von
Paul Meyerheim.
: Verlag von Gebrüder Paetel.
1877.
Alle Rechte vorbehalten.
Seinem Landsmann
Wilhelm Jenſen
ſendet dieſes Buch
als Gruß aus der Heimath
der Verfaſſer.
In unſerem zu dem früher herzoglichen Schloſſe
gehörigen, ſeit Menſchengedenken aber ganz
vernachläſſigten „Schloßgarten“ waren ſchon in
meiner Knabenzeit die einſt im altfranzöſiſchen
Stile angelegten Hagebuchenhecken zu dünnen, ge¬
ſpenſtiſchen Alleen ausgewachſen; da ſie indeſſen
immerhin noch einige Blätter tragen, ſo wiſſen
wir Hieſigen, durch Laub der Bäume nicht ver¬
wöhnt, ſie gleichwol auch in dieſer Form zu
ſchätzen; und zumal von uns nachdenklichen Leu¬
ten wird immer der Eine oder Andere dort zu
treffen ſein. Wir pflegen dann unter dem dürf¬
tigen Schatten nach dem ſogenannten „Berg“
zu wandeln, einer kleinen Anhöhe in der nord¬
weſtlichen Ecke des Gartens oberhalb dem aus¬
getrockneten Bette eines Fiſchteiches, von wo aus
der weiteſten Ausſicht nichts im Wege ſteht.
Aquis submersus.[2]
Die Meiſten mögen wol nach Weſten blicken,
um ſich an dem lichten Grün der Marſchen und
darüberhin an der Silberfluth des Meeres zu
ergötzen, auf welcher das Schattenſpiel der lang¬
geſtreckten Inſel ſchwimmt; meine Augen wenden
unwillkürlich ſich nach Norden, wo, kaum eine
Meile fern, der graue, ſpitze Kirchthurm aus
dem höher belegenen, aber öden Küſtenlande auf¬
ſteigt; denn dort liegt eine von den Stätten
meiner Jugend.
Der Paſtorsſohn aus jenem Dorfe beſuchte
mit mir die „Gelehrtenſchule“ meiner Vaterſtadt,
und unzählige Male ſind wir am Sonnabend¬
nachmittage zuſammen dahinausgewandert, um
dann am Sonntagabend oder Montags früh zu
unſerem Nepos, oder ſpäter zu unſerem Cicero
nach der Stadt zurückzukehren. Es war damals
aus der Mitte des Weges noch ein gut Stück
ungebrochener Haide übrig, wie ſie ſich einſt nach
der einen Seite bis faſt zur Stadt, nach der
anderen ebenſo gegen das Dorf erſtreckt hatte.
Hier ſummten auf den Blüthen des duftenden
[3] Haidekrauts die Immen und weißgrauen Hum¬
meln und rannte unter den dürren Stengeln
deſſelben der ſchöne, goldgrüne Laufkäfer; hier
in den Duftwolken der Eriken und des harzigen
Gagelſtrauches ſchwebten Schmetterlinge, die nir¬
gends ſonſt zu finden waren. Mein ungeduldig
dem Elternhauſe zuſtrebender Freund hatte oft
ſeine liebe Noth, ſeinen träumeriſchen Genoſſen
durch all' die Herrlichkeiten mit ſich fort zu bringen;
hatten wir jedoch das angebaute Feld erreicht,
dann ging es auch um deſto munterer vorwärts,
und bald, wenn wir nur erſt den langen Sand¬
weg hinaufwateten, erblickten wir auch ſchon über
dem dunklen Grün einer Fliederhecke den Giebel
des Paſtorhauſes, aus dem das Studirzimmer
des Paſtors mit ſeinen kleinen, blinden Fenſter¬
ſcheiben auf die bekannten Gäſte hinabgrüßte.
Bei den Paſtorsleuten, deren einziges Kind
mein Freund war, hatten wir allezeit, wie wir
hier zu ſagen pflegen, fünf Quartier auf der
Elle, ganz abgeſehen von der wunderbaren Natu¬
ralverpflegung. Nur die Silberpappel, der einzig
1 *[4] hohe und alſo auch einzig verlockende Baum des
Dorfes, welche ihre Zweige ein gut Stück ober¬
halb des bemooſten Strohdaches rauſchen ließ,
war gleich dem Apfelbaum des Paradieſes uns
verboten und wurde daher nur heimlich von uns
erklettert; ſonſt war, ſo viel ich mich entſinne,
Alles erlaubt und wurde je nach unſerer Alters¬
ſtufe beſtens von uns ausgenutzt.
Der Hauptſchauplatz unſerer Thaten war die
große „Prieſterkoppel“, zu der ein Pförtchen aus
dem Garten führte. Hier wußten wir mit dem
den Buben angebornen Inſtincte die Neſter der
Lerchen und der Grauammern aufzuſpüren, denen
wir dann die wiederholteſten Beſuche abſtatteten,
um nachzuſehen, wie weit in den letzten zwei
Stunden die Eier oder die Jungen nun gediehen
ſeien; hier auf einer tiefen und, wie ich jetzt
meine, nicht weniger als jene Pappel gefährlichen
Waſſergrube, deren Rand mit alten Weiden¬
ſtümpfen dicht umſtanden war, fingen wir die
flinken ſchwarzen Käfer, die wir „Waſſerfranzoſen“
nannten, oder ließen wir ein ander Mal unſere
[5] auf einer eigens angelegten Werft erbaute Kriegs¬
flotte aus Wallnußſchaalen und Schachteldeckeln
ſchwimmen. Im Spätſommer geſchah es dann
auch wol, daß wir aus unſerer Koppel einen
Raubzug nach des Küſters Garten machten, wel¬
cher gegenüber dem des Paſtorates an der an¬
deren Seite der Waſſergrube lag; denn wir hatten
dort von zwei verkrüppelten Apfelbäumen unſeren
Zehnten einzuheimſen, wofür uns freilich gelegent¬
lich eine freundſchaftliche Drohung von dem gut¬
müthigen alten Manne zu Theil wurde. — So
viele Jugendfreuden wuchſen auf dieſer Prieſter¬
koppel, in deren dürrem Sandboden andere Blu¬
men nicht gedeihen wollten; nur den ſcharfen
Duft der goldknopfigen Rainfarren, die hier
haufenweis auf allen Wällen ſtanden, ſpüre ich
noch heute in der Erinnerung, wenn jene Zeiten
mir lebendig werden.
Doch alles Dieſes beſchäftigte uns nur vor¬
übergehend; meine dauernde Theilnahme dagegen
erregte ein Anderes, dem wir ſelbſt in der Stadt
nichts an die Seite zu ſetzen hatten. — Ich meine
[6] damit nicht etwa die Röhrenbauten der Lehm¬
wespen, die überall aus den Mauerfugen des
Stalles hervorragten, obſchon es anmuthig genug
war, in beſchaulicher Mittagsſtunde das Aus-
und Einfliegen der emſigen Thierchen zu beob¬
achten; ich meine den viel größeren Bau der
alten und ungewöhnlich ſtattlichen Dorfkirche.
Bis an das Schindeldach des hohen Thurmes
war ſie von Grund auf aus Granitquadern auf¬
gebaut und beherrſchte, aus dem höchſten Punkt
des Dorfes ſich erhebend, die weite Schau über
Haide, Strand und Marſchen. — Die meiſte
Anziehungskraft für mich hatte indeß das Innere
der Kirche; ſchon der ungeheure Schlüſſel, der
von dem Apoſtel Petrus ſelbſt zu ſtammen ſchien,
erregte meine Phantaſie. Und in der That er¬
ſchloß er auch, wenn wir ihn glücklich dem alten
Küſter abgewonnen hatten, die Pforte zu manchen
wunderbaren Dingen, aus denen eine längſt ver¬
gangene Zeit hier wie mit finſteren, dort mit
kindlich frommen Augen, aber immer in geheim¬
nißvollem Schweigen zu uns Lebenden aufblickte.
[7] Da hing mitten in die Kirche hinab ein ſchrecklich
übermenſchlicher Crucifixus, deſſen hagere Glieder
und verzerrtes Antlitz mit Blute überrieſelt waren;
dem zur Seite an einem Mauerpfeiler haftete
gleich einem Neſt die braungeſchnitzte Kanzel, an
der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Thier-
und Teufelsfratzen ſich hervorzudrängen ſchienen.
Beſondere Anziehung aber übte der große, ge¬
ſchnitzte Altarſchrank im Chor der Kirche, auf
dem in bemalten Figuren die Leidensgeſchichte
Chriſti dargeſtellt war; ſo ſeltſam wilde Geſichter,
wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte,
welche in ihren goldenen Harniſchen um des
Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam man
draußen im Alltagsleben nicht zu ſehen; tröſtlich
damit contraſtirte nur das holde Antlitz der am
Kreuze hingeſunkenen Maria; ja, ſie hätte leicht
mein Knabenherz mit einer phantaſtiſchen Neigung
beſtricken können, wenn nicht ein Anderes mit
noch ſtärkerem Reize des Geheimnißvollen mich
immer wieder von ihr abgezogen hätte.
Unter all' dieſen ſeltſamen oder wol gar
[8] unheimlichen Dingen hing im Schiff der Kirche
das unſchuldige Bildniß eines todten Kindes,
eines ſchönen, etwa fünfjährigen Knaben, der,
aus einem mit Spitzen beſetzten Kiſſen ruhend,
eine weiße Waſſerlilie in ſeiner kleinen, bleichen
Hand hielt. Aus dem zarten Antlitz ſprach neben
dem Grauen des Todes, wie hülfeflehend, noch
eine letzte holde Spur des Lebens; ein unwider¬
ſtehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor dieſem
Bilde ſtand.
Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben
ſchaute aus dunklem Holzrahmen ein finſterer
ſchwarzbärtiger Mann in Prieſterkragen und
Sammar. Mein Freund ſagte mir, es ſei der
Vater jenes ſchönen Knaben; dieſer ſelbſt, ſo
gehe noch heute die Sage, ſolle einſt in der
Waſſergrube unſerer Prieſterkoppel ſeinen Tod
gefunden haben. Auf dem Rahmen laſen wir
die Jahrzahl 1666; das war lange her. Immer
wieder zog es mich zu dieſen beiden Bildern;
ein phantaſtiſches Verlangen ergriff mich, von
dem Leben und Sterben des Kindes eine nähere
[9] wenn auch noch ſo karge Kunde zu erhalten; ſelbſt
aus dem düſtern Antlitz des Vaters, das trotz
des Prieſterkragens mich faſt an die Kriegsknechte
des Altarſchranks gemahnen wollte, ſuchte ich ſie
herauszuleſen.
— — Nach ſolchen Studien dem Dämmer¬
licht der alten Kirche erſchien dann das Haus
der guten Paſtorsleute nur um ſo gaſtlicher.
Freilich war es gleichfalls hoch zu Jahren, und
der Vater meines Freundes hoffte, ſo lange ich
denken konnte, auf einen Neubau; da aber die
Küſterei an derſelben Altersſchwäche litt, wurde
weder hier noch dort gebaut. — Und doch, wie
freundlich waren trotzdem die Räume des alten
Hauſes; im Winter die kleine Stube rechts, im
Sommer die größere links vom Hausflur, wo
die aus den Reformationsalmanachen herausge¬
ſchnittenen Bilder in Mahagonirähmchen an der
weißgetünchten Wand hingen, wo man aus dem
weſtlichen Fenſter nur eine ferne Windmühle,
außerdem aber den ganzen weiten Himmel vor
ſich hatte, der ſich Abends in roſenrothem Schein
[10] verklärte und das ganze Zimmer überglänzte!
Die lieben Paſtorsleute, die Lehnſtühle mit den
rothen Plüſchkiſſen, das alte tiefe Sopha, auf
dem Tiſch beim Abendbrod der traulich ſauſende
Theekeſſel, — es war Alles helle, freundliche
Gegenwart. Nur eines Abends — wir waren
derzeit ſchon Secundaner — kam mir der Ge¬
danke, welch' eine Vergangenheit an dieſen Räu¬
men hafte, ob nicht gar jener todte Knabe einſt mit
friſchen Wangen hier leibhaftig umhergeſprungen
ſei, deſſen Bildniß jetzt wie mit einer wehmüthig
holden Sage den düſteren Kirchenraum erfüllte.
Veranlaſſung zu ſolcher Nachdenklichkeit mochte
geben, daß ich am Nachmittage, wo mir auf
meinen Antrieb wieder einmal die Kirche beſucht
hatten, unten in einer dunkelen Ecke des Bildes
vier mit rother Farbe geſchriebene Buchſtaben
entdeckt hatte, die mir bis jetzt entgangen waren.
„Sie lauten C. P. A. S.“, ſagte ich zu dem
Vater meines Freundes; „aber wir können ſie
nicht enträthſeln.“
„Nun,“ erwiederte dieſer; „die Inſchrift iſt
[11] mir wohl bekannt; und nimmt man das Gerücht
zu Hülfe, ſo möchten die beiden letzten Buchſtaben
wol mit ‚Aquis Submersus‘, alſo mit ‚Ertrunken‘
oder wörtlich ‚Im Waſſer verſunken‘ zu deuten
ſein; nur mit dem vorangehenden C. P. wäre
man dann noch immer in Verlegenheit! Der
junge Adjunctus unſeres Küſters, der einmal die
Quarta paſſirt iſt, meint zwar, es könne ‚Casu
Periculoso‘, ‚Durch gefährlichen Zufall‘ heißen;
aber die alten Herren jener Zeit dachten logiſcher;
wenn der Knabe dabei ertrank, ſo war der Zu¬
fall nicht nur blos gefährlich.“
Ich hatte begierig zugehört. „Casu“ ſagte
ich; „es könnte auch wol ‚Culpa‘ heißen?“
„Culpa?“ wiederholte der Paſtor. „Durch
Schuld? — aber durch weſſen Schuld!“
Da trat das finſtere Bild des alten Predigers
mir vor die Seele, und ohne viel Beſinnen rief
ich: „Warum nicht: ‚Culpa Patris?‘“
Der gute Paſtor war faſt erſchrocken. „Ei, ei,
mein junger Freund,“ ſagte er und erhob war¬
nend den Finger gegen mich. „Durch Schuld
[12] des Vaters? — So wollen wir trotz ſeines düſteren
Anſehens meinen ſeligen Amtsbruder doch nicht
beſchuldigen. Auch würde er dergleichen wol
ſchwerlich von ſich haben ſchreiben laſſen.“
Dies Letztere wollte auch meinem jugendlichen
Verſtande einleuchten; und ſo blieb denn der
eigentliche Sinn der Inſchrift nach wie vor ein
Geheimniß der Vergangenheit.
Daß übrigens jene beiden Bilder ſich auch
in der Malerei weſentlich vor einigen alten
Predigerbildniſſen auszeichneten, welche gleich
daneben hingen, war mir ſelbſt ſchon klar ge¬
worden; daß aber Sachverſtändige in dem Maler
einen tüchtigen Schüler altholländiſcher Meiſter
erkennen wollten, erfuhr ich freilich jetzt erſt durch
den Vater meines Freundes. Wie jedoch ein
ſolcher in dieſes arme Dorf verſchlagen worden,
oder woher er gekommen und wie er geheißen
habe, darüber wußte auch er mir nichts zu ſagen.
Die Bilder ſelbſt enthielten weder einen Namen,
noch ein Malerzeichen.
[13]
Die Jahre gingen hin. Während wir die
Univerſität beſuchten, ſtarb der gute Paſtor, und
die Mutter meines Schulgenoſſen folgte ſpäter
ihrem Sohne auf deſſen inzwiſchen anderswo er¬
reichte Pfarrſtelle; ich hatte keine Veranlaſſung
mehr, nach jenem Dorfe zu wandern. — Da, als
ich ſelbſt ſchon in meiner Vaterſtadt wohnhaft
war, geſchah es, daß ich für den Sohn eines
Verwandten ein Schülerquartier bei guten Bür¬
gersleuten zu beſorgen hatte. Der eigenen Jugend¬
zeit gedenkend, ſchlenderte ich im Nachmittags¬
ſonnenſcheine durch die Straßen, als mir an der
Ecke des Marktes über der Thür eines alten,
hochgegiebelten Hauſes eine plattdeutſche Inſchrift
in die Augen fiel, die verhochdeutſcht etwa lauten
würde:
Die Worte mochten für jugendliche Augen
wol nicht ſichtbar ſein; denn ich hatte ſie nie
bemerkt, ſo oft ich auch in meiner Schulzeit mir
einen Heißewecken bei dem dort wohnenden Bäcker
[14] geholt hatte. Faſt unwillkürlich trat ich in das
Haus; und in der That, es fand ſich hier ein
Unterkommen für den jungen Vetter. Die Stube
ihrer alten „Mödderſch“ (Mutterſchweſter) — ſo
ſagte mir der freundliche Meiſter —, von der ſie
Haus und Betrieb geerbt hätten, habe ſeit Jahren
leer geſtanden; ſchon lange hätten ſie ſich einen
jungen Gaſt dafür gewünſcht.
Ich wurde eine Treppe hinaufgeführt, und
wir betraten dann ein ziemlich niedriges, alter¬
thümlich ausgeſtattetes Zimmer, deſſen beide
Fenſter mit ihren kleinen Scheiben auf den ge¬
räumigen Marktplatz hinausgingen. Früher, er¬
zählte der Meiſter, ſeien zwei uralte Linden vor
der Thür geweſen; aber er habe ſie ſchlagen
laſſen, da ſie allzuſehr in's Haus gedunkelt und
auch hier die ſchöne Ausſicht ganz verdeckt hätten.
Ueber die Bedingungen wurden wir bald in
allen Theilen einig; während wir dann aber noch
über die jetzt zu treffende Einrichtung des Zim¬
mers ſprachen, war mein Blick auf ein im
Schatten eines Schrankes hängendes Oelgemälde
[15] gefallen, das plötzlich meine ganze Aufmerkſam¬
keit hinwegnahm. Es war noch wohl erhalten
und ſtellte einen älteren, ernſt und milde blicken¬
den Mann dar, in einer dunklen Tracht, wie in
der Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts ſie die¬
jenigen aus den vornehmeren Ständen zu tragen
pflegten, welche ſich mehr mit Staatsſachen oder
gelehrten Dingen, als mit dem Kriegshandwerke
beſchäftigten.
Der Kopf des alten Herrn, ſo ſchön und an¬
ziehend und ſo trefflich gemalt er immer ſein
mochte, hatte indeſſen nicht dieſe Erregung in
mir hervorgebracht; aber der Maler hatte ihm
einen blaſſen Knaben in den Arm gelegt, der in
ſeiner kleinen ſchlaff herabhängenden Hand eine
weiße Waſſerlilie hielt; — und dieſen Knaben
kannte ich ja längſt. Auch hier war es wol der
Tod, der ihm die Augen zugedrückt hatte.
„Woher iſt dieſes Bild?“ fragte ich endlich,
da ich plötzlich inne wurde, daß der vor mir
ſtehende Meiſter mit ſeiner Auseinanderſetzung
innegehalten hatte.
[16]
Er ſah mich verwundert an. „Das alte
Bild? Das iſt von unſerer Mödderſch,“ erwie¬
derte er: „es ſtammt von ihrem Urgroßonkel,
der ein Maler geweſen und vor mehr als hun¬
dert Jahren hier gewohnt hat. Es ſind noch
andre Siebenſachen von ihm da.“
Bei dieſen Worten zeigte er nach einer kleinen
Lade von Eichenholz, aus welcher allerlei geo¬
metriſche Figuren recht zierlich eingeſchnitten waren.
Als ich ſie von dem Schranke, auf dem ſie
ſtand, herunternahm, fiel der Deckel zurück, und
es zeigten ſich mir als Inhalt einige ſtark ver¬
gilbte Papierblätter mit ſehr alten Schriftzügen.
„Darf ich die Blätter leſen?“ fragte ich.
„Wenn's Ihnen Plaiſir macht,“ erwiederte
der Meiſter, „ſo mögen Sie die ganze Sache mit
nach Hauſe nehmen; es ſind ſo alte Schriften;
Werth ſteckt nicht darin.“
Ich aber erbat mir und erhielt auch die Er¬
laubniß, dieſe werthloſen Schriften hier an Ort
und Stelle leſen zu dürfen; und während ich
mich dem alten Bilde gegenüber in einen mäch¬
[17] tigen Ohrenlehnſtuhl ſetzte, verließ der Meiſter
das Zimmer, zwar immer noch erſtaunt, doch
gleichwol die freundliche Verheißung zurücklaſſend,
daß ſeine Frau mich bald mit einer guten Taſſe
Kaffee regaliren werde.
Ich aber las, und hatte im Leſen bald Alles
um mich her vergeſſen.
So war ich denn wieder daheim in unſerm
Holſtenlande; am Sonntage Cantate war es
anno 1661! — Mein Malgeräth und ſonſtiges
Gepäcke hatte ich in der Stadt zurückgelaſſen und
wanderte nun fröhlich fürbaß, die Straße durch
den maiengrünen Buchenwald, der von der See
in's Land hinaufſteigt. Vor mir her flogen ab
und zu ein paar Waldvöglein und letzeten ihren
Durſt an dem Waſſer, ſo in den tiefen Rad¬
geleiſen ſtund; denn ein linder Regen war gefallen
über Nacht und noch gar früh am Vormittage,
Storm, Aquis submersus. 2[18] ſo daß die Sonne den Waldesſchatten noch nicht
überſtiegen hatte.
Der helle Droſſelſchlag, der von den Lich¬
tungen zu mir ſcholl, fand ſeinen Widerhall in
meinem Herzen. Durch die Beſtellungen, ſo mein
theurer Meiſter van der Helſt im letzten Jahre
meines Amſterdamer Aufenthalts mir zugewendet,
war ich aller Sorge quitt geworden; einen guten
Zehrpfennig und einen Wechſel auf Hamburg
trug ich noch itzt in meiner Taſchen; dazu war
ich ſtattlich angethan: mein Haar fiel auf ein
Mäntelchen mit feinem Grauwerk, und der Lütticher
Degen fehlte nicht an meiner Hüfte.
Meine Gedanken aber eileten mir voraus;
immer ſah ich Herrn Gerhardus, meinen edlen
großgünſtigen Protector, wie er von der Schwelle
ſeines Zimmers mir die Hände würd' entgegen¬
ſtrecken, mit ſeinem milden Gruße: „So ſegne
Gott Deinen Eingang, mein Johannes!“
Er hatte einſt mit meinem lieben, ach, gar
zu früh in die ewige Herrlichkeit genommenen
Vater zu Jena die Rechte ſtudiret und war auch
[19] nachmals den Künſten und Wiſſenſchaften mit
Fleiße obgelegen, ſo daß er dem Hochſeligen
Herzog Friedrich bei ſeinem edlen, wiewol wegen
der Kriegsläufte vergeblichen Beſtreben um Er¬
richtung einer Landesuniverſität ein einſichtiger
und eifriger Berather geweſen. Obſchon ein
adeliger Mann, war er meinem lieben Vater
doch ſtets in Treuen zugethan blieben, hatte auch
nach deſſen ſeligem Hintritt ſich meiner ver¬
waiſeten Jugend mehr, als zu verhoffen, ange¬
nommen und nicht allein meine ſparſamen Mittel
aufgebeſſert, ſondern auch durch ſeine fürnehme
Bekanntſchaft unter dem Holländiſchen Adel es
dahin gebracht, daß mein theurer Meiſter van
der Helſt mich zu ſeinem Schüler angenommen.
Meinte ich doch zu wiſſen, daß der verehrte
Mann unverſehrt auf ſeinem Herrenhofe ſitze;
wofür dem Allmächtigen nicht genug zu danken;
denn, derweilen ich in der Fremde mich der
Kunſt befliſſen, war daheim die Kriegsgreuel
über das Land gekommen; ſo zwar, daß die
Truppen, die gegen den kriegswüthigen Schweden
2 *[20] dem Könige zum Beiſtand hergezogen, faſt ärger
als die Feinde ſelbſt gehauſet, ja ſelbſt der
Diener Gottes mehrere in jämmerlichen Tod
gebracht. Durch den plötzlichen Hintritt des
Schwediſchen Carolus war nun zwar Friede;
aber die grauſamen Stapfen des Krieges lagen
überall; manch' Bauern- oder Käthnerhaus, wo
man mich als Knaben mit einem Trunke ſüßer
Milch bewirthet, hatte ich auf meiner Morgen¬
wandrung niedergeſenget am Wege liegen ſehen
und manches Feld in ödem Unkraut, darauf
ſonſt um dieſe Zeit der Roggen ſeine grünen
Spitzen trieb.
