, und ernſtliche Beſtrebungen ſind, wenn
auch noch vereinzelt, hiefür eingeleitet.
Stellt man auf dieſe Weiſe die Grundzüge der Organiſation der
Kunſtbildung auf, ſo ergibt ſich folgendes mehr oder weniger ausge-
bildete Syſtem, auf welches im Grunde nicht bloß die Vergleichung
deſſen, was bereits für die Kunſtbildung geſchehen iſt, als auch das,
was dafür in ihrer Verſchmelzung mit dem praktiſchen Leben von Seiten
der Verwaltung geſchehen kann und ſoll, zurückzuführen iſt.
Alle Kunſtbildung ſteht unter dem Unterrichtsminiſterium. Die
großen ſelbſtändigen Kunſtbildungsanſtalten haben eine den wiſſen-
ſchaftlichen Fachbildungsanſtalten entſprechende Organiſation und ſind
zugleich das berathende Organ für das öffentliche Recht der Kunſt.
Die Unterſcheidung von Vorbildung und Fachbildung iſt feſtzuhalten
und durchzuführen. Endlich iſt die Elementarbildung der Kunſt
als Singunterricht für die Muſik, als Zeichenunterricht für das Real-
gewerbe und als künſtleriſche Architecturzeichnung in die Baulehre ſyſte-
matiſch aufzunehmen.
Bei der künſtleriſchen Bildung begegnen wir einem vollſtändigen
Mangel der öffentlich rechtlichen Literatur, der um ſo beachtenswerther
iſt, als bedeutende Anregungen dafür doch ſchon in der ſtaatswiſſen-
ſchaftlichen Literatur aus dem Anfange unſers Jahrhunderts vorhanden
ſind. Allerdings gehen dieſelben zunächſt von der claſſiſchen Bildung
aus; aber durch dieſelbe gewinnt der Satz ſeine Geltung, daß die
äſthetiſche Bildung einen organiſchen Theil des geſammten Bildungs-
weſens ſein müſſe. Schon Soden (Staats-Nationalbildung 1821) führt
die Zeichenſchulen und die Zeichenakademien, die Muſik und Singſchulen,
und ſelbſt die Theaterſchulen, letztere ſogar als einen „dringenden Be-
darf“ in ſeinem Syſtem auf §. 287. 288. 289. Dahlberg (Perikles
über den Einfluß der ſchönen Künſte auf das öffentliche Glück 1806).
[285] Auch Jahn in ſeinem „Volksthum“ vertritt den Werth der künſtleriſchen
Bildung im Volke, und Aretin macht dieſelbe zu einem Theile der
conſtitutionellen Verwaltung (Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie
Bd. II. 1. Abtheilung §. 12). Freilich bleibt das alles, ebenſo wie
ſpäter Pölitz, bloß bei dem ethiſch-pädagogiſchen Elemente ſtehen. Die
eigentliche Verwaltungslehre in der damaligen Form der Polizeiwiſſen-
ſchaft läßt die Sache ganz eng; ſo noch Mohl Bd. I. §. 76—82.
Aber freilich hat ja auch Schmid die künſtleriſche Erziehung und
Bildung nicht mit aufgenommen. Der einzige Punkt, wo ſie dann
wieder eine Stelle fand, war die Verwaltungsgeſetzkunde und zwar ein-
fach, weil ſie eine Reihe von Organiſationen und geltenden Beſtimmungen
enthält, welche mitgetheilt werden wollten. Eine Statiſtik für Deutſch-
land fehlt darüber gänzlich; was von Seiten freier Vereine geſchieht,
iſt ſo gut als unbekannt; ſelbſt Männer wie Kugler und Schnaaſe
haben ſich nur ganz gelegentlich mit dem Gegenſtande beſchäftigt. Hoffen
wir, daß dieſes ja auch gewerblich ſo wichtige Gebiet nicht lange mehr
brach liegen bleibe. — Die bekannten geltenden Inſtitutionen und Be-
ſtimmungen ſind folgende.
Oeſterreich. Die Akademie der bildenden Künſte in Wien. Die
Unterſcheidung zwiſchen Vorbildung und Fachbildung, und damit die
Aufſtellung der Vorbereitungs-, der Architektur- und Muſterſchule durch
die Organiſation vom 8. Oktober 1850 aufgeſtellt. Neues Statut
von 1865, welches den Gedanken durchführt, die Selbſtverwaltung der
Lehre den Profeſſoren nach dem Muſter der Univerſität zu übergeben.
— Conſervatorium der Muſik in Wien. — Zeichnen als Theil des
Realunterrichts. (Stubenrauch Bd. II. S. 417).
Preußen. Akademie der Künſte in Berlin ſeit 1699 für alle
Zweige der bildenden Kunſt; im Grunde ein Selbſtverwaltungs-
körper für die Kunſtbildung, indem derſelben weſentlich die Leitung
der folgenden Bildungsanſtalten übergeben iſt. Sie iſt, wie die Wiener,
der franzöſiſchen nachgebildet. Die unter ihrer Leitung ſtehenden Kunſt-
bildungsanſtalten ſind: 1) die akademiſche Zeichnenſchule als Vor-
bildungsanſtalt, die zugleich für andere als berufsmäßige Künſtler be-
ſtimmt iſt. 2) Die Kunſt und Gewerkſchule für die der freien
Kunſtgewerbe; — 3) Die künſtleriſche Fachſchule in der Akademie
für Künſtler ſelbſt in Berlin mit Aufnahmsprüfung. Außerhalb Berlins
ſind ihrer Leitung untergeordnet die Kunſt-, Bau- und Gewerkſchulen in
Breslau, Danzig, Köln, Magdeburg und Königsberg (Rönne Bd. II.
§. 231 und 463). — Die Muſik iſt gleichfalls ſpeciell vertreten. Königl.
Muſikinſtitut in Berlin, Fachbildungsanſtalt für Heranbildung von
Organiſten, Cantoren ꝛc. (Organiſation vom 20. Juli 1833); ähnlich
[286] in Koblenz und Düſſeldorf, Trier und Breslau, zum Theil
mit Staatszuſchuß. Daneben die ſchon 1791 geſtiftete Singakademie
in Berlin, und Geſang- und Muſikvereine.
Bayern. Die Akademie der bildenden Künſte iſt zugleich eine
Künſtlergeſellſchaft und ein Lehrinſtitut. Erſte Organiſation
vom 13. Mai 1808; zweite Verordnung vom 1. Auguſt 1846 umfaßt
alle Gebiete; zugleich theoretiſcher Unterricht. — Erzgießerei in
München. Höhere Zeichnenſchule in Nürnberg (Pözl, Verwaltungsrecht
§. 198).
Württemberg. Die Kunſtſchule in Stuttgart iſt im Grunde
eine Vorbildungsanſtalt und ſteht zugleich mit der Stuttgarter Gewerbe-
ſchule in Verbindung (Mohl, Verwaltungsrecht §. 214).
Bemerkenswerth iſt die Angabe von L. Roy bei Schmid, Ency-
clopädie Bd. III. S. 568, wornach in Holland allein 127 Schulen
für den „Volksgeſang“ exiſtiren ſollen.
Frankreichs Berufsbildungsſyſtem.
Wir müſſen wohl daran feſthalten, daß erſt, wenn man Deutſch-
lands großartiges Berufsbildungsſyſtem, wie wir es zu entrollen ver-
ſucht haben, vor Augen hat, auch dasjenige Frankreichs recht verſtänd-
lich wird. Und mit Beziehung auf die eben dargelegten Grundlagen
iſt es deßhalb nunmehr auch möglich, für Frankreich nicht bloß kürzer
zu ſein, ſondern auch den Charakter des Berufsbildungsweſens in
Frankreich mit dem des deutſchen Volkes zu vergleichen.
Wie es die höhere Natur der Sache fordert, waren und ſind aller-
dings die großen Gebiete und Grundlagen auch dieſes Theiles des
Bildungsweſens in beiden Völkern gleich. Der tiefgehende Unterſchied,
der dennoch die Verſchiedenheit ſo groß werden läßt, daß oft ſelbſt die
formale Vergleichung ſchwer wird, liegt daher nicht in der Natur der
Bildung ſelbſt, ſondern in den großen hiſtoriſchen Ereigniſſen, welche
über den Bildungsproceß in jedem Volke entſcheiden. Wir haben nun
zu zeigen verſucht, daß dieſe Ereigniſſe nicht eben unmittelbar in das
öffentliche Recht der Bildung eingreifen, ſondern daß vielmehr dieß
öffentliche Recht auch hier ſtets die natürliche und einfache Conſequenz
der Umgeſtaltung der geſellſchaftlichen Ordnung war und ſein
wird. Die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens überhaupt,
ſpeciell überhaupt die ſeines Berufsbildungsweſens iſt daher nur ein
Theil ſeiner ſocialen, im Verwaltungsrecht zum formalen Abſchluß ge-
deihenden Umgeſtaltungen.
[287]
Im vorigen Jahrhundert waren die inneren Zuſtände Frankreichs
denen des deutſchen Reiches faſt ganz gleichartig. Das Berufsbildungs-
ſyſtem hat daher auch ſeinerſeits genau und in allem Weſentlichen dieſelben
Formen und Rechte wie das deutſche, indem man dieß vor ſich vorüber-
gehen läßt, ſchaut man jenes. Auch Frankreich hatte ſeine Univerſitäten,
ſeine hohen Schulen aller Art, ſeine Zünfte und Innungen mit dem Zunft-
recht, ſein Princip der ſtändiſchen Körperſchaftlichkeit, ſeine örtliche Geſtalt
des öffentlichen Rechts überhaupt, ſeines Bildungsweſens im Beſondern.
Da kam die Revolution, die man jetzt endlich wohl nur als einen
ſocialen Proceß anerkennen wird. Jeder ſocialen Umwälzung aber folgt,
wo ſie eine gewaltſame und plötzliche iſt, um ſo gewaltſamer und plötz-
licher die Diktatur. Das Weſen der Diktatur im Innern iſt die rück-
ſichtsloſe Unterordnung alles Einzelnen und Beſondern unter die cen-
trale Gewalt. Sie hat nicht bloß die Macht, ſie übernimmt auch die
Aufgabe, die geſammte Verwaltung nach ihrem einheitlichen Willen zu
ordnen; ihr Gefühl oder ihr Bewußtſein ſagt ihr, daß die neue Geſtalt
der Geſellſchaft, welche ſie vertritt, erſt dann eine geſicherte iſt, wenn
die ganze innere Verwaltung im Sinne und Intereſſe derſelben geordnet
und mithin die ganze innere Verwaltung der frühern Zeit gründlich
vernichtet iſt. Dieſer großen Erſcheinung begegnen wir immer in der
Geſchichte der ſocialen Bewegungen und werden ihr immer begegnen:
in allen andern Dingen, und ſo auch im Bildungsweſen im Allgemeinen
und vorzüglich im Berufsbildungsweſen.
So wie daher die Revolution geſiegt hatte, war natürlich eine
vollſtändige Umwälzung des Berufsbildungsweſens unvermeidlich. Dieſe
Umwälzung hatte aber, wie immer, zwei große Stadien. Das erſte
war das rein negative, deſſen Inhalt die einfache, aber gründliche
Vernichtung des bisherigen geſammten Bildungsſyſtemes ſein mußte.
Erſt das zweite Stadium iſt das des poſitiven Aufbaues der neuen
Ordnung. Wir haben ſchon darauf hingewieſen, daß die erſte Epoche
vom Beginn der Revolution ungefähr bis zum Jahre 1808 dauert, wo
die Université errichtet wird, von da an beginnt die neue Organiſation,
die keineswegs eine fertige iſt.
Dieſer allgemeine hiſtoriſche Proceß nun gilt allerdings für das
geſammte franzöſiſche Bildungsweſen, aber nirgends iſt er ſo deutlich
und äußerlich ſo ſcharf von der bisherigen Zeit geſchieden, als in der
Berufsbildung. Die Umgeſtaltung der letztern, obwohl den Geſammt-
charakter der Umgeſtaltung der neuern Rechtsordnung an ſich tragend,
iſt demnach ein ganz ſpecifiſcher Beitrag zur neuern Entwicklung Frank-
reichs, und es iſt ziemlich fruchtlos, jene erſtern ohne ihren organiſchen,
ja dominirenden Zuſammenhang mit der letztern auffaſſen zu wollen.
[288]
Dieß erſte der beiden obigen Stadien des öffentlichen Berufsbildungs-
weſens iſt nun das der Bildungsloſigkeit. Die Zünfte und In-
nungen ſind aufgehoben, die Univerſitäten ſind verſchwunden. Es gibt
weder Meiſter noch Geſellen, weder Doktoren noch Baccalauren. Jeder
hilft ſich ſo gut er kann. Der Staat ſelbſt macht durchaus keine An-
ſprüche mehr auf eine Fachbildung für ſeine Beamteten. Die Republik
wählt nach der Geſinnungstüchtigkeit und nicht nach der Fähigkeit.
Nicht einmal für das Richteramt wird in dieſer Zeit nach einer Be-
fähigung gefragt; wozu auch, wenn man in dem Geſchwornengericht
den Bürger zum Richter über Leben und Tod ſetzt, für das Civilrecht
gelehrte Richter? Und hätte man ſie gewollt, was denn hätten dieſe
Männer eigentlich lernen ſollen? Das alte Recht ward gründlich ver-
nichtet, das neue war noch nicht da. Das Princip der Verwaltung
war unbedingter amtlicher Gehorſam gegen die oberen Organe; dem
zur Seite ging, wie es die Lehre von der vollziehenden Gewalt zeigt,
der Grundſatz, daß die Handlungen dieſer Beamteten vor keinen Richter-
ſtuhl gezogen, ſondern nur von der höheren Behörde im droit admini-
stratif unterſucht und abgeurtheilt werden. Das Objekt der Fachbildung
fehlte; wie konnte es eine Organiſation derſelben geben? Und daſſelbe
galt für die wirthſchaftliche Welt vermöge der völligen Gewerbefreiheit.
Eine Beſchränkung der letztern war undenkbar — woher hätte eine
Fachbildung für ſie kommen ſollen? So war die Bildungsloſigkeit
dieſer Zeit nicht bloß eine Thatſache, ſondern ſie war die natürliche,
unabweisbare Conſequenz der ſocialen Zuſtände, welche auf allen
Punkten das Alte vernichtet hatten und das Neue erſt geſtalten ſollten.
Der große Proceß nun, welcher auf der neuen Baſis die neue
öffentlich rechtliche Ordnung in allen Gebieten herſtellt, geht von
Napoleon aus. Die Macht dieſes Mannes beruhte nicht zum geringſten
Theile darauf, daß er zuerſt unter allen Männern der Revolution
einen Sinn für die Verwaltung hatte. Er iſt der Schöpfer des
gegenwärtigen Syſtems der Adminiſtration in Frankreich; er iſt auch
der Schöpfer des Bildungsweſens. Aber auch in dieſer ſeiner mächtigen
Schöpfung ſtand er unter den Geſetzen, welche für die Rechtsbildung
die ewig geltenden bleiben.
So wie man nämlich in einem Volke die geſellſchaftlichen Unter-
ſchiede wegnimmt, ſo verſchwindet auch die einzige Begründung für
Unterſchiede des geltenden Rechts. Die abſolute Gleichheit erſcheint im
Staat als abſolute Einheit ſeiner Verwaltung. Das nun gelangte
ſofort unter Napoleon zur Geltung und von dieſem Standpunkt muß
die Geſchichte des franzöſiſchen Bildungsweſens ſeit 1808 beobachtet
werden.
[289]
Als Napoleon die Codifikation fertig und die Verwaltung des
Staats ſtreng geordnet hatte, mußten ihm in Beziehung auf das
Berufsbildungsweſen zwei Fragen entſtehen. Die erſte war die, für
welche Gebiete die Verwaltung eine Berufsbildung zu fordern habe.
Die zweite war die, wie ſie organiſirt werden ſolle. Die ſocialen
Zuſtände beantworteten die erſte, der Geſammtcharakter der Adminiſtra-
tion die zweite Frage. Das Princip der vollen ſtaatsbürgerlichen
Freiheit ſchloß nämlich die wirthſchaftliche Vorbildung von der
Aufgabe des Staates grundſätzlich aus, jedoch allerdings nicht ohne
Ausnahmen zuzulaſſen, und überwies dem Staate als Object ſeiner
Thätigkeit nur den eigentlichen, öffentlichen Beruf; das Princip der
ſtrengen Centraliſation dagegen ergänzte den Grundſatz, auch die Berufs-
bildung unter die centrale Gewalt des Staats zu ſtellen, und ihr auf
jedem Punkte Charakter und Form eines adminiſtrativen Organismus
zu geben. So entſtand die Napoleoniſche Université. Sie iſt dem-
gemäß einerſeits Ein das ganze franzöſiſche Bildungsweſen umfaſſen-
des Ganze; ſie hat daher neben der Elementarbildung der instruction
primaire auch die gelehrte Vorbildung in der instruction secondaire
und die gelehrte Fachbildung in der instruction supérieure in ſich auf-
genommen. Jene umfaßte unſer hohes Schulweſen, dieſes vertritt das
Univerſitätsweſen, wenn auch ohne eine deutſche Univerſität in den
von einander geſchiedenen ſelbſtändigen und ganz örtlich vertheilten
Facultés. Damit hat Frankreich zwei große Elemente der höhern und
freieren geiſtigen Bildung verloren, einerſeits die Idee der Einheit der
Wiſſenſchaften, andererſeits die Selbſtändigkeit des Lehrkörpers. Es
war ein wirklicher Fortſchritt in dieſer Napoleoniſchen Université
mit ſeinem, das ganze Reich gleichmäßig umfaſſenden Corps enseignant
gegen die erſte Epoche; aber es war zugleich in derſelben eine ſehr
ernſte Gefahr gegen die freiere geiſtige Bewegung. Das nächſte aber,
was hier als eigentlicher auch formell erkennbarer Mangel des ganzen
Syſtems erſchien, war offenbar die Thatſache, daß jene große Idee
der Einheit der Wiſſenſchaft, deren Träger die deutſchen Univerſitäten
ſind, keinen Ausdruck gefunden hatte. Napoleon ſtand zu hoch, um
das nicht zu ſehen; nicht hoch genug, um die Löſung dieſer Frage in
einem Syſtem eigentlicher Univerſitäten zu ſichern. Er ſchuf daher ein
zweites Organ, das eben dieſe ſpecifiſche Funktion zu vertreten hatte;
das war das Institut de France, das die Geſammtheit der höchſten ge-
lehrten Bildung in Frankreich als eine mächtige, alle Gebiete menſch-
licher Erkenntniß in ſeinem Körper umfaſſende geiſtige Potenz vertreten
ſollte, die eigentliche Univerſität in Frankreich im deutſchen Sinne mit
wiſſenſchaftlicher und ſelbſt adminiſtrativer Selbſtändigkeit und eigenem
Stein, die Verwaltungslehre. V. 19
[290] Wahlrecht, aber ohne Lehrerberuf, eine Univerſität der Gelehrten
Frankreichs, aber nicht der Studirenden. Und damit denn im fran-
zöſiſchen Leben noch einem mächtigen germaniſchen Elemente auch in
der Lehre ſein Ausdruck werde, ließ er das für ſeine franzöſiſche Uni-
versité ganz anomale Collège de France beſtehen, die einzige Anſtalt,
in der noch eine freie geiſtige, dem deutſchen Leben ähnliche Be-
wegung ſtattfinden möge. Alles übrige war in Lycées und Facultés
nach den geographiſchen Académies mit dem Recteur und dem Préfet an
der Spitze ſtreng bureaukratiſch geordnet, wie wir es früher bereits
dargeſtellt haben. Das war und iſt die Napoleoniſche Université.
Hier zuerſt entſtand die weitere große Frage, wie ſich dann die
wirthſchaftliche Berufsbildung daneben geſtalten werde. Dabei nun
darf man nicht vergeſſen, daß es damals auch noch keine ſelbſtändige
deutſche wirthſchaftliche Berufsbildung gab. Napoleon hatte daher in
den ſocialen Zuſtänden keinen Anlaß, ſich ihrer anzunehmen, und in
Deutſchland kein Vorbild, dem er ſich hätte anſchließen können. Er
ließ ſie daher einfach ganz aus ſeinem Syſteme weg. Es ſchien
vollkommen zu genügen, wenn die ſtärkere Betonung der ſogenannten
exakten Wiſſenſchaften in den Lycées die allgemeinſte wirthſchaftliche
Vorbildung darbot. Von Sonntagsſchulen konnte bei dem Zuſtande
des Elementarunterrichts ohnehin keine Rede ſein, und Gewerbeſchulen
hätten nur durch Autonomie der Gemeindebehörden errichtet werden
können; es blieb daher nur übrig für gewiſſe unabweisbare techniſche
Bedürfniſſe des Staatsdienſtes eine Specialbildung herzuſtellen. Das
geſchah namentlich in der École des ponts et chaussées, und dann in
einem dem franzöſiſchen Leben eigenthümlichen Anſchluß an die mili-
täriſche Fachbildung in der École polytechnique und den Écoles militaires.
