pſychologiſcher Roman.
Bei Friedrich Maurer.
Dieſer vierte Theil von Anton Reiſers
Lebensgeſchichte handelt, ſo wie die vori¬
gen, eigentlich die wichtige Frage ab,
in wie fern ein junger Menſch ſich
ſelber ſeinen Beruf zu waͤhlen im
Stande ſey?
Er enthaͤlt eine getreue Darſtellung
von den mancherlei Arten von Selbſt¬
taͤuſchungen, wozu ein mißverſtandener
)( 2[IV] Trieb zur Poeſie und Schauſpielkunſt
den Unerfahrnen verleitet hat.
Dieſer Theil enthaͤlt auch einige viel¬
leicht nicht unnuͤtze und nicht unbedeuten¬
de Winke, fuͤr Lehrer und Erzieher ſo¬
wohl, als fuͤr junge Leute, die ernſthaft
genug ſind, um ſich ſelbſt zu pruͤfen,
durch welche Merkzeichen vorzuͤg¬
lich der falſche Kunſttrieb von dem
wahren ſich unterſcheidet?
Man ſieht aus dieſer Geſchichte,
daß ein mißverſtandener Kunſttrieb, der
bloß die Neigung ohne den Beruf vor¬
ausſetzt, eben ſo maͤchtig werden und
eben die Erſcheinungen hervorbringen
[V] kann, welche bei dem wirklichen Kunſt¬
genie ſich aͤußern, welches auch das
Aeußerſte erduldet, und alles aufopfert,
um nur ſeinen Endzweck zu erreichen.
Aus den vorigen Theilen dieſer Ge¬
ſchichte erhellet deutlich: daß Reiſers
unwiderſtehliche Leidenſchaft fuͤr das
Theater eigentlich ein Reſultat ſeines Le¬
bens und ſeiner Schickſale war, wodurch
er von Kindheit auf, aus der wirklichen
Welt verdraͤngt wurde, und da ihm dieſe
einmal auf das bitterſte verleidet war,
mehr in Phantaſieen, als in der Wirklich¬
keit lebte — das Theater als die eigent¬
X 3[VI] liche Phantaſieenwelt ſollte ihm alſo ein
Zufluchtsort gegen alle dieſe Widerwaͤrtig¬
keiten und Bedruͤckungen ſeyn. — Hier
allein glaubte er freier zu athmen, und
ſich gleichſam in ſeinem Elemente zu be¬
finden.
Und doch hatte er hiebei ein gewiſſes
Gefuͤhl von den reellen Dingen in der
Welt, die ihn umgaben, und worauf er
auch ungern ganz Verzicht thun wollte,
da er doch einmal, ſo gut wie die andern
Menſchen, Leben und Daſeyn fuͤhlte.
Dieß machte, daß er mit ſich ſelbſt
im immerwaͤhrenden Kampfe war. Er
dachte nicht leichtſinnig genug, um
[VII] ganz den Eingebungen ſeiner Phantaſie
zu folgen, und dabei mit ſich ſelber zu¬
frieden zu ſeyn; und wiederum hatte er
nicht Feſtigkeit genug, um irgend einen
reellen Plan, der ſich mit ſeiner ſchwaͤr¬
meriſchen Vorſtellungsart durchkreuzte,
ſtandhaft zu verfolgen.
Eigentlich kaͤmpften in ihm, ſo wie
in tauſend Seelen, die Wahrheit mit dem
Blendwerk, der Traum mit der Wirk¬
lichkeit, und es blieb unentſchieden,
welches von beiden obſiegen wuͤrde, wor¬
aus ſich die ſonderbaren Seelenzuſtaͤnde,
in die er gerieth, zur Genuͤge erklaͤren
laſſen.
[VIII]
Widerſpruch von außen und von in¬
nen war bis dahin ſein ganzes Le¬
ben. — Es koͤmmt darauf an, wie
dieſe Widerſpruͤche ſich loͤſen werden!
[[1]]
So wie nun Reiſer die Thuͤrme von H. . .
aus dem Geſicht verlohren hatte, und mit
ſchnellen Schritten vorwaͤrts ging, athmete er
freier, ſeine Bruſt erweiterte ſich — die ganze
Welt lag vor ihm — und tauſend Ausſichten er¬
oͤfneten ſich vor ſeiner Seele.
Er dachte ſich den Faden ſeines bisherigen
Lebens gleichſam wie abgeſchnitten — er war
nun aus allen Verwickelungen auf einmal be¬
freiet — denn haͤtte er auch die Univerſitaͤt in
G. . . bezogen, ſo haͤtte ihn auch dort ſein
Schickſal hin verfolgt; die ganze Zeitgenoſſen¬
ſchaft ſeiner Jugend haͤtte auch dort wieder auf
ihn gedruͤckt, und ſein Muth haͤtte ganz erlie¬
gen muͤſſen.
Denn ſo lange wie er in jenen Kreis hinge¬
bannt war, konnte er kein Zutrauen zu ſich ſelber
faſſen — und wenn ſein Muth ſich erholen
ſollte, ſo mußte er ſobald die Menſchen nicht
4ter Theil. A[2] wieder ſehen, die vielleicht unvorſetzlich ihm die
Tage ſeiner Jugend verbittert hatten.
Nun war er aus dieſem Kreiſe ganz geſchie¬
den. — Der Schauplatz ſeiner Leiden, die
Welt, worin er die Schickſale ſeiner Jugend
durchlebt hatte, lag hinter ihm — er entfernte
ſich mit jedem Schritt von ihr, und konnte, ſo
wie er ſich eingerichtet hatte, acht Tage wan¬
dern, ohne daß ihn ein Menſch vermißte.
Nun fand er eine unbeſchreibliche Suͤßigkeit
in dem Gedanken, daß außer Philipp Reiſer
niemand um ſein Schickſal, und um den
Ort ſeines Aufenthalts wußte, daß ſelbſt
dieſer einzige Freund ſich bei ſeinem Ab¬
ſchiede nicht ſehr bekuͤmmert hatte; daß
er nun außer allen Verhaͤltniſſen, und al¬
len Menſchen zu denen er kam, voͤllig
gleichguͤltig war.
Wenn das gaͤnzliche Hinſcheiden aus dem
Leben durch irgend einen Zuſtand kann vorge¬
bildet werden, ſo muß es dieſer ſeyn. —
So wie nun die Hitze des Tages ſich legte,
die Sonne ſich neigte, und die Schatten der
Baͤume laͤnger wurden, verdoppelte er ſeine
[3] Schritte, und machte denſelben Nachmittag die
drei Meilen bis Hildesheim ununterbrochen,
wie einen Spatziergang; auch betrachtete er es
voͤllig, wie einen Spatziergang; denn er war
nun in Hildesheim, ſo gut, wie in H. . . zu
Hauſe.
Als er an das Stadtthor kam, ſchlug er
ſich vorher den Staub von den Schuhen, brachte
ſein Haar in Ordnung, nahm eine kleine Gerte
in die Hand, mit der er im Gehen ſpielte, und
ſchlenderte auf die Weiſe langſam uͤber die
Bruͤcke, auf der er zuweilen ſtehen blieb, als ob
er jemanden erwartete; oder nach etwas ſich um¬
ſah. — Und da er uͤberdem in ſeidenen Struͤm¬
pfen ging, ſo hielt ihn niemand in dieſem Auf¬
zuge fuͤr einen Reiſenden, der uͤber vierzig Mei¬
len zu Fuß zu wandern im Begrif iſt.
Keine Schildwache fragte ihn, und er wan¬
derte mit den Einwohnern der Stadt, die auch
von ihren Spatziergaͤngen zuruͤckkehrten, in die
Thore von Hildesheim. — Und der Gedanke
war ihm wiederum aͤußerſt beruhigend und an¬
genehm, daß er dieſen Leuten gar nicht als
fremd auffiel, niemand nach ihm ſich umſah,
A 2[4] ſondern daß er gleichſam zu ihnen mitgerechnet
wurde, ohne doch zu ihnen zu gehoͤren. —
Da ihn nun niemand von allen dieſen Men¬
ſchen kannte, und niemand ſich um ihn bekuͤm¬
merte, ſo verglich er ſich auch mit keinem mehr;
er war, wie von ſich ſelbſt geſchieden; ſeine In¬
dividualitaͤt, die ihn ſo oft gequaͤlt und gedruͤckt
hatte, hoͤrte auf, ihm laͤſtig zu ſeyn; und er
haͤtte ſein ganzes Leben auf die Weiſe ungekannt
und ungeſehen unter den Menſchen herumwan¬
deln moͤgen.
Als er nicht weil vom Thore einen Gaſthof
ſuchte, kam ihm die Straße bekannt vor, und
er erinnerte ſich wieder an die Zeit als er vor
vier Jahren, mit dem Rektor bei dem er wohnte,
am Frohnleichnamsfeſte hier war, und an die
aͤngſtliche und peinliche Lage in der er ſich da¬
mals befand, weil er von der Geſellſchaft mit
der er ging weder ausgeſchloſſen war, noch ei¬
gentlich dazu gehoͤrte. — Es waͤlzte ſich ihm
wie ein Stein vom Herzen weg, da er ſich das
alles nun als gaͤnzlich vergangen dachte.
In dem Gaſthofe, worin er nun einkehrte,
empfing und bewirthete man ihn nach ſeiner
[5] Kleidung, und er hatte nicht den Muth es von
ſich abzulehnen, ſondern ließ es ſich gefallen,
daß man ihm ein Abendeſſen zubereitete, ein
Bette zum Schlafen anwies, und ihm am an¬
dern Morgen ſeinen Kaffee brachte. — Den
trank er noch in Ruhe und las im Homer dazu,
als er auf einmal, wie aus einer Art von Be¬
taͤubung erwachte, da er ſich lebhaft vorſtellte,
daß er mit ſeiner Baarſchaft, die aus einem
einzigen Dukaten beſtand, nicht nur uͤber vier¬
zig Meilen weit reiſen, ſondern nothwendig an Ort
und Stelle noch etwas davon uͤbrig haben muͤßte.
Er bezahlte ſchnell ſeine Zeche, die ihn um
nicht weniger als den ſechſten Theil ſeines gan¬
zen Vermoͤgens aͤrmer machte; erkundigte ſich
nach der Straße, die auf Seeſen fuͤhrte, und
wanderte mit ſorgenvollen Gedanken, und ſchwe¬
rem Herzen aus dem Thore von Hildesheim.
Es war noch fruͤh am Tage — der Weg
fuͤhrte ihn durch eine angenehme Gegend, wo
Wald und Flur miteinander abwechſelten, und
der Geſang der Voͤgel ihm entgegen toͤnte, in¬
deß die Morgenſonne auf die gruͤnen Wipfel der
Baͤume ſchien. —
[6]
So wie er nun ſchneller vorwaͤrts ging,
fuͤhlte er auch nach und nach wieder ſein Gemuͤth
erleichtert, heitere Gedanken, reizende Ausſich¬
ten, und kuͤhne Hoffnungen ſtiegen allmaͤhlig
wieder in ſeiner Seele auf, und nun entſtand in
ihm ein Vorſatz, der ihn auf einmal uͤber alle
Sorgen hinwegſetzte, und der ihn auf ſeiner
ganzen Wanderung reich und unabhaͤngig machte.
Er durfte nur ſeine ganze Nahrung auf
Brodt und Bier einſchraͤnken, auf der Streu
ſchlafen, und niemals wieder in einer Stadt
uͤbernachten, um ſeinen Unterhalt waͤhrend der
Reiſe mit wenig mehr als einem Groſchen taͤg¬
lich zu beſtreiten. Auf die Weiſe konnte er laͤn¬
ger als einen Monat unterwegens ſeyn, und
war am Ende der Reiſe doch noch nicht ganz
entbloͤßt.
Sobald er dieſen Vorſatz, den er von dem
Tage an ſtandhaft ausfuͤhrte, gefaßt hatte,
fuͤhlte er ſich wieder frei und gluͤcklich wie ein
Koͤnig — ſelbſt dieſe freiwillige Entſagung aller
Bequemlichkeiten, und dieſe Einſchraͤnkung auf
die allernoͤthigſten Beduͤrfniſſe — gab ihm eine
Empfindung ohne Gleichen; er fuͤhlte ſich nun
[7] beinahe wie ein Weſen, das uͤber alle irdiſche
Sorgen hinweggeruͤckt iſt; und lebte deswegen
auch ungeſtoͤrt in ſeiner Ideen- und Phanta¬
ſienwelt, ſo daß dieſer Zeitpunkt, bei allem an¬
ſcheinenden Ungemach, einer der gluͤcklichſten
Traͤume ſeines Lebens war.
Unmerklich aber ſchlich ſich denn doch ein
Gedanke mitunter, der ſein gegenwaͤrtiges Da¬
ſeyn, damit es nicht ganz zum Traume wuͤrde,
wieder an das vorige knuͤpfte. Er ſtellte ſich
vor, wie ſchoͤn es ſeyn wuͤrde, wenn er nach
einigen Jahren in dem Andenken der Menſchen,
worin er nun gleichſam geſtorben war, wieder
aufleben, in einer edlern Geſtalt vor ihnen er¬
ſcheinen, und der duͤſtere Zeitraum ſeiner Ju¬
gend alsdann vor der Morgenroͤthe eines beſſern
Tages verſchwinden wuͤrde.
Dieſe Vorſtellung blieb immer feſt bei ihm
— ſie lag auf dem Grunde ſeiner Seele, und er
haͤtte ſie um alles in der Welt nicht aufgeben
koͤnnen; alle ſeine uͤbrigen Traͤume und Phan¬
taſien hielten ſich daran, und bekamen dadurch
ihren hoͤchſten Reiz. — Der einzige Gedanke,
daß dieſelben Menschen, die ihn bis jetzt
A 4[8] gekannt haͤtten, niemals wiederſehen wuͤrde,
haͤtte damals alles Intereſſe aus ſeinem Leben
hinweggenommen, und ihm die ſuͤßeſten Hof¬
nungen geraubt.
Als nun der Mittag herannahte, ſo kehrte
er in einem Dorfe in einem geringen Wirths¬
hauſe ein, wo er ohnedem auſſer Bier und
Brodt auch fuͤr Geld nichts haͤtte haben koͤn¬
nen, und alſo der Fall nicht eintrat, daß man
ihm eine beſſere Bewirthung angeboten, und er
ſie haͤtte ablehnen muͤſſen.
Es machte ihm nun unbeſchreiblich Vergnuͤ¬
gen, daß er fuͤr wenige Pfennige ein ſo großes
Stuͤck ſchwarzes Brodt erhielt, welches ihn den
ganzen Tag gegen den Hunger ſicher ſtellte. Er
brockte ſich einen Theil davon ins Bier, und hielt
auf die Weiſe das erſte Mittagsmahl nach ſei¬
nen eigenen ſtrengen Geſetzen, von welchen er
von nun an, waͤhrend der Reiſe, nicht abging.
Er eilte denn aber, daß er ſchnell wieder aus
der dumpfigen Gaſtſtube ins Freie kam, wo er
unter einem ſchattigten Baum ſich niederſetzte,
und zur Mittagserholung in Homers Odyſſee
las. — Mochte nun dies Leſen im Homer eine
[9] zuruͤckgebliebene Idee aus Werthers Leiden
ſeyn, oder nicht, ſo war es doch bei Reiſern ge¬
wiß nicht Affektation, ſondern machte ihm wuͤrk¬
liches und reines Vergnuͤgen — denn kein Buch
paßte ja ſo ſehr auf ſeinen Zuſtand, als grade
dieſes, welches in allen Zeilen den vielgewan¬
derten Mann ſchildert, der viele, Menſchen,
Staͤdte und Sitten geſehen hat, und endlich
nach langen Jahren in ſeiner Heimath wieder
anlangt, und dieſelben Menſchen, die er
dort verlaſſen hat, und nimmer wieder zu ſehen
glaubte, auch endlich noch wieder findet.
Der Weg ging nun immer Berg auf, Berg
ab. — Die Hitze war ziemlich groß, und Rei¬
ſer loͤſchte ſeinen Durſt, ſo oft er einen klaren
Bach antraf, aus welchem ihm umſonſt zu ſchoͤ¬
pfen frei ſtand.
In dem Dorfe, wo er die erſte Nacht blieb,
war die Gaſtſtube voller Bauern, die einen großen
Lerm machten, ſo daß es ihm nicht moͤglich war,
zu leſen; er beſchaͤftigte ſich alſo mit ſeinen Ge¬
danken; und eine ſteinalte Frau, die im Lehn¬
ſtuhle ſaß, und mit dem Kopfe bebte, zog ſeine
ganze Aufmerkſamkeit auf ſich. —
[10]
Dieſe Frau war hier erzogen, hier gebohren,
hier alt geworden, hatte immer die Waͤnde
dieſer Stube, den großen Ofen, die Tiſche, die
Baͤnke geſehen — nun dachte er ſich nach und
nach in die Vorſtellungen und Gedanken dieſer
alten Frau ſo ſehr hinein, daß er ſich ſelbſt dar¬
uͤber vergaß, und wie in eine Art von wachen¬
den Traum gerieth, als ob er auch hier bleiben
muͤſte, und nicht aus der Stelle koͤnne. — Ein
ſolcher Traum war bei der ploͤtzlichen Veraͤnde¬
rung, die ſein Zuſtand gelitten hatte, ſehr na¬
tuͤrlich — und als ſeine Gedanken ſich ſammle¬
ten, fuͤhlte er das Vergnuͤgen der Abwechſe¬
lung, der Ausdehnung, der unbegrenzten Frei¬
heit doppelt wieder — er war wie von Feſſeln
entbunden, und die alte Frau, mit bebendem
Haupte, war ihm wieder ein gleichguͤltiger Ge¬
genſtand.
Dieſe Art aber ſich in die Vorſtellungen an¬
derer Menſchen hineinzudenken, und ſich ſelbſt
daruͤber zu vergeſſen, klebte ihm von Kindheit
an — es war einer ſeiner kindiſchen Wuͤnſche,
daß er nur einen Augenblick aus den Augen
eines andern Menſchen, den er vor ſich ſahe,
[11] moͤchte herausſehen, und wiſſen koͤnnen, wie
dem die umſtehenden Sachen vorkaͤmen.
Zum erſtenmale legte er mit weitausſehen¬
den Gedanken auf die Streu ſich nieder; ſeinen
Degen legte er neben ſich, und deckte ſich mit
ſeinen Kleidern zu. — Seine Gedanken aber
ließen ihm keine Ruh, die Zukunft wurde immer
glaͤnzender und ſchimmernder vor ſeinen Bli¬
cken; die Lampen waren ſchon angezuͤndet, der
Vorhang aufgezogen, und alles voll Erwartung,
der entſcheidende Moment war da. —
Daruͤber kam bis nach Mitternacht kein
Schlaf in ſeine Augen, und als er am Morgen
erwachte, war auf einmal der Schauplatz ganz
veraͤndert; die oͤde Gaſtſtube, die Bierkruͤge,
das ſchwarze Brodt, und erſchlaffende Muͤdig¬
keit — hier raͤchten ſich ſeine reizenden Phanta¬
ſien an ihm mit ſchrecklichem Unmuth und Le¬
bensuͤberdruß, der uͤber eine Stunde waͤhrte.
Er legte ſich mit dem Kopf auf den Tiſch,
und ſuchte vergeblich wieder einzuſchlummern,
bis die ermunternden Strahlen der Sonne, die
ins Fenſter ſchienen, ihn wieder zum Leben weck¬
ten, und ſobald er ſich nur erſt auf den Weg ge¬
[12] macht hatte, und aus der dumpfigen Gaſtſtube
war, verſchwand auch ſchnell ſein Unmuth wieder,
und das reizende Ideenſpiel begann von neuem.
Er lebte auf die Weiſe gleichſam ein doppel¬
tes Leben, eins in der Einbildung und eins in
der Wirklichkeit. Das Wirkliche blieb ſchoͤn und
harmonirte mit dem Eingebildeten, bis auf die
Gaſtſtube, das Gelerm der Bauern, und die
Streu — dieß aber wollte ſich nicht recht dazu
reimen — denn es war auf die unbegrenzte
Freiheit am Tage, eine zu große Beſchraͤnkung
am Abend; weil er doch nun bis zum andern
Morgen in keiner andern Umgebung ſeyn konnte,
als in dieſer.
Freilich hatten die aͤußern Gegenſtaͤnde einen
immerwaͤhrenden Einfluß auf die inneren Gedan¬
kenreihen; mit dem Horizonte erweiterten ſich
auch gemeiniglich ſeine Vorſtellungen, und an
die Ausſicht in eine neue Gegend knuͤpfte ſich
immer gern eine neue Ausſicht in das Leben.
Einmal war er lange muͤhſam bergan geſtie¬
gen, als auf einmal eine weite Ebene vor ihm
da lag, und er in der Ferne ein Staͤdtchen, an
einem See erblickte — dieſer Anblick friſchte auf
[13] einmal alle ſeine Gedanken und Hoffnungen wie¬
der auf. — Er konnte ſeine Augen von dem
Gewaͤſſer in der Ferne nicht verwenden, das
ihn mit neuem Muth beſeelte, die Ferne auf¬
zuſuchen. —
Seine Reiſeroute von Hildesheim ging
nehmlich uͤber Salzdethfurth, Bockenem, und
Seeſen, auf Duderſtadt, von wo er denn uͤber
Muͤhlhauſen geradezu nach Erfurt, und von
dort auf Weimar gehen wollte, welches das
Ziel ſeiner Wuͤnſche war.
Dort glaubte er nehmlich die Eckhoffſche
Schauſpielergeſellſchaft vorzufinden, und ſeine
Schauſpielerlaufbahn ſollte dort beginnen. —
Nun ſpielte er unterwegens auf ſeinen Wande¬
rungen alle die Rollen in Gedanken durch, die
ihn dereinſt mit Ruhm und Beifall kroͤnen,
und ſeinen mannigfaltigen Kummer belohnen
ſollten. —
Er glaubte es koͤnne ihm nicht fehlſchlagen,
weil er jede Rolle tief empfand, und ſie in ſeiner
eigenen Seele vollkommen darzuſtellen und aus¬
zufuͤhren wußte — er konnte nicht unterſcheiden,
daß dies alles nur in ihm vorging, und daß es
[14] an aͤußerer Darſtellungskraft ihm fehlte. —
Ihm daͤuchte, die Staͤrke womit er ſeine Rolle
empfand, muͤſſe alles mit ſich fortreißen, und
ihn ſeiner ſelbſt vergeſſen machen. —
Dies geſchahe auch wirklich, wenn waͤhrend
dem Gehen ſeine Einbildungskraft immer er¬
hitzter wurde — und er denn endlich auf dem
Felde, wo er ſich ganz allein glaubte, mit Beau¬
marchais laut zu toben, mit Guelfo zu raſen
anfing.
Dieſer Guelfo aus Klavigo's Zwillingen war
vor ſeiner Abreiſe aus H... eine ſeiner Lieb¬
lingsrollen geworden; denn er fand ſein Hohn¬
gelaͤchter uͤber ſich ſelber, ſeinen Selbſthaß, ſeine
Selbſtverachtung und Selbſtvernichtungsſucht,
dennoch mit Kraft vereint, in dem Guelfo wie¬
der. Und der Akt, wo Guelfo nach dem Bru¬
dermord, den Spiegel in welchem er ſich ſieht,
zerſchmettert, war Reiſern ein wahres Feſt. —
Alle dies uͤberſpannte Schreckliche hatte ihn
gleichſam berauſcht — er taumelte in dieſer
Trunkenheit uͤber Berg und Thal — und wo er
ging, da war ſein Schauplatz unbegrenzt. —
[15]
Klavigo, der ihm ſo viel Thraͤnen gekoſtet
hatte, war ihm nun zu kalt, und Beaumar¬
chais trat an ſeine Stelle. — Dann kamen
Hamlet, Lear, Othello, an die Reihe, die
damals noch auf keiner deutſchen Buͤhne vorge¬
ſtellt wurden, und die er ſeinem Philipp Reiſer
ganz allein in ſchauervollen Naͤchten vorgele¬
ſen, und alle dieſe Rollen ſelbſt durchgeſpielt,
ſelbſt durchempfunden hatte.
Nun geſellte ſich hierzu die Dichtkunſt; ſo
ſanft und melodiſch floß ſein Vers dahin, und
ſo beſcheiden und doch voll edlen Stolzes war
ſeine Muſe, daß ſie die Zuneigung aller Herzen
ihm ſicher gewinnen mußte. — Er wußte zwar
noch nicht eigentlich, was dieß nun fuͤr ein Ge¬
dicht ſeyn ſollte, aber im Ganzen war es das
ſchoͤnſte und harmoniſchſte, was er ſich denken
konnte, weil es getreuer Abdruck ſeiner vollen
Empfindung war.
Mitten in einem ſolchen lyriſchen Schwunge
ſeiner Gedanken war es, als er dicht bei See¬
ſen, einen Fußpfad ging, der ihn von der Straße
ab, uͤber eine Wieſe fuͤhrte, wo gerade ein Schei¬
benſchießen war, das allen ſeinen ſchimmernden
[16] Ausſichten in die Zukunft beinahe ein ploͤtzliches
Ende gemacht haͤtte: denn eine Flintenkugel
ſaußte ihm dicht vor dem Kopfe vorbei, waͤh¬
rend daß alles ihm zuſchrie, er ſolle von dort
weggehen — er eilte ſchnell durch Seeſen durch,
und wanderte ruhig weiter, bis er in einem klei¬
nen Dorfe wieder uͤbernachtete.
Am zweiten Tage ſeiner Wanderung kam
nun Reiſer uͤber einen Theil des Harzgebuͤrges,
und es war noch fruͤh am Tage, als er zur
Rechten an der Heerſtraße, die Mauren einer
zerſtoͤrten Burg auf einer Anhoͤhe liegen ſah;
er konnte ſich nicht enthalten hier hinauf zu
ſteigen, und als er oben war, verzehrte er ſein
Stuͤck ſchwarzes Brodt, das er ſich zum Fruͤh¬
ſtuͤcke mitgenommen, in den Ruinen dieſes
alten Ritterſitzes, und ſah dabei auf die Heer¬
ſtraße durch den Wald hinunter. —
Daß er nun als ein Wanderer in dieſem al¬
ten zerſtoͤrten Gemaͤuer wieder ſein Morgenbrodt
verzehrte, und an die Zeiten dachte, wo hier
noch Menſchen wohnten, die auch auf dieſe Heer¬
ſtraße durch den Wald hinunter ſahen — dieß
machte ihm einen der gluͤcklichſten Momente —
es[17] es ſchallte ihm immer wie eine Prophezeihung
aus jenen Zeiten, daß dieſe Mauren einſt oͤde
ſtehen, daß der Wanderer ſich dabei ausruhen,
und an die Tage der Vorzeit ſich erinnern
wuͤrde.
Sein Stuͤck ſchwarzes Brodt, war ihm hier
oben eine feſtliche Mahlzeit — er ſtieg geſtaͤrkt
wieder hinunter, und wanderte frohen Muthes
ſeine Straße fort, indem er die hoͤhern Harzge¬
buͤrge linker Hand liegen ließ.
Das Wandern ward ihm nun ſo leicht, daß
der Boden unter ihm eine Welle ſchien, auf der
er ſich hob, und ſank, und daß er ſo von einem
Horizont zum andern ſich fortgetragen fuͤhlte —
er verhielt ſich bloß leidend, und immer ſtieg
eine neue Scene vor ſeinem Blick empor.
Die Mittagseinkehr in der unangenehmen
Gaſtſtube war bald voruͤber, und er befand ſich
wieder in der freien offenen Natur. — Dieſe
Einkehr aber war ihm doch beſchwerlich, und
er dachte ſchon darauf, ſich auch von dieſer zu
befreien, als er einmal uͤber ein Kornfeld ging,
und ihm die Juͤnger Chriſti einfielen, welche
am Sonntage Aehren aßen.
Theil[18]
Er machte ſogleich den Verſuch eine Hand¬
voll Koͤrner aus den Aehren herauszuſtreifen,
aus welchen Koͤrnern er das Mehl ſog, und die
Huͤlſen ausſpuckte. Indes aber blieb das Nah¬
rungsmittel doch immermehr ein Zeitvertreib,
als daß es ihm eigentlich das Einkehren haͤtte
erſparen ſollen — Das Angenehme dieſes Nah¬
rungsmittels lag vorzuͤglich in der Idee davon,
welche den Begriff von Freyheit und Unabhaͤn¬
gigkeit noch vermehrte.
Da er nun wieder eine Tagereiſe vollendet
hatte, kehrte er ohnweit Duderſtadt in einem
kleinem Dorfe ein, wo in dem Wirthshauſe
niemand zu Hauſe war.
Es war noch vor der Daͤmmerung — der
Thorweg zum Hofe bei dem Wirthshauſe ſtand
offen — und auf dem Hofe war eine Laube, in
welcher ein Tiſch aber weder Stuhl noch Bank
ſtand. —
Reiſer, um ſich auszuruhen, legte ſich alſo
auf den Tiſch, und weil er zum leſen noch ſehen
konnte, ſo laß er in der Odyſſee die Stelle von
den Menſchenfreſſern, die in dem ruhigen Ha¬
[19] fen, die Schiffe des Ulyſſes zerſchmettern, und
ſeine Gefaͤhrten ergreifen und verzehren. —
Auf einmal war der Wirth zu Hauſe gekom¬
men, und ſahe, da es ſchon anfing dunkel zu
werden, einen Menſchen in ſeinem Hofe in der
Laube auf dem Tiſche liegen, und in einem
Buche leſen.
Er redete Reiſern erſt ziemlich unſanft an,
da dieſer ſich aber aufrichtete, und der Wirth
in ihm einen wohlgekleideten Menſchen ſah, ſo
fragte er ihn ſogleich, ob er ein Juriſt ſey,
welches in dieſen Gegenden die gewoͤhnliche Be¬
nennung fuͤr einen Studenten iſt, weil die
Theologen groͤßtentheils in Kloͤſtern ſtudiren,
und ſchon als Geiſtliche betrachtet werden.
Dem Wirth war ſeine Frau geſtorben, und
außer ihm war niemand im ganzen Hauſe. Der
Mann war aber geſpraͤchig, und Reiſer hielt
ſeine Abendmahlzeit, die wie gewoͤhnlich aus
Bier und Brodt beſtand, in ſeiner Geſellſchaft.
Der Mann erzaͤhlte ihm von vielen ſoge¬
nannten Juriſten, die bei ihm logirt haͤtten, und
Reiſer ließ ihn dabei, daß er auch im Begriff
ſey nach Erfurt zu gehen, um dort zu ſtudiren.
[20]
Alle dergleichen Unterredungen, die an ſich
unbedeutend geweſen waͤren, erhielten in Rei¬
ſers Idee einen poetiſchen Anſtrich, durch das
Bild von dem homeriſchen Wanderer, welches
ihm immer vor der Seele ſchwebte, und ſelbſt
die Unwahrheiten in ſeinen Reden hatten etwas
Uebereinſtimmendes mit ſeinem poetiſchen Vor¬
bilde, dem Minerva zur Seite ſteht und wegen
ſeiner wohl uͤberdachten Luͤge ihm Beifall zu¬
laͤchelt.
Reiſer dachte ſich ſeinen Wirth nicht bloß als
den Wirth einer Dorfſchenke, ſondern als einen
Menſchen, den er nie gekannt, nie geſehen
hatte, und nun auf eine Stunde lang mit ihm
zuſammentraf, an einem Tiſche mit ihm ſaß,
und Worte mit ihm wechſelte.
Dasjenige, was durch die menſchlichen Ein¬
richtungen und Verbindungen gleichſam aus dem
Gebiete der Aufmerkſamkeit herausgedraͤngt,
gemein und unbedeutend geworden iſt, trat,
durch die Macht der Poeſie, wieder in ſeine
Rechte, wurde wieder menſchlich, und erhielt
wieder ſeine urſpruͤngliche Erhabenheit und
Wuͤrde.
[21]
Der Mann war nicht einmal eingerichtet,
eine Streu zu machen, weil ſelten jemand hier
uͤbernachtete; und Reiſer ſchlief auf dem Heu¬
boden, der ihm ein angenehmes Lager gewaͤhrte.
Am andern Morgen fruͤh ſetzte er ſeine Reiſe
weiter fort, und der Auffenthalt in dieſem Hauſe
mit dem Wirth ganz allein, blieb ihm eine
ſeiner angenehmſten Erinnerungen.
An dieſem Tage gieng es in ſeiner innern
Gedankenwelt beſonders lebhaft zu — Er hatte
ſich nun um ein merkliches ſeinem Ziele genaͤ¬
hert, und die Beſorgniß trat doch nun bei ihm
ein, was er auf den Fall thun wuͤrde, wenn
ſeine Ausſichten zu unmittelbaren Ruhm und
Beifall ihm mißlingen, und die Entwuͤrfe zu
ſeiner theatraliſchen Laufbahn gaͤnzlich ſcheitern
ſollten.
Nun traten auf einmal die Extreme auf,
ein Bauer oder Soldat zu werden, und auf ein¬
mal war das poetiſche und theatraliſche wieder
da, denn ſeine Ideen vom Bauer und Soldat
wurden wieder zu einer theatraliſchen Rolle, die
er in ſeinen Gedanken ſpielte.
[22]
Als Bauer entwickelte er nach und nach
ſeine hoͤhern Begriffe, und gab ſich gleichſam
zu erkennen; die Bauern horchten ihm aufmerk¬
ſam zu, die Sitten verfeinerten ſich allmaͤlig,
die Menſchen um ihn her wurden gebildet.
Als Soldat feſſelte er die Gemuͤther ſeiner
Schickſalsgenoſſen allmaͤlig durch reizende Er¬
zaͤhlungen; die rohen Soldaten fingen an, auf
ſeine Lehren zu horchen: das Gefuͤhl der hoͤhern
Menſchheit entwickelte ſich bei ihnen; die Wacht¬
ſtube ward zum Hoͤrſaale der Weisheit.
Indem er alſo glaubte, daß er gerade auf
das Entgegengeſetzte vom Theater ſich gefaßt
gemacht habe, war er erſt recht in vollkommen
theatraliſche Ausſichten und Traͤume wieder
hineingerathen.
Es lag aber fuͤr ihn eine unbeſchreibliche
Suͤßigkeit in dem Gedanken, wenn er Bauer
oder Soldat werden muͤßte, weil er in einem
ſolchen Zuſtande weit weniger zu ſcheinen
glaubte, als er wirklich waͤre.
Waͤhrend er ſich mit dieſen Gedanken be¬
ſchaͤftigte, kam er durch Stadt Worbes, w[o]
[23] ihm einige Franziskanermoͤnche aus dem daſigen
Kloſter begegneten, die ihn freundlich gruͤßten.
Als er vor dem Kloſter vorbeiging, hoͤrte er
inwendig den Geſang der Moͤnche, die da nun
von der Welt abgeſchieden, ohne Sorgen, Plaͤne
und Ausſichten lebten, und alles das, was ſie
ſeyn wollten, auf einmal waren.