Aber ſolches beſchwerete mich heut nicht all¬
zuſehr; ich hatte nur Verlangen, wie ich dem
edlen Herrn durch meine Kunſt beweiſen möchte,
daß er Gab' und Gunſt an keinen Unwürdigen
verſchwendet habe; dachte auch nicht an Strolche
und verlaufen Geſindel, das vom Kriege her
noch in den Wäldern Umtrieb halten ſollte.
Wol aber tückete mich ein Anderes, und das
war der Gedanke an den Junker Wulf. Er
[21] war mir nimmer hold geweſen, hatte wol gar,
was ſein edler Vater an mir gethan, als einen
Diebſtahl an ihm ſelber angeſehen; und manches
Mal, wenn ich, wie öfters nach meines lieben
Vaters Tode, im Sommer die Vacanz auf dem
Gute zubrachte, hatte er mir die ſchönen Tage
vergället und verſalzen. Ob er anitzt in ſeines
Vaters Hauſe ſei, war mir nicht kund geworden,
hatte nur vernommen, daß er noch vor dem
Friedensſchluſſe bei Spiel und Becher mit den
Schwediſchen Offiziers Verkehr gehalten, was
mit rechter Holſtentreue nicht zu reimen iſt.
Indem ich dieß bei mir erwog, war ich aus
dem Buchenwalde in den Richtſteig durch das
Tannenhölzchen geſchritten, das ſchon dem Hofe
nahe liegt. Wie liebliche Erinnerung umhauchte
mich der Würzeduft des Harzes; aber bald trat
ich aus dem Schatten in den vollen Sonnenſchein
hinaus; da lagen zu beiden Seiten die mit
Haſelbüſchen eingehegten Wieſen, und nicht lange,
ſo wanderte ich zwiſchen den zwo Reihen gewal¬
tiger Eichbäume, die zum Herrenſitz hinaufführen.
[22]
Ich weiß nicht, was für ein bang' Gefühl
mich plötzlich überkam, ohn' alle Urſach', wie ich
derzeit dachte; denn es war eitel Sonnenſchein
umher, und vom Himmel herab klang ein gar
herzlich und ermunternd Lerchenſingen. Und ſiehe,
dort auf der Koppel, wo der Hofmann ſeinen
Immenhof hat, ſtand ja auch noch der alte Holz¬
birnenbaum und flüſterte mit ſeinen jungen
Blättern in der blauen Luft.
„Grüß dich Gott!“ ſagte ich leis, gedachte
dabei aber weniger des Baumes, als vielmehr
des holden Gottesgeſchöpfes, in dem, wie es ſich
nachmals fügen mußte, all' Glück und Leid, und
auch all' nagende Buße meines Lebens beſchloſſen
ſein ſollte, für jetzt und alle Zeit. Das war des
edlen Herrn Gerhardus Töchterlein, des Junkers
Wulfen einzig Geſchwiſter.
Item, es war bald nach meinem lieben Vaters
Tode, als ich zum erſten Mal die ganze Vacanz
hier verbrachte; ſie war derzeit ein neunjährig
Dirnlein, die ihre braunen Zöpfe luſtig fliegen
ließ; ich zählte um ein paar Jahre weiter. So
[23] trat ich eines Morgens aus dem Thorhaus; der
alte Hofmann Dietrich, der ober der Einfahrt
wohnt, und neben dem als einem getreuen Mann
mir mein Schlafkämmerlein eingeräumt war,
hatte mir einen Eſchenbogen zugerichtet, mir auch
die Bolzen von tüchtigem Blei dazu gegoſſen,
und ich wollte nun auf die Raubvögel, deren
genug bei dem Herrenhaus umherſchrieen; da
kam ſie vom Hofe auf mich zugeſprungen.
„Weißt Du, Johannes,“ ſagte ſie; „ich zeig'
Dir ein Vogelneſt; dort in dem hohlen Birn¬
baum; aber das ſind Rothſchwänzchen, die darfſt
Du ja nicht ſchießen!“
Damit war ſie ſchon wieder vorausgeſprungen;
doch eh' ſie noch dem Baum auf zwanzig Schritte
nah' gekommen, ſah ich ſie jählings ſtille ſtehn.
„Der Buhz, der Buhz!“ ſchrie ſie und ſchüttelte
wie entſetzt ihre beiden Händlein in der Luft.
Es war aber ein großer Waldkauz, der ober
dem Loche des hohlen Baumes ſaß und hinab¬
ſchauete, ob er ein ausfliegend Vögelein erhaſchen
möge. „Der Buhz, der Buhz!“ ſchrie die Kleine
[24] wieder. „Schieß, Johannes, ſchieß!“ — Der
Kauz aber, den die Freßgier taub gemacht, ſaß
noch immer und ſtierete in die Hohlung. Da
ſpannte ich meinen Eſchenbogen und ſchoß, daß
das Raubthier zappelnd auf dem Boden lag;
aus dem Baume aber ſchwang ſich ein zwit¬
ſchernd Vöglein in die Luft.
Seit der Zeit waren Katharina und ich zwei
gute Geſellen miteinander; in Wald und Garten,
wo das Mägdlein war, da war auch ich. Darob
aber mußte mir gar bald ein Feind erſtehen;
das war Kurt von der Riſch, deſſen Vater eine
Stunde davon auf ſeinem reichen Hofe ſaß. In
Begleitung ſeines gelahrten Hofmeiſters, mit
dem Herr Gerhardus gern der Unterhaltung pflag,
kam er oftmals auf Beſuch; und da er jünger
war, als Junker Wulf, ſo war er wol auf mich
und Katharinen angewieſen; inſonders aber ſchien
das braune Herrentöchterlein ihm zu gefallen.
Doch war das ſchier umſonſt; ſie lachte nur über
ſeine krumme Vogelnaſe, die ihm, wie bei faſt
Allen des Geſchlechtes, unter buſchigem Haupt¬
[25] haar zwiſchen zwo merklich runden Augen ſaß.
Ja, wenn ſie ſeiner nur von fern gewahrte, ſo
reckte ſie wol ihr Köpfchen vor und rief: „Jo¬
hannes der Buhz! der Buhz!“ Dann verſteckten
wir uns hinter den Scheunen oder rannten wol
auch ſpornſtreichs in den Wald hinein, der ſich
in einem Bogen um die Felder und danach wieder
dicht an die Mauern des Gartens hinanzieht.
Darob, als der von der Riſch deß inne
wurde, kam es oftmals zwiſchen uns zum Haar¬
raufen, wobei jedoch, da er mehr hitzig denn ſtark
war, der Vortheil meiſt in meinen Händen blieb.
Als ich, um von Herrn Gerhardus Urlaub zu
nehmen, vor meiner Ausfahrt in die Fremde
zum letzten Mal, jedoch nur kurze Tage, hier
verweilte, war Katharina ſchon faſt wie eine
Jungfrau; ihr braunes Haar lag itzt in einem
goldnen Netz gefangen; in ihren Augen, wenn
ſie die Wimpern hob, war oft ein ſpielend
Leuchten, das mich ſchier beklommen machte.
Auch war ein alt' gebrechlich Fräulein ihr zur
Obhut beigegeben, ſo man im Hauſe nur „Baſ'
[26] Urſel“ nannte; ſie ließ das Kind nicht aus den
Augen und ging überall mit einer langen Trico¬
tage neben ihr.
Als ich ſo eines Octobernachmittags im Schat¬
ten der Gartenhecken mit Beiden auf und ab
wandelte, kam ein lang aufgeſchoſſener Geſell,
mit ſpitzenbeſetztem Lederwamms und Federhut
ganz à la mode gekleidet, den Gang zu uns
herauf; und ſiehe da, es war der Junker Kurt,
mein alter Widerſacher. Ich merkte allſogleich,
daß er noch immer bei ſeiner ſchönen Nachbarin
zu Hofe ging; auch, daß inſonders dem alten
Fräulein ſolches zu gefallen ſchien. Das war
ein „Herr Baron“ auf alle Frag' und Antwort;
dabei lachte ſie höchſt obligeant mit einer widrig
feinen Stimme und hob die Naſe unmäßig in
die Luft; mich aber, wenn ich ja ein Wort da¬
zwiſchen gab, nannte ſie ſtetig „Er“ oder kurzweg
auch „Johannes“, worauf der Junker dann ſeine
runden Augen einkniff und im Gegentheile that,
als ſähe er auf mich herab, obſchon ich ihn um
halben Kopfes Länge überragte.
[27]
Ich blickte auf Katharinen; die aber kümmerte
ſich nicht um mich, ſondern ging ſittig neben dem
Junker, ihm manierlich Red' und Antwort ge¬
bend; den kleinen rothen Mund aber verzog mit¬
unter ein ſpöttiſch ſtolzes Lächeln, ſo daß ich
dachte: „Getröſte Dich, Johannes; der Herren¬
ſohn ſchnellt itzo deine Wage in die Luft!“
Trotzig blieb ich zurück und ließ die andern Dreie
vor mir gehen. Als aber dieſe in das Haus
getreten waren und ich davor noch an Herrn
Gerhardus' Blumenbeeten ſtand, darüber brütend,
wie ich, gleich wie vormals, mit dem von der
Riſch ein tüchtig Haarraufen beginnen möchte,
kam plötzlich Katharina wieder zurückgelaufen,
riß neben mir eine Aſter von den Beeten und
flüſterte mir zu: „Johannes, weißt Du was?
Der Buhz ſieht einem jungen Adler gleich; Baſ'
Urſel hat's geſagt:“ Und fort war ſie wieder,
eh' ich mich's verſah. Mir aber war auf ein¬
mal all' Trotz und Zorn wie weggeblaſen. Was
kümmerte mich itzund der Herr Baron! Ich lachte
hell und fröhlich in den güldnen Tag hinaus;
[28] denn bei den übermüthigen Worten war wieder
jenes ſüße Augenſpiel geweſen. Aber dieß Mal
hatte es mir gerad' in's Herz geleuchtet.
Bald danach ließ mich Herr Gerhardus auf ſein
Zimmer rufen; er zeigte mir auf einer Karte
noch einmal, wie ich die weite Reiſe nach Amſter¬
dam zu machen habe, übergab mir Briefe an
ſeine Freunde dort und ſprach dann lange mit
mir, als meines lieben ſeligen Vaters Freund.
Denn noch ſelbigen Abends hatte ich zur Stadt
zu gehen, von wo ein Bürger mich auf ſeinem
Wagen mit nach Hamburg nehmen wollte.
Als nun der Tag hinabging, nahm ich Ab¬
ſchied. Unten im Zimmer ſaß Katharina an
einem Stickrahmen; ich mußte der Griechiſchen
Helena gedenken, wie ich ſie jüngſt in einem
Kupferwerk geſehen; ſo ſchön erſchien mir der
junge Nacken, den das Mädchen eben über ihre
Arbeit neigte Aber ſie war nicht allein; ihr
gegenüber ſaß Baſ' Urſel und las laut aus
einem franzöſiſchen Geſchichtenbuche. Da ich
näher trat, hob ſie die Naſe nach mir zu: „Nun,
[29] Johannes,“ ſagte ſie, „Er will mir wol Ade
ſagen! So kann Er auch dem Fräulein gleich
ſeine Reverenze machen!“ Da war ſchon
Katharina von ihrer Arbeit aufgeſtanden; aber,
indem ſie mir die Hand reichte, traten die Junker
Wulf und Kurt mit großem Geräuſch in's Zim¬
mer; und ſie ſagte nur: „Lebwohl, Johannes!“
Und ſo ging ich fort.
Im Thorhaus drückte ich dem alten Dieterich
die Hand, der Stab und Ranzen ſchon für mich
bereit hielt; dann wanderte ich zwiſchen den
Eichbäumen auf die Waldſtraße zu. Aber mir
war dabei, als könne ich nicht recht fort, als
hätt' ich einen Abſchied noch zu Gute, und ſtand
oft ſtill und ſchaute hinter mich. Ich war auch
nicht den Richtweg durch die Tannen, ſondern,
wie von ſelber, den viel weiteren auf der großen
Fahrſtraße hingewandert. Aber ſchon kam vor
mir das Abendroth überm Wald herauf, und ich
mußte eilen, wenn mich die Nacht nicht überfallen
ſollte. „Ade, Katharina, ade!“ ſagte ich leiſe
und ſetzte rüſtig meinen Wanderſtab in Gang.
[30]
Da, an der Stelle, wo der Fußſteig in die
Straße mündet — in ſtürmender Freude ſtund
das Herz mir ſtill — plötzlich aus dem Tannen¬
dunkel war ſie ſelber da; mit glühenden Wangen
kam ſie hergelaufen, ſie ſprang über den trocknen
Weggraben, daß die Fluth des ſeidenbraunen
Haars dem güldnen Netz entſtürzete; und ſo
fing ich ſie in meinen Armen auf. Mit glän¬
zenden Augen, noch mit dem Odem ringend,
ſchaute ſie mich an. „Ich — ich bin ihnen fort¬
gelaufen!“ ſtammelte ſie endlich; und dann, ein
Päckchen in meine Hand drückend, fügte ſie leis
hinzu: „Von mir, Johannes! Und du ſollſt es
nicht verachten!“ Auf einmal aber wurde ihr
Geſichtchen trübe; der kleine ſchwellende Mund
wollte noch was reden, aber da brach ein Thränen¬
quell aus ihren Augen, und wehmüthig ihr
Köpfchen ſchüttelnd, riß ſie ſich haſtig los. Ich
ſah ihr Kleid im finſtern Tannenſteig verſchwin¬
den; dann in der Ferne hört' ich noch die Zweige
rauſchen, und dann ſtand ich allein. Es war ſo
ſtill, die Blätter konnte man fallen hören. Als
[31] ich das Päckchen aus einander faltete, da war's
ihr güldner Pathenpfennig, ſo ſie mir oft ge¬
zeiget hatte; ein Zettlein lag dabei, das las ich
nun beim Schein des Abendrothes. „Damit Du
nicht in Noth geratheſt,“ ſtund darauf geſchrie¬
ben. — Da ſtreckt' ich meine Arme in die leere
Luft: „Ade, Katharina, ade, ade!“ wol hundert
Mal rief ich es in den ſtillen Wald hinein; —
und erſt mit ſinkender Nacht erreichte ich die Stadt.
— — Seitdem waren faſt fünf Jahre dahin¬
gegangen. — Wie würd' ich heute Alles wieder¬
finden?
Und ſchon ſtund ich am Thorhaus, und ſah
drunten im Hof die alten Linden, hinter deren
lichtgrünem Laub die beiden Zackengiebel des
Herrenhauſes itzt verborgen lagen. Als ich aber
durch den Thorweg gehen wollte, jagten vom
Hofe her zwei fahlgraue Bullenbeißer mit Stachel¬
halsbändern gar wild gegen mich heran; ſie er¬
huben ein erſchreckliches Geheul und der eine
ſprang auf mich und fletſchete ſeine weißen Zähne
dicht vor meinem Antlitz. Solch' einen Will¬
[32] kommen hatte ich noch niemalen hier empfangen.
Da, zu meinem Glück, rief aus den Kammern
ober dem Thore eine rauhe, aber mir gar traute
Stimme: „Halloh!“ rief ſie; „Tartar, Türk!“
Die Hunde ließen von mir ab, ich hörte es die
Stiege herabkommen, und aus der Thür, ſo unter
dem Thorgang war, trat der alte Dieterich.
Als ich ihn anſchaute, ſahe ich wol, daß ich
lang in der Fremde geweſen ſei; denn ſein Haar
war ſchloweiß geworden und ſeine ſonſt ſo luſtigen
Augen blickten gar matt und betrübſam auf mich
hin. „Herr Johannes!“ ſagte er endlich und
reichte mir ſeine beiden Hände.
„Grüß ihn Gott, Dieterich!“ entgegnete ich.
„Aber ſeit wann haltet Ihr ſolche Bluthunde
auf dem Hof, die die Gäſte anfallen gleich den Wölfen?“
„Ja, Herr Johannes,“ ſagte der Alte, „die
hat der Junker hergebracht.“
„Iſt denn der daheim?“
Der Alte nickte.
„Nun,“ ſagte ich; „die Hunde mögen ſchon
[33] vonnöthen ſein; vom Krieg her iſt noch viel ver¬
laufen Volk zurückgeblieben.“
„Ach, Herr Johannes!“ Und der alte Mann
ſtund immer noch, als wolle er mich nicht zum
Hof hinauflaſſen. „Ihr ſeid in ſchlimmer Zeit
gekommen!“
Ich ſah ihn an, ſagte aber nur: „Freilich,
Dieterich; aus mancher Fenſterhöhlung ſchaut
ſtatt des Bauern itzt der Wolf heraus; hab'
dergleichen auch geſehen; aber es iſt ja Frieden
worden, und der gute Herr im Schloß wird
helfen, ſeine Hand iſt offen.“
Mit dieſen Worten wollte ich, obſchon die
Hunde mich wieder anknurreten, auf den Hof
hinausgehen; aber der Greis trat mir in den
Weg. „Herr Johannes,“ rief er, „ehe Ihr
weiter gehet, höret mich an! Euer Brieflein iſt
zwar richtig mit der Königlichen Poſt von Ham¬
burg kommen; aber den rechten Leſer hat es
nicht mehr finden können.“
„Dieterich!“ ſchrie ich. „Dieterich!“
„— Ja, ja, Herr Johannes! hier iſt die
Storm, Aquis submersus. 3[34] gute Zeit vorbei; denn unſer theurer Herr Ger¬
hardus liegt aufgebahret dort in der Kapellen,
und die Gueridons brennen an ſeinem Sarge.
Es wird nun anders werden auf dem Hofe;
aber — ich bin ein höriger Mann, mir ziemet
Schweigen.“
Ich wollte fragen: „Iſt das Fräulein, iſt
Katharina noch im Hauſe?“ Aber das Wort
wollte nicht über meine Zunge.
Drüben, in einem hinteren Seitenbau des
Herrenhauſes war eine kleine Kapelle, die aber,
wie ich wußte, ſeit lange nicht benutzt war.
Dort alſo ſollte ich Herrn Gerhard ſuchen.
Ich fragte den alten Hofmann: „Iſt die Ka¬
pelle offen?“ und als er es bejahete, bat ich ihn,
die Hunde anzuhalten; dann ging ich über den
Hof, wo Niemand mir begegnete; nur einer Gras¬
mücke Singen kam oben aus den Lindenwipfeln.
Die Thür zur Kapellen war nur angelehnt,
und leis und gar beklommen trat ich ein. Da
ſtund der offene Sarg, und die rothe Flamme
der Kerzen warf ihr flackernd Licht auf das edle
[35] Antlitz des geliebten Herrn; die Fremdheit des
Todes, ſo darauf lag, ſagte mir, daß er itzt
eines andern Land's Genoſſe ſei. Indem ich
aber neben dem Leichnam zum Gebete hinknieen
wollte, erhub ſich über den Rand des Sarges
mir genüber ein junges blaſſes Antlitz, das
aus ſchwarzen Schleiern faſt erſchrocken auf mich
ſchaute.
Aber nur, wie ein Hauch verweht, ſo blickten
die braunen Augen herzlich zu mir auf, und es
war faſt wie ein Freudenruf: „O, Johannes,
ſeid Ihr's denn! Ach, Ihr ſeid zu ſpät gekom¬
men!“ Und über dem Sarge hatten unſere
Hände ſich zum Gruß gefaßt; denn es war Ka¬
tharina, und ſie war ſo ſchön geworden, daß
hier im Angeſicht des Todes ein heißer Puls
des Lebens mich durchfuhr. Zwar, das ſpielende
Licht der Augen lag itzt zurückgeſchrecket in der
Tiefe; aber aus dem ſchwarzen Häubchen dräng¬
ten ſich die braunen Löcklein, und der ſchwellende
Mund war um ſo röther in dem blaſſen Antlitz.
Und faſt verwirret auf den Todten ſchauend
3 *[36] ſprach ich: „Wol kam ich in der Hoffnung, an
ſeinem lebenden Bilde ihm mit meiner Kunſt zu
danken, ihm manche Stunde genüber zu ſitzen
und ſein mild und lehrreich Wort zu hören.
Laßt mich denn nun die bald vergehenden Züge
feſtzuhalten ſuchen.“
Und als ſie unter Thränen, die über ihre
Wangen ſtrömten, ſtumm zu mir hinüber nickte,
ſetzte ich mich in ein Geſtühlte und begann auf
einem von den Blättchen, die ich bei mir führte,
des Todten Antlitz nachzubilden. Aber meine
Hand zitterte; ich weiß nicht, ob alleine vor der
Majeſtät des Todes.
Während dem vernahm ich draußen vom
Hofe her eine Stimme, die ich für die des Junker
Wulf erkannte; gleich danach ſchrie ein Hund
wie nach einem Fußtritt oder Peitſchenhiebe;
und dann ein Lachen und einen Fluch von einer
andern Stimme, die mir gleicherweiſe bekannt
deuchte.
Als ich auf Katharinen blickte, ſah ich ſie
mit ſchier entſetzten Augen nach dem Fenſter
[37] ſtarren; aber die Stimmen und die Schritte gingen
vorüber. Da erhub ſie ſich, kam an meine Seite
und ſahe zu, wie des Vaters Antlitz unter mei¬
nem Stift entſtund. Nicht lange, ſo kam draußen
ein einzelner Schritt zurück; in demſelben Augen¬
blick legte Katharina die Hand auf meine Schulter
und ich fühlte, wie ihr junger Körper bebte.
Sogleich auch wurde die Kapellenthür auf¬
geriſſen; und ich erkannte den Junker Wulf, ob¬
ſchon ſein ſonſten bleiches Angeſicht itzt roth und
aufgedunſen ſchien.
„Was huckſt Du allfort an dem Sarge!“
rief er zu der Schweſter. „Der Junker von der
Riſch iſt da geweſen, uns ſeine Condolenze zu
bezeigen; Du hätteſt ihm wol den Trunk kre¬
denzen mögen!“
Zugleich hatte er meiner wahrgenommen und
bohrete mich mit ſeinen kleinen Augen an. —
„Wulf,“ ſagte Katharina, indem ſie mit mir zu
ihm trat; „es iſt Johannes, Wulf.“
Der Junker fand nicht vonnöthen, mir die Hand
zu reichen; er muſterte nur mein violenfarben
[38] Wamms und meinte: „Du trägſt da einen bun¬
ten Federbalg; man wird Dich ‚Sieur‘ nun titu¬
liren müſſen!“
„Nennt mich, wie's Euch gefällt!“ ſagte ich,
indem wir auf den Hof hinaustraten. „Obſchon
nur dorten, von wo ich komme, das ‚Herr‘ vor
meinem Namen nicht gefehlet, — Ihr wißt wol,
Eueres Vaters Sohn hat großes Recht an mir.“
Er ſah mich was verwundert an, ſagte dann
aber nur: „Nun wol, ſo magſt Du zeigen, was
Du für meines Vaters Gold erlernet haſt; und
ſoll dazu der Lohn für Deine Arbeit Dir nicht
verhalten ſein.“
Ich meinete, was den Lohn anginge, den
hätte ich längſt voraus bekommen; da aber der
Junker entgegnete, er werd' es halten, wie ſich's
für einen Edelmann gezieme, ſo fragte ich, was
für Arbeit er mir aufzutragen hätte.
„Du weißt doch,“ ſagte er, und hielt dann
inne, indem er ſcharf aus ſeine Schweſter blickte —
„wenn eine adelige Tochter das Haus verläßt,
ſo muß ihr Bild darin zurückbleiben.“
Ich fühlte, daß bei dieſen Worten Katharina,
die an meiner Seite ging, gleich einer Taumeln¬
den nach meinem Mantel haſchte; aber ich ent¬
gegnete ruhig: „Der Brauch iſt mir bekannt;
doch, wie meinet Ihr denn, Junker Wulf?“
„Ich meine,“ ſagte er hart, als ob er einen
Gegenſpruch erwarte; „daß Du das Bildniß der
Tochter dieſes Hauſes malen ſollſt!“
Mich durchfuhr's faſt wie ein Schrecken; weiß
nicht, ob mehr über den Ton oder die Deutung
dieſer Worte; dachte auch, zu ſolchem Beginnen
ſei itzt kaum die rechte Zeit.
