[][][][][][][[I]]
Geiſt des römiſchen Rechts
auf den
verſchiedenen Stufen ſeiner Entwicklung
.


Zweiter Theil.
Zweite Abtheilung
.

Leipzig,:
Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel.
1858.

[[II]][[III]]

Vorrede.


Meine in der Vorrede zu der erſten Abtheilung des zweiten
Bandes ausgeſprochene Hoffnung, in Jahresfriſt die zweite
Abtheilung und mit ihr den Schluß des zweiten Syſtems
bringen zu können, hat leider in dem Maße Schiffbruch gelitten,
daß ich ſelbſt jetzt noch mich nur mit einer Stückzahlung begnü-
gen muß; mit der gegenwärtigen Abtheilung iſt der zweite
Band, das zweite Syſtem wird aber erſt mit dem dritten
Bande geſchloſſen ſein.


Der Druck der bisherigen Abtheilung hat bereits vor mehr
als drittehalb Jahren begonnen — ein Umſtand, der mich
gegenüber der laufenden Literatur in eine üble, je länger, je
mehr ſich ſteigernde üble Poſition verſetzt hat. Könnte ich noch
daran zweifeln, daß das Beſte von dem, was wir zu finden
glauben und das unſrige nennen, in der Atmoſphäre ſchwebt
— eine reife Frucht am Baume der Zeit, die wir nur brechen,
nicht erzeugen — die Bemerkung daß manche von den in der
gegenwärtigen Abtheilung ausgeſprochenen Ideen, die ich zur
Zeit des Drucks noch in jenem Sinne meine eignen glaubte
nennen zu dürfen, ſeitdem auch in andern Schriften auftau-
chen, würde genügen meine Zweifel zu heben.


Mögen diejenigen Schriftſteller, die ſich mir gegenüber in
dieſer Lage zu befinden glauben, in dieſem Umſtand die Erklä-
rung ſuchen, warum ſie an den betreffenden Stellen meines
[IV]Vorrede.
Buchs nicht genannt ſind; *) ich habe ſonſt überall, wo ich
Ideen, die nicht bereits Gemeingut geworden ſind, bewußter
Weiſe von Andern entlehnt habe, das fremde Eigenthum ge-
wiſſenhaft reſpectirt.


Die gegenwärtige Abtheilung bricht mitten in der römiſchen
Technik ab, aber das Hauptſtück derſelben: das Haften an der
Aeußerlichkeit, iſt wenigſtens innerlich und äußerlich abge-
ſchloſſen. Was mir jetzt noch bleibt, iſt vor allem die Schil-
derung der analytiſchen Methode der ältern Jurisprudenz.
Wann der dritte Band erſcheinen wird, darüber will ich,
gewitzigt durch meine bisherige Erfahrungen, keinerlei Zuſiche-
rung ertheilen. Je länger ich an meinem Werke arbeite, deſto
mehr überzeuge ich mich, daß die Ergiebigkeit eines Stoffs und
die Länge der Zeit, die er mich muthmaßlich in Anſpruch neh-
men wird, ſich im Voraus gar nicht berechnen laſſen. Die
Ausarbeitung für den Druck hat mir faſt immer an einem Ge-
genſtand, der mich ſeit Jahren beſchäftigt hatte, die eine oder
andere neue Seite und zugleich Schwierigkeiten erſchloſſen, die
ich früher kaum geahnt hatte. Ein ſolches Thema, wie das
meinige, läßt ſich nie erſchöpfen, und hätte ich nicht in richtiger
Erkenntniß davon mir zum Grundſatz gemacht, einen fertig
gewordenen Paragraphen ſofort in die Druckerei zu ſenden, ich
würde auch bei aller Arbeit nie mit demſelben fertig geworden
ſein. Ich habe in der Vorrede zum erſten Bande den „Geiſt des
[V]Vorrede.
Römiſchen Rechts“ als meinen Quälgeiſt bezeichnet. Hinter der
burlesken Form ſteckte mehr Ernſt, als Manche dahinter finden
mögen. Ich glaube, daß es keine wiſſenſchaftliche Aufgabe gibt,
die demjenigen, der es ernſt mit ihr meint, mehr Qualen be-
reitet, ihn mehr aufreibt und an ihm zehrt, als eine derartige,
wie es die meinige iſt, d. h. eine Aufgabe geſchichtsphilo-
ſophiſcher Art. Ich meine nicht etwa die Schwierigkeiten der
Abſtraction, nicht jenes unbehagliche, demüthigende Gefühl, das
ſie hinterlaſſen, auch bei angeſtrengteſter Arbeit nie ihrer Herr
geworden zu ſein, ſtets etwas in der Sache zurücklaſſen zu
müſſen, das man ahnt, aber nicht finden kann. Ich meine
etwas anderes. Einmal zunächſt die Gefahr des Abweges zur
Oberflächlichkeit, Seichtigkeit, geiſtreichen Nichtsſagerei. Sie
liegt nicht etwa in dem Subject, ſondern in der Aufgabe ſelbſt.
Sie iſt es, die gründlichen und vorſichtigen Naturen ſo häufig
eine Abneigung gegen die Aufgabe ſelbſt einflößt und ſie mit
gerechtem Mißtrauen gegen die von keckeren Naturen unter-
nommenen Löſungsverſuche erfüllt. Und in der That! es ſind
nicht immer die Beſten, welche ſich ihr zuwenden. Welche
Schaar hat ſich unter dem Banner verſammelt, das ich an-
geblich zuerſt aufgeſteckt haben ſoll, welche Phraſen, welche
Seifenblaſen, welche ſchiefen, in ihrer eignen Unwahrheit und
Abſurdität ſich vernichtenden Anſchauungen und Offenbarungen
hat man uns aufgetiſcht! Auf dieſem Felde glaubte man am mühe-
loſeſten Lorbeern erringen zu können, zu ärndten, wo Andere gear-
beitet, ihren auf dem Wege mühſamer Forſchung gewonnenen
Reſultaten nur eine bunte Jacke anziehen zu brauchen, um ſie zu
den ſeinigen zu machen. Jene Lorbeern ſind aber ſchnell ver-
welkt, und ſoweit die meinigen in ähnlicher Weiſe erworben
ſind, wünſche ich daſſelbe auch von ihnen. Ich darf von mir
behaupten, daß mich nicht die Flucht vor ernſter Arbeit jener
[VI]Vorrede.
Aufgabe in die Arme geführt hat; ich habe in ihr mehr Arbeit
erwartet und gefunden, als mir irgend ein concreterer Stoff in
Ausſicht geſtellt hätte. Eben darum aber iſt mir der Unfug,
den man mit der Sache getrieben, die Frivolität und Seichtig-
keit, die dabei zu Tage getreten, in innerſter Seele verhaßt,
und ſchon lange ſuchte ich nach der Gelegenheit, die mir jetzt
erſt zu Theil wird, meinem Urtheil einen öffentlichen Ausdruck
zu geben. Ich fürchte nicht, daß ich mir damit ſelbſt das Urtheil
ſpreche. Daß nicht auch ich der Verſuchung des Conſtruirens
und gewagten Combinirens öfters unterlegen ſein ſollte, wie
könnte ich es mir verhehlen? Gehe Einer hin und verſuche
es —, ob er frei davon bleibt! Aber weſſen ich mir bewußt
bin und weſſen ich leider gezwungen bin mich zu rühmen, iſt
die Liebe zu meiner Aufgabe und der Fleiß und Ernſt, die einmal
die untrennbaren Begleiter der Liebe ſind. In dieſem Bewußtſein
fühle ich mich ſtark genug, das Urtheil über mich heraus zu
fordern und auf Schonung zu verzichten. Aber andererſeits er-
hebe ich auch den Anſpruch, mich nach mir ſelbſt zu beurtheilen und
mir nicht Verirrungen Anderer zur Laſt zu legen, über die mein
Urtheil nicht anders lautet, als das aller Verſtändigen.


Daß ich an meinen Richter den Anſpruch erhebe, mein
Buch zu leſen, könnte als ein Hohn klingen. Leider hat es
ſeinen triftigen Grund. Ob der bloße Titel meines Buchs in
den Augen Mancher ſchon ausreichend iſt, um ihm ungeleſen
das Verdammungsurtheil zu ſprechen? — kurzum Walter in
Bonn hat ſich nicht entblödet dies über ſich zu gewinnen. Sein
Durchzug durch ſämmtliche Disciplinen der Jurisprudenz führte
ihn auch auf die Encyclopädie, und wir verdanken dieſer Gele-
genheit das lehrreiche und erbauliche Schauſpiel, einen Mann,
der auf concret hiſtoriſchem Gebiet ſich immer mit Geſchick und
Vorſicht bewegt hat, auf dem philoſophiſchen Seile mit der
[VII]Vorrede.
Balancirſtange in der Hand ſich abmühen zu ſehen. Neben den
ſonſtigen auf ein philoſophiſch unmündiges Publicum berech-
neten Productionen ergeht er ſich auch über die Philoſophie des
poſitiven Rechts (§. 48) und gibt bei dieſer Gelegenheit ver-
ſchiedene „Cautelen“, wie Thomaſius ſie nennen würde, zur
„umſichtigen und fürtrefflichen Herſtellung“ einer ſolchen. Die
dritte lautet dahin, daß man ſich „bei der Charakteriſtik deſſen,
was man den Geiſt eines Rechts nennt, vor einer zu vagen
Allgemeinheit hüten müſſe. Das Recht eines Volks ſei, wie
das Volk ſelbſt, aus ſo vielen geiſtigen Elementen zuſammen-
geſetzt, es herrſche ſo ſehr in den Inſtituten bald das eine, bald
das andere Element vor, daß ein für alle gelten ſollender Cha-
rakterzug, zumahl wenn noch die Färbung einer philoſophiſchen
Schule hinzukomme, nur zu leicht auf unwahre und unfrucht-
bare Redensarten hinauslaufe.“ In der Note wird neben
Anderen dann auch mir die Ehre zu Theil, als abſchreckendes
Beiſpiel zu figuriren, und zwar ſoll ich als Charakter des
römiſchen Rechts die Subjectivität, als die des deutſchen die
Objectivität hingeſtellt haben, während Schmidt (Unterſchied
zwiſchen dem röm. u. german. Recht) denſelben gerade entgegen-
geſetzt beſtimme. Daß der letztere Schriftſteller mit aller ſeiner
Mühe, die er ſich gegeben, dem deutſchen Recht die Objecti-
vität, dem römiſchen die Subjectivität zu vindiciren — eine
Formel, die ſich in jedem Paragraphen des Buchs wiederholt
— ſo wenig ausgerichtet hat, daß gerade er ſich als Zeugen
für das Gegentheil aufführen laſſen muß, — nun, das würde
in Betracht kommen, wenn es ſich fragte, ob Walter, ich will
nicht ſagen, das Schmidtſche Buch geleſen, ſondern nur
einen Blick hineingethan habe. Für mich handelt es ſich nur
um mein Buch. Und darüber fordere ich jeden Leſer zum
Richter auf. Wo habe ich den Verſuch gemacht den principiellen
[VIII]Vorrede.
Gegenſatz zwiſchen römiſchem und deutſchem Recht zu beſtimmen
oder gar auf die mir untergelegte Formel (die Schmidtſche,
gegen die ich Bd. 2 S. 125 ſelbſt Proteſt erhoben habe) zurück-
zuführen? Wo habe ich von einer Objectivität des deutſchen
Rechts geſprochen? Wo das römiſche über den kahlen und dürren
Leiſten der Subjectivität geſchlagen? Ich meine, mein ganzes
Buch liefert den ſchlagenden Gegenbeweis gegen die Möglich-
keit, den Charakter eines Rechts auf eine Formel zurückzu-
führen. Doch, warum ſoll ich mich über Walter beklagen? Wie
könnte ich mehr verlangen, als die alten Schriftſteller, deren
Citate nicht ſelten falſch, alſo ungeleſen aus der Zimmern-
ſchen Rechtsgeſchichte in die Walterſche übergegangen ſind?
Nur den Rath will ich dieſem Gelehrten nicht vorenthalten:
will er wiederum über Bücher urtheilen, ohne ſie geleſen zu
haben, ſo verdecke er es durch das, was mir in ſeinen Augen
zum Schaden gereicht haben ſoll: „vage Allgemeinheit.“


In der Vorrede zu ſeiner römiſchen Rechtsgeſchichte hat Ru-
dorff
Aeußerungen gethan, die auch auf mich bezogen worden
ſind. Er ſpricht hier von einer neuern Richtung, die ſich durch
ihre „excluſive Verfolgung der allgemeinſten Rechtsanſchauun-
gen, bedenkliche Unterſchätzung treuer Erforſchung auch des
ſcheinbar Geringfügigen, Verſuche neuer Methoden und durch
eine der niedern Naturwiſſenſchaft entlehnte Terminologie“ cha-
rakteriſire. In der Verdammung dieſer Richtung ſtimme ich ganz
mit ihm überein, um ſo mehr aber habe ich Anlaß dagegen zu
proteſtiren, daß man mich ihr zuzähle.


Meine Anſicht über allgemeine Geſichtspunkte kann ich mit
einem Worte wiedergeben: ich betrachte ſie als Schlüſſel zum
Verſtändniß des Einzelnen. Für den, der ſich nicht im Beſitz
des Einzelnen befindet, iſt der Schlüſſel ohne allen Werth, und
ich könnte mir nichts Verkehrteres denken, als den akademiſchen
[IX]Vorrede.
Vortrag der Rechtsgeſchichte ſtatt auf die Erlernung des Ein-
zelnen auf allgemeine Geſichtspunkte zu ſtellen. Es hieße die
ſtudirende Jugend ſyſtematiſch zur Oberflächlichkeit und Un-
gründlichkeit zu erziehen, ihr anſtatt eines wirklichen Beſitzthums
Nachſchlüſſel in die Hände zu geben, abſtracte Dieteriche, mit
denen ſie mehr verdrehen, als öffnen würden.


Alſo: der Werth der allgemeinen Geſichtspunkte beſtimmt
ſich ſowohl für den Einzelnen als die Wiſſenſchaft nach dem
Concreten, das ſie erſchließen. Wie nun, wenn man ſich ſo in
die Arbeit theilte, daß der Eine das Concrete, der Andere das
Abſtracte zu liefern übernähme? In der That ſcheinen Manche
mich in den Ruf bringen zu wollen, als hätte ich es auf
eine ſolche Theilung der Arbeit abgeſehen, und als ob ich von
der Höhe des „Geiſtes“ mit einem gewiſſen Mitleiden auf
die mit der treuen Erforſchung des Einzelnen beſchäftigten Ar-
beiter herabſähe. Mit Worten dagegen zu proteſtiren, wäre
vergeblich, ich hoffe durch die That jenen Vorwurf mehr und
mehr verſtummen zu machen. Ich unterſtelle die gegenwärtige
Abtheilung ganz und gar der Kritik vom Standpunkt des Con-
creten. Möge man alſo bei der Beurtheilung derſelben gerade
das, woran für mich der Schweiß jahrelangen Ringens klebt:
die Auffindung, Verfolgung und plaſtiſche Geſtaltung des All-
gemeinen ganz außer Anſchlag laſſen, mich lediglich meſſen und
wiegen nach den Einzelnheiten, die ich ſelbſt zuerſt in den
Quellen entdeckt oder in den rechten Zuſammenhang und da-
durch zu ihrem Verſtändniß gebracht habe — in meinen eignen
Augen hat dies zwar nur einen untergeordneten Werth, aber
gegenüber denen, die ſich mir gegenüber mit derartigen Lei-
ſtungen zu brüſten gedenken, will ich es getroſt in die Wag-
ſchale werfen und mir ganz und gar das Maß gefallen laſſen,
mit dem ſie gemeſſen ſein wollen, ohne meinerſeits zu ver-
[X]Vorrede.
langen, daß ſie ſich ihrerſeits auch einmal meinem Maße un-
terwerfen ſollen.


Der Wunſch, meinen Gegnern dieſen bequemen Einwand
gegen ein ihnen unbequemes Buch aus den Händen zu nehmen,
iſt auf die Ausarbeitung der vorliegenden, wie bereits der vor-
hergehenden Abtheilung nicht ohne Einfluß geblieben. Ich habe
nämlich bei beiden des Stofflichen lieber eher zu viel als zu
wenig gethan, und einen Theil der Schuld an dem Anſchwellen
meines Werkes mögen diejenigen tragen, welche mich zu dieſem
Akt der literariſchen Selbſterhaltung genöthigt haben.


Mich gegen den „Verſuch einer neuen Methode“ zu recht-
fertigen, kann mir ſo wenig in den Sinn kommen, daß ich
umgekehrt dieſen Vorwurf mit Freuden acceptire. Darauf iſt
allerdings mein ganzes Buch berechnet, die bisher ausſchließlich
herrſchende Methode in der Darſtellung der römiſchen Rechts-
geſchichte zu verlaſſen, um eine andere daneben zur Geltung
zu bringen. Nicht aber ſie zur ausſchließlichen zu machen.
Ich ſelbſt würde, wenn ich römiſche Rechtsgeſchichte zu leſen
hätte, die meinige für ungeeignet halten, aus demſelben Grunde,
aus dem eine Vorleſung über Philoſophie der Geſchichte die
hiſtoriſchen Vorträge nicht erſetzen kann. Aber etwas anderes
iſt es, die Methode zum Zweck der Forſchung und litera-
riſchen Darſtellung
zu verwenden, und daß ſie nach dieſer
Seite hin vollkommen berechtigt iſt, darüber warte ich ohne
Bangen das Urtheil der Zeit ab.


Die „Terminologie der niederen Naturwiſſenſchaft für die
höhere Jurisprudenz“ verwandt zu haben — von dieſem Vorwurf
kann ich mich allerdings nicht losſprechen. Aber daß ich ſie mit
der „durch ihre Feſtigkeit und Eigenthümlichkeit unſchätzbaren
Rechtsſprache vertauſcht hätte“, damit hat es doch eine
etwas andere Bewandniß. Wer alte Begriffe ſtatt mit alten
[XI]Vorrede.
Ausdrücken mit neuen, ſelbſtfabricirten bezeichnet, iſt ein Narr,
und die Welt nimmt von ſeinen Umtaufungsverſuchen keine
Notiz. In einer andern Lage aber befindet ſich der, welcher
neue Begriffe und Anſchauungen vorzutragen hat, beſtände
das Neue auch nur darin, daß er etwas bereits Vorhandenes
auf eine beſtimmte einzelne Wiſſenſchaft überträgt. Will er ſich
nicht bloß auf einige wenige Fachgenoſſen beſchränken, will er
zu einem größeren Publicum ſprechen und namentlich, wie ich,
auch Studierenden und Laien verſtändlich werden, ſo iſt er ge-
zwungen, für ſeine Ideen nach Anknüpfungspunkten zu ſuchen,
über die ein Jeder gebietet, Bilder und Vergleiche zu be-
nutzen u. ſ. w. Wo fänden ſich dieſe Anknüpfungspunkte an
das ſinnliche Denken in dem Maße, als in der Natur, und
mithin die zu recipirenden Ausdrücke in dem Maße, als in der
Naturwiſſenſchaft? Ein Anderer, der mit lauter gegebenen
Begriffen operirt, hat leicht zu meiſtern: mach’s wie ich, ge-
brauche nur abſtracte Ausdrücke. Nach funfzig Jahren, wenn
jene Anſchauungen erſt Gemeingut geworden und allſeitig ge-
prüft, berichtigt und ausgetragen ſind, kann ich’s auch; wenn
ich’s aber jetzt verſuchen wollte, würden die meiſten meiner Leſer
mein Buch als ein abſtruſes in die Ecke werfen.


Dies führt mich auf einen andern Punkt hinſichtlich der
Darſtellung, der mir viele Schwierigkeiten verurſacht und das
raſchere Fortarbeiten ungemein erſchwert hat. Ich meine die
richtige Verbindung des abſtracten mit dem concret hiſtori-
ſchen Element. Wenn irgendwo die Darſtellung ſich wie auf
ſchmaler Linie zwiſchen zwei Extremen zu bewegen hat, ſo iſt
dies bei einer Aufgabe wie der meinigen der Fall. Das Ab-
ſtracte ohne ſtarke, ſtoffliche Füllung iſt ermüdend, trocken und
bei den meiſten Leſern wirkungslos. Alſo als Gegengewicht
ein bedeutendes ſtoffliches Element. Aber eben damit beginnt
[XII]Vorrede.
die Gefahr des Zuviel und Zuwenig, das auf den rein ſubjecti-
ven Takt geſtellte Abmeſſen des richtigen Gleichgewichts: eine
Klippe, die für einen Schriftſteller, welcher einen concreten
Stoff vor ſich hat, gar nicht exiſtirt. Ob man die allgemeinen
Ideen, zunächſt mit einzelnen Beiſpielen untermiſcht, voraus-
ſchicken
, ob man ſie in die Darſtellung des Concreten ver-
weben oder erſt durch die unbefangene concrete Darſtellung
Grund und Boden für die abſtracte Betrachtung gewinnen ſoll,
ob man das hiſtoriſche Material ſeinem ganzen Umfang nach
mittheilen oder als bekannt vorausſetzen oder nur wie im
Vorübergehen an die weſentlichen Punkte erinnern ſoll —
das ſind lauter Fragen, die ſich mir faſt bei jedem neuen Ge-
genſtand wiederholt haben und bei jedem in individueller Weiſe
zu löſen waren. Ob die Löſung immer die richtige geweſen,
darüber will ich mit Niemanden rechten. Dem Einen mag ich
des Allgemeinen, dem Andern des Concreten zu viel gethan
haben. Darüber gibt es eben keinen objectiven Maßſtab. Ich
bitte nur zu berückſichtigen, daß es mir nach meiner Erklärung
in der Einleitung meines Werks (B. 1 S. 11) nicht bloß auf
das römiſche Recht ankommt, ſondern zugleich darauf, an
und in dem römiſchen Recht das Weſen des Rechts überhaupt
zur Anſchauung zu bringen. Wer lieſt heutzutage noch Unter-
ſuchungen über das Weſen des Rechts? Wer ſie feil hat, darf
ſie daher dem Publicum nicht in dieſer Geſtalt vorführen, ſon-
dern in und an einem concreten Stoff. Meiner feſten Ueber-
zeugung nach gereicht dies ihnen ſelbſt zu hohem Nutzen. Die
Rechtsphiloſophie würde ihren Kredit nicht in dem Maße ein-
gebüßt haben, wie ſie es leider heutzutage hat, wenn ſie ſich das
Element des Hiſtoriſchen und Concreten nicht zu ſehr hätte ab-
handen kommen laſſen. Ihre Zukunft liegt m. E. in einer ener-
giſcheren Wiederaufnahme deſſelben, in einer auf dem Wege
[XIII]Vorrede.
der Analyſe und Vergleichung des Einzelnen zu gewinnenden
Naturlehre des Rechts. Dazu Beiträge zu liefern, iſt der
ausgeſprochene Zweck meines Buchs, und von der vorliegenden
Abtheilung bitte ich namentlich die allgemeine Theorie der Technik
und des Formalismus aus dieſem Geſichtspunkt zu beurtheilen.


Meiner oratio pro domo habe ich noch einen Punkt hinzu-
zuſetzen. Zu den Vorwürfen, die mir gemacht ſind, gehört na-
mentlich auch der der Verwegenheit im Combiniren und der
Aufſtellung von Hypotheſen. Ich nehme ihn hin. Aber ich
gebe ihn auch zurück. Ich bin nicht Zöllner genug, um dem
Phariſäer gegenüber an meine Bruſt zu ſchlagen und zu ſagen:
Gott ſei mir Sünder gnädig. Daß ein Werk, wie das meinige,
ſeiner ganzen Beſtimmung und Anlage nach mehr Anlaß zu
Hypotheſen und Combinationen gibt, als eine auf einen ein-
zelnen Punkt ſich beſchränkende rechtshiſtoriſche Abhandlung
oder ein Compendium der Rechtsgeſchichte, liegt auf der Hand.
Immerhin möge man nun über manche derſelben den Stab
brechen, aber ich verlange in dieſer Beziehung nicht anders be-
handelt zu ſein, als jeder Andere. Oder bin ich etwa der, der
zuerſt die Sünde in die Welt gebracht hat? Das Gedächtniß
Mancher ſcheint ſehr kurz zu ſein, und ich will es etwas auf-
friſchen. Ich rede nicht von Leuten, wie Gans und dem ver-
ſtorbenen J. Chriſtianſen, ſondern ich will meine Mitſchuldigen
aus der Zahl derer greifen, die ſich „den neuern Zeitrichtungen
gegenüber auf dem Boden ſoliden Erkennens und Fortarbeitens
wiſſen.“


Der Schriftſteller, dem ich dieſe letzteren Worte entnehme,
Rudorff, belehrt uns in ſeinen gromatiſchen Inſtitutionen
(Schriften der römiſchen Feldmeſſer von Blume, Lachmann und
Rudorff B. 2 S. 303) daß das ältere Recht keine Veräußerung
der Grundſtücke kannte. Als Gründe figuriren 1) der Aus-
[XIV]Vorrede.
druck: heredium, nebſt der ihm von Varro hinzugefügten Er-
klärung quod heredem sequeretur und 2) der angebliche gänz-
liche Mangel einer Veräußerungsform. Die mancipatio ſoll
nämlich urſprünglich nur bei beweglichen Sachen gegolten und
erſt unter dem Einfluß der mobiliſirenden Tendenz von dem
Verkehr auf die unbeweglichen übertragen, dieſe „Praxis“ aber
ſodann von den XII Tafeln ſanctionirt worden ſein.


Nun, wenn der „Boden des ſoliden Erkennens“ ſolche Früchte
trägt, ſo können auch die meinigen auf ihm gewachſen ſein! Faſſen
wir die äußere Beglaubigung jener in Form einer hiſtoriſchen
Thatſache vorgetragenen Hypotheſe, ſo hängt ſie mit ihrem gan-
zen Gewicht an einem einzigen Nagel: dem Wort heredium.
Und ich denke, es iſt ein recht ſchwacher. Denn der Gegenſatz,
den heredium involvirt, braucht nicht zu ſein der zwiſchen un-
veräußerlichem und veräußerlichem Eigenthum, ſondern er kann
auch ſein der zwiſchen Privateigenthum und Gemeindeland,
heredium und ager publicus. Der letztere Gegenſatz iſt hiſtoriſch
beglaubigt, von dem erſteren wiſſen wir nichts. Dem lateiniſchen
heredium entſpricht das deutſche „Erbeigen“. Würde ein Ger-
maniſt ſich noch auf dem Boden ſolider Forſchung wiſſen, wenn
er ohne weitere poſitive Anhaltspunkte bloß auf dies eine Wort
hin ſich eine Geſchichte des deutſchen Eigenthums conſtruirte,
die mit dem hiſtoriſch allein erkennbaren Zuſtand in grellem
Widerſpruch ſtände?


An Jeden, der eine Hypotheſe aufſtellt, darf man die An-
forderung erheben, daß er ſich ihres Zuſammenhanges mit dem
ganzen Syſtem, dem ſie angehört, ihres Eingreifens in connexe
Gebiete, ihrer Poſtulate u. ſ. w. bewußt ſei. Ob jener Schrift-
ſteller dieſe Anforderung erfüllt hat? Ich möchte es ſehr be-
zweifeln. War die Veräußerung des Grundeigenthums un-
möglich, ſo war es auch die Beſtellung von Servituten, da ſie
[XV]Vorrede.
bekanntlich unter den Geſichtspunkt der Veräußerung fällt. Oder
war letztere vielleicht möglich unter Zuſtimmung der nächſten
Anwärter? Dann hätte auch jene es ſein, und es hätte folglich
auch zu dieſem Zweck eine Veräußerungsform geben müſſen.
War aber für den einen wie den anderen Fall die Einwilligung
der Agnaten wirkungslos, nun dann haben, ſeitdem angeblich
Romulus die heredia vertheilt, Jahrhunderte lang keine andern
Servituten exiſtiren können, als die bei dieſer Gelegenheit aufer-
legt worden waren. Oder hätten ſie durch Uſucapion entſtehen
können? Dann hätte letztere auch beim Eigenthum Platz greifen
müſſen. Mit dem Erbrecht kömmt dieſe Hypotheſe ebenfalls
etwas ins Gedränge. Wo bleibt die „Stammgutseigenſchaft
dieſer Güter“, wenn man ſie durch Legat oder Erbeseinſetzung
einem andern, als dem nächſten Blutsverwandten zuwenden
konnte? Oder gab es, bevor die XII Tafeln die Veräußer-
lichkeit des Grundeigenthums zum Geſetz erhoben, noch keine
Teſtamente?!


Wenn der Verfaſſer in derſelben Abhandlung (S. 428 da-
ſelbſt) den uns bisher wohl bekannten römiſchen arbiter in
einen deutſchen „Gangrichter“ verwandelt, ſo kann ſich mein
testis (B. 1 S. 136) (deſſen etymologiſche Ableitung ich übri-
gens gern zurücknehme, um die von Lange vorgeſchlagene von
stare anzunehmen) deſſelben nur freuen; er braucht ſich vor
dieſem arbiter wahrlich nicht zu ſchämen!


Wollte ich gar der rechtshiſtoriſchen Phantaſie Huſchkes
folgen, welche reiche Ausbeute würde ſie mir gewähren, ſelbſt
bevor ſie ſich zur Schöpfung eines eignen, ſpäter untergegan-
genen Thieres, des Bovigus, ſteigert! Ich denke, es wird
genügen, wenn ich ſeinen vom Staat angeſtellten Getreidemeſſer
(Nexum S. 100) herausgreife, unter deſſen Beiſtand in grauer
Vorzeit die Getreidegeſchäfte (stipulationes!) abgeſchloſſen
wurden.


[XVI]Vorrede.

Und iſt denn das älteſte römiſche Recht, wie Puchta
(Curſus der Inſtit. §. 40) es ſchildert, mit ſeinem Gegen-
ſatz des „quiritiſchen und ramniſchen Rechtsbewußtſeins“, ſei-
nem fehlenden Privateigenthum u. ſ. w. beſſer als eine der
verwegenſten meiner Hypotheſen? Ich habe abſichtlich dieſe
drei Schriftſteller herausgenommen, weil gerade ihnen trotz
dieſer „kühnen Griffe“ Niemand beſtreiten wird, daß ſie zu un-
ſern erſten Rechtshiſtorikern gehören. Wollte ich tiefer hinab-
ſteigen, wie manches ſtände mir da zu Gebote. Wie vieles wird
ſelbſt in unſern Inſtitutionenlehrbüchern als ausgemachte
Wahrheit hingeſtellt, was rein auf Conſtruction beruht. Aus
einem der gangbarſten will ich folgende Proben mittheilen.
„Das älteſte Recht ſpaltete ſich in ein patriciſches und plebeji-
ſches.“ Es beſtand aus „Rechtsgewohnheiten, von denen manche
gleich anfangs aus den verſchiedenen Gegenden Italiens und
von den verſchiedenen Volksſtämmen, alſo auch mit einer par-
ticularrechtlichen Färbung in den neugebildeten Staat mitge-
bracht worden ſind. Viele aber fanden dort erſt ihren Urſprung.
— Die vielen urſprünglich zuſammengetroffenen particular-
rechtlichen Elemente gingen allmählig in einem gemeinen römi-
ſchen Recht unter.“ In der zweiten Periode beginnt derſelbe
Proceß von neuem. Das römiſche Recht „vereinfacht ſich durch
allmählige Verſchmelzung mancher genealogiſch oder ſonſt ver-
ſchiedenartiger Elemente darin, namentlich des beſondern Pa-
tricierrechts mit dem Plebejerrecht, zu einem mehr allgemeinen
gleichförmigen Recht.“ Um dieſelbe Zeit „fühlten die Römer
auch, daß ihr bisheriges ſtrenges Princip, wornach alle Pere-
grinen für ganz rechtlos gelten, ſich nicht mehr durchſetzen laſſe,
ſeitdem ſie mit Peregrinen nicht bloß in feindliche, ſondern auch
in freundſchaftliche Berührungen des Verkehrs und Zuſammen-
lebens gekommen, der peregrinus alſo nicht mehr als hostis
[XVII]Vorrede.
erſchien“ — wornach es alſo bis ins vierte Jahrhundert der
Stadt hinein keinen Handel gegeben haben muß. So machten
denn die Römer für die Peregrinen das jus gentium, und
ſehr natürlich war es, daß ein nicht unbedeutender Theil
dieſes jus gentium, was dem eigentlichen römiſchen Recht
bisher (bis wann?) noch ganz fremd geweſen war, förmlich
in daſſelbe als integrirender, ergänzender Theil mit aufgenom-
men wurde. — Daß aber nicht alles jus gentium ſchon damals
(wann?) mit in das römiſche Recht aufgenommen wurde, iſt
gewiß, vielmehr ſchied ſich das eigentliche Peregrinenrecht noch
längere Zeit hindurch ſcharf davon.“ — Der Senat hatte in
dieſer Periode eine „anerkannte und entſchiedene geſetzgebende
Gewalt, ja er entwickelte dieſelbe noch früher als das Volk und
die Senatsbeſchlüſſe waren und hießen im weitern Sinne leges.
Das Bedürfniß der alten Jurisprudenz wird folgendermaßen
motivirt. „Es wurde überhaupt jetzt (wann?) ſeitdem das rö-
miſche Recht anfing ſich in ſeinem Material zu erweitern, be-
ſonders durch die Vereinigung des jus gentium mit dem
jus civile
die Nothwendigkeit einer zweckmäßigeren Verar-
beitung und Fortbildung dieſes letztern durch die prudentes
und ihre Interpretation um ſo lebhafter gefühlt, weil es ſonſt
in Vergleichung mit dem jus gentium offenbar zurückgeblieben
wäre“, wogegen freilich der bei Gelegenheit des prätoriſchen
Edicts behauptete „immer fühlbarer hervortretende Mangel
paſſender Grundſätze des jus gentium“ ſeltſam contraſtirt.


In der Geſchichte des Eigenthums erfahren wir auch hier,
daß daſſelbe „urſprünglich nur an beweglichen Sachen Statt
fand, dieſe Beſchränkung jedoch ſchon ziemlich früh hinwegfiel,
ohne daß wir das Genauere davon wiſſen“, bei den Obli-
gationen, daß „vielleicht ſchon vorher (d. h. vor den Verbal-
und Realcontracten) wenigſtens ſicher ſchon ſehr früh“,
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. *
[XVIII]Vorrede.
ſich der Literalcontract gebildet hatte (an einer andern Stelle
„verliert er ſich in die älteſten Zeiten“), und daß es „weder
möglich, noch ſonſt paſſend erſchien, jedem der unbenannten
Realcontracte und jeder daraus entſpringenden Klage einen
eignen Namen zu geben.“


In welche Verlegenheit würde der Verfaſſer gerathen, wenn
er uns für dieſe Behauptungen, ich will nicht ſagen, einen
Beweis, ſondern nur den allerdürftigſten Anhaltspunkt geben
ſollte! Und doch tritt hier die Conſtruction nicht etwa auf im
Gewande der Vermuthung, der Combination, ſondern in dem
der ausgemachten hiſtoriſchen Wahrheit.


In der That wer Angeſichts ſolcher Proben den Stein auf-
heben will, um vorzugsweiſe mich damit zu werfen, möge zu-
ſehen, ob er damit nicht die meiſten unſerer heutigen Rechts-
hiſtoriker und ſich ſelber mit trifft. Daß trotzdem ſo Mancher
gern den Stein aufhebt, dafür iſt die Erklärung ſchon in der
Parabel vom Splitter im fremden und Balken im eignen Auge
gegeben. Wenn ich nun die Steine, mit denen man mich hat
treffen wollen, zurückgeworfen und unter dem Einfluß der durch
den Angriff hervorgerufenen Stimmung gegen diejenigen,
welche ſich mir gegenüber im Alleinbeſitz der correcten hiſtoriſch-
kritiſchen Methode zu ſein rühmen, meiner Kritik und Polemik
öfters einen Zuſatz von würzender Schärfe gegeben habe, ſo
denke ich, wird mir jeder Billige dieſen Akt literariſcher Noth-
wehr zu gute halten — eine Bemerkung, die ſich namentlich mit
auf Ad. Schmidt (von Ilmenau) bezieht, der durch ſeine von
mir in keiner Weiſe provocirten Ausfälle gegen mich die Re-
preſſalien, die ich in §. 47 gegen ihn ergriffen, mehr als ver-
dient hat.


Gießen, 1. Auguſt 1858.


[[XIX]]

Inhalt des zweiten Theiles.
Zweite Abtheilung.


  • III.Die juriſtiſche Technik des ältern Rechts.
  • A.Das Weſen der Technik im Allgemeinen.
  • I.Gegenſatz der natürlichen und juriſtiſchen Auffaſſung.
  • §. 37. Thatſächlichkeit und Nothwendigkeit dieſes Gegenſatzes — Apologetik
    der Jurisprudenz — die angebliche Natürlichkeit der Laien-Auffaſſung
    — der geſunde Menſchenverſtand ohne die Erfahrung — der Werth
    und der Einfluß der Erfahrung — die Jurisprudenz ein Niederſchlag
    des geſunden Menſchenverſtandes in Dingen des Rechts. S. 321—333.
  • II.Theorie der juriſtiſchen Technik.
  • I.Die Aufgabe der Technik und die Mittel zur Löſung im
    Allgemeinen
    .
  • §. 38. Die Verwirklichungsfrage im Recht — die Aufgabe und die Mittel
    zur Löſung, namentlich die Technik — die beiden techniſchen Intereſ-
    ſen — die Praktikabilität des Rechts. S. 334—359.
  • II.Die drei Fundamental-Operationen der juriſtiſchen
    Technik
    .
  • 1. Die juriſtiſche Analyſe (das Rechtsalphabet).
  • §. 39. Der einfache Rechtskörper — localiſirende und abſtracte Rechtspro-
    duction — hiſtoriſche Erſcheinung des Abſtracten im Concreten (die
    Durchbruchspunkte; analoge Ausdehnung) — die Buchſtaben des
    Rechts — Vergleichung des Alphabets des Rechts mit dem der
    Sprache. S. 359—379.
  • 2. Die logiſche Concentration.
  • §. 40. Die Möglichkeit einer Concentrirung des Stoffs — das logiſche Cen-
    trum und die Peripherie — innere Erweiterung des Princips in der
    hiſtoriſchen Form einer Ausnahme. S. 379—384.
  • 3. Die juriſtiſche Conſtruction.
  • §. 41. Die naturhiſtoriſche Anſchauungsweiſe des Rechts — der juriſtiſche
    Körper — allgemeine Schilderung deſſelben — Gewinnung deſſelben
    durch die juriſtiſche Conſtruction — die drei Geſetze derſelben (poſiti-
    ves, logiſches, äſthetiſches) — techniſcher Werth der naturhiſtoriſchen
    Methode. S. 384—414.
  • B.Die Technik des ältern Rechts.
  • Die Jurisprudenz.
  • §. 42. Die Pontifices — die Geheimhaltung des Rechts — das jus civile
    im engern Sinn — der pontificiſche Styl — das Ende der ponti-
    ficiſchen Herrſchaft. S. 415—445.
  • Haften des Rechts an der Aeußerlichkeit.
    (Sinnliches Element des ältern Rechts.)
  • I.Der Materialismus.
  • §. 43. Das ſinnliche Element auf der innern Seite des Rechts — der ma-
    terialiſtiſche Zuſchnitt der Begriffe und Inſtitute — Beiſpiele: das
    furtum, damnum injuria datum, der Irrthum, Beſitz und die Uſu-
    capion — wirthſchaftliche und rechtliche Präponderanz der Sache;
    die Sache die Axe des ältern Verkehrs und der Ausgangspunkt des
    ganzen Vermögensrechts. S. 446—467.
  • II.Das Haften am Wort.
  • §. 44. Der Gedanke und das Wort — grammatiſche und logiſche Interpre-
    tation — Verhältniß der alten Jurisprudenz zu dieſem Gegenſatz —
    ſtrenge Wortinterpretation der Rechtsgeſchäfte — freiere der Geſetze —
    tendentiöſes Element derſelben. S. 467—495.
  • III.Der Formalismus.
    1. Das Weſen deſſelben im Allgemeinen.
  • §. 45. Begriff des formellen und formloſen Geſchäfts — Kritik des Forma-
    lismus vom praktiſchen und ethiſchen Standpunkt — allgemeine und
    beſondere Vortheile und Nachtheile der Form, wechſelndes Verhält-
    niß beider — die hiſtoriſchen Gründe des Formalismus — die Macht
    des Sinnlichen und der Formenſinn. S. 496—545.
  • 2. Der Formalismus des ältern Rechts.
  • §. 46. Extenſive Erſtreckung der Form — Ueberſicht der formellen Geſchäfte
    — die Scheingeſchäfte, Begriff, Arten und Behandlung derſelben
    von Seiten der ältern Jurisprudenz — die mancipatio, in jure
    cessio, stipulatio
    . S. 545—587.
  • 3. Analyſe des römiſchen Formenweſens.
  • §. 47. Der Stoff — die hauptſächlichſten ſymboliſchen Zeichen und Hand-
    lungen, vor allem die Hand — das Wort — Abgränzung der For-
    meln von den Formularen — Arten der Formeln nach Maßgabe ihrer
    Beſtimmtheit — das Requifit des Sprechens; Verbindung deſſelben
    mit der Schrift — Theorie der Compoſition der Formeln: Gebrauch
    der Verbalformen; juriſtiſche Syntax; Correſpondenz der Form —
    die Folgen des Formfehlers — Zeit und Ort als Element der Rechts-
    geſchäfte. S. 588—695.
[[321]]

III. Die juriſtiſche Technik des ältern Rechts.


A. Das Wesen der Technik im Allgemeinen.

I. Gegenſatz der natürlichen und juriſtiſchen Auffaſſung.

Thatſächlichkeit und Nothwendigkeit dieſes Gegenſatzes — Apo-
logetik der Jurisprudenz — die angebliche Natürlichkeit der Laien-
Auffaſſung — der geſunde Menſchenverſtand ohne die Erfahrung —
der Werth und der Einfluß der Erfahrung — die Jurisprudenz
ein Niederſchlag des geſunden Menſchenverſtandes in Dingen des
Rechts.


XXXVII. In dem vorhergehenden Abſchnitt von den Grund-
trieben haben wir die höchſten Ziele des älteren Rechts, die
Ideale des römiſchen Rechtsgefühls, zu beſtimmen verſucht; der
gegenwärtige ſoll uns mit der eigenthümlichen Kunſt bekannt ma-
chen, die daſſelbe zum Zweck der Verwirklichung jener Gedanken in
Anwendung gebracht hat. So eng demnach auch der gegenwär-
tige Abſchnitt mit dem vorherigen zuſammenhängt, ſo bezeich-
net er dennoch den Uebergang zu einer völlig neuen Seite des
Rechts.


Diejenige, mit der wir uns bisher beſchäftigten, ließe ſich
die ethiſche Seite des Rechts, diejenige, der wir uns jetzt zu-
wenden, die ſpecifiſch juriſtiſche nennen. Dort handelte es
ſich um Ideen und Anforderungen, die objectiv in der ſittlichen
Beſtimmung des Rechts und ſubjectiv in dem natürlichen Rechts-
gefühl ihren letzten Grund haben, daher dem Laien nicht min-
der zugänglich und geläufig ſind, als dem Juriſten. Ganz an-
ders von jetzt an. Unſere Darſtellung verſetzt uns, ſo zu ſagen,
auf eine ganz andere Hemiſphäre, auf der dem Laien Alles neu
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 21
[322]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
und fremdartig, ja Vieles höchſt verwunderlich erſcheinen muß,
in eine Welt, für die er kein Verſtändniß, wohl aber umgekehrt
manche Vorurtheile mitbringt. Wenn ich den Laien dennoch
auffordere, mir auf dies Gebiet der eigentlichen Jurisprudenz
zu folgen, ſo verhehle ich mir keineswegs das Gewagte und die
großen Schwierigkeiten der Aufgabe, die ich damit übernehme.
Aber ich halte dieſelben weder für unüberwindlich, noch fürchte
ich, durch eine Berückſichtigung der Bedürfniſſe des Laien das
Intereſſe des juriſtiſchen Leſers zu ſehr auf die Probe zu ſtellen.


Der Punkt, an dem jeder Laie ſich ſeines Laienthums be-
wußt werden muß, und auf deſſen Erläuterung ich mithin mein
Hauptaugenmerk richten werde, iſt die juriſtiſche Methode.
Dem Juriſten ſollte billigerweiſe nichts bekannter ſein, als ſie,
denn gerade ſie iſt es, die ihn zum Juriſten macht. Und doch iſt
es nicht zu viel behauptet, daß ein eigentliches Bewußtſein
über ſie den meiſten Juriſten völlig fehlt, und daß unſere Wiſ-
ſenſchaft alle anderen Geſetze beſſer kennt, als die Geſetze ih-
rer ſelbſt
. Aus und in der Anwendung iſt die juriſtiſche Me-
thode uns ſehr wohl bekannt, aber ſie iſt uns eben nur eine
Sache des Gefühls und der Uebung. Sollten wir angeben,
worin das Weſen derſelben liege, wie die Weiſe, in der wir die
Rechtsverhältniſſe beurtheilen, ſich von der des Laien unter-
ſcheide, was die Aufgaben, Mittel und Grundgeſetze der juriſti-
ſchen Methode ſeien: — die Antwort würde unendlich dürftig
ausfallen und ſchwerlich über die recipirte Phraſe eines „Rech-
nens mit Begriffen“ hinausreichen. So war es in Rom, ſo iſt
es noch heutzutage — ein neuer Beleg für die alte Wahrheit,
daß die richtige Ausübung und ſelbſt die höchſte Blüthe einer
Kunſt nicht bedingt iſt durch eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß
ihrer Geſetze und ihres Weſens.


Wenn ich nun, bevor ich auf die römiſche Technik eingehe,
jenem Mangel, ſo weit dies bei einem erſten Verſuch möglich
iſt, abzuhelfen, alſo das Weſen und die Grundgeſetze
der juriſtiſchen Technik
im Allgemeinen zu beſtimmen ver-
[323]I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
ſuchen werde, ſo bitte ich, nicht außer Acht zu laſſen, daß dieſe
Ausführung nur den Zweck hat, das Verſtändniß der Technik
des älteren römiſchen Rechts vorzubereiten, daß man alſo
darin nichts ſuchen möge, was ich an dieſer Stelle, ohne mei-
nen Zweck aus dem Auge zu verlieren, nicht geben kann. An
der gegenwärtigen Stelle würden Ausführungen über den Beruf
der Jurisprudenz, die durch die Entwicklungsſtufe des älteren
römiſchen Rechts nicht geboten ſind, verfrüht und ungehörig
ſein. Die ſpätere Entwicklung der römiſchen Jurisprudenz
wird mir hinlängliche Gelegenheit geben, das Fehlende nachzu-
holen und dem Leſer eine Anſchauung von der vielſeitigen Wirk-
ſamkeit einer ausgebildeten Jurisprudenz zu gewähren. Hier
handelt es ſich zunächſt nur um den Elementarunterricht in der
juriſtiſchen Kunſt; denn die Kunſt ſelbſt beginnt hiſtoriſch überall
mit den Elementen.


Die Theorie der Technik, die ich im Folgenden aufſtellen
werde, iſt zwar einer Betrachtung des römiſchen Rechts ent-
nommen, allein ſie macht nichts deſto weniger auf allgemeine
Wahrheit Anſpruch. Wie den Erſcheinungen, an denen uns der
vorige Abſchnitt vorüberführte, bei aller national-römiſchen
Form, die die Sache hier angenommen hatte, dennoch Motive
von allgemeiner Wahrheit zu Grunde lagen, d. h. Aufgaben,
an deren Löſung jedes Recht ſich zu verſuchen hat, ſo auch
hier. Denn nicht blos iſt die Aufgabe ſelbſt, um die es ſich hier
handelt, eine abſolut nothwendige, ein mit den letzten Zwecken
des Rechts ſelbſt geſetztes Problem, ſondern es muß auch die
Art ihrer Löſung in Rom trotz aller römiſchen Form im Weſent-
lichen als die abſolut richtige, als die einzig denkbare bezeichnet
werden. Mit derſelben apodiktiſchen Gewißheit, mit der man
behaupten kann, daß die Grundſätze der mathematiſchen Me-
thode für alle Zeiten unwandelbar dieſelben bleiben werden,
läßt ſich ein Gleiches für die der juriſtiſchen Methode behaup-
ten. Der Weg, den das ältere römiſche Recht hier eingeſchlagen,
iſt der einer jeden Jurisprudenz; er iſt ſo wenig ein römiſcher,
21*
[324]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
wie der, den Euklid und Archimedes in der Mathematik verfolgt
haben, ein griechiſcher. Hätten nicht die Römer ihn entdeckt oder
richtiger uns ihn geebnet, ſo würde ein anderes Volk es gethan
haben, denn jedes Recht wird mit Nothwendigkeit in ihn hin-
eingetrieben. Die Anſätze zur juriſtiſchen Methode finden ſich
überall und der Ruhm der Römer beſteht nur darin, daß ſie es
nicht bei bloßen Anſätzen haben bewenden laſſen. Die juri-
ſtiſche Methode iſt nicht etwas von außen ins Recht
Hineingetragenes, ſondern die mit innerer Noth-
wendigkeit durch das Recht ſelbſt geſetzte einzige
Art und Weiſe einer ſicheren praktiſchen Beherr-
ſchung des Rechts
. Das Hiſtoriſche dabei iſt nicht ſie ſelbſt,
ſondern das Geſchick und Talent, mit dem ſie von dieſem oder
jenem Volk gehandhabt wird.


Es iſt eine bekannte ſich überall wiederholende Erſcheinung,
daß das Recht, wenn es eine gewiſſe Bildungsſtufe erreicht, ſich
der Kenntniß der Maſſe mehr und mehr entzieht und Gegenſtand
eines beſonderen Studiums wird. Nicht gerade eines gelehrten
oder Schulunterrichts, ſondern das Weſentliche iſt, daß die
nöthige Vertrautheit mit dem Recht, die früher einem Jeden
mühelos zufiel, jetzt eine beſondere Aufmerkſamkeit, Abſicht, An-
ſtrengung vorausſetzt, und da nicht ein Jeder dieſe Arbeit daran
ſetzen kann, daß ſich rückſichtlich der Rechtskenntniß mehr und
mehr ein Gegenſatz ausbildet, den wir in ſeiner ſchließlichen
Geſtalt als Gegenſatz des Juriſten und Laien bezeichnen. Das
hiſtoriſche Auftreten des Juriſten bekundet die Thatſache, daß
das Recht die Periode der Kindheit und der naiven Exiſtenz zu-
rückgelegt hat; der Juriſt iſt der unvermeidliche Herold dieſes
Wendepunktes im Leben des Rechts. Aber nicht der Juriſt ruft
den Wendepunkt, ſondern der Wendepunkt den Juriſten her-
[325]I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
vor; — der Laie tritt nicht zurück, weil der Juriſt ihn ver-
drängt, ſondern der Juriſt tritt auf, weil der Laie ihn nicht mehr
entbehren kann. Man hat dieſen Entwicklungsprozeß und die
damit verbundene Entfremdung des Rechts vom Laienbewußt-
ſein als eine beklagenswerthe Thatſache angeſehen, und die Ge-
ſchichte der Wiſſenſchaft wie der Geſetzgebung berichtet von man-
chen Verſuchen, die Kluft zwiſchen Juriſten und Laien auszu-
füllen oder letzterem wenigſtens eine bequeme Brücke in die Ju-
risprudenz zu ſchlagen. Ein eitles Bemühen, eine ohnmächtige
Auflehnung gegen die Geſchichte! Denn jene Thatſache, die
man ungeſchehen machen möchte, iſt nichts Anderes, als die
Verwirklichung eines allgemeinen Culturgeſetzes auf dem Ge-
biete des Rechts — des Geſetzes der Theilung der Arbeit — und
ſo machtlos und widerſinnig ein Widerſtand gegen dies Geſetz
anderwärts ſein würde, ebenſo wird er es auch hier ſein.


Der Grund, der dem Laien bei einem ausgebildeten Recht die
Kenntniß und Anwendung deſſelben unmöglich macht, liegtweniger
in dem, worin der Laie geneigt ſein wird, ihn zu finden, in der
Maſſenhaftigkeit als vielmehr in der Art des Stoffs, in
der eigenthümlichen Schwierigkeit ſeiner Auffaſſung und Handha-
bung. Das Recht, das dem Laien nur als eine Maſſe von Geſetzen
erſcheint, iſt in der That etwas ganz Anderes, unendlich Höheres
(S. B. 1. S. 25—33). Geſetze kann der Laie ſo gut auswendig
lernen, als der Juriſt, und wenn ſie gerade Verhältniſſe betreffen,
die ihm geläufig ſind, mag er ſie auch zur Noth anwenden kön-
nen. Aber um das Recht zu verſtehen und anzuwenden, dazu
reicht der einfache Verſtand und der natürliche Sinn nicht aus,
dazu bedarf es vielmehr zweierlei, nämlich erſtens eines nur
durch vieljährige Anſtrengung und Uebung zu gewinnenden ei-
genthümlichen Auffaſſungsvermögens, einer beſonderen
Fertigkeit des abſtracten Denkens, und zweitens einer beſonde-
ren Geſchicklichkeit im Operiren mit Rechtsbegriffen — namentlich
der juriſtiſchen Diagnoſe. Beides zuſammen begreifen wir
unter dem Ausdruck der juriſtiſchen Bildung. Sie iſt es,
[326]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
die den Juriſten vom Laien unterſcheidet, nicht die Maſſe der
Kenntniſſe, ſie iſt es, die den Werth des Juriſten beſtimmt,
nicht das Maß der Gelehrſamkeit. Darum kann Jemand bei
mäßigem Wiſſen ein ausgezeichneter, und bei großem Wiſſen
ein ſchlechter Juriſt ſein. Keine im Uebrigen noch ſo werthvolle
Beſchäftigung mit dem Recht, wie die rechtsphiloſophiſche und
rechtshiſtoriſche, kann für ſie Erſatz gewähren, ja ſo hoch ich ein
Wiſſen der letzteren Art ſtelle, als juriſtiſches läßt es ſich
nicht bezeichnen.


Die juriſtiſche Bildung wird zwar erworben an einem
einzelnen poſitiven Recht, allein ſie iſt darum nicht an letzteres
gebunden, ſteht und fällt nicht mit ihm. Wäre dies der Fall, ſo
müßte der Juriſt zittern bei dem Gedanken, daß das bisherige
Recht und damit ſeine Exiſtenz als Juriſt aufgehoben würde. Al-
lein in dem beſtimmten einzelnen Recht lernt er zugleich das
Recht kennen, ſo wie Jemand, der eine Sprache wiſſenſchaft-
lich ſtudirt, zugleich das Weſen, die Geſetze u. ſ. w. der
Sprache. Neben ſeinem rein poſitiven Wiſſen, der Kenntniß
dieſes Rechts, beſitzt er alſo noch ein höheres allgemeineres
Gut, das nicht an die Scholle gebunden iſt, das keine Rechts-
und Orts-Veränderung ihm entwerthen kann, und gerade dies
iſt die eigentliche Blüthe, die edelſte Frucht eines dem Recht
gewidmeten Lebens. Die juriſtiſche Bildung ragt über das
Landesrecht weit hinaus, in ihr begegnen ſich wie auf neutra-
lem Boden die Juriſten aller Länder und Zeiten. Die Gegen-
ſtände ihrer Kenntniſſe, die Einrichtungen und Rechte der ein-
zelnen Länder ſind verſchieden, aber die Art, ſie zu betrachten
und aufzufaſſen, dieſelbe — die wahren Juriſten aller
Orten und Zeiten reden dieſelbe Sprache
, ſie verſte-
hen ſich untereinander; aber Juriſten und Laien verſtehen ſich nicht,
auch wenn ſie über das Recht ihres Landes mit einander reden. Die
Kluft zwiſchen dem gebildetſten Laien und einem Juriſten der Ge-
genwart iſt z. B. ungleich größer, als ſie es zwiſchen einem Juriſten
des alten Rom und einem engliſchen, der nichts vom römiſchen
[327]I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
Recht gehört, ſein würde. Die engliſche Jurisprudenz athmet
bei all’ ihrer Unbekanntſchaft mit der römiſchen faſt denſelben
Geiſt, wie die altrömiſche. Dieſelbe Handhabung der Form,
dieſelbe Pedanterie, dieſelben Umwege und Scheingeſchäfte;
ſelbſt die Fictionen fehlen nicht. Für dieſe freilich etwas ſchwer-
fällige und baroke Art der juriſtiſchen Technik [den juriſtiſchen
Rococoſtyl] fehlt dem Laien das Verſtändniß in dem Maße,
daß ſie ihm kaum etwas Anderes, als ein Lächeln abnöthigen
wird. Aber auch ganz abgeſehen von dieſen, einer niederen Ent-
wicklungsſtufe angehörigen Formen der juriſtiſchen Technik wird
letztere ſelbſt in ihrer vollendetſten Geſtalt, in der Reinheit des
claſſiſchen Styls, dem Laien vielfach ein Räthſel und ein Stein
des Anſtoßes ſein. Daß der Juriſt da, wo er, der Laie, nur
einen Akt bemerkt, deren zwei annimmt, 473) oder da, wo Je-
ner überall keinen Akt wahrnimmt, einen oder gar mehre ſta-
tuirt 474) und umgekehrt da, wo ein äußerer Akt in der That
vorliegt, denſelben nicht ſieht, oder ihn in ganz anderer Weiſe
auffaßt, als er äußerlich erſcheint; 475) daß er Geſchäfte, die
äußerlich ſich durchaus gleichſehen, ganz verſchieden behan-
delt: 476) — alles dieſes wird dem Laien unnatürlich erſcheinen.
[328]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Und dennoch handelt es ſich in allen dieſen Fällen nicht etwa
um eine eigenthümliche Auffaſſungsweiſe der römiſchen Juri-
ſten, ſondern um Geſichtspunkte und Entſcheidungen von einer
ſolchen juriſtiſch-logiſchen Nothwendigkeit, daß jede Jurispru-
denz zu ihnen hätte gelangen müſſen.


Die juriſtiſche Auffaſſung alſo und die der Laien ſtehen in
einem entſchiedenen Gegenſatz. Aus dieſer Differenz nun, die
eine überall wiederkehrende hiſtoriſche Thatſache iſt, hat man der
Jurisprudenz einen Vorwurf gemacht, man hat ihre Entfernung
von der „natürlichen“ Betrachtungsweiſe als etwas Unna-
türliches betrachtet, ſie der Künſtlichkeit, Spitzfindigkeit u. ſ. w.
beſchuldigt, und auch hier die „Umkehr“ als Ziel hingeſtellt.
Im Munde des großen Haufens ſind ſolche Anſichten ganz ver-
zeihlich, und vernähme man ſie bloß hier, ſo würde ich gar nicht
darauf antworten. Allein da ſie auch bei gebildeten Laien nichts
weniger als ſelten ſind, und da es ſogar an Juriſten nicht ge-
fehlt hat und ſchwerlich je fehlen wird, welche, ſei es aus ideo-
logiſcher Verblendung, ſei es aus Gefallen an wohlfeiler Po-
pularität, oder aus Unmuth über die geiſtige Arbeit, welche die
Jurisprudenz ihren Jüngern zumuthet, ſich in dieſer Hinſicht
zum großen Haufen geſchlagen haben, 477) ſo möge man es nicht
für überflüſſig halten, wenn ich einem Abſchnitte, der wie kein
anderer von den Leiſtungen und Verdienſten der Jurisprudenz
Zeugniß abzulegen gedenkt, eine kurze Apologetik der Jurispru-
denz vorausſchicke, um bei denjenigen meiner Leſer, bei denen
dies noch nöthig ſein ſollte, dasjenige Gefühl hervorzurufen,
ohne welches man wie an keine Wiſſenſchaft, ſo auch nicht an
die Jurisprudenz, herantreten ſollte — — dasjenige der Ach-
tung und Ehrfurcht vor der in ihr fixirten geiſtigen Kraft, und
476)
[329]I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
damit zugleich das der Beſcheidenheit und des Mißtrauens in
das eigene Urtheil.


In der Anklageſchrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei
Stichwörter: natürliche Anſchauung und geſunder
Menſchenverſtand
eine große Rolle zu ſpielen, und man glaubt
die Jurisprudenz nicht empfindlicher treffen zu können, als wenn
man ihr unnatürliche Auffaſſung und Widerſpruch mit dem geſun-
den Menſchenverſtand Schuld gibt. Es ſtände aber in der That
ſchlimm um die Jurisprudenz und das Recht ſelbſt, wenn es
anders wäre! Es würde ſoviel heißen, als daß eine durch Jahr-
tauſende fortgeſetzte Beſchäftigung mit dem Recht vor der angebo-
renen Unkenntniß und Unerfahrenheit keinen Vorſprung gewon-
nen hätte. Die natürliche Auffaſſung! Was iſt ſie denn an-
ders, als der erſte Verſuch des Sehens und folglich die völlige
Abhängigkeit eines blöden, ungeübten Auges vom äußeren
Schein? Jede
Erkenntniß beginnt mit ihr, aber nur, um
bald inne zu werden, daß der äußere Schein trügt, und der
Fortſchritt in der Erkenntniß beſteht gerade in einem unausge-
ſetzten Sichlosreißen von dem Glauben an die Wahrheit der
ſinnlichen Erſcheinung. Gilt nun für alle übrigen Gebiete des
menſchlichen Wiſſens der Satz, daß anhaltende Beſchäftigung
mit einem Gegenſtande und fortgeſetzte Beobachtung und Er-
forſchung deſſelben zu anderen Reſultaten führen, als eine ober-
flächliche Betrachtung deſſelben — zu Reſultaten, die der letzte-
ren nicht bloß völlig unverſtändlich ſein, ſondern geradezu als
widerſinnig und unmöglich erſcheinen müſſen — dann meine
ich, wird dieſer Satz auch wohl für das Recht gelten. In den
meiſten anderen Wiſſenſchaften würde kein gebildeter Laie im
Fall einer ſolchen Differenz es wagen, ſich die Wahrheit und
der Wiſſenſchaft den Irrthum zuzutheilen; in Dingen des Rechts
477)
[330]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
kommt dies täglich vor! Erfahrung und Wiſſen werden als
Verkehrtheit und Befangenheit geſtempelt, die völlige Unbe-
kanntſchaft mit der Sache als Vorurtheilsloſigkeit! Wer denn
einmal auf die Wahrheit der „natürlichen“ Anſicht in Dingen
des Rechts pocht, möge daſſelbe auch bei den Erſcheinungen der
Natur thun, möge behaupten, daß die Erde ſtill ſteht, und die
Sonne auf- und untergeht. Die Sonne und die Erde liegen
der natürlichen Anſchauung näher, als das Recht, aber wäh-
rend hinſichtlich jener nur ein völlig Ungebildeter ſeinen Augen
mehr traut, als dem Urtheil der Wiſſenſchaft, macht ſich beim
Recht auch der Gebildete täglich derſelben Selbſtüberſchätzung
ſchuldig.


Man wende mir nicht ein, daß doch das Recht im Rechts-
gefühl ſeinen Urſprung und Sitz habe. Gewiß! das Rechtsge-
fühl iſt das Samenkorn, dem das Recht entſproſſen iſt, aber
das Samenkorn enthält nur den Keim des Baumes, nicht den
Baum ſelbſt; es wächſt und gedeiht nur dadurch, daß es die
enge und unvollkommene Behauſung des Rechtsgefühls ſprengt
und ſich folgeweiſe dem Blick und Urtheil des Laien immer mehr
entzieht. So wie der Baum nicht wieder zum Samenkorn wer-
den kann, ſo vermag auch keine Macht der Erde ein einmal ent-
wickeltes Recht auf die Form des Rechtsgefühls zurückzuführen,
es dem Laien zurückzugeben, und das Urtheil deſſelben über ein
ſolches Recht iſt darum um nichts competenter, daß es eine Zeit
gab, wo auch ihm ein ſolches in der That zuſtand.


Die Autorität des „geſunden Menſchenverſtandes“ erkenne
ich für die Jurisprudenz als eine ganz entſcheidende an, ja ich
möchte letztere definiren als: Niederſchlag des geſunden
Menſchenverſtandes in Dingen des Rechts
. Aber ſie
iſt eben ein Niederſchlag d. h. eine Ablagerung des geſun-
den Menſchenverſtandes unzähliger Individuen, ein Schatz von
Erfahrungsſätzen, von denen jeder tauſendfältig die Kritik des
denkenden Geiſtes und des praktiſchen Lebens hat beſtehen müſ-
ſen. Wer ſich dieſes Schatzes zu bemächtigen weiß, der operirt
[331]I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
nicht mehr mit ſeinem eigenen ſchwachen Verſtande, der ſtützt
ſich nicht bloß auf ſeine eigene unbedeutende Erfahrung, ſon-
dern der arbeitet mit der Denkkraft vergangener Geſchlechter und
der Erfahrung verfloſſener Jahrhunderte. Durch dieſe künſtliche
Ergänzung der eigenen Kräfte und Mittel iſt es möglich, daß
auch der Schwache im Dienſte des Rechts eine nützliche Ver-
wendung finde, denn was das Genie auf dieſem Gebiete ent-
deckt und geſchaffen, was aber der gewöhnliche Verſtand, wenn
er auf ſich ſelbſt angewieſen wäre, nie finden würde, kann er
mit Hülfe des Fleißes wenigſtens in ſo weit zu ſeinem Eigen-
thume machen, um im Stande zu ſein, es richtig anzuwenden.
Ich kenne kein Gebiet des menſchlichen Wiſſens und Könnens,
auf dem nicht der Schwächſte, der mit der Intelligenz und der
Erfahrung von Jahrhunderten operirt, dem Genie, das dieſer
Beihülfe entbehrte, überlegen wäre. Welch ein leichtes Ding
iſt es, das Feld zu beſtellen, und ein Handwerk zu betreiben ge-
genüber der Aufgabe, die ſchwierigſten Rechtsfragen zu löſen!
Wenn aber einer zum Betriebe jener beiden Geſchäfte nichts mit-
brächte, als den geſunden Menſchenverſtand, er würde es mit
dem ſchlechteſten Sachverſtändigen nicht aufnehmen können, und
wollte er gar die Erfahrungsſätze mit ſeinem ſubjectiven, geſun-
der Menſchenverſtand titulirten Meinen umſtoßen und den Kun-
digen meiſtern und belehren, es würde ihn der dümmſte Bauer
und Handwerker mit vollem Recht verlachen. Und uns Juriſten
ſollte nicht daſſelbe Recht zuſtehen, wenn ein Laie ſich uns ge-
genüber daſſelbe erdreiſtete? Wer einem Schuſter und Schnei-
der die Fähigkeit zutraut, über Fragen des Rechts zu entſchei-
den, wer den Muth hat, ſich von ihnen ſeine Urtheile machen
zu laſſen, möge ſich auch umgekehrt ſeine Kleider und Stiefel
bei dem Juriſten beſtellen. Juriſten aber, die den Wahn von der
Möglichkeit eines populären, jedem Bürger und Bauer zugäng-
lichen, den Juriſten entbehrlich machenden Rechts zu theilen
und gar zu fördern im Stande ſind, verdienten, dieſe Beſtellung
auszuführen, um an Stiefeln und Kleidern inne zu werden,
[332]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
was ſie an der Jurisprudenz ſelbſt nicht begriffen haben: näm-
lich, daß die einfachſte Kunſt ihre Technik hat, eine
Technik, die zwar nichts iſt als der angeſammelte
und objectivirte Niederſchlag des geſunden Men-
ſchenverſtandes, aber doch nur von demjenigen an-
gewandt und beurtheilt werden kann, der ſich die
Mühe nimmt, ſie zu erlernen
.


In dieſem einfachen Satz iſt die Gegenſätzlichkeit der Juris-
prudenz und des Laienthums und damit die Rechtfertigung der
Jurisprudenz enthalten. Eine ungleich intereſſantere und frucht-
barere, aber auch um eben ſo viel ſchwierigere Weiſe der Ver-
theidigung der Jurisprudenz würde darin beſtehen, daß man
jene von uns behauptete Uebereinſtimmung derſelben mit
dem geſunden Menſchenverſtande im Einzelnen nachwieſe. An
eine ſolche Selbſtkritik und Apologetik der Jurisprudenz iſt frei-
lich wenig gedacht. Zufrieden mit dem feſten Beſitz deſſen, was
ſich durch die Erfahrung als brauchbar bewährt hat, und ſich
beruhigend bei der realen Kritik, die ihre Lehrſätze täglich im
Leben zu beſtehen haben, hat die Jurisprudenz ſich dieſer Mühe
gern entſchlagen; ſie läßt ſich in dieſer Beziehung von dem
Vorwurf einer gewiſſen Indolenz und eines ſich beim Poſitiven
beruhigenden Quietismus nicht frei ſprechen. Nur ſo ward es
möglich, daß einzelne ihrer Jünger an ihr irre wurden und
ſelbſt den Stein auf ſie warfen. Die folgenden Paragraphen ge-
ben mir die erwünſchte Gelegenheit, jenen Weg der Rechtferti-
gung einzuſchlagen und meine obige Definition der Jurispru-
denz an einem der wichtigſten Punkte zu erhärten.


So ſehr ich aber von der Möglichkeit einer ſolchen Apologe-
tik der Jurisprudenz überzeugt bin, ſo darf man doch zweierlei
dabei nicht außer Acht laſſen. Erſtens: ich habe dieſe Möglich-
keit nur für die Jurisprudenz in Anſpruch genommen, alſo
für das, was ſie eingeführt und aufgebracht, nicht aber für
das, was eine äußere Autorität ihr an poſitivem Stoff aufge-
drängt hat, und wofür ſie die Verantwortlichkeit von ſich ab-
[333]I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
lehnen darf, noch weniger aber für individuelle Anſichten ein-
zelner Juriſten, deren Uebereinſtimmung mit der geſunden Ver-
nunft allerdings mitunter mehr als zweifelhaft und von ihren
Urhebern ſelbſt vielleicht am wenigſten beanſpruch iſt. Die ge-
ſunde Kritik des praktiſchen Lebens richtet die ungeſunden An-
ſichten einfach dadurch, daß ſie ſie ignorirt.


Zweitens: die Zweckmäßigkeit oder Nothwendigkeit des
Einzelnen liegt, wie überall, ſo auch hier nicht bloß in ihm
ſelbſt, ſondern in dem Zuſammenhange deſſelben mit dem Gan-
zen, kann mithin auch nur aus letzterem begriffen und nachge-
wieſen werden. Gerade dadurch entſteht ſo leicht und ſo häufig
der Schein der Unvernünftigkeit oder Zweckwidrigkeit des Ein-
zelnen, daß der Urtheilende jenen Zuſammenhang nicht kennt
und daher in aller Unbefangenheit von der Annahme ausgeht,
als verſtatteten die einzelnen Punkte eine iſolirte Feſtſtellung
und Beurtheilung. Wäre dieſe Annahme eine richtige, ſo würde
die Entſcheidung, die die Jurisprudenz getroffen, nicht ſo häufig
von der, die der Laie für die ſachgemäße hält, divergiren. Aber
eben weil ſie es nicht iſt, weil beide auf ganz verſchiedenen
Standpunkten ſtehen, kann nicht bloß, ſondern muß ſo häufig
eine ſolche Divergenz eintreten. Darum iſt es oft kaum mög-
lich, einem Laien die Vernünftigkeit eines einzelnen Satzes be-
greiflich zu machen, denn ihm fehlt gerade das, woran man an-
knüpfen müßte, die Kenntniß der Mittelglieder zwiſchen jenem
Satz und dem letzten Grunde, kurz die Kenntniß des Zuſam-
menhanges.


[334]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.

II. Theorie der juriſtiſchen Technik.

I. Die Aufgabe der Technik und die Mittel zur Löſung im
Allgemeinen.

Die Verwirklichungsfrage im Recht — die Aufgabe und die Mit-
tel zur Löſung, namentlich die Technik — die beiden techniſchen In-
tereſſen — die Praktikabilität des Rechts.


XXXVIII. Das Recht iſt dazu da, daß es ſich verwirkliche.
Die Verwirklichung iſt das Leben und die Wahrheit des Rechts,
iſt das Recht ſelbſt. Was nicht in Wirklichkeit übergeht, was
bloß in den Geſetzen, auf dem Papiere ſteht, iſt ein bloßes
Scheinrecht, leere Worte, und umgekehrt was ſich verwirklicht
als Recht, iſt Recht, auch wenn es in den Geſetzen nicht zu fin-
den, und Volk und Wiſſenſchaft ſich deſſen nicht bewußt ge-
worden iſt.


Nicht alſo der abſtracte Inhalt der Geſetze entſcheidet über
den Werth eines Rechts, nicht die Gerechtigkeit auf dem Papiere
und die Sittlichkeit in den Worten, ſondern die Objectivirung
des Rechts im Leben, die Thatkraft, mit der das, was als noth-
wendig erkannt und ausgeſprochen iſt, ausgeführt und durchge-
ſetzt wird.


Es kömmt nun aber nicht bloß darauf an, daß das Recht
ſich verwirkliche, ſondern auch darauf, wie dies geſchieht. Was
nützt die Sicherheit und Unausbleiblichkeit der Verwirklichung,
wenn letztere ſo ſchwerfällig und langſam iſt, daß ſie immer zu
ſpät kömmt?


Können wir nun dies Wie abſolut beſtimmen? Ich glaube, al-
lerdings. Bei der ganzen Frage von der Verwirklichung des Rechts
handelt es ſich nicht um etwas Materielles, ſondern um etwas
rein Formelles. Wie verſchieden auch der materielle Inhalt der
einzelnen Rechte ſein möge, die Verwirklichung derſelben kann und
ſoll überall eine gleiche ſein, es gibt in dieſer Beziehung ein
abſolutes Ideal, dem jedes Recht nachzuſtreben hat. Worin
beſteht daſſelbe? Ich glaube, wir können es auf eine doppelte
[335]II. Theorie derſelben. Die Aufgabe. §. 38.
Anforderung zurückführen. Die Verwirklichung ſoll ſein einer-
ſeits eine unausbleibliche, mithin ſichere, gleichmäßige, anderer-
ſeits eine leichte und raſche.


Fragen wir, wie dieſe Anforderungen ſich in der Geſchichte
erfüllen, ſo finden wir zwiſchen den poſitiven Rechten eine große
Verſchiedenheit. Hier ein einfaches, rohes Recht, aber ſich aus-
zeichnend durch die der Jugend eigne Thatkraft und Raſchheit
des Handelns, eine ſchnelle und ſtrenge Form des Verfahrens,
dort ein ausgebildetes Recht, das alle Vorzüge des Alters be-
ſitzt, aber daneben auch die Mängel deſſelben, die ſchwache und
unſichere Hand, die Langſamkeit und Schwerfälligkeit des Ver-
fahrens. Man könnte geneigt ſein, dieſen Gegenſatz an die Al-
tersſtufen der Rechte anzuknüpfen, in jener Leichtigkeit und
Schnelligkeit nur eine natürliche Folge der Einfachheit, in die-
ſer Schwerfälligkeit eine natürliche Folge der Weitſchichtigkeit
und Complicirtheit des Rechts zu erblicken. Allein dies wäre
verkehrt. Allerdings will ich den Einfluß des äußeren und in-
neren Wachsthums der Rechte auf die Leichtigkeit und Schnellig-
keit der Operation der Rechtsanwendung nicht in Abrede ſtel-
len; je ſchwerer die Laſt wird, deſto ſchwerer iſt ſie zu heben und
zu bewältigen; das gilt von körperlichen wie geiſtigen Dingen.
Allein andererſeits iſt es möglich, den nachtheiligen Einfluß
dieſes natürlichen Moments des Wachsthums durch Kunſt
zu verringern und auszuſchließen, und das iſt eben die Aufgabe
der Kunſt, die wir hier zu betrachten haben, der juriſtiſchen.


Wir wollen uns zunächſt der Gründe bewußt werden, die
über die Verwirklichungsfrage (nicht bloß über die Raſchheit
und Leichtigkeit der Anwendung, ſondern über die Löſung der
Aufgabe ſchlechthin) entſcheiden. Nach welchen Gründen, Ein-
flüſſen, Vorausſetzungen u. ſ. w. beſtimmt ſich alſo, um für
die Sache einen eignen Ausdruck zu haben, das Verwirkli-
chungsvermögen
der poſitiven Rechte? Dieſe Gründe lie-
gen theils in, theils außer dem Recht. Zur letzteren Claſſe ge-
hört die intellektuelle und ſittliche Culturſtufe des Volks, die
[336]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Entwicklung der Staatsidee und der Staatsgewalt, die ſociale
Gliederung des Volks, das Machtverhältniß der einzelnen Claſ-
ſen, vor allem aber die moraliſche Kraft, die der Gedanke des
Rechts bei dieſem Volk genießt, ob die Gerechtigkeit dem Volk
als etwas Hohes und Heiliges erſcheint, oder als ein Gut, wie
jedes andere. Von der Energie des Gerechtigkeitsgefühls im
Volk hängt im weſentlichen die Unpartheilichkeit, Integrität
u. ſ. w. des Richterſtandes ab. Bei einem Volk, dem die Ge-
rechtigkeit als etwas Heiliges gilt, wird der Richterſtand un-
beſtechlich und pflichttreu ſein, denn ein ſolcher wird ihm einerſeits
diejenige Stellung einräumen, die ihn gegen Verſuchungen
ſchützt, andererſeits aber durch die Schmach, mit der es die
Beſtechung brandmarkt, mehr noch als durch die geſetzlichen
Strafen auch den unverläßlichen Richter auf der Bahn des
Rechts erhalten. Zu der erſten Claſſe von Gründen, die in dem
Recht ſelbſt liegen, gehören theils die Organiſation der Behör-
den (die Gerichtsverfaſſung) ſowie die Form des Verfahrens
(der Prozeß) theils die Beſchaffenheit des materiellen Rechts,
und dieſer letzte Punkt bezeichnet uns das Gebiet, auf dem die
juriſtiſche Technik vorzugsweiſe thätig wird.


Daß der materielle Inhalt des Rechts vom größten Einfluß
auf deſſen Verwirklichung iſt, bedarf auch für den Laien keiner
Bemerkung. Beſtimmungen, die völlig zweckwidrig ſind, ſchei-
tern an ihrer eignen Unausführbarkeit, und Geſetze, die mit der
Zeit in Widerſpruch ſtehen, mögen ſie hinter ihr zurück oder
ihr voraus ſein, können des ärgſten Widerſtandes gewiß ſein.
Von dieſer materiellen Angemeſſenheit oder Unangemeſſenheit
wird aber im Folgenden gar keine Rede ſein; der Juriſt hat
keine Macht darüber, es geht über die Aufgabe der Technik hin-
aus. Die Angemeſſenheit des Rechts, die für ſie allein in Be-
tracht kömmt, und mit der wir uns fortan ausſchließlich zu be-
ſchäftigen haben, iſt rein formaler Art. Die Frage iſt nämlich
die: wie ſoll das Recht unbeſchadet ſeines Inhaltes eingerichtet
und geſtaltet ſein, daß es durch die Art ſeines Mechanismus
[337]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
zur Erfüllung der obigen Anforderungen in Bezug auf die Ver-
wirklichung des Rechts ſo viel wie möglich mitwirkt, die Ope-
ration der Anwendung ſeiner ſelbſt auf den concreten Fall mög-
lichſt erleichtert und ſichert?


Der ſ. g. geſunde Menſchenverſtand wird keine andere Ant-
wort darauf haben, als: klare, beſtimmte und detaillirte Abfaſ-
ſung der Geſetze; die Antwort, die die Jurisprudenz d. h. die
Erfahrung darauf ertheilt, lautet ganz anders. Daß jene Eigen-
ſchaften, ſo wenig ich ſie im übrigen gering ſchätzen will, nicht
ausreichen, läßt ſich leicht nachweiſen. Was nützen die genaue-
ſten und ausführlichſten Geſetze, wenn ſie der Richter, wie dies
z. B. in der ſpätern Kaiſerzeit in Rom und heutzutage in Eng-
land der Fall, mit dem beſten Willen nicht bewältigen kann?
Was ferner die ſchärfſten Begriffsbeſtimmungen und Unterſchei-
dungen, wenn die Anwendung auf den einzelnen Fall mit den
größten Schwierigkeiten zu kämpfen hat, es dem Geſetze, um
einen frühern Ausdruck zu gebrauchen (S. B. 1. §. 3) an der
formalen Realiſirbarkeit gebricht?


Die Frage, um die es ſich handelt, iſt eine reine Frage der
Zweckmäßigkeit, und die ganze Theorie der Technik iſt nichts,
als die erkannte und befolgte Zweckmäßigkeit in Bezug auf die
Löſung der obigen Aufgabe. Aber ſo leicht es iſt ſich hiervon zu
überzeugen, nachdem das Richtige einmal gefunden, ſo täuſche
man ſich doch nicht über die Schwierigkeit der Aufgabe. Wir
haben es hier mit einer Aufgabe zu thun, deren Löſung auch
der höchſten geiſtigen Kraft und Anſtrengung des Einzelnen
nicht einmal näherungsweiſe gelungen ſein würde, einer Aufgabe
vielmehr, an der ganze Völker und Jahrhunderte arbeiten müſ-
ſen, und bei der der Inſtinkt vielleicht mehr gethan hat, als
alle Wiſſenſchaft und Ueberlegung. Die Methode der Löſung
oder die Technik des Rechts iſt nicht erſt mit der Jurisprudenz
zur Welt gekommen. Längſt vor aller Wiſſenſchaft pflegt ſich
der juriſtiſche Inſtinkt in dunkler Ahnung des Richtigen an der
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 22
[338]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Aufgabe zu verſuchen, und wie Treffliches er zu leiſten vermag,
davon legt namentlich das ältere römiſche Recht beredtes Zeug-
niß ab. Möge immerhin die feinere Ausbildung der Technik der
eigentlichen Jurisprudenz vorbehalten bleiben, die rohe Arbeit
der früheren Zeit iſt ſelbſt hierfür von ſolchem Werth und von
ſolcher Bedeutung, daß das Gelingen aller ſpäteren Bemühungen
zum weſentlichen Theil von der Güte dieſer Vorarbeit abhängt.
Willig und leicht gedeiht die Pflanze juriſtiſcher Kunſt und Wiſ-
ſenſchaft auf einem von Anfang an richtig beſtellten Rechtsbo-
den, ſchwer und mühſam aber auf einem verwahrloſten. Die
Jurisprudenz vermag viel, trotz aller Mißgriffe der Geſetzge-
bung, trotz der unjuriſtiſchen urſprünglichen Anlage des Rechts
— und gerade hier feiert ſie ihre größten Triumphe — aber
nicht genug kann ich die Bemerkung betonen, daß wie jede
Kunſt, ſo auch ſie in Abhängigkeitsverhältniß zum Stoff
ſteht, daß alſo die urſprüngliche Anlage des Rechts, die
juriſtiſche Natur und Bildſamkeit deſſelben für die Erfolge der
juriſtiſchen Thätigkeit von weſentlichem Einfluß iſt. 478)


Die juriſtiſche Technik alſo datirt nicht erſt von der eigent-
lichen Jurisprudenz an. Die Kunſt iſt auch auf dem Gebiete
des Rechts früher, als die Wiſſenſchaft, denn die Kunſt
verträgt ſich mit dem Ahnen und dem bloßen Gefühl oder In-
ſtinkt, während die Wiſſenſchaft erſt mit dem Erkennen beginnt.
Darum ſpreche ich bereits für die älteſten Zeiten Roms von
einer Technik des Rechts.


Wenn ich ſo eben geſagt habe, die Technik habe bloß eine
[339]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Frage der Zweckmäßigkeit zum Gegenſtande, ſo muß ich noch in
einer anderen Beziehung gegen die Unterſchätzung dieſer Auf-
gabe warnen. Man könnte nämlich glauben, (und wie vielen Ur-
theilen neuerer Juriſten liegt ein ſolcher Irrthum zu Grunde!) 479)
daß die Technik mit der ſittlichen Seite des Rechts nichts gemein
habe, eine abgeſonderte, ſelbſtändige Parthie deſſelben darſtelle,
die techniſche Unvollkommenheit eines Rechts mithin bloß eine
partielle Unvollkommenheit, die Vernachläſſigung einer einzelnen
Seite des Rechts enthalte. Sehr verkehrt! Techniſche Un-
vollkommenheit iſt Unvollkommenheit des ganzen
Rechts
, ein Mangel, der das Recht überall, mithin auch in ſei-
nem rein ſittlichen Inhalt beeinträchtigt. Was hilft das Wollen
und Setzen der höchſten ethiſchen Anforderungen, was die wür-
digſte Erfaſſung der Idee der Freiheit, Gerechtigkeit u. ſ. w. in
Form geſetzlicher Beſtimmungen, wenn die Verwirklichung dieſer
Ideen im concreten Rechtsverhältniß aus dem Grunde mangel-
haft, ſchwerfällig, ungleichmäßig u. ſ. w. iſt, weil es der Technik
an der manuellen Geſchicklichkeit fehlt, das Abſtracte, ſo wie es
ſich gehört, in Wirklichkeit umzuſetzen? Darum hat die Technik
mittelbar die höchſte ethiſche Bedeutung, und die praktiſche Ju-
risprudenz, indem ſie bei der techniſchen Geſtaltung des Stoffs
auch das Kleinſte mit äußerſter Sorgfalt behandelt, darf ſich
rühmen durch Vervollkommnung der Technik des Rechts für das
Höchſte und Größte thätig zu ſein; ihre niedere und unſchein-
bare Arbeit fördert letzteres in Wirklichkeit oft mehr, als die an-
ſpruchsvolle Thätigkeit des Philoſophen.


Die bisherigen Bemerkungen über die Technik habe ich
geglaubt vorausſchicken zu dürfen, bevor wir uns über den
Ausdruck ſelbſt verſtändigt haben. Ich gebrauche letzteren in
einem doppelten Sinn, in einem ſubjectiven und objectiven. In
22*
[340]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
jenem verſtehe ich darunter die juriſtiſche Kunſt, deren Aufgabe
die formale Vollendung des gegebenen Rechtsſtoffs in dem oben
angegebenen Sinn iſt, in dieſem die Verwirklichung dieſer Auf-
gabe am Recht ſelbſt, alſo den kunſtgemäßen Mechanismus des
Rechts, diejenige Einrichtung und Geſtaltung deſſelben, die die
Operation der Anwendung des Rechts möglichſt unterſtützt und
erleichtert. Aehnlich gebraucht ja die Sprache auch den Aus-
druck Mechanik von der Kunſt und von dem durch die Kunſt
bewerkſtelligten Mechanismus.


Ein Nachtheil iſt von dieſer zwiefachen Bedeutung des Aus-
drucks nicht zu befürchten, die Einſicht des Leſers wird es mir
erſparen, durch einen eignen Zuſatz anzugeben, welche von bei-
den Bedeutungen jedesmal gemeint iſt.