Alles übrige ward dem Individuum überlaſſen, und da es dem In-
dividuum überlaſſen war, ſo geſchah eben gar nichts. Das geſammte
franzöſiſche Berufsbildungsſyſtem Napoleons ward eine bureaukratiſch
geordnete gelehrte Berufsbildung.
Dieſes Syſtem hat nun bis zum zweiten Napoleon ausſchließlich
geherrſcht. Nur einmal iſt es in der Zwiſchenzeit unter dem Miniſte-
rium Guizot erſchüttert worden, aber nur für die Elementarbildung. Die
gelehrte Bildung blieb ſich gleich, und die wirthſchaftliche hatte keine
andere Vertretung als die oben erwähnte der ſehr vereinzelten Fach-
ſchulen. Von einer allgemein wirthſchaftlichen Berufsbildung war gar
keine Rede.
Unterdeſſen arbeitete Deutſchland in ſeiner neuen Entwicklung
ruhig und raſtlos vorwärts. Seine gelehrte Berufsbildung ſtand ohne-
hin auf feſter Baſis; das was es zu thun hatte, war vor allen Dingen
[291] eben die Herſtellung eines, das ganze Volk umfaſſenden wirthſchaft-
lichen Bildungsſyſtems. Wir haben es bezeichnet; ſein Kern iſt einer-
ſeits die Gewerbeſchule, andererſeits die Realſchule. Es gelang. Der
Fortſchritt Deutſchlands war ſelbſt für die Selbſtüberſchätzung der Fran-
zoſen auf die Dauer nicht zu verkennen. Schon die vierziger Jahre
brachten eine dunkle Vorſtellung von der Bedeutung der Sache mit
nach Frankreich; man fühlte, daß Frankreich dem deutſchen Beiſpiel
nachfolgen müſſe, wenn es nicht überflügelt werden wolle. Allein da-
mit entſtand nun die eigentliche Schwierigkeit. Das deutſche Syſtem
der wirthſchaftlichen Bildung beruht auf der Selbſtverwaltung, und
Selbſtverwaltung wollte und konnte das franzöſiſche Recht nicht geben;
eine Einrichtung der wirthſchaftlichen Bildung von Staatswegen wußte
man aber nicht zu formuliren. Die Literatur über die Frage blieb
daher auf halbem Wege ſtehen; ſie vermochte namentlich nicht zwiſchen
den Gewerbe- und Realſchulen zu unterſcheiden, und es blieb daher
nichts übrig, als das allgemeine Gefühl, daß hier etwas geſchehen
müſſe, um die „Bildung des Arbeiterſtandes“ zu heben. Das war
nun der Punkt, an dem die ſocialiſtiſche Bewegung die Sache im Jahre
1848 ergriff, ohne jedoch ſie noch klar zu verſtehen. Die Verfaſſung
von 1848 nahm die „éducation professionelle“ im Art. 13 in die
Aufgaben des Staats auf; aber damit war noch wenig mehr als ein
Wort gewonnen. Ebenſo blieb das Geſetz vom 15. März 1850 bei
demſelben ſtehen; jedoch ſchwebt ſchon hier die Tendenz deutlich vor,
eben Gewerbeſchulen zu errichten, ohne daß man zu der Idee einer
höhern wirthſchaftlichen Volksbildung gelangt wäre. Man wußte, daß
die Instruction primaire ungenügend ſei; man erkannte abſtract die
Nothwendigkeit, die Entwicklung der Arbeiter zu fördern; aber man
blieb anfangs bei der Anwendung auf den Bürgerſtand ſtehen. In
der That war ihm bisher nichts geboten als das Gymnase; daſſelbe
war bei weitem vorwiegend auf formale klaſſiſche Bildung angewieſen;
für das wirthſchaftliche Bedürfniß war gar nicht geſorgt. Dieß letztere
aber war am verſtändlichſten; das Beiſpiel der deutſchen Realſchulen
lag vor; man hätte ſie gerne eingeführt, aber ſie hätten das ganze
Syſtem der Université gebrochen. Wollte man daher die Idee der
Realſchulen mit dem alten napoleoniſchen Princip vereinigen, ſo mußte
man dieſe wirthſchaftliche Bildung zu einem Theile des allgemeinen
Syſtems machen. Das nun geſchah durch das Geſetz von 1852, welches
die letztere in der eigenthümlichen Form des ſogenannten Bifurcations-
ſyſtems aufnahm, nach welchem die höchſte Abtheilung der Lycées ſich
in eine gelehrte und eine wirthſchaftliche Abtheilung ſpaltete, eine Spal-
tung, welche nur in den Facultés fortgeſetzt ward. Den Ausdruck dieſes
[292] Unterſchiedes bilden die Ausdrücke „lettres“ als gelehrte und „scien-
ces“ als wirthſchaftliche Bildung, ſo daß im Grunde dieſer Sinn des
letztern Wortes erſt ſeit 1852 in dieſer Weiſe beſtimmt worden iſt.
Damit war dann der deutſche Gedanke des Realſchulweſens bis zu
einem gewiſſen Grade verwirklicht, wenn auch in einer weſentlich andern
Form, ohne die breite Baſis, welche die letztere hat, und namentlich
ohne die derſelben eigenthümliche Selbſtverwaltung. Scheinbar war
jetzt Frankreich hier voraus, da es in der section des sciences der
Lycées die Oberrealſchule, und in den facultés des sciences die all-
gemeine wirthſchaftliche Fachbildungsanſtalt beſaß, nach der Deutſch-
land noch jetzt vergeblich ſtrebt. In Wirklichkeit freilich war die Sache
anders, da die faculté des sciences denn doch nicht mehr gibt als
eine gute deutſche Oberrealſchule, während daneben die Specialfach-
ſchulen hier wie dort beſtehen bleiben. Der entſcheidende Unterſchied
freilich beſtand darin, daß dieſe sections des sciences, eben weil ſie
nur Staatsanſtalten waren, auch nur in derſelben geringen Anzahl
vorkamen, wie die Lycées ſelbſt, von denen ſie hier einen Theil aus-
machten, und daß ſomit die wirthſchaftliche Bildung hier immer eine
ausnahmsweiſe der beſitzenden Klaſſen blieb. Mit der immer energi-
ſcher hervortretenden Bedeutung des Arbeiterſtandes mußte daher nun
die wirthſchaftliche Bildungsfrage ſich auch dieſem zuwenden. Der alte
Gedanke der éducation professionelle ward wieder aufgenommen und
die Frage entſtand, wie man neben dem Unterricht der sciences nun
auch einen Arbeiterunterricht herſtellen könne. Man kann im Allge-
meinen ſagen, daß dieſe Frage ſeit dem Jahr 1860 beſtimmt formulirt
iſt. Es wird uns nicht verwundern, daß man dabei einerſeits ſich über
den Unterſchied von Sonntags- und Gewerbeſchulen nicht recht klar iſt,
und eben ſo wenig, daß man mehr darüber redet, als dafür handelt,
da die erſte Bedingung, das energiſche Auftreten der Selbſtverwaltung,
noch fehlt. Man hat es daher auch noch hier zu keiner Geſetzgebung
gebracht, wie die von 1852 über das franzöſiſche Syſtem des Real-
ſchulweſens; auch wird man es noch lange bei Einzelunternehmungen
und allgemeinen Phraſen bewenden laſſen, ſo lange die Gemeinden
nicht freier ſind; aber die Bahn iſt gebrochen, und aus den gegebenen
Elementen kann bei ernſterem Erfaſſen der Sache ſich doch mit der Zeit
ein Reſultat ergeben, das dem deutſchen Leben ſich nähert.
Dieß iſt im Allgemeinen der Entwicklungsgang. Und jetzt dürfte
es von Werth ſein, die Vergleichung mit Deutſchland auf ein mög-
lichſt einfaches Schema zurückzuführen, das vielleicht beide am verſtänd-
lichſten macht.
Nur muß man dabei feſthalten, daß während Deutſchland grundſätzlich
[293] die wirthſchaftliche Bildung gleich von Anfang an ſelbſtändig mit
eigenen Inſtituten, eigenem Lehrerweſen und eigenem Recht neben
die gelehrte ſtellt, mit dem beſtändigen Streben, dennoch in dem höch-
ſten Punkte wieder ſich mit derſelben einheitlich zu verbinden, die
franzöſiſche vielmehr aus demſelben Organ, dem Lycée, ſich heraus-
bildet, und ſich dann von der gelehrten förmlich ſyſtematiſch ſcheidet.
Es ergibt ſich daraus das eigenthümliche Reſultat, daß Frankreich
gerade vermöge ſeines übertriebenen Strebens nach Einförmigkeit that-
ſächlich ein viel verwickelteres Syſtem der Berufsbildungsanſtalten be-
ſitzt, als Deutſchland, das im Gegentheil durch die ſelbſtwirkende Natur
der Sache ſich den großartigſten Organismus gewonnen hat, den die
Geſchichte kennt.
Das Bild des franzöſiſchen Syſtems iſt in ſeinen Hauptzügen fol-
gendes. Das Einzelne werden wir unten ausfüllen:
Die franzöſiſche Literatur über das Berufsbildungsweſen kann mit
der deutſchen allerdings auch nicht entfernt einen Vergleich aushalten;
es iſt aber von Intereſſe, ihre Hauptbewegung zu beobachten, weil die-
ſelbe ſich unmittelbar an die Geſchichte anſchließt. Ihr weſentlicher In-
halt beſteht dabei nicht etwa in einem Kampf gegen die Université als
ſolche, ſondern vielmehr in dem Streben der wirthſchaftlichen Fach-
bildung ihre geeignete Stellung neben der gelehrten zu erobern und zu
ſichern. Die erſte bedeutende Arbeit über das ganze Syſtem war
[294]GuizotsEssai sur l’histoire et sur l’état actuel de l’instruction
publique en France 1816. Schon in den zwanziger Jahren beginnt
aber die Literatur ſich ernſthaft der wirthſchaftlichen Bildung zuzuwenden
und ſie zu fordern. M. C. Renouard (Considérations sur les la-
cunes de l’éducation secondaire en France 1824); M. Gasc (Con-
sidérations sur la nécessité et les moyens de réformer le système uni-
versitaire 1829). Guizots Geſetzgebung von 1833, welche der Ge-
meinde ihre Selbſtändigkeit in Unterrichtsſachen geben ſollte und nur
zum Theil gab, richtete dann den Blick nach Deutſchland, Holland und
England; namentlich V. Couſin hat in ſeinem Werk über Hollands
Unterrichtsweſen (ſ. oben) und dann in dem Buche das dieſem folgt
(De l’instruction publique dans quelques parties de l’Allemagne et
particulièrement en Prusse 1840) neben der Freiheit der Gemeinde
auch das wirthſchaftliche Bildungsweſen nachdrücklich hervorgehoben, ein
Gedanke, den St. Marc Girardin (De l’instruction intermédiaire
et de son état dans le midi de l’Allemagne 1835) ſchon früher
betont hatte. Die Beſtrebungen Salvandys hatten zwar eine ſpecielle
Richtung auf die gelehrte Bildung; aber kurz vor der letzten Revolution
tritt die Forderung nach größerer Berückſichtigung der wirthſchaftlichen
Bildung aufs neue hervor, als Vorläufer der Ereigniſſe der Jahre 1848
und 1850; namentlich heben wir hervor M. C. Desprets (Des col-
lèges, de l’instruction professionelle et des facultés 1847) und die
zweite bedeutende Arbeit von St. Marc Girardin (De l’instruction
intermédiaire et de ses rapports avec l’instruction secondaire 1847).
Vielleicht wäre ſchon damals etwas geſchehen, wenn die Februar-Revo-
lution nicht alles öffentliche Leben auf das politiſche Gebiet hinüberge-
drängt hätte. Doch erhielt ſich der Gedanke, und während dieſe ge-
waltige Revolution die Université gar nicht unmittelbar berührte, ver-
ſprach ſie im Art. 13 der Verfaſſung von 1848 die éducation professio-
nelle. Nur wußte niemand recht, was damit zu machen ſei und welches
Verhältniß dieſes Gebiet des Bildungsweſens zur Université haben ſolle.
Der Miniſter des Unterrichts, Parieu ſetzte daher durch Erlaß vom
4. Juni 1850 eine Commiſſion nieder mit dem Auftrage: „de préparer
un plan d’organisation de l’enseignement professionel approprié
aux lycées et collèges communaux.“ Der Bericht dieſer Commiſſion
blieb demgemäß im Weſentlichen bei der Aufnahme des, derſelben dunkel
vorſchwebenden deutſchen Realſchulweſens ſtehen, ohne zum Gewerbe-
ſchulweſen überhaupt hinzugelangen; der Unterſchied beider ward nicht
klar; und ſo entſtand das Geſetz von 1852 mit ſeinem Bifurcations-
ſyſtem, das um ſo weniger den eigentlichen Ideen der Sache entſprach,
als ſich die Berückſichtigung der wirthſchaftlichen Bildung in der
[295] Beſeitigung des Lateiniſchen für die Section des sciences und in einer
etwas größeren Ausdehnung der Mathematik erſchöpfte. Von einem
Gewerbe- oder Fortbildungsſchulweſen war keine Rede. Auch Pompée,
früherer Fourieriſt, fühlte das in ſeinem hübſch geſchriebenen Buche
Études sur l’education professionelle en France richtig heraus; doch
entſtand außer einigen gelegentlichen Revue-Artikeln keine weitere Literatur
der Frage. Erſt mit dem Jahre 1860 entſteht eine neue Bewegung,
welche dießmal ſich mit richtigem Inſtinkt des eigentlichen Gewerbeſchul-
weſens, alſo der wirklichen éducation professionelle zuwendet. Es iſt
hier nicht mehr der Sohn des wohlhabenden Bürgers, ſondern der
eigentliche Arbeiter, deſſen Bildung man fordert. Die Hauptſchriften
über dieſe Frage ſind: Louis Reybaud, de l’enseignement profes-
sionel en France (Revue de deux Mondes 1. Mai 1864); M. le Ber-
trand, Étude sur l’enseignement professionel; Menu de St. Mes-
nier, l’enseignement professionel, étude historique et critique;
einen Verſuch, das engliſche wirthſchaftliche Bildungsweſen darzuſtellen
von Marguérin und Motherée (de l’enseignement des classes
moyennes et des classes ouvrières en Angleterre, rapport à Mr. le
Préfet de la Seine). Viel Gerede und wenig Inhalt bei Audiganne
(Les ouvriers d’à présent 1865 p. 90 sq.). Von einer Unterſuchung des
gelehrten Bildungsweſens mit Ausnahme des juriſtiſchen (mehrere Auf-
ſätze in der Revue de législation et de jurisprudence von Labou-
laye, Wolowsky, Warnkönig u. a. weſentlich in Vertretung der
hiſtoriſchen Rechtswiſſenſchaft nach deutſchen Vorbildern) iſt keine Rede;
in der That hatte nur die kleine, aber ausgezeichnete rechtshiſtoriſche
Schule Frankreichs eine klare Vorſtellung von dem Weſen der deutſchen
Univerſitäten, Laboulaye am meiſten für die Jurisprudenz, Wolowski
für die Staatswirthſchaften. Merkwürdig, daß die Medicin ganz zurück
blieb. — Die neueren Bearbeitungen wie die von Batbie, Laferrière
(Droit admin. III. P. IV.) beſchränken ſich auf die Darſtellung des
geltenden Rechts. In der deutſchen Literatur iſt wohl L. Hahn der
erſte, der das „Unterrichtsweſen in Frankreich 1848“ richtig und um-
faſſend darſtellte, natürlich ohne Beziehung auf die ihm folgende Ge-
ſetzgebung. Holtzapfel, Mittheilungen über Erziehung und Unterricht
in Frankreich 1853; weſentlich pädagogiſch. Trefflich in ſeiner Art iſt
der Artikel „Frankreich“ von Bücheler bei Schmid Bd. II. mit (nicht
vollſtändiger) Literatur; doch bezieht ſich derſelbe nur auf das Vor-
bildungsweſen. Block hat in ſeinen verſchiedenen Dictionnaires mehrere
ſehr gute Artikel; das poſitive Recht nebſt den Ausgaben der Geſetze
von JourdainDict. de l’Administration, v. Instruction publique.
— Es möge hier geſtattet ſein, an dieſes Syſtem des franzöſiſchen
[296] Berufsbildungsweſens, wie wir es im Einzelnen darlegen werden, einen
Blick auf das belgiſche anzuſchließen. Die Grundlage des belgiſchen Syſtems
iſt aber auch hier der Unterſchied zwiſchen den Staatsanſtalten, den ſoge-
nannten Athenées und den Gemeindeanſtalten als Colleges. In beiden
iſt das Bifurcationsſyſtem gleichfalls durchgeführt, aber wo möglich noch
unvollkommener als in Frankreich, namentlich ſeitdem die Prüfungen
aus dem Griechiſchen ſeit 1849 ſpeciell, und die ganze Abiturienten-
prüfung ſeit 1855 weggefallen ſind. Die Darſtellung von Le
Roy bei Schmid Bd. I. S. 505 ff. gibt ein im Grunde nicht erfreu-
liches Bild; doch iſt glücklicher Weiſe noch die Fachprüfung durch die
Prüfungsjury erhalten, die freilich in ihrer Organiſation und ihrem
Rechte ſo vielfach geändert ſcheinen, daß ſie kaum ihrem Zwecke ent-
ſprechen dürften. Von einer Vergleichung mit Deutſchland iſt wohl
keine Rede. Die Statiſtik bei Le Roy a. a. O. und bei Brachelli
(Staaten Europas S. 557). Die techniſchen Schulen ſind in Belgien
mit den Univerſitäten von Gent und Lüttich verbunden; eine Civil-In-
genieurſchule in Gent und eine Kunſt-, Manufaktur- und Bergwerk-
ſchule in Lüttich; alles nach franzöſiſchem Muſter, meiſt mit möglichſter,
und dadurch durchaus unvortheilhafter Verbindung der verſchiedenen
Zweige (Brachelli a. a. O. 571).
Charakter deſſelben.
Wir glauben nun einen Ueberblick des Syſtems in ſeinen einzelnen
Theilen der bisherigen Darſtellung anſchließen zu müſſen; wenn die-
ſelbe auch nicht vollſtändig genug ſein kann, um alle einzelnen Fragen
zu löſen, ſo wird ſie doch das bisher im Allgemeinen Geſagte im Ein-
zelnen beſtätigen. Zugleich aber dürfen wir einige weſentliche Be-
merkungen über den Geiſt dieſes Syſtems vorausſenden.
Das Eigenthümliche des geſammten franzöſiſchen geiſtigen Lebens
beſteht in einem tiefen Widerſpruch, unter dem es leidet. Das Ein-
zelne iſt frei, aber das Syſtem iſt unfrei. Jede freie Bewegung
tritt daher ſofort in Oppoſition, während ſie in Deutſchland für das
Ganze förderlich wirkt. Das liegt in der doppelten Nationalität Frank-
reichs, die aus romaniſchen und germaniſchen Elementen wunderbar ge-
miſcht iſt, und die ſich gerade im geiſtigen Leben am deutlichſten zeigt.
Daher denn auch ein beſtändiges Streben nach einer freieren Geſtaltung
des Syſtems, ein Greifen nach dem engliſchen oder dem deutſchen
Princip, ohne daß es zu einer durchgreifenden Neubildung gelangen
konnte. Denn die Hauptſache, der Mangel an Selbſtändigkeit des
[297] Lehrerweſens und der Gemeinde iſt noch nie ernſtlich in Frage ge-
kommen. Dieß nun aber gilt weſentlich von der Université. In der
wirthſchaftlichen Fachbildung dagegen regt ſich ein anderer Geiſt. Freilich
iſt die dem Realſchulweſen entſprechende Vorbildung in den sciences der
Lycées dem régime universitaire mit unterworfen und die Collèges
communaux ſind nicht viel beſſer daran; allein das in den Écoles
professionelles enthaltene Fortbildungsweſen iſt ohne freie Verfügung
der Gemeinden einerſeits und der Stifter andererſeits nicht denkbar.