Da Katharina ſchwieg, aus ihren Augen
aber ein flehentlicher Blick mir zuflog, ſo ant¬
wortete ich: „Wenn Eure edle Schweſter es mir
vergönnen will, ſo hoffe ich Eueres Vaters Pro¬
tection und meines Meiſters Lehre keine Schande
anzuthun. Räumet mir nur wieder mein Käm¬
merlein ober dem Thorweg bei dem alten Die¬
terich, ſo ſoll geſchehen, was Ihr wünſchet.“
Der Junker war das zufrieden, und ſagte auch
[40] ſeiner Schweſter, ſie möge einen Imbiß für mich
richten laſſen.
Ich wollte über den Beginn meiner Arbeit
noch eine Frage thun; aber ich verſtummte
wieder, denn über den empfangenen Auftrag
war plötzlich eine Entzückung in mir aufgeſtiegen,
daß ich fürchtete, ſie könne mit jedem Wort her¬
vorbrechen. So war ich auch der zwo grimmen
Köter nicht gewahr worden, die dort am Brun¬
nen ſich auf den heißen Steinen ſonnten. Da
wir aber näher kamen, ſprangen ſie auf und
fuhren mit offenem Rachen gegen mich, daß Ka¬
tharina einen Schrei that, der Junker aber einen
ſchrillen Pfiff, worauf ſie heulend ihm zu Füßen
krochen. „Beim Höllenelemente,“ rief er lachend,
„zwo tolle Kerle; gilt ihnen gleich, ein Sau¬
ſchwanz oder Flandriſch Tuch!“
„Nun, Junker Wulf,“ — ich konnte der Rede
mich nicht wohl enthalten — „ſoll ich noch ein¬
mal Gaſt in Eueres Vaters Hauſe ſein, ſo möget
Ihr Euere Thiere beſſere Sitte lehren!“
Er blitzte mich mit ſeinen kleinen Augen an
[41] und riß ſich ein paar Mal in ſeinen Zwickelbart.
„Das iſt nur ſo ihr Willkommsgruß, Sieur Jo¬
hannes;“ ſagte er dann, indem er ſich bückte,
um die Beſtien zu ſtreicheln. „Damit Jedweder
wiſſe, daß ein ander Regiment allhier begonnen;
denn — wer mir in die Quere kommt, den hetz'
ich in des Teufels Rachen!“
Bei den letzten Worten, die er heftig aus¬
geſtoßen, hatte er ſich hoch aufgerichtet; dann
pfiff er ſeinen Hunden und ſchritt über den Hof
dem Thore zu.
Ein Weilchen ſchaute ich hinterdrein; dann
folgte ich Katharinen, die unter dem Linden¬
ſchatten ſtumm und geſenkten Hauptes die Frei¬
treppe zu dem Herrenhaus emporſtieg; eben ſo
ſchweigend gingen wir mitſammen die breiten
Stufen in das Oberhaus hinauf, allwo wir in
des ſeligen Herrn Gerhardus Zimmer traten. —
Hier war noch Alles, wie ich, es vordem geſehen;
die goldgeblümten Ledertapeten, die Karten an
der Wand, die ſaubern Pergamentbände auf den
Regalen, über dem Arbeitstiſche der ſchöne Wald¬
[42] grund von dem älteren Ruysdael — und dann
davor der leere Seſſel. Meine Blicke blieben
daran haften; gleich wie drunten in der Kapellen
der Leib des Entſchlafenen, ſo ſchien auch dieß
Gemach mir itzt entſeelet, und, obſchon vom Walde
draußen der junge Lenz durch's Fenſter leuchtete,
doch gleichſam von der Stille des Todes wie
erfüllet.
Ich hatte auch Katharinen in dieſem Augen¬
blicke faſt vergeſſen. Da ich mich umwandte,
ſtand ſie ſchier reglos mitten in dem Zimmer,
und ich ſah, wie unter den kleinen Händen, die
ſie darauf gepreßt hielt, ihre Bruſt in ungeſtümer
Arbeit ging. „Nicht wahr,“ ſagte ſie leiſe, „hier
iſt itzt Niemand mehr; Niemand, als mein Bruder
und ſeine grimmen Hunde?“
„Katharina!“ rief ich; „was iſt Euch? Was
iſt das hier in Eueres Vaters Haus?“
„Was es iſt, Johannes?“ und faſt wild er¬
griff ſie meine beiden Hände; und ihre jungen
Augen ſprühten wie in Zorn und Schmerz.
„Nein, nein; laß erſt den Vater in ſeiner
[43] Gruft zur Ruhe kommen! Aber dann — Du ſollſt
mein Bild ja malen, Du wirſt eine Zeit lang
hier verweilen — dann, Johannes, hilf mir;
um des Todten willen, hilf mir!“
Auf ſolche Worte, von Mitleid und von Liebe
ganz bezwungen, fiel ich vor der Schönen, Süßen
nieder und ſchwur ihr mich und alle meine
Kräfte zu. Da löſete ſich ein ſanfter Thränen¬
quell aus ihren Augen, und wir ſaßen neben
einander und ſprachen lange zu des Entſchlafenen
Gedächtniß.
Als wir ſodann wieder in das Unterhaus
hinabgingen, fragte ich auch dem alten Fräulein
nach.
„O,“ ſagte Katharina, „Baſ' Urſel! Wollt
Ihr ſie begrüßen? Ja, die iſt auch noch da;
ſie hat hier unten ihr Gemach; denn die Treppen
ſind ihr ſchon längſthin zu beſchwerlich.“
Wir traten alſo in ein Stübchen, das gegen
den Garten lag, wo auf den Beeten vor den
grünen Heckenwänden ſo eben die Tulpen aus
der Erde brachen. Baſ' Urſel ſaß, in der ſchwarzen
[44] Tracht und Krebbhaube nur wie ein ſchwindend
Häuschen anzuſchauen, in einem hohen Seſſel
und hatte ein Nonnenſpielchen vor ſich, das, wie
ſie nachmals mir erzählte, der Herr Baron —
nach ſeines Vaters Ableben war er ſolches itzund
wirklich — ihr aus Lübeck zur Verehrung mit¬
gebracht.
„So,“ ſagte ſie, da Katharina mich genannt
hatte, indeß ſie behutſam die helfenbeinern Pflöck¬
lein umeinander ſteckte, „iſt Er wieder da, Jo¬
hannes? — Nein, es geht nicht aus! Oh, c'est
un jeu très compliqué!“
Dann warf ſie die Pflöcklein übereinander
und ſchauete mich an. „Ei,“ meinte ſie; „Er iſt
gar ſtattlich angethan; aber weiß Er denn nicht,
daß Er in ein Trauerhaus getreten iſt?“
„Ich weiß es, Fräulein; entgegnete ich; „aber
da ich in das Thor trat, wußte ich es nicht.“
„Nun,“ ſagte ſie und nickte gar begütigend;
„ſo eigentlich gehöret Er ja auch nicht zur Diener¬
ſchaft.“
Ueber Katharinens blaſſes Antlitz flog ein
[45] Lächeln, wodurch ich mich jeder Antwort wol
enthoben halten mochte. Vielmehr rühmte ich
der alten Dame die Anmuth ihres Wohngemaches;
denn auch der Epheu von dem Thürmchen, das
draußen an der Mauer aufſtieg, hatte ſich nach
dem Fenſter hingeſponnen und wiegete ſeine
grünen Ranken vor den Scheiben.
Aber Baſ' Urſel meinete, ja, wenn nur nicht
die Nachtigallen wären, die ißt ſchon wieder an¬
hüben mit ihrer Nachtunruhe; ſie könne ohnedem
den Schlaf nicht finden; und dann auch ſei es
ſchier zu abgelegen; das Geſinde ſei von hier
aus nicht im Aug' zu halten; im Garten draußen
aber paſſire eben nichts, als etwan, wann der
Gärtnerburſche an den Hecken oder Buxrabatten
putze.
— Und damit hatte der Beſuch ſeine End¬
ſchaft; denn Katharina mahnte, es ſei nachgerade
an der Zeit, meinen wegemüden Leib zu ſtärken.
[46]
Ich war nun in meinem Kämmerchen ober
dem Hofthor einlogiret, dem alten Dieterich zur
ſondern Freude; denn am Feyerabend ſaßen wir
auf ſeiner Tragkiſt', und ließ ich mir, gleichwie
in der Knabenzeit, von ihm erzählen. Er rauchte
dann wol eine Pfeife Tabak, welche Sitte durch
das Kriegsvolk auch hier in Gang gekommen
war, und holete allerlei Geſchichten aus den
Drangſalen, ſo ſie durch die fremden Truppen
auf dem Hof und unten in dem Dorf erleiden
müſſen; einmal aber, da ich ſeine Rede auf das
gute Frölen Katharina gebracht und er erſt nicht
hatt' ein Ende finden können, brach er gleichwol
plötzlich ab und ſchauete mich an.
„Wiſſet Ihr, Herr Johannes,“ ſagte er, „'s
iſt grauſam Schad', daß Ihr nicht auch ein
Wappen habet gleich dem von der Riſch da
drüben!“
Und da ſolche Rede mir das Blut in's Ge¬
ſicht jagete, klopfte er mit ſeiner harten Hand
mir auf die Schulter, meinend: „Nun, nun,
Herr Johannes; 's war ein dummes Wort von
[47] mir; wir müſſen freilich bleiben, wo uns der
Herrgott hingeſetzet.“
Weiß nicht, ob ich derzeit mit Solchem ein¬
verſtanden geweſen, fragete aber nur, was der
von der Riſch denn itzund für ein Mann ge¬
worden.
Der Alte ſah mich gar pfiffig an und paffte
aus ſeinem kurzen Pfeiflein, als ob das theure
Kraut am Feldrain wüchſe, „Wollet Ihr's wiſſen,
Herr Johannes?“ begann er dann. „Er gehöret
zu denen muntern Junkern, die im Kieler Umſchlag
den Bürgersleuten die Knöpfe von den Häuſern
ſchießen; Ihr möget glauben, er hat treffliche
Piſtolen! Auf der Geigen weiß er nicht ſo gut
zu ſpielen; da er aber ein luſtig Stücklein liebt,
ſo hat er letzthin den Rathsmuſikanten, der
über'm Holſtenthore wohnt, um Mitternacht mit
ſeinem Degen aufgeklopfet, ihm auch nicht Zeit
gelaſſen, ſich Wamms und Hoſen anzuthun.
Statt der Sonnen ſtand aber der Mond am
Himmel, es war octavis trium regum, und fror
Pickelſteine; und hat alſo der Muſikante, den
[48] Junker mit dem Degen hinter ſich, im blanken
Hemde vor ihm durch die Gaſſen geigen müſſen!
— — Wollet Ihr mehr noch wiſſen, Herr Jo¬
hannes?“
„— Zu Haus bei ihm freuen ſich die Bauern,
wenn der Herrgott ſie nicht mit Töchtern geſegnet;
und dennoch — — aber nach ſeines Vaters Tode
hat er Geld, und unſer Junker, Ihr wiſſet's
wol, hat ſchon vorher von ſeinem Erbe auf¬
gezehrt.“
Ich wußte freilich nun genug; auch hatte
der alte Dietrich ſchon mit ſeinem Spruche:
‚Aber ich bin nur ein höriger Mann', ſeiner
Rede Schluß gemacht.
— — Mit meinem Malgeräth war auch
meine Kleidung aus der Stadt gekommen, wo
ich im goldenen Löwen Alles abgeleget, ſo daß
ich anitzt, wie es ſich ziemete, in dunkler Tracht
einherging. Die Tagesſtunden aber wandte ich
zunächſt in meinen Nutzen. Nämlich, es befand
ſich oben im Herrenhauſe neben des ſeligen Herrn
Gemach ein Saal, räumlich und hoch, deſſen
[49] Wände faſt völlig von lebensgroßen Bildern
verhänget waren, ſo daß nur noch neben dem
Kamin ein Platz zu zweien offen ſtund. Es waren
das die Voreltern des Herrn Gerhardus, meiſt
ernſt und ſicher blickende Männer und Frauen, mit
einem Antlitz, dem man wol vertrauen konnte;
er ſelbſten in kräftigem Mannesalter und Katha¬
rinens frühverſtorbene Mutter machten dann den
Schluß. Die beiden letzten Bilder waren gar
trefflich von unſerem Landsmanne, dem Eider¬
ſtedter Georg Ovens, in ſeiner kräftigen Art ge¬
malet; und ich ſuchte nun mit meinem Pinſel
die Züge meinem edlen Beſchützers nachzuſchaffen;
zwar in verjüngtem Maaßſtabe und nur mir
ſelber zum Genügen; doch hat es ſpäter zu einem
größeren Bildniß mir gedienet, das noch itzt hier
in meiner einſamen Kammer die theuerſte Geſell¬
ſchaft meines Alters iſt. Das Bildniß ſeiner
Tochter aber lebt mit mir in meinem Innern.
Oft, wenn ich die Palette hingelegt, ſtand ich
noch lange vor den ſchönen Bildern. Katharinens
Antlitz fand ich in dem der beiden Eltern wieder:
Storm, Aquis submersus. 4[50] des Vaters Stirn, der Mutter Liebreiz um die
Lippen; wo aber war hier der harte Mund¬
winkel, das kleine Auge des Junker Wulf? —
Das mußte tiefer aus der Vergangenheit herauf¬
gekommen ſein! Langſam ging ich die Reih'
der älteren Bildniſſe entlang, bis über hundert
Jahre weit hinab. Und ſiehe, da hing im ſchwar¬
zen, von den Würmern ſchon zerfreſſenen Holz¬
rahmen ein Bild, vor dem ich ſchon als Knabe,
als ob's mich hielte, ſtillgeſtanden war. Es
ſtellete eine Edelfrau von etwa vierzig Jahren
vor; die kleinen grauen Augen ſahen kalt und
ſtechend aus dem harten Antlitz, das nur zur
Hälfte zwiſchen dem weißen Kinntuch und der
Schleierhaube ſichtbar wurde. Ein leiſer Schauer
überfuhr mich vor der ſo lang ſchon heimge¬
gangenen Seele; und ich ſprach zu mir: „Hier,
dieſe iſt's! Wie räthſelhafte Wege gehet die
Natur! Ein saeculum und drüber rinnt es heim¬
lich wie unter einer Decke im Blute der Ge¬
ſchlechter fort; dann, längſt vergeſſen, taucht es
plötzlich wieder auf, den Lebenden zum Unheil.
[51] Nicht vor dem Sohn des edlen Gerhardus; vor
dieſer hier und ihres Blutes nachgeborenem Sprö߬
ling ſoll ich Katharinen ſchützen.“ Und wieder
trat ich vor die beiden jüngſten Bilder, an denen
mein Gemüthe ſich erquickte.
So weilte ich derzeit in dem ſtillen Saale,
wo um mich nur die Sonnenſtäublein ſpielten,
unter den Schatten der Geweſenen.
Katharinen ſah ich nur beim Mittagstiſche,
das alte Fräulein und den Junker Wulf zur
Seiten; aber wofern Baſ' Urſel nicht in ihren
hohen Tönen redete, ſo war es ſtets ein ſtumm
und betrübſam Mahl, ſo daß mir oft der Biſſen
im Munde quoll. Nicht die Trauer um den
Abgeſchiedenen war deß Urſach, ſondern es lag
zwiſchen Bruder und Schweſter, als ſei das Tiſch¬
tuch durchgeſchitten zwiſchen ihnen, Katharina,
nachdem ſie faſt die Speiſen nicht berührt, ent¬
fernte ſich allzeit bald, mich kaum nur mit den
Augen grüßend; der Junker aber, wenn ihm die
Laune ſtund, ſuchte mich dann beim Trunte feſt¬
zuhalten; hatte mich alſo hiegegen und, ſo ich
4 *[52] nicht hinaus wollte über mein geſtecktes Maaß,
überdem wider allerart Flosculn zu wehren,
welche gegen mich geſpitzet wurden.
Inzwiſchen, nachdem der Sarg ſchon mehrere
Tage geſchloſſen geweſen, geſchahe die Beiſetzung
des Herrn Gerhardus drunten in der Kirche des
Dorfes, allwo das Erbbegräbniß iſt, und wo itzt
ſeine Gebeine bei denen ſeiner Voreltern ruhen,
mit denen der Höchſte ihnen dereinſt eine fröhliche
Urſtänd wolle beſcheeren!
Es waren aber zu ſolcher Trauerfeſtlichkeit
zwar mancherlei Leute aus der Stadt und den
umliegenden Gütern gekommen, von Angehörigen
aber faſt wenige und auch dieſe nur entfernte,
maaßen der Junker Wulf der Letzte ſeines Stam¬
mes war und des Herrn Gerhardus Ehgemahl
nicht hieſigen Geſchlechts geweſen; darum es auch
geſchahe, daß in der Kürze Alle wieder abge¬
zogen ſind.
Der Junker drängte nun ſelbſt, daß ich mein
aufgetragen Werk begönne, wozu ich droben
in dem Bilderſaale an einem nach Norden zu
[53] belegenen Fenſter mir ſchon den Platz erwählet
hatte. Zwar kam Baſ' Urſel, die wegen ihrer
Gicht die Treppen nicht hinauf konnte, und
meinete, es möge am Beſten in ihrer Stuben
oder im Gemach daran geſchehen, ſo ſei es uns
beiderſeits zur Unterhaltung; ich aber, ſolcher
Gevatterſchaft gar gern entrathend, hatte an der
dortigen Weſtſonne einen rechten Malergrund
dagegen, und konnte alles Reden ihr nicht nützen.
Vielmehr war ich am andern Morgen ſchon dabei,
die Nebenfenſter des Saales zu verhängen und
die hohe Staffelei zu ſtellen, ſo ich mit Hülfe
Dieterichs mir ſelber in den letzten Tagen an¬
gefertigt.
Als ich eben den Blendrahmen mit der Leine¬
wand darauf gelegt, öffnete ſich die Thür aus
Herrn Gerhardus' Zimmer, und Katharina trat
herein. — Aus was für Urſach', wäre ſchwer zu
ſagen; aber ich empfand, daß wir uns diesmal
faſt erſchrocken gegenüberſtanden; aus der ſchwar¬
zen Kleidung, die ſie nicht abgeleget, ſchaute das
junge Antlitz in gar ſüßer Verwirrung zu mir auf.
[54]
„Katharina,“ ſagte ich, „Ihr wiſſet, ich ſoll
Euer Bildniß malen; duldet Ihr's auch gern?“
Da zog ein Schleier über ihre braunen Augen¬
ſterne und ſie ſagte leiſe: „Warum doch fragt
Ihr ſo, Johannes?“
Wie ein Thau des Glückes ſank es in mein
Herz. „Nein, nein, Katharina! Aber ſagt, was
iſt, worin kann ich Euch dienen? — Setzet Euch,
damit wir nicht ſo müßig überraſcht werden,
und dann ſprecht! Oder vielmehr, ich weiß es
ſchon. Ihr braucht mir's nicht zu ſagen!“
Aber ſie ſetzte ſich nicht, ſie trat zu mir heran.
„Denket Ihr noch, Johannes, wie Ihr einſt den
Buhz mit Euerem Bogen niederſchoſſet? Das
thut diesmal nicht noth, obſchon er wieder ob
dem Neſte lauert; denn ich bin kein Vöglein, das
ſich von ihm zerreißen läßt. Aber, Johannes, —
ich habe einen Blutsfreund! — Hilf mir wider
den!“
„Ihr meinet Eueren Bruder, Katharina!“
— „Ich habe keinen andern. — — Dem
Manne, den ich haſſe, will er mich zum Weibe
[55] geben! Während unſeres Vaters langem Siech¬
bett habe ich den ſchändlichen Kampf mit ihm
geſtritten, und erſt an ſeinem Sarg hab' ich's
ihm abgetrotzt, daß ich in Ruhe um den Vater
trauern mag; aber ich weiß, auch das wird er
nicht halten.“
Ich gedachte eines Stiftsfräuleins zu Preetz,
Herrn Gerhardus' einzigen Geſchwiſters, und mei¬
nete, ob die nicht um Schutz und Zuflucht anzu¬
gehen ſei.
Katharina nickte. „Wollt Ihr mein Bote
ſein, Johannes? — Geſchrieben habe ich ihr
ſchon, aber in Wulf's Hände kam die Antwort,
und auch erfahren habe ich ſie nicht; nur die
ausbrechende Wuth meines Bruders, die ſelbſt
das Ohr des Sterbenden erfüllet hätte, wenn es
noch offen geweſen wäre für den Schall der
Welt; aber der gnädige Gott hatte das geliebte
Haupt ſchon mit dem letzten Erdenſchlummer zu¬
gedecket.“
Katharina hatte ſich nun doch auf meine
Bitte mir genüber geſetzet, und ich begann
[56] die Umriſſe aus die Leinewand zu zeichnen. So
kamen wir zu ruhiger Berathung; und da ich,
wenn die Arbeit weiter vorgeſchritten, nach Ham¬
burg mußte, um bei dem Holzſchnitzer einen Rah¬
men zu beſtellen, ſo ſtelleten nur feſt, daß ich
alsdann den Umweg über Preetz nähme und
alſo meine Botſchaft ausrichtete. Zunächſt jedoch
ſei emſig an dem Werk zu fördern.
Es iſt gar oft ein ſeltſam Widerſpiel im
Menſchenherzen. Der Junker mußte es ſchon
wiſſen, daß ich zu ſeiner Schweſter ſtand; gleich¬
wol — hieß nun ſein Stolz ihn mich gering zu
ſchätzen oder glaubte er mit ſeiner erſten Drohung
mich genug geſchrecket — was ich beſorget, traf
nicht ein; Katharina und ich waren am erſten
wie an den andern Tagen von ihm ungeſtöret.
Einmal zwar trat er ein und ſchalt mit Katha¬
rinen wegen ihrer Trauerkeidung, warf aber
dann die Thür hinter ſich, und wir hörten ihn
bald auf dem Hofe ein Reiterſtücklein pfeifen.
[57] Ein ander Mal noch hatte er den von der Riſch
an ſeiner Seite. Da Katharina eine heftige Be¬
wegung machte, bat ich ſie, auf ihrem Platz zu
bleiben, und malete ruhig weiter. Seit dem
Begräbnißtage, wo ich einen fremden Gruß mit
ihm getauſchet, hatte der Junker Kurt ſich auf dem
Hofe nicht gezeigt; nun trat er näher und be¬
ſchauete das Bild und redete gar ſchöne Worte,
meinete aber auch, weshalb das Fräulein ſich ſo
ſehr vermummet und nicht vielmehr ihr ſeidig
Haar in feinen Locken auf den Nacken habe wallen
laſſen; wie es ein Engelländiſcher Poet ſo trefflich
ausgedrücket, „rückwärts den Winden leichte Küſſe
werfend?“ Katharina aber, die bisher geſchwiegen,
wies auf Herrn Gerhardus' Bild und ſagte:
„Ihr wiſſet wol nicht mehr, daß das mein Vater
war!“
Was Junker Kurt hierauf entgegnete, iſt mir
nicht mehr erinnerlich; meine Perſon aber ſchien
ihm ganz nicht gegenwärtig oder doch nur gleich
einer Maſchine, wodurch ein Bild ſich auf die
Leinewand malete. Von letzterem begann er
[58] über meinen Kopf hin dies und jenes noch zu
reden; da aber Katharina nicht mehr Antwort
gab, ſo nahm er alsbald ſeinen Urlaub, der
Dame angenehme Kurzweil wünſchend.
Bei dieſem Wort jedennoch ſah ich aus ſeinen
Augen einen raſchen Blick gleich einer Meſſer¬
ſpitzen nach mir zücken.
— — Wir hatten nun weitere Störniß nicht
zu leiden, und mit der Jahreszeit rückte auch die
Arbeit vor. Schon ſtand auf den Waldkoppeln
draußen der Roggen in ſilbergrauem Bluhſt und
unten im Garten brachen ſchon die Roſen auf;
wir beide aber — ich mag es heut wol nieder¬
ſchreiben — wir hätten itzund die Zeit gern ſtille
ſtehen laſſen; an meine Botenreiſe wagten, auch
nur mit einem Wörtlein, weder ſie noch ich zu
rühren. Was wir geſprochen, wüßte ich kaum
zu ſagen, nur daß ich von meinem Leben in der
Fremde ihr erzählte und wie ich immer heim¬
gedacht; auch daß ihr güldener Pfennig mich in
Krankheit einſt vor Noth bewahrt, wie ſie in
ihrem Kinderherzen es damals fürgeſorget, und
[59] wie ich ſpäter dann geſtrebt und mich geängſtet,
bis ich das Kleinod aus dem Leihhaus mir zurück¬
gewonnen hatte. Dann lächelte ſie glücklich; und
dabei blühete aus dem dunkeln Grund des Bildes
immer ſüßer das holde Antlitz auf; mir ſchien's,
als ſei es kaum mein eigenes Werk. — Mit¬
unter war's, als ſchaue mich etwas heiß aus
ihren Augen an; doch wollte ich es dann faſſen,
ſo floh es ſcheu zurück; und dennoch floß es durch
den Pinſel heimlich auf die Leinewand, ſo daß
mir ſelber kaum bewußt ein ſinneberückend Bild
entſtand, wie nie zuvor und nie nachher ein
ſolches aus meiner Hand gegangen iſt. — —
Und endlich war's doch an der Zeit und feſt¬
geſetzet, am andern Morgen ſollte ich meine Reiſe
antreten.