Indem ich es jetzt unternehme, eine Theorie der Technik auf-
zuſtellen, bemerke ich, daß mir dies nicht möglich iſt, ohne Ideen,
die ich bereits früher (B. 1 S. 25—32, S. 42—47) angedeu-
tet habe, theilweiſe aufzunehmen und weiter auszuführen. Die
dort gegebenen Andeutungen können erſt an dieſer Stelle und
in dieſem Zuſammenhang ihre nähere Entwicklung und Be-
gründung erhalten.


Die geſammte Thätigkeit der juriſtiſchen Technik läßt ſich
auf zwei Hauptrichtungen oder Hauptzwecke zurückführen — ich
nenne ſie die techniſchen Intereſſen


  • 1. die möglichſte Erleichterung der ſubjectiven Beherr-
    ſchung
    (Aneignung, Erlernung, Erkenntniß, Auffaſſung)
    des Rechts — das Mittel dazu iſt die quantitative und
    qualitative Vereinfachung des Rechts — und
  • 2. die möglichſte Erleichterung der Operation der Anwen-
    dung
    deſſelben (Praktikabilität des Rechts).

Nach dieſen beiden Richtungen hin wollen wir jetzt die Thä-
tigkeit der Technik im allgemeinen verfolgen, um dieſelbe zu-
nächſt im Zuſammenhange und mit Einem Blick zu überſchauen;
die nähere Ausführung einzelner Punkte, die einer ſolchen be-
dürftig ſind, bleibt den folgenden Paragraphen vorbehalten.


[341]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
I.Die Vereinfachung des Rechts.

Um das Recht auf den einzelnen Fall richtig anzuwenden,
muß man es zunächſt in ſeinem abſtracten Inhalt richtig erken-
nen, es ſich aneignen, kurz es geiſtig beherrſchen. Dieſe Er-
kenntniß und ſubjective Aneignung iſt theils Sache des Ver-
ſtandes, theils Sache des Gedächtniſſes, und je nach Beſchaf-
fenheit der Rechte iſt das Maß des erforderlichen Aufwandes
der einen oder andern Geiſteskraft ein verſchiedenes. Es gibt
Rechte, die mehr den Verſtand als das Gedächtniß, andere,
die mehr das Gedächtniß als den Verſtand in Anſpruch nehmen,
Rechte ferner, bei denen die Arbeit für beide eine relativ leichte,
andere, bei denen ſie eine ungemein ſchwierige iſt. Im allge-
meinen wird ſich die Anſtrengung des Gedächtniſſes nach dem
quantitativen, die des Verſtandes nach dem qualitativen Ver-
halten der Rechte beſtimmen.


Die Leichtigkeit oder Schwierigkeit der ſubjectiven Aneignung
des Rechts hat aber nicht bloß ein ſubjectives Intereſſe,
ſondern mit letzterem trifft hier ein objectives d. h. das der
Rechtspflege genau zuſammen. Je mehr das Recht dem, der es
anzuwenden und mithin zu erlernen hat, durch ſeine Weit-
ſchichtigkeit die Ueberſicht, durch ſeine Dunkelheit und Unbe-
ſtimmtheit das richtige Verſtändniß erſchwert, um ſo unvoll-
kommener wird, wenn wir im übrigen auf Seiten des Sub-
jects daſſelbe Maß der Kräfte und der Anſpannung derſelben
annehmen, das Recht ſelbſt zur Anwendung kommen. Das In-
tereſſe des Richters und des Verkehrs gehen hier alſo Hand in
Hand, und es iſt mithin für letzteren eine Frage von äußerſter
Wichtigkeit, ob und wie es ſich erreichen läßt, daß die ſubjective
Aneignung des Rechts erſterem möglichſt erleichtert wird, in der
Weiſe daß auch bei der reichſten extenſiven und intenſiven Ent-
wicklung des Rechts das gewöhnliche Maß von Kraft und Fleiß
zur Löſung dieſer Aufgabe genüge.


Das Mittel zur Erreichung dieſes Zwecks beſteht in der
[342]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
quantitativen und qualitativen Vereinfachung
des Rechts
. In dieſer Formel iſt uns die geiſtige Herrſchaft
über das Recht gegeben, in ihr läßt ſich die ganze Aufgabe der
juriſtiſchen Technik nach dieſer Seite hin zuſammenfaſſen.


I. Die quantitative Vereinfachung. Sie bezweckt
eine Verringerung der Maſſe des Stoffs, natürlich unbeſchadet
der mit demſelben zu gewinnenden Reſultate. Ihr Geſetz iſt: mit
möglichſt wenig möglichſt viel auszurichten. Je weniger Stoff
und Mittel wir bedürfen, um die gewünſchten Reſultate zu er-
zielen, deſto leichter die Handhabung und Beherrſchung des Ap-
parats; je mehr, deſto ſchwieriger. Die Kunſt beſteht darin, die
extenſive Reichhaltigkeit des Stoffs möglichſt durch ſeine in-
tenſive
Brauchbarkeit zu erſetzen, mit Einem Begriff oder
Prinzip daſſelbe zu erreichen, wozu der weniger Geſchickte einen
ganzen Apparat von Mitteln nöthig hat. Es verhält ſich damit
ebenſo, wie mit der Conſtruction einer Maſchine. Je einfacher
die Maſchinerie bei ſonſtiger Gleichheit ihrer Brauchbarkeit,
deſto vollkommner iſt ſie.


Ich nenne dies das Geſetz der Sparſamkeit und er-
blicke darin eins der Lebensgeſetze aller Jurisprudenz. Eine Ju-
risprudenz, die dies Geſetz nicht begriffen hat, die es nicht ver-
ſteht, mit dem Material zu ökonomiſiren, wird von der anſchwel-
lenden Maſſe des Stoffs zu Boden gedrückt und erliegt ihrem
eignen Reichthum. Für das richtige Verſtändniß der altrömi-
ſchen Technik iſt die Kenntniß dieſes Geſetzes geradezu unent-
behrlich. Je mehr man ſich durch die pedantiſche und ans Lächer-
liche ſtreifende Weiſe, wie die ältere Jurisprudenz daſſelbe zur An-
wendung brachte, täuſchen laſſen kann, je weniger die Umwege,
die ſie einſchlug, die verzweifelten Anſtrengungen, die ſie machte,
um ein neues Bedürfniß mit den vorhandenen Mitteln zu be-
friedigen und ſich, ſo zu ſagen, die Anleihe eines neuen Be-
griffs oder einer neuen Geſchäftsform zu erſparen, je weniger
alles dies uns von vornherein natürlich und verſtändlich er-
ſcheint, um ſo mehr muß ich darauf dringen, daß man ſich den
[343]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Zuſammenhang dieſer Erſcheinung mit jenem oberſten Geſetz
der Technik klar mache. Als einzelne Punkte, in denen jenes
Geſetz ſich äußert, laſſen ſich namentlich folgende hervorheben.


  • 1. Die Zerſetzung des Stoffs oder die Reduc-
    tion deſſelben auf einfache Grundbeſtand-
    theile
    .


    Der Zweck und die Bedeutung dieſer Operation läßt ſich vor-
    läufig am kürzeſten durch den Vergleich mit der Reduction der
    Worte auf einfache Grundlaute, Buchſtaben, klar machen. Die-
    ſelbe Erſparniß, die das Alphabet uns beim Leſen und Schrei-
    ben rückſichtlich der Sprachzeichen verſchafft, wird durch jene
    Operation im Recht rückſichtlich des erforderlichen Rechtsſtoffs
    bewirkt. Sie beruht bei beiden darauf, daß nicht jedes Wort
    und Rechtsverhältniß ein einfacher Körper, ſondern daß die mei-
    ſten zuſammengeſetzte ſind und ſich mithin aus den einfachen
    Elementen durch richtige Combination derſelben herſtellen laſſen.

  • 2. Die logiſche Concentration des Stoffs.


    Sie bewirkt eine Verminderung des äußern Volumens deſſel-
    ben, indem ſie die Maſſe der Einzelnheiten auf allgemeinere
    Prinzipien zurückführt, die Scheidemünze in ſchweres Geld um-
    wechſelt.

  • 3. Die ſyſtematiſche Anordnung des Stoffs.


    Wenn auch die Abkürzung des Materials nicht gerade Zweck,
    ſo iſt ſie doch eine wichtige Folge derſelben. Die ſyſtematiſche
    Claſſification eines Punktes enthält keine bloße Orts anweiſung
    für denſelben, ohne Einfluß auf ihn ſelbſt, ſondern zugleich
    eine höchſt prägnante Ausſage ſowohl über das relative Ver-
    hältniß deſſelben zu andern Punkten, als über ihn ſelbſt; es iſt
    ein Sprechen ohne Worte. 480)

  • 4. Die juriſtiſche Terminologie.


    Eine ſcharf beſtimmte und reich entwickelte Terminologie iſt
    wie für jede Wiſſenſchaft, ſo auch für die Jurisprudenz von äu-
    ßerſter Wichtigkeit. Welch ein Mittel zur Kürze ſie iſt, 481) bedarf
    ebenſowenig der Ausführung, als daß die Kürze nicht der ein-
    zige Vortheil derſelben iſt. Was das Bett dem Strom, iſt ſie
    den Gedanken d. h. ſie drängt ihn nicht bloß zuſammen, ver-
    mindert nicht bloß den Raum, den er einnimmt, ſondern ſie
    hält und ſichert ihn ſelbſt und erleichtert die Controle und die
    Ueberſicht. Ein ſicheres Operiren iſt erſt dann und erſt da mög-
    lich, wann und wo es Kunſtausdrücke gibt. 482) Auch die Wiſ-
    ſenſchaft muß taufen, die Geburt allein genügt nicht!


480)


[345]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
  • 5. Die Kunſt der geſchickten Verwendung des
    Vorhandenen (die juriſtiſche Oekonomie)
    .


    Es iſt ſo eben ſchon im allgemeinen davon die Rede gewe-
    ſen, im übrigen aber verweiſe ich auf die Darſtellung der ältern
    römiſchen Jurisprudenz.


    Von dieſen genannten fünf Punkten bedürfen der dritte und
    vierte keiner näheren Erörterung, der fünfte wird am paſſend-
    ſten an der angegebenen Stelle abgehandelt werden, es verblei-
    ben uns mithin nur der erſte (§. 39) und zweite (§. 40).


II.Die qualitative Vereinfachung des Rechts. Die
Leichtigkeit und Schwierigkeit der Auffaſſung und Aneig-
nung eines Gegenſtandes beſtimmt ſich nicht bloß nach dem
quantitativen Moment, nach der Ausdehnung und dem Umfang,
ſondern ebenſo ſehr nach dem qualitativen, nach der innern
Ordnung, Symmetrie, Einheit des Gegenſtandes. Qualitativ
einfach iſt das Recht, wenn es wie aus Einem Guſſe iſt, wenn
die Theile unter ſich ſcharf begränzt und geſchieden ſind und den-
482)
[346]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
noch ſich harmoniſch zu Einer Einheit zuſammenfügen, wenn
alſo das Auge leicht den Theil, wie das Ganze erfaſſen kann.
Dies iſt möglich trotz des noch ſo großen äußern Volumens des
Rechts. Ich möchte in dieſer Beziehung von einem Bauſtyl
des Rechts ſprechen. So wie bei einem Gebäude nicht bloß die
Maſſe, ſondern auch die Art der Durchführung eines beſtimm-
ten Bauſtyls die Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Auffaſſung
beſtimmt, ebenſo auch bei dem geiſtigen Gebäude. Die quali-
tative Einfachheit des Rechts und damit die Ueberſichtlichkeit und
Leichtigkeit ſeiner Auffaſſung hängt alſo ab von der Beſchaffen-
heit des Bauſtyls und der Strenge und Conſequenz, mit der
derſelbe durchgeführt iſt. Dieſer Bauſtyl iſt das Product des
Stoffes und der Geſchicklichkeit der Jurisprudenz d. h. es be-
ſtimmt ihn weder der Stoff allein, noch die Jurisprudenz allein.
Die Kunſt nun, deren Aufgabe darin beſteht zu bauen, den
Rohſtoff zu glätten und zu geſtalten, ihn in kunſtgerechte For-
men zu bringen und aus der geſammten Maſſe des Materials
ein künſtleriſches Ganze zu errichten, heißt juriſtiſche Con-
ſtruction
. Sie beſchränkt ſich keineswegs auf eine bloße Anord-
nung des Stoffes, ſondern ſie nimmt mit ihm eine weſentliche
Umgeſtaltung vor, ſpecificirt ihn. Die Rechts ſätze verwandeln
ſich in Rechtsbegriffe, das ganze Recht tritt in einen höhern
Aggregatzuſtand, aus dem niedern eines rein poſitiven Gel-
tens
in den eines begrifflichen und künſtleriſchen Daſeins,
das Recht wird Kunſtwerk. Dieſe Metamorphoſe des Rechts
iſt für unſern obigen Geſichtspunkt der ſubjectiven Aneignung
deſſelben von äußerſter Bedeutung, denn nicht bloß erleichtert ſie
die Arbeit, ſondern ſie verwandelt die Arbeit in Genuß, ſie ge-
währt dem Recht eine Anziehungskraft, wie nur irgend ein
anderer Gegenſtand des menſchlichen Wiſſens ſie auszuüben
vermag.


Soviel möge hier zur vorläufigen Orientirung über dieſen
Punkt genügen; eine genauere Entwicklung dieſer Andeutungen
erfolgt in §. 41.


[347]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.

Die bisherige Darſtellung hatte die innere Perfectibilität
des Rechts als eines Objects der Erkenntniß zum Gegen-
ſtande. Wir haben aber oben bemerkt, daß ſich noch ein zweiter
Geſichtspunkt hinzugeſellt, nämlich


II.Die Praktikabilität des Stoffs.

Es iſt dies nur ein anderer, aber, wie ich glaube, beſſerer
Ausdruck für das, was ich früher (B. 1. S. 42—47) die for-
male Realiſirbarkeit des Rechts genannt habe. An der angege-
benen Stelle habe ich das Weſentliche über dieſen Punkt zum
großen Theil bereits bemerkt, und um ſo weniger wird es erfor-
derlich ſein, ihm einen eignen Paragraphen zu widmen; ich
werde ihn daher hier ſofort abſolviren.


Das Recht anwenden heißt die abſtracten Beſtimmungen
concret ausdrücken, und da jede geſetzliche Beſtimmung, wenn
auch nicht der Form, ſo doch der Sache nach an gewiſſe Vor-
ausſetzungen gewiſſe Folgen knüpft (z. B. „die Kinder ſollen
erben“ = wann Jemand geſtorben iſt und Kinder hinterlaſſen
hat, ſo ſollen letztere erben), ſo erfordert die Anwendung eines
jeden Rechtsſatzes zweierlei: die Unterſuchung der Frage, ob
die Vorausſetzungen im concreten Fall vorliegen (die
Diagnoſe), und die concrete Feſtſtellung deſſen, was nach Ab-
ſicht des Geſetzes eintreten ſoll z. B. die Feſtſtellung der Scha-
denserſatzſumme.


Das Recht kann nun, wie an jener Stelle bereits bemerkt
iſt, beide Operationen außerordentlich erleichtern oder erſchwe-
ren. Je innerlicher beide Momente vom Geſetzgeber aufgefaßt
ſind, je mehr alſo z. B. die Vorausſetzungen nicht in eine äu-
ßerlich leicht erkennbare Form (Formulare, Worte z. B. do lego,
damnas esto,
„Wechſel“) ſondern in innerliche Momente z. B.
die Abſicht des Subjects (zu noviren, ſchenken, animo domini
zu beſitzen) oder den Zweck des Geſchäfts (Hingabe zum Zweck
der Sicherung des Empfangens für eine Forderung oder zum
Zweck der Aufbewahrung) geſetzt ſind, deſto ſchwieriger iſt die
[348]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Operation der concreten Beſtimmung jener Momente; je äußer-
licher, deſto leichter. Die innere, rechtsphiloſophiſche Vollkom-
menheit des Gedankens oder die rationelle Genauigkeit und die
praktiſche Brauchbarkeit des Geſetzes ſtehen hier vielfach im um-
gekehrten Verhältniß. Der Geſetzgeber kann den Gedanken nicht
in ſeiner abſtracten Reinheit zum Geſetz erheben, er muß etwas
ablaſſen davon, der Gedanke muß, ſo zu ſagen, eine gröbere,
handfeſtere Conſtitution bekommen, damit er ſich leichter im Le-
ben realiſire — eine Beobachtung, die bereits Cicero 483) ge-
macht, die aber die Wiſſenſchaft ſowohl wie die Geſetzgebung
nicht ſelten viel zu wenig beachtet hat. Ich will der Wichtigkeit
der Sache wegen zu meinen frühern Beiſpielen noch einige an-
dere hinzufügen.


Die geiſtige und körperliche Reife tritt bei verſchiedenen In-
dividuen bekanntlich nicht in demſelben Zeitpunkt ein, rechtsphi-
loſophiſch ließe es ſich alſo nicht rechtfertigen, daß die Periode
der infantia, Impubertät und Minderjährigkeit abſtract für alle
gleich beſtimmt iſt. Allein wenn nun dem entſprechend der Ge-
ſetzgeber es dem Richter überlaſſen wollte, jene drei Stufen im
einzelnen nach der individuellen Reife zu beſtimmen: wie völlig
verkehrt würde dies ſein, welche Schwierigkeiten würde es ma-
chen, welche Ungleichheit der Entſcheidungen würde ſich ergeben,
wie unberechenbar würden letztere im einzelnen Fall ſein, und
wie viel Mühe und Arbeit würde um eines praktiſch unendlich
geringen Gewinnes wegen conſumirt werden! Darum hat das
römiſche Recht ſehr verſtändig feſte Gränzen geſetzt und nur in
einigen Beziehungen die Möglichkeit einer individuellen Abwei-
chung offen gelaſſen. 484)


[349]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.

Die Verjährung, inſofern ſie durch den Geſichtspunkt der
Nachläſſigkeit des Berechtigten gerechtfertigt werden ſoll, würde
nur da Platz greifen, wo und ſoweit eine ſolche Nachläſſigkeit
ſich im einzelnen Fall nachweiſen ließe. Sie würde alſo zu be-
ginnen haben nicht mit dem Moment des objectiven Ereigniſſes,
ſondern mit dem des ſubjectiven Wiſſens dieſes Umſtandes, und
ebenſo würde ſie nur ſo lange laufen, als ſubjectiv die Möglich-
keit einer Ausübung oder Geltendmachung des Rechts vorhan-
den war. Ein ſolcher Zuſchnitt der Verjährung, alſo in der
Sprache des römiſchen Rechts das tempus utile, wäre abſtract
genommen das allein Richtige, und die entgegenſtehende Be-
handlungsweiſe, das tempus continuum (S. 109) das Ver-
kehrte. Praktiſch aber ſteht die Sache gerade umgekehrt, und
darin hat es ſeinen Grund, daß das neueſte Recht die Idee des
tempus utile, obgleich ſie die neuere und freiere war, nicht wei-
ter ausgebildet, ſondern ſie im Gegentheil weſentlich beſchränkt
(restitutio in integrum) und für faſt alle wichtigeren Verhält-
niſſe das tempus continuum in verbeſſerter Geſtalt (d. h. mit
verlängerten Zeitfriſten) beibehalten oder eingeführt hat (Klag-
verjährung).


Bei der Berechnung der Zeitfriſten müßte man eigentlich von
der Minute und Sekunde des Anfangspunktes bis zu der ent-
ſprechenden des Schlußtages zählen (computatio naturalis), al-
lein eine ſolche Genauigkeit wäre namentlich bei größern Friſten
geradezu ſinnlos. Weniger genau iſt beſſer; das Recht rechnet
bloß nach Tagen, auf Minuten und Stunden kömmt es nicht
an (computatio civilis).


484)


[350]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.

Der Strenge nach hätte der Kläger bei der act. legis Aqui-
liae
den Werth der verletzten Sache im Moment der That
beweiſen müſſen, und er würde mithin ſich ſolcher Zeugen nicht
haben bedienen können, die nicht bei der That ſelbſt gegenwärtig
waren und nur über den Werth der Sache in den letzten Tagen,
Wochen, Monaten vor der That ausſagen konnten, d. h. er
würde den nöthigen Beweis in der Regel gar nicht haben er-
bringen können. Daher war die Beſtimmung der lex Aquilia,
daß der Beweis des Werthes auf die letzte Zeit (Monat, be-
ziehungsweiſe Jahr) gerichtet werden dürfe, im hohen Grade
praktiſch.


Das legatum per vindicationem ſetzte voraus, daß der Te-
ſtator die legirte Sache im Moment der Teſtamentserrichtung
wie des Todes im Eigenthum gehabt habe. 485) Wollte man
dieſen Geſichtspunkt ſtreng durchführen, dem Legatar alſo den
Beweis des wirklichen Eigenthums in jenen beiden Momenten
aufbürden, ſo wäre es damit um die meiſten Legate geſchehen
geweſen. Wie ſchwer hätte der Beweis nicht ſchon für den Te-
ſtator ſelbſt ſein können, ungeachtet er doch wußte, wann und
von wem er die Sache erworben, welche Zeugen gegenwärtig
geweſen u. ſ. w. Von alle dem wußte der Legatar vielleicht
nichts. Und ſelbſt angenommen, der Beweis hätte ſich einfach
durch Urkunden erbringen laſſen, die ſich im Nachlaß befanden:
der Legatar hatte ſie weder in Händen, noch wußte er etwas
von ihnen, und gerade der, welcher ſie beſaß, der Erbe, war bei
der Nichterbringung des Beweiſes aufs Höchſte intereſſirt. Of-
fenbar konnte man hier vom Legatar keinen andern Beweis ver-
langen, als daß der Teſtator die Sache zu jenen beiden Zeit-
punkten gehabt, beſeſſen habe. Und bei fungiblen Sachen
war ſelbſt dieſer Nachweis noch zu ſchwer. Denn wenn der Te-
ſtator z. B. ein gewiſſes Quantum Wein, Getraide vermacht
hatte, ſo genügte der Beweis nicht, daß er daſſelbe Quantum,
[351]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
welches ſich beim Tode vorfand, bereits im Moment der Teſta-
mentserrichtung beſeſſen, ſondern daß er dieſen Wein, dieſes
Getraide bereits damals hatte. Der Beweis der Identität der
Sache iſt aber bei fungiblen Sachen häufig geradezu ein un-
möglicher, ein ſolches Legat wäre alſo in der Regel nicht zu rea-
liſiren geweſen. Der Geſichtspunkt der Praktikabilität erforderte
hier eine Abweichung von dem abſtract Richtigen, und die Ju-
risprudenz erkannte den Beweis des Eigenthums (Habens) im
Moment des Todes für genügend.


Eine ähnliche Schwierigkeit konnte der Beweis des Eigen-
thums am Gelde beim Darlehn haben. Nach der Theorie war
das Eigenthum des Darleihers am Gelde Vorausſetzung der
Gültigkeit des Darlehns, der Strenge nach hätte alſo der Klä-
ger, wenn dieſe Vorausſetzung vom Beklagten beſtritten ward,
dieſen Beweis erbringen müſſen. Mit einer ſolchen Strenge
aber hätte man das Darlehn zu einer Unmöglichkeit gemacht.
Daher erklären ſich verſchiedene Eigenthümlichkeiten in der Theo-
rie des Darlehns, ſo z. B. der Satz, daß die Conſumtion der
Geldſtücke den urſprünglichen Mangel der Eigenthumsübertra-
gung heilt, namentlich aber der, daß ein Dritter durch Hinge-
ben ſeines Geldes auf Namen eines Andern letzterm die Dar-
lehnsobligation erwerben kann. Wollte man dieſen Satz nicht,
ſo mußte man, wenn der Darleiher ſein eignes Geld durch einen
Boten überbringen ließ, den Beweis verlangen, daß das Geld,
welches der Bote abgeliefert, daſſelbe geweſen ſei, welches er
erhalten d. h. einen unmöglichen Beweis auferlegen. Nahm man
aber Anſtand dies zu thun, erklärte man alſo den Beweis für
genügend, daß der Schuldner von dem Boten im Namen des
Darleihers irgend welche Geldſtücke ausbezahlt erhalten habe,
ſo war durch dieſe prozeſſualiſche Conceſſion der mate-
rielle
Rechtsſatz gewonnen, daß Jemand ſeine eignen Geld-
ſtücke auf unſern Namen und für uns als Darlehn hingeben
kann — ein Rechtsſatz, der abſtract genommen als große Sin-
gularität erſcheinen müßte, von unſerm Geſichtspunkt der Prak-
[352]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
tikabilität aus aber ein durchaus motivirter, ja unvermeidli-
cher war.


Ich könnte die Zahl dieſer Beiſpiele noch um viele vermeh-
ren, 486) allein ich fürchte ſchon ſo den Vorwurf, daß ich mit ih-
nen etwas zu freigebig geweſen bin. Der Grund davon lag
in dem Wunſch, den Einfluß, den die Rückſicht auf Praktikabi-
lität auf die materielle Geſtaltung des Rechts ausübt, die
materiell-productive Kraft unſeres Geſichtspunktes mög-
lichſt zu veranſchaulichen und einzuprägen. Wer den Geſichts-
punkt der Praktikabilität nicht ſtets im Auge hält, wird manche
Rechtsſätze gar nicht verſtehen und läuft namentlich Gefahr dem
poſitiven Recht gerade da Vorwürfe zu machen, wo daſſelbe ſie
am wenigſten verdient.


Das techniſche Problem, um das es ſich bei dieſer Praktika-
bilität des Rechts handelt, unterſcheidet ſich in mannigfacher
Beziehung von dem, welches wir unter I haben kennen lernen,
vor Allem aber darin, daß die Macht der Wiſſenſchaft hier eine
geringere und eine Mitwirkung der poſitiven rechtsſetzenden Ge-
walten (Geſetz, Gewohnheitsrecht, Autonomie des Verkehrs) 487)
hier in ungleich höherm Maße geboten iſt, als dort. Es hat
dies darin ſeinen Grund, daß die Löſung dieſer Aufgabe nicht
rein und ausſchließlich durch eine formale Vervollkommnung
des Stoffs möglich iſt, ſondern eine gewiſſe materielle Zu-
richtung deſſelben verlangt. Kann nun auch die Wiſſenſchaft,
[353]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
wo ſie völlig freie Hand hat d. h. wo ſie ſelbſt erſt die Rechts-
ſätze zu finden hat, letzteren ſelbſt von vornherein den erforder-
lichen praktikabeln Zuſchnitt geben, ſo iſt dies doch da nicht
möglich, wo ſie poſitive Rechtsſätze vorfindet, denen die Prakti-
kabilität abgeht. Was ſoll die Wiſſenſchaft machen, wenn z. B.
das Geſetz die höchſt unpraktiſche Beſtimmung enthält, daß bei
einem Erbfall die Erbſchaft nach dem Urſprung der Güter in
der Weiſe getheilt werden ſoll, daß die von Seiten des Vaters
und väterlichen Verwandten ererbten Stücke an die väterlichen,
die von Seiten der Mutter und mütterlichen Verwandten ererb-
ten an die mütterlichen Verwandten fallen ſollen? Die Wiſſen-
ſchaft d. h. die bloße Deduction iſt derartigen Beſtimmungen
gegenüber machtlos; hier kann nur die real geſtaltende Macht
des Lebens, die Praxis, das Gewohnheitsrecht helfen.


Die Praktikabilität iſt demnach ein techniſcher Maßſtab, mit
dem wir das poſitive Recht ſelbſt, nicht bloß die juriſtiſche Bear-
beitung deſſelben zu meſſen haben, eine Technik, die bis zu
einem gewiſſen Grade ſchon von Anfang an im Stoff ſtecken
muß, wenigſtens durch die Jurisprudenz allein nicht in die
Sache hineingebracht werden kann. In dieſer Beziehung kömmt
es alſo im hohen Grade auf den praktiſchen Takt an, der bei
der Bildung des Rechts, möge dieſelbe durch Geſetz oder Ge-
wohnheitsrecht erfolgen, thätig war, und ich müßte mich ſehr
täuſchen, wenn nicht gerade in dieſer Hinſicht die ungebildeten
Rechte den gebildeten überlegen wären. Das ältere römiſche
Recht wenigſtens übertrifft das neuere in dieſer Beziehung um
eben ſo viel, als letzteres das heutige. Worauf beruht dies?
Theils auf der Verſchiedenheit der innern Durchbildung und
des äußern Umfanges des Rechts, theils auf der Differenz rück-
ſichtlich der Art und Weiſe, mit der in dem einen und andern
Recht die Form und die Formeln gehandhabt werden. Je ſinn-
licher das Recht d. h. je äußerlicher ſeine Formen, je maſſiver
die Begriffe, je geringer ferner die Zahl derſelben, und je weni-
ger ſie bis zu ihren äußerſten Spitzen, in denen ſie ſich berühren
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 23
[354]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
und ineinander übergehen, entwickelt ſind, um ſo leichter ſind
ſie anzuwenden, weil im concreten Fall leichter zu erkennen und
zu unterſcheiden. Namentlich iſt der Formalismus für unſere
Frage von höchſter Bedeutung. Denn die Form rückt eben das
Innerliche auf die Oberfläche, ſie erſpart ein Eingehen auf das
Materielle, ähnlich wie die Form bei der Münze, das Gepräge,
uns der Mühe überhebt, den Werth der Münze durch eine Unter-
ſuchung ihres Gehaltes und Gewichtes zu ermitteln. Der For-
malismus iſt aber im ältern römiſchen Recht am ſtärkſten ent-
wickelt, im neuern bereits beträchtlich abgeſchwächt, im heutigen
auf einige wenige Gebiete (namentlich Teſtamente, Wechſel) zu-
rückgedrängt.


Je weniger Begriffe und Inſtitute vorhanden ſind, deſto
weiter der Zwiſchenraum zwiſchen ihnen, deſto größer die
Verſchiedenheit, deſto leichter mithin die Unterſcheidung der-
ſelben. Je mehr neue Inſtitute und Begriffe ſich aber erheben,
um ſo kleiner wird der Abſtand des einen vom andern, um ſo
mehr wächſt mit der Annäherung die Aehnlichkeit und mit der
Aehnlichkeit die Gefahr der Verwechslung. Die Obligation und
die Herrſchaft über eine Sache waren früher diametral entgegen-
geſetzte Verhältniſſe; in der Superficies, Emphyteuſis und dem
Pfandrecht des neuern Rechts reichen ſie ſich die Hand. Aber
nicht blos das Aufkommen neuer vermittelnder und verbinden-
der Inſtitute bewirkt eine ſolche Annäherung, ſondern eben ſo
ſehr die innere Durchbildung der vorhandenen. Was in ſeinen
Anfangspunkten weit auseinander liegt, trifft in ſeinen End-
punkten zuſammen. Man nehme z. B. das mutuum, depositum
und den ususfructus. Wie ſehr ſind ſie verſchieden, wie wenig
ſcheint hinſichtlich ihrer die Gefahr einer Verwechslung im con-
creten Fall zu drohen, und dennoch, ſeitdem die beiden letztern
Verhältniſſe nicht mehr auf ſpecifiſch beſtimmte Gegenſtände
beſchränkt, ſondern auch bei generiſch beſtimmten zugelaſſen ſind
(depositum irregulare und quasi ususfructus), iſt jene Gefahr
im hohen Maße vorhanden. Iſt ein Quaſi-uſusfruct oder ein
[355]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
Darlehn gemeint, wenn der Teſtator beſtimmt: mein Erbe ſoll
dem A bis zu ſeiner Volljährigkeit ein Kapital von 1000 zins-
los überlaſſen? Wie verſchieden erſcheinen der Pfandcontract
und Kaufcontract, und doch können ein Kaufcontract mit hinzu-
gefügtem pactum de retrovendendo oder pactum displicentiae
und ein antichretiſcher Pfandcontract ſich zum Verwechſeln ähn-
lich ſehen. 488)


Dieſer Fortſchritt in der innern Ausbildung der Inſtitute
wird alſo mit einer nicht geringen Einbuße erkauft; in der Ju-
risprudenz nicht minder wie in der Medicin iſt die Diagnoſe mit
jedem Jahrhundert ſchwieriger geworden! Ob der Gewinn mit
der Einbuße immer im richtigen Verhältniß ſteht, iſt, wenn eine
Frage, jedenfalls eine müßige Frage, denn nicht unſer Entſchluß
und freier Wille treibt uns in der Wiſſenſchaft weiter, ſo daß
wir die unbequemen Reſultate vermeiden könnten, ſondern die
Macht und Nothwendigkeit des Gedankens, die Dialektik der
Sache ſelbſt. 489) Die Wurzeln der Begriffe ſind weit von ein-
23*
[356]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ander getrennt, aber die Spitzen berühren ſich und verzweigen
ſich oft in einer Weiſe, daß im einzelnen Fall ſchwer zu erkennen,
ob dieſes oder jenes Verhältniß vorliegt und daß ein unbedeu-
tendes Moment, eine kleine Nüance des Willensinhalts oder
Ausdrucks hier den Ausſchlag geben kann. Dem Laien erſcheint
das als Spitzfindigkeit; der Vorwurf iſt aber ſo begreiflich und
eben ſo unbegründet, als wenn ein Ungebildeter einem Chemiker
die Sorgſamkeit und Genauigkeit im Wägen als Pedanterie an-
rechnen wollte. Je feiner und zarter die Gegenſtände ſind, die
wir zu wägen haben, um ſo genauer müſſen die Gewichte ſein;
die Wiſſenſchaft kann nicht mehr mit Pfunden wägen, wenn die
Gegenſtände ſelbſt nur um Lothe differiren. Daß aber eine Diffe-
renz von einem Loth im praktiſchen Reſultat einen höchſt wich-
tigen Unterſchied begründen kann, das iſt eben nicht unſere
Schuld, ſondern der Dinge ſelbſt.


Je mehr nun, wie geſagt, die feinere Durchbildung der Be-
griffe die Unterſcheidung derſelben im concreten Fall erſchwert,
um ſo mehr wird die Anwendung des Rechts den Charakter
einer eignen Kunſt annehmen, einer Kunſt, die mit der theore-
tiſchen Kenntniß des Rechts keineswegs gegeben iſt, ſondern
einer beſonderen Anſtrengung und vieljähriger Uebung bedarf.
Dieſe Kunſt der juriſtiſchen Diagnoſe, ohne die das theoretiſche
Wiſſen ein Beſitz iſt, mit dem man im Leben nicht operiren kann,
iſt vielleicht in noch höherem Grade als das erforderliche Wiſ-
ſen
der Umſtand, der den Laien vom Juriſten ſcheidet und ihm
die Hülfe des letzteren unentbehrlich macht. Die Hauptſache bei
dieſer Kunſt muß allerdings die eigene Uebung thun, allein die
Wiſſenſchaft kann dennoch bis zu einem gewiſſen Grade hülf-
reiche Hand leiſten. Sie ſoll nämlich die Kriterien, an denen
489)
[357]II. Die Aufgabe derſelben. §. 38.
man das concrete Daſein eines Begriffs erkennen kann, auf-
ſuchen und angeben. Dazu genügt freilich nicht, daß ſie die
Momente bezeichnet, die den abſtracten Thatbeſtand des Ge-
ſchäfts ausmachen — die rein theoretiſche Analyſe deſſelben —
ſondern ſie hat vor allem das praktiſche Auftreten des Begriffs
ins Auge zu faſſen d. h. die regulären Formen, Ausdrücke 490)
anzugeben, in die das Leben ihn zu kleiden pflegt, die Zwecke,
denen er erfahrungsmäßig dienen ſoll, die Umſtände, Verhält-
niſſe, unter denen er regelmäßig auftritt. 491) Sie wird hier mit-
hin auf die Statiſtik des Rechts verwieſen. Wie nun die Sta-
tiſtik überhaupt zur Aufſtellung einer Wahrſcheinlichkeitstheorie
führt, ſo auch hier. Der Zweck und Werth der juriſtiſchen
Wahrſcheinlichkeitstheorie
beſteht darin, daß ſie uns
aus dem Zuſtand abſoluter Ungewißheit errettet. Es kann näm-
lich ein concretes Rechtsverhältniß ſo eigenthümlich geſtaltet ſein,
daß es die Merkmale zweier Begriffe an ſich trägt, und mithin
eine Entſcheidung für den einen oder andern abſolut unmöglich
iſt. In einem ſolchen Zweifelsfall bedarf es nun, da eine Ent-
ſcheidung einmal getroffen werden muß, eines Gewichts, das
den Ausſchlag gibt, und dies iſt die Vermuthung, die juri-
ſtiſche Präſumtion (praesumptio juris). Ich will ein bekanntes
Beiſpiel wählen. Wenn vor Eingehung der Ehe die zur Dos
beſtimmten Gegenſtände dem Manne übertragen werden, ſo kann
dadurch bloß eine Uebertragung des Beſitzes oder bereits die
des Eigenthums beabſichtigt ſein. Wie nun wenn im einzelnen
Fall nicht erhellt, was von beiden beabſichtigt iſt? Hier ſoll der
Eigenthumsübergang angenommen werden. 492) Woher nahm
[358]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
das Recht dieſe Beſtimmung? Offenbar daher, daß dieſe Art
der Uebertragung im Leben die gewöhnlichere und wahrſchein-
lich auch die angemeſſenere war. Denn das Gewöhnliche,
Regelmäßige iſt muthmaßlich auch das dem Verhältniß Entſpre-
chende, Richtige, wenigſtens das von dem allgemeinen Urtheil
dafür Angeſehene und Gebilligte. Der Geſetzgeber könnte die
Aufſtellung derartiger Vermuthungen im Einzelnen ganz der
Jurisprudenz überlaſſen. Letztere iſt nicht bloß völlig in der Lage
die Aufgabe zu löſen, ſondern ſie iſt es oft beſſer, als der Geſetz-
geber, und in der guten Zeit der römiſchen Jurisprudenz blieb
in der That die Aufgabe rein der Wiſſenſchaft und Praxis über-
laſſen. Juſtinian aber hielt es für nöthig ſelbſt vielfach einzu-
greifen. 493) Rückſichtlich der einzelnen im römiſchen Recht ent-
haltenen Vermuthungen ſind wir heutzutage zwar gebunden,
allein nichts hindert uns, für Fragen, bei denen wir freie Hand
haben, Präſumtionen aufzuſtellen. Unſere heutige Jurisprudenz
hat aber dieſe Aufgabe viel zu wenig beachtet; es wäre zu wün-
ſchen, daß Jeder, der uns einen neuen Begriff bietet, auch Rede
und Antwort ſtände, woran wir denſelben im concreten Fall
erkennen, und was wir im Zweifel vermuthen ſollen. 494) An
der Vernachläſſigung dieſer Aufgabe merkt man, daß unſer heuti-
ges Recht mehr von Theoretikern als Praktikern bearbeitet wird;
dem Theoretiker kömmt jene Frage nie, dem Praktiker täglich.


Es ſollen jetzt die drei oben genannten Operationen, die man
Fundamental-Operationen der juriſtiſchen Technik
[359]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
nennen könnte: die Analyſe, Concentration und Con-
ſtruction
, näher erörtert werden. Dieſelben greifen im Ein-
zelnen allerdings vielfach ineinander über, allein dennoch iſt
eine Unterſcheidung derſelben im Begriff nicht bloß möglich,
ſondern zum Zweck der geſonderten Darſtellung abſolut noth-
wendig. Es verhält ſich damit ähnlich, wie mit der Unterſchei-
dung der verſchiedenen Geiſtesvermögen. Von letzteren arbeitet
nie eine einzelne Kraft für ſich allein, oder richtiger, die verſchie-
denen Kräfte, die wir annehmen, ſind nur eben ſo viele Seiten
oder Richtungen einer und derſelben Kraft, allein dennoch iſt,
um ſich dieſe Verſchiedenheit zum Bewußtſein zu bringen, eine
Trennung und abgeſonderte Darſtellung derſelben unvermeid-
lich. In dieſem Sinn bitte ich auch die Unterſcheidung jener drei
Operationen aufzunehmen.


II. Die drei Fundamental-Operationen der juriſtiſchen
Technik.

1. Die juriſtiſche Analyſe (das Rechtsalphabet).

Der einfache Rechtskörper — localiſirende und abſtracte Rechts-
production — hiſtoriſche Erſcheinung des Abſtracten im Concre-
ten (die Durchbruchspunkte; analoge Ausdehnung) — die Buch-
ſtaben des Rechts — Vergleichung des Alphabets des Rechts mit
dem der Sprache.


XXXIX. Eine der großartigſten, fruchtbarſten und doch
zugleich einfachſten Entdeckungen, die der menſchliche Geiſt je
gemacht hat, iſt das Alphabet. Vierundzwanzig Zeichen geben
uns die Herrſchaft über einen unerſchöpflichen Schatz, und die
Handhabung dieſes Mittels iſt in dem Maße leicht und einfach,
daß die Operationen des Fixirens der Worte durch Zeichen und
die Entzifferung der Zeichen, das Schreiben und Leſen, ſelbſt
einem Kinde begreiflich gemacht und von ihm bis zur größten
[360]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Vollkommenheit erlernt werden können. Ohne das Alphabet
würde eine ſolche Herrſchaft über die Sprache ſelbſt durch die
äußerſte Kraft und Anſtrengung nicht erreicht werden können,
und Leſen und Schreiben die ſchwierigſte aller Künſte und Wiſ-
ſenſchaften ſein.


Das Alphabet enthält für das Gebiet der Sprache die Löſung
einer Aufgabe, die wir oben für das Recht als das Hauptpro-
blem der Technik bezeichnet haben: die Erleichterung der Herr-
ſchaft über den Stoff durch Vereinfachung deſſelben, und es liegt
daher ſehr nahe zu fragen, ob nicht dieſelbe Weiſe der Löſung
auch hier anwendbar, die Idee des Alphabets auf das Recht
übertragbar ſei. Die Idee des Alphabets aber beruht auf Zer-
ſetzung, Zurückführung des Zuſammengeſetzten auf ſeine Ele-
mente, das Alphabet iſt aus der Beobachtung hervorgegangen,
daß die Sprache ihren ganzen Reichthum an Worten durch eine
verſchiedene Combination gewiſſer Grundlaute gebildet hat, und
daß mithin die Entdeckung und Bezeichnung dieſer Grundlaute
ausreicht, um mit und aus ihnen jedes beliebige Wort zuſam-
menzuſetzen.


Was die Worte in der Sprache, das ſind die Rechtsverhält-
niſſe im Recht — die Formen, in denen die geiſtige Bewegung
der Menſchheit (Denken und Wollen) vor ſich geht und ſich bethä-
tigt; in Worten wie in Rechtsverhältniſſen tritt das Indivi-
duum aus ſich heraus und zu andern in eine geiſtige Verbin-
dung. Dieſe Bewegung iſt aber eine unüberſehbar reiche, ewig
neue und productive; jeder Tag bringt neue Worte, jeder Tag
neue Rechtsverhältniſſe. Aber bei letzteren wie bei erſteren iſt
dieſer Reichthum und dieſe Verſchiedenheit nur das Product einer
Combination einfacher Elemente, und hierauf beruht, wie bei der
Sprache, ſo auch beim Recht, die Möglichkeit einer verhältniß-
mäßig leichten Beherrſchung der Sache. Die Aufgabe iſt hier
wie dort Entdeckung dieſer Elemente, Aufſtellung eines Alpha-
bets. Ohne Alphabet wären wir verloren. Müßte der Geſetz-
geber für jedes Rechtsverhältniß oder jede beſondere Geſtaltung
[361]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
eines ſolchen eine Regel aufſtellen, es würde der Stoff uns nicht
bloß durch ſeine Maſſenhaftigkeit erdrücken, ſondern trotz der-
ſelben uns täglich im Stich laſſen, da die Erfindungskraft des
Lebens aller Vorausſicht und Berechnung ſpottet.


Zerſetzung des Stoffs, Auffindung der einfachen Elemente
des Rechts iſt alſo der in der innerſten Nothwendigkeit der Sache
ſelbſt gelegene Weg zum Ziel. Es bewährt ſich hier eine Bemer-
kung, die wir früher (S. 27) bei einer andern Gelegenheit zu
machen hatten, daß das Weſen des Rechts in Zerſetzen, Schei-
den, Trennen beſtehe. Die juriſtiſche Technik läßt ſich nach die-
ſer Seite hin als eine Chemie des Rechts bezeichnen, als
die juriſtiſche Scheidekunſt, welche die einfachen Körper ſucht.
Auf je weniger einfache Körper ſie den Stoff zurückführt, je mehr
ſie alle zuſammengeſetzten als das erkennt, was ſie ſind, und
ihnen damit den Schein ſelbſtſtändiger juriſtiſcher Exiſtenz ent-
zieht, um ſo höher ihre Kunſt, um ſo vollkommener das Recht.


In welcher Weiſe geſchieht dieſe Zerſetzung, wie iſt ſie mög-
lich? Ich hoffe dies bereits an dieſer Stelle klar machen zu
können, will jedoch bemerken, daß dieſer Gegenſtand erſt bei
Gelegenheit der juriſtiſchen Conſtruction ſein volles Licht erhal-
ten wird.


Ich nehme an, daß man bei Ausarbeitung eines Geſetz-
buches zuerſt den Kaufcontract behandelt und alle denkbaren Fra-
gen, die im Leben bei ihm vorkommen können, entſchieden hat.
Späterhin handelt es ſich um eine gleiche legislative Normirung
anderer Contracte z. B. des Tauſch-, Miethcontractes. Hier
werden nun neben ſolchen Fragen, die rein und ausſchließlich
auf dies beſondere Verhältniß ſich beziehen, auch ſolche wieder-
kehren, die bereits bei Gelegenheit des Kaufcontracts und mit
Rückſicht auf ihn entſchieden worden ſind z. B. die Frage über
den Einfluß des Irrthums auf die Gültigkeit des Contracts,
über die Folgen der Mangelhaftigkeit oder Verzögerung der Lei-
ſtung. Es wäre nun denkbar, daß man eine ſolche ſich öfter wie-
derholende Frage mit Rückſicht auf die wirkliche oder vermeint-
[362]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
liche Beſonderheit des Verhältniſſes jedes Mal von neuem und
in anderer Weiſe entſchiede. Das Geſammtmaterial, das zur
Beantwortung der einen Frage producirt worden wäre, würde
ſich hier von den einzelnen Verhältniſſen, in und an denen es
exiſtirte, nicht in der Weiſe trennen laſſen, daß aus demſel-
ben eine für alle einzelnen Verhältniſſe zutreffende allgemeine
Theorie jener Frage gebildet werden könnte; dem Stoff ſelbſt
fehlte das allgemeine Daſein und mithin der Jurisprudenz
die Möglichkeit zum Analyſiren und Abſtrahiren. Wollte ſie das
Material dennoch trennen und zuſammentragen, ſo wäre dies
eine rein äußerliche, nutzloſe Zuſammenſtellung, ein Aggregat
von abgeriſſenen Bruchſtücken verſchiedener juriſtiſcher Körper,
von denen ſich jedes hier, ſo zu ſagen, deplacirt fühlte und nach
ſeinem natürlichen Zuſammenhang zurückſehnte. Das Allge-
meine
lag nicht in der Antwort, ſondern in der Frage;
mit einer Generaliſirung der Frage iſt nichts gewonnen, wenn
nicht die Antwort darauf, ſei es auch nur in irgend einer Be-
ziehung, generell lauten kann.


Ich möchte eine ſolche Methode der geſetzlichen Regulirung
einer Frage, die den Stoff local zerſtreut, zerſplittert, die loca-
liſirende
nennen. Eine abſolute Localiſirung des Rechtsſtoffs
iſt eine Unmöglichkeit; das Moment der Allgemeinheit, das ein-
mal in den Dingen liegt, wird ſich auch ohne Wiſſen und Wil-
len des Geſetzgebers geltend machen, und hätte er den Stoff auch
noch ſo ſehr localiſirt, die Jurisprudenz würde immer einige,
wenn auch noch ſo allgemeine Abſtractionen demſelben entneh-
men können.


Den Gegenſatz zu dieſer Methode bildet die abſtracte
Rechtsproduction. Ich nenne ſie ſo, weil und inſofern ſie eine
Frage von den einzelnen Verhältniſſen, bei denen dieſelbe prak-
tiſch allein zum Vorſchein kömmt (z. B. der Irrthum nur bei
Abſchluß eines einzelnen Contracts) abſtrahirt, ſie für alle d. h.
allgemein, abſtract entſcheidet. Das Ziel derſelben iſt nicht,
daß der ganze Rechtsſtoff allgemein werde, ſondern ſo viel
[363]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
davon als möglich iſt d. h. daß eine Frage, die ihrer Natur
nach eine allgemeine (nicht auf eine einzelne Species beſchränkte)
iſt, als ſolche erkannt und möglichſt allgemein beantwortet werde.
Sie beruht alſo auf einer Zerſetzung der Inſtitute, denn ſie löſt
diejenigen Fragen, die bei dieſem wie bei jenem vorkommen kön-
nen, ab, ſie ſcheidet die allgemeinen Elemente aus und läßt nur
das Specifiſche des Inſtituts, das abſolut nicht mehr zu
verflüchtigende Reſiduum der Momente oder Fragen, welche das
Weſen dieſer Species ausmachen, zurück. Für letztere iſt die
locale Rechtsproduction, ſoweit überhaupt poſitive Rechts-
ſätze dazu nöthig ſind (die Individualität ſich alſo nicht als rein
begriffliche Nothwendigkeit darſtellt) ebenſo am Platz, wie für
jene allgemeinen Elemente die abſtracte. Je mehr die Geſetz-
gebung oder (wovon nachher das Nähere) die Wiſſenſchaft ſich
vervollkommnet, um ſo mehr wird ſich demgemäß der Rechtsſtoff
aus den concreteren Parthien in die abſtracteren Regionen zu-
rückziehen; in einem unentwickelten Recht werden erſtere über
letztere, in einem entwickelten letztere über erſtere das Ueber-
gewicht haben.


Die Macht der Dinge ſetzt aber auch dieſer Richtung eine
gewiſſe Gränze; eine abſolut abſtrahirende Geſtaltung des Stoffs
iſt praktiſch nicht minder unausführbar, wie eine abſolut loca-
liſirende. Das praktiſche Bedürfniß (utilitas) wird es mitunter
erheiſchen, daß die abſtracte Regel zu Gunſten eines beſonders
eigenthümlichen Verhältniſſes verlaſſen, die an ſich allgemeine
Frage hier local entſchieden werde. Dies iſt das jus singulare
der Römer. Nicht das locale Recht ſchlechthin heißt ſo, z. B.
nicht die eigenthümlichen Grundſätze der Conſenſual- im Gegen-
ſatz zu den Real-Contracten, ſondern nur die locale Abweichung
von einem an ſich allgemeinen Princip (ratio juris). Diejeni-
gen localen Rechtsſätze, die ihrer Natur nach nothwendig local
ſind (ſ. oben), enthalten keine Abweichung von einem Allgemei-
nen, weil es für ſie kein Allgemeines gibt; ſie ſind ſpeciell, aber
nicht ſingulär. Ebenſo wenig dürfte man da von einem jus sin-
[364]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
gulare ſprechen, wo der ganze Stoff localiſirt iſt, wie es z. B.
bei den Friſten der Verjährung denkbar wäre; wo keine Regel,
gibt es keine Ausnahme.


So wenig ich es nun verkenne, daß es Intereſſen und Gründe
geben kann, welche eine derartige Abweichung durchaus moti-
viren, ſo ſehr hat doch das Recht Urſache, dieſen Abweichungen
möglichſt wenig hold zu ſein, ſie vielmehr als Opfer oder Con-
ceſſionen zu betrachten, die nur durch den Fall der Noth ent-
ſchuldigt werden können. Zwei Intereſſen ſtehen ſich hier gegen-
über, das des beſonderen Verhältniſſes, welches die Abwei-
chung vom allgemeinen Recht begehrt, und das der Technik des
Rechts, welches ſich dem widerſetzt. Die praktiſche Bedeu-
tung des letzteren iſt dem blöden Auge weniger ſichtbar, da
daſſelbe nicht in den Niederungen einzelner Fragen, ſondern
nur auf der Höhe des Rechts zum Vorſchein kömmt; der Un-
kundige wird es daher überall nicht anerkennen oder höchſtens
für ein rein theoretiſches erklären. Aus dieſem Grunde erſcheint
ihm jenes erſtere Intereſſe mindeſtens als das überwiegende
wenn nicht einzige; ein Geſetzgeber, der die Sache mit dieſem
Auge anſieht, wird mithin den Conflict zu Gunſten dieſes
Intereſſes entſcheiden. Von dem Preiſe, um den er hier ein
vielleicht höchſt untergeordnetes und beſchränktes Bedürfniß be-
friedigt, dem Schaden nämlich, den das Recht in ſeinem Lebens-
princip erleidet, hat er keine Ahnung. Eine ſolche Unkenntniß
der praktiſchen Bedeutung der Intereſſen der Technik iſt lei-
der auch in der Wiſſenſchaft keineswegs ſelten; man würde ſonſt
nicht ſo häufig die individualiſirende (oder in meiner Sprache
localiſirende) Methode des deutſchen Rechts als das Wahre und
Rechte preiſen (S. 121—123). Beide Extreme ſind vom Uebel,
aber ſoll es dann einmal eins ſein, ſo iſt ein zu weit getriebe-
nes Centraliſiren weniger gefährlich, als das Individualiſiren.
Dort iſt wenigſtens im Centrum eine gewaltige Kraft, es iſt ein
Ganzes, wenn auch auf Koſten des Beſondern; hier hingegen
iſt nicht einmal das Einzelne kräftig entwickelt, denn als Ein-
[365]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
zelnes iſt es eben zu klein und gering. Für die techniſche
Beurtheilung der Rechte iſt das Verhältniß, in dem ſich in ihnen
die abſtracte und locale Rechtsproduction bethätigt haben, ein
ganz entſcheidender Geſichtspunkt. Je mehr erſtere in einem Recht
überwiegt, je größer mithin die Summe der allgemeinen
Beſtandtheile in demſelben iſt, je weniger das Allgemeine zu
Gunſten einzelner Verhältniſſe durchbrochen iſt, um ſo mehr hat
ſich in demſelben das Ideal der juriſtiſchen Technik d. h. die
Idee des Alphabets verwirklicht. Denn die allgemeinen Beſtand-
theile eines Rechts ſind, wie wir nachher zeigen werden, die
eigentlichen Buchſtaben des Rechts, die localen Rechtsſätze
keine Buchſtaben, ſondern Zeichen für ein einzelnes Wort.


Auf jedem Gebiet der Erkenntniß erblickt und gewinnt der
menſchliche Geiſt früher das Concrete, als das Abſtracte. Darum
erſcheinen auch im Recht die concreten Parthien d. h. die Rechts-
ſätze für einzelne Rechtsverhältniſſe hiſtoriſch ungleich früher ent-
wickelt, als die abſtracten Parthien. Bevor letztere in ihrer wah-
ren d. h. allgemeinen Form von der Geſetzgebung oder Wiſſen-
ſchaft erkannt und ausgeſprochen ſind, haben ſie nicht ſelten eine
lange Vorgeſchichte durchmachen, verſchiedene Phaſen zurück-
legen müſſen. Dieſe Entwickelungsgeſchichte derſelben gehört zu
den intereſſanteſten Erſcheinungen auf dem Gebiete der Rechts-
geſchichte, und es iſt uns um ſo nöthiger dieſelbe kennen zu ler-
nen, als an ihr eine der wichtigſten Aufgaben und Operationen
der juriſtiſchen Technik zu Tage tritt.


Die Erſcheinung, die ich meine und zu der uns nicht bloß
die Geſchichte des römiſchen, ſondern eines jeden Rechts eine
Reihe von Beiſpielen liefert, beſteht darin, daß ein abſtracter
Gedanke urſprünglich erſt in beſchränkter Weiſe bei einem einzel-
nen Punkt, den ich den hiſtoriſchen Durchbruchspunkt495)
[366]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
derſelben nennen möchte, zum Vorſchein kömmt und erſt nach
und nach die Ausdehnung und Ausbreitung erlangt, die ihm
ſeiner Natur nach gebührt. Auch die Gedanken haben um ihre
Exiſtenz zu ringen und nicht ſelten ſich jeden Fußbreit Landes
mühſam zu erkämpfen. Träten ſie gleich in ihrer ihnen dermal-
einſt beſchiedenen Allgemeinheit auf, man würde ſie nicht ver-
ſtehen und ſich ihnen widerſetzen. Darum erſcheinen ſie in höchſt
beſcheidener Geſtalt und begnügen ſich anfänglich mit einem klei-
nen Gebiet, bis die Geiſter ſich an ſie gewöhnt, und ſie ſelbſt in
irgend einem Punkte Wurzel gefaßt, feſte Geſtalt und damit die
Kraft zum weitern Vorſchreiten gewonnen haben. Die Incon-
ſequenz, deren man ſich durch dieſe Beſchränkung des Gedankens
auf ein einzelnes Verhältniß ſchuldig macht, der Anſpruch deſ-
ſelben auf Allgemeinheit, kann ſich auf die Dauer der Wahrneh-
mung nicht entziehen, denn die Conſequenz iſt eine Macht, die
langſam, aber ſicher, unbewußt, aber nicht minder wirkſam im
Geiſt fortarbeitet, und längſt empfunden und gefühlt iſt, bevor
ſie ausdrücklich anerkannt wird. Darum kömmt auch für jenen
Gedanken unausbleiblich die Zeit, wo man fragt: warum gilt
er bloß hier, warum nicht auch in dem und jenem völlig gleich-
artigen Verhältniß, eine Zeit, wo Manchem die ſeitherige Be-
ſchränktheit
ſeiner Geltung nicht minder auffällig und ver-
wunderlich erſcheinen mag, als vor und zur Zeit ſeiner Einfüh-
rung einem Andern der Verſuch, ihn überhaupt, wenn auch nur
in beſchränkteſter Weiſe zuzulaſſen.


Ich will das Geſagte jetzt an einer tabellariſch geordneten
Reihe von Beiſpielen aus dem römiſchen Recht erläutern. Die
Columne links bezeichnet den Gedanken in ſeiner ſpäteren reinen
d. h. abſtract allgemeinen Geſtalt, die Columne rechts den Durch-
bruchspunkt deſſelben, bei dem er hiſtoriſch zuerſt in beſchränkter
Weiſe zum Vorſchein gekommen.


495)


[367]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.

Dieſe Beiſpiele ließen ſich noch um viele vermehren, für un-
ſern Zweck reichen jedoch die mitgetheilten vollkommen aus.


Worauf es mir vor allem bei dieſer ganzen Erſcheinung an-
kömmt, iſt, den Gedanken fern zu halten, daß es ſich hier um
etwas Zufälliges oder eine unvollkommene Entſtehungsweiſe
des Rechts handle. Zufällig iſt weder die Erſcheinung ſelbſt im
allgemeinen, denn es iſt nichts als das allbekannte Geſetz des
Werdens, das ſich in ihr verwirklicht, noch iſt es zufällig im
einzelnen Fall, daß ein neuer Gedanke bei dieſem und keinem
andern Punkt zum Durchbruch kömmt. Was entſcheidet darüber?
Ich glaube, theils die größere Stärke des Bedürfniſſes, theils
die größere Leichtigkeit der erſten Geſtaltung des Gedankens
gerade an dieſem Punkt. Was den erſten Grund anbetrifft, ſo
[368]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
nehme man z. B. das Beiſpiel 1 und 3 aus unſerer Tabelle.
Der Handel iſt an juriſtiſcher Gewandtheit und productiver
Kraft dem übrigen Verkehr überall voraus, eben weil ſein Be-
dürfniß ein dringenderes iſt, die Gewähr der Fehler der gekauf-
ten Sache iſt aber viel nöthiger bei Thieren, als bei lebloſen
Sachen, weil man wenigſtens im allgemeinen ſich bei letzteren
durch Beſchauen und Probiren leichter ſicher ſtellen kann, als
bei erſteren. Unter dieſen Geſichtspunkt fällt auch die nament-
lich in der folgenden Periode ſo häufige Form der erſten Erſchei-
nung eines Rechtsſatzes, nämlich als eines Privilegiums einzel-
ner Stände oder Claſſen von Perſonen (z. B. der Soldaten,
Minderjährigen u. ſ. w.). Was den zweiten Grund anbetrifft,
ſo verweiſe ich namentlich auf Fall 2 und 4 und, wenn ich an-
dere Beiſpiele hinzufügen ſoll, auf die Priorität des Sachen-
beſitzes vor dem Quaſibeſitz, auf die urſprüngliche Beſchränkung
des Uſusfructus, Depoſitums, der Miethe auf individuell
beſtimmte Gegenſtände gegenüber der ſpätern Ausdehnung dieſer
Verhältniſſe auf generiſch beſtimmte Sachen, auf die urſprüng-
liche Faſſung des damnum injuria datum als eines corpore
corpori datum
u. ſ. w. Der Vollſtändigkeit wegen muß ich noch
eines andern Grundes gedenken. Die beiden ſo eben angeführ-
ten ſetzten voraus, daß der Rechtsſatz oder Gedanke von vorn-
herein in allgemeiner Geſtalt hätte auftreten können, d. h. daß
ein weiterer Anwendungskreis, als auf den er ſich beſchränkte,
für ihn vorhanden geweſen wäre. Nun iſt aber auch der Fall
möglich, und er iſt im römiſchen Recht nicht ſelten, daß irgend
ein Princip oder Begriff urſprünglich ſich aus dem Grunde an
ein beſonderes Verhältniß angelehnt, ſich localiſirt hat, weil letz-
teres damals das einzige war, bei dem er denkbarerweiſe gelten
konnte, oder m. a. W. ſo lange eine Gattung bloß aus einer
Species beſteht, muß nothwendigerweiſe ein Moment des Gat-
tungsbegriffs in der beſchränkten Form eines Moments der Spe-
cies auftreten. Ich nehme den Begriff eines jus in re aliena.
Ihm gehören an verſchiedene wichtige Rechtsſätze (z. B. daß der
[369]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
Inhalt eines ſolchen Rechts nicht in Handlungen des Herrn der
belaſteten Sache beſtehen kann, daß daſſelbe durch Conſolidation
untergeht u. ſ. w.); dieſelben gelten mithin im neuern Recht für
alle Species, die zur Gattung jus in re aliena gehören. Wenn
dieſelben nun hiſtoriſch als rein locales Recht der Servituten
auftreten, ſo hat dies eben darin ſeinen Grund, daß die Servi-
tuten Jahrhunderte lang die einzige Art eines ſolchen Rechts
waren. Manche dieſer Sätze haben ihre urſprüngliche, auf die
Species lautende Form noch beibehalten (z. B. servitus in
faciendo consistere nequit, nulli res sua servit
). Aehnlich
verhält es ſich mit dem Begriff und dem Recht der Univerſalſuc-
ceſſion in das Vermögen Verſtorbener. Im ältern Recht war
die hereditas die einzige Art der Univerſalſucceſſion, der Gat-
tungsbegriff konnte alſo nur an ihr entwickelt werden, die erb-
rechtlichen Regeln lauteten daher ſämmtlich auf die hereditas.
Seit dem Aufkommen der Bonorum Possessio hätten ſie dieſe
Faſſung wenigſtens überall da, wo ſie nicht etwas Specifiſches
der hereditas, ſondern etwas der ganzen Gattung Gemeinſames
betrafen, ablegen müſſen, nichtsdeſtoweniger aber haben ſie die-
ſelbe auch im neuern Recht beibehalten.


Werfen wir ſchließlich noch einen Blick auf die Art und Weiſe,
wie die Verallgemeinerung des Gedankens zu geſchehen pflegt, ſo
hat dieſelbe etwas durchaus Charakteriſtiſches. Es ſcheint näm-
lich dieſe Art der Fortbildung des Rechts vorzugsweiſe der Ju-
risprudenz vorbehalten zu ſein. Im römiſchen Recht wenigſtens
ſind, abgeſehen von dem Fall, wo es ſich um Verallgemeinerung
eines urſprünglich nur einem einzelnen Stande verliehenen Pri-
vilegiums handelt, mir keine Fälle bekannt, in denen die Geſetz-
gebung ſich ſelbſt dieſer Aufgabe unterzogen hätte. Die Opera-
tion, mittelſt deren die Jurisprudenz dieſelbe löſt, iſt unter dem
Namen der analogen Ausdehnung allbekannt, ſie dürfte
jedoch durch den Zuſammenhang, in den unſere Darſtellung ſie
bringt, nicht unweſentlich an Klarheit und Beſtimmtheit gewon-
nen haben. Zunächſt nämlich ergibt ſich daraus die Berechtigung
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 24
[370]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
und Nothwendigkeit derſelben. So lange in der Geſchichte
das Geſetz beſteht, daß das Allgemeine nicht in allgemeiner,
ſondern beſchränkter Form zur Welt kömmt, wird auch das
Bedürfniß der analogen Ausdehnung beſtehen; die Natur ſelbſt
macht hier eine mäeutiſche Hülfsleiſtung des Juriſten nothwen-
dig. Es ergibt ſich ferner hieraus die Möglichkeit einer genaue-
ren Beſtimmung des Begriffes und damit der Geſetze der ana-
logen Ausdehnung. Der Begriff läßt ſich dahin beſtimmen, daß
dieſe Operation nichts iſt, als die Ablöſung des ſeiner Natur und
Beſtimmung nach Allgemeinen von ſeiner localen hiſtori-
ſchen Erſcheinungsform. Sie beruht alſo auf einer Ana-
lyſe
des hiſtoriſch zur Einheit eines Inſtituts vereinigten
Rechtsſtoffes, und zwar beſteht die Aufgabe darin, diejenigen
Beſtandtheile (Rechtsſätze), welche lediglich aus dem eigenthüm-
lichen Zweck und Begriff dieſes Inſtituts fließen, rein der
Species angehören (abſolut-locale Beſtandtheile), von den-
jenigen zu trennen, welche nur in und an dieſem Inſtitut zur
Erſcheinung gekommen, ihrem Weſen nach aber abſtracter
Art ſind (hiſtoriſch-locale). Der Gedanke, der der act.
exercit.
und instit., der publiciana, der redhibit. und quanti
minoris
zu Grunde lag, war ein allgemeiner, und als die Juri-
ſten dieſe Klagen auf andere analoge Verhältniſſe erſtreckten,
dehnten ſie denſelben nicht ſowohl aus, als ſie erkannten ihn
in ſeiner wahren Geſtalt und befreiten ihn von ſeiner zu engen
hiſtoriſchen Ausdrucksform. Die Jurisprudenz überhebt ſich hier-
bei nicht, ſie greift nicht in die Rechte des Geſetzgebers ein, ſie
ſchafft nicht, ſondern ſie übt nur eine höhere Kritik und Inter-
pretation, eine Kritik und Interpretation nicht der Worte, aber
des legislativen Gedankens. Allerdings erfordert dieſe Opera-
tion eine größere Geſchicklichkeit der Abſtraction und ein feineres
Unterſcheidungsvermögen, als die gewöhnliche Interpreta-
tion, und Mißgriffe ſind hier nach beiden Seiten möglich, näm-
lich ſowohl daß zu viel als daß zu wenig gethan wird d. h. daß
man fälſchlich die weſentlich-localen Beſtandtheile für abſtracte
[371]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
und umgekehrt die abſtracten für weſentlich-locale erklärt. Was
den erſten Mißgriff anbetrifft, ſo iſt er wenigſtens regelmäßig 496)
kaum zu befürchten, ſchon darum weil es bequemer und ſicherer
iſt, bei dem unmittelbaren Inhalt des Geſetzes ſtehen zu bleiben.
Was den zweiten anlangt, ſo iſt er nicht bloß verzeihlich, ſon-
dern, wie bereits bemerkt, hiſtoriſch-nothwendig; ſo wenig wie
der Geſetzgeber ſich einen neuen Gedanken ſofort in ſeiner gan-
zen Allgemeinheit denken kann, ebenſo wenig auch die Jurispru-
denz. Auch für ſie gehört erſt eine längere Zeit der Gewöhnung
dazu, bis ſie ihn in ſeiner abſtracten Allgemeinheit zu denken
lernt und den Muth gewinnt, ihm dieſelbe auch praktiſch zu vin-
diciren. Das gilt nicht bloß für die niederen Stufen der Juris-
prudenz, ſondern eben ſowohl für uns trotz aller unſerer Bil-
dung und philoſophiſchen Auffaſſung, denn auch unſere Erkennt-
niß ſteht unter dem Geſetz des Werdens. Die analoge Ausdeh-
nung iſt daher in der Regel nicht die That eines Individuums,
ſondern das Werk eines Jahrhunderts, das Reſultat eines lang-
ſamen Umſchwunges in der Anſchauung. Darin liegt die ſicherſte
Garantie gegen eine Uebereilung bei derſelben; wenn ihre Zeit
noch nicht gekommen, ſo findet ſie kein Verſtändniß und keine
Anerkennung, iſt aber letzteres der Fall, ſo darf man des erſte-
ren ſicher ſein.


Die Ausführung der letzten Seiten knüpfte an den obigen
Gegenſatz der localiſirenden und abſtracten Rechtsproduction an,
auf letztere aber führte uns der Nachweis der Möglichkeit einer
Zerſetzung des Rechtsſtoffs. Wir kehren jetzt zu unſerm urſprüng-
24*
[372]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
lichen Ausgangspunkt, der Verwirklichung der Idee des Alpha-
bets im Recht, zurück.


Nehmen wir an, daß die Zerſetzung des Rechtsſtoffs in der
angegebenen Weiſe vollkommen gelungen iſt, ſo ſtellt ſich das
Recht dar als eine Summe von einfachen, nicht weiter aufzu-
löſenden Elementen, die wie die Buchſtaben ſich zu zuſammen-
geſetzten Einheiten vereinigen können und uns wie ſie in Stand
ſetzen, alle, auch die complicirteſten und ungewöhnlichſten Com-
binationen des Lebens zu entziffern. Wir wollen die Beſchaf-
fenheit, Brauchbarkeit und Benutzung dieſes Rechtsalphabets
unter beſtändigem Hinblick auf das der Sprache etwas näher
erläutern.


Daſſelbe beſteht aus Beſtandtheilen doppelter Art, aus Be-
griffen und Rechtsſätzen von localer und von abſtracter Anwend-
barkeit. Erſtere laſſen ſich, da ſie als ſolche im Leben ohne wei-
tern Zuſatz vorkommen können, auch als ſelbſtändige oder
concrete Rechtskörper bezeichnen. Beiſpiele gewähren der
Kaufcontract, die Weggerechtigkeit, das Teſtament. Die ab-
ſtracten hingegen gelangen nie für ſich allein zur Erſcheinung, ſo
wenig wie eine Eigenſchaft, ſondern immer nur in und an ſelbſt-
ſtändigen Körpern. Beiſpiele gewähren der Irrthum, die Nich-
tigkeit, Mora. Ein Irrthum als ſolcher d. h. unabhängig von
einem concreten Rechtsverhältniß, eine Mora als ſolche d. h.
ohne Beziehung auf eine beſtehende Obligation iſt ein praktiſches
Unding, beide müſſen ſich mit ſelbſtändigen Körpern verbinden.
Letztere alſo treten nur in Zuſammenſetzungen auf, erſtere hin-
gegen rein, iſolirt. Wenn wir den Vergleich mit den Buchſtaben
hierauf ausdehnen wollen, was aber in anderer Beziehung leicht
irre führen kann, ſo können wir die abſtracten die Conſonanten,
die concreten die Vocale nennen. Hiermit hängt ein anderer
Unterſchied derſelben zuſammen. Die abſtracten Elemente näm-
lich haben eine ungleich größere Anwendbarkeit, weil ſie nicht
an ein einzelnes Verhältniß gebunden ſind; der Irrthum z. B.
kann bei einem Contract, einer Tradition, einer Zahlung, einem
[373]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
Legat u. ſ. w. vorkommen. Die ſelbſtändigen hingegen betreffen
immer nur ein ganz ſpecielles Verhältniß, ſie ſind ungleich enger,
beſchränkter. Obgleich ſie nun inſofern ſich weniger mit Buch-
ſtaben, als etwa mit Zeichen für ein ganzes Wort, ſtereotypir-
ten Wörtern vergleichen ließen, ſo üben doch auch ſie die weſent-
liche Function der Buchſtaben aus d. h. ſie können ſich nicht bloß
mit den abſtracten, ſondern auch unter ſich zu einem zuſammen-
geſetzten Rechtsverhältniß verbinden, die oben genannten (Te-
ſtament, Weggerechtigkeit, Verkauf) alſo z. B. in der Weiſe,
daß ein Teſtator ſeinem Erben auferlegt, dem Nachbar gegen
Zahlung einer gewiſſen Summe eine Weggerechtigkeit zu verkau-
fen. 497) Auch bei ihnen alſo realiſirt ſich die Idee des Alpha-
bets d. h. die Bildung des Zuſammengeſetzten aus einfachen
Elementen, auch bei ihnen müſſen wir, um das Verhältniß zu
entſcheiden, leſen d. h. es in dieſe einfachen Beſtandtheile
auflöſen.


Vergleichen wir nun unſer Rechtsalphabet mit dem der
Sprache, ſo ſteht es zunächſt darin hinter letzterem weit zurück,
daß die Buchſtaben deſſelben theilweiſe eine ungleich beſchränk-
tere Anwendbarkeit beſitzen, als die der Sprache. Mit letzteren
laſſen ſich in dieſer Beziehung nur unſere abſtracten Elemente
des Rechts in Parallele bringen. Schon aus dieſem Grunde
muß die Zahl der Buchſtaben dort ungleich größer ſein, als hier,
es geſellen ſich aber noch andere Gründe hinzu, namentlich der,
daß das Alphabet des Rechts ungleich genauer und exacter iſt
und ſein muß, als das der Sprache. Wenn letzteres mit ſo außer-
ordentlich wenig Zeichen ausreicht, ſo beruht das zum großen
Theil auf der Ungenauigkeit, mit der die Sprachlaute wieder-
gegeben werden. Wie viele Zeichen wären erforderlich, wenn
all die feinen Schattirungen und Nüancen namentlich in der
Ausſprache der Vocale angedeutet werden ſollten. Die Schrift
gewährt nur eine ſehr rohe Reproduction der Sprache, genü-
[374]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
gend für den, der die Ausſprache kennt, aber für den, der letztere
darnach lernen wollte, durchaus unzureichend. Rückſichtlich des
Rechts gilt für die niederſten Stufen allerdings ganz daſſelbe
(Bd. 1 S. 17—21), das geſchriebene Recht gewährt auch hier
nur einen ſehr ungenauen Anhaltspunkt für das Sprechen
des Rechts, allein ich brauche kaum zu bemerken, daß die mög-
lichſte Congruenz zwiſchen dem Schreiben oder Setzen des Rechts
und dem Recht-Sprechen gerade eins der Ziele aller Entwicke-
lung des Rechts bildet. Soll Recht geſprochen werden, wie es
geſchrieben iſt, ſo muß es auch geſchrieben werden, wie geſpro-
chen werden ſoll. Für die Sprache hat jene möglichſte Con-
gruenz, wenigſtens was den Inländer anbetrifft, keine praktiſche
Bedeutung, für das Recht die äußerſte. Darum alſo kann die
Sprache ungenau, das Recht aber nicht exact genug verfahren,
und ſo erklärt es ſich, daß erſtere mit einer kleinen Zahl von Buch-
ſtaben ausreicht, während letzteres eine große Zahl nöthig hat.


Aus dieſer Verſchiedenheit beider rückſichtlich des Maßes der
von ihnen beiden angewandten Genauigkeit ergibt ſich ein fer-
nerer Unterſchied zwiſchen ihnen. Während nämlich das Alpha-
bet der Sprache vollkommen abgeſchloſſen iſt und mithin trotz
aller Umwandlung der Sprache daſſelbe geblieben iſt und blei-
ben wird, da es eben die feineren Nüancen in der Ausſprache
nicht wiedergibt; während daſſelbe ferner ſich nicht auf eine ein-
zelne Sprache beſchränkt, ſondern für ganze Sprachfamilien im
weſentlichen daſſelbe iſt, kann das des Rechts auf eine gleiche
von Zeit und Ort, von der Geſchichte und Nationalität unab-
hängige Geltung keinen Anſpruch machen. Man könnte mir
einwenden, daß es doch auch im Recht Grundbegriffe von abſo-
luter Wahrheit gebe, ſeien es auch nur juriſtiſch-logiſche Kate-
gorien, oder rein formale Begriffe wie z. B. der Begriff der
juriſtiſchen Unmöglichkeit, der Gegenſatz der Nichtigkeit und An-
fechtbarkeit, des Rechts und der Ausübung, des Irrthums im
Object und in den Beweggründen u. ſ. w., und daß dieſelben
mithin, bei welchem Volk ſie immerhin zuerſt entdeckt und aus-
[375]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
gebildet worden ſeien, dennoch nicht dem Rechtsalphabet die-
ſes
Volks angehörten, ſondern einem ſupernationalen, univer-
ſellen, abſoluten. Allein ſo ſehr ich die abſolute Wahrheit dieſer
Begriffe und damit die Möglichkeit eines univerſellen
Rechtsalphabets
zugebe, ſo darf man doch nicht außer Acht
laſſen, daß dieſelben rein formaler Art ſind, und daß wir es mit-
telſt ihrer mithin nicht über eine formale juriſtiſche Logik (deren
hohen didaktiſchen Werth ich übrigens nicht beſtreiten will) hin-
aus bringen würden. Die praktiſche Geſtaltung, die ſubſtantielle
Ausfüllung derſelben würde immer noch eine Sache des poſitiven
Rechts bleiben. So iſt z. B. jener Unterſchied rückſichtlich des
Irrthums ein begrifflich nothwendiger und ganz geeignet, die
juriſtiſche Denkfähigkeit zu üben, allein ob dem Irrthum überall
eine praktiſche Beachtung zu Theil werden und, wenn dies, ob
ſie bloß dem Irrthum in dem Object oder auch dem Irrthum in
den Motiven geſchenkt werden ſoll, das iſt Sache poſitiver Rechts-
ſatzung, und wenn letztere die erſtere Frage verneint oder das
zweite Glied der zweiten Frage bejaht, ſo iſt der Unterſchied
ſelbſt für dieſes Recht nicht vorhanden, weil nicht praktiſch. So
war z. B. der Gegenſatz der Nichtigkeit und Anfechtbarkeit im
ältern Recht gar nicht vorhanden, da daſſelbe die Ungültigkeit
ausſchließlich in der Form der Nichtigkeit vermittelte. Es ſteht
alſo mit jenen Begriffen ſo, daß das Abſolute daran etwas rein
Formales, das Praktiſche daran etwas rein Poſitives iſt. Aller-
dings kann dieſe poſitiv-praktiſche Geſtaltung eine ſo verſtän-
dige, zweckmäßige ſein, daß man ihr da, wo ſie einmal gilt, gern
eine ewige Dauer und ſelbſt eine univerſelle Verbreitung progno-
ſticiren möchte, allein nichts deſto weniger müſſen wir ſie doch
als etwas Poſitives und mithin möglicherweiſe dem Wechſel der
Anſichten und Dinge Unterliegendes bezeichnen.


Unſer praktiſches Rechtsalphabet iſt daher etwas Poſi-
tives, Hiſtoriſches, und die Geſchichte eines jeden Rechts bethä-
tigt uns dies. Es ändern ſich nicht bloß die Rechtsſätze, ſon-
dern mit ihnen auch die Begriffe und Inſtitute, und es ändert
[376]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ſich nicht bloß die Beſchaffenheit und Bedeutung unſerer vor-
handenen Rechts-Buchſtaben, ſondern die Zeit bringt uns völlig
neue und ſtreicht die alten aus. Wie ſehr aber dennoch ein ein-
zelnes Rechtsalphabet bei aller ſeiner Poſitivität den Einflüſſen
von Zeit und Ort zu trotzen vermag, davon gibt uns das römi-
ſche ein ſchlagendes Beiſpiel. Die praktiſche Geſtaltung des Ei-
genthums, der Servitut, Obligation u. ſ. w. im römiſchen Recht
und mithin auch die begriffliche Conſtruction des Stoffs von
Seiten der römiſchen Juriſten iſt römiſch, wie ſehr man auch
in der Verehrung vor dem römiſchen Recht ſich oft dagegen ver-
ſchloſſen und in erklärlicher Selbſttäuſchung ſich das Römiſche
als das Abſolute zu deduciren verſucht hat. Aber wie lang hat
dies Römiſche vorgehalten! Die aufgeführten Begriffe gelten
heutzutage im weſentlichen faſt ebenſo, wie vor anderthalb Jahr-
tauſenden, und, was mehr iſt, das römiſche Recht bietet uns
ſelbſt für Verhältniſſe und Fragen, die erſt die moderne Welt
gebracht hat, vielfach völlig ausreichende Entſcheidungsnormen.
Erklärlich genug, daß der Glaube an den abſoluten Charakter
des römiſchen Rechts, jene Idealiſirung deſſelben zu einer ratio
scripta,
einer geoffenbarten Vernunft in Dingen des Rechts,
ſchon ſo früh Wurzel ſchlagen und ſich bei einzelnen Schwär-
mern ſelbſt bis auf den heutigen Tag erhalten konnte!


Daß nun trotz der angegebenen Verſchiedenheiten zwiſchen
dem Rechts- und Sprach-Alphabet erſteres dennoch den Namen
eines Alphabets verdient, bedarf wohl keiner Bemerkung. Will
man es einen Vergleich nennen, ſo gibt es wenigſtens keinen,
der treffender wäre und geeigneter, dem Unkundigen das Weſen
und Walten der analytiſchen Kraft im Recht mit Einem Worte
zu veranſchaulichen. So einfach und natürlich aber ſelbſt einem
Laien die Sache mittelſt dieſes Vergleichs erſcheinen wird, ſo
kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß im Grunde
der Laie für jene Methode der Zerſetzung, die ihm bei der von
mir gewählten Einkleidung ſo natürlich erſcheint, von vornher-
ein nicht bloß kein Verſtändniß beſitzt, ſondern ſich zu ihr ent-
[377]1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
ſchieden antipathiſch verhält. Denn jene Methode iſt die reine
Negation ſeiner eignen Anſchauungs- und Gefühlsweiſe, ſie iſt
berechnet darauf, der Herrſchaft des Rechtsgefühls ein Ende
zu machen. Das Charakteriſtiſche der Auffaſſungsweiſe des
Laien, möge es ſich um das abſtracte Recht oder um die Beur-
theilung eines einzelnen Rechtsverhältniſſes handeln, beſteht in
dem Nicht-Scheiden, oder poſitiv ausgedrückt in der Hin-
gabe an den Totaleindruck. 498) Alle jene einzelnen Elemente,
Seiten, Beziehungen eines Rechtsinſtituts oder Rechtsfalles, die
ſich dem juriſtiſchen Auge als einzelne darſtellen, fließen für
ihn zuſammen, und die Geſammtwirkung, die der Gegenſtand
auf ſein Gefühl ausübt, der Totaleindruck dieſes Bildes, iſt es,
der ſein Urtheil beſtimmt. Der Laie wird es unbegreiflich fin-
den, daß der Juriſt ein Inſtitut des Lebens, in dem er, der
Laie, Ein organiſches Ganze erblickt, und das ihm jedenfalls
als eine gegebene Thatſache des Lebens eines weiteren Suchens
nicht mehr bedürftig erſcheint, mühſam in einzelne Atome auf-
löſt und es ſodann erſt aus ihnen wieder zuſammenſetzt. Wenn
ein Kläger, der einen durchaus begründeten Anſpruch hat, eine
unvortheilhafte Wahl der Klage trifft z. B. ſtatt der act. in pers.
eine act. in rem, ſo prüft der Richter lediglich, ob die Voraus-
ſetzungen dieſer Klage vorhanden ſind und weiſt mithin im
Verneinungsfall den Kläger mit dieſer Klage ab, ungeachtet
aus den Verhandlungen ſich ergibt, daß der Anſpruch des Klä-
gers, wenn er mit einer andern Klage geltend gemacht werden
ſollte, durchaus begründet iſt. Dies wird dem Laien höchſt an-
[378]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ſtößig erſcheinen, und doch iſt es nichts als eine einfache Schei-
dung der Geſichtspunkte und eine Beſchränkung auf denjenigen,
unter dem der Kläger ſelbſt die Beurtheilung des Falles ver-
langt hat.


Wie wenig das Weſen der zerſetzenden Methode zur Zeit
noch von Seiten der Wiſſenſchaft begriffen iſt, hat ſich nament-
lich in dem Streit über den Gegenſatz des römiſchen und deut-
ſchen Rechts kundgegeben. Zwei heutige Rechtsphiloſophen 499)
haben den Mangel des römiſchen Rechts darin zu finden ge-
glaubt, daß es demſelben an „Organismen, organiſchen Geſtal-
tungen, einem poſitiven Prinzip organiſcher Geſtaltung“ u. ſ. w.
gefehlt habe. Worauf aber beruht dieſe Behauptung? Ich
glaube, nur auf Folgendem. So lange die juriſtiſch-zerſetzende
Kraft ſich an einem Rechtsinſtitut noch nicht bethätigt hat, macht
uns daſſelbe nothwendig den Eindruck eines „Organismus;“
alles greift in ſchönſter Weiſe in einander, rechtliche und ethiſche
Momente, Form und Inhalt, dingliches und obligatoriſches
Element u. ſ. w. So wie aber die Jurisprudenz ſich des Inſti-
tuts bemächtigt und ihre Pflicht und Schuldigkeit daran thut, iſt
es, ohne daß ſich an dem realen, praktiſchen Beſtande deſ-
ſelben das Geringſte änderte, um jenes poetiſche „Verwachſen-
ſein,“ „Sich-organiſch-Durchdringen“ u. ſ. w. geſchehen; die
ſchöne Blume iſt dahin, und wir haben ſtatt deſſen Stickſtoff,
Sauerſtoff u. ſ. w. Das Eine Element des Inſtituts gelangt im
Syſtem hierhin, das andere dorthin. 500) Wenn nun das deutſche
[379]2. Die logiſche Concentration. §. 40.
Recht uns Organismen, das römiſche aber Atome oder Elemente
bietet, ſo iſt das nicht ſowohl eine Verſchiedenheit der beiden
Rechte — oder ſollte etwa z. B. die Vormundſchaft im römi-
ſchen Leben weniger eine „organiſche Einheit“ geweſen ſein, als bei
uns? — ſondern eine Verſchiedenheit der wiſſenſchaftlichen
Behandlung
beider und zwar eine ſolche, die für die germa-
niſtiſche Rechtswiſſenſchaft nicht ein Lob, ſondern einen Vor-
wurf in ſich ſchließt. Die poſitive Jurisprudenz ſoll keine Or-
ganismen kennen, ſo wenig wie die organiſche Chemie.