Daneben beſteht der Unterricht durch Privatunternehmungen, natürlich
in um ſo ſtärkerer Blüthe, je weniger die ſtreng amtlichen Staatsan-
ſtalten an Geiſt und Zahl, namentlich der nördlichen, mit germaniſchem
Blut ſtark gemiſchten Provinzen genügen. Es iſt durch das Zuſammen-
wirken aller dieſer Elemente ſehr ſchwer, ſich ein klares Bild über das
Syſtem im Einzelnen zu verſchaffen, namentlich da die Statiſtik des
Privatunterrichts, der eine ſo mächtige Rolle ſpielt und der ſeit 1850
faſt vollkommen frei, gänzlich fehlt und der Mangel an Staatsdienſt-
prüfungen niemanden zwingt, für die amtliche Laufbahn die Staats-
bildung zu abſolviren. Indeſſen müſſen doch zwei Momente hier hervor-
gehoben werden, von denen das erſte über den pädagogiſchen und zum
Theil ſocialen Charakter der Vorbildung, das zweite über den wiſſen-
ſchaftlichen der Fachbildung entſcheidet. Das erſte iſt das Penſionat-
und Bourſenſyſtem, das den Charakter der Erziehung in den Collèges
beſtimmt, das zweite die Berufung der Profeſſoren, das über den
Charakter der wiſſenſchaftlichen Thätigkeit der Fachmänner entſcheidet.
Der Grundzug der ganzen franzöſiſchen Verwaltung, alle Funktionen
des Geſammtlebens der Staatsgewalt zu übergeben, fand in der Re-
volution das meiſt kirchliche Syſtem der Penſionate vor. Das Pen-
ſionat iſt nicht bloß ein Verhältniß, in welchem der Schüler an einem
fremden Orte in Pflege genommen wird, ſondern iſt die, durch die ſyſte-
matiſche Aufnahme der Kinder und Zöglinge in die Bildungsanſtalten
durchgeführte Verbindung der Erziehung mit der Bildung. Das
Penſionat iſt nicht ein Auskunftsmittel für fremde Kinder, und nicht
ein Unternehmen auf Koſt und Pflege, ſondern iſt ein öffentlich recht-
liches Syſtem zunächſt für das geſammte Vorbildungsweſen. Jedes
Lyceum iſt principiell zugleich ein Penſionat; die Externen
ſind dem Grundſatze nach die Ausnahmen. Die Regierung hat dieß
Syſtem theils vorgefunden, theils ſanctionirt und befeſtigt durch das
daran anſchließende Syſtem der ſtaatlichen Freiplätze, bourses, deren
es in jedem Lyceum gibt. Dieß Syſtem tödtet die Selbſtändigkeit des
Individuums vollſtändig. Es hat nicht bloß die wiſſenſchaftliche Vor-
bildung gänzlich verdorben, indem, wie Bücheler ſehr richtig bemerkt,
[298] die Klaſſenſtunden dadurch zu bloßen Abhörungsſtunden für das außer-
halb der Klaſſe Gelernte werden, es hat nicht bloß das Formelweſen
und die geiſtige Abhängigkeit von der fremden Führung erzeugt,
ſondern es iſt die Conſolidirung des ſocialen Unterſchiedes zwiſchen
beſitzender und nicht beſitzender Klaſſe, da namentlich die niederen Klaſſen
nicht die Mittel beſitzen, ihre Kinder in das Penſionnat zu ſchicken.
Die übrigen pädagogiſchen Folgen haben wir hier nicht zu erwägen.
So viel aber iſt klar, daß es dieß Syſtem iſt, welches auch bei gleichen
formellen Ergebniſſen nicht dieſelben ethiſchen ergeben kann, wie das
deutſche, wo der Knabe ſchon auf dem Gymnaſium oft vom elterlichen
Hauſe getrennt, eine ſelbſtändige Stellung ſich zu ſchaffen gelehrt wird.
Dennoch kann dieß Syſtem erſt beſeitigt werden, wenn die Gemeinden
und Genoſſenſchaften ernſtlich die Berufsbildung in die Hand nehmen.
Die Berufung und Stellung der Profeſſoren, von der das ganze
Univerſitätsleben zuletzt abhängt, iſt zweitens in Frankreich niemals
richtig verſtanden, ſeitdem es ſeine centrale Université beſitzt. Das hat
der ganzen gelehrten Fachbildung ihren ſpecifiſchen Charakter gegeben.
Es wird am einfachſten dadurch ausgedrückt, daß Frankreich keine
Univerſitätsbildung beſitzt, ſondern nur einzelne Fakultäten
für die einzelnen Berufe. Aber auch in dieſen Fakultäten iſt das
höchſte Element der geiſtigen Bildung, der wiſſenſchaftliche Zuſammen-
hang der einzelnen Gebiete unter einander, und die Erzeugung einer
Weltanſchauung durch Philoſophie, Geſchichte und Staatswiſſenſchaft
nicht vorhanden. Sie ſind Anſtalten für den Erwerb der Berufs-
kenntniſſe und nicht mehr. Ihre ganze Organiſation iſt rein amt-
lich; ihre Lehrkörper haben keine Selbſtthätigkeit; von Lehr- und Beruf-
freiheit iſt keine Rede, weil es ſich eben nicht um die höhere wiſſen-
ſchaftliche und geiſtige Entwicklung, ſondern um die Brauchbarkeit für
den öffentlichen Dienſt handelt. Das Collegium iſt daher eine Pflicht,
nicht eine Aufgabe. Die Vorleſungen ſind in ihrem Objekt ſtreng vor-
geſchrieben, wie namentlich die juriſtiſchen; eine ſyſtematiſche Behand-
lung gibt es nicht; Geſchichte und Philoſophie fehlen; ſo fehlt der
Fakultät die Univerſität, und dieſelbe iſt daher auch, trotz des gleichen
Namens, keine deutſche Fakultät, ſondern eine reine Abrichtungsan-
ſtalt für den öffentlichen Dienſt, die tief unter den deutſchen wiſſen-
ſchaftlichen Körpern ſtehen. Auch dafür indeß iſt das Gefühl in Frank-
reich nicht ganz verſchwunden. Das lebendige Bewußtſein, daß die
Wiſſenſchaft ein Ganzes iſt, daß ſie ohne claſſiſche Grundlage auch in
ihren einzelnen Fächern nie zu ihrer vollen Höhe gedeihen kann, hat
ſich erhalten und wird immer wieder durch den Contact mit der deutſchen
Wiſſenſchaft lebendig gehalten. Dieß nun zeigt ſich am deutlichſten in
[299] der Beſetzung der Lehrkanzeln. Da die Lehrer ihre ganz eng begränzte
Aufgabe haben, ſo iſt auch für dieſe Beſetzung nicht etwa die allgemeine
wiſſenſchaftliche Bildung, ſondern nur die beſchränkte Befähigung für
das einzelne Fach nöthig. Die Beſetzung iſt daher eine Bewerbung,
die auf ein offentliches Ausſchreiben, eben wie bei einer Berufung folgt,
und bei der die Candidaten einen Concurs zu beſtehen haben — eine
Einrichtung, gegen welche bisher umſonſt die tüchtigſten Männer, wie
Laboulaye und andere, mit ſpecieller Hinweiſung auf Deutſchland, ge-
kämpft haben. Aus demſelben Grunde gibt es das unſchätzbare Inſtitut
des Privatdocenten überhaupt nicht, ſchon darum nicht, weil man
das Weſen des Collegiengeldes, dieſes Trägers der freien Wahl
des Studirenden ſyſtematiſch nicht verſtanden hat. Natürlich fehlen
auch die Berufungen von Seiten der einen Faculté an die andere;
kurz alle die Momente, welche für Deutſchland innerhalb der geſetzlichen
Gränzen die individuelle Fortbildung des Gelehrten anſpornen, ſind
beſeitigt. Und dennoch iſt Frankreich ſo eigenthümlich geartet, daß
neben dieſem verderblichen Syſtem der Université ſich das freie Element
im Collège de France wieder erhalten hat! — Wir verſuchen deßhalb
jetzt das Einzelne dieſes Syſtems als Corollar des deutſchen geiſtigen
Bildungsproceſſes hinzuſtellen.
lichen (Bifurcationsſyſtem in lettres und sciences).
Das Vorbildungsweſen ſo weit es als Aufgabe der Regierung
erſcheint, und daher der Université angehört, heißt mit ſeinem offi-
ciellen Namen die Instruction secondaire. Dieſelbe wird nach dem-
ſelben Syſtem verwaltet, wie die Instruction primaire (Académies,
Recteur, Inspecteur) jedoch mit weſentlich verſchiedenem Recht der-
ſelben bei den einzelnen Anſtalten. Die letztern erſcheinen wieder in
drei Gruppen. Die erſte dieſer Gruppen wird gebildet durch die
Geſammtheit der Staatsanſtalten, welche theils direkt als Lyceen
unſern Gymnaſien entſprechen, theils indirekt als Collèges commu-
naux etwas Aehnliches wie unſere Realgymnaſien bedeuten; die zweite
Gruppe bilden die Privaterziehungsanſtalten, welche zum Theil das
öffentliche Recht der Prüfungen haben, und ſomit den Lyceen zur Seite
ſtehen; die Aufnahme des Bifurcationsſyſtems in dieſelben hängt von
dem Unternehmen ab; die dritte Gruppe beſteht aus den rein geiſt-
lichen petits séminaires, die nur in ſehr entfernter Verbindung mit
der Université ſtehen.
[300]
I. Lycées. Daß in dieſem Syſtem die Lycées die Hauptſache
bilden, iſt klar. Allein gerade ſie zeigen, wie höchſt unvollkommen das
ganze Vorbildungsweſen Frankreichs iſt, und zwar ganz abgeſehen von
dem Princip der Bifurcation. Denn in der That reichen ſie nicht ein-
mal der Zahl nach aus. Ins Leben gerufen durch das Geſetz vom
11. Flor. an X. ſollte wenigſtens Ein Lyceum für jedes Depar-
tement aufgeſtellt werden); — aber das iſt noch nicht einmal gegen-
wärtig erreicht! (1809 35 Lyceen, 1859 erſt 68, jetzt 75). Eben ſo
wenig haben die Collèges communaux dieſen Mangel erſetzen können.
Das Geſetz von 1852 wiederholte den Beſchluß, wenigſtens Eins in
jedem Departement herzuſtellen; wie geſagt, blieb auch dieß ohne Er-
folg. Der Gang der Bildung in den Lyceen iſt übrigens für das
ganze geiſtige Leben Frankreichs von Intereſſe. Die Lehrordnung be-
ginnt nach dem Geſetz von 1802 noch mit der ſtrengen alten ſemina-
riſtiſchen Bildung (Cours des langues anciennes und rhétorique).
Allmälig ward dann das Bedürfniß nach praktiſcher Bildung um ſo
lebhafter, als die Facultés mit ihrer ganz beſchränkten Fachbildung
der klaſſiſchen Vorbildung nur geringen Werth gaben. Dabei zugleich
rief die Vergleichung mit dem deutſchen Realſchulweſen das Streben
nach etwas Aehnlichem hervor. So entſtand das neue Geſetz von 1852
(Fortoul), welches das Bifurcationsſyſtem in der dritten Abtheilung
durchführt, indem es die wirthſchaftliche Bildung unter dem Namen
der sciences von der wiſſenſchaftlichen oder lettres im Unterricht ſchei-
det, während es ſie in der Anſtalt ſelbſt formell und materiell bei-
ſammen läßt. Da nun das Lyceum auf Pensionnats gegründet iſt,
ſo iſt das Lyceum dadurch die Vorbildungsanſtalt der geſamm-
ten beſitzenden Klaſſe für alle Berufszweige geworden.
In dieſem Sinne nimmt es in der unterſten Klaſſe faſt ſchon den
Elementarunterricht auf, die Instruction primaire das Peuple erſetzend;
in der zweiten Klaſſe (division de grammaire) die allgemeine, zugleich
klaſſiſche Vorbildung, und in der dritten (division supérieure) dann
die beiden Richtungen. Der Mangel an Lyceen hat nun nicht bloß
die Écoles des particuliers hervorgerufen, ſondern iſt auch die Urſache
der Entſtehung der theilweiſe vorkommenden ſogenannten Écoles pri-
maires supérieures, welche im Grunde nur die erſte Lyceumsklaſſe mit
einem Theil der zweiten ſelbſtändig als die eigentliche höhere Bürger-
ſchule bildet. Durch die natürliche Concurrenz mit den Lyceen haben
ſie nicht gedeihen können; das Geſetz vom 15. März 1850 nimmt ihnen
den Charakter der öffentlichen Schulen, und geſtattet ſie nur (Bücheler
bei Schmid S. 487). Sie ſind nach Jourdain (bei Block: In-
struction primaire art. 139) als Écoles spéciales, professionelles,
[301] intermédiaires etc. zu rein wirthſchaftlichen Vorbildungsanſtalten
und damit in der Université zu einem Theile der Instruction pri-
maire geworden, da ſie keine Vorbildungs- ſondern jetzt Volks- oder
Gewerbebildungsanſtalten ohne öffentliche Organiſation ſind.
Das Recht der Lycées wird in den franzöſiſchen Darſtellungen
ſtets ſehr genau in Beziehung auf den Lehrdienſt und die Comp-
tabilité behandelt; die Methodeologie und Pädagogik hat Bücheler
a. a. O. einer ſcharfen, aber gerechten Kritik unterzogen. Die Haupt-
punkte des öffentlichen Rechts ſind:
1) Verwaltung. Unter dem Proviseur, der wieder unter dem
Recteur ſteht; reiner Beamteter, und ſeit dem Statut vom 4. September
1821 faſt ſouveräner Herr des ganzen Lyceums. Er ſollte urſprüng-
lich ſowohl eine klaſſiſche als höhere gewerbliche Bildung beſitzen (Dekr.
vom 17. März 1808); 31 docteurs ès lettres und bachelier ès scien-
ces ſein; nach der Verordnung vom 26. März 1829 genügt eines
von beiden. Der Lehrkörper der Professeurs agrégés und maîtres
répétiteurs hat gar keinen Einfluß auf die Verwaltung; er
ſteht vielmehr unter der beſtändigen Oberaufſicht des Censeur, der
zugleich das ganze Pensionnat bewacht, dem Proviseur rapportirt, und
ihn vertritt (Statut von 1821 Art. 13 ff.). Dieſer ſteht wieder unter
dem Inspecteur (ſiehe oben), der unter dem Recteur de l’Académie
ſteht, und dieſer unter dem Miniſter. Von irgend einer ſelbſtändigen
geiſtigen Thätigkeit iſt dabei natürlich keine Rede.
2) Schüler. Der urſprüngliche Gedanke war, daß jedes Lycée
zugleich ein Penſionat, und als ſolches eine öffentliche Erziehungs-
anſtalt ſein ſollte. Dieſer Gedanke iſt erhalten, nicht zum Vortheil
des Vorbildungsweſens. Die Aufnahme geſchieht daher auch jetzt theils
gegen Zahlung der Einzelnen, theils aber durch das ſtreng geordnete
Syſtem der Freiplätze des Staats (bourses), welche den einzelnen
Lyceen und analog auch andern Vorbildungsanſtalten verliehen wer-
den, theils als individuelle Unterſtützung für die Zöglinge, theils um
die Lyceen, reſp. die andern analogen Anſtalten auszuzeichnen. Der
Gedanke, durch die bourses die Kluft zwiſchen der beſitzenden Klaſſe,
welche die Penſion zahlen können (von 950—1500 Fr. je nach der
Klaſſe in Paris, in den Provinzialſtädten geht der Preis bis auf
600 Fr. herab) und der nicht beſitzenden auszufüllen, iſt als ein gänz-
lich mißlungener zu betrachten. Im Gegentheil ſind die bourses da-
durch zu einem weiteren Mittel geworden, die Bildungsanſtalten ab-
hängig zu machen. Daher ein tiefgreifender, zugleich ſocialer Unter-
ſchied zwiſchen den Elèves payants und Elèves boursiers. Die Strenge
der klöſterlichen Auffaſſung dann modificirt durch Halbpenſionate und
[302]Externes.Aufnahme ſeit Statut von 1821 mit dem achten Jahr;
Bedingung nur Leſen und Schreiben (ſ. Jourdain a. a. O. 30 ff.
Bücheler 475).
3) Lehrordnung. Die Geſchichte dieſer Lehrordnung beginnt
mit dem Syſtem der klaſſiſchen Vorbildung für alle Zweige der Be-
rufsbildung, und endet mit der vollkommenen Sonderung der klaſſiſchen
und volkswirthſchaftlichen bereits in den Lyceen. Letzte, bis 1863
gültige Ordnung (Decret vom 10. April 1852). Darnach die erwähn-
ten drei Abtheilungen: 1) division élémentaire: entſpricht den höhern
Klaſſen der deutſchen Volksſchule; 2) division de grammaire: Elemente
der franzöſiſchen, lateiniſchen und griechiſchen Sprache. Geſchichte,
Geographie, Mathematik; dreijähriger Curs; 3) division supérieure:
a. erſte Section: Fortſetzung der claſſiſchen Vorbildung für die Fa-
cultés des lettres; b. zweite: Vorbereitung für die Faculté des scien-
ces; die claſſiſche Bildung iſt nicht mehr obligatoriſch. Die Abſicht iſt
dabei wohl klar genug; die Ausführung aber iſt im höchſten Grade
unklar, da man über das Verhältniß der klaſſiſchen zur gewerblichen
Bildung kein Princip hatte und hat, und doch die Freiheit der Wahl
durch den Mangel einer andern gewerblichen Vorbildungsanſtalt ſo gut
als aufgehoben erſcheint. Die großen Lücken in dieſem Syſtem werden
ausgefüllt theils durch eine höchſte Classe de mathématiques, theils
durch beſondere Enseignements accessoires, namentlich im Zeichnen
und im Turnen. Durchſtehende Prüfung als Bedingung des Ueber-
ganges von einer Klaſſe zur andern. Die genaue Vorſchrift in der
Instruction générale vom 15. November 1854; vgl. Bücheler a. a. O.
S. 470. Die neue Ordnung von Duruy unten.
4) Lehrer. 1. Lehrerbildung. Eben ſo unſicher wie das
Syſtem der Lehre iſt das der Lehrerbildung. Es hat eine doppelte
Grundlage. Einerſeits das der ſyſtematiſchen Lehrerbildung in der
École normale supérieure, die bereits durch Decret vom 9. Brum.
an III ins Leben gerufen, durch Decret vom 17. Mai 1808 neu
organiſirt, durch Verordnung vom 6. September 1822 aufgehoben,
durch Verordnung vom 6. Auguſt 1830 wieder hergeſtellt, durch Ver-
ordnung vom 4. Auguſt 1848 ganz auf Koſten des Staats über-
nommen, und durch die Decrete vom 10. April 1852 und 22. Auguſt
1854 wieder neu organiſirt wurden. Sie iſt beſtimmt, die Lehrer
der Lyceen zu bilden; ihrem Inhalte nach iſt ſie eine Art von Com-
bination der Faculté de lettres und des sciences, mit einer ſeit 1854
eingerichteten höchſten Abtheilung, welche das Doctorat für beide geben
kann. Gewöhnlicher Curs: drei Jahre, mit Abgangsprüfung; dieſe
gibt das Recht zum Profeſſorat in den Lyceen. Sie ſteht unter der
[303] ſtrengſten Staatsaufſicht, iſt wie das Lyceum ſelbſt ein Penſionat
mit bourses, aber genügt auch der Zahl nach nicht. Es beſteht in
der That nur Eine Anſtalt, und zwar in Paris. Ueber die höchſt
mangelhafte Lehrerbildung, namentlich Bücheler S. 477 ff. Am
entſcheidendſten iſt doch wohl, daß zwiſchen der Lehrerbildung für die
claſſiſche (lettres) und realiſtiſche (sciences) Abtheilung gar kein Unter-
ſchied beſteht. Erſt 1847 ward eine Profeſſur für die Pädagogik
gegründet. Daher beſteht das zweite Syſtem in der Agrégation
(Supplirung der ordentlichen Lehrer). Das urſprüngliche Princip der-
ſelben war, daß die Suppleanten-Stellen (agrégés) durch öffentlichen
Concurs erworben werden konnten, ſo daß die Vorbildung in der
École normalenicht nothwendig war (Decret vom 17. März 1808).