Als Katharina mir den Brief an ihre Baſe
eingehändiget, ſaß ſie noch einmal mir genüber.
Es wurde heute mit Worten nicht geſpielet; wir
ſprachen ernſt und ſorgenvoll mitſammen; in¬
deſſen ſetzete ich noch hie und da den Pinſel an,
mitunter meine Blicke auf die ſchweigende Geſell¬
[60] ſchaft an den Wänden werfend, deren ich in
Katharinens Gegenwart ſonſt kaum gedacht hatte.
Da, unter dem Malen, fiel mein Auge auch
auf jenes alte Frauenbildniß, das mir zur Seite
hing und aus den weißen Schleiertüchern die
ſtechend grauen Augen auf mich gerichtet hielt.
Mich fröſtelte, ich hätte nahezu den Stuhl ver¬
rücket.
Aber Katharinens ſüße Stimme drang mir
in das Ohr: „Ihr ſeid ja faſt erbleichet; was
flog Euch über's Herz, Johannes?“
Ich zeigte mit dem Pinſel auf das Bild.
„Kennet ihr die, Katharine? Dieſe Augen haben
hier all' die Tage auf uns hingeſehen.“
„Die da? — Vor der hab' ich ſchon als Kind
eine Furcht gehabt, und gar bei Tage bin ich
oft wie blind hier durchgelaufen. Es iſt die
Gemahlin eines früheren Gerhardus; vor weit
über hundert Jahren hat ſie hier gehauſet.“
„Sie gleicht nicht Euerer ſchönen Mutter,“
entgegnete ich; „dies Antlitz hat wol vermocht,
einer jeden Bitte nein zu ſagen.“
Katharina ſah gar ernſt zu mir herüber.
„So heißt's auch,“ ſagte ſie; „ſie ſoll ihr einzig
Kind verfluchet haben; am andern Morgen aber
hat man das blaſſe Fräulein aus einem Garten¬
teich gezogen, der nachmals zugedämmet iſt.
Hinter den Hecken, dem Walde zu, ſoll es ge¬
weſen ſein.“
„Ich weiß, Katharina; es wachſen heut noch
Schachtelhalm und Binſen aus dem Boden.“
„Wiſſet Ihr denn auch, Johannes, daß eine
unſeres Geſchlechtes ſich noch immer zeigen ſoll,
ſobald dem Hauſe Unheil droht? Man ſieht ſie
erſt hier an den Fenſtern gleiten, dann draußen
in dem Gartenſumpf verſchwinden.“
Ohnwillens wandten meine Augen ſich wieder
auf die unbeweglichen des Bildes. „Und we߬
halb,“ fragte ich, „verfluchete ſie ihr Kind?“
„Weßhalb?“ — Katharina zögerte ein Weil¬
chen und blickte mich faſt verwirret an mit allem
ihrem Liebreiz. „Ich glaub', ſie wollte den Vetter
ihrer Mutter nicht zum Ehgemal.“
— „War's denn ein gar ſo übler Mann?“
[62]Ein Blick faſt wie ein Flehen flog zu mir
herüber, und tiefes Roſenroth bedeckte ihr Antlitz.
„Ich weiß nicht,“ ſagte ſie beklommen; und leiſer,
daß ich's kaum vernehmen mochte, ſetzte ſie hinzu:
„Es heißt, ſie hab' einen Andern lieb gehabt;
der war nicht ihres Standes.“
Ich hatte den Pinſel ſinken laſſen; denn ſie
ſaß vor mir mit geſenkten Blicken; wenn nicht
die kleine Hand ſich leis aus ihrem Schooße auf
ihr Herz geleget, ſo wäre ſie ſelber wie ein leb¬
los Bild geweſen.
So hold es war, ich ſprach doch endlich:
„So kann ich ja nicht malen; wollet Ihr mich
nicht anſehen, Katharina?“
Und als ſie nun die Wimpern von den
braunen Augenſternen hob, da war kein Hehlens
mehr; heiß und offen ging der Strahl zu meinem
Herzen. „Katharina!“ Ich war aufgeſprungen.
„Hätte jene Frau auch Dich verflucht?“
Sie athmete tief auf. „Auch mich, Johan¬
nes!“ — Da lag ihr Haupt an meiner Bruſt,
und feſt umſchloſſen ſtanden wir vor dem Bild
[63] der Ahnfrau, die kalt und feindlich auf uns
niederſchauete.
Aber Katharina zog mich leiſe fort. „Laß
uns nicht trotzen, mein Johannes!“ ſagte ſie. —
Mit Selbigem hörte ich im Treppenhauſe ein
Geräuſch, und war es, als wenn etwas mit
dreien Beinen ſich mühſelig die Stiegen herauf¬
arbeitete. Als Katharina und ich uns deshalb
wieder an unſern Platz geſetzet und ich Pinſel
und Palette zur Hand genommen hatte, öffnete
ſich die Thür, und Baſ' Urſel, die wir wol zu¬
letzt erwartet hätten, kam an ihrem Stock herein¬
gehuſtet. „Ich höre,“ ſagte ſie, „Er will nach
Hamburg, um den Rahmen zu beſorgen: da muß
ich mir nachgerade doch Sein Werk beſehen!“
Es iſt wol männiglich bekannt, daß alte
Jungfrauen in Liebesſachen die allerfeinſten Sinne
haben und ſo der jungen Welt gar oft Bedrang
und Trübſal bringen. Als Baſ' Urſel auf Ka¬
tharinens Bild, das ſie bislang noch nicht ge¬
ſehen, kaum einen Blick geworfen hatte, zuckte
ſie gar ſtolz empor mit ihrem runzeligen Angeſicht
[64] und frug mich allſogleich: „Hat denn das Fräu¬
lein Ihn ſo angeſehen, als wie ſie da im Bilde
ſitzet?“
Ich entgegnete, es ſei ja eben die Kunst der
edlen Malerei, nicht bloß die Abschrift des Ge¬
ſichts zu geben. Aber ſchon mußte an unſern
Augen oder Wangen ihr Sonderlichem aufgefallen
ſein, denn ihre Blicke gingen ſprühend hin und
wieder: „Die Arbeit iſt wol bald am Ende?“
ſagte ſie dann mit ihrer höchſten Stimme.
„Deine Augen haben kranken Glanz, Katharina;
das lange Sitzen hat Dir nicht wohl gedienet.“
Ich entgegnete, das Bild ſei bald vollendet,
nur an dem Gewande ſei noch hie und da zu
ſchaffen.
„Nun, da braucht Er wol des Fräuleins
Gegenwart nicht mehr dazu! — Komm, Katha¬
rina, Dein Arm iſt beſſer, als der dumme Stecken
hier!“
Und ſo mußt' ich von der dürren Alten
meines Herzens holdſelig Kleinod mir entführen
ſehen, da ich es eben mir gewonnen glaubte;
[65] kaum daß die braunen Augen mir noch einen
ſtummen Abſchied ſenden konnten.
Am andern Morgen, am Montage vor Jo¬
hannis, trat ich meine Reiſe an. Auf einem
Gaule, den Dieterich mir beſorget, trabte ich in
der Frühe aus dem Thorweg; als ich durch die
Tannen ritt, brach einer von des Junkers Hunden
herfür und fuhr meinem Thiere nach den Flechſen,
wann ſchon ſelbiges aus ihrem eigenen Stalle
war; aber der oben im Sattel ſaß, ſchien ihnen
allzeit noch verdächtig. Kamen gleichwol ohne
Bleſſur davon, ich und der Gaul, und langeten
Abends bei guter Zeit in Hamburg an. Am
andern Vormittage machte ich mich auf und be¬
fand auch bald einen Schnitzer, ſo der Bilder¬
leiſten viele fertig hatte, daß man ſie nur zu¬
ſammenzuſtellen und in den Ecken die Zierrathen
darauf zu thun brauchte. Wurden alſo handels¬
einig, und verſprach der Meiſter, mir das Alles
wohlverpacket nachzuſenden.
Aquis submersus[66]
Nun war zwar in der berühmten Stadt vor
einen Neubegierigen gar Vieles zu beſchauen:
ſo in der Schiffer-Geſellſchaft des Seeräubern
Störtebeker ſilberner Becher, welcher das zweite
Wahrzeichen der Stadt genennet wird, und ohne
den geſehen zu haben, wie es in einem Buche
heißet, Niemand ſagen dürfe, daß er in Hamburg
ſei geweſen; ſodann auch der Wunderfiſch mit
eines Adlers richtigen Krallen und Fluchten, ſo
eben um dieſe Zeit in der Elbe war gefangen
worden und den die Hamburger, wie ich nach¬
malen hörete, auf einen Seeſieg wider die tür¬
kiſchen Piraten deuteten; allein, obſchon ein
rechter Reiſender ſolcherlei Seltſamkeiten nicht
vorbeigehen ſoll, ſo war doch mein Gemüthe,
beides, von Sorge und von Herzensſehnen, allzu¬
ſehr beſchweret, Derohalben, nachdem ich bei
einem Kaufherrn noch meinen Wechſel umgeſetzet
und in meiner Nachtherbergen Richtigkeit getroffen
hatte, beſtieg ich um Mittage wieder meinen
Gaul und hatte allſobald allen Lärmen des
großen Hamburg hinter mir.
[67]
Am Nachmittage danach langete ich in Preetz
an, meldete mich im Stifte bei der hochwürdigen
Dame und wurde auch alsbald vorgelaſſen. Ich
erkannte in ihrer ſtattlichen Perſon allſogleich die
Schweſter meines theueren ſeligen Herrn Ger¬
hardus; nur, wie es ſich an unverehelichten
Frauen oftmals zeiget, waren die Züge des
Antlitzes gleichwol ſtrenger, als die des Bruders.
Ich hatte, ſelbſt nachdem ich Katharinens Schrei¬
ben überreichet, ein lang und hart Examen zu
beſtehen; dann aber verhieß ſie ihren Beiſtand
und ſetzete ſich zu ihrem Schreibgeräthe, indeß
die Magd mich in ein ander Zimmer führen
mußte, allwo man mich gar wohl bewirthete.
Es war ſchon ſpät am Nachmittage, da ich
wieder fortritt; doch rechnete ich, obſchon mein
Gaul die vielen Meilen hinter uns bereits ver¬
ſpürete, noch gegen Mitternacht beim alten Die¬
terich anzuklopfen. — Das Schreiben, das die
alte Dame mir für Katharinen mitgegeben, trug
ich wohlverwahret in einem Ledertäſchlein unterm
Wammſe auf der Bruſt. So ritt ich fürbaß in
5 *[68] die aufſteigende Dämmerung hinein; gar bald
an ſie, die Eine, nur gedenkend, und immer
wieder mein Herz mit neuen lieblichen Gedanken
ſchreckend.
Es war aber eine lauwarme Juninacht; von
den dunkelen Feldern erhub ſich der Ruch der
Wieſenblumen, aus den Knicken duftete das Gei߬
blatt; in Luft und Laub ſchwebete ungeſehen das
kleine Nachtgeziefer oder flog auch wol ſurrend
meinem ſchnaubenden Gaule an die Nüſtern;
droben aber an der blauſchwarzen ungeheueren
Himmelsglocke über mir ſtrahlte im Süd-Oſt das
Sternenbild des Schwanes in ſeiner unberührten
Herrlichkeit.
Da ich endlich wieder aus Herrn Gerhardus'
Grund und Boden war, reſolvirte ich mich ſofort,
noch nach dem Dorfe hinüberzureiten, welches
ſeitwärts von der Fahrſtraßen hinterm Wald
belegen iſt. Denn ich gedachte, daß der Krüger
Hans Ottſen einen paßlichen Handwagen habe;
mit dem ſolle er morgen einen Boten in die
Stadt ſchicken, um die Hamburger Kiſte für mich
[69] abzuholen; ich aber wollte nur an ſein Kammer¬
fenſter klopfen, um ihm ſolches zu beſtellen.
Alſo ritte ich am Waldesrande hin, die Augen
faſt verwirret von den grünlichen Johannis¬
fünkchen, die mit ihren ſpieleriſchen Lichtern mich
hier umflogen. Und ſchon ragete groß und
finſter die Kirche vor mir auf, in deren Mauern
Herr Gerhardus bei den Seinen ruhte; ich hörte,
wie im Thurm ſo eben der Hammer ausholete,
und von der Glocken ſcholl die Mitternacht in's
Dorf hinunter. „Aber ſie ſchlafen Alle;“ ſprach
ich bei mir ſelber, „die Todten in der Kirchen
oder unter dem hohen Sternenhimmel hieneben
auf dem Kirchhof, die Lebenden noch unter den
niedern Dächern, die dort ſtumm und dunkel vor
Dir liegen.“ So ritt ich weiter. Als ich jedoch
an den Teich kam, von wo aus man Hans Ott¬
ſens Krug gewahren kann, ſahe ich von dorten
einen dunſtigen Lichtſchein auf den Weg hinaus¬
brechen, und Fiedeln und Klarinetten ſchalleten
mir entgegen.
Da ich gleichwol mit dem Wirthe reden wollte,
[70] ſo ritt ich herzu und brachte meinen Gaul im
Stalle unter. Als ich danach auf die Tenne
trat, war es gedrangvoll von Menſchen, Män¬
nern und Weibern, und ein Geſchrei und wüſt'
Getreibe, wie ich ſolches, auch beim Tanz, in
früheren Jahren nicht vermerket. Der Schein
der Unſchlittkerzen, ſo unter einem Balken auf
einem Kreuzholz ſchwebten, hob manch' bärtig
und verhauen Antlitz aus dem Dunkel, dem man
lieber nicht allein im Wald begegnet wäre. —
Aber nicht nur Strolche und Bauernburſche ſchie¬
nen hier ſich zu vergnügen; bei den Muſikanten,
die drüben vor der Döns auf ihren Tonnen
ſaßen, ſtund der Junker von der Riſch; er hatte
ſeinen Mantel über dem einen Arm, an dem
andern hing ihm eine derbe Dirne. Aber das
Stücklein ſchien ihm nicht zu gefallen; denn er
riß dem Fiedler ſeine Geigen aus den Händen,
warf eine Hand voll Münzen auf ſeine Tonne
und verlangte, daß ſie ihm den neumodiſchen
Zweitritt aufſpielen ſollten. Als dann die Mu¬
ſikanten ihm gar raſch gehorchten und wie toll
[71] die neue Weiſe klingen ließen, ſchrie er nach
Platz und ſchwang ſich in den dichten Haufen;
und die Bauerburſchen glotzten drauf hin, wie
ihm die Dirne im Arme lag, gleich einer Tauben
vor dem Geier.
Ich aber wandte mich ab und trat hinten in
die Stube, um mit dem Wirth zu reden. Da
ſaß der Junker Wulf beim Kruge Wein und
hatte den alten Ottſen neben ſich, welchen er
mit allerhand Späßen in Bedrängniß brachte;
ſo drohete er, ihm ſeinen Zins zu ſteigern, und
ſchüttelte ſich vor Lachen, wenn der geängſtete
Mann gar jämmerlich um Gnad' und Nachſicht
ſupplicirte. — Da er mich gewahr worden, ließ
er nicht ab, bis ich ſelb dritt mich an den Tiſch
geſetzet; frug nach meiner Reiſe und ob ich in
Hamburg mich auch wol vergnüget; ich aber
antwortete nur, ich käme eben von dort zurück,
und werde der Rahmen in Kürze in der Stadt
eintreffen, von wo Hans Ottſen ihn mit ſeinem
Handwäglein leichtlich möge holen laſſen.
Indeß ich mit Letzterem ſolches nun verhan¬
[72] delte, kam auch der von der Riſch hereingeſtürmet
und ſchrie dem Wirthe zu, ihm einen kühlen
Trunk zu ſchaffen. Der Junker Wulf aber, dem
bereits die Zunge ſchwer im Munde wühlete,
faßte ihn am Arm und riß ihn auf den leeren
Stuhl hernieder.
„Nun Kurt!“ rief er. „Biſt Du noch nicht
ſatt von Deinen Dirnen! Was ſoll die Katha¬
rina dazu ſagen? Komm, machen alamode
ein ehrbar hazard mitſammen!“ Dabei hatte er
ein Kartenſpiel unterm Wamms hervorgezogen.
„Allons donc! — Dix et dame! — dame et
valet!“
Ich ſtand noch und ſah dem Spiele zu, ſo
dermalen eben Mode worden; nur wünſchend,
daß die Nacht vergehen und der Morgen kommen
möchte. — Der Trunkene ſchien aber dieſes Mal
des Nüchternen Uebermann; dem von der Riſch
ſchlug nach einander jede Karte fehl.
„Tröſte Dich Kurt!“ ſagte der Junker Wulf,
indeß er ſchmunzelnd die Speciesthaler auf einen
Haufen ſcharrte:
[73]
Laß den Maler Dir hier von Deiner ſchönen
Braut erzählen! Der weiß ſie auswendig; da
kriegſt Du's nach der Kunſt zu wiſſen.“
Dem Andern, wie mir am beſten kund war,
mochte aber noch nicht viel von Liebesglück be¬
wußt ſein; denn er ſchlug fluchend auf den Tiſch
und ſah gar grimmig auf mich her.
„Ei, Du biſt eiferſüchtig, Kurt;“ ſagte der
Junker Wulf vergnüglich, als ob er jedes Wort
auf ſeiner ſchweren Zunge ſchmeckete; „aber ge¬
tröſte Dich, der Rahmen iſt ſchon fertig zu dem
Bilde; Dein Freund der Maler kommt eben erſt
von Hamburg.“
Bei dieſem Worte ſahe ich den von der Riſch
aufzucken gleich einem Spürhund bei der Witte¬
rung. „Von Hamburg heut? — So muß er
Fauſti Mantel ſich bedienet haben; denn mein
Reitknecht ſah ihn heut zu Mittag noch in
[74] Preetz! Im Stift, bei Deiner Baſe iſt er auf
Beſuch geweſen.“
Meine Hand fuhr unverſehens nach der Bruſt,
wo ich das Täſchlein mit dem Brief verwahret
hatte; denn die trunkenen Augen des Junkers
Wulf lagen auf mir; und war mir's nicht an¬
ders, als ſähe er damit mein ganz Geheimniß
offen vor ſich liegen. Es währete auch nicht
lange, ſo flogen die Karten klatſchend auf den
Tiſch. „Oho!“ ſchrie er. „Im Stift, bei meiner
Baſe! Du treibſt wol gar doppelt Handwerk,
Burſch! Wer hat Dich auf den Botengang ge¬
ſchickt?“
„Ihr nicht, Junker Wulf!“ entgegnet' ich;
„und das muß Euch genug ſein!“ — Ich wollt'
nach meinem Degen greifen; aber er war nicht
da; fiel mir auch bei nun, daß ich ihn an den
Sattelknopf gehänget, da ich vorhin den Gaul
zu Stalle brachte.
Und ſchon ſchrie der Junker wieder zu ſeinem
jüngeren Kumpan; „Reiß ihm das Wamms auf,
Kurt! Es gilt den blanken Haufen hier, Du
[75] findeſt eine ſaubere Briefſchaft, die Du ungern
möchteſt beſtellet ſehen!“
Im ſelbigen Augenblick fühlte ich auch ſchon
die Hände des von der Riſch an meinem Leibe,
und ein wüthend Ringen zwiſchen uns begann.
Ich fühlte wol, daß ich ſo leicht, wie in der
Bubenzeit, ihm nicht mehr über würde; da aber
fügete es ſich zu meinem Glücke, daß ich ihm
beide Handgelenke packte, und er alſo wie ge¬
feſſelt vor mir ſtund. Es hatte keiner von uns
ein Wort dabei verlauten laſſen; als wir uns
aber itzund in die Augen ſahen, da wußte Jeder
wol, daß er's mit ſeinem Todtfeind vor ſich habe.
Solches ſchien auch der Junker Wulf zu
meinen; er ſtrebte von ſeinem Stuhl empor, als
wolle er dem von der Riſch zu Hülfe kommen;
mochte aber zu viel des Weins genoſſen haben,
denn er taumelte auf ſeinen Platz zurück. Da
ſchrie er, ſo laut ſeine lallende Zung es noch
vermochte: „He, Tartar! Türk! Wo ſteckt ihr!
Tartar, Türk!“ Und ich wußte nun, daß die
zwo grimmen Köter, ſo ich vorhin auf der Tenne
[76] an dem Ausſchank hatte lungern ſehen, mir an
die nackte Kehle ſpringen ſollten. Schon hörete
ich ſie durch das Getümmel der Tanzenden daher
ſchnaufen, da riß ich mit einem Rucke jählings
meinen Feind zu Boden, ſprang dann durch eine
Seitenthür aus dem Zimmer, die ich ſchmetternd
hinter mir zuwarf, und gewann alſo das Freie.
Und um mich her war plötzlich wieder die
ſtille Nacht und Mond- und Sternenſchimmer.
In den Stall zu meinem Gaul wagt' ich nicht
erſt zu gehen, ſondern ſprang flugs über einen
Wall und lief über das Feld dem Walde zu.
Da ich ihn bald erreichet, ſuchte ich die Richtung
nach dem Herrenhoſe einzuhalten; denn es zieht
ſich die Holzung bis hart zur Gartenmauer.
Zwar war die Helle der Himmelslichter hier
durch das Laub der Bäume ausgeſchloſſen; aber
meine Augen wurden der Dunkelheit gar bald
gewohnt, und da ich das Täſchlein ſicher unter
meinem Wammſe fühlte, ſo tappte ich rüſtig vor¬
wärts; denn ich gedachte den Reſt der Nacht
noch einmal in meiner Kammer auszuruhen, dann
[77] aber mit dem alten Dieterich zu berathen, was
allfort geſchehen ſolle; maaßen ich wol ſahe, daß
meines Bleibens hier nicht fürder ſei.
Bisweilen ſtund ich auch und horchte; aber
ich mochte bei meinem Abgang wol die Thür
in's Schloß geworfen und ſo einen guten Vor¬
ſprung mir gewonnen haben: von den Hunden
war kein Laut vernehmbar. Wol aber, da ich
eben aus dem Schatten auf eine vom Mond er¬
hellete Lichtung trat, hörete ich nicht gar fern die
Nachtigallen ſchlagen; und von wo ich ihren
Schall hörte, dahin richtete ich meine Schritte;
denn mir war wohl bewußt, ſie hatten hier herum
nur in den Hecken des Herrengartens ihre Neſter;
erkannte nun auch, wo ich mich befand, und daß
ich bis zum Hofe nicht gar weit mehr hatte.
Ging alſo dem lieblichen Schallen nach, das
immer heller vor mir aus dem Dunkel drang.
Da plötzlich ſchlug was Anderes an mein Ohr,
das jählings näher kam und mir das Blut er¬
ſtarren machte. Nicht zweifeln konnt' ich mehr,
die Hunde brachen durch das Unterholz; ſie
[78] hielten feſt auf meiner Spur, und ſchon hörete
ich deutlich hinter mir ihr Schnaufen und ihre
gewaltigen Sätze in dem dürren Laub des Wald¬
bodens. Aber Gott gab mir ſeinen gnädigen
Schutz; aus dem Schatten der Bäume ſtürzte ich
gegen die Gartenmauer und an eines Flieder¬
baums Geäſte ſchwang ich mich hinüber. — Da
ſangen hier im Garten immer noch die Nachti¬
gallen; die Buchenhecken warfen tiefe Schatten.