Dem obigen Vorwurf gegen das römiſche Recht ſcheint die
Idee zu Grunde zu liegen, als ob jene Rechtsatomiſtik nicht eine
bloß juriſtiſche, ſondern eine reale geweſen, als ob der römiſche
Geiſt eine Abneigung gegen alles Zuſammengeſetzte, Gemiſchte,
oder was man ſonſt unter organiſch verſteht, gehabt habe. 501)
Allein die zerſetzende Kraft des römiſchen Geiſtes zerſetzte doch
nicht die Dinge, ſondern nur die Begriffe, und nicht um das
praktiſche Beſtehen von Organismen zu verhindern, ſondern um
daſſelbe zu ſichern.


2. Die logiſche Concentration.

Die Möglichkeit einer Concentrirung des Stoffs — das logiſche
Centrum und die Peripherie — innere Erweiterung des Prin-
cips in der hiſtoriſchen Form einer Ausnahme.


XL. Die gegenwärtige Operation verfolgt, wie oben bemerkt
ward, denſelben Zweck, wie die vorhergehende, aber auf gerade
500)
[380]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
entgegengeſetztem Wege, ſtatt durch Zerſetzen durch Verbinden
und Zuſammendrängen. Sie iſt keine ſpecifiſch juriſtiſche Ope-
ration, ſondern die allgemein logiſche der Abſtraction eines Prin-
cips aus gegebenen Einzelnheiten, die Subſtituirung einer an-
dern, intenſiveren logiſchen Ausdrucksform.


Wir können die Aufgabe in etwas anderer Weiſe auch ſo
faſſen: es handelt ſich hier um die Zuſammendrängung des äu-
ßern Volumens
einer Maſſe Rechtsſtoff, die das poſitive
Recht für irgend ein beſtimmtes Rechtsverhältniß producirt hat.
Dies Volumen beſtimmt ſich nicht bloß oder auch nur vorzugs-
weiſe nach der Wichtigkeit des Verhältniſſes, nach der Menge
von Fragen, die bei demſelben zu beantworten ſind, kurz nach
einem objectiven Moment, ſondern eben ſowohl nach dem rein
ſubjectiven Moment der Geſchicklichkeit des Antwortenden. Wer
es verſteht, entſcheidet mit Einem Wort ebenſo viele Fragen,
als ein Anderer Worte für eine einzige Frage nöthig hat.


Dieſe Eigenſchaft der Kürze, überall höchſt werthvoll, iſt
nirgends wichtiger, als am Geſetzgeber — je concentrirter der
Stoff, den er uns gibt, deſto wirkſamer. Die Kürze liegt aber
nicht in der kleinen Zahl der Worte, die das Geſetz zählt, ſon-
dern in der Tragweite derſelben, in der Fruchtbarkeit des auf-
geſtellten Princips. Wir können uns denken, daß daſſelbe Ver-
hältniß, zu deſſen legislativer Geſtaltung dieſes Geſetz eine
Menge einzelner, auf keinem Princip beruhender Beſtimmun-
gen producirt hat (caſuiſtiſche Geſtaltung), in einem andern
Geſetzbuch mittelſt eines einzigen Princips regulirt wird (prin-
cipielle
Geſtaltung). Bei jener erſten Art iſt der Juris-
prudenz die Möglichkeit einer Concentrirung des Stoffes nicht
gegeben; 502) Einzelnheiten, die keinem Princip entſtammen,
laſſen ſich auch nicht auf ein ſolches zurückführen. Ebenſo wenig
[381]2. Die logiſche Concentration. §. 40.
aber würde ihr dieſe Möglichkeit geboten ſein, wenn der Geſetz-
geber ſelbſt das Princip bereits in ſeiner ganzen Schärfe und
Beſtimmtheit ausgeſprochen hätte. Allein dieſe Annahme tritt
in den ſeltenſten Fällen ein; es iſt dafür geſorgt, daß es der
Jurisprudenz in dieſer Beziehung nicht an Arbeit fehlt.


Die Möglichkeit einer Concentrirung des geſetzlichen Stoffs
durch die Jurisprudenz ſetzt voraus, daß der Geſetzgeber ein
Princip gehabt und angewandt hat, ohne daſſelbe als ſol-
ches unmittelbar erkannt oder ausgeſprochen zu haben. Die
Geſchichte lehrt uns, daß dies nicht bloß nichts ſeltenes, ſon-
dern ſogar der gewöhnliche Fall iſt, und um ſo weniger kann
dies bei dem Geſetzgeber befremden, als ja auch die Wiſſenſchaft
darin nur zu oft das Schickſal deſſelben theilt; auch bei ihr iſt
das Gefühl der Erkenntniß oft um Jahrhunderte voraus.
So wird es möglich, daß ein Princip, bevor es in ſeiner wahren
Geſtalt erkannt und ausgeſprochen wird, oft bereits die längſte
Zeit beſtanden, ja vielleicht zu beſtehen aufgehört hat.


Die einzelnen Rechtsſätze, in denen der Geſetzgeber unbewußt
ein Princip zur Anwendung bringt, verhalten ſich zu letzterem
ſelbſt, wie die Kreislinie zum Centrum. Das Princip iſt der
Punkt, den der Geſetzgeber ſucht, aber ſo lange es ihm noch
nicht gelungen ſich ſeiner zu bemächtigen, iſt er gezwungen, ihn
zu umkreiſen d. h. mit Rechtsſätzen einzuſchließen. Das Prin-
cip iſt der dunkle Punkt, der ihn zieht und der, je nachdem die
Ahnung deſſelben in ihm lebendig iſt, ihn zur Innehaltung einer
mehr oder minder regulären und mehr oder minder entfernten
Kreislinie veranlaßt. Ebenſo wie er, irrt auch die Wiſſenſchaft
in der Peripherie herum, bevor ſie das Centrum gefunden. Die
Ausführlichkeit der Darſtellung, zu der ſie ſich gezwungen ſieht,
der deſcriptive und enumerative Charakter derſelben iſt nur ein
Beweis, daß ſie den rechten Punkt noch nicht getroffen. Mit
jedem Schritt, um den ſie ſich dem Centrum nähert, wird der
Kreis enger, nimmt die Zahl ihrer Lehrſätze ab, der Gehalt
[382]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
derſelben zu. Aber erſt in dem Centrum beherrſcht ſie die ganze
Maſſe des Stoffes mit Einem Satz.


Aber nicht bloß dieſe Concentrirung des bisherigen Stoffs
iſt es, die die Auffindung des Princips für die Wiſſenſchaft ſo
wichtig macht, ſondern es geſellt ſich noch der höhere Vortheil
hinzu, daß in dem Princip eine Quelle neuer Rechtsſätze
erſchloſſen wird. Wer das Princip will, genehmigt auch die
Conſequenzen, einerlei ob er ſich derſelben bewußt geworden;
das Princip will aber, wer uns die Punkte bezeichnet, aus
denen wir es entnehmen können.


Der von uns gewählte Vergleich der Abſtraction des Prin-
cips mit der Auffindung des Centrums bei gegebener Peripherie
könnte leicht zum Glauben verleiten, als ſei dieſe Operation eine
höchſt einfache. Allein, wenn ich im Bilde bleiben ſoll, ſo iſt zu-
nächſt die Peripherie von Rechtsſätzen, mit denen der Geſetzgeber
das Princip eingeſchloſſen, keineswegs immer eine regelmäßige,
es kommen vielmehr Abweichungen vor, die uns auf eine ganz
falſche Bahn locken können, und ſodann kündigen die einzelnen
Rechtsſätze, ſelbſt wenn ſie in der That einem einzigen Princip
entſtammen, nicht immer ſelbſt ihre Abſtammung und Verwand-
ſchaft an, ja ſie können umgekehrt einer unbefangenen Betrach-
tung ſo heterogen erſcheinen, daß der Gedanke an ihre Zu-
ſammengehörigkeit gar keinen Raum findet. Ich nehme z. B.
die Regeln über die Verzeihbarkeit des Rechtsirrthums und des
factiſchen Irrthums. Wer ahnet, daß ſie ſich auf denſelben Ge-
ſichtspunkt zurückführen laſſen? Oder die Verſchiedenheit rück-
ſichtlich der Nothwendigkeit des Ablaufs des letzten Tages bei
Friſten, durch deren Ablauf ein Recht verloren und erworben
werden ſoll u. a. m.


Die meiſten Schwierigkeiten aber dürfte die Aufgabe in dem
Fall haben, wenn der Geſetzgeber das Princip theilweiſe beach-
tet, theilweiſe verlaſſen hat. Von vornherein wiſſen wir nicht, ob
dies geſchehen, es wird alſo auch hier zunächſt verſucht werden,
das geſammte Material auf ein einziges Princip zurückzuführen.
[383]2. Die logiſche Concentration. §. 40.
Aber geſetzt, wir ſind zu der Ueberzeugung gelangt, daß dies
unmöglich, daß ſich hier vielmehr zwei Gedanken kreuzen oder
bekämpfen, daß der eine die Regel, der andere die Ausnahme
in ſich ſchließe: was iſt Regel, was iſt Ausnahme, und iſt über-
haupt noch an Eine Regel zu denken, oder iſt das Ganze nicht
vielmehr völlig zwieſpältig?


Es iſt auch der entgegengeſetzte Fall möglich, daß eine Be-
ſtimmung ſich fälſchlich als Ausnahme gibt, die es in der That
nicht iſt, ſich vielmehr durch eine richtigere Faſſung des Princips
beſeitigen läßt. Ja es iſt ſogar nicht ungewöhnlich, daß ein
Rechtsſatz hiſtoriſch d. h. dem bisherigen Recht gegenüber
eine wirkliche Ausnahme begründet, während doch im Grunde
mit dieſer Ausnahme nur das bisherige Princip modificirt wor-
den iſt, ſo daß es alſo nur einer andern Faſſung deſſelben bedarf,
um den Gegenſatz der Regel und Ausnahme darin aufgehen zu
laſſen. Die Ausnahme iſt häufig nur die Form, in
der das Princip ſelbſt ſich verjüngt
. In dieſem Fall
verlockt uns, ſo zu ſagen, die Geſchichte ſelbſt zum Irrthum,
und ſo wird es möglich, daß Jahrhunderte lang als Regel und
Ausnahme figurirt, was in der That gemeinſchaftlich unter
ein und daſſelbe höhere Princip fällt. Das Darlehn erforderte
urſprünglich, daß der Schuldner unmittelbar vom Gläubiger das
Eigenthum erwarb. 503) Als nun die Praxis in mehren Punkten
dieſen Satz verlaſſen hatte, erſchien dieſe Abweichung der alten
Regel gegenüber als Ausnahme, und als ſolche erkannten auch
die ſpäteren römiſchen Juriſten ſie an. 504) Allein hinter der Aus-
nahme verſteckt ſich nur eine Erweiterung des Begriffs oder Prin-
cips des Darlehns ſelbſt, nämlich die: daß das Darlehn nicht
mehr den Uebergang des Eigenthums von dem Einen auf
den Andern, ſondern den (alſo auch mittelbaren d. h. durch
Eigenthumsübertragung von einem Dritten vermittelten) Ueber-
[384]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
gang von einem Vermögen in ein anderes Vermögen (Ver-
ringerung des einen und Vermehrung des andern dem Werth
nach) zur Vorausſetzung hat. Ein anderes Beiſpiel gewährt die
Vermögensfähigkeit der Hauskinder gegenüber der patria pote-
stas
. Sie fiel hiſtoriſch unter den Geſichtspunkt einer Aus-
nahme; der erſte Fall derſelben (peculium castrense) enthielt
eine ſo bedeutende Abweichung vom beſtehenden Recht, wie
kaum ein anderes Beiſpiel zu finden ſein dürfte. Im juſtiniani-
ſchen Recht aber iſt die Ausnahme Regel und die Regel Aus-
nahme geworden, und das dogmatiſche Reſultat läßt ſich hier in
das Princip faſſen: die Kinder ſind vermögensfähig und mit
Ausnahme des Vaters allen Perſonen gegenüber erwerbfähig.


3. Die juriſtiſche Conſtruction.

Die naturhiſtoriſche Anſchauungsweiſe des Rechts — der juri-
ſtiſche Körper — allgemeine Schilderung deſſelben — Gewinnung
deſſelben durch die juriſtiſche Conſtruction — die drei Geſetze der-
ſelben (poſitives, logiſches, äſthetiſches) — techniſcher Werth der
naturhiſtoriſchen Methode.


XLI. Unſere heutige Jurisprudenz hat zwei Lieblingsaus-
drücke — beide erſt ſeit etwa einem Menſchenalter aufgebracht,
aber dann ſchnell in Gebrauch gekommen, beide für ſie gleich
charakteriſtiſch, der eine für ihre Richtung in der Rechts-
geſchichte, der andere für ihre Richtung in der Dogmatik — die
Ausdrücke organiſch und juriſtiſche Conſtruction. Der
ganze Umſchwung, der in unſerer Wiſſenſchaft ſeit den letzten
fünfzig Jahren eingetreten, läßt ſich mit dieſen beiden Worten
angeben; ſie dürfen die Loſungsworte der Jurisprudenz des
neunzehnten Jahrhunderts genannt werden.


Es geht aber mit dieſen Loſungsworten, wie mit ſo vielen
anderen, Jeder gebraucht ſie, ohne ſich über den damit zu ver-
bindenden Sinn genaue Rechenſchaft zu geben, und hinſichtlich
desjenigen, das uns hier allein intereſſirt, iſt dies auch kaum
[385]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
anders möglich, da die Wiſſenſchaft meines Wiſſens bisher noch
nicht einmal den Verſuch gemacht hat, den Begriff deſſelben zu
beſtimmen, geſchweige eine Theorie der juriſtiſchen Conſtruction
aufzuſtellen. Wir unſererſeits können uns dieſes Verſuchs nicht
überheben, da er uns die nöthigen Vorkenntniſſe zum Verſtänd-
niß der römiſchen Jurisprudenz verſchaffen muß, ſo ſehr ich es
andererſeits bedauere, daß ich bei dem gänzlichen Mangel aller
Vorarbeiten mich länger bei dieſem Punkt verweilen muß, als
es mir lieb iſt. 505) Es ſchiene nun am natürlichſten, zu unter-
ſuchen, was der Sprachgebrauch unter dieſem Ausdruck ver-
ſteht. Ich werde jedoch einen andern Weg einſchlagen, bei dem
wir die juriſtiſche Conſtruction zunächſt völlig aus den Augen
verlieren, um erſt ſpäterhin zu ihr zurückzukehren. Der Weg
wird ſich hinterher von ſelbſt rechtfertigen.


Die höhere Jurisprudenz
oder
die naturhiſtoriſche Methode.


Die regelmäßige Form, in der das Recht in den Geſetzen
zum Vorſchein kommt, iſt die eines Verbots oder Gebots, kurz
einer Vorſchrift, Regel. Dieſelbe charakteriſirt ſich als die un-
mittelbar
praktiſche d. h. imperativiſche Form des Rechts.
Ob das Imperativiſche im Ausdruck ſelbſt liegt, iſt gleichgültig,
denn es liegt in der Sache, in dem Gedanken; in dem Munde
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 25
[386]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
des Geſetzgebers hat das „Iſt“ die Bedeutung des „Seinſollens“
(z. B. die Klage iſt verjährt mit 2 Jahren = ſoll verjährt ſein).
Dieſe Erſcheinungsform des Rechts nenne ich die niedere.
Man könnte ſie auch, da Form und Inhalt ſich hier noch decken,
die natürliche, naive nennen. Sie iſt hiſtoriſch die erſte, frühere,
aber eben darum auch die unvollkommenere.


So lange nun die Jurisprudenz dem Stoffe dieſe ſeine Ge-
ſtalt läßt, ihn alſo mittelſt der Verarbeitung, der ſie ihn unter-
zieht, nicht innerlich umgeſtaltet, ſpecificirt, erſtrecke ich das
Prädicat „nieder“ auch auf ſie und ſcheide demgemäß, wie zwi-
ſchen niederer und höherer Erſcheinungsform des Rechts, auch
zwiſchen niederer und höherer Jurisprudenz.


Die Thätigkeit der niederen Jurisprudenz läßt ſich mit einem
Wort als Interpretiren bezeichnen. Die Aufgabe der Inter-
pretation beſteht darin, den Stoff aus (auseinander) zu legen,
die ſcheinbaren Widerſprüche zu beſeitigen, die Dunkelheiten,
Unbeſtimmtheiten zu heben, den ganzen Inhalt des geſetzgeberi-
ſchen Willens zu Tage zu fördern, namentlich alſo auch aus den
gegebenen einzelnen Beſtimmungen das ihnen zu Grunde lie-
gende Princip und umgekehrt aus dem gegebenen Princip die
Conſequenzen abzuleiten. Die Interpretation iſt keine ſpecifiſch
juriſtiſche Operation — jede Wiſſenſchaft, deren Quellen Ur-
kunden ſind, hat zu interpretiren — und darum gewinnt auch
der Stoff ſelbſt durch dieſe Operation keinen eigenthümlich juri-
ſtiſchen Charakter. Was immerhin die Jurisprudenz auf dieſe
Weiſe zu Tage fördern möge: es iſt nichts ſpecifiſch Ande-
res, Neues, ſondern immer die urſprüngliche Rechtsſubſtanz d. h.
ein Aggregat von engeren oder weiteren Regeln (Rechtsſätzen
und Rechtsprincipien) 506), ein unmittelbar praktiſcher Stoff.


Mit der Interpretation hat nun nicht bloß überall die Juris-
prudenz begonnen, ſondern zu jeder Zeit muß ſie die erſte Ope-
[387]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
ration ſein, die die Jurisprudenz an dem geſetzlichen Rohſtoff
vornimmt. Um zu conſtruiren, muß ſie erſt inter-
pretiren; die niedere Jurisprudenz iſt die noth-
wendige Vorſtufe der höheren
.


Aber ſie iſt eben auch nur eine Vorſtufe, und die Jurispru-
denz ſoll nicht länger auf ihr verweilen, als nöthig. Erſt auf
der höheren Stufe erreicht ſie ihre wahre Beſtimmung, erſt hier
wird ihre Aufgabe und Methode eine ſpecifiſch juriſtiſche, und
erſt hier gewinnt ſie ihren eigenthümlichen wiſſenſchaftlichen
Charakter, der ſie von allen andern Wiſſenſchaften unterſcheidet.


Die Gränzlinie zwiſchen der niederen und höheren Jurispru-
denz läßt ſich, wenn auch nicht im einzelnen Fall, ſo doch im
Begriff ganz ſcharf bezeichnen. Sie hängt zuſammen mit einer
eigenthümlichen Anſchauungsweiſe des Rechts, die ich die natur-
hiſtoriſche
nennen möchte. Aber nicht ſowohl mit dem bloßen
unthätigen Beſitz derſelben, als mit ihrer energiſchen und con-
ſequenten Verwirklichung am Rechtsſtoff. Ob jene Anſchauungs-
weiſe eine künſtliche oder natürliche, eine nahe oder fernliegende
iſt, darüber will ich nicht rechten. Will man ſie zu derjenigen,
durch welche ſich die niedere Jurisprudenz bei der Bearbeitung
des Stoffs leiten läßt, mit zwei Worten in Gegenſatz ſtellen, ſo
ſind es die Worte: Rechtsinſtitut, Rechtsbegriff auf der
einen und Rechtsſätze, Rechtsprincipien auf der andern
Seite. Das Rechtsinſtitut iſt kein bloßes Conglomerat von
einzelnen Rechtsſätzen, die ſich auf daſſelbe Verhältniß beziehen,
ſondern etwas weſentlich von ihnen Verſchiedenes. Die Rechts-
ſätze ſind eine Maſſe Stoff, Gedanken, haben nur ein rein ſub-
ſtantielles Daſein, die Rechtsinſtitute aber ſind Exiſtenzen, logi-
ſche Individualitäten, juriſtiſche Weſen. Wir erfaſſen und erfül-
len ſie mit der Vorſtellung des individuellen Seins und Lebens,
ſie entſtehen, gehen unter, wirken, treten in Conflict mit ande-
ren, ſie haben ihre Aufgaben, Zwecke, denen ſie dienſtbar ſind,
und dem entſprechend ihre eigenthümlichen Kräfte und Eigen-
ſchaften u. ſ. w. Ich würde ſie, um dem Leſer dieſe Vorſtellung
25*
[388]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
des Seins und Lebens derſelben ſtets gegenwärtig zu halten,
gern juriſtiſche Weſen nennen, wenn der Ausdruck nicht etwas
geſucht erſchiene. Ich werde daher lieber den Ausdruck juri-
ſtiſche
oder Rechts-Körper wählen (im Gegenſatz zur bloßen
Rechtsſubſtanz oder zum Rechtsſtoff).


Man könnte von vornherein leicht geneigt ſein, die Bedeu-
tung dieſer Anſchauungsweiſe ſehr gering anzuſchlagen. Was
ſoll es für einen Unterſchied machen, wird Mancher fragen, ob
man ſtatt „Rechtsſätze über das Eigenthum“: „Eigenthumsinſti-
tut“ oder „Eigenthum“ ſagt? Gewiß! Wenn es beim bloßen
Ausdruck oder bei einem unthätigen Beſitz jener Vorſtellung ſein
Bewenden behielte, dann allerdings würde dieſelbe keinen beſon-
dern Werth haben. Sie enthält nur einen Keim, aber einen
Keim, der, wenn er erſchloſſen wird, eine totale Umgeſtaltung
des Rechts nach ſich zieht. Sache der Jurisprudenz iſt es, die-
ſen Keim zu erſchließen und zur vollen Entfaltung zu bringen,
alſo den geſammten Rechtsſtoff im Sinne jener Auffaſſungsweiſe
zu geſtalten, den Geſichtspunkt eines individuellen Seins und
Lebens in allen ſeinen Conſequenzen durchzuführen.


Wie kann die Anlegung und Durchführung eines bloßen
Geſichtspunkts ſolche Wunder thun? Dieſer Zweifel wäre durch-
aus berechtigt, wenn der Geſichtspunkt bloß eine andere Art der
Betrachtung des Gegenſtandes enthielte, ihn uns in einer ande-
ren Beleuchtung, in einem beſſern Licht zeigte. Allein er hat
eine ungleich höhere Kraft, die ich vielleicht am kürzeſten dadurch
bezeichne, daß ich ſie mit der der Wärme vergleiche, die Verän-
derung aber, die dadurch mit dem Körper ſelbſt vor ſich geht,
als Erhebung deſſelben in einen höhern Aggregat-
zuſtand
charakteriſire. Die feſte, ſtarre Maſſe, die in dieſer
Form unſerer Kunſt die engſten Gränzen ſetzt, wird, ſo zu ſagen,
in Fluß und dadurch in einen Zuſtand verſetzt, in dem ſie willig
künſtleriſche Form und Geſtaltung annimmt, alles, was in ihr
iſt, kömmt zum Vorſchein, die gebundenen Kräfte und Eigen-
ſchaften werden frei.


[389]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.

Dieſe Erhebung des Stoffs iſt nun zugleich Erhebung der
Jurisprudenz ſelbſt. Von einer Laſtträgerin des Geſetzgebers,
einer Sammlerin poſitiver Einzelnheiten ſchwingt ſie ſich auf zu
einer wahren Kunſt und Wiſſenſchaft; zu einer Kunſt, die den
Stoff künſtleriſch bildet, geſtaltet, ihm Leben einhaucht — zu einer
Wiſſenſchaft, die trotz des Poſitiven in ihrem Gegenſtande ſich
als Naturwiſſenſchaft im Elemente des Geiſtes bezeichnen läßt.
Dieſer Vergleich mit der Naturwiſſenſchaft iſt keine müßige
Spielerei; denn es gibt, wie aus dem Verlauf der Darſtellung
hervorgehen wird, keinen Ausdruck, der das Weſen ihrer Me-
thode ſo völlig erfaßte und träfe, als den der naturhiſtori-
ſchen Methode
. Auf dieſer Methode beruht das ganze Ge-
heimniß der Jurisprudenz, alle ihre Anziehungskraft, alle ihre
Macht über den Stoff, ihre ganze Würde und Ehre.


Wir wollen uns jetzt die Conſequenzen, welche dieſe An-
ſchauungsweiſe für die Behandlung des Stoffs nach ſich zieht,
vergegenwärtigen.


Der juriſtiſche Körper.


An die Annahme eines Seines knüpft ſich mit Nothwen-
digkeit die Frage nach dem Anfang und Ende deſſelben (Ent-
ſtehungs- und Endigungsarten der Rechtsverhältniſſe), an die
Annahme eines Körpers die Frage nach ſeiner Natur, Be-
ſchaffenheit, Beſtimmung, ſeinen Kräften, Eigenſchaften, ſeiner
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit von andern Körpern, den Ver-
bindungen, die er mit ihnen eingehen, oder den Conflicten, in
die er mit ihnen gerathen kann. Ich will die hauptſächlichſten
Punkte, auf die es hier ankömmt, etwas näher ausführen.507)


[390]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.

1. Begriff, Structur. Die erſte Aufgabe bei der Unter-
ſuchung des juriſtiſchen Körpers beſteht in der Frage: was iſt
er, iſt er ein ſelbſtändiger Körper oder läßt er ſich auf einen
andern zurückführen?508) Es wiederholt ſich hier für uns das
Geſetz der juriſtiſchen Analyſe, keinen Körper als ſelbſtändig
anzuerkennen, der ſich aus einem oder mehren andern herſtellen
läßt, oder richtiger, es wiederholt ſich hier die Analyſe ſelbſt
und zwar in einer Anwendung oder auf einer Stufe, auf der ſie
uns eigentlich erſt in ihrer wahren Bedeutung klar werden kann.
Die ganze Ausführung über die Analyſe hatte im Grunde die
naturhiſtoriſche Methode zur ſtillſchweigenden Vorausſetzung,
und es geſchah nur aus Rückſichten der Darſtellung, daß ich die
Erörterung der letzteren bis jetzt verſchob.


Die Angabe deſſen, was der Körper iſt, iſt gleichbedeutend
mit dem Begriff deſſelben, der Begriff „begreift“ d. h. ergreift
ihn in ſeiner Weſenheit, er „definirt“ ihn d. h. gränzt ihn von
andern ab, gibt ihm ein logiſches „Für ſich ſein.“ Der Begriff
enthält alſo die logiſche Quinteſſenz des Körpers, ſeinen inner-
ſten Kern oder Individualitätspunkt, in ihm muß die ganze
Kraft des Körpers beſchloſſen liegen, alles und jedes, was an
507)
[391]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
und mit ihm vorgeht, muß ſich mit dem Begriff vertragen. Eine
Begriffsbeſtimmung iſt daher im Grunde nicht das Erſte, ſon-
dern als formelle Redaction oder Concentrirung der gefundenen
Reſultate erſt möglich, nachdem die Unterſuchung des Körpers
vollſtändig abgeſchloſſen iſt. Uebrigens verwechſele man nicht
die Anſchauung und Formulirung des Begriffs. Die An-
ſchauung kann eine durchaus richtige ſein, während die Formu-
lirung, die Definition mißlungen iſt. So operiren die römiſchen
Juriſten mit ihren Begriffen mit größter Sicherheit, nichts deſto
weniger aber ſind ihre Definitionen, wie ſie ſelbſt zugeſtehen,509)
nicht ſelten durchaus ungenügend.


Der Begriff alſo erfaßt den Körper in dem, was er iſt,
allein worin liegt dies „Iſt“? Man könnte meinen, in dem
Zweckmoment, denn die praktiſche Aufgabe, die er zu löſen
habe, enthalte den Grund, warum er überhaupt exiſtire, warum
er gerade ſo und nicht anders ſei, kurz ſeinen logiſchen Schlüſ-
ſel. Ich will nun allerdings nicht läugnen, daß das Zweck-
moment für das (ich meine nicht bloß rechtsphiloſophiſche, ſon-
dern auch praktiſch-juriſtiſche) Verſtändniß des Inſtituts höchſt
wichtig, ja unerläßlich iſt;510) was ich beſtreite, iſt nur, daß
man darnach definiren darf.511) Iſt denn aber z. B. die
[392]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Definition des Depoſitums und Commodats als Hingabe zum
Zweck der Aufbewahrung und Benutzung eine fehlerhafte?
Gewiß nicht, aber auch nur aus dem Grunde, weil hier das
Wort Zweck nur ein anderer Ausdruck für Inhalt iſt. Hin-
gabe zum Zweck der Aufbewahrung oder Benutzung heißt hier
nichts, als Hingabe mit der Verpflichtung zur Aufbewah-
rung mit dem Recht der Benutzung. Wo wir aber den Aus-
druck in ſeinem rechten Sinn gebrauchen, meinen wir mit dem
„Zweck“ des Inſtituts etwas dem Inhalt Entgegengeſetztes,
etwas Höheres, außer ihm Liegendes, zu dem letzteres ſelbſt ſich
nur als Mittel verhält. Iſt nun aber unſere Wiſſenſchaft nur
eine Theorie der Mittel, ſo zu ſagen, der materia medica, die
das Recht für die Zwecke des Lebens in Bereitſchaft hat, ſo müſ-
ſen wir die Mittel nach Momenten, die ihnen immanent ſind,
beſtimmen, ganz abgeſehn davon, daß eine Beſtimmung derſel-
ben nach Zwecken, wenn vielleicht auch bei einzelnen denkbar,
im allgemeinen abſolut unausführbar ſein würde. Denn nicht
bloß ſind dieſe Zwecke etwas höchſt unbeſtimmtes, ſchwankendes,
und durchkreuzen ſich in einer oft unentwirrbaren Weiſe, ändern
und wechſeln, ohne daß mit dem Inſtitut ſelbſt die geringſte
Veränderung vor ſich geht, ſondern es gibt auch eine anſehnliche
Zahl von Rechtskörpern, bei denen ein Zweck überall gar nicht
angegeben werden kann, da ſie nicht einem praktiſchen Bedürfniß
(utilitas), ſondern nur der juriſtiſchen Conſequenz oder Noth-
wendigkeit (ratio juris) ihren Urſprung verdanken, nur exiſtiren,
weil ſie nicht nicht-exiſtiren können (z. B. die Specification, die
Acceſſion im Gegenſatz zur Uſucapion). Definiren aber darf
man nur nach einem Moment, nach dem man auch claſſifici-
ren
kann; ein Geſichtspunkt, der für die Beſtimmung ſämmt-
licher
Körper oder die Syſtematik des Ganzen ungeeignet iſt,
iſt es auch für die Beſtimmung des einzelnen. Wir definiren
den Körper alſo nicht nach dem, was er ſoll oder was er lei-
ſtet, ſondern nach ſeiner Structur, ſeinen anatomiſchen
Momenten
. Solche Momente ſind z. B. Subject, Object,
[393]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
Klage, Wirkung.512) Den Hauptgegenſtand unſerer Defini-
tionen bilden die Rechte im ſubjectiven Sinn, und an ihnen
will ich die Aufgabe und die Methode etwas näher veran-
ſchaulichen.


Bei jedem Recht kömmt zunächſt in Betracht das Subject.
Die Beſtimmung der Frage, wer juriſtiſch als Subject anzu-
ſehen, und wie das Verhältniß zwiſchen Subject einerſeits und
dem Gegenſtand und Inhalt des Rechts andererſeits gedacht
werden ſoll, kann oft mit großen Schwierigkeiten verknüpft ſein.
Dies namentlich dann, wenn entweder die Verbindung des Sub-
jects mit dem Gegenſtand keine unmittelbare, ſondern durch
irgend ein Verhältniß, wie z. B. bei der Prädialſervitut durch
das praed. dominans, bei Obligationen auf den Inhaber durch
das Papier vermittelt iſt, oder wenn bei einem und demſelben
Recht mehre Subjecte concurriren, ſei es ſo, daß ſie ſich theilen
ſollen, oder ſo, daß Einer von ihnen das Ganze haben ſoll.
Für den erſten Fall iſt die einfachſte Form die einer Theilung
des Rechts nach Zahl der Perſonen (z. B. beim Mitbeſitz, Mit-
eigenthum, bei der Obligation); hier drückt ſich die Thatſache
der Vielheit der Perſonen im Innern des Rechts ſelbſt aus,
es ſpaltet ſich das Recht in ſo viel Theile, als Perſonen ſind.
Aber ſelbſt bei dieſer einfachſten Form des Verhältniſſes kann man
darüber ſtreiten, wie man ſich jenen innern Vorgang — ſoll ich
ſagen naturhiſtoriſch, ſinnlich oder juriſtiſch? — zu denken habe,
z. B. beim Miteigenthum als eine atomiſtiſche Theilung der
Sache oder als Theilung des Rechts oder richtiger des In-
halts
des Rechts. Eine andere Form für dies Verhältniß einer
nicht-ſolidariſchen Concurrenz gewährt die juriſtiſche Perſon.
Letztere iſt nicht ſelbſt der Deſtinatär der Rechte, die ſie hat, ſon-
dern dies ſind die phyſiſchen Perſonen, die, ſo zu ſagen, hinter
[394]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ihr ſtehen und für die ſie nur den techniſch-nothwendigen Stell-
vertreter abgibt, ſei es ein geſchloſſener Kreis von Individuen
(universitas personarum) oder eine unbeſtimmte Vielheit (uni-
versitas bonorum,
bei einem Hospital z. B. die Kranken, bei
einer Kunſtanſtalt die Kunſtfreunde). Sie iſt (wenigſtens ihrer
privatrechtlichen Bedeutung nach) nur ein techniſches In-
ſtrument, um den Mangel der Beſtimmtheit der Subjecte un-
ſchädlich zu machen.513)


Für den zweiten oben genannten Fall der ſubjectiven Con-
currenz (der ſolidariſchen Berechtigung) bieten uns die ſolida-
riſchen Obligationen im engern Sinn und die Correalobligatio-
nen ein bekanntes Beiſpiel. Die Structurfrage lautet hier ſo:
haben wir uns das Verhältniß als zwei Obligationen mit
demſelben Inhalt oder als Eine Obligation mit zwei Sub-
jecten vorzuſtellen?


Als Beiſpiel für die Beſtimmung des Gegenſtandes des
Rechts nenne ich das Erbrecht und die Obligation, da für beide
die Anſichten vorzugsweiſe auseinander gehen. Iſt dort die
Maſſe der einzelnen Rechtsverhältniſſe oder die niedergeſchlagene
vermögensrechtliche Perſönlichkeit des Erblaſſers der Gegen-
ſtand? Iſt es hier der Schuldner, deſſen Wille, oder die zukünf-
tige Handlung deſſelben? Auch für den Inhalt kann die Obli-
gation uns inſofern ein Beiſpiel darbieten, als man gefragt
hat, ob das Recht des Gläubigers auf die Handlung oder deren
Geldwerth gehe? Bei den Servituten ſtreitet man ebenfalls über
die Beſtimmung des Inhalts, nämlich ob ſie abgelöſte Eigen-
thumsbefugniſſe oder bloß Beſchränkungen des Eigenthums
enthalten.


Zur Frage von der Structur der Rechte gehört auch das
Acceſſionsverhältniß derſelben zu andern Rechten, ſo z. B. die
[395]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
Abhängigkeit des Pfandrechts von der Forderung, der Verzugs-
zinſen von der Principalobligation, der Servitut vom Eigen-
thum des herrſchenden Grundſtücks.


Die übrigen Momente des juriſtiſchen Körpers, denen ich
mich jetzt zuwende, hängen mit dem ſo eben entwickelten und
unter ſich ſo eng zuſammen, und rückſichtlich mancher Punkte,
die im Folgenden erwähnt werden ſollen, iſt es ſo willkührlich
und gleichgültig, ob man ſie unter dieſen oder jenen Geſichts-
punkt bringt, daß ich nur aus Rückſicht auf den Leſer, um ihm
einige Hauptanhaltspunkte zu gewähren, mich zu einer Sonde-
rung derſelben entſchloſſen habe.


2. Eigenſchaften und Kräfte des juriſtiſchen Kör-
pers
. Ich nenne beiſpielsweiſe die Theilbarkeit und Untheil-
barkeit der Rechte, die Expanſionskraft derſelben (das Accres-
cenzrecht beim Eigenthum, Uſusfructus, Erbrecht — hier dehnt
das Recht ſich, ſo zu ſagen, über einen leer gewordenen Raum
aus), die Trennbarkeit und Untrennbarkeit von der Perſon (Ab-
hängigkeit vom Leben derſelben, Möglichkeit der Uebertragung
auf Andere u. ſ. w.), die Möglichkeit einer ſolidariſchen Verviel-
fältigung des Rechts an demſelben Gegenſtand (ſei es neben
einander, ſei es hinter einander z. B. beim Pfandrecht), die
Möglichkeit einer Beſchränkung oder Verminderung des regulä-
ren Inhalts des Rechts (Elaſticität; die Gränze wird bezeichnet
durch die essentialia negotii, den beweglichen Theil ſtellen dar
die naturalia und accidentalia).


3. Phänomene im Leben des Körpers. Dahin gehö-
ren vor allen die beiden, welche die Exiſtenz des Körpers ſelbſt
betreffen, die Entſtehung und der Untergang. Die Exiſtenzfrage
erledigt ſich aber nicht bloß durch eine Angabe der verſchiedenen
Entſtehungs- und Endigungsarten — dies iſt mehr die concrete,
ſpecielle Parthie der Aufgabe — ſondern ſie ſchließt eine Reihe
allgemeiner Erörterungen in ſich. Dahin zählen z. B. der Zu-
ſtand der Unentſchiedenheit des Seins (Pendenz; nicht bloß bei
[396]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Bedingungen, ſondern auch in vielen andern Verhältniſſen); die
Frage von der ewigen oder vorübergehenden Dauer eines Rechts-
verhältniſſes, die ſo wichtige Datumsfrage (z. B. wann gilt das
Geſchäft als abgeſchloſſen, wann der Verſchollene als verſtor-
ben, wann iſt die actio nata? auf ſie bezieht ſich auch die rück-
wirkende Kraft der Bedingung und der Ratihabition), Zwiſchen-
raum zwiſchen dem Begründungsact und der Entſtehung des
Rechts (anticipirte Abſchließung des Geſchäfts vor Eintritt ſei-
ner Requiſite, z. B. beim Pfandrecht vor Entſtehung der Forde-
rung); oder Zwiſchenraum zwiſchen der Entſtehung und der
Wirkſamkeit (dies), dauernde oder vorübergehende Lähmung der
Rechte (exceptio); theilweiſer Untergang, Wiederherſtellung des
Untergegangenen, Metamorphoſe, Uebergang in andere Ver-
hältniſſe u. ſ. w.


4. Verhalten des Körpers zu andern Körpern.
Unverträglichkeit gewiſſer Körper mit andern (z. B. der patria
potestas
und tutela, teſtamentariſche und Inteſtaterbfolge, Be-
ſitz in Anwendung auf die Obligation), Verträglichkeit anderer
(z. B. des Beſitzes und der Servitut d. h. Quaſibeſitz), Zuſam-
mentreffen derſelben an demſelben Object oder demſelben Ver-
hältniß und Conflict derſelben (z. B. des Eigenthums und der
Obligation d. h. der reivindicatio und der exceptio rei vend.
traditae,
des Eigenthums und Pfandrechts, Einfluß der Con-
currenz der Klagen), Wegfallen des einen Körpers und Einwir-
kung dieſes Umſtandes auf den anderen (z. B. des vorſtehenden
Pfandrechts, Dereliction des praedium serviens oder dominans,
Einfluß auf das nachſtehende Pfandrecht und die Servitut).


Die letzte Conſequenz der naturwiſſenſchaftlichen Methode
und die Spitze der ganzen Aufgabe iſt


5. die ſyſtematiſche Claſſification der Rechts-
körper
oder das Syſtem. Letzteres iſt, ſo zu ſagen, die
Stammtafel der Begriffe. Soweit es überhaupt nöthig,
habe ich dieſen Punkt ſchon oben berührt.


[397]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.

Die juriſtiſche Conſtruction und ihre Geſetze.


Die ganze bisherige Darſtellung hatte im Grunde nur einen
vorbereitenden Zweck, dem Leſer nämlich eine Anſchauung von
den Objecten und Aufgaben der naturhiſtoriſchen Methode, oder,
was daſſelbe ſagt, eine Anſchauung des juriſtiſchen Körpers zu
gewähren.


Ich hoffe, daß es keiner Rechtfertigung bedürfen wird, war-
um ich mich bei dieſem Punkt ſo lange aufgehalten habe, ver-
hältnißmäßig länger, als ich es bei der eigentlichen Aufgabe, zu
der ich jetzt übergehe, thun werde. Jene Anſchauung gilt mir
als das Weſentlichſte und Unerläßlichſte, und verſehen mit ihr
wird der Leſer manches, was ich im Folgenden genöthigt bin,
nur kurz anzudeuten, zu ſuppliren vermögen. Wir ſind jetzt an
dem Punkt angelangt, um zu dem Ausgangspunkt des Para-
graphen, der juriſtiſchen Conſtruction, zurückzukehren und ſie
mit Einem Wort definiren zu können, nämlich als Geſtal-
tung des Rechtsſtoffs im Sinn der naturhiſtori-
ſchen Methode
. Die juriſtiſche Conſtruction iſt, ſo zu ſagen,
die bildende Kunſt der Jurisprudenz, ihr Gegenſtand, ihr Ziel
iſt der juriſtiſche Körper. Jede Arbeit, die ſich auf ihn bezieht,
inſofern ſie geſtaltender Art iſt, möge ſie im übrigen den Körper
in ſeiner Totalität zum Gegenſtande haben, ihn erſt als ſolchen
ins Leben rufen, oder bloß adminiculirender Art ſein, einzelne
Vorgänge im Leben des Körpers erklären, ſcheinbare Wider-
ſprüche des Einzelnen gegen den Grundbegriff beſeitigen, kurz,
wie immerhin ſie auch ſei, wenn ſie nur die Structur des Kör-
pers zum Gegenſtand hat, fällt unter den Begriff der juriſtiſchen
Conſtruction. Ich habe die Beſchränkung hinzugefügt: inſofern
ſie geſtaltender Art iſt. Den Gegenſatz dazu bildet die rein
receptive Bearbeitung deſſelben d. h. das bloße Operiren mit
den von der Conſtruction aufgeſtellten Geſichtspunkten, die Er-
ſchließung der mittelbar bereits gegebenen Conſequenzen. Ich
glaube, daß der Sprachgebrauch mit unſerm Ausdruck nur die
[398]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
erſte Art der Thätigkeit belegt. Nur ſie conſtruirt, nur ſie baut,
die andere baut nur fort, jene iſt eine künſtleriſche Production,
ein Erfinden,514) letztere hingegen nur ein conſequentes logiſches
Denken, ein Unterſuchen, Forſchen.


Wir unterziehen die juriſtiſche Conſtruction jetzt einer nähern
Betrachtung und zwar erörtern wir zunächſt ihre Geſetze.


Die Conſtruction bezweckt die kunſtgerechte Geſtaltung des
juriſtiſchen Körpers. Worin beſteht nun das Kunſtgerechte
d. h. welche Rückſichten, Regeln hat ſie dabei zu beobachten,
kurz was ſind ihre Geſetze? Ich nehme folgende an.


1. Das Geſetz der Deckung des poſitiven Stoffs.
Die poſitiven Rechtsſätze ſind die gegebenen Punkte, bei denen
die juriſtiſche Conſtruction, wie immerhin ſie dieſelben auch ver-
binden möge, unter allen Umſtänden anlangen muß. Während
[399]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
ſie aber in Beziehung auf den Inhalt durch den poſitiven Stoff
gebunden iſt, verhält ſie ſich zu ihm in Bezug auf die Form
d. h. was die Art der Geſtaltung deſſelben anbetrifft, vollkom-
men frei. Das heißt m. a. W. die eignen Conſtructionen des
Geſetzgebers beſitzen für ſie keine verpflichtende Kraft. Der Ge-
ſetzgeber ſoll nicht conſtruiren, er greift damit in die Sphäre
der Wiſſenſchaft über, entkleidet ſich ſeiner Autorität und Macht
als Geſetzgeber und ſtellt ſich mit dem Juriſten auf eine Linie.
Haben nun zwar aus dieſem Grunde die Conſtructionen des
Geſetzgebers keine andere, als eine doctrinäre Bedeutung, laſſen
ſie ſich mithin jeder Zeit durch die Jurisprudenz berichtigen und
beſeitigen, ſo ſind ſie nichts deſto weniger höchſt bedenklich. Denn
es iſt erklärlich, daß der Widerſpruch gegen ſie nicht ſo leicht
rege wird und einen ungleich ſchwereren Stand hat, als gegen-
über rein doctrinellen Conſtructionen. 515)


Die Jurisprudenz iſt alſo hinſichtlich der künſtleriſchen Ge-
ſtaltung des Stoffs vollkommen frei, inſofern ihm nur in der
Form, die ſie ihm verleiht, dieſelbe praktiſche Kraft verbleibt,
wie in ſeiner bisherigen. Ich wähle folgendes Beiſpiel. Aus
[400]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
baupolizeilichen Rückſichten verſagte das ältere Recht dem Eigen-
thümer die Vindication des Baumaterials, das ein Anderer in
ſein Haus verbaut hatte, und verwies ihn auf eine perſönliche
Entſchädigungsklage; nach Trennung des Materials z. B.
durch Zuſammenſtürzen des Hauſes ſtand jedoch der Vindication
nichts im Wege. Dieſer Thatſache konnte man einen verſchie-
denen juriſtiſchen Ausdruck geben, nämlich den, daß das Eigen-
thum untergehe, ſpäterhin aber wieder aufwache, oder aber,
daß zwar das Eigenthum fortdauere, allein nur nicht geltend
gemacht werden könne, ſo lange die Verbindung dauere. Letz-
tere Vorſtellungsweiſe verdiente vor erſterer offenbar den Vor-
zug; denn daß das Eigenthum durch bloßes Einbauen verloren
gehen ſollte, war eben ſo anſtößig, als daß es einmal unter-
gegangen ſpäterhin wieder aufwachen ſollte. Angenommen, es
hätte nun das Geſetz dieſe Vorſtellungsweiſe adoptirt gehabt,
ſo wäre meiner Anſicht nach die Jurisprudenz durchaus berech-
tigt geweſen, dieſelbe als eine unvollkommene Conſtruction durch
die zweite zu erſetzen. Beide führten praktiſch ganz zu denſelben
Reſultaten, ſie waren alſo nichts als juriſtiſche Conſtructionen,
Verſuche, die praktiſchen Sätze rationell zu erklären.


2. Das Geſetz des Nichtwiderſpruchs oder der ſyſte-
matiſchen Einheit. Ich brauche kaum zu bemerken, daß es ſich
hier nicht um Widerſprüche des Geſetzgebers, ſondern um Wi-
derſprüche der Wiſſenſchaft mit ſich ſelbſt handelt. Die Juris-
prudenz iſt wie an das Geſetz, ſo auch an ſich ſelbſt gebun-
den, ſie darf bei ihren Conſtructionen nicht mit ſich ſelbſt, mit
den Begriffen, Lehrſätzen, die ſie anderwärts aufgeſtellt hat, in
Widerſpruch treten, ihre Conſtructionen müſſen ſtimmen, ſowohl
in ſich, als unter einander. Ein Begriff duldet keine Aus-
nahme, ſo wenig wie ein Körper ſich verläugnen, ausnahms-
weiſe etwas andres ſein kann, als er iſt. Läßt ſich alſo eine
Lage des Körpers auffinden, die mit dem aufgeſtellten Begriff
unverträglich iſt, die ihn, ſo zu ſagen, zum Schweigen bringt,
ſo fehlt ihm die wiſſenſchaftliche Lebensfähigkeit und das Recht
[401]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
auf Exiſtenz. Ob dieſe Lage eine ungewöhnliche und praktiſch
völlig unwichtige iſt, relevirt nichts, denn es handelt ſich bei der
ganzen Aufgabe nicht um ein praktiſches, ſondern um ein logi-
ſches Problem.516) Die Probe der Conſtruction beſteht
darin, daß die Wiſſenſchaft ihren Körper durch alle erdenkliche
Lagen hindurchführt, ihn in jede mögliche Verbindung mit an-
dern Körpern bringt, ihn mit jedem ihrer Lehrſätze vergleicht.
Erſt wenn alles zuſammenſtimmt, hat er ſeine Probe beſtanden,
iſt er ächt und wahr. Als Beiſpiel nehmen wir die Obligation.
Faſſen wir dieſelbe mit den römiſchen Juriſten einmal als Qua-
lität der beiden verbundenen Perſonen auf, ſo folgt daraus,
daß ſie ohne die beiden Perſonen nicht exiſtiren kann — denn
eine ohne Subject beſtehende Qualität iſt ein Unding — daß
ſie mithin mit dem Tode des Gläubigers oder Schuldners unter-
gehen müßte. Wenn ſie nun dennoch praktiſch fortdauert, ſo
muß entweder jene Auffaſſung ſelbſt aufgegeben werden oder
aber — und dieſen Weg haben die römiſchen Juriſten eingeſchla-
gen — jener Widerſpruch muß dadurch beſeitigt werden, daß
die Perſon als fortdauernd gedacht wird. Ein Drittes gibt es
nicht, denn das Dritte könnte nur darin beſtehen, daß man
ſich bei dem bloßen Factum der Fortdauer der Obligation
beruhigte, darauf verzichtete, es mit dem Begriff der Obligation
in Einklang zu ſetzen. Das wäre aber ein wiſſenſchaftlicher
Bankerott, ein Abfall von aller und jeder Jurisprudenz. Fer-
ner! Wenn die Jurisprudenz einmal den Lehrſatz aufſtellt, daß
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 26
[402]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
die Obligation durch Zahlung untergeht, ſo muß es als ein
juriſtiſches Unding erſcheinen, daß der Gläubiger nach erhalte-
ner Zahlung die Klage noch cediren kann. Nichts deſto weniger
erkennt das Recht eine Ceſſion des Gläubigers an den Bürgen
nach geleiſteter Zahlung als möglich an. Auch hier kann die
Wiſſenſchaft ſich nicht dabei beruhigen, daß es einmal ſo Rech-
tens ſei, ſondern entweder muß ſie jenen Satz fallen laſſen, oder
aber, wenn ſie dies nicht will oder kann, einen Geſichtspunkt
aufſuchen, der den Widerſpruch beſeitigt, ihn als einen bloß
ſcheinbaren hinſtellt, und dies iſt den römiſchen Juriſten in einer
höchſt ungezwungenen, überzeugenden Weiſe gelungen.517)


Wir können der Anforderung, um die es ſich bei unſerm
zweiten Geſetz hier handelt, den Ausdruck geben: die Wiſſen-
ſchaft darf keine juriſtiſche Unmöglichkeiten ſtatuiren.
Der Begriff der juriſtiſchen Möglichkeit und Unmöglichkeit ſcheint
nun auf den erſten Blick ein abſoluter zu ſein, in der That aber
iſt er ein relativer. Wie vieles würde den römiſchen Juriſten
als juriſtiſch unmöglich erſcheinen, was heutzutage als juriſtiſch
möglich gilt (z. B. Forderungen, die dem jedesmaligen Innehaber
eines Papiers zuſtehen, Indoſſamente in blanco u. ſ. w.), und
an wie manchem nehmen wiederum ſie keinen Anſtoß, worin die
älteren Juriſten geradezu einen Verſtoß gegen jede juriſtiſche
Logik erblickt haben würden!518) Wie im Recht ſelbſt, ſo findet
auch in der Anſchauungsweiſe der Wiſſenſchaft ein ewiger Fort-
ſchritt ſtatt, ihr geiſtiger Horizont und damit der Kreis des
Möglichen erweitert ſich, ſei es durch ihr eignes Verdienſt, rein
aus eignem Antriebe, ſei es durch die Macht der Thatſache, die
ihr das bisher für juriſtiſch unmöglich Gehaltene aufdrängt und
ihr damit den Anlaß gibt, das Gebiet des theoretiſch Möglichen
[403]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
dem entſprechend auszudehnen. Es gibt für ſie in letzterem Fall
nur folgende Alternative: entweder muß das bisherige Dog-
ma519) ſich dem Neuen oder das Neue ſich dem Dogma fügen,
entweder die bisherigen Begriffe, Lehrſätze verändert werden, um
dem Neuen Raum und Unterkommen zu gewähren, oder aber
letzteres durch eine geſchickte Manipulation, durch irgend einen
geeigneten Geſichtspunkt ſo zugerichtet werden, daß es mit dem
Dogma in Einklang tritt. Dieſer letztere Weg iſt der nächſt
gelegene, und es iſt nicht bloß verzeihlich, ſondern durchaus
motivirt, wenn die Jurisprudenz vorzugsweiſe auf ihm die Lö-
ſung ſucht, alle ihre Kunſt aufbietet, um ſich der Nothwendig-
keit zu entziehen, mit ihren bisherigen Lehrſätzen zu brechen.
Die römiſchen Juriſten haben dieſe Kunſt der Vermittelung des
praktiſch Neuen mit dem theoretiſch Alten in hohem Grade ver-
ſtanden, und das folgende Syſtem wird uns namentlich glän-
zende Proben davon geben; ich nenne hier vorläufig die Be-
nutzung des Gegenſatzes zwiſchen Recht und Ausübung zum
Zweck der praktiſchen Uebertragung der Erbſchaft, Forderung
und des Nießbrauchs. Aber auch in der älteren Zeit blühte dieſe
Kunſt, ja ſie ward hier ſogar mit einer Aengſtlichkeit und Pe-
danterie geübt, bei der ſie anfängt ins Lächerliche zu ſpielen.
Aber man hüte ſich über der Uebertreibung den richtigen Takt,
den ächt juriſtiſchen Sinn, aus dem ſelbſt ſie hervorging, ſo wie
die höchſt vortheilhaften Folgen jener Strenge und Pedanterie zu
überſehen. Soll das wiſſenſchaftliche Gebäude Feſtigkeit erlan-
gen, ſo rüttle man nicht ohne Noth an dem Fundament, ſo lerne
man ſich zu behelfen. Gerade dies Sichbehelfen trägt der Wiſſen-
ſchaft reichliche Früchte. Die Noth macht erfinderiſch! Der Noth-
ſtand, in den der Conflict des Neuen mit dem Alten den Juriſten
verſetzt, oder richtiger das Beſtreben, dieſen Conflict ohne Scha-
26*
[404]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
den des Alten zu erledigen, hat ſich für die Entwicklung des
juriſtiſchen Scharfſinns ſehr wohlthätig erwieſen. Er treibt und
preßt die ganze dialektiſche Kunſt des Juriſten zur äußerſten An-
ſpannung und damit zu Erfindungen und Entdeckungen, die ganz
abgeſehen von dem unmittelbaren Zweck, dem ſie dienen ſollen,
der Wiſſenſchaft höchſt werthvolle und fruchtbare Bereicherungen
bringen. So hat die ſpätere römiſche Jurisprudenz unter dem
Einfluß ſolcher tranſitoriſchen Veranlaſſungen eine Reihe von
Unterſchieden entdeckt, die für ewige Zeiten ihren Werth behal-
ten werden.


Dieſe Kunſt der Vermittelung hat aber ihre Gränzen. Es
gibt einen Punkt, über den hinaus das Feſthalten des Bisheri-
gen in Unnatürlichkeit und Zwang ausartet.520) Wann und wo
derſelbe eintritt, iſt mehr Sache des Gefühls, als einer objec-
tiven Beſtimmung. Vermittelnde Conſtructionen, die dieſer
Zeit genügten, machen einer anderen den Eindruck des Gekün-
ſtelten, und ſo entſchloſſen ſich ſelbſt die römiſchen Juriſten, ſo
ſehr ſie ſich im übrigen gerade durch ihr Feſthalten an das her-
gebrachte Dogma auszeichnen, doch hie und da letzteres zu än-
dern, wo die ältere Jurisprudenz ſich dieſer Zumuthung durch
eine vermittelnde Conſtruction entzogen hatte.521) Für die heu-
[405]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
tige Jurisprudenz gibt es in dieſer Beziehung an der rein römi-
ſchen Theorie (alſo ganz abgeſehen von den Aenderungen des
heutigen Rechts) noch viel zu ändern.522)


Die bisherige Erörterung hat unſer zweites Geſetz bloß nach
der Seite hin verfolgt, nach der es uns vom Standpunkt der
altrömiſchen Technik aus intereſſirt, das Geſetz ſelbſt reicht wei-
ter und wird namentlich für die ſyſtematiſche Claſſification höchſt
wichtig, was ich hier jedoch nicht weiter ausführen darf.


Wenn wir die beiden Geſetze der juriſtiſchen Conſtruction,
die wir bisher erörtert haben, in Gegenſatz ſtellen wollen, ſo
können wir ſagen, daß das erſte im poſitiven, das zweite im
logiſchen Element wurzelt. Das Element des dritten und letz-
ten Geſetzes, zu dem ich jetzt übergehe, möchte ich als äſtheti-
ſches
bezeichnen.


3. Das Geſetz der juriſtiſchen Schönheit. Man wird
es für geſucht halten, wenn ich von einem juriſtiſchen Kunſt-
oder Schönheitsſinn ſpreche. Aber die Sache ſelbſt bringt es
mit ſich, und wenn man mir einmal verſtattet hat, von einer
künſtleriſchen Geſtaltung des Stoffs zu reden, ſo wird man
ſich auch den Kunſtſinn gefallen laſſen müſſen.523) Auf ihm
521)
[406]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
beruht das Wohlgefallen und Mißfallen, das gewiſſe Conſtruc-
tionen in uns erregen. Die einen befriedigen uns durch ihre
Natürlichkeit, Durchſichtigkeit, Einfachheit, Anſchaulichkeit, die
andern ſtoßen uns durch das Gegentheil ab, erſcheinen uns
gezwungen, unnatürlich u. ſ. w., ohne daß wir ſie darum für
verkehrt erklären könnten. Dies Geſetz iſt alſo nicht, wie die
beiden erſten, ein abſolutes. Eine Conſtruction, die gegen jene
verſtößt, iſt abſolut unrichtig, iſt keine Conſtruction, hingegen
eine ſchwerfällige, gezwungene Conſtruction iſt, ſo lange man
keine beſſere an ihre Stelle ſetzen kann, berechtigt und unent-
behrlich. In dieſer letzteren Hinſicht gibt es alſo Gradationen,
vollkommnere und unvollkommnere Conſtructionen. Der Ver-
gleich mit der Kunſt trifft ſelbſt inſofern zu, daß wir von einem
verſchiedenen Kunſtſtyl verſchiedener Epochen der Jurisprudenz
ſprechen können, wie denn z. B. die Verſchiedenheit der ältern
und neuern römiſchen Jurisprudenz in dieſer Hinſicht ſich einem
aufmerkſamen Beobachter kaum entziehen kann und von uns an
den betreffenden Stellen angedeutet werden ſoll. Der Styl der
ältern Jurisprudenz charakteriſirt ſich namentlich durch das Be-
ſtreben einer plaſtiſchen Darſtellung und Motivirung innerer
Thatſachen und Vorgänge, während die ſpätere Jurisprudenz
mehr mit begrifflichen, innerlichen Mitteln operirt z. B. das
Scheingeſchäft durch Fictionen erſetzt.


Einer näheren Ausführung dieſes dritten Geſetzes enthalte
ich mich, da ſie zum Zweck des Verſtändniſſes der altrömiſchen
Technik nicht geboten erſcheint, und die Beiſpiele, die letztere
uns vorführen wird, auch ohne Commentar verſtändlich ſind.
Darum nur folgende Bemerkungen. Je einfacher die Con-
ſtruction, um ſo vollkommner d. h. anſchaulicher, durchſichtiger
iſt ſie; in der höchſten Einfachheit bewährt ſich auch hier die
höchſte Kunſt. Die verwickeltſten Verhältniſſe ſind von den
Römern nicht ſelten mit den einfachſten Mitteln conſtruirt (man
denke z. B. an die juriſtiſche Perſon), und Conſtructionen, die
den Eindruck des Gekünſtelten, Complicirten machen, dürfen
[407]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
uns mit gerechtem Mißtrauen erfüllen. Anſchaulich iſt die
Conſtruction, wenn ſie das Verhältniß unter einem Geſichts-
punkt erfaßt, der unſerer Vorſtellung leicht zugänglich iſt (wie
z. B. bei dem Begriff der univ. rerum distantium); durchſich-
tig
, wenn die Conſequenzen des Verhältniſſes in dieſem Ge-
ſichtspunkt offen hervortreten, wie in dem Begriff der juriſti-
ſchen Perſon; natürlich, wenn die Conſtruction keine Abwei-
chung von dem, was ſonſt in der ſinnlichen oder geiſtigen Welt
vor ſich geht, 524) poſtulirt. Beruht unſere ganze Conſtruction
einmal auf einer naturhiſtoriſchen Anſchauung, ſo iſt es erklär-
lich, daß ſie ſich den Geſetzen und Vorgängen der Natur mög-
lichſt eng anzuſchließen, ſie auf ihrem Gebiete und in ihrem
Stoff möglichſt nachzubilden ſucht, und nicht ſelten ſcheint das
„naturale“ der Römer eben dieſe Bedeutung einer Natur-
Imitation
zu haben. 525)


Die bisherige Erörterung hat uns die Anforderungen an-
gegeben, denen die juriſtiſche Conſtruction zu entſprechen hat,
es mögen jetzt noch einige Worte folgen über die Mittel, die
ſie zu dieſem Zweck in Anwendung bringt, ich nenne ſie den
Conſtructionsapparat.


Die niederſte Stufe in demſelben nehmen ein die von der
Sprache recipirten Bilder, z. B. die Bezeichnung der Servi-
[408]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
tuten als jura praediorum, die der reivindicatio als actio in
rem,
die des Pfandrechts als obligatio rei. Eine Sache kann
weder ein Recht haben, noch verklagt werden, noch Subject
einer Obligation ſein. Allerdings kennt unſere Wiſſenſchaft die
Möglichkeit einer Perſonificirung deſſen, was in Wirklichkeit
nicht Perſon iſt, allein in jenen Fällen iſt daran nicht zu denken,
die Perſonification iſt hier keine juriſtiſche, ſondern eine bloß
figürliche. Nichts deſto weniger aber glaube ich jene Ausdrücke
als Conſtructionsverſuche vom Standpunkt der natürlichen Auf-
faſſungsweiſe bezeichnen zu dürfen — hat man doch ſogar wirk-
liche
Conſtructionen in ihnen finden wollen — und es läßt ſich
nicht läugnen, daß ſie mit Geſchick gewählt ſind und der An-
ſchauung höchſt brauchbare Anhaltspunkte gewähren. Als gleich-
falls einer niederen Stufe angehörige Conſtructionsmittel nenne
ich ſodann die Scheingeſchäfte, die hier aber nicht weiter
beſprochen werden ſollen, da das ältere Recht uns Gelegenheit
genug darbietet, ſie kennen zu lernen. An ſie reihen ſich ſodann
die Fictionen, die häufig nur das Caput mortuum früherer
Scheingeſchäfte ſind. Eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der Fiction
hat die künſtliche Erweiterung natürlicher Begriffe
z. B. die Ausdehnung des Fruchtbegriffs auf das uti (fructus
civiles),
die der Perſon auf juriſtiſche Perſonen, die der Sache
auf Complexe von Sachen (juriſtiſche Sachen) u. ſ. w. Eins
der ſcheinbar künſtlichſten Mittel in unſerm römiſchen Recht iſt
die rückwirkende Kraft; von ihr wird an einer andern Stelle die
Rede ſein. Uebrigens will ich bemerken, daß in den bei weitem
meiſten Fällen ein eigner Conſtructionsapparat gar nicht zur An-
wendung kömmt, ſondern die Löſung einfach durch richtige Erfaſ-
ſung des Begriffs, durch Entdeckung und Benutzung begrifflicher
Unterſchiede, durch Vereinigung des an ſich Verſchiedenen unter
einen höhern Geſichtspunkt, kurz auf dem Wege einer logiſchen
Zerſetzung und Durchdringung des Stoffs bewerkſtelligt wird.


Es verbleibt uns jetzt als letzter Punkt noch die Frage nach
dem eigenthümlichen techniſchen Werth und Nutzen der juriſti-
[409]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
ſchen Conſtruction. Wie verhält ſich letztere zu der früher (§. 38)
entwickelten höchſten Aufgabe der Technik, der Erleichterung der
ſubjectiven Beherrſchung des Rechts? Wir wollen das durch
die Conſtruction im Sinn der naturhiſtoriſchen Methode geſtal-
tete Recht das Syſtem nennen und faſſen den Inhalt der fol-
genden Ausführung in die beiden Sätze zuſammen: das Syſtem
iſt die praktiſch vortheilhafteſte Form des poſitiv gegebenen
Stoffs; und: es iſt die Quelle neuen Stoffs.


1. Das Syſtem iſt die praktiſch vortheilhafteſte
Form des poſitiv gegebenen Stoffs
.

Die Erhebung des Rechts zum Syſtem im obigen Sinn ent-
zieht demſelben, wie bereits früher bemerkt, ſeine äußerlich
praktiſche Form, ohne die innere praktiſche Kraft deſſelben zu
vermindern. Alle unſere Begriffe, Eintheilungen ſind praktiſche
Potenzen; gewonnen aus Rechtsſätzen, laſſen ſie ſich jederzeit
von dem, der es verſteht, auf ſie zurückführen. 526)


Wenn nun jene Umwandlung einerſeits die bisherige Brauch-
barkeit des Stoffs um nichts beeinträchtigt, vervollkommnet ſie
ihn andererſeits in höchſt weſentlicher Weiſe.


Erſtens: das Syſtem iſt die anſchaulichſte, weil pla-
ſtiſche
Form des Stoffs. Während derſelbe bisher als rein ſtoff-
artige Subſtanz mit dem Gedächtniß erfaßt werden mußte,
geſchieht dies jetzt vermittelſt des juriſtiſchen Anſchauungs-
vermögens
. Das Charakteriſtiſche der Anſchauung liegt
in der Einheit, Totalität und Simultaneität des Bildes, das ſie
dem Geiſt vorführt. Die Anſchauung ſucht nicht erſt das Ein-
zelne zuſammen, wie das Gedächtniß, ſondern ſie hat daſſelbe
gleichzeitig und in ſeinem ganzen Zuſammenhang vor Augen.
Dies ſetzt aber voraus, daß ein ſolcher Zuſammenhang, eine Ein-
heit, kurz ein objectiv Anſchauliches exiſtire. Dieſe objective An-
ſchaulichkeit wird nun für das Recht eben begründet durch das
[410]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Syſtem. Denn im Syſtem hat ja der Stoff plaſtiſche Formen
angenommen, er hat ſich getheilt und zuſammengethan zu ein-
zelnen individuell beſtimmten Körpern. Jeder ſolcher Körper iſt
der Träger einer Maſſe von Rechtsſätzen oder richtiger nicht ein
bloßer Träger, ein mit ihnen behangenes Gerippe, ſondern er
iſt ſie ſelbſt, ſie ſind ſein Fleiſch und Blut geworden. In ihm
hat die Maſſe individuellen Ausdruck und die Möglichkeit eines
Totaleindrucks gewonnen. Jeder dieſer Körper hat für uns
ſeine beſtimmte Phyſiognomie und Individualität, und wer län-
gern Verkehr mit ihnen gepflogen, dem werden ſie wie alte Be-
kannte — er kennt ſie, wo und wie er ſie trifft (Diagnoſe), und
er weiß, was ſie können und nicht können, 527) ohne daß er
nöthig hätte, viel darüber zu reflectiren und ſich der Gründe
bewußt zu werden.


Wie ſehr nun durch dieſe Möglichkeit, das Recht mit der
Anſchauung zu erfaſſen, unſere ganze Beſchäftigung mit dem-
ſelben gewinnt, gewinnt an Raſchheit, Sicherheit, Leich-
tigkeit
— das werde ich dem eignen Nachdenken des Leſers
überlaſſen dürfen.


Zweitens: das Syſtem iſt die bequemſte, weil kür-
zeſte, concentrirteſte
Form des Stoffs — eine Behauptung,
die nach den Ausführungen in dieſem und den vorhergehenden
Paragraphen keiner weiteren Erörterung bedarf. 528)


Drittens: das Syſtem iſt die ergiebigſte, durchſich-
tigſte
Form des Stoffs. In dieſer Form wird die ganze Fülle
ſeines Inhalts zu Tage gefördert, alles, was in ihm ſteckt, her-
vorgetrieben: die Beziehungen der entfernteſten Punkte, die fein-
ſten Unterſchiede und Aehnlichkeiten, die ſtillſchweigenden Vor-
ausſetzungen, die dem Geſetz zu Grunde liegen, und die gerade
[411]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
wegen ihrer Natürlichkeit und Nothwendigkeit ſich der Beob-
achtung entziehen konnten, die allgemeineren Principien, die zu
abſtract, zu ätheriſch waren, als daß der Geſetzgeber ihre An-
weſenheit und Influenz bei dem Act der Rechtsproduction hätte
wahrnehmen ſollen — kurz das Innerſte und Geheimſte des
Stoffs wird ins Bewußtſein gebracht. Darum könnte man die
naturhiſtoriſche Methode etwa die peinliche Frage des Rechts
nennen, die den Stoff zum Geſtändniß zwingt. Jene allgemei-
nen Kategorien, die wir oben mitgetheilt haben: Entſtehung,
Untergang, Eigenſchaften u. ſ. w. des Rechtskörpers ſind zwar
an ſich inhaltslos, formal, allein ſo wie ſie mit dem Stoff in
Verbindung geſetzt werden, entwickeln ſie eine außerordentliche
dialektiſche Triebkraft. Immerhin mögen ſie nur Fragen ſein,
die wir an ihn richten, allein die Frage iſt der erſte Schritt zur
Erkenntniß, ja nicht ſelten die Erkenntniß ſelbſt. Allerdings
verſorgt uns auch die Praxis täglich mit Fragen und verhilft
uns dadurch mittelbar zu einer Erweiterung unſerer Kenntniſſe,
allein die Fragen der Praxis ſind nicht immer gerade die lehr-
reichſten. Eine völlig unpraktiſche Frage, die aber das Inſtitut,
ſo zu ſagen, an ſeiner empfindlichſten Stelle, an ſeiner Wurzel
erfaßt, kann für die wahrhafte Erkenntniß deſſelben unendlich
viel wichtiger ſein, und mit der Beantwortung Einer ſolchen
Frage können mittelbar eine Reihe der praktiſch-wichtigſten Fra-
gen, die man bisher auf unmittelbarem Wege vergebens zu
löſen ſuchte, ihre definitive Erledigung finden. So wie die Na-
turwiſſenſchaft die für das Leben folgenreichſten Entdeckungen in
der Regel bei Fragen und Unterſuchungen macht, die von vorn-
herein gar keine praktiſche Beziehung hatten, wie die Wiſſen-
ſchaft hier gerade dadurch dem Leben dient, daß ſie ſich demſel-
ben entzieht, ſo auch die Jurisprudenz. Ihre beſten Entdeckun-
gen macht ſie nicht ſelten in völlig unpraktiſchen Regionen, und
hätten die römiſchen Juriſten uns auch ſonſt nichts gelehrt, wir
wären ihnen ſchon für die Eine Lehre zu ewigem Dank verpflich-
tet: daß nämlich die Jurisprudenz, um wahrhaft prak-
[412]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
tiſch zu ſein, ſich nicht auf praktiſche Fragen be-
ſchränken darf
.


So enthält alſo das Syſtem die Emancipation der Juris-
prudenz von dem Zufall des unmittelbaren Bedürfniſſes; auf
ihm beruht alſo die eigentliche wiſſenſchaftliche Freiheit
der Jurisprudenz
. Mit dieſer Bemerkung aber treffen wir
zugleich unſern zweiten Hauptſatz, nämlich


2. Das Syſtem iſt eine unverſiegbare Quelle
neuen Stoffs
.

Wenn die Jurisprudenz bloß erſchließt, was der Geſetzgeber
mittelbar geſetzt und gegeben hat, ſo kann man hier nur uneigent-
lich von einem neuen Stoff reden; es iſt nicht ſowohl eine
Production, als eine Enthüllung. 529) Dagegen gibt es auch
eine juriſtiſche Production im ſtrengſten Sinn, die Hervorbrin-
gung eines abſolut neuen Stoffes. Wer nur die oberflächlichſte
Anſchauung von den Arbeiten der römiſchen Juriſten hat, muß
ſie kennen; denn jedes Blatt unſerer juſtinianeiſchen Pandekten
legt Zeugniß von ihr ab. Wie viel Lehren hat die römiſche Ju-
risprudenz geſchaffen, zu denen das poſitive Recht ihr auch nicht
den geringſten Anhaltspunkt, den leiſeſten Anſtoß gegeben hat!
Welches Geſetz hatte z. B. etwas beſtimmt über die Theilbarkeit
oder Untheilbarkeit der Servituten, des Pfandrechts u. ſ. w.?
Und doch iſt dieſe Lehre von der Theilbarkeit eine der ſtoffreich-
ſten, umfangreichſten, die es gibt. Oder wo ſtand etwas über
den Eigenthumserwerb durch Specification und Acceſſion? Kurz
dieſe Lehren ſind wahrhafte juriſtiſche Productionen, gewonnen
rein auf dem Wege der juriſtiſchen Speculation. Der
Stoff z. B., aus dem die Jurisprudenz die Lehre von der Spe-
cification und Acceſſion entwarf, war nichts, als der allgemein
logiſche Begriff der Identität, angewandt auf die Umge-
ſtaltung einer Sache
.


[413]3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.

Das praktiſche Leben kann dieſer Ergänzung des poſitiven
Rechts durch die Jurisprudenz gar nicht entbehren und letztere
ſich ihr eben darum, auch wenn ſie möchte, gar nicht entziehen.
Jede Jurisprudenz producirt, 530) ſelbſt wenn ſie ſich deſſen nicht
bewußt iſt und wohl gar ſich in der Theorie das Recht dazu
abſpricht, wie dies ja noch heutzutage von Manchen geſchieht.
Es war ein ganz richtiges Gefühl, das einen Juriſten des vori-
gen Jahrhunderts, den Germaniſten Runde, beſtimmte, die Na-
tur der Sache
als Rechtsquelle aufzuſtellen; es giebt kaum
einen Ausdruck, der der von mir im Bisherigen entwickelten
naturhiſtoriſchen Anſchauung ſowohl der Sache wie dem Namen
nach ſo nahe käme.


Wie ſehr nun dieſe juriſtiſche Production durch die natur-
hiſtoriſche Auffaſſungsweiſe bedingt iſt, bedarf ſchwerlich einer
Erläuterung. Vom Standpunkt der niedern Jurisprudenz iſt ſie
ſchlechterdings nicht zu begründen, vom Standpunkt der höhern
aus hingegen ergibt ſie ſich als nothwendige Conſequenz. Ha-
ben wir einmal die Vorſtellung der Rechtskörper adoptirt, die
Idee des individuellen Seins und Lebens auf den gegebenen
poſitiven Stoff angewandt, ſo müſſen wir dieſer Idee auch da
treu bleiben, wo der poſitive Stoff uns im Stich läßt d. h. das
Fehlende in irgend einer Weiſe ergänzen. Das Material aber
zu dieſer Ergänzung gewährt uns theils der einzelne Körper
ſelbſt, ſeine Natur und innere Dialektik, theils die allgemeine
Theorie der juriſtiſchen Körper.


So öffnet ſich denn der Wiſſenſchaft im Syſtem ein unab-
ſehbares Gebiet der Thätigkeit, ein unerſchöpfliches Feld des
Forſchens und Entdeckens, und eine Quelle des reichſten Genuſ-
ſes. Nicht die engen Schranken des poſitiven Geſetzes bezeichnen
[414]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ihr hier die Gränzmarken ihres Reichs, nicht die unmittelbar
praktiſchen Fragen die Pfade, die ſie zu wandeln hat. Frei und
ungehindert, wie in der Philoſophie, kann der Gedanke hier
ſchweifen und forſchen und dennoch zugleich ſicher gegen die
Gefahr ſich zu verlieren, die ihm dort ſo leicht droht. Denn die
praktiſche Natur der Welt, in die er ſich verſetzt findet, lenkt
ihn immer wieder zu den realen Dingen zurück. Aber daß er,
indem er zurückkehrt, ſich geſtehen darf, nicht einem bloß ſubjec-
tiven Erkenntnißdrange genügt zu haben, nicht die bloße Erin-
nerung an einen hohen geiſtigen Genuß, ſondern etwas für die
Welt und Menſchheit Werthvolles mit zurückzubringen, daß die
Gedanken, die er gefunden, keine bloßen Gedanken bleiben, ſon-
dern praktiſche Gewalten werden — eben das gibt all unſerm
Philoſophiren und Conſtruiren in der Dogmatik erſt ſeinen
wahren Werth.


Bringen wir dieſe Auffaſſung der Jurisprudenz, dieſe
Anſchauung des Rechts mit, dann glaube ich wird es uns nicht
Wunder nehmen, daß dieſe Wiſſenſchaft mehr als ein halbes
Jahrtauſend in Rom die äußerſte Anziehungskraft ausüben und
den Rang der erſten Wiſſenſchaft einnehmen konnte. Sie
gewährte dem römiſchen Geiſt, ſo zu ſagen, die Arena einer dia-
lektiſchen Gymnaſtik. Sie erklärt uns zugleich, daß und warum
die Römer keine Philoſophie hatten, denn alles, was an philo-
ſophiſchem Trieb und Talent in ihnen war, hat in ihr ſeine
Befriedigung und ſeinen Auslaß gefunden. Und ſo wird es ſich
rechtfertigen, wenn wir, indem wir uns ihr jetzt zuwenden, ſie
von vornherein charakteriſiren als: das durch die praktiſche
Richtung des Römervolkes beſtimmte geiſtige Ge-
biet, an dem ihre Philoſophie zum Durchbruch kam
,
oder kurz weg als die national-römiſche Philoſophie.


[415]Die Jurisprudenz. §. 42.
B. Die Technik des ältern Rechts.

Die Jurisprudenz.

Die Pontifices — die Geheimhaltung des Rechts — das jus ci-
vile
im engern Sinn — der pontificiſche Styl — das Ende der
pontificiſchen Herrſchaft.


XLII. Nach einer langen Abſchweifung haben wir jetzt wie-
der hiſtoriſchen Grund und Boden erreicht. Allein bevor ich ihn
betrete, muß ich mir noch eine Bemerkung über das Verhältniß
des vorhergehenden Abſchnitts zu dem gegenwärtigen erlauben,
nicht bloß zu meiner eignen Rechtfertigung, ſondern auch im
Intereſſe des Leſers. Meine Darſtellung der Theorie der Tech-
nik nämlich iſt nicht bloß darauf berechnet, das Verſtändniß des
ältern, ſondern auch das des ſpätern römiſchen Rechts vorzu-
bereiten. An irgend einer Stelle mußte ich ſie einſchalten, und
da ſchien mir die gegenwärtige Stelle die paſſendſte zu ſein,
weil uns hier die Frage von der Technik zum erſten Mal begeg-
net. Allein ich habe mich und konnte mich bei meiner Darſtel-
lung nicht durch die Rückſicht auf das ältere Recht beengen laſ-
ſen, nicht ängſtlich abwägen, ob alles und jedes, was ich ſagte,
unmittelbar im älteren Recht ſeine Anwendung finde; ich hatte
nur die Wahl, die Theorie der Technik entweder in ihrem gan-
zen Zuſammenhang oder gar nicht zu behandeln. Dieſer Zu-
ſammenhang aber brachte es mit ſich, daß ich der Technik bis
zu ihrem äußerſten Höhenpunkt, bis zur Höhe der ausgebildeten
Wiſſenſchaft folgte, und gerade der Umſtand, daß der Schluß
unſerer Einleitung uns auf dieſem Punkt gelaſſen hat, machte
das gegenwärtige Vorwort nöthig. Denn dieſer äußerſte Punkt
liegt für uns gegenwärtig noch zu hoch. Er bildet allerdings das
Ziel, dem das ältere Recht nachſtrebt, und inſofern war uns
auch die Kenntniß dieſes Punktes unentbehrlich, allein das
ältere Recht iſt, wenn auch dem Ziele ungleich näher, als man
gewöhnlich annimmt, doch nur auf dem Wege zu ihm.


[416]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Indem wir nun an das ältere Recht herantreten, wollen wir
uns in unſeren Erwartungen möglichſt herabſtimmen. Daß wir
eine Technik finden werden, wiſſen wir, denn eine Technik hat
jedes Recht, auch das ungebildetſte, ſie iſt vor aller Jurispru-
denz da (S. 337). Aber ob wir bereits eine Jurisprudenz
antreffen werden, davon wiſſen wir noch nichts, dies muß viel-
mehr erſt Sache der hiſtoriſchen Unterſuchung ſein. Ich halte es
nun für nöthig, dieſe Frage gleich hier beim Eintritt in das
ältere Recht zu beantworten, wäre es auch nur, um mir dadurch
das Recht zu verſchaffen, im Verlauf der Darſtellung von Ju-
riſten
zu ſprechen, aber ich faſſe ſie hier ganz äußerlich, ich frage
nämlich nur: kannte das ältere Recht bereits den äußern Gegen-
ſatz zwiſchen Juriſten und Laien, gab es eine eigene Claſſe von
Leuten, deren Beruf in der Kenntniß und Anwendung des Rechts
beſtand? Ob ihnen der Name von „Juriſten im eigentlichen Sinn“
abzuſprechen ſei, 531) ob ihr Können und Wiſſen den Namen
eines juriſtiſchen verdiene, iſt eine Frage, die ſich erſt beantworten
läßt, wenn wir mit ihren Leiſtungen vertraut geworden ſind, alſo
erſt am Schluß dieſes ganzen Abſchnittes. Uebrigens iſt jenes
äußerliche Moment, nach dem ich die Frage hier beantworte, bei
weitem nicht ſo äußerlich, wie es ſcheint. Dieſe äußere Ab-
ſperrung der Jurisprudenz iſt der erſte Anſatz zur inneren Ent-
wickelung derſelben als Wiſſenſchaft; damit der Kern ſich ent-
wickele, bedarf er der Schale, und wenn die Schale ſich bildet,
ſo iſt das ein Zeichen, daß der Kern ſich vorbereitet.


Wer den Gegenſatz zwiſchen Juriſten und Laien als etwas
Unnatürliches betrachtet, für den hat die Unnatürlichkeit in Rom
ſchon früh begonnen, denn er iſt eine der erſten rechtshiſtoriſchen
[417]Die Jurisprudenz. §. 42.
Thatſachen, von denen die Tradition zu berichten weiß. Ja ſie
gibt ihm ſogar die Geſtalt einer förmlichen Geheimnißkrämerei,
die die Juriſten mit dem Recht getrieben, um ſich dem Volk
unentbehrlich zu machen. 532) Die hiſtoriſche Kritik hat dieſe
Mittheilung als eine handgreifliche Erdichtung einfach zur Seite
ſchieben wollen; 533) richtiger wäre es geweſen zu fragen, wie
ſich, wenn an der Sache gar nichts Wahres geweſen, eine ſolche
Fabel hätte bilden können? Man hüte ſich nur, die Uebertrei-
bung erſt ſelbſt hineinzutragen. Daß das Volk ſich in völliger
Unkunde des Rechts befunden, wäre allerdings unglaublich,
allein das iſt doch nicht der Sinn jener Erzählung. Sondern
der Sinn iſt der: daß das Recht durch die Jurisprudenz dem
Volk entfremdet worden ſei, daß ſich neben dem Volksrecht ein
Juriſtenrecht gebildet habe, und dieſe Thatſache iſt ſo wenig auf-
fällig, daß ſie im Gegentheil die unausbleibliche Folge iſt, die
ſich hiſtoriſch überall an das Auftreten und Wirken der Juris-
prudenz knüpft. Die Sage hat dieſe Thatſache nur in ihrer
Weiſe ausgeſchmückt, indem ſie, wie ſie es ſo gern thut, als
Werk der Abſicht hinſtellt, was ein unbeabſichtigtes und unver-
meidliches Reſultat der Verhältniſſe iſt. In jener Sage beſitzen
wir alſo einen Bericht über einen der wichtigſten Wendepunkte
in der Geſchichte des römiſchen Rechts, den Uebergang von der
naiven Auffaſſung des Rechts zur Reflexion d. h. zur Jurispru-
denz, und zwar beſteht das Intereſſante und Beachtenswerthe
dieſes Berichts in zweierlei. Zuerſt theilt er uns mit die Zeit,
wann dieſer Wendepunkt eingetreten iſt, nämlich bald nach den
XII Tafeln, und ſodann — zwar nicht mit dürren Worten, aber
für Jeden, der Sagen zu leſen verſteht, nicht minder deutlich —
wie tief der Riß, der damit erfolgte, vom Volk empfunden ſein
muß, welch’ bleibenden Eindruck dieſer Umſchwung in der Erin-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 27
[418]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
nerung des Volks zurückgelaſſen hat. Und in der That war der
Riß ein ſchroffer — um dies behaupten zu können, reichen un-
ſere ſonſtigen Nachrichten vollkommen aus — und zwar beruhte
dieſe Schroffheit weſentlich mit auf der eigenthümlichen Form,
die die Jurisprudenz während der erſten Jahrhunderte ihres
Beſtehens an ſich trug.