Dieß machte zwar einigen Eindruck auf ſein
Gemuͤth, aber lange nicht ſo ſtark, als nach¬
her der erſte Anblick eines Kartheuſerkloſters,
deſſen Einwohner durch ihre Mauern gaͤnzlich
von der Welt geſchieden, auch nie mit einem
Fuße den Schauplatz wieder betreten, den ſie
einmal verlaſſen haben.
Durch die wandernden Franziskanermoͤnche
aber wurde die Idee von Abgeſchiedenheit klein¬
licht und abgeſchmackt. — Der ſchnelle Gang
vertrug ſich nicht mit dem Ordenskleide, und
das Ganze hatte auch nicht einmal poetiſche
Wuͤrde.
Uebrigens toͤnte die hochdeutſche Sprache
der Leute in dieſen Gegenden immer angenehm
in Reiſers Ohren, weil dadurch die Idee ſeiner
nunmehrigen Entfernung von dem plattdeut¬
B 4[24] ſchen Lande immer lebhaft wieder in ihm er¬
weckt wurde.
Nun war dieſen Tag auch ſehr ſchoͤnes Wet¬
ter geweſen, und Reiſer kehrte den Abend in
einem Dorfe, Nahmens Orſchla ein, um den
andern Morgen von dort aus nach der Reichs¬
ſtadt Muͤhlhauſen ſeinen Weg fortzuſetzen.
Das Dorf iſt katholiſch; und als er an
den Gaſthof kam, ſtand eine Menge Leute vor
der Thuͤre, unter denen ſich der Schulmeiſter
des Orts befand, welcher ihn mit den Worten
anredete: esne litteratus? ( ob er nicht ein Ge¬
lehrter waͤre? )
Reiſer bejahte dieß wieder in lateiniſcher
Sprache, und auf befragen wohin er ginge,
ſagte er wieder: er ginge nach Erfurt, um dort
die Theologie zu ſtudiren; denn dieß ſchien ihm
immer das ſicherſte zu ſeyn.
Waͤhrend der Zeit ſtanden die Bauern um¬
her, und horchten zu, wie ihr Schulmeiſter mit
dem fremden Studenten lateiniſch ſprach. Der
Sohn des Schulmeiſters kam auch dazu, der
in Hildesheim ſtudirt hatte, und jetzt ſeinem
Vater adjungirt war.
[25]
Reiſer ging nun in die Stube, und legte zu
noch mehrerem Beweiſe, daß er ein Litteratus
ſey, ſeinen Homer auf den Tiſch, welchen denn
auch der Schulmeiſter gleich kannte, und den
Bauern auf deutſch ſagte, daß das der Ho¬
mer waͤre.
Mit Reiſern aber fuhr er immer fort Latein
zu ſprechen, ſo gut es gehen wollte, wobei
denn viel komiſches mit unter lief; da er ſehr
viel von ſeinem gelehrten Unterricht ſprach, ſo
fragte ihn Reiſer, ob er auch mit ſeinen Schuͤ¬
lern die Kirchenvaͤter laͤſe? woruͤber er erſt ein
wenig in Verlegenheit gerieth, ſich aber doch
bald wieder faßte, und ſagte: alternatim.
Er nahm nun Abſchied von Reiſern, der
den andern Morgen fruͤh ſchon weiter gehen
wollte, und warnte ihn, ſich vor den Kaiſer¬
lichen und Preußiſchen Werbern in dieſen Ge¬
genden in Acht zu nehmen, und ſich durch keine
Drohungen ſchrecken zu laſſen, wenn ſie etwa
aͤußerten, daß ſie ihn mit Gewalt nehmen
wollten.
Reiſer legte ſich auf ſeine Streu ruhig ſchla¬
fen — als er aber am andern Morgen erwachte,
B 5[26] regnete es ſo ſtark, daß er in ſeiner Kleidung
mit Schuhen und ſeidenen Struͤmpfen, nicht
aus dem Hauſe gehen, viel weniger ſeine Reiſe
fortſetzen konnte; da uͤberdem hier ein leimigter
Bogen iſt, der bei jeder Naͤſſe das Gehen auf
der Landſtraße ganz außerordentlich beſchwer¬
lich macht.
Dieß war nun freilich etwas Unvermuthetes
fuͤr Reiſern — er hatte dem Wetter in dieſer
Jahrszeit zuviel zugetrauet, und war auf dieſen
Fall nicht vorbereitet, da er weder mit Stie¬
feln, noch ſonſt mit Kleidung zum Regenwetter
verſehen war, und ſein beſtaͤndiger Anzug auch
ſeinen ganzen Kleidervorrath ausmachte.
Hier war alſo nichts zu thun, als auszu¬
harren, bis der Himmel ſich wieder aufklaͤren,
und das Erdreich ſich wieder trocknen wuͤrde. —
Es hoͤrte aber dieſen und den folgenden Tag
nicht auf, zu regnen. —
Nun kam ſchon in aller fruͤhe ein Kaiſerli¬
cher Unteroffizier in die Gaſtſtube, der in dieſem
Orte auf Werbung lag, ſich mit ſeinem Krug
Bier ganz vertraulich neben Reiſern an den
Tiſch ſetzte, und vom Soldatenleben erſt von
[27] weitem mit ihm zu ſprechen anfing, bis er nach
und nach immer zudringlicher wurde, und ihm
endlich geradezu verſicherte, daß er doch vor den
Preußiſchen und Kaiſerlichen Werbern nicht uͤber
Muͤhlhauſen kommen wuͤrde, und ſich alſo lieber
nur gleich von ihm fuͤr ſieben Gulden Handgeld
anwerben laſſen moͤchte — ſo daß es den An¬
ſchein hatte, als wenn nun der Soldat in Rei¬
ſers Phantaſie, eher als er gedacht hatte, rea¬
liſirt werden koͤnnte.
Als der Soldat hinausgegangen war, trat
der Schulmeiſter wieder herein, der Reiſern
einen guten Morgen bot, und ihn heimlich
warnte, ſich vor dem Werber in Acht zu neh¬
men, ob er gleich ſelbſt das Soldatenleben fuͤr
ſo ſchlimm nicht hielte; denn ſein Sohn ſey auch
zwei Jahr in Maynziſchen Dienſten geweſen,
und wer keinen Paß habe, koͤnne hier ſchwer¬
lich durchkommen.
Reiſer verſicherte ihm, daß er alles Noͤthige
um ſich zu legitimiren bei ſich habe. Dieß war
nehmlich der lateiniſche Anſchlagbogen, von dem
Schulaktus in Hannover, da er am Geburts¬
tage der Koͤnigin von England eine Rede hielt.
[28] und worauf ſein Nahme nicht Reiſer ſondern
Reiſerus gedruckt ſtand. Und außerdem noch
den gedruckten Prolog zu dem Deſerteur aus
Kindesliebe, worauf ſein Nahme als Verferti¬
ger ſtand, nebſt einem Gedicht auf die Einfuͤh¬
rung eines Lehrers, wo ſein Nahme unter den
uͤbrigen Primanern gedruckt mit aufgefuͤhrt war.
Er wollte dieſe ſonderbaren Dokumente zu¬
erſt nicht gerne vorzeigen, bis es ihm aͤußerſt
nahe gelegt wurde, und man ihm nicht undeut¬
lich merken ließ, daß man ihn fuͤr einen Land¬
ſtreicher hielte.
Nun brachte er ſeine gedruckten Zeugniſſe
zum Vorſchein, die eine beſſere Wirkung tha¬
ten, als er anfaͤnglich geglaubt hatte, weil er
ſie nach und nach vorlegte.
Zuerſt legte er den großen lateiniſchen An¬
ſchlagbogen auseinander, und zeigte auf ſeinen
Nahmen Reiſerus. — Der Schulmeiſter hatte
hier wieder Gelegenheit, ſeine Staͤrke in der
Latinitaͤt zu zeigen, indem er den Anſchlagbogen
ins Deutſche uͤberſetzte; und ſo hatte Reiſer ſchon
viel bei ihm gewonnen.
[29]
Darauf zog er den Prolog hervor, und
wieß die Anweſenden auf ſeinen deutſch gedruck¬
ten Nahmen; dieß ſtimmte alſo uͤberein, und
der Schulmeiſter erzaͤhlte bei der Gelegenheit,
daß er auch auf der Jeſuitenſchule mit Komoͤdie
geſpielt, und ſein Nahme gedruckt worden ſey.
Zuletzt legte Reiſer noch das Gedicht vor,
wo ſein Nahme aufs Neue in der Liſte aller
ſeiner Mitſchuͤler gedruckt erſchien, und nun
vollends aller Zweifel verſchwand, daß er der
nicht wirklich waͤre, der ſeinen Nahmen ſo oft,
und auf ſo verſchiedene Weiſe gedruckt aufzeigen
konnte. Der Werber ſelbſt wurde ſtille, und
ſchien vor Reiſern einigen Reſpekt zu bekommen.
Dieß verſchafte ihm Ruhe. Er ließ ſich Fe¬
der und Papier geben, und fing an, eine von
den Hymnen des Homers in deutſche Hexame¬
ter zu uͤberſetzen. Den Abend kam der Schul¬
meiſter wieder, und unterhielt ſich mit ihm: ſo
ging dieſer Tag voruͤber, und Reiſer legte ſich
ruhig ſchlafen.
Als er aber am andern Morgen erwachte,
den Himmel wieder eben ſo truͤbe wie geſtern
[30] ſahe, und den Regen ans Fenſter ſchlagen hoͤrte,
fing ihm an der Muth zu ſinken —
Er ſtand von ſeiner Streu auf, und ſetzte
ſich traurig an den Tiſch; es wollte mit den
homeriſchen Hymnen nicht vorwaͤrts gehen —
er ſtellte ſich ans Fenſter, und ſahe zu, ob der
Himmel ſich noch nicht ein wenig aufklaͤren
wollte, als der Soldat ſchon wieder hereintrat,
um ihm ſeine Morgenviſite zu machen.
Da nun Reiſer ſich ankleidete, und ſein
Haar in einen Zopf flochte, fing der Krieges¬
mann wieder an, ihm uͤber ſeine Groͤße, und
uͤber die Laͤnge ſeines Haars ſehr viele Kompli¬
mente zu machen, und wie Schade es um ihn
ſey, daß er nicht in den Kriegsſtand treten wolle.
Der Schulmeiſter kam nun auch dazu; ſie
hatten ſeit geſtern uͤberlegt, daß alle die vorge¬
zeigten Dokumente kein Siegel gehabt hatten,
und brachten nun dieſen Umſtand gegen Reiſern
vorzuͤglich in Anregung, daß er doch vor den
Werbern nicht durchkommen wuͤrde, und daß
er ſich alſo lieber dem goͤnnen ſollte, der doch
die erſten Anſpruͤche auf ihn haͤtte.
[31]
So dauerte es nun den ganzen Tag uͤber,
welcher fuͤr Reiſern, der nicht fort konnte, einer
der traurigſten war, bis es gegen Abend ſich
aufklaͤrte, und auf einmal ſein Muth wieder
erwachte.
Er nahm alle ſeine Ueberredungskraft zu¬
ſammen, um die Leute durch die nachdruͤcklich¬
ſten Vorſtellungen zu uͤberzeugen, daß es wirk¬
lich ſein Vorſatz ſey, in Erfurt zu ſtudiren, wo¬
von ihn nichts in der Welt abbringen koͤnne,
daß dieſe ihm endlich zu glauben ſchienen.
Der Schulmeiſter ſagte ihm auf lateiniſch,
wenn er Morgenfruͤh auf Muͤhlhauſen zureißte,
ſo wuͤrde ihm der Wirth von dieſem Gaſthofe
begegnen, der auch lateiniſch ſpraͤche, und ver¬
reißt geweſen ſey, um die ſeinigen (fuos) zu
hohlen.
Der Soldat aber verſprach Reiſern, zu ſei¬
nem Schrecken, ihn den andern Morgen zu
begleiten, und ihn durch ein Gehoͤlz auf den
Weg zu bringen.
Den andern Morgen in aller Fruͤhe war
der Soldat ſchon wieder da, um ihn zu beglei¬
ten, und wollte im Gaſthofe Reiſers Zeche be¬
[32] zahlen, welches dieſer aber mit Gewalt nicht
zugab.
Sie gingen nun aus dem Dorfe Orſchla auf
Haͤhnichen zu eine Anhoͤhe herauf, der Soldat
ſprach kein Wort, und da ſie durch ein Gehoͤlz
kamen, ſo erwartete nun Reiſer jeden Augen¬
blick die Entſcheidung ſeines Schickſals, dent
er doch nicht entgehen koͤnnte.
Auf einmal ſtand der Soldat ſtill, und hielt
an Reiſern eine ordentlich pathetiſche Anrede,
er ſollte ſich noch einmal pruͤfen, ob er ſich wirk¬
lich getraute, nicht in die Haͤnde anderer Wer¬
ber zu fallen; denn das Einzige wuͤrde ihm nur
aͤrgern, wenn er hoͤrte. daß Reiſer doch Soldat
geworden waͤre, und ihn alſo gleichſam betro¬
gen haͤtte: wenn es aber ſein wirklicher Vorſatz
ſey zu ſtudiren, und nicht Soldat zu werden,
ſo wuͤnſche er ihm Gluͤck zu ſeinem Vorhaben,
und eine gluͤckliche Reiſe.
Hiermit ging er fort, und Reiſer traute
immer noch nicht recht, bis er erſt eine ganze
Strecke gegangen war, und ihm nichts auffal¬
lendes begegnete, auſſer einem pucklichten Mann,
der zwei Schweine vor ſich hertrieb, und ihn
lateiniſch[33] lateiniſch anredete, weil er ihn fuͤr einen Stu¬
denten hielt.
Dieß war der Gaſtwirth aus Orſchla, wo¬
von der Schulmeiſter geſagt hatte, daß er (fuos)
die Seinigen holte, welcher aber (fues) Schweine
geholt hatte, die der Schulmeiſter in Orſchla
nach der zweiten Deklination deklinirt, und ſie
dadurch zu den Seinigen erhoben hatte.
Sobald ſich nun Reiſer wieder im Freien
ſahe, und niemand gewahr wurde, der ihm auf¬
gelauert haͤtte, ſo war ihm dieß ein unerwarte¬
tes Gluͤck — die Gefahr aber, welcher er ent¬
ronnen war, machte doch, daß er im Gehen
ſehr ernſthaft uͤber ſein kuͤnftiges Leben nach¬
dachte.
Er erwog, daß es ihm bei allen Leuten ein
ehrliches Anſehn gab, wenn er ſagte, daß er
auf die Univerſitaͤt gehen und ſtudiren wolle.
Die Idee war ihm auch ſelber nicht zuwider;
dieß dauerte aber nur ſo lange, bis die Kuliſſen
mit den Lichtern in ſeiner Einbildungskraft wie¬
der hervortraten, und alle andern Ausſichten
weichen mußten.
Theil[34]
Er wanderte bis gegen Mittag auf eine
ziemlich unbequeme Weiſe, weil der Boden noch
nicht trocken war, wobei nun zu ſeinem Schrek¬
ken ſeine Schuh zu leiden anfingen, die unter
ſeinen Umſtaͤnden gewiſſermaßen einen unerſetz¬
lichen Theil ſeines Selbſt ausmachten.
Er fuͤhlte den drohenden Verluſt mit jedem
Schritte den er that, als um die Mittagsſtunde
der Himmel ſich wieder mit Wolken umzog, die
einen neuen Regenguß prophezeieten, welcher
ſich auch ſehr bald einſtellte, und Reiſers Wan¬
derſchaft zum zweitenmal unterbrach.
Zum Gluͤck erreichte er bald ein Jaͤgerhaus,
das mitten auf einem rund umher mit Wald
umgebenen Felde lag, und wo er eben ſo voller
Zutraun einkehrte, als er hoͤflich und gut auf¬
genommen und bewirthet wurde.
Es war, als ob ſein Empfang ſchon vorbe¬
reitet waͤre, ſo freundſchaftlich nahmen ihn die
Leute in dieſer einſamen Wohnung auf.
Es war, als ob es ſich bei dieſen Leuten von
ſelbſt verſtaͤnde, daß man in einem ſolchen Wet¬
ter einen Wanderer aufnehmen muͤſſe. Es hoͤrte
[35] den ganzen Tag nicht auf zu regnen, und die
Leute noͤthigten ihn ſelber, die Nacht zu bleiben.
Als ſie ihn nun zum Abendeſſen noͤthigten,
verbat es ſich Reiſer, weil er nicht hinlaͤnglich
mit Gelde verſehen ſey, um dieſe Bewirthung
zu bezahlen; indem er eine weite Reiſe vor ſich
habe, und ſich außerordentlich einſchraͤnken
muͤſſe; worauf der Jaͤger aber mit einer Art
von Unwillen ihn an den Tiſch zog.
Es war fuͤr Reiſern ein Gefuͤhl ohne Glei¬
chen, ſich von ganz unbekannten Menſchen ſo
wohl aufgenommen zu ſehen.
Er fand ſich hier, wie zu Hauſe; man wieß
ihm die Nacht ein gutes Bette an, das ihm
nun zum erſtenmale auf ſeiner Wanderung wie¬
der geboten wurde.
Am andern Morgen weckte man ihn zum
Fruͤhſtuͤck, und noͤthigte ihn, den ganzen Tag
da zu bleiben, weil es noch immerfort regnete.
Der Mann ging ins Holz, und verwieß
Reiſern auf ſeine Bibliothek, daß er ſich waͤh¬
rend der Zeit damit unterhalten ſollte.
Dieſe Bibliothek beſtand aus einer großen
Sammlung von alten Kalendern, Todtenge¬
C 2[36] ſpraͤchen, der Geſchichte eines goͤttingſchen Stu¬
denten, und einem Erfurtiſchen Wochenblatt,
der Buͤrger und der Bauer, wo der Bauer im
Thuͤringſchen Dialekt ſprach, und der Buͤrger
ihm in hochdeutſcher Sprache antwortete.
Reiſer amuͤſirte ſich herrlich mit dieſen Sa¬
chen, und gab von Zeit zu Zeit wieder ſeinen
Gedanken Raum; denn ſein guͤtiger Wirth und
Wirthin waren von wenigen Worten, und nicht
im Geringſten neugierig, ſondern fragten ihn
nicht einmal, wohin er ginge, und woher er
kaͤme, ſo daß er alſo durch nichts in ſeinen Ge¬
danken geſtoͤrt wurde.
Dieſe gaſtfreundliche Stube mit dem kleinen
Fenſter, wodurch man weit uͤbers Feld nach
dem Holze ſahe, indeß der Regen ſich draußen
ſtromweiſe ergoß, blieb eins der angenehmſten
Bilder in Reiſers Gedaͤchtniß.
Am dritten Morgen hatte ſich der Himmel
aufgeklaͤrt; und als Reiſer nun von ſeinen
Wohlthaͤtern Abſchied nahm, ſuchten ſie ihm
ſogar noch den Dank zu erſparen, indem ſie
eine nicht nennenswerthe Kleinigkeit an Gelde,
als eine Bezahlung fuͤr die dreitaͤgige Bewir¬
[37] thung von ihm annahmen, und da er wegging
nicht einmal nach ſeinem Nahmen fragten.
Das Andenken an dieſe Leute machte Rei¬
ſern waͤhrend dem Gehen noch manche frohe
Stunde, und gab ihm zugleich wieder Muth
und Zutrauen zu den Menſchen, unter die er
ſich nun, wie in einem Ocean, verlor.
Der Weg war zuerſt von dem geſtrigen Re¬
gen noch ziemlich beſchwerlich; weil aber die
Sonne heiß ſchien, ſo trocknete der Boden bald
wieder, und Reiſer erreichte noch gegen Mittag
die Reichsſtadt Muͤhlhauſen, welche nun als
ein neuer ungewohnter Anblick, mit ihren Thuͤr¬
men vor ihm lag.
Hier ſtand ihm nun, wie er gewarnt war,
die meiſte Gefahr von den Werbern bevor. —
Er gab ſich alſo diesmal alle moͤgliche Muͤhe,
ehe er ins Thor ging, ſorgfaͤltig ſeine Toilette
zu machen; und die ſchon einmal verſuchte Rolle
eines unbefangnen Spatziergaͤngers gelang ihm
auch dießmal wieder eben ſo gut, wie in Hildes¬
heim, ſo daß er, ohne von einer Schildwache
befragt zu werden, gluͤcklich durchs Thor in die
Stadt kam.
[38]
Durch die Stadt eilte er ſo ſchnell wie moͤg¬
lich, erkundigte ſich nach dem Thore aus wel¬
chem der Weg nach Erfurt geht, und verdop¬
pelte ſeine Schritte, ſo oft er etwas einer Sol¬
datenkleidung Aehnliches nur von fern erblickte.
Wie froh ſchuͤttelte er den Staub von ſeinen
Fuͤßen uͤber dieſe Stadt, als er den letzten
Schlagbaum zuruͤckgelegt hatte, und keinen
preußiſchen Werber hinter noch neben ſich ſahe.
Die gruͤnen Thurmſpitzen blieben das einzige
Bild, was er von dieſem Haͤuſerhaufen mit ſich
nahm; alles uͤbrige war verloſchen; ſo ſchnell
war ſeine Einbildungskraft uͤber die Gegen¬
ſtaͤnde hinweggegleitet.
Er naͤherte ſich nun immer mehr dem Ziele
ſeiner Reiſe, und betrachtete das Zuruͤckgelegte
mit ſtillem Vergnuͤgen, wobei ihm beſonders
ſeine Sparſamkeit und harte Lebensart einen
ſuͤßen Triumph gewaͤhrten, da nun die Beſchwer¬
lichkeiten beinahe uͤberſtanden waren. Demohn¬
geachtet aber fuͤhlte er wiederum eine Art von
Aengſtlichkeit, je kleiner der Zwiſchenraum zwi¬
ſchen ihm und ſeinen ungewiſſen Ausſichten
wurde.
[39]
Denn das, was in der Einbildungskraft
keinen Anſtoß gelitten hatte, ſollte nun zur
Wirklichkeit kommen, und mit Hinderniſſen kaͤm¬
pfen, die ſich ſchon im Voraus darſtellten. Es
daͤuchte Reiſern nun viel leichter, mit ſchoͤnen
und angenehmen Ausſichten in die weite Welt zu
wandern, als an Ort und Stelle ſelbſt zu ſeyn,
und dieſe Ausſichten wahr zu machen.
Drum haͤtte ſich nun Reiſer gerne das Ziel
noch weiter weggewuͤnſcht, wenn er im Stande
geweſen waͤre, ſeine Wanderung weiter fortzu¬
ſetzen. Eine traurige Bemerkung aber, die er an
ſeinen Schuhen machte, deren Verluſt fuͤr ihn,
in den Umſtaͤnden, worin er ſich befand, uner¬
ſetzlich war, hemmte auf einmal alle ſeine wei¬
ten Ausſichten wieder, und machte, daß er
ernſthaft uͤber ſeinen Zuſtand nachdachte.
Es iſt merkwuͤrdig, wie die veraͤchtlichſten
wirklichen Dinge, auf die Weiſe in die glaͤn¬
zendſten Gebaͤude der Phantaſie eingreifen und
ſie zerſtoͤren koͤnnen, und wie auf eben dieſen
veraͤchtlichen Dingen eines Menſchen Schickſal
beruhen kann.
[40]
Reiſers Gluͤck, das er in der Welt machen
wollte, hing jetzt im eigentlichen Sinne von ſei¬
nen Schuhen ab; denn von ſeinen uͤbrigen Klei¬
dungsſtuͤcken durfte er nichts veraͤußern, wenn
er mit Anſtande erſcheinen wollte: und doch
machten zerriſſene Schuhe, die er durch neue
nicht erſetzen konnte, ſeinen ganzen uͤbrigen An¬
zug unſcheinbar und veraͤchtlich.
Dieß verſetzte ihn, indem er auf dem Wege
nach Langenſalza begriffen war, in traurige und
ſchwermuͤthige Gedanken, bis ein Bauer und
ein Handwerksburſch, die eben deſſelben Weges
giengen, ſich zu ihm geſellten, und ihn mit
Geſpraͤchen unterhielten.
Der Handwerksburſch erzaͤhlte von ſeinen
Reiſen in Churſachſen, und der Bauer hatte eine
Klageſache, die er ſelbſt in Dresden bei dem
Churfuͤrſten anbringen wollte.
Es war kurz nach Mittag und eine druͤckende
Hitze. Dem Handwerksburſchen druͤckten ſeine
Stiefeln — Reiſer ſahe mit jedem Tritte ſeine
Schuhe ſich verſchlimmern, und der Bauer
klagte uͤber entſetzlichen Durſt, als ſie auf dem
Felde einige Arbeitsleute antrafen, die einen
[41] Eimer Waſſer neben ſich ſtehen hatten, und den
drei ermuͤdeten Wanderern zu trinken gaben.
Eine ſolche Scene, wo unbekannte, vonein¬
ander entfernte Menſchen auf einmal ſich nahe
zuſammenfinden, gemeinſchaftliches Beduͤrfniß,
und gemeinſchaftlichen Troſt und Zuſpruch an¬
einander haben, als ob ſie nie unbekannt und
entfernt voneinander geweſen waͤren; ſo etwas
hielt Reiſern fuͤr alles Unangenehme auf ſeinen
Wanderungen wieder ſchadlos, und er konnte ſich
mit innigem Vergnuͤgen daran zuruͤckerinnern.
Seine Gefaͤhrten verließen ihn vor der Stadt
Langenſalza, in der er ſich nicht aufhielt, ſon¬
dern noch den naͤchſten Ort zu erreichen ſuchte,
wo er uͤbernachten wollte.
Er kam ſpaͤt in dem Gaſthofe an, wo er
nun die letzte Nacht vor ſeiner Ankunft in Er¬
furt zubrachte. — Als er am andern Morgen
erwachte, ſo war ſein erſter Gedanke an einen
Schuſter; und wie groß war nun ſeine Freude,
als er an dieſem Orte einen fand, der um we¬
nige Groſchen, waͤhrend daß er darauf wartete,
ſeine Schuh wieder in dauerhaften Stand ſetzte,
C 5[42] und er dadurch auf einmal aus der groͤßten Ver¬
legenheit befreit war.
Nun gieng er alſo raſch auf Erfurt zu. —
So wie er gekleidet war, durfte er nun vor ie¬
dermann erſcheinen, und ſo hatte er wieder
Muth und Zutrauen zu ſich ſelber.
In dem letzten Dorfe vor Erfurt ließ er ſich
einen Trunk Bier geben. — In dem Gaſthofe
war es ſehr lebhaft. Man bemerkte ſchon die
Naͤhe der Stadt, aus welcher ſich viele Ein¬
wohner hier befanden, unter denen auch ein Ge¬
lehrter war, mit dem die andern von ſeinen
Werken ſprachen.
Von dieſem Dorfe aus bekam denn Reiſer
endlich die Stadt Erfurt zu Geſichte, mit dem
alten Dom, den vielen Thuͤrmen, den hohen
Waͤllen, und dem Petersberge. — Das war
nun die Vaterſtadt ſeines Freundes Philipp
Reiſers, wovon ihm dieſer ſo viel erzaͤhlt hatte.
— Auf dem Wege nach der Stadt zu waren
Kirſchbaͤume gepflanzt. — Die Hitze der Mit¬
tagsſonne hatte ſich ſchon gelegt — die Leute
giengen vor dem Thore ſpatzieren — und als
Reiſer auf dieſem Wege an Hannover zuruͤck¬
[43] dachte, ſo war es ihm auch gerade, als habe
er von dort bis hieher einen leichten Spatzier¬
gang gemacht, ſo klein daͤuchte ihm nun der
Zwiſchenraum, den er zuruͤckgelegt hatte.
Eine ſo große Stadt wie dieſe hatte er nun
noch nicht geſehen; der Anblick war ihm neu
und ungewohnt; er kam durch die breite und
ſchoͤne Straße, welche der Anger heißt, und
konnte ſich nicht enthalten, noch ein wenig in
der Stadt umherzugehen, ehe er ſeinen Stab
weiter ſetzte; denn er wollte noch bis zum naͤch¬
ſten Dorfe gehen, das auf dem Wege nach Wei¬
mar liegt.
Bei dieſen Wanderungen durch die Straßen
von Erfurt kam er in eine der Vorſtaͤdte, und
kehrte, weil es noch nicht ſpaͤt war, in einem
Gaſthofe ein.
Hier ſaß der Wirth, ein dicker Mann, am
Fenſter, und Reiſer fragte ihn, ob die Eck¬
hoffſche Schauſpielergeſellſchaft noch in Weimar
waͤre? Nichts! antwortete er, ſie iſt in Gotha!
Reiſer fragte weiter, ob Wieland noch in Er¬
furt waͤre? Nichts! antwortete jener wieder, er
iſt in Weimar! Das Nichts! ſprach er jedes¬
[44] mal mit einer Art von Unwillen aus, als ob es
ihn verdroͤſſe, Nein! zu ſagen.
Und dieß harte Nichts in der Antwort des
dicken Wirthes, verruͤckte auf einmal Reiſers
ganzen Plan. — Nach Weimar war eigentlich
ſein Sinn gerichtet — da glaubte er, wuͤrden
ſich unerwartete Kombinationen finden — er
wuͤrde da den angebeteten Verfaſſer von Wer¬
thers Leiden ſehen — Und nun klang auf ein¬
mal Gotha ſtatt Weimar in ſeinen Ohren.
Er ließ ſich aber auch dieß nicht irren, ſon¬
dern ſtand eilig auf, um ſich noch denſelben
Abend auf den Weg nach Gotha zu begeben,
und, um von ſeiner ſtrengen Regel nicht abzu¬
weichen, im naͤchſten Dorfe zu uͤbernachten.
Ehe die Sonne unterging, hatte er Erfurt
ſchon wieder im Ruͤcken, und ehe es ganz Nacht
wurde, erreichte er noch das erſte Dorf auf dem
Wege nach Gotha. — Der Dom und die alten
Thuͤrme von Erfurt machten nun ein neues
Bild in ſeiner Seele, das er mit ſich heraus¬
trug, und das ihn zur Wiederkehr in dieſen
Ort einzuladen ſchien.
[45]
In dem Dorfe aber, wo er einkehrte, hatte
er noch zu guter Letzt [auf] ſeiner Streu ſehr un¬
ruhige Nachbaren. Dieß waren nehmlich Fuhr
leute, die von Zeit zn Zeit aufſtanden, und ſich
in einem ſehr groben Dialekt miteinander unter¬
hielten, worin beſonders ein Wort vorkam, das
hoͤchſt widrig in Reiſers Ohren toͤnte, und im¬
mer mit einer Menge von haͤßlichen Nebenideen
fuͤr ihn begleitet war: die Bauern ſagten nehm¬
lich immer: er quam anſtatt er kam. Dieſes
quam ſchien Reiſern ihr ganzes Weſen auszu¬
druͤcken; und alle ihre Grobheit war in dieſem
quam, das ſie immer mit vollen Backen aus¬
ſprachen, gleichſam zuſammengedraͤngt.
Kaum daß Reiſer ein wenig eingeſchlummert
war, ſo weckte ihn dies verhaßte Wort wieder
auf, ſo daß dieſe Nacht eine der traurigſten war,
die er je auf einer Streu zugebracht hatte. Als
der Tag anbrach, ſahe er die ſchwammigten auf¬
gedunſenen Geſichter ſeiner Schlafkameraden,
welche vollkommen mit dem quam uͤberein¬
ſtimmten, das ihm noch in den Ohren gellte,
als er den Gaſthof ſchon verlaſſen hatte, und
[46] nun am fruͤhen Morgen mit ſtarken Schritten
auf Gotha zuwanderte.
Weil er die Nacht wenig geſchlafen hatte,
waren ſeine Gedanken auf dem Wege nach Go¬
tha eben nicht ſehr heiter, wozu noch kam, daß
mit jedem Schritte ſeine Ausſicht nun enger
wurde, und ſeine Phantaſie weniger Spiel¬
raum hatte.
Es war an einem Sonntage, und ein Schu¬
ſter, der die Woche aufs Land gegangen war,
um Schulden einzufordern, kehrte mit ihm nach
Gotha, und ſagte ihm unter andern, daß es
dort ſehr theuer zu leben ſey.
Dieſe Nachricht war fuͤr Reiſern ſehr be¬
denklich, der nun ohngefaͤhr noch einen Gulden
im Vermoͤgen hatte, und deſſen Schickſal in
Gotha ſich alſo ſehr bald entſcheiden mußte. —
Das Geſpraͤch mit dem Schuſter, der ihm
als ein Einwohner von Gotha ſeine Noth klagte,
war fuͤr ihn gar nicht unterhaltend, und ſtimmte
ſeine Ideen ſehr herab, da er nun das wirkliche
Leben in ſo einer Stadt ſich dachte, wo noch
kein Menſch ihn kannte, und wo es noch ſehr
zweifelhaft war, ob irgend jemand an ſeinem
[47] Schickſal Theil nehmen, und auf ſeine Wuͤnſche
merken wuͤrde.
Dieſe unangenehmen Reflexionen machten,
daß ihm der Weg noch beſchwerlicher, und er
mit jedem Schritt muͤder wurde, bis ſich die
beiden kleinen Thuͤrmchen von Gotha zeigten,
wovon ihm der Schuſter ſagte, daß der eine
auf der Kirche, und der andre auf dem Komoͤ¬
dienhauſe ſtaͤnde.
Dieſer angenehme Kontraſt und lebhafte
ſinnliche Eindruck machte, daß ſein Gemuͤth ſich
allmaͤlig wieder erheiterte, und er durch verdop¬
pelte Schritte ſeinen Gefaͤhrten wieder in Athem
ſetzte.
Denn das Thuͤrmchen bezeichnete ihm nun
deutlich den Fleck, wo der unmittelbare laute
Beifall eingeerndtet, und die Wuͤnſche des ruhm¬
begierigen Juͤnglings gekroͤnt wuͤrden.
Dieſer Platz behauptete dort ſeine Rechte
neben dem geweihten Tempel, und war ſelbſt
ein Tempel, der Kunſt und den Muſen gewei¬
het, in welchem das Talent ſich entwickeln, und
alle und jede Empfindungen des Herzens aus
[48] ihren geheimſten Falten vor einem lauſchenden
Publikum ſich enthuͤllen konnten. —
Da war nun der Ort, wo die erhabene
Thraͤne des Mitleids bei dem Fall des Edlen
geweint, und lauter Beifall dem Genius zuge¬
jauchzt wurde, der mit Macht die Seelen zu
taͤuſchen, die Herzen zu ſchmelzen wußte.
Mitleid den Todten und Ehre den Lebenden
war hier die ſchoͤne Loͤſung — und Reiſer lebte
und webte ſchon in dieſem Elemente, wo alles
das, was die Vorwelt empfand, noch einmal
nachempfunden, und alle Scenen des Lebens in
einem kleinen Raume wieder durchlebt wurden.