In ſolcher Mondnacht war ich einſt vor meiner
Ausfahrt in die Welt mit Herrn Gerhardus hier
gewandelt. „Sieh Dir's noch einmal an, Jo¬
hannes!“ hatte dermalen er geſprochen; „es
könnt' geſchehen, daß Du bei Deiner Heimkehr
mich nicht daheim mehr fändeſt, und daß als¬
dann ein Willkomm nicht für Dich am Thor ge¬
ſchrieben ſtünde; — ich aber möcht' nicht, daß
Du dieſe Stätte hier vergäßeſt.“
Das flog mir itzund durch den Sinn, und
ich mußte bitter lachen; denn nun war ich hier
als ein gehetzet Wild; und ſchon hörete ich die
Hunde des Junker Wulf gar grimmig draußen
[79] an der Gartenmauer rennen. Selbige aber war,
wie ich noch Tags zuvor geſehen, nicht überall
ſo hoch, daß nicht das wüthige Gethier hinüber
konnte; und rings im Garten war kein Baum,
nichts als die dichten Hecken und drüben gegen
das Haus die Blumenbeete des ſeligen Herrn.
Da, als eben das Bellen der Hunde wie ein
Triumphgeheule innerhalb der Gartenmauer ſcholl,
erſahe ich in meiner Noth den alten Epheu-
Baum, der ſich mit ſtarkem Stamme an dem
Thurm hinaufreckt; und da dann die Hunde aus
den Hecken auf den mondhellen Platz hinaus¬
raſeten, war ich ſchon hoch genug, daß ſie mit
ihrem Anſpringen mich nicht mehr erreichen konn¬
ten; nur meinen Mantel, ſo von der Schulter
geglitten, hatten ſie mit ihren Zähnen mir herab¬
geriſſen.
Ich aber, alſo angeklammert und fürchtend,
es werde das nach oben ſchwächere Geäſte mich
auf die Dauer nicht ertragen, blickte ſuchend um
mich, ob ich nicht irgend beſſern Halt gewinnen
möchte; aber es war nichts zu ſehen, als die
[80] dunklen Epheublätter um mich her. — Da, in
ſolcher Noth, hörete ich ober mir ein Fenſter
öffnen, und eine Stimme ſcholl zu mir herab —
möcht' ich ſie wieder hören, wenn Du, mein
Gott, mich bald nun rufen läßt aus dieſem
Erdenthal! — „Johannes!“ rief ſie; leis doch
deutlich hörete ich meinen Namen, und ich klet¬
terte höher an dem immer ſchwächeren Gezweige,
indeß die ſchlafenden Vögel um mich auffuhren,
und die Hunde von unten ein Geheul herauf¬
ſtießen. — „Katharina! Biſt Du es wirklich,
Katharina?“
Aber ſchon kam ein zitternd Händlein zu mir
herab und zog mich gegen das offene Fenſter;
und ich ſah in ihre Augen, die voll Entſetzen in
die Tiefe ſtarrten.
„Komm!“ ſagte ſie. „Sie werden Dich zer¬
reißen.“ Da ſchwang ich mich in ihre Kammer. —
Doch als ich drinnen war, ließ mich das Händlein
los, und Katharina ſank auf einen Seſſel, ſo am
Fenſter ſtund, und hatte ihre Augen dicht ge¬
ſchloſſen. Die dicken Flechten ihres Haares lagen
[81] über dem weißen Nachtgewand bis in den Schooß
hinab; der Mond, der draußen die Gartenhecken
überſtiegen hatte, ſchien voll herein und zeigete
mir Alles. Ich ſtund wie feſt gezaubert vor
ihr; ſo lieblich fremde und doch ſo ganz mein
eigen ſchien ſie mir; nur meine Augen tranken
ſich ſatt an all' der Schönheit. Erſt als ein
Seufzen ihre Bruſt erhob, ſprach ich zu ihr:
„Katharina, liebe Katharina, träumet Ihr denn?“
Da flog ein ſchmerzlich Lächeln über ihr
Geſicht: „Ich glaub' wol faſt, Johannes! —
Das Leben iſt ſo hart; der Traum iſt ſüß!“
Als aber von unten aus dem Garten das
Geheul auf's Neu heraufkam, fuhr ſie erſchreckt
empor. „Die Hunde, Johannes!“ rief ſie. „Was
iſt das mit den Hunden?“
„Katharina,“ ſagte ich, „wenn ich Euch dienen
ſoll, ſo glaub' ich, es muß bald geſchehen; denn
es fehlt viel, daß ich noch einmal durch die Thür
in dieſes Haus gelangen ſollte.“ Dabei hatte ich
den Brief aus meinem Täſchlein hervorgezogen
Storm, Aquis submersus. 6[82] und erzählete auch, wie ich im Kruge drunten
mit den Junkern ſei in Streit gerathen.
Sie hielt das Schreiben in den hellen Mon¬
denſchein und las; dann ſchaute ſie mich voll
und herzlich an, und wir beredeten, wie wir uns
morgen in dem Tannenwalde treffen wollten;
denn Katharina ſollte noch zuvor erkunden, auf
welchen Tag des Junker Wulfen Abreiſe zum
Kieler Johannismarkte feſtgeſetzet ſei.
„Und nun, Katharina,“ ſprach ich; „habt Ihr
nicht etwas, das einer Waffe gleichſieht, ein
eiſern Ellenmaaß oder ſo dergleichen, damit ich der
beiden Thiere drunten mich erwehren könne?“
Sie aber ſchrak jäh wie aus einem Traum
empor: „Was ſprichſt Du, Johannes!“ rief ſie;
und ihre Hände, ſo bislang in ihrem Schooß;
geruhet, griffen nach den meinen. „Nein, nicht
fort, nicht fort! da drunten iſt der Tod; und
gehſt Du, ſo iſt auch hier der Tod!“
Da war ich vor ihr hingeknieet und lag an
ihrer jungen Bruſt, und wir umfingen uns in
großer Herzensnoth. „Ach, Käthe,“ ſprach ich,
[83] „was vermag die arme Liebe denn! Wenn auch
Dein Bruder Wulf nicht wäre; ich bin kein
Edelmann, und darf nicht um Dich werben.“
Sehr ſüß und ſorglich ſchauete ſie mich an;
dann aber kam es wie Schelmerei aus ihrem
Munde: „Kein Edelmann, Johannes? — Ich
dächte, Du ſeieſt auch das! Aber — ach nein!
Dein Vater war nur der Freund des meinen —
das gilt der Welt wol nicht!“
„Nein, Käthe; nicht das, und ſicherlich nicht
hier;“ entgegnete ich und umfaßte feſter ihren
jungfräulichen Leib; „aber drüben in Holland,
dort gilt ein tüchtiger Maler wol einen deutſchen
Edelmann; die Schwelle von Minheer van Dyks
Pallaſte zu Amſterdam iſt wol dem Höchſten
ehrenvoll zu überſchreiten. Man hat mich drüben
halten wollen, mein Meiſter van der Helſt und
Andre! Wenn ich dorthin zurückginge, ein Jahr
noch oder zwei; dann — wir kommen dann ſchon
von hier fort; bleib mir nur feſte gegen Eure
wüſten Junker!“
Katharinens weiße Hände ſtrichen über meine
6 *[84] Locken; ſie herzete mich und ſagte leiſe: „Da ich
in meine Kammer Dich gelaſſen, ſo werd' ich
doch Dein Weib auch werden müſſen.“
— — Ihr ahnete wol nicht, welch' einen
Feuerſtrom dieß Wort in meine Adern goß,
darin ohnedieß das Blut in heißen Pulſen ging.
— Von dreien furchtbaren Dämonen, von Zorn
und Todesangſt und Liebe ein verfolgter Mann,
lag nun mein Haupt in des vielgeliebten Weibes
Schooß.
Da ſchrillte ein geller Pfiff; die Hunde drun¬
ten wurden jähling ſtille, und da es noch ein¬
mal gellte, hörete ich ſie wie toll und wild davon
rennen.
Vom Hofe her wurden Schritte laut; wir
horchten auf, daß uns der Athem ſtille ſtund.
Bald aber wurde dorten eine Thür erſt auf-,
dann zugeſchlagen und dann ein Riegel vorge¬
ſchoben „Das iſt Wulf,“ ſagte Katharina leiſe;
„er hat die beiden Hunde in den Stall geſperrt.“
— Bald hörten wir auch unter uns die Thür
des Hausflurs gehen, den Schlüſſel drehen, und
[85] danach Schritte in dem untern Corridor, die ſich
verloren, wo der Junker ſeine Kammer hatte.
Dann wurde Alles ſtill.
Es war nun endlich ſicher, ganz ſicher; aber
mit unſerm Plaudern war es mit einem Male
ſchier zu Ende. Katharina hatte den Kopf zurück¬
gelehnt; nur unſer Beider Herzen hörete ich
klopfen. — „Soll ich nun gehen, Katharina?‘
ſprach ich endlich.
Aber die jungen Arme zogen mich ſtumm zu
ihrem Mund empor; und ich ging nicht.
Kein Laut war mehr, als aus des Gartens
Tiefe das Schlagen der Nachtigallen und von
fern das Rauſchen des Wäſſerleins, das hinten
um die Hecken fließt. — —
Wenn, wie es in den Liedern heißt, mitunter
noch in Nächten die ſchöne heidniſche Frau Venus
auferſteht und umgeht, um die armen Menſchen¬
herzen zu verwirren, ſo war es dazumalen eine
ſolche Nacht. Der Mondſchein war am Himmel
ausgethan, ein ſchwüler Ruch von Blumen
hauchte durch das Fenſter und dorten überm
[86] Walde ſpielete die Nacht in ſtummen Blitzen. —
O Hüter, Hüter, war Dein Ruf ſo fern?
— — Wol weiß ich noch, daß vom Hofe
her plötzlich ſcharf die Hähne krähten, und daß
ich ein blaß und weinend Weib in meinen Ar¬
men hielt, die mich nicht laſſen wollte, unachtend,
daß überm Garten der Morgen dämmerte und
rothen Schein in unſre Kammer warf. Dann
aber, da ſie deß' inne wurde, trieb ſie, wie von
Todesangſt geſchreckt, mich fort.
Noch einen Kuß, noch hundert; ein flüchtig
Wort noch: wann für das Geſind zu Mittage
geläutet würde, dann wollten wir im Tannen¬
wald uns treffen; und dann — ich wußte ſelber
kaum, wie mir's geſchehen — ſtund ich im Garten,
unten in der kühlen Morgenluft.
Noch einmal, indem ich meinen von den Hun¬
den zerfetzten Mantel aufhob, ſchaute ich empor
und ſah ein blaſſes Händlein mir zum Abſchied
winken. Nahezu erſchrocken aber wurd' ich, da
meine Augen bei einem Rückblick aus dem Garten¬
ſteig von ungefähr die unteren Fenſter neben
[87] dem Thurme ſtreiften; denn mir war, als ſähe
hinter einem derſelbigen ich gleichfalls eine Hand;
aber ſie drohete nach mir mit aufgehobenem
Finger und ſchien mir farblos und knöchern
gleich der Hand des Todes. Doch war's nur
wie im Huſch, daß ſolches über meine Augen
ging; dachte zwar erſtlich des Märleins von
der wiedergehenden Urahne; redete mir dann
aber ein, es ſeien nur meine eigenen aufgeſtörten
Sinne, die ſolch' Spiel mir vorgegaukelt hätten.
So, deß' nicht weiter achtend, ſchritt ich eilends
durch den Garten, merkete aber bald, daß in der
Haſt ich auf den Binſenſumpf gerathen; ſank
auch der eine Fuß bis über's Aenkel ein, gleich¬
ſam als ob ihn was hinunterziehen wollte. „Ei,“
dachte ich, „faßt das Hausgeſpenſte doch nach
Dir!“ Machte mich aber auf und ſprang über
die Mauer in den Wald hinab.
Die Finſterniß der dichten Bäume ſagte
meinem träumenden Gemüthe zu; hier um mich
her war noch die ſelige Nacht, von welcher
meine Sinne ſich nicht löſen mochten. — Erſt da
[88] ich nach geraumer Zeit vom Waldesrande in
das offene Feld hinaustrat, wurd' ich völlig wach.
Ein Häuflein Rehe ſtund nicht fern im ſilber¬
grauen Thau, und über mir vom Himmel ſcholl
das Tageslied der Lerche. Da ſchüttelte ich all'
müßig Träumen von mir ab; im ſelbigen Augen¬
blick ſtieg aber auch wie heiße Noth die Frage
mir in's Hirn: „Was weiter nun Johannes?
Du haſt ein theures Leben an Dich riſſen;
nun wiſſe, daß Dein Leben nichts gilt, als nur
das ihre!“
Doch was ich ſinnen mochte, es deuchte mir
allfort das Beſte, wenn Katharina im Stifte
ſichern Unterſchlupf gefunden, daß ich dann zu¬
rück nach Holland ginge, mich dort der Freundes¬
hülf' verſicherte und alſobald zurückkäm', um ſie
nachzuholen. Vielleicht, daß ſie gar der alten
Baſe Herz erweichet; und ſchlimmſten Falles —
es mußt' auch gehen ohne das!
Schon ſahe ich uns auf einem fröhlichen
Barkſchiff die Wellen des grünen Zuiderſees be¬
fahren, ſchon hörete ich das Glockenſpiel vom
[89] Rathhausthurme Amſterdams und ſah am Hafen
meine Freunde aus dem Gewühl hervorbrechen
und mich und meine ſchöne Frau mit hellem
Zuruf grüßen und im Triumph nach unſerem
kleinen, aber trauten Heim geleiten. Mein Herz
war voll von Muth und Hoffnung; und kräftiger
und raſcher ſchritt ich aus, als könnte ich bälder
ſo das Glück erreichen.
— Es iſt doch anders kommen.
In meinen Gedanken war ich allmählich in
das Dorf hinabgelanget und trat hier in Hans
Ottſens Krug, von wo ich in der Nacht ſo jäh¬
lings hatte flüchten müſſen. — „Ei, Meiſter
Johannes,“ rief der Alte auf der Tenne mir
entgegen; „was hattet Ihr doch geſtern mit un¬
ſeren geſtrengen Junkern? Ich war juſt draußen
bei dem Ausſchank; aber da ich wieder eintrat,
flucheten ſie ſchier grauſam gegen Euch; und
auch die Hunde raſeten an der Thür, die Ihr
hinter Euch in's Schloß geworfen hattet.“
Da ich aus ſolchen Worten abnahm, daß
der Alte den Handel nicht wohl begriffen habe,
[90] ſo entgegnete ich nur: „Ihr wiſſet, der von der
Riſch und ich, wir haben uns ſchon als Jungen
oft einmal gezauſet; da mußt's denn geſtern
noch ſo einen Nachſchmack geben.“
„Ich weiß, ich weiß!“ meinete der Alte;
„aber der Junker ſitzt heut auf ſeines Vaters
Hof; Ihr ſolltet Euch hüten, Herr Johannes;
mit ſolchen Herren iſt nicht ſauber Kirſchen eſſen.“
Dem zu widerſprechen hatte ich nicht Urſach',
ſondern ließ mir Brod und Frühtrunk geben und
ging dann in den Stall, wo ich mir meinen
Degen holete, auch Stift und Skizzenbüchlein
aus dem Ranzen nahm.
Aber es war noch lange bis zum Mittag¬
läuten. Alſo bat ich Hans Ottſen, daß er den
Gaul mit ſeinem Jungen mög' zum Hofe bringen
laſſen, und als er nur ſolches zugeſaget, ſchritt
ich wieder hinaus zum Wald. Ich ging aber
bis zu der Stelle aus dem Heidenhügel, von wo
man die beiden Giebel des Herrenhauſes über
die Gartenhecken ragen ſieht, wie ich ſolches ſchon
für den Hintergrund zu Katharinens Bildniß
[91] ausgewählet hatte. Nun gedachte ich, daß, wann
in zu verhoffender Zeit ſie ſelber in der Fremde
leben und wol das Vaterhaus nicht mehr be¬
treten würde, ſie ſeines Anblicks doch nicht ganz
entrathen ſolle; zog alſo meinen Stift herfür
und begann zu zeichnen, gar ſorgſam jedes Win¬
kelchen, woran ihr Auge einmal mocht' gehaftet
haben. Als farbig Schilderei ſollt' es dann in
Amſterdam gefertigt werden, damit es ihr ſofort
entgegengrüße, wann ich ſie dort in unſre Kam¬
mer führen würde.
Nach ein paar Stunden war die Zeichnung
fertig. Ich ließ noch wie zum Gruß ein zwit¬
ſchernd Vögelein darüber fliegen; dann ſuchte ich
die Lichtung auf, wo wir uns finden wollten,
und ſtreckte mich nebenan im Schatten einer
dichten Buche; ſehnlich verlangend, daß die Zeit
vergehe.
Ich mußte gleichwol darob eingeſchlummert
ſein; denn ich erwachte von einem fernen Schall
und wurd' deß inne, daß es das Mittagläuten
von dem Hofe ſei. Die Sonne glühte ſchon
[92] heiß hernieder und verbreitete den Ruch der Him¬
beeren, womit die Lichtung überdeckt war. Es
fiel mir bei, wie einſt Katharina und ich uns
hier bei unſern Waldgängen ſüße Wegzehrung
geholet hatten; und nun begann ein ſeltſam
Spiel der Phantaſie: bald ſahe ich drüben
zwiſchen den Sträuchen ihre zarte Kindsgeſtalt,
bald ſtund ſie vor mir, mich anſchauend mit den
ſeligen Frauenaugen, wie ich ſie letztlich erſt ge¬
ſehen, wie ich ſie nun gleich, im nächſten Augen¬
blicke ſchon leibhaftig an mein klopfend Herze
ſchließen würde.
Da plötzlich überfiel mich's wie ein Schrecken.
Wo blieb ſie denn? Es war ſchon lang, daß
es geläutet hatte. Ich war aufgeſprungen, ich
ging umher, ich ſtund und ſpähete ſcharf nach
aller Richtung durch die Bäume; die Angſt kroch
mir zum Herzen; aber Katharina kam nicht; kein
Schritt im Laube raſchelte; nur oben in den Buchen¬
wipfeln rauſchte ab und zu der Sommerwind.
Böſer Ahnung voll ging ich endlich fort und
nahm einen Umweg nach dem Hofe zu. Da ich
[93] unweit dem Thore zwiſchen die Eichen kam, be¬
gegnete mir Dieterich. „Herr Johannes,“ ſagte
er und trat haſtig auf mich zu: „Ihr ſeid die
Nacht ſchon in Hans Ottſens Krug geweſen; ſein
Junge brachte mir Euren Gaul zurück; — was
habet Ihr mit unſern Junkern vorgehabt?“
„Warum fragſt Du, Dieterich?“
— „Warum, Herr Johannes? — Weil ich
Unheil zwiſchen Euch verhüten möcht'.“
„Was ſoll das heißen, Dieterich?“ frug ich
wieder; aber mir war beklommen, als ſollte
das Wort mir in der Kehle ſticken.
„Ihr werdet's ſchon ſelber wiſſen, Herr Jo¬
hannes!“ entgegnete der Alte. „Mir hat der
Wind nur ſo einen Schall davon gebracht; vor
einer Stunde mag's geweſen ſein; ich wollte den
Burſchen rufen, der im Garten an den Hecken
putzte. Da ich an den Thurm kam, wo droben
unſer Fräulein ihre Kammer hat, ſah ich dorten
die alte Baſ' Urſel mit unſerem Junker dicht
beiſammen ſtehen. Er hatte die Arme unter¬
ſchlagen und ſprach kein einzig Wörtlein; die
[94] Alte aber redete einen um ſo größeren Haufen
und jammerte ordentlich mit ihrer feinen Stimme.
Dabei wies ſie bald nieder auf den Boden, bald
hinauf in den Epheu, der am Thurm hinauf¬
wächſt. — Verſtanden, Herr Johannes, hab' ich
von dem Allen nichts; dann aber, und nun
merket wohl auf, hielt ſie mit ihrer knöchern
Hand, als ob ſie damit drohete, dem Junker
was vor Augen; und da ich näher hinſah, war's
ein Fetzen Grauwerk, juſt wie Ihr's da an
Euerem Mantel traget.“
„Weiter, Dieterich!“ ſagte ich; denn der Alte
hatte die Augen auf meinen zerriſſenen Mantel,
den ich auf dem Arme trug.
„Es iſt nicht viel mehr übrig;“ erwiederte
er; „denn der Junker wandte ſich jählings nach
mir zu und frug mich, wo Ihr anzutreffen wäret.
Ihr möget mir es glauben, wäre er in Wirk¬
lichkeit ein Wolf geweſen, die Augen hätten
blutiger nicht funkeln können.“
Da frug ich: „Iſt der Junker im Hauſe,
Dieterich?“
— „Im Haus? Ich denke wol; doch was
ſinnet Ihr, Herr Johannes?“
„Ich ſinne, Dieterich, daß ich allſogleich mit
ihm zu reden habe.“
Aber Dieterich hatte bei beiden Händen mich
ergriffen. „Gehet nicht, Johannes,“ ſagte er
dringend; „erzählet mir zum wenigſten, was
geſchehen iſt; der Alte hat Euch ja ſonſt guten
Rath gewußt!“
„Hernach, Dieterich, hernach!“ entgegnete ich.
Und alſo mit dieſen Worten riß ich meine Hände
aus den ſeinen.
Der Alte ſchüttelte den Kopf. „Hernach, Jo¬
hannes,“ ſagte er, „das weiß nur unſer Herrgott!“
Ich aber ſchritt nun über den Hof dem Hauſe
zu. — Der Junker ſei eben in ſeinem Zimmer,
ſagte eine Magd, ſo ich im Hausflur drum be¬
fragte.
Ich hatte dieſes Zimmer, das im Unterhauſe
lag, nur einmal erſt betreten. Statt wie bei
ſeinem Vater ſeel. Bücher und Karten, war hier
vielerlei Gewaffen, Handröhre und Arkebuſen,
[96] auch allerart Jagdgeräthe an den Wänden an¬
gebracht; ſonſt war es ohne Zier und zeigete an
ihm ſelber, daß Niemand auf die Dauer und mit
ſeinen ganzen Sinnen hier verweile.
Faſt wär' ich an der Schwelle noch zurück¬
gewichen, da ich auf des Junkers „herein“ die
Thür geöffnet; denn, als er ſich vom Fenſter zu
mir wandte, ſahe ich eine Reiterpiſtole in ſeiner
Hand, an deren Radſchloß er handtirete. Er
ſchauete mich an, als ob ich von den Tollen
käme. „So!“ ſagte er gedehnet; „wahrhaftig,
Sieur Johannes, wenn's nicht ſchon ſein Ge¬
ſpenſte iſt!“
„Ihr dachtet, Junker Wulf,“ entgegnet' ich,
indem ich näher zu ihm trat, „es möcht' der
Straßen noch andre für mich geben, als die in
Euere Kammer führen!“
— „So dachte ich, Sieur Johannes! Wie
Ihr gut rathen könnt! Doch immerhin, Ihr
kommt mir eben recht; ich hab' Euch ſuchen laſſen!“
In ſeiner Stimme bebte was, das wie ein
lauernd Raubthier auf dem Sprunge lag, ſo
[97] daß die Hand mir unverſehens nach dem Degen
fuhr. Jedennoch ſprach ich: „Höret mich und
gönnet mir ein ruhig Wort, Herr Junker!“
Er aber unterbrach meine Rede: „Du wirſt
gewogen ſein, mich erſtlich auszuhören! Sieur
Johannes,“ — und ſeine Worte, die erſt langſam
waren, wurden allmählich gleichwie ein Gebrüll
— „vor ein paar Stunden, da ich mit ſchwerem
Kopf erwachte, da fiel's mir bei und reuete mich
gleich einem Narren, daß ich im Rauſch die
wilden Hunde Dir auf die Ferſen geſetzet hatte;
— ſeit aber Baſ' Urſel mir den Fetzen vorge¬
halten, den ſie Dir aus Deinem Federbalg ge¬
riſſen, — beim Höllenelement! mich reut's nur
noch, daß mir die Beſtien ſolch' Stück Arbeit
nachgelaſſen!“
Noch einmal ſuchte ich zu Worte zu kommen;
und, da der Junker ſchwieg, ſo dachte ich, daß er
auch hören würde. „Junker Wulf,“ ſagte ich,
„es iſt ſchon wahr, ich bin kein Edelmann; aber
ich bin kein geringer Mann in meiner Kunſt und
hoffe, es auch wol noch einmal den Größeren
Storm, Aquis submersus. 7[98] gleich zu thun; ſo bitte ich Euch geziementlich,
gebet Eure Schweſter Katharina mir zum Eh¬
gemahl“ — —
Da ſtockte mir das Wort im Munde. Aus
ſeinem bleichen Antlitz ſtarrten mich die Augen
des alten Bildes an; ein gellend Lachen ſchlug
mir in das Ohr, ein Schuß — — — dann
brach ich zuſammen und hörete nur noch, wie
mir der Degen, den ich ohn' Gedanken faſt ge¬
zogen hatte, klirrend aus der Hand zu Boden fiel.