Die Kenntniß der Geſetze, die Kunſt der Interpretation und
die Legis Actionen, berichtet uns Pomponius, 534) waren in der
Zeit nach den XII Tafeln in den Händen der Pontifices, und
jährlich ward ein Mitglied aus dem Collegium zur Handhabung
der Rechtspflege (qui praeesset privatis) committirt. Derſelbe
Pomponius aber redet in §. 27 des citirten Fragments von
einem gleichzeitigen jus dicere der Conſuln. Wie vereinigt ſich
beides? Alle Maßregeln, die Ausflüſſe des imperium waren
z. B. die addictio des Schuldners, der Erlaß eines Befehls
u. ſ. w., konnten nur von dem Magiſtrat verhängt werden, da-
gegen fiel die Entſcheidung eigentlicher Prozeſſe den Pontifices
anheim. Dies aber mit einer Beſchränkung. Mit Streitigkei-
ten nämlich, die keine Rechtskenntniß vorausſetzten z. B. über
Theilung eines Nachlaſſes zwiſchen den Erben, Taxation einer
Sache, über Regulirung des Laufs der Gewäſſer brauchte man
die Pontifices nicht zu behelligen; jeder Bürger und Bauer war
hier eben ſo brauchbar und vielleicht brauchbarer, als ſie. Für
derartige Rechtsſtreitigkeiten (jurgium, arbitrium) war höchſt
wahrſcheinlich die legis actio per judicis arbitrive postulatio-
nem
beſtimmt, und zwar ward der Antrag auf Beſtellung eines
ſolchen Richters aus dem Volk beim Conſul, nach Einführung
der Prätur beim Prätor geſtellt. 535) Im übrigen nun waren
ausſchließlich die Pontifices competent, wie ſchon daraus her-
[419]Die Jurisprudenz. §. 42.
vorgeht, daß die einzige eigentliche Prozeßform, die wir für
das ältere Recht annehmen dürfen, die legis actio sacramento536)
in ihrer urſprünglichen Geſtalt unverkennbar auf eine Mitwir-
kung von ihrer Seite hinweiſt. Das sacramentum ward an-
fänglich bei dem pons publicius (Bd. 1 S. 266) deponirt und
fiel nicht, wie ſpäter, dem Staat, ſondern dem religiöſen Fond
zu. Den Gerichtshof der Pontifices dürfen wir nun für jene Zeit
als den Sitz der eigentlichen Juſtiz und Jurisprudenz bezeich-
nen, und wir brauchen bloß den Umſtand, daß es eine ſtändige
und geiſtliche Behörde war, in Anſchlag zu bringen, um die
Nachrichten über den Charakter und die Stellung der älteſten Ju-
risprudenz begreiflich zu finden. Wären die Pontifices auch von
jener Tendenz nach einem eſoteriſchen Wiſſen, die alle Prieſter-
ſchaften des Alterthums beſeelte, völlig frei geweſen — und in
dieſer Allgemeinheit wäre die Behauptung mehr als gewagt,
denn in der römiſchen Religion tritt der Zug nach dem Geheim-
nißvollen deutlich hervor — bei einer Genoſſenſchaft, deren ver-
faſſungsmäßiger Beruf das Wiſſen und die Gelehrſamkeit war,
deren Stellung nicht bloß eine höhere Einſicht, ſondern auch
die Verpflichtung, den Glauben daran im Volk zu erhalten, mit
ſich brachte, die aus lebenslänglichen ſich ſelbſt ergänzenden Mit-
gliedern patriciſchen Standes beſtand, bei einer ſolchen Genoſ-
ſenſchaft mußte das Recht mit Nothwendigkeit einer gewiſſen
gelehrten Abgeſchloſſenheit verfallen, und die erforderliche Kennt-
niß deſſelben ſich mehr und mehr auf das Collegium zurückzie-
hen. Man hat dies „im Angeſicht der Volksſitte, in der das
Recht lebte und webte, der geſchriebenen Geſetze, die öffentlich
ausgeſtellt waren, endlich der allervollkommenſten Oeffentlichkeit
der Gerichte“ (Puchta) für unmöglich gehalten und die Differenz
27*
[420]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
zwiſchen den Juriſten und Laien der damaligen Zeit nicht in
eine Verſchiedenheit ihres Wiſſens, ſondern des Könnens
ſetzen wollen; die Ueberlegenheit der erſteren habe ſich lediglich
auf die Anwendung des Rechts bezogen. Allein dieſer Be-
hauptung ſtehen nicht bloß alle äußern Zeugniſſe, ſondern auch
die innere Wahrſcheinlichkeit entgegen. Waren auch die Geſetze
Jedermann vor Augen, ſo war doch die Interpretation Sache
der Pontifices; 537) bot auch die Oeffentlichkeit der Gerichts-
ſitzungen Gelegenheit, den Gang des Verfahrens und das rein
Aeußerliche der Klagformulare kennen zu lernen, ſo war doch
ſchon die Kenntniß, wo und wie die verſchiedenen Formeln an-
zuwenden, welcher Sinn mit ihnen zu verbinden etwas mehr
Theoretiſches, durch das bloße Zuſehen nicht ſo leicht zu Erler-
nendes. Allein der entſcheidende Umſtand iſt der, daß es außer
der Volksſitte und den Geſetzen noch eine dritte Rechtsquelle das
Recht der Wiſſenſchaft oder das jus civile im engern Sinn 538)
gab, zu der nur der Pontifex völlig freien Zutritt hatte.


Als nothwendiger Inhalt dieſer pontificiſchen Rechts-
disciplin
ſtellt ſich uns zunächſt dar die Tradition der bisheri-
gen Praxis. Daß der Boden zur Bildung einer conſtanten
Praxis ein höchſt geeigneter war, wird eben ſo wenig der Bemer-
kung bedürfen, als daß die Fortpflanzung derſelben durch ſchrift-
liche und mündliche Tradition ſich der Natur der Sache nach nur
auf die Mitglieder des Collegs beſchränkte. Im Volk mußte die
Erinnerung wichtiger Rechtsfälle und Entſcheidungen leicht ver-
fliegen, bei jenem Colleg hingegen ward ſie fixirt und pflanzte
ſich treu von einer Generation zur andern fort. 539) Den zweiten
[421]Die Jurisprudenz. §. 42.
Beſtandtheil dieſer Disciplin bildete die eigentliche Lehre, die
von den Pontifices ſelbſt entworfene Theorie des Rechts.
Eine unabweisbare Aufforderung zur Ausarbeitung einer eige-
nen, ſelbſtändigen Theorie des Rechts lag in der religiöſen Bezie-
hung deſſelben. Soweit dieſe Beziehung reichte — und, wie wir
Bd. 1 S. 262 geſehen, reichte ſie im ältern Recht ſehr weit —
war das Recht der geſetzgebenden Gewalt des Volks verſchloſſen;
hier waren nur die Pontifices competent, das fas dürfen wir
ausſchließlich als ihr Werk betrachten. Allein ihre geſtaltende
und rechtsbildende Thätigkeit erſtreckte ſich eben ſo wohl auf das
jus. Ganz abgeſehen davon, daß ihnen gleichmäßig die Anwen-
dung des jus wie des fas anvertraut war, und ein gewiſſer rechts-
bildender Einfluß von jeder Anwendung des Rechts untrennbar
iſt, ſo ließ ſich, ſelbſt wenn ſie aus irgend welchem Grunde ihre
Doctrinen auf das fas hätten beſchränken wollen, doch eine
ſtrenge Gränzlinie zwiſchen beiden Gebieten des Rechts in man-
chen Verhältniſſen gar nicht ziehen. Wie Vieles war beiden
völlig gemeinſam (man denke z. B. an die Lehre von der Zeit)
und wie oft erforderte die Durchführung irgend eines Zwecks
oder Geſichtspunkts des fas die Unterordnung des jus d. h. eine
entſprechende Geſtaltung der profanen Seite des Inſtituts (man
denke z. B. an das, was Gajus II, 55 über das urſprüngliche
Motiv der usucapio pro herede berichtet)! Und ſodann wenn
einmal die Pontifices, wie wir nachher ſehen werden, im Beſitz
einer gewiſſen Methode und gewiſſer allgemeinen Anſchauungen
waren, durch die ſie ſich bei der Geſtaltung des fas beſtimmen
ließen: wie kann man annehmen, daß ſie dieſelben beim jus hät-
ten verläugnen, oder, wenn nicht, daß letztere ſich für das jus
minder fruchtbar hätten erweiſen ſollen, als im fas? Aber ganz
abgeſehen von dieſer Einwirkung des fas auf das jus, wie kann
man überhaupt nur daran zweifeln, daß eine ſo feſt gegliederte,
539)
[422]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
abgeſchloſſene, mit einem ſolchen Nimbus umgebene und mit
einer ſolchen Macht ausgeſtattete Jurisprudenz, wie dieſe, nicht
mindeſtens denſelben, ich meine nicht bloß geſtaltenden, form-
gebenden, ſondern materiell-productiven Einfluß auf das Recht
ſollte gewonnen haben, den die Jurisprudenz ſelbſt bei einer
ungleich ungünſtigeren Stellung erfahrungsmäßig überall aus-
zuüben pflegt? Schwerlich würde ſich der große Gegner, den
wir hier bekämpfen, dieſer Einſicht verſchloſſen haben, wenn er
nicht aus reinem Vorurtheil, oder indem er die Form mit der
Sache verwechſelte, den Pontifices den Namen von Juriſten „im
eigentlichen Sinn“ von vornherein abgeſprochen hätte. Allein
wenn man nicht etwa den Maßſtab der heutigen Jurisprudenz
mitbringen will, ſo rechtfertigt ſich eine ſolche geringſchätzige
Behandlung derſelben keineswegs. Sie waren Juriſten im äch-
ten, wahren Sinn und in dem Maße würdige Vorgänger der
ſpäteren römiſchen Juriſten, daß letztere nur dadurch, daß ſie
auf ihren Schultern ſtanden, groß wurden. Sie hatten ihre
Methode, und zwar eine ſehr ſtrenge und conſequente, ihre all-
gemeinen juriſtiſchen Anſchauungen und Axiome, die ſie zu ein-
zelnen Rechtsſätzen verwertheten, und ihr Einfluß auf die ganze
Geſtaltung des Rechts war meiner feſten Ueberzeugung nach ein
ſo bedeutender, wie ſich die ſpätere römiſche Jurisprudenz, die
ihn mit dem Prätor und Kaiſer theilen mußte, deſſelben nicht
rühmen kann.


Doch ich auticipire bereits ein Urtheil, das ſich erſt, nach-
dem wir die Technik des ältern Rechts haben kennen lernen,
wird motiviren laſſen. An der gegenwärtigen Stelle handelt
es ſich nur darum, ob die Pontifices bereits eine eigene, dem
Volk fremde Rechtsdisciplin, kurz eine Jurisprudenz hatten,
und dieſe Fragen glaube ich mit aller Gewißheit beantworten
zu können.


Die directen Nachrichten über die Leiſtungen der Pontifices
auf dem Gebiet des Civilrechts ſind ſpärlich, denn ſie beſchrän-
ken ſich darauf, uns die Legisactionen als ihr Werk zu nen-
[423]Die Jurisprudenz. §. 42.
nen. 540) Freilich darf man die Bedeutung dieſer Legisactionen
nicht unterſchätzen, denn ſie enthielten nicht bloß die Form des
Rechts, ſondern zum großen Theil das Recht ſelbſt. Allein
für unſeren Zweck gewähren ſie uns doch kaum einen Anhalts-
punkt. Eine um ſo ergiebigere Quelle aber zur Beantwortung
unſerer Fragen können wir uns dadurch erſchließen, daß wir
das ältere Civilrecht mit der alten Religion und dem fas ver-
gleichen. Auf dieſen letzten beiden Gebieten waren die Ponti-
fices unbeſtrittenermaßen autonom; was ſich hier findet, kam
jedenfalls von ihnen. Treffen wir nun auf dem Gebiete des
Civilrechts dieſelben Grundſätze, dieſelbe Methode, kurz denſel-
ben Styl wieder, wie auf dieſen beiden Gebieten, und zwar
einen künſtlichen, gelehrten Styl, wie er nur dem Techniker
eigen, der Periode der reinen Volksthümlichkeit aber völlig
fremd iſt — in dem Fall werden wir, da wir einmal für zwei
jener Gebiete den Styl mit aller Gewißheit als den pontifici-
ſchen bezeichnen dürfen, zu der Behauptung berechtigt ſein, daß
alles, was innerhalb des Civilrechts in demſelben Styl gearbei-
tet iſt, im Weſentlichen von den Pontifices ſtammt. Um jedem
Einwande gegen die Beweiskraft dieſes Schluſſes vorzubeugen,
bemerke ich, daß die Annahme: es ſei dieſer Styl ſchon für
den Pontifices im Rechte heimiſch geweſen und von ihnen die
Religion und das fas adoptirt, in dem Maße gegen alle geſchicht-
lichen Geſetze verſtoßen würde, daß ſie einer ernſtlichen Wider-
legung nicht bedarf. Gibt man aber den pontificiſchen Urſprung
deſſelben zu, ſo wird eine andere denkbare Annahme, nämlich
[424]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
daß die Anwendung deſſelben auf das Civilrecht nicht von den
Pontifices, ſondern erſt von den ſpätern Juriſten herrühre,
ſchwerlich mehr Beifall finden, ohne daß ich damit in Abrede
nehmen will, daß nicht die ſpätern Juriſten noch lange in der-
ſelben Weiſe fortgearbeitet hätten, wie ihre Vorgänger, und daß
alſo nicht alles und jedes, was im Geiſt der letzteren gearbeitet
iſt, unmittelbar ihnen angehörte. Darauf aber kömmt es auch
nicht an, ob ſie den Bau ſelbſt bis ins Kleinſte ausgeführt,
jeden einzelnen Stein ſelbſt eingefügt, ſondern ob ſie den Plan
gemacht, den Styl beſtimmt und wenigſtens die Fundamente
ſelbſt gelegt haben. Und davon, hoffe ich, ſoll der Leſer ſich jetzt
überzeugen.


Wir vergleichen zu dem Zweck zunächſt das ältere Recht mit
der Religion rückſichtlich der Methode ihrer Bearbeitung.
Die Methode iſt bei beiden genau dieſelbe, die charakteriſtiſchen
Momente der ältern Technik, die uns die ſpätere Darſtellung
vorführen wird, kehren ſämmtlich bei der Religion wieder. Zu-
nächſt der Formalismus. Dieſelbe Beſtimmtheit, 541) dieſelbe
ſcrupulöſe Genauigkeit in der Faſſung der Formeln, 542) dieſelbe
Strenge in der Handhabung derſelben, wie im ältern Recht;
das geringſte Verſehen im Ausſprechen der Formel begründete
hier nicht minder wie im Legisactionenprozeß Nichtigkeit. 543)
Auf dieſe Uebereinſtimmung will ich aber kein ſo hohes Gewicht
legen, denn der Zug und Hang zum Formalismus ſteckte tief im
römiſchen Volk ſelbſt und bethätigte ſich auch da, wo den Ponti-
[425]Die Jurisprudenz. §. 42.
fices eine Mitwirkung oder ein unmittelbarer Einfluß überall
nicht zuſtand z. B. im öffentlichen Recht. Erhielt ſich doch noch
bis in die Periode der Aufklärung hinein der Glaube an die
myſtiſche Kraft gewiſſer Sprüche und Worte. 544)


Eine zweite Parallele zwiſchen Recht und Religion bieten
uns die Umwege, Scheingeſchäfte, 545) kurz jene ganze Opera-
tionsmethode in Fällen, wo man auf directem Wege, ohne mit
den bisherigen Grundſätzen in Widerſpruch zu gerathen, den
gewünſchten Zweck nicht erreichen konnte. Auch dieſer Erſchei-
nung aber könnte man zur Noth noch in ähnlicher Weiſe wie
der vorhergehenden die Beweiskraft abſprechen. Dagegen halte
ich dies für völlig unmöglich rückſichtlich eines dritten Punktes,
nämlich der auf beiden Gebieten bis zur äußerſten Conſequenz
in Anwendung gebrachten Methode der dialektiſchen Zerſetzung.
Wir werden bei der Technik ſehen, daß gerade dieſe Methode,
die Schärfe und Strenge, mit der ſie durchgeführt ward, den
entſcheidenden Charakterzug des ältern Rechts begründet. Dieſer
charakteriſtiſche Zug der juriſtiſchen Technik nun findet ſich in
der Religion in einer Weiſe wieder, die jeden Gedanken an eine
Zurückführung deſſelben auf das Volk abſolut unmöglich macht,
und die nur in der Literatur der Talmudiſten und Jeſuiten, alſo
ebenfalls theologiſch-juriſtiſcher Schriftgelehrten,
ein Seitenſtück findet. In der Weiſe ſpaltet nicht der Glaube
und eben ſo wenig das naive Rechtsgefühl des Volks. Die römi-
ſchen Götter ſowohl wie die römiſchen Begriffe ſind zum großen
Theil Deſtillate des Laboratoriums. Die ganze römiſche Götter-
[426]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
lehre iſt nichts als ein Triumph oder richtiger eine Verirrung
der zerſetzenden Kraft, ſie enthält keine Götter, keine Individuen
von Fleiſch und Blut, wie die griechiſchen, ſondern ein Syſtem
von abſtracten Unterſcheidungen. Alle Ereigniſſe und Erſchei-
nungen der Natur, alle Kräfte, Eigenſchaften, Tugenden, Feh-
ler der Menſchen, ihre Zwecke, ihre Arbeit und ſelbſt die trivial-
ſten Verrichtungen ſind bis ins Kleinſte hinein zergliedert, und
aus jedem Begriffsatom ein Gott geſchaffen. 546) Ein Pontifex,
der einen ſpitzfindigen Unterſchied entdeckte, hatte einem neuen
Gotte das Leben gegeben!


So widerwärtig und unnatürlich eine derartige Behand-
lungsweiſe am religiöſen Stoff war, ſo vollkommen entſprechend
war ſie dem rechtlichen, und wenn man den Pontifices einerſeits
die abſtracten Götter mit Recht zum Vorwurf machen darf, ſo
muß man andererſeits gegen die Götter die Rechtsbegriffe in die
Wagſchale werfen.


Gehen wir jetzt von der Methode zum Einzelnen über, ſo
findet ſich auch hier eine reiche Ausbeute. Zunächſt die intereſ-
ſante Thatſache, 547) daß die oberſte Eintheilung den Göttern
und dem Recht gemeinſchaftlich war. Jener für die Syſtematik des
römiſchen Rechts ſo wichtig gewordene Gegenſatz von res und
persona, nach dem von Gajus Zeit an das römiſche Recht Jahr-
hunderte lang vorgetragen iſt, war urſprünglich ein Geſichts-
punkt zur Claſſification der Götter, und die actiones in rem
und in personam fanden ihr Vorbild unter den Göttern; auch
letztere gingen, mit juriſtiſchem Ausdruck geſprochen, entweder
[427]Die Jurisprudenz. §. 42.
in rem oder in personam, je nachdem das Verhältniß, der Ge-
genſtand, den man ihnen zum Sitz beſtimmt hatte, eine Sache
oder eine Perſon betraf.


Es iſt oben aus innern Gründen angenommen, daß die Ponti-
fices ſich im geiſtlichen Recht durch dieſelben Anſchauungen und
Tendenzen haben leiten laſſen, wie im weltlichen; dazu jetzt
einige Belege. Ein Grundzug des ältern Civilrechts war die Ab-
neigung gegen alles Ungewiſſe und Unbeſtimmte, die Richtung
auf das certum. Man vergleiche damit die Controverſe der
Pontifices bei Livius XXXI, 9. Nach früherem Recht waren
die öffentlichen Spiele nur von beſtimmtem, real dafür ausge-
worfenem Gelde (pecunia certa) gelobt, 548) und als im Jahre
der Stadt 552 ein Conſul im öffentlichen Auftrage Spiele und
ein Geſchenk ſchlechthin gelobte, erklärte der Pontifex maximus
dies für ungültig, indem er es beſtritt: ex incerta pecunia
vovere debere; si ea pecunia non posset in bellum usui esse,
reponi statim debere nec cum alia pecunia misceri,
quod nisi factum esset, votum rite solvi non posse,
während
das Collegium ſich für die freiere Anſicht entſchied, die auch im
Civilrecht ſpäterhin in manchen Anwendungen ſich Eingang
verſchaffte.


Um der Verwirrung vorzubeugen oder ſagen wir, im Geiſte
der zerſetzenden Methode, durften nicht zwei Klagen cumulirt
werden, ebenſo auch nicht zwei Götter zu einem Tempel. 549)


Ein wahrer Knotenpunkt juriſtiſcher Grundſätze und gewiß
der Ausgangspunkt mancher Lehren, die wir heutzutage nur noch
[428]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
als civiliſtiſche kennen, war das Votum. Um der Terminologie:
voti reus, damnatus, vota solvere, reddere, vota rata, irrita,
caduca, titulus
u. ſ. w. und des bereits angeführten Grund-
ſatzes über die certa pecunia zu geſchweigen, ſo war das Votum
dasjenige Verhältniß des geiſtlichen Rechts, bei dem von jeher
Bedingungen vorkamen 550) und wo die Veranlaſſung zur Aus-
bildung einer Theorie der Bedingungen unerläßlich war. 551)
Ebenſo war die ſchriftliche Aufzeichnung und die auf die „tabu-
lae“
Bezug nehmende nuncupatio, die die ſpätere Form der
Teſtamente bildete, bei dem Votum etwas ganz gewöhnliches.


Auch die rückwirkende Kraft war dem geiſtlichen Recht bekannt
und zwar bei einem Verhältniß, bei dem die Annahme, daß ſie
hier von Alters her ſtattgefunden, ſchwerlich auf Widerſpruch
ſtoßen dürfte. 552) Und wer wird nicht gleich an die exheredatio
nominatim facta
und inter ceteros erinnert, wenn er hört, daß
derſelbe Gegenſatz auch bei Anrufung der Götter ſtattfand, und
daß hier der Ausdruck ceteri ſogar ein techniſcher war? 553) Selbſt
die Idee, daß die Erbeutung die normale Quelle des Eigen-
thums ſei (Bd. 1 S. 108 fl.), fand in dem „capere“ der Ve-
ſtaliſchen Jungfrau ihren religiöſen Ausdruck, 554) und das jus
[429]Die Jurisprudenz. §. 42.
liberorum kannte das geiſtliche Recht gewiß längſt vor dem
Civilrecht. 555)


Nach allen dieſen Belegen wird ſich die Behauptung recht-
fertigen, daß die Pontifices eine eigene Theorie und Methode,
kurz eine Jurisprudenz beſaßen. Iſt nun ſchon die Juris-
prudenz der großen Maſſe überall etwas Unverſtändliches, ſo
erklärt es ſich aus der eigenthümlichen zunſtmäßigen Abgeſchloſ-
ſenheit, in der ſie in Rom auftritt, ſehr wohl, wie ſie geradezu
den Eindruck einer Geheimlehre machen konnte.


So tief das römiſche Volk dieſe Abſperrung und die damit
verbundene Entfremdung des Rechts empfinden mochte, ſo war
doch dieſelbe für die techniſche Entwicklung des Rechts ſelbſt von
heilſamem Einfluß. Der Atmoſphäre der Volksthümlichkeit bis
zu einem gewiſſen Grade entrückt, hatte das Recht ſich ſo zu
ſagen zurückgezogen an einen abgelegenen Ort, an dem es un-
geſtört ſeine Schuljahre durchmachen konnte. Die Schule, in
die es hier kam, war eine ſtrenge; man merkt dem ältern Recht
überall an, daß es nicht wild aufgewachſen iſt, wie unſer deut-
ſches Recht, ſondern daß es ſchon früh unter die Leitung eines
faſt pedantiſch geſtrengen, aber conſequenten Zuchtmeiſters gera-
then iſt. 556) Aber gerade dieſer Strenge verdankt das römiſche
Recht im weſentlichen jene Solidität und Feſtigkeit ſeines Fun-
daments, jene Einfachheit und Conſequenz ſeiner ganzen Anlage.
Um aber eine ſolche Zuchtmeiſterrolle über das Recht auszu-
üben, dazu bedurfte die Jurisprudenz jener Autorität und excep-
tionellen Stellung, wie nur eine geiſtliche Corporation von der
Art des Pontificalcollegiums ſie zu behaupten vermochte.


Von dem Uebergange der Rechtspflege und Rechtswiſſen-
ſchaft von den Pontifices auf die Prätoren, beziehungsweiſe
[430]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
nichtzünftige Juriſten, weiß die Geſchichte uns weiter nichts zu
berichten, als die Zeit. Nach Pomponius ſoll die Herrſchaft
der Pontifices bald nach den XII Tafeln (303) begonnen und
beinahe ein Jahrhundert beſtanden haben. Man könnte darnach
die Einführung der Prätur (387) als Endpunkt betrachten. Allein
ganz abgeſehen davon, daß ſolch ein plötzlicher und gewaltſamer
Umſchwung aller ſonſtigen hiſtoriſchen Entwicklung in Rom
völlig widerſprechen würde, ſo beſchränkte ſich die urſprüngliche
Dotation der Prätur auf den Antheil an der Rechtspflege, den
damals die Conſuln in Händen hatten, und noch in der Mitte
des folgenden Jahrhunderts bei Gelegenheit des Berichts über
die bekannte That des Flavius 557) bezeichnet Livius (IX, 46)
das jus civile als repositum in penetralibus pontificum, und
am Anfang des ſechsten Jahrhunderts konnte es als eine Merk-
würdigkeit gelten, daß der erſte Pontifex Maximus aus der
Plebs, Tib. Coruncanius Jeden, der Luſt hatte, zu ſeinem
Rechtsunterricht zuließ. Auch jetzt muß das jus civile und jus
pontificium
noch eine Zeit lang als gleichbedeutend gegolten
haben. 558)


Nach allen dieſem möchte ſich etwa die Mitte des fünften
Jahrhunderts als der Wendepunkt bezeichnen laſſen. Verſtattet
man mir nun über die Art und Weiſe, wie der Umſchwung
erfolgte, eine Muthmaßung, ſo möchte ich denſelben in folgen-
der Weiſe conſtruiren.


Den erſten Anſtoß zu einer Aenderung des bisherigen Zu-
ſtandes finde ich in der Einführung der Prätur. Bekam auch
der Prätor urſprünglich kaum etwas mehr, als den Antheil, den
bisher die Conſuln an der Rechtspflege ausgeübt hatten, ſo iſt
es doch ganz erklärlich, daß die Abzweigung dieſes Beſtandtheils
der conſulariſchen Gewalt zu einer eignen Magiſtratur in ähn-
licher Weiſe wie bei der Cenſur (rei a parva origine ortae,
[431]Die Jurisprudenz. §. 42.
Liv. IV, 8) eine bedeutende Steigerung deſſelben zur Folge
haben mußte. Das Wachſen der Prätur aber war nur möglich
auf Koſten der Pontifices, und es iſt außer Zweifel, daß letztere
ſchließlich ihre Gerichtsbarkeit d. h. die legis actio sacramento
an die Prätoren verloren haben, denn in der Darſtellung dieſer
legis actio bei Gajus iſt nur vom Prätor die Rede. Die Ver-
änderung, die bei dem Uebergange derſelben auf die Prätoren
eintrat, war eine doppelte; einmal nämlich die Verweltlichung
des sacramentum (daſſelbe fiel jetzt ans Aerar ſtatt wie früher
an den geiſtlichen Fond) und ſodann der Erlaß der reellen Depo-
ſition der Summe gegen Sicherheitsbeſtellung an den Prätor.
Allein bevor eine ſolche totale Reform des bisherigen Zuſtan-
des eintrat, muß dieſelbe, wenn ſich das Geſetz der hiſtoriſchen
Entwickelung in Rom hier nicht ausnahmsweiſe völlig ſollte
verläugnet haben, allmählig vorbereitet geweſen ſein, es muß
ein Uebergang Statt gefunden haben. Solche Uebergänge pfleg-
ten in Rom in der Weiſe zu erfolgen, daß dem Alten ein Neues
an die Seite geſetzt ward. Im vorliegenden Fall glaube ich nun,
daß dieſer Uebergang durch die beiden Geſetze vermittelt ward,
welche nach Gajus die legis actio per condictionem einführten,
die lex Silia und Calpurnia.559) Den Pontifices verblieb nach
wie vor die legis actio sacramento, allein da die neue Prozeß-
form einen entſchiedenen Vortheil bot, nämlich die Erſparniß des
Succumbenzgeldes, ſo läßt ſich annehmen, daß in Fällen, wo
ſie anwendbar war (bei den actiones in personam auf Geld
und andern res certae direct, bei act. in rem durch Einkleidung
derſelben in eine sponsio praejudicialis d. h. alſo in allen
Fällen der pontificiſchen Competenz), ſich kaum Jemand mehr
an die Pontifices wandte. So ward denn die Gerichtsbarkeit
derſelben zwar nicht direct, aber indirect durch dieſe Maßregel
[432]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
beträchtlich geſchmälert, ſie gerieth nach und nach in Abnahme
und Vergeſſenheit, und die Uebertragung der legis actio sacra-
mento
auf die Prätoren und Centumvirn ließ ſich ohne weſent-
lichen Eingriff in ihre Rechte bewerkſtelligen.


In Folge dieſer Umgeſtaltung des Prozeſſes, die wir nach
den obigen chronologiſchen Daten in die erſte Hälfte des fünf-
ten Jahrhunderts ſetzen dürfen, mußte nothwendigerweiſe auch
das bisherige Verhältniß in Betreff der Rechtskunde eine Aen-
derung erleiden, und es möge mir erlaubt ſein, auch hierüber
eine Vermuthung zu äußern. Wollte man nicht mit der ganzen
bisherigen Theorie und Praxis brechen — und wer möchte ſo
etwas für denkbar halten? — ſo mußte man ſich die Kenntniß
derſelben von den Pontifices zu verſchaffen ſuchen. Das ein-
fachſte und wirkſamſte Mittel dazu war Eintritt in das Colle-
gium, und ich glaube, daß dies bis auf Coruncanius der allei-
nige Weg war, den Jemand einſchlug, um Juriſt zu werden.
Das Collegium war, ſo zu ſagen, die Rechtsfacultät, bei der
der zukünftige Juriſt ſeine Schule durchmachte, die Juriſtenzunft,
in die er ſich aufnehmen ließ, ähnlich wie dies noch heutzutage
bei den Inns in England der Fall iſt. Wie aber bei letztern
urſprünglich nur die filii nobilium Zutritt hatten, ſo bei den
Pontifices nur die Patricier, bis im Jahre 452, alſo drei Jahr
nach der Veröffentlichung der legis actiones durch Flavius und
vielleicht unter dem Einfluß dieſes Ereigniſſes auch die Plebejer
mit Creirung von vier neuen Stellen Aufnahme erlangten. 560)
Da die Eigenſchaft als Pontifex die Beförderung deſſelben zu
einem höhern Staatsamt 561) nicht ausſchloß, ſo ſtand jedem
Pontifex die praktiſch-juriſtiſche Laufbahn offen, und ſo ward
z. B. gleich einer der vier erſten plebejiſchen Pontifices zum
Prätor erwählt.


[433]Die Jurisprudenz. §. 42.

War nun ſchon der Eintritt der Plebejer bei Verdoppelung
der Stellen für die Verbreitung juriſtiſcher Kenntniſſe gewiß
nicht ohne Bedeutung, ſo ward der letzte Reſt des Zunftzwanges
durch die oben berichtete Handlungsweiſe des Coruncanius völ-
lig beſeitigt. Von jetzt an war der Bann gebrochen, und die
Jurisprudenz eine freie Kunſt und Wiſſenſchaft geworden. Bald
nach ihm war bereits die Sitte des öffentlichen Reſpondirens in
lebendigſter Uebung. 562)


Dieſe Veränderung muß ſowohl für die Rechtspflege als die
Jurisprudenz einen Wendepunkt begründet haben. Für jene —
denn an die Stelle eines ſtändigen Collegiums, welches ſich überall
ſchwerer entſchließt von der bisherigen Praxis abzugehen, traten
jährlich wechſelnde Prätoren und mit ihnen nicht lange nachher
an die Stelle des Legisactionenprozeſſes der freiere Formular-
prozeß. Für dieſe, die Wiſſenſchaft — denn an die Stelle einer
Zunftlehre trat die Freiheit der individuellen Meinung und For-
ſchung, der rege Wetteifer der Kräfte und Talente. Freilich ver-
ging noch lange Zeit, bevor der Umſchwung, der hiermit für die
Wiſſenſchaft vorbereitet war, ſich gänzlich vollzogen hatte, und
es würde ſehr verkehrt ſein, zu glauben, als ob die Jünger
der Pontifices die Lehre und Methode der Meiſter verläugnet
hätten; wir dürfen vielmehr die ganze Jurisprudenz dieſer
Periode als Eine und zwar als die pontificiſche Schule
bezeichnen. Allein nichts deſto weniger war doch die obige Ver-
änderung in der äußern Form dieſer Jurisprudenz der erſte An-
ſatz oder die nöthige Vorausſetzung zu einer innern Umwand-
lung derſelben.


Auch in dem Verhältniß der Jurisprudenz zum Volk trat
jetzt eine weſentliche Aenderung ein. Nicht als ob die Ab-
hängigkeit des Volks von den Juriſten dadurch beſeitigt, das
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 28
[434]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Recht dem Volk zurückgegeben wäre. Die Juriſten blieben ſo
unentbehrlich, wie die Handwerker es bleiben nach Aufhebung
des Zunftzwanges. Jene Veränderung hob nicht die Juris-
prudenz
auf, ſondern ſie öffnete nur den Zutritt zu ihr.
Dieſe Freiheit des Zutritts bedeutete aber nichts weiter, als die
Möglichkeit, durch Studium Juriſt werden zu können, d. h.
alſo dem Volk als ſolchem kam ſie unmittelbar gar nicht zu
gute. Wohl aber, wie überall die Aufhebung des Zunſtzwan-
ges, mittelbar. Ich meine nicht ſowohl den bereits ange-
deuteten inneren Aufſchwung der Jurisprudenz, die höhere gei-
ſtige Freiheit und Beweglichkeit derſelben, kurz die gewöhnlichen
Folgen, welche die Eröffnung der freien Concurrenz nach ſich
zieht, ſondern die Aenderung in dem Verhältniß zwiſchen Volk
und Jurisprudenz. Daſſelbe wurde ein ungleich innigeres und
näheres. Zunächſt ſchon dadurch, daß es ein freieres ward.
Die Jurisprudenz verlor mit dem Zunftzwang nichts an ihrer
Herrſchaft, aber letztere verlor ihr Gehäſſiges. Bisher mehr oder
minder Sache des Monopols, eine Folge der äußeren Stellung,
war ſie jetzt nur das natürliche Reſultat und Zeugniß der gei-
ſtigen Ueberlegenheit und Unentbehrlichkeit der Wiſſenſchaft.
Keine Macht verdiente und fand fortan ſo wenig Widerſtand,
Anfechtung und Neid, keine umgekehrt eine ſo bereitwillige Un-
terordnung und dankbare Anerkennung, als ſie. Sodann aber
dadurch, daß ſich die Jurisprudenz von jetzt an dem Dienſte des
Volks in einer Weiſe widmen konnte und widmete, wie ſie we-
der vorher, noch nachher ihres Gleichen hat. Dieſes Dienſt-
verhältniß iſt für das ganze Verſtändniß der römiſchen Rechts-
zuſtände und Rechtsentwicklung von ſo eingreifender Wichtigkeit,
daß wir demſelben eine nähere Betrachtung widmen müſſen.


In der geringen Zahl ſowohl wie der Amtsthätigkeit der
Pontifi ces lag es begründet, daß dieſelben nicht in dem Maße,
wie ihre Nachfolger, dem juriſtiſchen Bedürfniß des Verkehrs
gerecht werden konnten, und vielleicht war auch dies einer von
den Gründen, der ihnen den Vorwurf der Geheimnißkrämerei
[435]Die Jurisprudenz. §. 42.
einbrachte, jedenfalls aber ein wenn auch unverſchuldeter, ſo
doch höchſt drückender Uebelſtand. Ihren Nachfolgern fiel es
nicht ſchwer, demſelben abzuhelfen. Seitdem die Jurisprudenz
eine freie Kunſt geworden, fehlte es ihr weder an Jüngern,
noch letzteren an Muße, um allen Wünſchen des Volks in
dieſer Beziehung nach zu kommen. Die Jurisprudenz ward und
blieb Jahrhunderte lang eine Lieblingsbeſchäftigung der höhe-
ren Stände — eine noble Paſſion, 563) ein Erſatz für eine ver-
ſagte oder verſchmähte, ein würdiger Rückzug für eine unter-
brochene oder beendete politiſche Thätigkeit. 564) Was man in
ihr ſuchte und an ihr ſchätzte, war nicht bloß die wiſſenſchaft-
liche Befriedigung, die das Studium als ſolches gewährte,
Zerſtreuung, Unterhaltung, Anregung, kurz der Genuß einer
geiſtigen Gymnaſtik, ſondern die Gelegenheit, ſich auch ohne
Staatsamt nützlich zu machen, ins Leben einzugreifen, Anſehn
und Einfluß zu gewinnen. Ein Sich Vertiefen in die Wiſſen-
ſchaft bloß ihrer ſelbſt wegen war dem geſunden Sinn der Rö-
mer fremd; die Wiſſenſchaft, die ſie locken ſollte, mußte nicht
bloß dem Subject, ſondern der Welt zu gute kommen. Gerade
darauf beruhte die hohe Anziehungskraft der Jurisprudenz, daß
ſie nicht bloß dem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß, ſondern auch
dem Triebe nach praktiſcher Thätigkeit volle Befriedigung ver-
ſprach. Sie war gewiſſermaßen der Abzugskanal für die im
Staatsdienſt nicht verwendbare, überſchüſſige praktiſche Kraft.


So kam die Jurisprudenz ſchon ihrer ſelbſt wegen dem Le-
ben mit größter Bereitwilligkeit entgegen. Ja mehr, als das.
Sie trieb ihren Dienſteifer ſo weit, daß man ſagen möchte, die
Jurisprudenz habe mehr das Leben, als das Leben ſie geſucht,
28*
[436]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
und der Drang, die Dienſte zu erweiſen, auf der einen ſei ſtärker
geweſen, als das Bedürfniß nach denſelben auf der andern Seite.
Wir können uns den thätigen Antheil, den die Jurisprudenz an
dem Geſchäftsleben nahm, nicht ausgedehnt genug denken, und
wenn Cicero den Juriſten den Vorwurf macht, ſie hätten das
Recht ſo eingerichtet, daß ſie überall mit dabei ſein müßten, 565)
ſo dürfen wir demſelben, indem wir ihn im übrigen auf ſich
beruhen laſſen, jedenfalls die Thatſache entnehmen, um die es
uns hier zu thun iſt, die der Allgegenwart des Juriſten.
Nur freilich mit einer Beſchränkung. Gerade da nämlich, wo
wir ihn nach unſern heutigen Verhältniſſen am erſten erwar-
ten würden, vor Gericht als Sachwalt, trat er wenigſtens ſpä-
terhin regelmäßig zurück, um den Platz der Parthei ſelbſt oder
dem eigentlichen Redner zu überlaſſen. 566) Um dies zu begreifen,
muß man die von unſerer heutigen völlig abweichende Einrich-
tung des römiſchen Prozeſſes kennen, wornach derſelbe in zwei
Theile zerfiel, jus und judicium, oder in ein Verfahren vor dem
Prätor und vor dem Richter, judex. Dort hatte der Anſpruch ſeine
juriſtiſche Prüfung zu beſtehen, ob er, das Vorbringen des
Klägers als wahr angenommen, juriſtiſch haltbar ſei, ob und
[437]Die Jurisprudenz. §. 42.
welche Einwendungen des Beklagten zuzulaſſen u. ſ. w., und
es erfolgte darauf hin gewiſſermaßen ein hypothetiſches
Urtheil, nämlich die Inſtruction an den Richter zu condemni-
ren oder zu abſolviren, wenn ſich die von der einen oder andern
Parthei vorgebrachten Thatſachen bewahrheiten ſollten. Das
Hauptaugenmerk des Richters war alſo auf den Beweis ge-
richtet, und daher erklärt es ſich, daß derſelbe kein Juriſt zu
ſein brauchte und es regelmäßig auch nicht war, und ſodann
daß die Lehre vom Beweiſe, die in unſerer heutigen Juris-
prudenz eine ſo große Rolle ſpielt, in der römiſchen ungleich
weniger hervortritt, da ſie mehr Sache des Redners, als des
Juriſten war. Allerdings handelte es ſich bei der richterlichen
Unterſuchung nicht lediglich und ausſchließlich um die That-
frage
, ſondern auch um die rechtliche Beurtheilung derſel-
ben, allein in der Regel nur ſo weit, daß dazu die gewöhnlichen
Rechtskenntniſſe eines Laien ausreichten. Wo ausnahmsweiſe
ein mehres erforderlich war, namentlich alſo bei intrikaten
Rechtsfragen, Controverſen u. ſ. w., holte der Richter Beleh-
rung bei einem Juriſten ein, oder die intereſſirte Parthei oder
deren Sachwalt brachte von demſelben ein Gutachten oder
ihn ſelbſt als Gewährsmann mit vor Gericht. 567) Inſoweit
pflegte alſo auch ein Juriſt in die Verhandlungen vor dem
Richter einzugreifen, im übrigen aber fielen dieſelben, wie ge-
ſagt, gewöhnlich dem Patron d. i. dem Redner zu. Wo der Rich-
ter ein Laie war, begreift es ſich, daß auch der Sachwalt keiner
großen Rechtskenntniß bedurfte. Eine eigentlich gelehrte juri-
ſtiſche Bildung ging ihm regelmäßig ab, 568) aber nichts deſto
[438]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
weniger mußte ſein Beruf ihn mehr mit dem Recht vertraut
machen, als den gewöhnlichen Laien, und er mochte zwiſchen
Laien und Juriſten etwa eine ähnliche Mittelſtufe bezeichnen,
wie das heutige Subalternperſonal der Gerichte. Was man
von ihm verlangte, war nicht Wiſſen, Studium, ſondern das
Talent und die Künſte des Advokaten, den Fluß und Glanz der
Rede, eindringliche Diction, ſchlagfertige Dialektik, dreiſtes,
muthiges Auftreten ſelbſt bei ſchlechter Sache, kurz Eigenſchaften,
die, wie Cicero bemerkt, auch in Rom nicht Jedermanns Sache
waren. 569) Es verräth den feinen Takt der Römer, daß ſie die-
ſen Beruf weniger achteten, als den des Juriſten, eine Thatſache,
die Cicero bezeugt, indem er ſie bekämpft. Der Juriſt konnte
der Wahrheit die Ehre geben, er blieb dem Gezänke und dem
Kampf der Leidenſchaften fremd und nahm für ſeine Gefällig-
keit kein Geld. Der Redner aber, dem nicht ſelten erſt die Aus-
ſicht auf Lohn den Mund öffnen mußte, 570) hatte die Verpflich-
tung, ſich auf den Standpunkt der Partei zu ſtellen; er konnte
es oft nicht umgehen, die Wahrheit zu beſtreiten, der Lüge ſei-
nen Mund zu leihen, das Sachverhältniß zu entſtellen und zu
verwirren, ſpitzfindige Argumente vorzubringen, an die er ſelbſt
nicht glaubte — kurz zu Mitteln ſeine Zuflucht zu nehmen, die
vor der Kritik des feineren Ehrgefühls nicht immer die Probe
beſtehen. 571)


568)


[439]Die Jurisprudenz. §. 42.

Wie es ſich nun auch mit dieſer Theilung der Arbeit zwi-
ſchen dem eigentlichen Juriſten und Redner verhält, der Um-
fang der Geſchäftsthätigkeit des erſteren blieb immerhin noch
ein ſo ausgedehnter, daß der Ausdruck: Allgegenwart des Juri-
ſten ein völlig angemeſſener iſt. Der thätige Antheil, den der-
ſelbe am Rechtsleben nahm, beſchränkte ſich keineswegs auf
rein juriſtiſche Dinge, auf Ertheilung eines rechtlichen Gut-
achtens (respondere), Abfaſſung von Contracten, Teſtamenten
u. ſ. w. (cavere, scribere), 572) ſondern er erſtreckte ſich auch
auf Maßregeln rein wirthſchaftlicher Art, und ſelbſt auf Fra-
571)
[440]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
gen des Familienlebens z. B. Verheirathung der Tochter. 573)
Der Juriſt war der Vertrauensmann der Familie, ohne deſſen
Rath nichts geſchah, und oft gewiß auch der Unterhändler und
Vermittler, kurz er nahm ungefähr die Stellung ein, wie ſie der
Beichtvater vielerwärts zu bekleiden pflegt. Seine Dienſtlei-
ſtungen waren alſo mehr prophylaktiſcher Art, während
die des heutigen mehr therapeutiſcher Art ſind. 574)


Gewiß war es nicht der bloße Thätigkeitsdrang oder eine
unintereſſirte Dienſtfertigkeit, die ihn zu ſeinen Mühwal-
tungen beſtimmte; auch er ſelbſt mußte dabei ſeine Rechnung
finden. Und allerdings fehlte der Lohn nicht. Nur war’s freilich
kein klingender; die Conſultanten kamen mit leeren Händen.
Aber wenn auch kein Geld, ſo brachten ſie doch etwas anderes,
das einem unabhängig geſtellten Römer nicht minder galt —
Ehre, Achtung, Anſehn, Popularität und Einfluß. 575) Je
mehr Conſultanten, deſto höher der Ruf des Juriſten; am Con-
ſultirtwerden erkannte man den „Jure consultus“. Weſſen
Haus den ganzen Tag über von ihnen nicht leer ward, bei wem
ſie, um mit Horaz 576) zu reden, ſchon beim erſten Hahnenſchrei
anpochten und ihm ſelbſt auf dem Krankenlager keine Ruhe
ließen, 577) der genoß eine kaum minder geachtete und einfluß-
reiche Stellung, als die höchſten Würdenträger der Republik.
Ein ſolches Haus galt in den Augen des Volks als ein öffent-
liches, in das Jeder aus- und einging, zu dem Jeder freien
[441]Die Jurisprudenz. §. 42.
Zutritt hatte, es war nach Cicero 578) das Orakel der ganzen
Stadt, und dieſe juriſtiſchen Erkundigungsbüreaus gehörten
weſentlich mit zur Phyſiognomie Roms. Von dieſer Auffaſſung
ausgehend ſchenkte einſt der Senat einem namhaften Juriſten,
um dem Volk den Weg zu kürzen, ein Haus an bequem gele-
gener Stelle. 579) Wer einen ſolchen Zuſpruch zu Hauſe nicht
erwarten konnte, wie namentlich der Anfänger, oder es dem
Volk bequemer machen wollte, verſtand ſich zur ambulanten
Praxis und verlegte, ſo zu ſagen, ſein Büreau auf die juriſti-
ſche Börſe, das Forum, mitten in das Gewühl des Verkehrs
und das Getreibe der Rechtspflege, um hier für alle Fälle des
unmittelbarſten Bedürfniſſes mit Rath und That ſofort bei der
Hand zu ſein. 580)


Die ganze Einrichtung habe ich berührt nicht ihrer ſelbſt
wegen, ſondern weil ſie ein unentbehrliches Hülfsmittel für
das Verſtändniß des römiſchen Rechts iſt. Daß letzteres ſo
und nicht anders geworden, hat zum weſentlichen in ihr ſeinen
Grund; ſie hinweggedacht — und Vieles hätte völlig anders
werden müſſen. Dahin gehört vor allem der von der römiſchen
Jurisprudenz mit eiſerner Strenge durchgeführte Formalismus
(§. 46). Bei manchen Ausflüſſen deſſelben 581) muß, wie ich
meine, jeden Unbefangenen ein gewiſſes Grauen beſchleichen,
und es gehört ein eingefleiſchter Romanismus dazu, um keinen
Anſtoß an ihnen zu nehmen oder gar für das heutige Recht
ihre Gültigkeit zu vertheidigen. Man denke ſich, daß an einem
verkehrten Wort (z. B. heres ne esto ſtatt exheres esto) die
Gültigkeit des ganzen Teſtaments oder der Verluſt des Pro-
zeſſes hing, und daß ein einziges weggelaſſenes oder geſetztes et
[442]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
vermöge der Grundſätze des Accrescenzrechtes dem Erben oder
Legatar eine Million wiegen konnte. So ſehr immerhin die
Strenge in der Handhabung des Wortes der Weiſe des römi-
ſchen Volkes entſprach, ſo kann ich mir doch den Umſtand, daß
derartige Subtilitäten praktiſch durchführbar waren, das Volk
ſich nicht dagegen opponirte und ſie abſchüttelte, nur aus der obi-
gen Einrichtung erklären. In der Hand des Juriſten, welcher
die Teſtamente und ſonſtige Urkunden abfaßte, verloren ſie ihr Ge-
fährliches, denn wenn ſeiner Zeit das Wort auch aufs ſtrengſte ur-
girt ward, ſo kam doch kein anderes Reſultat heraus, als was die
Parthei ſelbſt beabſichtigt und durch den Juriſten nur in kunſt-
gerechter Weiſe hatte formuliren laſſen; was man den Worten
entnahm, war in ſie hineingelegt. Nur dadurch waren meiner
Meinung nach die ſtrengen Geſetze, welche die Jurisprudenz
dem Verkehr dictirte, haltbar, daß die Juriſten ihm die Anwen-
dung derſelben abnahmen, nur darum waren die ſchmahlen und
hart an Abgründen vorbeiführenden Wege, die die ältere Juris-
prudenz im Recht angelegt hatte, erträglich, daß jederzeit ein
kundiger und williger Führer bereitſtand. 582)Die Allgegen-
wart des Juriſten war ein ſtillſchweigendes Po-
ſtulat des alten Rechts
. Der Juriſt mußte gegen den
Juriſten ſchützen; die Dienſtfertigkeit des Praktikers war das
unentbehrliche Gegengewicht gegen die ſtrengen Anforderungen
des Theoretikers; hätte dies Gegengewicht gefehlt: ich kann
mir nicht denken, daß die Theorie ſo hätte lauten können, wie
ſie gelautet hat. Darauf beruhte auch die dem Soldaten-
ſtande
in rechtlicher Beziehung eingeräumte eximirte Stellung.
Dieſelbe war nicht eine Sache der reinen Gunſt und Bevorzu-
gung, ſondern durch die eigenthümlichen Verhältniſſe dieſes
Standes mit Nothwendigkeit geboten, denn dem Soldaten
fehlte, ganz abgeſehen von ſeiner eignen geringeren Geſchäfts-
[443]Die Jurisprudenz. §. 42.
kenntniß, die ſtets bereite Hülfe des Juriſten — auf das Lager
und die Schlacht erſtreckte ſie ſich nicht.


Die Allgegenwart des Juriſten bedeutete alſo für den Ver-
kehr zuerſt eine unentbehrliche Hülfe. Sie bedeutete aber ſo-
dann zweitens auch einen heilſamen Einfluß auf denſelben.
Die Innigkeit des Verhältniſſes zwiſchen der Jurisprudenz und
dem Verkehr kam beiden zu gute. Dem Verkehr, indem die
Jurisprudenz beſtändig die Hand an ſeiner Pulsader hatte, wußte,
was ihm Noth that, und wie ihm zu helfen. Der Juris-
prudenz
, indem ſie, ohne ſeinen materiellen Exigenzen etwas
zu verſagen, ihnen die Form geben konnte, die ſie von ihrem
Standpunkt aus für die wünſchenswertheſte halten mußte. Die
Anſätze zur Bildung neuer Geſchäfte, die das Leben machte,
namentlich auf dem Gebiet der Verträge (man denke z. B. an das
pactum de vendendo beim pignus) erhielten durch die Juriſten
ihre formelle Redaction. Indem letztere die Vertragsurkunden
abfaßten, hatten ſie es in ihrer Hand, ihnen die paſſendſte
Form zu geben, die juriſtiſche Conſtruction nicht erſt zu begin-
nen, wenn der Bildungsprozeß des Inſtituts abgeſchloſſen, und
daſſelbe als ein fertiges, unabänderliches vor ihnen lag, ſon-
dern das juriſtiſche Element ſchon dem in der Bildung begriffe-
nen Stoff ſelbſt zuzuſetzen, die Bildungen des Verkehrs im juri-
ſtiſchen Geiſt zu leiten und lenken und regeln, kurz den Verkehr
juriſtiſch zu discipliniren. Wie wäre aber dieſe juriſtiſche Er-
ziehung, der das römiſche Recht ſo unendlich viel verdankt,
denkbar geweſen ohne jene Allgegenwart des Erziehers?


Und wiederum frage ich, wie wäre letztere denkbar gewe-
ſen, wenn die Kunſt in Rom, wie bei uns, nach Brod gegan-
gen wäre? Für die Charakteriſtik der römiſchen Jurisprudenz
iſt es, ſo paradox es klingt, einer der weſentlichſten Züge, daß
ſie ſich nicht bezahlen ließ. In dieſem einen, ſcheinbar ſo
äußerlichem Umſtand liegt unendlich viel, liegt die halbe rö-
miſche Jurisprudenz. Das Honorar des Juriſten, ſo unent-
behrlich es heutzutage iſt, darf nichts deſto weniger ſein ärgſter
[444]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Feind, ſein Verſucher genannt werden — ein Hinderniß ſeines
vortheilhaften, eine Quelle ſeines unheilvollen Einfluſſes, ein
Fluch unſeres heutigen Rechtslebens. Das Geld iſt es, das
ihm da, wo er nicht fehlen dürfte, beim Abſchluß der Rechts-
geſchäfte den Weg verſperrt, das Geld, das ihn, wenn er endlich
im Fall der Noth zugezogen wird, auf Abwege lockt, auf Ab-
wege, wo ſeine Kunſt nur dazu dient, das Feuer der Zwietracht
anzufachen und zu unterhalten und der Lüge und dem Unrecht die
Mittel zum längern Widerſtand und ſelbſt zum Siege zu leihen.
An das Geld knüpfen ſich die frivolen und langen Prozeſſe, an
das Geld die Juriſten ohne Luſt und Liebe, ohne Talent und
Verſtändniß für ihre Wiſſenſchaft, an das Geld die gerechten
und ungerechten Vorwürfe des Volks, kurz an dem Gelde
klebt der Schmutz unſeres Standes und die Er-
niedrigung unſeres Berufes
.


Alles dies blieb der römiſchen Jurisprudenz erſpart. Wer
ſich ihr widmete, ſuchte nicht in ihr das Geld, ſondern ſie
ſelbſt; der innere Beruf war das Motiv für die Wahl des
äußern, die falſchen, unfähigen, verdroſſenen Jünger blie-
ben ihr fern. Darum aber ſtieß ſie auch im Volk nicht auf Ab-
neigung, Mißtrauen, Widerſtand; gern und dankbar nahm
daſſelbe eine Hand, die ſich nicht, indem ſie half, zugleich nach
dem Gelde krümmte. Daher auch die Allgegenwart des Juri-
ſten. Wo der rechtliche Rath und Beiſtand ein Handelsartikel
iſt, der nur gegen Bezahlung verabreicht wird, wie dies bei
uns der Fall, ökonomiſirt man im Gebrauch deſſelben, und der
Juriſt wird wie der Arzt häufig erſt dann gerufen, wenn es
zu ſpät iſt. Anders aber, wo dieſer Artikel, wie in Rom,
kein Handelsartikel, ſondern eine res communis war, überall
umſonſt zu haben wie Luft und Waſſer. Hier durfte man von
ihm den verſchwenderiſchſten Gebrauch machen und that es
auch. Darauf aber beruhte wiederum die ganze Herrſchaft und
Macht der alten Jurisprudenz über das Leben, ihre Aufſicht,
ihre Erziehungsgewalt, ihr bildender Einfluß, die Gewöhnung
[445]Die Jurisprudenz. §. 42.
deſſelben an die Beobachtung des ſtrengen juriſtiſchen Sprach-
gebrauchs, die Erträglichkeit der engen, knappen Formen des
Verkehrs, die Möglichkeit der rückſichtsloſen Conſequenz, die
Freiheit ihrer eignen wiſſenſchaftlichen Bewegung, kurz die
Durchführbarkeit der alten Theorie und damit ſie ſelbſt — das
Reich und der Triumph der Jurisprudenz als einer
Mathematik des Rechts
!


Auch in Rom änderte ſich dies, und als Ulpian 583) ſeinen
ſchönen Ausſpruch that, den man als Motto über die alte Ju-
risprudenz ſchreiben könnte: civilis sapientia est res sanctis-
sima, quae pretio nummario non sit aestimanda nec dehone-
standa,
hatte derſelbe weder für die Lehrer des Rechts, denen
Ulpian die Worte zurief, noch für den größten Theil der prakti-
ſchen Juriſten, die Advokaten, eine praktiſche Wahrheit mehr,
und die Einzigen, die noch in ſeinem Sinne handelten, waren
jene namhaften von Staatswegen mit dem jus respondendi
verſehenen Juriſten, deren Gedächtniß noch die ferne Nachwelt
feiert. Wie weſentlich auch dies jus respondendi, wenigſtens
in der ihm ſpäter gegebenen Geſtalt, mit dem Geſichtspunkt der
Unentgeltlichkeit zuſammenhängt, wie es in den Händen von
Leuten, die aus dem Reſpondiren eine Erwerbsquelle gemacht
hätten, abſolut unmöglich geweſen wäre, das will ich, da die
Einrichtung ſelbſt nicht mehr in unſere Periode gehört, dem
eignen Nachdenken des Leſers überlaſſen.


[446]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Haften des Rechts an der Aeußerlichkeit.
(Sinnliches Element des ältern Rechts.)

I. Der Materialismus.

Das ſinnliche Element auf der innern Seite des Rechts — der
materialiſtiſche Zuſchnitt der Begriffe und Inſtitute — Beiſpiele:
das furtum, damnum injuria datum, der Irrthum, Beſitz und
die Uſucapion — wirthſchaftliche und rechtliche Präponderanz der
Sache; die Sache die Axe des ältern Verkehrs und der Aus-
gangspunkt des ganzen Vermögensrechts.


XLIII. Hat uns der vorige Paragraph die Baumeiſterin,
ſo ſoll uns der jetzige ihr Werk kennen lehren. Nicht alles und
jedes aber an dieſem Werk gehört ihr an, und nicht alles, was
wirklich von ihr herrührt, iſt das Reſultat einer eigentlichen
Production. Der juriſtiſche Inſtinkt, die glückliche Organiſa-
tion des römiſchen Rechtsgefühls, die bildende Kraft des Ver-
kehrs u. ſ. w. ſind Factoren, die daran ebenfalls ihren Antheil
hatten, aber es wäre vergebene Mühe, die Bauſteine, die der
eine oder andere zugetragen hat, ſondern zu wollen. Im Wech-
ſelverkehr mit dem Volk und Leben gab und nahm die Juris-
prudenz, regte an und ward angeregt, beſtimmte und ward be-
ſtimmt, und wenn wir daher die techniſche Geſtaltung des ältern
Rechts als ihr Werk bezeichnen, während wir daſſelbe in ge-
nauerer Redeweiſe eine Schöpfung des juriſtiſchen Gei-
ſtes
nennen müßten, ſo geſchieht es nur darum, weil ſie die
hauptſächlichſte Trägerin und die eigentliche Perſonification die-
ſes Geiſtes war. Es iſt alſo nicht die bloße Methode der alten
Jurisprudenz, mit der ſich die folgende Darſtellung be-
ſchäftigen ſoll, ihre Art zu denken und zu operiren im Gegen-
ſatz zu der des Volks, ſondern das Ringen des römiſchen
Geiſtes mit dem Rechtsſtoff, das im Recht ſelbſt
objectiv gewordene juriſtiſche Denken der Nation
.


Von dieſer Weite in der Faſſung unſerer Aufgabe machen
wir gleich jetzt Gebrauch. Die Erſcheinung nämlich, der ſich
[447]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Materialismus. §. 43.
der gegenwärtige Paragraph zuwendet, enthält nichts weniger
als ein Product der Jurisprudenz. Aber ſie gewährt uns einen
höchſt wichtigen Aufſchluß über die Rechtsanſchauung der ältern
Zeit, ſie ſignaliſirt uns den Höhenpunkt ihres Auffaſſungsver-
mögens, das geiſtige Niveau der Zeit, das für die Jurispru-
denz maßgebend war. Die nächſtfolgenden Paragraphen werden
uns ſchon mehr in die eigentliche Thätigkeit der Jurisprudenz
hinein führen. Wie eng aber das Juriſtiſche und Nichtjuriſti-
ſche hier zuſammenhängt, können gerade ſie am beſten zeigen;
denn derſelbe Gedanke, mit dem wir in dieſem Paragraphen be-
ginnen, der der Richtung der alten Zeit auf die Aeußerlichkeit
oder, wie ich es nennen will, das ſinnliche Element des
Rechts, wird uns auch dort zur Seite bleiben.


Die Sinnlichkeit iſt die Vorſtufe der Geiſtigkeit. Alles ur-
ſprüngliche Denken der Individuen und Völker iſt ein ſinnliches,
der Geiſt wird nur dadurch frei von der äußern Erſcheinung,
daß er eine Zeitlang an ihr gehaftet und an ihr die Vorſchule
des abſtracten Denkens durchgemacht hat. Dieſem Naturgeſetz,
das ſich auf allen Gebieten des menſchlichen Denkens und Wiſ-
ſens bewährt, unterliegt natürlich auch das Recht.


Aber wie, wird man fragen, iſt nicht das Weſen des Rechts
damit unverträglich? Denn beſteht daſſelbe nicht gerade in dem
Sichlosreißen von der concreten, äußern Erſcheinung, im Ab-
ſtrahiren? Jeder Begriff, jeder Rechtsſatz enthält ja eine Ab-
ſtraction, ein Allgemeines, das von dem Beſondern abſieht.
Gewiß; allein nichts deſto weniger iſt auch hier dem Sinnlichen
ein breiter Zugang geöffnet. Zuerſt und vor allem nämlich auf
der Erſcheinungs- oder Verwirklichungsſeite des Rechts
d. h. in den Formen, in denen das Recht im Leben wie vor Ge-
richt zur Anwendung und concreten Wirklichkeit gelangt. In
der Religion entſpricht dieſer Seite der Cultus, und ſo wie letz-
terer durch das Ceremonienweſen dem ſinnlichen Hange des
Geiſtes volle Befriedigung gewähren kann, ſo das Recht durch
das Formenweſen. Nach dieſer Seite hin leiſtet das innere
[448]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Weſen des Rechts dem ſinnlichen Element ſo wenig Wider-
ſtand, daß ſich letzteres hier umgekehrt mit großem Nutzen ver-
werthen läßt. Von dieſer Erſcheinung, die ich als Forma-
lismus
bezeichne, wird §. 45 u. fl. die Rede ſein.


Anders freilich auf der innern Seite des Rechts, der auf
dem Gebiet der Religion das Dogma entſpricht. Hier handelt
es ſich nämlich um ein Innerliches und Allgemeines, nennen
wir es nun den Rechtsſatz oder den Begriff. In und aus den
Verhältniſſen des Lebens ſoll hier die Rechtsidee erkannt und
zur Allgemeinheit des Ausdrucks gebracht, es ſoll von allem,
was die concrete Anſchauung beſticht und beſtimmt, der äußeren
Verſchiedenheit der Perſonen, Gegenſtände, Verhältniſſe, Lagen,
Umſtände abſtrahirt und der reine abſtracte Kern gewonnen wer-
den. Ein Beharren in der ſinnlichen Vorſtellungsweiſe würde hier
ja, wie es ſcheint, mit Nichtlöſung der Aufgabe gleichbedeutend
ſein. Und in der That ſetzt das Recht hier jener Vorſtellungs-
weiſe einen ungleich ſtärkeren Widerſtand entgegen, als die
Religion. Denn die religiöſen Ideen und Abſtractionen neh-
men willig concrete Geſtalt an, die Abſtraction der Kraft, in
der dem Menſchen zuerſt die Ahnung des Göttlichen aufgeht,
verſinnlicht ſich zu einem Gott, aber welche concrete Geſtalt
fände ſich für die rechtlichen Abſtractionen? Die Rechtsbegriffe
und Rechtsſätze bleiben, was ſie ſind; denn die concrete oder
ſelbſt poetiſche Form ihres Ausdrucks betrifft eben nur die
Faſſung, nicht ihre innere Beſchaffenheit und Subſtanz. Dar-
um, glaube ich, iſt es nicht gewagt zu behaupten, daß das
Recht das Gebiet iſt, auf dem der menſchliche Geiſt mit Noth-
wendigkeit ſich zuerſt zur wahren Abſtraction hat aufſchwingen
müſſen; das erſte Geſetz, mochte es betreffen, was es wollte,
war der erſte Anſatz des Geiſtes zur bewußten All-
gemeinheit des Denkens
, die erſte Veranlaſſung und der
erſte Verſuch, ſich über das allgemeine geiſtige Niveau der Zeit
zu erheben.


Allein ſo ſehr nun auch einerſeits das Recht gebieteriſch zur
[449]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
Abſtraction drängt, ſo findet doch das ſinnliche Element Gele-
genheit, ſich in und bei dieſem Akt wieder einzudrängen. Der
Geiſt abſtrahirt — gewiß! aber die Sinnlichkeit iſt das
Prisma, durch das er die Dinge betrachtet. Er gewinnt
Rechtsſätze — aber der Zuſchnitt derſelben iſt ein ſubſtan-
tieller; nur die gröberen, derberen, äußerlich in die Sinne
fallenden Momente des Verhältniſſes ſind in ihnen berückſich-
tigt, alle feineren überſehen. So vergegenwärtigt uns dieſe
Erſcheinung, für die ich den Namen Materialismus wähle,
gewiſſermaßen das Ringen der Abſtraction mit der ſinnlichen
Anſchauungsweiſe.


Zwiſchen Materialismus und Formalismus ſchiebe ich noch
eine andere Erſcheinung ein (§. 44), die gleichfalls unter den
ihnen beiden gemeinſamen Geſichtspunkt des Haftens an der
Aeußerlichkeit fällt, auf die ich hier aber nicht weiter eingehe,
das Haften am Wort oder die Wortinterpretation der
älteren Jurisprudenz. Wir wenden uns zunächſt dem Materia-
lismus zu.


Die materialiſtiſche Auffaſſungsweiſe im Recht äußert ſich
darin, daß ſie ſich bei ihren Abſtractionen an das in die Augen
Fallende hält, ihre Rechtsſätze, Begriffe, Unterſchiede nach
äußerlichen Momenten zuſchneidet, die idealeren Beziehungen,
Seiten und Unterſchiede ignorirt. Die Geſetze und Begriffe
einer rohen Zeit ſind, wie die Menſchen ſelbſt, handfeſte, un-
geſchlachte Geſellen, die nur faſſen und fangen, was ſie mit der
ganzen Fauſt packen können. Anſtatt uns bei einer allgemei-
nen Charakteriſtik des Materialismus aufzuhalten, wollen wir
ihn lieber in ſeiner concreten Geſtalt, die er im ältern Recht
gewonnen hat, vorführen; die Beiſpiele ſprechen für ſich ſelbſt,
namentlich wenn man ihnen, wie dies geſchehen ſoll, die ab-
weichende, mehr innerliche, ſpiritualiſtiſche Geſtaltung im heu-
tigen oder neuern römiſchen Recht gegenüber ſtellt.


Ich beginne mit zwei Delicten des ältern Rechts. Unſer
heutiges Recht ſtraft den Diebſtahl von Staatswegen, das äl-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 29
[450]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
tere römiſche bloß auf Antrag des Beſtohlenen. Was liegt
dieſer Verſchiedenheit zu Grunde? Dem äußern Vor-
gange nach iſt der Diebſtahl ein Eingriff in fremdes Ver-
mögen, einem auf das Aeußere gerichteten Blick wird mithin
der Diebſtahl als eine bloße Verletzung des Beſtohlenen, deren
Verfolgung lediglich ihm ſelbſt zuſteht, erſcheinen. Die Be-
ziehung des Diebſtahls zum Staat, die mittelbare Richtung
deſſelben gegen die Rechtsordnung, ſetzt, da ſie etwas Unſicht-
bares, Idealeres iſt, zu ihrer Wahrnehmung eine geiſtigere
Auffaſſung voraus.


Während nun dieſes innere Moment im ältern römiſchen,
wie in ſo vielen andern Rechten unberückſichtigt bleibt, begrün-
dete dagegen der rein äußerliche Unterſchied zwiſchen dem Er-
tapptwerden des Diebes auf der That (furtum manifestum)
und der ſpäteren Entdeckung des Diebſtahls (f. nec manife-
stum
) eine höchſt einflußreiche Verſchiedenheit. Der ertappte
Dieb fiel früher dem Beſtohlenen als Sklave anheim, ſpäter
konnte er ſich mit dem Vierfachen des Werths der geſtohlenen
Sache loskaufen, der nicht ertappte hingegen kam mit dem
Doppelten des Werthes davon. Fragen wir: woher dieſer
Unterſchied? ſo finden wir keine andere Antwort darauf, als
unſern Geſichtspunkt des Haftens an der Aeußerlichkeit. Der
verbrecheriſche Vorſatz iſt in dem einen wie dem andern Fall
ganz derſelbe, die innere Strafwürdigkeit ganz gleich; was zwi-
ſchen beiden den Ausſchlag gibt, iſt ein reiner Zufall. Allein
dieſer Zufall bewirkt eine auffällige äußere Verſchiedenheit
beider, und dadurch läßt das naive Rechtsgefühl ſich beſtechen.


Ein anderes Beiſpiel gewährt das damnum injuria datum des
ältern Rechts. Die Jurisprudenz definirte daſſelbe, indem ſie
die von der lex Aquilia namhaft gemachten einzelnen Fälle auf
ein Princip zurückführte, als damnum corpore corpori
datum
584) d. h. als Beſchädigung eines Gegenſtandes durch
[451]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
unmittelbare poſitive äußere Einwirkung auf denſelben. Wer
durch Oeffnen des Käfichs das Entfliehen oder durch Einſperren
den Tod eines Thieres verſchuldet hatte, haftete für nichts,
denn im erſten Fall war das Thier nicht beſchädigt, im
zweiten Fall nicht durch unmittelbare Einwirkung, dort lag kein
damnum corpori, hier kein damnum corpore datum vor.
Die lex Aquilia hatte ſich in materialiſtiſcher Weiſe an den
ſichtbaren Schaden gehalten. Anders die neuere Doctrin,
die dem Begriff der Beſchädigung erſt die erforderliche Ausdeh-
nung gegeben hat. Den äußerſten Gegenſatz zu dem damnum
injuria datum
des alten Rechts bildet im neuern die actio de
servo corrupto
des prätoriſchen Edicts. In ihr prägt ſich der
ganze Umſchwung der Anſchauung aufs unverkennbarſte aus,
denn das corpore corpori datum iſt hier in ſein directes Ge-
gentheil umgeſchlagen, das Delict ſetzt nämlich voraus eine
durch moraliſche Einwirkung (animo) bewirkte moraliſche
Corruption eines Sklaven (animo datum).


Ebenſo bedeutungsvoll wie die Delicte, die das ältere Recht
kennt, ſind die, die ihm fehlen. Plünderung einer Erbſchaft
(das ſpätere crimen expilatae hereditatis) gilt nicht als Un-
recht; es iſt ja Niemand da, dem die Sachen gehören, die Be-
ziehung derſelben zum künftigen Erben iſt etwas lediglich im
Gedanken exiſtirendes. Ebenſo wenig der Betrug (dolus).
Denn der Betrug enthält keinen äußeren Eingriff in eine
fremde Rechtsſphäre; eine falſche Nachricht, ein ſchlechter Rath
u. ſ. w. iſt an ſich kein Delict, die Mittel, deren ſich der Dolus
bedient, ſind äußerlich legal. Es iſt der Wolf, der ſich in
den Schafpelz kleidet, der Heuchler unter den Delicten, und erſt
als man gelernt hatte aufs Herz und nicht mehr bloß auf die
Hände zu ſehen, griff man auch dieſen Sünder, der früher
frei durch ging.


Nicht minder lehrreich iſt die Behandlung des Irrthums
über das Object
. Im ältern Recht findet nur der Irrthum
über das Individuum (error in corpore), im neuern Recht
29*
[452]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
hingegen auch der über die Eigenſchaften (ſ. g. error in sub-
stantia, materia
) Berückſichtigung. 585) Worauf beruht dieſe
Verſchiedenheit? Ich meine darauf, daß das ältere Recht die
Richtung des Willens auf ſeinen Gegenſtand mehr äußerlich,
das neuere ſie mehr innerlich erfaßt. Wenn der Käufer das
bleierne Gefäß irrthümlich für ein ſilbernes hält und bezahlt,
ſo hat er, ſagt die ältere Jurisprudenz, nichts deſto weniger
dies Gefäß gewollt, ſein Irrthum bezieht ſich bloß auf etwas
Innerliches, nicht auf die äußere Identität des Objects. Die
neuere Jurisprudenz hingegen ſagt folgendermaßen: Das Ob-
ject, wie es äußerlich erſcheint, iſt nicht das, was der Käufer
wahrhaft will, ſondern er will in demſelben die Beſtimmung,
Macht, Kraft, Tauglichkeit der Sache. Iſt dieſelbe alſo eine
völlig andere, als er annahm, ſo iſt die Sache ſelbſt eine an-
dere, als die er meinte; ſie hat mit letzterer nur den äußern
Schein gemein. 586)


Beſonders ergiebig für den Gegenſatz des ältern und neuern
[453]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
Rechts iſt die Lehre von dem Beſitz und der Uſucapion. Ob-
gleich der Beſitz ſeiner urſprünglichen Natur nach ein rein that-
ſächliches Verhältniß iſt, mithin ganz und gar der materialiſti-
ſchen Behandlungsweiſe anheimzufallen ſcheint, ſo findet doch
auch hier der Gegenſatz des Materialismus und Spiritualis-
mus Raum genug, ſich zu bethätigen, wie eben der Vergleich
des ältern und neuern Rechts lehrt. So würde z. B. der Er-
werb des Beſitzes nach materialiſtiſcher Anſicht ein Ergreifen
(Apprehenſion im wörtlichen Sinn) erfordern, und daß auch
das ältere Recht dies gethan und ſich nicht, wie das neuere,
mit der bloßen Möglichkeit unmittelbarer Einwirkung, na-
mentlich alſo nicht mit der ſ. g. traditio longa manu, dem
Zeigen und Sehen der Sache, begnügt habe, wird wohl kaum
in Zweifel gezogen werden, wenn man bedenkt, daß ſich dies
Requiſit noch bis ins neuere Recht hinein als formeller Akt in
dem manu capere der Mancipation erhalten hat. Das Ergrei-
fen (loco movere) verlangten die älteren Juriſten 587) auch bei
der Unterſchlagung der deponirten Sache von Seiten des De-
poſitars, während die neuere Jurisprudenz die Möglichkeit der
Unterſchlagung auch ohne eine ſolche materialiſtiſche Vollziehung
derſelben anerkennt. 588)


Die ältere Jurisprudenz ſprach den juriſtiſchen Perſonen die
Beſitzfähigkeit ab, abermals ganz in Uebereinſtimmung mit
der natürlichen Geſtalt des Verhältniſſes, die neuere hingegen
erkannte ſie ihnen zu. 589) Die Zulaſſung des Beſitzerwerbes
durch freie Stellvertreter iſt ebenfalls ein Fortſchritt des neue-
ren Rechts, in dem ſich unverkennbar eine freiere Behandlung
des Verhältniſſes kundgibt.


Nach der natürlichen Anſchauung iſt der Beſitz verloren,
[454]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſowie ein Dritter ſich denſelben angeeignet hat. Dabei hat es
das ältere Recht gelaſſen, während das neuere den Beſitz eines
Abweſenden bei Grundſtücken trotz der Invaſion fortdauern
läßt. 590)


In ungleich höherem Grade aber hat ſich der obige Gegen-
ſatz im Lauf der Zeit in der Uſucapion bewährt. Die ur-
ſprünglichen Requiſite derſelben beſtanden meiner Meinung
nach 591) in der Uſucapionsfähigkeit der Sache (res furtiva)
und dem rein äußerlichen Moment des fehlerfrei (nec vi, clam,
precario
) erworbenen Beſitzes. Die ſpätere Entwicklung des
Inſtituts bis ins heutige Recht hinein beſteht nun darin,
einmal, daß ſich zu dieſem äußern Element des Beſitzes noch
ein inneres hinzugeſellt, welches im Lauf der Zeit immer
mehr an Bedeutung gewinnt, und ſodann darin, daß das
äußere Moment umgekehrt an Strenge verliert. Jenes innere
Moment iſt theils das objective Requiſit des Titels, theils
das ſubjective der bona fides, und zwar iſt letzteres,
wenn nicht rückſichtlich ſeines erſten Auftretens, ſo doch jeden-
falls rückſichtlich ſeiner weiteren Ausdehnung und ſteigenden
Zunahme das ſpäteſte; ihm gehört die letzte Periode unſers
Inſtituts an. Dieſelbe charakteriſirt ſich durch die Tendenz, den
Schwerpunkt des Inſtituts mehr und mehr in die ſubjective
Innerlichkeit des Uſucapienten zu verlegen — eine Tendenz, die
ſchon in der ſpätern römiſchen Jurisprudenz in der Zulaſſung
eines titulus putativus unverkennbar zu Tage tritt und in der
bekannten Beſtimmung des Canoniſchen Rechts über die mala
fides superveniens
ihren definitiven Abſchluß erlangt. Die Ab-
ſchwächung des äußeren Moments äußert ſich theils darin, daß
dem Uſucapienten der Beſitz einer andern Perſon (ſeines Vor-
gängers oder des Pfandgläubigers) angerechnet wird, theils
[455]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
darin, daß bei dem Tode des Beſitzers die Uſucapion ſogar
ohne allen Beſitz weiter läuft. 592) Daß die Anſtellung
der Vindication von Seiten des Eigenthümers die Uſucapion
nicht unterbrach, war dem materialiſtiſchen Charakter derſelben
durchaus angemeſſen; bei der longi temporis possessio fand
nach der Anſicht, die mir die richtigere zu ſein ſcheint, das
Gegentheil Statt, 593) und auch dadurch documentirt ſie ſich
als ein Inſtitut neueren Urſprunges.


Käme es bloß darauf an, die materialiſtiſche Anſchauungs-
weiſe des ältern Rechts an einzelnen Beiſpielen zu veranſchau-
lichen, ſo würden wir die Zahl derſelben hiermit ſchließen kön-
nen. Anders aber, wenn wir, wie es unſere Abſicht iſt, uns
über den Umfang und den Grad, in dem jene Anſicht ſich im
Recht verwirklicht hat, Rechenſchaft geben wollen; hier iſt es
nöthig ſich aller und jeder Spuren derſelben, deren wir habhaft
werden können, zu bemächtigen. Während nun die bisher mit-
[456]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
getheilten mehr locale und ſporadiſche Aeußerungen waren, die
untereinander in keinem weiteren Zuſammenhange ſtanden,
gruppiren ſich diejenigen, welche noch übrig ſind, um zwei ge-
meinſame Mittelpunkte, um den Begriff des Willens und
die wirthſchaftliche und rechtliche Bedeutung der Sache im äl-
tern Recht. Es ſind dies zwei wahrhafte Knotenpunkte der ma-
terialiſtiſchen Anſicht, zwei centrale Ideen, die ihre Fäden und
Ausläufer über alle Theile und Inſtitute des ganzen Syſtems
erſtrecken. Die erſte derſelben werden wir aber beſſer im Ge-
ſammtzuſammenhange mit der Theorie des Willens 594) behan-
deln, die zweite ſoll hier ihre Erledigung finden.


Das Geſetz des Materialismus und Spiritualismus gilt,
wie überall, ſo auch für die wirthſchaftliche Entwicklung.
Dieſelbe beginnt mit den Gütern, die man ſehen und grei-
fen
kann, und erhebt ſich erſt nach und nach zur Wahrnehmung
und praktiſchen Verwerthung idealerer Güter. Der Credit, das
Talent, die Idee fungiren in unſerm heutigen Güterleben als
höchſt werthvolle wirthſchaftliche Factoren und ſind von der
Wiſſenſchaft auch als ſolche anerkannt, allein wie lange haben
dieſe Güter unbenutzt und unbekannt da gelegen, bis die Noth
des Lebens dazu zwang, auch ſie zu beachten und zu verwer-
then. Mit der wirthſchaftlichen Entwicklung aber hält die des
Rechts gleichen Schritt, letzteres läßt ſich als das Flußbett der
wirthſchaftlichen Strömung bezeichnen d. h. es iſt zu jeder gege-
benen Periode ſo weit und breit, als das Verkehrsbedürfniß es
erheiſcht. Darum kann uns denn die Rechtsgeſchichte dazu die-
nen, uns über die Stufen und Fortſchritte der wirthſchaftlichen
Anſicht und Bewegung Auskunft zu geben. Dies gilt nament-
lich auch von der römiſchen 595) und insbeſondere auch von der
[457]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
Frage, die wir derſelben hier vorlegen wollen, nämlich: was
waren die wirthſchaftlichen Factoren des ältern Verkehrs. Die
Antwort lautet: Sachen und als Sachen behandelte Men-
ſchen. Die freie menſchliche Kraft das Talent, die Fertigkeit
u. ſ. w., waren noch nicht als ſolche d. h. unabhängig
von dem Product, in dem ſie ſich mittelbar bezahlt machen,
Erwerbsquellen, Gegenſtände des Verkehrs geworden. Die
entſprechende juriſtiſche Form für die Verwerthung der menſch-
lichen Kraft iſt die Klagbarkeit der auf ſie gerichteten Verträge;
wo ſie fehlt, wie dies im ältern Recht der Fall (S. Kap. 4),
iſt dies ein Beweis, daß der Verkehr das Bedürfniß darnach
noch nicht empfindet. Allerdings kannte man auch im ältern
Rom den wirthſchaftlichen Werth des Arbeiters; die juri-
ſtiſche Form dafür waren die Herrſchaftsverhältniſſe der Skla-
verei und der operae servorum, des Mancipium und der
Schuldknechtſchaft. Aber was man nicht kannte, war die Ab-
löſung der einzelnen geiſtigen oder körperlichen Arbeit von dem
Arbeiter, die Erhebung derſelben zu einem rechtlichen Tauſch-
object. War dieſe Idee der alten Zeit zu hoch, oder überhob
das Inſtitut der Sklaverei ſie der Nothwendigkeit, der Arbeit
Anerkennung und Rechtsſchutz zu gewähren? Ich zweifle freilich
nicht daran, daß nicht auch ſchon in älteſter Zeit Dienſtleiſtun-
gen und Handlungen bezahlt, noch auch daran, daß ſie nicht
vermittelſt der Conventionalpön ſchon früh indirect zum Gegen-
ſtande einer Obligation gemacht worden ſind. Allein die directe
Klagbarkeit eines auf entgeltliche Erweiſung von Dienſtleiſtun-
595)
[458]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
gen gerichteten Vertrages gehört erſt den letzten Jahrhunderten
der Republik an, und ſie beſchränkte ſich zudem lange Zeit hin-
durch auf Dienſtleiſtungen niederer Art (operae locari solitae).
Kunſt und Wiſſenſchaft treten erſt ſpät in den Kreis des Rechts,
und nur mit Widerſtreben öffnet es ihnen denſelben und erſt,
nachdem das Leben thatſächlich ihren Anſpruch auf Lohn an-
erkannt hatte.


Wie es nun die ältere Zeit noch nicht zu einer Abſtraction
der einzelnen Arbeit von dem Arbeiter, ſo hat ſie es auch noch
nicht zu einer Abſtraction der einzelnen Gebrauchshandlung von
der Sache gebracht. Wie der Arbeiter, ſo zu ſagen, nichts iſt,
als der Inbegriff, die Summe von zukünftigen, einzelnen Lei-
ſtungen, ſo die Sache der reale Niederſchlag, die von der Natur
gegebene Concentration einer Reihe von möglichen Dienſtlei-
ſtungen; der Werth beider iſt im Grunde nichts anderes, als
die nach Grundſätzen des Disconto berechnete Summe der
ſämmtlichen während ihrer Exiſtenz möglichen Dienſte nach
Abzug der Gewinnungskoſten. Haben nun beide nur darum
einen Werth, weil ſie die Summe dieſer einzelnen Dienſtlei-
ſtungen ſind, ſo bilden letztere eine Quote dieſes Werths, und
in wirthſchaftlicher wie rechtlicher Beziehung müßte von den
Nutzungen einer Sache ganz daſſelbe gelten, wie von der Sache
ſelbſt, das Recht müßte alſo nicht bloß die entgeltliche Ueber-
laſſung, ſondern auch die Vorenthaltung, Störung oder ver-
zögerte Ueberlaſſung der Nutzungen auf gleiche Linie ſtellen mit
dem Verkauf und der Vernichtung oder Beſchädigung der Sache
ſelbſt. Allein jene idealen Stücke der Sache fallen in die Zeit,
die Sache ſelbſt in den Raum, und dieſe Verſchiedenheit, die
das geübte Auge nicht beirrt, wird doch für die materialiſtiſche
Anſchauungsweiſe ſehr einflußreich. Dies wollen wir jetzt am
ältern Recht nachweiſen.


Die Entziehung der Nutzungen einer Sache kann theils
den Charakter eines Delicts (furtum usus) annehmen, theils
bei Gelegenheit eines anderen auf Reſtitution der Sache ſelbſt
[459]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
gerichteten Verhältniſſes (in rem und in personam actiones)
Grund eines acceſſoriſchen Anſpruches werden (omnis causa
und mora). Daß nun das furtum usus ſpäteren Urſprunges iſt,
als das furtum rei, davon bin ich zwar feſt überzeugt, habe
dafür jedoch keinen äußeren Beleg. Anders aber rückſichtlich des
zweiten Falles. Hier läßt ſich meiner Anſicht nach poſitiv nach-
weiſen, daß das ältere Recht auf entzogene Nutzungen, inſo-
fern ſie ſich nicht räumlich d. h. als Früchte abgelöſt hatten,
keine Rückſicht genommen hat. Denn bei den perſönlichen Kla-
gen laſſen ſich dieſelben nur unter dem Geſichtspunkte des In-
tereſſes verfolgen, das ältere Recht aber kennt keine Liquidation
des Intereſſes (S. 112 fl.), bei dinglichen Klagen aber kom-
men nur die Früchte in Anrechnung. Nun fallen zwar im
neuern Recht auch die Nutzungen (als fructus civiles) unter den
Fruchtbegriff, 596) allein daß der urſprüngliche Umfang dieſes
Begriffs ein engerer war, ſich auf die wirklichen Früchte be-
ſchränkte, liegt ſchon im Namen, und jene Ausdehnung verräth
meines Erachtens unverkennbar die ſpiritualiſtiſchere Auffaſſung
einer ſpäteren Zeit. Der Grund, warum man in allen jenen
Fällen die entzogenen Nutzungen nicht in Anrechnung bringen
konnte, liegt nicht in der Strenge des alten Rechts, welchen
Ausdruck man namentlich gern für die Condictionen gebraucht
— das iſt eine hohle Phraſe — ſondern in der Rohheit der
wirthſchaftlichen Anſicht, der nur das ſichtbare und greifbare
Object, die Sache ſelbſt und die Früchte, nicht aber das idea-
lere Stück der Sache, die zeitweiſe Möglichkeit ihres Gebrauchs
als wirthſchaftliches Gut und rechtlich zu verfolgendes Object
erſchien. Hätte man den wirthſchaftlichen Werth deſſelben er-
kannt, ſo würde auch der Richter ihn haben zuerkennen müſſen.
Was der Verkehr ſchätzt, ſchätzt(aestimat) auch der Richter.
Die richterliche aestimatio enthält den rechtlichen
[460]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Ausdruck des wirthſchaftlichen Werthbewußtſeins
der Zeit
, beide können auf die Dauer nie erheblich divergiren.