Kurz, es war nichts weniger als das ganze
Menſchenleben, mit allen ſeinen Abwechſelun¬
gen und mannichfaltigen Schickſalen, das bei
dem Anblick des Thuͤrmchens vom Gothaiſchen
Komoͤdienhauſe, ſich in Reiſers Seele wie im
Bilde darſtellte, und worin ſich die Klagen des
Schuſters, der ihn begleitete, [und] ſeine eigenen
Sorgen, wie in einem Meere verlohren. —
Mit ſeinem einzigen Gulden in der Taſche
fuͤhlte ſich Reiſer begluͤckt wie ein Koͤnig, ſo
lange dieſer Reichthum von Bildern ihm vor¬
ſchwebte,[49] ſchwebte, die die Spitze des Thuͤrmchens in
Gotha umgaukelten, und Reiſern einen ſchoͤnen
Traum in die Zukunft aufs neue vorſpiegelten.
Da ſie nicht mehr weit von der Stadt wa¬
ren, ließ Reiſer ſeinen Gefaͤhrten voran gehen,
und ſetzte ſich gemaͤchlich unter einen Baum, um
ſo gut wie nur irgend moͤglich, ſeine Kleidung
in Ordnung zu bringen, und auf eine ſtattliche
Weiſe in Gotha ſeinen Einzug zu halten.
Dieß gelang ihm ſo gut, daß einige Hand¬
werksleute, die eben vor dem Thore vor Gotha
ſpatzieren giengen, wie vor einem vornehmen
Manne den Hut vor ihm abzogen, welches Rei¬
ſern nicht wenig in Verwunderung ſetzte, der
auf ſeiner ganzen Reiſe mit den Fuhrleuten auf
der Streu geſchlafen, und eine gar nicht glaͤn¬
zende Figur geſpielt hatte.
Er kam nun durch das alte Thor von Gotha
in eine etwas dunkle Straße, die er hinauf¬
gieng, und bald zur rechten Seite den Gaſthof
zum goldnen Kreuze anſichtig wurde, wo er
denn einkehrte, weil dieſer Gaſthof ihm keiner
der glaͤnzendſten zu ſeyn ſchien.
Theil[50]
Als er eben hereintrat, fand er gleich vorn
in der Gaſtſtube einen Schwarm von Hand¬
werksburſchen, die ſchrien und lermten; und er
wollte ſchon wieder umkehren, als der alte Wirth
zu ihm kam, der ihn freundlich anredete und
fragte, ob er etwa hier logieren wolle? Reiſer
erwiederte: dieß ſey wohl eine Herberge fuͤr
Handwerksburſchen? Das thaͤte nichts, ſagte
der Wirth, er ſolle mit ſeinem Logis ſchon zu¬
frieden ſeyn, und hierauf noͤthigte er Reiſern in
ſeine eigene wohleingerichtete Stube, wo ein
alter Hauptmann, ein Hoflaquai, und noch
einige andere wohlgekleidete Leute waren, in
deren Geſellſchaft Reiſer von dem Wirth intro¬
duciret, und auf das hoͤflichſte behandelt wurde.
Denn man that keine einzige unbeſcheidene oder
neugierige Frage an ihn, und bewieß ihm doch
dabei eine ſchmeichelnde Aufmerkſamkeit.
In dieſem Zimmer ſtand ein Fluͤgel, auf
welchem ein junger Mann Nahmens Liebetraut
ſich hoͤren ließ. Dieſer Liebetraut war auch erſt
vor kurzem zufaͤlliger Weiſe in eben dieſen Gaſt¬
hof eingekehrt, und mit den alten Wirthsleuten
bekannt geworden, auf deren Zureden, weil ſie
[51] ſich gerne in Ruhe ſetzen wollten, er den Gaſt¬
hof in Pacht uͤbernommen hatte, ſo daß er alſo
eigentlich der Wirth war, obgleich die Alten
ihm noch immer Anweiſung geben, und ſich mit
um die Wirthſchaft bekuͤmmern mußten.
Dieſer junge Liebetraut ließ ſich ſehr bald
mit Reiſern in ein Geſpraͤch uͤber ſchoͤne Wiſſen¬
ſchaften und Dichtkunſt ein, und zeigte ſich als
ein Mann von feinem Geſchmack und Bildung,
und was das ſonderbarſte war, ſo ſchien er nicht
undeutlich darauf anzuſpielen, daß Reiſer wohl
hieher gekommen ſey, um ſich dem Theater zu
widmen.
Dieſer ließ ſich fuͤr ietzt nicht weiter aus,
und ihm wurde nun auch eine Stube angewie¬
ſen, wo er allein ſeyn konnte. Hier ſammelten
ſich nun ſeine Gedanken wieder, und er machte
ſich nun einen Plan, wie er am andern Tage
ſeinen Beſuch bei dem Schauſpieler Eckhof ma¬
chen, und dem ſein Anliegen vortragen wollte.
Waͤhrend er auf ſeiner Stube allein mit die¬
ſen Gedanken beſchaͤftigt war, und am Fenſter
ſtand, kamen die Chorſchuͤler vor das Haus
und ſangen eine Motette, die Reiſer waͤhrend
D 2[52] ſeiner Schuljahre in Wind und Regen oft mit¬
geſungen hatte.
Dieß erinnerte ihn an jenen ganzen truͤben
Zeitraum ſeines Lebens, wo immer Mißmuth,
Selbſtverachtung und aͤußerer Druck ihm ieden
Schimmer von Freude raubte, wo alle ſeine
Wuͤnſche fehlſchlugen, und ihm nichts als ein
ſchwacher Strahl von Hofnung uͤbrig blieb.
Sollte denn nun, dachte er, nicht endlich
einmal die Morgenroͤthe aus jenem Dunkel her¬
vorbrechen? — Und eine truͤgeriſche taͤuſchende
Hofnung ſchien ihm zu ſagen, daß er dafuͤr, daß
er ſo lange ſich ſelber zur Quaal geweſen, nun
auch einmal werde Freude an ſich ſelber haben,
und daß die gluͤckliche Wendung ſeines Schick¬
ſals nicht weit mehr entfernt ſey.
Sein hoͤchſtes Gluͤck aber war nun einmal
der Schauplatz; denn das war der einzige Ort
wo ſein ungenuͤgſamer Wunſch, alle Scenen
des Menſchenlebens ſelbſt zu durchleben, befrie¬
digt werden konnte.
Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene
Exiſtenz gehabt hatte, ſo zog ihn jedes Schick¬
ſal, das außer ihm war, deſto ſtaͤrker an; daher
[53] ſchrieb ſich ganz natuͤrlich waͤhrend ſeiner Schul¬
jahre, die Wuth, Komoͤdien zu leſen und zu
ſehen. — Durch jedes fremde Schickſal fuͤhlte
er ſich gleichſam ſich ſelbſt entriſſen, und fand
nun in andern erſt die Lebensflamme wieder,
die in ihm ſelber durch den Druck von außen
beinahe erloſchen war.
Es war alſo kein aͤchter Beruf, kein reiner
Darſtellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm
lag mehr daran, die Scenen des Lebens in ſich,
als außer ſich darzuſtellen. Er wolltefuͤr
ſichdas alles haben, was die Kunſt zum
Opfer fordert.
Um ſeinetwillen wollte er die Lebensſcenen
ſpielen — ſie zogen ihn nur an, weil er ſich
ſelbſt darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen
Darſtellung ihm alles lag. — Er taͤuſchte ſich
ſelbſt, indem er das fuͤr aͤchten Kunſttrieb nahm,
was bloß in den zufaͤlligen Umſtaͤnden ſeines Le¬
bens gegruͤndet war. — Und dieſe Taͤuſchung,
wie viele Leiden hat ſie ihm verurſacht, wie viele
Freuden ihm geraubt!
Haͤtte er damals das ſichere Kennzeichen
ſchon empfunden und gewußt, daß wer nicht
D 3[54] uͤber der Kunſt ſich ſelbſt vergißt, zum Kuͤnſtler
nicht gebohren ſey, wie manche vergebene An¬
ſtrengung, wie manchen verlohrnen Kummer
haͤtte ihm dieß erſpart!
Allein ſein Schickſal war nun einmal von
Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu
dulden, zwiſchen welcher und ſeinem wuͤrklichen
Zuſtande ein immerwaͤhrender Mißlaut herrſchte,
und die ſich fuͤr jeden ſchoͤnen Traum nachher
mit bittern Quaalen raͤchte.
Nach ſeiner langen Wanderſchaft brachte
nun Reiſer wieder die erſte Nacht in Gotha
in ſanftem Schlummer zu, und als er am an¬
dern Morgen fruͤh erwachte, ſo war es als ob
aus Liſuart und Dariolette ihm der Schluß aus
einer Arie, welche die verwuͤnſchte Alte ſingt,
entgegen toͤnte:
Waͤhrend daß dieſe Zeilen ihm immer in
Gedanken ſchwebten, zog er ſich an, und erkun¬
digte ſich bei ſeinem jungen Wirth, wo Eckhof
[55] wohnte, dem er nun dieſen Vormittag ſeinen
Beſuch machen wollte.
Zu dem Ende hielt er nun ſeinen gedruckten
Prolog in Bereitſchaft, den er in Hannover
verfertigt und Iſland geſprochen hatte, und
durch welchen er hier vorzuͤglich Eingang zu fin¬
den hoffte.
Der junge Gaſtwirth Liebetraut noͤthigte ihn
noch vorher mit ihm zu fruͤhſtuͤcken, und ſchien
an ſeinem Umgange ein beſonderes Vergnuͤgen
zu finden, indem er zugleich anfing, ihn zum
Vertrauten ſeiner Herzensgeſchichte zu machen,
welche darin beſtand, daß er den Gaſthof ge¬
pachtet habe, um ein junges Frauenzimmer, das
er liebte, je eher je lieber heirathen zu koͤnnen.
Reiſer gieng nun zu Eckhof, und auf dem
Wege dahin draͤngten ſich alle ſeine Entwuͤrfe,
die er vom Anfang ſeiner Wanderung an ge¬
macht, noch einmal wieder in ſeine Seele zu¬
ſammen, da er ſich ſo nahe am Ziel ſeiner Reiſe
ſahe; die Melodie und der Vers aus Liſuart
und Dariolette toͤnten noch immer in ſeine Oh¬
ren, und dießmal wenigſtens taͤuſchte ihn ſeine
Hofnung nicht. — Eckhof empfing ihn uͤber
D 4[56] Erwartung gut, und unterhielt ſich beinahe eine
Stunde mit ihm.
Reiſers jugendlicher Enthuſiasmus fuͤr die
Schauſpielkunſt ſchien dem Greiſe nicht zu mi߬
fallen — er ließ ſich mit ihm uͤber Gegenſtaͤnde
der Kunſt ein, und mißbilligte es gar nicht, daß
er ſich dem Theater widmen wollte, wobei er
hinzufuͤgte, daß es freilich gerade an ſolchen
Menſchen fehlte, die aus eigenem Triebe zur
Kunſt, und nicht durch aͤußere Umſtaͤnde bewo¬
gen wuͤrden, ſich der Schaubuͤhne zu widmen.
Was konnte wohl aufmunternder fuͤr Rei¬
ſern ſeyn, als dieſe Bemerkung — er dachte
ſich ſchon im Geiſt als einen Schuͤler dieſes vor¬
trefflichen Meiſters.
Nun zog er auch ſeinen gedruckten Prolog
hervor, der Eckhoffs vollkommnen Beifall er¬
hielt, und den ſich derſelbe ſogar von ihm aus¬
bat, und bemerkte, wie nahe das Talent zum
Schauſpieler und zum Dichter miteinander ver¬
wandt ſey, und wie eins gewiſſermaßen das
andere vorausſetze.
Reiſer fuͤhlte ſich in dieſem Augenblick ſo
gluͤcklich, als ſich ein junger Menſch nur fuͤhlen
[57] konnte, der vierzig Meilen weit bei trockenem
Brodte zu Fuße gereißt war, um Eckhof zu
ſehen und zu ſprechen, und unter ſeiner Anfuͤh¬
rung Schauſpieler zu werden.
Was nun ſein Engagement anbetraͤfe, ſagte
Eckhof, ſo muͤſſe er ſich deswegen vorzuͤglich bei
dem Bibliothekarius Reichardt melden, mit
welchem er ſelbſt auch Reiſers wegen ſprechen
wolle.
Reiſer verſaͤumte keinen Augenblick dieſer
Anweiſung zu folgen, und gieng von Eckhof,
der in einem Beckerhauſe wohnte, nach dem
Hauſe des Bibliothekarius Reichardt, der ihn
zwar auch hoͤflich empfing, aber ſich doch nicht
ſo viel wie Eckhof mit ihm einließ. Indes
machte er ihm zu einer Debuͤtrolle Hofnung,
welches Reiſers hoͤchſter Wunſch war, denn
wenn er nur dazu kaͤme, zweifelte er nicht, ſei¬
nen Endzweck zu erreichen.
Mit Heiterkeit im Geſichte kehrte er nun zu
Hauſe, weil er dieſen Anfang ſeiner Unterneh¬
mung fuͤr hoͤchſt gluͤcklich hielt, und unter dieſen
guͤnſtigen Umſtaͤnden ſich ſo viel zutraute, daß nun
ſein Wunſch ihm nicht mehr fehlſchlagen koͤnne.
[58]
Und ob er ſich gleich ſeinem Wirth nicht
ganz entdeckte, ſo ſchien dieſer doch gar nicht
mehr daran zu zweifeln, daß er nun in Gotha
bleiben, und ſeine theatraliſche Laufbahn hier
antreten wuͤrde.
Voller Zutrauen zu ſich ſelbſt und ſeinem
Schickſale, brachte nun Reiſer in der Geſell¬
ſchaft des alten Hauptmanns, des Hoflaquaien
und ſeines Wirths den Mittag hoͤchſt angenehm
zu; und voll von ſchimmernden Ausſichten, wor¬
in ihn alles beſtaͤrkte, uͤberſchritt er durch dieß
Mittagseſſen zum erſtenmal im Tanmel der
Freude, den Beſtand ſeiner Kaſſe, und duͤnkte
ſich nun dadurch um deſto feſter an dieſen Ort
und an die hartnaͤckigſte Verfolgung ſeines
Plans gebunden.
Er machte nun faſt taͤglich bei Eckhof ſeinen
Beſuch, und dieſer rieth ihn, fuͤrs erſte die Pro¬
ben im Schauſpielhauſe fleißig zu beſuchen, wel¬
ches Reiſer that, und den alten Eckhof hier
ganz in ſeinem Elemente ſahe, wie er auf jede
Kleinigkeit aufmerkſam war, und auch den er¬
ſten Schauſpielern noch manche Erinnerung gab.
Auch wurde Reiſern erlaubt, die Komoͤdie un¬
[59] entgeldlich zu beſuchen, wo das erſtemal ein
gewiſſer Bindrim mit dem Vater in der Zaire
debuͤtirte.
Weil nun dieſer keinen beſondern Beifall
fand, und Reiſer in ſich fuͤhlte, wie bei den
meiſten Stellen der Ausdruck haͤtte ganz anders
ſeyn muͤſſen, ſo ſpornte ihn dieß noch mehr an,
nun ſelber ſo bald wie moͤglich in einer Debuͤt¬
rolle den Schauplatz zu betreten, und er lag
Eckhof dringend an, daß in einem der naͤchſt¬
aufzufuͤhrenden Stuͤcke ihm eine Rolle moͤchte
zugetheilt werden.
Und da das naͤchſtemal die Poeten nach der
Mode aufgefuͤhrt wurden, ſo that Reiſer den
Vorſchlag die Rolle des Dunkel zu uͤberneh¬
men, welches ihm Eckhof aber aus dem Grunde
widerrieth, weil er ſelbſt dieſe Rolle ſpiele, und
es fuͤr einen angehenden Schauſpieler nicht rath¬
ſam ſey, ſich gerade in einer Rolle zuerſt zu
zeigen, die man ſchon von einem alten geuͤbten
Schauſpieler zu ſehen gewohnt waͤre.
So verſchob ſich nun ſein Debuͤt von einem
Spieltage bis zum andern, waͤhrend daß ſeine
Hofnung dazu immer genaͤhrt wurde, und auf
[60] dieſer Entſcheidung nun ſein ganzes Schickſal
beruhte.
Bei Eckhof hohlte ſich nun Reiſer immer
Troſt und neue Hofnung, ſo oft er anfing ver¬
zagt zu werden; denn daß dieſer ſich gerne mit
ihm unterhielt, floͤßte ihm wieder Selbſtzutrauen
und neuen Muth ein.
Demohngeachtet aber waren auch ein paar
Aeuſſerungen von Eckhof aͤuſſerſt niederſchla¬
gend fuͤr ihn; denn als einmal von ſeinem En¬
gagement die Rede war, und Reiſer ſich auf
einen jungen Menſchen berief, der in den Poe¬
ten nach der Mode die Rolle des Reimreich ge¬
ſpielt hatte, ſo ſagte Eckhof, man habe dieſen
vorzuͤglich ſeiner Jugend wegen angenom¬
men, und ſchien dadurch zu verſtehen zu geben,
daß dieſer Beweggrund bei Reiſern nicht mehr
ſtatt finde; der damals doch auch erſt neunzehn
Jahr alt war, aber wie es ſchien, von jeder¬
mann fuͤr weit aͤlter gehalten wurde; ſo daß bei
dem Verluſt aller Freuden der Jugend, auch
nicht einmal der Anſchein der Jugend ihm ge¬
blieben war.
[61]
Und ein andermal, als von Goͤthen geſpro¬
chen wurde, ſagte Eckhoff, er ſey ohngefaͤhr
von Reiſers Statur, aber gut phyſionomirt,
welches aber allein ſchon den Schauſpieler in
Reiſern ganz vernichtet haben wuͤrde, wenn
nicht Eckhof gleich darauf zufaͤlliger Weiſe ihm
wieder etwas Aufmunterndes geſagt haͤtte, in¬
dem er ihn fragte, ob er außer dem Prolog
ſonſt nichts gedichtet habe? welches Reiſer be¬
jahte, und ſobald er zu Hauſe kam, ſeine Verſe,
die er auswendig wußte, niederſchrieb, um ſie
Eckhof zu uͤberbringen.
Er brachte wohl ein paar Tage mit dieſer
Arbeit zu, und ſein Wirth gerieth auf den Ge¬
danken, daß Reiſer ein dramatiſches Werk fuͤr
die Schaubuͤhne verfertigte. — Dieß ließ er ſich
auf keine Weiſe ausreden, und wuͤnſchte Rei¬
ſern ſchon im voraus Gluͤck zu der glaͤnzenden
Laufbahn, die er nun betreten wuͤrde.
Als Eckhof die Gedichte geleſen hatte, be¬
zeigte er Reiſern ſeinen Beifall daruͤber, und
ſagte, er wolle ſie auch dem Bibliothekarius
Reichardt zu leſen geben. Dieß war fuͤr Rei¬
ſern eine Aufmunterung ohne Gleichen, weil er
[62] ſich immer noch an Eckhoffs erſten Ausſpruch
erinnerte, wie nahe der Schauſpieler und der
Dichter aneinander grenzten.
Er zweifelte nun nicht, daß dieſe Gedichte
ihm ſeinen Weg zum Theater noch mehr bahnen,
und ihn bald ſeinem Ziele naͤher bringen wuͤrden.
Dazu kam noch, daß der Schauſpieler Gro߬
mann, welcher ſich damals in Gotha aufhielt,
und Reiſern, einmal auf der Straße begegnete,
ihm neuen Muth zuſprach, indem er den Grund
anfuͤhrte, daß man ihn gewiß nicht wuͤrde ſo¬
lange aufgehalten haben, wenn man nicht ge¬
ſonnen ſey, ihn, vielleicht ohne Debuͤt, fuͤr das
Theater zu engagiren; denn es war nun ſchon
in die dritte Woche, daß Reiſer ſich hier aufhielt.
Dieſe troͤſtenden Worte und die freundliche
Anrede von Großmann waren damals ein wah¬
rer Balſam fuͤr Reiſern, der bei dem Schloſſe,
wo gebauet wurde, einſam auf und nieder ging,
und gerade mit finſterm Unmuth uͤber ſein noch
ungewiſſes Schickſal nachdachte.
Reiſer ging nun mit guter Hofnung zu
Hauſe, und brachte den Tag bei ſeinem Wirth
noch ſehr vergnuͤgt zu.
[63]
Am andern Morgen ging er in die Probe,
und man fuͤhrte den Tag gerade die Operette,
der Deſerteur, auf, worin ein fremder Schau¬
ſpieler, Nahmens Neuhaus, den Deſerteur,
und deſſen Frau die Lilla ſpielte.
Eckhof bewieß ſich bei der Probe beſonders
geſchaͤftig, und Reiſer ſtand hinter den Kuliſſen,
und ſahe mit Vergnuͤgen zu, wie durch An¬
ſtrengung und Aufmerkſamkeit eines jeden Ein¬
zelnen das ſchoͤne Werk entſtand, das am Abend
die Zuſchauer vergnuͤgen ſollte.
Er dachte ſich lebhaft die Naͤhe in der er ſich
nun bei dieſen reizenden Beſchaͤftigungen fand,
und daß auf eben dieſem Schauplatze mit ſeinem
Spiele ſich auch zugleich ſein Schickſal entſchei¬
den, und ſeine Exiſtenz auf dieſem Fleck ſich
entwickeln wuͤrde. —
Denn auf dieſen engumſchraͤnkten Schau¬
platz waren nun nach der weiten Reiſe alle ſeine
Wuͤnſche beſchraͤnkt; hier ſah' er ſich, hier fand
er ſich wieder — Hier ſchloß die Zukunft ihren
ganzen reichen Schatz von goldnen Phantaſien
fuͤr ihn auf, und ließ ihn in eine ſchoͤne und
immer ſchoͤnere Ferne blicken — —
[64]
So hatte er ſchon oft zwiſchen den Kuliſſen
in Gedanken vertieft geſtanden, und ſtand auch
diesmal wieder ſo, als er auf einmal den Bi¬
bliothekarius Reichardt auf ſich zukommen ſah,
von dem er ſchon ſeit einigen Tagen eine ent¬
ſcheidende Antwort erwartet hatte.
Die Miene deſſelben verkuͤndigte ſchon nichts
Gutes, und er redete Reiſern mit den trocknen
Worten an, es thaͤte ihm leid, ihm ſagen zu
muͤſſen, daß aus ſeinem Engagement beim
Theater nichts werden, und daß er auch zur
Debuͤtrolle nicht kommen koͤnne — Mit dieſen
Worten gab er Reiſern die geſchriebenen Ge¬
dichte zuruͤck, indem er gleichſam zum Troſt hin¬
zufuͤgte, es herrſche eine leichte Verſifikation
darin, und er ſolle dieß Talent ja nicht vernach¬
laͤſſigen.
Reiſer der an Leib und Seele gelaͤhmt war,
konnte kein Wort hierauf antworten, ſondern
ging hin, wo das Theater mit ſeinem letzten
Vorhange ganz am Ende an die kahle Mauer
grenzt, und ſtuͤtzte ſich verzweiflungsvoll mit
dem Kopfe an die Wand. Denn er war nun
wirklich ungluͤcklich, und doppelt ungluͤcklich —
[65]
Der eingebildete und der wuͤrkliche Mangel
traten in fuͤrchterlicher Eintracht zuſammen,
um ſein Gemuͤth mit Schrecken und Grauen vor
der Zukunft zu erfuͤllen.
Er ſahe nun keinen Ausweg aus dieſem La¬
byrinthe, in welchs ſeine eigene Thorheit ihn
geleitet hatte — hier war nun die kahle oͤde
Mauer, das taͤuſchende Schauſpiel war zu Ende.
Er eilte vors Thor hinaus, und ging in der
Allee, wo er ſich ſchon oft mit den angenehmſten
Vorſtellungen beſchaͤftiget hatte, verzweiflungs¬
voll auf und nieder; die Menſchen gingen kalt
vor ihm vorbei; niemand wußte, daß er in die¬
ſem Augenblick die einzige Hoffnung ſeines Le¬
bens verlohren hatte, und einer der verlaſſenſten
Menſchen war.
Und ſonderbar war es, daß gerade in die¬
ſem allerverlaſſenſten Zuſtande, ſich ein unbe¬
kanntes Gefuͤhl von Liebebeduͤrfniß in ihm regte,
da ſeine Verzweiflung in Mitleid mit ſeinem ei¬
genen Zuſtande ſich verwandelte, und ihm nun
ein Weſen fehlte, das dieſes Mitleid mit ihm
haben koͤnnte.
Theil[66]
Er getrauete ſich den Mittag nicht, zu Hauſe
zu gehen, ſondern aß nicht, und kehrte erſt den
Nachmittag wieder zuruͤck — und am Abend
ging er in die Komoͤdie, wo nun die Operette,
der Deſerteur aufgefuͤhrt wurde, die ihm den
Tod ſeiner Hoffnungen bezeichnete.
Nie aber in ſeinem Leben iſt ſeine Theilnah¬
me an einem fremden Schickſale ſtaͤrker geweſen,
als ſie es gerade dieſen Abend an dem Schick¬
ſale der Liebenden war, welche durch den dro¬
henden Todesſtreich getrennt werden ſollten. Es
traf bei ihm zu, was Homer von den Maͤdgen
ſagt, die um den erſchlagenen Patroklius wein¬
ten, ſie beweinten zugleich ihr eigenes Schickſal.
Selbſt die Muſik ruͤhrte ihn bis zu Thraͤnen,
und jeder Ausdruck erſchuͤtterte ſein Innerſtes.
Am ſtaͤrkſten aber fuͤhlte er ſich durch die Scene
bewegt, wo der Deſerteur, der ſchon ſein To¬
desurtheil weiß, im Gefaͤngniß an ſeine Geliebte
ſchreiben will, und ſein betrunkener Kamerad
ihm keine Ruhe laͤßt, weil er ihn ein Wort ſoll
Buchſtabiren lehren.
Reiſer fuͤhlte es hier tief, wie wenig ein
Menſch den andern Menſchen iſt, wie wenig
[67] den andern an ſeinem Schickſal liegt; und ſein
Freund mit der Hutkokarde ſtand wieder vor ſei¬
ner Seele da. Weswegen putzte aber jener ſeine
Hutkokarde, als um ſeinem Maͤdgen, der Ein¬
zigen zu gefallen, die damals ſeine Goͤttin war,
in der er ſich wiederfinden, und wieder von ihr
geliebt ſeyn wollte.
Das Schauſpiel endigte ſich froh, die Un¬
gluͤcklichen wurden getroͤſtet, das Weinen ver¬
wandelte ſich in Lachen, das Trauren in Froͤ¬
lichkeit — aber betruͤbt und mit ſchwerem Herzen
ging Reiſer in ſeine Wohnung — vor ihm war
alles dunkel, und er ſahe nun keinen Strahl
von Hoffnung mehr.
Als er zu Hauſe kam, legte er ſich ſogleich
zu Bette — ſeine Sinne waren ſtumpf — ſeine
Gedanken wußten keinen Ausweg mehr zu fin¬
den — und der Schlaf war das einzige, was ihm
uͤbrig blieb — Es war ihm, als ob er aus die¬
ſem Schlafe nicht wieder erwachen wuͤrde —
denn alle Lebensausſichten waren ihm abgeſchnit¬
ten, und er hatte keine Hoffnung mehr, wozu
er erwachen ſollte,
Der Gedanke von Aufloͤſung, von gaͤnzlichem
Vergeſſen ſeiner ſelbſt, von Aufhoͤren aller Er¬
innerung und alles Bewußtſeyns war ihm ſo
ſuͤß, daß er dieſe Nacht die Wohlthat des Schla¬
fes im reichſten Maaße genoß — denn kein lei¬
ſer Wunſch hemmte mehr die gaͤnzliche Abſpan¬
nung aller ſeiner Seelenkraͤfte; kein Traum von
taͤuſchender Hoffnung ſchwebte ihm mehr vor —
alles war nun vorbei, und endigte ſich in die
ewigſtille Nacht des Grabes.
So wohlthaͤtig reicht die Natur den Hoff¬
nungsloſen auch ſchon die Schale dar, aus der
er Vergeſſenheit ſeiner Leiden trinken, und alle
Erinnerungen an irgend etwas, das er wuͤnſchte,
oder wornach er ſtrebte, aus der Seele ver¬
wiſcht werden ſollen.
Als Reiſer am andern Morgen ſpaͤt aus ſei¬
nem tiefem Schlafe erwachte, fuͤhlte er ſich wun¬
derbar an Leib und Seele geſtaͤrkt — er fuͤhlte
Kraft in ſich, alles zu unternehmen, um auch ſelbſt
unter dieſen Umſtaͤnden noch zum Ziel ſeiner
Wuͤnſche zu gelangen.
Es ſtieg ein Gedanke in ihm auf, ſich hier
um Unterrichtsſtunden zu bewerben; ſich durch
[69] ſeinen eigenen Fleiß zu naͤhren, und auf dem
Theater umſonſt zu dienen. — Dieſer Entſchluß
wurde immer lebhafter bei ihm, und er traute
ſeinen Kraͤften alles zu, ſobald er nur wieder
einen Schimmer von Hoffnung vor ſich ſahe,
ſein Ziel zu erreichen.
Waͤhrend dieſer Gedanken zog er ſich an,
und ging zu Eckhof, dem er ſeinen Entſchluß
entdeckte, und deſſen Rath er ſich ausbat, in¬
dem er verſicherte, daß er fuͤr ſich ſelbſt leben
koͤnne, ohne doch von der Art, wie er zu leben
daͤchte, ſich etwas merken zu laſſen.
Eckhof lobte und billigte ſeine Standhaftig¬
keit, und ſagte ihm, er zweifle nicht, daß dieß
Anerbieten werde angenommen werden. Der
Bibliothekarius Reichardt, welchem Reiſer eben
dieſen Entſchluß bekannt machte, verſprach,
ihm den andern Tag Beſcheid darauf zu geben.
Und nun kehrte Reiſer voll neuer Hoffnung
wieder zu Hauſe — ſein ganzes Beginnen kam
ihm nun ſelber noch ehrenvoller vor, weil er
mit der Kunſt zugleich den Fleiß in nuͤtzlichen
Geſchaͤften und naͤhrendem Erwerb verband —
E 3[70] und alle ſeine uͤbrigen Stunden der Kunſt zum
Opfer brachte.
Er aß nun dieſen Mittag wieder voll Zu¬
trauen bei ſeinem Wirth — und fuͤhlte in ſich
einen unwiderſtehlichen Muth, der Kunſt zu
Liebe, das Haͤrteſte im Leben zu ertragen, ſich
auf die nothwendigſten Beduͤrfniſſe einzuſchraͤn¬
ken, und Tag und Nacht nicht zu ruhen, um
ſich in der Kunſt zu uͤben, und zugleich ſeine Un¬
terrichtsſtunden gehoͤrig abzuwarten.
Mit dieſen Entſchluͤſſen, die ihm einem recht
heroiſchen Muth einfloͤßten, kam er am andern
Morgen wieder zu Reichardt, und hoͤrte nun
ſein Endurtheil, daß man ſich auch auf ſein An¬
erbieten, umſonſt auf dem Theater zu dienen,
nicht einlaſſen koͤnne, und jezt ſchlechterdings
kein neues Engagement bei dieſem Theater mehr
ſtatt finden ſolle. — Wenn Reiſer einige Wo¬
chen eher gekommen waͤre, ſo haͤtte ſich etwas fuͤr
ihn thun laſſen, nun aber ſey alles vergeblich. —
Dieſe ganz unerwartete zweite abſchlaͤgli¬
che Antwort verſetzte Reiſern in eine Art von
innerer Erbitterung — er fing in dieſem Augen¬
blicke an, ſich ſelbſt zu haſſen, und zu verachten,
[71] und fragte: ob er denn nicht etwa Soufleur,
oder Rollenſchreiber, oder Lichtputzer beim
Theater werden koͤnne? — Reichardt antwor¬
tete: es thaͤte ihm Leid, da Reiſer ſo viel Feuer
fuͤrs Theater verriethe, daß ſein Unternehmen
ihm hier mißlungen waͤre, indes wuͤrde es ihm
vielleicht anderwaͤrts gelingen.
Reiſer ging nun in tiefen Gedanken von Rei¬
chard weg, und ging bei dem Bau am Schloſſe
auf und nieder, wo einige in Schiebkarren
Steine zufuͤhrten, andere ſie ordneten. — Er
ſtand wohl an eine Stunde da, und ſahe im¬
mer dieſer Arbeit zu — dabei entſtand eine ſon¬
derbare Begierde in ihm, ſein gutes Kleid aus¬
zuziehen, und mit den uͤbrigen Tageloͤhnern
auch Steine zu dieſem Bau auf den Schiebkar¬
ren herbei zu fuͤhren.
Es war ſchon gegen Mittag, und die Sonne
ſchien immer heißer. — Die Haͤnde der Arbei¬
ter wurden laß — ſie ruheten ſich aus, und ver¬
zehrten auf der Erde ihr Mittagsmahl. — Rei¬
ſer gab ſich mit dem einen ins Wort, und fragte
ihn, wie viel ſein Tagelohn betruͤge. Es war
eine Anzahl Groſchen, die Reiſer nicht mehr in
E 4[72] ſeinem Vermoͤgen hatte; und das Geld konnte
in einem Tage verdient werden.
Der Entſchluß, um dieſen Tagelohn zu ar¬
beiten, war in dem Augenblicke bei Reiſern
ſchon ſo gewiß, daß er innerlich lachen mußte,
daß der Arbeiter, waͤhrend er mit ihm ſprach, die
Muͤtze vor ihm abnahm, und nicht wußte, daß
ſie vielleicht Morgen Kameraden ſeyn wuͤrden.
Das einzige, was ſeine Erbitterung, und
Selbſthaß und Selbſtverachtung mildern konnte,
war dieſer Entſchluß, worinn er ſich ſelbſt wie¬
der ehrte. Denn nun wollte er ſeinen wahren
Zuſtand ſeinem Wirth entdecken, ſeinen Degen,
ſein Kleid ihm fuͤr die Bezahlung laſſen, und
dann beim Schloßbau Steine zufuͤhren.
Waͤhrend nun dies in ſeinen Gedanken vor¬
ging, glaubte er ſelbſt, es ſey ſein wahrer Ernſt,
und wußte nicht, daß ſeine Einbildungskraft
ihn wieder taͤuſchte, und daß er ſchon wieder
in Gedanken eine Rolle ſpielte.
Denn als Handlanger beim Schloßbau war
er nun das Niedrigſte, was er nur ſeyn konnte;
dieſe ſelbſt gewaͤhlte freiwillige Niedrigkeit hatte
einen außerordentlichen Reiz fuͤr ihn — er lebte
[73] nun wie die uͤbrigen von ſeinem Stande, ging
des Sonntags fleißig in die Kirche, und war ein
ſtiller religioͤſer Menſch — in einſamen Stunden
ergoͤtzte er ſich denn mit Shakeſpear und Homer,
und hatte dasjenige reelle Leben in ſich, was er
nicht außer ſich haben konnte.