Durch Verordnung vom 10. April 1852 dagegen einfache Beſetzung
durch die Behörde nach vorläufiger Prüfung, die ſich jetzt ſtreng an
die Fächer hält, in welchen der Agrégé beſtellt wird. Die Agréga-
tion hat dadurch ihren Charakter der wiſſenſchaftlichen Freiheit ver-
loren, welche ſie bisher zu einem der wichtigſten Faktoren der Vorbil-
dung machte, um ſo mehr, als die Verordnung vom 17. Auguſt 1853
das Inſtitut der maîtres corrépétiteurs eingeführt hat, den engliſchen
tutors nachgebildet, nur mit dem Unterſchiede, daß die erſtern die
perſönlichen Wächter der einzelnen Zöglinge ſind, in und außerhalb
der Lehre, mit amtlicher Stellung, Gehalt und Ernennung durch den
Unterrichtsminiſter. Da ſie zuletzt die Zurichtung der Zöglinge für die
Prüfungen haben, und nebenbei vom Proviseur jeden Augenblick
ſuspendirt werden können, ſo iſt damit das Syſtem der völligen
Abhängigkeit der geiſtigen Bildung in den Lyceen recht vollſtändig.
Die Stellung der Lehrer ſelbſt iſt mithin die eines ganz gewöhnlichen
Beamteten, mit feſtem Gehalt und einer Tantième an den Penſionats-
geldern; ſeit 1852 Verbot, Penſionäre bei ſich zu haben.
5) Prüfungsſyſtem. Vielfache Abänderungen eben durch die
allmählige Einführung des Bifurcationsſyſtems. Grundlage iſt die Ueber-
gangsprüfung für die Diviſions- und die doppelte Maturitätsprüfung,
je mit einer Prüfungscommiſſion für die lettres und für die sciences.
Doch iſt die Innehaltung des Curſes nicht obligatoriſch. Das Zeug-
niß iſt ein baccalauréat ès lettres und ein baccalauréat ès sciences.
Bücheler a. a. O. S. 470. Etwas anders bei Jourdain a. a. O.
S. 37—47. Uebrigens iſt das maßgebende Geſetz die Instruction
générale vom 15. November 1854.
II. Collèges communaux. Die Collèges communaux ſind im
franzöſiſchen Bildungsſyſtem eine nicht unintereſſante Erſcheinung. Sie
beruhen zunächſt darauf, daß der Staat ſich nicht für fähig erkannte,
[304] für das ganze Vorbildungsweſen durch ſeineLycées zu genügen. Es
wurde daher den Gemeinden das Recht gegeben, eigene höhere Schulen
auf eigene Koſten zu errichten, wenn ſie die Exiſtenz derſelben aus
eigenen Mitteln auf zehn Jahre ſichern wollten (Geſetz vom 11. Flor.
an X.). Allein die Staatsverwaltung behielt ſich trotzdem die ge-
ſammte Verwaltung dieſer Collèges communaux vor, und ſtellte
ſie in jeder Beziehung unter die Université, ſo daß der Recteur und
Préfet in der Académie ganz dieſelben Rechte in Beziehung auf An-
ſtellung und Entlaſſung der Lehrer, Lehrordnung und Prüfung hat,
wie bei den Lyceen (die deßhalb auch oft Collèges royaux oder im-
périaux genannt werden). Das Geſetz vom 15. März 1850 hat dieſe
Verhältniſſe geregelt, und dem Recteur das Recht gegeben, auch das
Bureau d’administration einſeitig zu ernennen, ſo daß die letzte Spur
der freien Selbſtthätigkeit der Gemeinde daraus verſchwunden iſt. Die
Commune hat ſomit nur noch die Laſt zu tragen, ohne ein Recht zu
beſitzen. Die Folge davon iſt, daß ihre Zahl ſich beſtändig vermindert;
1850 waren noch 306, jetzt ſind nur noch 255 vorhanden. Alle Ver-
ſuche, die verſtändigen Grundſätze des Geſetzes für das Elementar-
ſchulweſen von 1833 darauf zu übertragen, ſind geſcheitert. Dennoch
enthielten ſie die Möglichkeit, durch die Theilnahme der Selbſtverwal-
tung ein ſelbſtändiges Syſtem der wirthſchaftlichen Vorbildung im
Realſchulweſen ins Leben zu rufen. Das iſt nun abgeſchloſſen. Sie
ſind einfache und noch dazu unvollkommene Lyceen geworden; die cen-
trale Bureaukratie hat auch hier über das Bürgerthum den Sieg da-
von getragen. Die nächſte formelle Folge davon iſt nun eine große
Ungleichmäßigkeit ihrer Organiſation. Einige ſind faſt vollſtändige
Lyceen; einige haben, indem ſie auch etwas klaſſiſche Vorbildung ent-
halten, den Charakter von Realgymnaſien angeſtrebt; noch andere
ſind faſt ganz auf dem Standpunkt der Realſchulen. Prüfungen
bei ihnen wie bei den Lyceen; allein da die Université die ganze Ver-
waltung in ihre Hände genommen, ſo geht das an ſich ſehr gute In-
ſtitut zu Grunde (ſ. oben). Specialſchulen ſind das Collège Chaptal
(Paris); École Turgot (ebendaſ.). Die Darſtellung der Lehrordnung
bei Bücheler a. a. O. S. 482—87.
III. Écoles secondaires libres. Die Privatſchulen für die Vorbil-
dung waren unter Napoleon I. entweder Lehranſtalten oder Penſionate;
das Recht der öffentlichen Schulen beſtand in der Berechtigung
zur Maturitätsprüfung (baccalauréat) vorzubereiten (institution en
plein exercice). Das Geſetz vom 15. März 1850 hat dagegen alle
dieſe Schulen gleichgeſtellt, indem es für alle dieſelben Vorausſetzungen
fordert. Dieſe ſind im Weſentlichen die Forderung einer den Lyceen
[305]gleichartigen Einrichtung mit professeurs und répétiteurs, aber es
wird zur Errichtung ſolcher Schulen gar kein Fähigkeitszeugniß mehr
gefordert. Der Staat wie die Gemeinden können dieſe Anſtalten
unterſtützen; genauere Vorſchriften darüber bei Jourdain S. 82 ff.
Statiſtik und andere genauere Nachrichten fehlen.
IV. Die geiſtliche Vorbildung wird nur in den pétits séminaires
gegeben. Das Recht derſelben hat vielfach gewechſelt. Durch Decret
vom 8. April 1809 und vom 15. November 1811 werden ſie der
Université untergeordnet; 1814 davon zum größten Theil befreit; nach
der Verordnung vom 16. Juni 1828 durften ſie nur 20,000 Schüler(!)
haben. Das Geſetz von 1850 hat ſie nun ſo vollſtändig „frei“ gemacht,
daß weder ihre Zahl beſchränkt iſt, noch irgend eine Vorſchrift über
die Bildung ihrer Lehrer beſteht; der Staat hat ſich zwar die Ober-
aufſicht vorbehalten, aber dieſelbe bezieht ſich gar nicht mehr auf die
Lehrordnung und die innere Verwaltung, ſondern „comme celle de
toutes les écoles libres en général, elle porte essentiellement sur
la moralité, l’hygiène et la salubrité,“ und für dieſe Oberaufſicht
iſt durch die Verordnung vom 10. Mai 1851 vorgeſchrieben, daß die
Inspecteurs de l’Université ſich vorher mit dem Biſchof als Haupt
der Schule über die vorzunehmende Inſpektion zu verſtändigen haben.
Das iſt die allerdings vollkommene liberté de l’enseignement des Ge-
ſetzes von 1850.
Im Allgemeinen iſt auch das Urtheil der Franzoſen ſelbſt über
ihre Instruction sécondaire kein günſtiges. So ſagt Charles Read
bei Block Dict. de la Politique, v. Instruction publ.: „On peut donc
affirmer qu’en ce qui concerne l’enseignement secondaire l’élan
rapide qui avait suivi la révolution de 1830 ne s’est point main-
tenu à partir de 1850 et de 1851; c’est surtout dans les hautes
classes de nos lycées et de nos collèges que cette observation s’est
fait sentir et même revêt un charactère absolu.“Bücheler hat
die didaktiſchen Gründe dafür gut dargelegt; die wahre Urſache liegt
tiefer und kann ohne das unglückliche Syſtem der Facultés nicht ver-
ſtanden werden. Statiſtiſch wird von Read angegeben, daß die Schüler-
zahl der 75 Lycées impereaux 1864 24,000 Schüler, der Collèges
communaux 25,000, und der Etablissements libres 64,000 Schüler
geweſen ſind; bedeutſame Zahlen für den Charakter dieſer drei Grund-
formen des wiſſenſchaftlichen Vorbildungsweſens.
— Das hier bezeichnete Bifurcationsſyſtem Fortouls hat nun auch
dem Namen nach das ganze franzöſiſche Vorbildungsweſen beherrſcht,
und im Grunde weder die wiſſenſchaftliche, noch die wirthſchaftliche
Vorbildung zu einem gedeihlichen Reſultat kommen laſſen. Das
Stein, die Verwaltungslehre. V. 20
[306] Miniſterium Duruy, das dem Gründer des ſtrengen Bifurcationsſyſtems,
Fortoul, folgte, fühlte das ſehr wohl, und hat ſich daher durch einen
großen und energiſchen Verſuch ausgezeichnet, jenes Syſtem zu beſei-
tigen. Schon das Decret vom 29. September 1863 änderte die Stel-
lung der modernen Sprachen, indem das Engliſche und Deutſche (event.
das Italieniſche und Spaniſche) in die wiſſenſchaftliche Abtheilung ver-
legt, und für dieſe als obligatoriſch erklärt wurde. Das Circulär vom
2. October 1863 erklärte dann, daß man an die Stelle des „künſt-
lichen Bifurcationsſyſtemes eine natürliche Zweitheilung der construc-
tion secondaire ſetzen“ wolle, und das Decret vom 4. Februar 1864 ſprach
endlich formell aus, daß die Theilung in die section des lettres und
die section des sciences, die das Decret 10. April 1852 eingeführt
hatte, definitiv aufgehoben ſei. Allein gleichzeitig ward daneben ein
Curs der ſogenannten „Elementarmathematik“ für die Lyceen eingeführt,
in dem die Zöglinge nach Vollendung der troisième übergehen können
und welcher zu den mathématiques spéciales hinüberführen ſoll. Da-
mit war dem Weſen der Sache nach das alte Bifurcationsſyſtem
vollſtändig erhalten, denn an die beiden wahren Wurzeln deſſelben hat
Duruy durchaus nicht gerührt. Die erſte dieſer auch jetzt unerſchütterten
Grundlagen des alten Syſtems beſteht nach wie vor darin, daß das
Lyceum ein Ganzes bleibt, in welchem das ganze Gebiet der wirth-
ſchaftlichen wie der wiſſenſchaftlichen Vorbildung geboten wird, ſo daß
durch die neuen Verordnungen nur die äußere Anordnung der Stoffe
und der Uebergänge etwas anders geworden iſt. Von einer Selbſtän-
digkeit eines Realſchulſyſtems neben dem Gymnaſialſyſtem in
eignen Anſtalten mit eignen Lehrern, womit das Princip der Bifur-
cation erſt beſeitigt werden würde, iſt nach wie vor keine Rede; die
realiſtiſchen Fächer bleiben nach wie vor Fächer des Lyceums, wenn
ſie auch nicht mehr wie früher gerade section des sciences heißen; und
daher bleibt für deutſche Logik die Beſtimmung des Circulärs vom
21. März 1863 unverſtändlich, nach welchem zwar das Bifurcations-
ſyſtem beſeitigt ſein, aber dennoch in demſelben Lyceum ein Examen
für die lettres im früher angegebnen Sinne des baccalauréat ès lettres,
ein andres für die sciences des baccalauréat ès sciences geben ſoll,
neben denen noch das Examen für die mathématiques spéciales die
Bedingung des Eintrittes in die École polytechnique und von dieſer
in die École des ponts et chaussées möglich macht. An der zweiten
Baſis des alten Syſtems, dem gemeinſamen Penſionat für die Zög-
linge des ganzen Lyceums, das eine äußerliche Scheidung und Auf-
ſtellung der Realſchulen gar nicht aufkommen läßt, hat dieſe neueſte
Geſetzgebung nicht entfernt gerüttelt. Trotz aller Emphaſe, mit der
[307] hier daher von einem „neuen Studienplan“ geredet worden iſt, ſehen
wir im Weſentlichen das alte Syſtem in gar nichts geändert. Die
franzöſiſche Vorbildung hat ihren Charakter, die formelle Einheit der
wiſſenſchaftlichen und wirthſchaftlichen Vorbildung trotz Duruy und
ſeinen Circularen zum Schaden des Bildungsweſens behalten, und wird
ſie behalten, ſo lange nicht durch Aufhebung der verderblichen Pen-
ſionate ein ſelbſtändiges Realſchulſyſtem neben dem Gymnaſialſyſtem
aufgeſtellt wird.
oder das Syſtem der Facultés. Das Collège de France und die Special-
inſtitute).
Unter dem Fachbildungsweſen begreifen wir nun hier die Geſammt-
heit von Staatsanſtalten, welche, an das Vorbildungsweſen anſchließend,
für den wirklichen öffentlichen Beruf vorbereiten. Auch hier iſt eine
Trennung des gelehrten von dem wirthſchaftlichen Syſtem nicht thunlich,
was die einheitliche Auffaſſung des Ganzen allerdings ſchwierig macht.
Man muß nämlich zuerſt für dieſe Fachbildung das Syſtem des
Facultés von dem Collège de France und daneben die Specialinſtitute,
die gleichfalls der Université nicht einverleibt ſind und ſelbſtändige Bil-
dungsanſtalten für ganz einzelne Fächer ſind, ſcheiden. Formell näm-
lich bilden die Facultés Fachbildungsſchulen, den deutſchen Fakultäten
ähnlich, und die Geſammtheit dieſer Facultés wird zuſammengefaßt
unter der öffentlich rechtlichen Bezeichnung der Instruction supérieure,
die das dritte und höchſte Gebiet der Université als allgemeinen Bil-
dungsorganismus bildet, während das Collège de France und die
Specialinſtitute neben den Facultés ſelbſtändige, der Université an-
gehörige Lehrkörper ſind, und ebenſo auch eine weſentlich verſchiedene
Organiſation beſitzen. Es iſt dabei auf den erſten Blick in die geſetzliche
Thätigkeit und Stellung derſelben klar, daß die Facultés das eigentlich
franzöſiſche Syſtem der Fachbildung enthalten, während das Collège
de France den Reſt der höheren freieren germaniſchen Univerſitäts-
bildung freilich auf dem ſehr beſchränkten Gebiete der allgemeinen Bil-
dung vertritt, und die Specialinſtitutionen wieder von den Facultés
und dem Collège de France geſchieden, etwa den einzelnen Inſtituten
entſprechen, die mit den deutſchen Univerſitäten verbunden ſind. Allein
auch wenn man das Syſtem der Facultés und andererſeits des Collège
de France und der Specialinſtitute für ſich betrachtet, iſt der Unter-
ſchied mit der deutſchen Univerſitätsbildung ein durchgreifender. Wir
ſtellen ſie daher hier neben einander, den Blick feſt auf das Bild ge-
richtet, das uns die deutſchen Univerſitäten gegeben haben.
[308]
Das Frankreich eigenthümliche Syſtem der Facultés iſt formell die
Aufſtellung ſelbſtändiger Fachbildungsanſtalten für die einzelnen wiſſen-
ſchaftlichen Berufe, in der aber die im Bifurcationsſyſtem der Lyceen
auftretende Scheidung der Sciences und der Lettres ſich fortſetzt. Es
gibt daher fünf Arten der Facultés in Frankreich. In dieſer Bezie-
hung iſt die äußere Aehnlichkeit mit dem deutſchen Univerſitätsweſen
allerdings vorhanden. Allein der Unterſchied tritt ſogleich hervor, ſo
wie man einen Schritt weiter geht. Jene fünf Facultés ſind nämlich
nicht Fakultäten an einer Univerſität, alſo zuſammen einen ſelbſtän-
digen, auch örtlich als Einheit auftretenden wiſſenſchaftlichen Selbſt-
verwaltungskörper bildend, ſondern jede dieſer Facultés beſteht ganz für
ſich; ſie ſind in verſchiedenen Orten hergeſtellt, und ſowohl ohne wiſſen-
ſchaftliche als adminiſtrative Verbindung unter einander. Gemeinſam
iſt ihnen nur die oberſte ſtaatliche Verwaltung, vermöge deren ſie
unter der Université als Instruction supérieure ſtehen. Eben ſo wenig
iſt ihnen der Lehrgang oder auch nur die Dauer deſſelben gleich; jede
Faculté iſt von vorn herein als eine ganz ſelbſtändige, nur für ihren
Zweck beſtimmte Fachbildungsanſtalt aufgefaßt. Es iſt der tiefe innere
Unterſchied des Fakultätsweſens Frankreichs von dem deutſchen faſt auf
den erſten Blick klar, ſo wie man die Organiſation derſelben betrachtet.
Sie ſind allerdings Berufsbildungsanſtalten; allein der Beruf ſelbſt iſt
dem franzöſiſchen Geiſte überhaupt nicht die ethiſche Einheit des ganzen
geiſtigen Lebens, ausgedrückt in der Lebensaufgabe des Einzelnen, ſon-
dern nur eine ſpecielle Ausübung einer beſtimmten öffentlichen Pflicht.
Der Beruf fordert daher auch in Frankreich keine Geſammtbildung des
Geiſtes, ſondern nur die ſpecielle Fachbildung. Der geiſtige Einfluß,
den eine Wiſſenſchaft auf die andere hat, iſt hier nicht bekannt oder
doch nicht anerkannt. Es gibt kein geiſtiges Band und daher auch kein
äußeres Zuſammenwirken und Zuſammenſein der Fakultäten in der
Univerſität. Daher fehlt der ganzen Fakultätsbildung Frankreichs
dasjenige, was dieſelbe in Deutſchland ſo weſentlich charakteriſirt. Die
Faculté hat keine allgemeinen Fächer, keine Philoſophie, keine Ge-
ſchichte, keine Staatswiſſenſchaft, nicht einmal Lehrſtühle für dieſelben,
viel weniger eine Prüfung dafür. Selbſt der Zuſammenhang mit der
Vorbildung iſt ein anderer. Die Instruction secondaire der Lycées
gilt nicht für jede Faculté, ſondern das Baccalauréat ès sciences
gilt nur für die Faculté des sciences und nicht für die übrigen,
während die Faculté des sciences ſelbſt wieder, mit Ausſchluß der
klaſſiſchen Bildung, nur die theoretiſch wirthſchaftliche in Mathematik
[309] und Phyſik enthält. Von den das deutſche Univerſitätsweſen gleichſam
erfüllenden Nebeninſtituten, namentlich den Seminarien, iſt keine Rede.
Das Prüfungsſyſtem iſt daher ein eben ſo verfahrenes; es hat den
Charakter der Fachbildung ſelbſt angenommen und beſteht aus lauter
Einzelprüfungen, die in der letztern Zeit noch mehr zerſplittert worden
ſind. Ueber das Verhältniß und den Werth der klaſſiſchen Bildung
herrſcht daher eine durchgreifende Unklarheit; man hat weder vermocht,
ſie ganz zu beſeitigen, ſelbſt nicht in den sciences, noch auch ihnen
eine philoſophiſche Gründlichkeit zu geben, ſelbſt nicht in den lettres.
Das Prüfungsſyſtem an allen dieſen Facultés hat zwei Stufen, das
Licentiat und das Doktorat; das letztere hat von der germaniſchen Univer-
ſität etwas längere Vorbereitung und die Verpflichtung zur Vertheidi-
gung von Streitſätzen beibehalten. Die Prüfungen ſelbſt ſtehen unter
den Prüfungskommiſſionen der Akademie; ſie ſind ſehr leicht, und ſtrenge
auf das einzelne Fach der Abtheilungen beſchränkt, dem beſchränkten
Bildungsgange derſelben entſprechend. Das Syſtem der Facultés, welche
die Stelle der letzteren vertreten, beruht in ſeiner neueſten Organiſation
auf dem Decret vom 10. April 1852 (Studienordnung), dem Geſetz
vom 14. Juni 1854 und dem Decret vom 27. Auguſt 1854 über die
neue Organiſation der Académies.