Ignorirte nun der ältere Verkehr die Nutzungen der Sache,
wo ſie nur acceſſoriſch in Betracht kamen, ſo folgt daraus zwar
nicht, daß er ſie nicht dennoch ſelbſtändig in Form von Pacht
und Miethe hätte verwerthen können, allein auch nach dieſer
Seite hin ſcheint mir die oben bereits erwähnte Thatſache höchſt
beachtenswerth, daß es für ſie dem alten Recht an einem Maß-
ſtab der richterlichen Schätzung fehlte. Worauf hätte der
Richter den Vermiether oder Verpächter, der ſich der Erfüllung
des Vertrages weigerte oder den Gegner vor der Zeit exmittirte,
verurtheilen ſollen? Allerdings bot, wie bereits bemerkt, die
Conventionalpön ein indirectes Sicherungsmittel, allein daß
es eben eines indirecten Mittels bedurfte, daß das Recht nur
Verpflichtung auf das Geben (dare) einer Sache anerkannte,
das facere aber (im römiſchen Sinn fällt darunter auch die
Miethe von Sachen wie von Perſonen) nicht für ein richterlich
ſchätzbares Werthobject anerkannte, beweiſt eben die von mir
dem ältern Verkehr und Recht zur Laſt gelegte materialiſti-
ſche Erfaſſung des Werthbegriffs
. Der Ausdruck:
quanti ea res est, mittelſt deſſen der Prätor den Richter zur
Aeſtimation anwies, hatte wie der Ausdruck fructus urſprüng-
lich eine rein wörtliche Bedeutung; Sache und Werth waren
urſprünglich und lange gleichbedeutend. 597)


Das Reſultat der bisherigen Ausführung läßt ſich in den
Satz zuſammen faſſen: der ältere Verkehr operirte mit
[461]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
Sachen, und wir gewinnen damit zugleich einen paſſenden
Uebergang zum Folgenden. Dieſer Satz hat nämlich außer der
ſo eben betrachteten wirthſchaftlichen noch eine ſpecifiſch juriſti-
ſche Bedeutung.


Vom Standpunkt der natürlichen Betrachtung aus möge
man den Tauſchverkehr als eine Uebertragung und Circulation
der Sachen anſehen, vom Standpunkt des Juriſten iſt er eine
Uebertragung von Rechten. Wer eine Sache erwirbt, ver-
langt vom Recht den rechtlichen Schutz ſeines Erwerbes, der
Ausdruck aber für den ihm darauf gewährten Anſpruch iſt
Recht. Die Uebertragung einer Sache heißt daher juriſtiſch
Uebertragung des Rechts. Der Güterverkehr iſt juriſtiſch
Begründung, Uebertragung, Aufhebung von Rechten.


Die Richtigkeit dieſer Bemerkung ſpringt überall, wo es die
Beſtellung oder Uebertragung eines anderen Rechts an der Sache,
als des Eigenthums gilt, ſofort in die Augen, anders aber bei
der Uebertragung des Eigenthums, bei dem, ſo zu ſagen, Recht
und Sache ſich decken. Aeußerlich geht hier die Sache ſelbſt über,
und eine an der äußeren Erſcheinung klebende Auffaſſung kann
über dieſem äußern Vorgang leicht den innern, den Uebergang
des Rechts, überſehen oder richtiger mit ihm verwechſeln. So
auch das ältere Recht. Eigenthumsübertragung iſt ihm in der
That, ſo paradox es klingt, nicht Uebertragung des Eigen-
thums, ſondern der Sache. Der Uebergang des Rechts ſelbſt
als eines von dem bisherigen Innehaber zu löſenden Dinges
von objectiver idealer Exiſtenz iſt ihm zu ſpitz, zu abſtract.
Darum löſt die ältere Zeit den Hergang bei der Eigenthums-
übertragung auf in ein Zurücktreten des bisherigen Eigen-
thümers von der einen und ein Eintreten des neuen in die
frei gewordene Sache von der andern Seite. So entſchieden
bei der mancipatio (B. 1. S. 107). So auch bei der gericht-
lichen Abtretung (in jure cessio). Der juriſtiſchen Form nach
findet bei letzterer das gerade Gegentheil der Succeſſion in ein
Recht Statt, denn der Erwerber, anſtatt von dem bisherigen
[462]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Innehaber ſein Recht abzuleiten, beſtreitet ihm umgekehrt
die Zuſtändigkeit deſſelben, letzterer überträgt nicht, ſondern
tritt ab, weicht zurück (cedit in jure), jener aber leitet ſein
Recht formell aus ſeiner eignen Perſon ab (vindicat). Ob
auch die Tradition in dieſer Weiſe aufgelöſt werden darf, kann
zweifelhaft ſein. Für das neuere Recht halte ich es allerdings
nicht für zuläſſig, allein dies ſchließt die Annahme für das äl-
tere Recht nicht aus.


Der im vorhergehenden aufgeſtellten Behauptung ließe ſich
die Faſſung geben, daß das ältere Recht keine eigentliche Suc-
ceſſion
d. h. keinen Eintritt in das Recht, ſondern nur in die
Sache eines Andern kannte. Daraus aber würde folgen, daß alle
Rechte mit Ausnahme des Eigenthums unübertragbar geweſen
ſeien, denn jener Erſatz der Succeſſion ins Recht durch Succeſ-
ſion in die Sache war nur beim Eigenthum möglich, weil nur
hier Sache und Recht ſich deckten. Iſt nun jene Behauptung
nicht eine verwegene? So ſcheint es. Allein man erlaube mir
folgende Erläuterung. Zunächſt kann man mir entgegenſetzen
die Univerſalſucceſſion. Allein hier erfolgt der Eintritt bekannt-
lich nicht in die einzelnen Rechte, ſondern in die Geſammtper-
ſönlichkeit des Erblaſſers oder, um dieſen neuerdings angefoch-
tenen Ausdruck zu vermeiden, der Erbe wird in allen Beziehun-
gen Repräſentant des Erblaſſers, loco defuncti. Dies Ver-
hältniß ſcheidet von unſerer Betrachtung völlig aus, denn unſere
Behauptung bezieht ſich nur auf die Unübertragbarkeit der
einzelnen Rechte oder die Möglichkeit der Singularſuc-
ceſſion
. Nun läugne ich allerdings nicht, daß das römiſche Recht
neben den Verhältniſſen, in denen es an dieſer Unübertragbar-
keit fortdauernd feſtgehalten, nämlich dem Mancipium (S. 192
Anm. 277), der Obligation, den Servituten und der Erbſchaft
(mit Ausnahme der deferirten hereditas legitima) andere auf-
weiſt, in denen es eine Uebertragung zuläßt, nämlich aus dem
Familienrecht: die Uebertragung der väterlichen Gewalt und
der Tutel, aus dem Vermögensrecht die gerichtliche Abtretung
[463]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
der deferirten hereditas legitima.598) Allein gerade die Art und
Weiſe, wie es den Uebergang hier bewerkſtelligt, ihn nämlich
künſtlich mit ſeiner Anſchauungsweiſe vermittelt, ſetzt letztere
ſelbſt in ein helles Licht. In allen dieſen Fällen greift es näm-
lich zur in jure cessio, gibt alſo der Sache nach der obigen
Bemerkung die Wendung, daß der Cedent nicht überträgt,
ſondern ſich die Anerkennung des Ceſſionars als des allein Be-
rechtigten durch den Prätor gefallen läßt. Ganz ſchlagend tritt
dieſer Vorgang namentlich im Fall der Adoption hervor, 599)
denn hier hat der dreimalige, beziehungsweiſe einmalige Schein-
verkauf ins Mancipium (S. 190) geradezu den erklärten Zweck,
die väterliche Gewalt zu vernichten, damit der Ceſſionar
als Vindicant auftreten könne.


Ich werde an einer andern Stelle verſuchen, für den ſo eben
begründeten Satz von der Unübertragbarkeit der Rechte noch
einen andern Erklärungsgrund zu gewinnen, an der gegenwär-
tigen Stelle genügt es, ſeinen Zuſammenhang mit dem Mate-
rialismus der ältern Rechtsanſicht aufzudecken. Oder richtiger
geſagt, es bedarf deſſen nicht, denn derſelbe liegt auf offner
[464]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Hand. Ein Eintritt in fremde Rechte mag uns immerhin noch
ſo natürlich erſcheinen, der ganze Vorgang beruht nichts deſto
weniger auf Abſtraction, er geht rein auf dem Gebiete des
Gedankens vor ſich, das natürliche Auge ſieht ihn nicht. Ganz
anders, wenn der Gegenſtand ſelbſt (Sache oder Perſon) über-
tragen wird, hier iſt ein ſichtbares Object vorhanden, an dem
der Wechſel der Perſonen augenfällig hervortritt. 600)


Eine Spur dieſer alten Auffaſſung, von der ſich im übrigen
das neuere römiſche Recht mehr und mehr emancipirt hat, iſt
noch erhalten in der von Juſtinian in ſeinen Inſtitutionen ad-
optirten und dadurch zur großen Celebrität gelangten Claſſifica-
tion der Dinge in res corporales und incorporales.601) Wäh-
rend alle übrigen Rechte zur letzteren Claſſe geſtellt werden,
figurirt hier das Eigenthum als res corporalis. Ueber die Ver-
kehrtheit dieſer Identificirung des Eigenthums mit ſeinem Ge-
genſtande ſollte man meiner Anſicht nach kaum getheilter Mei-
nung ſein können. Das Eigenthum iſt ebenſowohl eine res
incorporalis
, als die übrigen dinglichen Rechte, und bei der
Uebertragung deſſelben geht juriſtiſch nicht die res corporalis,
ſondern das Recht, die res incorporalis, über. Nichts deſto
weniger hat dieſer ſyſtematiſche Fehler eine hiſtoriſche Wahr-
heit, denn er enthält eben den völlig adäquaten Ausdruck der
entwickelten älteren Vorſtellungsweiſe, wonach beim Eigenthum
die Sache, ſo zu ſagen, das Recht verdeckte. 602)


[465]Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.

So erſcheint alſo nach unſern bisherigen Ausführungen der
Werth-, Frucht- und Succeſſionsbegriff urſprünglich
zuerſt an der Sache und geht erſt ſpäter von ihr auch auf an-
dere Verhältniſſe über. Dieſe Beobachtung führt von ſelbſt zu
der Frage, ob ſich dieſelbe Erſcheinung nicht auch rückſichtlich
anderer wiederhole, und in der That brauchen wir nicht lange
zu ſuchen. Alle Begriffe und Verhältniſſe, die im ſpätern Recht
außer an Sachen auch an andern Gegenſtänden vorkommen,
haben in der Sache ihren urſprünglichen und natürlichen Aus-
gangspunkt gehabt. So zuerſt der Beſitz. Die primitive Form
deſſelben iſt der Sachenbeſitz, der Quaſibeſitz iſt ungleich
jüngeren Urſprunges, ja er iſt bei den Römern nicht einmal
zum völligen Abſchluß gelangt. Sodann das Pfandrecht.
Urſprünglich beſchränkt auf Sachen iſt es im ſpätern Recht auf
alle Rechte ausgedehnt, die einen Geldwerth haben und ſich irgend-
wie übertragen laſſen z. B. Forderungen und Nießbrauch. 603)
Von den Univerſalklagen, der hereditatis petitio, dem inter-
dictum quorum bonorum,
dem interd. possessorium des bo-
norum emtor
geht die erſtere zur Zeit der claſſiſchen Juriſten
auch gegen juris possessores; daß ſie urſprünglich nur gegen
die Beſitzer erbſchaftlicher Sachen gerichtet war, wird um ſo
weniger beanſtandet werden, als dieſe Beſchränkung bei den
beiden letztern ſich auch noch in ſpäterer Zeit erhalten hat. 604)
602)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 30
[466]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Schließlich und vor allem iſt aber die Obligation hervorzu-
heben. Für ſie bildete die Sache urſprünglich ſowohl das Fun-
dament, den Grund, als den Zweck, den Gegenſtand des An-
ſpruchs. Jenes — denn der Grund einer jeden Obligation im
Sinn des älteren Rechts 605) iſt der Umſtand, daß der Schuld-
ner vom Gläubiger etwas (res)erhalten, (de - habet,
debet)
letzterer ihm etwas gegeben (cre - dedit, credidit), ſei
die Hingabe wirklich erfolgt (Realcontract) oder nur rechtlich
angenommen (Literal- und Verbalcontract). Dieſes — jede
Obligation geht im ältern Recht auf ein dare, das Geben
einer Sache, rem persequitur; in dem Ausdruck actio rei
persequendae causa,
der ſpäter auch die obligationes faciendi
umfaßt, 606) iſt res wie in dem obigen quanti ea res est ur-
ſprünglich im wörtlichen Sinn gebraucht geweſen. Die nähere
Ausführung bleibt einer ſpätern Stelle vorbehalten. An keinem
Verhältniß bewährt ſich der Spiritualismus des neuern römi-
ſchen Rechts in dem Maße, als an der Obligation. Denn nicht
bloß daß ſie ſich von der res nach beiden Seiten hin abgetrennt
hat, ſo hat ſie ſelbſt ſich gewiſſermaßen zu einer idealen res
aufgeſchwungen. Der neuere Verkehr operirt mit dieſem Object
mit derſelben Leichtigkeit und Sicherheit, wie es der alte nur
mit den Sachen thun konnte. So kann z. B. ein Verſprechen
und eine Klage wie auf Hingabe eines körperlichen, ſo auf Lei-
ſtung dieſes unkörperlichen Objects (Abſchluß eines Con-
tracts), 607) wie auf Rückgabe jenes, ſo auf Rückgabe dieſes
(Liberation) gerichtet werden. So kann man ſchenken, erfüllen,
604)
[467]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
liberiren, Auslagen machen u. ſ. w. ſtatt durch Sachen durch
Uebernahme einer Obligation. Die beſtehende Obligation kann
verkauft, verpfändet, legirt, cedirt, durch den Richter mit
Beſchlag belegt, durch das Geſetz transferirt werden — kurz
ſie fungirt hier in der That ganz ſo, wie in älterer Zeit die
Sache.


Hiermit ſchließe ich meine Ausführung über die Bedeutung
der Sache im ältern Recht und damit zugleich die über den Ma-
terialismus des ältern Rechts überhaupt. Als Gewinn derſel-
ben dürfen wir die Gewißheit bezeichnen, daß die ſinnliche
Vorſtellungsweiſe der ältern Zeit auch im Recht ſich nicht ver-
läugnet hat. Völlig irrig aber wäre es zu meinen, als ob dieſer
Zug derber Sinnlichkeit, mit dem das Recht der Zeit ſeinen
Tribut bezahlt, dieſe ſubſtantielle Schwere, dieſer maſſive Zu-
ſchnitt ſeiner Verhältniſſe und Begriffe die ſcharfe juriſtiſche Er-
faſſung und Durchbildung derſelben ausgeſchloſſen habe. Ja
andererſeits verſteigt ſich das ältere Recht zu ſo feinen Abſtractio-
nen wie z. B. der der hereditas im Gegenſatz zu den res heredi-
tariae,
daß wir uns hüten müſſen, den Entwicklungsgrad ſeines
Abſtractionsvermögens lediglich nach dem Inhalt des gegenwär-
tigen Paragraphen zu beſtimmen. Ein Urtheil darüber läßt ſich
nur fällen, wenn man dabei das geſammte Begriffsmaterial des
ältern Rechts einer Kritik unterwirft; dazu aber iſt hier noch
nicht der Ort.


II. Das Haften am Wort.

Der Gedanke und das Wort — grammatiſche und logiſche Inter-
pretation — Verhältniß der alten Jurisprudenz zu dieſem Ge-
genſatz — ſtrenge Wortinterpretation der Rechtsgeſchäfte —
freiere der Geſetze — tendentiöſes Element derſelben.


XLIV. Das Haften am Wort iſt eine von den Erſchei-
nungen, durch die ſich die niedere Stufe der geiſtigen Entwick-
lung wie überall ſo auch im Recht kennzeichnet, und die Rechts-
30*
[468]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
geſchichte könnte den Satz „im Anfang war das Wort“ als
Motto über ihr erſtes Buch ſchreiben. Allen ungebildeten Völ-
kern erſcheint das Wort, ſowohl das geſchriebene als das ge-
ſprochene ſolenne Wort (die Formel) als etwas Geheimnißvol-
les und der naive Glaube ſtattet es mit übernatürlicher Kraft
aus. Nirgends war dieſer Glaube an das Wort mächtiger,
als im alten Rom. Der Cultus des Worts geht durch alle Ver-
hältniſſe des öffentlichen und Privatlebens, der Religion, Sitte
und des Rechts. 608) Das Wort iſt dem alten Römer eine
Macht, es bindet und löſt, und es hat, wenn auch nicht die
Kraft, Berge, ſo doch Früchte auf ein fremdes Feld zu ver-
ſetzen. 609) Mit welcher Strenge und Pedanterie daher auch die
alte Jurisprudenz auf ihrem Gebiete das Wort handhaben
mochte, ſie gerieth dadurch mit der nationalen Denkweiſe in
keinen Widerſpruch, ja im Gegentheil es gab eine Zeit, und ſie
dauerte lange, wo dieſelbe Wortklauberei der Juriſten, die ſpä-
terhin ein ſo dankbarer Stoff für die Perſiflage eines Cicero
ward und ſelbſt aus dem Munde von Juriſten und Kaiſern ihr
Verdammungsurtheil hören mußte, 610) in den Augen des Volks,
[469]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
weit entfernt zum Vorwurf zu gereichen, als Beweis des Scharf-
ſinns und der Ueberlegenheit galt, und wo die entgegengeſetzte
freiere Interpretation, die die ſpätere Jurisprudenz namentlich
bei den Verträgen des jus gentium zur Anwendung brachte,
nicht bloß auf kein Verſtändniß, ſondern auf die entſchiedenſte
Oppoſition hätte rechnen dürfen. Es gehörten viele Jahrhun-
derte dazu, um die Jurisprudenz ſowohl wie das Volk in dieſer
Beziehung umzuſtimmen und einer freieren Art der Auslegung
zugänglich zu machen.


Die Herrſchaft des Worts im ältern Recht äußert ſich nach
zwei Seiten hin, oder was daſſelbe ſagen will, der Wille iſt
rückſichtlich des Gebrauchs der Worte in doppelter Weiſe be-
ſchränkt. Einmal nämlich dadurch, daß ihm die Wahl derſelben
bis zu einem gewiſſen Grade völlig entzogen iſt, indem die gül-
tige Vornahme der verſchiedenen Rechtsgeſchäfte an den Ge-
brauch gewiſſer Stichworte oder ſtehender Formeln gebunden
iſt. Andererſeits aber, auch inſoweit die Wahl der Worte für
die Faſſung des concreten Willensinhalts ihm ſelbſt anheim
fällt, dadurch daß es hierbei der peinlichſten Genauigkeit und
Achtſamkeit bedarf, indem vermöge des Princips der Wort-
interpretation nur das als geſetzt und gewollt gilt, was direct
und ausdrücklich geſagt iſt. Dort handelt es ſich um eine typi-
ſche, abſtracte, hier um die rein individuelle, concrete Form,
und wir könnten daher von zwei formaliſtiſchen Beſchrän-
kungen ſprechen und beide mit dem Zuſatz abſtract und concret
unter dem Ausdruck Formalismus zuſammenfaſſen. Da
jedoch der Sprachgebrauch dieſem Ausdruck einmal eine aus-
ſchließliche Beziehung auf das erſte Verhältniß gegeben hat,
ſo ſtehe ich um ſo eher davon ab, als mir ein ſolches Bedürfniß
der Zuſammenfaſſung beider unter einen Namen überall nicht
610)
[470]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
vorhanden zu ſein ſcheint. Beide ſind, wenn ſie auch dieſelbe
Quelle gemeinſchaftlich haben, doch im übrigen völlig ſelbſtän-
dig gegen einander; der Formalismus kann ohne die Wort-
interpretation vorkommen (man denke z. B. an unſer heutiges
Teſtament) und umgekehrt letztere ohne erſteren (z. B. bei der
Interpretation der Geſetze).


Die gemeinſame Quelle, aus der beide hervorgehen, iſt mei-
ner Anſicht nach das ſubjective Haften an der äußern
Erſcheinung
. Beide charakteriſiren ſich nämlich durch die
Präponderanz des äußern über das innere Moment, der Form
über den Inhalt; die ſubjective Stimmung aber, die dieſer ob-
jectiven Thatſache entſpricht, und in der mithin ihr hiſtoriſches
Motiv zu ſuchen iſt, beſteht in der Richtung des Geiſtes auf die
Aeußerlichkeit, der Sinnlichkeit der Anſchauungsweiſe. Die
Richtigkeit dieſer Auffaſſung rückſichtlich des Formalismus kann
erſt in §. 45 nachgewieſen werden, rückſichtlich der Wortinter-
pretation, der unſere gegenwärtige Betrachtung gewidmet iſt,
wird ſie ſich aus der folgenden Ausführung über das Verhält-
niß des Worts zum Gedanken
ergeben.


Die Art und Weiſe, wie das Wort den Gedankenaustauſch
vermittelt, kann man ſich in doppelter Weiſe denken, und auf
dieſer Verſchiedenheit beruht die Möglichkeit jener zwiefachen
Art der juriſtiſchen Interpretation, für die man den wenig zu-
treffenden Namen der grammatiſchen und logiſchen ge-
wählt hat. 610a)


Es klingt paradox, wenn ich die Frage aufwerfe, ob das
Wort überall im Stande iſt, den Gedanken wieder zu geben,
und doch iſt dieſe Frage nicht bloß zu erheben, ſondern ſogar zu
verneinen. Der Gedanke iſt ein innerer Vorgang des ſubjecti-
ven Geiſteslebens, eine Thätigkeit, Bewegung — eine Denk-
welle
; eine Bewegung aber läßt ſich nicht objectiviren. Nur
[471]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
um den Preis alſo kann der Gedanke aus dem Schooß der ſub-
jectiven Innerlichkeit in die Außenwelt treten, daß er ſein eigent-
liches Weſen einbüßt d. h. daß er erſtarrt; der ausgeſprochene
Gedanke iſt, ſo zu ſagen, gefrorenes Denken. Nur im
uneigentlichen Sinn können wir daher von einer Uebertragung
oder Mittheilung des Gedankens ſprechen; übertragen wird
nicht der Gedanke ſelbſt, ſondern das Wort gewährt nur den
Anſtoß und die Möglichkeit eines ähnlichen Denkens, der
Reproduction einer ähnlichen geiſtigen Bewegung in der Seele
des Hörers, wie in der des Sprechenden. Sprechen heißt eine
Bewegung hervorrufen, eine phyſiſche in der Luft, eine gei-
ſtige im Hörer. So wenig wie das Wort auf der Luftwelle
treibt und ſchwimmt, die an das Ohr des Hörenden ſchlägt,
ſondern wie das Wort nichts iſt, als Schwingung der Luft-
welle, ebenſowenig trägt das Wort den Gedanken, ſo zu ſa-
gen, als geiſtiges Product zu uns hinüber, ſondern es be-
wirkt nur eine entſprechende Schwingung unſeres Gei-
ſtes
. Das Wort iſt keine Gabe, ſondern phyſikaliſch wie
moraliſch eine Einwirkung auf einen andern Gegenſtand,
ein Stoß. Dieſe Einwirkung hervorzurufen und zwar ganz die,
welche der Urheber beabſichtigt, dazu iſt oft ein Blick, eine
Gebehrde, ein Wink eben ſo gut im Stande, als das Wort;
der beſte Beweis, daß die Möglichkeit der geiſtigen Mittheilung
nicht auf der Nothwendigkeit einer Objectivirung des Ge-
dankens beruht — denn was hat ſich in jenen Zeichen objecti-
virt oder wie unendlich weit bleiben auch bei der wörtlichen
Mittheilung die gebrauchten Worte hinter dem Gedanken zu-
rück, ohne daß dadurch die Hervorbringung deſſelben in der
Seele des Andern in ſeiner ganzen beabſichtigten Geſtalt und
Ausdehnung im mindeſten beeinträchtigt würde — ſondern auf
der Gewährung eines Impulſes zum verwandten Denken. Das
Princip der Mittheilung iſt bei der durch Worte ganz daſſelbe,
wie bei der durch Zeichen; das eine Mittel iſt vollkommen,
das andere unvollkommen, aber ſie wirken in derſelben Weiſe,
[472]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
beide gebennicht den Gedanken ſelbſt, wäre immerhin die For-
mulirung deſſelben eine noch ſo genaue, ſo wenig wie das
treueſte Bild den Gegenſtand ſelbſt gewährt, ſondern nur die
Aufforderung und den Anhaltspunkt, ſich ihn zu recon-
ſtruiren
.


Eben darum aber genügt in beiden Fällen nicht ein bloß
paſſives Verhalten, ein bloßes Entgegennehmen eines
Gegebenen, denn das Gegebene iſt nicht das, was man
geben will, ſondern es ſoll nur als Mittel für den Andern
dienen, ſich das, was er haben ſoll, bei richtigem Ge-
brauch zu verſchaffen; es bedarf vielmehr einer Selbſt-
thätigkeit
von ſeiner Seite. Hier ſcheiden ſich nun die gram-
matiſche und logiſche Interpretation. Erſtere entzieht ſich die-
ſem Anſinnen einer ſelbſtthätigen Verwendung des Gegebenen,
ſie bleibt bei letzterem, bei den Worten ſtehen, wie es
die Sprache ganz treffend ausdrückt. Sie betrachtet alſo die
Worte als das, was ſie nie ſind und ſein können, als den Ge-
danken ſelbſt in ſeiner Sichtbarkeit und Objectivität oder, was
daſſelbe iſt, als das ansſchließlich in Betracht kommende Sur-
rogat
deſſelben. Letztere hingegen geht, dem wahren Weſen
der Gedankenmittheilung gemäß, um mich auch hier des ganz
bezeichnenden Ausdrucks der Sprache zu bedienen, über die
Worte hinaus
d. h. ſie verſetzt ſich in die Seele des Re-
denden, ſucht den Gedanken gewiſſermaßen in ſeiner Heimath
auf. Der Schauplatz ihrer Thätigkeit iſt die Seele des Re-
denden, der Schauplatz jener das nackte Wort. Was nicht in
den Worten liegt, ſondern jenſeits derſelben in der Seele des
Redenden, exiſtirt für letztere nicht, weil es ſich eben nicht im
Wort verkörpert hat. Sie hält ſich, wie die Sprache es nennt,
an das todte Wort; todt, weil es nicht den lebendigen Ge-
danken wieder gibt, ſondern nur eine Todtenmaske deſſelben.
Ihr einziges Augenmerk kann alſo nur darauf gerichtet ſein,
den Sinn anzugeben, den die Worte als ſolche nach Maßgabe
des Sprachgebrauchs haben, den objectiven Wortgehalt; ob
[473]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
derſelbe der wirklichen Meinung des Redenden entſpricht, iſt
für ſie gleichgültig und muß es ſein, wenn ſie ſich nicht ſelbſt
verläugnen will. Damit aber iſt ſie gerichtet.


Der Gegenſatz beider Auffaſſungsweiſen läßt ſich demgemäß
mit den Ausdrücken objectiv und abſolut für die eine,
und ſubjectiv und individuell für die andere bezeichnen.
Letztere ſetzt das Wort in Verbindung mit ſeinem Urheber
und gibt unter Zuhülfenahme von ſonſtigen Momenten an,
was dieſes Subject in dieſem individuellen Fall damit
hat ſagen wollen, beſtimmt alſo am letzten Ende die Kraft und
Bedeutung des Wortes nicht aus ihm ſelbſt, ſondern anders-
woher. Darauf beruht es, daß bei dieſer Art der Auslegung
daſſelbe Wort und derſelbe Satz je nach Verſchiedenheit jener
rein individuellen Beziehungen einen verſchiedenen Sinn erhal-
ten kann. Bei der andern Art iſt dies nicht möglich; für ſie,
die das Wort als etwas Selbſtändiges, von der Subjectivität
des Redenden Unabhängiges, rein aus und durch ſich ſelbſt zu
Beſtimmendes nimmt, muß daſſelbe Wort, derſelbe Satz, von
wem und unter welchen Verhältniſſen er auch gebraucht wird,
immer dieſelbe Bedeutung haben. Der Gegenſatz der abſoluten
oder objectiven und ſubjectiven oder individuellen Beſtimmung,
den wir bereits bei einer früheren Gelegenheit als einen charak-
teriſtiſchen Divergenzpunkt des ältern und neuern Rechts haben
kennen lernen, (S. 109 u. fl.) und für den auch der nächſte
Paragraph einen neuen Beleg liefern wird, wiederholt ſich alſo
wie bei der Beſtimmung des Werthes und der Zeit, ſo auch
bei der des Wortes.


Ueber das Werthverhältniß jener beiden Interpretationen
zu einander kann nach dem bisherigen kein Zweifel ſein. Dem
Weſen der geiſtigen Mittheilung entſpricht allein die logiſche
Interpretation; ſie legt dem Wort keine andere Function und
keinen andern Werth bei, als daſſelbe einmal hat. Wäre die
Annahme, von der die grammatiſche Interpretation ausgeht,
wahr, daß nämlich der Gedanke ſelbſt ſich als ſolcher wieder-
[474]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
geben läßt, ſo würde ſie freilich unbedingt den Vorzug verdie-
nen. Denn ganz abgeſehen von der geringeren Anforderung,
die ſie an den Interpreten ſtellt, ſo hat ſie den Vorzug der Un-
mittelbarkeit des Reſultats und damit den der größeren Sicher-
heit voraus. Bei ihr gilt es nicht erſt ein Suchen und Operi-
ren, keine Schlußfolgerungen und künſtliche Deductionen, wie
bei der logiſchen Interpretation, ſondern ſie hält ſich gläubig
an das, was unmittelbar vorliegt, an die äußere Erſcheinung.
Aber letztere — und damit fällt jener ſcheinbare Vorzug der
Sicherheit zuſammen — iſt oft höchſt trügeriſch, das Wort dem
Gedanken gegenüber zu weit oder zu eng; jene Sicherheit
kömmt alſo eben ſo wohl dem Irrthum, als der Wahrheit zu
gute. Die logiſche Interpretation hingegen beruht auf der
Skepſis, ſie erkennt die äußere Erſcheinung nicht als untrüg-
lich an und gelangt, indem ſie dieſelbe einer Kritik unterwirft,
möglicherweiſe zu einem völlig andern Reſultat, als die Worte
erwarten laſſen.


Aus eben dem Grunde aber iſt ſie hiſtoriſch nicht die ur-
ſprüngliche. So befremdend es von vornherein erſcheinen mag,
daß gerade die Zeiten am ſtrengſten am Wort haften, die des
Gebrauchs des Wortes am wenigſten mächtig, mithin am we-
nigſten befähigt ſind, die Vorausſetzung der grammatiſchen
Interpretation, daß die Worte einen getreuen Ausdruck des
Gedankens enthalten, zur Wahrheit zu machen, ſo ſehr ent-
ſpricht doch dieſer Wortcultus andererſeits dem Charakter ihrer
ganzen Bildungsſtufe. Der Glaube an die äußere Erſcheinung
iſt das Urſprüngliche, Natürliche, die Skepſis und die Los-
reißung von der Erſcheinung das Spätere. Das Wort iſt das
Greifbare, Unmittelbare, der Geiſt das Unſichtbare, Mittel-
bare, das Greifen aber iſt, wie überall, ſo auch beim Wort
dem Begreifen vorausgegangen. Die Emancipation vom
Wort iſt erſt dann an der Zeit, wenn der Geiſt die erforderliche
Kraft gewonnen hat, um auch ohne daſſelbe mit Sicherheit
operiren zu können. Zu dieſer Höhe hatte ſich aber, wie wir
[475]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
bereits wiſſen, der römiſche Geiſt im ältern Recht noch nicht
aufgeſchwungen; letzteres ſteht im weſentlichen noch auf der
Stufe der Wortinterpretation.


Bei unſerer Darſtellung trennen wir die Interpretation der
Rechtsgeſchäfte von der der Geſetze. An und für ſich zwar macht
es für die Interpretation keinen Unterſchied, ob der Gegenſtand
derſelben ein Geſetz oder ein Rechtsgeſchäft iſt, und dieſe Er-
wägung hat mich lange verleitet, beide auch für das ältere
Recht auf eine Linie zu ſtellen, allein ich habe mich ſpäter von
der Irrigkeit dieſer Annahme überzeugt.


1. Interpretation der Rechtsgeſchäfte.

Bei den Rechtsgeſchäften begegnen uns im ſpätern Recht
beide Arten der Interpretation, die eine bei denen des ſtrenge-
ren, die andere bei denen des freieren Rechts. Die Juriſten
drücken denſelben aus als Gegenſatz des Wortes und des Wil-
lens
oder Inhalts,611) Cicero612) charakteriſirt ihn als Strei-
ten mit Buchſtaben, als Unbilligkeit, ſtrenges, verſchlagenes
Recht, als chicanöſe Auslegung auf der einen, und Beachtung der
[476]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
wahren Willensmeinung des Sprechenden, als billiges Recht
auf der andern Seite.


Dem ältern Recht war dieſer Gegenſatz fremd. Die Ver-
hältniſſe, bei denen die ſubjective Interpretation Platz greift,
ſind ſämmtlich erſt in ſpäterer Zeit klagbar geworden; rückſicht-
lich der Fideicommiſſe iſt dies bekannt, rückſichtlich der Verträge
des jus gentium wird der Beweis an einer andern Stelle er-
bracht werden; für das ältere Recht bleibt demnach nur die
Wortinterpretation übrig.


Um nun ein Bild von derſelben zu entwerfen, dazu reichen
unſere directen Quellenäußerungen nicht aus, denn ſie beſchrän-
ken ſich auf eine ganz allgemeine Charakteriſtik derſelben als
einer mit äußerſter Strenge und minutiöſer Peinlichkeit verfah-
renden Wortinterpretation (ſ. die Anm. 610). Dagegen gibt
es für uns eine indirecte Quelle, die dieſen Mangel vollſtändig
erſetzt und es uns namentlich ermöglicht, unſere Schilderung
durch Beiſpiele anſchaulicher zu machen, nämlich die Wortinter-
pretation des ſpätern Rechts. Mag auch nicht das ganze
Material, das wir hier vorfinden, der ältern Zeit entſtammen,
mögen immerhin auch die ſpätern Juriſten manches Einzelne
erſt hinzugefügt haben, darüber, meine ich, wird wohl kein
Zweifel ſein können, daß nicht bloß die Wortinterpretation
ſelbſt, ihre ganze Methode und Weiſe, ſondern auch der größte
Theil des Materials ein Vermächtniß der älteren Jurisprudenz
iſt, und daß der Geiſt, in dem ſie gehandhabt ward, im Lauf
der Zeit wohl ein milderer, unmöglich aber ein ſtrengerer ge-
worden ſein kann.


Oberſter Grundſatz der Wortinterpretation nun, ſo wie ſie
ſich in der ſpätern Jurisprudenz erhalten, iſt, daß alles, was
gewollt, ausdrücklich geſagt ſein muß; was gewollt, aber nicht
geſagt, kommt nicht in Betracht, während umgekehrt was ge-
ſagt, aber nicht in dem Umfang gewollt iſt, gilt, ungeachtet in
beiden Fällen die Discrepanz des Wortes und Willens mit
[477]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
größter Sicherheit dargethan werden kann und auch dem Gegner
nicht unbekannt war. Wer in ſeinem Teſtament ſeinen Sklaven
zum alleinigen Erben einſetzt, gibt damit in der That aufs un-
zweideutigſte zu erkennen, daß er demſelben auch die Freiheit
zuwenden will, denn um Erbe zu werden, muß der Sklav frei
ſein. Allein frei werden und Erbe werden iſt zweierlei, es han-
delt ſich alſo um zwei an ſich völlig von einander unabhängige
Dispoſitionen, die Worte des Teſtators betreffen aber nur eine
derſelben, folglich wird der Sklave weder frei, noch Erbe. 613)
Wenn Jemand für den Fall, daß ſeine Kinder vor ihm ſterben
ſollten, einen Andern zum Erben einſetzt, ſo iſt offenbar ſeine
Vorſtellung die, daß im entgegengeſetzten Fall die Kinder erben
ſollen; man könnte letztere alſo auf Grund dieſer indirecten Be-
rückſichtigung, auch ohne daß ſie ſelbſt ausdrücklich eingeſetzt
ſind, aus dem Teſtament zur Erbſchaft berufen. Allein ſie ſind
nicht ausdrücklich eingeſetzt, und folglich iſt, da ſie auch nicht
ausdrücklich enterbt ſind, das Teſtament nichtig. 614) Aehnliche
Beiſpiele gewährt das Erbrecht in Menge, namentlich in der
Lehre von der Exheredation und Präterition. Der Vater kann
ſeine Kinder beliebig von der Erbſchaft ausſchließen, mithin
auch unter einer Bedingung. Geſetzt nun der Vater ernennt
den Sohn unter einer caſuellen Bedingung zum Erben, ſo iſt
offenbar ſeine Meinung, daß derſelbe für den entgegengeſetzten
Fall ausgeſchloſſen ſein ſoll. Allein er hätte dies ausdrücklich
ſagen müſſen, denn Einſetzung und Enterbung iſt zweierlei; —
das Teſtament iſt nichtig. 615) Die Nichtigkeit tritt ſelbſt dann
[478]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ein, wenn er ihn zwar für den entgegengeſetzten Fall ausdrück-
lich ausgeſchloſſen, aber nicht mit den hergebrachten Worten —
was jedoch in den folgenden Paragraphen gehört.


Es iſt Jemand dem Andern zur Eigenthumsübertragung
(dare) eines Sklaven verpflichtet, der Sklav erkrankt und ſtirbt
aus Mangel an Pflege oder ärztlicher Behandlung. Haftet der
Schuldner dafür? Nein, denn er hat ſich nur zum dare, nicht
zu einem facere verpflichtet. 616) Der Verkäufer hat für den
Fall der Entwährung der Sache die stipulatio dupli geleiſtet, es
wird jetzt ein Theil evincirt, haftet er? Nein! 617) Wie rück-
ſichtlich dieſes Punktes, ſo beſtimmen rückſichtlich aller andern
die Vertragsworte 618) genau den Umfang der Verpflichtung;
satis est, ſagt Cicero (de off. III, 16) von dem Rechte des
Verkaufs nach den XII Tafeln, ea praestari, quae sunt lingua
nuncupata.
Darum haftet der Verkäufer für keine Fehler und
Mängel, wenn er nicht ausdrücklich die Garantie übernahm,
ſelbſt wenn er ſie kannte. Erſt das ſpätere Recht hat hier, wie
in ſo vielen andern Fällen geholfen und den Anſpruch der
Partei auf Punkte ausgedehnt, deren im Vertrage ſelbſt keine
Erwähnung geſchehen war. 619)


Eine beträchtliche Ausleſe für unſern Zweck gewähren auch
die Geſchäfts- und Prozeßformeln. Die Faſſung dieſer Formeln
war eine außerordentlich prägnante; jedes Wort wog ſchwer.
[479]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Ob es z. B. in der Klagformel hieß: est oder erit, war für
die richterliche Aeſtimation vom größten Einfluß und ebenſo bei
der Einſetzung mehrer Erben oder dem Vermächtniß an mehre
Legatare, wie ſie aufgezählt, ob ſie z. B. durch et verbunden
oder einzeln neben einander genannt waren, oder ob zwei Lega-
taren zuſammen das Ganze oder jedem einzelnen die Hälfte ver-
macht war. Wer den Sinn und Einfluß dieſer Worte nicht
kannte, ſich derſelben vielmehr in naiver Weiſe ebenſo bediente,
wie er es im Leben gewohnt war, alſo z. B. meinte, daß zwei
Hälften, um es einmal paradox auszudrücken, gleich ſeien dem
Ganzen, und daß es auf ein et mehr oder weniger nicht an-
komme, konnte ſich und Andere dadurch ohne ſein Wiſſen im
höchſten Grad benachtheiligen; jenes Wörtchen et konnte für
einen der Erben ein Drittel der Erbſchaft bedeuten.


Für den Verkehr begründete dieſe Strenge der Interpreta-
tion die Möglichkeit und die Gefahr arger Uebervortheilungen.
Wer es verſtand, einer Vertragsberedung, über deren Sinn er
mit der Gegenpartei völlig einverſtanden war, bei der ſchrift-
lichen oder mündlichen Formulirung, je nachdem ſein Intereſſe
es erforderte, einen zu engen oder zu weiten Ausdruck zu geben,
der hatte gewonnenes Spiel, ſelbſt wenn er hätte einräumen
wollen, daß die beiderſeitige Abſicht auf etwas anderes gerichtet
geweſen, als die Worte ausſagten. Ebenſo ſtand es ihm frei,
das Recht des Gegners durch Umgehung des Vertrages
d. h. durch eine Handlungsweiſe, die den Worten entſprach,
der wirklichen Intention aber widerſtrebte, zu elidiren. 620) Die
[480]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
malitiosa juris interpretatio, wie Cicero (de off. I c. 10)621)
ſie nennt, war eine unvermeidliche Conſequenz der alten inter-
pretatio
überhaupt, der dolus, die fraus war legaliſirt und das
„summum jus“, die äußerſte Strenge in der Handhabung der
Worte, ſchlug daher nach der bekannten römiſchen Parömie, die
Cicero hierbei in Bezug nimmt, nicht ſelten in eine „summa
injuria“
um. Das ältere Recht kannte dagegen keine Hülfe, im
neuern konnte ſich bei den Verträgen des ſtrengen Rechts (bei
denen die Gefahr überall nur beſtand) der Kläger durch die
clausula doli, der Beklagte durch die exceptio doli ſchützen.


Uebrigens betrachte man dieſe Gefahr nicht mit heutigen
Augen. Sie war in der That ungleich geringer, als es den
Anſchein hat. Wo ein Wort den Ausſchlag gibt, pflegt man,
durch eignen oder fremden Schaden gewitzigt, die Worte ganz
anders abzuwägen, als wo eine Ungenauigkeit im Gebrauch
derſelben keine weitere nachtheiligen Folgen hat. Das natür-
liche Bedürfniß des Verkehrs führt hier von ſelbſt zu Siche-
rungsmitteln gegen jene Gefahr, die uns in dem Maße wenig-
ſtens unbekannt ſind. Dahin gehörte in Rom die Benutzung
der Geſchäftsformulare, von der im folgenden § die Rede ſein
wird, ſo wie die bereits §. 42 erwähnte Zuziehung eines Ju-
riſten bei Entwerfung des Vertragsinſtruments (das cavere).
Andererſeits verdient gegen jenen Nachtheil der Wortinterpre-
tation auch der in unſerer allgemeinen Betrachtung der Wort-
interpretation hervorgehobene Vortheil der Sicherheit, den ſie
dem Verkehr gewährt, in Gegenrechnung gebracht zu werden.
Wo das Wort und nichts als das Wort gilt, vermag keine Kunſt,
keine Deutung ein richtig gewähltes Wort zu entkräften, das Re-
ſultat der Interpretation iſt hier im voraus mit aller Gewißheit zu
berechnen, während dies bei der logiſchen Interpretation keines-
[481]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
wegs der Fall iſt, da die Subjectivität des Richters hier einen
ungleich größeren Spielraum hat. Gefährlich für den Unkun-
digen und Unvorſichtigen, war jene Strenge der Interpretation
für den Kundigen und Vorſichtigen eher vortheilhaft, als nach-
theilig.


Schließlich darf ich den Antheil nicht übergehen, den die-
ſelbe an der für das römiſche Recht ſo einflußreichen Ausbil-
dung einer feſten und prägnanten Kunſtſprache hatte. Die
Kunſtſprache des Verkehrs wird allerdings nicht von der Juris-
prudenz, ſondern von dem Verkehr ſelbſt gemacht, allein die Ju-
risprudenz kann ihn dazu zwingen, und das war eben in Rom
der Fall. Die ſcharfe Abgränzung der von dem Verkehr benutz-
ten Worte wie z. B. von dare und facere wird zuerſt von den
Juriſten geſchehen ſein, allein wirkliche Realität erhielt ſie erſt
dadurch, daß der Verkehr ſie reſpectirte oder reſpectiren mußte.
Aus demſelben Grunde erklärt ſich auch die in der literariſchen
Thätigkeit der römiſchen Juriſten, namentlich gegenüber der
unſerer heutigen, ſo entſchieden hervortretende juriſtiſch-lexi-
kaliſche
Richtung, ihre Erörterungen de verborum significa-
tione, de verbis priscis
u. ſ. w.


2. Interpretation der Geſetze.

Ein Mißgriff in den Worten gereicht bei dem Rechts-
geſchäfte bloß einer einzelnen Perſon zum Nachtheil und in der
Regel nicht ohne eignes Verſchulden, und der Schaden, den er
erzeugt, iſt ein vorübergehender. Ganz anders bei gleichem
Mißgriff von Seiten des Geſetzgebers, denn nicht bloß trifft
der Schaden hier eine unbegränzte Zahl ſchuldloſer Perſonen,
ſondern das Uebel iſt, wenn das Geſetz nicht aufgehoben wird,
ein dauerndes. In dieſer Verſchiedenheit mag es liegen, daß,
während an und für ſich die Interpretation der Rechtsgeſchäfte
und Geſetze unter denſelben Grundſätzen ſteht, die alte Juris-
prudenz ſich veranlaßt gefunden hat, die Strenge, die ſie dort
zur Anwendung brachte, hier in etwas zu ermäßigen. Aller-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 31
[482]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
dings ſpielt auch hier das Wort eine große Rolle, allein faſt in
ähnlicher Weiſe, wie die Auſpicien (B. 1 S. 327 u. fl.) d. h.
die einer principiell anerkannten und reſpectirten, aber, ſo wie
ſie mit gebieteriſchen Bedürfniſſen des Lebens in Widerſpruch
tritt, auf irgend eine Weiſe gefügig gemachten Autorität.


Wenn man ſich die von der Interpretation der alten Ge-
ſetze, namentlich der Zwölf Tafeln uns erhaltenen Beiſpiele ver-
gegenwärtigt, ſo kann man ſich kaum des Eindrucks erwehren,
daß die alte Jurisprudenz bei Auslegung der Geſetze ſtreng im
Geiſt der Wortinterpretation verfahren ſei, und ich glaube nichts
nutzloſes zu thun, wenn ich einige der ſchlagendſten Fälle her-
vorhebe.


Ich beginne mit den wenigen Worten der Zwölf Tafeln über
das Inteſtaterbrecht. Sie lauten: Si intestato moritur, cui
suus heres nec escit, agnatus proximus familiam habeto, si
agnatus nec escit, gentiles familiam habento.
Faſt jedes Wort
iſt hier die Quelle eines wichtigen Rechtsſatzes geworden und
zwar eines Rechtsſatzes, an den der Geſetzgeber ſelbſt gar nicht
gedacht hat, der alſo nicht in ſeinem Willen, ſondern nur in
dem Wort ſeinen Grund hat. Zuerſt das Wort: intestato.
Aus ihm folgerte man, daß wenn die Erbſchaft nur von einem
der mehren Teſtamentserben angetreten, die ausfallenden Theile
nicht, wie man erwarten könnte, an die Inteſtaterben gelang-
ten, denn die Bedingung, unter der ſie gerufen, war das in-
testato
mori
des Erblaſſers; weſſen Erbſchaft aber auch nur
von einem der mehren Teſtamentserben angetreten war, von
dem ließ ſich nicht behaupten, daß er intestatus geſtorben
ſei. Sodann das Wort: moritur. Hierauf ſtützte man das
Requiſit, daß wer zur Erbſchaft gelangen wolle, im Moment
des Todes des Erblaſſers (wenn auch nur im Mutterleibe) exi-
ſtirt haben müſſe. 622) Ferner: agnatus proximus. Das
[483]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Wort proximus mußte als Vorwand zur Ausſchließung der
successio graduum, die folgenden: si agnatus nec escit
zur Ausſchließung der successio ordinum dienen. Beide Paſ-
ſus nahm man nämlich im abſoluten Sinn, d. h. wenn ein
nächſter Agnat im Moment des Todes des Erblaſſers exi-
ſtirte
, am Leben war, mochte er im übrigen auch die Erb-
ſchaft ausgeſchlagen haben oder vor der Antretung verſtorben
ſein, ſo erklärte man den nächſt folgenden Agnaten nichts deſto
weniger für beſeitigt, weil er im Moment des Todes des Erb-
laſſers nicht der proximus geweſen, und ebenſo ließ man in dem
Fall die Gentilen nicht zu, weil ſie nur für den Fall: si agna-
tus nec escit
gerufen waren, der ſpätere Tod oder Verzicht
des Agnaten aber die Exiſtenz deſſelben nicht ungeſchehen
machte. Es war dies in der That ein Muſterſtück der Wort-
interpretation, denn bei unbefangener Betrachtung kann man
ſich doch nicht verhehlen, daß bei der Inteſtaterbfolgeordnung
der Entferntere nicht an ſich und ſchlechthin, ſondern nur im
Intereſſe des Näheren ausgeſchloſſen iſt, daß mithin, wenn
letzterer ſpäter ausfällt, kein Grund abzuſehen iſt, warum der
Entferntere nicht einrücken ſoll, da er, wenn auch nicht abſolut,
ſo doch relativ für dieſe Erbſchaft jetzt der Nächſte geworden iſt.
Wir würden daher, wenn jene Ausdrücke in einem heutigen
Geſetz vorkämen, ſie im relativen Sinn interpretiren d. h.
ſagen: der nächſte Agnat iſt derjenige, dem für dieſe Erb-
ſchaft
kein näherer im Wege ſteht, und ebenſo ſind die Genti-
len zuzulaſſen, wenn in dieſem Sinn kein Agnat exiſtirt d. h.
kein Erbrecht geltend machen kann oder will.


Eine lex Atilia ſetzte feſt, daß Perſonen, die eines Tutors
bedürften, deſſelben aber entbehrten, von Amtswegen ein ſolcher
gegeben werde. Ueber den Fall, wenn zwar ein Tutor vorhan-
den
, derſelbe aber z. B. wegen Wahnſinns, Taubheit u. ſ. w.
622)
31*
[484]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
zur Führung der Vormundſchaft abſolut unfähig war, hatte das
Geſetz ſich nicht ausgelaſſen. Wie war hier zu entſcheiden? Wir
heutigen Juriſten würden hier, vom Zwecke der Vormundſchaft
aus, folgendermaßen argumentiren. Ob überall kein Vormund
exiſtirt oder derſelbe unfähig iſt, ſteht ſich völlig gleich; wenn
alſo das Geſetz dem Bedürfniß nach Vormündern Abhülfe gewäh-
ren will, ſo muß die Beſtimmung deſſelben in dem einen ſowohl wie
in dem andern Fall Platz greifen. Die alte Jurisprudenz hingegen
hält ſich hier an die Worte des Geſetzes, welche den Perſonen,
„die keine Vormünder haben,“ einen ſolchen zu beſtellen be-
fehlen. 623) Eine Perſon, ſagt ſie, deren Vormund wahnſinnig
oder ſonſt unfähig iſt, hat einen Vormund. Es bedurfte erſt
verſchiedener Senatsbeſchlüſſe, um dieſe Doctrin nach allen An-
wendungen hin zu beſeitigen. 624)


Als letztes Beiſpiel möge genannt ſein die bereits bei einer
früheren Gelegenheit (S. 190) berückſichtigte Stelle der Zwölf
Tafeln über den Verkauf des Sohnes von Seiten des Vaters:
Si pater filium ter venumduit, filius a patre liber esto. Die
Stelle erwähnte bloß den „filius,“ während es doch ſchwerlich
die Abſicht des Geſetzes geweſen, ſich lediglich des Sohnes an-
zunehmen, Töchter und Enkel aber gänzlich ſchutzlos zu laſſen.
Die ſpätern Juriſten würden den Ausdruck filius, wie ſie es
ſonſt thun, 625) auch auf letztere erſtreckt haben, allein die ältern
bezogen ihn ſtreng wörtlich nur auf den Sohn.


So ſcheint alſo nach allen dieſen Beiſpielen ein abſolutes
Haften am Wort der Charakterzug der ältern Interpretation zu
ſein. Allein, wie bereits bemerkt, es iſt Schein. Um uns da-
von zu überzeugen, ſtellen wir zunächſt eine Reihe anderer Fälle
[485]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
zuſammen, in denen die Jurisprudenz dem Wort entſchieden den
Gehorſam aufgekündigt hat.


Die Zwölf Tafeln ſetzten die Uſucapionsfriſt für den „fun-
dus“
auf zwei, für die „ceterae res“ auf ein Jahr. Wozu ge-
hörten nun die Häuſer? Bei ſtrenger Wortinterpretation offenbar
zu den ceterae res,626) allein die Interpretation ſtellte ſie prak-
tiſch aus gutem Grunde dem fundus gleich. Das Recht des Eigen-
thümers, Obſt, Früchte u. ſ. w., die auf des Nachbarn Grund-
ſtück gefallen, aufzuleſen, ſtammt aus den Zwölf Tafeln, 627) allein
der Ausdruck des Geſetzes war theils zu eng, theils zu weit.
Denn einmal ſprach daſſelbe bloß von glans (Eichel oder eichel-
ähnliche Frucht z. B. Kaſtanien) und ſodann fügte es für die
Ausübung gar keine Beſchränkung hinzu. Hätte man hier wört-
lich interpretiren wollen, ſo hätte man alle andern Früchte außer
der genannten Art ausnehmen und andererſeits dem Eigenthü-
mer die Befugniß einräumen müſſen, jeder Zeit, z. B. alſo auch
bei Nacht das Grundſtück der Nachbarn zu betreten. Beides iſt
nicht geſchehen. 628) Das Geſetz enthält ferner die Beſtimmung,
daß der Sklave, dem der Herr im Teſtament gegen Entrichtung
eines beſtimmten Löſegeldes die Freiheit vermacht hatte, das
Löſegeld nicht bloß dem Erben, ſondern, wenn letzterer ihn ver-
äußert hatte, dem „emtor“ zahlen dürfe. Dieſen Ausdruck
nahm man im weiteſten Sinn für jeden, der das Eigenthum
am Sklaven erworben habe. 629) Ebenſo dehnte man den Aus-
[486]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
druck patronus auch auf die Kinder des Patrons aus. 630) Die
Worte der Zwölf Tafeln, auf die ſich die act. aquae pluviae ar-
cendae
ſtützte, lauteten: si aqua pluvia nocet. Wollte man wört-
lich interpretiren, ſo mußte man die Klage auf den Fall beſchränken,
wenn ein Schaden bereits geſchehen, allein die Jurisprudenz faßte
das nocet auf im Sinne von: Schaden droht. 631) Bei der Inteſtat-
erbfolge rief das Geſetz den suus und agnatus proximus. Wollte
man hier die masculiniſche Form urgiren, ſo war das weibliche
Geſchlecht von der Inteſtaterbfolge ausgeſchloſſen. Und ſelbſt
das Erbrecht der männlichen sui hätte man wegdisputiren kön-
nen, da das Geſetz es ihnen nicht ausdrücklich ertheilt, ſondern
es nur ſtillſchweigend vorausgeſetzt hatte. Ja, wer die Worte:
si intestato moritur ſtreng wörtlich nehmen wollte, mußte ſo-
gar zu dem Reſultate gelangen, daß die Inteſtaterbfolge in dem
Fall ausgeſchloſſen ſei, wenn der Erblaſſer mit Hinterlaſſung
eines Teſtaments geſtorben, einerlei ob die eingeſetzten Erben
angetreten oder ausgeſchlagen hatten. Ueber das teſtamenta-
riſche Erbrecht enthalten die Zwölf Tafeln nur den einen bekannten
Satz: uti legassit super pecunia tutelave suae rei ita jus esto.
Wohin würde es geführt haben, wenn man dieſen Satz in dem
Umfange hätte gelten laſſen, wie er lautete! Von einem Ein-
fluß der capitis deminutio des Teſtators, von dem Requiſit der
Erbfähigkeit der Erben u. ſ. w. hätte dann gar keine Rede ſein
können. Dieſe und andere Beſchränkungen wurden alſo gegen
den Wortlaut von der Jurisprudenz in das Geſetz hineinge-
tragen. 632)


Doch genug! Die angeführten Beiſpiele lehren zur Ge-
nüge, daß die alte Jurisprudenz ſich nicht, unbekümmert um
[487]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
das Reſultat, bei der Auslegung der Geſetze blindlings dem
Wort dahin gegeben, ſondern für die Anforderungen der Ver-
nunft und die Bedürfniſſe des praktiſchen Lebens ein offnes Auge
hatte und ihnen entſprechend das Geſetz zu deuten wußte. Dazu
war doch trotz aller Verehrung für das Wort der Sinn der Rö-
mer zu geſund, als daß ſie bei einem Mißgriff im Ausdruck von
Seiten des Geſetzgebers ihre beſſere Ueberzeugung und die In-
tereſſen des Lebens ſklaviſch dem Buchſtaben geopfert hätten.
Darum iſt denn auch die Vermuthung berechtigt, daß in jenen
obigen Fällen, wo ſcheinbar das Wort den Sieg davon trug, in
der That dieſer Sieg ein aus anderen Gründen erwünſchter
war m. a. W. daß man das Reſultat wollte und das Wort
nur als erwünſchten Vorwand, als äußeren geſetzlichen An-
haltspunkt benutzte. Um davon an den obigen Beiſpielen die
Probe zu machen, ſo hätte es, wenn man ſonſt nur die teſta-
mentariſche und Inteſtaterbfolge für verträglich mit einander ge-
halten, keine Schwierigkeit verurſacht, die Worte: si intestato
moritur
damit zu vereinigen. Nahm man doch auch in der
auf S. 486 angegebenen anderen Beziehung das Wort: in-
testatus
nicht im ſtrengen Sinn. Die Benutzung des Wortes:
moritur für den Satz, daß der Erbe im Moment des Todes des
Erblaſſers gelebt haben müſſe, war gleichfalls nur ein Vor-
wand, der entgegengeſetzte Satz hätte ſich mit dieſem Wort eben
ſo wohl vertragen. In dem Fall, wenn die Teſtamentserben
ausgeſchlagen hatten, hatte man ja dies Wort nicht auf die To-
deszeit des Teſtators, ſondern auf den Moment der Eröffnung
der Inteſtaterbfolge bezogen. Die Ausſchließung der successio
graduum
und ordinum auf Grund der angeführten Worte der
Zwölf Tafeln ſcheint mit der Tendenz zuſammenzuhängen, den
von dem Geſetz in keiner Weiſe berückſichtigten bloßen Blutsver-
wandten (cognati) einen Zugang zum Nachlaß zu gewähren —
einer Tendenz, die in ſpäterer Zeit wenigſtens aufs unzweideu-
tigſte hervortritt und einen der Hauptzwecke der prätoriſchen Bo-
norum Possessio
bildete.


[488]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Zum richtigen Verſtändniß der ſo auffälligen Interpretation
der lex Atilia (S. 483 unten) muß man ſich erinnern, daß die
Vormundſchaft im älteren Recht einen ganz andern Charakter an
ſich trug, als in unſerm heutigen. Die heutige Vormundſchaft
iſt ausſchließlich eine Schutzanſtalt im Intereſſe des Mündels,
die altrömiſche war zugleich ein Recht des Vormundes. Ging
die patria potestas, die doch nicht minder als die Tutel den
Beruf zur Erziehung und zum Schutz der ihr unterworfenen
Perſonen in ſich ſchloß, durch Wahnſinn und ſonſtige Unfähig-
keit des Vaters zur Erfüllung dieſes Berufes nicht unter, eben
weil ſie ein Recht war (ſo wenig wie in gleichem Falle die
manus des Mannes über ſeine Frau), ſo konnte man daſſelbe
auch bei der Tutel gelten laſſen, und wir ſind daher nicht zu
der Annahme genöthigt, als ob man bloß aus Rückſichten der
Wortinterpretation ſich einen Rechtsſatz hätte gefallen laſſen,
den man im übrigen für verkehrt hielt. Daß derſelbe ſpäter auf-
gehoben ward, ſpricht nicht dagegen, denn es hängt mit dem
Umſchwung in der ganzen Auffaſſung der Vormundſchaft zu-
ſammen.


Mit dem letzten der obigen Beiſpiele, dem Satz über den
Verkauf des Sohnes hat es dieſelbe Bewandniß, wie mit der
Ausſchließung der successio graduum et ordinum d. h. man
urgirte abſichtlich das Wort, um die Beſtimmung, die es ent-
hält, möglichſt einzuſchränken; die Wortinterpretation war eine
tendentiöſe. Dem Verkaufsrecht des Vaters war ſchon zur
Zeit der Zwölf Tafeln das beſſere Gefühl des Volks abhold, die
Beſchränkung, der das Geſetz dies Recht unterwarf, legt davon
Zeugniß ab. Unter dem Einfluß derſelben Stimmung ſchränkte
nun die Jurisprudenz die Beſtimmung des Geſetzes auf den
Sohn ein und ließ — und darin eben liegt der unwiderſprech-
liche Beweis der Tendenz — Töchter und Kinder durch ein-
maligen
Verkauf von der Gewalt frei werden. Hätte man
unbefangen verfahren wollen, ſo hätte der Schluß nicht ſo
gelautet: weil das Geſetz nur den Sohn nennt, ſo werden
[489]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Töchter und Enkel durch einmaligen Verkauf frei, ſondern:
ſo iſt rückſichtlich ihrer das dem Vater an ſich zuſtändige Ver-
kaufsrecht keiner Beſchränkung unterworfen. Das eben aber
war es, was man vermeiden wollte!


Auf Grund der bisherigen Ausführung wird ſich die be-
reits früher S. 70 angedeutete Behauptung rechtfertigen, daß
das Verhältniß der alten Jurisprudenz zu dem Geſetz keines-
wegs das einer rückhaltsloſen Unterordnung unter den Buch-
ſtaben deſſelben war, wie das Weſen der ſtrengen Wortinterpre-
tation es mit ſich bringt, ſondern ich möchte faſt ſagen, ein
freieres, als es unſere heutige Jurisprudenz einnimmt. Denn
ſie beſchied ſich nicht bloß aus zulegen, ſondern ſie legte unter,
ſie drehte und deutete das Geſetz, wie ſie es haben wollte, ſie
ſtellte ſich, wenn auch der Form nach unter, doch der Sache
nach über das Geſetz. Daß manche ihrer Auslegungen weder
den Worten, noch dem Sinn des Geſetzes entſprachen, daß ſie
mit den Worten des Geſetzes hie und da geradezu ein Spiel
trieb, das kann ſie ſich ſelbſt unmöglich verhehlt haben. Nicht
die Frage nach der Richtigkeit der Auslegung, ſei es der
bloßen Worte, ſei es des legislativen Gedankens, entſchied über
die Annahme oder Verwerfung derſelben, ſondern die Frage von
der praktiſchen Angemeſſenheit derſelben. Oder hätten in
der That die alten Juriſten ſo blöden Auges ſein ſollen, daß ſie
nicht geſehen, auf wie ſchwachen Füßen ſo manche von ihren
Auslegungen ſtand? Sie wollten es nicht ſehen, es war
Sache einer ſtillſchweigenden Convention, es mit dem, was
Noth that, rückſichtlich der Gründe nicht ſo genau zu nehmen.
Das praktiſche Bedürfniß, das Intereſſe der juriſtiſchen Kunſt,
kurz Rückſichten, die der Auslegung als ſolcher fremd ſind, ſaßen
bei der Auslegung des Geſetzes mit zu Rathe, und die Ueber-
zeugung von dem innern Werth der aufgeſtellten Anſicht be-
ruhigte das Gewiſſen des Exegeten über die Schwäche ihrer äuße-
ren Begründung. Als die Zeit es mit ſich brachte, für die Er-
haltung des Vermögens im Mannsſtamm Vorſorge zu treffen,
[490]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
und wahrſcheinlich noch bevor die lex Voconia das Beiſpiel zu
einer Verkürzung des Erbrechts der Weiber gegeben hatte, fan-
den die Juriſten subtilitate quadam excogitata, wie Juſti-
nian 633) ſagt, daß das Zwölftafelngeſetz das Inteſtaterbrecht
der Weiber auf agnatiſche Schweſtern hatte einſchränken wollen.
Mit welcher Stirn hätte ein Juriſt eine ſolche Behauptung vor-
bringen dürfen, wenn er ſich nicht eben bewußt geweſen, daß er
nicht ſowohl das Geſetz auszulegen, als daſſelbe den Intereſſen
und Bedürfniſſen der Zeit anzupaſſen den Beruf habe? Mit
dem Wechſel dieſer Bedürfniſſe wechſelte daher auch die Inter-
pretation. Zu einer gewiſſen Periode bedurfte es der Uſucapion
der Erbſchaft, und ſie war da, zu einer andern Periode war ſie
nicht mehr nöthig, und ſie verſchwand, oder, wie Gajus ſagt, 634)
man hielt es jetzt nicht mehr für möglich, daß Erbſchaften uſu-
capirt werden könnten! Kurz! das tendentiöſe Element
der älteren Interpretation ſcheint mir ganz unbeſtreitbar.


Ich bin aber weit entfernt, ihr daraus einen Vorwurf zu
machen, im Gegentheil, glaube ich, darf man es der alten Ju-
risprudenz zum Lobe anrechnen, daß ſie, anſtatt ſich blindlings
dem Geſetz unterzuordnen, daſſelbe vielmehr den Bedürfniſſen
des Lebens und den Anforderungen der Zeit anzupaſſen ver-
ſuchte. Sie läßt ſich in dieſer Beziehung als Vorgängerin des
Prätors bezeichnen, und was von letzterem, gilt auch von ihr.
Beide haben eine ſehr beträchtliche rechtsbildende Thätigkeit aus-
geübt und zwar nicht ſelten auf Koſten des geſetzlichen
Rechts, während ihr Beruf doch nur darin beſtand, die Geſetze
anzuwenden oder die Anwendung zu vermitteln. Aber ge-
rade dieſer Beruf gewährte beiden die Gelegenheit, den Werth
oder Unwerth derſelben, ihre Mängel, Lücken, ihre urſprüng-
liche oder erſt im Lauf der Zeit eingetretene praktiſche Unange-
meſſenheit, Unhaltbarkeit, wie kein Anderer, kennen zu lernen,
[491]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
und ſo lange man es nicht dahin gebracht haben wird, in den
Perſonen, die mittelbar oder unmittelbar dem Recht dienen,
allen geſunden Sinn und alles Gefühl zu erſticken, wird die
Oppoſition gegen ein unhaltbares Geſetz immer zuerſt gerade
von denen ausgehen, die ihm am nächſten ſtehen. In der Theo-
rie möge man dies verdammen, wie man will, dem Richter na-
mentlich noch ſo ſehr die Pflicht einprägen, ſeinem Urtheil über
die Unangemeſſenheit des Geſetzes keine praktiſche Folge zu ge-
ben, die Thatſache wird dadurch nicht anders: dem Verdam-
mungsurtheil der Juriſten iſt auf die Dauer kein
Geſetz gewachſen
. Abſichtlich oder unabſichtlich wird die
Hand des Richters läßig, der Arm der Gerechtigkeit erlahmt, der
Scharfſinn des Exegeten bietet alle ſeine Erfindungskraft auf, das
Geſetz zu durchlöchern und unterminiren, Vorausſetzungen hin-
einzutragen, von denen das Geſetz nichts wußte und wollte, die
Worte, je nachdem es Noth thut, im weitern oder engern Sinn
zu deuten, und wie durch ſtillſchweigende Verſchwörung finden
auch die erzwungenſten Deductionen Eingang und willigen Glau-
ben — auch die Logik fügt ſich dem Intereſſe. Dieſer
ſtille Krieg der Juriſten gegen das Geſetz wiederholt ſich überall,
wo ein Geſetz zu einer Unmöglichkeit geworden und doch von der
Staatsgewalt nicht zurückgenommen wird. Es iſt die natürliche
Reaction des Rechtsgefühls gegen eine eclatante Mißachtung
deſſelben von Seiten der Geſetzgebung. Ein Beiſpiel aus neue-
rer Zeit bietet uns die Geſchichte der peinlichen Halsgerichtsord-
nung. In demſelben Maße, in dem der Widerſpruch ſtieg, den
die veränderte Gefühls- und Denkweiſe einer ſpäteren Zeit gegen
die Härte ihrer Strafbeſtimmungen erhob, in demſelben Maße
ward die Kunſt ihrer Interpreten erfinderiſcher, dieſe Härten zu
beſeitigen, und es konnte ſich gar Einer derſelben rühmen, daß
er auch nicht einen Buchſtaben mehr habe ſtehen laſſen. Be-
trachtet man derartige Tendenzinterpretationen, wie wir deren
oben einige zur Probe angeführt haben, mit unbefangenem
Auge d. h. vergißt man oder weiß man von vornherein nicht,
[492]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
welche Bewandniß es mit ihnen hat, ſo begreift man nicht, wie
ſie bei ihrer völligen Unhaltbarkeit, bei ihrer offenſichtlichen Un-
wahrheit nur den geringſten Beifall haben finden, ja wie ſie
nur von irgend Jemand im Ernſt haben aufgeſtellt werden kön-
nen. 635)


Dies iſt der Geſichtspunkt, aus dem wir die alte Interpre-
tation zu beurtheilen haben. Materiell war das, was ſie
einführte, gewiß völlig untadelhaft, durch ein gebieteriſches Be-
dürfniß des Lebens motivirt, und in dieſer Beziehung würde man
ſehr Unrecht thun, den Vorwurf, den Cicero 636) den früheren
Juriſten machte, daß ſie das alte Recht corrumpirt hätten, für
einen ernſtgemeinten zu halten. Der Impuls zu dieſer angeb-
lichen Corruption ging nicht von ihnen, ſondern von der Nation
aus, und hätten ſie auch der Strömung der Zeit Widerſtand
leiſten wollen, ſo würde dieſelbe ſich in anderer Weiſe Bahn ge-
brochen haben. Aber eben weil und inſoweit ihre Kunſt ausreichte,
das Nöthige zu beſchaffen, bedurfte es keiner Thätigkeit der Ge-
ſetzgebung, und letztere wird regelmäßig nur da eingegriffen ha-
ben, wo die Jurisprudenz ſich außer Stand ſah, ſie zu ge-
währen.


[493]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.

So verdient denn die alte Interpretation für ihre Zeit in der
That daſſelbe Prädicat, das man ſpäter dem Prätor beilegte, das
einer viva vox juris civilis, eines lebendigen Organs des Rechts,
nicht eines bloßen Sprachrohrs deſſelben. Dem Namen nach eine
bloße Erklärung, waren ihre Auslegungen in der That eine
wahre Umgeſtaltung und Weiterbildung des Geſetzes im Geiſt
der Zeit, eine wahre Production. So faßten auch die Römer,
wenigſtens in ſpäterer Zeit, die Sache auf, denn ſie bezeichneten
die älteren Juriſten als veteres, qui tunc jura condiderunt,637)
und ſprachen von einem eignen Juriſtenrecht (jus civile im en-
gern Sinn). 638) So ſehr man aber einerſeits den materiell-
productiven Charakter dieſer alten Doctrin betonen darf, ſo we-
ſentlich gehört zu ihrer Charakteriſtik auch das andere von mir
hervorgehobene Moment, der formelle Anſchluß derſelben an
die Geſetzgebung, und auch dies wird von den Römern ſelbſt
bemerkt. 639) Es iſt, als ob die Jurisprudenz ſich damals noch
nicht, wie in ſpäterer Zeit, getraut hätte, den ſchöpferiſchen Be-
ruf, den ſie der Sache nach einmal hat und nirgends mehr aus-
übte, als in Rom, geradezu und offen in Anſpruch zu nehmen;
daher ſtets das Beſtreben nach einer Deckung durch das
Geſetz
. Wäre uns eine genauere Einſicht in ihre Entwicklungs-
geſchichte verſtattet, wir würden gewiß noch für manche von
ihren Sätzen die Fäden finden, mit denen ſie dieſelben, wenn
auch noch ſo loſe und äußerlich mit dem Geſetz verknüpft hatte.


Ich habe eine Frage bis auf den Schluß verſpart, weil
ſie, obgleich ſie dem Zuſammenhang nach an einen frühern Ort
gehört, mir doch erſt hier ihre Erledigung finden zu können
ſcheint. Es iſt nämlich die: wie betrachtete die alte Interpreta-
tion die Umgehung der Geſetze? Dem Princip der Wortinter-
[494]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
pretation gemäß hätte ſie dieſelbe wie bei Rechtsgeſchäften, ſo
auch bei Geſetzen für ſtatthaft erklären müſſen. Denn die Um-
gehung des Geſetzes enthält ja keinen Verſtoß gegen die Worte,
ſondern nur gegen die wirkliche Abſicht des Geſetzes, 640) mit-
hin gegen ein Moment, das die Wortinterpretation als ſolche
grundſätzlich nicht kennt. Das poſitive Material, das uns zur
Beantwortung dieſer Frage zu Gebote ſteht, iſt außerordentlich
dürftig. Einerſeits werden uns zwar Fälle der Umgehung der
Geſetze aus alter Zeit berichtet, ſo namentlich der Zinsgeſetze, 641)
der Geſetze über die Provocation, 642) allein Verſuche zur Um-
gehung von Geſetzen kommen jederzeit vor, es fragt ſich nur,
wie das Recht ſie anſieht und behandelt, darüber aber verſagen
uns die Berichte in jenen Fällen eine beſtimmte und ſichere Ant-
wort, obgleich allerdings durchzuſchimmern ſcheint, daß die Ver-
ſuche zur Umgehung mit Erfolg gekrönt geweſen ſeien, das
Recht letztere alſo für legal gehalten habe. Nur in einem ein-
zigen Fall wird uns, ſo viel mir bekannt, eine ganz beſtimmte
und unzweideutige Auskunft gegeben, und hier zwar eine ganz
andere, als wir erwarten mußten. Licinius Stolo, der bekannte
Urheber der nach ihm benannten Rogationen, hatte ſein eignes
Ackergeſetz dadurch umgangen, daß er ſeinen Sohn emancipirt
und den das geſetzliche Maß überſteigenden Theil ſeines Grund-
beſitzes ihm übertragen hatte, und darauf hin ward er, wie Li-
vius 643) ſagt, nach ſeinem eignen Geſetz verurtheilt, quod eman-
cipando filium fraudem legi fecisset.
Die Glaubwürdigkeit
dieſes Zeugniſſes läßt ſich nicht in Zweifel ziehen, allein es
würde meiner Meinung nach übereilt ſein, wenn man dadurch
[495]Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
die ganze Frage für entſchieden hielte. Denn der Richter, der
den Licinius verurtheilte, war das Volk, 644) und wenn man
weiß, wie daſſelbe bei Ausübung ſeiner Strafgerichtsbarkeit
verfuhr (S. 43 fl.), wird man ſchwerlich den Schluß von ihm
auf den gewöhnlichen Richter für ſtringent halten. Jedenfalls
verdient gegenüber dieſem einzigen Zeugniß auf der andern
Seite in die Wagſchale geworfen zu werden, daß unter den
Scheingeſchäften des ältern Rechts nicht wenige ſich befanden,
die geradezu eine Umgehung geſetzlicher Beſtimmungen enthiel-
ten, 645) ſo wie daß die Geſetzgebung ſelbſt in Fällen, wo ſie ſich
ſcheute, ein früheres Geſetz direct und ausdrücklich aufzuheben,
ſich des Mittels einer Umgehung deſſelben bediente. 646) In
einer Zeit, die die Umgehung des Geſetzes mit unſern heutigen
Augen oder denen der ſpäteren römiſchen Juriſten angeſehen
hätte, wäre beides wohl nicht möglich geweſen. Vielleicht ver-
hält es ſich nun mit dieſer Frage, wie mit der Wortinterpreta-
tion der Geſetze überhaupt d. h. die Jurisprudenz erkannte die
Berechtigung der Umgehung des Geſetzes im Princip an, und
fußte ſelbſt darauf mit ihren Scheingeſchäften, wußte aber
nichts deſto weniger im einzelnen Fall, wo die Verſtattung des
Umweges dem Rechtsgefühl oder höhern Intereſſen widerſtrebte,
irgend ein künſtliches Mittel zu finden, um ihn abzuſperren.


[496]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

III. Der Formalismus.

1. Das Weſen deſſelben im allgemeinen.

Begriff des formellen und formloſen Geſchäfts — Kritik des For-
malismus vom praktiſchen und ethiſchen Standpunkt — allge-
gemeine und beſondere Vortheile und Nachtheile der Form, wech-
ſelndes Verhältniß beider — die hiſtoriſchen Gründe des Forma-
lismus — die Macht des Sinnlichen und der Formenſinn.


XLV. Von allen Charakterzügen des älteren Rechts drängt
ſich in dem Maße kein anderer ſofort auch der oberflächlichſten
Betrachtung auf, als das durch und durch formelle Gepräge
deſſelben. Liegt dies an uns, an unſerm einer ſolchen Erſchei-
nung im heutigen Recht minder gewöhnten und darum beſon-
ders dafür empfänglichen Auge? Gewiß nicht! Dieſer Cha-
rakterzug iſt objectiv der am ſchärfſten ausgeprägte, am conſe-
quenteſten durchgeführte; ſelbſt der Gedanke der Freiheit, der
ihm im übrigen am nächſten kömmt, und der wie er durch das
ganze Recht, das öffentliche wie das Privatrecht geht, ſelbſt er
kann ſich nicht mit ihm meſſen. Kein materielles Princip ver-
ſtattete eine ſo rückſichtsloſe, ungehemmte Durchführung, wie
das der Form, kein Element des alten Rechts hat ſich ſo lange
erhalten; die römiſchen Formen haben die römiſche
Freiheit überlebt
.


Es iſt ein eigenthümliches Verhältniß, welches gerade zwi-
ſchen dieſen beiden Fundamentalgedanken des römiſchen Rechts
obwaltet. Scheinbar ſich widerſprechend — denn der höchſten
Freiheit des materiellen Wollens, welche der eine gewährt,
ſetzt der andere die äußerſte Gebundenheit in formeller Be-
ziehung entgegen — ſcheinbar ſich widerſprechend verrathen ſie
durch den Parallelismus ihrer Entwicklungslinien,
daß ſie ſich gegenſeitig bedingen und durch eine geheime Wechſel-
beziehung aufs engſte aneinander gekettet ſind. Die Blüthezeit
der Freiheit iſt zugleich die Periode der peinlichſten Strenge in
[497]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
der Form, dem allmähligen Verfall jener entſpricht das Nach-
laſſen der Strenge auf dieſer Seite, und als jene völlig gebro-
chen und unter dem fortgeſetzten Druck des Cäſaren-Regiments
den letzten Reſt deſſen, was noch an alter Kraft in ihr war,
ausgeathmet hatte, folgten auch die Formen und Formeln des
alten Rechts ihr bald nach; und würde es nicht ſchon an ſich
zum Nachdenken auffordern, daß ihre Beſeitigung gerade in
eine Zeit fällt, wo ſich das ſouveräne Belieben unverhüllt und
offen als oberſtes ſtaatsrechtliches Princip auf den Thron ge-
ſetzt hatte: die Zeit der byzantiniſchen Kaiſer, die Leichenrede,
mit der letztere dieſelben begleiteten, die Abneigung und Gering-
ſchätzung gegen die, die ſich in ihr ausſpricht, 647) müßte uns
über das Verhältniß zwiſchen der Freiheit und der Form die
Augen öffnen. Die Form iſt die geſchworene Feindin
der Willkühr, die Zwillingsſchweſter der Freiheit
.
Denn die Form hält dem Verſucher, der die Freiheit zur Zügel-
loſigkeit zu verleiten ſucht, das Gegengewicht, ſie lenkt die Frei-
heitsſubſtanz in feſte Bahnen, daß ſie ſich nicht zerſplittern, und
kräftigt ſie dadurch nach innen und ſchützt ſie nach außen. Feſte
Formen ſind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der
Freiheit ſelber und andererſeits eine Schutzmauer gegen äußere
Angriffe, — ſie laſſen ſich nur brechen, nicht biegen — und wo
ein Volk ſich wirklich auf den Dienſt der Freiheit verſtanden,
da hat es inſtinctiv auch den Werth der Form herausgefühlt
und geahnt, daß es in ſeinen Formen nicht etwas rein Aeußer-
liches beſitze und feſthalte, ſondern das Palladium ſeiner
Freiheit
.


Schon dieſe erſte Beobachtung, die wir an dem Object un-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 32
[498]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſerer Betrachtung gemacht haben, muß uns lehren, daß wir
es hier nicht mit einer rein äußerlichen Erſcheinung, ſondern
mit einem Gegenſtand von tief innerlicher Bedeutung zu thun
haben. Hätte die Rechtsphiloſophie oder die poſitiv-romaniſti-
ſche Jurisprudenz, die beide die dringendſte Veranlaſſung hat-
ten, dieſe Bedeutung feſtzuſtellen, ſich der Aufgabe unterzogen,
ich würde nicht nöthig haben, mir auch hier wieder durch eine
Unterſuchung allgemeinerer Art den Weg zur hiſtoriſchen Dar-
ſtellung zu bahnen. Allein der Rechtsphiloſophie war die Frage
wohl zu ſpeciell und ſtofflich und der poſitiven Jurisprudenz
umgekehrt zu abſtract, 648) und ſo glaube ich nicht an ihr vor-
übergehen zu dürfen.


Der Gegenſatz von Inhalt und Form wird wie von den
Dingen der äußern Natur, ſo auch von denen des Geiſtes ge-
braucht, wir ſprechen von den Formen der Gefühle, des Gedan-
kens, des Willens u. ſ. w. und verſtehen darunter die Mittel,
in denen die inneren Vorgänge, Ideen, Empfindungen, Ent-
ſchlüſſe u. ſ. w. Ausdruck und äußere Exiſtenz gewinnen. In
beiden Anwendungen aber hat der Gegenſatz keine reale Exi-
ſtenz: er iſt nichts als eine Abſtraction; unter Form verſtehen
wir den Inhalt von Seiten ſeiner Sichtbarkeit. Eben darum
aber ſetzt die Form ſtets den Inhalt voraus; es gibt weder
einen Inhalt ohne Form, noch eine Form ohne Inhalt. Der
Schein des Gegentheils hängt mit dem Wechſel der Form
zuſammen; der ſchließlichen Form, die wir dem Inhalt ent-
[499]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
gegenſtellen, geht nicht ein Inhalt ohne Form, ſondern ein
Inhalt in anderer Form voraus.


In dieſer Weiſe verhält es ſich mit dieſem Gegenſatz auch bei
dem Gegenſtand unſerer Betrachtung, dem rechtlichen Wil-
len
. Die Annahme deſſelben iſt bedingt durch ſeine Erkennbar-
keit, letztere durch ſeine Aeußerung. In dieſem Sinn gibt es
alſo keinen formloſen Willensact — ein Wille ohne Form wäre
gleich dem Lichtenbergſchen Meſſer ohne Klinge, dem der Stiel
fehlt. Wenn wir nichts deſto weniger von formloſen Willens-
erklärungen reden, ſo liegt auf der Hand, daß der Ausdruck
Form hier eine andere und zwar engere Bedeutung haben muß.
Damit aber hat es folgende Bewandniß.


Das Recht kann dem Willen rückſichtlich der Mittel ſeiner
Aeußerung im Rechtsgeſchäft649) entweder völlige Freiheit
laſſen, ſo daß alſo jedwedes Mittel, ſei es das Wort, die Hand-
lung, das Zeichen und unter Umſtänden ſelbſt das Schweigen,
inſofern nur der beſtimmte Willensinhalt daraus mit Sicherheit
entnommen werden kann, zur Hervorbringung der beabſichtigten
Wirkung ausreicht, oder aber es kann ihn in der Wahl dieſer
Mittel beſchränken und zwar entweder ſo, daß es die Erreichung
des beabſichtigten Zwecks an die Benutzung einer beſtimmten
Aeußerungsform knüpft, ſo daß alſo im Unterlaſſungsfall ent-
weder gar keine Wirkung (Strafe der Nichtigkeit) oder nicht
die volle Wirkung 650) eintritt, oder aber in der Weiſe, daß die
Nichtbeachtung der Form, ohne das Rechtsgeſchäft ſelbſt in
irgend einer Weiſe zu afficiren, für den Urheber deſſelben eine
von letzterem völlig unabhängige Strafe z. B. eine fiscaliſche
Geldſtrafe 651) nach ſich zieht. Nur die in der erſten Weiſe po-
32*
[500]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſtulirten Formen ſind es, die den Begriff des formellen
Rechtsgeſchäfts
conſtituiren. Bei der zweiten Art erſcheint
das Rechtsgeſchäft lediglich als äußere Veranlaſſung zur Vor-
nahme einer anderen bedingungsweiſe vorgeſchriebenen Hand-
lung. 652) Das formelle Rechtsgeſchäft läßt ſich mithin definiren
als dasjenige, bei dem ſich die Nichtbeachtung der
rechtlich erforderlichen Form der Willensäußerung
im Rechtsgeſchäft ſelbſt rächt
. Requiſite des Rechts-
geſchäfts, die ſich nicht auf die Form der Willensäußerung
beziehen, gehören gar nicht hieher.


Jede Formvorſchrift enthält eine Beſchränkung des Willens
in der Wahl ſeiner Ausdrucksmittel, aber nicht jede derartige
Beſchränkung begründet den Begriff des formellen Geſchäfts.
Die Beſchränkung kann eine negative oder poſitive ſein. Erſte-
res, wenn nur ein gewiſſes Aeußerungsmittel (z. B. die ſtill-
ſchweigende Erklärung) oder der Abſchluß an einem gewiſſen
Ort, zu einer gewiſſen Zeit geſetzlich ausgeſchloſſen iſt, letzteres,
wenn die Aeußerungsform poſitiv fixirt iſt. 653) Dort dürfen
wir von „Formbeſchränkungen“, nicht aber von einem formellen
Geſchäft reden, denn die von dem Handelnden angewandte
Form iſt trotz der Beſchränkung in der Wahl nichts deſto weniger
ein Werk der Wahl geweſen, ſie hat alle Eigenſchaften der
freien oder individuellen Form, von denen ſogleich die Rede ſein
wird, während das formelle Geſchäft, ſoweit die Formvorſchrift
reicht, jede Wahl und Freiheit ausſchließt.


Demzufolge würde ſich der Begriff des formloſen Rechts-
651)
[501]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
geſchäfts als mehr oder minder freie Selbſtbeſtimmung
des Willens rückſichtlich der Form ſeiner Aeuße-
rung
definiren laſſen, und wir könnten demgemäß den Gegen-
ſatz der Formloſigkeit und des Formalismus als den der freien
und unfreien Form bezeichnen. Dies Moment der Freiheit
iſt das allein entſcheidende. Darum alſo begründen Formen,
die auf freier Wahl der Partheien beruhen z. B. die Zuziehung
von Zeugen, die ſchriftliche Aufzeichnung des Contracts, kein
formelles Geſchäft, ſelbſt dann nicht, wenn ſie noch ſo feier-
lich und noch ſo allgemein üblich ſind, ohne aber rechtlich
nothwendig zu ſein. Nicht das äußere Gepränge, ſondern
der innere Charakter der Form d. h. ihre rechtliche Noth-
wendigkeit entſcheidet. Mündlicher Abſchluß eines Vertrags
iſt an ſich nichts Solennes, allein wo er geſetzlich vorgeſchrie-
ben, iſt der Vertrag ein formeller. Ebenſo die Zuziehung von
Zeugen. Nicht minder gleichgültig für den Begriff des for-
mellen Geſchäfts iſt das legislative Motiv der Form. Der
Zweck, den das Geſetz im Auge hatte, kann ein mannigfaltiger
ſein z. B. Sicherſtellung des Beweiſes, Ausſchließung von
Uebereilungen, Uebervortheilungen u. ſ. w. Ob dieſer Zweck
durch die Form wirklich erreicht wird, ob er auch auf andere
Weiſe erreichbar iſt, und die Parthei ihn auf andere Weiſe wirk-
lich erreicht hat, relevirt nichts; der Geſetzgeber hat einmal die
Sorge für die Erreichung dieſes Zweckes nicht der Einſicht und
dem guten Willen der Parthei überlaſſen wollen, ſondern ſelbſt
in die Hand genommen; der von ihm vorgezeichnete Weg zur
Erreichung derſelben iſt zum ausſchließlichen zum noth-
wendigen
gemacht.