Es war manche Woche danach, daß ich in
dem ſchon bleicheren Sonnenſchein auf einem
Bänkchen vor dem letzten Haus des Dorfes ſaß;
mit matten Blicken nach dem Wald hinüber¬
ſchauend, an deſſen jenſeitigem Rande das Herren¬
haus belegen war. Meine thörichten Augen
ſuchten ſtets auf's Neue den Punkt, wo, wie ich
mir vorſtellete, Katharinens Kämmerlein von drü¬
ben aus die ſchon herbſtlich gelben Wipfel ſchaue;
denn von ihr ſelber hatte ich keine Kunde.
[99]
Man hatte mich mit meiner Wunde in dieß
Haus gebracht, das von des Junkers Waldhüter
bewohnt wurde; und außer dieſem Mann und
ſeinem Weibe und einem mir unbekannten Chi¬
rurgus war während meines langen Lagers Nie¬
mand zu mir kommen. — Von wannen ich den
Schuß in meine Bruſt erhalten, darüber hat mich
Niemand befragt, und ich habe Niemandem Kunde
gegeben; des Herzogs Gerichte gegen Herrn Ger¬
hardus' Sohn und Katharinens Bruder anzurufen,
konnte nimmer mir zu Sinne kommen. Er mochte
ſich deſſen auch wol getröſten; noch glaubhafter
jedoch, daß er allen dieſen Dingen trotzete.
Nur einmal war mein guter Dieterich da¬
geweſen; er hatte mir in des Junkers Auftrage
zwei Rollen Ungariſcher Dukaten überbracht als
Lohn für Katharinens Bild, und ich hatte das
Geld genommen, in Gedanken, es ſei ein Theil
von deren Erbe, von dem ſie als mein Weib wol
ſpäter nicht zu viel empfahen würde. Zu einem
traulichen Geſpräch mit Dieterich, nach dem mich
ſehr verlangete, hatte es mir nicht gerathen
7 *[100] wollen, maaßen das gelbe Fuchsgeſicht meines
Wirthes allaugenblicks in meine Kammer ſchaute;
doch wurde ſo viel mir kund, daß der Junker
nicht nach Kiel gereiſet, und Katharina ſeither
von Niemandem weder in Hof noch Garten war
geſehen worden; kaum konnte ich noch den Alten
bitten, daß er dem Fräulein, wenn ſich's treffen
möchte, meine Grüße ſage, und daß ich bald nach
Holland zu reiſen, aber bälder noch zurückzukom¬
men dächte, was alles in Treuen auszurichten er
mir dann gelobete.
Ueberfiel mich aber danach die allergrößeſte
Ungeduld, ſo daß ich gegen den Willen des Chi¬
rurgus und bevor im Walde drüben noch die
letzten Blätter von den Bäumen fielen, meine
Reiſe in's Werk ſetzete; langete auch ſchon nach
kurzer Friſt wohlbehalten in der Holländiſchen
Hauptſtadt an, allwo ich von meinen Freunden
gar liebreich empfangen wurde, und mochte es
auch ferner vor ein glücklich Zeichen wol erkennen,
daß zwo Bilder, ſo ich dort zurückgelaſſen, durch
die hülfsbereite Vermittelung meines theueren
[101] Meiſters van der Helſt beide zu anſehnlichen
Preiſen verkaufet waren. Ja, es war deſſen noch
nicht genug: ein mir ſchon früher wohlgewogener
Kaufherr ließ mir ſagen, er habe nur auf mich
gewartet, daß ich für ſein nach dem Haag verheira¬
thetes Töchterlein ſein Bildniß malen möge; und
wurde mir auch ſofort ein reicher Lohn dafür ver¬
ſprochen. Da dachte ich, wenn ich ſolches noch
vollendete, daß dann genug des helfenden Me¬
talles in meinen Händen wäre, um auch ohne
andere Mittel Katharinen in ein wohlbeſtellet
Heimweſen einzuführen.
Machete mich alſo, da mein freundlicher
Gönner deſſelbigen Sinnes war, mit allem Eifer
an die Arbeit, ſo daß ich bald den Tag meiner
Abreiſe gar fröhlich nah und näher rücken ſahe,
unachtend, mit was vor üblen Anſtänden ich
drüben noch zu kämpfen hätte.
Aber des Menſchen Augen ſehen das Dunkel
nicht, das vor ihm iſt. — Als nun das Bild
vollendet war und reichlich Lob und Gold um
deſſen willen mir zu Theil geworden, da konnte
[102] ich nicht fort. Ich hatte in der Arbeit meiner
Schwäche nicht geachtet, die ſchlecht geheilte
Wunde warf mich wiederum danieder. Eben
wurden zum Weihnachtsfeſte auf allen Straßen¬
plätzen die Waffelbuden aufgeſchlagen, da begann
mein Siechthum und hielt mich länger als das
erſte Mal gefeſſelt. Zwar der beſten Arztes¬
kunſt und liebreicher Freundespflege war kein
Mangel, aber in Aengſten ſahe ich Tag um
Tag vergehen, und keine Kunde konnte von ihr,
keine zu ihr kommen.
Endlich nach harter Winterzeit, da der Zuider¬
ſee wieder ſeine grünen Wellen ſchlug, geleiteten
die Freunde mich zum Hafen; aber ſtatt des
frohen Muthes nahm ich itzt ſchwere Herzenſorge
mit an Bord. Doch ging die Reiſe raſch und
gut von Statten.
Von Hamburg aus fuhr ich mit der König¬
lichen Poſt; dann, wie vor nun faſt einem
Jahre hiebevor, wanderte ich zu Fuße durch den
Wald, an dem noch kaum die erſten Spitzen
grüneten. Zwar probten ſchon die Finken und
[103] die Ammern ihren Lenzgeſang; doch was küm¬
merten ſie mich heute! — Ich ging aber nicht
nach Herrn Gerhardus' Herrengut; ſondern, ſo
ſtark mein Herz auch klopfete, ich bog ſeitwärts
ab und ſchritt am Waldesrand entlang dem
Dorfe zu. Da ſtund ich bald in Hans Ottſens
Krug und ihm gar ſelber gegenüber.
Der Alte ſah mich ſeltſam an, meinete aber
dann, ich laſſe ja recht munter. „Nur,“ fügte
er bei, „mit Schießbüchſen müſſet Ihr nicht
wieder ſpielen; die machen ärgere Flecken, als ſo
ein Malerpinſel.“
Ich ließ ihn gern bei ſolcher Meinung, ſo,
wie ich wol merkete, hier allgemein verbreitet
war, und that vor's Erſte eine Frage nach dem
alten Dieterich.
Da mußte ich vernehmen, daß er noch vor
dem erſten Winterſchnee, wie es ſo ſtarken Leuten
wol paſſiret, eines plötzlichen wenn auch gelinden
Todes verfahren ſei. „Der freuet ſich,“ ſagte
Hans Ottſen, „daß er zu ſeinem alten Herrn da
droben kommen; und iſt für ihn auch beſſer ſo.“
„Amen!“ ſagte ich; „mein herzlieber alter
Dieterich!“
Indeß aber mein Herz nur, und immer
banger, nach einer Kundſchaft von Katharinen
ſeufzete, nahm meine furchtſame Zunge einen
Umweg, und ich ſprach beklommen: „Was machet
denn Euer Nachbar, der von Riſch?“
„Oho,“ lachte der Alte; „der hat ein Weib
genommen, und eine, die ihn ſchon zu Nichte
ſetzen wird.“
Nur im erſten Augenblick erſchrak ich; denn
ich ſagte mir ſogleich, daß er nicht ſo von Katha¬
rinen reden würde; und da er dann den Namen
nannte, ſo war's ein ältlich' aber reiches Fräulein
aus der Nachbarſchaft; forſchete alſo muthig
weiter, wie's drüben in Herrn Gerhardus' Haus
beſtellet ſei, und wie das Fräulein und der
Junker mit einander hauſeten.
Da warf der Alte mir wieder ſeine ſeltſamen
Blicke zu. „Ihr meinet wol,“ ſagte er, „daß
alte Thürm' und Mauern nicht auch plaudern
könnten!“
[105]
„Was ſoll's der Rede?“ rief ich; aber ſie
fiel mir centnerſchwer auf's Herz.
„Nun, Herr Johannes,“ und der Alte ſahe
mir gar zuverſichtlich in die Augen, „wo das
Fräulein hinkommen, das werdet doch Ihr am
beſten wiſſen! Ihr ſeid derzeit im Herbſt ja nicht
zum Letzten hier geweſen; nur wundert's mich,
daß Ihr noch einmal wiederkommen; denn Junker
Wulf wird, denk' ich, nicht eben gute Mien' zum
böſen Spiel gemachet haben.“
Ich ſahe den alten Menſchen an, als ſei ich
ſelber hinterſinnig worden; dann aber kam mir
plötzlich ein Gedanke. „Unglücksmann!“ ſchrie
ich! „Ihr glaubet doch nicht etwan, das Fräu¬
lein Katharina ſei mein Eheweib geworden?“
„Nun, laſſet mich nur los!“ entgegnete der
Alte — denn ich ſchüttelte ihn an beiden Schul¬
tern. — „Was geht's mich an! Es geht die
Rede ſo! Auf alle Fäll'; ſeit Neujahr iſt das
Fräulein im Schloß nicht mehr geſehen worden.“
Ich ſchwur ihm zu, derzeit ſei ich in Holland
krank gelegen; ich wiſſe nichts von alle dem.
[106]
Ob er's geglaubet, weiß ich nicht zu ſagen;
allein er gab nur kund, es ſolle dermalen ein
unbekannter Geiſtlicher zur Nachtzeit und in
großer Heimlichkeit auf den Herrenhof gekommen
ſein; zwar habe Bas' Urſel das Geſinde ſchon
zeitig in ihre Kammern getrieben; aber der
Mägde eine, ſo durch den Thürſpalt gelauſchet,
wolle auch mich über den Flur nach der Treppe
haben gehen ſehen; dann ſpäter hätten ſie deut¬
lich einen Wagen aus dem Thorhaus fahren
hören, und ſeien ſeit jener Nacht nur noch
Baſ' Urſel und der Junker in dem Schloß
geweſen.
— — Was ich von nun an Alles und immer
doch vergebens unternommen, um Katharinen
oder auch nur eine Spur von ihr zu finden, das
ſoll nicht hier verzeichnet werden. Im Dorfe
war nur das thörichte Geſchwätz, davon Hans
Ottſen mich die Probe ſchmecken laſſen; darum
machete ich mich auf nach dem Stifte zu Herrn
Gerhardus' Schweſter; aber die Dame wollte mich
nicht vor ſich laſſen; wurde im Uebrigen mir
[107] auch berichtet, daß keinerlei junges Frauenzimmer
bei ihr geſehen worden. Da reiſete ich wieder
zurück und demüthigte mich alſo, daß ich nach
dem Hauſe des von der Riſch ging und als ein
Bittender vor meinen alten Widerſacher hintrat.
Der ſagte höhniſch, es möge wol der Buhz das
Vöglein ſich geholet haben; er habe dem nicht
nachgeſchaut; auch halte er keinen Aufſchlag mehr
mit denen von Herrn Gerhardus' Hofe.
Der Junker Wulf gar, der davon vernommen
haben mochte, ließ nach Hans Ottſens Kruge
ſagen, ſo ich mich unterſtünde, auch zu ihm zu
dringen, er würde mich noch einmal mit den
Hunden hetzen laſſen. — Da bin ich in den Wald
gegangen und hab' gleich einem Strauchdieb am
Weg auf ihn gelauert; die Eiſen ſind von der
Scheide bloß geworden; wir haben gefochten, bis
ich die Hand ihm wund gehauen und ſein Degen
in die Büſche flog. Aber er ſahe mich nur mit
ſeinen böſen Augen an; geſprochen hat er nicht.
— Zuletzt bin ich zu längerem Verbleiben nach
Hamburg kommen, von wo aus ich ohne Anſtand
[108] und mit größerer Umſicht meine Nachforſchungen
zu betreiben dachte.
Es iſt Alles doch umſonſt geweſen.
Aber ich will vor's Erſte nun die Feder
ruhen laſſen. Denn vor mir liegt Dein Brief,
mein lieber Joſias; ich ſoll Dein Töchterlein,
meiner Schweſter ſeel. Enkelin, aus der Taufe
heben. — Ich werde auf meiner Reiſe dem
Walde vorbeifahren, ſo hinter Herrn Gerhardus'
Hof belegen iſt. Aber das Alles gehört ja der
Vergangenheit.
Hier ſchließt das erſte Heft der Handſchrift. —
Hoffen wir, daß der Schreiber ein fröhliches Tauf¬
feſt gefeiert und inmitten ſeiner Freundſchaft an
friſcher Gegenwart ſein Herz erquickt habe!
Meine Augen ruhten auf dem alten Bild mir
gegenüber: ich konnte nicht zweifeln, der ſchöne
ernſte Mann war Herr Gerhardus. Wer aber
war jener todte Knabe, den ihm Meiſter Johannes
[109] hier ſo ſanft in ſeinen Arm gebettet hatte? —
Sinnend nahm ich das zweite und zugleich letzte
Heft, deſſen Schriftzüge um ein Weniges unſicherer
erſchienen. Es lautete, wie folgt:
Der Stein, darauf dieſe Worte eingehauen
ſtehen, ſaß ob dem Thürſims eines alten Hauſes.
Wenn ich daran vorbei ging, mußte ich allezeit
meine Augen dahin wenden, und auf meinen
einſamen Wanderungen iſt dann ſelbiger Spruch
oft lange mein Begleiter blieben. Da ſie im
letzten Herbſte das alte Haus abbrachen, habe
ich aus den Trümmern dieſen Stein erſtanden,
und iſt er heute gleicherweiſe ob der Thüre
meinem Hauſes eingemauert worden, wo er nach
mir noch Manchen, der vorübergeht, an die
Richtigkeit des Irdiſchen erinnern möge. Mir
aber ſoll er eine Mahnung ſein, ehbevor auch
an meiner Uhr der Weiſer ſtille ſteht, mit der
Aufzeichnung meines Lebens fortzufahren. Denn
[110] Du, meiner lieben Schweſter Sohn, der Du nun
bald mein Erbe ſein wirſt, mögeſt mit meinem
kleinen Erdengute dann auch mein Erdenleid da¬
hin nehmen, ſo ich bei meiner Lebzeit Nieman¬
dem, auch, aller Liebe ohnerachtet, Dir nicht habe
anvertrauen mögen.
Item; anno 1666 kam ich zum erſten Mal in
dieſe Stadt an der Nordſee; maaßen von einer
reichen Branntweinbrenner-Wittwen mir der Auf¬
trag worden, die Auferweckung Lazari zu malen,
welches Bild ſie zum ſchuldigen und freundlichen
Gedächtniß ihres Seligen, der hieſigen Kirchen
aber zum Zierrath zu ſtiften gedachte, allwo es
denn auch noch heute über dem Taufſteine mit
den vier Apoſteln zu ſchauen iſt. Daneben
wünſchte auch der Bürgermeiſter, Herr Titus
Axen, ſo früher in Hamburg Thumherr und mir
von dort bekannt war, ſein Contrefey von mir
gemalet, ſo daß ich für eine lange Zeit allhier
zu ſchaffen hatte. — Mein Loſament aber hatte
ich bei meinem einzigen und älteren Bruder, der
ſeit lange ſchon das Sekretariat der Stadt be¬
[111] kleidete; das Haus, darin er als unbeweibter
Mann lebte, war hoch und räumlich, und war
es daſſelbig' Haus mit den zwo Linden an der
Ecken von Markt und Krämerſtraße, worin ich,
nachdem es durch meines lieben Bruders Hin¬
tritt mir angeſtorben, anitzt als alter Mann noch
lebe und der Wiedervereinigung mit den voran¬
gegangenen Lieben in Demuth entgegenharre.
Meine Werkſtätte hatte ich mir in dem großen
Peſel der Wittwe eingerichtet; es war dorten ein
gutes Oberlicht zur Arbeit und bekam Alles ge¬
macht und geſtellet, wie ich es verlangen mochte.
Nur daß die gute Frau ſelber gar zu gegen¬
wärtig war; denn allaugenblicklich kam ſie draußen
von ihrem Schenktiſch zu mir hergetrottet mit
ihren Blechgemäßen in der Hand; drängte mit
ihrer Wohlbeleibtheit mir aus den Malſtock und
roch an meinem Bild herum; gar eines Vor¬
mittages, da ich ſo eben den Kopf des Lazarus
untermalet hatte, verlangte ſie mit viel über¬
flüſſigen Worten, der auferweckte Mann ſolle das
Antlitz ihres Seligen zur Schau ſtellen, obſchon
[112] ich dieſen Seligen doch niemalen zu Geſicht be¬
kommen, von meinem Bruder auch vernommen
hatte, daß ſelbiger, wie es die Brenner pflegen,
das Zeichen ſeines Gewerbes als eine blaurothe
Naſen im Geſicht herumgetragen; da habe ich
denn, wie man glauben mag, dem unvernünftigen
Weibe gar hart den Daumen gegenhalten müſſen.
Als dann von der Außendiele her wieder neue
Kundſchaft nach ihr gerufen und mit den Ge¬
mäßen auf den Schank geklopfet und ſie endlich
von mir laſſen müſſen, da ſank mir die Hand
mit dem Pinſel in den Schooß, und ich mußte
plötzlich des Tages gedenken, da ich eines gar
andern Seligen Antlitz mit dem Stifte nachge¬
bildet, und wer da in der kleinen Kapelle ſo ſtill
bei mir geſtanden ſei. — Und alſo rückwärts
ſinnend ſetzete ich meinen Pinſel wieder an; als
aber ſelbiger eine gute Weile hin und wieder
gegangen, mußte ich zu eigener Verwunderung
gewahren, daß ich die Züge des edlen Herrn
Gerhardus in des Lazari Angeſicht hineingetragen
hatte. Aus ſeinem Lailach blickte des Todten
[113] Antlitz gleichwie in ſtummer Klage gegen mich,
und ich gedachte: ſo wird er dir einſtmals in
der Ewigkeit entgegentreten!
Ich konnte heute nicht weiter malen; ſondern
ging fort und ſchlich auf meine Kammer ober
der Hausthür, allwo ich mich an's Fenſter ſetzte
und durch den Ausſchnitt der Lindenbäume auf
den Markt hinabſah. Es gab aber groß' Gewühl
dort, und war bis drüben an die Rathswage
und weiter bis zur Kirchen Alles voll von Wagen
und Menſchen; denn es war ein Donnerstag und
noch zur Stunde, daß Gaſt mit Gaſte handeln
durfte, alſo daß der Stadtknecht mit dem Griper
müßig auf unſeres Nachbaren Beiſchlag ſaß,
maaßen es vor der Hand keine Brüchen zu er¬
haſchen gab. Die Oſtenfelder Weiber mit ihren
rothen Jacken, die Mädchen von den Inſeln mit
ihren Kopftüchern und feinem Silberſchmuck, da¬
zwiſchen die hochgethürmeten Getreidewagen und
darauf die Bauern in ihren gelben Lederhoſen —
dies Alles mochte wol ein Bild für eines Malers
Auge geben, zumal wenn ſelbiger, wie ich, bei
Storm, Aquis submersus. 8[114] den Holländern in die Schule gegangen war;
aber die Schwere meines Gemüthes machte das
bunte Bild mir trübe. Doch war es keine Reu',
wie ich vorhin an mir erfahren hatte; ein ſeh¬
nend Leid kam immer gewaltiger über mich; es
zerfleiſchete mich mit wilden Krallen und ſah mich
gleichwol mit holden Augen an. Drunten lag
der helle Mittag auf dem wimmelnden Markte;
vor meinen Augen aber dämmerte ſilberne Mond¬
nacht, wie Schatten ſtiegen ein paar Zacken¬
giebel auf, ein Fenſter klirrte, und gleich wie aus
Träumen ſchlugen leis und fern die Nachtigallen.
O du mein Gott und mein Erlöſer, der du die
Barmherzigkeit biſt, wo war ſie in dieſer Stunde,
wo hatte meine Seele ſie zu ſuchen? — —
Da hörete ich draußen unter dem Fenſter von
einer harten Stimme meinen Namen nennen,
und als ich hinausſchaute, erſahe ich einen großen
hageren Mann in der üblichen Tracht eines
Predigers, obſchon ſein herriſch und finſter Antlitz
mit dem ſchwarzen Haupthaar und dem tiefen
Einſchnitt ob der Naſe wol eher einem Kriegs¬
[115] mann angeſtanden wäre. Er wies ſo eben einem
andern, unterſetzten Manne von bäueriſchem
Ausſehen, aber gleich ihm in ſchwarzwollenen
Strümpfen und Schnallenſchuhen, mit ſeinem
Handſtocke nach unſerer Hausthür zu, indem er
ſelbſt zumal durch das Marktgewühle von dannen
ſchritt.
Da ich dann gleich darauf die Thürglocke
ſchellen hörte, ging ich hinab und lud den Frem¬
den in das Wohngemach, wo er von dem Stuhle,
darauf ich ihn genöthigt, mich gar genau und auf¬
merkſam betrachtete.
Alſo war ſelbiger der Küſter aus dem Dorfe
norden der Stadt, und erfuhr ich bald, daß man
dort einen Maler brauche, da man des Paſtors
Bildniß in die Kirche ſtiften wolle. Ich forſchete
ein wenig, was für Verdienſt um die Gemeine
dieſer ſich erworben hätte, daß ſie ſolche Ehr'
ihm anzuthun gedächten, da er doch ſeines Alters
halben noch nicht gar lang im Amte ſtehen
könne; der Küſter aber meinete, es habe der
Paſtor freilich wegen eines Stück Ackergrundes
8 *[116] einmal einen Proceß gegen die Gemeinde ange¬
ſtrenget, ſonſt wiſſe er eben nicht, was Sondres
könne vorgefallen ſein; allein es hingen allbereits
die drei Amtsvorweſer in der Kirchen, und da
ſie, wie er ſagen müſſe, vernommen hätten, ich
verſtünde das Ding gar wohl zu machen, ſo
ſollte der guten Gelegenheit wegen nun auch der
vierte Paſtor mit hinein; dieſer ſelber freilich
kümmere ſich nicht eben viel darum.
Ich hörete dem Allen zu; und da ich mit
meinem Lazarus am liebſten auf eine Zeit pau¬
ſiren mochte, das Bildniß, des Herrn Titus Axen
aber wegen eingetretenen Siechthums deſſelbigen
nicht beginnen konnte, ſo hub ich an, dem Auf¬
trage näher nachzufragen.
Was mir an Preis für ſolche Arbeit nun
geboten wurde, war zwar gering, ſo daß ich
erſtlich dachte: ſie nehmen Dich für einen Pfennig¬
maler, wie ſie im Kriegstroſſe mitziehen, um die
Soldaten für ihre heimgebliebenen Dirnen ab¬
zumalen; aber es muthete mich plötzlich an, auf
eine Zeit allmorgentlich in der goldnen Herbſtes¬
[117] ſonne über die Haide nach dem Dorf hinauszu¬
wandern, das nur eine Wegſtunde von unſerer
Stadt belegen iſt. Sagete alſo zu, nur mit dem
Beding, daß die Malerei draußen auf dem Dorfe
vor ſich ginge, da hier in meines Bruders Hauſe
paßliche Gelegenheit nicht befindlich ſei.
Deß ſchien der Küſter gar vergnügt, meinend,
das ſei Alles hiebevor ſchon fürgeſorget; der
Paſtor hab' ſich ſolches gleichfalls ausbedungen;
item, es ſei dazu die Schulſtube in ſeiner Küſterei
erwählet; ſelbige ſei das zweite Haus im Dorfe
und liege nah am Paſtorate, nur hintenaus durch
die Prieſterkoppel davon geſchieden, ſo daß alſo
auch der Paſtor leicht hinübertreten könne. Die
Kinder, die im Sommer doch nichts lernten,
würden dann nach Haus geſchicket.
Alſo ſchüttelten wir uns die Hände, und da
der Küſter auch die Maaße des Bildes fürſorglich
mitgebracht, ſo konnte alles Malgeräth, deß ich
bedurfte, ſchon Nachmittages mit der Prieſterfuhr
hinausbefördert werden.