1) Die Facultés des lettres und die des sciences vertreten un-
gefähr die Idee der deutſchen philoſophiſchen Fakultät. Aber beide
bilden weder eine Einheit, noch ſtehen ſie in Beziehung zu den übrigen
Facultés. Die Faculté des lettres iſt vielmehr das, was die Philo-
logie vertritt, während die Faculté des sciences,ohne ſtaatswiſſen-
ſchaftliche Lehre, die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Bildung noth-
dürftig enthält.
Die Facultés des lettres (16) ſind die philologiſch-philoſophiſche
Bildungsanſtalt. Ordnung der Vorleſungen (Decret vom 7. März 1853).
Die Aufnahmsprüfung wird durch das in dem Lyceum, troisième
division, section des lettres, erworbene baccalauréat ès lettres erſetzt,
zu welchem für den Candidaten nach dem Geſetz von 1853 (Art. 63)
überhaupt nicht einmal ein Lyceum beſucht zu haben nöthig iſt. Die
Abgangsprüfung iſt die Prüfung zum licencié ès lettres; ſie iſt ſchrift-
lich und mündlich und ſehr einfach. Der Candidat zum licencié braucht
nur Ein Jahr Baccalaureus geweſen und nur zwei Curſe nach ſeiner
Wahl gehört zu haben. Die Promotion zum Docteur ès lettres er-
folgt nach ſtattgehabter Vertheidigung von zwei Theſen; über dieſe Ver-
theidigung wird dann erſt an den Miniſter berichtet, nach dem Arrêté
vom 17. Juli 1850.
Die Facultés des sciences (auch 16) ſchließen die klaſſiſche
[310] Vorbildung aus, ſie ſind weſentlich naturwiſſenſchaftlich und mathematiſch.
Das eigentlich wirthſchaftliche Element fehlt. Dennoch iſt für das
baccalauréat ès sciences durch Decret vom 10. April 1852 auch eine
lateiniſche Ueberſetzung gefordert, und eine mathematiſche „composition.“
Die Abgangsprüfung ergibt auch ein Licentiat; aber daſſelbe iſt jetzt
gar in drei Theile getheilt und jeder dieſer Theile beſteht ganz für ſich.
Dieſe drei Arten von „licences“ ſind die licence ès sc. mathema-
tiques, ès sc. physiques und ès sciences naturelles, jede mit ihrem
(kurzen) Examen. Das Doktorat fordert die Vertheidigung Einer Theſe.
So iſt dieß ganze Gebiet hoffnungslos zerſplittert. Dazu kommt, daß
die einzelnen Gemeinden noch Écoles préparatoires errichten können,
deren Curſe den Fakultätskurſen gleich ſtehen.
Facultés de droit (ſeit Geſetz vom 22. Vent. an XII; gegenwärtig
neun) Gegenſtand nur Jurisprudenz; gar keine weitere Berufsbildung,
drei Jahre Curs; für das Doktorat vier Jahre. Das Baccalaureat
(nach zwei Jahren) iſt eine Uebergangsprüfung; die licence en droit,
die eigentliche Abgangsprüfung, wird nach dem dritten Jahre ertheilt
und iſt mit der Vertheidigung einer Theſe verbunden; das Doktorat wird
erſt nach zwei Prüfungen, wovon Eine römiſch-rechtlich, ertheilt. Jähr-
lich werden Preiſe und mentions honorables ausgetheilt. Durch Decret
vom 17. September 1864 iſt an der Faculté de Paris ein Lehrſtuhl
für „économie politique“ errichtet, der einzige bisher an einer Rechts-
fakultät! (Vgl. Say, Traité II, 233, J. d’Écon. 1865.)
Facultés de médecine. Es gibt ihrer für ganz Frankreich ſeit
Geſetz vom 11. Frim. an III nur drei (Paris, Montpellier, Straß-
burg); vierjähriger Curs mit jährlichen Prüfungen, ohne baccalauréat
und licence; das Doktorat iſt die eigentliche Abgangsprüfung und
wird nach fünf Prüfungen verliehen. Daneben beſtehen drei Écoles
supérieures de pharmacie ſeit Geſetz vom 21. Germ. an XI neben
jenen Facultés (ſ. oben Apothekerweſen). Das völlige Ungenügen
dieſer Einrichtungen rief dann die Errichtung von Écoles préparatoires
de médecine hervor, ſeit Geſetz vom 11. Flor. an X durch Verordnung
vom 18. Mai 1820 der Université eingereiht. Es ſind das reine
Kliniken nebſt Vorträgen, ohne daß die Vorbildung der sciences
gefordert würde; ſie beſtehen neben den örtlichen Hoſpitälern; der Lehr-
körper hat ſeit Decret vom 22. Auguſt 1854 das Recht, den Grad des
Officier de santé zu verleihen und die Hebammenprüfung vorzunehmen.
Facultés de théologie (ſechs) ſehr unvollſtändig, bachelier nur,
wenn das baccalauréat ès lettres ſchon erworben; licence nach Ver-
theidigung einer Theſe, Doktorat nach Vertheidigung einer zweiten.
Die katholiſche Kirche erkennt die Grade gar nicht an.
[311]
Ueber das ganze Syſtem ſagt Frederic Morin bei BlockDict.
de Politique, v. Instruction: „Notre enseignement supérieur est
très loin de valoir celui de l’Allemagne, et à quelques égards on
peut dire qu’il n’existe que d’une façon nominale.“ Das formale
Recht ſehr gut bei Laferrière(Droit admin. III. T. W. Ch. II.).
Das Gefühl dieſes tiefen Mangels in der Instruction supérieur
hat nun ein Inſtitut ins Leben gerufen und erhalten, das formell kein
ähnliches in Europa neben ſich hat, das Collège de France. Das
Collège de France ward ſchon am 24. März 1529 gegründet, ſchon
damals im Gegenſatz zu der Université de Paris, die in Beſchränktheit
und Scholaſtik den auch wiſſenſchaftlichen Aufſchwung der Renaiſſance
unter Franz I. hemmte. Es ſollte die Univerſität der freien
klaſſiſchen Lehre ſein. Es war daher für keinen Beruf eingerichtet,
hatte keine Prüfungen, ertheilte keine Grade, nahm kein Collegiengeld,
ſtand nicht unter der Behörde, welche die Univerſität verwaltete; aber
es hat ſich von jeher auf die allgemeine klaſſiſche Bildung, Philoſophie
und Naturwiſſenſchaften beſchränkt. Es iſt das für ganz Frankreich,
was die philologiſchen Fakultäten für jede Univerſität Deutſchlands
ſind; nur daß ihm in ſeiner Trennung von den Fakultäten die letzteren
von jeher feindlich waren. Der Kampf mit der Pariſer Univerſität
vor der Revolution, die es ſtets unterwerfen wollte, zieht ſich durch
das ganze ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert; aber bei dem freien
Geiſte, den dieſe Inſtitution von jeher durchwehte, war eine Vereini-
gung geradezu unmöglich. Das Jahr VII erhielt daher auch von allen
alten gelehrten Inſtitutionen das Collège de France (Decret vom
25. Messidor) und ſelbſt Napoleon ließ es 1808 außerhalb ſeiner
Université beſtehen; er hätte es vernichten müſſen, um es einzuordnen.
Auch Napoleon III. hat es nicht berührt; er hat nur die Ernennung der
Profeſſoren, jedoch nach Präſentation des Lehrkörpers und des Institut
de France vorbehalten (Decret vom 9. März 1853), während der Pro-
feſſorenkörper des Collège de France der einzige öffentliche Lehr-
körper in Frankreich iſt, der die Supplenten und Gehülfen ſelber
ernennt (Reglement vom 25. Oktober 1828) und unter einem ſelbſt-
gewählten Vorſtand ſelbſt die Disciplin ſeines Lehrkörpers ver-
waltet. Es iſt die einzige Lehranſtalt, die gegenüber der höchſt be-
ſchränkten Fachbildung in den Facultés der Instruction supérieure das
hiſtoriſche Princip der germaniſchen Univerſitätsbildung und die Freiheit
der Lehre und der Selbſtverwaltung im Syſtem der franzöſiſchen
[312] wiſſenſchaftlichen Bildung vertritt; aber eben darum iſt es ſelbſt ſchon keine
Berufbildungsanſtalt, ſondern in der That eine von der Verwal-
tung organiſirte Anſtalt für freie wiſſenſchaftliche Vorträge außerhalb der
Instruction supérieure, entſprungen aus dem Bedürfniß einer höheren
Einheit der wiſſenſchaftlichen Bildung, ohne jedoch dieß Bedürfniß organiſch
befriedigen zu können, da es theils keine Verpflichtung der Studirenden
gibt, es zu beſuchen, theils auch nur das Eine Collège in Paris be-
ſteht. Die Unfähigkeit, dieß Collège ſeit Jahrhunderten weder auf-
heben noch es der Université unterwerfen zu können, zeigt am deut-
lichſten den tiefen Gegenſatz, der im ganzen wiſſenſchaftlichen Berufs-
bildungsweſen Frankreichs herrſcht und ihm eigentlich ſeinen Charakter
gibt. Vergl. über das Collège de FranceFranchart bei BlockDict.
de l’Admin. Das Gefühl der Sache ſehr klar bei Charles Read
(Block, Dict. de la Politique): „le Collège de France est censé repré-
senter d’une manière speciale l’esprit de hardie initiative et de
liberté entière.“
Aus demſelben Mangel aller allgemeinen Bildung in der Instruction
supérieure hat ſich nun die Nothwendigkeit gebildet, bei gewiſſen Special-
inſtituten zugleich ſyſtematiſche Lehrvorträge zu halten und ſie ſo als
ſelbſtändige Glieder des Fachbildungsweſens neben die übrigen zu ſtellen,
wobei jedoch nie überſehen werden muß, daß ſie nicht etwa wie in
Deutſchland regelmäßig mit den Univerſitäten verbunden ſind, ſondern
daß je Eine Anſtalt für ganz Frankreich genügen muß. Dieſe In-
ſtitute der rein wiſſenſchaftlichen Specialbildung ſind:
- a) Museum d’histoire naturelle ſeit Decret vom 10. Juni 1793,
mit 15 Lehrſtühlen und Einem Beſuch. - b) École des langues orientales, ſchon ſeit 1669 errichtet als
Lehr- und Erziehungsanſtalt zugleich auf öffentliche Koſten; Fachbildung
für die orientaliſchen Conſulate unter der Verwaltung des Miniſters
des Aeußern; die Zöglinge heißen „Jeunes de langue“ (Verordnung
vom 20. April 1833). - c) Bureau des longitudes, Errichtung vom 7. Messidor an III
(1795). Neueſte Ordnung durch Decret vom 30. Januar 1854 mit
völliger Trennung vom Observatoire, ſpeciell für Beobachtungen in
der Aſtronomie, Entwicklung der aſtronomiſchen Inſtrumente, Publika-
tionen über die Connaissance des temps u. ſ. w. - d) L’Observatoire: rein aſtronomiſches Beobachtungsinſtitut. Neue
Ordnung durch Decret vom 30. Januar und 1. Februar 1854. - e) École des chartes. Fachſchule für Paläographie; die Schüler
[313] werden vom Miniſter ernannt; Prüfung nach dreijährigem Curs;
darauf diplome „d’archiviste paléographe,“ mit dem Recht auf An-
ſtellung als öffentlicher Archivar. Organiſation durch Verordnung vom
31. December 1846, neuere Beſtimmungen Verordnung vom 16. Mai
und 18. Oktober 1849 und 4. Februar 1850.
(Außerhalb der Université).
Wenn wir nunmehr neben dem obigen Syſtem der Université
und ihrer verfehlten Bifurcation noch von einer ſelbſtändigen wirth-
ſchaftlichen Berufsbildung reden, ſo liegt es auf der Hand, daß es ſich
hier nicht um ein Syſtem derſelben handelt. Und zwar kann man wohl
jetzt mit einfacher Hinweiſung auf das Bisherige ſagen, daß ſo weit es
neben der Université und ihrer sciences noch wirthſchaftliche Bildungs-
anſtalten gibt, dieſelben weder auf einem Vorbildungsſyſteme ruhen,
noch durch irgend einen höheren Gedanken zuſammengehalten werden,
ſondern einfach die Erzeugniſſe unabweisbarer praktiſcher Bedürfniſſe ſind.
Man darf daher hier auch nicht die für Deutſchland geltende äußerliche
Scheidung der Vorbildungsanſtalten, noch weniger ein rationelles Klaſſen-
ſyſtem erwarten. Vorbildung und Fachbildung gehen, mit Ausnahme
der Specialſchulen, ſo in einander über, daß man nicht zu einem Syſteme
gelangt. Scheidet man jedoch das gewerbliche Vorbildungsweſen von
dem in der Université gebotenen theoretiſchen, ſo iſt daſſelbe theils in
einer Reihe von Etablissements particuliers vertreten, theils aber durch
eine Anzahl von Zeichnenſchulen, den ſog. Cours de dessin appliqué
à l’industrie, die in den meiſten größeren Städten eingerichtet ſind,
aber ohne weitere gewerbliche Bildung ſich bloß auf das Zeichnen be-
ſchränken. Das Muſter derſelben war die ſeit 1764 in Paris ein-
gerichtete Zeichenſchule für die six métiers. Sie iſt jetzt ausgebildet zu
der Pariſer „École imp. de dessin et de mathématique appliqué à
l’industrie.“ Hier iſt, ſo viel wir wiſſen, ausnahmsweiſe die Grundlage
breiter angelegt und aus ihr eine allgemeine Gewerbeſchule für alle
bildenden Handwerke mit Abendcurſen geworden. Daneben beſtehen
noch niedere Schulen für bloßes Zeichnen. In dieſen Anſtalten er-
ſcheinen allerdings die Fortbildungsſchulen für Handwerker vertreten.
Charakteriſtik derſelben von Franz Kugler, Kleine Schriften 3. Thl.
S. 431—433 (von 1846). Die Écoles imp. d’arts et métiers, deren erſte
bereits durch Decret vom 6 Vent. an XI. in Compiègne errichtet ward und
zu der 1815 die von Beaupreau, 1843 die von Aix hinzugekommen iſt,
ſind im Grunde nur höhere Gewerbeſchulen, aber wieder mit ganz
[314] beſtimmter Beſchränkung auf einzelne Gewerbe, namentlich auf Feuer-
arbeiter, Schloſſer, Schmiede ꝛc.; ſie ſind als Penſionate eingerichtet,
mit bourses, dreijährigem Curs, Prämien und Ehren, ſtehen unter der
Staatsverwaltung und haben ihr eigenes Budget. Nur die letzteren
hat Smith bei Block ausführlich beſprochen, die anderen nur ange-
deutet; Bücheler hat das Ganze übergangen.
Das Syſtem der einzelnen Fachbildungsſchulen, aus denſelben
Bedürfniſſen wie das deutſche hervorgegangen, hat allerdings formell
dieſelbe Geſtalt wie das deutſche. Allein in ſeinem Lebensprincip und
ſeinem eigentlichen Charakter iſt es ein weſentlich anderes. Der Gedanke
nämlich, daß es auch innerlich ein Ganzes und daß ſeine Grund-
lage eine organiſch wiſſenſchaftliche ſei und als ſolche ſo weit möglich
auch als organiſche Einheit zum Ausdruck gelangen müſſe, hat niemals
in Frankreich Platz gegriffen. Man kann das wohl am durchgreifendſten
bezeichnen, wenn man im Hinblick auf die Geſchichte der deutſchen wirth-
ſchaftlichen Fachbildung ſagt, daß Frankreichs Bildungsweſen niemals
die Epoche der kameraliſtiſchen Bildung durchgemacht und daher aus der-
ſelben niemals das Bedürfniß nach einem wiſſenſchaftlichen Inhalt der
wirthſchaftlichen Bildung empfangen hat. Obwohl daher Frankreich durch
ſeine École polytechnique den Namen der polytechniſchen Anſtalten ins
Leben gerufen hat, ſo beſitzt es nirgends eine Anſtalt, ja nicht
einmal eine Auffaſſung, welche der der deutſchen polytechniſchen
Inſtitute irgendwie vergleichbar wäre. Die Idee einer höheren, allge-
mein wiſſenſchaftlichen Entwicklung des gewerblichen Lebens hat in Frank-
reich niemals Platz gegriffen, ſondern alle ſeine wirthſchaftlichen Fach-
bildungsanſtalten ſind nicht bloß in der Wirklichkeit, ſondern ſogar dem
Princip nach reine Specialſchulen. Von einem Anſchluß an die
Univerſität und ihre höhere Bildung iſt gar keine Rede, wie ſie in
Deutſchland ſo vielfach direkt ausgeſprochen und eingeführt iſt. Eine
höhere wiſſenſchaftliche Bildung, ein Aufnehmen der Geſchichte oder gar
der Elemente der Staatswiſſenſchaften mit Nationalökonomie, Verwal-
tungsrecht und Statiſtik, iſt vollkommen ausgeſchloſſen; nicht einmal
fremde Sprachen ſind irgendwie gefordert oder geboten! Es iſt
daher nichts verkehrter, als das franzöſiſche wirthſchaftliche Fachbildungs-
weſen ſich zum Muſter zu nehmen; die große, eigentliche Lebensfrage
der deutſchen Anſtalten, das Verhältniß derſelben zur allgemeinen Bil-
dung, hat die franzöſiſchen gar nicht berührt. Nur darin ſind ſie for-
mell verwandt, daß jede dieſer Anſtalten ihre eigene Organiſation hat,
und daher einer ſelbſtändigen Darſtellung bedürfte, die wir hier nicht
geben können. Nur auf Einem Punkte bricht ſich auch hier, in ana-
loger Weiſe wie bei der Instruction supérieure, im Collège de France
[315] die germaniſche Idee der höheren Einheit dieſes ganzen Gebietes Bahn
und das iſt das Conservatoire des arts et métiers, das man in Deutſch-
land neben der École polytechniqueviel zu wenig beachtet hat und
deſſen Idee eine ſehr fruchtbringende iſt. Wir ſtellen es daher an
die Spitze und laſſen die übrigen Fachſchulen nachfolgen.
Der Gedanke deſſelben iſt von Descartes ausgegangen; das Geſetz
vom 19. Vend. an III hat ihn zu verwirklichen begonnen; die folgen-
den Regierungen haben ihn ausgeführt. Urſprünglich ſollte das Con-
servatoire weſentlich nur eine Sammlung von Maſchinen und Muſtern
aller Art für alle Gewerbe ſein. Daran ſchloßen ſich Fortbildungs-
unterricht für die niederen Handwerke, die Errichtung einer Bibliothek
und die Beſtellung von „trois démonstrateurs,“ welche die Benützung
der Werkzeuge und Maſchinen lehren ſollten. Erſt die Verordnung vom
25. November 1819 organiſirte das ganze Inſtitut nach den Bedürf-
niſſen der gewerblichen Fortſchritte unſeres Jahrhunderts. Schon früher
hatte man eine niedere, elementare Gewerbeſchule am Conservatoire
eingerichtet (1806). Jetzt wurde der Unterſchied der Instruction primaire
und supérieure eingeführt und neben allen Gebieten der wirthſchaft-
lichen Bildung ſogar die Elemente der Staatswiſſenſchaft mit aufge-
nommen, namentlich aber auch die Verbindung der künſtleriſchen
Bildung mit der gewerblichen angeſtrebt. Gegenwärtig werden vierzehn
Gegenſtände vorgetragen; das Conservatoire hat ſeinen eigenen großen
Lehrkörper und derſelbe iſt zugleich das begutachtende Organ für das
Miniſterium in gewerblich techniſchen Fragen. Es ſteht unter dem Han-
delsminiſterium, das die Lehrer anſtellt. Es hat verſchiedene Organiſa-
tionen durchlebt; die gegenwärtig geltende iſt das Dekret vom 10. Dec.
1853 und das Reglement vom 19. Januar 1854. In der That iſt
das Conservatoire des arts et métiers dasjenige, was man die ge-
werbliche Univerſität der wirthſchaftlichen Bildung nennen könnte, na-
mentlich wenn man den daneben beſtehenden Cours de Dessin et de
Géometrie (mit einer höheren und niederen Abtheilung) hinzurechnet
(Gugler, Gewerbl. Fortbildungsſchule bei SchmidII. 888). Das
ſollte man in Deutſchland viel mehr zum Muſter nehmen als die höchſt
untergeordnete École polytechnique. Wie konnte doch Koritska in
ſeinem ſonſt ſo gründlichen Werke das überſehen? Leider gibt es für
Frankreich nur Eins und das iſt wieder in Paris. Alle andern An-
ſtalten ſind neben ihm reine Specialſchulen.