Dieſe Nothwendigkeit und Ausſchließlichkeit, welche das We-
ſen der unfreien Form ausmacht, iſt aber eine äußere, poſi-
tive
, jede derartige Form iſt alſo in dieſem Sinn etwas Zufäl-
liges, Willkührliches, ſo ſehr ſie im übrigen auch das Product
einer geſunden und naturgemäßen hiſtoriſchen Entwicklung gewe-
ſen ſein mag. Darum alſo iſt die Tradition, Occupation, kurz
[502]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
die Apprehenſion des Beſitzes kein formeller Act, denn die Noth-
wendigkeit derſelben iſt eine innere, ſie liegt in dem Zuſtand,
den ſie begründen ſoll, und verhält ſich zum Beſitz kaum anders,
als die Geburt zum Leben. Dies Moment der Poſitivität
der Form im Gegenſatz zu der rationellen Natur der Formloſig-
keit iſt auch den römiſchen Juriſten nicht entgangen, wie ſeiner
Zeit bei dem Gegenſatz des jus civile und jus gentium nach-
gewieſen werden wird.


Der bisher entwickelte Gegenſatz der Freiheit und Unfreiheit
rückſichtlich der Aeußerungsform des Willens ſchließt einen an-
dern in ſich, nämlich den des Individuellen und Ab-
ſtracten
. Die freie Form iſt zugleich eine individuelle,
denn ſie geht ganz auf in dieſem beſtimmten Rechtsgeſchäft, ſie
entſteht und vergeht mit ihm, ja ſie iſt im Grunde nichts, als
dieſer beſtimmte concrete Inhalt von Seiten ſeiner Sichtbar-
keit. Die unfreie Form hingegen iſt zugleich eine abſtracte,
ſtereotype
. Denn wenn ſie gleich nur an und in dem concre-
ten Rechtsgeſchäft zur Erſcheinung gelangt, ſo hat ſie doch
andererſeits eine davon unabhängige (abſtracte) Exiſtenz, ſie
geht nicht hervor und auf in dieſem beſtimmten Rechtsgeſchäft,
ſondern ſie tritt von außen als etwas Fremdes, bereits Vorhan-
denes, Gegebenes, Selbſtändiges mit dem Anſpruch auf unbe-
dingte Beachtung an das Rechtsgeſchäft heran, und die Bil-
dung des letzteren erfolgt durch eine Combination zweier ſepa-
rater Elemente: des concreten Inhalts und der ein für alle
Male beſtimmten Form. So erklärt ſich der obige engere
Sprachgebrauch rückſichtlich des Ausdrucks Form, demzufolge
die Rechtsgeſchäfte mit freier Form als „formloſe“ gelten. Bei
letzteren nämlich, bei denen die Form ganz dem Willen anheim
gegeben iſt, 654) gelangt die Form nicht zur eignen ſelbſtändigen
Exiſtenz, ſie iſt ein bloßes Accidens des Inhalts, bei den for-
[503]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
mellen Geſchäften hingegen iſt die Form in der That zum Range
einer eignen juriſtiſchen Größe, zur ſelbſtändigen Exiſtenz erho-
ben. So läßt ſich alſo der Gegenſatz der formloſen und formel-
len Geſchäfte oder, um hier gleich den Ausdruck einzuführen,
mit dem ich ihn fortan bezeichnen werde, der Gegenſatz der
Formloſigkeit und des Formalismus, auf jenen allgemeinen
Gegenſatz zurückführen, der ſich uns bereits verſchiedentlich als
einer der Angelpunkte des älteren und neueren römiſchen Rechts
bewährt hat (ſ. z. B. S. 93 fl., S. 119 fl., S. 473), auf
den des Individualismus und der abſtracten Gleichheit.


Erſcheint nun dem bisherigen nach das Princip der Form-
loſigkeit vom aprioriſtiſchen Standpunkt aus als das nor-
male, weil dem natürlichen Verhältniß zwiſchen Form und In-
halt entſprechende, das des Formalismus aber wegen ſeiner
Abweichung von demſelben als das irreguläre, ſo möchte man
erwarten, daß ſich dieſes aprioriſtiſche Verhältniß beider auch
hiſtoriſch bethätigte, d. h. daß erſteres die Regel, letzteres die
Ausnahme bilde. Dieſe Annahme trifft in der That für unſer
heutiges gemeines Recht zu, nichts deſto weniger aber iſt ſie falſch.
Ueberhaupt ſtraft die Geſchichte unſere Erwartung hier in jeder
Weiſe Lügen. Würde uns geſagt, daß von den drei Möglich-
keiten, wie das poſitive Recht ſich zu unſerm Gegenſatz verhal-
ten kann, der Combination beider Principien, der ausſchließ-
lichen Herrſchaft der Formloſigkeit und der ausſchließlichen Herr-
ſchaft des Formalismus nur zwei hiſtoriſch ſich realiſirt hätten,
ſo würde ohne Zweifel Jeder auf die beiden erſten rathen und
ſicherlich ebenſoſehr darüber frappirt ſein, daß der dritte Fall
dazu, als daß der zweite nicht dazu gehört. Mit der Form-
loſigkeit, ſo ſcheinbar natürlich ſie iſt, allein kann das Recht
nicht beſtehen, mit dem Formalismus wohl; es erträgt
eher das äußerſte Uebermaß, als den gänzlichen
Mangel der Form
.


Dieſe Hinneigung des Rechts zur Form läßt auf ein inne-
res Bedürfniß oder auf eine eigenthümliche den Zwecken des
[504]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Rechts entſprechende Brauchbarkeit der Form ſchließen. Letztere
muß demſelben offenbar wichtige Vortheile bieten. Gewiß!
Allein ſo wenig ich die Berechtigung und die Richtigkeit dieſes
Schluſſes beſtreiten will, ſo ſehr muß ich doch gegen einen
Irrthum warnen, der ſich demſelben leicht beigeſellen kann.
Man könnte nämlich den Grund des hiſtoriſchen Auftretens des
Formalismus lediglich in ſeinen praktiſchen Vortheilen finden
wollen, ich meine nicht gerade die bewußte Erſtrebung derſelben
von Seiten des Geſetzgebers, ſondern auch das inſtinctive Ge-
fühl derſelben bei der gewohnheitsrechtlichen Bildung der For-
men. Dies halte ich jedoch für falſch, wie ich im folgenden
nachzuweiſen hoffe, und ich werde daher bei der folgenden Dar-
ſtellung zwei Fragen ſtreng von einander trennen: die von dem
praktiſchen Werth des Formalismus und die von den
hiſtoriſchen Gründen ſeines Erſcheinens.


I.Praktiſcher Werth des Formalismus.

Wenn irgendwo das abſtractphiloſophiſche Urtheil über Dinge
des Rechts Gefahr läuft fehl zu greifen, ſo möchte es bei dem
Formalismus ſein. Der Philoſoph vom Fach, der von den eigen-
thümlichen techniſchen Intereſſen und Bedürfniſſen des Rechts
keine Vorſtellung hat, kann in dem Formalismus nichts anders
erblicken, als einen Ausfluß der ſinnlichen Anſchauungsweiſe,
eine Präponderanz des äußern über das innere Moment, eine
poſitive Störung des Verhältniſſes zwiſchen Form und Inhalt.
Gerade ihm bei ſeinem auf das Innere der Dinge gerichteten
Blick muß dieſe Ueberhebung der dürren, nackten Form, dieſer
ängſtliche, pedantiſche Cultus des an ſich völlig werth- und be-
deutungsloſen Zeichens, dieſe Dürftigkeit und Kümmerlichkeit
des Geiſtes, der das ganze Formenweſen beſeelt und ſich in ihm
breit macht — gerade ihm alſo, ſage ich, muß dies ganze We-
ſen einen recht unerquicklichen und abſtoßenden Eindruck machen.
Und in der That, wir müſſen zugeſtehen, dieſer Beſtandtheil
[505]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
unſerer juriſtiſchen Technik hat für den Unkundigen durchaus
nichts Achtung Erweckendes, und vielleicht iſt hierin der Grund
zu ſuchen, daß die Rechtsphiloſophie von demſelben meines
Wiſſens bisher kaum Notiz genommen hat. Und doch handelt
es ſich dabei um eine Erſcheinung, die, eben weil ſie im inner-
ſten Weſen des Rechts begründet iſt, ſich im Recht aller Völker
wiederholt und ſtets wiederholen wird.


Um ſie richtig zu würdigen, muß man die allgemeine, ſoll
ich ſagen culturhiſtoriſche oder philoſophiſche mit der juriſtiſch-
praktiſchen Auffaſſung verbinden. Erſteres wird unter II, letz-
teres ſoll hier geſchehen. Wir werden zu dem Ende die in der
Ueberſchrift bezeichnete Frage von dem praktiſchen Werth des
Formalismus zu erörtern haben. Dieſelbe erfordert den Nach-
weis der Nachtheile (1) und Vortheile (2) des Formalismus
und die Beſtimmung des Verhältniſſes beider zu einander (3).


1. Die Nachtheile der Form.

Ich beginne mit ihnen, weil ſie ſich der unbefangenen Be-
obachtung zuerſt aufdrängen. Ungleich den Vortheilen bedürfen
ſie weder eines längeren Suchens, noch eines juriſtiſchen Au-
ges, ein Umſtand, der ihnen von vornherein ein Uebergewicht
über jene gibt und die abſprechenden Urtheile erklärt, die man
ſo oft aus dem Munde der Laien über das Formenweſen im
Recht vernehmen muß. Der erſte Eindruck beſtimmt ſich immer
nach dem, was ins Auge fällt. Wie müßte derſelbe aber nicht ein
verkehrter ſein, wenn Licht und Schatten ſich über den Gegen-
ſtand in der Weiſe vertheilen, daß für den Beobachter die un-
vortheilhafte Seite deſſelben beleuchtet, die vortheilhafte be-
ſchattet iſt! So verhält es ſich aber mit dem unſrigen, und die
abgeneigte Stimmung und das ungünſtige Urtheil deſſen, der
ſich hier durch den erſten Eindruck leiten läßt, wie es regelmäßig
der Laie thut, iſt daher nicht bloß durchaus erklärlich, ſondern
von ſeinem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, nothwendig.
Die üblen Eigenſchaften des Formalismus werden ihm in
[506]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
vollem Maße fühlbar, von den vortheilhaften merkt er
nur wenig, die ſchädlichen Wirkungen deſſelben, namentlich
das Unheil, das mitunter ein an ſich höchſt unbedeutender
Formfehler anrichtet, kömmt durch den damit verbundenen Eclat
vollſtändig zu ſeiner Kunde, die heilſamen Wirkungen hingegen,
die tauſend und aber tauſend Fälle, in denen die Form Unheil
abwendet und von denen Niemand ſpricht, entziehen ſich ſei-
ner Beobachtung.


Die Nachtheile der Form laſſen ſich auf zwei Eigenſchaften
zurückführen, ihre Gefährlichkeit und Unbequemlich-
keit
. Beide liegen ſchlechthin in der Form als ſolcher, einerlei
wie dieſelbe im übrigen beſchaffen ſei; der letztere Umſtand iſt
nur beſtimmend für das Maß derſelben. An jede Form knüpft
ſich die Gefahr eines Verſehens, eines Formfehlers, und ein
ſolches Verſehen rächt ſich unerbittlich bei jeder Form, dies
liegt einmal in ihrem Begriff, aber die Beſchaffenheit der Form
kann dieſe Gefahr näher oder ferner rücken. Es wird dies
ſpäter an mehren Beiſpielen gezeigt werden. Ebenſo verhält es
ſich mit der zweiten Eigenſchaft. Unbequem iſt jede Form, be-
ſtände ſie auch nur, wie die der Stipulation, in dem mündlichen
Abſchluß des Geſchäfts, aber die eine iſt es mehr als die andere
z. B. die des testamentum in comitiis calatis mehr, als die des
test. per aes et libram, denn in der letzteren Form konnte man
jederzeit, in jener hingegen nur zwei Mal im Jahr teſtiren.


Die Gefährlichkeit der Form, der ich mich zuerſtzuwende,
iſt ſo eben bereits im weſentlichen angegeben. Die Form erhebt
den Anſpruch einer genauen Kenntniß ihrer ſelbſt und belegt die
Unkenntniß derſelben, die Unachtſamkeit, Ungeſchicklichkeit, den
Leichtſinn mit ſchwerer Strafe. Das materielle Recht verlangt
dieſe Eigenſchaften in ungleich geringerem Grade. Einen form-
loſen Contract abſchließen kann Jemand, auch wenn er die
Rechtsgrundſätze, die bei ihm zur Anwendung kommen, nicht
kennt, wenn er im Recht ſich irrt und in den Worten ſich ver-
greift. Das Recht und der Richter kommen ihm zu Hülfe. Aber
[507]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
einen formellen Contract kann nur der abſchließen, der die Form
weiß und zu handhaben verſteht, der etwaige Mangel wird nicht
ſupplirt. Darum iſt die Lage eines Unkundigen oder Unvor-
ſichtigen innerhalb eines formellen Rechts oder Rechtstheils
eine ungleich ungünſtigere, als auf dem Gebiete des formloſen
Rechts. Namentlich aber, wenn er einem Kundigen gegenüber
ſteht, der von ſeiner Unkenntniß oder Argloſigkeit Gebrauch
machen will. Der ehrliche, aber geſchäftsunkundige Mann iſt
gegenüber dem geriebenen Betrüger in einem formellen Recht
weit mehr im Nachtheil, als in einem formloſen, denn letzterer
beſitzt in der Form noch ein höchſt brauchbares Mittel mehr, um
ihn zu beſtricken, und vorzugsweiſe für ein formelles Recht gilt
der bekannte Ausſpruch: 655)jura vigilantibus scripta sunt.


Die Momente, nach denen ſich der Grad der Gefährlichkeit
beſtimmt, liegen theils in ihr ſelbſt, theils außer ihr. Für letz-
tere wird ſich mir an einer anderen Stelle eine paſſendere Gele-
genheit bieten (ſ. 3), ich beſchränke mich hier daher auf erſtere.
Es ſind ihrer drei: das quantitative, morphologiſche
und principielle oder die Zahl der vorhandenen Formen,
ihr äußerer Zuſchnitt und der principielle Charakter der
Beſtimmungen über ihre Nothwendigkeit. Dieſelben hätten
ganz unabhängig von dem Geſichtspunkt, der uns hier auf ſie
führt, ein Anrecht auf unſere Beachtung; es wird nichts im
Wege ſtehen, ihr letztere auch in dieſem Zuſammenhange zu
Theil werden zu laſſen.


Die Bedeutung des quantitativen Moments bedarf
keiner Ausführung (ſ. S. 342). Je kleiner die Zahl der Formen,
je mehr einige wenige Grundformen durch das ganze Recht hin-
durch gehen, um ſo leichter die Kenntniß und Handhabung der-
ſelben, um ſo geringer die Gefährlichkeit ihres Gebrauchs.


Unter dem morphologiſchen Moment der Form ver-
ſtehe ich die Geſtaltung, Zuſammenſetzung, den Zuſchnitt der-
[508]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſelben, ob derſelbe alſo z. B. mehr oder minder complicirt oder
einfach, knapp und eng oder weit und elaſtiſch iſt, ob die Form
lediglich eine Thätigkeit der Parthei oder auch die Mitwirkung
anderer Perſonen erfordert, ob ſie im Sprechen, Schreiben,
Handeln beſteht, kurz die Elemente, aus denen die Form ge-
bildet, und die Art, wie ſie es iſt. Einige Beiſpiele ſollen den
Einfluß dieſes Moments veranſchaulichen.


Vergleichen wir die Form des römiſchen Teſtaments mit der
der Stipulation. Erſtere war ungleich complicirter, und anderer-
ſeits knapper, als letztere, eben darum aber die Gefahr eines
Formfehlers bei ihr viel höher, als hier. Aus je mehr Stücken eine
Form zuſammengeſetzt iſt, um ſo mehr Quellen von Formfehlern
enthält ſie. Die Stipulation beſtand, wenn man will, aus ei-
nem
Stück, aus der Frage des Gläubigers, denn die entſpre-
chende Antwort des Schuldners hatte keine Schwierigkeit. Die
Teſtamentsform hingegen erforderte die Rogation der Zeugen,
die familiae emtio, die nuncupatio, die Anwendung der richtigen
Formeln für die einzelnen Beſtimmungen, die richtige Reihen-
folge der letzteren, die unitas actus. Bei der Stipulation ge-
nügte jede Art der Wortfaſſung in Frageform, und nur für gewiſſe
Zwecke bedurfte es eines beſtimmten Schlagwortes (spondeo,
fidejubeo, fidepromitto
u. a.). Ein unfähiger Zeuge unter
ſieben, ein Mißgriff in der Formel der Erbeseinſetzung, und das
ganze Teſtament mit allen ſeinen Anordnungen war hinfällig.


Ein anderes ganz inſtructives Beiſpiel gewährt der Ver-
gleich des Legisactionenproceſſes mit dem Formularproceß. Er-
ſterer war ungleich gefährlicher, als letzterer, und gerade hier-
durch ſoll, wie Gajus656) uns berichtet, ſein Untergang veran-
laßt worden ſein. Auch im Formularproceß blieb, wie es ein-
mal im Weſen der Form begründet iſt, ein Mißgriff in der Form
nicht ohne nachtheilige Folgen, allein der Zuſchnitt dieſer Pro-
ceßform machte die Gefahr eines Formfehlers ungleich ſeltener.
[509]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Im ältern Proceß ward die Form geſprochen, im neuern
geſchrieben — man verſpricht ſich aber leichter, als man ſich
verſchreibt; ſodann geſchah jenes von der Parthei, dieſes vom
Prätor — eine Verſchiedenheit, deren Bedeutſamkeit für un-
ſern Geſichtspunkt ich nicht weiter anzugeben brauche. Dann
endlich waren die Formeln dort bis ins Kleinſte hinein unab-
änderlich fixirt — auch das Auslaſſen oder Vertauſchen eines
völlig gleichgültigen Wortes enthielt einen Formfehler — hier
hingegen waren ſie elaſtiſch, und nur die wirklich entſcheidenden
Worte gaben den Ausſchlag.


Zur Einſicht in das Weſen und die Bedeutung des dritten
obigen Moments, des principiellen, hoffe ich den Leſer am
leichteſten zu führen, indem ich ihm ein Beiſpiel aus einem
neuern Geſetzbuch mittheile. Es ſollen mir dazu die Beſtimmun-
gen des preußiſchen Landrechts über die ſchriftliche Abfaſſung
der Verträge657) dienen, ſie gewähren ein Muſter dafür, wie
derartige Beſtimmungen nicht ſein ſollen. Das Geſetz erfor-
dert dieſe Form bei allen Verträgen, deren Gegenſtand über
50 Rl. beträgt, durchbricht jedoch die Regel nach zwei Seiten
hin, denn einmal ſoll es in fünf Fällen der Form ſchlechthin
nicht, andererſeits aber umgekehrt in zwölf Fällen ſelbſt dann
bedürfen, wenn das Object jene Summe nicht erreicht, welche
Anordnung aber zum Theil wiederum verſchiedenen Modifica-
tionen und Reſtrictionen unterliegt.658) Schon das bloße Be-
[510]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
halten dieſer Beſtimmungen würde eine Gedächtnißanſtrengung
erfordern, die man kaum von einem Andern, als dem Juriſten
erwarten dürfte, und ich würde unbedenklich dies Thema zu den
ſchweißtreibenden Fragen des juriſtiſchen Examens zählen. Und
dieſes wüſte Conglomerat zuſammenhangs- und principloſer
Verordnungen ſoll der Bürger und Bauer ſich einprägen? Fürs
Volk eine Regel, die nach der einen Seite ein Dutzend, nach
der andern beinah ein halbes Dutzend Ausnahmen erleidet?
Nun aber die Anwendung der Beſtimmungen im Leben! Man
ſoll erſt taxiren, ob die Sache über oder unter 50 Rl. werth iſt,
man ſoll wiſſen, ob die bei einem Realcontract beliebten Beſtim-
mungen eine Abweichung von dem geſetzlichen Typus des Ge-
ſchäfts enthalten oder nicht, was unter Hausofficianten zu ver-
ſtehen iſt (Gouvernante, Geſellſchafterin, Inſpector, Hausarzt?),
was unter gewagten Geſchäften u. ſ. w. In der That derartige
Beſtimmungen laſſen ſich nicht anders, denn als Fallſtricke und
Fußangeln bezeichnen, die der Geſetzgeber ſelbſt dem Verkehr
gelegt hat, ungeſunde Producte der Studierſtube, die dem Volk
ewig fremd bleiben müſſen. Denn ins Volk dringt nur, was
aus dem Volk hätte hervorgehen können.


Es wird jetzt ein Leichtes ſein, auf Grund dieſer Exempli-
fication den Begriff unſeres dritten Moments zu beſtimmen.
Daſſelbe betrifft die innere Geſtaltung des Formenweſens, die
658)
[511]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Frage nämlich, inwieweit die Beſtimmungen über die Noth-
wendigkeit der Form principieller, oder caſuiſtiſcher,
ſporadiſcher
Natur ſind, ob ſie den Eindruck der Einheit
und Conſequenz oder den der Zerriſſenheit und Willkühr machen.
Die höchſte Entfaltung dieſes und zugleich des zweiten Mo-
ments und die innigſte gemeinſame Durchdringung beider be-
thätigt ſich in der Harmonie oder ich will lieber ſagen: dem
Parallelismus der Formen und Begriffe, darin näm-
lich, daß die Form ſich den innern Unterſchieden des materiellen
Rechts anſchmiegt, ſo daß alſo die Mehrheit der Rechtsgeſchäfte
nicht bloß in der Mehrheit der Formen ſich kund gibt, ſondern
daß die innere Eigenthümlichkeit des oder der mit einer beſon-
dern Form ausgeſtatteten Rechtsgeſchäfte in dem morphologi-
ſchen Moment der Form ſich abſpiegelt und ausprägt. Es er-
hebt ſich hier das bloß ſtoffliche Element der Form zur Höhe
einer idealen juriſtiſchen Kunſtſchöpfung. Ein höchſt belehrendes
Beiſpiel gewährt der Vergleich der römiſchen Formen der Sti-
pulation, der Mancipation und Abtretung vor Gericht (in jure
cessio
), und des Teſtaments. Die Form der erſten war die der
Frage (spondesne, dabisne u. ſ. w.). Eine Frage aber iſt die
Form der Beziehung, ſie wird gerichtet an eine beſtimmte
Perſon, ſie iſt daher ganz angemeſſen für das relative Ver-
hältniß der Obligation; die innere Rothwendigkeit einer ge-
genüber ſtehenden Perſon iſt durch die Form ſelbſt äußerlich an-
gedeutet. Die Form des zweiten und dritten Rechtsgeſchäfts
war die der Aſſertion, der Behauptung(Hunc ego homi-
nem ex jure quiritium meum esse ajo isque mihi emtus est
hoc aere aeneaque libra Gaj. I 119. — hunc ego hominem
ex jure quiritium meum esse ajo Gaj. II 24);
ebenfalls höchſt
bezeichnend. Denn die abſolute Natur der in ihnen auftreten-
den Rechte findet in dem abſoluten Charakter der Form ihren
Ausdruck. Eine Behauptung iſt unabhängig von der Beziehung
zu einer beſtimmten Perſon. Oder mit andern Worten die Sti-
pulation und die durch ſie begründete Klage war concipirt in
[512]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
personam, die Formel der beiden andern Rechtsgeſchäfte und
die auf ſie ſich ſtützende Klage in rem. Die Form des vierten
Rechtsgeſchäfts war die eines Befehls (heres esto, heredem
esse jubeo Gaj. II 117. damnas esto, ibid. §. 201, sumito
§. 193,
ſtatt der letzteren auch do lego). Wiederum ganz tref-
fend. Einmal in hiſtoriſcher Beziehung: als Reminiscenz
an die urſprüngliche Geſetzesform der Teſtamente, ſodann in
dogmatiſcher Beziehung: als Ausdruck des in dem Teſta-
ment ſich verwirklichenden eigenthümlichen Rechts der Autono-
mie (wovon an anderer Stelle). Die Stipulation beſchränkte
ihre Wirkungen auf die handelnden Perſonen, die drei andern
konnten dieſelben möglicherweiſe auf andere ausdehnen. Auch
dieſer Unterſchied erhielt ſeine morphologiſche Signatur; und
zwar darin, daß dort die handelnden Perſonen für ſich allein
blieben, hier aber dritte Perſonen (Zeugen, Prätor) zugezogen
wurden. Ein anderes Beiſpiel für die obige Behauptung wird
uns der §. 47 in der inneren Oekonomie der Teſtamente bringen.


Ich wende mich der Unbequemlichkeit der Form zu.
Sie liegt zunächſt ſchon darin, daß die Form das bequeme
Sichgehenlaſſen des Willens, wie die Formloſigkeit es verſtattet,
unmöglich macht, denn es bedarf hier außer dem bloßen Wol-
len noch eines beſonderen Anſatzes, eines eignen Actes, um der
Form ein Genüge zu leiſten. Dazu geſellt ſich ſodann ferner
der hemmende Einfluß gewiſſer unabweisbarer Rückſichten.
Der Stempel des Geſchäftlichen, den die Form an der
Stirn trägt, macht die vom Recht begehrte Interpoſition der-
ſelben in manchen Lagen geradezu zu einer moraliſchen Unmög-
lichkeit. Die ſocialen Formen legen gegen die juriſtiſche
Form
nicht ſelten ein abſolutes Veto ein. Wer könnte überall,
wo eine Verabredung getroffen wird, mit der juriſtiſchen Form
dahineinfahren, wer ſich jedes Anerbieten oder Verſprechen ſchwarz
auf weiß geben laſſen?659) Ein ſolches Verfahren würde nicht bloß
[513]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
in manchen Verhältniſſen eine Verletzung aller Rückſichten des
Anſtandes und der Sitte, eine grobe Taktloſigkeit, ſondern nicht
ſelten durch das in ihr ſich äußernde Mißtrauen eine ſchwere
Beleidigung des andern Theils enthalten. In Wirklichkeit er-
reicht die Form hier den gerade entgegengeſetzten Erfolg von
dem, den ſie bezweckt, denn anſtatt die Sicherheit des Contrahi-
rens zu erhöhen, ſchließt ſie dieſelbe gänzlich aus, verweiſt den
Handelnden von dem feſten Boden des Rechts auf den un-
ſichern des perſönlichen Vertrauens.


Das bisher Geſagte gilt für jede Form, wie immerhin ſie
auch beſchaffen ſei. Es iſt aber begreiflich, daß gerade für die
hier zur Betrachtung ſtehende Eigenſchaft der Form die beſon-
dere Beſchaffenheit derſelben von entſcheidendem Einfluß ſein
muß. Ich will dies an einigen Beiſpielen nachweiſen.


Jede beſondere Form hat ihre eigenthümlichen Inconve-
nienzen. Iſt mündlicher Abſchluß unter den Partheien vor-
geſchrieben, wie z. B. für die Stipulation und die meiſten
römiſchen Rechtsformen, ſo iſt damit das Contrahiren unter
Abweſenden abgeſchnitten, man muß zu dem Zweck erſt
eine Reiſe machen oder durch Benutzung von Mittelsperſonen
auf Umwegen das Ziel erreichen. Ebenſo iſt der Strenge nach
der Taube und Stumme von der Benutzung dieſer Form aus-
geſchloſſen, und in der That hatte das römiſche Recht dieſe Con-
ſequenz gebilligt. Iſt ſchriftliche Abfaſſung beſtimmt, wie
durch das obige preußiſche Geſetz, ſo iſt umgekehrt vielfach das
Contrahiren unter Anweſenden erſchwert, denn wer führt,
wie Shyllock, überall Papier, Dinte und Feder im Gürtel mit
659)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 33
[514]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſich? Der preußiſche Geſetzgeber verlegt das Contrahiren von
dem Markt und der Straße auf die Stube und den Schreibtiſch,
das römiſche Recht umgekehrt von letzteren auf jene — beides
für ſie und ihre Zeit gleich charakteriſtiſch. Iſt Errichtung vor
Zeugen, vor Gericht oder vor dem Notar vorgeſchrieben, ſo
muß man, um zu contrahiren, erſt die Zeugen ſuchen, vor
Gericht oder dem Notar erſcheinen. Wie nun, wenn die Zeu-
gen nicht zu haben z. B. in einſamer Gegend oder bei einer
herrſchenden Epidemie die 7 Teſtamentszeugen,660) wie, wenn
die Gerichtsſtätte weit entfernt,661) oder die Umſtände zum
ſofortigen Abſchluß drängen, und Richter und Notar nicht ſo-
fort zu haben ſind, oder der Vertrag die Koſten nicht trägt? Man
ſieht, daß jede Form, wie ſie auch ſei, ihre eigenthümlichen
Nachtheile hat, durch die ſich der Verkehr mehr oder minder be-
engt fühlen muß.


Die unvermeidliche Folge davon iſt, daß er ſich in dring-
lichen Fällen der Form entſchlägt, ein unförmliches (im Ge-
genſatz zum formloſen ein der Form an ſich bedürftiges, aber
ihrer ermangelndes) Rechtsgeſchäft abſchließt. Eine rechtliche
Wirkung hat daſſelbe nicht, ſeine Wirkung iſt ausſchließlich auf
den guten Willen des Verpflichteten, auf ſeine Scheu vor der
öffentlichen Meinung, ſeine Redlichkeit, Zuverläſſigkeit, kurz
die bona fides geſtellt. Dieſe Flucht des Verkehrs vor der
läſtigen Form wiederholt ſich überall, und zwar meine ich nicht
[515]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
etwa eine ausnahmsweiſe, ſporadiſche, ſondern eine förmlich zur
Regel und zur zweiten Natur gewordene Nichtbeachtung der Form.
So in Rom, wie demnächſt ausgeführt werden ſoll, ſo aus
neuerer Zeit z. B. in den Ländern des preußiſchen Rechts.662)
Das Syſtem der bona fides im altrömiſchen Sinn
d. h. des lediglich auf Treu und Glauben baſir-
ten Verkehrs iſt ein nothwendiger Ausfluß des
jus strictum, des Syſtems des Formalismus
.


So wiederholt ſich alſo hier der bereits oben conſtatirte
Widerſpruch der Form mit ſich ſelbſt und ihrem eignen Zweck.
Beſtimmt, dem Verkehr einen höhern Grad der Sicherheit zu
gewähren, veranlaßt ſie ihn umgekehrt, auf alle und jede recht-
liche Sicherheit Verzicht zu leiſten, eine bequeme Unſicherheit
einer unbequemen Sicherheit vorzuziehen. Man könnte es als
eine Selbſtanklage des Formalismus, als das Eingeſtändniß
ſeiner mangelnden abſoluten Durchführbarkeit bezeichnen.


Soviel über die beiden Eigenſchaften der Gefährlichkeit und
Unbequemlichkeit, die man meiner Anſicht nach dem Formalis-
mus mit Recht zum Vorwurf machen kann. Nicht ſo verhält es
ſich mit einem Vorwurf anderer Art. Er betrifft die ethiſche
Seite deſſelben. Derſelbe iſt zwar meines Wiſſens noch von
Niemanden beſtimmt formulirt und ausgeführt — ſeine Aus-
führung würde zugleich ſeine Widerlegung geweſen ſein — allein
die ihm zu Grunde liegende Vorſtellung hat ſich doch in manchen
Spuren und Anklängen geäußert, und für unklare Köpfe beſitzt
ſie einen gewiſſen Reiz und Schein. Sie iſt namentlich befördert
und unterſtützt durch eine hiſtoriſche Annahme, die nicht minder
irrig iſt, als ſie ſelbſt, nämlich daß das germaniſche Recht von
jeher dem Grundſatz der Formloſigkeit der Verträge gehuldigt
habe.663) Es bedurfte nur der kleinen Wendung, in unſerm
33*
[516]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Sprüchwort: Ein Mann, Ein Wort — einem Sprüch-
wort, mit dem ſich in dem Sinn, den es hat, jedes geſittete
Volk der Erde einverſtanden erklären wird — ein Rechts princip
zu finden,664) und die principielle Formloſigkeit des deutſchen
Rechts ſtand feſt. Von dieſem feſten Punkt aus fand ſich dann
leicht die Anknüpfung an den ſpecifiſch germaniſchen Zug zur
Sittlichkeit und als Gegenſatz die Anknüpfung des Formalis-
mus an die angebliche moraliſche Indifferenz des römiſchen
Rechts, um ſchließlich die Frage: ob Form oder nicht Form
zur Competenz der Ethik zu verweiſen und mit billigem Pathos
von dieſem Standpunkt aus eine Anklageſchrift gegen den For-
malismus zu entwerfen. Welche Mißachtung des ſittlichen Ge-
fühls von Seiten des Rechts, das gegebene Wort wegen des
geringſten Formfehlers für unverbindlich zu erklären, den ſchreiend-
663)
[517]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
ſten Mißbrauch des Vertrauens, ich ſage nicht einmal ungeſtraft,
ſondern ſelbſt ungerügt zu laſſen, ja dem Richter die Pflicht auf-
zulegen, dazu nöthigenfalls ſeinen Arm zu leihen, und der
Schlechtigkeit und dem Betruge, wie oben zugegeben, in der
Form einen ſichern Schlupfwinkel zu eröffnen! Welchen ver-
derblichen Einfluß muß der tägliche Anblick dieſes Schauſpiels
auf das Rechtsgefühl des Volks ausüben. Heißt nicht die
Stimme deſſelben zum Schweigen bringen: daſſelbe abtödten,
heißt nicht die Form als das allein Entſcheidende hinſtellen:
das Fundament allen Verkehrs, die Treue, untergraben, den
Schwerpunkt deſſelben verrücken?


Und was iſt darauf zu antworten? Zunächſt und vor al-
lem, daß dieſe ganze Anklage von einer totalen Verkennung der
eigenthümlichen Aufgabe des Rechts gegenüber der der Moral
zeugen würde — ein Fehler, der freilich häufiger (und nicht bloß
bei dieſer Frage) begangen wird, als man es erwarten ſollte,
den ich aber am wenigſten bei dieſer Veranlaſſung Beruf in
mir fühle zu berichtigen. Ueberhaupt liegt es nicht in meiner
Abſicht, gegen jene Anklage ernſtlich zu Felde zu ziehen. Wer
einiges Nachdenken daran ſetzen will, für den werden, wie ich
hoffe, folgende Andeutungen vollkommen genügen.


Höher noch, als das bloße Wort ſteht der Eid, und dieſel-
ben ethiſchen Gründe, aus denen man vom Geſetzgeber begeh-
ren könnte, daß er das formloſe Verſprechen für erzwingbar er-
kläre, könnten in verſtärktem Maße für das eidliche Verſprechen
in die Wagſchale geworfen werden. Das canoniſche Recht hat
denn in der That die Erzwingbarkeit deſſelben feſtgeſetzt, und
gerade damit ein lehrreiches Beiſpiel dafür geliefert, wohin es
führt, wenn der Geſetzgeber moraliſche Anforderungen zu recht-
lichen erhebt. Durch jene Beſtimmung nämlich ward der Eid
zu einem Mittel, um die heilſamſten Beſtimmungen des Rechts
zu vereiteln. Alle Schutzmaßregeln, die das Recht für das
Subject getroffen, waren beſeitigt, ſo wie geſchworen war, und
hätte nicht das canoniſche Recht eine Art von Taſchenſpieler-
[518]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
kunſt angewandt (indem es bei erzwungenen, wucheriſchen u. a.
Contracten den Schuldner zur Erfüllung, den Gläubiger aber
zur ſofortigen Rückgabe zwang), der Erfolg der ganzen Beſtim-
mung wäre vorzugsweiſe Wucherern und Betrügern zu gute
gekommen. Sollte es einen ungünſtigen Einfluß auf die Sitt-
lichkeit des Volks gehabt haben, daß die Partikulargeſetzgebung
jene Beſtimmung nach und nach faſt überall aufgehoben hat?
Es iſt eine bedeutungsvolle Erſcheinung, daß das ſittliche Ge-
fühl des Volks gerade bei den Verhältniſſen, die der Geſetzgeber
ſich ſelbſt überlaſſen hat, am empfindlichſten iſt, gleich als
müßte es ſich ihrer in ihrer Hülf- und Schutzloſigkeit doppelt
annehmen, eine Behauptung, deren Wahrheit in Bezug auf
das römiſche Volk ſich uns ſeiner Zeit an der Geſtalt der Infa-
mie im ältern Recht ſchlagend bewähren wird.


Ich muß ſodann noch auf eine andere Seite der Frage auf-
merkſam machen. Enthielt es ſchlechthin eine Unredlichkeit,
wenn ein Römer ein von ihm in unförmlicher Weiſe abgeſchloſ-
ſenes Geſchäft (z. B. Tradition einer res mancipi, Verſprechen
ohne Stipulationsform) nicht als verbindlich anerkannte? Man
geht dabei unwillkührlich von der Suppoſition aus, daß es in
ſeiner Abſicht gelegen, ſich wirklich zu binden, und daß nur aus
irgend welchem Grunde die erforderliche Form verabſäumt wor-
den ſei. Allein es war auch der entgegengeſetzte Fall möglich,
nämlich die Unterlaſſung der Form in der Abſicht, um nicht ge-
bunden zu ſein, und ich glaube, es iſt keine zu kühne Annahme,
wenn man für die ältere Zeit gerade dieſen Fall als die Regel
und jenen als Ausnahme ſetzt. Wenn die Anwendung einer
jedem Römer ſo geläufigen Form, wie die Stipulation, Man-
cipation u. ſ. w., unter Verhältniſſen unterblieb, die derſelben
kein weiteres Hinderniß entgegenſetzten, ſo hieß dies nichts an-
ders, als nach übereinſtimmender Abſicht der Par-
theien
ſoll das Rechtsgeſchäft keinerlei rechtliche Wirkung ha-
ben, es ſoll in das Belieben der Parthei geſtellt ſein, davon
abzugehen. Was wir erſt durch eine ausdrückliche Verwahrung
[519]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
erreichen müſſen, nämlich daß der Handelnde zunächſt noch
nicht rechtlich gebunden ſein wolle oder ſich den Rücktritt vor-
behalte, lag dort bereits ſtillſchweigend in der Nichtanwendung
der Form. Tradition einer res mancipi bedeutete für den rö-
miſchen Verkehr, was für unſern der Vorbehalt des Eigen-
thums (das ſ. g. pactum reservati dominii), das bloße pactum,
was für unſern vorläufige unverbindliche Beredungen (Tracta-
ten), die unförmliche Freilaſſung eines Sklaven Ertheilung
der factiſchen Freiheit mit Vorbehalt des Widerrufs. Die Ur-
girung des Mangels der Form enthält in allen dieſen Fällen
keine Treuloſigkeit, ſondern die Geltendmachung des von An-
fang an Gewollten.


2. Vortheile der Form.

Wir haben bei der Darſtellung derſelben zwei Arten genau
von einander zu unterſcheiden, nämlich diejenigen, die in der
Form als ſolcher gelegen ſind, ſich mithin bei allen formellen
Geſchäften wiederholen — ich will ſie die allgemeinen nen-
nen — und diejenigen, die auf dem morphologiſchen Element
der einzelnen Form beruhen und mithin dieſer beſonderen Form
eigenthümlich ſind — ich nenne ſie die beſondern Vortheile.
Ich beginne mit jenen und zwar, indem ich etwas weit aus-
hole.


Die Entſcheidung eines Rechtsſtreites beſteht in der An-
wendung des abſtracten Rechts auf das concrete Verhältniß.
Die Schwierigkeiten derſelben können daher entweder in dem
abſtracten Recht gelegen ſein, darin nämlich daß die Beſtim-
mungen deſſelben, die zur Anwendung kommen müßten, an
Unklarheit, Unbeſtimmtheit leiden u. ſ. w. oder in dem con-
creten Verhältniß
, ſei es in der Zweifelhaftigkeit des rein
factiſchen Vorganges (Beweisfrage), ſei es in der ſeines juri-
ſtiſchen Charakters (Subſumtion, Diagnoſe). An den Schwie-
rigkeiten der zuletzt genannten (dritten) Art bewährt ſich der all-
gemeine
Nutzen der Form; denen der zweiten Art kann ſie
[520]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ebenfalls begegnen, wenn ſie nämlich darnach eingerichtet iſt
(Errichtung des Geſchäfts vor der Obrigkeit, Zeugen u. ſ. w.),
allein ſie braucht es nicht, dieſer Vortheil gehört alſo zur
Claſſe der beſonderen.


Jene ſind in den meiſten Fällen durch die Parthei ſelbſt ver-
ſchuldet; die objective Zweifelhaftigkeit, Unklarheit des Rechts-
geſchäfts iſt regelmäßig nur die Folge der ſubjectiven Unklar-
heit, ſei es des Denkens und Wollens oder des Sprechens.
Der Handelnde wollte z. B. dem Gegner nur den Gebrauch
einer Servitut (precaria juris possessio) einräumen, aber er
hat ſich ſo ausgedrückt, als habe er beabſichtigt ihm die Servitut
ſelbſt zu gewähren. Ober der Handelnde war ſich dieſes recht-
lichen Unterſchiedes und der Nothwendigkeit der Entſcheidung
für die eine oder andere Möglichkeit gar nicht bewußt, und ſein
Wille oscillirte, ſo zu ſagen, in aller Naivität zwiſchen beiden
in der Mitte.


Dieſe doppelte Unklarheit und in ihr eine der reichſten
Quellen der Proceſſe völlig auszuſchließen, liegt nun zwar
außerhalb der Macht des Rechts. Aber viel, ſehr viel kann im-
merhin zu dieſem Zweck geſchehen theils durch freie Thätigkeit
des Verkehrs (Benutzung ſtehender Formulare, Zuziehung von
Juriſten) theils durch eine Einrichtung des Rechts, und dieſe
Einrichtung iſt keine andere, als unſer Formalismus. Ich bin
gezwungen geweſen, dieſen eigenthümlichen Nutzen der Form
ſchon öfter gelegentlich zu berühren (S. 15, 347, 354), und ich
will den Vergleich, den ich früher gebraucht habe, wieder auf-
nehmen und weiter durchführen.


Die Form iſt für die Rechtsgeſchäfte, was das
Gepräge für die Münzen
. Wie das Gepräge uns die
Prüfung des Metallgehaltes, Gewichtes, kurz des Werthes der
Münze erſpart, zu der wir bei ungeprägtem Metall, wenn es
zur Zahlung verwandt werden ſollte, gezwungen wären, ſo
überhebt die Form den Richter der Mühe der Unterſuchung, ob
ein Rechtsgeſchäft beabſichtigt iſt, und wenn für verſchiedene
[521]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Rechtsgeſchäfte verſchiedene Formen feſtgeſetzt ſind, auch der
Unterſuchung, welches beabſichtigt iſt. Im Syſtem der Form-
loſigkeit können beide Fragen mit der größten Schwierigkeit ver-
knüpft ſein. Die erſtere. Denn ſo ſehr immerhin im Begriff
das Rechtsgeſchäft von den vorbereitenden Handlungen, das
wirkliche Sich Binden des Willens von der bloßen Ankündigung
der vorhandenen Geneigtheit zum Binden, die Bethätigung,
Ausführung eines Entſchluſſes von der bloßen Mittheilung
über das innerliche Vorhandenſein deſſelben unterſchieden iſt, ſo
ſehr vermiſchen ſich häufig die Grenzen in dem concreten Fall.
„Ich will Dir legiren, verkaufen, ſchenken“ kann heißen: ich
thue es hiermit, oder: ich mache mich verbindlich es dem-
nächſt zu thun, oder: ich habe für mich die Abſicht, wovon ich
Dich in Kenntniß ſetze, aber in nicht anderer Weiſe und mit
nicht anderer Wirkung, als von irgend einem anderen Gedan-
ken, der in meiner Seele auftaucht. Angenommen nun, daß
letztwillige Verfügungen keiner Form bedürften; welche endloſe
Menge von Proceſſen würde ſich über den Sinn derartiger im
Leben durchaus nicht ſeltener Mittheilungen erheben. Im Sy-
ſtem des Formalismus iſt die Aeußerung der Abſicht des
Wollens durchaus ungefährlich, ſie läuft nie Gefahr mit dem
Wollen ſelbſt verwechſelt zu werden, im Syſtem der Formloſig-
keit hingegen droht ſtets die Gefahr einer ſolchen Verwechſelung
ſowohl der Abſicht mit dem Willen als des Willens mit der
Abſicht.


So dient alſo die Form zunächſt als Stempel des fertigen
juriſtiſchen Willens.665) Wie ſie hier nun das Juriſtiſche vom
[522]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Nichtjuriſtiſchen, ſo kann ſie zweitens auch erſteres unter ſich
abgränzen d. h. den Gegenſatz zwiſchen den einzelnen rechtlichen
Geſchäften ſignaliſiren. Ich will dies an dem obigen Beiſpiel
der Servitut nachweiſen. Die dem Richter vorgelegten Ver-
handlungen zwiſchen zwei Partheien über die angebliche Beſtel-
lung einer Servitut können ihn zwiſchen vier verſchiedenen An-
nahmen ſchwanken laſſen: 1. die Servitut iſt beſtellt (Ding-
liches Rechtsgeſchäft), 2. ſie iſt bloß verſprochen (Obliga-
tion), 3. es iſt bloß die widerrufliche Benutzung einge-
räumt (Precarium), 4. es iſt bloß die innere Geneigtheit
zur Einräumung derſelben ausgeſprochen. Für den römiſchen
Richter bot die Frage kaum eine Schwierigkeit, denn für den
erſten Zweck bedurfte es der Mancipation oder der Abtretung
vor Gericht, für den zweiten der Stipulation, fehlte es an jeder
Form, ſo konnte nur der dritte oder vierte Fall vorliegen. Ge-
rade für die beiden letzten Fälle aber war der Mangel eines
äußern Unterſcheidungsmerkmals völlig gleichgültig, denn in
beiden Fällen war alles auf den guten Willen des Concedenten
geſtellt, der Gegner hatte keine Klage, der Richter ihn alſo hier
wie dort ſchlechthin abzuweiſen. Für unſern heutigen Richter
kann unter Umſtänden die Frage, ob eine im Teſtament bedachte
Perſon nach Abſicht des Erblaſſers Legatar oder Erbe ſein ſoll,
große Schwierigkeiten haben, für den römiſchen Richter waren
dieſelben durch die verſchiedene Form der Erbeseinſetzung und
der Legate völlig abgeſchnitten.


Der Nutzen der Form beſteht alſo dem bisherigen nach in
der Erleichterung und Sicherung der Diagnoſe — ein Gewinn,
der ſcheinbar und zunächſt nur dem Richter, in der That und
ſchließlich aber der Parthei ſelbſt und dem Verkehr zu gute kömmt.
Denn wie unter der Schwierigkeit und Unſicherheit der patho-
logiſchen Diagnoſe weniger der Arzt, als der Patient, ſo leidet
unter der der juriſtiſchen weniger der Richter, als die Parthei.
Jene Erleichterung für den Richter aber muß der Verkehr mit
einem Opfer von ſeiner Seite erkaufen, die Mühe und Ar-
[523]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
beit des Richters und der Partheien ſtehen hier
im entgegengeſetzten Verhältniß
. Im Formalismus
hat es der Richter bequem, die Parthei unbequem, im Syſtem
der Formloſigkeit umgekehrt die Parthei bequem, der Richter
unbequem.


Zu dieſem erſten allgemeinen Vortheil der Form geſellt ſich
ein zweiter, der unmittelbar in der Perſon der Parthei ſelbſt
wirkſam wird. „Für das Gedeihen des Rechtsverkehrs“, ſagt
Savigny,666) iſt es wünſchenswerth, daß Verträge nicht über-
eilt, ſondern in beſonnener Ueberlegung der daraus entſpringen-
den Folgen geſchloſſen werden. Die Natur des formellen Ver-
trags (wie der römiſchen Stipulation) führt dahin, die beſon-
nene Uebertragung zu wecken, alſo jenen wünſchenswerthen Zu-
ſtand zu befördern.“ Gewiß! bei allen Formen, die mit einem
gewiſſen Aufſchube verbunden ſind, wie z. B. gerichtliche Er-
richtung oder Inſinuation liegt dies auf der Hand. Allein auch
bei der Stipulation? Der mit ihr verknüpfte Aufenthalt war
viel zu kurz, um dem, der in Aufregung oder Uebereilung
etwas verſprochen, Zeit zu laſſen, ſich zu beruhigen und zu be-
ſinnen; es war ein Moment, weniger als eine Minute. Allein
es würde eben auch verkehrt ſein, jenen heilſamen Einfluß der
Form lediglich in dem durch ſie veranlaßten Aufſchub finden zu
wollen. Er liegt vielmehr in ihr ſelbſt, in den Ideen des Ge-
ſchäftlichen, rechtlich Gebundenen u. ſ. w., die ſich mit ihr ver-
knüpfen, darin alſo, daß ſie die Stimmung in dem Handeln-
den hervorruft, in der ſich jeder beim Abſchluß eines Rechts-
geſchäfts befinden ſollte, die geſchäftsmäßige. Für das rö-
miſche Ohr war das kleine Wörtchen spondesne, ſowie es im
Lauf des Geſprächs ertönte, eine Benachrichtigung, daß die Un-
terhaltung einen andern, geſchäftsmäßigen Charakter anneh-
[524]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
men ſollte, ein Signal für die Vornahme einer Handlung von
rechtlicher Natur und Bedeutung. Wer im Fluß der Rede
Aeußerungen gethan, Zuſicherungen ertheilt hatte, die dem Geg-
ner einen rechtlichen Vortheil in Ausſicht ſtellten, mußte ſtutzig
werden, ſowie letzterer ihn beim Wort nehmen und die Sache
rechtlich feſt (das iſt die Bedeutung von stipulari) machen
wollte; mit der Frage über den rechtlichen oder nicht recht-
lichen Sinn ſeiner Worte, die der Gegner an ihn richtete,
trat an ihn die Nöthigung heran, ſich dieſelbe vorher für
ſich ſelbſt
zu beantworten, ſich den Inhalt, die Tragweite
und die Folgen der proponirten Stipulation klar zu machen.
Jenes Wörtchen hatte alſo den unſchätzbaren Werth, als
Wecker des juriſtiſchen Bewußtſeins
zu dienen. Wie
manche Zuſicherungen, Verſprechungen u. ſ. w. werden heut-
zutage ertheilt, bei denen der Redende, ſo ernſtlich er auch ge-
ſonnen iſt, ſie zu halten, ſich doch die Möglichkeit einer dem-
nächſtigen zwangsweiſen Geltendmachung gar nicht vergegen-
wärtigt, und bei denen, träte ihm die Hinweiſung darauf durch
das Anſinnen einer formellen Beſtätigung derſelben von Seiten
des Gegners entgegen, er die Uebernahme einer rechtlichen
Haftung entſchieden verweigern würde. Erſt die Klage bringt
ihn zum Nachdenken über die Art ſeines Wollens. Die Ent-
ſcheidung einer Frage, die rechtzeitig aufgeworfen ihn ein ein-
ziges Wort gekoſtet hätte, iſt jetzt dem Richter überwieſen und
bildet den Gegenſtand eines höchſt zweifelhaften Streites.
Schließt der Formalismus die Gefahr in ſich, daß Jemand, der
wirklich die Abſicht hatte, ſich juriſtiſch zu binden, wegen eines
Formfehlers frei kömmt, ſo das Syſtem der Formloſigkeit die
entgegengeſetzte, daß Jemand, der nicht dieſe Abſicht hatte,
verurtheilt wird.


Ich wende mich jetzt den beſondern Vortheilen der
Form zu. Ich verſtehe darunter, wie oben bemerkt, diejenigen,
die auf der beſonderen Geſtaltung der Form (z. B. der Schrift-
lichkeit, Oeffentlichkeit) beruhen. Bei einer Einführung der
[525]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Form auf legislativem Wege (wie im ſpäteren römiſchen Recht
bei der der instrumenta publica vel quasi publica, der Inſinua-
tion, im preußiſchen Recht der der ſchriftlichen Form) bilden
vorzugsweiſe ſie das Ziel, welches der Geſetzgeber im Auge
hatte, und das ihn veranlaßte, der Form gerade dieſen beſtimm-
ten Zuſchnitt zu geben. Ich will die gangbareren Formen in
dieſer Rückſicht einer Prüfung und Vergleichung unterwerfen.


Es iſt ein Vorzug der ſchriftlichen Aufzeichnung des
Rechtsgeſchäfts vor der mündlichen Errichtung, daß ſie den
demnächſtigen Beweis deſſelben ſichert. Die Zuziehung von
Zeugen gewährt einen ähnlichen Nutzen, aber die Fixirung des
Rechtsgeſchäfts in der Erinnerung iſt theils eine minder ge-
naue, als die durch die Schrift, denn ſie erſtreckt ſich nur auf
den Sinn, nicht auf die Wortfaſſung, und doch kann gerade
letztere unter Umſtänden von höchſter Wichtigkeit ſein; theils
eine minder dauerhafte, denn ſie iſt abhängig von dem Erinne-
rungsvermögen und dem Leben der Zeugen; theils endlich iſt ſie
bei ſolchen Rechtsgeſchäften, die eine Menge detaillirter, ſchwer
zu behaltender Beſtimmungen, Zahlen u. ſ. w. enthalten, wie
z. B. nicht ſelten die Teſtamente, von vornherein höchſt un-
geeignet. Einen andern folgenreichen Differenzpunkt zwiſchen
beiden Formen bietet der Umſtand dar, daß die eine eine abſo-
lute Geheimhaltung des Rechtsgeſchäfts möglich macht, die an-
dere eine Mittheilung deſſelben an die Zeugen erfordert; erſteres
wird mehr dem Intereſſe der Parthei, letzteres mehr dem dritter
Perſonen und des Verkehrs entſprechen. 667) Beide Formen
laſſen ſich übrigens auch verbinden wie z. B. in unſerer heuti-
gen Form der Errichtung vor Notar und Zeugen. Eine eigen-
thümliche Combination derſelben enthält das ſchriftliche Privat-
teſtament des römiſchen Rechts, inſofern es dem Teſtator ver-
ſtattet, den Zeugen den Inhalt des Teſtaments vorzuenthalten.
[526]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Die höchſte Steigerung der ſchriftlichen Form beſteht in der
amtlichen Aufzeichnung (Eintragung in die Flur-, Lager-,
Hypothekenbücher, Handelsregiſter, Aufnahme zu Protokoll),
die des Zeugniſſes in dem amtlichen Zeugniß (testam. in
comitiis calatis, judici oblatum, in jure cessio,
Inſinuation).


Die allgemeinen Vortheile der Form beſchränken ſich auf die
Perſonen, welche in unmittelbare Berührung mit dem Rechts-
geſchäft treten, die Partheien und den Richter, die beſondern
erſtrecken ihre Wirkungen unendlich viel weiter. Hervorhebung
verdient in dieſer Beziehung namentlich die Eigenſchaft der
Oeffentlichkeit der Form, vermöge welcher das Rechts-
geſchäft zur allgemeinen Kunde gelangt. Durch ſie erhielten
z. B. die Gläubiger eines Schuldners, der ſich arrogiren laſſen
wollte, Gelegenheit rechtzeitig ihre Anſprüche geltend zu machen,
und erſt als die Arrogationen nicht mehr vor der Volksverſamm-
lung vorgenommen wurden, und damit dieſes in der Form gele-
gene Sicherungsmittel hinweggefallen war, bedurfte es für die
Gläubiger eines eignen ſelbſtändigen Schutzmittels, der resti-
tutio propter capitis deminutionem.
Einen ähnlichen Dienſt
leiſtete die alte Form der Teſtamentserrichtung vor verſammelter
Gemeinde (testamentum in comitiis calatis) den Verwandten
des Teſtators. 668) Auch wer die von mir früher (B. 1 S. 138 fl.)
aufgeſtellte Hypotheſe nicht theilt, daß das Volk über die Teſta-
mente wie über Geſetze abgeſtimmt und mithin das Recht gehabt
habe, unbillige, liebloſe Teſtamente (inofficiosa) zu verwerfen,
wird mir wenigſtens darin beiſtimmen, daß die Publication des
letzten Willens vor dem geſammten Volk factiſch eine gewiſſe
Garantie gegen einen ſchnöden Mißbrauch der Teſtirfreiheit ge-
währte. Denn ſie ſetzte ihren Urheber noch bei ſeinen Lebzeiten
[527]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
der Kritik des öffentlichen Urtheils und der Reaction der ver-
letzten Intereſſen aus (ſ. oben S. 13, 14). Als die heim-
liche Form der Teſtamente auf- und damit dieſes Correctiv ge-
gen jene Gefahr abkam, mußte der Ausfall in der Form auch
hier auf dem Wege des materiellen Rechts gedeckt werden (que-
rela inofficiosi testamenti
). So kann alſo die Form mate-
rielle Rechtsſätze erſetzen
. Die Dürftigkeit eines Rechts
an letzteren hat zum Theil in der Beſchaffenheit jener ihren
Grund, eine Veränderung der Formen wird daher, wenn der
Ausfall gedeckt werden muß, eine Veränderung jener nach ſich
ziehen.


Von welcher Bedeutung die Oeffentlichkeit für das Kre-
ditſyſtem
iſt, und wie beſtimmend dieſer Geſichtspunkt im
Formenweſen gewirkt hat, namentlich in unſerm heutigen Han-
delsrecht, will ich übergehen, überhaupt aber bemerken, daß es
mir bei dieſen beſondern Vortheilen der Form, da ſie nach Zeit,
Ort und Beſchaffenheit derſelben wechſeln, nicht auf Vollſtän-
digkeit abgeſehen war und ſein konnte. Um ſo nöthiger ſcheint
es mir zu ſein, die Aufmerkſamkeit auf einen andern Punkt zu
leiten, nämlich


3. Das Verhältniß zwiſchen den Vortheilen und Nach-
theilen
.

Mit dem im bisherigen verſuchten Nachweis der Vortheile
und Nachtheile des Formalismus iſt die oben von uns auf-
geworfene Frage von dem praktiſchen Werth des Formalismus
wenn auch ihrer Beantwortung näher geführt, ſo doch noch kei-
neswegs beantwortet. Zu dieſem Zweck iſt vielmehr die An-
gabe nöthig, welche von ihnen beiden überwiegen.


Wie die Vortheilhaftigkeit des Erwerbs von äußern Gütern
ſich darnach beſtimmt, in welchem Verhältniß Gewinn und Ko-
ſten zueinander ſtehen, ſo wird das letztere Verhältniß auch
über den praktiſchen Werth einer Einrichtung entſcheiden. Ge-
wiß! Allein bleiben wir im Vergleich. Eine und dieſelbe Sache
[528]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
hat nicht für Jeden denſelben Werth; dem einen iſt ſie nöthiger,
dem andern entbehrlicher, und nicht überall ſind die Koſten
gleich hoch. So verhält es ſich auch mit den Rechtseinrichtun-
gen. Ihr Werth ſteigt und fällt je nach der Dringlichkeit des
Bedürfniſſes, welches ſie decken ſollen, nach den Vorausſetzun-
gen, die ſie vorfinden — der Cours, zu dem die Geſchichte ihn
notirt, iſt ein wandelbarer — kurz der Begriff: praktiſcher
Werth
iſt ein relativer. Eine und dieſelbe Einrichtung
kann daher hier ebenſo drückend werden, als ſie ſich dort wohl-
thätig beweiſt.


Dieſen relativen Werth des Formalismus ins rechte
Licht zu ſetzen und die Momente, die für ihn maßgebend ſind,
aufzuſuchen, iſt die Aufgabe der nächſten Seiten.


Jene Relativität ergibt ſich ſchon durch einen flüchtigen Blick
auf die Geſchichte. Wäre der Werth des Formalismus ein ab-
ſoluter, wie ginge es zu, daß die Geſchichte ihn bislang noch
nicht gefunden, m. a. W. daß der Gebrauch, den die verſchie-
denen Rechte vom Formalismus machen und gemacht haben,
ein ſo wenig conſtanter iſt? Wäre die Brauchbarkeit überall
dieſelbe, warum nicht auch der Gebrauch? Wir wollen uns
von der Geſchichte die Antwort ertheilen laſſen.


Unſer heutiges Recht hat für Contracte im allgemeinen den
Grundſatz der Formloſigkeit adoptirt, dagegen ſteht der Wech-
ſel ausnahmsweiſe unter dem Geſetz der äußerſten formellen
Strenge. Iſt unſer Schluß von dem Gebrauch auf die Brauch-
barkeit begründet, ſo müſſen die Vortheile des Formalismus
für den Wechſel oder für die Zwecke und Verhältniſſe, für die
er beſtimmt iſt, einen höhern Werth haben, als für die Con-
tracte des gewöhnlichen Lebens, dort müſſen ſich die Koſten be-
zahlt machen, hier nicht. Und in der That, wenn man in An-
ſchlag bringt, daß der Wechſel vorzugsweiſe das Inſtrument
des kaufmänniſchen Verkehrs iſt („kaufmänniſches Papiergeld“
S. 391 Anm. 511) und was gerade für den eigentlichen Han-
del die Rechtsſicherheit, namentlich aber die Klarheit, Zweifel-
[529]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
loſigkeit dieſes Circulationsmittels bedeutet, ſo wird man dies
begreiflich finden. Sodann aber werden andererſeits die Nach-
theile der Form dem Publikum, das vorzugsweiſe mit dem
Wechſel operirt, d. h. den eigentlichen Geſchäftsleuten ungleich
weniger fühlbar, als ſie es bei einer Ausdehnung der Form auf
die Geſchäfte des gewöhnlichen Lebens dem Bürger und Bauer
werden müßten. 669)


Für andere Rechtsgeſchäfte, namentlich letztwillige Verfügun-
gen, Uebertragung von Grundeigenthum, Beſtellung von Hy-
potheken, Prädialſervituten u. ſ. w. haben die neuern Rechte
theils die Formen des römiſchen beibehalten, theils neue hinzu-
gefügt. Gerade bei ihnen ſtellt ſich wiederum das Verhältniß
zwiſchen Gewinn und Koſten beſonders günſtig. Denn einmal
hat für ſie die Form einen viel höhern Werth, als bei den Con-
tracten, 670) da letztere ihre Wirkungen auf die handelnden Per-
ſonen beſchränken und in verhältnißmäßig kurzer Zeit ſich er-
ſchöpfen, während jene ihre Wirkungen, ſowohl was die Zeit-
dauer derſelben als die davon betroffenen Perſonen anlangt,
möglicherweiſe ſehr weit ausdehnen können. In demſelben Ver-
hältniß wie dieſe Ausdehnung wächſt der Werth einer Be-
glaubigung des Rechtsgeſchäfts durch die Form. Andererſeits
aber ſind die Nachtheile hier wiederum weniger drückend. Denn
diejenigen Rechtsgeſchäfte, die ſich raſch conſumiren, wie z. B.
die Realcontracte, die Conſenſualcontracte mit Ausnahme der
Societät, werden auch regelmäßig ohne lange Vorbereitung ab-
geſchloſſen, ja ein durch eine ſchwerfällige Form veranlaßter
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 34
[530]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Aufſchub könnte bei ihnen unter Umſtänden das Zuſtandekom-
men geradezu verhindern. Nicht ſo bei denen, die ich oben ge-
nannt habe. Sie drängen und eilen nicht ſo, regelmäßig geht
ihrem Abſchluß eine längere Zeit der Vorbereitung, Ueberlegung,
Verhandlung voraus, und ob dieſe Zeit durch die Zuthat der
Form um etwas vermehrt wird, fällt gar nicht ins Gewicht.
Sodann endlich bietet das Leben zu ihnen bei weitem nicht den
häufigen Anlaß; auf tauſend Contracte kömmt vielleicht kaum
ein Teſtament, auf hundert Eigenthumsübertragungen beweg-
licher Sachen kaum eine von einer unbeweglichen Sache. Auf
dieſe Weiſe erklärt und rechtfertigt ſich auch der einfachere Zu-
ſchnitt der römiſchen Stipulation gegenüber dem der Mancipa-
tion und Abtretung vor Gericht; die formelle Differenz ent-
ſprach der materiellen.


So variirt alſo das Werthverhältniß zwiſchen den Vorthei-
len und Nachtheilen des Formalismus nach Verſchiedenheit der
Rechtsinſtitute, und eine Form, die für das eine höchſt an-
gemeſſen iſt, würde für das andere das gerade Gegentheil ſein.


Dieſelbe Bemerkung gilt für die verſchiedenen Entwicklungs-
ſtufen eines und deſſelben Rechts ſowie für die Rechte der ver-
ſchiedenen Völker. Hätten die Römer den Druck ihres Formen-
weſens in dem Maße empfunden, wie wir ihn empfinden müß-
ten, ſie würden ſich deſſelben im Ganzen und Vollen nicht min-
der entledigt haben, als ſie es in einzelnen Theilen wie z. B. bei
dem Legisactionenproceß und ſpäter bei den Formeln letztwilli-
ger Verfügungen in Wirklichkeit gethan haben. Der Druck
kann alſo für ſie kein ſo ſchwerer geweſen ſein, und dies führt
uns auf zwei Umſtände, welche ebenſowohl für die relative
Natur des Formalismus im allgemeinen, als für das ſpecielle
Verſtändniß des römiſchen Formalismus von hoher Bedeutung
ſind. Der erſte iſt die bereits früher (S. 436 u. fl.) mit beſon-
derem Hinblick auf den Formalismus beſprochene Stellung der
römiſchen Jurisprudenz zum Volk, die Allgegenwart der Juriſten
im Leben und die Unentgeltlichkeit ihrer Dienſtleiſtungen. Wie
[531]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
theuer im eigentlichen Sinn würden dem heutigen Verkehr die
römiſchen Formeln werden — am theuerſten, wenn er die Koſten
der Zuziehung des Juriſten ſparen wollte! Der zweite Umſtand
beſteht in einer Eigenſchaft, die wenn auch dem römiſchen Volk
keineswegs eigenthümlich, ſich doch bei ihm in ungleich höhe-
rem Grade vorfand, als mit Ausnahme des engliſchen bei allen
Völkern der Gegenwart, ich meine jenen nationalen Zug zur
Form, den ich im Folgenden als Formenſinn bezeichnet habe,
und der das Volk die Formen nicht als etwas äußerlich Auf-
gedrungenes, Poſitives und Fremdartiges, ſondern als etwas
innerlich Nothwendiges, Natürliches, Homogenes erſcheinen
ließ.


Ich wende mich jetzt der oben S. 504 aufgeworfenen zwei-
ten
Frage zu.


II.Die hiſtoriſchen Gründe des Formalismus.

Ich habe mich dort bereits dahin ausgeſprochen, daß ich
den Grund des hiſtoriſchen Auftretens und Beſtandes des For-
malismus keineswegs bloß in ſeine im Bisherigen ausgeführte
praktiſche Brauchbarkeit ſetze, und ich will im Folgenden den
Verſuch machen, die übrigen mitwirkenden Gründe aufzu-
ſuchen.


Wir müſſen zu dem Ende zwei Arten der Formen wohl von
einander unterſcheiden. Wenn ein Geſetzgeber eine Form ein-
führt, ſo geſchieht es eines beſtimmten Zweckes wegen. Hier
verdankt die Form in der That ihr Daſein ſowohl wie ihren
Zuſchnitt ausſchließlich einem praktiſchen Motiv; ſie tritt in
die Welt mit einer beſtimmten Tendenz an der Stirn, und in
Hinblick darauf will ich dieſe Art der Formen tendentiöſe
nennen.


Anders bei denjenigen Formen, die aus dem Leben und dem
Volke ſelbſt hervorgegangen ſind, wie namentlich alle der Ur-
zeit des Rechts angehörige. Ich nenne ſie naive. Der Um-
ſtand, daß ſie nicht mit Abſicht und Bewußtſein eingeführt, daß
34*
[532]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſie nicht gemacht, ſondern geworden ſind, ſchließt zwar die
Möglichkeit nicht aus, daß nicht unbewußt und inſtinctiv das
Gefühl des praktiſchen Nutzens der Form bei ihrer Bildung
mitgewirkt habe. 671) Allein daß ſie nicht ausſchließlich die-
ſem Motive ihren Urſprung verdanken, daß vielmehr noch an-
dere Gründe ſowohl bei der erſten Bildung als bei der Erhal-
tung derſelben wirkſam werden, ihr Unterſchied von den ten-
dentiöſen alſo nicht bloß in der Verſchiedenheit der Rechts-
quelle
beſteht, durch die ſie eingeführt werden (in welchem
Fall die Unterſcheidung derſelben völlig unberechtigt ſein würde),
dies, ſage ich, läßt ſich aus manchem abnehmen. Zunächſt aus
dem morphologiſchen Zuſchnitt derartiger Formen. Derſelbe iſt
nämlich nicht bloß ungleich voller, reicher, als er durch das
rein praktiſch-juriſtiſche Intereſſe geboten ſein würde (man
denke z. B. an die römiſchen Hochzeitsfeierlichkeiten), ſondern
er kann ebendadurch mit dem letzteren geradezu in Widerſpruch
treten. Jeden Zweifel aber beſeitigt der Umſtand, daß derartige
Formen ſich auch auf andern Gebieten wiederholen, und zwar
auf Gebieten, für die der Geſichtspunkt des praktiſchen
Werths
der Form keine Anwendung leidet, wie z. B. auf dem
des religiöſen Cultus, und eben dieſe Wahrnehmung kann und
muß uns hier auf den rechten Weg leiten, uns nämlich zu der
Erkenntniß führen, daß wir in dem Formalismus keine
ſpecifiſch rechtliche, ſondern eine allgemeine cul-
turhiſtoriſche Erſcheinung zu erblicken haben, die
innerhalb des Rechts nur einen ungewöhnlich
günſtigen Boden vorfindet, nur eine beſonders
geſteigerte Wirkſamkeit entfaltet
.


Der Formalismus in dieſem weiteſten Sinn bezeichnet ein
[533]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
nothwendiges Entwicklungsmoment in der Bildungsgeſchichte
des menſchlichen Geiſtes. Wie der in den Banden des ſinn-
lichen Denkens befangene Geiſt überall, wo es die Darſtellung
eines Innerlichen gilt, zu ſinnlichen Ausdrucksmitteln ſeine
Zuflucht nimmt, zu Bildern in der Sprache, zu Perſoni-
ficationen
in ſeiner Natur- und religiöſen Anſchauung, zu
Emblemen, Symbolen u. ſ. w., ſo benutzt er auch die
Handlung, um ſeinen Gefühlen, Stimmungen, Ahnungen,
Entſchlüſſen eine ſinnlich-ſubſtantielle, plaſtiſche Geſtalt zu
geben. So wird ihm das Unſichtbare ſichtbar, das Ferne nahe,
das Tiefe an die Oberfläche gerückt. Dies iſt die Sprache, die
er verſteht, und durch die er die Unbehülflichkeit im abſtracten
Denken und Reden ausgleicht. Und eben weil ſie ihm na-
türlich und nothwendig iſt, gelingt ihm die Darſtellung in
und mit ihr in einer Weiſe, mit der alle Kunſt und Ueber-
legung der abſtracten Periode ſich nicht meſſen kann. Ein ein-
ziges Zeichen erſchließt ihm das Weſen des Verhältniſſes oft
beſſer und hält es ihm gegenwärtiger und geläufiger, als alle
Worte es vermöchten. In den Fasces und den Beilen der rö-
miſchen Conſuln ſteckte ſowohl für ſie ſelbſt als für das Volk
ein ſehr beträchtliches Stück von dem Conſulate — es erinnerte
beide beſtändig an das, was es bedeutete Conſul zu ſein, und
ich glaube, es iſt nicht zu viel geſagt, daß ohne jenes Attribut
der Geiſt, in dem die Conſuln ihre Macht gehandhabt, die
Stellung, die ſie dem Volk gegenüber einnahmen, und damit
die Geſchichte des Conſulats und des ganzen Staats eine an-
dere geworden wäre. Jene ſinnlichen Ausdrucksmittel ſind die
Hülle, in der Gedanken, Ideen, Anſchauungen, kurz ein geiſti-
ger Kern einem Organismus zugeführt werden kann, der ihn
in ſeiner nackten Geſtalt ſich anzueignen noch nicht befähigt
wäre. Was er ergreift und faßt, iſt allerdings zunächſt nur das
Aeußere, die Schale, allein unbewußt hat er in ihr ein geiſtiges
Samenkorn in ſich aufgenommen, das auch in unfruchtbarſter
Erde auf die Dauer nicht regungslos verharren kann, ſondern
[534]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
das unvermerkt keimt und ſproßt, und dem Geiſt wenn auch
kein klares Bewußtſein, ſo doch eine dunkle Ahnung zuführt,
das Gemüth ſtimmt, die Phantaſie in Bewegung ſetzt.


Zeichen und Handlungen, die dieſen Zweck haben, einen
geiſtigen Inhalt ſinnlich darzuſtellen, heißen bekanntlich ſym-
boliſche
. Symbol iſt ein ſinnliches Ausdrucksmittel für et-
was Ueberſinnliches; wo das Auszudrückende ſeinerſeits
wieder etwas Sinnliches iſt, wie z. B. wenn im römiſchen
Recht 672) bei der Vindication das Grundſtück durch eine Scholle
oder im germaniſchen Recht bei der Tradition durch Raſen und
Zweig 673) vertreten wird (Pars pro toto), ſollte man, wenn
man genau ſprechen wollte, den Ausdruck vermeiden (ſonſt
könnte man auch das Gemählde, die Skizze ein Symbol
des Gegenſtandes nennen, den ſie darſtellen ſollen), und ich
werde für dieſe letztere Art im Folgenden den Ausdruck: re-
präſentative
Darſtellung gebrauchen. Der Speer war ein
Symbol des Eigenthums, denn er drückte etwas Inneres,
Geiſtiges aus: die rechtliche Macht und Herrſchaft des Eigen-
thümers, dagegen der Stab, deſſen man ſich an ſeiner Statt be-
diente, kein Symbol, ſondern ein Repräſentant, ein Surrogat
des Speeres. 674) Ebenſo war der Scheingang zum Grundſtück,
zu dem der Prätor bei der Vindication die Partheien auffor-
derte, 675) keine ſymboliſche Handlung, ſondern eine Schein-
handlung (§. 46), ſie ſollte etwas Aeußeres: das wirkliche
Gehen zum Grundſtück vorſtellen und erſetzen. Ebenſowenig
verdient daher das Geſchäft per aes et libram den Namen einer
ſymboliſchen Zahlung, denn das, was hier angedeutet werden
ſoll: eine Zahlung in alter Form iſt wiederum etwas Aeußeres.
Man müßte ſonſt die 30 Lictoren, welche in ſpäterer Zeit bei
[535]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
der Arrogation die 30 Curien repräſentirten, eine ſymboliſche
Volksverſammlung nennen. Dagegen war es eine ſymboliſche
Handlung, wenn der Sklav bei der Freilaſſung ſich herum-
drehen mußte, denn dieſe Veränderung ſeiner äußern Stel-
lung
(des status im natürlichen Sinn) ſollte ein Zeichen ſein
für die ſeiner inneren (des status im juriſtiſchen Sinn). Ich
will übrigens nicht verkennen, daß ſich die Gränzen zwiſchen
den ſymboliſchen und repräſentativen Handlungen im einzelnen
Fall ſehr verwiſchen können, allein es kömmt auch weniger auf
die Durchführung, als die Aufſtellung des Unterſchie-
des an; welches Intereſſe ſich daran knüpft, wird aus dem Fol-
genden klar werden.


Symbole und ſymboliſche Handlungen ſind nun, wie oben
bemerkt, recht eigentlich die Sprache des naiven Geiſtes — eine
Hieroglyphenſchrift, deren er ſich bedient, weil er die Buch-
ſtabenſchrift der abſtracten Darſtellung noch nicht erfunden,
und darum fällt die Blüthezeit derſelben in die naive Periode.
Allein es iſt doch nicht die Noth allein, die ihn zu dieſer
Zeichenſprache ſeine Zuflucht nehmen läßt, nicht das bloße Un-
vermögen oder die Unbeholfenheit des abſtracten Ausdrucks,
ſondern es iſt zugleich das ſinnige Behagen, das poetiſche
Wohlgefallen an der ſinnlichen Geſtaltung des Geiſtigen, es iſt
der Reiz der Plaſtik des Gedankens. Dies ergibt ſich
aus Folgendem. Zuerſt daraus, daß wir jene Darſtellungsweiſe
keineswegs bloß bei ſolchen Gedanken antreffen, die durch ihre
Tiefe zum Gebrauch derſelben nöthigten. Der geiſtige Kern iſt
nicht ſelten ein ſo platter und dürftiger, daß auch die Mittel
einer noch ſo wenig entwickelten Sprache zur Formulirung deſ-
ſelben vollkommen ausgereicht haben würden. Ja manche For-
men — ich erinnere z. B. an die repräſentativen — ſchließen
überhaupt gar keinen Gedanken in ſich. Und ſodann: wäre es
bloß jener Grund allein geweſen, ſo müßte der Fortſchritt der
geiſtigen Entwicklung oder, was daſſelbe, die Ausbildung der
Sprache — denn was der Geiſt erwirbt, bucht die letztere —
[536]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
eine allmählige Verdrängung der Formenſprache nach ſich gezo-
gen haben, auf der Höhe der Cultur müßten alle Reſte der nai-
ven Periode abgethan ſein, und die Form, inſoweit nicht, wie
im Recht, ein praktiſches Motiv ihr das Daſein friſtete, dem
nackten, dürren, abſtracten Gedanken Platz gemacht haben.
Allein dies iſt keineswegs der Fall, ſo wenig ich im übrigen
läugnen will, daß die Veränderung der geiſtigen Atmoſphäre
einen bemerklichen Einfluß in dieſer Beziehung ausübt.


Alſo: der Formalismus iſt nicht bloß ein Nothbehelf des
nach dem Ausdruck ringenden Geiſtes, er hat nicht bloß ſeinen
Grund in der urſprünglichen Unvollkommenheit der Sprache.
Zu dieſem erſten Motiv ſeines hiſtoriſchen Auftretens, das ſich
mit der Kindheitszeit der Völker erſchöpft, geſellt ſich vielmehr
noch ein zweites, das dieſelbe weit überdauert. Es iſt das
ſo eben angegebene: das Wohlgefallen an der Aeußerlichkeit,
die Freude am Sinnlichen — jene Eigenſchaft, deren ich bereits
oben S. 531 unter dem Namen des Formenſinns gedacht
habe.


Die Anziehungskraft, die die Form auf den menſchlichen
Geiſt ausübt, iſt mannigfaltiger Art. Feſſelt ſie den poetiſchen
Sinn von der rein äſthetiſchen Seite durch das plaſtiſche
und dramatiſche Element, durch das ſie die Vorgänge des
Lebens zu verſchönern weiß, ſo den nüchternen, verſtändigen
Sinn von der praktiſchen Seite durch die Ordnung, Regel-
mäßigkeit, Gleichmäßigkeit, Sauberkeit des menſchlichen Seins
und Thuns, und das Gemüth endlich bei allen Vorgängen, bei
denen daſſelbe betheiligt iſt, von der ethiſchen Seite, indem ſie
daſſelbe mit dem Gefühl des Ernſtes und der Feierlichkeit durch-
dringt, indem ſie den Handelnden über ſich ſelbſt und das rein
Individuelle und Vorübergehende ſeiner eignen Situation auf
die Höhe der allgemein menſchlichen, typiſchen Bedeutung des
Akts erhebt, ihn mit denen, die vor ihm da waren und nach
ihm ſein werden, in eine unſichtbare Gemeinſchaft bringt.


Dieſe Mannigfaltigkeit der Anknüpfungspunkte, die die
[537]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Form dem menſchlichen Geiſte darbietet, iſt maßgebend für
die ſpecielle Geſtaltung, die ſie bei den verſchiedenen Völkern
und auf den verſchiedenen Culturſtufen ſowohl als auf den ver-
ſchiedenen Gebieten, Kreiſen, Sphären des menſchlichen Den-
kens, Fühlens und Lebens annimmt. Die Formen bei einem
Volk von überwiegend verſtändiger Art tragen einen andern
Charakter, als die bei einem mehr poetiſchen, die des Rechts
einen andern, als die des religiöſen Cultus. Dazu geſellen
ſich ſodann noch gewiſſe der Form an ſich fremde Elemente: der
mehr conſervative oder bewegliche Charakter des Volkes oder
Kreiſes, bei dem ſie gelten, die äußeren Verhältniſſe deſſelben,
die locale Abgeſchiedenheit (z. B. der Bergleute), die abſichtliche
Abſperrung deſſelben (z. B. die der Zünfte in den letztverfloſſe-
nen Jahrhunderten) und endlich der Einfluß der Religion
(Katholicismus und Calvinismus).


Ich wende mich jetzt einer Erſcheinung zu, welche für die
richtige Einſicht in das Weſen und die Motive des Formalis-
mus im höchſten Grade lehrreich iſt und, wenn irgend etwas,
von der Macht, die meiner Behauptung zufolge die Form auf
das menſchliche Gemüth ausübt, Zeugniß ablegt. Es iſt dies
die Entſtehung, beziehungsweiſe Fortdauer der Formen, die
von vornherein aller Bedeutung entbehrten, beziehungsweiſe
dieſelbe verloren haben — alſo der reine, nackte Cultus der
Form als ſolcher.


In der römiſchen Welt, ſowohl im Recht, als in der Sitte
des Lebens und dem religiöſen Ritus, und im heutigen Eng-
land begegnet uns namentlich häufig eine Art von Formen, die
ich reſiduäre nennen will. Die Formbildung erfolgte bei
ihnen auf die Weiſe, daß Einrichtungen, Handlungen, Ge-
bräuche oder Elemente derſelben, die bis dahin durchaus keinen
formellen Charakter hatten, vielmehr durch die damaligen Zu-
ſtände des Lebens, durch den Stand der Fabrication, des Ge-
werbes, Landbaus, durch die Mode u. ſ. w. gegeben und ge-
boten waren, für gewiſſe Gelegenheiten und Verhältniſſe als
[538]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Solennien beibehalten wurden, während ſie im ernſtlichen Ge-
brauch des Lebens durch den Wechſel der Mode oder durch die
Fortſchritte der Technik verdrängt wurden. Dadurch wird, was
bis dahin keine Form, ſondern ein flüſſiges, freies Stück des
damaligen Lebens war, zur reinen Form — ein verſteinertes
Stück Vergangenheit, das oft ſeltſam in die ſpätere Zeit hin-
einragt. Der Sprecher des engliſchen Unterhauſes trägt be-
kanntlich noch bis auf den heutigen Tag ſeine aus früherer
Zeit ſtammende gewaltige Perücke; während dieſelbe von den
andern Köpfen verſchwand, iſt ſie auf dem ſeinigen als „reſi-
duäre Perücke“ ſitzen geblieben — ein Beiſpiel, zu dem auf dem
Continent Hamburg ein Seitenſtück gibt, das ſich ebenfalls für
gewiſſe Gelegenheiten z. B. Leichenbegängniſſe — die reſiduä-
ren Perücken nicht hat nehmen laſſen.


Die älteſte Getreideart, welche die Römer oder ihre Vorfah-
ren bauten, war der Spelt (far), die älteſte Art des Brodes
der Teig (puls). Im Leben hatten beide längſt anderen Arten
und Zubereitungsweiſen Platz gemacht, allein im religiöſen
Ritus und namentlich auch bei Eingehung der Ehe durch Con-
farreation hielt man an jenen feſt. In uralter Zeit hatte man ſich
zum Schneiden in Ermangelung von Meſſern und Scheeren des
Speeres bedient, und ſo auch der Bräutigam bei Eingehung
der Ehe, um der Braut das Haar zu ſchneiden. Ueberall war
der Speer gewichen, allein in den Händen des Bräutigams hielt
er ſich nach wie vor (hasta caelibaris). Ebenſo verhält es ſich
mit dem Kopftuch der Braut (flammeum). Die Mode kannte
längſt beſſere Gewebe, aber die Braut bei der Hochzeit und die
Prieſterin durften ſich von der älteſten Form nicht losſagen. 676)
Vor Einführung des geprägten Geldes war man gezwungen, das
[539]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
Metall zuzuwägen — durch jene Maßregel ward man deſſen
überhoben. Allein im Nexum und in der Mancipation behielt
man, wenn auch nicht das Wägen ſelbſt, ſo doch das Erz und
die Wagſchale bei (§. 46).


In allen dieſen Fällen, die ſich noch durch manche vermeh-
ren ließen, hatte die Form von vornherein nicht die geringſte
innere Bedeutung, ſie war ein bloßer Niederſchlag vergangner
Zuſtände, ein reines Caput mortuum. Was verhalf ihr nun zu
dieſem Leben als Form? Die bloße Vis inertiä, die Macht der
Gewohnheit? Mögen wir immerhin ſo ſagen, aber überſehen
wir nur nicht, daß die Macht der Gewohnheit ihrerſeits hier
wiederum ſubjectiv eine der Form geneigte Stimmung voraus-
ſetzt. Bei einem gleichgültigen Verhalten des Geiſtes gegen
das Moment des Aeußerlichen würde das Alte, nachdem es
einmal der Sache nach und in der praktiſchen Anwendung dem
Neuen Platz gemacht, es auch der Form nach gethan haben.
Uebrigens iſt es ſehr wohl möglich, daß die reſiduären Formen
für eine ſpätere Zeit, der der hiſtoriſche Urſprung derſelben
entſchwunden iſt, dadurch daß ſie in dieſelben einen Sinn hin-
einträgt, den ſie urſprünglich nicht hatten, die Kraft und Be-
deutung von ſymboliſchen erhalten, und ich bin überzeugt, daß
eine Menge von Formen als ſymboliſche angeſehen werden, die
von Haus aus nichts waren als reſiduäre. 677)


Wie nun in den letztern ein Stück Vergangenheit, ganz ſo
wie es war, zur Form verſteinert, ſo wird in andern Fällen,
wenn ich ſo ſagen darf, wenigſtens die Reminiscenz erhal-
ten, nämlich vermöge repräſentativer Darſtellung (ſ.
oben). An Stelle der bisherigen Weiſe, die man gezwungen iſt
ganz oder zum Theil zu verlaſſen, wird eine bequemere, zeit-
gemäßere Nachbildung geſetzt und zwar lediglich als Form,
lediglich des Aeußern wegen — eine Conceſſion, durch die man
[540]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſich unbeſchadet der Forderungen des Lebens mit dem an dem
Aeußerlichen haftenden Sinn abfindet.