Als mein Bruder dann nach Hauſe kam —
[118] erſt ſpät am Nachmittage; denn ein Ehrſamer
Rath hatte dermalen viel Bedrängniß von einer
Schinder-Leichen, ſo die ehrlichen Leute nicht zu
Grabe tragen wollten — meinete er, ich bekäme
da einen Kopf zu malen, wie er nicht oft auf
einem Prieſterkragen ſitze, und möchte mich mit
Schwarz und Braunroth wohl verſehen; erzählete
mir auch, es ſei der Paſtor als Feldcapellan
mit den Brandenburgern hier in's Land gekom¬
men, als welcher er's faſt wilder als die Offiziers
getrieben haben ſolle; ſei übrigens itzt ein ſcharfer
Streiter vor dem Herrn, der ſeine Bauern gar
meiſterlich zu packen wiſſe. — Noch merkete mein
Bruder an, daß bei deſſelbigen Amtseintritt in
unſerer Gegend adelige Fürſprach' eingewirket
haben ſolle, wie es heiße, von drüben aus dem
Holſteiniſchen her; der Archi-Diakonus habe bei
der Kloſterrechnung ein Wörtlein davon fallen
laſſen. War jedoch Weiteres meinem Bruder
darob nicht kund geworden.
[119]
So ſahe mich denn die Morgenſonne des
nächſten Tages rüſtig über die Haide ſchreiten,
und war mir nur leid, daß letztere allbereits ihr
rothes Kleid und ihren Würzeduft verbrauchet
und alſo dieſe Landſchaft ihren ganzen Sommer¬
ſchmuck verloren hatte, denn von grünen Bäumen
war weithin nichts zu erſehen; nur der ſpitze
Kirchthurm des Dorfes, dem ich zuſtrebte — wie
ich bereits erkennen mochte, ganz von Granit¬
quadern auferbauet — ſtieg immer höher vor
mir in den dunkelblauen Oktoberhimmel. Zwiſchen
den ſchwarzen Strohdächern, die an ſeinem Fuße
lagen, krüppelte nur niedrig Buſch- und Baum¬
werk; denn der Nordweſtwind, ſo hier friſch von
der See herauf kommt, will freien Weg zu fahren
haben.
Als ich das Dorf erreichet und auch alsbald
mich nach der Küſterei gefunden, ſtürzete mir ſo¬
fort mit luſtigem Geſchrei die ganze Schul' ent¬
gegen; der Küſter aber hieß an ſeiner Hausthür
mich willkommen. „Merket Ihr wol, wie gern
ſie von der Fibel laufen!“ ſagte er. „Der eine
[120] Bengel hatte Euch ſchon durch's Fenſter kommen
ſehen.“
In dem Prediger, der gleich danach in's Haus
trat, erkannte ich denſelbigen Mann, den ich ſchon
Tags zuvor geſehen hatte. Aber auf ſeine fin¬
ſtere Erſcheinung war heute gleichſam ein Licht
geſetzet; das war ein ſchöner blaſſer Knabe, den
er an der Hand mit ſich führete; das Kind
mochte etwan vier Jahre zählen und ſahe faſt
winzig aus gegen des Mannes hohe knochige
Geſtalt.
Da ich die Bildniſſe der früheren Prediger
zu ſehen wünſchte, ſo gingen wir mitſammen in
die Kirche, welche alſo hoch belegen iſt, daß man
nach den anderen Seiten über Marſchen und
Haide, nach Weſten aber auf den nicht gar fer¬
nen Meeresſtrand hinunterſchauen kann. Es
mußte eben Fluth ſein; denn die Watten waren
überſtrömet und das Meer ſtund wie ein lichtes
Silber. Da ich anmerkete, wie oberhalb deſſelben
die Spitze des Feſtlandes und von der andern
Seite diejenige der Inſel ſich gegen einander
[121] ſtrecketen, wies der Küſter auf die Waſſerfläche,
ſo dazwiſchen liegt. „Dort,“ ſagte er, „hat einſt
meiner Eltern Haus geſtanden; aber anno 34 bei
der großen Fluth trieb es gleich hundert anderen
in den grimmen Waſſern; auf der einen Hälfte
des Daches ward ich an dieſen Strand geworfen,
auf der anderen fuhren Vater und Bruder in
die Ewigkeit hinaus.“
Ich dachte: „So ſtehet die Kirche wol am
rechten Ort; auch ohne den Paſtor wird hier
vernehmentlich Gottes Wort geprediget.“
Der Knabe, welchen Letzterer auf den Arm
genommen hatte, hielt deſſen Nacken mit beiden
Aermchen feſt umſchlungen und drückte die zarte
Wange an das ſchwarze bärtige Geſicht des
Mannes, als finde er ſo den Schutz vor der ihn
ſchreckenden Unendlichkeit, die dort vor unſeren
Augen ausgebreitet lag.
Als wir in das Schiff der Kirche eingetreten
waren, betrachtete ich mir die alten Bildniſſe und
ſahe auch einen Kopf darunter, der wol eines
guten Pinſels werth geweſen wäre; jedennoch
[122] war es Alles eben Pfennigmalerei, und ſollte
demnach der Schüler van der Helſts hier in gar
ſondere Geſellſchaft kommen.
Da ich ſolches eben in meiner Eitelkeit be¬
dachte, ſprach die harte Stimme des Paſtors
neben mir: „Es iſt nicht meines Sinnes, daß
der Schein des Staubes dauere, wenn der Odem
Gottes ihn verlaſſen; aber ich habe der Gemeine
Wunſch nicht widerſtreben mögen; nur, Meiſter,
machet es kurz; ich habe beſſeren Gebrauch für
meine Zeit.“
Nachdem ich dem finſteren Manne, an deſſen
Antlitz ich gleichwol für meine Kunſt Gefallen
fand, meine beſte Bemühung zugeſaget, fragete
ich einem geſchnitzten Bilde der Maria nach,
ſo von meinem Bruder mir war gerühmet
worden.
Ein faſt verachtend Lächeln ging über des
Predigers Angeſicht. „Da kommet Ihr zu ſpät,“
ſagte er, „es ging in Trümmer, da ich's aus der
Kirche ſchaffen ließ.“
Ich ſah ihn faſt erſchrocken an. „Und wolltet
[123] Ihr des Heilands Mutter nicht in Euerer Kirche
dulden?“
„Die Züge von des Heilands Mutter,“ ent¬
gegnete er, „ſind nicht überliefert worden.“
— „Aber wollet Ihr's der Kunſt mißgönnen,
ſie in frommem Sinn zu ſuchen?“
Er ſahe eine Weile finſter auf mich herab;
denn, obſchon ich zu den Kleinen nicht zu zählen,
ſo überragte er mich doch um eines halben Kopfes
Höhe; — dann ſprach er heftig: „Hat nicht der
König die holländiſchen Papiſten dort auf die
zerriſſene Inſel herberufen; nur um durch das
Menſchenwerk der Deiche des Höchſten Straf¬
gericht zu trotzen? Haben nicht noch letztlich die
Kirchenvorſteher drüben in der Stadt ſich zwei
der Heiligen in ihr Geſtühlte ſchnitzen laſſen?
Betet und wachet! Denn auch hier geht Satan
noch von Haus zu Haus! Dieſe Marienbilder
ſind nichts als Säugammen der Sinnenluſt und
des Papismus; die Kunſt hat allezeit mit der
Welt gebuhlt!“
Ein dunkles Feuer glühte in ſeinen Augen,
[124] aber ſeine Hand lag liebkoſend auf dem Kopf des
blaſſen Knaben, der ſich an ſeine Kniee ſchmiegte.
Ich vergaß darob des Paſtors Worte zu er¬
widern; mahnete aber danach, daß wir in die
Küſterei zurückgingen, wo ich alsdann meine edele
Kunſt an ihrem Widerſacher ſelber zu erproben
anhub.
Alſo wanderte ich faſt einen Morgen um den
andern über die Haide nach dem Dorfe, wo ich
allezeit den Paſtor ſchon meiner harrend antraf.
Geredet wurde wenig zwiſchen uns; aber das
Bild nahm deſto raſcheren Fortgang. Gemeiniglich
ſaß der Küſter neben uns und ſchnitzete allerlei
Geräthe gar ſäuberlich aus Eichenholz, dergleichen
als eine Hauskunſt hier überall betrieben wird;
auch habe ich das Käſtlein, woran er derzeit ar¬
beitete, von ihm erſtanden und darin vor
Jahren die erſten Blätter dieſer Niederſchrift
hinterleget, alswie denn auch mit Gotteswillen
dieſe letzten darin ſollen beſchloſſen ſein.
[125]
— In des Predigers Wohnung wurde ich
nicht geladen und betrat ſelbige auch nicht; der
Knabe aber war allzeit mit ihm in der Küſterei;
er ſtand an ſeinen Knieen oder er ſpielte mit
Kieſelſteinchen in der Ecke des Zimmers. Da ich
ſelbigen einmal fragte, wie er heiße, antwortete
er: „Johannes!“ — „Johannes?“ entgegnete ich,
„ſo heiße ich ja auch!“ — Er ſah mich groß an,
ſagte aber weiter nichts.
Weßhalb rühreten dieſe Augen ſo an meine
Seele? — Einmal gar überraſchete mich ein
finſterer Blick des Paſtors, daß ich den Pinſel
müſſig auf der Leinewand ruhen ließ. Es war
etwas in dieſes Kindes Antlitz, das nicht aus
ſeinem kurzen Leben kommen konnte; aber es
war kein froher Zug. So, dachte ich, ſieht ein
Kind, das unter einem kummerſchweren Herzen
ausgewachſen. Ich hätte oft die Arme nach ihm
breiten mögen; aber ich ſcheuete mich vor dem
harten Manne, der es gleich einem Kleinod zu
behüten ſchien. Wol dachte ich oft: „Welch
eine Frau mag dieſes Knaben Mutter ſein?“ —
[126]
Des Küſters alte Magd hatte ich einmal nach
des Predigers Frau befraget; aber ſie hatte mir
kurzen Beſcheid gegeben: „Die kennt man nicht;
in die Bauernhäuſer kommt ſie kaum, wenn
Kindelbier und Hochzeit iſt.“ — Der Paſtor ſelbſt
ſprach nicht von ihr. Aus dem Garten der
Küſterei, welcher in eine dichte Gruppe von Flie¬
derbüſchen ausläuft, ſahe ich ſie einmal langſam
über die Prieſterkoppel nach ihrem Hauſe gehen;
aber ſie hatte mir den Rücken zugewendet, ſo
daß ich nur ihre ſchlanke jugendliche Geſtalt ge¬
wahren konnte, und außerdem ein paar gekräu¬
ſelte Löckchen, in der Art, wie ſie ſonst nur von
den Vornehmeren getragen werden, und die der
Wind von ihren Schläfen wehte. Das Bild
ihres finſteren Ehgeſponſen trat mir vor die
Seele, und mir ſchien, es paſſe dieſes Paar nicht
wohl zuſammen.
— — An den Tagen, wo ich nicht da draußen
war, hatte ich auch die Arbeit an meinem Lazarus
wieder aufgenommen, ſo daß nach einiger Zeit
dieſe Bilder mit einander nahezu vollendet waren.
[127]
So ſaß ich eines Abends nach vollbrachtem
Tagewerke mit meinem Bruder unten in unſerem
Wohngemache. Auf dem Tiſch am Ofen war die
Kerze faſt herabgebrannt und die holländiſche
Schlaguhr hatte ſchon auf Eilf gewarnt; wir
aber ſaßen am Fenſter und hatten der Gegen¬
wart vergeſſen; denn wir gedachten der kurzen
Zeit, die wir mitſammen in unſerer Eltern Haus
verlebet hatten; auch unſeres einzigen lieben
Schweſterleins gedachten wir, das im erſten
Kindbette verſtorben und nun ſeit lange ſchon
mit Vater und Mutter einer fröhlichen Aufer¬
ſtehung entgegenharrete. — Wir hatten die Läden
nicht vorgeſchlagen; denn es that uns wohl,
durch das Dunkel, ſo draußen auf den Erden¬
wohnungen der Stadt lag, in das Sternenlicht
des ewigen Himmels hinaufzublicken.
Am Ende verſtummeten wir Beide in uns
ſelber, und wie aus einem dunklen Strome
trieben meine Gedanken zu ihr, bei der ſie allzeit
Raſt und Unraſt fanden. — — Da, gleich einem
Stern aus unſichtbaren Höhen, fiel es mir jäh¬
[128] lings in die Bruſt: Die Augen des ſchönen
blaſſen Knaben, es waren ja ihre Augen! Wo
hatte ich meine Sinne denn gehabt! — — Aber
dann, wenn ſie es war, wenn ich ſie ſelber ſchon
geſehen! — Welch' ſchreckbare Gedanken ſtürmten
auf mich ein!
Indem legte ſich die eine Hand meines Bru¬
ders mir auf die Schulter, mit der andern wies
er auf den dunkeln Markt hinaus, von wannen
aber itzt ein heller Schein zu uns herüberſchwankte.
„Sieh nur!“ ſagte er. „Wie gut, daß wir das
Pflaſter mit Sand und Haide ausgeſtopfet haben!
Die kommen von des Glockengießers Hochzeit;
aber an ihren Stockleuchten ſieht man, daß ſie
gleichwol hin und wieder ſtolpern.“
Mein Bruder hatte Recht. Die tanzenden
Leuchten zeugeten deutlich von der Trefflichkeit
des Hochzeitſchmauſes; ſie kamen uns ſo nahe,
daß die zwei gemalten Scheiben, ſo letzlich von
meinem Bruder als eines Glaſers Meiſterſtück
erſtanden waren, in ihren ſatten Farben wie in
Feuer glühten. Als aber dann die Geſellſchaft
[129] an unſerem Hauſe laut redend in die Krämer¬
ſtraße einbog, hörete ich Einen unter ihnen ſagen:
„Ei freilich; das hat der Teufel uns verpurret!
Hatte mich leblang darauf geſpitzet, einmal eine
richtige Hex' ſo in der Flammen ſingen zu hören!“
Die Leuchten und die luſtigen Leute gingen
weiter, und draußen die Stadt lag wieder ſtill
und dunkel.
„O weh!“ ſprach mein Bruder; „den trübet,
was mich tröſtet.“
Da fiel es mir erſt wieder bei, daß am näch¬
ſten Morgen die Stadt ein grauſam Spektakul
vor ſich habe. Zwar war die junge Perſon, ſo
wegen einbekannten Bündniſſen mit dem Satan
zu Aſchen ſollte verbrannt werden, am heutigen
Morgen vom Frohne todt in ihrem Kerker auf¬
gefunden worden; aber dem todten Leibe mußte
gleichwol ſein peinlich Recht geſchehen.
Das war nun vielen Leuten gleich einer kalt
geſtellten Suppen. Hatte doch auch die Buch¬
führer-Wittwe Liebernickel, ſo unter dem Thurm
der Kirche den grünen Bücherſchranken hat, mir
Storm, Aquis submersus. 9[130] am Mittage, da ich wegen der Zeitung bei ihr
eingetreten, auf's Heftigſte geklaget, daß nun das
Lied, ſo ſie im Voraus darüber habe anfertigen
und drucken laſſen, nur kaum noch paſſen werde,
wie die Fauſt auf's Auge. Ich aber, und mit
mir mein viel lieber Bruder, hatte ſo meine
eigenen Gedanken von dem Hexenweſen; und
freuete mich, daß unſer Herrgott — denn der
war es doch wol geweſen — das arme junge
Menſch ſo gnädiglich in ſeinen Schooß genom¬
men hatte.
Mein Bruder, welcher weichen Herzens war,
begann gleichwol der Pflichten ſeines Amts ſich
zu beklagen; denn er hatte drüben von der Rath¬
haustreppe das Urthel zu verleſen, ſobald der
Racker den todten Leichnam davor aufgefahren,
und hernach auch der Juſtification ſelber zu aſſi¬
ſtiren. „Es ſchneidet mir ſchon itzund in das
Herz;“ ſagte er, „das greuelhafte Gejohle, wenn
ſie mit dem Karren die Straße herabkommen;
denn die Schulen werden ihre Buben und die
Zunftmeiſter ihre Lehrburſchen loslaſſen. — An
[131] Deiner Statt,“ fügete er bei, „der Du ein freier
Vogel biſt, würde ich auf's Dorf hinausmachen,
und an dem Conterfey des ſchwarzen Paſtors
weiter malen!“
Nun war zwar feſtgeſetzet worden, daß ich
am nächſtfolgenden Tage erſt wieder hinauskäme;
aber mein Bruder redete mir zu, unwiſſend, wie
er die Ungeduld in meinem herzen ſchürete;
und ſo geſchah es, daß Alles ſich erfüllen mußte,
was ich getreulich in dieſen Blättern nieder¬
ſchreiben werde.
Am andern Morgen, als drüben vor meinem
Kammerfenſter nur kaum der Kirchthurmhahn in
rothem Frühlicht blinkte, war ich ſchon von mei¬
nem Lager aufgeſprungen; und bald ſchritt ich
über den Markt, allwo die Bäcker, vieler Käufer
harrend, ihre Brodſchragen ſchon geöffnet hatten;
auch ſahe ich, wie an dem Rathhauſe der Wacht¬
meiſter und die Fußknechte in Bewegung waren,
und hatte Einer bereits einen ſchwarzen Teppich
9 *[132] über das Geländer der großen Treppe aufge¬
hangen; ich aber ging durch den Schwiebbogen,
ſo unter dem Rathhauſe iſt, eilends zur Stadt
hinaus.
Als ich hinter dem Schloßgarten auf dem
Steige war, ſahe ich drüben bei der Lehmkuhle,
wo ſie den neuen Galgen hingeſetzet, einen mäch¬
tigen Holzſtoß aufgeſchichtet. Ein paar Leute
handtirten noch daran herum, und mochten das
der Frohn und ſeine Knechte ſein, die leichten
Brennſtoff zwiſchen die Hölzer thaten; von der
Stadt her aber kamen ſchon die erſten Buben
über die Felder ihnen zugelaufen. — Ich achtete
deß nicht weiter, ſondern wanderte rüſtig fürbaß,
und da ich hinter den Bäumen hervortrat, ſahe
ich mir zur Linken das Meer im erſten Sonnen¬
ſtrahl entbrennen, der im Oſten über die Haide
emporſtieg. Da mußte ich meine Hände falten:
Als ich draußen war, wo die breite Land¬
ſtraße durch die Haide führt, begegneten mir
viele Züge von Bauern; ſie hatten ihre kleinen
Jungen und Dirnen an den Händen und zogen
ſie mit ſich fort.
„Wohin ſtrebet Ihr denn ſo eifrig?“ fragte
ich den einen Haufen; „es iſt ja doch kein Markt¬
tag heute in der Stadt.“
Nun, wie ich's wol zum Voraus wußte, ſie
wollten die Hexe, das junge Satansmenſch, ver¬
brennen ſehen.
— „Aber die Hexe iſt ja todt!“
„Freilich, das iſt ein Verdruß;“ meineten ſie;
„aber es iſt unſerer Hebamme, der alten Mutter
Siebzig, ihre Schweſtertochter; da können wir
nicht außen bleiben und müſſen mit dem Reſte
ſchon fürlieb nehmen.“
— — Und immer neue Schaaren kamen daher;
und itzund taucheten auch ſchon Wagen aus dem
Morgennebel, die ſtatt mit Kornfrucht heut mit
Menſchen vollgeladen waren. — Da ging ich
abſeits über die Haide, obwol noch der Nacht¬
[134] thau von dem Kraute rann; denn mein Gemüth
verlangte nach der Einſamkeit; und ich ſahe von
fern, wie es den Anſchein hatte, das ganze Dorf
des Weges nach der Stadt ziehen. Als ich auf
dem Hünenhügel ſtund, der hier inmitten der
Haide liegt, überfiel es mich, als müſſe auch ich
zur Stadt zurückkehren oder etwan nach links
hinab an die See gehen, oder nach dem kleinen
Dorfe, das dort unten hart am Strande liegt;
aber vor mir in der Luft ſchwebete etwas, wie
ein Glück, wie eine raſende Hoffnung, und es
ſchüttelte mein Gebein, und meine Zähne ſchlugen
aneinander. „Wenn ſie es wirklich war, ſo letzt¬
lich mit meinen eigenen Augen ich erblicket, und
wenn dann heute“ — — Ich fühlte mein Herz
gleich einem Hammer an den Rippen; ich ging
weit um durch die Haide; ich wollte nicht ſehen,
ob auf der Wagen einem auch der Prediger nach
der Stadt fahre. — Aber ich ging dennoch end¬
lich ſeinem Dorfe zu.
Als ich es erreichet hatte, ſchritt ich eilends
nach der Thür des Küſterhauſes. Sie war ver¬
[135] ſchloſſen. Eine Weile ſtund ich unſchlüſſig; dann
hub ich mit der Fauſt zu klopfen an. Drinnen
blieb Alles ruhig; als ich aber ſtärker klopfte,
kam des Küſters alte halbblinde Trienke aus
einem Nachbarhauſe.
„Wo iſt der Küſter?“ fragte ich.
— „Der Küſter? Mit dem Prieſter in die
Stadt gefahren.“
Ich ſtarrete die Alte an; mir war, als ſei
ein Blitz durch mich dahin geſchlagen.
„Fehlet Euch etwas, Herr Maler?“ fragte ſie.
Ich ſchüttelte den Kopf und ſagte nur: „So
iſt wol heute keine Schule, Trienke?“
— „Bewahre! Die Hexe wird ja verbrannt!“
Ich ließ mir von der Alten das Haus auf¬
ſchließen, holte mein Malergeräthe und das faſt
vollendete Bildniß aus des Küſters Schlafkammer
und richtete, wie gewöhnlich, meine Staffelei in
dem leeren Schulzimmer. Ich pinſelte etwas an
der Gewandung; aber ich ſuchte damit nur mich
ſelber zu belügen: ich hatte keinen Sinn zum
[136] Malen; war ja um deſſen willen auch nicht hieher
gekommen.
Die Alte kam hereingelaufen, ſtöhnte über die
arge Zeit und redete über Bauern- und Dorf¬
ſachen, die ich nicht verſtund; mich ſelber drän¬
gete es, ſie wieder einmal nach des Predigers
Frau zu fragen, ob ſelbige alt oder jung, und
auch, woher ſie gekommen ſei; allein ich brachte
das Wort nicht über meine Zungen. Dagegen
begann die Alte ein lang Geſpinnſte von der
Hex' und ihrer Sippſchaft hier im Dorfe und
von der Mutter Siebenzig, ſo mit Vorſpuk-Sehen
behaftet ſei; erzählete auch, wie ſelbige zur Nacht,
da die Gicht dem alten Weibe keine Ruh' ge¬
laſſen, drei Leichlaken über des Paſtors Haus¬
dach habe fliegen ſehen; es gehe aber ſolch'
Geſichte allzeit richtig aus, und Hofart komme
vor dem Falle; denn ſei die Frau Paſtorin bei
aller ihrer Vornehmheit doch nur eine blaſſe und
ſchwächliche Kreatur.
Ich mochte ſolch' Geſchwätz nicht fürder hören;
ging daher aus dem Hauſe und auf dem Wege
[137] herum, da wo das Paſtorat mit ſeiner Fronte
gegen die Dorfſtraße liegt; wandte auch unter
bangem Sehnen meine Augen nach den weißen
Fenſtern, konnte aber hinter den blinden Scheiben
nichts gewahren, als ein paar Blumenſcherben,
wie ſie überall zu ſehen ſind. — Ich hätte nun
wol umkehren mögen; aber ich ging dennoch
weiter. Als ich auf den Kirchhof kam, trug von
der Stadtſeite der Wind ein wimmernd Glocken¬
läuten an mein Ohr; ich aber wandte mich und
blickte hinab nach Weſten, wo wiederum das
Meer wie lichtes Silber am Himmelsſaume hin¬
floß, und war doch ein tobend Unheil dort ge¬
weſen, worin in einer Nacht des Höchſten Hand
viel tauſend Menſchenleben hingeworfen hatte.
Was krümmete denn ich mich ſo gleich einem
Wurme? — Wir ſehen nicht, wie ſeine Wege
führen!
Ich weiß nicht mehr, wohin mich damals
meine Füße noch getragen haben; ich weiß nur,
daß ich in einem Kreis gegangen bin; denn da
die Sonne faſt zur Mittagshöhe war, langete ich
[138] wieder bei der Küſterei an. Ich ging aber nicht
in das Schulzimmer an meine Staffelei, ſondern
durch das Hinterpförtlein wieder zum Hauſe
hinaus. — —
Das ärmliche Gärtlein iſt mir unvergeſſen,
obſchon ſeit jenem Tage meine Augen es nicht
mehr geſehen. — Gleich dem des Predigerhauſes
von der anderen Seite, trat es als ein breiter
Streifen in die Prieſterkoppel; inmitten zwiſchen
beiden aber war eine Gruppe dichter Weiden¬
büſche, welche zur Einfaſſung einer Waſſergrube
dienen mochten; denn ich hatte einmal eine Magd
mit vollem Eimer wie aus einer Tiefe daraus
hervorſteigen ſehen.