[316]
I.Oeffentliches Bauweſen. Das öffentliche Bauweſen beruht
weſentlich auf der École des ponts et chaussées, die bereits 1750 ge-
gründet, unter der Revolution aufrecht erhalten, und durch das Decret
vom 13. Oktober 1851 neu organiſirt ward. Bis zu dieſer Organiſation
war dieſe Schule eine ſtreng franzöſiſche und ausſchließlich für die
Zöglinge der École polytechnique beſtimmt. Erſt jetzt iſt ſie eine all-
gemeine Fachbildungsanſtalt für Bauweſen; zugleich für Fremde zugäng-
lich. Aufnahme nach ſtattgefundener Prüfung. Gegenſtand der Bil-
dung das Hoch- und Straßenbauweſen, Waſſerbau und etwas Bau-
recht in zehn Curſen; dreijähriger Curſus. Die Schüler der École po-
lytechnique bedürfen keiner Aufnahmsprüfung; das iſt jetzt die einzige
Verbindung zwiſchen beiden; Aufnahmsordnung (vom 14. Febr. 1852);
Lehrordnung (Decret vom 13. Nov. 1851). — Die École polytechnique
iſt eine Militär-Ingenieurſchule und ſteht unter dem Kriegsminiſter;
ſie iſt ein Penſionat (mit 1000 Fr. Penſion). Zulaſſung gegen Auf-
nahmsprüfung, ohne formelle Vorbedingung. Curſus nur zwei Jahr.
Lehrgegenſtände: Vorbildung für die Ponts et chaussées, die Mines,
Telegraphenweſen, Tabakverwaltung (!) Waſſerbau, „enfin pour
les autres services publiques qui exigent des connaissances étendues
dans les sciences mathématiques, physiques et chimiques“ (Decret
vom 25. Nov. 1852). Das Ganze iſt ſo ſehr eine untergeordnete
Militärſchule, daß die mit Abgangszeugniß verſehenen Schüler, wenn
ſie keine Anſtellung finden oder in die höheren Specialſchulen übergehen,
Unterlieutenants werden. Wie dieſelbe als Muſter für die deutſchen
polytechniſchen Inſtitute hat gelten und in der deutſchen Literatur die
École des Ponts et Chaussées, oder gar das ſo viel wichtigere Con-
servatoire hat verdunkeln können, bleibt geradezu unbegreiflich!
II.Höhere Gewerbelehre. École centrale d’Arts et Manu-
facture hauptſächlich neben Zeichnen und Chemie auch Metallurgie,
Hüttenbau, Leitung von Werkſtätten und Fabriken. Zulaſſung mit dem
ſechzehnten Jahr (!). Dreijähriger Curs. Die Anſtalt gehört haupt-
ſächlich der Stadt Paris, jedoch mit bourses, demibourses und Staats-
ſubvention. Das Programm ſcheint ſehr unbeſtimmt (Smith bei Block
a. a. O. v. Enseignement industriel, Read, Instr. publique).
III. École supérieure de Commerce. Grundlage der Organiſation
iſt die Scheidung in trois comptoirs;erſtes: allgemeine Bildungs-
gegenſtände; zweites: Correſpondenz und Arithmetik, nebſt fremden
Sprachen (nicht obligat); drittes: angewendete Chemie, Waarenkunde,
allgemeine volkswirthſchaftliche Vorkenntniſſe. Nach dem dritten Jahr
[317] ein diplome de capacité; ſonſt Medaillen ꝛc. Zwölf Stipendien vom
Staate zu 1200 Fr., durch Prüfung zu erwerben.
IV.Bergwerksſchule. Écoles des Mineurs in St. Etienne
ſeit 1816 und Alais ſeit 1843. Aufnahmsprüfung: Leſen, Schreiben
und die vier Species! Doch iſt die erſtere die höhere. Hier werden
auch Fortbildungsvorträge für Zöglinge in Abendſtunden gehalten. Die
École impériale des Mines de Paris ward ſchon 1783 errichtet und
1816 reorganiſirt mit drei Abtheilungen und Abgangsprüfungen (Ro-
bert bei Block, v. Mines).
V.Navigationsſchulen. Dieſelben bilden in Frankreich ein
ganzes Syſtem und ſind ſehr gut und ſyſtematiſch eingerichtet. Es gibt
dreiÉcoles de maistrance für die verſchiedenen unteren Grade (ſeit
1819, neue Organiſation Decret vom 7. April 1851); École de pyro-
technie (Toulon, ſeit 1840); École d’hydrographie (für Hafencapitäne
und Schiffscapitäne, mit freien und öffentlichen Vorträgen, in vielen
Häfen, organiſirt durch die Verordnung vom 7. Auguſt 1825 und
29. Februar 1836). École navale de Brest für die Kriegsmarine
(Organiſationsdecret vom 5. Juni 1850 und 19. Januar 1856). École
d’application au génie maritime, ſeit 1765 beſtehend, dann neu herge-
ſtellt durch Decret vom 11. April 1854. — Endlich iſt zu bemerken,
daß die École polytechnique als Vorbildungsanſtalt für die École
d’hydrographie und du génie maritime gilt.
VI.Forſtlehranſtalt — Eine! — in Nancy, errichtet durch
Dekret vom 1. Dec. 1824. Vorbildung die sciences des lycées und
baccalauréat; lateiniſch und deutſch; Zulaſſung gegen Prüfung durch
eine Jury d’admission (Ordonnanz vom 12. Oct. 1840). Penſionat
1500 Fr.; zweijähriger Curs; jährlich können für ganz Frankreich nur
25—30 Zöglinge zugelaſſen werden.
VII.Landwirthſchaft. Seit 1818 ſind die erſten Schulen da-
für errichtet. Letzte und allgemeine Organiſation durch Geſetz vom
3. October 1848 in drei Klaſſen: die fermes Écoles, mit elementarer
praktiſcher Vorbildung, die Écoles régionales, welche die Theorie mit
der Praxis verbinden und urſprünglich ein institut national, welches
aufgehoben iſt. Gegenwärtige Organiſation Decret vom 17. Sept. 1852
(ſ. Eugen Marie bei Block, v. Enseignement agricole. Laferrière,
Droit Adm. III. L. 1. T. 1. p. 199).
Zum Schluß muß bemerkt werden, daß ſich an dieſe Inſtitute mehr
und mehr freie Vorträge in den größern Städten ſchließen, welche
von den Gemeinden theils eingerichtet, theils ſubventionirt werden und
die theils förmlich durch Decret vom 22. Auguſt 1854 organiſirt ſind;
ſowohl dort wo Facultés de sciences ſind, als dort wo ſie fehlen.
[318] Eine neueſte Verordnung vom Jahr 1865 entſcheidet ſich bejahend
über die Frage, ob die angeſtellten Profeſſoren ſolche Vorträge halten
dürfen. Von großem Intereſſe iſt das Mémoire der Handelskammer in
Lyon vom 27. September 1868, über das durch dieſelbe 1856 er-
richtete Muſeum für Kunſt und Induſtrie, das zugleich als eine treff-
liche Bildungsanſtalt functionirt und das nebſt einem ſehr guten
Bericht von Harpke (2. Nov. 1859) von der nieder-öſterreichiſchen
Handelskammer publicirt worden iſt. Dieſe Publication muß als der erſte
kräftige Anſtoß zur Gründung des öſterreichiſchen Muſeums für Kunſt
und Gewerbe in Wien angeſehen werden, deſſen Wirkſamkeit eine in
jeder Beziehung höchſt anerkennenswerthe und heilſame, wenn auch eine
wenig vorwiegend hiſtoriſche geworden iſt. — Die franzöſiſche Literatur
über dieß Gebiet iſt ſehr mangelhaft, ſelbſt Block bietet nichts Beſon-
deres. M. F. le Play hat in ſeiner Réforme sociale en France
(2me éd.) Bd. II. §. 47 einige allgemeine Sätze über das Enseigne-
ment et les corporations, ohne genaue Kenntniß der Geſetze; ein
dunkel geahntes Bild der von den Genoſſenſchaften namentlich in Oeſter-
reich hergeſtellten Gewerbeſchulen! Audiganne (L’ouvrier d’à pré-
sent) S. 113 ff. ſpricht von Écoles de manufactures, die in mehreren
Departements errichtet ſein ſollen (etwa 60 mit 1200—1500 Lehrtagen),
ohne etwas über den Lehrgang anzugeben. Es ſcheinen das einfache
Sonntagsſchulen zu ſein. Er ſagt übrigens S. 148: „Ce qu’il faut
toujours regretter c’est l’insuffisance des écoles.“ — Freilich, wenn
nach ihm im Januar 1865 in Paris (!) nur 8 Schulen mit 1200 Lehr-
lingen und 19 für Frauen (?) mit 500 thätig waren, trotz einer Com-
miſſion unter dem Vorſitze von Dumas. Die allgemeinen [Redensarten],
wie ſie Richter (Kunſt und Wiſſenſchaft, Gewerbe und Induſtrie 1866)
darüber macht, wie S. 61 ff., muß man darnach wohl auf ihren poſi-
tiven Werth zurückführen. Die betreffenden Schriftſteller ſind ihm un-
bekannt geblieben.
Die künſtleriſche Fachbildung in Frankreich concentrirt ſich wieder
in Paris. Was zunächſt die Malerei und Bildhauerei betrifft,
ſo ſteht Frankreich auch hier hinter Deutſchland in ſeiner Verwaltung
zurück, obwohl es auch einige Écoles des beaux arts in mehreren
Provinzialſtädten geben ſoll, von denen jedoch wenig bekannt iſt. Iſt
Paris doch der Hauptſitz der Malerei und ihrer Fachbildung mit ſeinen
zwei Elementen, der École des beaux arts und der Académie des
beaux arts. Nur jene iſt eine Kunſtſchule, dieſe eine Kunſtanſtalt,
[319] jene repräſentirt die Lehre, dieſe die Intelligenz und das Prüfungs-
weſen, ſo weit es ein ſolches durch Preisverleihungen geben kann. Die
alte Académie de peinture et sculpture von 1848 und die Académie
d’architecture haben die Bahn für dieß öffentliche Kunſtbildungsweſen
gebrochen; die gegenwärtige École des beaux arts empfing ihre Organi-
ſation durch das Reglement vom 22. Juli und 4. Auguſt 1822 mit
öffentlichem und freiem Unterricht; durch Decret vom 14. Februar 1853
dem Miniſter des Innern entzogen und dem Miniſter des K. Hauſes
untergeordnet; zwei Sektionen (für Maler und Bildhauer in der Archi-
tektur).
Das Conservatoire de musique et de déclamation iſt
vielleicht das einzige Inſtitut für muſikaliſche Bildung in Frankreich und
beſteht bereits ſeit 1784; der Unterricht in der Declamation ſeit 1786.
Das Ganze hat acht Sektionen mit bedeutendem Lehrperſonal (neue
Organiſation vom Jahre 1836).
Das Kunſtbildungsweſen Frankreichs iſt wenig bekannt. Ueber die
École des beaux arts ſagt Kugler (Kleine Schriften Bd. III. S. 436):
„Es ſcheint mir, daß das ganze Unterrichtsweſen an der École des
beaux arts, dem Namen zum Trotz, nicht gar viel mehr als eine For-
malität — ſei.“ Ueber die Errichtung des Conservatoire de musique
ſind von Tranchant bei Block genauere Angaben; die Académie
de France in Rom (ſ. Kugler a. a. O. S. 442; daſelbſt auch
einſchlagende Bemerkungen über das ganze Bildungsweſen der Künſte
in Frankreich, namentlich über die Ausſtellungen ebend. S. 443—449). —
Ueber Belgien gibt derſelbe einige Nachrichten ebend. S. 454 f.
Englands Berufsbildungsweſen.
Während noch vor zwei Jahrzehnten das Bildungsweſen Englands
im Allgemeinen und ſpeciell ſein Berufsbildungsweſen ſo gut als gänz-
lich unbekannt war, haben die neueren höchſt gründlichen Arbeiten von
Huber, Wieſe, Gugler und Schöll, indem ſie den Gegenſtand
erſchöpfend darſtellten, zugleich die Thatſache feſtgeſtellt, daß es für das
Berufsbildungsweſen Englands faſt unmöglich iſt, eine ſyſtematiſche Ueber-
ſchau zu gewinnen. „Für das gelehrte“ (und wir fügen hinzu, auch
für das wirthſchaftliche) „Schulweſen gibt es keine Regierungsinſpection.
Jede Schule iſt unabhängig, ein Ganzes für ſich“ (Schöll). Je weiter
[320] wir in der Kenntniß dieſer Zuſtände kommen, um ſo mehr beſtätigt ſich
dieſe Anſicht. Eine unmittelbare Vergleichung mit dem Continent iſt
daher nicht möglich, ſo wenig als eine ſpecielle Darſtellung aller ein-
zelnen Schulen und ihrer Zuſtände von wirklichem Intereſſe ſein könnte.
Ein Ergebniß für jede vergleichende Darſtellung iſt daher nur in dem
allgemeinen Geſichtspunkt zu finden, von welchem aus gerade dieß Schul-
ſyſtem verſtanden und in ſein richtiges Verhältniß zu dem continentalen
gebracht werden muß. Denn in der That iſt das engliſche Berufs-
bildungsweſen, trotz ſeiner völligen Syſtem- und Verwaltungsloſigkeit
und der Unthunlichkeit, die von uns aufgeſtellten Kategorien unmittel-
bar auf daſſelbe in ſeinen einzelnen Erſcheinungen anzuwenden, dennoch
nur eine andere, eigenthümliche Geſtaltung derſelben Elemente, welche
das Bildungsweſen im Allgemeinen und das Berufsbildungsweſen im
Beſondern beherrſchen. Nur muß man freilich hier mit jenen Be-
griffen und Verhältniſſen rechnen, welche man auf die Organiſirung
des Unterrichts anzuwenden nicht gewohnt iſt, dem Unterſchied zwiſchen
Geſellſchaft und Staat und ihren Forderungen und Einflüſſen auf das
Bildungsweſen.
England iſt nämlich bekanntlich dasjenige Land in Europa, wo
das, was wir als die (perſönliche) Staatsverwaltung bezeichnet haben,
am wenigſten zur Entwicklung gediehen iſt. Den Ausdruck dieſes allge-
meinen Satzes bildet der zweite, daß der Amtsorganismus in England am
wenigſten entwickelt iſt, und daß die Begriffe von Obrigkeit und öffent-
lichem Beruf ſo gut als gänzlich fehlen. An der Stelle derſelben ſteht
die Selbſtverwaltung, das selfgovernment, welche die Grundform der
geſammten inneren Verwaltung bildet (vergl. die vollziehende Gewalt
unter Selbſtverwaltung).
Alle Selbſtverwaltung aber beruht ihrerſeits auf dem Unterſchiede
und der Geſtalt der geſellſchaftlichen Ordnung der Menſchen. Sie iſt
im Grunde der Ausdruck der ſich innerhalb ihrer Ordnungen ſelbſt
verwaltenden Geſellſchaft. Wir dürfen dieſen Satz hier als geltenden
annehmen. Wenn nun daher die, ihrem Weſen nach die Gleichheit
und Einheit der Staatsangehörigen vertretende amtliche Staatsorgani-
ſation nicht zur Entwicklung gedeiht, dann wird die ganze Organi-
ſation und Geſtaltung der öffentlichen Thätigkeiten auf der ſocialen
Ordnung beruhen und ihre Beſonderheiten, ſo wie ihr Recht vom Stand-
punkt der geſellſchaftlichen Ordnungen aus verſtanden werden müſſen.
Das gilt von allen Zweigen der Verwaltung, und ſo natürlich auch
vom Bildungsweſen.
England nun iſt dasjenige Land, wo dieß der Fall iſt. Seine
geſellſchaftlichen Ordnungen und Entwicklungen ſind kaum andere, als
[321] die des Continents; aber ſeine Staatsgewalt iſt eine weſentlich ver-
ſchiedene. Sie iſt im Allgemeinen und ſpeciell im Bildungsweſen den
geſellſchaftlichen Gewalten und Intereſſen allenthalben untergeordnet.
Im Volkssſchulweſen nun haben wir gezeigt, wie die erſtere neben der
letzteren allmählig Raum gewinnt und ein Schulweſen der Verwaltung
neben dem des Volkes aufſtellt. Aber in dem ganzen Gebiete des
Berufsbildungsweſens iſt das nicht der Fall. Der Charakter des
engliſchen Berufsbildungsweſens beſteht darin, daß es noch gar keine
ſtaatliche Berufsbildung, weder in Vor-, noch in Fachbildung enthält,
ſondern daß das ganze engliſche Berufsbildungsweſen ein
rein geſellſchaftliches iſt.
England iſt daher dasjenige Land, für welches wir dieß Weſen
eben der geſellſchaftlichen Bildung gegenüber der ſtaatlichen erkennen
und pädagogiſch den Werth beider beurtheilen lernen müſſen. Dieß
geſellſchaftliche Berufsbildungsweſen, der Form nach auf rein geſell-
ſchaftlichen Anſtalten beruhend, geht nun in eine von der ſtaatlichen
— auf dem Continent herrſchenden — verſchiedenen Grundrichtung nicht
mehr auf den Erwerb gewiſſer, öffentlich als nothwendig für den Beruf
erkannter Kenntniſſe und Fähigkeiten, ſondern vielmehr auf die Ent-
wicklung des Elementes der geſellſchaftlichen Geltung der Individuen,
deren Charakter. Die geſellſchaftliche Berufsbildung erzeugt ihre Bildungs-
anſtalten nicht vermöge einer ſtaatlich feſtgeſetzten, auf dem rationellen,
pädagogiſchen Entwicklungsgange der Lehre berechneten Organiſation,
ſondern vielmehr auf der Grundlage und nach dem Bedürfniß ihrer
großen geſellſchaftlichen Elemente und Bewegungen und richtet ihre Lehre
nicht nach den Anforderungen einer beſtimmten Prüfung, ſondern nach
denen des geſellſchaftlichen Lebens. Sie hat daher kein Syſtem der
Vor- und Fachbildung nach den Gegenſtänden, keine geſetzliche Lehr-
und Studienordnung, keine obligaten Bildungsfächer, wie es die ſtaat-
liche Verwaltung vorſchreibt; denn da die letztere die Bildungsanſtalten
nicht ſelbſt herſtellt, ſo hat ſie auch kein Recht zu befehlen, wie ſie ein-
gerichtet ſein ſollen. Sie hat keine formell vorgeſchriebene Gleichartig-
keit der Lehranſtalten, denn jede Lehranſtalt iſt entweder eine hiſtoriſch
gebildete Corporation mit eigenem Recht oder ein ganz freies Unter-
nehmen. Sie hat keine Abgangs- und Uebergangsprüfungen mit öffent-
lichen Commiſſionen und Zeugniſſen, ſondern jede Bildungsanſtalt richtet
es ein wie ſie will. Und das ganze Berufsbildungsweſen würde daher
in lauter einzelne, zerfahrene, ganz willkürlich und zufällig geſtaltete
Anſtalten zerfallen, wenn die geſellſchaftliche Ordnung nicht fähig wäre,
bis zu einem gewiſſen Grade das formelle Syſtem und die innere Ord-
nung für dieſes Bildungsgebiet ſich ſelbſt zu erzeugen. Englands
Stein, die Verwaltungslehre. V. 21
[322] Berufsbildungsweſen hat daher gleichſam die Aufgabe und den Werth
für Europa, zu zeigen, ob und in wie weit die geſellſchaftliche Ord-
nung ohne Zuthun des Staats eine Berufsbildung hervor-
rufen kann; oder anders ausgedrückt, wie weit die Fähigkeit der
vollkommenen Freiheit in Lehre und Lernen es vermag, die
geſetzliche Ordnung der letzteren zu erſetzen.