Beſonders ruͤhrend war ihm bei dergleichen
Vorſtellungen immer der Gedanke, daß er am
Sonntage fleißig in die Kirche gehen, und dem
Prediger recht aufmerkſam zuhoͤren wuͤrde.
— Denn hierdurch vernichtete er gleichſam ſich
ſelbſt, weil er alles, was auch der ſchlechteſte
Prediger ihm ſagen wuͤrde, doch fuͤr ſich noch
ſehr lehrreich hielt, und nicht kluͤger als der
einfaͤltigſte Menſch ſeyn wollte.
Er dachte ſich nun wieder in dem Zuſtande,
worin er als Hutmacherburſch geweſen war,
wo er den Prediger, der ihm gefiel, wie ein
Weſen hoͤherer Art, und ſelbſt die Chorſchuͤler
auf der Straße mit Ehrfurcht betrachtete. Vom
Theater durfte er in dieſem Zuſtande kaum einen
Begriff haben — und doch war es ihm wieder,
als ob eben dieſer Zuſtand auf eine wunderbare
E 5[74] Weiſe ihn ſeinem erſten Wunſche vielleicht wie¬
der naͤher bringen koͤnnte.
Ehe er ſich nun aber um die Stelle eines Ta¬
geloͤhners bei dem Bau am Schloſſe wirklich
bewarb, konnte er doch nicht unterlaſſen, noch
einmal zu Eckhof zu gehen, um ihm Lebewohl
zu ſagen, und ihm zugleich zu erzaͤhlen, daß
auch ſeine letzte Hoffnung geſcheitert ſey.
Er konnte dieſe Erzaͤhlung nicht ohne Be¬
klemmung und Ruͤhrung vorbringen, weil er
ſich ſeinen ganzen nunmehrigen Zuſtand, und
alſo weit mehr dabei dachte, als er ſagte. —
Der gute Eckhof redete ihm zu: er ſolle den
Muth nicht ſinken laſſen; drei Meilen von hier
in Eiſenach ſey jetzt die Barzantiſche Truppe;
es wuͤrde ihm nicht fehlen, bei dieſer Truppe
angenommen zu werden; er ſolle ſich bei derſel¬
ben nur erſt eine Weile zu uͤben ſuchen, und
dann wieder nach Gotha kommen, wo vielleicht
guͤnſtigere Umſtaͤnde ſich fuͤr ihn ereignen, und
ſeine Aufnahme deſto leichter ſeyn wuͤrde, wenn
er ſchon eine Zeitlang bei einer Truppe geſtan¬
den haͤtte, — er koͤnne dieß ja leicht verſuchen,
[75] und den Weg von Gotha bis Eiſenach auf der
Chauſſee wie einen Spatziergang machen.
Mit dieſer Anrede von Eckhof war auf ein¬
mal das ganze Projekt mit dem Steine zufuͤh¬
ren, und dem Arbeiten ums Tagelohn aus
Reiſers Gedanken verſchwunden. — Denn das
Ziel, wohin er doch am Ende wollte, ſahe er
auf einmal wieder nahe vor ſich, und alle Be¬
denklichkeiten hoͤrten auf, da er ſich den Weg
von Gotha nach Eiſenach wie einen Spatzier¬
gang dachte, wodurch er gar keine Untreue an
ſeinem Wirth begieng, dem er von Eiſenach als
Schauſpieler, doch eher und leichter, wie von
ſeiner Tageloͤhnerarbeit bezahlen konnte.
Er gieng alſo, da es hoch Mittag war, aus
Eckhofs Hauſe, ſo wie er war, und ohne ſich
umzuſehen, gerade auf Eiſenach zu. Und die¬
ſer Weg wurde ihm nun auch wuͤrklich ſo leicht,
wie ein Spatziergang. Denn alle die erſtor¬
benen Hoffnungen waren nun auf einmal in ſei¬
ner Seele wieder erneuert, und machten einen
lebhaften und angenehmen Kontraſt gegen die
melancholiſchen Ideen, womit er ſich an dieſem
[76] Vormittage noch zum Tageloͤhner hatte verdin¬
gen wollen.
Er dachte ſich immer nahe bei Gotha, und
wie er am andern Tage zuruͤckkehren, und ſei¬
nem Wirth eine angenehme Nachricht bringen
wuͤrde. Dies machte, daß die Schoͤnheiten
der Natur ihn wieder ergoͤtzten; er wandelte
mit innigem Vergnuͤgen durch die romantiſchen
Thaͤler zwiſchen den Bergen hin, und als er
die Thuͤrme der alten Wartenburg, von der er
ſchon in ſeiner Kindheit gehoͤrt hatte, zuerſt er¬
blickte, ſo umfaßte ſein Gemuͤth die Gegenſtaͤn¬
de umher mit einer Waͤrme und Anſchließung,
die ihm alles doppelt ſchoͤn machte; es war ihm,
als ob er in einem ſuͤßen Traume ſchwebte,
worin, was er ehmals gedacht hatte, eins nach
dem andern ſich ihm nun wuͤrklich darſtellte.
Es war ihm, als ob er allenthalben ſeyn
koͤnnte, wo er wollte, da er ſich ſo auf einmal
in wenigen Stunden von Gotha nach Eiſenach
verſetzt ſahe, woran er den Morgen deſſelbigen
Tages noch gar nicht gedacht hatte.
Seinen Ueberrock und andre Sachen, die
er ſonſt bei ſich trug, hatte er zu Hauſe gelaſſen,
[77] und wanderte, in ſeinem beſten Anzuge, mit
dem Degen an der Seite, ſo wie er bei Reichardt
und Eckhof ſeinen Beſuch gemacht hatte, in Ei¬
ſenach ein. Zufaͤlliger Weiſe ſteckten ſeine ge¬
ſchriebenen Gedichte, und der lateiniſche An¬
ſchlagbogen, worauf ſein Nahme ſtand, noch
in ſeiner Rocktaſche, der Homer aber, und ein
Theil der Waͤſche, die er bei ſich trug, war
ſamt dem Ueberrocke zuruͤckgeblieben.
Als er in die Stadt kam, ſchien ihm alles
ein frohes und heiteres Anſehn zu haben; die
Menſchen ſchienen gleichſam zur Freude geſtimmt
zu ſeyn, ſo daß er mit lauter frohen Ahndun¬
gen in den Gaſthof trat, wo er die Nacht blei¬
ben wollte, und ſich, nachdem er ſich kaum nie¬
dergeſetzt hatte, erkundigte, ob dieſen Abend
nicht etwa Komoͤdie geſpielt wuͤrde?
Welch ein Donnerſchlag war es fuͤr ihn,
als man ihm antwortete: Die Barzantiſche
Schauſpielergeſellſchaft ſey gerade dieſen
Morgen nach Muͤhlhauſen abgereiſt! —
Alſo war es nun, als ob ein feindſeeliges Schick¬
ſal ihm immer auf dem Fuße nachfolgte, und
[78] ordentlich wie mit Abſicht alle ſeine Hoffnungen
vereitelte.
Dazu kam nun wieder, daß er nicht nur in
der Einbildung, ſondern wirklich und doppelt
ungluͤcklich war, weil die einzige Hoffnung,
ſeinen Unterhalt zu finden, und zugleich ſeine
Schuld in Gotha zu tilgen, auf ſeiner Annah¬
me bei der Barzantiſchen Truppe in Eiſenach
beruhte, und dieſe nun gerade an demſelben
Tage ihren Weg eben dahin genommen hatte,
wo er hergekommen war.
Sein Zuſtand brachte ihn der Verzweiflung
nahe, und machte, daß er zum erſtenmal ſich
uͤber ſein Schickſal wegſetzte, und in eine Art
von Vergeſſenheit ſeiner ſelbſt gerieth, welche
ihn dem Anſcheine nach froh und aufgeraͤumt
machte — Dabei war es ihm, als ob er durch
dieſen gar zu unerwarteten und haͤmiſchen Streich
des Schickſals von allen Verbindungen loßge¬
ſprochen waͤre, und ſich nun ſelbſt wie ein ver¬
nachlaͤſſigtes und verworfenes Weſen anſehen
duͤrfe, das in gar keinen Betracht mehr koͤmmt.
Er hatte den ganzen Tag nichts genoſſen,
und ließ ſich den Abend Bier und Brodt, und
[79] auf die Nacht ein Bette geben, wo er des ſanf¬
teſten Schlafes genoß, weil er auf keine Zu¬
kunft mehr rechnete, und von keinem einzigen
Gedanken an die Zukunft oder an ſein eigenes
Schickſal mehr geſtoͤrt wurde, denn nun war
er mit ſeinen Ausſichten ganz am Ende.
Am andern Morgen aber fuͤhlte er, daß
dieſer wohlthaͤtige Schlaf aufs neue ſeine ſchlum¬
mernden Kraͤfte erweckt hatte — er fuͤhlte wie¬
der ſtatt der Laͤhmung einen gewiſſen Trotz und
Erbitterung gegen das Schickſal, wodurch er
Muth bekam, noch einmal alles zu dulden, und
alles zu wagen, um ſeinen Endzweck dennoch
zu erreichen: er entſchloß ſich, der Barzanti¬
ſchen Schauſpielergeſellſchaft nachzureiſen, und
von Eiſenach bis Muͤhlhauſen denſelben Weg,
den er gekommen war, wieder zuruͤckgehn.
Nachdem er nun in dem Gaſthofe ſeine
Zeche bezahlt hatte, ſo blieben ihm von ſeinem
ganzen Vermoͤgen noch fuͤnf oder ſechs Dreier
uͤbrig, womit er auf die Wartenburg ſtieg,
und von da die weite und ſchoͤne Gegend vor
ſich uͤberſahe.
[80]
Der Unteroffizier auf der Wartenburg redete
Reiſern ſehr hoͤflich an, und fragte ihn, ob er
nicht die Merkwuͤrdigkeiten beſehen wollte?
worauf Reiſer erwiederte: er wuͤrde den Nach¬
mittag mit einer Geſellſchaft wieder kommen,
jetzt wolle er ſich nur in der Gegend ein wenig
umſehen.
Er fuͤhlte ſich, indem er um ſich her blickte,
auf dieſem Standpunkte, uͤber ſein Schickſal
erhaben: denn aller Widerwaͤrtigkeiten ohn¬
geachtet war er doch bis auf dieſen Fleck gekom¬
men, und dieſen ſchoͤnen Moment einer reizen¬
den Ausſicht in die umgebende Natur konnte
ihm doch niemand rauben. Er ſammlete ſich
gleichſam Staͤrke zu der Muͤhe und ſorgenvollen
Wanderſchaft, die er nun aufs neue wieder an¬
treten wollte.
Sein Plan, den er ſich hiezu entworfen
hatte, beſtand in nichts Geringerm, als die
wenigen Dreier, die ihm noch uͤbrig waren,
bloß zu Schlafgeld anzuwenden, und bei Tage
ſich von den Wurzeln auf dem Felde zu naͤhren,
denn er hatte es auf dem Herwege von Gotha
ſchon einmal verſucht, ein paar Wurzeln auf
dem[81] dem Felde auszuziehen, die ihm, da er den gan¬
zen Tag nichts genoſſen hatte, eine ſehr ange¬
nehme Erquickung gewaͤhrten.
Hieran hatte er ſich hier gleich den Morgen
beim Erwachen erinnert, und dieß war es vor¬
zuͤglich, was ihm den Trotz gegen das Schick¬
ſal einfloͤßte, von dem er ſich nun beinahe ganz
unabhaͤngig dachte.
Er fing noch an dieſem Tage an, ſeinen Ent¬
ſchluß mit eben dem Selbſtgefuͤhl durchzuſetzen,
womit er auf ſeiner erſten Wanderung ſich auf
den bloßen Genuß von Bier und Brodt be¬
ſchraͤnkte, und fuͤhlte ſich nun doppelt ſo unab¬
haͤngig wie damals; denn waͤhrend, daß der
Unterofficier auf der Wartenburg ihn mit der
Geſellſchaft zuruͤckerwarten mochte, um ihm
die Merkwuͤrdigkeiten des Schloſſes zu zeigen,
verzehrte Reiſer ſchon auf dem Felde ſein Mahl
von rohen Wurzeln, die er ſich mit einem alten
Einlegemeſſer, das er noch von ſeinem Freunde
Philipp Reiſern beſaß, in Scheiben ſchnitt, und
ſie mit dem groͤßten Wohlgeſchmack verzehrte.
Nun war er aber, weil er ſich zu lange auf
der Wartenburg aufgehalten hatte, kaum erſt
4ter Theil. F[82] eine Meile von Eiſenach, und ihn uͤberfiel, da
er ſeine Wurzeln verzehrt hatte, eine unwider¬
ſtehliche Traͤgheit, ſo daß er mitten auf dem
Felde einſchlief, und erſt am Abend bei Son¬
nenuntergang wieder erwachte.
Da er nun nach dem naͤchſten Dorfe zuge¬
hen wollte, ſo kam er vom rechten Wege ab,
und erreichte erſt ſpaͤt einen Gaſthof, wo er
nichts verzehrte, ſondern am andern Morgen
bloß die Streu bezahlte.
Von dieſem Dorfe aus verirrte er ſich am
andern Tage wieder zwiſchen den Feldern, wo
er Wurzeln ſuchte, die geſtrige Traͤgheit uͤber¬
fiel ihn wieder, die Hitze war druͤckend, und
wo er den Schatten eines Baumes fand, da
legte er ſich nieder, und ſogleich uͤberfiel ihn
der Schlaf; ſo daß er auf dem Wege von Ei¬
ſenach bis Gotha, den er auf der Hinreiſe in
wenigen Stunden zuruͤckgelegt hatte, beinahe
vier Tage zubrachte.
So labyrinthiſch wie ſein Schickſal war,
wurden auch nun ſeine Wanderungen, er wußte
ſich aus beiden nicht mehr herauszufinden; vor
Gotha ſchien ſich ſeine Straße zuruͤckzubiegen,
[83] und er mußte doch wieder durch, wenn er ſeinen
Weg nach Muͤhlhauſen fortſetzen wollte; und
weil er nun die gerade Straße ſcheute, ſo war
es ihm gewiſſermaßen lieb, wenn er ſich verirrte.
Sein lateiniſcher Anſchlagbogen half ihn auf
dieſem Wege zweimal durch; einmal, da man
ihn fuͤr eine verdaͤchtige Perſon hielt, weil er
keinen Paß vorzeigen koͤnnte; und ein andermal,
da man einen Paß von ihm verlangte, daß er
nicht aus einer Gegend kaͤme, wo damals die
Viehſeuche herrſchte; er zeigte ſeinen lateini¬
ſchen Anſchlagbogen vor, und fuͤgte hinzu, daß
er ein Student ſey, und deswegen einen latei¬
niſchen Paß bei ſich fuͤhre. — Der Dorfrichter
oder Schulze des Orts, welcher ſich gegen ſeine
Frau, und die andern Bauren, das Anſehen
geben wollte, als ob er Latein verſtaͤnde, laß
mit einer wichtigen Miene den Anſchlagbogen
durch, und ſagte, es ſey recht gut!
Waͤhrend nun Reiſer dieſe Tage in einer Art
von Betaͤubung, gleichſam wie in der Irre um¬
hergieng, herrſchte bloß die Imagination in
ihm; denn da er nun auf dem Felde lebte, ſo
F 2[84] ſchien er ſich an gar nichts mehr gebunden, und
ließ ſeiner Einbildungskraft den Zuͤgel ſchießen.
Nun war ihm aber ſein Schickſal nicht ro¬
manhaft genug. Daß er hatte Schauſpieler wer¬
den wollen, und ſein Wunſch ihm mißlungen
war, das war eine abgeſchmackte Rolle, die
er ſpielte — er mußte irgend ein Verbrechen be¬
gangen haben, das ihn in der Irre umhertrieb;
ein ſolches Verbrechen dachte er ſich nun aus:
er ſtellte ſich vor, daß er mit dem jungen Edel¬
mann, den er in H.... unterrichtete, die
Univerſitaͤt in Goͤttingen bezogen, und von die¬
ſem im Trunk zum Zweikampf genoͤthigt worden
waͤre, wo er ſich bloß vertheidigt, und jener
wuͤthend in ſeinen Degen gerannt ſey, worauf
er die Flucht genommen habe, ohne zu wiſſen,
ob jener todt oder lebend ſey.
Dieſe von ihm ſelbſt gemachte Erdichtung
draͤngte ſich ihm bei ſeinem Herumirren im Fel¬
de, faſt wie eine Wahrheit auf, er traͤumte
davon, wenn er einſchlief; er ſah ſeinen Geg¬
ner im Blute liegen, er deklamirte laut, wenn
er erwachte, und ſpielte auf die Weiſe mit ſeiner
Phantaſie mitten auf dem Felde zwiſchen Gotha
[85] und Eiſenach die Rollen durch, welche man ihm
auf dem Theater verweigert hatte.
Und dieß allein war es, was ihn von der
Verzweiflung rettete, denn haͤtte er ſich ſeinen
Zuſtand voͤllig ſo leer und abgeſchmackt gedacht,
wie er wirklich war, ſo wuͤrde er ſich ſelbſt ganz
weggeworfen haben, und in Schmach verſun¬
ken ſeyn.
Nun aber wurde ihm das Bitterſte ertraͤg¬
lich: am zweiten Tage, auf ſeiner Ruͤckkehr
von Eiſenach nach Gotha, war es gerade Sonn¬
tag, und eine druͤckende Hitze. Reiſer kam vom
Felde durch ein Dorf und ſuchte Schatten, den
er nicht anders finden konnte, als auf einem gruͤ¬
nen mit Baͤumen bepflanzten Platze gerade der
Kirche gegenuͤber. Er ließ ſich in einem Bauer¬
hauſe erſt ein Glas Waſſer geben; dann legte
er ſich unter den Baͤumen nieder, waͤhrend daß
in der Kirche gegenuͤber geſungen wurde; unter
dem Singen ſchlief er ein, und wachte nicht eher
wieder auf, als bis der Prediger aus der Kirche
kam, mit dem ſein Sohn gieng, der auch erſt
von der Univerſitaͤt zuruͤckgekommen war. Beide
gingen auf Reiſern zu, und fragten ihn, woher
F 3[86] er kaͤme, und wohin er ginge? er gab verwirrte
Antworten, und geſtand endlich, daß er wegen
eines Duells, das er in Goͤttingen gehabt habe,
fluͤchtig ſey. Es war ihm ſelber, als ob ihm
dieß Geſtaͤndniß aͤußerſt ſchwer wuͤrde, und der
Gedanke an die Unwahrheit der Sache fiel ihm
faſt gar nicht mehr bei: denn da er einmal bloß
in der Ideenwelt lebte, ſo war ihm ja alles das
wirklich, was ſich einmal feſt in ſeine Einbil¬
dungskraft eingepraͤgt hatte, ganz aus allen
Verhaͤltniſſen mit der wirklichen Welt hinaus¬
gedraͤngt, drohte die Scheidewand zwiſchen
Traum und Wahrheit bei ihm den Einſturz.
Der Prediger noͤthigte ihn in ſein Haus,
und wollte ihn bewirthen. — Reiſer aber,
gleichſam wie von Angſt getrieben, entfernte
ſich ſobald wie moͤglich wieder. — Denn er
mußte in ſeinem imaginirten Zuſtande die Ge¬
ſellſchaft der Menſchen fliehen. —
Nahe vor Gotha noͤthigte ihn wiederum ein
Prediger in ſein Haus, der ſich wohl einen
halben Tag lang mit ihm unterhielt, und ihm
erzaͤhlte, daß vor ein paar Jahren auch ſo zu
Fuße, und wohlgekleidet, ein reiſender Gelehr¬
[87] ter hier durchgekommen, der ſich lange mit ihm
unterhalten, er habe ſich den Tag im Kalender
bemerkt, und zweifele faſt nicht, daß es der
Doktor Barth geweſen ſey.
Nun erzaͤhlte dieſer Prediger Reiſern ſeine
Geſchichte, wie er ſich erſt lange als Hofmeiſter
herumgetrieben, und hier nun endlich in dieſer
alten Pfarre eine Ruheſtaͤtte gefunden habe,
wo er dem, was in der Welt vorginge, nur ſo
ganz von ferne zuſaͤhe.
Reiſer erzaͤhlte nun dem Prediger auch ſeine
eigene imaginirte ungluͤckliche Geſchichte, wobei
ihm der Prediger in einem Caffeeſchaͤlchen einige
Erfriſchungen von eingemachtem Obſt vorſetzte;
und ihm dabei Muth zuſprach, daß er ſein Ver¬
brechen vielleicht noch wieder gut machen koͤnne;
dabei ſah er auf die weiſſe Scheide von dem De¬
gen, welchen Reiſer trug, und fragte ihn, ob
eine ſolche Degenſcheide denn wirklich das Zei¬
chen der Freimaͤurer, und ob Reiſer nicht in die¬
ſem Orden ſey? — Jemehr dieſer es verneinte,
deſto feſter glaubte der Prediger, demohngeach¬
tet einen Freimaurer vor ſich zu ſehen, der ſich
ihm nur in dieſem Punkt nicht entdecken wollte.
[88]
Dieſer Prediger betrachtete Reiſern manch¬
mal vom Kopf bis zu Fuß, und ſchien ſich uͤber¬
haupt ſonderbare Vorſtellungen von ihm zu ma¬
chen. — Er hielt ihn fuͤr einen Menſchen, der
viel mehr verſchwieg, als er ſagte, und mit
dem er nicht recht wußte, wie er dran war. —
Demohngeachtet konnte er nicht unterlaſſen,
immer noch Fragen an ihn zu thun, bis Rei¬
ſer endlich, da die Sonne ſich ſchon zum Unter¬
gange neigte, von ihm Abſchied nahm, und der
Prediger ihm noch die Ermahnung mit auf
den Weg gab, vorzuͤglich ſein Verbrechen durch
Reue zu buͤßen.
Durch die lange Unterhaltung mit dem Pre¬
diger und durch deſſen Ermahnungen war Rei¬
ſers Imagination noch mehr erhitzt. — Er
kam in der Abenddaͤmmerung in Gotha an,
und ging in einer Art von hartnaͤckiger Betaͤu¬
bung und Fuͤhlloſigkeit, dicht vor dem goldnen
Kreuze vorbei, wo er logirt hatte, aus dem
Thore wieder heraus, in welches er das erſte¬
mal nach Gotha gekommen war, und nahm
wieder den Weg auf Erfurt zu, um dann
von da nach Muͤhlhauſen zu gehen, und endlich
[89] die Barzantiſche Schauſpielergeſellſchaft zu er¬
reichen.
Denn als er nur erſt wieder durch Gotha
war; verſchwand auch allmaͤlig die imaginirte
Geſchichte, die ihn drei Tage vor Gotha in der
Irre herumgetrieben hatte, die erſte Ausſicht
oͤfnete ſich noch einmal wieder; Gotha lag wie¬
der hinter ihm, und war wieder der Mittel¬
punkt ſeiner Beſtrebungen; ſo wie von Eiſenach,
hoffte er auch von Muͤhlhauſen, und zwar mit
beſſerm Gluͤck, dorthin zuruͤckzukehren.
Nun war es aber ſchon dunkel, ehe er ein
Dorf erreichen konnte, und er verirrte ſich, und
ging beinahe eine Meile um, indes kam er zu¬
letzt doch wieder auf die rechte Straße, und
langte in demſelben Gaſthofe an, wo er auf
ſeiner Hinreiſe von Erfurt nach Gotha, eine der
widerwaͤrtigſten Naͤchte, in der Geſellſchaft von
den groben Fuhrleuten zugebracht hatte, deren
Quam ihm noch in friſchem Andenken war.
In dieſem Gaſthofe fand er noch alles leb¬
haft, und einen Handwerksburſchen unter den
Bauern auf dem Flur ſitzend, denen er ſeine
Reiſen in Churſachſen erzaͤhlte. Gerade als
F 5[90] Reiſer in den Gaſthof kam, trat der Wirth her¬
zu, und gebot dem Erzaͤhler Stillſchweigen,
weil es ſchon ſpaͤt in die Nacht, und Zeit ſey,
ſich ſchlafen zu legen.
Der Handwerksburſch und die Bauern leg¬
ten ſich nun auf die Streu, die ſchon zubereitet
war, und worauf auch Reiſer Platz nahm. —
Der Handwerksburſch konnte ſich uͤber die
Grobheit des Wirths gar nicht zufrieden geben,
und gar nicht daruͤber einſchlafen, indem er un¬
zaͤhligemal verſicherte, das ihm in ganz Chur¬
ſachſen noch keine ſolche Grobheit von irgend
einem Wirth wiederfahren ſey.
Als Reiſer nun hier am andern Morgen ſei¬
nen Dreier Schlafgeld bezahlt hatte, war ſein
Vermoͤgen bis auf neun Pfennige geſchmolzen;
und nun fieng er an, auf einmal ſich ſo erſchoͤpft
zu fuͤhlen, da rohe Wurzeln ſchon ſeit mehrern
Tagen ſeine einzige Koſt geweſen waren, daß
der Gedanke an eine Meile, die er gehen ſollte,
ihn mit Schrecken erfuͤllte; denn er fuͤhlte ſich
dieſen Morgen wie gelaͤhmt, und der Raum
zwiſchen Muͤhlhauſen und hier kam ihm wie eine
[91] furchtbare Wuͤſte vor, durch die er ohne einen
Labetrunk und ohne Staͤrkung reiſen ſollte.
Der Handwerksburſch, der den Abend vor¬
her von ſeinen Reiſen in Churſachſen bis in die
ſpaͤte Nacht erzaͤhlt hatte, machte ſich nun auf
den Weg nach Erfurt, und fragte Reiſern ob er
auch des Weges ginge? dieſer bejahte es, und
ſie wanderten in einem nicht uͤbereilten Schritt
mit einander fort.
Der Handwerksburſch, welcher ein Buch¬
bindergeſelle und ſchon ziemlich betagt war,
fragte Reiſern nach ſeiner Profeſſion, und die¬
ſer antwortete: er ſey ein Schuhknecht, und
fand ordentlich eine Art von Wuͤrde darin, in¬
dem er ſich einen Schuhknecht nannte; denn als
ein ſolcher war er doch etwas, als einer der ein
bloßes Blendwerk ſeiner Phantaſie verfolgte,
war er nichts.
Der Buchbindergeſelle ſchien ſeiner Erzaͤh¬
lung nach ſchon ſeit vielen Jahren, aus dem
Reiſen ein eigenes Geſchaͤft gemacht zu haben,
und war gegen ſeinen Gefaͤhrten mit ſeinen Er¬
fahrungen nicht zuruͤckhaltend, indem er ihn
unterrichtete, wie man, beſonders im Sommer
[92] und in der Obſtzeit, mit einem halben Gulden
ſehr weite Touren machen koͤnne, ohne doch da¬
bei Noth zu leiden.
Obſt, meinte er, wuͤrde einem nirgends
verſagt, und Brodt auch nicht leicht, auf die
Weiſe brauche man des Tages oft nur wenige
Pfennige zu verzehren. — So ſey er ſchon
mehrmalen ganz Churſachſen durchgereiſt, und
habe ſich wohl dabei befunden; kurz er hielt
Reiſern wuͤrdig, in ſeinen Orden initiirt zu
werden, deſſen Vorzuͤge und Annehmlichkeiten
er ihm auf die reizendſte Art beſchrieb, weil es
ein Leben voll immerwaͤhrender Veraͤnderung
und Unabhaͤngigkeit war. —
Reiſer aber fuͤhlte ſeine Knie wanken, und
ſeine Muͤdigkeit nahm ſo ſehr bei jedem Schritte
zu, daß er in dieſem Augenblick, das einfoͤr¬
migſte und abhaͤngigſte Leben ſich gerne haͤtte
gefallen laſſen, wenn ſich ein ruhiger Aufent¬
halt ihm dargeboten haͤtte.
Sein Gefaͤhrte ſchien ſeinen Kummer zu
merken, und ſuchte ihm Muth und Troſt einzu¬
ſprechen, als ſie ſchon nahe vor Erfurt an einen
kuͤhlen und klaren Quell kamen, der dem Buch¬
[93] bindergeſellen ſchon bekannt war, und wo ſie
bei der druͤckenden Hitze beide ihren Durſt
loͤſchten.
Nicht leicht kann dieſe wohlthaͤtige Quelle,
die den Einwohnern von Erfurt wohl bekannt
iſt, fuͤr einen Wanderer erquickender geweſen
ſeyn, als ſie es fuͤr Reiſern war, der ſich ganz
erſchoͤpft daran niederwarf, und den Labetrunk,
den er oft von Menſchen kaum zu fordern
wagte, nun unmittelbar, aus dem Schatz der
Natur empfing. —
Und dann erhielt ſo etwas fuͤr Reiſern einen
doppelten Werth, weil er das Poetiſche mit
hinzutrug, das nun bei ihm wirklich wurde, und
wovon man ſagen koͤnnte, daß es die einzige
Schadloshaltung fuͤr die nothwendigen Folgen
ſeiner Thorheit war, fuͤr die er ſelbſt nicht
konnte, weil ſie nach natuͤrlichen Geſetzen in
ſein Schickſal von Kindheit auf ſich nothwendig
einflechten mußte. —
Als nun die alten Thuͤrme von Erfurt wie¬
der aus dem Thale emporſtiegen, und Reiſer
nun hoffnungslos dahin zuruͤckwanderte, wo er
noch vor kurzem mit dem jugendlichen Schim¬
[94] mer der erſten Hoffnung ausgereiſt war, ſo
fiel es ihm ſonderbar auf, da ſein Gefaͤhrte der
Buchbindergeſelle auf einmal zu ihm ſagte: er
glaube nicht, daß Reiſer ein Schuhknecht ſey,
ſondern hielte ihn fuͤr einen Studenten, der auf
der Univerſitaͤt in Erfurt ſtudiren wolle.
Reiſer der ſchon wieder bis zum Hinſinken
ermattet war, fuͤhlte ſich durch dieſe zufaͤlligen
Worte des Buchbindergeſellen wie ins Leben
zuruͤckgerufen.
Sobald er in dieſer Stadt, die ſo nahe vor
ihm lag, ſtudiren und bleiben wollte, war ſie
das Ende ſeiner muͤhſeeligen Wanderung; ſie
war der Endzweck, das Ziel ſeiner Reiſe, das
er nun ſo nahe vor ſich ſahe, und wo er noch
dazu auf eine ehrenvolle Weiſe, mit ſeinem
Plane umwechſeln konnte. Jemehr ſeine Muͤ¬
digkeit zunahm, je reizender und wuͤnſchens¬
werther wurde ihm der Gedanke an den Auf¬
enthalt in dieſer weiten Stadt, worin doch
auch, wie er dachte, noch wohl ein Plaͤtzchen
fuͤr ihn ſich finden wuͤrde.
Dieſer hoffnungsloſe traurige Zuſtand des
Umherirrens, worin er ſich nun ſchon ſeit meh¬
[95] rern Tagen befand, konnte durch keinen Reiz
einer angeſpannten erhitzten Einbildungskraft
mehr uͤbertragen werden, ſondern der Gedanke
der gaͤnzlichen Huͤlfloſigkeit ermuͤdete ihn mit je¬
dem Schritte noch mehr, und die Muͤdigkeit ver¬
mehrte wieder den Gedanken der Huͤlfloſigkeit,
die vorzuͤglich aus dem Sinken ſeines Muthes
und aus der Erſchoͤpfung ſeiner Kraͤfte entſtand.
Sie kamen nun in die Stadt, vor einem
Baͤckerhauſe vorbei, wo auf dem Laden eine
Menge Brodte aufgethuͤrmt lagen: Reiſer wollte
ſich eins darunter ausſuchen, und als er es
kaum beruͤhret hatte, ſchoß beinahe der ganze
Haufe von Brodten auf die Straße herunter. —
Die Leute im Hauſe fingen einen großen Laͤrm
an, und Reiſer mußte mit ſeinem Gefaͤhrten
ſich nur ſchnell um eine Ecke wenden, um den
Schmaͤhungen zu entgehen. So verfolgte Rei¬
ſern ſein widriges Geſchick bis aufs aͤußerſte.
Sie kehrten nun in einem Gaſthofe ein, wo
Reiſer dem Durſt nicht widerſtehen konnte und
fuͤr die letzten neun Pfennige, die er noch uͤbrig
hatte, ſich Bier geben ließ. Fuͤr dieſen einen
Trunk hatte er alſo ſein Schlafgeld auf noch
[96] drei kuͤnftige Naͤchte ausgegeben, und ihm blieb
nichts weiter uͤbrig, als ganz unter freiem
Himmel zu wohnen.
Bei dieſem Gedanken war es ihm, als ob
er nun mit dem Trunk Bier die Vergeſſenheit
alles Kuͤnftigen und Vergangenen trinke, und
von allem Kummer auf einmal befreiet werden
ſollte. Denn nun gab er ſich ganz ſeinem
Schickſale hin, und betrachtete ſich wieder wie
ein fremdes Weſen, fuͤr das er nicht mehr den¬
ken koͤnnte, weil es unwiederbringlich verlohren
war; ſo ſchlummerte er ein, und ſchlief eine
Stundelang.
Als er erwachte, war es noch eine Stunde
vor Mittage, ſein Gefaͤhrte war weggegangen,
und er ſaß, den Kopf auf die Hand geſtuͤzt, in
ſtummer Verzweiflung da, als ein Mann, der
gerade gegen ihm uͤber ſaß, ihn anredete, und
ſich erkundigte, ob er nicht ein fremder Stu¬
dent ſey?
Als dies bejahet wurde, erzaͤhlte der Mann,
gleichſam, als ob er um Reiſers Zuſtand ge¬
wußt haͤtte; daß der jetzige Prorektor der Uni¬
verſitaͤt, der Abt vom Benediktinerkloſter auf
dem[97] dem Petersberge ein aͤußerſt menſchenfreundli¬
cher Mann ſey, der erſt vor Kurzem, einem
jungen Manne, der auch mit Nichts hieher¬
gekommen ſey, ſogleich Unterſtuͤtzung verſchaft,
und ſich ſeiner auf das menſchenfreundlichſte an¬
genommen habe. Wenn Reiſer dieſen Praͤlaten
beſuchen wollte, ſo ſolle er nur dreiſt zu ihm ge¬
hen; er wuͤrde gewiß eine guͤtige Aufnahme bei
ihm finden. Hierauf kamen andere Leute, mit
denen der Mann ſich ins Geſpraͤch gab.
Reiſer aber, den die gaͤnzliche Erſchlaffung
aller ſeiner Seelen- und Koͤrperkraͤfte, und der
wohlthaͤtige Schlummer, der hievon eine Folge
war, ſchon wieder etwas geſtaͤrkt hatten, fuͤhlte
ſich auf einmal wieder mit neuer Hoffnung und
neuem Muth beſeelt, da er ſich den Praͤlaten im
Benediktinerkloſter auf dem Petersberge dachte.