So lange die römiſche Herrſchaft ſich auf ein kleines Stadt-
gebiet beſchränkte, war es ausführbar, daß bei der Vindication
eines Grundſtücks der Prätor ſich mit den Partheien an Ort
und Stelle verfügte. Als jenes Gebiet in ſeiner Ausdehnung
einen gewiſſen Punkt überſchritten, mußte man die Einrichtung
fallen laſſen. Indem man ſich aber einerſeits der Nothwendig-
keit fügte, ſuchte man doch andererſeits den Schein und die Er-
innerung der alten Einrichtung dadurch aufrecht zu erhalten,
daß man das Grundſtück durch eine von den Partheien geholte
Scholle vor Gericht repräſentiren ließ. Man ermöglichte da-
durch zugleich die Beibehaltung der auf die Anweſenheit des
Grundſtücks berechneten Vornahmen und Formeln. Die Arro-
gation geſchah in alter Zeit in den Curiatcomitien unter Mit-
wirkung der Pontifices durch einen förmlichen Volksbeſchluß.
Auch dieſe Einrichtung ward ſpäter unhaltbar, und wahrſchein-
lich kam ſie einfach dadurch ab, daß das Volk aus Mangel an
Intereſſe wegblieb. Bekanntlich wurden von da an die Arroga-
tionen lediglich durch die Pontifices vollzogen — denn daß die
Lictoren ihnen gegenüber kein ſelbſtändiges Entſcheidungsrecht
hatten, bedarf nicht der Bemerkung — allein da es einmal
eines Beſchluſſes der Curiatverſammlung bedurfte, ſo half man
ſich dadurch, daß man die 30 Curien durch 30 Lictoren vertreten
ließ. Der Sache nach war die alte Einrichtung aufgegeben,
aber bis zu einem gewiſſen Grade war doch der äußere Schein
derſelben gerettet. Andere Beiſpiele werden noch gelegentlich
nachfolgen (ſ. auch B. 1 S. 326 und oben S. 534).


Ich wende mich jetzt der Fortdauer von Formen zu, die
ihre Bedeutung verloren haben. Das ſo eben betrachtete
Verhältniß der repräſentativen Formen ſteht gewiſſermaßen in
der Mitte zwiſchen dieſem und dem erſten Fall; inſofern dieſel-
ben eine morphologiſch neue Form enthalten, neigen ſie ſich
[541]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
hierhin, inſofern letztere ſelbſt aber nur die Imitation einer
vorhandenen iſt, dorthin.


Das Verhältniß, das wir hier zu betrachten haben: die
Fortdauer des Aeußern als leere Form nach Abſterben des In-
nern, iſt ſowohl bei Formen als Einrichtungen möglich.
Bei erſteren — nämlich bei ſymboliſchen Formen, die ſich
überlebt haben, d. h. die ſubjectiv, ſei es kein Verſtändniß, ſei
es keinen Glauben mehr finden. Bei dieſen — wenn ſie ihre
praktiſche Wahrheit und Bedeutung verloren haben, z. B.
dadurch daß die freie Handlung ſich in eine nothwendige ver-
wandelt, 678) daß an die Stelle der Leiſtung, auf die das Geſetz,
der Richterſpruch, der Vertrag lautet, in der Ausführung eine
andere geſetzt wird, 679) u. ſ. w. Als letzter Reſt der alten Ein-
richtung bleibt nicht ſelten das nackte, bloße Wort, die For-
mel, der Name, ungeachtet die Sache ſelbſt eine völlig andere
geworden iſt. Der Wein, der in den Tempel der Ops gebracht
ward, kam, wie Macrobius berichtet, 680) nicht unter ſeinem
eignen Namen hinein, ſondern als „Milch“, das Gefäß ward
„Honigtopf“ genannt, was darauf hinweiſt, daß in dem Tempel
urſprünglich nur Milch und Honig zugelaſſen war. In alter
[542]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zeit wurden in England die Oberrichterſtellen nur mit Lords
beſetzt, dies änderte ſich ſpäter, allein der Name und die An-
rede: Lord Oberrichter iſt bis auf den heutigen Tag geblieben.


Dieſe Anhänglichkeit an die gewohnte aber aller innern
Bedeutung beraubte Form, dieſer Cultus der nackten Aeußer-
lichkeit erſcheint auf den erſten Blick als etwas völlig Werth-
loſes und Verwerfliches, und die ſeichte Weisheit der Aufklä-
rungsperiode hat ihn von den Tagen des Cicero an (S. 468
Anm. 610) bis auf unſere Zeit hinab als vogelfreien Gegen-
ſtand des Witzes betrachtet. Es wäre verdienſtlicher geweſen,
die Sache zu begreifen, als zu verſpotten. Sie hat eine höchſt
ernſte Seite, und ich nehme nicht Anſtand, in ihr eine der be-
deutungsvollſten culturhiſtoriſchen Erſcheinungen zu erblicken.


Die Sicherheit und Feſtigkeit des Fortſchrittes beruht be-
kanntlich auf der hiſtoriſchen Continuität, auf dem innigen Zu-
ſammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit. Zu den
Fäden und Anknüpfungspunkten nun, durch die ſich dieſe Con-
tinuität vermittelt, gehört namentlich die Form, denn während
die innern, ſachlichen, hiſtoriſchen Anknüpfungspunkte dem Be-
wußtſein der Menge mehr oder weniger entſchwinden und nur
einer kleinen Zahl von Kundigen eigentlich geläufig bleiben, ſo
iſt die Form als etwas Sichtbares und ſtets ſich Wiederholen-
des die hauptſächlichſte Trägerin des hiſtoriſchen
Continuitätsbewußtſeins des Volks
. Je mehr ſich
in den Formen irgend eine ſpäterhin verſchwundene Eigenthüm-
lichkeit ihrer Entſtehungszeit ausgeprägt hat, ſei es der Verfaſ-
ſung, ſei es der Sitte, Mode u. ſ. w., je fremdartiger ſie alſo den
Beſchauer anmuthen und in ihm das Gefühl der hiſtoriſchen
Ferne
hervorrufen, wie etwa durch längſt abgekommene Trach-
ten und Moden die Bilder der Ahnen, um deſto mehr ver-
binden
ſie ihn andererſeits mit der Vergangenheit, indem ſie
ihm dieſelbe in anſchaulicher und charakteriſtiſcher Weiſe vor-
führen, die Erinnerung der alten Tage, das Gedächtniß der
Ahnen im Volk wach und lebendig halten und damit jene maß-
[543]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
volle Stimmung und Haltung in den praktiſchen Fragen der
Gegenwart hervorrufen, die wir mit Recht an den alten Rö-
mern und Engländern bewundern. Das Feſthalten an den
überkommenen Formen, ſelbſt nachdem ſich dieſelben überlebt
haben, iſt wie einerſeits ein Ausfluß, ſo andererſeits eine un-
verſiegbare Quelle jenes hiſtoriſchen Sinns, ohne den in Staat
und Kirche noch nie ein feſter Bau gelungen iſt.


Zu dieſem erſten Grunde, der den hiſtoriſchen Sinn die For-
men als ſolche lieben, ſchätzen und pflegen lehrt, dieſem, wenn
ich ſo ſagen darf, allgemein pädagogiſchen Werth derſel-
ben für den Volkscharakter geſellt ſich ſodann als zweiter der er-
haltende Einfluß, den die Formen auf die Ideen, Einrichtungen
u. ſ. w. ausüben, die in ihnen ihren äußern Ausdruck finden.
Je kräftiger dieſe ihre Außenſeite entwickelt iſt, deſto höher ihre
eigne Lebenskraft. Denn mit den Formen ſchmiegen und klam-
mern die Ideen und Einrichtungen ſich feſt an die ſinnliche
Welt, an die äußere Weiſe des Lebens, an das Erinnerungs-
vermögen des Auges, an die Macht der äußeren Gewohnheit.
Wird dadurch ſchon unter gewöhnlichen Umſtänden ihre Exi-
ſtenz und Kraft geſichert und erhöht, ſo tritt doch der unſchätz-
bare Werth des Rückhalts, den ſie damit gewonnen, erſt unter
ganz beſondern Verhältniſſen in ſein volles Licht. Für alle
Ideen — ich habe im Folgenden vorzugsweiſe, aber nicht aus-
ſchließlich die religiöſen im Auge — für alle Ideen alſo gibt es
Perioden der vorübergehenden Lauheit und Gleichgültigkeit,
des Ermattens und des Abfalls, Perioden der Prüfung und
Gefahr, bei denen es ſich für ſie um Sein und Nichtſein han-
delt. Ideen, die rein auf ſich ſelbſt geſtellt ſind d. h. jenes
Rückhaltes der Form entbehren, verlieren mit der moraliſchen
Macht über die Gemüther ihre Exiſtenz, ſie gehen unter, indem
ſie dem Volk abhanden kommen, und es koſtet, wann die feind-
liche Strömung der Zeit ſich verlaufen, einen neuen Kampf, ſie
wieder ins Leben zu rufen, eine neue Geburt und neue Geburts-
wehen. Anders aber bei denjenigen, die ſich in feſten, äußern
[544]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Formen verkörpert haben, denn die Form hat, wie alles Niedere
im Vergleich zum Höheren, eine zähere Lebenskraft; ſie kann,
was die Idee nicht kann: vegetiren d. h. fort dauern
ohne Verſtändniß. Als ein gleichgültiges Stück des äußern Le-
bens beibehalten, nachdem die Ideen ſelbſt, die ſie ausdrücken
ſoll, gewichen, gedankenlos fortgeführt, vegetirt ſie fort, inner-
lich hohl und leer und ſcheinbar ohne allen Werth. Da erheben
ſich denn nicht ſelten die Klugen und Geſcheuten und nennen
das ganze Weſen Lug und Trug und begehren, daß was ver-
fault und innerlich todt, auch begraben werden ſolle. Aber
wo ein Volk jenen Sinn und jene Empfänglichkeit für die Form
beſitzt, die ich oben als Formenſinn bezeichnet habe, läßt es
nichts deſto weniger im richtigen Inſtinct von der als todt ge-
ſchmählten Form nicht ſo leicht ab. Und mit Recht! Denn
jener angebliche Tod der Form, jene innere Entſeelung derſel-
ben iſt mitunter nur ein Scheintod — ein Winterſchlaf in öder,
dürrer Zeit, dem das erſte Wehen des Frühlingshauchs ein Ende
macht. Auf der „todten“ Form beruht hier die ganze Hoff-
nung des Lebens. Sie abzuthun heißt unter dieſen Umſtän-
den nicht einen entſeelten Körper beſtatten, ſondern die Larve
zerſtören, die den Schmetterling in ſich birgt.


In dieſen Lagen alſo, wo die Form ſcheinbar allen und jeden
Werth verloren, entfaltet ſie umgekehrt ihre höchſte Brauchbar-
keit, leiſtet ſie der Idee den unſchätzbarſten Dienſt. Das Fort-
vegetiren der Form wird hier in den Händen der Geſchichte das
ſpecifiſche Mittel, um die Möglichkeit des Wiederanknüpfens,
die Continuität der hiſtoriſchen Entwicklung zu
ſichern
. Möge immerhin in den bei weitem meiſten Fällen
was todt ſcheint, auch todt ſein und bleiben, der Geiſt und das
Leben nie wieder in die entſeelten Formen zurückkehren — wer
die Gefahr, den Scheintod für den Tod anzuſehen, vermeiden
will, kann es nur um den Preis, daß er im zweifelhaften Fall
den Tod als Scheintod nimmt.


Die bisherige Ausführung hat uns gelehrt — und ich faſſe
[545]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
damit die beiden Theile derſelben unter einen Geſichtspunkt
zuſammen — daß das Feſthalten an den Formen als ſolchen
nicht etwas rein Aeußerliches und Werthloſes iſt, ſondern ein
Ausfluß und weſentliches Förderungsmittel des Zuges nach
Continuität der Entwicklung. Darum eben finden wir dieſe
Eigenſchaft bei den Völkern am ſtärkſten entwickelt, die ſich
durch dieſen Zug am meiſten hervorthun; und ſo namentlich
auch beim römiſchen.


2. Der Formalismus des ältern Rechts.

Extenſive Erſtreckung der Form — Ueberſicht der formellen Ge-
ſchäfte — die Scheingeſchäfte, Begriff, Arten und Behandlung
derſelben von Seiten der ältern Jurisprudenz — die mancipatio,
in jure cessio, stipulatio.


XLVI. Hätte uns die Geſchichte jede directe Auskunft über
das Verhalten des ältern Rechts zum Formalismus vorenthal-
ten, die übrigen Theile des römiſchen Alterthums würden uns
die Frage beantworten. Die Luſt und Liebe zu der Form, das
Streben, das menſchliche Thun und Treiben in feſte Formen zu
bringen, das Unſichtbare ſichtbar zu machen, kurz der Zug zum
Formalismus geht durch die ganze alte Welt. Der religiöſe
Cultus, das Opfer, das Gebet, das Gelübde, die Auſpi-
cien, kurz jede Berührung mit den Göttern hatte in alter
Zeit ihre beſtimmten Formen und Formeln. In ebenſo abge-
meſſenen und feſt beſtimmten Formen und Formeln bewegte
ſich das öffentliche Leben, daheim wie nach außen, in der Volks-
verſammlung wie in der Curie, im Krieg wie im Frieden. Der-
ſelbe Zug nach der Form beherrſchte das Privatleben, die Sitte
des Hauſes, das Auftreten in der Geſellſchaft, den Verkehr. An
dem Kleide, das er trug, erkannte man den Freien und Skla-
ven, den Mündigen und Unmündigen, den Rang und den
Stand, den Bewerber um ein Amt und den in Anklageſtand
Verſetzten.


Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 35
[546]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Doch die Geſchichte hat es uns erſpart, auf dieſem Um-
wege die Antwort zu holen, und wenn ich der Möglichkeit deſ-
ſelben überhaupt gedachte, ſo geſchah es nur, um auch hier,
wie im vorigen Paragraphen, den Formalismus des Rechts
in einen höhern Zuſammenhang einzureihen und als Glied
einer allgemeineren Erſcheinung hinzuſtellen.


Eigenſchaften der Völker und Individuen ſind in ihrem letz-
ten Grunde gegebene Thatſachen, die man nicht weiter analy-
ſiren, begründen oder erklären kann. Dies ſchließt aber nicht
aus, daß man nicht des Einfluſſes gedenken dürfte, den gewiſſe
Umſtände auf die Ausbildung derſelben gewonnen haben, und
noch weniger, daß man nicht den Bezügen, in denen ſie unter-
einander ſtehen, nachforſchen dürfte. Wenn ich daher einerſeits
die ſtarke Entwicklung des Formenſinns als eine hervorſtechende
national-römiſche Eigenſchaft bezeichnet habe, ſo hält mich dies
nicht ab, in der angegebenen Weiſe nach Anknüpfungspunkten
zu ſuchen. Und da bieten ſich denn folgende dar, die ich hier
jedoch, da ich ihrer bereits an andern Stellen gedacht habe,
nicht weiter ausführe, ſondern nur der Ueberſichtlichkeit wegen
zuſammenſtelle: die Beziehung des Formalismus zum Syſtem
der Freiheit (S. 497), zur Tendenz der abſtracten
Gleichheit
(S. 503), zur militäriſchen Disciplin
(B. 1 S. 255) und zu dem conſervativen Charakter
des Volks (B. 1 S. 308), um der Beziehung der prakti-
ſchen
Seite des Formalismus zu der praktiſchen Richtung
des römiſchen Geiſtes (B. 1 S. 302) völlig zu geſchweigen.


Indem wir nun das Gebiet des ältern Rechts betreten, dür-
fen wir es thun mit der Erwartung, daß die Herrſchaft der Form
auf ihm ihren Culminationspunkt erreicht. Und in der That iſt
dies meiner Ueberzeugung nach in dem Maße der Fall geweſen,
daß formloſe und rechtlich-bedeutungsloſe Willenserklärungen
ſynonym waren, m. a. W. ich vindicire der Form für das äl-
tere Recht eine excluſive Herrſchaft.


[547]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.

Dieſe Behauptung muß darauf gefaßt ſein, einem hart-
näckigen Widerſpruch zu begegnen.


Verſtändigen wir uns zunächſt über den Sinn derſelben.
Es iſt nicht meine Meinung, als ob das römiſche Alterthum
nicht von jeher formloſe Geſchäfte gekannt habe, denen die Ge-
walten des Lebens, die Macht der Sitte, die Treue, der Credit
eine factiſche Anerkennung und Beachtung ſicherten. Ich gebe
nicht bloß dieſe Thatſache bereitwillig zu, ſondern ich erblicke in
ihr ſogar ein weſentliches Complement des älteren Rechts
ſelbſt. Allein warum es ſich bei unſerer Frage lediglich handelt,
iſt die rechtliche Wirkſamkeit der Geſchäfte, ihre gerichtliche
Erzwingbarkeit, und ich kann dieſe läugnen und läugne ſie,
ohne jene Thatſache in Abrede zu ſtellen. Sodann aber muß
ich ferner zwei Verhältniſſe, die man verſucht ſein könnte mei-
ner Behauptung entgegenzuſtellen, als gar nicht hierher ge-
hörig ausſcheiden. Zunächſt den Beſitz. Denn der Beſitz als
rein thatſächliches Verhältniß ſchließt ſeinem Begriff nach die
Form aus. Wie er immerhin auch entſtanden ſein möge, iſt
gleichgültig; er iſt da, und dies genügt. Sodann die Con-
dictionen. Sie ſtützen ſich, wenn man will, ebenfalls auf ein
thatſächliches Moment, nämlich auf das rein ſachliche (von
einer Willensthätigkeit unabhängige) Moment der Vermögens-
bereicherung ohne Grund. Es iſt nicht der Wille, ſondern das
Haben, die res, welche hier die Klage begründet. Ich würde
dieſes Verhältniſſes gar nicht gedenken, wenn nicht in manchen
Fällen der Schein entſtände, als ob der Wille hier ein weſent-
licher Factor ſei. Eine condictio indebiti oder ob causam da-
torum
iſt nicht möglich, ohne daß ein Geſchäft zwiſchen Kläger
und Beklagten voraus gegangen iſt. Aber dies Geſchäft iſt hier
nicht ſelbſtändiger Grund der Klage, ſondern letzterer beſteht in
der Bereicherung, die bei Gelegenheit dieſes Geſchäfts ein-
getreten iſt. Derſelben Auffaſſung läßt ſich auch das Darlehn
unterſtellen. Um die Verpflichtung zur Zurückforderung zu be-
gründen, braucht der Kläger nicht in anderer Weiſe das Willens-
35*
[548]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
moment hineinzuziehen, als bei jenen beiden Klagen. Es liegt
hier wie dort eine Bereicherung vor, vermittelt durch menſch-
liche Thätigkeit, Geben und Annehmen, der juriſtiſche Grund
der Klage aber iſt auch hier nicht ſowohl der Wille, als die res,
und darum gilt das Darlehn trotz allem, was geſagt, doch
nicht weiter, als ſo weit es gegeben.


Allein was hilft es, den Beſitz und das Darlehn abzuweh-
ren, da nichts deſto weniger noch eine ſtattliche Reihe von form-
loſen Rechtsgeſchäften des älteren Rechts übrig bleibt? Ich
will die Antwort darauf zunächſt ausſetzen und ſtatt deſſen den
Gegenſatz des Formalismus und der Formloſigkeit auf dem
Culminationspunkt ſeiner Entfaltung tabellariſch veranſchau-
lichen. Ich habe bei der folgenden Tabelle die formloſen Ge-
ſchäfte, die unzweifelhaft neuern Urſprunges ſind, von denen,
deren Alter zweifelhaft iſt, durch eine beſondere Columne ge-
trennt.


[549]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.

Ueber zwei Punkte in dieſer Tabelle könnte man mit mir
rechten. Zunächſt darüber, daß ich das pignus unter die erſte
Columne gebracht habe; der Zuſatz: „als dingliches Recht“
zeigt, in welchem Sinn dies gemeint iſt; das Vorkommen des
pignus als Beſitzpfandes im ältern Recht fällt unter den ſo
eben von mir für den Beſitz aufgeſtellten Geſichtspunkt. So-
dann darüber, daß ich die formloſe Antretung der Erbſchaft in
die zweite Columne geſtellt habe. Wird aber Jemand dieſelbe
im Ernſt in das alte Recht verlegen mögen? Es gibt keinen
Theil deſſelben, der ſo formaliſtiſch geſtaltet wäre, als das Erb-
recht. Im Teſtament erreicht die Form und das Formelweſen
[550]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſeine höchſte Höhe. Zu glauben, daß dem im ſtrengſten Styl
gehaltenen erſten Act des erbrechtlichen Schauſpieles: der Te-
ſtamentserrichtung als zweiter eine völlig formloſe Antre-
tung der Erbſchaft gefolgt ſei, zu glauben, daß die Juriſten
dabei ſich ſelbſt und ihre ganze Weiſe, ihren Sinn für Sym-
metrie ſo ganz und gar verläugnet hätten, dazu würde ein gänz-
licher Mangel alles hiſtoriſchen Sinns und Urtheils gehören.
Daß ein römiſcher Juriſt die hereditatis aditio unter den actus
legitimi
aufführt, 681) will ich nicht in die Wagſchale werfen,
denn es ſteht dahin, ob die Verfaſſer der Pandekten hier nicht,
wie ſo oft, einen nicht mehr paſſenden Ausdruck des früheren
Rechts (cretio) mit einem paſſenderen vertauſcht haben.


Aus der obigen Tabelle ergibt ſich nun folgendes Reſultat.
Alle Geſchäfte, die unzweifelhaft dem ältern Recht angehören,
ſind formell, alle, die dem neuern angehören, formlos oder
m. a. W. der Zug der frühern Zeit geht eben ſo entſchieden
zur Form, als der der ſpätern zur Formloſigkeit. Je weiter wir
in letztere hinabſteigen, um deſto mehr wächſt einerſeits die Zahl
der formloſen Geſchäfte, und deſto mehr ſterben die vorhan-
denen formellen innerlich ab, welches letztere ich hier der Kürze
wegen nur hie und da habe andeuten können. Nur das Fami-
lienrecht bleibt, abgeſehen von der angeblichen Formloſigkeit der
Ehe, von dem Gegenſatz vollſtändig verſchont, und die Einwir-
kung der neuern Zeit äußert ſich hier lediglich in Erleichterung
und Abkürzung der vorhandenen Formen, bis ſie ſchließlich
völlig neuen weichen. Die Reaction der ſpätern Kaiſerzeit ge-
gen das alles überfluthende Princip der Formloſigkeit und die
Zurückführung des letzteren auf ſein rechtes Maß (Codicill,
pignus publicum, instrumenta publica, Inſinuation, Formen
der Freilaſſung u. ſ. w.) hatte für den Zweck, den ich mit jener
Tabelle verfolgen wollte, keinen Werth und bleibt dem dritten
Syſtem vorbehalten.


[551]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.

Dieſer Zweck aber, um es offen zu bekennen, beſteht darin,
den Leſer zu ſtimmen. Ich wünſche ihn von vornherein auf
einen Standpunkt der Betrachtung zu verſetzen, der ihn mei-
ner Anſicht zugänglich macht, ihn zu veranlaſſen, ſeinen
Blick von dem Einzelnen zu dem Ganzen und Großen zu erhe-
ben. Dieſer Blick muß ihm die Ueberzeugung gewähren, daß es
ſich bei der allmähligen Entfaltung des obigen Gegenſatzes um
ein hiſtoriſches Geſetz handelt, um einen ſtetigen Fortſchritt von
der Form zur Formloſigkeit.


Erſtreckt ſich dies Geſetz nun auch rückwärts, m. a. W.
hat dieſer Fortſchritt mit dem Nullpunkt begonnen, gab es eine
Zeit, wo die Geſchäfte der dritten Columne noch gar nicht exi-
ſtirten? Wer könnte eine ſolche Frage unterdrücken? Ich mei-
nerſeits nehme nun, wie bereits bemerkt, keinen Anſtand dieſe
Frage zu bejahen. Der Nachweis dieſer Behauptung mit ſeinen
ins reichſte Detail eingehenden Unterſuchungen würde jedoch
aus dem Rahmen der gegenwärtigen Darſtellung zu weit hin-
austreten und den ganzen Zuſammenhang unterbrechen, und
habe ich aus dem Grunde denſelben an eine Stelle verlegt,
an der er durch derartige Rückſichten nicht beeinträchtigt wird
(Abth. IV: angebliche freiere Bildungen des ältern Rechts).
Die Ausſetzung dieſes Punktes hat auf die folgende Darſtellung
keinen weitern Einfluß.


Es würde mir jetzt zunächſt obliegen, die ſämmtlichen for-
mellen Geſchäfte des ältern Rechts im Einzelnen dem Leſer vor-
zuführen. Wenn ich dies nicht thue, mich vielmehr auf eine
flüchtige Ueberſicht derſelben beſchränke und nur drei von ihnen
zur nähern Betrachtung verſtelle, ſo geſchieht es theils, weil
dieſe Seite unſeres Gegenſtandes zu den bekannteſten Dingen
gehört und in jedem Compendium der Rechtsgeſchichte und In-
ſtitutionen zu finden iſt, theils aber, um für eine andere Seite
deſſelben, der ſich ein Gleiches nicht nachrühmen läßt, um ſo
mehr Raum zu gewinnen. Ueber dem Concreten, der Aeußer-
lichkeit der einzelnen Formen, hat unſere „poſitive“ Rechts-
[552]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
geſchichte auch hier einmal wieder das Abſtracte, die Er-
mittlung der ihnen zu Grunde liegenden gemeinſamen Ideen
verſäumt; ob ſich das Verſäumniß hier minder gerächt, als an-
derwärts, ob ſie hier auch nur einmal den Sinn des Einzelnen
überall richtig getroffen, möge der Verlauf der Darſtellung zei-
gen. Dieſem Mangel durch eine auf dem Wege einer Ana-
lyſe der römiſchen Formen zu gewinnende Theorie des rö-
miſchen Formenweſens
abzuhelfen, iſt Aufgabe des §. 47,
die des gegenwärtigen iſt ſo eben angegeben.


Die formellen Geſchäfte des ältern Rechts laſſen ſich am
natürlichſten nach der Kategorie der mitwirkenden Perſo-
nen
gruppiren, und darnach gewinnen wir folgende Claſſen
derſelben:


  • 1. Mitwirkung des Volks: Testamentum in comitiis calatis,
    (beziehungsweiſe: in procinctu), arrogatio.
  • 2. Mitwirkung der weltlichen Behörden; vor dem Cen-
    ſor
    : die manumissio censu (vielleicht auch Uebertragung
    des Eigenthums durch Umſchreibung); vor dem Prätor:
    die ſämmtlichen legis actiones des Proceſſes mit Ausnahme
    der pignoris capio; die der freiwilligen Gerichtsbarkeit in
    Form der in jure cessio (manumissio vindicta, in adoptio-
    nem datio, emancipatio, cessio
    der tutela und hereditas
    legitima
    ).
  • 3. Mitwirkung geiſtlicher Behörden namentlich der Pon-
    tifices; bei eigentlichen Civilgeſchäften, wie es ſcheint, nur
    in Verbindung mit dem Volk (testam., arrog.) oder Zeu-
    gen (confarreatio); im übrigen ſ. B. 1 S. 259 u. fl. und
    oben S. 418 und fl.
  • 4. Mitwirkung von Zeugen,

    682)

    und zwar von 10 (confar-
    [553]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
    ratio), 5 (nexum, mancipatio, coemptio, testamentum
    per aes et libram).
    Ueber die Zuziehung derſelben zu pro-
    ceſſualiſchen Handlungen iſt nicht viel bekannt, es gehören
    hierher der Zeuge bei der in jus vocatio, die Zeugen bei der
    Litis contestatio und bei dem Scheingang auf das vindi-
    cirte Grundſtück (ex jure manum consertum vocare), hier
    superstites genannt.
  • 5. Geſchäfte ohne Mitwirkung anderer Perſonen, als der
    Partheien. Das hauptſächlichſte Anwendungsgebiet dieſer
    Form iſt das Obligationenrecht (Verbal- und Literalcon-
    tract). Die tutoris autoritas ſchließt ſich jeder andern Form
    an, läßt ſich alſo nicht als ſelbſtändige Form betrachten, und
    die öffentliche Bekanntmachung (palam praedicere) wie ſie
    z. B. bei Annahme von Bürgen 683) vorgeſchrieben war, ſo-
    wie die öffentliche Vorführung des verurtheilten Schuldners
    gehört ebenſo wenig hierher. Dagegen iſt eine Claſſe von
    Geſchäften hier abſichtlich übergangen, es ſind dies die,
    welche der Staat mit den Privaten abſchließt; das Eigen-
    thümliche derſelben kann erſt an einer andern Stelle ins
    rechte Licht geſetzt werden.

Aus jener Zuſammenſtellung ergibt ſich, daß die Zahl der
ſelbſtändigen Formen des ältern Rechts nicht gerade groß war.
Die weitaus bedeutendſte Stelle unter ihnen nehmen die man-
682)
[554]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
cipatio, in jure cessio und stipulatio ein. Denn während die
übrigen ſich auf einzelne beſtimmte Geſchäfte beſchränken, ſo
ſind ſie gewiſſermaßen abſtracte, der mannigfachſten Anwendung
fähige Grundformen, und gerade auf der ihnen gegebenen aus-
gedehnten Brauchbarkeit beruht es, daß das ältere Recht mit
verhältnißmäßig ſo wenig Formen ausreichte — ein Vorzug,
auf den ich nach meinen früheren Ausführungen (S. 507) nicht
wieder zurückzukommen brauche. Wir wollen dieſe drei Ge-
ſchäfte jetzt einer nähern Betrachtung unterziehen, aber auch
hier weniger in der Abſicht, Allbekanntes zu wiederholen, als
mit der Hoffnung, ihnen hie und da eine neue Seite abzu-
gewinnen.


Bei allen dreien ſpielt ein Begriff eine große Rolle, den
wir bisher noch keine Gelegenheit gefunden haben genauer zu
erörtern, der des Scheingeſchäfts. Zwei derſelben, die
mancipatio und in jure cessio ſind ſchon an ſich nichts weiter
als Scheingeſchäfte. Bei der erſteren wird das Scheingeſchäft
in dem testam. per aes et libram ſo zu ſagen zur zweiten Po-
tenz erhoben, letzteres war eine „imaginaria mancipatio“, die
mancipatio ſelbſt aber eine „imaginaria venditio“.684) Auch
die Stipulation geſtaltet ſich in der sponsio praejudicialis des
römiſchen Proceſſes zu einem Scheingeſchäft, und ſo wird es
ſich rechtfertigen, wenn wir uns über einen Begriff, dem wir
hier bei jedem Schritt und Tritt begegnen, vorher verſtän-
digen.


„Zum Scheine handeln“ (dicis causa) bildet den Gegenſatz
zum „ernſtlichen Handeln“, es iſt ein äußeres Handeln, Re-
den, dem die innere Abſicht nicht entſpricht. Bei dem
Rechts geſchäft beſteht der Mangel dieſer innern Abſicht in
der intendirten Ausſchließung der an daſſelbe geknüpften Wir-
kungen, ein Erfolg, der nur durch Einverſtändniß mit der Ge-
genparthei möglich iſt. Hierauf beruht der Begriff des ſimu-
[555]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
lirten Rechtsgeſchäfts. Nicht zu verwechſeln mit demſelben iſt
ein Verhältniß, das mit ihm auf den erſten Blick große Aehn-
lichkeit hat, nämlich die Eingehung eines Rechtsgeſchäfts
lediglich in der Abſicht, um einzelne vielleicht ganz ſecundäre
Wirkungen deſſelben zu erzielen. Als Licinius Stolo ſeinen
Sohn emancipirte, um den Beſtimmungen ſeines eignen Ge-
ſetzes, der lex Licinia de modo agri, zu entgehen (S. 494),
nahm er kein Scheingeſchäft im juriſtiſchen Sinn vor, denn
der Sohn war und blieb frei. Es fehlte dem Genannten nicht
an dem für die juriſtiſche Würdigung allein in Betracht kom-
menden rechtlichen Willen, wohl aber an der ächten ethi-
ſchen Geſinnung
; er nahm die Emancipation nicht ihrer
ſelbſt willen vor, ſondern wegen ſecundärer daran geknüpfter
Vortheile, und darum war er vom Volk verurtheilt. Der-
artige, wenn man will, Scheingeſchäfte im natürlichſittlichen
Sinn kamen bei den Römern durchaus nicht ſelten vor und
werden uns noch öfter begegnen.


Die Scheingeſchäfte in unſerm obigen Sinn ſind nun von
dieſen beiden Verhältniſſen ſtreng zu trennen. Sie beruhen
nicht auf irgend einem Mangel des Willens oder der Ge-
ſinnung, ſondern lediglich auf der Macht der Form. Ihre
Entſtehungsweiſe kann eine doppelte ſein. Entweder eine
ſecundäre: nämlich auf dem Wege, daß Geſchäfte oder
Beſtandtheile derſelben, die ihre ernſte Bedeutung verloren
haben, ſich in der oben S. 538 geſchilderten Weiſe fort erhal-
ten: reſiduäre Scheingeſchäfte. Oder eine primäre:
nämlich in der Weiſe, daß ein Geſchäft, welches an ſich eine
ernſte Bedeutung hat, als reine Form für ein anderes verwandt
wird. Hier iſt alſo das Scheingeſchäft im Gegenſatz zum erſten
Fall etwas Gemachtes, von vornherein als Scheingeſchäft
ins Leben gerufen: originäres Scheingeſchäft. Dahin
gehört die in jure cessio und sponsio praejudicialis.


Das Scheingeſchäft enthielt für die ältere Jurisprudenz ein
eigenthümliches Problem. Einerſeits nämlich ſollte der Schein
[556]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
doch wirklich vorhanden ſein. Der zu erreichende Erfolg durfte
dem äußern Hergang nicht geradezu Hohn ſprechen, man mußte
das äußere Dekorum bis zu einem gewiſſen Grade wahren —
kurz wie bei jeder Comödie durfte auch bei dieſer juriſtiſchen
die Illuſion nicht gänzlich fehlen. Der Einfluß, den die Juris-
prudenz dieſer Rückſicht zugeſtand, tritt in manchen Spuren un-
verkennbar hervor. Ich werde einige derſelben mittheilen. Zu-
nächſt verſtand es ſich wohl von ſelbſt, daß das Geſchäft ſich
nicht ſelbſt als Scheingeſchäft bezeichnen durfte. Bei der sponsio
praejudicialis
685) ſollte die Summe nicht wirklich ausgezahlt
werden. Allein geſagt werden durfte dies nicht — Stipulation
und Urtheil lauteten auf Verpflichtung zur Zahlung. Zur meh-
rern Sicherheit aber hätte man ja die Summe auf einen Aß
oder Seſterz ſtellen können, wie es z. B. bei Scheinverkäufen
(venditiones nummo uno) üblich war. Allein auch dadurch wäre
der Scheincharakter des ganzen Geſchäfts wieder zu ſehr mar-
kirt worden; man griff eine höhere Summe, bei Centumviral-
gerichts-Sachen 125 Seſterzien, bei gewöhnlichen 25. 686)


Bei der coemptio und in jure cessio fiduciae causa ſollte
der Empfänger die Perſon oder Sache nicht wirklich haben und
behalten, wie in andern Fällen, ſondern ſie je nach getroffener
Vereinbarung reſtituiren. Allein dieſe Vereinbarung hatte in
[557]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
dem Geſchäft ſelbſt (als nuncupatio) keinen Platz, ſie wider-
ſprach dem eigentlichen Zweck deſſelben; der einfachnatürlichen
Vorſtellungsweiſe wollte es nicht in den Sinn, daß man „er-
werbe“, wenn man den Erwerb nicht behalten ſolle. Die Ver-
abredung konnte alſo, wie bei der sponsio praejudicialis, und
wie auch heutzutage bei jedem ſimulirten Geſchäft nur neben-
bei d. h. außerhalb des eigentlichen Geſchäfts getroffen wer-
den. 687) Darauf beruht der Begriff der fiducia oder des fiduciae
causa
abgeſchloſſenen Geſchäfts. So erklärt es ſich, daß die
fiducia nur eine bonae fidei actio erzeugte, ungeachtet jene Ge-
ſchäfte ſelbſt dem strictum jus angehörten. Hätte dieſe Neben-
beredung einen integrirenden Beſtandtheil derſelben gebildet, ſo
würde die in den XII Tafeln ausgeſprochene Anerkennung aller
Nebenberedungen (Cum nexum faciet mancipiumve, uti lingua
nuncupassit, ita jus esto
) ſich auch auf ſie erſtreckt haben. Eben
aus dieſem Grunde aber theilte die fiducia Jahrhunderte lang
das Schickſal aller andern Verhältniſſe der bona fides d. h. ihre
Wirkſamkeit beruhte lediglich auf der fides des Gegners, be-
ziehungsweiſe wie bei einigen andern derſelben auf der Furcht
deſſelben vor der im Fall der Wortbrüchigkeit eintretenden Infa-
mie; das Recht gab aus derſelben keine Klage. So erklärt es
ſich ferner, warum die fiducia auf die ſolennen Rechtsgeſchäfte
[558]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
beſchränkt war, ungeachtet Verträge deſſelben Inhalts ebenſo-
wohl bei der Tradition vorkommen konnten. Bei letzterer fiel
das in der Form gelegene Hinderniß hinweg, ſie hatten, ſoweit
ſie juriſtiſch möglich waren, Platz im Geſchäft ſelbſt und bilde-
ten nicht einen Vertrag neben demſelben, ſondern einen inte-
grirenden Beſtandtheil deſſelben. 688)


Einen ferneren Ausfluß des obigen Geſichtspunkts finde ich
in einer Erſcheinung, die ſich auf andere Weiſe ſchwerlich wird
erklären laſſen. Es geht aus verſchiedenen Andeutungen her-
vor, daß das als Durchgangsſtadium für gewiſſe Zwecke, alſo
Scheines halber benutzte Verhältniß des mancipium und der
manus689) nicht, wie man geneigt ſein könnte zu glauben, re-
gelmäßig bloß einen Moment beſtanden, ſondern ſich über eine
gewiſſe Zeit, über deren Kürze oder Länge wir nichts weiteres
[559]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
wiſſen, ausdehnen konnte. 690) Da nun dies Durchgangsver-
hältniß ein reines Mittel zum Zweck war, ſo läßt ſich durchaus
nicht begreifen, aus welchem praktiſchen Grunde man demſelben
irgend welche Dauer hätte einräumen, und warum man nicht
vielmehr z. B. die Emancipation eines Sohnes mit ihren drei-
maligen Mancipationen und Freilaſſungen im Lauf eines ein-
zigen Tages hätte beſchaffen ſollen. Allein ſo ſehr es ſich hier
auch nur um Schein-Acte und Schein-Verhältniſſe handelte,
ſo durften doch ſelbſt ſie nicht in eine reine Form ausarten; es
lag in der römiſchen Weiſe, auch eine Comödie mit einem ge-
wiſſen Ernſt und Anſtand aufzuführen, jenen Schein-Verhält-
niſſen alſo eine gewiſſe reale Exiſtenz einzuräumen. 691)


Wie rückſichtlich der äußern Form, ſo mußte man auch rück-
ſichtlich der innern juriſtiſchen Natur des zum Scheingeſchäft
verwandten Geſchäfts eine gewiſſe Rückſicht beobachten. So
konnte man z. B. die in jure cessio nicht auf Verhältniſſe an-
wenden, bei denen eine Vindication undenkbar war. In ei-
nem
Fall allerdings wage ich nicht zu behaupten, daß dieſe
Gränzen inne gehalten ſind, nämlich bei dem testam. per aes
et libram.
Eine Mancipation, die das geſammte Vermögen
übertragen ſollte mit Schulden und Forderungen, und die es
noch dazu nicht ſofort und unwiderruflich, ſondern erſt in der
Zukunft und unter einer (ſtillſchweigenden) Bedingung thun
ſollte, und aus der ferner dritte Perſonen, die Legatare, Rechte
[560]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ableiten konnten — ein ſolches Geſchäft war keine mancipatio
mehr, ſondern in der That etwas völlig Anderes geworden.


Aber eben dieſes Beiſpiel iſt recht geeignet, uns die Eigen-
thümlichkeit der Lage, in der ſich die Jurisprudenz bei der Ge-
ſtaltung des Scheingeſchäfts befand, zu veranſchaulichen. Der
obigen Rückſicht ſtand auf der andern Seite eine ungleich dring-
lichere, die auf den praktiſchen Zweck des Rechtsgeſchäfts gegen-
über. Man konnte letzteren nicht der bloßen Form zum Opfer
bringen, ſich nicht Conſequenzen derſelben gefallen laſſen, die
mit dem beabſichtigten Zweck des Geſchäfts ſelbſt im Wider-
ſpruch ſtanden. So galt es hier denn möglichſt zwiſchen Form
und Inhalt zu vermitteln und, ſoweit dies ohne weſentliche Ge-
fährdung wichtigerer Intereſſen möglich war, der Form, dar-
über hinaus aber der Sache den Vorzug zu geben.


Dieſes eigenthümliche Transactionsſyſtem zwiſchen
dem formal techniſchen und dem praktiſchen Intereſſe iſt für
das wahre Verſtändniß der Scheingeſchäfte des ältern Rechts
unentbehrlich, wie dies die folgenden Beiſpiele zeigen werden.


Perſonen in der Gewalt können ihrem Herrn durch Rechts-
geſchäft keine Perſonal- und Urbanalſervituten, wohl aber Ru-
ſticalſervituten erwerben. 692) Ein ſeltſamer Satz! Beſäßen
wir nicht die Löſung des Räthſels, wie vergebens würden wir
uns an demſelben abmühen; denn vom Standpunkt des mate-
riellen Rechts aus iſt der Satz ſchlechterdings nicht begreiflich.
Die Löſung liegt in Folgendem. Ruſticalſervituten waren res
mancipi,
Urbanalſervituten res nec mancipi, jene konnten durch
mancipatio, dieſe nur durch in jure cessio erworben werden, jenen
Act konnten auch Perſonen in der Gewalt vornehmen, 693)
[561]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
dieſen nicht. Warum nicht? Weil er eine Scheinvindication war,
die Vindication aber für dieſe Perſonen, da ſie nichts Eignes
haben konnten, eine Unmöglichkeit enthielt. Ganz conſequent
vom Standpunkt der Form aus, allein dem materiellen We-
ſen des Rechtsgeſchäfts als eines Erwerbsactes durchaus
nicht entſprechend. So kam das wunderliche Reſultat heraus,
daß jene Perſonen ihrem Herrn durch letztwillige Verfügung
eines Dritten auch dieſe Rechte erwerben konnten, 694) nicht
aber durch Rechtsgeſchäft; daß ſie Erbſchaften für ihn antreten,
Landgüter und alle möglichen Sachen und auch die wichtigſten
der Servituten ihm verſchaffen konnten, nicht aber die minder
wichtigen derſelben. Eben darin aber, daß es minder wichtige
Rechte waren, mag der Grund gelegen haben, daß man hier
der Form eine Conceſſion machte; hätte es bedeutendere In-
tereſſen gegolten, man würde ſich dazu ſchwerlich verſtanden
haben.


Bei dem Teſtament durften alle mit dem familiae emtor
durch das Band der väterlichen Gewalt verbundenen Perſonen
(Söhne, Brüder, Vater) nicht als Zeugen fungiren, 695) wohl
aber die eingeſetzten Erben und Legatare und alle ihnen in der-
ſelben Weiſe verbundenen Perſonen. 696) Warum? Das Te-
ſtament war formell ein Geſchäft zwiſchen Teſtator und familiae
emtor.
Urſprünglich, ſo lange man noch dem Erben ſelbſt die
Familia mancipirte, hatte der Satz Sinn, allein als dies auf-
693)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 36
[562]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
hörte, ward er wahrhaft ſinnlos und zwar nach beiden Seiten
hin. Nach Seiten des fam. emtor — denn welches Intereſſe
hatte er am Teſtament, das das Zeugniß jener ſeiner Verwand-
ten hätte verdächtigen können? Nach Seiten des Erben —
denn bei ihm lag umgekehrt ein ſolches Intereſſe vor. Man hatte
alſo der Form zu Liebe das wahre Verhältniß völlig verſcho-
ben, den an ſich richtigen Begriff des domesticum testimo-
nium
durch verkehrte Anwendung um allen Werth gebracht. 697)
Nach jener Seite freilich knüpfte ſich an dieſen Mißgriff kein
irgendwie erhebliches Intereſſe, man fand Zeugen genug, um
jene Beſchränkung nicht zu fühlen; die Conceſſion, die man
hier der Form machte, war alſo durchaus harmloſer Natur.
Ganz anders jedoch in der zweiten Richtung, denn wenn irgend
Jemand, ſo mußten gerade die genannten Perſonen ausgeſchloſ-
ſen werden. Die römiſche Jurisprudenz befand ſich hier in der
Verlegenheit, die die heutige freilich auch oft genug empfindet
oder nicht empfindet, einen Rechtsſatz lehren zu müſſen, gegen
den ihr geſundes Gefühl ſich auflehnte. Sie ſuchte ſich dadurch
zu helfen, daß ſie gegen die wirkliche praktiſche Benutzung deſ-
ſelben aufs angelegentlichſte warnte. 698)


Während nun dieſe beiden Beiſpiele der Anſicht Raum ge-
ben könnten, als ob die ältere Jurisprudenz bei dem Schein-
geſchäft einer ungeſunden Conſequenzenmacherei gehuldigt hätte,
werden die folgenden ſie gegen dieſen Vorwurf ſicher ſtellen und
uns die Ueberzeugung gewähren, daß ſie auch hier, wie bei der
[563]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
Interpretation der Geſetze (S. 478), ihrem Charakter treu ge-
blieben: nämlich die Form beziehungsweiſe den Buchſtaben zu
reſpectiren, ſo lange kein ernſteres praktiſches Intereſſe zur Frage
ſtand, entgegengeſetzten Falls aber ſich von ihnen loszuſagen.


Wollte man ſich bei der Theorie der in jure cessio ſtreng an
das Vorbild der Vindication halten, ſo mußte man ſie in allen
Fällen geſtatten, wo letztere Statt fand. Allein der Spielraum,
den man ihr gönnte, war ungleich enger; nicht die abſtracte
Conſequenz, ſondern die Erwägung des wahren Bedürfniſſes
hatte ihn abgeſteckt. Eine Erbſchaft vindiciren konnte der
teſtamentariſche Erbe ſo gut, als der Inteſtat-Erbe; ſie mit
voller Wirkung in jurecediren nur der heres legitimusvor
geſchehener Antretung. 699) Die Tutel vindiciren konnte
jeder Tutor; ſie cediren nur der tutor legitimus einer
Frau. 700)


Die wirkliche Manus verſchaffte dem Manne das ge-
ſammte Vermögen der Frau und letzterer ein Erbrecht an ſeinem
Nachlaß, beides fiel bei der Schein manus hinweg, 701) es ſei
denn, daß dieſelbe mit dem Manne ſelbſt eingegangen war; 702)
das eine ſo angemeſſen, wie das andere. Das ernſtlich vom
Vater verkaufte Kind ward mit Ablauf der Cenſusperiode frei
(S. 190), das zum Schein verkaufte mußte ihm zurück manci-
pirt werden. 703) Eine Sache, die man ernſtlich mancipirt oder
in jure cedirt hatte, konnte man nicht ohne Titel uſucapiren,
wohl aber diejenige, welche man fiduciae causa veräußert
hatte. 704)


36*
[564]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Ich wende mich jetzt den drei oben bezeichneten Rechts-
geſchäften zu.


Die mancipatio, der ſolenne Verkauf 705) einer res mancipi
per aes et libram,
beruht auf der gleichzeitigen Darſtellung der
beiden Elemente des Kaufs: der Leiſtung der Sache und der
Zahlung des Kaufpreiſes, und zwar iſt dieſe Darſtellung in
der Geſtalt, in der uns dieſe Form überliefert iſt, nach beiden
Seiten hin zu einer bloßen Förmlichkeit geworden. Die Zah-
lung
— denn das äußere Gepränge derſelben: die Wagſchale
mit dem Libripens, der ſie hält, deutet auf die Vornahme der-
ſelben in älteſter Geſtalt durch Zuwägen hin, es wird aber nicht
wirklich gewogen, ſondern ſtatt deſſen nur ein Stück Erz oder
eine Kupfermünze an die Wagſchale geſchlagen. Ob außerdem,
ſei es vorher oder nachher, eine wirkliche oder, wie bei der
Schenkung, gar keine Zahlung erfolgt, iſt völlig gleichgültig.
Die Leiſtung — denn die Sache braucht nicht übergeben zu
werden, ſondern ſie wird nur ergriffen (daher res mancipi
d. i. manu captae), ſie kann alſo immerhin im Beſitz des Ge-
bers verbleiben. Dieſer beiden Elemente des Acts hat die For-
mel, die der Empfänger zu ſprechen hat, zu gedenken, des einen
mit den Worten: hunc ego hominem (fundum u. ſ. w.) ex
jure Quiritium ajo meum esse,
des anderen mit den Worten:
isque mihi emptus est706)hoc aere aeneaque libra.


[565]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.

Von dieſen beiden Elementen, die hier zu einem einzigen
Geſchäft zuſammengeſchmolzen ſind, kömmt das eine, die Dar-
ſtellung einer Zahlung per aes et libram, auch ſelbſtändig vor,
nämlich bei dem Nexum, und zur richtigen Auffaſſung deſſelben
iſt es nöthig auch dieſen Anwendungsfall deſſelben mit in die
Betrachtung zu ziehen.


Vor Einführung des gemünzten Geldes blieb für die Be-
ſchaffung einer Geldzahlung nichts übrig, als das Metall zu
wägen, und daß man dazu, da es ſich nicht bloß um das Hal-
ten
der Wage, ſondern um genaues, richtiges Abwä-
gen
handelte, einen dritten Unpartheiiſchen (libripens) zuzog,
daß man ſodann das Metall nicht bloß wog, ſondern auch an
Ton und Klang ſeine Aechtheit darthat 707) (aere percutere
libram
), wozu der Zahlende durch die Formel: raudusculo
libram ferito
708) aufgefordert ward — das, ſage ich, iſt ſo
einfach und natürlich, daß es eben darum vielleicht den Wider-
ſpruch herausgefordert hat.


706)


[566]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

In dieſer Weiſe pflegte man nun in alter Zeit alle und jede
Zahlungen zu bewerkſtelligen und ſo namentlich auch die beim
Nexum, ſowohl bei der Hingabe (nexi datio) als der Rückgabe
(nexi solutio, liberatio), nur daß hier noch wegen der geſchärf-
ten Wirkſamkeit des Geſchäfts (der Statthaftigkeit der manus
injectio
) die Zuziehung der fünf Zeugen oder die Stellung des
Geſchäfts unter öffentliche Autorität erforderlich war.


Als nun das gemünzte Geld aufkam, hätte man ſich die
Wagſchale und das Wägen erſparen können, und gewiß wird
dies auch für gewöhnliche Geldzahlungen d. h. für ſolche, bei
denen es ſich nicht um die eigenthümlichen Wirkungen des
Nexum handelte, wie z. B. bei dem gewöhnlichen Darlehn,
Steuerzahlungen u. ſ. w., ſchnell Sitte geworden ſein; bei
ihnen war ja auch früher keine beſondere Solennität erforder-
lich. Beim Nexum hingegen als einem ſolennen Geſchäft blieb
die alte Form als reſiduäres Scheingeſchäft beſtehen. Möglich,
ja wahrſcheinlich, daß man noch längere Zeit hindurch fort-
fuhr, ein Stück unverarbeitetes Erz wirklich zuzuwägen.
In der Geſtalt, in der wir dieſen Act kennen, iſt das Wägen
überall nicht mehr erforderlich, es genügt das Schlagen der
Wage mit dem Stück Erz oder dem As, in ähnlicher Weiſe wie
bei der Vindication an die Stelle des Grundſtückes die Scholle,
an die des Speeres der Stab trat. Ob wirklich gezahlt war
oder nicht, darauf kam es jetzt nicht weiter an, und eben dar-
auf beruhte ſicherlich mit die große Gefährlichkeit des Geſchäfts.
Dem zahlungsunfähigen Schuldner ſtellte man die Alternative,
ein neues Nexum auf einen höheren Schuldbetrag einzugehen
oder die Perſonalexecution zu gewärtigen — ein wucheriſches
Manöver, zu dem heutigen Tages der Wechſel ein Seitenſtück
bieten kann, und gegen das es, abgeſehen von der criminellen
Beſtrafung des Wuchers, kein Schutzmittel gab. Der Einwand
der nicht erhaltenen Valuta fand nämlich, da es bei dieſem
Verhältniß nicht erſt zur gerichtlichen Verhandlung, ſondern ſo-
fort zur Execution kam, wie beim Wechſel keinen Raum. Eben
[567]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
dieſer Umſtand war gewiß einer der Hauptgründe der in der
erſten Hälfte des ſechſten Jahrhunderts durch die lex Poetelia
erfolgten Abſchaffung des Nexum. Zwar konnte man auch jetzt
noch durch Stipulation oder Literalcontract ſich einer Summe,
die man nicht erhalten hatte, ſchuldig bekennen, allein hier ge-
langte der Anſpruch doch zur gerichtlichen Verhandlung, und die
exceptio doli, die nicht ſo lange nachher aufgekommen ſein
kann, gewährte dem Schuldner Rettung. Nur bei dem auf Geld
gerichteten Damnationslegat, das ſich auf ein Geſchäft per aes
et libram,
das Teſtament, ſtützte, erhielt ſich noch einige Zeit ein
minder gefährlicher Anwendungsfall des Nexum, bis die allmäh-
lige Abſchwächung 708a) und ſchließliche Aufhebung der legis actio
per manus injectionem
der Sache nach auch dieſen beſeitigte.
Die Theorie freilich ließ ſich ihn noch zu Gajus Zeit nicht neh-
men; man ſprach hier fortwährend noch von einer per aes et
libram
begründeten Schuld, 709) und es war von dieſem Stand-
punkt aus eine, praktiſch freilich höchſt müßige, Conſequenz, daß
man zum Zweck der Aufhebung derſelben fortdauernd noch eine
Scheinzahlung per aes et libram: die nexi solutio oder libera-
tio
erforderte. 710) Den zweiten Anwendungsfall dieſer Schein-
zahlung enthält, wie oben bemerkt, die Mancipatio, nur daß ſie
hier nicht, wie im Nexum, allein und ſelbſtändig, ſondern in
Verbindung mit einer andern Handlung auftrat.


War nun dieſe Verbindung eine uranfängliche? Kannte
das römiſche Recht von jeher keine andere Weiſe, Eigenthum
zu übertragen, als gegen Baarzahlung? Mußte in älteſter Zeit,
wer einen Stier gegen eine Kuh vertauſchen wollte, den Con-
tract in Form zweier Käufe kleiden und zwei Mal — und hier
[568]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
doch von Anfang an nicht anders, als zum reinen Schein! —
Geld zuwägen? Schwerlich! Die uns bekannte Geſtalt der
Mancipatio ſtammt ſicherlich erſt aus der Periode, wo das
Metall oder Geld das allgemeine Tauſchmittel geworden war.
Aber iſt ſie darum ganz und gar neu, hat man die alte Form
völlig aufgegeben? Es würde dies der ſonſtigen Weiſe der rö-
miſchen Entwicklung wenig entſprechen. Um es kurz zu ſagen,
ich erblicke in der Mancipation eine Combination zweier Ele-
mente, eines urſprünglichen: des eigentlichen Acts der
Mancipation, von dem das Geſchäft ſelbſt ſeinen Namen trägt,
des manu capere der Sache, und eines jüngeren: des
Geldes oder der Zahlung per aes et libram. Aber woher
und warum dieſer Zuſatz, der ja die Brauchbarkeit der alten
Form verringerte, indem er ſie weitläuftiger machte? In an-
derer Weiſe erhöhte er ſie, wenn ſonſt die folgende Hypotheſe
das Rechte getroffen.


Juſtinian berichtet, 711) die XII Tafeln hätten verfügt, daß
verkaufte Sachen nicht eher ins Eigenthum des Käufers über-
gehen ſollten, als bis der Käufer den Preis gezahlt oder den
Verkäufer auf andere Weiſe ſicher geſtellt habe. Es liegt kein
Grund vor, dieſe Mittheilung auf die res nec mancipi zu be-
ſchränken, ich hoffe im Gegentheil an einer andern Stelle wahr-
ſcheinlich zu machen, daß er ſich gar nicht auf ſie bezog. Galt
jener Satz aber für res mancipi, und erfolgte die Mancipation
derſelben ſchon zur Zeit der XII Tafeln in der ſpäteren Weiſe,
ſo bleibt nur ein Doppeltes übrig. Entweder nämlich ſollte im
Sinne des Geſetzes die Scheinzahlung per aes et libramnicht
genügen, es ſollte wirklich gezahlt werden, damit das Eigen-
thum übergehe, oder aber jene ſollte ausreichen. Im letztern
Fall hätte die Aufſtellung des Requiſits der Zahlung gar keinen
Sinn gehabt; wozu eine Zahlung einſchärfen, die in Wirklich-
keit keine war? Die erſtere Annahme aber iſt eben ſo miß-
[569]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
lich; ſie widerſtreitet allem, was uns über die mancipatio ge-
lehrt wird. Da bliebe denn nur der Ausweg anzunehmen, daß
die Scheinzahlung erſt nach den XII Tafeln und eben unter
dem Einfluß jener Beſtimmung, um nämlich dem aufgeſtellten
Requiſit zu genügen und bei dem Beweiſe des Eigenthums die
Frage von der Zahlung des Preiſes völlig abzuſchneiden, in
die Mancipation gekommen ſei. Die Form dieſer Scheinzah-
lung ergab ſich von ſelbſt. Wirkliche Zahlungen bewerkſtel-
ligte man damals nicht mehr durch Wägen, ſondern durch Zäh-
len, das Wägen, die aes et libra, galt ſchon damals als Aus-
druck einer bloßen Scheinzahlung, aber als einer vom Civil-
recht für wirkſam anerkannten. So nahm man denn
die aes et libra vom Nexum hinüber, dem einzigen Verhältniß,
bei dem ſie ſich damals noch erhalten. Eine Unterſtützung fin-
det dieſe Hypotheſe in der Compoſition des Mancipations-
formulars (S. 564). Der erſte Theil: ajo … esse ſteht ſelb-
ſtändig für ſich da, ihm ſchließt ſich in rein äußerlicher Verbin-
dung (durch que) und in anderer Redeform mit isque emtus
est
u. ſ. w. der zweite Theil an. Warum nicht: ajo …
meum esse eumque emtum esse?
Sodann und vor allem aber
welche ſeltſame Ordnung beider Theile! Zuerſt wird der Ei-
genthumsübergang conſtatirt und dann erſt der Kauf 712) und
die Zahlung!


Gerade bei der logiſchen Peinlichkeit, mit der die alten For-
meln abgefaßt ſind (§. 47), hat dieſe Umſtellung etwas höchſt
Auffälliges. Sie wiederholt ſich übrigens auch noch in den bei-
den entſprechenden Handlungen: dem Ergreifen der Sache mit
der Hand als der Darſtellung des Eigenthums erwerbs und
[570]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
dem Anſchlagen des Erzes an die Wagſchale als der Darſtel-
lung der Zahlung. Die obige Hypotheſe löſt das Räthſel.
Die mancipatio beginnt mit dem Ergreifen und dem ihm ent-
ſprechenden Theil der Formel, weil dies der eigenthümliche
Kern und urſprüngliche Stamm der Mancipatio, alſo das Prin-
cipale iſt, das Zahlen aber und der entſprechende Theil der
Formel bekömmt als neuerer Zuſatz und bloßes Acceſſorium die
zweite Stelle. Ebenſo erklärt ſich auf dieſe Weiſe, wie Mani-
lius und Gallus Aelius bei ihren Definitionen des Nexum
auch die Mancipation mit unter dieſen Begriff bringen konn-
ten. 713) Es hätte jeder Schein eines Grundes dazu gefehlt,
wenn beide Geſchäfte ſich von jeher fremd gegen einander über
geſtanden hätten, während wenn, wie ich annehme, die Schein-
zahlung vom Nexum in die Mancipation hinübergenommen
war, jene Auffaſſung allerdings eine gewiſſe Wahrheit hatte.
Sie litt nur an dem Fehler, daß ſie die Wortbedeutung
von Nexum zu weit griff, man hatte zwar die Sache, nicht
aber den Ausdruck mit entlehnt, und in dieſer rein ſprach-
lichen
Beziehung traf daher ein dritter Juriſt, Q. Mutius
Scävola, 714) gewiß das allein Richtige, wenn er das Nexum
als obligatoriſches Geſchäft per aes et libram defi-
nirte. 715)


[571]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.

Der geleiſteten Zahlung des Kaufpreiſes bedurfte es außer
beim Eigenthumsübergang auch noch bei der actio auctoritatis,
der aufs Doppelte gerichteten Klage des Käufers wegen Evic-
tion der ihm mancipirten Sache. 716) Galt auch hier der Schein
für die Wirklichkeit, oder da dies zu verneinen, 717) enthält dies
nicht einen Widerſpruch gegen die obige Anſicht? Der Ein-
wand, der übrigens ebenſowohl die herrſchende als meine
Anſicht trifft, erledigt ſich dadurch, daß die Scheingeſchäfte
nicht in allen und jeden Beziehungen die Wirkungen der wirk-
lichen ausübten, ſo wenig wie dies bei den Fictionen der Fall
war. 718) Bei beiden reichten dieſelben nicht weiter, als der
Zweck es erforderte. Die Scheinzahlung bei der Mancipation
hatte lediglich den Zweck, die Unabhängigkeit des Eigenthums-
überganges von der wirklichen Zahlung des Kaufpreiſes for-
mell zu rechtfertigen und den Empfänger bei dem Beweis ſeines
Eigenthums von dem Beweis des letzteren Umſtandes zu be-
freien. Wie wenig ſie aber abgeſehen hiervon die Bedeutung
einer Zahlung haben ſollte, erhellt ſchon daraus, daß ſie über-
all
d. h. auch da, wo die Sache nicht auf Grund eines Kaufes,
ſondern aus irgend einer andern causa z. B. der Schenkung 719)
715)
[572]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
mancipirt ward, nöthig war. 720) Darum alſo konnte z. B. der
Käufer ſich der Klage auf wirkliche Zahlung des Kaufpreiſes
durch Verweiſung auf jenen Scheinact nicht entziehen und
ebenſo wenig bei der actio auctoritatis auf letzteren Bezug
nehmen.


Ueber das andere Element der Mancipation, das Ergreifen
der Sache (rem tenens ita dicit Gaj. I, 119) habe ich an
dieſer Stelle wenig zu bemerken, da daſſelbe wegen ſeines Zu-
ſammenhanges mit allgemeineren Geſichtspunkten nur bei Gele-
genheit der letzteren ſeine richtige Würdigung finden kann. 721)
Bei unbeweglichen Sachen bedurfte es zu Gajus Zeit der Gegen-
wart der Partheien nicht mehr; 722) ob dies von Anfang an ſo
war, wird ſich gleichfalls erſt an ſpäterer Stelle entſcheiden
laſſen.


Das dritte Element unſeres Geſchäfts beſtand in den
5 Zeugen und dem bereits erwähnten Libripens. Indem ich
auch hier bekannte Dinge übergehe, beſchränke ich mich auf
einige Fragen, die man gewöhnlich zu übergehen pflegt. Zu-
nächſt die Frage: ob es bei jeder Mancipation einer förm-
lichen Aufforderung an die Zeugen (rogatio) 723) bedurfte. Be-
zeugt iſt dieſelbe, ſo viel mir bekannt, nur bei der Teſtaments-
errichtung und bei der Litisconteſtation. Iſt es Zufall oder
hat es einen uns verborgenen Grund, daß gerade dieſe beiden
Geſchäfte von dem Acte des Zeugen-Aufrufens (testari) ihren
719)
[573]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
Namen erhalten haben? Bei dem Teſtament erfolgt eine An-
ſprache des Teſtators an dieſelben in der nuncupatio (.. ita
testor, itaque vos Quirites, testimonium mihi perhibetote,
724)
daß derſelben eine ſolenne Aufforderung zur Aſſiſtenz bei dem
Act vorausgehen mußte, läßt ſich kaum bezweifeln. 725) Bei der
Litis Contestatio rufen beide Partheien die Zeugen auf, 726)
weil es das beiderſeitige Intereſſe gilt, bei der Teſtaments-
errichtung hätte bei ſtrenger Durchführung des Geſichtspunktes,
daß der familiae emptor die Stelle des Erben vertrete, daſſelbe
geſchehen ſollen. Warum geſchah es nicht? So lange das Te-
ſtament in der Volksverſammlung errichtet ward, fiel daſſelbe
nicht unter den Geſichtspunkt eines Geſchäfts mit dem Erben,
ſondern einer beantragten lex (B. 1 S. 138), einer, um mit
Mommſen zu ſprechen, Dispenſation von der geſetzlichen Erb-
folge, und es verſtand ſich von ſelbſt, daß hierbei nur der Te-
ſtator, nicht der Erbe dem Volk den Antrag vorlegte. Als die
fünf Zeugen an die Stelle des Volks traten (B. 1 S. 140),
behielt man dieſe Conſequenz der alten Form bei.


Wäre der Schluß von der Form des Mancipationsteſta-
ments auf die der gewöhnlichen Mancipation ein ſtringenter,
ſo wäre die obige Frage damit auch für letztere erledigt. Allein
daß die Form beider nicht durchweg gleich iſt, zeigt ſchon die
Verſchiedenheit der Formeln, ſowie der Umſtand, daß dort
[574]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
auch der Mancipant zu reden hat, während er hier ſchweigt.
Nichts deſto weniger läßt es ſich aus allgemeinen Gründen kaum
bezweifeln, daß die Zeugen bei jeder ſolennen Handlung auch
in ſolenner Weiſe haben aufgefordert werden müſſen. Es würde
zu der Genauigkeit, mit der die alte Jurisprudenz alles, was
geſchah, auch durch Worte ausdrücken ließ, wenig ſtimmen,
wenn ſie eine ſo wichtige Thatſache, wie die Zuziehung der
Zeugen zum Rechtsgeſchäft, nicht durch eine Erklärung der Par-
thei conſtatirt hätte. Bei der Mancipation ging die Aufforde-
rung ſchwerlich, wie beim Teſtament, von dem Mancipanten
aus; das Intereſſe lag ausſchließlich auf Seiten des Em-
pfängers.


Mußten die Zeugen ihrerſeits, oder einer von ihnen im Na-
men aller, der an ſie gerichteten Aufforderung mit Worten, und
zwar im Geiſt des ältern Rechts mit hergebrachten, feſt be-
ſtimmten, entſprechen? Auch dieſe Frage würde ich ſchon aus
allgemeinen Gründen zu bejahen nicht anſtehen, ein poſitives
Zeugniß aber dafür finde ich in der Beſtimmung, 727) daß ein
Stummer beim Teſtament weder Zeuge, noch Libripens ſein
durfte, was völlig unmotivirt geweſen wäre, wenn beide nichts
zu reden gehabt hätten. Der Schluß von dem Teſtament auf
die gewöhnliche Mancipation dürfte hier weniger gewagt ſein,
als oben.


Die drei Elemente, welche wir bisher betrachtet haben, die
Scheinzahlung, das Ergreifen der Sache und die Zeugen nebſt
den auf ſie bezüglichen Formeln bildeten den unerläßlichen
Thatbeſtand einer jeden Mancipation, im übrigen aber ſcheint
es, als hätten die XII Tafeln mit dem bekannten Satz: Cum
nexum faciet mancipiumve, uti lingua nuncupassit, ita jus
esto
der Autonomie der Privaten einen unbeſchränkten Spiel-
raum eingeräumt. Allein die Jurisprudenz führte denſelben auf
ſein natürliches Maß zurück. Alle Verabredungen, die ſich mit
[575]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
dem Zweck oder Hergang nicht vertrugen, waren als Beſtand-
theile des Actes (als nuncupatio) 728) unzuläßig. Dahin ge-
hörte, wie oben nachgewieſen, das pactum fiduciae, ferner die
Beſtimmung, daß das Eigenthum erſt mit Eintritt einer Be-
dingung oder von einem gewiſſen Tage an übergehen ſolle —
der Empfänger würde nicht haben ſagen können: rem meam
esse,
und ebenſo wenig würde die ſofortige Zahlung gepaßt
haben. Aus dieſem Grunde glaube ich denn auch nicht, daß
eine Beſtimmung über die demnächſtige Bezahlung des Kauf-
preiſes in die Nuncupation aufgenommen werden durfte. Es
wäre eine contradictio in adjecto geweſen, einerſeits mit den
Worten: est emtus hoc aere u. ſ. w. den Kaufpreis als be-
zahlt
, andererſeits durch jenen Zuſatz ihn als noch rück-
ſtändig
zu bezeichnen. Ja es iſt mir zweifelhaft, ob nur ein-
mal, wie Huſchke angenommen hat, die Angabe des wirklichen
Preiſes in der Nuncupation Platz finden konnte. Denn letztere
lautete auf Bezahlung mit „dieſem Erz und dieſer Wage“,
und dazu hätte die Angabe einer beſtimmten Geldſumme nicht
geſtimmt. Für den Uebergang des Eigenthums, um den es
ſich bei der Mancipation allein handelte, war ja die Angabe
des wirklichen Preiſes völlig bedeutungslos, für die act. aucto-
ritatis
aber die bloße Angabe des Preiſes ohne Wirkung, denn
dieſe Klage ging nur auf das Doppelte deſſen, was wirklich
gezahlt war, den Beweis der wirklichen Zahlung aber konnte,
wie bereits bemerkt, die Bezugnahme auf die Scheinzahlung
nicht erſetzen. Was blieb denn für die nuncupatio, abgeſehen
von der ſtereotypen Formel, noch übrig? Ich meine nur das,
was ſich auf das mancipirte Object ſelbſt bezog, alſo z. B.
bei einem Grundſtück die Zuſicherung gewiſſer Servituten, der
Freiheit von ihnen, der Vorbehalt von Servituten zu Gunſten
des Mancipanten (deductio), 729) bei dem Verkauf eines Skla-
[576]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ven die Angabe, daß und unter welcher Bedingung er statu
liber
ſei, daß das Pekulium mitgegeben oder vorbehalten
werde, bei einem Thier das Alter, die Fehler oder deren Nicht-
daſein u. ſ. w. Iſt dies richtig, ſo konnte demnach durch die
Mancipation nur der Mancipant, nie der Empfänger ver-
pflichtet werden, und dieſen Satz halte ich allerdings in ſeiner
weiteſten Ausdehnung für wahr. Die entgegengeſetzte Behaup-
tung von Huſchke, der zufolge die Mancipation für den Käufer
rückſichtlich des ſchuldigen Kaufpreiſes die Kraft eines Nexum
gehabt hätte, hat, ganz abgeſehen von ihrem Mangel an allem
und jedem poſitiven Anhaltspunkt, die Analogie des ältern
Rechts aufs entſchiedenſte gegen ſich. Alle formellen Geſchäfte
des eigentlichen jus civile ſind ſtreng einſeitig, es gibt keins,
aus dem beide Contrahenten gegenſeitig verpflichtet würden,
und ſelbſt der Kauf und die Miethe zerfielen, wie ich an an-
derer Stelle nachzuweiſen hoffe, früher in zwei einſeitige Ge-
ſchäfte (Stipulationen): emtio und venditio, locatio und con-
ductio.
Kurz der Grundſatz der Einſeitigkeit iſt eins der Fun-
damentalprincipien des ältern Rechts. Wie bei der Stipula-
tion, ſo hat auch bei der Mancipation der, deſſen Intereſſe das
Geſchäft bezweckt, die getroffenen Verabredungen (die lex con-
tractus
) zu publiciren. Daß der Mancipant wie bei der Sti-
pulation auf die Rede des Andern habe antworten müſſen,
wird mit Ausnahme des Teſtaments nirgends erwähnt, und
bei der gewöhnlichen Mancipation werden wir es ſchwerlich
annehmen dürfen. Bei der Stipulation lag die Nothwendig-
keit der Antwort in der Frage ſelbſt ausgedrückt, bei der
Mancipation hingegen lautete die Formel aſſertoriſch, ähnlich
wie bei der in jure cessio, und daß es bei letzterer keiner Ant-
wort bedurfte, iſt ausdrücklich bezeugt. 730) Woher die Ab-
[577]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
weichung beim Teſtament? Vielleicht von dem Satz der XII
Tafeln: uti legassit super pecunia tutelave suae rei, ita jus
esto,
denn ein „legare“ erforderte ein Sprechen. Viel-
leicht war ſogar die nuncupatio testamenti nichts, als die aus
der ehemaligen Form der Teſtamentserrichtung in die neuere
hinübergegangene Anſprache ans Volk (… itaque vos,
Quirites, testimonium mihi perhibetote
) 731), jedenfalls aber
ſteht feſt, daß die Nothwendigkeit einer nuncupatio des
Mancipanten nur für die Teſtamentserrichtung bezeugt iſt,
und es wird nicht zu kühn ſein, darin eine Beſonderheit dieſes
Actes zu erblicken.


Es verbleiben uns ſchließlich noch die verſchiedenen An-
wendungsfälle
der mancipatio. Es laſſen ſich im ganzen
nach der Verſchiedenheit des durch ſie zu begründenden Rechts
fünf unterſcheiden, nämlich die mancipatio in Anwendung
1. auf das Eigenthum, 2. die Ruſticalſervituten
(beziehungsweiſe die vier älteſten Species derſelben: iter, via,
actus, aquaeductus
), 3. die Begründung der manus (coem-
tio),
4. das mancipium und 5. das Erbrecht. Alle dieſe
Fälle haben ihr mehr oder minder Eigenthümliches. Wenn der
dritte und vierte dem erſten, den wir als den eigentlichen Ty-
pus betrachten dürfen, in der Beziehung am nächſten ſtehen,
daß bei ihnen wenn auch keine Sache, ſo doch noch ein ſicht-
barer und faßbarer Gegenſtand vorhanden iſt, ſo weichen ſie
darin von ihm ab, daß im vierten das verliehene Recht, ganz
abgeſehen von der mancipatio fiduciae causa, regelmäßig 732)
eine vorübergehende Dauer hat, praktiſch mehr der Miethe, als
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 37
[578]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
dem Kauf gleicht, im dritten aber — um uns bei dieſer über-
aus beſtrittenen Frage 733) auf das allein Sichere zu beſchrän-
ken — jedenfalls in der Formel eine der materiellen Ver-
ſchiedenheit des Verhältniſſes entſprechende Abweichung von
der gewöhnlichen Mancipationsformel Statt fand. 734) In dem
zweiten und fünften Fall erreichte die Mancipation ihren Cul-
minationspunkt, ſie hatte ſich hier von dem natürlich ſinnlichen
Requiſit eines faßbaren Gegenſtandes völlig losgeriſſen.
Dazu kamen in dem letzten Fall noch andere im Verlauf der
Darſtellung bereits berührte Abweichungen und zwar von dem
Gewicht, daß wenn auch nicht die äußere Phyſiognomie, ſo doch
das innere Weſen und die juriſtiſche Natur der Mancipation
in dieſem Fall bis zur gänzlichen Unkenntlichkeit entſtellt oder
richtiger völlig geopfert war. 735)


Die Anwendbarkeit der Mancipation erſtreckte ſich demnach
faſt über das geſammte Privatrecht: das Vermögensrecht, Fa-
milienrecht und Erbrecht; nur das Obligationenrecht war ihr
verſchloſſen. Mittelbar reichte ſie allerdings auch in letzteres
hinein (actio auctoritatis, Damnationslegat). Allein ſo wenig
man die Antretung der Erbſchaft aus dem Grunde einen obli-
gatoriſchen Act nennen darf, weil ſie mittelbar auch obligato-
riſche Verhältniſſe begründet, ſo wenig darf man daſſelbe aus
[579]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
dieſem Grunde bei der Mancipation thun. Primär und [aus-
ſchließlich]
konnte keine Obligation durch ſie erzeugt werden.


Die hohe Bedeutung dieſer Geſchäftsform möge es ent-
ſchuldigen, daß ich mich ſo lange bei ihr verweilt habe, ich
werde mich bei den beiden andern um ſo kürzer faſſen.


Die in jure cessio (Abtretung vor Gericht) bietet mir
wenig Anlaß zum nähern Eingehen dar. Sie iſt das Gegen-
ſtück der sponsio praejudicialis; wie bei letzterer der Vertrag
dem Proceß, ſo hilft hier der Proceß dem Vertrage aus. Ihrer
Form nach eine Scheinvindication, bei der der Erwerber als
Vindicant auftrat, der Cedent ſich der Contravindication ent-
hielt, und der Prätor jenem die in Anſpruch genommene Sache
oder das Recht zuſprach, fand ſie nur bei ſolchen Rechten
Statt, die möglicherweiſe Gegenſtand der Vindication ſein
konnten. Zur Begründung obligatoriſcher Verhältniſſe war
daher auch ſie ungeeignet, ja ſie ſchloß vermöge der Natur des
Actes, in deſſen Formen ſie ſich kleidete, ſelbſt die mittelbare
Begründung derſelben aus. 736) An Alter ſteht ſie hinter der
Mancipation höchſt wahrſcheinlich zurück, 737) an ausgedehnter
Anwendbarkeit aber nicht, wie dies die folgende tabellariſche
Vergleichung ihrer beiderſeitigen Anwendungsgebiete nachwei-
ſen ſoll.


37*
[580]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Wir werden nicht fehlgreifen, wenn wir den Urſprung der in
jure cessio
auf ihrem ausſchließlichen Anwendungsgebiet ſu-
chen. Ihre Anwendung auf die Fälle der zweiten Columne war
eine bloße Conſequenz, nicht Zweck; hier reichte die Mancipa-
tion vollkommen aus, ja hier verdiente und erhielt ſie im Leben
den entſchiedenen Vorzug vor ihr. 738) Auf jenem Gebiet hin-
gegen entfaltete ſie ihre eigenthümliche praktiſche Brauchbar-
keit, weil ſie Zwecken diente, die ſich auf andere Weiſe theils
gar nicht, theils, wie die Manumiſſion, nur in unvollkomm-
nerer Weiſe erreichen ließen. Daß ſie nicht von vornherein und
mit einem Male, ſondern erſt nach und nach in Beſitz dieſes
weiten Gebiets gekommen, wird Niemand, der etwas von
dem Gange der hiſtoriſchen Entwicklung im römiſchen Recht
kennt, bezweifeln wollen. Ueber das relative Altersverhältniß
der einzelnen Fälle fehlt es uns an allen poſitiven Nachrichten,
[581]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
allein bis zu einem gewiſſen Grade kann die Combination die-
ſen Mangel ergänzen. Als einen der älteſten Fälle betrachte ich
die manumissio vindicta, er iſt zugleich der einzige, für den
uns eine beſtimmte Entſtehungszeit angegeben wird (Note 637).
Erſt nach den XII Tafeln können ſich, vielleicht überhaupt,
jedenfalls aber erſt in der uns bekannten Geſtalt, die Emanci-
pation und Adoption gebildet haben, da ſie eine Alluſion auf
einen Satz dieſes Geſetzes enthalten (S. 190 und 484). Die
Urbanalſervituten ſind nach allen Anzeichen noch weit jüngern
Urſprunges (Note 359), rückſichtlich der übrigen Fälle führt die
Wahrſcheinlichkeitsbeſtimmung ſo ſehr ins Allgemeine und auf
einen ſo unſichern Boden, daß ich mich ihrer enthalten will.


In allen dieſen Fällen war der Gegenſtand der gerichtlichen
Abtretung, um den römiſchen Ausdruck beizubehalten, eine res
incorporalis,
und damit iſt zugleich der Geſichtspunkt für den
principiellen Gegenſatz dieſes Geſchäfts zu der Mancipa-
tion gewonnen. 739) Die hiſtoriſche Wurzel und der praktiſche
Schwerpunkt der einen liegt in der res corporalis, bei der an-
dern in der res incorporalis; erſt in ihren Verzweigungen kreu-
zen ſie ſich.


Es bleibt uns jetzt noch die Stipulation (S. 511): der
auf Eingehung einer Obligation gerichtete Vertrag in Form
mündlicher Frage und Antwort.


Sie hat folgende Requiſite:


1. Die Gegenwart der Partheien.


2. Die vorausgehende Frage des Gläubigers. Die
Umkehr der Ordnung, ein vorausgehendes Verſprechen von
der einen und eine Acceptation von der andern Seite begründete
keine Stipulation (über den Grund ſ. §. 47). Das römiſche
Recht kennt zwei Formen der Stipulation: eine ſtrengere,
engere und eine freiere, abſtractere. Jene: die dem jus civile
angehörige, an die Worte: spondes? spondeo gebundene und
[582]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
auf Römer beſchränkte sponsio — dieſe: die dem jus gen-
tium
angehörige, lediglich an das abſtracte Requiſit der münd-
lichen Frage- und Antwortform geknüpfte und folglich mit be-
liebigen Worten (z. B. dabis, facies, promittis?) und in jeder
Sprache mögliche stipulatio ſchlechthin. 740) Daß letztere, we-
nigſtens in ihrer Anwendung auf Römer unter ſich, jüngeren
Urſprunges iſt, dafür ſprechen, wenn auch keine äußeren, ſo
doch gewichtige innere Gründe (§. 47).


3. Die ſofortige Antwort. Ein Zwiſchenraum hebt die
Verbindung zwiſchen Frage und Antwort auf, beide ſollen ein
Ganzes bilden, es muß folglich auch der Act ſelbſt ein einiger
ſein (unitas actus). 741)


4. Die entſprechende Antwort. Eben weil beide ein
Ganzes darſtellen ſollen, müſſen ſie ſich decken. Lautet die
Antwort anders, als gefragt, ſei es auf mehr oder auf weniger,
und bei der Sponsio nicht auf den Ausdruck: spondeo, ſo iſt
die Stipulation verfehlt. 742) In ſpäterer Zeit ward man darin
laxer, aber in der alten Zeit hielt man daran mit äußerſter
Pedanterie feſt und erließ auch nicht einen Buchſtaben. Und
in der That es war jedenfalls das Sicherſte, denn wenn man
einmal nachließ, wo war die Gränze? Jene Strenge hatte einen
ganz vernünftigen Sinn, und was Gellius (XVI, 2) von dem
gleichen Grundſatz der Dialektik ſagt, paßt wörtlich auf die
Stipulation. „Es iſt ein Geſetz dieſer Kunſt, bemerkt er, daß
wenn man ſich über irgend ein Thema ſtreitet, man nicht mehr
und nicht weniger antworte, als man gefragt wird, entweder
mit Ja oder Nein; wer mehr oder anders antwortet, gilt als
[583]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
Idiot. Und darauf muß man halten, denn es gibt kein Ende
des Streites, wenn man die einzelnen Streitpunkte nicht fixirt
und einfach durch Frage und Antwort erledigt.“ In ähnlicher
Weiſe, meinten die alten Juriſten, ließe ſich auch bei den Ver-
handlungen rechtlicher Art die Gewißheit der erreichten Ei-
nigung nur dadurch conſtatiren, daß der Schuldner ſich ſtreng
an die Frage binde; thue er es nicht, ſo ſei das ein Zeichen,
daß die Partheien noch nicht eins geworden. Im Geiſt der
alten Zeit (§. 47) darf man annehmen, daß der Schuldner ur-
ſprünglich den ganzen Inhalt der Stipulation wiederholen
mußte und ſich nicht wie ſpäter mit einem einfachen Ja oder
spondeo, dabo u. ſ. w. begnügen durfte. Das wahre Weſen
der Stipulationsidee iſt ſowohl von ihrer pſychologiſchen als
praktiſchen Seite bereits von einem Andern 743) in ſo vorzüg-
licher Weiſe entwickelt, daß ich nichts beſſeres thun kann, als
deſſen Worte wörtlich wieder zu geben.


„Die neuern gebildeten Sprachen und die gebildeten Spre-
cher dieſer gebrauchen zum Ausdruck abſoluter Bejahung oder
Verneinung der Frage ein einfaches Abſtractum, welches abſo-
lut und rein nur Bejahung oder Verneinung ohne weitere Be-
ſtimmung iſt. Wie kurz, wie lang, welchen Inhalts immer die
Frage ſei, ſo wird die Bejahung mit „Ja“ u. ſ. w. gleichmäßig
auf die kürzeſte und bündigſte Weiſe abſtract ausgedrückt. Die
ältern concreteren Sprachen überhaupt wie auch noch die un-
geübteren Sprecher ausgebildeter Sprachen haben nur eine con-
crete Bejahung. So auch die römiſche Sprache. Sie kennt gar
keine abſtracte Bejahung. Statt der reinen Antwort hat ſie
nur ein Antworten auf dieſes Gefragte. Es wird in die Ant-
wort mehr oder minder alles Gefragte wieder aufgenommen.
[584]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Das iſt ſo allgemein die Natur des concreteren ſinnlicheren und
ſinnigeren Bildungszuſtandes. Der Antwortende kann noch
nicht nach-denken und nach-wollen ohne nach-zu ſprechen und
hat die inſtinktmäßige Vorſicht bei dieſer Weiſe, die ihm dien-
licher und ſicherer iſt, zu bleiben. Denn nur wenn das Ge-
fragte nach geſprochen iſt, können beide Theile ſicher ſein,
daß auch daſſelbe gemeint iſt.


Im gebildeten Zuſtande würde auf die Frage: „willſt du
für zweitauſend mir u. ſ. w. geben“ mit einem bloßen Ja ge-
antwortet werden und damit die unumwundeſte Einigkeit vor-
zuliegen ſcheinen. Im Einzelnen, alſo im Ganzen iſt aber in-
nerlich vielleicht die größte Uneinigkeit vorhanden; der Ver-
käufer verſtand vielleicht „drei“ ſtatt „zwei“ u. ſ. w. Alle dieſe
Dinge wären beim wörtlichen Nachſprechen zum Vorſchein
gekommen. Wenn dagegen bei den Alten der Gläubiger fragte:
spondesne Stichum hominem .... dare, ſo antwortete der
Gläubiger nicht bloß mit spondeo, ſondern er wiederholte den
ganzen Satz. Nur bei der feierlichſten Form der Ausſage oder
Zuſage durch rechten Eid verlangen auch wir noch jenen ur-
ſprünglich ganz allgemein üblichen umſtändlichen, detaillirten
Ausſpruch. Beim Katechiſiren mit Kindern, bei Aufträgen an
Ungebildete begnügt man ſich ebenfalls nicht mit einem bloßen
„Ja“, ſondern verlangt umſtändliche Wiederholung.