Das iſt wohl der Geſichtspunkt, von dem aus Englands
Berufsbildungsweſen betrachtet werden muß; und es darf nicht vergeſſen
werden, daß derſelbe gerade im obigen Sinn ein hochwichtiger und
ſehr berechtigter iſt. Denn bei aller Vortrefflichkeit namentlich des
deutſchen Bildungsweſens, ſeiner Form wie ſeinem Inhalt nach, läßt
es ſich doch nicht läugnen, daß es vorzugsweiſe auf amtlichen An-
ordnungen beruht, und daß die freie Selbſtbeſtimmung des Einzelnen
nur noch höchſtens in der Wahl der Richtung ſeiner Bildung, nicht
aber in der Wahl des Inhalts derſelben entſcheidend einwirkt. Es
läßt ſich ferner nicht läugnen, daß Stoff und Ordnung des zu Lernenden
in Deutſchland ſo vortrefflich und ſo reichhaltig geordnet und geboten
werden, daß die Kenntniſſe, welche der junge Mann zu erwerben ge-
zwungen wird, ihm die freie Selbſtthätigkeit des eigenen Denkens, das
lebendige und ſtarke Gefühl der geiſtigen, eigenen Verantwortlichkeit faſt
erſetzen können. Unſer Berufsbildungsweſen macht den Charakter
durch die Kenntniſſe überflüſſig. Und die weitere Folge davon,
das Gefühl, daß dem wirklich ſo iſt, äußert ſich naturgemäß darin,
daß man beſtändig dahin trachtet, das Maß und die gute Ordnung
dieſer Kenntniſſe noch zu vermehren, ſo daß in der That der
Fortſchritt in der Bildung die ſtarke Entwicklung des Charakters immer
mehr überflüſſig erſcheinen, die Kraft des ſelbſtthätigen Denkens neben
der des wohlorganiſirten Gedächtniſſes und der prompten Faſſungsgabe
für Fremdes immer mehr in den Hintergrund treten läßt. Zwar hat
Deutſchland in neueſter Zeit das Gegengewicht gegen dieſe Richtung in
der Idee der Lehr- und Lernfreiheit gefunden; aber ſie iſt weder zum
vollen Durchbruche gekommen, noch iſt man ſich recht einig über das
Weſen derſelben. Sie iſt in der That nur das Erſcheinen des engliſchen
Princips in der deutſchen Berufsbildung, und die Frage der Zukunft
wird die ſein, wie weit ſeine Geltung für Deutſchland gehen ſoll.
Zur Beantwortung dieſer ſo hochwichtigen Frage für die ganze
Zukunft des geiſtigen Lebens in Deutſchland genügt es nun nicht, von
der größeren wiſſenſchaftlichen Bildung in Deutſchland überhaupt zu
reden; denn es iſt die Frage, ob ſie, wenn auch in gewiſſen Gebieten
vorhanden, durchſchnittlich wirklich eine größere iſt. Man muß vielmehr
dafür einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.
[323]
In der That nämlich kann die völlige Freiheit in der Berufs-
bildung, wie ſie England charakteriſirt, nur unter einer Bedingung als
ein, ſeine eigene Correction in ſich ſelbſt tragendes Princip anerkannt
werden. Das iſt die volle Oeffentlichkeit des geſammten geiſtigen
Lebens, welches in ſeiner Preſſe und ſeinen Vereinen das Mittel hat,
jeden ernſtlichen Mangel der Bildung aufzudecken und zu rügen, und
welche durch den Einfluß der öffentlichen Meinung den Einzelnen zwingt,
das zu leiſten, wozu ihn in Deutſchland das formale Bildungsſyſtem
nöthigt. Es iſt ferner die volle Freiheit und Thätigkeit der Volksver-
tretung und der Selbſtverwaltung, in welcher alle Gebildeten
ſich und das, was ſie gelernt haben und wiſſen, zur öffentlichen Geltung
bringen. Hier wird die Unfähigkeit und die Unkenntniß von ſelbſt be-
ſtraft und die gewonnene Bildung findet ihren Lohn und ihre Aner-
kennung ohne alles Zuthun einer Prüfung und eines Zeugniſſes. In
dem gewaltigen Ringen der beſten geiſtigen Kräfte, welche uns dieſe
großartigen Inſtitutionen darbieten, tritt jeder Gebildete dem anderen
perſönlich gegenüber und findet das Maß ſeiner Bildung nicht mehr
an einem geſetzlich vorgeſchriebenen Minimum, ſondern an dem Maße
der ſelbſtverarbeiteten Bildung der Anderen, und für die Wahrheit und
Zulänglichkeit deſſen, was er gelernt, muß er ſelbſt eintreten und nicht
mehr das Urtheil einer Prüfungscommiſſion. Daher iſt trotz alles
Mangels des öffentlichen Bildungsweſens Englands der Erfolg deſſelben
ein ſo großer, daß die engliſche Literatur in allen Gebieten des Wiſſens
der deutſchen vollkommen ebenbürtig iſt, während die Gelehrten Männer
und nicht bloß Profeſſoren ſein müſſen. Daher kommt die geiſtige
Kraft dieſes hochbegabten Volkes; und da liegt der Punkt, auf welchem
die Beziehung auf Deutſchlands Bildungsweſen faſt von ſelbſt gegeben
iſt. Die große formale Strenge unſerer Bildung für alle Berufe iſt
weſentlich ein Ergebniß unſeres bisherigen Mangels an Oeffent-
lichkeit, an Volksvertretung und Selbſtverwaltung. Unſer
Syſtem hat uns die lebendige Einwirkung dieſer gewaltigen Faktoren
erſetzen ſollen, aber natürlich nur halb erſetzt; und es iſt kein Zweifel,
daß, wenn bei uns jene drei Potenzen zu vollſtändiger Entwicklung
gediehen ſein werden, wir alsdann, die größere und gleichmäßigere
Maſſe unſeres Stoffes durch ſie geiſtig und freiheitlich belebend, auch
in dieſer Beziehung den erſten Rang in Europa behalten werden.
Denn andererſeits iſt es kein Zweifel, daß bei dem grundſätzlichen
und allgemeinen Zurückwerfen des Berufsbildungsweſens auf das, was
die geſellſchaftlichen Kräfte leiſten und bei der völligen Gleichgültig-
keit des Staats gegen Inhalt, Form und Ergebniß deſſelben große
Mängel und praktiſche Uebelſtände entſtehen. Die Freiheit kann viel,
[324] aber nicht alles. Sie leiſtet das Gewaltige; aber gerade im Berufs-
weſen kommt ſie den Völkern ſehr theuer zu ſtehen. Nicht darin
liegt der Mangel der deutſchen Bildung, daß ſie iſt wie ſie iſt, ſondern
darin, daß Offentlichkeit, Selbſtverwaltung und Volksver-
tretung neben derſelben noch nicht ſo weit fortgeſchritten
ſind, als in England. Wenn dieß der Fall ſein wird, werden wir
neben dem Guten das Beſte haben, neben dem unerſchöpflichen Stoffe
und der Gleichheit in der Berufung aller zu ſeiner Benützung die
geſunde Kraft, ihn zu verarbeiten und zu beleben. Nicht daß der Staat
ſich ſo ernſtlich des Bildungsweſens annimmt, iſt das Bedenkliche,
ſondern daß er ſich noch zu ſehr zum Vormund macht, und noch zu
wenig Anlaß bietet, das öffentliche Leben über das entſcheiden zu laſſen,
was zuletzt denn doch nicht für die Gelehrſamkeit, ſondern für das Volks-
leben ſelbſt gelernt wird. Wir glauben daher, daß die Vergleichung
mit England das deutſche Berufsbildungsweſen nicht reformiren, ſondern
daß ſie nur auf das einzige Element hinweiſen ſoll, das demſelben noch
fehlt und ohne welches das erſtere nun einmal ſchlechterdings nicht ver-
ſtanden werden kann.
In der That nämlich ergeben ſich nun, wenn man Geſtalt und
Inhalt des engliſchen Berufsbildungsweſens auf die geſellſchaftlichen
Elemente des engliſchen Volkes zurückführt, folgende Grundzüge deſſelben.
England iſt dasjenige Land, in welchem die beiden großen Grund-
formen der geſellſchaftlichen Ordnung, die ſtändiſche und die ſtaats-
bürgerliche, neben einander ſtehen, zwar nicht ohne Vermittlung, aber
ihrem Kerne nach noch vollkommen ſelbſtändig. Die letztere iſt mit
ihrem großen Princip der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit niemals
untergegangen; aber es läßt ſich nicht verkennen, daß die Elemente
der erſtern bis zu unſerm Jahrhundert die herrſchenden geweſen ſind,
und daß erſt in unſerm Jahrhundert die letztere die Kraft gewonnen
hat, über die Gränzen der Städte und des gewerblichen Lebens hinaus
zu gehen, und das ganze Volk zu durchdringen. Und da nun jede
geſellſchaftliche Ordnung ihr eigenthümliches Berufsbildungsweſen er-
zeugt, ſo ſehen wir in England, wo die Staatsgewalt nicht wie auf
dem Continent dieſe Unterſchiede mit einem großen, allgemein ſtaat-
lichen Berufsbildungsweſen überdeckt, bis zum Ende des vorigen Jahr-
hunderts nur Ein Berufsbildungsweſen, das der herrſchenden Klaſſe,
in den Colleges und der University gelten, dem jede ſpecielle Fach-
bildung, jedes öffentlich rechtliche Prüfungsweſen, jede Forderung eines
[325] beſtandenen Examens als Bedingung der Anſtellung oder der Aus-
übung eines öffentlichen Berufes fremd iſt, während erſt mit unſerm
Jahrhundert neben dieß ſtändiſche Berufsbildungsweſen ſich allmählig
ein zweites hinſtellt, das ſtaatsbürgerliche, das ſeinerſeits ſich auf die
Natur der Sache angewieſen fühlt, und nicht auf ſtändiſche Traditionen.
Dieß Berufsbildungsweſen entwickelt daher die zwei großen Momente,
welche daſſelbe von der alten ſtändiſchen Form ſcheiden. Zuerſt trennt
es das Vorbildungsweſen von der Fachbildung, wenn gleich in höchſt
unvollkommener Form; dann entwickelt es neben und in der Vorbil-
dung den Unterſchied der wirthſchaftlichen Bildung von der wiſſen-
ſchaftlichen, wenn auch ohne rechtes Syſtem. Das Auftreten der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft hat daher zur Folge, daß die großen Grundzüge
der deutſchen Berufsbildung durch die Bedürfniſſe und Kräfte der Ge-
ſellſchaft ſich von ſelbſt erzeugen. Allein der Mangel des ſtaat-
lichen Einfluſſes zeigt ſich hier in zwei Dingen. Zuerſt fehlt dieſer
Bildung das Syſtem, die Einheit und die Gleichmäßigkeit in allen
ſeinen Theilen, und die Bildungsanſtalten ſelbſt, jedem Einfluß und
jeder Unterſtützung des Staats entzogen, erſcheinen mit allen Zu-
fälligkeiten privater Unternehmungen. Dann ſind die Fachbildungs-
anſtalten ſo gut als gar nicht vorhanden, und hier zeigt ſich die
wichtige Thatſache, daß dieſelben entweder gar nicht, oder nur ſehr
ſchwer auf der freien Thätigkeit der Geſellſchaft baſirt werden können.
Endlich aber ergibt ſich, daß ſo lange die rein ſtändiſchen Fachbildungs-
anſtalten neben den ſtaatsbürgerlichen beſtehen, beide nicht zum
rechten Gedeihen gelangen können, da natürlich die erſteren ihre un-
organiſche Methode und ihre Prüfungsloſigkeit auf die letzteren über-
tragen. Hier liegt der eigentliche organiſche Mangel des engliſchen
Berufsbildungsweſens, der jede unmittelbare Vergleichung mit dem
deutſchen ſo ſchwer thunlich macht. England hat zwar Univerſitäten,
aber keine Univerſitätsbildung, wie Frankreich zwar Facultäten aber
keine Univerſität hat. Und die große und eigentliche Frage, welche
man an das engliſche Berufsbildungsweſen zu ſtellen hat iſt die, ob
daſſelbe überhaupt [ohne] die eigentliche Univerſitätsbildung auf die
Dauer wird beſtehen können. Wir müſſen dieſe Frage verneinen. Wir
ſind vielmehr der vollkommenen Ueberzeugung, daß England, einmal auf
der Bahn der ſtaatsbürgerlichen Entwicklung ſeines Bildungsweſens
begriffen, die Aufgabe hat, das ſyſtematiſche deutſche Element bei ſich
zu verarbeiten, wie andererſeits Deutſchland das England eigenthüm-
liche der Charakterentwicklung mit ſeinem zu ſtrengen Syſtem zu ver-
ſchmelzen haben wird.
Nach dieſen Vorausſetzungen wird es nun wohl klar ſein, weß-
[326] halb es nicht möglich iſt, auf das engliſche Berufsbildungsweſen die
oben aufgeſtellten allgemeinen Kategorien einfach anzuwenden. Denn
nach der ganzen Grundlage des engliſchen Bildungsweſens und bei der
völligen Abweſenheit jedes Regierungseinfluſſes muß davon ausgegangen
werden, daß jede Bildungsanſtalt ihr eigenes Syſtem und Recht hat;
daß ſelbſt die Statiſtik derſelben ſehr mangelhaft iſt, und daß endlich
von einer geſetzlichen Ordnung gar keine Rede iſt. Es bleibt daher
nichts übrig, als dieſes Berufsbildungsweſen auf ſeine beiden Grund-
lagen, die ſtändiſche und die ſtaatsbürgerliche zurückzuführen. Es muß
dann dem ſpeciellen Studium dieſes Gebietes der engliſchen Zuſtände
überlaſſen bleiben, die Einzelheiten in dieſen mehr hiſtoriſchen als
ſyſtematiſchen Rahmen hinein zu ſtellen; die Geſchichte Englands und
ſeines Geiſtes aber muß endlich zeigen, wie allmählig das ſtaatsbürger-
liche Princip auch hier ſich entwickelt und zum Siege gelangt. Die
Elemente einer ſolchen Darſtellung aber ſind die folgenden.
Wir entbehren bisher einer, das geſammte engliche Berufsbildungs-
weſen umfaſſenden Darſtellung. Huber hat nur die Geſchichte der
Univerſitäten noch dazu ohne die ſogenannte Londoner University auf-
zunehmen. Gneiſt hat nur die Organiſation der Lehrordnung an den
Univerſitäten; Wieſe hat den Geiſt derſelben, aber dabei das ganze
Gebiet der Grammar Schools weggelaſſen; Schöll hat wieder das
ganze wiſſenſchaftliche Vorbildungsweſen, aber die gewerbliche Vorbil-
dung weggelaſſen, während Gugler wieder das letztere am beſten dar-
ſtellt, und Wagner ganz bei der Volksſchule ſtehen bleibt. Das Fol-
gende hat daher die vorliegenden Reſultate weſentlich zuſammen zu
faſſen, bis eine erſchöpfende Arbeit auf dem jetzt viel beſprochenen Ge-
biete uns das Ganze in ſeiner höhern Einheit vollſtändig beherrſchen
lehrt. Doch hat Schöll den großen Vorzug, vor allen andern die
Unmöglichkeit einer einfachen, ſyſtematiſchen Darſtellung am deut-
lichſten erkannt und ausgeſprochen zu haben, eben weil er das Ganze
am beſten überblickt hat (bei SchmidII, S. 129).
(Das ſtändiſche Vor- und Fachbildungsweſen der wiſſenſchaftlichen Bildung.)
Bei der Beurtheilung der wiſſenſchaftlichen Vor- und Fachbildung
muß man vor allen Dingen davon ausgehen, daß die Universities
ſelbſt niemals Fachſchulen im deutſchen Sinne des Wortes ſind. Sie
haben weder Fakultäten, wie in Deutſchland, noch ſind ſie Fakultäten,
[327] wie in Frankreich. Da nämlich die Regierung kein Amt brauchte, wie
auf dem Continent, noch auch Finanzregalien beſaß, ſo kam ſie nie
in Gelegenheit, eine Fachprüfung ihrerſeits von den Staatsdienern
fordern zu müſſen; und da andererſeits alle höhern Staatsämter durch
hervorragende Leiſtungen im Parlamente gewonnen wurden, ſo for-
derte auch der gebildete Stand eine ſolche Fachbildung und ihr Syſtem
nicht. Das entſcheidende Gewicht, das die oratoriſchen Talente und
die denſelben zum Grunde liegende allgemeine Bildung im öffentlichen
Leben beſaßen, ließ vielmehr die allgemeine Forderung ſich auf das-
jenige beſchränken, was den Parlamentsredner im Allgemeinen, den
öffentlichen Redner im Beſondern ausmachte. Und nach dem ganzen
Gang der mittelalterlichen Bildung war es kein Zweifel, daß dafür
die claſſiſchen Studien die wahre Grundlage bilden. In der That kam
es bei der Theologie weſentlich auf die Vertretung beſtimmter Con-
feſſionen, bei der Jurisprudenz auf Gewandtheit in öffentlichen Ver-
handlungen, bei der Medicin auf das Vertrauen des Publikums, bei
der Philologie auf das Bedürfniß deſſelben an. Das große Princip
der Patronage bei der Beſetzung von Staatsämtern und das nicht
minder wichtige der freien Wahl bei den Aemtern der Selbſtverwaltung,
verbunden mit der Stellung der herrſchenden grundbeſitzenden Klaſſe,
der Gentry, ließen den Gedanken gar nicht aufkommen, daß eine
Fachbildung eine ausgezeichnete Berechtigung auf irgend eine Anſtellung
gebe; der Mangel einer thätigen Verwaltung des Innern erzeugte
kein Bedürfniß der Regierung nach andern als parlamentariſchen Ca-
pacitäten; und ſo kam es, daß England niemals eine wiſſenſchaft-
liche Fachbildung, oder das derſelben entſprechende Syſtem der
Facultäten und der öffentlichen oder Staatsdienſtprüfungen bei ſich
ausgebildet hat. Seine ganze wiſſenſchaftliche Bildung beſchränkte ſich
auf die claſſiſche als Grundlage der öffentlichen Laufbahn, und zwar
auf eine ſolche, die ſelbſt nicht wieder als philologiſche Fachbildung,
ſondern rein als allgemein humaniſtiſche den Mann des öffent-
lichen Lebens, den public character, ausmachte. Und da nun end-
lich nur Geburt und Vermögen bis zu unſerem Jahrhundert dem Ein-
zelnen eine ſolche parlamentariſche Laufbahn möglich machten, ſo ent-
ſtand der Englands wiſſenſchaftliche Bildung charakteriſirende Satz,
daß dieſe humaniſtiſche Bildung ſpecifiſch der höhern, herrſchenden Klaſſe,
der Gentry, angehöre, und daß daher die weſentliche Aufgabe derſelben
ſei, den Studirenden zugleich zu einem Mitgliede derſelben zu erziehen.
Das waren, und das ſind noch gegenwärtig die beiden herrſchenden
Elemente der wiſſenſchaftlichen Bildung in England, welche in dem Syſtem
der Colleges und der beiden Universities ihren Ausdruck finden.
[328]
Beide nun, hervorgegangen aus der ſtändiſchen Epoche, haben
nun gemeinſchaftlich wirkend die einzelnen Elemente dieſes Syſtems
erzeugt und bis auf die neueſte Zeit erhalten. Sie ſind es auch, welche
daſſelbe auf das beſtimmteſte von der zweiten großen Bildungsform in
England ſcheiden.
Zuerſt haben dieſe beiden Elemente die Colleges wie die
Universities als Alumnate erhalten, woran der geiſtliche Urſprung
und Inhalt derſelben den größten Antheil hatte. Dieſe Alumnate unter-
ſcheiden ſich aber von den franzöſiſchen Penſionats weſentlich dadurch,
daß ſie nicht etwa wie die letzteren Staatsinſtitute mit amtlicher Leitung
ſind, ſondern als Selbſtverwaltungskörper daſtehen, welche ſich
ihre eigenen Häupter und Organe wählen. Dieſe innere Freiheit wiegt
ſchon hier die äußere Beſchränkung derſelben auf. Zugleich aber tragen
alle dieſe Körper, die Colleges wie die Universities, den Charakter
von ſocialen Stiftungen durchgehends an ſich, indem eine Menge
von Freiſtellen bei denſelben auch den Nichtbemittelten die wiſſenſchaft-
liche Laufbahn möglich machen, und wiederum werden dieſe Freiſtellen
nicht wie die franzöſiſchen bourses von der Regierung, ſondern nach
den Vorſchriften der Stiftungsurkunden vergeben. Nicht einmal die
ſtiftungsmäßigen Oberbehörden miſchen ſich in die innere Verwaltung
der Schulen. So ſtanden dieſe Körperſchaften, den geiſtlichen ähnlich,
in der ſtändiſchen Welt abgeſchloſſen da. Erſt allmählig ward der Grund-
ſatz geltend, daß auch Externe (Oppidani) zum Unterricht zugelaſſen
werden dürfen; und jetzt bilden dieſe wenigſtens in den Colleges den
größten Theil der Schüler, ohne dennoch den ſtändiſchen und ſtiftungs-
mäßigen Charakter der Körperſchaften ſelber zu ändern. Eine ſpeciellere
Darſtellung dieſer Verhältniſſe jedoch kann nur durch die Statuten jeder
Körperſchaft gegeben werden. Es iſt hier wenig anders gleich als das
Princip. Und auch dieß wird erſt ganz verſtändlich in ſeiner Verbin-
dung mit dem Folgenden.