Er machte ſich ſogleich auf den Weg, und
erkundigte ſich nach dem Petersberge; ein jun¬
ger Student der ihm begegnete; gab ihm nicht
nur hoͤflich Beſcheid, ſondern begleitete ihn ſo¬
gar eine Strecke, um ihn gehoͤrig zurechtzu¬
weiſen. Dieß war ihm ein gutes Omen. Er
4ter Theil. G[98] ſtieg den befeſtigten Petersberg hinauf, und die
Wachen ließen ihn ungehindert durch. —
Er kam in der Wohnung des Praͤlaten an,
deſſen Bedienter ihn mit einem freundlichen Ge¬
ſicht empfing, und ſobald er ſagte, daß er ein
Student ſey, ihn ſogleich bei dem Praͤlaten zu
melden verſprach. —
Er ward eine Treppe hoch in einen großen
Saal gefuͤhrt, in welchem Gemaͤhlde hingen,
unter denen das eine den Petrus vorſtellte, wie
er ſich in des Hohenprieſters Hauſe am Feuer
waͤrmt. — Indem Reiſers Blicke noch auf
dies Gemaͤhlde geheftet waren, trat der Praͤlat
in ſeiner ſchwarzen Ordenskleidung mit dem
Brevier in der Hand heraus, und Reiſer rich¬
tete eine kurze lateiniſche Anrede an ihn, die er
ſich beim Hinaufſteigen auf den Petersberg aus¬
gedacht hatte, und deren Inhalt war, daß er
vom widrigen Gluͤck umhergetrieben, nach Er¬
furt gekommen ſey, und hier einige Unterſtuͤ¬
tzung zu finden hofte, um auf irgend eine Weiſe
ſein angefangenes Studium hier fortzuſetzen.
Der Praͤlat fragte ihn mit großer Leutſee¬
ligkeit wieder in lateiniſcher Sprache, ob er
[99] katholiſch ſey oder ſich zur Augſpurgiſchen Kon¬
feſſion bekenne, und als Reiſer das letztere be¬
jahte, ſo antwortete ihm der Praͤlat faſt mit
ſeinen eigenen Worten wieder: es thaͤte ihm
zwar leid, daß Reiſer vom widrigen Gluͤck um¬
hergetrieben ſey, doch ſaͤhe er noch kein Mittel,
wie er gerade auf dieſer Univerſitaͤt Unterſtuͤ¬
tzung finden wuͤrde? Indes wolle er ihm die
Hoffnung nicht dazu benehmen.
Hierauf fragte er nach Reiſers Geburtsort,
und da dieſer Hannover nannte, ſo fuhr der
Praͤlat fort: er gaͤbe ihm den Rath ſich an den
Doktor Froriep zu wenden, weil dieſer gewiſſer¬
maßen ſein Landsmann ſey. Bei dem moͤchte
er ſich alſo melden, und dann wieder zu ihm
kommen. Mit dieſen Worten druͤckte er Rei¬
ſern ein Stuͤck Silbergeld in die Hand, und
fuͤgte hinzu: er moͤchte mit dieſem kleinen Mit¬
tagsmahl vorlieb nehmen.
Wenn ja etwas den Muth des Zerſchlagenen
wieder aufrichten, und den voͤllig Geſunkenen
von der Verzweiflung retten kann, ſo iſt es die
Mine und der Ton, womit der Praͤlat Guͤn¬
G 2[100] ther damals Reiſers Bitte beantwortete, und
ihm ſeinen Rath ertheilte.
Von dieſer Behandlung beinahe bis zu
Thraͤnen geruͤhrt, eilte Reiſer fort, und glaubte
zu traͤumen, da er wieder drauſſen vor der
Thuͤre ſtand, ſein Stuͤck Geld beſahe und ſich
auf einmal wieder im Beſitz von einem halben
Gulden ſahe; da es ihm kurz vorher noch an
einem Dreier fuͤr ein Nachtlager fehlte. —
Dieſer halbe Gulden duͤnkte ihm jezt ein unſchaͤtz¬
barer Reichthum, und war es auch wuͤrklich
fuͤr ihn, weil er ihm wieder den Muth einfloͤßte,
woran ſein ganzes Schickſal hing.
Er ging nun nach einem Speiſehauſe, und
genoß zum erſtenmale wieder warmes Eſſen.
Gleich nach Tiſche aber erkundigte er ſich nach
der Kaufmannskirche, bei welcher der Doktor
Froriep wohnte. Er traf ihn gerade, da er
eben um zwei Uhr des Nachmittags ein Kolle¬
gium leſen wollte, und redete ihn auf eine aͤhn¬
liche Weiſe, wie den Abt Guͤnther, lateiniſch an.
Da der Doktor Froriep von Reiſern hoͤrte,
daß er aus Hannover ſey, nahm er ihn außer¬
ordentlich freundlich auf, und fuͤhrte ihn mit
[101] ſich in ſeinen Hoͤrſaal, wo die Studenten ſchon
mit den Huͤten auf den Koͤpfen ſaßen, welches
fuͤr Reiſern ein ganz ungewohnter Anblick war;
um ſo vielmehr, da er merkte, daß man ſich
uͤber ihn aufhielt, weil er nicht auch bedeckt blieb.
Er ſahe ſich alſo nun auf einmal in Erfurt,
in dem Hoͤrſaale eines Profeſſors, mitten unter
Studenten ſitzen, da er am Morgen eben dieſes
Tages noch weiter nichts als das offne Feld,
das er durchwanderte, zu ſeinem Aufenthalt
vor ſich ſahe.
Der Doktor Froriep las Kirchengeſchichte,
wobei auch manche luſtige Anekdote mit unter¬
lief, die das Auditorium aufmunterte, und von
den Muſenſoͤhnen oft mit einem ſchallenden Ge¬
laͤchter begleitet wurde. Dieß alles war Rei¬
ſern noch wie ein Traum. Er erinnerte ſich an
die Jahre ſeiner Kindheit, wo ihm der Hoͤrſaal
der Schule ſchon heilig war, und itzt fand er
ſich auf einmal in einem akademiſchen Hoͤrſaale,
uͤber dem nun nichts Hoͤhers mehr war.
Als das Kollegium zu Ende war, nahm
der Doktor Froriep Reiſern mit ſich auf ſeine
Stube, und fragte ihn um ſeine Geſchichte.
G 3[102] der er nun die neue Wendung gab, daß er ſich
in Hannover durch eine Schrift, die uͤbel aus¬
gedeutet ſey, den Haß eines vornehmen Man¬
nes zugezogen, und von dort habe weggehen
muͤſſen. — Da er nun weiter keine Ausſicht
gehabt, ſo ſey er auf die Gedanken gekommen
ſich dem Theater zu widmen, nach reiflicher
Ueberlegung aber habe er dieſen Entſchluß fah¬
ren laſſen, weil er wohl einſehe, daß er ſich
auf immer fuͤr die Zukunft durch dieſen Schritt
ſchaden wuͤrde; und darum habe er nun ge¬
dacht, ſich in Erfurt aufs neue dem Studiren
zu widmen.
Nun war es merkwuͤrdig, wie Reiſer dieſe
Luͤge, die er ſich waͤhrend dem Kollegium des
Doktor Frorieps ausgedacht, ſich ſelbſt, ehe er
ſie ſagte, in Wahrheit zu verwandeln ſuchte,
und wie jeſuitiſch er dabei ſich ſelber taͤuſchte.
Er ſuchte ſich nehmlich in ſeinen Gedanken zu
uͤberzeugen, daß er nun wirklich die Thorheit
ſeines Unternehmens vollkommen einſehe, und
daß er nun ganz freiwillig ſeinen Entſchluß
geaͤndert habe, und feſt bei dieſem Vorſatz blei¬
ben wuͤrde, wenn ſich ihm auch gleich jetzt die
[103] beſte Gelegenheit, den Schauplatz zu betreten
von ſelbſt darboͤte.
Und was die erſte Haͤlfte ſeiner Luͤge anbe¬
traf, ſo ſuchte er ſich einzubilden, daß in ſeiner
Rede, die er an der Koͤnigin Geburtstage ge¬
halten, wirklich einige verfaͤngliche Stellen waͤ¬
ren, die wohl jemand zu ſeinem Nachtheil aus¬
gedeutet haben koͤnnte. Ob dieß nun wirklich
geſchehen ſey, das beruͤhrte er nun nicht weiter,
ſondern beruhigte ſich dießmal bei der Moͤglich¬
keit, weil er ſich nicht anders zu helfen wußte.
Denn er durfte nicht ſagen, daß er aus Nei¬
gung zum Theater aus Hannover gegangen ſey,
wenn ſein Trieb zum Studiren wahrſcheinlich
bleiben ſollte, und die Duellgeſchichte paßte hier
auch nicht her.
Der Doktor Froriep ſchien ihm zwar nicht
recht zu glauben, allein er faßte eine hoͤhere
Idee von Reiſern, als dieſer erwarten konnte,
lndem er ihn fuͤr einen Sohn angeſehener Eltern
hielt, mit denen er ſich entzweiet habe, und de¬
ren Nahmen er nur verſchwiege. Reiſer fand
es fuͤr ſich ſchmeichelhaft, daß man eine ſolche
Meinung von ihm hegen konnte, die ihm um
G 4[104] deſto lieber war, weil ſie auf die gefaͤlligſte Art
ſeine Luͤge zudeckte, indem der Doktor Froriep
die Unwahrheit, welche er ſelbſt nicht glaubte,
doch am beſten entſchuldigte.
Und was nun kam, war uͤber alle ſeine Er¬
wartung. — Der Doktor Froriep redete ihm
zu, er moͤchte nur gutes Muthes ſeyn; er wolle
fuͤrs erſte Tiſch und Wohnung fuͤr ihn beſorgen.
Reiſer der am Morgen eben dieſes Tages ſich
noch von aller Welt verlaſſen ſahe, trauete den
troͤſtenden Worten kaum, die er jetzt vernahm,
und glaubte in dem Doktor Froriep in dem Au¬
genblick ſeinen Schutzengel vor ſich zu ſehen. —
Dieſer ſchrieb ihm nun ein paar Zeilen, wo¬
mit er am andern Morgen wieder zu dem Abt
Guͤnther gehen ſollte, der ihn auf Frorieps
Bitte, umſonſt als Student immatrikuliren
wuͤrde.
Ein ſo gluͤcklicher Wechſel des Schickſals ver¬
ſetzte Reiſern in einen Zuſtand, der ihn aller
ſeiner Widerwaͤrtigkeiten vergeſſen machte, ſo
daß ihn ſeine Wanderung auf das Ungewiſſe gar
nicht mehr gereuete, da ſie ihn einen ſolchen
Zeitpunkt erleben ließ, von dem ſich wohl nie¬
[105] mand eine vollkommne Vorſtellung machen kann,
der nicht auch einmal in ſeinem Leben von aller
Huͤlfe entbloͤßt, und an Koͤrper und Seele ge¬
laͤhmt ohne Ausſicht und ohne Hoffnung war.
In der Freude ſeines Herzens eilte er in den
Gaſthof, wo er die Nacht bleiben wollte, ließ
ſich Papier holen, und fing an, ſeine eigenen
Gedichte, die er auswendig wußte, nacheinan¬
der wieder aufzuſchreiben, um ſie am andern
Tage dem Doktor Froriep zu bringen, und ſich
dadurch einigermaßen ſeiner Aufmerkſamkeit
werth zu zeigen.
Er ſchrieb bis in die Nacht, und wurde mit
einigen Heften fertig. Am andern Morgen
fruͤh ſtieg er nun wieder voll ganz anderer Ge¬
danken, als geſtern, den Petersberg hinauf;
und der gutmuͤthige Abt Guͤnther freute ſich,
ihn wieder zu ſehen, gewaͤhrte ihm gern ſeine
Bitte, und fertigte ihm ſogleich die Matrikel
aus, wobei er ihm die akademiſchen Geſetze ge¬
druckt uͤbergab, und deren Befolgung durch
einen Handſchlag ſich angeloben ließ.
Dieſe Matrikel, worauf ſtand: Univerſitas
perantiqua, die Geſetze, der Handſchlag, waren
G 5[106] fuͤr Reiſern lauter heilige Dinge, und er dachte
eine Zeitlang, dieß wolle doch weit mehr ſagen,
als Schauſpieler zu ſeyn. Er ſtand nun wieder
in Reihe und Glied, war ein Mitbuͤrger einer
Menſchenklaſſe, die ſich durch einen hoͤhern
Grad von Bildung vor allen uͤbrigen auszuzeich¬
nen ſtreben. Durch ſeine Matrikel war ſeine
Exiſtenz beſtimmt: kurz er betrachtete ſich, als
er wieder vom Petersberge hinunterſtieg, wie
ein anderes Weſen.
Gegen Mittag zeigte er dem Doktor Froriep
die erhaltene Matrikel vor, und brachte ihm zu¬
gleich ſeine Gedichte, die dießmal weit mehr
Gluͤck machten, als er erwartet hatte. In Er¬
furt war nehmlich das Studium der ſchoͤnen
Wiſſenſchaften unter den Studenten noch etwas
ſeltenes, und dem Doktor Froriep war es lieb,
einen mehr zu haben, der in dieſem Fache den
andern einigermaßen zum Beiſpiel diente.
Dieſe Gedichte bewuͤrkten alſo, daß Reiſers
neuer Goͤnner ſich nun noch weit mehr fuͤr ihn
intereſſirte, und ihn keine Nacht mehr im Gaſt¬
hofe ließ, ſondern ſogleich dem Univerſitaͤtsquar¬
tiermeiſter, der zugleich Fechtmeiſter war, den
[107] Auftrag gab, ihm ein Logis zu verſchaffen.
Dieſer quartierte ihn dann fuͤrs erſte bei einem
alten Studioſus Medicinaͤ ein, welcher bei ihm
im Hauſe wohnte, und weil er zugleich die Be¬
ſorgung des Freitiſches fuͤr die Studenten hatte,
ſo zog er ihn fuͤrs erſte an ſeinen eigenen Tiſch.
Bei dieſen gluͤcklichen Umſtaͤnden wurde nun
Reiſer wieder auf manche Stunde lang, der un¬
gluͤcklichſte Menſch von der Welt, weil ihn ſeine
Erziehung, und der Kummer von ſeinen Schul¬
jahren druͤckten. Die Idee von den Freitiſchen,
die er als Schuͤler hatte genießen muͤſſen, lag
wie eine Laſt auf ihm, und er fuͤhlte ſich im
Grunde weit ungluͤcklicher, wie er nun an den
Tiſch des Fechtmeiſters gehen ſollte, als wie
er auf dem Felde zwiſchen Gotha und Eiſenach
rohe Wurzeln aß.
Dieß machte, daß er bei den Studenten,
welche auch mit ihm bei dem Fechtmeiſter aßen,
fuͤr einen timiden und bloͤden Menſchen gehalten
wurde; und da ſein Wirth, der mit Studenten
nach ihrer Art umging, auch nicht viel Um¬
ſtaͤnde mit ihm machte, ſo wurde dadurch ſein
Zuſtand noch unertraͤglicher; er ſchien ſich auf
[108] einmal aus der unbegrenzten Freiheit in die nie¬
dertraͤchtigſte Abhaͤngigkeit wieder verſunken
zu ſeyn.
Ohngeachtet ſeines ſcheuen Weſens aber war
man ſchonend gegen ihn, und dieß hatte er wie¬
derum ſeinen aufgeſchriebenen Gedichten zu dan¬
ken, wovon der Doktor Froriep zu verſchiede¬
nen Leuten geſprochen hatte, und die ihm, ohne
daß er ſelbſt es wußte, unter den Studenten in
Erfurt ſchon einen gewiſſen Nahmen gemacht
hatten, ſo daß man nun ſein ſonderbares We¬
ſen auf Rechnung ſeiner Dichtergabe ſchrieb.
Es fehlte ihm nun gaͤnzlich an Waͤſche, und
haͤtte er einiges Zutrauen zu den Menſchen ge¬
habt, ſo haͤtte er auch itzt dieſen Mangel ſehr
leicht erſetzen koͤnnen. Allein es war ihm un¬
moͤglich dieſen Mangel zu geſtehen, der ihm am
druͤckendſten war, und im Grunde ſeine meiſte
Traurigkeit verurſachte, die er aber immer ſelbſt
auf etwas anders ſchob, woruͤber er zu trauren
gegen ſich ſelbſt affektirte, weil ihm der Mangel
an Waͤſche ein zu kleiner und unpoetiſcher Ge¬
genſtand ſchien.
[109]
Der Fechtmeiſter wieß ihm nun ein bleiben¬
des Quartier bei einem Studenten Nahmens
R. . . an, bei dem er auch auf der Stube woh¬
nen mußte, und der ſogleich eine Wochenſchrift
mit ihm gemeinſchaftlich herausgeben wollte,
weil er ſich von Reiſers Dichter- und Schrift¬
ſtellertalent ſchon große Vorſtellungen gemacht
hatte. Reiſer dachte auch bald einen Plan zu
einer Wochenſchrift aus, welche ſich mit einer
Satyre auf dieſe Art Schriften anheben, und
die lezte Wochenſchrift heiſſen ſollte; als aber
ſein neuer Stubengenoſſe merkte daß er kein
Geld bei ſich fuͤhre, und auch keine ſehr be¬
ſtimmte Ausſicht habe, welches zu erhalten,
fing er an ziemlich kalt gegen ihn zu werden,
und rieth ihm fuͤrs erſte ſeinen Degen zu verſe¬
tzen, welches Reiſer that, und nun auf einmal
wieder freundlichere Blicke erhielt. Denn der
Hr. N. . ., der ein ſehr ordentlicher Mann
war, wollte bei ihrer beiderſeitigen litterariſchen
Unternehmung nicht gerne Auslagen machen.
Sie gingen nun beide hin zu einem Buch¬
drucker in Erfurt, Nahmens G. . . und brach¬
ten den Plan ihrer neuen Wochenſchrift zum
[110] Vorſchein: Dieſer ſtellte ihnen aber ſehr nach¬
druͤcklich vor, wie mißlich ein ſolches Unterneh¬
men, und wie viel ſicherer es ſey, ſeine Auf¬
ſaͤtze in ein Blatt zu geben, welches ſchon ein¬
mal bekannt und vom Publikum beliebt waͤre,
wie z. E. die Wochenſchrift der Buͤrger und der
Bauer, welche er ſelbſt herausgab, und die
von Betteljungen in den Bierhaͤuſern in Erfurt
herumgetragen wurde.
Das war alſo eben der Buͤrger und Bauer,
den Reiſer auf ſeiner erſten Wanderung bei dem
Jaͤger nicht weit von Muͤhlhauſen vorgefunden
hatte, und zu deſſen Mitarbeiter er nun nebſt
ſeinem Stubengenoſſen von dem Verleger und
Herausgeber erwaͤhlt wurde. Beide mußten
nun den Abend bei dem Buchdrucker ſpeiſen,
und es wurden Rettig und eine Art ſehr harter
laͤnglichter kleiner Kaͤſe, die in Erfurt gewoͤhn¬
lich ſind, aufgetragen, wovon die beiden Mit¬
arbeiter unaufhoͤrlich aßen, waͤhrend daß die
Frau des Buchdruckers manchmal darzu ſehr
ſauer ſahe.
Der erſte Aufſatz, den nun der Student
R. . . in die Wochenſchrift der Buͤrger und der
[111] Bauer lieferte, war eine proſaiſche Nachah¬
mung von dem Beatus ille des Horaz. Und der
erſte Aufſatz von Reiſer, war ſein ſteifes Ge¬
dicht uͤber die Welt, das er ſchon in Hannover
auf der Schule gemacht hatte.
Da nun aber fuͤr dieſe Aufſaͤtze weiter kein
Honorar erfolgte, und der Plan des Studenten
R... durch eine Wochenſchrift, die er mit
Reiſern herausgeben wollte, ein Anſehnliches
zu gewinnen, auf die Weiſe ins Stecken gerieth,
ſo hatte auch Reiſer weiter kein Intereſſe mehr
fuͤr ihn; welches ihm nicht zu verdenken war,
da Reiſer wegen ſeiner Melancholie, die vor¬
zuͤglich bei ihm aus dem Mangel an Waͤſche,
und nun auch wieder von dem ſchlechten Zuſtan¬
de ſeiner Schuhe entſtand, nur ein trauriger
Geſellſchafter ſeyn konnte.
Der Student R... ſuchte alſo Reiſern nach
Verlauf von acht Tagen, die er bei ihm ge¬
wohnt hatte, ſchon wieder in einem andern Lo¬
gis unterzubringen. — Dieß war auf der
Kirſchlache, in der Wohnung eines Brauers,
wo noch ein Student logirte, und der Sohn im
Hauſe ebenfalls die Schule beſuchte.
[112]
Hier bekam Reiſer nun wiederum kein Zim¬
mer fuͤr ſich allein, ſondern mußte, ſo wie der
andre Student mit der Familie zuſammenwoh¬
nen. — Das Haus aber hatte eine angenehme
Lage — es ſtand in einer Reihe kleiner Haͤuſer,
vor denen ein ſchmales Gewaͤſſer vorbeifließt,
deſſen diesſeitiges Ufer mit Baͤumen bepflanzt iſt.
Es war alſo keine ganz eingeengte Straße,
ſondern das voruͤberfließende Waſſer, und ſelbſt
die Kleinheit der Haͤuſer trugen dazu bei, dieſer
Gegend der alten Stadt ein freies laͤndliches
Anſehn zu geben.
Hinter dem Hauſe war gleich die alte Stadt¬
mauer, von welcher man die Ausſicht nach dem
Kartheuſerkloſter hatte. Die Mauer war oben
zum Theil mit Gras bewachſen, und an ver¬
ſchiedenen Orten halb eingefallen, ſo daß man
bequem hinaufſteigen, und alsdann die große
Plaͤne von Gaͤrten, womit Erfurt noch innerhalb
ſeiner Mauren umgeben iſt, uͤberſehen konnte.
Waͤhrend dieſer Zeit erhielt nun Reiſer auch
den ordentlichen Freitiſch von der Univerſitaͤt,
und die Idee des ruhigen Bleibens behielt nun
auf einmal wieder ſo ſehr bei ihm die Oberhand,
daß[113] daß er jetzt, da er neunzehn Jahr alt war, an
ſeinen Freund in H. . . . ſchrieb, er hoffe und
wuͤnſche nunmehr den Reſt ſeiner Tage in Er¬
furt zu beſchließen.
Seine lernende Laufbahn ſollte nehmlich
hier unmittelbar in die lehrende uͤbergehn, und
ſo ſollte daß Ziel aller ſeiner Wuͤnſche und Hoff¬
nungen dann erreicht ſeyn. — Auf alles uͤbrige
Glaͤnzende glaubte er nun Verzicht gethan zu
haben, und alle die ſchimmernden Theaterphan¬
taſien ſchienen auf eine Zeitlang aus ſeinem
Kopfe verſchwunden zu ſeyn.
Er war nun doch auf einmal in eine neue
Welt verſetzt, und hatte gegen ſeinen Aufent¬
halt in H. . . . immer erſtaunlich viel gewonnen.
Wenn er auf den Waͤllen von Erfurt um
die Stadt ſpatzieren gieng, ſo fuͤhlte er lebhaft,
daß er durch eigne Anſtrengung ſich aus ſeinem
uneretaͤglichen Zuſtande geriſſen, und ſeinen
Standpunkt in der Welt aus eigner Kraft ver¬
aͤndert hatte.
Wenn er dann die Glocken von Erfurt laͤuten
hoͤrte, ſo wurden allmaͤlig alle ſeine Erinnerun¬
gen an das Vergangene rege — der gegenwaͤr¬
4ter Theil. H[114] tige Moment beſchraͤnkte ſein Daſeyn nicht —
ſondern er faßte alles das wieder mit, was
ſchon entſchwunden war.
Und dies waren die gluͤcklichſten Momente
ſeines Lebens, wo ſein eigenes Daſeyn erſt an¬
fing ihn zu intereſſiren, weil er es in einem ge¬
wiſſen Zuſammenhange, und nicht einzeln und
zerſtuͤckt betrachtete.
Das Einzelne, Abgeriſſene und Zerſtuͤckte in
ſeinem Daſeyn, war es immer, was ihm Ver¬
druß und Ekel erweckte.
Und dieß entſtand ſo oft, als unter dem
Druck der Umſtaͤnde ſeine Gedanken ſich nicht
uͤber den gegenwaͤrtigen Moment erheben konn¬
ten. — Dann war alles ſo unbedeutend, ſo leer
und trocken, und nicht der Muͤhe des Denkens
werth. —
Dieſer Zuſtand ließ ihn immer die Ankunft
der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gaͤnz¬
liches Vergeſſen ſeiner Selbſt wuͤnſchen — ihm
kroch die Zeit mit Schneckenſchritten, fort —
und er konnte ſich nie erklaͤren, warum er in
dieſem Augenblicke lebte.
[115]
Im Anfange ſeines Aufenthalts in Erfurt
waren dieſer Augenblicke nur wenige — er
uͤberſah das Leben immer mehr im Ganzen —
die Ortsveraͤnderung war noch neu — ſeine
Einbildungskraft war durch das Immerwie¬
derkehrende noch nicht gefeſſelt. —
Dies Immerwiederkehrende in den ſinnli¬
chen Eindruͤcken ſcheint es vorzuͤglich zu ſeyn,
was die Menſchen im Zaum haͤlt, und ſie auf
einen kleinen Fleck beſchraͤnkt. — Man fuͤhlt
ſich nach und nach ſelbſt von der Einfoͤrmigkeit
des Kreiſes, in welchem man ſich umdreht, un¬
widerſtehlich angezogen, gewinnt das Alte lieb,
und flieht das Neue — Es ſcheint eine Art von
Frevel, aus dieſer Umgebung hinauszutreten,
die gleichſam zu einem zweiten Koͤrper von uns
geworden iſt, in welchen der erſtere ſich ge¬
fuͤgt hat.
Reiſers Wohnung auf der Kirſchlache ſchien
auch gerade dazu gemacht zu ſeyn, um ſeine Ein¬
bildungskraft aufs neue wieder zu feſſeln.
Die Ausſicht uͤber die Gaͤrten nach dem
Karthaͤuſerkloſter hin hatte nehmlich ſo etwas
Romantiſches, das Reiſern unwiderſtehlich an¬
H 2[116] zog, und ſeine Blicke auf jenen ſtillen Sitz der
Einſamkeit heftete, nach welcher er eine heim¬
liche Sehnſucht empfand. —
Da das Gebaͤude ſeiner Phantaſie geſchei¬
tert war, und er die geraͤuſchvollen Weltſcenen
weder im wirklichen Leben, noch auf dem Thea¬
ter hatte durchſpielen koͤnnen, ſo fiel er nun,
wie es gemeiniglich zu geſchehen pflegt, mit ſei¬
ner ganzen Empfindung auf das andere Extrem.
Ganz von der Welt vergeſſen, von Men¬
ſchen abgeſchieden, in der ſtillen Einſamkeit ſeine
Tage zu verleben, hatte einen unausſprechlichen
Reiz fuͤr ihn — und dieſe Abgeſchiedenheit er¬
hielt in ſeinen Gedanken einen deſto hoͤhern
Werth, je groͤßer das Opfer war, das er
brachte. — Denn das worauf er Verzicht that,
waren ſeine liebſten Wuͤnſche, die in ſein We¬
ſen eingewebt ſchienen. —
Die Lampen und Kuliſſen, das glaͤnzende
Amphitheater war verſchwunden, die einſame
Zelle nahm ihn auf. —
Die hohe Mauer welche das Karthaͤuſerklo¬
ſter umſchließt, das Thuͤrmchen auf der Kirche,
die einzelnen Haͤuschen, die innerhalb der
[117] Mauer in einer Reihe nacheinander ſtehn, und
wovon jedes durch eine Mauer vom andern ab¬
geſondert, ein eigenes Fleckchen zum Garten
hat; dieß alles macht einen ſehr intereſſanten
Anblik, und dieſe Hoͤhe der Mauer, dieſe ein¬
zelnen Haͤuſer, und dieſe Gaͤrtchen dazwiſchen,
bezeichnen ſehr auffallend und bedeutend die
Einſamkeit und Abgeſchiedenheit der Bewohner
dieſes Orts.
So oft die Glocke auf dem Thuͤrmchen an¬
gezogen wurde, toͤnte ſie in Reiſers Ohren, wie
die Sterbeglocke aller irrdiſchen Wuͤnſche und
Ausſichten, in die Zukunft dieſes Lebens. —
Denn hier war nun das Ziel von allem —
nie durfte der Fuß des Eingeweihten wieder aus
dem Bezirk dieſer Mauren treten — er fand
hier ſeine immerwaͤhrende Wohnung, und ſein
Grab. —
Das Gelaͤute der Karthaͤuſer wird noch
mehr durch die Art mit der es geſchieht, und
durch ſeine Langſamkeit traurig und melan¬
choliſch. —
So wie nehmlich die Karthaͤuſer ſich auf
dem Chor verſammlen, thut jeder nach der
H 3[118] Reihe einen Zug an der Glocke, und nimmt
darauf ſeinen Platz ein, bis alle, vom Aelteſten
bis zum Juͤngſten hereingetreten ſind.
Nun horchte Reiſer auf den Schall dieſer
Glocke zuweilen in der ſtillen Mittagsſtunde,
zuweilen um Mitternacht, oder bei fruͤhem
Morgen, und jedesmal erneuerte ſich der Ein¬
druck davon ſo lebhaft in ſeinem Gemuͤthe, daß
immer das ganze Bild der Einſamkeit und
Stille des Grabes mit erwachte. —
Es kam ihm vor, als ob dieſe abgeſchiede¬
nen Menſchen ihren eigenen Tod uͤberlebten, in
ihren Graͤbern umherwandelten, und ſich ein¬
ander die Haͤnde reichten. —
Mit dieſer Idee wurde er nach und nach ſo
vertraut, und ſie wurde ihm ſo lieb, daß er ſie
manchmal um die angenehmſten Ausſichten in
das Leben nicht haͤtte vertauſchen moͤgen.
Er hatte nun auch wieder einen Brief von
Philipp Reiſer aus Hannover erhalten, der
eben ſo, wie ehemals die Geſpraͤche deſſelben,
ſtatt einer beſondern Theilnehmung an ſeines
Freundes Schickſale, eine etwas weitlaͤuftige
Schilderung ſeiner damaligen Liebe enthielt,
[119] und wie weit er nun ſchon in dieſer Liebe gekom¬
men ſey, und was ihm noch fuͤr Hinderniſſe im
Wege ſtaͤnden.
Demohngeachtet trug Reiſer dieſen Brief
beſtaͤndig bei ſich, und las ihn zum oͤftern durch,
weil Philipp Reiſer doch ſein einziger Freund war.
Ohnweit der Kirſchlache war ein angeneh¬
mer Spatziergang, wo zwiſchen gruͤnem Ge¬
buͤſch im Thale ſich ein klarer Bach ergoß. —
Die Ausſicht war rund umher gehemmt, und
man befand ſich in einer reizenden Einſamkeit. —
Hier brachte Reiſer manche Stunde auf dem
gruͤnen Raſen am Ufer des Baches zu, und
dachte uͤber ſein Schickſal nach, und wenn er
zu denken muͤde war, ſo las er den Brief ſeines
Freundes durch, den er, ſo wenig ihn auch der
Inhalt intereſſirte, am Ende faſt auswendig
lernte — denn er hatte doch einmal nichts zu
leſen, was ihm naͤher geweſen waͤre, als dieſer
Brief.
Dazu kam noch der Umſtand, daß Philipp
Reiſer aus Erfurt gebuͤrtig war; ſie hatten alſo
beide ihre Vaterſtaͤdte vertauſcht — und Anton
Reiſer befand ſich nun auf demſelbigen Fleck,
H 4[120] wo ſein Freund die erſten Tage ſeiner Jugend
verlebt, und die erſten Eindruͤcke von der ihn
umgebenden Welt erhalten hatte.
Er durchlebte hier in Gedanken Philipp
Reiſers Kinderjahre, und verdoppelte ſich in
ihm, wenn er in dem Thal am Bache ſaß, und
ſeinen Brief las, der ihm denn ſein ganzes We¬
ſen wieder in Erinnerung brachte.
Darum war ihm unter den Studenten auch
O. . . . ſo lieb, der Philipp Reiſern in Erfurt
noch gekannt hatte, und mit dem er ſich am
oͤfterſten von ihm unterredete.
Dieſer O. . . . war damals ein junger lie¬
benswuͤrdiger Schwaͤrmer, vor ſeiner Phanta¬
ſie ſchwebte noch der jugendliche Lebensreiz, und
ihn beſeelten hohe Freundſchaftsgefuͤhle — zu¬
weilen lief ein klein wenig Affektation mit unter,
im Grunde aber hatte er wirklich ein gefuͤhl¬
volles Herz.
An ihm fand Reiſer ſeinen Mann, und
ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit
ihm in die Karthaͤuſerkirche gieng; denn allein
hatte er ſich, weil es ihm zu auffallend ſchien,
noch nicht getraut, hereinzugehen.
[121]
Sie hatten ſich unterwegens von der Nich¬
tigkeit und Kuͤrze des Lebens unterhalten, wo¬
bei zu bemerken iſt, daß Reiſer damals neun¬
zehn und O. . . . zwanzig Jahr alt war, und
wuſten nicht, was ſie mit dem Reſt ihrer Tage
anfangen ſollten, als ſie in dem Kloſter anlang¬
ten, und in die Kirche traten, welche ſchon
durch ihre leeren weißen Waͤnde, und den ein¬
ſamen Chor die Stille des Grabes predigte.
Die Kirche wird nehmlich außer den Kar¬
thaͤuſern ſelber faſt von niemand beſucht, und
weil keine Gemeinde dazu gehoͤrt, ſo iſt hier
weder Kanzel noch Stuͤhle oder Baͤnke, ſondern
nichts als die leeren Waͤnde und der flache Bo¬
den, welches dieſer Kirche, bei dem daͤmmern¬
den Lichte, das von oben durch die Fenſter faͤllt,
ein ſehr ernſtes und melancholiſches Anſehn
giebt.
O. . . . und Reiſer knieten ganz allein an ei¬
nem Pult vor dem Chore, als die weißgeklei¬
deten Moͤnche einer nach dem andern hereintra¬
ten, und jeder ſich buͤckend ſeinen Zug an der
Glocke that.