Als ich ohne viel Gedanken, nur mein Ge¬
müthe erfüllet von nicht zu zwingender Unraſt,
an des Küſters abgeheimſeten Bohnenbeeten hin¬
ging, hörete ich von der Koppel draußen eine
Frauenſtimme von gar holdem Klang, und wie
ſie liebreich einem Kinde zuſprach.
Unwillens ſchritt ich ſolchem Schalle nach;
ſo mochte einſt der griechiſche Heidengott mit
[139] ſeinem Stabe die Todten nach ſich gezogen haben.
Schon war ich am jenſeitigen Rande des Hollun¬
dergebüſches, das hier ohne Verzäunung in die
Koppel ausläuft, da ſahe ich den kleinen Johan¬
nes mit einem Aermchen voll Moos, wie es
hier in dem kümmerlichen Graſe wächſt, gegen¬
über hinter die Weiden gehen; er mochte ſich
dort damit nach Kinderart ein Gärtchen angeleget
haben. Und wieder kam die holde Stimme an
mein Ohr: „Nun heb nur an; nun haſt du
einen ganzen Haufen! Ja, ja; ich ſuch' derweil
noch mehr; dort am Hollunder wächſt genug!“
Und dann trat ſie ſelber hinter den Weiden
hervor; ich hatte ja längſt ſchon nicht gezweifelt.
— Mit den Augen auf dem Boden ſuchend,
ſchritt ſie zu mir her, ſo daß ich ungeſtöret ſie
betrachten durfte; und mir war, als gliche ſie
nun gar ſeltſam dem Kinde wieder, das ſie einſt
geweſen war, für das ich den „Buhz“ einſt von
dem Baum herabgeſchoſſen hatte; aber dieſes
Kinderantlitz von heute war bleich, und weder
Glück noch Muth darin zu leſen.
[140]
So war ſie mählich näher kommen, ohne
meiner zu gewahren: dann knieete ſie nieder an
einem Streifen Moos, der unter den Büſchen
hinlief; doch ihre Hände pflückten nicht davon;
ſie ließ das Haupt auf ihre Bruſt ſinken, und
es war, als wolle ſie nur ungeſehen vor dem
Kinde in ihrem Leide ausruhen.
Da rief ich leiſe: „Katharina!“
Sie blickte auf; ich aber ergriff ihre Hand
und zog ſie gleich einer Willenloſen zu mir unter
den Schatten der Büſche. Doch als ich ſie end¬
lich alſo nun gefunden hatte und keines Wortes
mächtig vor ihr ſtund, da ſahen ihre Augen weg
von mir, und mit faſt einer fremden Stimme
ſagte ſie: „Es iſt nun einmal ſo, Johannes!
Ich wußte wol, Du ſeieſt der fremde Maler;
ich dachte nur nicht, daß Du heute kommen
würdeſt.“
Ich hörete das, und dann ſprach ich es aus:
„Katharina, — — — ſo biſt Du des Predigers
Eheweib?“
Sie nickte nicht; ſie ſah mich ſtarr und
[141] ſchmerzlich an. „Er hat das Amt dafür bekom¬
men,“ ſagte ſie, „und Dein Kind den ehrlichen
Namen.“
— „Mein Kind, Katharina?“
„Und fühlteſt Du das nicht? Er hat ja doch
auf Deinem Schooß geſeſſen; einmal doch, er
ſelbſt hat es mir erzählet.“
— — Möge keines Menſchen Bruſt ein ſolches
Weh zerfleiſchen! — „Und Du, Du und mein
Kind, Ihr ſolltet mir verloren ſein!“
Sie ſah mich an, ſie weinte nicht, ſie war
nur gänzlich todtenbleich.
„Ich will das nicht!“ ſchrie ich; „ich will“ . . .
Und eine wilde Gedankenjagd raſete mir durch's
Hirn.
Aber ihre kleine Hand hatte gleich einem
kühlen Blatte ſich auf meine Stirn gelegt, und
ihre braunen Augenſterne aus dem blaſſen Antlitz
ſahen mich flehend an. „Du, Johannes,“ ſagte
ſie, „Du wirſt es nicht ſein, der mich noch elender
machen will.“
— „Und kannſt denn Du ſo leben, Katharina?“
[142]„Leben? — — Es iſt ja doch ein Glück dabei;
er liebt das Kind; — was iſt denn mehr noch zu
verlangen?“
— „Und von uns, von dem, was einſt ge¬
weſen iſt, weiß er denn?“ — —
„Nein, nein!“ rief ſie heftig. „Er nahm die
Sünderin zum Weibe: mehr nicht. O Gott, iſt's
denn nicht genug, daß jeder neue Tag ihm angehört!“
In dieſem Augenblicke tönete ein zarter Geſang
zu uns herüber.— „Das Kind,“ ſagte ſie. „Ich muß
zu dem Kinde; es könnte ihm ein Leids geſchehen!“
Aber meine Sinne zieleten nur auf das Weib,
das ſie begehrten. „Bleib doch;“ ſagte ich, „es
ſpielet ja fröhlich dort mit ſeinem Mooſe.“
Sie war an den Rand des Gebüſches getreten
und horchete hinaus. Die goldene Herbſtſonne ſchien
ſo warm hernieder, nur leichter Hauch kam von der
See herauf. Da höreten wir von jenſeit durch
die Weiden das Stimmlein unſeres Kindes ſingen:
Katharina war zurückgetreten und ihre Augen
ſahen groß und geiſterhaft mich an. „Und nun
leb' wohl, Johannes,“ ſprach ſie leiſe; „auf Nim¬
merwiederſehen hier auf Erden!“
Ich wollte ſie an mich reißen; ich ſtreckte
beide Arme nach ihr aus; doch ſie wehrete mich
ab und ſagte ſanft: „Ich bin des anderen Man¬
nes Weib; vergiß das nicht.“
Mich aber hatte auf dieſe Worte ein faſt
wilder Zorn ergriffen. „Und weſſen, Katharina,“
ſprach ich hart, „biſt Du geweſen, ehe bevor Du
ſein geworden?“
Ein weher Klaglaut brach aus ihrer Bruſt:
ſie ſchlug die Hände vor ihr Angeſicht und rief:
„Weh wir! O wehe, mein entweihter armer
Leib!“
Da wurd' ich meiner ſchier unmächtig; ich
riß ſie jäh an meine Bruſt, ich hielt ſie wie mit
Eiſenklammern und hatte ſie endlich, endlich
wieder! Und ihre Augen ſanken in die meinen,
und ihre rothen Lippen duldeten die meinen; wir
umſchlangen uns inbrünſtiglich; ich hätte ſie
[144] ödten mögen, wenn wir alſo miteinander hätten
ſterben können. Und als dann meine Blicke voll
Seligkeit auf ihrem Antlitz weideten, da ſprach
ſie, faſt erſtickt von meinen Küſſen: „Es iſt ein
langes, banges Leben! O, Jeſu Chriſt, vergieb
mir dieſe Stunde!“
— — Es kam eine Antwort; aber es war
die harte Stimme jenes Mannes, aus deſſen
Munde ich itzt zum erſten Male ihren Namen
hörte. Der Ruf kam von drüben aus dem
Predigergarten, und noch einmal und härter rief
es: „Katharina!“
Da war das Glück vorbei; mit einem Blicke
der Verzweiflung ſahe ſie mich an; dann ſtille
wie ein Schatten war ſie fort.
— — Als ich in die Küſterei trat, war auch
ſchon der Küſter wieder da. Er begann ſofort
von der Juſtification der armen Hexe auf mich
einzureden „Ihr haltet wol nicht viel davon;“
ſagte er; „ſonſt wäret Ihr heute nicht auf's
Dorf gegangen, wo der Herr Paſtor gar die
Bauern und ihre Weiber in die Stadt getrieben.“
Ich hatte nicht die Zeit zur Antwort; ein
gellender Schrei durchſchnitt die Luſt; ich werde
ihn leblang in den Ohren haben.
„Was war das Küſter?“ rief ich.
Der Mann riß ein Fenſter auf und horchete
hinaus; aber es geſchah nichts weiter. „So mir
Gott,“ ſagte er, „es war ein Weib, das ſo ge¬
ſchrieen hat; und drüben von der Prieſterkoppel
kam's.“
Indem war auch die alte Trienke in die
Thür gekommen. „Nun, Herr?“ rief ſie mir zu.
„Die Leichlaken ſind auf des Paſtors Dach ge¬
fallen!“
— „Was ſoll das heißen, Trienke?“
„Das ſoll heißen, daß ſie des Paſtors kleinen
Johannes ſo eben aus dem Waſſer ziehen.“
Ich ſtürzete aus dem Zimmer und durch den
Garten auf die Prieſterkoppel; aber unter den
Weiden fand ich nur das dunkle Waſſer und
Spuren feuchten Schlammes daneben auf dem
Graſe. — Ich bedachte mich nicht, es war ganz
wie von ſelber, daß ich durch das weiße Pförtchen
Storm, Aquis submersus. 10[146] in des Paſtors Garten ging. Da ich eben in's
Haus wollte, trat er ſelber mir entgegen.
Der große knochige Mann ſah gar wüſte aus;
ſeine Augen waren geröthet und das ſchwarze
Haar hing wirr ihm in's Geſicht. „Was wollt
Ihr?“ ſagte er.
Ich ſtarrete ihn an; denn mir fehlete das
Wort. Was wollte ich denn eigentlich?
„Ich kenne Euch!“ fuhr er fort. „Das Weib
hat endlich Alles ausgeredet.“
Das machte mir die Zunge frei. „Wo iſt
mein Kind?“ rief ich.
Er ſagte: „Die beiden Eltern haben es er¬
trinken laſſen.“
— „So laßt mich zu meinem todten Kinde!“
Allein, da ich an ihm vorbei in den Hausflur
wollte, drängete er mich zurück. „Das Weib,“
ſprach er, „liegt bei dem Leichnam und ſchreit zu
Gott aus ihren Sünden. Ihr ſollt nicht hin,
um ihrer armen Seelen Seligkeit!“
Was dermalen ſelber ich geſprochen, iſt mir
ſchier vergeſſen; aber des Predigers Worte gruben
[147] ſich in mein Gedächtniß. „Höret mich!“ ſprach
er. „So von Herzen ich Euch haſſe, wofür der¬
einſt mich Gott in ſeiner Gnade wolle büßen
laſſen, und Ihr vermuthendlich auch mich, —
noch iſt Eines uns gemeinſam. — Geht itzo heim
und bereitet eine Tafel oder Leinewand! Mit
ſolcher kommet morgen in der Frühe wieder und
malet darauf des todten Knaben Antlitz. Nicht
mir oder meinem Hauſe; der Kirchen hier, wo
er ſein kurz unſchuldig Leben ausgelebet, möget
Ihr das Bildniß ſtiften. Mög' es dort die
Menſchen mahnen, daß vor der knöchern' Hand
des Todes Alles Staub iſt!“
Ich blickte auf den Mann, der kurz vordem
die edle Malerkunſt ein Buhlweib mit der Welt
geſcholten; aber ich ſagte zu, daß Alles ſo ge¬
ſchehen möge.
— — Daheim indeſſen wartete meiner eine
Kunde, ſo meines Lebens Schuld und Buße gleich
einem Blitze jählings aus dem Dunkel hob, ſo
daß ich Glied um Glied die ganze Kette vor
mir leuchten ſahe.
[148]
Mein Bruder, deſſen ſchwache Conſtitution
von dem abſcheulichen Spectakul, dem er heute
aſſiſtiren müſſen, hart ergriffen war, hatte ſein
Bette aufgeſucht. Da ich zu ihm eintrat, richtete
er ſich auf. „Ich muß noch eine Weile ruhen;“
ſagte er, indem er ein Blatt der Wochenzeitung
in meine Hand gab: „aber lies doch dieſes! Da
wirſt Du ſehen, daß Herrn Gerhardus' Hof in
fremde Hände kommen, maaßen Junker Wulf
ohn' Weib und Kind durch eines tollen Hundes
Biß gar jämmerlichen Todes verfahren iſt.“
Ich griff nach dem Blatte, das mein Bruder
mir entgegenhielt; aber es fehlte nicht viel, daß
ich getaumelt wäre. Mir war's bei dieſer
Schreckenspoſt, als ſprängen des Paradieſes
Pforten vor mir auf; aber ſchon ſahe ich am
Eingange den Engel mit dem Feuerſchwerdte
ſtehen, und aus meinem Herzen ſchrie es wieder:
O Hüter, Hüter, war Dein Ruf ſo fern! — —
Dieſer Tod hätte uns das Leben werden können;
nun war's nur ein Entſetzen zu den andern.
Ich ſaß oben auf meiner Kammer. Es wurde
[149] Dämmerung, es wurde Nacht; ich ſchaute in die
ewigen Geſtirne, und endlich ſuchte auch ich mein
Lager. Aber die Erquickung des Schlafes ward
mir nicht zu Theil. In meinen erregten Sinnen
war es mir gar ſeltſamlich, als ſei der Kirch¬
thurm drüben meinem Fenſter nah gerückt; ich
fühlte die Glockenſchläge durch das Holz der
Bettſtatt dröhnen, und ich zählete ſie alle die
ganze Nacht entlang. Doch endlich dämmerte
der Morgen. Die Balken an der Decke hingen
noch wie Schatten über mir, da ſprang ich auf,
und ehbevor die erſte Lerche aus den Stoppel¬
feldern ſtieg, hatte ich allbereits die Stadt im
Rücken.
Aber ſo frühe ich auch ausgegangen, ich traf
den Prediger ſchon auf der Schwelle ſeines
Hauſes ſtehen. Er geleitete mich auf den Flur
und ſagte, daß die Holztafel richtig angelanget,
auch meine Staffelei und ſonſtiges Malergeräth
aus dem Küſterhauſe herübergeſchaffet ſei. Dann
legte er ſeine Hand auf die Klinke einer Stuben¬
thür.
[150]
Ich jedoch hielt ihn zurück und ſagte: „Wenn
es in dieſem Zimmer iſt, ſo wollet mir vergönnen,
bei meinem ſchweren Werk allein zu ſein!“
„Es wird Euch Niemand ſtören;“ entgegnete
er und zog die Hand zurück. „Was Ihr zur
Stärkung Eures Leibes bedürfet, werdet Ihr
drüben in jenem Zimmer finden.“ Er wies auf
eine Thür an der anderen Seite des Flures;
dann verließ er mich.
Meine Hand lag itzund ſtatt der des Predigers
auf der Klinke. Es war todtenſtill im Hauſe;
eine Weile mußte ich mich ſammeln, bevor ich
öffnete.
Es war ein großes, faſt leeres Gemach, wol
für den Confirmanden-Unterricht beſtimmt, mit
kahlen weißgetünchten Wänden; die Fenſter ſahen
über öde Felder nach dem fernen Strand hinaus.
Inmitten des Zimmers aber ſtund ein weißes
Lager aufgebahret. Auf dem Kiſſen lag ein
bleiches Kinderangeſicht; die Augen zu; die klei¬
nen Zähne ſchimmerten gleich Perlen aus den
blaſſen Lippen.
[151]
Ich fiel an meines Kindes Leiche nieder und
ſprach ein brünſtiglich Gebet. Dann rüſtete ich
Alles, wie es zu der Arbeit nöthig war; und
dann malte ich; — raſch, wie man die Todten
malen muß, die nicht zum zweiten Mal daſſelbig'
Antlitz zeigen. Mitunter wurd' ich wie von der
andauernden großen Stille aufgeſchrecket; doch
wenn ich inne hielt und horchte, ſo wußte ich
bald, es ſei nichts dageweſen. Einmal auch war
es, als drängen leiſe Odemzüge an mein Ohr. —
Ich trat an das Bette des Todten, aber da ich
mich zu dem bleichen Mündlein niederbeugete,
berührte nur die Todeskälte meine Wangen.
Ich ſahe um mich; es war noch eine Thür
im Zimmer; ſie mochte zu einer Schlafkammer
führen, vielleicht daß es von dort gekommen war!
Allein ſo ſcharf ich lauſchte, ich vernahm nichts
wieder; meine eigenen Sinne hatten wol ein
Spiel mit mir getrieben.
So ſetzete ich mich denn wieder, ſahe auf den
kleinen Leichnam und malete weiter; und da ich
die leeren Händchen anſahe, wie ſie auf dem
[152] Linnen lagen, ſo dachte ich: „Ein klein Geſchenk
doch mußt du deinem Kinde geben!“ Und ich
malete auf ſeinem Bildniß ihm eine weiße Waſſer-
Lilie in die Hand, als ſei es ſpielend damit ein¬
geſchlafen. Solcher Art Blumen gab es ſelten
in der Gegend hier, und mocht es alſo ein er¬
wünchet Angebinde ſein.
Endlich trieb mich der Hunger von der Arbeit
auf, mein ermüdeter Leib verlangte Stärkung.
Legete ſonach den Pinſel und die Palette fort
und ging über den Flur nach dem Zimmer, ſo
der Prediger mir angewieſen hatte. Indem ich
aber eintrat, wäre ich vor Ueberraſchung bald
zurückgewichen; denn Katharina ſtund mir gegen¬
über, zwar in ſchwarzen Trauerkleidern, und doch
in all' dem Zauberſchein, ſo Glück und Liebe in
eines Weibes Antlitz wirken mögen.
Ach, ich wußte es nur zu bald; was ich hier
ſahe, war nur ihr Bildniß, das ich ſelber einſt
gemalet. Auch für dieſes war alſo nicht mehr
Raum in ihres Vaters Haus geweſen. — Aber
wo war ſie ſelber denn? Hatte man ſie fort¬
[153] gebracht oder hielt man ſie auch hier gefangen?
— Lang, gar lange ſahe ich das Bildniß an;
die alte Zeit ſtieg auf und quälete mein Herz.
Endlich, da ich mußte, brach ich einen Biſſen
Brod und ſtürzete ein paar Gläſer Wein hinab;
dann ging ich zurück zu unſerem todten Kinde.
Als ich drüben eingetreten und mich an die
Arbeit ſetzen wollte, zeigete es ſich, daß in dem
kleinen Angeſicht die Augenlider um ein Weniges
ſich gehoben hatten. Da bückete ich mich hinab,
im Wahne, ich möchte noch einmal meines Kindes
Blick gewinnen; als aber die kalten Augenſterne
vor mir lagen, überlief mich Grauſen; mir war,
als ſähe ich die Augen jener Ahne des Geſchlech¬
tes, als wollten ſie noch hier aus unſeres Kindes
Leichenantlitz künden: „Mein Fluch hat doch
Euch Beide eingeholet!“ — Aber zugleich — ich
hätte es um alle Welt nicht laſſen können —
umfing ich mit beiden Armen den kleinen blaſſen
Leichnam und hob ihn auf an meine Bruſt und
herzete unter bitteren Thränen zum erſten Male
mein geliebtes Kind. „Nein, nein, mein armer
[154] Knabe, Deine Seele, die gar den finſtern Mann
zur Liebe zwang, die blickte nicht aus ſolchen
Augen; was hier herausſchaut, iſt alleine noch
der Tod. Nicht aus der Tiefe ſchreckbarer Ver¬
gangenheit iſt es heraufgekommen; nichts Anderes
iſt da, als Deines Vaters Schuld; ſie hat uns
alle in die ſchwarze Fluth hinabgeriſſen.“
Sorgſam legte ich dann wieder mein Kind in
ſeine Kiſſen und drückte ihm ſanft die beiden
Augen zu. Dann tauchete ich meinen Pinſel in
ein dunkles Roth und ſchrieb unten in den
Schatten des Bildes die Buchſtaben: C. P. A. S.
Das ſollte heißen: Culpa Patris Aquis Submer¬
sus, „Durch Vaters Schuld in der Fluth ver¬
ſunken.“ — Und mit dem Schalle dieſer Worte
in meinem Ohre, die wie ein ſchneidend Schwert
durch meine Seele fuhren, malete ich das Bild
zu Ende.
Während meiner Arbeit hatte wiederum die
Stille im Hauſe fortgedauert, nur in der letzten
Stunde war abermalen durch die Thür, hinter
welcher ich eine Schlafkammer vermuthet hatte,
[155] ein leiſes Geräuſch hereingedrungen. — War
Katharina dort, um ungeſehen bei meinem
ſchweren Werk mir nah zu ſein? — Ich konnte
es nicht enträthſeln.
Es war ſchon ſpät. Mein Bild war fertig,
und ich wollte mich zum Gehen wenden; aber
mir war, als müſſe ich noch einen Abſchied
nehmen, ohne den ich nicht von hinnen könne. —
So ſtand ich zögernd und ſchaute durch das
Fenſter auf die öden Felder draußen, wo ſchon
die Dämmerung begunnte ſich zu breiten; da
öffnete ſich vom Flure her die Thür, und der
Prediger trat zu mir herein.
Er grüßte ſchweigend; dann mit gefalteten
Händen blieb er ſtehen und betrachtete wechſelnd
das Antlitz auf dem Bilde und das des kleinen
Leichnams vor ihm, als ob er ſorgſame Ver¬
gleichung halte. Als aber ſeine Augen auf die
Lilie in der gemalten Hand des Kindes fielen,
hub er wie im Schmerze ſeine beiden Hände auf,
und ich ſahe, wie ſeinen Augen jählings ein
reicher Thränenquell entſtürzete.
[156]
Da ſtreckte auch ich meine Arme nach dem
Todten und rief überlaut: „Lebwohl, mein Kind!
O mein Johannes, lebewohl!“
Doch in demſelben Augenblicke vernahm ich
leiſe Schritte in der Nebenkammer; es taſtete wie
mit kleinen Händen an der Thür; ich hörte
deutlich meinen Namen rufen — oder war es
der des todten Kindes? — Dann rauſchte es wie
von Frauenkleidern hinter der Thüre nieder, und
das Geräuſch vom Falle eines Körpers wurde
hörbar.
„Katharina!“ rief ich. Und ſchon war ich
hinzugeſprungen und rüttelte an der Klinke der
feſtverſchloſſenen Thür; da legte die Hand des
Paſtors ſich auf meinen Arm. „Das iſt meines
Amtes!“ ſagte er. „Gehet itzo! Aber gehet in
Frieden; und möge Gott uns allen gnädig ſein!“
— — Ich bin dann wirklich fortgegangen;
ehe ich es ſelbſt begriff, wanderte ich ſchon draußen
auf der Haide auf dem Weg zur Stadt.
Noch einmal wandte ich mich um und ſchaute
nach dem Dorf zurück, das nur noch wie Schatten
[157] aus dem Abenddunkel ragte. Dort lag mein
todtes Kind — Katharina — Alles, Alles! —
Meine alte Wunde brannte mir in meiner
Bruſt; und ſeltſam, was ich niemals hier ver¬
nommen, ich wurde plötzlich mir bewußt, daß
ich vom fernen Strand die Brandung toſen
hörete. Kein Menſch begegnete mir, keines
Vogels Ruf vernahm ich; aber aus dem dumpfen
Brauſen des Meeres tönete es mir immerfort,
gleich einem finſteren Wiegenliede: Aquis sub¬
mersus — aquis submersus!
— — — — — — — — — — — — — —
Hier endete die Handſchrift.
Deſſen Herr Johannes ſich einſtens im Voll¬
gefühle ſeiner Kraft vermeſſen, daß er's wol
auch einmal in ſeiner Kunſt den Größeren gleich
zu thun verhoffe, das ſollten Worte bleiben, in
die leere Luft geſprochen.
Sein Name gehört nicht zu denen, die ge¬
nannt werden, kaum dürfte er in einem Künſtler¬
lexikon zu finden ſein; ja ſelbſt in ſeiner engeren
Heimath weiß Niemand von einem Maler ſeines
[158] Namens. Des großen Lazarus-Bildes thut zwar
noch die Chronik unſerer Stadt Erwähnung,
das Bild ſelbſt aber iſt zu Anfang dieſes Jahr¬
hunderts nach dem Abbruch unſerer alten Kirche
gleich den anderen Kunſtſchätzen derſelben ver¬
ſchleudert und verſchwunden.
Aquis submersus.
Appendix A
Pierer'ſche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
Appendix B
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Storm, Theodor. Aquis submersus. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnnj.0