Zweitens hat ſich auf derſelben Grundlage auch der Bildungs-
gang und das Lehrweſen beſtimmt. Vor allem ſind dieſe Körperſchaften
grundſätzlich von jeder wirthſchaftlichen Vorbildung entfernt und be-
ſchränken ſich ſtrenge auf die claſſiſche Bildung. Den Lehrgang ſelbſt,
ſpeciell in den Colleges, hat Schöll erſchöpfend mitgetheilt. Ferner
ergibt ſich, da keine ſtaatliche Prüfung und keine Verwendung des Ge-
lernten in einem Amte ſtattfindet, daß der Unterſchied zwiſchen Colleges
und Universities zwar der Idee nach der einer Vorbildungs- und Fach-
bildungsanſtalt iſt, daß aber dieſer Unterſchied gar nicht zur wirklichen
Geltung kommt, ſondern die University, auf welche die Studenten be-
reits mit dem vierzehnten Jahre aufgenommen werden können, ſelbſt
[329] Vor- und Fachbildung oder lieber Ausbildung in ſich vereinen. Nur
die Colleges haben allerdings den Charakter von — zum Theil ſehr
tüchtigen — Gymnaſien, bei denen jedoch mit Ausnahme der Mathe-
matik gar nichts als claſſiſche Philologie getrieben wird. Dabei ſind
die Prüfungen für dieſe Fächer ſehr ſtrenge; das Abgangszeugniß
iſt das Baccalaureat. Natürlich geht, ganz im Charakter dieſes
Bildungsweſens, nur ein ſehr kleiner Theil der Schüler der Colleges zur
University über. Die letztere beſteht nun ſelber, wenn auch nicht formell,
ſo doch der Sache nach aus zwei Theilen, den Vorbildungsſtadien und
den eigentlichen Studenten. Jene aber fordern, da für ſie kein eigent-
licher ſelbſtändiger Unterricht vorhanden iſt, daß die jungen Studenten
ſtatt der Gymnaſiallehrer einen Hofmeiſter, tutor, haben, der ihnen
die College-Bildung beibringt und ſie zum baccalaureus vorbereitet;
„er treibt vor allen Dingen ſeine Privatſtudien theils als Vorbereitung,
theils als Repetition unter der wenigſtens präſumirten Leitung des
Tutors“ (HuberII. 436). Das dauert, trotz der formell ſogleich vor-
genommenen Immatriculation, drei oder vier Jahre. „Mit dem Bacca-
laureat waren nun für die große Mehrzahl die akademiſchen Studien
geſchloſſen“ (HuberII. 440). Erſt ſpäter wird dann eine förmliche
Uebergangsprüfung von dem College in die eigentliche University ein-
geführt, die ſog. previous examination; daneben kommen jährliche Prü-
fungen und Vertheilung von Preiſen u. ſ. w. vor (HuberII. 484 ff.).
Auf der University werden dann allerdings eigentliche Fachvorleſungen
gehalten, Theologie, Jurisprudenz, Medicin, Naturwiſſenſchaft; allein
dieſe Vorleſungen haben nicht den Charakter und die Aufgabe von Fach-
bildungen, ſondern ſind bloß allgemeine Einleitungen in dieſelbe. (Der
Curſus für die drei Hauptfächer umfaßt höchſtens 50 Stunden jährlich.)
Nach Erledigung dieſer Collegien wird eine Art Fachprüfung gehalten
und der Student wird Baccalaureus Artium (etwa dem Licencié ent-
ſprechend). Damit iſt die Fachbildung abgeſchloſſen; die höheren Grade
ſind reine Univerſitätsgrade. Eine weitere Fachbildung findet überall
nicht ſtatt. „Die Inns of court könnte auch im Scherz niemand mehr
als Rechtsſchulen in unſerem Sinne in Anſpruch nehmen.“ — In
einigen großen Hoſpitälern werden zwar Curſe für Praktikanten und
Auskultanten gehalten. „Was die Vorleſungen, welche als Privatſpeku-
lationen von Aerzten, Apothekern, Chemikern und Wundärzten gehalten
werden, in wiſſenſchaftlicher Hinſicht zu bedeuten haben, läßt ſich denken“
(HuberII. 471—472). Eine Verpflichtung zur Bildung für ein Fach, eine
öffentliche Prüfung, exiſtirt nicht. Die Regierung fordert nichts,
aber ſie thut auch nichts. „Aus alledem geht zur Genüge hervor, daß
Alles, was in Oxford und Cambridge in eigentlichen Fachwiſſenſchaften
Stein, die Verwaltungslehre. V. 22
[330] geleiſtet wird, ſo gut wie nichts iſt gegen das, was bei uns auch nur
bei einem leidlichen Fakultätsexamen gefordert wird“ (HuberII. 511).
Und daher iſt es denn auch ſehr erklärlich, weßhalb ſo viele junge Leute
der Gentry gar nicht auf die University gehen, ſondern es einfach bei
einem Beſuch eines College (Eton, Rugby u. ſ. w.) bewenden laſſen, da ſie
im Grunde mehr in dieſen Colleges als auf der University ſelber lernen.
Das ſind die Elemente der wiſſenſchaftlichen Bildungsanſtalten und
ihrer Leiſtungen in England. Es iſt auf den erſten Blick klar, daß
dieſe Anſtalten ganz unfähig ſind, durch die in ihnen gewonnenen Kennt-
niſſe den Mangel eigener Thätigkeit und den eines tüchtigen Cha-
rakters zu erſetzen, wie das bei den deutſchen Anſtalten nur zu ſehr
der Fall iſt. Daher wird eben dieſe Unvollkommenheit gegenüber den
Anforderungen eines großen, auf öffentlicher Thätigkeit beruhenden Lebens
zur Nothwendigkeit eigenen Strebens und individueller Ausbildung.
Ohne die engliſche Verfaſſung wären die engliſchen ſtändiſchen
Colleges und die beiden Universities das geiſtige Verderben, die Treib-
häuſer geiſtiger Beſchränktheit oder geiſtiger Verwilderung. Aber dieſe
Verfaſſung iſt es, die alles wieder gut macht. Sie zwingt den Mann,
der geachtet ſein will, ſich einen ſtarken Charakter zu gewinnen und in
Lebensformen und öffentlichem Auftreten ein „Gentleman“ zu ſein.
Und aus dieſer Quelle entſpringt bei allem Mangel der wiſſenſchaft-
lichen Anſtalten die hohe wiſſenſchaftliche Bildung Englands, die es
unbedingt neben jedes Volk der Erde ſtellt.
Aber freilich hat auch eben dieſer Charakter das ſtändiſche Element
an ſich. Jene Anſtalten ſind denn doch zuletzt ohne Beziehung auf das
große praktiſche Bedürfniß der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft eingerichtet.
Da es keine Regierungsgewalt gab, welche ſie ändern konnte, ſo mußte
neben ihnen eine zweite Gruppe von Anſtalten entſtehen, eine Gruppe,
in welcher das England der heutigen Tage ſich dem Continent und
ſeinen Forderungen und Formen in bedeutendem Grade nähert.
Es iſt von großem Intereſſe, den tiefen Eindruck zu betrachten,
den das Weſen der Univerſitäten und Collegien auf die bedeutenden
deutſchen Männer gemacht hat, welche es genauer ſtudirten. Hubers
Werk iſt, namentlich im II. Band ganz von dieſem Geiſte durchdrungen.
„Die engliſchen Univerſitäten beſcheiden ſich dem nationalen Leben ſeine
höchſte und eigenthümlichſte Blüthe in dem gebildeten Gentleman zu
geben“ (II. S. 457); und Wieſe hat daſſelbe, nur in freierer und
lebendigerer Form wiederholt in ſeinen „Briefen über engliſche Er-
ziehung 1852.“ Selbſt der objektive Schöll (bei Schmid) wird davon
[331] ergriffen. Das iſt ein Beweis, daß die deutſche höhere Pädagogik
ganz dazu angethan iſt, den Geiſt dieſer engliſchen Inſtitute ſich an-
zueignen. Die Verfaſſung der Univerſitäten bei GneiſtI. §. 142.
Warum hat er die Colleges nicht aufgenommen? Das Stat. 25. 26
Vict. 26 hat der Univerſität Oxford das Recht gegeben, für neue
Lehrkanzeln (Professorships) Regulations zu geben, die dann dem
Staatsrath (King in Council) zur Genehmigung vorgelegt werden. Wich-
tig, weil hier ſpeciell die Nationalökonomie, Geologie und Chemie auf-
genommen ſind (Auſtria 1864, S. 373). Die Darſtellung der Colleges
nebſt Studienplan bei Schöll a. a. O., S. 132 ff. Es gibt ihrer
zehn: die beiden älteſten ſind Wincheſter (1387) und Eton (1441),
die gegenwärtig fortgeſchrittenſte iſt wohl Rugby (ſeit 1567). „Was
Eton für den Adel und die höhere Mittelklaſſe, das iſt Christs Ho-
spital (ſeit 1552) für die Mittelklaſſe überhaupt und zum Theil für
die untere Klaſſe“ (ebendaſ. S. 145). Leider hat Schöll die Univerſitäten
nicht berückſichtigt; die Beziehung auf die Verfaſſung fehlt auch ihm,
wie den meiſten Pädagogen. Da hatten doch die „Conſtitutionellen“
wie Aretin, Zachariä u. A. im Anfange unſeres Jahrhunderts, wenn
auch nicht richtiger, ſo doch weiter geſehen; nur entging ihnen wieder
der Einfluß der Selbſtverwaltung, deren Einwirkung auf das Bildungs-
weſen wieder bei Gneiſt fehlt. Eine engliſche Literatur über das Univer-
ſitätsweſen ſcheint nicht zu exiſtiren (Schöll S. 159).
In der eben dargelegten Weiſe beſtanden nur die alten ſtändiſchen
Grundformen der höheren Bildung fort, und beſtehen ſie noch gegen-
wärtig; und da der Staat keine Prüfungen braucht und keine Unter-
ſtützung gibt, ſo iſt auch kein Anlaß, jene Ordnung zu ändern. Allein
daß dieſelbe in unſerer Zeit nicht genügt, iſt wohl klar. Während
allerdings kein neues Syſtem von Seiten einer Schulbehörde kommen
kann, gelangt das Bedürfniß der feineren Geſellſchaft namentlich auf
zwei Punkten zum Ausdruck. Einerſeits nämlich zwang die Entwick-
lung des höheren gewerblichen Lebens die mittlere und niedere Bürger-
ſchaft, auch in England an eine Realbildung ſowohl der beſitzenden
als der nichtbeſitzenden Gewerbsklaſſen zu denken, und andererſeits
konnten jene wenigen hiſtoriſchen Schulen denn doch auch entfernt nicht
dem Bedürfniß der wiſſenſchaftlichen Schulen entſprechen. Da nun das
Volk von ſeiner Regierung nichts fordern wollte und nichts zu erwarten
hatte, ſo ſchuf es ſich ſelbſt neben jenen ſtändiſchen Bildungsanſtalten
ein eigenes, den Bedürfniſſen der Zeit entſprechendes Bildungsſyſtem,
[332] das wir ſomit das bürgerliche nennen. Die Grundlagen dieſes Syſtems
ſind wie faſt allenthalben in England, die Vereine und die Privat-
unternehmung. Die Unterſtützung des Staats, damit aber auch ſeine
Oberaufſicht, ſind grundſätzlich ausgeſchloſſen. Forderungen mit Leiſtun-
gen an jenes Bildungsſyſtem gehen daher rein aus den Anforderungen
des geſellſchaftlichen Lebens hervor; und das, was auf dieſe Weiſe hier
entſtanden iſt, iſt daher um ſo intereſſanter, als es uns zeigt, was
auch ohne Zuthun einer rationellen amtlichen Schulverwaltung die
freie Geſellſchaft zu ſchaffen vermag.
Die beiden charakteriſtiſchen Elemente dieſes Schulſyſtems ſind nun
einerſeits die Verbindung der wirthſchaftlichen Vorbildung mit der
wiſſenſchaftlichen und das Auftreten des Gewerbeſchulweſens, worin
das freie engliſche Bildungsweſen ſich dem kontinentalen faſt gleichſtellt,
und der gänzliche Mangel der wirthſchaftlichen Fachſchulen, ſo wie der
eines öffentlichen Prüfungsſyſtems, wodurch es ſich von dem letzteren
unterſcheidet. Eine genaue Kenntniß deſſen, was hier geſchieht,
fehlt, weil die Regierung nichts mit dem Ganzen zu thun hat, und
die Statiſtik eine ſehr unvollſtändige iſt. Daher iſt es auch ganz unthunlich,
zu beſtimmen, wie weit die allgemeinen Sätze im Einzelnen zutreffen.
Jede Schule iſt ein Unternehmen für ſich und beſtimmt ihren eigenen
Lehrgang. Von einer öffentlichen Lehrerbildung iſt keine Rede, keine
Rede von einer geſetzlichen Gymnaſialordnung, oder von irgend einer
Verpflichtung der Gemeinden, oder von einer gemeinſchaftlichen Leitung.
Wir ſtehen auf einem Gebiete, wo rein die Natur der Sache wirkt;
und um ſo intereſſanter wäre es zu ſehen, was ſie für und durch ſich
ſelber zu regieren vermag.
Wir können nun dieß Bildungsweſen in drei große Gruppen eintheilen.
Die erſte iſt die freie Form der ſtändiſchen Colleges, die durch
Vereine gegründet und nach dem Muſter der letzteren eingerichtet ſind.
Sie ſind daher eigentliche Gymnaſien und die großen Rivalen der alten
Colleges; daß ſie mit ihnen den gleichen Namen führen, beruht auf
dem gleichen Bildungsſyſtem. In der That werden Eintheilung und
Thätigkeit beider Arten immer gleichförmiger, und es iſt kein Zweifel,
daß ſich hier ein vollſtändiges Gymnaſialſyſtem ganz in der Weiſe
herausbildet, wie es in Deutſchland beſteht. Dieſe neueren Colleges
theilen ſich in zwei Gruppen, die Kings Colleges, die von der high
church gegründet ſind, und die University Colleges, die von den
Diſſenters ausgehen, indem ſie das kirchliche Element bei Seite laſſen.
Der Angabe nach ſollen mehrere dieſer Colleges auch in ähnlicher
Weiſe wie unſere Realgymnaſien organiſirt ſein. Doch ſelbſt Schöll
hat nichts Näheres darüber.
[333]
Die zweite Gruppe beſteht aus den Privatſchulen unter den ver-
ſchiedenſten Namen (Public day schools, Collegiate schools, Grammar
schools, Academies), die ſie je nach Ermeſſen annehmen. Dieſe
Schulen ſind „äußerſt verſchieden, ſowohl von den Vereinsſchulen als
unter ſich“ (Schöll), was natürlich iſt. In dieſe Schulen nun, welche
durch das Bedürfniß des Publikums getragen und gänzlich frei in ihrer
Lehrordnung ſind, wird zum großen Theil der Verſuch durchgeführt,
neben der klaſſiſchen Bildung auch eine Realbildung zu geben. Natür-
lich iſt das alles ſehr zufällig und verſchieden, wie es in der Natur
der Sache liegt. Nähere Nachrichten liegen nicht vor. Nur das ſteht
feſt, daß dieſe Privatſchulen keine Vorbereitung für die ſtändiſchen Col-
leges und für die Universities geben.
Die dritte Gruppe endlich wird gebildet aus dem Syſtem der ge-
werblichen Bildungsſchulen, die für die weitere Bildung der Hand-
werker beſtimmt ſind, und denen theils die ſog. Upper schools, theils
die Commercial schools vorhergehen, Privatunternehmungen, welche
ungefähr unſern Bürgerſchulen entſprechen, und natürlich von ſehr
verſchiedenem Werthe ſind. Im Allgemeinen ſind dieſe gewerblichen
Fortbildungsſchulen auf ſehr niederer Stufe, und nicht viel mehr als
unſere Sunday schools, indem die Hauptgegenſtände noch immer im
Gebiete des Elementarunterrichts liegen. Einen weſentlichen Fortſchritt
bildeten die Mechanic Institutions, die ſeit 1821 (in Glasgow) ent-
ſtanden ſind, ſich von dort verbreitet und zum Theil weiter entwickelt
haben, ſo daß in großen Städten auch von bedeutenden Männern ge-
legentlich Vorträge darin gehalten werden. Es ſind weſentlich Ge-
werbeſchulen, allein natürlich mit ſehr verſchiedenen Programmen;
doch ſcheint das charakteriſtiſche Element des Schulgeldes allgemein zu
ſein. Daneben ſind Zeichnungsſchulen (schools of design) als
eine Art Fortbildungsſchulen, ſeit 1837 angeregt, erſt ſeit 1850 weiter
verbreitet (1854 gegen 2000), ſie können Staatsunterſtützung genießen.
Die Londoner polytechnic institution, ſeit 1828 auf Aktien gegründet,
iſt eine ſyſtemloſe Anſtalt, die ein ſchlechtes Nachbild des Conservatoire
des Arts et métiers in Paris iſt.
Es iſt nun hier auf den erſten Blick klar, daß bei aller Form-
loſigkeit und Zufälligkeit dieſer Beſtrebungen dennoch in denſelben eine
gewiſſe Gleichartigkeit der Entwicklung beſteht, welche die Realbildung
ſyſtematiſch neben der klaſſiſchen zur Geltung bringen und ſie als an-
erkanntes Glied in das öffentliche Bildungsweſen einführen will. Das
aber bedeutet wieder den großen Kampf der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft mit den Reſten der ſtändiſchen und die allmählige Vernichtung
des Unterſchieds der Klaſſen, der in der bisherigen ausſchließlichen
Stein, die Verwaltungslehre. V. 23
[334] Geltung der klaſſiſchen Bildung für die höheren Stände, gewiſſermaßen
als Standesbildung, ſchon für die Jugend ſeinen Ausdruck fand.
Sollte die Reformbildung durchgreifen, ſo iſt es kein
Zweifel, daß ihr Sieg eine gründliche und allgemeine
Reorganiſation des ganzen Berufsbildungsweſens nach
ſich ziehen wird; denn auch in England liegt in ihm ein charakteri-
ſtiſches Element der geſellſchaftlichen Zuſtände.
Ueber dieß ganze wenig bearbeitete und höchſt ſchwierige Gebiet
ſiehe vorzüglich Schöll a. a. O. S. 224, mit beſonderer Berückſichti-
gung des gelehrten Unterrichts und Gugler bei Tyler mit beſonderer
Hervorhebung des gewerblichen. Dazu kurz des letztern Bemerkungen
im Artikel „gewerbliche Fortbildungsſchulen“ bei Schmid Bd. II. S. 886.
Auch Audigonne a. a. O. hat einige, aber höchſt unbedeutende Mit-
theilungen (S. 99 ff.), die auf die eigentliche Sache gar nicht eingehen.
Richter a. a. O. gibt S. 64 zwei Notizen.
V. Die künſtleriſche Vor- und Fachbildung iſt im Bildungs-
ſyſtem Englands ſo gut als gar nicht vertreten. Uns iſt daher
nur die Akademie zu London bekannt, die unter dem Namen der
Royal Academie of Arts lediglich eine Privatgeſellſchaft iſt. Ihre
Aufgabe iſt eine doppelte; theils hat ſie mit Ausſtellungen zu thun,
was ihre wichtigſte Thätigkeit iſt, theils hat ſie auf Grund der durch
dieſe Ausſtellungen erzielten Reinerträgniſſe eine Art von Kunſtſchule
errichtet, welche ſich weſentlich mit Zeichnen und Malen beſchäftigt,
daneben jedoch gewiſſe Vorträge (jährlich nur ſechs) über die Kunſt-
zweige veranſtaltet, und die Schüler bei öffentlichen Ausſtellungen mit
Medaillen betheiligt. Sonſtige Anſtalten exiſtiren nicht; der Staat
thut für die Kunſtbildung gar nichts.
Eine kurze Nachricht darüber bei Fr. Kugler (Kleine Schriften
und Studien zur Kunſtgeſchichte. Bd. III. S. 464).
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- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Die Verwaltungslehre. Die Verwaltungslehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnq2.0