[122]
Sie ſetzten ſich an ihre Pulte auf dem Chor
und ſtimmten ihren Bußgeſang in tiefen, trau¬
rigen Toͤnen an — bald ſtanden ſie auf und
ſangen Hymnen, die traurig zuruͤck erſchallten;
dann fielen ſie auf ihr Angeſicht, und flehten in
tiefen klagenden Toͤnen um Erbarmung. —
Ganz an den einem Ende des halben Zir¬
kels ſtand ein Juͤngling mit blaſſen Wangen von
ausnehmend ſchoͤner Bildung. — Reiſer konnte
ſeine Augen nicht von den ſeinigen wenden, die
er andachtsvoll gen Himmel ſchlug. —
O. . . . kannte dieſen Ungluͤcklichen, der in
den Orden der Karthaͤuſer getreten war, weil
der Blitz ſeinen Jugendfreund an ſeiner Seite
erſchlagen hatte — und Reiſern ſchwebte das
Bild dieſes Juͤnglings von nun an beſtaͤndig
vor der Seele. —
Halbe Tage brachte er auf der alten Mauer
hinter ſeiner Wohnung zu, und ſehnte ſich in
den Bezirk jener ſtillen Mauren hin, die ſeiner
Meinung nach eine ganze Welt mit allen ihren
Taͤuſchungen und Blendwerken ausſchloſſen. —
Mit jenem Juͤngling wollte er dort verbluͤ¬
hen, und dem Grabe zuwelken — dort wollte
[123] er ſelber ſein einſames Gaͤrtchen bauen, — den
ſanften Strahl der Abendſonne in ſeiner Zelle
begruͤßen — und allen irrdiſchen Wuͤnſchen und
Hoffnungen entnommen mit Ruhe und Heiter¬
keit dem Tode entgegen ſehen.
In dieſer Stimmung machte er nun auf den
alten eingefallnen Mauern hinter ſeiner Woh¬
nung, folgendes Gedicht:
ruͤhrendes Vorbild,
Auge voll Thraͤnen,
Greis, du Bewohner
dir! vom leeren Gewimmel
Geraͤuſche des Stolzes,
Gaͤrtchen dir bauen,
len ſtrebet,
menden Tage,
genieße die Seegen
von Erdegedanken
fuͤhlen zerflieſſe
emporſchwinge — herrlich,
aber, den Jahre,
nicht die ſinkende Scheitel
bluͤhender Juͤngling,
me Zelle ſich waͤhlte;
des hoͤhnenden Stolzes?
oder fuͤhlteſt du lebhaft,
Hoffnungen alle
bitternder Ekel
des Lebens, der dir einſt
[125]
rigen Einoͤde machte;
Freiſtadt vor allen
vor dem Geraͤuſche
ſchoͤn gleißenden Laſters,
fand'ſt! — Doch was ſeh ich?
die Wange
bleich ſein gebrochnes,
lechzende Blume
im geheiligten Kerker,
[126]
hinweinen!
abend dir unter,
einſames Fenſter,
von kuͤnftigen Tagen,
Wonnegefuͤhlen, verlierſt dich
gluͤcklichen Schlummer,
vier Waͤnd', und
o ſaͤuſelt Zephire
trocknet mitleidig
men, in ſeinem Garten,
des Lied, Philomele!
quaͤlenden Banden
zaͤrtlicher Wehmuth,
[127]
Grabſtaͤtte klagen.
Reiſer war wirklich ſo mit ganzer Seele bei
den Karthaͤuſern, daß er anfing im Ernſt darauf
zu denken, wie er auch ſo abgeſchieden von der
Welt ſeine Tage zubringen koͤnnte, und dann
von allem was ihn druͤckte, von ſeinen Wuͤn¬
ſchen und Begierden, die ihn quaͤlten, auf ein¬
mal und auf immer befreit ſeyn wuͤrde. —
Als er ſchon einige Tage in dieſen Gedanken
vertieft geweſen war, kam O. . .. . zu ihm und
ſagte, daß die Studenten in Erfurt willens
waͤren eine Komoͤdie zu ſpielen, und daß einige
Rollen noch unbeſetzt waͤren. — —
Dieſe Anrede wirkte ſo maͤchtig auf Reiſers
Phantaſie, daß auf einmal das Karthaͤuſerklo¬
ſter mit ſeinen hohen Mauren tief im Hinter¬
grunde ſtand, und die Kuliſſen mit den Lich¬
tern ſich ploͤtzlich wieder vordraͤngten; da nun
O. . . . uͤberdem noch hinzufuͤgte, daß man da¬
mit umgehe, in dem Stuͤcke, das man aufzu¬
fuͤhren Willens ſey, Reiſern eine Rolle anzu¬
[128] tragen; ſo war vollends jeder ernſte und me¬
lancholiſche Gedanke, wie verſchwunden.
Das Stuͤck nehmlich, was die Studenten
in Erfurt auffuͤhren wollten, hieß Medon oder
die Rache des Weiſen, und man koͤnnte davon
ſagen, daß es die ganze Moral in ſich enthielt,
ſo erſtaunlich viel Tugend wurde von allen Per¬
ſonen darin gepredigt.
In dieſem Stuͤcke nun ſollte Reiſer die Rolle
der Clelie, der Geliebten des Medon, uͤberneh¬
men, weil ſich an ſeinem Kinne noch die wenig¬
ſte Spur von einem Barte zeigte, und weil auch
ſeine Laͤnge als Frauenzimmer eben nicht auffiel,
da der, welcher den Medon ſpielte, von einer
faſt rieſenmaͤßigen Groͤße war.
Ohngeachtet der auffallenden Sonderbar¬
keit dieſer Rolle, konnte Reiſer dennoch ſeinem
Hange, das Theater auf irgend eine Weiſe zu
betreten nicht widerſtehen, um ſo weniger, da
ſich ihm die Gelegenheit dazu, ſo ganz unge¬
ſucht und von ſelbſt darbot.
Waͤhrend der Zeit hatte nun der Doktor
Froriep nach Hannover geſchrieben, und ſich
wegen Reiſers Auffuͤhrung bei ſeinem ehemaligen
Lehrer,[129] Lehrer dem Rektor S. . ., wo er im Hauſe ge¬
wohnt [hatte], erkundigt, und dieſer hatte ihm
ganz wider Reiſers Vermuthen, ein Zeugniß
gegeben, welches ihm bei dem Doktor Froriep
noch weit mehr in Gunſt brachte.
Der Rektor S. . . hatte nehmlich geſchrie¬
ben, daß man allerdings von den Anlagen die¬
ſes jungen Menſchen ſich viel verſprochen haͤtte.
Und dieß war fuͤr den Doktor Froriep genug,
um das Nachtheilige, was dieß Zeugniß enthielt,
mit Schonung und Nachſicht zu betrachten, und
ſich nun Reiſers mit verdoppeltem Eifer anzu¬
nehmen, um ihm, wo moͤglich, auch die Gna¬
de des Prinzen wieder zu verſchaffen.
Das Zeugniß ſelbſt aber war auch ſchonend
und nachſichtsvoll abgefaßt, ausgenommen einen
Punkt, wo man Reiſern, wegen ſeiner naͤcht¬
lichen Spatziergaͤnge, im Verdacht der Lieder¬
lichkeit gehabt hatte, und ihn alſo gerade einer
Sache beſchuldigte, wovon er am weiteſten ent¬
fernt war, weil er ſchon durch das Druͤckende
ſeines Zuſtandes, durch ſeine Selbſtverachtung,
und ſelbſt durch ſeine Schwaͤrmereien davon ab¬
gehalten wurde.
Theil[130]
Dann war ſein Hang zum Theater, dasje¬
nige, worauf man nicht ohne Grund, ſeine
uͤbrigen Unregelmaͤßigkeiten ſchob, und wodurch
damals ſo viele junge Leute auf der Schule in
H. . . . waren hingeriſſen worden. —
Und gerade indem nun dieſer Brief ankam,
war Reiſer ſchon wieder im Begriff mit den
Studenten in Erfurt Komoͤdie zu ſpielen. —
Der Doktor Froriep widerrieth es ihm zwar;
da er aber ſahe, wie ſehr ſein Herz daran hieng,
ſahe er ihm auch noch dieſe Thorheit nach, und
entzog ihm daruͤber nichts von ſeiner Gunſt.
Die Vorbereitungen zu der Komoͤdie wur¬
den nun gemacht; Reiſer lernte die Rolle der
Klelie auswendig, und nun wurden haͤufige
Proben gehalten, wodurch Reiſer mit dem groͤ߬
ten Theil der Studenten in Erfurt bekannt wur¬
de, die ſich alle gegen ihn ſehr hoͤflich betrugen,
und alle eine vortheilhafte Meinung von ihm
hegten, wodurch er ſich in eine Welt verſetzt
fand, die von derjenigen ganz verſchieden war,
worin er von Kindheit auf gelebt hatte.
Zwiſchen dieſen Komoͤdienproben verſaͤumte
nun Reiſer nicht, des Doktor Frorieps Prediger
[131] kollegium fleißig zu beſuchen. Dies beſtand aus
einer Anzahl Studenten, die ſich in der Kauf¬
mannskirche, in Gegenwart des Doktor Fro¬
riep und der uͤbrigen Studenten, bei verſchlo߬
nen Thuͤren, im Predigen uͤbten.
Hier wuͤnſchte nun Reiſer ebenfalls auftreten
zu koͤnnen, um ſeine Deklamation hier hoͤren
zu laſſen, und es war ihm immer eine der rei¬
zendſten Ausſichten, wenn der Doktor Froriep
ihm einmal verſtatten wuͤrde, hier die Kanzel zu
beſteigen. Auch hatte er ſich ſchon ein Thema
ausgedacht, worin er die Schoͤnheiten der Na¬
tur, den Wechſel der Jahreszeiten mit poetiſchen
Farben ſchildern, und mit den glaͤnzenden und
ſchimmernden Ausſichten in die Ewigkeit auf
eine pathetiſche Weiſe ſeine Predigt beſchließen
wollte. Allein es kamen immer Hinderniſſe da¬
zwiſchen, daß ihm dieſer Wunſch in Erfurt
nicht gewaͤhrt wurde.
So wie man nun an allem zweifelt, was
man heftig wuͤnſcht, ſo zweifelte er auch immer,
ob die wirkliche Auffuͤhrung der Komoͤdie zu
Stande kommen, und er ſeine Rolle darin be¬
halten wuͤrde. Dieſer Wunſch wurde ihm
J 2[132] dann gewaͤhrt. Er wurde mit aller Sorgfalt
als Klelie geſchmuͤckt. Die Lichter wurden an¬
gezuͤndet, der Vorhang rauſchte empor, und
er ſtand nun da vor einem zahlreichen Audito¬
rium, und ſpielte ganz unbefangen ſeine lange
Rolle durch, ohne daß ihm ein einzigesmal das
Unnatuͤrliche davon eingefallen waͤre, ſo ſehr
war er in dem Gedanken vertieft, daß er in ei¬
ner theatraliſchen Darſtellung nun wirklich mit
begriffen, und daß ſeine Mitwirkung in jedem
Augenblick dazu nothwendig war. —
Dieß Vertiefen in ſeinen Gegenſtand machte,
daß er ſich ſelbſt vergaß, und daß auch die Zu¬
ſchauer das Unnatuͤrliche der Rolle weniger be¬
merkten, und er uͤber ſein Spiel ſogar noch
Beifall erhielt. Da er alſo nun den Schau¬
platz betreten hatte, und doch dabei Student
blieb, ſo machte ihm dies doppeltes Vergnuͤgen,
und er fuͤhlte ſich in der Wiedererinnerung an
dieſen Abend ein paar Tage uͤber ſo gluͤcklich,
daß ihm alles das, was ihm in den wenigen
Wochen, die er nun in Erfurt zugebracht hatte,
ſchon begegnet war, halb wie im Traume
vorkam.
[133]
Er ruͤckte nun auch in die Wochenſchrift der
Buͤrger und der Bauer von Zeit zu Zeit Gedich¬
te ein, wodurch ſein Nahme als Schriftſteller
unter den Erfurtiſchen Buͤrgern bekannt wurde.
Dabei beſorgte er Korrekturen fuͤr den Buch¬
drucker G...., und wurde durch dieſen mit
einem Gelehrten bekannt, den, bei den groͤßten
Vorzuͤgen des Geiſtes und Herzens bis an ſeinen
Tod, ein widriges Schickſal verfolgte, weil er
durch den langwierigen ununterbrochenen Druck
der Umſtaͤnde, verlernt hatte, ſeinen Werth
geltend zu machen, und gerade die Kraft, wo¬
durch er in der Welt feſten Fuß faſſen, und ſei¬
nen Platz behaupten mußte, bei ihm ge¬
laͤhmt war.
Dieſer Doktor Sauer hatte fuͤr den Buch¬
drucker G.... eine Wochenſchrift geſchrieben,
unter dem Titel Medon oder die drei Freunde,
wovon ein Jahrgang herausgekommen war.
Man ſahe auch hieran, wie er mit dem Druck
der Umſtaͤnde hatte kaͤmpfen muͤſſen; wie ſchwer
es ihm mußte geworden ſeyn, eine Anzahl tri¬
vialer Aufſaͤtze niederzuſchreiben, wobei noch
J 3[134] immer die Funken des unterdruͤckten Genies
hervorſpruͤhten.
So aber mußte er ſchreiben, und woͤchent¬
lich ſeinen Bogen liefern, um wiederum ein Jahr¬
lang von ſeinem muͤhſeeligen Leben zu athmen.
— Da nun die Wochenſchrift aufhoͤrte, ſo war
er genoͤthigt, wieder von Korrekturen ſein Da¬
ſeyn zu erhalten. Und da er ſelber dramatiſche
Ausarbeitungen von vielem Werth in ſeinem
Pulte liegen hatte, die er nicht wagte, zum
Vorſchein zu bringen, mußte er fuͤr einen vor¬
nehmen Herrn in Erfurt, mit aller Sorgfalt
und Korrektheit eines Kopiſten ein Trauerſpiel
fuͤr Geld abſchreiben, um mit dem Abſchreiber¬
lohn wiederum einige Tage lang ſein Leben zu
friſten.
Als Arzt verdiente er nichts: Denn er fuͤhl¬
te einen beſondern Hang in ſich, gerade den Leu¬
ten zu helfen, die der Huͤlfe am meiſten beduͤr¬
fen, und denen ſie am wenigſten geleiſtet wird.
Und weil dieß nun gerade diejenigen ſind, welche
die Huͤlfe nicht zu bezahlen vermoͤgen, ſo gerieth
der Arzt ſelber in große Gefahr zu verhungern,
wenn er nicht Wochenſchriften herausgegeben,
[135] Korrekturen beſorgt, und Trauerſpiele abge¬
ſchrieben haͤtte.
Kurz, er ließ ſich fuͤr ſeine Kuren nichts be¬
zahlen, und brachte auch dazu den armen Leu¬
ten noch die Arzenei ins Haus, die er ſelbſt ver¬
fertigte, und das wenige was ihm uͤbrig oder
nicht uͤbrig blieb, darauf verwandte. Weil
er ſich nun dadurch gleichſam weggeworfen hat¬
te, ſo hatten die Leute aus der großen und vor¬
nehmen Welt kein Zutrauen zu ihm; niemand
zog ihn zu Rathe, und unter den meiſten war
ſogar ſein Nahme nicht einmal bekannt, ob er
ſich gleich als Arzt ſchon keine geringe Erfah¬
rung und Geſchicklichkeit erworben hatte.
Er hatte auch in dieſem Fache ſchon eigene
vortrefliche Ausarbeitungen geliefert, die aber
das Ungluͤck hatten, ſich unter der Menge zu
verlieren, und eben ſo wie ihr Verfaſſer, von
den Zeitgenoſſen nicht bemerkt zu werden. Und
waͤhrend, daß er nun ſeine uͤbrigen medizini¬
ſchen Ausarbeitungen in ſeinem Pulte verſchloſ¬
ſen hielt, mußte er die Schrift eines franzoͤſi¬
ſchen Arztes, der nach Erfurt kam, und beſſer,
als der Doktor Sauer, ſich wußte bemerken zu
J 4[136] machen, ins Lateiniſche uͤberſetzen, um von dem
Ueberſetzerlohne zu leben, und fuͤr ſeine huͤlflo¬
ſen und armen Kranken neue Arzeneimittel zuzu¬
bereiten.
Der muͤßte ganz abgeſtumpft ſeyn, der dieſe
Unwuͤrdigkeiten und Demuͤthigungen vom
Schickſal nicht fuͤhlen ſollte. Der Doktor
Sauer machte eine laͤchelnde Mine dazu, allein
im Innerſten ſeiner Seele untergrub doch jede
dieſer Demuͤthigungen und Herabwuͤrdigungen
ſeine Thatkraft, und laͤhmte ſeinen Muth.
Wie konnte er ſeinem innern Werthe noch
trauen, da die ganze Welt ihn verkannte.
Wegen der Konnexion mit dem Buchdrucker
G. . . . fuͤr welchen er die Korrekturen beſorgte,
gab er nun auch zuweilen Aufſaͤtze in die be¬
ruͤhmte Erfurtiſche Wochenſchrift der Buͤrger
und der Bauer; und da las Reiſer einmal ein
Gedicht von ihm, auf die freigewordenen Ame¬
rikaner, welches wohl verdient haͤtte, in einer
Sammlung von den vorzuͤglichſten Poeſien der
Deutſchen zu ſtehen, und nun in einem Blatte
ſich verlohr, das in den Bierhaͤuſern von Erfurt
feil geboten wurde.
[137]
Es war als ob in dieſem Gedichte ſein un¬
terdruͤckter Geiſt alle ſein Freiheitsgefuͤhl noch
einmal ausgehaucht haͤtte, ein ſolcher Schwung
und feurige Theilnehmung herrſchte, in den
Gedanken.
Ganz entzuͤckt durch dies Gedicht konnte
Reiſer nicht ruhen, bis er die Bekanntſchaft ei¬
nes ſo vorzuͤglichen Mitarbeiters an der Wo¬
chenſchrift der Buͤrger und der Bauer gemacht
hatte. Es hielt aber ſchwer, bis er dieſen
Wunſch erreichte, weil der Doktor Sauer eben
keinen großen Hang in ſich fuͤhlen konnte, ſich
noch ferner an irgend einen aus der Klaſſe von
Weſen anzuſchließen, die ihn gleichſam ausge¬
ſtoßen hatte.
Indes fand ſich doch ein Weg dazu, weil
Reiſer ſein Studium der engliſchen Sprache
auch in Erfurt fortgeſetzt hatte, daß er ſich er¬
bot, dem Doktor Sauer Engliſch zu lehren,
weil dieſer ſchon einigemale den Wunſch geaͤußert
hatte, mit dieſer Sprache bekannt zu ſeyn.
Dies Anerbieten wurde dann angenommen,
und ſo erhielt Reiſer Gelegenheit woͤchentlich
wenigſtens ein paarmal mit dieſem Mann zu¬
J 5[138] ſammenzukommen, an den er ſich nun ſo nahe
wie moͤglich anzuſchlieſſen wuͤnſchte.
Bei dieſer Gelegenheit wurde er nun immer
offner gegen Reiſern, und erzaͤhlte ihm von den
mannichfaltigen Unterdruͤckungen, denen er von
ſeiner Kindheit an, von ſeinen Anverwandten
und von ſeinen Lehrern ausgeſetzt war, und nach¬
her alle die Streiche des Schickſals nacheinan¬
der, die ihn bis in den Staub darniedergebeugt
hatten; ſo daß Reiſer im auffahrenden Unwil¬
len ſich nicht enthalten konnte, die Verkettung
haͤmiſch zu nennen, worin ein denkendes und
empfindendes Weſen gleichſam abſichtlich ſo ein¬
geengt und gequaͤlt wird.
Waͤhrend daß nun Reiſer auf dieſe Art ſei¬
nen Unwillen aͤußerte, verzog ſich Sauers
Mund zu einem ſanften Laͤcheln, wodurch er
freilich uͤber dieſen Unwillen erhaben, aber auch
zugleich von den irrdiſchen Banden ſchon geloͤßt
war, und ſeiner baldigen vollkommnen Be¬
freiung ahndungsvoll entgegen ſahe. — Sein
Kampf war beinahe durchgekaͤmpft, er brauchte
weiter keine widerſtehende Kraft, keinen Trotz
gegen das Schickſal.
[139]
Demohngeachtet loderte die Lebensflamme
noch manchmal wieder in ihm auf. Er hoffte
zuweilen noch gluͤckliche Tage zu ſehen, und
hatte einen großen Eifer zur Erlernung des Eng¬
liſchen, weil er ſich von dieſem ſeinem Studium
viel verſprach, um vorzuͤglich die in der engli¬
ſchen Sprache geſchriebenen mediziniſchen Werke
zu nutzen, und dann auch durch Ueberſetzungen
aus dem Engliſchen Geld zu erwerben.
Dann bot ſich ihm auch ſogar eine kleine
Ausſicht zu einer Art von Verſorgung in Er¬
furt dar — und dies war ihm nun ſchon eine
ſehr gluͤckliche Wendung, die er beſonders ſei¬
nem Ausharren zuſchrieb. Wer in Erfurt zu
etwas kommen wolle, pflegte er nun oft zu Rei¬
ſern zu ſagen, der muͤſſe nur lange Zeit aushar¬
ren, und die Gedult nicht verlieren! ſo beſchei¬
den und maͤßig war er in ſeinen Wuͤnſchen, und
ſo ſehr war jeder Schimmer eines beſſern Gluͤcks
ihm ſchon aufmunternd.
Er wußte nicht, daß alles aͤußere Gluͤck
ihm nicht mehr helfen konnte, weil der Quell
des Gluͤcks in ihm ſelber verſiegt, und die
[140] Blume ſeines Lebens zerknickt war, ſo daß
ihre Blaͤtter nothwendig welken mußten.
Reiſer fuͤhlte ſich von einer ſolchen Theilneh¬
mung angezogen, als ob das Schickſal dieſes
Mannes ſein eigenes, oder mit dem ſeinigen
doch unzertrennlich verknuͤpft geweſen waͤre. Es
war ihm als muͤßte dieſer Mann noch gluͤcklich
werden, wenn die Dinge in ihrem Gleiſe blei¬
ben ſollten.
Reiſern trog aber diesmal, ſo wie nachher
noch oft ſeine Ahndung, und ſein Glaube an
eine Entſchaͤdigung fuͤr erlittenen Kummer, die
nothwendig noch auf Erden ſtatt finden muͤſſe.
— Sauer entſchlummerte nach wenigen Jah¬
ren, ohne beßre Tage geſehn zu haben. Da
ihn von außen das Gluͤck ein wenig anlaͤchelte,
waren ſeine innern Kraͤfte zerſtoͤrt; und er blieb
unbemerkt und unbekannt bis an ſeinen Tod;
ſo daß in der kleinen Gaſſe, wo er wohnte,
ſeine naͤchſten Nachbaren, als man den Sarg
hinaustrug, fragten: wer denn da begraben
wuͤrde? Ein Grad des Nichtbemerktwerdens,
der in einer ſo unbevoͤlkerten Stadt, wie Er¬
furt, hoͤchſt auffallend iſt.
[141]
Die wenigen Tage nun, welche Reiſer mit
dem Doktor Sauer in Erfurt verlebte, waren
fuͤr ihn hoͤchſt wichtig, weil ſie ſeiner Seele ei¬
nen gewiſſen neuen Anſtoß gaben: Er rafte ſich
gegen alle die Unterdruͤckungen zuſammen, wel¬
che jenen Geiſt ſo ſehr hatten laͤhmen koͤnnen.
Und der Unwille, den er daruͤber empfand,
floͤßte ihm einen gewiſſen Trotz ein, auch dem
Schwerſten nicht zu unterliegen, und das ge¬
wiſſermaßen durch Widerſtand zu raͤchen, was
jener gelitten hatte.
Sie waren eines Tages nach einem Dorfe
vor Erfurt zuſammen ſpazieren gegangen, und
O.... war mit von der Geſellſchaft. — Als ſie
gegen Abend zuruͤckkehrten, kamen ſie an ein
Gewaͤſſer, das mit dickem Gebuͤſch umgeben
war, und ſchwarz zwiſchen ſeinen Ufern hin¬
kroch. Hier blieb Sauer ſtehen, und ſuchte
mit dem Stocke die Tiefe zu meſſen, die er
aber nicht abreichen konnte. Er blieb ſtehen,
und ſahe mit untergeſchlagenen Armen in das
Waſſer, und bemerkte die ſchwarze Flaͤche, und
wie langſam fließend es dahin kroͤche. —
[142]
Das Bild wie Sauer mit blaſſen Wangen,
und untergeſchlagenen Armen, bedeutungsvoll
in dieſen Stygiſchen Fluß herunter blickte, kam
Reiſern lebhaft wieder vor die Seele, als er
einige Jahre nachher die Nachricht von ſeinem
Tode vernahm. — Denn wenn irgend ein be¬
deutendes Bild ſich formte, wo Zeichen und
Sache eines wurden, ſo war es hier.
Fuͤr Reiſern aber eroͤfneten ſich wieder froͤ¬
liche Ausſichten: denn die Studenten kamen
auf den Einfall noch eine Komoͤdie aufzufuͤhren,
weil ſie an dieſem Vergnuͤgen nun einmal Ge¬
ſchmack bekommen hatten.
Die Stuͤcke welche man waͤhlte, waren der
Argwoͤhniſche und der Schatz von Leſſing:
in dem erſten erhielt Reiſer wiederum zwei Frauen¬
zimmerrollen, die er mit Umkleidung ſpielen
mußte, und in dem andern die Rolle des Mas¬
karil, und nun war ſein Schauſpielerkredit un¬
ter den Studenten ſchon ſo befeſtiget, daß man
es als eine Gefaͤlligkeit von ihm anſahe, wenn
er dieſe Rollen uͤbernehmen wollte, und er ſich
alſo auf keine Weiſe dazu draͤngen durfte.
[143]
Waͤhrend daß nun die Veranſtaltungen zu
dieſer zweiten theatraliſchen Vorſtellung gemacht
wurden, fieng Reiſer zu gleicher Zeit eine Aus¬
arbeitung uͤber die Empfindſamkeit an, womit
er zuerſt als Schriftſteller auftreten wollte. In
dieſer Schrift ſollte die affektirte Empfindſam¬
keit laͤcherlich gemacht, und die wahre Em¬
pfindſamkeit in ihr gehoͤriges Licht geſtellt werden.
Die ſeynſollende Satire gegen die Empfind¬
ſamkeit gerieth nun freilich ziemlich grob, indem
er ſie mit einer Seuche verglich, vor der man
ſich zu huͤten habe, und jedweden der aus einer
Gegend kaͤme, wo die Empfindſamkeit herrſch¬
te, den Eingang in Staͤdte und Doͤrfer ver¬
ſperren muͤſſe.
Dieſer Unwille war vorzuͤglich durch die em¬
pfindſamen Reiſen, die nach und nach in Deutſch¬
land erſchienen, und durch die vielen affektirten
Nachahmungen von Werthers Leiden, bei Rei¬
ſern erweckt worden, ob er ſich gleich ſelber auch
heimlich dieſer Suͤnde anklagen mußte; um de¬
ſto heftiger ſuchte er nun auch zugleich zu ſeiner
eigenen Beſſerung, dagegen zu eifern.
[144]
Gerade, da er eines Abends an dieſer Ab¬
handlung ſchrieb, trat der Buchdrucker P. . . .
aus Hannover in die Stube, und brachte ihm
einen Brief von Philipp Reiſern. Dies war
eben der Buchdrucker, fuͤr den er in Hannover
eine Anzahl kleiner Neujahrwuͤnſche verfertigt,
und ſich zum erſtenmal in denſelben gedruckt ge¬
ſehen hatte.
Als Reiſer den Buchdrucker vor die Thuͤre
hinausbegleitete, druͤckte ihm dieſer ein kleines
Goldſtuͤck in die Hand, welches hinlaͤnglich war,
einen Menſchen, der nun ſeit einigen Wochen
ſchon ganz von Gelde entbloͤßt war, und ſich
doch ſeinen Mangel nicht wollte merken laſſen,
auf einmal aus dem Staube zu heben.
Dies unvermuthete Geſchenk erhielt noch ei¬
nen groͤßern Werth durch die Art, womit es
gegeben wurde, indem der Buchdrucker P. . . .
die Worte hinzufuͤgte: es ſey dieſe Kleinigkeit
eine alte Schuld, die er abtruͤge, weil nehmlich
Reiſer Neujahrwuͤnſche, Gedichte u. ſ. w. bloß
der Ehre wegen in Hannover fuͤr ihn verfer¬
tigt hatte.
[145]
In Reiſers Umſtaͤnden hatte ein Goldgul¬
den, woraus dies Geſchenk beſtand, fuͤr ihn ei¬
nen unſchaͤtzbaren Werth, und riß ihn auf ein¬
mal aus einer Menge kleiner Verlegenheiten,
die er keinem Menſchen haͤtte ſagen duͤrfen. Dies
machte, daß er nun in Erfurt wirklich einige
gluͤckliche Tage erlebte, wo er eben durch nichts
weder von innen noch außen gedruͤckt wurde,
und auch in die Zukunft keine truͤbe Ausſich¬
ten hatte.
Der Brief von Philipp Reiſern war auch in¬
tereſſanter als der vorhergehende; denn er ent¬
hielt die Nachricht daß verſchiedene von Rei¬
ſers Mitſchuͤlern, welche mit ihm zugleich in
Hannover Komoͤdie geſpielt hatten, ſeinem Bei¬
ſpiele gefolgt, und auch zum Theil heimlich fort¬
gegangen waͤren, um ſich dem Theater zu widmen.
Darunter war vorzuͤglich I. . . der im
Klavigo den Beaumarchais geſpielt hatte; der
Sohn des Kantor W . . . . — der Praͤfektus
aus dem Chore, Nahmens O . . . und ein gewiſ¬
ſer T. . ., eines Predigers Sohn, mit dem
Reiſer kurz vor ſeinem Abſchiede, noch einige
romantiſche Spatziergaͤnge bei Hannover ge¬
4ter Theil. K[146] macht hatte. Nun fand Reiſer eine ſonderbare
Art von Stolz darin, da er doch von allen
dieſen nachgeahmt war, daß er zuerſt den Muth
gehabt hatte, einen ſolchen Schritt zu thun.
Dann ſchrieb ihm Reiſer in ſeinem uͤber¬
ſpannten Stiele, daß der Dichter Hoͤlty in
Hannover geſtorben ſey, und ſchloß am Ende
mit den Worten: freue dich Dichter! weine
Menſch! — Von dem Fortgange ſeines Liebes¬
romans enthielt dieſer Brief nur wenig.
Waͤhrend daß nun Reiſer mit den Rollen
in der zweiten Komoͤdie beſchaͤftigt war, fand
er einen neuen Freund in Erfurt, einen Stu¬
denten Nahmens N. . . aus Hamburg gebuͤr¬
tig, der bei dem Doktor Froriep im Hauſe
wohnte, welcher ihm eine Abſchrift von Reiſers
Gedichte, das Karthaͤuſerkloſter gezeigt,
und dadurch dem Verfaſſer auf einmal einen
neuen Freund verſchaft hatte.
Dies wurde nun eine Freundſchaft gerade
von der empfindſamen Art, wogegen Reiſer
eine Abhandlung zu ſchreiben im Begriff war.
Der junge N. . . hatte wirklich ein gefuͤhl¬
volles Herz, er ließ ſich aber auch durch den
[147] Strom hinreißen, und ſpielte bei jeder Gele¬
genheit den Empfindſamen, ohne es ſelbſt zu wiſ¬
ſen; denn er eiferte ſehr oft mit Reiſern gegen
das Laͤcherliche einer affektirten Empfindſamkeit
— weil er aber nicht bloß vor andern empfind¬
ſam zu ſcheinen, ſondern es fuͤr ſich ſelber wirk¬
lich zu ſeyn ſuchte, ſo deuchte ihm das keine
Affektation mehr, ſondern er trieb dieß nun
als eine ganz ernſthafte Sache, die keinen
Spott auf ſich leidet, und zog Reiſern allmaͤ¬
lig mit in dieſen Wirbel hinuͤber, der die Seele
ſo lange hinaufſchraubt, bis ſie in den abge¬
ſchmackteſten Zuſtand geraͤth, den man ſich den¬
ken kann.
Reiſern war es ſchon aufmunternd, daß
ohngeachtet ſeiner duͤrftigen Umſtaͤnde ſich je¬
mand an ihn ſchloß, dem es nicht an aͤußern
Gluͤcksguͤtern fehlte. — Nach und nach aber
bildete ſich bei ihm eine ordentliche Liebe und
Anhaͤnglichkeit an den jungen N. . . ., welche
durch deſſen wahre Freundſchaft fuͤr Reiſern im¬
mer vermehrt wurde, ſo daß ſie ſich immer
mehr, auch in ihren Thorheiten, einander naͤ¬
herten, und von ihrer Melancholie und Em¬
K 2[148] pfindſamkeit ſich wechſelsweiſe einander mit¬
theilten.
Dieß geſchahe nun vorzuͤglich auf ihren ein¬
ſamen Spaziergaͤngen, wo ſie nur gar zu oft
zwiſchen ſich und der Natur eine Scene veran¬
ſtalteten, indem ſie etwa bei Sonnenuntergang
die Juͤnger von Emaus aus dem Klopſtock la¬
ſen, oder an einem truͤben Tage, Zachariaͤs
Schoͤpfung der Hoͤlle, u. ſ. w.
Vorzuͤglich lagerten ſie ſich oft am Abhange
des Steigerwaldes, von welchem man die Stadt
Erfurt, mit ihren alten Thuͤrmen und ihrem
ganzen Umfange von Gaͤrten, kann liegen
ſehen. Da hinauf gehen die Einwohner von
Erfurt haͤufig ſpazieren, machen ſich auch wohl
oben ſelbſt ein kleines Feuer an, und kochen ſich
den Kaffe, um die patriarchaliſchen Ideen wie¬
der zu erneuern.
Hier ſaßen nun auch N. . . . und Reiſer oft
Stunden lang, und laſen ſich aus irgend einem
Dichter wechſelsweiſe vor; welches die meiſte
Zeit eine wahre Muͤhe und Arbeit, und ein
peinlicher Zuſtand fuͤr ſie war, den ſie ſich aber
einander nicht geſtanden, um nur am Ende die
[149] Idee mit ſich zu nehmen: „Wir haben am
„Steigerwalde freundſchaftlich beieinander ge¬
„ſeſſen, haben von da in das anmuthsvolle
„Thal hinuntergeblickt, und dabei unſern Geiſt
„mit einem ſchoͤnen Werke der Dichtkunſt
„genaͤhrt.“
Wenn man erwaͤgt, wie viele kleine Um¬
ſtaͤnde ſich ereignen muͤſſen, um das Stillſitzen
und Leſen unter freiem Himmel angenehm zu
machen, ſo kann man ſich denken, mit wie vie¬
len kleinen Unannehmlichkeiten N. . . . und Rei¬
ſer bei dieſen empfindſamen Scenen kaͤmpfen
mußten: wie oft der Boden feucht war, die
Ameiſen an die Beine krochen, der Wind das
Blatt verſchlug, u. ſ. w.
N. . . . fand nun einen vorzuͤglichen Gefal¬
len daran, Klopſtocks Meſſiade Reiſern ganz
vorzuleſen; bei der entſetzlichen Langenweile nun,
die dieſe Lektuͤre beiden verurſachte, und die ſie
ſich doch einander, und jeder ſich ſelber kaum zu
geſtehen wagten, hatte N. . . . doch noch den
Vortheil des lauten Leſens, womit ihm die Zeit
vergieng: Reiſer aber war verdammt zu hoͤren,
und uͤber das Gehoͤrte entzuͤckt zu ſeyn, welches
K 3[150] ihm mit die traurigſten Stunden in ſeinem Le¬
ben gemacht hat, deren er ſich zu erinnern weiß,
und welche ihn am meiſten zuruͤckſchrecken wuͤr¬
den, ſeinen Lebenslauf noch einmal von vorn
wieder durchzugehen. Denn keine groͤßere Quaal
kann es wohl geben, als eine gaͤnzliche Leer¬
heit der Seele, welche vergebens ſtrebt, ſich
aus dieſem Zuſtande herauszuarbeiten, und un¬
ſchuldigerweiſe ſich ſelber in jedem Augenblicke
die Schuld beimißt, und ſich ſelber ihres Stumpf¬
ſinns anklagt, daß ſie von den erhabenen Toͤ¬
nen, die unaufhoͤrlich in ihre Ohren klingen,
nicht geruͤhrt und erſchuͤttert wird.
Ob nun gleich N. . . und Reiſer faſt unzer¬
trennlich beiſammen waren, ſo ſehnte ſich der
Letztre doch wieder nach einſamen Spatziergaͤngen,
die ihm immer das reinſte Vergnuͤgen gewaͤhret
hatten; allein dieß hatte er ſich nun auch verleidet;
denn gemeiniglich verſprach er ſich von einem
ſolchen Spatziergange zu viel, und kehrte ver¬
drießlich wieder zu Hauſe, wenn er nicht gefun¬
den hatte, was er ſuchte; ſobald das Dort nun
Hier wurde, hatte es auch alle ſeinen Reiz ver¬
loren, und der Quell der Freude war verſiegt. —
[151]
Der Verdruß, der dann in die Stelle der
gereizten Hoffnung trat, war von einer ſo gro¬
ben, gemeinen, und niedrigen Art, daß auch
nicht der mindeſte Grad von einer ſanften Me¬
lancholie oder etwas dergleichen damit beſtehen
konnte. Es war ohngefaͤhr die Empfindung ei¬
nes Menſchen, der ganz vom Regen durchnaͤßt
iſt, und indem er vor Froſt ſchaudernd zu Hau¬
ſe kehrt, auch noch eine kalte Stube findet.
Ein ſolches Leben fuͤhrte Reiſer, und ſchrieb
dabei immer an ſeiner Abhandlung gegen die
falſche Empfindſamkeit fort, wobei er denn bei
ſeinen einſamen Spaziergaͤngen einmal eine ſon¬
derbare Aeußerung von Empfindſamkeit bei ei¬
nem gemeinen Menſchen bemerkte, bei dem er
dieſelbe am wenigſten erwartet haͤtte.
Er gieng nehmlich zwiſchen den Gaͤrten von
Erfurt ſpazieren, und da es gerade in der Pflau¬
menzeit war, ſo konnte er ſich nicht enthalten,
von einem uͤberhangenden Aſte, eine ſchoͤne reife
Pflaume abzupfluͤcken, welches der Eigenthuͤ¬
mer des Gartens bemerkte, der ihn ſehr un¬
ſanft mit den Worten anfuhr, ob er wohl wiſſe,
K 4[152] daß die Pflaume, die er da abgepfluͤckt haͤtte,
ihm einen Dukaten koſten wuͤrde.
Reiſer ſuchte abzudingen, mußte aber zu¬
gleich geſtehen, daß er keinen Heller Geld bei
ſich habe. Um nun aber den Eigenthuͤmer des
Gartens wegen der geraubten Pflaume einiger¬
maaßen zu befriedigen, mußte er ihm ſein ein¬
ziges gutes Schnupftuch aus der Taſche geben,
deſſen Verluſt ihm ſehr leid that.
Als er nun traurig weggieng, ſah er, nach¬
dem er nur wenige Schritte gethan hatte, ein
ſchoͤnes Einlegemeſſer vor ſich auf der Erde lie¬
gen; er hob es geſchwind auf, und rief den
Gaͤrtner wieder zuruͤck, dem er einen Tauſch
antrug, ob er nicht fuͤr das gefundene Meſſer,
ihm ſein Schnupftuch zuruͤck geben wolle?
Wie erſtaunte Reiſer, als nun der Gaͤrt¬
ner, der vorher ſo grob gegen ihn geweſen war,
ihm auf einmal um den Hals fiel und kuͤßte,
und ſich ſeine Freundſchaft ausbat; weil Reiſer
nothwendig ein Guͤnſtling der Vorſehung ſeyn
muͤſſe, da ſie ihn gerade das Meſſer habe fin¬
den laſſen, welches niemand anders als der
Gaͤrtner ſelbſt verlohren hatte, der nun Rei¬
[153] ſer ſein Schnupftuch mit Freuden wieder gab,
und ihn zugleich verſicherte, daß ſein Garten
ihm zu jeder Zeit offen ſtaͤnde, um ſo viel Pflau¬
men, wie er wollte, zu pfluͤcken, und daß er
ihm in jeder Sache dienen wuͤrde, wo er nur
koͤnnte; denn ein ſo außerordentlicher Fall ſey
ihm noch nicht vorgekommen.
Als Reiſer im Weggehen uͤber dieſen ſonder¬
baren Zufall nachdachte, fiel er ihm um ſo mehr
auf, weil dieß das erſtemal in ſeinem Leben war,
daß ihm ein eigentlich gluͤckliches Ereigniß be¬
gegnete, wobei mehrere Umſtaͤnde ſich verei¬
nigen mußten, die ſich ſonſt ſelten zu vereini¬
gen pflegen.
Sein Gluͤck ſcheinet ſich in dieſer Kleinigkeit
gleichſam ganz erſchoͤpft zu haben, um ihn im
Großen wieder deſtomehr buͤßen zu laſſen, was
er auf keine andre Weiſe, als durch ſein Da¬
ſeyn verſchuldet hatte.
Es war, wie bei dem Landprediger von Wa¬
kefield, der einen ganz ungewoͤhnlich gluͤcklichen
Wurf mit den Wuͤrfeln that, indem er mit ſei¬
nem Freunde um wenige Pfennige ſpielte, kurz
vorher, ehe er die Nachricht von dem Banque¬
K 5[154] rot des Kaufmanns erhielt, durch welchen er
ſein ganzes Vermoͤgen verlohr.
Noch eine kleine Weile hielt das Schickſal
die Demuͤthigungen zuruͤck, welche es Reiſern
zugedacht hatte, und ließ ihn noch ungeſtoͤrt in
ſeinem Vergnuͤgen, daß ihm [nun] die zweite Ko¬
moͤdien-Auffuͤhrung gewaͤhrte, und worin ihm
drei Rollen zu Theil geworden waren.
Sein ſehnlichſter Wunſch war doch alſo nun
einigermaaßen erfuͤllt, ob er gleich in keiner tra¬
giſchen Rolle hatte glaͤnzen koͤnnen. Und was
noch mehr war, ſo hatte man eine Art von Zu¬
trauen zu ſeinen theatraliſchen Einſichten, man
fragte ihn um Rath, und er wurde nun durch
ſeine Theilnehmung an der Komoͤdie ſowohl,
als durch ſeine geſchriebenen Gedichte, unter
den Studenten noch mehr bekannt, die ihn mit
Hoͤflichkeit begegneten, welches ihm fuͤr ſeine
Lage auf der Schule in H. . . . . . ein angeneh¬
mer Erſatz war.
Dabei beſuchte er nun fleißig die Univerſi¬
taͤtsbibliothek, wo er einen beſondern Gefallen
daran fand, des Du Halde Beſchreibung von
[155] China zu ſtudiren, und ſehr viele Zeit damit
verſchwendete.
Grade damals erſchien auch: Siegwart eine
Kloſtergeſchichte, und er las mit ſeinem Freun¬
de R. . .s das Buch zu mehrerenmahlen durch,
und beide thaten ſich bei der entſetzlichſten Lan¬
genweile Zwang an, in der einmal angefange¬
nen Ruͤhrung, alle drei Baͤnde hindurch zu
bleiben.
Am Ende hatte Reiſer nichts weniger im
Sinne, als die ganze Geſchichte in ein hiſtori¬
ſches Trauerſpiel zu bringen, wozu er wuͤrklich
allerlei Entwuͤrfe machte, und die ſchoͤne Zeit
damit verſchwendete.
Wenn es ihm dann nicht, wie er wuͤnſchte,
gerathen wollte, ſo hatte er nach jeder vergeb¬
nen Anſtrengung dieſer Art, die truͤbſeeligſten
und widrigſten Stunden, die man ſich nur den¬
ken kann. Die ganze Natur und alle ſeine eige¬
nen Gedanken hatten dann ihren Reiz fuͤr ihn
verlohren, jeder Moment war ihm druͤckend,
und das Leben war ihm im eigentlichen Ver¬
ſtande eine Quaal.
[156]
Die Leiden der Poeſie
Koͤnnen daher wohl in jedem Betracht eine
eigene Rubrik in Reiſers Leidensgeſchichte aus¬
machen, welche ſeinen innern und aͤußern Zu¬
ſtand in allen Verhaͤltniſſen darſtellen ſollen,
und wodurch dasjenige gewiß werden ſoll, was
bei vielen Menſchen ihr ganzes Leben hindurch,
ihnen ſelbſt unbewußt, und im Dunkeln verbor¬
gen bleibt, weil ſie Scheu tragen, bis auf den
Grund und die Quelle ihrer unangenehmen
Empfindungen zuruͤckzugehen.
Dieſe geheimen Leiden waren es, womit
Reiſer beinahe von ſeiner Kindheit an, zu kaͤm¬
pfen hatte.
Wenn ihn der Reiz der Dichtkunſt unwill¬
kuͤhrlich anwandelte, ſo entſtand zuerſt eine
wehmuͤthige Empfindung in ſeiner Seele, er
dachte ſich ein Etwas, worin er ſich ſelbſt ver¬
lohr, wogegen alles, was er je gehoͤrt, gele¬
ſen oder gedacht hatte, ſich verlohr, und deſ¬
ſen Daſeyn, wenn es nun wuͤrklich von ihm
dargeſtellt waͤre, ein bisher noch ungefuͤhltes,
unnennbares Vergnuͤgen verurſachen wuͤrde.
[157]
Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob
dieß ein Trauerſpiel, oder eine Romanze, oder
ein Elegiſches Gedicht werden ſollte; genug,
es mußte etwas ſeyn, das wuͤrklich eine ſolche
Empfindung erwekte, wovon der Dichter gewiſ¬
ſermaaßen ſchon ein Vorgefuͤhl gehabt hatte.
In den Momenten dieſes ſeeligen Vorge¬
fuͤhls konnte die Zunge nur ſtammelnde einzelne
Laute hervor bringen. Etwa wie die in einigen
Klopſtockſchen Oden, zwiſchen denen die Luͤcken
des Ausdrucks mit Punkten ausgefuͤllt ſind.
Dieſe einzelnen Laute aber bezeichneten denn
immer das Allgemeine von Groß, erhaben,
Wonnethraͤnen, und dergleichen. — Dieß
dauerte denn ſo lange, bis die Empfindung in
ſich ſelbſt wieder zuruͤckſank, ohne auch nur ein
paar vernuͤnftige Zeilen, zum Anfange von et¬
was Beſtimmten, ausgebohren zu haben.
Nun war alſo waͤhrend dieſer Kriſis nichts
Schoͤnes entſtanden, woran ſich die Seele nach¬
her haͤtte feſthalten koͤnnen, und alles andre,
was wuͤrklich ſchon da war, wurde [nun] keines
Blicks mehr gewuͤrdiget. Es war, als ob die
Seele eine dunkle Vorſtellung von etwas ge¬
[158] habt haͤtte, was ſie ſelbſt nicht ſeyn konnte,
und wodurch ihr eigenes Daſeyn ihr veraͤchtlich
wurde.
Es iſt wohl ein untruͤgliches Zeichen, daß
einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß
eine Empfindung im Allgemeinen zum
Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die
ſchon beſtimmte Scene, die er dichten will,
noch eher als dieſe Empfindung, oder we¬
nigſtens zugleich mit der Empfindung da
iſt. Kurz, wer nicht waͤhrend der Em¬
pfindung zugleich einen Blick in das gan¬
ze Detaille der Scene werfen kann, der
hat nur Empfindung, aber kein Dich¬
tungsvermoͤgen.
Und gewiß iſt nichts gefaͤhrlicher, als einem
ſolchen taͤuſchenden Hange ſich zu uͤberlaſſen;
die warnende Stimme kann nicht fruͤh genug
dem Juͤngling zurufen, ſein Innerſtes zu pruͤ¬
fen, ob nicht der Wunſch bei ihm an die Stel¬
le der Kraft tritt, und weil er dieſe Stelle nie
ausfuͤllen kann, ein ewiges Unbehagen die
Strafe verbotenen Genuſſes bleibt.
[159]
Dieß war der Fall bei Reiſern, der die be¬
ſten Stunden ſeines Lebens durch mißlungene
Verſuche truͤbete, durch unnuͤtzes Streben,
nach einem taͤuſchenden Blendwerke, daß immer
vor ſeiner Seele ſchwebte, und wenn er es nun
zu umfaſſen glaubte, ploͤtzlich in Rauch und
Nebel verſchwand.
Wenn nun je der Reiz des Poetiſchen bei
einem Menſchen mit ſeinem Leben und ſeinen
Schickſalen kontraſtirte, ſo war es bei Reiſern,
der von ſeiner Kindheit an in einer Sphaͤre
war, die ihn bis zum Staube niederdruͤckte,
und wo er bis zum Poetiſchen zu gelangen, im¬
mer erſt eine Stuffe der Menſchenbildung uͤber¬
ſpringen mußte, ohne ſich auf der folgenden er¬
halten zu koͤnnen.
So gieng es ihm nun jetzt wieder in ſeiner
aͤußerlichen Lage; er hatte eigentlich keine Stube
fuͤr ſich, ſondern mußte, da es nun anfieng
kaͤlter zu werden, mit in der gemeinſchaftlichen
Stube wohnen, deren Einwohner, wenn aus¬
gefegt wurde, ſo lange herausgehen mußten.
In dieſer Stube wohnte die ganze Familie,
nebſt Reiſern und noch einem Studenten, und
[160] jeder nahm ſeine Beſuche von Fremden darin
an; es wurde dann erzaͤhlt, von Kindern ge¬
laͤrmt, geſungen, gezankt und geſchrieen; und
dieß war nun die naͤchſte Umgebung, worin
Reiſer ſeine philoſophiſche Abhandlung uͤber die
Empfindſamkeit ſchreiben, und ſeine poetiſchen
Ideale außer ſich darſtellen wollte.
Hier ſollte alſo nun das Trauerſpiel Siegwart
geſchrieben werden, das ſich mit ſeiner Einkehr
bei dem Einſiedler anhub, welches immer Rei¬
ſers Lieblingsidee, und die Lieblingsidee faſt al¬
ler jungen Leute zu ſeyn pflegt, welche ſich ein¬
bilden, einen Beruf zur Dichtkunſt zu haben.
Dieß iſt ſehr natuͤrlich, weil der Zuſtand
eines Einſiedlers gewiſſermaßen an ſich ſelber
ſchon Poeſie iſt, und der Dichter ſeinen Stoff
ſchon beinahe vorgearbeitet findet.
Wer aber zuerſt auf ſolche Gegenſtaͤnde faͤllt,
bei dem iſt es auch faſt immer ein Zeichen, daß
bei ihm keine aͤchte poetiſche Ader ſtatt finde,
weil er die Poeſie in den Gegenſtaͤnden ſucht,
die in ihm ſelber ſchon liegen muͤßte, um jeden
Gegenſtand, der ſich ſeiner Einbildungskraft
darbietet, zu verſchoͤnern.
[o][161]
So iſt die Wahl des Schrecklichen ebenfalls
ein ſchlimmes Zeichen, wenn das vermeinte poe¬
tiſche Genie gleich zuerſt darauf verfaͤllt; denn
freilich macht ſich hier das Poetiſche auch ſchon
von ſelber, und die innere Leerheit und Unfrucht¬
barkeit ſoll durch den aͤußern Stoff erſetzt werden.
Dieß war der Fall bei Reiſern ſchon in H. . . .
auf der Schule, wo er Meineid, Blutſchande
und Vatermord, in einem Trauerſpiele zuſam¬
menzuhaͤufen ſuchte, das der Meineid heißen
ſollte, und wobei er ſich dann immer die wirk¬
liche Auffuͤhrung des Stuͤcks, und zugleich den
Effekt dachte, den es auf die Zuſchauer machen
wuͤrde.
Dieß zweite Zeichen ſollte ebenfalls jeden,
der ſich wegen ſeines poetiſchen Berufes ſorgfaͤl¬
tig pruͤft, ſchon abſchreckend ſeyn. Denn der
wahre Dichter und Kuͤnſtler findet und hofft ſeine
Belohnung nicht erſt in dem Effekt, den ſein
Werk machen wird, ſondern er findet in der Ar¬
beit ſelbſt Vergnuͤgen, und wuͤrde dieſelbe nicht
fuͤr verloren halten, wenn ſie auch niemanden zu
Geſicht kommen ſollte. Sein Werk zieht ihn un¬
willkuͤhrlich an ſich, in ihm ſelber liegt die Kraft
4ter Theil. L[162] zu ſeinen Fortſchritten, und die Ehre iſt nur der
Sporn, der ihn antreibt.
Die bloße Ruhmbegier kann wohl die Begier
einhauchen, ein großes Werk zu beginnen, allein
die Kraft dazu kann ſie dem nie gewaͤhren, der
ſie nicht ſchon beſaß, ehe er ſelbſt die Ruhmbe¬
gier noch kannte.
Noch ein drittes ſchlimmes Zeichen iſt, wenn
junge Dichter ihren Stoff ſehr gerne aus dem
Entfernten und Unbekannten nehmen; wenn ſie
gern morgenlaͤndiſche Vorſtellungsarten, und
dergleichen bearbeiten, wo alles von den Scenen
des gewoͤhnlichen naͤchſten Lebens der Menſchen
ganz verſchieden iſt; und wo alſo auch der Stoff
ſchon von ſelber poetiſch wird.
Dieß war denn auch der Fall bei Reiſern;
er gieng ſchon lange mit einem Gedicht uͤber die
Schoͤpfung ſchwanger, wo der Stoff nun frei¬
lich der allerentfernteſte war, den die Einbil¬
dungskraft ſich denken konnte, und wo er ſtatt
des Detail, vor dem er ſich ſcheute, lauter große
Maſſen vor ſich fand, deren Darſtellung man
denn fuͤr die eigentlich erhabene Poeſie haͤlt, und
wozu die unberufenen jungen Dichter immer weit
[163] mehr Luſt haben, als zu dem, was dem Menſchen
nahe liegt; denn in dieß letztere muß freilich ihr
Genie die Erhabenheit erſt hereintragen, welche
ſie in jenem ſchon vor ſich zu finden glauben.
Reiſers aͤußere Lage wurde hiebei mit jedem
Tage druͤckender, weil die gehofte Unterſtuͤtzung
aus H..... nicht erfolgte, und ſeine Hausleute
ihn immer mehr mit ſcheelen Blicken anſahen,
je mehr ſie inne wurden, daß er weder Geld be¬
ſitze, noch welches zu hoffen habe. Sein Fruͤh¬
ſtuͤck und Abendbrodt, was er hier genoß, war
er nicht mehr im Stande zu bezahlen, und man
ließ ihm deutlich merken, daß man nicht laͤnger
Willens ſey, ihm zu borgen; da man alſo keinen
Nutzen von ihm ziehen konnte, und er uͤberdem
ein trauriger Geſellſchafter war, ſo war es na¬
tuͤrlich, daß man ſeiner loß zu ſeyn wuͤnſchte,
und ihm die Wohnung aufkuͤndigte.
So wenig auffallend dieß nun an ſich war,
ſo tragiſch nahm es Reiſer. Der Gedanke des
Laͤſtigſeyns, und daß er von den Leuten, unter
denen er lebte, gleichſam nur geduldet wuͤrde,
machte ihm wiederum ſeine eigene Exiſtenz ver¬
haßt. Alle Erinnerungen aus ſeiner Jugend
L 2[164] und Kindheit draͤngten ſich zuſammen. Er haͤufte
ſelber alle Schmach auf ſich, und wollte ver¬
zweiflungsvoll ſich einem blinden Schickſal aufs
neue uͤberlaſſen.
Er wollte noch an dieſem Tage wieder aus
Erfurt gehen, und tauſenderlei romanhafte
Ideen durchkreuzten ſich in ſeinem Kopfe, wor¬
unter eine ihm beſonders reizend ſchien, daß er
in Weimar bei dem Verfaſſer von Werthers Lei¬
den wollte Bedienter zu werden ſuchen, es ſey
unter welchen Bedingungen es wolle; daß er
auf die Art gleichſam unerkannter Weiſe, ſo nahe
um die Perſon desjenigen ſeyn wuͤrde, der un¬
ter allen Menſchen auf Erden den ſtaͤrkſten Ein¬
druck auf ſein Gemuͤth gemacht hatte; Er gieng
vors Thor und blickte nach dem Ettersberge hin¬
uͤber, der wie eine Scheidewand zwiſchen ihm
und ſeinen Wuͤnſchen lag.
Nun gieng er zu Froriep, um Abſchied von
ihm zu nehmen, ohne ihm eine eigentliche Ur¬
ſache ſagen zu koͤnnen, weswegen er Erfurt wie¬
der verlaſſen wolle. Der Doktor Froriep ſchob
dieſen Entſchluß auf ſeine Melancholie, redete
ihm zu, daß er bleiben ſolle, und entließ ihn
[165] nicht eher, bis Reiſer ihm verſprochen hatte,
wenigſtens heute und morgen noch nicht ab¬
zureiſen.
Dieſe Theilnehmung an ſeinem Schickſale
war nun zwar fuͤr Reiſern wieder ſehr ſchmei¬
chelhaft; ſobald er ſich aber wieder allein fand,
verfolgte der Gedanke des Laͤſtigſeyns in ſeiner
naͤchſten Umgebung ihn wie ein quaͤlender Geiſt,
er hatte nirgends Ruhe noch Raſt; ſtreifte in
den einſamſten Gegenden von Erfurt umher, in
der Gegend des Karthaͤuſerkloſters, wohin er
ſich nun im Ernſt, wie nach einem ſichern Zu¬
fluchtsorte ſehnte, und wehmuͤthig nach den ſtil¬
len Mauern hinuͤberblickte.
Dann irrte er weiter umher, bis es Abend
wurde, wo der Himmel ſich mit Wolken uͤber¬
zog, und ein ſtarker Regen fiel, der ihn bald
bis auf die Haut durchnetzte. Der Fieberfroſt,
welcher ſich nun zu den innern Unruhen ſeines
Gemuͤths geſellte, trieb ihn in Sturm und Re¬
gen umher, bei altem Gemaͤuer und durch ein¬
ſame oͤde Straßen; denn in ſeine bisherige Woh¬
nung zuruͤckzukehren, davon konnte er den
Gedanken nicht ertragen.
[166]
Er ſtieg die hohe Treppe zu dem alten Dom
hinauf, band ſich ein Tuch um den Kopf, und
ſuchte ſich unter altem Gemaͤuer eine Weile vor
dem Regen zu ſchuͤtzen. Vor Muͤdigkeit fiel er
hier in eine Art von betaͤubendem Schlummer,
aus dem er durch einen neuen Regenguß, und
durch das Getoͤſe des Windes wieder erweckt
wurde, und aufs neue durch die Straßen irrte.
Indem ihm nun der Regen ins Geſicht
ſchlug, fiel ihm die Stelle aus dem Lear ein:
to ſhut me out, in ſuch a night as this! (Die
Thuͤren vor mir zu verſchließen, in einer Nacht,
wie dieſe!) Und nun ſpielte er die Rolle des Lear
in ſeiner eigenen Verzweiflung durch, und ver¬
gaß ſich in dem Schickſale Lears, der von ſeinen
eigenen Toͤchtern verbannt, in der ſtuͤrmiſchen
Nacht umherirrt, und die Elemente auffordert,
die entſetzliche Beleidigung zu raͤchen.
Dieſe Scene hielt ihn hin, daß er ſich eine
Zeitlang den Zuſtand, worin er war, mit einer
Art von Wolluſt dachte, bis auch dieß Gefuͤhl
abgeſtumpft wurde, und ihm nun am Ende
nichts als die leere Wirklichkeit uͤbrig blieb,
[167] welche ihn in ein lautes Hohngelaͤchter uͤber ſich
ſelbſt ausbrechen ließ.
In dieſer Stimmung kehrte er wieder zu
dem alten Dom zuruͤck, der nun ſchon eroͤfnet
war, und wo die Chorherren ſich zur Fruͤhmette
bei Licht verſammleten. Das alte gothiſche Ge¬
baͤude, die wenigen Lichter, der Widerſchein von
den hohen Fenſtern, machten auf Reiſern, der
die ganze Nacht umher geirrt war, und ſich hier
auf eine Bank niederſetzte, einen wunderbaren
Eindruck. Er war, wie in einer Behauſung,
vor dem Regen geſchuͤtzt, und doch war dies
keine Wohnung fuͤr die Lebenden. Wer vor dem
Leben ſelber eine Freyſtatt ſuchte, den ſchien dies
dunkle Gewoͤlbe einzuladen, und wer eine Nacht,
wie Reiſer die vergangene, durchlebt hatte,
konnte wohl geneigt ſeyn, dieſem Rufe zu fol¬
gen. Reiſer fuͤhlte ſich auf der Bank im Dom
in eine Art von Abgeſchiedenheit und Stille ver¬
ſetzt, die etwas unbeſchreiblich Angenehmes fuͤr
ihn hatte, die ihn auf einmal allen Sorgen und
allem Gram entruͤckte, und ihn das Vergangene
vergeſſen machte. Er hatte aus dem Lethe ge¬
trunken, und fuͤhlte ſich in das Land des Frie¬
L 4[168] dens ſanft hinuͤber ſchlummern. Dabei heftete
ſich immer ſein Blick auf den blaſſen Wider¬
ſchein von den hohen Fenſtern, und dieſer war
es vorzuͤglich, welcher ihn in eine neue Welt
zu verſetzen ſchien: es war dieß eine majeſtaͤtiſche
Schlafkammer, in welcher er ſeine Augen auf¬
ſchlug, nachdem er wild die Nacht durchtraͤumt
hatte.
Denn wie Traͤume eines Fieberkranken, wa¬
ren freilich ſolche Zeitpunkte in Reiſers Leben,
aber ſie waren doch einmal darin, und hatten
ihren Grund in ſeinen Schickſalen von ſeiner
Kindheit an. Denn war es nicht immer Selbſt¬
verachtung, zuruͤckgedraͤngtes Selbſtgefuͤhl, wo¬
durch er in einen ſolchen Zuſtand verſetzt wurde?
Und wurde nicht dieſe Selbſtverachtung durch
den immerwaͤhrenden Druck von außen bei ihm
bewirkt, woran freilich mehr der Zufall ſchuld
war, als die Menſchen.
Als der Tag angebrochen war, kehrte Rei¬
ſer mit ruhigerm Gemuͤthe aus dem Dom zuruͤck,
und begegnete auf der Straße ſeinem Freunde
N. . ., der ſchon fruͤh ein Collegium beſuchte,
und welcher erſchrak, da er Reiſern ins Geſicht
[169] ſahe, ſo ſehr hatte dieſe Nacht ihn abgemattet
und entſtellt.
N. . . ruhete nicht eher, bis Reiſer ihm ſei¬
nen ganzen Zuſtand entdeckt hatte. Nach freund¬
ſchaftlichen Vorwuͤrfen, daß Reiſer nicht mehr
Zutrauen zu ihm gehabt, brachte er ihn wieder
nach ſeiner alten Wohnung, ſuchte ihn dort den
Leuten in einem andern Lichte darzuſtellen, und
tilgte die geringe Schuld ſeines Freundes.
Dieſe aufrichtige Theilnehmung ſeines Freun¬
des ſtaͤrkte bei Reiſern wieder das erkrankte
Selbſtgefuͤhl; er war gewiſſermaßen ſtolz auf
ſeinen Freund, und ehrte ſich in ihm.
Nun bedung er ſich aus, um allein ſeyn zu
koͤnnen, einen Verſchlag auf dem Boden des
Hauſes zu beziehen, wohin man ihm auch ein
Bette gab, und wo er nun wieder, ganz ſich
ſelbſt gelaſſen, ein paar nicht unangenehme Wo¬
chen zubrachte.
Er laß und ſtudirte hier oben, und wuͤrde
in dieſer Abgezogenheit voͤllig gluͤcklich geweſen
ſeyn, wenn ihn ſein Gedicht uͤber die Schoͤpfung
nicht gequaͤlt haͤtte, welches machte, daß er oft
wieder in eine Art von Verzweiflung gerieth,
L 5[170] wenn er Dinge ausdruͤcken wollte, die er zu
fuͤhlen glaubte, und die ihm doch uͤber allen Aus¬
druck waren.
Was ihm die meiſte Qual machte, war die
Beſchreibung des Chaos, welche beinahe den
ganzen erſten Geſang ſeines Gedichts einnahm,
und worauf er mit ſeiner kranken Einbildungs¬
kraft am liebſten verweilen mochte, aber immer
fuͤr ſeine ungeheuren und groteſken Vorſtellun¬
gen keine Ausdruͤcke finden konnte.
Er dachte ſich eine Art von falſcher taͤuſchender
Bildung in das Chaos hinein, welche im Nu wie¬
der zum Traum und Blendwerk wurde; eine Bil¬
dung die weit ſchoͤner, als die wirkliche, aber
eben deswegen von keinem Beſtand, und keiner
Dauer war.
Eine falſche Sonne ſtieg am Horizont herauf
und kuͤndigte einen glaͤnzenden Tag an. — Der
bodenloſe Moraſt uͤberzog ſich unter ihrem truͤ¬
geriſchen Einfluß mit einer Kruſte auf welcher
Blumen ſproßten, Quellen rauſchten; ploͤtzlich
arbeiteten ſich die entgegenſtrebenden Kraͤfte aus
der Tiefe empor, der Sturm heulte aus dem Ab¬
grunde, die Finſterniß brach mit allen ihren
[171] Schreckniſſen aus ihrem verborgenen Hinterhalt
hervor, und verſchlang den neugebornen Tag wie¬
der in ein furchtbares Grab. Die immer in ſich
ſelbſt zuruͤckgedraͤngten Kraͤfte bearbeiteten ſich
mit Grimm nach allen Seiten ſich auszudehnen,
und ſeufzten unter dem laſtenden Widerſtande.
Die Waſſerwogen kruͤmmten ſich und klagten un¬
ter dem heulenden Windſtoß. In der Tiefe bruͤll¬
ten die eingeſchloſſenen Flammen, das Erdreich
das ſich hob, der Felſen der ſich gruͤndete, ver¬
ſanken mit donnerndem Getoͤſe wieder in den al¬
les verſchlingenden Abgrund. —
Mit dergleichen ungeheuren Bildern, zerar¬
beitete ſich Reiſers Phantaſie in den Stunden,
wo ſein Innres ſelber ein Chaos war, in wel¬
chem der Strahl des ruhigen Denkens nicht
leuchtete, wo die Kraͤfte der Seele ihr Gleichge¬
wicht verlohren, und das Gemuͤth ſich verfin¬
ſtert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm
verſchwand, und Traum und Wahn ihm lieber
war, als Ordnung, Licht und Wahrheit.
Und alle dieſe Erſcheinungen gruͤndeten ſich
gewiſſermaßen wieder in dem Idealismus, wo¬
zu er ſich ſchon natuͤrlich neigte, und worin er
[172] durch die philoſophiſchen Syſteme, die er in H...
ſtudierte ſich noch mehr beſtaͤrkt fand. Und auf
dieſem bodenloſen Ufer fand er nun keinen Platz
wo ſein Fuß ruhen konnte. Angſtvolles Stre¬
ben und Unruhe verfolgten ihn auf jedem Schritte.
Dieß war es, was ihn aus der Geſellſchaft
der Menſchen auf Boͤden und Dachkammern
trieb, wo er oft in phantaſtiſchen Traͤumen noch
ſeine vergnuͤgteſten Stunden zubrachte, und dieß
war es was ihm zugleich fuͤr das Romantiſche,
und Theatraliſche, den unwiderſtehlichen Trieb
einfloͤßte.
Durch ſeinen gegenwaͤrtigen innern und
aͤußern Zuſtand, war er nun wiederum ganz und
gar in der idealiſchen Welt verlohren, was Wun¬
der alſo, daß bey der erſten Veranlaſſung ſeine
alte Leidenſchaft wieder Feuer fing, und er wie¬
derum ſeine Gedanken auf das Theater heftete,
welches bey ihm nicht ſowohl Kunſtbeduͤrfniß,
als Lebensbeduͤrfniß war.
Dieſe Veranlaſſung ereignete ſich ſehr bald,
da die Sp... ſche Schauſpielertruppe nach Er¬
furt kam, und Erlaubniß erhielt, auf dem Ball¬
[173] hauſe zu ſpielen, wo auch die Studenten ihre
Komoͤdien aufgefuͤhrt hatten.
Reiſer war hier ſchon einmal bekannt, und
hatte ſogar einen gewiſſen Ruf wegen ſeiner
Schauſpielertalente erhalten, wodurch er dem
Principal dieſer kleinen Truppe ſogleich bekannt
wurde, der ihn engagiren wollte, ſo bald er Luſt
haͤtte Schauſpieler zu werden.
Dieſe Verſuchung, daß ihm das, wornach
er mit allen Muͤhſeeligkeiten des Lebens kaͤmpfend
vergeblich geſtrebt hatte, nun auf einmal wie
von ſelbſt ſich anbot, war fuͤr Reiſern zu ſtark.
Er ſetzte jede Ruͤckſicht aus den Augen, und lebte
und webte nur in der Theaterwelt, fuͤr die er
nun wieder wie in H. . . bis auf den Komoͤdien¬
zettel enthuſiaſtiſche Verehrung hegte, und die
Mitglieder bis auf den Soufleur und Rollen¬
ſchreiber mit einer Art von Neid betrachtete.
Einer Nahmens B. . . der ſich damals un¬
ter dieſer Truppe befand, und nachher ein be¬
ruͤhmter Schauſpieler geworden iſt, zog am mei¬
ſten ſeine Neugier auf ſich. Er zeichnete ſich un¬
ter den Mitgliedern dieſer Truppe am vorzuͤg¬
lichſten aus, und Reiſer wuͤnſchte nichts ſehnli¬
[174] cher als ſeine Bekanntſchaft zu machen, welches
ihm auch nicht ſchwer wurde; er entdeckte die¬
ſem B... ſeinen Wunſch, der ihn denn auch in
ſeinem Entſchluß, ſich dem Theater zu widmen,
beſtaͤrkte, und an welchem Reiſer nun zugleich ei¬
nen Freund zu finden hofte.
Er ſetzte nun jede Ruͤckſicht bei Seite; ſuchte
den Gedanken an den D. Froriep und an ſeinen
Freund N..., ſo viel wie moͤglich vor ſich ſelber
zu verbergen; und engagierte ſich, ohne jeman¬
den etwas davon zu ſagen, bey dem Prinzipal
der Truppe; er hatte den Muth und die Hofnung
in der erſten Rolle ſich ſo zu zeigen, daß jeder¬
mann ſeinen Entſchluß billigen wuͤrde.
Nun kam es auf die erſte Rolle an, worin er
auftreten ſollte; und zufaͤlliger Weiſe traf es ſich,
daß in einigen Tagen die Poeten nach der Mode
geſpielt werden ſollten, worin man ihm eine
Rolle antrug.
Er wuͤnſchte ſich, den Dunkel zu ſpielen,
und hatte die Rolle ſchon auswendig gelernt, als
ſein neuer Freund, der Schauſpieler B... ihn
davon abrieth, weil er ſelbſt immer dieſe Rolle
geſpielt habe, und ſie ihm vorzuͤglich gut gelun¬
[175] gen ſey, Reiſer moͤchte alſo lieber den Reimreich
uͤbernehmen, weil ein wenig bedeutender Schau¬
ſpieler dieſe Rolle beſitze.
Reiſer ließ ſich auch dieß ſehr gern gefallen‚
weil er durch den Maſkaril und den Magiſter
Blaſius, welche Rollen er doch beide mit Bei¬
fall geſpielt, ſich auch einige Staͤrke im Komi¬
ſchen zutrauete.
Er ſchrieb ſich alſo ſeine Rolle auf, und lernte
ſie auswendig. Er war wirklich in der Ausſicht
auf ſeine theatraliſche Laufbahn vollkommen
gluͤcklich, als eine Bemerkung, die unter dieſen
Hofnungen die fuͤrchterlichſte fuͤr ihn war, ihn
mit Angſt und Schrecken erfuͤllte. Ihm war
es, wie einem, den des Satans Engel mit Faͤu¬
ſten ſchluͤge: er bemerkte, daß ihm der Verluſt
ſeines Haars drohte.
Gerade jetzt alſo, da er einen Koͤrper ohne
Fehl am nothwendigſten brauchte, betraf ihn
dieſer Zufall, der ihn ſchon im Voraus gegen
ſich ſelber mit Abſcheu erfuͤllte.
Er eilte in dieſer Noth zu ſeinem treuen
Freunde, dem Doktor Sauer, der ihm zu der
[176] Erhaltung ſeiner Haare wieder Hofnung mach¬
te; und ſo fand er ſich denn am Abend, wo die
Poeten nach der Mode aufgefuͤhrt werden ſoll¬
ten, in der Garderobe hinter den Kuliſſen ein,
und kleidete ſich komiſch genug, um den Reim¬
reich, in ſeinem laͤcherlichſten Lichte darzuſtellen;
ſein Name ſtand an dieſem Tage ſchon auf dem
Komoͤdienzettel an allen Ecken mit angeſchlagen.
Als das Schauſpiel bald angehen ſollte, kam
ſein Freund N. . . auf das Theater, und machte
ihm die bitterſten Vorwuͤrfe; Reiſer ließ ſich
durch nichts in dem Taumel ſeiner Leidenſchaft
ſtoͤren, und war ganz in ſeiner Rolle vertieft,
woran ſogar ſein Freund N... zuletzt mit Theil
nahm, und uͤber ſeinen komiſchen Anzug lachte,
als auf einmal ein Bote erſchien, welcher dem
Prinzipal ankuͤndigte, daß der Doktor Froriep
ſogleich zum Stadthalter fahren, und Beſchwerde
uͤber ihn fuͤhren wuͤrde, wofern er es wagte,
den Studenten, deſſen Nahme auf dem Komoͤ¬
dienzettel gedruckt ſtaͤnde, das Theater be¬
treten zu laſſen; Verluſt ſeiner Konzeſſion hier
zu ſpielen, wuͤrde die unausbleibliche Folge da¬
von ſeyn.
[177]
Reiſer ſtand wie verſteinert da, und der
Prinzipal wußte in der Angſt nicht, wozu er
greifen ſollte, bis ſich ein Schauſpieler erbot,
die Rolle des Reimreich, ſo gut es gehen wollte,
nach dem Soufleur zu ſpielen; denn man pochte
ſchon im Parterre, daß der Vorhang ſollte auf¬
gezogen werden.
Wuͤthend gieng Reiſer hinter den Kuliſſen
auf und ab, und zernagte ſeine Rolle, die er in
der Hand hielt. Dann eilte er, ſo ſchnell wie
moͤglich, aus dem Schauſpielhauſe, und durch¬
irrte wieder alle Straßen bei dem ſtuͤrmiſchen
und regnigten Wetter, bis er gegen Mitter¬
nacht auf einer bedeckten Bruͤcke, die ihn vor
dem Regen ſchuͤtzte, vor Mattigkeit ſich nieder¬
warf, und eine Weile ausruhte, worauf er wie¬
der umherirrte, bis der Tag anbrach.
Dieſe aͤußerſten Anſtrengungen der Natur,
waren das einzige, was ihm das Verlohrne in
dem erſten bitterſten Schmerz daruͤber einiger¬
maßen erſetzen konnte. Das fortdauernde Lei¬
denſchaftliche dieſes Zuſtandes hatte in ſich et¬
was, das ſeiner unbefriedigten Sehnſucht wie¬
der neue Nahrung gab. Sein ganzes mißlun¬
4ter Theil. M[178] genes theatraliſches Leben draͤngte ſich gleichſam
in dieſe Nacht zuſammen, wo er alle die leiden¬
ſchaftlichen Zuſtaͤnde in ſich durchgieng, die er
außer ſich nicht hatte darſtellen koͤnnen.
Am andern Tage ließ ihn der Doktor Fro¬
riep zu ſich kommen, [und] redete ihm, wie ein
Vater zu. Er bediente ſich des ſchmeichelhaften
Ausdrucks, daß Reiſers Anlagen ihn zu etwas
Beſſerm als zu einem Schauſpieler beſtimmten,
daß er ſich ſelbſt verkennte, und ſeinen eigenen
Werth nicht fuͤhlte. —
Da nun Reiſer doch die Unmoͤglichkeit ein¬
ſah, ſeinen Wunſch in Erfurt zu befriedigen, ſo
taͤuſchte er ſich wiederum, und uͤberredete ſich
ſelber, daß er freiwillig der Idee ſich dem Thea¬
ter zu widmen entſage, weil ſich alles gleichſam
vereinigte, um ſeinen Entſchluß zu hintertreiben,
und die Art, wie der Doktor Froriep ihn davon
abmahnte, zugleich ſo viel Schmeichelhaftes
fuͤr ihn hatte.
Kaum aber war er wieder fuͤr ſich allein, ſo
raͤchte ſich ſeine Selbſttaͤuſchung durch erneuerten
bittern Unmuth, Unentſchloſſenheit, und Kampf
mit ſich ſelber, bis nach einigen Tagen, ihn der
[179] haͤrteſte Schlag traf, den er noch immer zu
vermeiden hofte, er mußte ſein Haar verlieren.
Der Gedanke nunmehro in einer Perucke,
welches unter den Erfurter Studenten ganz et¬
was Ungewoͤhnliches war, erſcheinen zu muͤſſen,
war ihm unertraͤglich. Mit dem wenigen Gelde,
was er noch uͤbrig hatte, gieng er an das aͤußerſte
Ende der Stadt, wo er ſich in einem Gaſthof
einquartierte, in welchem er aber nur ſchlief,
und des Abends ſich etwas Bier und Brodt ge¬
ben ließ, um deſto laͤnger mit ſeinem Gelbe zu
reichen.
Bei Tage gieng er groͤßtentheils in oͤden Ge¬
genden umher, ſuchte, wenn es regnete, in
den Kirchen Schutz, und brachte auf die Weiſe
beinahe vierzehn Tage zu, in welcher Zeit nie¬
mand wußte, wo er geblieben war; bis endlich
denn doch einer ſeiner Freunde ihn ausſpaͤhte,
und er auf einmal von N. . . O. . . W. . . und
noch einigen, die ſich fuͤr ihn intereſſirten, in
dem Gaſthofe unvermuthet uͤberraſcht, und uͤber
ſeine Entfernung ihm freundſchaftliche Vorwuͤrfe
gemacht wurden.
[180]
Er konnte nun ſein Haar vor der Stirn uͤber
die Perucke ſchon etwas uͤberkaͤmmen, und wenn
er ſich dann ſtark puderte, ſo hatte es einiger¬
maßen den Anſchein, als ob er eigenes Haar
truͤge.
Er entſchloß ſich alſo mit den Freunden, die
ihn abholten, wieder in die menſchliche Geſell¬
ſchaft zu gehen, aber er wollte auch ſo viel wie
moͤglich, nur unter ihnen ſeyn, und wuͤnſchte
auch auf alle Weiſe entfernt und einſam zu
wohnen.
Auch dieſen Wunſch ſuchte man ihm zu ge¬
waͤhren. Der gutmuͤthige W... ſprach gleich
mit ſeinem Onkel, dem damaligen Regierungs¬
rath und Profeſſor Springer in Erfurt, und
ſtellte ihm Reiſers Zuſtand, und ſein Beduͤrfniß
einer einſamen Wohnung lebhaft vor.
Der Regierungsrath Springer ließ Reiſern
zu ſich kommen, und wenn dieſer jemals auf¬
munternd angeredet, und mit wahrer Theilneh¬
mung aufgenommen wurde, ſo war es von die¬
ſem Manne, gegen welchen Reiſer die innigſte
Zuneigung und Verehrung faßte.
[181]
Er las damals ein ſtatiſtiſches Kollegium,
welches Reiſer ein paarmal mit anhoͤrte, und da
ihn die Sache ſehr intereſſirte, vom R. Sprin¬
ger aufgefordert wurde, ſich dieſem Fache zu
widmen, wobei er ihn auf alle moͤgliche Weiſe
unterſtuͤtzen wolle.
Den Anfang dieſer Unterſtuͤtzung machte
nun der R. Springer ſogleich damit, daß er
Reiſern, ſeinem Wunſche gemaͤß, eine einſame
Wohnung gab, indem er ihm ſein eigenes Gar¬
tenhaus einraͤumte, wozu Reiſer den Schluͤſſel
bekam, und wo er aus ſeinem Fenſter die ſchoͤnſte
Ausſicht uͤber einen Theil der aneinandergraͤn¬
zenden Gaͤrten hatte, welche ganz Erfurt um¬
gaben.
Reiſer genoß auch wieder ſeinen Freitiſch,
der Doktor Froriep nahm ſich ſeiner auf das thaͤ¬
tigſte an, und ſuchte ihm auf alle Weiſe Unter¬
ſtuͤtzung zu verſchaffen; er fing ſogar an mathe¬
matiſche Kollegia zu hoͤren, ſeine guten Freunde zo¬
gen ihn mit zu allen ihren litterariſchen Zuſammen¬
kuͤnften, und laſen ihm zum Theil ihre Ausar¬
beitungen vor, ſo daß die Sache nunmehro im
beſten Gange war, wenn ein neuer ungluͤcklicher
M 3[182] Anfall von Poeſie nicht alles wieder verdor¬
ben haͤtte.
Zuerſt mochte wohl ſein neuer Aufenthalt in
der einſamen romantiſchen Wohnung nicht we¬
nig dazu beitragen, ſeine Einbildungskraft aufs
neue zu erhitzen. Dann kam ein Brief dazu,
den er an Philipp Reiſern in Hannover ſchrieb,
und welcher ſeinen Ruͤckfall beſchleunigte.
Dieß Schreiben war denn ganz im Tone der
Wertherſchen Briefe abgefaßt. Die patriarcha¬
liſchen Ideen mußten auch auf alle Weiſe wieder
erweckt werden, nur Schade, daß es hier nicht
wohl ohne Affektation geſchehen konnte.
Denn um dieſen Brief ſchreiben zu koͤnnen,
ſchafte ſich Reiſer erſt einen Theetopf an, und
lieh ſich eine Taſſe, und weil er kein Holz im
Hauſe hatte, kaufte er ſich Stroh, welches man
in Erfurt zum Brennen braucht, um ſich ſelber
in ſeinem Stuͤbchen, in dem kleinen Oefchen
ſeinen Thee zu kochen, womit er endlich, nach¬
dem er vor Rauch beinahe erſtickt war, zu
Stande kam.
[183]
Und als dieß nun nur erſt einmal geſchehen
war, ſo ſchrieb er gleichſam triumphirend an
Philipp Reiſern.
Jetzt, mein Lieber! bin ich in einer Lage,
welche ich mir nicht reitzender wuͤnſchen koͤnnte.
Ich blicke aus meinem kleinen Fenſter uͤber die
weite Flur hinaus, ſehe ganz in der Ferne eine
Reihe Baͤumchen auf einem kleinen Huͤgel her¬
vorragen, und denke an Dich, mein Lieber u. ſ.
w. Ich habe die Schluͤſſel dieſer einſamen Woh¬
nung, und bin hier Herr im Hauſ' und Garten,
u. ſ. w. Wenn ich denn manchmal ſo da ſitze,
an dem kleinen Oefchen, und mir ſelbſt meinen
Thee koche, u. ſ. w.
In dem Tone gieng es fort, und ward ein
ſtattlicher und langer Brief; und als nun Rei¬
ſer es nicht uͤber das Herz bringen konnte, die¬
ſen ſchoͤnen Brief nicht auch ſeinem kritiſchen
Freunde, dem Doktor Sauer zu zeigen: ſo
verdarb dieſer vollends die Sache, indem er
ihm nach ſeiner gutmuͤthigen Hoͤflichkeit das
Kompliment machte: wenn ihm Reiſers Gegen¬
wart nicht ſelbſt zu lieb waͤre, ſo wuͤrde er wuͤn¬
M 4[184] ſchen, entfernt zu ſeyn, um nur ſolche Briefe
von Reiſern zu erhalten.
Und nun war auf einmal, der beinahe zur
Ruhe gebrachte Dichtungstrieb bei Reiſern wieder
angefacht. Er ſuchte nun zuerſt ſein Gedicht uͤber
die Schoͤpfung vollends durch das Chaos durch¬
zufuͤhren, und hub mit neuer Quaal an, in der
Darſtellung von graͤßlichen Widerſpruͤchen und
ungeheuren labyrinthiſchen Verwickelungen der
Gedanken ſich zu verlieren, bis endlich folgende
beide Hexameter, die er aus der Bibel nahm,
ihn aus einer Hoͤlle von Begriffen erloͤßten.
Stimme des Ewigen
und es ward Licht.
Merkwuͤrdig war es, daß ihm nun die Luſt ver¬
gieng, dieß Gedicht weiter fortzufuͤhren, ſobald
der Stoff nicht fuͤrchterlich mehr war. Er ſuchte
alſo nun einen Stoff aus, der immer fuͤrchter¬
lich bleiben mußte, und den er in mehreren Ge¬
ſaͤngen bearbeiten wollte; was konnte dieß wohl
anders ſeyn, als der Tod ſelber!
[185]
Dabei war es ihm eine ſchmeichelhafte Idee,
daß er, als ein Juͤngling, ſich einen ſo ernſten
Gegenſtand zu beſingen waͤhlte; daher hub er
denn auch ſein Gedicht an:
der Leiden trank, u. ſ. w.
Als er nun aber zum Werke ſchritt, und den
erſten Geſang ſeines Gedichts, wovon er den
Titel ſchon recht ſchoͤn hingeſchrieben
hatte, wirklich bearbeiten wollte, fand er ſich
in ſeiner Hofnung einen Reichthum von fuͤrch¬
terlichen Bildern vor ſich zu finden, auf das Bit¬
terſte getaͤuſcht.
Die Fluͤgel ſanken ihm, und er fuͤhlte ſeine
Seele wie gelaͤhmt, da er nichts, als eine weite
Leere, eine ſchwarze Oede vor ſich erblickte, wo
ſich nun nicht einmal das vergeblich aufarbeitende
Leben, wie bei der Schilderung des Chaos an¬
bringen ließ, ſondern eine ewige Nacht alle Ge¬
ſtalten verdeckte, und ein ewiger Schlaf alle
Bewegungen feſſelte.
Er ſtrengte mit einer Art von Wuth ſeine
Einbildungskraft an, in dieſe Dunkelheit Bil¬
M 5[186] der hineinzutragen, allein ſie ſchwaͤrzten ſich, wie
auf Herkules Haupte die gruͤnen Blaͤtter ſeines
Pappelkranzes, da er ſich, um den Cerberus
zu fangen, dem Hauſe des Pluto nahte. Alles
was er niederſchreiben wollte, loͤſte ſich in Rauch
und Nebel auf, und das weiße Papier blieb
unbeſchrieben.
Ueber dieſen immer wiederholten vergeblichen
Anſtrengungen eines falſchen Dichtungstriebes,
erlag er endlich, und verfiel ſelbſt in eine Art
von Lethargie und voͤlligem Lebensuͤberdruß.
Er warf ſich eines Abends mit den Kleidern
aufs Bette, und blieb die Nacht und den ganzen
folgenden Tag in einer Art von Schlafſucht lie¬
gen, aus der ihm erſt am Abend des folgenden
Tages, wo es gerade Weihnachten war, ein Bote
von ſeinem Goͤnner dem Regierungsrath Sprin¬
ger weckte, deſſen Frau an Reiſern ein ſehr gro¬
ßes Weihnachtsbrodt zum Geſchenk uͤberſandte.
Dieß war nun gerade, was ihn in ſeiner un¬
widerſtehlichen Schlafſucht noch beſtaͤrkte. Er
ſchloß ſich mit dieſem großen Brodte ein, und lebte
vierzehn Tage davon, weil er nur wenig genoß,
indem er Tag und Nacht, wo nicht in einem im¬
[187] merwaͤhrenden Schlafe, doch, die letzten Tage
ausgenommen, in einem beſtaͤndigem Schlummer,
im Bette zubrachte. Hiezu kam nun freilich der
Umſtand, daß er kein Holz hatte, um einzu¬
heizen: er haͤtte aber auch nur ein Wort ſagen
duͤrfen, um dies Beduͤrfniß zu befriedigen, wenn
es ihm nicht gewiſſermaßen ſelbſt lieb geweſen
waͤre, den Mangel des Holzes als einen Be¬
weggrund zu dieſer ſonderbaren Lebensart vor¬
ſchuͤtzen zu koͤnnen.
Reiſer wurde in dieſem Zuſtande auch von
ſeinen Freunden nicht geſtoͤrt, weil er gegen dieſe
oft den Wunſch geaͤußert hatte, daß er nur ein¬
mal ein paar Wochen lang ganz einſam zu ſeyn
wuͤnſchte.
Nun hatte aber dieſer Zuſtand eine ſonderbare
Wirkung auf Reiſern: die erſten acht Tage brach¬
te er in einer Art von gaͤnzlicher Abſpannung und
Gleichguͤltigkeit zu, wodurch er den Zuſtand,
den er vergeblich zu beſingen geſtrebt hatte, nun
gewiſſermaßen in ſich ſelber darſtellte. Er ſchien
aus dem Lethe getrunken zu haben, und kein
Fuͤnckchen von Lebensluſt mehr bei ihm uͤbrig zu
ſeyn.
[188]
Die letztern acht Tage aber, war er in einem
Zuſtande, den er, wenn er ihn iſoliert betrach¬
tet, unter die gluͤcklichſten ſeines Lebens zaͤhlen
muß.
Durch die lange fortdaurende Abſpannung
hatten ſich allmaͤlig die ſchlafenden Kraͤfte wie¬
der erholt. Sein Schlummer wurde immer ſanf¬
ter; durch ſeine Adern ſchien ſich ein neues Leben
zu verbreiten; ſeine jugendlichen Hofnungen er¬
wachten wieder eine nach der andern; Ruhm und
Beifall kroͤnten ihn wieder; ſchoͤne Traͤume lie¬
ßen ihn in eine goldne Zukunft blicken. Er war
von dieſem langen Schlafe wie berauſcht, und
fuͤhlte ſich in einem angenehmen Taumel, ſo oft
er von dem ſuͤßen Schlummer ein wenig auf¬
daͤmmerte. Sein Wachen ſelber war ein fortge¬
ſetzter Traum; und er haͤtte alles darum gege¬
ben in dieſem Zuſtande ewig bleiben zu duͤrfen.
Wenn er daher die gefrornen Fenſter anſah,
ſo war ihm dieß der angenehmſte Anblick, weil
er dadurch genoͤthigt wurde, immer noch einen
Tag laͤnger im Bette zu bleiben. Sein großes
Brodt auf dem Tiſche betrachtete er wie ein Hei¬
ligthum, daß er ſo ſehr wie moͤglich ſchonen mu߬
[189] te, weil von der Dauer dieſes Brodts mit die
Dauer ſeines gluͤcklichen Zuſtandes abhing.
Nun fuͤhlte er ſich aber auch wieder, ſobald
es gelten ſollte, zu nichts zu ſchwach. Das Thea¬
ter ſtand wieder ſo glaͤnzend wie jemals vor ihm
da; alle die theatraliſchen Leidenſchaften durch¬
ſtuͤrmten wieder eine nach der andern ſeine Seele,
und die Gemuͤther der Zuſchauer wurden durch
ſein Spiel erſchuͤttert.
Als nun ſein Brodt verzehrt war, ſtand er
gegen Abend auf, ordnete ſeinen Anzug ſo gut
wie moͤglich, und ſein erſter Gang war ins
Theater, wo er ſich in einen Winkel ſetzte, und
erſtlich ein Stuͤck Namens Inkle und Yariko,
alsdann aber die Leiden des jungen Werthers auf¬
fuͤhren ſahe. Der Verfaſſer des letztern hatte faſt
nichts gethan, als die wertherſchen Briefe in Dia¬
logen und Monologen verwandelt, die denn frei¬
lich ſehr lang wurden, aber doch das Publikum
ſowohl als die Schauſpieler wegen des ruͤhren¬
den Gegenſtandes, außerordentlich intereſſirten.
Nun ereignete ſich aber gerade bei der tragiſchen
Kataſtrophe des letztern Stuͤcks ein ſehr komi¬
ſcher Zufall. Man hatte ſich nehmlich irgendwo
[190] ein paar alte verroſtete Piſtolen geliehen, und
war zu nachlaͤßig geweſen, ſie vorher zu pro¬
biren.
Der Akteur, welcher den Werther ſpielte nahm
ſie vom Tiſche auf, und ſagte denn alles, wie es
im Werther ſteht, buchſtaͤblich dabei; „Deine
„Haͤnde haben ſie beruͤhrt; du haſt ſelber den
„Staub davon abgeputzet, u. ſ. w.
Dann hatte er ſich auch, um alles genau und
vollſtaͤndig darzuſtellen, einen Schoppen Wein
und Brodt bringen laſſen, wozu denn der Auf¬
waͤrter nicht ermangelte auch ein Brodtmeſſer
auf den Tiſch zu legen.
Am Ende aber war das Stuͤck ſo eingerich¬
tet, daß Werthers Freund Wilhelm, indem
er den Schuß fallen hoͤrte, hereinſtuͤrzen,
und ausrufen mußte: Gott! ich hoͤrte einen
Schuß fallen!
Dieß war alles recht ſchoͤn; als aber Wer¬
ther das ungluͤckliche Piſtol ergrif, es an die
rechte Stirne hielt, und auf ſich losdruͤckte, ſo
verſagte es ihm in ſeiner Hand.
Durch dieſen widrigen Zufall noch nicht aus
der Faſſung gebracht, ſchleuderte der entſchloſ¬
[191] fene Schauſpieler das Piſtol weit von ſich weg,
und rief pathetiſch aus: auch dieſen traurigen
Dienſt willſt du mir verſagen? Dann ergrif er
ploͤtzlich die andere, druͤckte ſie wie die erſte loß,
und o Ungluͤck! auch dieſe verſagte ihm.
Nun erſtarb ihm das Wort im Munde; mit
zitternden Haͤnden ergrif er das Brodmeſſer
das zufaͤlliger Weiſe auf dem Tiſche lag, und
durchſtach ſich damit zum Schrecken aller Zu¬
ſchauer Rock und Weſte. — Indem er nun
fiel, ſtuͤrzte ſein Freund Wilhelm herein, und
rief — „Gott! ich hoͤrte einen Schuß fallen!“
Schwerlich kann wohl eine Tragoͤdie ſich ko¬
miſcher wie dieſe ſchließen. — Dieß brachte
aber Reiſern nicht aus ſeiner hochſchwebenden
Phantaſie, vielmehr beſtaͤrkte es ihn darin, weil
er ſo etwas Unvollkommenes vor ſich ſahe, das
durch etwas Vollkommenes erſetzt werden mußte.
Er hoͤrte, daß in acht Tagen die Schauſpie¬
ler von Erfurt abreiſen, und nach Leipzig gehen
wuͤrden, er hoͤrte ferner daß der geſchickteſte
Schauſpieler unter dieſer Truppe Nahmens B. . .
einen Ruf nach Gotha erhalten haͤtte; er hatte
alſo nun keinen Nebenbuhler mehr zu fuͤrchten;
[192] Leipzig war der Ort um zu glaͤnzen; ſeine Pe¬
rucke konnte er ſehr geſchickt unter den wiederge¬
wachſenen Haaren verbergen. Wie viele neue
Gruͤnde nm der Leidenſchaft, die ſchon vorher
da war, und nur eine Weile geſchlummert hatte,
aufs neue uͤber die Vernunft den Sieg zu
geben.
Er machte ſeinen Freunden ſogleich den
Entſchluß bekannt, daß er geſonnen ſey, mit
der Sp. . .ſchen Truppe nach Leipzig zu gehen,
daß er einen unwiderſtehlichen Trieb in ſich fuͤhle,
der ihn ungluͤcklich machen wuͤrde, wenn er ihn
uͤberwinden wollte, und der ihn in allen ſeinen
Unternehmungen doch immerfort hindern wuͤrde.
Er ſtellte ſeine Gruͤnde ſo leidenſchaftlich und
ſtark vor, daß ſelbſt ſein Freund N. . . ihm nichts
dagegen ſagen konnte, der ihm ſonſt ſchon die rei¬
zendſten Schilderungen gemacht hatte, wie ſie
im kuͤnftigen Fruͤhling wieder auf dem Steiger¬
walde den Klopſtock leſen wuͤrden u. ſ w.
Reiſer hielt ſich nun ſchon bei den Schau¬
ſpielern auf, und brachte dem Regierungsrath
Springer den Schluͤſſel zu dem Gartenhauſe
wieder, indem er ihm auf das Lebhafteſte
[193] ſeinen ungluͤcklichen Zuſtand ſchilderte, wenn er
den Trieb zum Theater unterdruͤcken wollte.
Der R. Springer behandelte Reiſern auch
hier noch auf die toleranteſte Art. Er rieth ihm
ſelber, wenn der Trieb bei ihm ſo unwiderſteh¬
lich ſey, demſelben zu folgen, weil dieſer Trieb,
der immer wiedergekehrt war, vielleicht einen
wahren Beruf zur Kunſt in ſich enthielte, dem
er ſich alsdann nicht entziehen ſolle. Waͤre aber
das Gegentheil, und ſollte Reiſer ſich ſelber taͤu¬
ſchen, und in ſeiner Unternehmung nicht gluͤck¬
lich ſeyn, ſo moͤchte er ſich unter jeden Umſtaͤn¬
den und in jeder Lage, dreiſt wieder an ihn wen¬
den, und ſeiner Huͤlfe verſichert ſeyn.
Reiſer nahm mit ſo geruͤhrtem Herzen Ab¬
ſchied, daß er kein Wort vorbringen konnte, ſo
ſehr hatte die Großmuth und Nachſicht dieſes
Mannes ſein Gemuͤth bewegt. Er machte ſich
ſelber beim Weggehen die bitterſten Vorwuͤrfe,
daß er ſich einer ſolchen Liebe und Freundſchaft
jetzt nicht wuͤrdiger zeigen konnte.
Als nun Reiſer um Abſchied zu nehmen, zum
Doktor Froriep kam, welcher ſeinen Entſchluß
durch N. . . ſchon wußte, ſo wurde er von die¬
4ter Theil N[194] ſem eben ſo nachſichtsvoll, wie von ſeinem an¬
dern Goͤnner behandelt; und der Doktor Froriep
erklaͤrte ſich, daß er ſeinen Entſchluß ihm nicht
nur nicht widerrathen, ſondern ihn vielmehr
darin beſtaͤrken wuͤrde, wenn die Schaubuͤhne
ſchon in dem Maße eine Schule der Sitten waͤ¬
re, als ſie es eigentlich ſeyn koͤnnte, und ſeyn
ſollte.
Eine kleine Ironie fuͤgte er denn doch am En¬
de nicht ohne Grund hinzu, indem er zu ſeiner
kleinen Tochter, die er auf dem Arme trug, ſag¬
te; wenn du groß biſt, ſo wirſt du denn auch
einmal von dem beruͤhmten Schauſpieler Reiſer
hoͤren, deſſen Nahme in ganz Deutſchland be¬
ruͤhmt iſt! Aber auch dieſe ſehr wohlgemeinte
Ironie blieb bei Reiſern fruchtlos, der ſich dem¬
ohngeachtet mit inniger Ruͤhrung und bittern
Vorwuͤrfen gegen ſich ſelber an alles das erin¬
nerte, was der Doktor Froriep fuͤr ihn ſchon ge¬
than hatte, und wovon er nun ſelbſt den End¬
zweck vereitelte.
Allein es ſchien ihm nunmehro Pflicht der
Selbſterhaltung, allen dieſen innern Vorwuͤr¬
fen kein Gehoͤr zu geben, weil er ſich feſt uͤber¬
[195] zeugt glaubte, daß er der ungluͤcklichſte Menſch
ſeyn wuͤrde, wenn er ſeiner Neigung nicht folgte.
Die Sp. . . ſche Truppe aber war die letzten
Wochen, wegen Mangel an Einnahme in die
aͤußerſte Armuth gerathen. Der Direktor Sp. . .
reißte mit der Garderobe allein nach Leipzig vor¬
aus, und von den uͤbrigen Schauſpielern mußte
ein jeder ſelbſt zuſehen, daß er ſo gut wie moͤg¬
lich den Ort ſeiner Beſtimmung erreichte, einige
reiſten zu Pferde, andere zu Wagen, und noch an¬
dere zu Fuß, nachdem es die Umſtaͤnde eines jedeu
erlaubten, denn die gemeinſchaftliche Kaſſe war
laͤngſt erſchoͤpft: in Leipzig aber hofte man nun,
bald ſich wieder zu erholen.
Reiſer machte ſich denn auch denſelben Nach¬
mittag, wo er Abſchied genommen hatte, zu
Fuß auf den Weg, und ſein Freund N. . . be¬
gleitete ihn zu Pferde bis nach dem naͤchſten
Dorfe auf dem Wege nach Leipzig, wo N. . .
am kuͤnftigen Sonntage predigen wollte.
Nachdem ſie im Gaſthofe eingekehrt waren,
und ſich noch einmal aller der ſeligen Scenen er¬
innert hatten, die ſie genoſſen haben wollten,
wenn ſie am Abhange des Steigers Klopſtocks
N 2[196] Meſſiade zuſammen laſen, ſo machte ſich Reiſer
wieder auf den Weg, und N... begleitete ihn
noch eine ganze Strecke hin, bis es dunkel wurde.
Da umarmten ſie ſich, und nahmen auf die
ruͤhrendſte Weiſe von einander Abſchied, indem
ſie ſich bei dieſem Abſchiede zum erſtenmal Bru¬
der nannten. Reiſer riß ſich loß, und eilte
ſchnell fort, indem er ſeinem Freunde zurief: nun
reit zuruͤck!
Als er aber ſchon in einiger Entfernung war,
ſah er ſich wieder um, und rief noch einmal:
gute Nacht! Sobald er dieß Wort geſagt
hatte, war es ihm fatal, und er aͤrgerte ſich
daruͤber, ſo oft es ihm wieder einfiel. Denn
die ganze empfindſame Scene hatte ſelbſt in der
Erinnerung dadurch einen Stoß erlitten, weil
es komiſch klingt, einem, den man auf lange
Zeit oder vielleicht auf immer ſchon lebe wohl ge¬
ſagt hat, nun noch einmal ordentlich eine gute
Nacht zu wuͤnſchen, gleichſam als wenn man
am andern Morgen wieder einen Beſuch bei ihm
ablegen wuͤrde. —
Es war eine ſchneidende Kaͤlte. Reiſer aber
wanderte nun, ohne irgend eine Buͤrde zu tra¬
[197] gen, mit reitzenden Ausſichten auf Ruhm und
Beifall ſeine Straße fort.
Oft, wenn er auf eine Anhoͤhe kam, ſtand
er ein wenig ſtill, und uͤberſah die beſchneiten
Fluren, indem ihm auf einen Augenblick ein
ſonderbarer Gedanke durch die Seele ſchoß, als
ob er ſich wie einen Fremden hier wandeln, und
ſein Schickſal wie in einer dunkeln Ferne ſaͤhe —
Dieſe Taͤuſchung verſchwand aber eben ſo bald,
wie ſie entſtand; und er dachte dann wieder im
Gehen vor ſich, wie Leipzig ausſehen, in was
fuͤr Rollen er auftreten wuͤrde u. ſ. w.
Auf die Weiſe legte er den Weg von Erfurt
nach Leipzig ſehr vergnuͤgt zuruͤck; im Gehen
aber ſprach er haͤufig den Namen N. . . aus,
den er wirklich liebte, und weinte heftig dabei
bis ihm das komiſche gute Nacht einfiel, wel¬
ches er gar nicht in den Zuſammenhang dieſer
ruͤhrenden Erinnerung mit zu bringen wußte.
In Erfurt hatte man ihm ſchon geſagt, daß
er in Leipzig in dem Gaſthofe zum goldenen
Herzen einkehren muͤſſe, wo die Schauſpieler
immer logierten, und gleichſam dort ihre Nie¬
derlage haͤtten.
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Als er in die Stube trat, fand er denn auch
ſchon eine ziemliche Anzahl von den Mitgliedern
der Sp. . ſchen Truppe vor, die er als ſeine
kuͤnftigen Kollegen begruͤßen wollte, indem er
an allen eine außerordentliche Niedergeſchlagen¬
heit bemerkte, welche ſich ihm bald erklaͤrte, als
man ihm die troͤſtliche Nachricht gab, daß der
wuͤrdige Principal dieſer Truppe gleich bei ſei¬
ner Ankunft in Leipzig, die Theatergarderobe
verkauft habe, und mit dem Gelde davon ge¬
gangen ſey. — Die Sp. . . ſche Truppe war
alſo nun eine zerſtreuete Heerde.
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- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Anton Reiser. Anton Reiser. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnpd.0