Es iſt einleuchtend, in welchem Grade dieſe concrete Be-
jahung größere Garantie des Einverſtändniſſes und Ernſtes
gibt, als die abſtracte. Es iſt zwiſchen beiden in Hinſicht der
Zuverläſſigkeit ungefähr der Unterſchied, wie ob man eine zu
hebende Laſt mit dem bloßen Augenmaße probirt und approbirt
oder ſie wirklich auf die Schultern nimmt.“


Soweit Chriſtianſen. Die von ihm in Bezug genommene
Analogie des Eides gibt mir den Anlaß, auf die von mir bei
einer andern Gelegenheit (B. 1 S. 264) verſuchte Anknüpfung
[585]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
des hiſtoriſchen Urſprunges der sponsio an den Eid 744) zurück-
zukommen. Dieſelbe Form, die uns in Anwendung auf jene min-
deſtens geſagt als etwas Poſitives, Römiſches erſcheint, findet
ſich für den letztern Act als die regelmäßige bei faſt allen Völ-
kern. Wer ſich einen Eid ſchwören läßt, nimmt ihn ab, er ſagt
ihn vor, und der Andere ſpricht ihn wörtlich nach oder ſagt
wenigſtens die entſcheidenden Worte: ich gelobe und ſchwöre.
War nun die sponsio urſprünglich das eidliche Verſprechen,
das Wort: spondeo das „Geloben und Schwören“ und zwar,
wie ſich von ſelbſt verſtand, für Römer bei den römiſchen
Göttern, ſo iſt damit außer der Unfähigkeitserklärung der
Peregrinen für dieſe Form zugleich das Charakteriſtiſche der
letzteren ſelbſt erklärt. Als unter der religiöſen Hülle die
Idee der bindenden Kraft des Verſprechens genügend er-
ſtarkt war, ſtreifte letzteres die religiöſe Beziehung ab, behielt
aber die Form der Frage und Antwort bei — ein Uebergang
von der urſprünglich ſacralen zur profanen Form, zu dem die
römiſche Rechtsgeſchichte noch manche andere Seitenſtücke lie-
fert. 745) Welche andere Idee aber ſich jetzt mit dieſer Form
verband, das auszuführen muß ich einem andern Zuſammen-
hang überlaſſen. 746)


Rückſichtlich ihrer ausgedehnten Anwendbarkeit durfte
die Stipulation ſich füglich mit den beiden bisher betrachteten
Formen meſſen; was letztere für die abſoluten Rechte, war ſie
für das relative, die Obligation: eine allgemeine Form, wo-
durch, wie auch in ihrem Namen liegt, 747) die Sache feſt ge-
[586]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
macht wurde. Alle und jede Verträge, inſofern ſie nur nichts
Unerlaubtes enthielten und auf eine erzwingbare Leiſtung ge-
richtet waren, mochten ſie im übrigen ſchon an ſich klagbar ſein
oder nicht, konnten in dieſe Form eingekleidet werden. Doppelt
wichtig aber war ſie gerade im älteren Rechte bei der beſchränk-
ten Zahl der vorhandenen Obligationsformen — ein Punkt,
den ich an dieſer Stelle noch ausſetzen muß. Dabei beſchränkte
ſich ihre Anwendbarkeit keineswegs bloß auf das jus civile,
ſie erſtreckte ſich vielmehr auch auf den Proceß — es war
kaum ein Rechtsſtreit möglich, in dem nicht zwiſchen den Par-
theien gewiſſe Stipulationen abgeſchloſſen wurden, und bei der
reivindicatio per sponsionem mußte ſie ſogar als Einklei-
dungsform und Baſis des ganzen Verfahrens dienen. So-
dann auf den völkerrechtlichen Verkehr — wenigſtens
gefielen die Römer ſich darin, auch die publiciſtiſchen Verträge,
inſofern ſie nicht conſtitutiver, ſondern promiſſoriſcher Art
waren, unter die Form der sponsio zu bringen. 748) Und endlich
auch auf den internationalen Privatverkehr — es
war die oben angegebene abſtractere Stipulationsform des jus
gentium.


Dieſer extenſiven Brauchbarkeit entſprach die inten-
747)
[587]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
ſive. Die Hinzufügung eines dies und einer conditio, bei den
andern beiden Geſchäften ausgeſchloſſen, war bei der Stipula-
tion, wie das die Natur eines promiſſoriſchen, alſo auf die Zu-
kunft gerichteten Vertrages mit ſich bringt, durchaus zuläſſig, und
gerade der Zuläſſigkeit der Bedingung verdankte die Stipulation
zum weſentlichen Theil den hohen Grad ihrer Brauchbarkeit.
Mittelſt ihrer nämlich ward es möglich, indirect alle gedenk-
baren Gegenſtände, Leiſtungen u. ſ. w. in den Bereich der
Obligation zu ziehen, der Stipulation die weiteſte Ausdehnung
zu geben. Die einfache Formel war: verſprichſt Du die und
die Summe, wenn Du dies und das gethan oder nicht gethan
haſt? Unter dieſer letzteren Rubrik (in conditione positum)
hatte alles und jedes Platz; die einzige Gränze war das Un-
erlaubte, ſei es der Handlung ſelbſt oder der Tendenz des Ver-
trages. In einem Recht, wo alle erlaubten Beredungen klagbar
d. h. direct erzwingbar ſind, iſt der Werth dieſer indirecten Er-
zwingung um etwas verringert. Allein wo, wie im alten Recht,
zwiſchen dem Klagbaren und dem Unerlaubten die große Menge
der zwar erlaubten, aber nicht direct erzwingbaren Leiſtungen in
der Mitte lag, wo, wie ich andern Orts nachzuweiſen hoffe,
Obligationen auf ein bloßes Thun als ſolches (d. h. inſofern
es nicht eine Sache zum Gegenſtand hatte, ein Geben war)
noch keine Anerkennung gefunden hatten, war der Werth dieſes
Mittels ein unſchätzbarer. Ich führe zunächſt nur dies eine
Beiſpiel an, 749) ein weiteres Eingehen auf die praktiſche Ver-
werthung der Bedingung muß ich mir für eine andere Stelle
vorbehalten. An der gegenwärtigen, wo es ſich im weſentlichen
nur um die Form der Stipulation handelt, muß ich überhaupt
eine nähere Erörterung ihres ſachlichen Weſens ablehnen.


[588]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

3. Analyſe des römiſchen Formenweſens.

Der Stoff — die hauptſächlichſten ſymboliſchen Zeichen und
Handlungen, vor allem die Hand — das Wort — Abgränzung
der Formeln von den Formularen — Arten der Formeln nach
Maßgabe ihrer Beſtimmtheit — das Requiſit des Sprechens;
Verbindung deſſelben mit der Schrift — Theorie der Compoſi-
tion der Formeln: Gebrauch der Verbalformen; juriſtiſche Syn-
tax; Correſpondenz der Form — die Folgen des Formfehlers —
Zeit und Ort als Element der Rechtsgeſchäfte.


XLVII. Unſere Aufgabe führt uns auf ein in einer gewiſſen
Richtung kaum durchforſchtes Feld, ein Umſtand, der die Aus-
beute auf der einen Seite ebenſoſehr erleichtert, als auf der
andern erſchwert. Die Richtung, in der die Rechtsgeſchichte
daſſelbe bisher faſt ausſchließlich unterſucht hat, iſt eine einſei-
tige. Wie die Botanik vor nicht gar langer Zeit die natürlichen
Pflanzen, ſo behandelt ſie die Pflanzen, die dies Feld ihr bietet
d. h. ſie ſammelt ſie, beſchreibt ſie und legt ſie ins Herbarium,
kurz ihre Behandlungsweiſe trägt im weſentlichen noch den
deſcriptiven Charakter. Daß aber auch hier die Abſtrac-
tion einen dankbaren Stoff vorfindet, daß wir auch hier auf
dem Wege der Analyſe allgemeine Reſultate gewinnen können,
wird, wie ich hoffe, die folgende Darſtellung zeigen.


Das Allgemeine, was die bisherige Lehre uns bietet, geht
über das, was bereits Cicero und Gajus haben, nicht hinaus.
Es iſt jenes allgemeine Urtheil (S. 468 Note 610) über die
Strenge und Peinlichkeit, mit der die ältere Jurisprudenz die
Formeln handhabte, erläutert durch die bekannten von Gajus
mitgetheilten Beiſpiele. 750) Allein ſelbſt dieſe unzweifelhafte
Thatſache iſt, ſo lange man ſie nicht in den rechten Zuſammen-
hang bringt, mehr geeignet, das Urtheil über das ältere Recht
irre zu führen, als zu fördern; ſie dient weniger dazu, uns mit
[589]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
demſelben zu verſöhnen, als zu entzweien, ſie gibt uns ein
Räthſel ohne die Auflöſung.


Um nun gleich den Punkt anzugeben, in dem meiner Mei-
nung nach dieſe Auflöſung und allgemeiner: das Verſtändniß
des ganzen Formenweſens zu ſuchen iſt, ſo iſt dies das mor-
phologiſche Element
deſſelben, aber nichtin ſeiner dürren
Aeußerlichkeit, ſondern in ſeiner innern Urſächlichkeit.
Wir ſollen daſſelbe nicht hinnehmen als etwas Gegebenes, bei
dem man ſich beruhigen müſſe, bei dem man ſich keine Rechen-
ſchaft geben könne, warum das Einzelne gerade ſo und nicht
anders ſei, und bei dem dies auch kein höheres Intereſſe habe.
Der Geſichtspunkt vielmehr, unter dem wir es zu erfaſſen ha-
ben, und den ich im Folgenden möglichſt durchführen werde, iſt
der einer bewußten und berechneten juriſtiſchen Schöpfung,
einer tiefdurchdachten Zeichenſprache, kurz eines Kunſtpro-
ductes
des juriſtiſchen Geiſtes. Von dem Scharfſinn, ja ich
darf ſagen, dem Geiſt, den die alten Juriſten in den ſcheinbar
ſo unfruchtbaren und dürren Gegenſtand hineinzulegen verſtan-
den, haben wir, denen unſer heutiges Recht und unſere heutige
Wiſſenſchaft jede Parallele verſagt, heutzutage kaum eine Ah-
nung. Die Aufgabe und damit auch die Methode unſerer heu-
tigen Wiſſenſchaft iſt eine andere geworden, und mit der Sache
ſelbſt iſt uns der Sinn und das Verſtändniß für jenen un-
tergegangenen Zweig der juriſtiſchen Kunſt, die ſich im alt-
römiſchen Formenweſen bethätigte, abhanden gekommen. Mich
gemahnt dieſer Umſchwung, dieſes völlige Ausſterben einer
Kunſt, die einſt im höchſten Flor und Anſehn ſtand und den
ganzen Scharfſinn der Juriſten in Bewegung ſetzte, an ſo manche
Erſcheinungen des modernen Culturlebens. Ein recht verwickel-
ter Kanon, ein Gedicht nach den Regeln des Meiſtergeſanges
brachten einſt dem Muſiker und Meiſterſänger nicht mindere
Ehre und Anerkennung, als eine fein erſonnene Formel einem
altrömiſchen Juriſten. Heutzutage würde man kaum etwas
anderes darin finden, als ein nutzloſes Spiel des Verſtandes.
[590]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Allein hüten wir uns, unſern heutigen Maßſtab an frühere
Zeiten anzulegen und zu verkennen, daß was für uns werthlos
ſein würde, für ſie vollkommen berechtigt geweſen ſein kann.
Unſere heutige Wiſſenſchaft hat nicht mehr nöthig, ihre Kraft
auf Worte und Formeln zu richten, aber nur darum, weil unſer
Recht ſelbſt eine höhere Stufe beſchritten hat. Der römiſchen
Jurisprudenz aber war umgekehrt durch die Stufe, auf der ſich
das ältere Recht befand, zugleich die Art und Richtung ihrer
Thätigkeit vorgezeichnet; daß ſie ihren ganzen Scharfſinn und
ihre ganze Kraft an ein ſcheinbar ſo untergeordnetes Object
verwandte, als das Formelweſen, war nicht Sache ihrer freien
Wahl, ſondern der geſchichtlichen Nothwendigkeit.


Der Stoff, aus dem das ältere Recht die formellen Ge-
ſchäfte gebildet hat, ſind Handlungen, Zeichen und Worte.
Unter ihnen nehmen letztere die erſte Stelle ein. Zunächſt rück-
ſichtlich der ihnen zu Theil gewordenen juriſtiſchen Durchbil-
dung. Sodann aber ſind ſie und nur ſie das abſolut unent-
behrliche Element eines jeden Rechtsgeſchäfts; es gab Rechts-
geſchäfte z. B. die Stipulation, bei denen das bloße Wort,
keins, bei dem die bloße Handlung genügte. Man könnte
darauf hin verſucht ſein, ſich das Verhältniß zwiſchen dem
Wort, der Formel auf der einen und dem Zeichen, der Hand-
lung auf der andern Seite ſo zu denken, als ruhe der eigentliche
Nachdruck des Geſchäfts überall auf dem erſteren Element, und
als ſei letzteres nur eine ziemlich unweſentliche decorative Zu-
that, eine bloße Begleiterin des Worts geweſen, gleich wie es
im gewöhnlichen Leben die Hand von der Zunge iſt: — wenn
der ſinnlich natürliche Menſch ſpricht, ſo pflegt er ſeine
Worte pantomimiſch, namentlich mit der Hand zu unterſtützen.
Allein ſo wenig ich die Zuläſſigkeit dieſer Auffaſſung für die
meiſten Rechtsgeſchäfte beſtreiten will, ſo hat ſie doch keinen
Anſpruch auf ausſchließliche Geltung. So wie die Hand die
[591]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Zunge, ſo pflegt umgekehrt auch letztere jene zu ſecundiren, m.
a. W. der Nachdruck kann auch auf dem Handeln ruhen und
die Rede nur den Zweck haben, daſſelbe zu erläutern, oder zu
conſtatiren. Es iſt eine beachtenswerthe Eigenthümlichkeit des
älteren Rechts, namentlich aber des Proceſſes, alle relevanten
Thatſachen, wenn ich nach Analogie des Ausdrucks: actenkun-
dig ſo ſagen darf, ohrenkundig zu machen. Es genügt
z. B. zum Anfang der Verhandlungen nicht, daß die Partheien
da ſind, ſie müſſen erſt citirt werden. Ebenſo die Richter bei
dem Verfahren der Quäſtiones perpetuä. Haben die Partheien
geſprochen, ſo erfolgt mündlicher Actenſchluß durch das Wort
des Gerichtsdieners: dixerunt, auch die Zeit und das Ende
der Sitzung muß durch Ausruf deſſelben conſtatirt werden, ähn-
lich wie bei Abhaltung der Auſpicien das „Silentium“ durch
Meldung des Augur an den Magiſtrat. 751)


Aus Gründen der Darſtellung behandle ich das wichtigere
Element an zweiter Stelle und beginne mit den


1. Zeichen und Handlungen.

Ich habe in §. 45 drei Arten derſelben unterſchieden: ſym-
boliſche, repräſentative und reſiduäre, und für die beiden letzten
dort bereits die meiſten Beiſpiele aufgeführt, die das ältere
Recht uns darbietet. Es verbleibt uns hier noch die erſte
Claſſe, und für ſie liefert das ältere Recht und Leben eine reiche
Ausbeute. 752)


Die Fasces mit den Beilen in den Händen der Lictoren
[592]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
erinnern das Volk an das den Conſuln zuſtehende Recht über
Leben und Tod, das Schwert in den Händen des Judex quä-
ſtionis der ſpätern Zeit enthält für den Angeklagten die Mah-
nung, daß über ſeinem Haupte das Schwert ſchwebe. Der
Speer gilt im Privatrecht als Zeichen der kriegeriſchen Erbeu-
tung und folgeweiſe des ächten Eigenthums, worüber bereits
bei einer frühern Gelegenheit (Bd. 1 S. 110) das Nöthige
geſagt iſt. 753) Im Völkerrecht verkündet er, indem er über die
feindliche Gränze geworfen wird, den Krieg. Der Siegel-
ring
iſt das Mittel der Beglaubigung und daher das Zeichen
der Glaubwürdigkeit und das Vorrecht des freien Mannes.
Die goldenen Ringe als Anzeichen des Ritterſtandes, be-
ziehungsweiſe der freien Geburt ſtammen erſt aus ſpäterer
Zeit, die ältere kannte nur eiſerne. 754) Der Huth (pileus) iſt
das Zeichen der erlangten oder wiedererlangten Freiheit. Wo-
her dies? Man hat es mit der bei dieſer Gelegenheit Statt fin-
denden Sitte des Haarſchneidens in Verbindung gebracht; der
Huth habe zur Bedeckung des nackten Kopfes dienen ſollen. 755)
[593]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Der Sitte des Haarſcheerens liegt wohl der Gedanke zu Grunde,
daß der Freigewordene damit Alles, was ihm aus der Zeit der
Gefangenſchaft anklebt, gründlich abthue. Bänder drücken
die friedliche Stimmung aus — offenbar als Zeichen des feſt-
lichen Schmuckes 756) — das heilige Kraut (sagmina) in
den Händen der Geſandten die Unantaſtbarkeit. Feuer und
Waſſer ſind die Symbole der religiöſen Gemeinſchaft (B. 1
S. 275), das Brod das der häuslichen, daher die Anwen-
dung beider bei Eingehung der confarreirten Ehe. Das Haus
des Mannes iſt der natürliche Aufenthaltsort der Frau, und
darum bedarf es bei Eingehung der Ehe der feierlichen Einfüh-
rung der Neuvermählten in das Haus des Mannes (deductio in
domum
); durch Abweſenheit vom Hauſe während dreier Nächte
unterbricht ſie die Erſitzung der Manus. Die Uebergabe der
Schlüſſel an ſie bedeutet die Abtretung, die Rückforderung
derſelben die Entziehung ihres häuslichen Regiments d. h. die
Eheſcheidung. Das Tragen einer leeren Schüſſel (lanx) ſoll
bei der Hausſuchung nach geſtohlenen Sachen das Suchen
ausdrücken; um den Suchenden zu verhindern, die Sache
heimlich mit einzubringen, darf er mit nichts bekleidet ſein, als
einem Schurzfell (linteum). Das Abbrechen eines Zweiges
gilt als Beſitzesſtörung zum Zweck der Unterbrechung der Uſu-
capion, 757) das Werfen eines Steines als Zeichen der Ein-
755)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 38
[594]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſprache gegen Neubauten. Die Kriegsgefangenen werden zum
Zeichen ihrer Dienſtbarkeit unter das Joch durchgetrieben. 758)
Der Pflug iſt das natürliche Symbol des ſeßhaften Lebens,
und darum wird der Raum der neu zu gründenden Stadt mit
dem Pfluge abgemarkt, an den Stellen aber, wo die Thore
ſtehen ſollen, der Pflug gehoben, um damit anzudeuten, daß
hier der Ausgang frei ſei. Der Stuhl (sella) bildet das Vor-
recht des Magiſtrats; er darf ſitzen, die Partheien müſſen ſte-
hen, die Zuſchauer ſich mit Bänken (subsellia) begnügen. Der
Todtſchläger ſtellt an ſeiner Statt zur Abwendung der Blutrache
einen Sündenbock (B. 1 S. 172), Mohn- und Knob-
lauchköpfe
vertreten die urſprünglichen Menſchenopfer, Bin-
ſenmänner
, welche alljährlich in die Tiber geſtürzt werden,
ſollen dem Flußgott die menſchlichen Leiber erſetzen, die er als
ſeinen Tribut fordert. 759) Eine Maske (persona) deutet an,
daß der Erbe die Perſon des Erblaſſers repräſentirt. 760)


Vor allem hat aber der menſchliche Körper der Symbolik
dienen müſſen. 761) Der Kopf gilt als Träger der Rechts-
fähigkeit und Perſönlichkeit und hat für letztere den Namen
hergeben müſſen (caput, capitis deminutio). Was die ganze
Perſon ergreift, wird daher ſymboliſch durch Berühren des
Kopfes ausgedrückt. So erfolgt dieſe Berührung z. B. bei der
Inauguration des Königs und bei der Freilaſſung. 762) Die
Stirn iſt der Sitz der Schaam, die Braut verhüllt ſie, dem
[595]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Calumnianten wird auf ſie das Brandmal eingebrannt. 763)
Das Ohr iſt der Sitz des Gedächtniſſes, und darum zupfte
man es dem Zeugen, um ſein Erinnerungsvermögen anzu-
regen. 764)


Die hervorragendſte Stellung nimmt aber die Hand ein,
ſie folgt unmittelbar auf das Organ, das bei jedem Rechts-
geſchäft in Thätigkeit treten muß, die Zunge, und ſteht mit ihr,
wie oben bemerkt, in engſter Verbindung. Iſt es die Zunge,
die den Entſchluß verkündet, ſo iſt es die Hand, welche ihn aus-
führt; ſie iſt recht eigentlich das Organ des Willens und vom
Standpunkt der natürlich-ſinnlichen Auffaſſung iſt „Hand-
eln“ und die „Hand rühren“ gleichbedeutend. Es iſt hier nicht
meine Abſicht, auf die unendlich reiche allen Völkern gemein-
ſame Zeichenſprache der Hand weiter einzugehen; gibt es doch
kaum eine Gemüthsbewegung, die die Hand nicht in ausdrucks-
voller Weiſe zu ſekundiren verſtände, kaum einen ſolennen Act
aus der Kindheitszeit der Völker, bei dem die Hand nicht eine
Rolle ſpielte. Die dem Feinde dargebotene Hand gilt ihm als
Zeichen der Verſöhnung, Handſchlag als Unterpfand der Treue
bei Verſprechungen, 765) das Schließen der beiden Hände muß
die Wehrloſigkeit und Ergebung, die Vereinigung der Hände
der beiden Gatten bei der Hochzeit 766) ihre Vereinigung aus-
drücken, bei der Anrufung der Götter ſtrecken ſich die Hände
gen Himmel, 767) bei der Devotio gegen die Bruſt oder das
38*
[596]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Kinn, 768) bei einer an die Menge gerichteten Aufforderung
dient das Erheben der Hand oder des Fingers als Ausdruck der
Bereitwilligkeit. 769)


Die für das Privatrecht bei weitem wichtigſte Function
der Hand beſteht in dem Greifen und Ergreifen, und
rückſichtlich ihrer fließen der ſymboliſche und praktiſch-realiſti-
ſche Geſichtspunkt faſt unmerklich in einander über. Das Er-
greifen der Sache bei der Mancipation oder des Schuldners
bei der Perſonalexecution verſtattet ebenſowohl die Deutung
eines ernſtlich gemeinten Actes zum Zweck der phyſiſchen Be-
mächtigung der Perſon oder Sache, als die eines ſymboliſchen
Actes zum Zweck der Kundgebung der rechtlichen Herrſchaft,
die hier an der Sache erworben, an der Perſon geltend gemacht
werden ſoll. Ja es bietet ſich noch eine andere Deutung dar,
nämlich die rein deiktiſche: der Gegenſtand wird ergriffen, um
dadurch aufs unzweideutigſte darzuthun, daß er es iſt, den man
im Sinn hat, und für einzelne Fälle iſt dieſe Annahme völlig
unabweisbar, ſo z. B. für die Teſtamentserrichtung, wenn der
Teſtator die Worte ſpricht: haec uti in his tabulis cerisve
scripta sunt
u. ſ. w. und dabei das Teſtament in der Hand
hält. 770)


Das Greifen als ſolenne Handlung begegnet uns auch
außerhalb des Rechts, namentlich bei gewiſſen religiöſen Ac-
ten. Bei Einweihung des Tempels muß der Magiſtrat oder
der Pontifex maximus, 771) der den Act vollzieht, indem er die
[597]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
ſolennen Dedicationsworte ſpricht, die Pfoſten des Tempels
ergreifen. 772) Bei der Anrufung der Mutter Erde in der De-
votionsformel wird die Erde erfaßt, 773) bei dem Eide und dem
das Opfer begleitenden Gebet der Altar. 774) Warum? Der
Altar iſt nicht der Gegenſtand, den der Eid oder das Gebet be-
trifft, die deiktiſche Deutung des Greifens iſt hier alſo völlig
ausgeſchloſſen. Ich meine, es iſt dieſelbe Idee, die dem Hand-
auflegen bei Ertheilung des Segens zu Grunde liegt. Bei
dem letzten Act ſoll die Hand gewiſſermaßen den Leiter abgeben,
durch den der Segen auf das Haupt des Empfängers hinüber-
ſtrömt, der ſpirituelle Rapport, die rein geiſtige Einwirkung
wird durch das Verhältniß der phyſiſchen Berührung nicht bloß
ſymboliſch angedeutet, ſondern für die ſinnliche Auf-
faſſung dadurch überall erſt ermöglicht, ähnlich wie zur
Fortpflanzung des elektriſchen Stroms eine Berührung nöthig
iſt. 775)


Läßt ſich nun dieſe Tendenz der ſubſtantiellen Subſtruction
ſpiritueller Einwirkungen und Beziehungen in dieſen und an-
dern Fällen nachweiſen, ſo werden wir ſchwerlich fehl greifen,
wenn wir ihr auch für das Recht eine gewiſſe Geltung vindici-
ren. Die abſtracte Erfaſſung des Willens als einer ſpiritualiſti-
771)
[598]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſchen Potenz d. h. als einer Macht, die durch das bloße Aus-
ſprechen, Verkündigen
des Entſchluſſes ihre ſchöpferiſche
Kraft bethätigt, iſt der natürlich ſinnlichen Periode zu hoch, der
Zug des Materialiſtiſchen, der allen ihren Begriffen und An-
ſchauungen eigen iſt (§. 43), verläugnet ſich auch in ihrem Wil-
lensbegriff nicht. Die innere Beziehung, in die der Wille zu
einem Gegenſtand treten will, muß die äußere, die recht-
liche
Ergreifung die phyſiſche zu ihrem Subſtrat haben, der
Wille muß, ſo zu ſagen, ſubſtantiell in die Sache hinüberſtrö-
men, um ſie mit ſeiner Macht und Kraft zu erfüllen. Das Or-
gan aber, in dem dieſe Macht und Kraft zur Verwendung nach
außen hin bereit liegt, iſt die Hand. Denn die Hand iſt der
eigentliche Sitz der activen phyſiſchen Kraft. So wird alſo die
Hand das Werkzeug, das Symbol und der Ausdruck
(Manus) der rechtlichen Herrſchaft. 776)


Sie wird das Werkzeug. Wo die rechtliche Herrſchaft
begründet werden ſoll, muß die Hand das Object derſelben er-
greifen. So zunächſt bei der Mancipation. Zur Zeit des Gajus
war dies bei unbeweglichen Sachen nicht mehr erforderlich, al-
lein die Art und Weiſe, wie er ſich ausdrückt, läßt deutlich er-
kennen, daß er darin eine Abweichung von dem urſprünglichen
Weſen der Mancipation erblickt, die ſich auf nichts anders ſtütze,
als daß es einmal ſo gehalten werde (solent mancipari). 777)
775)
[599]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Auch ohne dieſe Andeutung von ſeiner Seite würde uns der Zu-
ſammenhang des ältern Rechts zu dieſer Annahme drängen (ſ. u.).
Ebenſo verhält es ſich mit der Abtretung vor Gericht. Für ſie
ergibt ſich dies Erforderniß daraus, daß es bei der Vindication,
deren Nachbildung ſie iſt, nöthig war. So ferner: bei der Er-
greifung der zum Veſtadienſt beſtimmten Jungfrau von Seiten
des Pontifex Maximus (B. 1 S. 110) — worin ſich unſere
Idee wohl am hellſten abſpiegelt — und auch bei dem Raub
der Braut von Seiten des Bräutigams bei der Hochzeit. 778)
Rückſichtlich der Tradition bedarf es keiner Bemerkung. Da-
gegen iſt das Volk, wenn es Eigenthum erwirbt oder gewährt,
an dieſes Requiſit nicht gebunden (Abſ. IV), denn der Wille
des Volks beſitzt, auch ohne daß er ſich reel bethätigt, die nö-
thige Macht und Kraft in ſich, das beabſichtigte Verhältniß ins
Leben zu rufen. Daher geht z. B. durch Addiction, Aſſignation
und auch, weil es ſich urſprünglich auf eine lex des Volks
ſtützte, durch das Teſtament (Erbſchaft und Legat) das Eigen-
thum ohne äußere Bemächtigung der Sache über. Daß es bei
Obligationen der Thätigkeit der Hand nicht bedarf, hat darin
ſeinen Grund, daß es ſich bei ihnen weder um eine Herrſchaft
an einer Perſon, noch an einer Sache handelt; das ſubſtantielle
Element des Willens liegt hier in etwas anderem. 779) Kömmt
es jedoch zur Perſonalexekution, durch welche ſich der Anſpruch
gegen oder an die Perſon in ein Recht an der Perſon verwan-
delt, ſo iſt hier conſequenter Weiſe wiederum die Hand erfor-
derlich (manus injectio). Ebenſo erſcheint ſie wiederum in dem
manum conserere des Vindicationsproceſſes. Der Vindicant
und nach ihm in derſelben Weiſe der Contravindicant ergreift
mit der einen Hand die Sache, mit der andern die Vindicta und
berührt mit ihr die Sache, indem er dabei die ſolennen Worte
777)
[600]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſpricht. 780) Bei beweglichen Sachen geſchieht dies an der Ge-
richtsſtätte, bei unbeweglichen verfügten ſich urſprünglich die
Partheien mit dem Gerichtsperſonal (Prätor und Lictoren) und
Zeugen (superstites) an Ort und Stelle, und der Act ward
inſofern vor Gericht (in jure im Sinne der XII Tafeln 781))
vorgenommen. Späterhin gingen die Partheien ohne den
Prätor hinaus, der Act ward alſo ein außergerichtlicher,
wie dies durch die Aufforderungsformel: ex jure (vom Gericht
weg) manum consertum vocare782) angedeutet wird, ja ſchließ-
lich erſparten ſie ſich dieſen das Verfahren unterbrechenden Gang
dadurch, daß ſie von vornherein die das Grundſtück repräſenti-
rende Scholle (S. 540) mitbrachten, zu der ſie dann als zum
Grundſtück ſelbſt (wenn auch mit zwei Schritten) ſich hin-
ausverfügten
d. h. der Act blieb juriſtiſch ein außer-
gerichtlicher
. 783) Dieſe effective Aufgabe des Requiſits
[601]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
der Präſenz bei der Vindication unbeweglicher Sachen
ſchloß mit Nothwendigkeit auch die Aufgabe deſſelben für die
Eigenthumsübertragung an ihnen in ſich. Denn was
für die Vindication, war eben damit auch für die Abtretung
vor Gericht zugelaſſen. Das Holen der Scholle konnte für
beide Verhältniſſe keine Schwierigkeiten machen. Wenn die
Partheien einig waren, die Scholle, anſtatt von dem vielleicht
einige Tagereiſen weit entfernten Grundſtück, vom erſten beſten
zu nehmen, wer hatte ein Intereſſe oder ein Recht es ihnen zu
wehren, oder ſollte etwa der Prätor den Beweis auferlegen,
daß die Scholle wirklich von jenem Grundſtück ſtamme? Kurz
in Wirklichkeit war ſowohl für die Vindication als die Abtre-
tung vor Gericht die Nothwendigkeit ſich auf das Grundſtück zu
begeben erlaſſen. Damit hatte letztere aber einen bedeutenden
Vorſprung vor der Mancipation erlangt, und ſollte dieſe bei
unbeweglichen Sachen nicht aus dem praktiſchen Gebrauch ver-
ſchwinden, ſo mußte man ſich bei ihr zu derſelben Conceſſion
verſtehen. Der Uebergang ward hier vielleicht in derſelben Weiſe
wie dort durch Repräſentation des Grundſtücks vermittelt, bis
man letztere in allen Anwendungen aufgab.


Das manum conserere bei der Vindication läßt ſich unter
einen doppelten Geſichtspunkt bringen. Einmal nämlich unter
den, daß die Hand, wie ſie Recht ſchaffe, ſo auch dem In-
haber deſſelben dazu dienen ſolle, ſich Recht zu verſchaf-
fen
, und für dieſe Deutung ſpricht theils die Bezeichnung
des Acts als vindicatio (vim dicere B. 1 S. 153) theils
die manus injectio bei der Perſonalexekution. Sodann aber
kann die Hand in jener Anwendung auch eine bloße ſymboliſche
Darſtellung des in Anſpruch genommenen Rechts ſein, die
Kundgebung, daß es ſich hier um eine in der Herrſchaft (ma-
nus
) der Parthei befindliche Sache handle. Das manum con-
serere
würde hiernach nichts anders ſein, als ein beiderſeitiges
manum (dominium, potestatem sibi) asserere, eine plaſtiſche
Behauptung des Eigenthums, und vermittelſt dieſer Auffaſſung
[602]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
würden wir in dieſem Act einen Ausfluß des unten mitgetheil-
ten Geſetzes der Correſpondenz der Form erhalten: eine Repe-
tition der Hand bei der Begründung und Geltendmachung des
Rechts.


Man möchte noch einen Anwendungsfall der Hand ver-
miſſen. Bedarf es nicht eines Entlaſſens aus der Hand von
Seiten deſſen, der das Eigenthum überträgt oder aufgibt? Hier
greift die bereits früher (B. 1 S. 107) erörterte Auffaſſung des
alten Rechts über den Charakter der Eigenthumsübertragung
ein. Der Nachdruck ruht bei letzterer auf dem Nehmen, nicht
auf dem Geben, eine active Thätigkeit wird nur von Seiten
des Erwerbers verlangt, für den Geber genügt ein paſſives
Verhalten: das Dulden des Nehmens. Nur in einem Fall
bedarf es, eben weil kein Nehmer auf der andern Seite gegen-
über ſteht, als Zeichen der Aufgabe des Rechts eines Loslaſſens
aus der Hand (e manu mittere) nämlich bei der Manumissio.
Indem der Herr des Sklaven die ſolenne Formel ſpricht, muß
er die Hand an ihm halten zum Zeichen, daß er noch ihm ge-
höre, nachdem er ſie geſprochen, läßt er die Hand los zum Zei-
chen, daß er jetzt ſeine Macht aufgegeben habe. 784)


Dieſer letzte Act liefert uns zugleich einen Beleg für die
obige Behauptung, daß die Hand nicht bloß ein Mittel zur Be-
gründung
der rechtlichen Herrſchaft, ſondern ein Symbol
[603]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
der letzteren ſelbſt ſei. Daß ſie für letztere auch den Namen
hat hergeben müſſen, iſt bereits früher (B. 1 S. 112) bemerkt,
und beſchränke ich mich hier auf eine Zuſammenſtellung ſämmt-
licher Ausdrücke: res mancipi, mancipatio (Eigenthum), eman-
cipatio
(väterliche Gewalt), manumissio, mancipium (Sklaverei
und Mancipium), Manus (im engern, ſpäter techniſchen Sinn
eheherrliche Gewalt), mandare (Voll macht geben), manubiae
(Erlös der Beute).


2. Das Wort.

Das ſo eben erörterte Element der formellen Geſchäfte ſteht,
wie bereits bemerkt, hinter dem gegenwärtigen weit zurück. Wir
können das hiſtoriſche Verhältniß beider im allgemeinen dahin
angeben, daß jenes ſeinen Urſprung und ſeine Geſtaltung mehr
dem Leben und der Sitte, dieſes den ſeinigen mehr der Ju-
risprudenz
verdankte. Darin liegt eine doppelte Differenz
beider. Zuerſt die ihrer juriſtiſch-künſtleriſchen Geſtaltung und
Durchbildung — das Formelweſen iſt der Culminations-
punkt der juriſtiſchen Kunſt, jedes Wort faſt verräth die Hand
des Juriſten. Und ſodann die Differenz ihrer juriſtiſchen Gel-
tung
. Viele der oben mitgetheilten Handlungen und Gebräuche
waren rechtlich keineswegs nothwendig, ſondern ein decorativer
Zuſatz, den der Verkehr aus freiem Antriebe den Rechtsgeſchäf-
ten hinzufügte. Die Worte und Formeln hingegen, die wir im
Folgenden kennen lernen werden, waren abſolut obligater Na-
tur; der Nichtgebrauch derſelben machte das ganze Geſchäft
nichtig.


Es iſt oben (S. 468) der hervorragenden Rolle gedacht, die
das Wort im alten Recht ſpielt, und von den zwei Richtungen,
nach denen ſich dieſelbe erſtreckt (S. 469), die eine: das Requiſit
des beſtimmten directen wörtlichen Ausdrucks des concreten Ge-
ſchäftsinhalts, an jener Stelle erörtert worden. Wir wenden
uns hier der zweiten zu: dem Requiſit des Gebrauchs gewiſſer
ein für alle Mal beſtimmter d. i. ſolenner Worte. Daß beide
[604]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Seiten, ſo ſtreng ſie andererſeits unterſchieden werden müſſen,
doch im engen Verbande mit einander ſtehen, iſt dort bereits be-
merkt, und wir wollen uns davon jetzt überzeugen an einer Er-
ſcheinung, die gewiſſermaßen die Brücke zwiſchen beiden bildet.


Es iſt dies der im ältern römiſchen Leben ſo ungemein häu-
fige Gebrauch der Formulare. Das Formular iſt nicht zu
verwechſeln mit der Formel. Die Benutzung der letzteren be-
ruht auf rechtlicher Nothwendigkeit, die der erſtern auf
freier Wahl, jene iſt die ausſchließliche Form, in der ein
beſtimmtes Geſchäft bei Strafe der Nichtigkeit abgeſchloſſen wer-
den muß, dieſe ein Entwurf zur geſchickten und umſichtigen
Abſchließung deſſelben, deſſen Werth theils in der genauen Be-
rückſichtigung aller bei demſelben zu beachtenden materiellen
Punkte und Umſtände, theils in der vorſichtigen und als ange-
meſſen erprobten formellen Redaction deſſelben gelegen iſt. Das
Formular gewährt uns daher ein treues Bild des Geſchäfts
ſelbſt nach ſeinem ganzen Umfang und Inhalt, während die
Formel regelmäßig abſtracterer Art iſt, eine Einleitungs- oder
Schlußwendung oder eine concentrirte Angabe der weſentlichen
Punkte, zu der dann die concretere Ausfüllung erſt hinzukom-
men muß.


Der Gebrauch der Formulare für Rechtsgeſchäfte empfiehlt
ſich in dem Maße durch Rückſichten der Bequemlichkeit und
Zweckmäßigkeit, daß wir ihn wenn auch in ſehr verſchiedenem
Grade zu allen Zeiten und in allen Rechten antreffen. Ueber-
hebt das Formular einerſeits die Contrahenten der Mühe der
eignen Abfaſſung und bietet es ihnen dafür eine Faſſung, die,
in der Regel von kundiger Hand entworfen, im Leben bereits
ihre Probe beſtanden hat, ſo ſichert es ihnen andererſeits den
Vortheil, ſie auf alle bei dem Geſchäft in Obacht zu nehmen-
den Punkte aufmerkſam zu machen, es leiſtet ihnen in der
That den Dienſt, dem manche Sammlungen derſelben ihren
Namen entlehnt haben, den „eines getreuen und fürſichtigen
Rathgebers.“


[605]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

Zu dieſen für alle Zeiten Anwendung findenden Gründen
geſellen ſich nun für gewiſſe Culturſtufen der Völker und Rechte
noch andere hinzu, die dieſer Einrichtung für ſie eine erhöhte
Brauchbarkeit und Geltung verſchaffen. In einer Zeit, wo die
Schreibkunde und die Herrſchaft über die Sprache keine allge-
meine Verbreitung erlangt hat, wird Jeder, der derſelben erman-
gelt, bei allen einigermaßen wichtigen und complicirten Ge-
ſchäften faſt mit Nothwendigkeit zum Gebrauch des Formulars
getrieben. Andererſeits ſind jene Stufen, die wir hier im Auge
haben, zugleich die, auf denen das Recht und namentlich das
ſ. g. dispoſitive (beſſer vielleicht: ſuppletoriſche) Recht am we-
nigſten entwickelt iſt. Unſer heutiges Recht ergänzt in vielfacher
Weiſe den ausgeſprochenen Willen der Partheien, vorzugsweiſe
bei Verträgen; eine Menge von Punkten brauchen nicht aus-
bedungen zu werden, das Geſetz ſupplirt ſie als präſumtiven
Willen der Parthei (ſ. g. naturalia negotii), ſo z. B. beim
Kauf den Anſpruch des Verkäufers auf die Zinſen des Kauf-
preiſes nach Lieferung der Sache, ſo im ſpäteren römiſchen Recht
das Recht des Pfandverkaufs, das früher durch ein ausdrück-
liches pactum de vendendo hatte ausbedungen werden müſſen,
ja in einigen Fällen das Pfandrecht ſelbſt (pignus tacitum).
Bei einer ſolchen Geſtalt des Rechts können ſich die Partheien,
ohne in den meiſten Fällen ſonderlich Gefahr zu laufen, auf die
Hauptpunkte des Geſchäfts beſchränken; das Geſetz, die Juris-
prudenz thut ein übriges. Anders aber auf der von uns ſuppo-
nirten Stufe der Entwicklung des Rechts. Hier fehlt jene Er-
gänzung, und was gelten ſoll, muß von den Partheien ſelbſt
geſetzt ſein, die „lex contractus“ muß um ſo vollſtändiger ſein,
als die lex publica lückenhaft iſt (S. 313). Eine Menge von
Beſtimmungen, die in ſpäterer Zeit die letztere Form angenom-
men haben, mußten ſich Jahrhunderte lang mit der erſteren be-
gnügen. 785)


[606]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Für das alte Rom ſpeciell kam ſchließlich noch ein fernerer
Grund hinzu. Er lag in der formaliſtiſchen Strenge des ältern
Rechts und Proceſſes. Was half es, wenn ein Vertrag oder
ein Teſtament in materieller Beziehung auch noch ſo vollſtändig
abgefaßt, daneben aber ein Ausdruck gebraucht war, an dem die
ſtricte Wortinterpretation der ältern Zeit Anſtoß nahm? Die
Erſichtlichkeit und völlige Zweifelloſigkeit des wirklichen Willens
glich den Mißgriff in den Worten nicht aus. Hier alſo kam es
vor allem darauf an, ſich auch rückſichtlich des Ausdrucks ſicher
zu ſtellen, und welche größere Sicherheit ließ ſich denken, als
die Wahl einer Faſſung, die bereits in andern Fällen mit Er-
folg zur Anwendung gekommen war, die das gefährliche Fahr-
waſſer des ältern Proceſſes bisher glücklich durchſchifft und ſo
zu ſagen die exegetiſche Feuer- und Waſſerprobe unverſehrt be-
ſtanden hatte?


Kein Wunder alſo, daß jene Einrichtung im ältern Rom
eine Verbreitung und Geltung fand, für die uns die Gegen-
wart jeden Vergleich verſagt. Zeugniß dafür legt ab zunächſt
die hohe Schätzung, ja die literarhiſtoriſche Celebrität, deren
ſich die Concipienten und Sammler der Formulare erfreuten.
Ein neues, geſchickt abgefaßtes Formular brachte ſeinem Urheber
mehr Ehre, Anerkennung, Ruhm beim Volke, als heutigen Ta-
ges die beſte juriſtiſche Leiſtung je in Ausſicht hat, und im Na-
men des Formulars ſelbſt verherrlichte die dankbare Nachwelt
noch lange das Gedächtniß des Erfinders. 786) Selbſt die bloßen
785)
[607]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Sammler gangbarer Formulare machten ſich damit einen Na-
men, wie z. B. Mamilius durch die nach ihm benannte, 787)
und zum vollſtändigen Hausinventar eines geſetzten römiſchen
Hausvaters gehörte ſicherlich, wie heutzutage bei Bürger und
Bauer eine Sammlung von Hausmitteln aller Art oder ein
Briefſteller, ſo damals eine Sammlung ſolcher juriſtiſcher Re-
cepte. Schriftſteller, die Dinge des praktiſchen Lebens behan-
delten, wie z. B. den Landbau, vergaßen nicht, auch die dahin
einſchlagenden juriſtiſchen Recepte mitzutheilen, und in den uns
erhaltenen Schriften von Cato und Varro figuriren friedlich ne-
ben einander Anweiſungen zur Bereitung des Miſtes und Mo-
ſtes, zur Heilung der Krätze des Viehs und Zauberſprüche
gegen Podagra mit wohl clauſulirten Anleitungen und Formu-
laren zum vorſichtigen Ankauf des Viehs, zum Verdingen der
ländlichen Arbeiten, zum Verkauf der Früchte und andern Ge-
ſchäften. 788)


Wir ſind leicht geneigt, wie den Werth und das Verdienſt,
ſo auch die Schwierigkeiten der Anfertigung ſolcher Formulare
zu unterſchätzen. Ein neues Formular bedeutete für den Ver-
kehr eine neue Bahn, die er einſchlagen konnte, und die er viel-
leicht bis dahin ſchon lange vergebens geſucht hatte; es war
eine in praktiſcher Beziehung ungleich wichtigere Leiſtung, als
wir von unſerm heutigen Standpunkt aus uns denken, und der
Vergleich mit der Erfindung eines probaten mediciniſchen Haus-
mittels, das viele mediciniſche Bücher aufwiegen kann, trifft
auch in dieſer Beziehung zu. Die Schwierigkeiten lagen nicht
786)
[608]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
bloß darin, worin wir heutzutage ſie allein ſuchen würden: in
der genauſten Beachtung aller irgendwie in Betracht kommen-
den Punkte, in der Berechnung und Berückſichtigung aller Even-
tualitäten, der ſorgfältigſten Wahl des Ausdrucks. Es geſell-
ten ſich noch zwei andere durch die Eigenthümlichkeit des ältern
Rechts bedingte hinzu. Einmal nämlich die Anforderung einer
kunſtgerechten Redaction im Sinne der ältern Jurispru-
denz (ſ. u.) und ſodann eine andere, die ich hier nur andeuten
kann und erſt bei einer andern Gelegenheit genauer beſprechen
werde. Nicht ſelten nämlich kam es darauf an, erſt durch eine
geſchickte Manipulation, durch Umwege u. ſ. w. die juriſti-
ſche Möglichkeit
des Geſchäfts zu vermitteln, den Geſichts-
punkt aufzufinden, unter dem daſſelbe ſich ins Recht einführen
ließ. Kurz es galt eine eigenthümliche Aufgabe der juriſti-
ſchen Conſtruction
, die einerſeits nicht bloß die vollſtän-
dige Beherrſchung des Rechts, ſondern andererſeits ein gewiſ-
ſes Geſchick und Erfindungsvermögen vorausſetzte.


Das Material, das uns für die im Folgenden zu verſuchende
Bearbeitung des Formelweſens zu Gebote ſteht, leidet an einer
doppelten Unvollkommenheit. Zunächſt ſind uns nämlich von
einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Rechtsgeſchäften die be-
treffenden Formeln theils gar nicht, theils lückenhaft erhal-
ten 789) und von dem großen Vorrath der Formeln des Legis-
actionen-Proceſſes (ſ. u.) beſitzen wir kaum mehr als die eine
und andere. Sodann und vor allem aber ſtützt ſich das meiſte,
was wir wirklich haben, wenigſtens die Formeln und Notizen,
welche das Privatrecht betreffen, auf die Referate der ſpätern
[609]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
klaſſiſchen Juriſten, und die theilen uns regelmäßig nur das zu
ihrer Zeit Geltende mit. Die Annahme, daß dies ſtets auch
das Urſprüngliche geweſen, iſt aber aus dem Grunde höchſt
mißlich, weil die Bande des Formalismus ſich nachweisbarer-
maßen zu ihrer Zeit ſchon vielfach gelockert hatten. Der Geiſt
der alten Jurisprudenz, jene Peinlichkeit und Strenge in den
Worten, der Sinn und das Verſtändniß für das Formeln-
weſen war bereits im Scheiden. Ein alter Juriſt hätte ſich
nie auch nur die geringſte Abweichung in der Mittheilung einer
Formel erlaubt; an Beiſpielen aus der damaligen Zeit fehlt es
keineswegs. 790) Neben der alten Formel wurden zur Auswahl
andere neuere zugelaſſen — ebenfalls ein entſchiedener Abfall
vom Geiſt der älteren Zeit, denn die duldete, ſo weit ich habe
bemerken können, für jedes Geſchäft nur eine Formel. Für
einzelne Fälle verſtatten unſere Quellen, die Differenz zwiſchen
dem Früheren und Spätern, ja ſogar zwiſchen der nur durch
ein halbes Jahrhundert getrennten Zeit des Gajus und Ulpian
ſtreng nachzuweiſen. So erklärt jener eine Ungenauigkeit in
der Faſſung der Stipulation für ſchädlich, die dieſer als einfluß-
los bezeichnet. 791) So kennt Ulpian drei Formeln der Erbes-
einſetzung, die uralte: heres esto, und zwei andere, von denen
Gajus nur eine für zuläſſig erachtet und zwar in einer Weiſe,
aus der man erſieht, daß man ſich erſt um ſeine Zeit darüber
geeinigt hatte. 792) Ein ähnliches Verhältniß waltet zwiſchen
den von ihnen angegebenen Formeln der Vermächtniſſe ob. 793)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 39
[610]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Was hier zufälligerweiſe nachweisbar iſt — und es iſt dies erſt
ſeit Auffindung des Gajus — wird ſich auch in andern Fällen
wiederholt haben, von denen uns keine Kunde aufbewahrt iſt.
Solche Beobachtungen mahnen aber zur Vorſicht und Kritik in
der Benutzung des Materials.


Auf welche Unterlage kann dieſe Kritik ſich ſtützen? Das
Formelnweſen beſchränkte ſich, wie ich früher bemerkt habe, kei-
neswegs auf den Proceß und das Privatrecht, ſondern erſtreckte
ſich auch auf das öffentliche und geiſtliche Recht und die Reli-
gion, und zwar entſtammte es nach allen dieſen Anwendungen
hin einer und derſelben Hand: der der Pontifices (§. 42).
Dies iſt ein höchſt wichtiger Umſtand. Denn er erſchließt uns
für unſer Unternehmen eine reichhaltige Quelle des Materials,
er verſtattet uns, die Lücken des einen Zweiges aus dem an-
dern zu ergänzen, er gibt der ganzen Unterſuchung mehr Halt
und Feſtigkeit. Beſonders werthvoll wird er aber dadurch, daß
gerade jene Anwendungsgebiete des Formalismus, die uns zu-
nächſt nicht intereſſiren, Formeln aufzuweiſen haben, welche
unläugbar in das früheſte Alterthum hinaufreichen, wie z. B.
die von Livius mitgetheilten des jus fetiale (ſ. u.). Legen wir
dieſe und andere unſerer Unterſuchung zu Grunde, ſo wird es
uns gelingen, uns des weſentlichen Kerns des alten Formeln-
weſens zu bemächtigen, und was von den Formeln oder auf ſie
bezüglichen Erſcheinungen der ſpätern Zeit mit ihm im entſchie-
denen Widerſpruch ſteht, von dem werden wir behaupten dür-
793)
[611]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
fen, daß es, weil den Charakter der alten Zeit verläugnend,
neuern Urſprungs ſein muß.


Wir gehen jetzt zu unſerer eigentlichen Aufgabe über.


Der formelle Charakter unſeres zweiten Elements
der Rechtsgeſchäfte beruhte auf zweierlei: (1) es waren be-
ſtimmte
Worte, und dieſelben mußten (2) geſprochen wer-
den. Unterziehen wir dieſe beiden Momente einer nähern Be-
trachtung.


1. Moment der Beſtimmtheit. 794)

Es waren alſo beſtimmte, d. h. ein für alle Mal vorge-
ſchriebene Worte oder Sätze, deren ſich die Partheien für die
verſchiedenen Rechtshandlungen, ſowohl die des Proceſſes, als
des Verkehrs zu bedienen hätten. Dieſe Beſtimmtheit aber
war graduell verſchieden, bei der einen Handlung war die Par-
thei mehr, bei der andern weniger eingeengt, hier war es eine
längere Formel, eine ganze Litanei, die ſie nach zu beten hatte,
dort nur ein einzelnes Schlagwort, namentlich der das Geſchäft
bezeichnende Kunſtausdruck, mit dem ſie den concreten Inhalt
deſſelben in Verbindung zu bringen hatte — gewiſſermaßen eine
39*
[612]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
bloße, dem Geſchäft anzuheftende Etikette. Begreiflicherweiſe
mußte überall dem concreten Inhalte des Geſchäfts Raum ge-
laſſen werden ſich zu entfalten, jedes einzelne Geſchäft beſtand
nothwendigerweiſe aus einer Combination eines abſtracten und
concreten Beſtandtheils. Aber in ſehr verſchiedener Weiſe.
Es liegt z. B. auf der Hand, daß der Proceß ſich nicht aus-
ſchließlich in feſt beſtimmten Formeln bewegen konnte, der freien
Verhandlung der Partheien mußte ein angemeſſener Spielraum
gelaſſen werden, und nur für die entſcheidenden Momente des-
ſelben mochte man zur beſtimmteren Hervorhebung derſelben die
Benutzung einer Formel verlangen. 795) Eine Fixirung und
Concentrirung des eigentlichen Streitpunktes in Form einer
Theſis iſt namentlich für den Proceß ebenſo heilſam, als für eine
Disputation. Ohne die der Verhandlung nöthige Freiheit zu
beeinträchtigen, verhindert ſie, daß der Streit ſich nicht ins Un-
beſtimmte verliere, und ſchließlich gar der eigentliche Streitpunkt
ſelbſt zweifelhaft werde. Unſer heutiger Proceß macht den Man-
gel dieſer Einrichtung vielfach ſehr fühlbar.


Im Unterſchiede vom Proceß war dagegen das Teſtament,
ſowohl rückſichtlich ſeiner Einrichtung im Ganzen als ſeiner ein-
zelnen Dispoſitionen von Anfang bis zu Ende ausſchließlich an
feſte Formeln gebunden, es gab in ihm kein Fleckchen, auf dem
man ſich frei hätte bewegen können. Die Einſetzung des Erben,
die Enterbung, die Vermächtniſſe, die Ernennung des Vormun-
des, die Anſprache an den familiae emtor und deſſen Antwort
— alles hatte ſeine beſtimmte Form und zum Theil auch ſeine
beſtimmte Ordnung (ſ. u.). Bei der Stipulation hingegen be-
ſchränkte ſich der feſte oder abſtracte Theil des Geſchäfts auf
das Wörtchen: spondes? — ein Blankett, das man mit be-
liebigem Inhalt und in beliebiger Ordnung ausfüllen mochte.


[613]Haſten an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

Innerhalb der Formeln gibt es eine graduelle Differenz
ihrer Beſtimmtheit, deren die Römer ſelbſt gedenken: gewiſſe
Formeln (und als Beiſpiel werden uns namentlich die Legis-
actionen genannt) vertragen durchaus keine Aenderung, weder
einen Zuſatz, noch eine Auslaſſung, andere laſſen dieſelbe zu,
natürlich nur inſofern ſie ſich mit dem Zweck des Geſchäfts ver-
tragen. 796) Wir können, wie ich glaube, noch weitere Grade
dieſer Beſtimmtheit unterſcheiden. Freilich ſind die Gränz-
linien zum Theil minder feſt und ſcharf, allein da der einzige
Zweck darin beſteht, uns das Vorhandenſein einer gewiſſen Ab-
ſtufung innerhalb der Formeln zur Anſchauung zu bringen, und
ein juriſtiſches Intereſſe ſich an dieſe Unterſcheidung überall
nicht knüpft, ſo kömmt es darauf nicht weiter an.


Ich unterſcheide alſo:


  • 1. Schlagworte. Regelmäßig treffen ſie mit dem Namen des
    Geſchäfts ſelbſt zuſammen, ſo z. B.:
  • 2. Elaſtiſche Formeln: Sätze, welche in ihren weſentlichen
    Punkten feſt ſind, aber in gewiſſen Hinſichten eine Abände-
    rung vertragen, z. B. die cognitoris datio (Note 796), die
    Beſtellung eines ususfructus durch in jure cessio (Hinzufü-
    gung eines dies).
  • 3. Feſte, aber ſchematiſche Formeln: d. h. ſolche, welche
    concret ausgefüllt werden müſſen, im übrigen aber un-
    abänderlich ſind. Das älteſte Beiſpiel dieſer Art mag die
    von Livius erhaltene Formel der Kriegsankündigung ſein, in
    der an betreffender Stelle der Name des Feindes genannt
    wird. 797) Aus dem Civilrecht und Proceß nenne ich fol-
    gende:
    Angabe der Perſon:
    Name des Erblaſſers bei Antretung der Erbſchaft durch
    cretio: cum me Maevius heredem instituit. Ulpian.
    XXII, 28;

    der Summe:
    bei der manus injectio. Gaj. IV, 21 und der nexi so-
    lutio. Gaj. III, 174;

    des Gegenſtandes:
    des Grundſtücks bei der Vindication (Lage deſſelben) Cic.
    pro Mur. 12;
    798)
    des Verhältniſſes:
    Nexi solutio Gaj. III, 174 und gewiß auch bei der pig-
    noris capio. Gaj. IV, 29.
  • 4. Feſte und zwar abſolut geſchloſſene Formeln:
    ſolche, bei denen ſelbſt die Namhaftmachung dieſer indivi-
    [615]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
    duellen Umſtände (als überflüſſig) hinwegfiel. Dahin ge-
    hörten z. B. die Formeln des Teſtators und des familiae
    emtor. Gaj. II, 104,
    die des Vindicationsrituals. Gaj.
    IV, 16. Cic. pro Murena 12.

Ich brauche nun wohl kaum zu bemerken, daß dieſe for-
melle
Verſchiedenheit nur die Folge und der Ausdruck einer
materiellen war. Für gewiſſe Handlungen war man der
Anſicht, daß ſie ihrem weſentlichen Beſtande nach in dem Maße
feſt und beſtimmt gegeben ſeien, daß jede Abweichung davon
vom Uebel ſei. Der Ausdruck für dieſe Anſicht war eine For-
mel der dritten und vierten Claſſe. Bei andern verhehlte man
ſich nicht, daß man der Autonomie der Privaten einen freieren
Spielraum gewähren müſſe, begnügte ſich alſo damit, nur die
Hauptpunkte namhaft zu machen, oder nahm ſelbſt davon Ab-
ſtand. In jenem Fall gab man eine Formel der zweiten Claſſe,
in dieſem beſchränkte man ſich auf ein bloßes Schlagwort.


Soweit nun das Requiſit der Beſtimmtheit reichte, hatte es
bei allen Geſchäften dieſelbe Kraft und Geltung. Eine Ac-
ceptilation, bei der das Wort: acceptum habeo mit einem an-
dern gleichbedeutenden vertauſcht war, war um nichts weniger
nichtig, als jene Legisactio von Gajus, bei der ſtatt arboribus:
vitibus
geſetzt war. Die ſcheinbare Differenz in der Strenge,
mit der der Formalismus bei der einen und andern Claſſe von
Geſchäften gehandhabt wurde, beruhte nur auf der Verſchieden-
heit in der Elaſticität der Formeln: nicht das Maß der Strenge,
ſondern nur das der Beſtimmtheit war ein verſchiedenes.


Eine nothwendige Conſequenz der Beſtimmtheit war die,
daß die vorgeſchriebenen Worte und Formeln ſich nicht in eine
andere Sprache übertragen ließen. Waren es einmal dieſe
Ausdrücke, deren man ſich bedienen mußte, wie hätte man ſtatt
derſelben z. B. griechiſche gebrauchen können? Eben ſo gut
hätte man gleichbedeutende lateiniſche wählen können. Ein
Ausländer alſo, der das römiſche Bürgerrecht oder Commer-
cium erworben hatte, mußte alle Geſchäfte des jus civile in
[616]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
lateiniſcher Sprache abſchließen; ſo wenig wie das Volk ſich
in ſeinem völkerrechtlichen Verkehr mit Auswärtigen der frem-
den Sprache bediente, 799) ſo wenig duldete es dieſelbe in den
Geſchäften des Civilrechts. 800) Die Geſchäfte des jus gentium
hingegen und die des ſpäteren römiſchen Rechts, wie z. B.
die Fideicommiſſe, waren weil an keine Formel, auch nicht an
den Gebrauch einer beſtimmten Sprache gebunden. Freilich
war man ſpäterhin doch genöthigt, gewiſſe Conceſſionen zu
machen, was erſt im dritten Syſtem nachgewieſen werden
kann. 801)


2. Mündliche Rede.

Das Schreiben iſt etwas Abſtractes und Erlerntes, und
darum nicht das Urſprüngliche. Das Einfachſte, das Natür-
liche und Urſprüngliche iſt das Sprechen, und dieſe natürliche
Form der Gedankenäußerung iſt im ältern Rechte zugleich die
[617]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
rechtlichnothwendige. 802) Das ältere Recht kennt keinen
ſolennen Akt, bei dem die Schrift die Rede hätte erſetzen kön-
nen. 803) Freilich neben der Rede mag in Rom von Altersher,
wie bei den Geſetzen und Bündniſſen, ſo auch bei wichtigen
Geſchäften des Privatrechts eine ſchriftliche Aufzeichnung üblich
geweſen ſein, aber ich muß es betonen: neben, nicht ſtatt
der Schrift. Ein Teſtament, eine umfangreiche Stipulation
mochte man immerhin aufzeichnen und von Zeugen oder der
Gegenparthei unterzeichnen laſſen — die Schrift hatte hier
durchaus keine juriſtiſche Bedeutung, die Gültigkeit des Ge-
ſchäfts beruhte lediglich auf der mündlichen Vornahme. Bei
beiden Geſchäften aber durfte letztere nach der uns bekannten
Geſtalt der Sache eine abſtracte ſein, d. h. man konnte, ohne
das Mindeſte vom Inhalt der Urkunde mitzutheilen, ſich in der
Formel des Geſchäfts einfach auf letztere beziehen, alſo z. B.:
ich teſtire, wie in dieſer Urkunde geſchrieben — verſprichſt Du
alles zu leiſten, was in dieſer Urkunde verzeichnet? 804) Der
juriſtiſchen Auffaſſung nach war das Geſchäft mündlich ge-
ſchloſſen, denn der ganze Inhalt der Urkunde war ja vom Re-
denden genehmigt, anerkannt, er hatte geſprochen durch
Verweiſung.


War dieſe Geſtalt der Sache die urſprüngliche? Ich meine,
Jeder muß ihr den Zug der abſtracten Periode anmerken. Sie
enthält in Wirklichkeit eine Trennung des concreten Inhalts
[618]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
des Geſchäfts von letzterem ſelbſt. Gewollt wird nicht dies,
dies Beſtimmte, Sichere, ſondern ein Etwas: das, was in
der Urkunde ſteht — vielleicht alſo etwas ganz Anderes, als der
Redende weiß und will. In dieſer Weiſe kann er wollen, ohne
jetzt bereits im Mindeſten zu wiſſen Was, z. B. verſprechen,
was dieſer jenem verſprochen hat oder gar erſt verſprechen
wird. 805) Noch weniger erfahren die Zeugen etwas Näheres;
ſie ſind dabei, ſie ſehen was geſchieht und hören, was geſprochen
wird, und doch wiſſen ſie nicht das Geringſte vom Inhalt —
ſie ſehen, ſo zu ſagen, nur den Schatten des Geſchäfts! Bei
dem Eigenthumserwerb und der Vindication einer Sache ge-
nügte es nicht, ſie bloß zu nennen, ſich nur auf ſie mit Wor-
ten zu beziehen, ſondern man ſollte ſie faſſen. Und bei
dem Rechtsgeſchäft hätte man den Inhalt deſſelben nicht eben-
falls faſſen, d. h. mit der Zunge faſſen (lingua nuncupare) 806)
ſollen? Ein Wollen durch bloße Beziehung, durch abſtracte
Erklärung des Beitritts der Einwilligung u. ſ. w. widerſpricht
meiner Anſicht nach aufs entſchiedenſte dem Geiſte des ältern
Rechts. Ich glaube alſo z. B. rückſichtlich der Stipulation,
daß in alter Zeit nicht bloß der Stipulant den ganzen
Inhalt derſelben angeben, ſondern auch der Promittent ihn
wörtlich nachſprechen mußte (S. 583). Ebenſo bei der Cor-
realobligation und der Bürgſchaft. Für den Eid iſt es be-
[619]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
kannt, daß der Schwörende die ihm vorgeſprochene Eidesfor-
mel wörtlich nachzubeten hatte, ſich alſo nicht mit einem abſtrac-
ten „So ſchwöre ich“ begnügen durfte. Nur wo die Maſſe,
z. B. das Volk bei Geſetzvorſchlägen oder das Heer bei Ablei-
ſtung des Fahneneides, eine Willenserklärung abzulegen hatte,
mag man nothgedrungen von Altersher eine Ausnahme gemacht
und eine abſtracte Erklärung zugelaſſen haben. Damit hängt
die Sitte der Präjurationen zuſammen, vermöge welcher bloß
Einzelne den ganzen Eid herſagten und die Andern lediglich mit
„ebenſo ich“ ihren Beitritt erklärten. 807)


Kehren wir jetzt zu der Verbindung der Schrift und Rede
zurück, ſo glaube ich, daß eine bloße Verweiſung auf die Schrift
ohne Mittheilung ihres Inhalts im älteren Rechte unſtatthaft
war, hier vielmehr der ganze Inhalt der Schrift vorgeleſen
werden mußte. Halten wir uns zunächſt an die beiden genann-
ten Fälle des öffentlichen Rechts: die Geſetze und Bündniſſe,
ſo iſt es bekannt, daß der Geſetzantrag dem Volk wörtlich vor-
gelegt werden mußte, und die Kraft des geſchriebenen Ge-
ſetzes nicht auf der Schrift, ſondern auf der mündlichen Vor-
lage und Annahme beruhte. Was die Bündniſſe betrifft, ſo iſt
uns von Livius 808) die Formel ihres Abſchluſſes aufbewahrt,
und dieſe gedenkt ausdrücklich der geſchehenen Verleſung.
Auch bei Gelübden, namentlich den öffentlichen, war die ſchrift-
liche Aufzeichnung eine ganz häufige (tabulae votivae), und
[620]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
auch hier wird der Verleſung gedacht. 809) Aus ſpäterer Zeit
nenne ich noch das richterliche Urtheil, welches zwar ſchriftlich
ertheilt, aber daneben bei Strafe der Nichtigkeit verleſen
werden mußte. 810) Iſt die Annahme gewagt, zu der ich mich
bereits S. 13 Note 6 von einem andern Geſichtspunkte aus
gedrungen fühlte, daß daſſelbe urſprünglich auch beim Manci-
pationsteſtament der Fall geweſen? Doch verkenne ich nicht,
daß wenn irgendwo, gerade bei dieſem Rechtsgeſchäft am
erſten eine Abweichung zugelaſſen worden ſein mag, und man
möge dieſelbe immerhin in die gegenwärtige Periode ſetzen, un-
ſere obige Behauptung, daß alle Rechtsgeſchäfte mündlich
abgeſchloſſen werden mußten, erleidet dadurch keine Einſchrän-
kung — auch das Teſtament ward juriſtiſch mündlich er-
richtet.


Dagegen ſcheint ein anderes Geſchäft: der Literalcon-
tract
, der allerdings bereits der gegenwärtigen Periode, wenn
auch erſt der zweiten Hälfte angehört, 811) mit ihr ſich ſchlechter-
dings nicht zu vereinigen.


Allein der Literalcontract war von Haus aus nichts anderes,
als die von beiden Partheien bewerkſtelligte Eintragung einer
auf andere Weiſe begründeten Geldſchuld, wie dies aus den
dabei gebrauchten Ausdrücken: expensum und acceptum ferre
unzweideutig hervorgeht, alſo ſeiner urſprünglichen Tendenz
und ſeinem Aeußern nach nichts weiter als ein Beweismit-
tel
. Aber freilich: ſo wie man der Eintragung abſolute Be-
weiskraft einräumte, war damit mittelbar eine ſelbſtändige,
d. h. von dem Abſchluß eines andern Contracts, namentlich
eines Darlehns unabhängige Art ſich zu verpflichten gewon-
[621]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
nen, und in richtiger Erkenntniß davon durfte und mußte man
hier von einem eignen Contract ſprechen. Es verhielt ſich mit
demſelben ähnlich, wie mit der obligatoriſchen Kraft des rich-
terlichen Urtheils. Beide ſind von Haus aus rein declara-
toriſch
, ſie erkennen nur eine Verbindlichkeit als bereits
vorhanden
an, allein da dieſe Anerkennung eine unumſtöß-
liche Kraft hat, ſo erlangen ſie damit die Natur conſtituti-
ver
Akte. 812) Seiner praktiſchen Geltung nach würde alſo
der Literalcontract von unſerem obigen Satz eine Ausnahme
begründen, ſeiner juriſtiſchen Compoſition nach nicht.


Alſo unſere Regel bleibt aufrecht: alle Geſchäfte des älteren
Rechts müſſen mündlich errichtet werden. Wie aber wenn
Jemand nicht ſprechen kann? Dann iſt er eben dadurch ausge-
ſchloſſen. Daſſelbe gilt von dem Tauben 813) rückſichtlich aller
Geſchäfte, bei denen der Gegner zu ſprechen hat, denn man
muß die Worte deſſelben hören, alſo z. B. von der Stipula-
tion, dem Teſtamente. Unſer heutiges Recht macht den
Schreibunfähigen die bekannte Conceſſion des Kreuzziehens
ſtatt der Namensunterſchrift, das römiſche Recht hat eine ſolche
Rückſicht gegen Taube und Stumme nicht beobachtet, ſie ſind
die Opfer ihres Naturfehlers.


Woher nun die Worte und Formeln?


Sind ſie durch die Geſetze eingeführt? Gewiß nicht! In
der ſpätern Zeit kommt es allerdings vor, daß ein Geſetz für die
Klage, die es gewährt, auch zugleich die entſprechende Klag-
[622]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
formel aufſtellt, wie z. B. die lex Rubria (Proceßordnung für
das cisalpiniſche Gallien) es thut, allein für die ältere Zeit iſt
dies weder bezeugt, noch irgendwie wahrſcheinlich. Mittel-
bar
wurden freilich die ältern Geſetze eine wichtige Quelle
der Formeln, indem ſie, wie unten gezeigt werden ſoll, für
eine gewiſſe Art derſelben die Legisactionen das Material her-
gaben.


Sind ſie Producte des Lebens? Die Frage iſt zu unbe-
ſtimmt, man kann ſie bejahen und verneinen, je nachdem man
ſie verſteht. Verneinen — inſofern mit dieſem Ausdruck
jene urſprüngliche Bildung gemeint iſt, wie wir ſie S. 603 bei
den formellen Handlungen angenommen haben, bejahen,
inſofern das Leben vielfach Formulare in Formeln verwandelt
(S. 313). Abgeſehen von den bloßen Schlagworten, denen
man eine ſolche Entſtehungsweiſe immerhin zuſchreiben möge,
tragen die eigentlichen Formeln ſo ſehr das Gepräge des Ge-
machten, des Abſichtlichen, es herrſcht in dem ganzen Syſtem
eine ſolche Uebereinſtimmung, Conſequenz, Berechnung, Kunſt,
daß man blind ſein müßte, um den juriſtiſchen Urſprung
derſelben zu verkennen. Und rückſichtlich der einen Hälfte: der
auf den Proceß ſich beziehenden, wird uns dieſe Entſtehungsart
ausdrücklich bezeugt. Nach Erlaß der XII Tafeln und im An-
ſchluß an ſie, heißt es, hätten die Pontifices die Klagformeln
componirt, und bei ihrem Collegium hätte ſich das Depot be-
funden. 814) Appius Claudius habe den ganzen Vorrath in eine
Sammlung gebracht, zu der, nachdem ſie von deſſen Schreiber
Flavius veröffentlicht worden ſei (jus Flavianum), ſpäterhin
ein anderer Juriſt, Aelius, noch Nachträge veröffentlicht habe
(jus Aelianum). 815) Wenn Pomponius dieſer letztern That-
ſache den Ausdruck gibt: Aelius habe dieſe ganze Sammlung
[623]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
verfaßt (composuit), ſo beruht dies ſicherlich auf einem Irr-
thum. Daß ein Juriſt als ſolcher, d. h. ohne amtlichen Cha-
rakter, keine Formeln (S. 604) einführen konnte, bedarf kaum
der Bemerkung. Was er vermochte, war nur ein Formular
aufſetzen. Allein auch die Annahme, daß jene Sammlung aus
lauter von Aelius verfaßten Formularen beſtanden habe,
ſtößt auf unmögliche Vorausfetzungen. Oder ſollte die römiſche
Jurisprudenz Angeſichts des durch Pomponius ſelbſt betonten
Bedürfniſſes (augescente civitate quia deerant quaedam ge-
nera agendi
) und bei der ihr nicht minder, als dem Aelius
gebotenen Möglichkeit der Befriedigung dieſes Bedürfniſſes,
d. h. dem Vorhandenſein der leges, aus denen ſich die legis
actiones
componiren ließen, ſich dieſer einfachen Aufgabe ſo
lange entzogen haben, bis endlich Aelius auf den Gedanken
kam, das Verſäumte nachzuholen und mit einem Male eine
ſolche Menge Klagformulare in die Praxis warf, daß man ſie
als „liber“ und „jus Aelianum“ bezeichnen konnte? Viel-
leicht hat Pomponius ſich durch die letztere Bezeichnung verlei-
ten laſſen, den bloßen Sammler für den Verfaſſer zu halten,
während dieſelbe hier nicht mehr bedeutete, als beim jus Pa-
pirianum
und Aelianum — jedenfalls habe ich nicht den Fond
von Glauben, den er bei dieſer Gelegenheit an den Tag gelegt
hat.


Das Formelweſen iſt alſo ein Werk der Jurisprudenz.
Könnten die äußeren Beweiſe uns darüber zweifeln laſſen, die
inneren von der Beſchaffenheit deſſelben hergenommenen müß-
ten jeden Zweifel heben — jedes Splitterchen, möchte ich ſagen,
verkündet uns die Urheberin. Ich habe den Geſichtspunkt, un-
ter dem ich dieſen Beſtandtheil der ältern Jurisprudenz auffaſſe,
bereits oben S. 589 angegeben, und es iſt hier der Ort, den-
ſelben zu begründen. Ich nannte das Formelweſen dort ein
Kunſtproduct des juriſtiſchen Geiſtes und bezeichnete
es als einen untergegangenen Zweig der juriſtiſchen Kunſt,
und daran knüpfe ich jetzt an.


[624]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Der geiſtige Höhenpunkt dieſer Kunſt iſt ein niedriger, er
liegt tief unter dem der heutigen und auch der ſpätern römiſchen
Jurisprudenz, allein auf und von dieſer Baſis aus erhebt ſich
dieſelbe zu einer Höhe, die unſere ganze Bewunderung in An-
ſpruch nimmt. Als der eigentliche geiſtige Mittelpunkt, von
dem aus wir das Verſtändniß derſelben zu gewinnen ſuchen
müſſen, läßt ſich ihr Streben nach ſtrenger Logik be-
zeichnen. Aber dieſe Logik iſt eigenthümlicher Art, ſie iſt eine
höchſt peinliche, minutiöſe, eine Logik des Kleinen und Klein-
ſten, ſie fordert eine Genauigkeit des Ausdrucks und der An-
ordnung des Gedankens, wie ſie im Sprechen zu beobachten
auch dem ſchärfſten Denker unmöglich fallen würde. Sie eig-
nete ſich daher nur für den juriſtiſchen Lapidarſtyl, bei dem das
kleinſte Wörtchen ſich aufs ſorgfältigſte abwägen läßt. Ueber-
tragen auf andere Gebiete der ſprachlichen Darſtellung würde
ſie mit ihrer Ungelenkigkeit, Ausſchließlichkeit, Peinlichkeit und
Monotonie der Ruin aller Freiheit und Schönheit der Dar-
ſtellung ſein. Dagegen ſind allerdings die Regeln, die ſie
aufſtellt, unbeſtreitbar der genaueſten Beobachtung des Den-
kens entnommen — es ſteckt in dieſen nüchternen Formeln eine
kleine Theorie der Logik.


Was mich aber am meiſten mit Bewunderung erfüllt, iſt
das ungemeine Verſtändniß für die feinſten Nüancen der ſprach-
lichen Formen, das höchſt entwickelte Taſtvermögen für die
eigenthümliche logiſche Bedeutung und ſprachliche Beſtimmung
derſelben; wie eine Theorie der Logik, ſo könnte man dem For-
melnweſen bis zu einem gewiſſen Grade auch eine Theorie der
Sprach-, namentlich der Verbalformen entnehmen. Durch Be-
nutzung der der Sprache abgelauſchten feinen Züge iſt es den
alten Juriſten gelungen, mit wenig Mitteln außerordentlich viel
zu erreichen, ich meine nicht ſowohl kurz, treffend, bezeichnend
zu reden, ſondern ſprachlich in einer Weiſe zu charakteri-
ſiren und individualiſiren
, für die die Geſchichte der
Sprache wenig Seitenſtücke darbieten möchte.


[625]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

Wie die großen Meiſter der Tonkunſt es verſtanden haben,
die verſchiedenen Perſonen einer Oper in dem Maße muſika-
liſch zu individualiſiren, daß jede derſelben ihre eigne muſika-
liſche Sprache hat, ſo unſere alten juriſtiſchen Meiſter die Per-
ſonen, die ſie ſprechen zu laſſen haben. Jede derſelben: das
Volk, der Senat, der Prätor redet ſeine eigne ſeiner politiſchen
Rolle entſprechende Sprache, und ich hoffe den Leſer zu über-
zeugen, daß es nicht zu viel geſagt iſt, wenn ich behaupte, daß
z. B. die eigenthümliche ſtaatsrechtliche Stellung des Prätors
kaum treffender charakteriſirt werden kann, als es der Curial-
ſtyl des Edicts durch einige wenige Wendungen gethan hat.


Dieſe ganze Richtung ſchloß übrigens die Gefahr eines be-
denklichen Abweges in ſich, und es iſt gewiß nicht das kleinſte
Verdienſt der alten Jurisprudenz, daß ſie denſelben glücklich
vermieden hat, es war der ihrer Ausartung in eitel Spielerei.
Wie nahe derſelbe gelegen, zeigt uns das Beiſpiel eines Rechts,
das wie in ſo vielen andern Punkten, ſo auch in dieſer Bezie-
hung eine höchſt lehrreiche Parallele für das alte römiſche Recht
darbietet. Es iſt das isländiſche. Wenn irgendwo außer dem
römiſchen ſo hat in ihm der Formelcultus und das Sichver-
tiefen in das Wort die höchſte Höhe erreicht. Es bedurfte, nach
der Verſicherung eines competenten Berichterſtatters, 816) eines
mehrjährigen Studiums, um alle die Formeln auswendig zu
lernen, und „bei Anwendung derſelben kam der Verſtand in
vollſte Thätigkeit.“ Aber hier unterlag er der eben bezeichneten
Gefahr. „Das Recht war ganz zu einem Spiel des Witzes ge-
worden und zu einer Wette, wer die dunkelſten und ſeltenſten
der vielen Formeln und Gebräuche am untadeligſten vortragen
und anwenden könne — und ſehr häufig mußte Blut heilen,
was die Sophiſterei verrenkt hatte.“ Daß die Römer dieſer
Gefahr nicht verfallen ſind, die einem durch die Natur während
des ganzen Winters zum Grübeln verurtheilten Volk ſo ver-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 40
[626]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
derblich ward, davon lag der Grund nicht bloß in ihnen ſelbſt,
in ihrem geſunden Sinn und ihrer praktiſchen Natur, ſondern
in jenem Schutzmittel gegen alles unfruchtbare Grübeln: der
nothgedrungenen unausgeſetzten Thätigkeit. Spielereien kom-
men nur da auf, wo es an ernſten Aufgaben fehlt.


Indem ich mich jetzt anſchicke, dies obige Urtheil im Ein-
zelnen zu begründen, muß ich, um das ganze Material an die-
ſer Stelle überſichtlich zuſammenzuſtellen und andererſeits nicht
zu nutzloſer Wiederholung genöthigt zu ſein, den Leſer erſuchen,
die S. 511 und 512 anticipirten Belege als integrirenden Be-
ſtandtheil der gegenwärtigen Darſtellung zu betrachten und
einer abermaligen Lectüre zu unterziehen. Im übrigen werde
ich meinen Stoff unter folgende drei Geſichtspunkte bringen:


  • 1. Die Verbalformen.
  • 2. Die juriſtiſche Syntax.
  • 3. Das Geſetz der Correſpondenz der Form.

1. Die Verbalformen.

Wenn uns aus einem heutigen Schriftſtück juriſtiſchen In-
halts, einem Geſetz, einer Verordnung, einem Urtheil, einer
theoretiſchen Darſtellung des Rechts, einem Contract, Teſta-
ment ein Bruchſtück vorgelegt würde ohne Angabe ſeiner Quelle,
wie ſchwer oder richtiger unmöglich würde es uns in den mei-
ſten Fällen ſein, letztere aus der Sprache der Urkunde zu er-
rathen. Die Sprache iſt in faſt allen dieſen Darſtellungen eine
und dieſelbe, ein Paragraph aus einem Geſetzbuch lautet nicht
ſelten ganz ſo doctrinär wie einer aus einem Compendium, der
Erlaß einer Verwaltungsbehörde wie ein Geſetz, eine Beſtim-
mung aus einem Teſtament wie aus einem Vertrage.


Würde uns dieſelbe Aufgabe an einem derartigen Bruch-
ſtück des römiſchen Alterthums geſtellt, ein einziges Wort
würde häufig zur Löſung derſelben genügen. Ich meine natür-
lich nicht die entſcheidenden Worte, mit denen die Urkunde ſich
ſelbſt charakteriſirt, wie z. B. hac lege, placere Senatiui
[627]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
u. ſ. w., ſondern den Styl derſelben. Der Styl des Ge-
ſetzes
war ein anderer, als der eines Senatsbeſchluſſes
oder Edictes, der des Teſtaments ein anderer, als einer
Vertragsurkunde, und zwar nicht etwa in Folge einer will-
kührlichen Convention, ſondern als Ausfluß und Ausdruck ihrer
inneren Verſchiedenheit, kurz er beruht auf jener ſtyliſti-
ſchen Individualiſirung
, deren ich oben bereits gedachte.


Dieſe Individualiſirung beruhte aber ihrerſeits wiederum
vorzugsweiſe auf dem Gebrauch der verſchiedenen Verbalfor-
men
. Der Imperativ war für andere Verhältniſſe beſtimmt,
als der Infinitiv, der Indicativ für andere, als der Conjunctiv,
das Futurum, als das Präſens u. ſ. w., wie dies jetzt im Ein-
zelnen nachgewieſen werden ſoll.


1. Der Imperativ. Er iſt die Form des Befehls und
der kategoriſchen Aufforderung. Darum gebührt er vor allem dem
Volk für ſeine Beſchlüſſe (leges, Plebiscita),817) mögen dieſel-
ben die Aufſtellung eigentlicher Rechtsgeſchäfte oder ſonſtige
Verfügungen818) zum Inhalt haben. Ebenſo den Göttern,
d. h. er iſt auch die Form der Gebote des geiſtlichen Rechts.819)
Dagegen hat der Senat bei ſeinen Beſchlüſſen und der Prätor
in ſeinem Edicte ſich deſſelben zu enthalten, denn der ſtaats-
rechtlichen Theorie nach haben beide keine geſetzgebende Ge-
walt.820)


Innerhalb der Schranken ſeiner Competenz hat auch der
Magiſtrat das Recht zu befehlen, und ſo namentlich der Prä-
tor für die Rechtspflege. Darum lauten ſeine Anweiſun-
gen ſowohl an den Richter (judex esto — condemna, ab-
40*
[628]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
solve) als an die Partheien (mittite ambo hominem, inite
viam)
imperativiſch. Folgeweiſe auch das Urtheil des Richters,
wenn ihm eine Condemnation und nicht etwa ein bloßer
Ausſpruch (praejudicialis formula) aufgetragen iſt;821) der
Prätor hat die Macht zu befehlen auf ihn übertragen. Bei
einem Antrage ans Volk bedient der Magiſtrat ſich der milde-
ren Form der Aufforderung: des Conjunctivs — velitis ju-
beatis.
822)


Eine Aufforderung von Seiten der Privatperſon lautet
nur da imperativiſch, wo letztere im Voraus der Erfüllung ver-
ſichert worden iſt, ſo z. B. an die Zeugen, welche ihr ihre Mit-
wirkung verſprochen haben, (Litiscontestatio: testes estote;
nuncupatio testamenti: testimonium mihi perhibetote)
oder
umgekehrt von Seiten des Libripens an die Parthei (S. 565
Note 708). Dagegen lautet die Aufforderung an die Gegen-
parthei nicht imperativiſch, alſo z. B. nicht: ambula mecum
in jus,
ſondern in jus te voco (ſ. u.), nicht dic, ex qua causa
vindicaveris,
ſondern postulo anne dicas, ex qua u. ſ. w.823)
Noch weniger kann natürlich die Parthei zum Prätor ſagen: da
mihi judicem,
ſondern: postulo, uti des, oder gar den Impe-
rativ an ſich ſelbſt richten, was der Fall ſein würde, wenn die
Formel der Mancipation nach Meinung eines heutigen Juri-
ſten (S. 564 Note 706) imperativiſch: emtus esto hätte lau-
ten ſollen. Bei der feinen Unterſcheidung, die die Römer im
Gebrauch des Imperativs beobachten, wäre dies ein gar zu
[629]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
grober Schnitzer geweſen. Die Parthei nimmt das emere da-
durch vor, daß ſie die Sache ergreift, die Wagſchale ſchlägt und
den Sinn dieſer Handlung durch die Formel conſtatirt, das
Conſtatiren aber geſchieht durch den Indicativ (ſ. u.), einer Auf-
forderung bedarf es weder von der gegneriſchen, noch von ihrer
Seite.


Der Imperativ iſt, wie bemerkt, die Form der lex. So
lange die Teſtamente noch in den Comitien errichtet wurden,
war er alſo eben damit auch die Form der teſtamentariſchen
Dispoſitionen, und dies iſt ſpäter beibehalten worden. Die
Verfügungen des Teſtaments müſſen legis modo i. e. impe-
rative
824) gefaßt werden, alſo z. B.: heres, exheres, liber,
damnas esto, cernito, capito, praecipito, sinito.
Worauf es
beruht, daß im Widerſpruch damit die Formel des Vindica-
tionslegats: do, lego lautete, vermag ich nicht anzugeben;825)
einen Grund hat dieſe Abweichung jedenfalls gehabt. Für die
tutoris datio826) läßt ſie ſich ſchon leichter begreifen.


Der Ausdruck lex wird von den Römern bekanntlich auch
in einem weitern Sinn von Beſtimmungen gebraucht, die auf
Vereinbarung beruhen (leges contractus, foederis, pacis
u. ſ. w.). Hierin mag es ſeinen Grund haben, daß die impe-
rativiſche Form auch in Anwendung auf ſie gebraucht wird, ſo
z. B. bei den einzelnen Clauſeln eines Födus, der Fundations-
urkunde eines Tempels, und ſelbſt in Formularen von Con-
tracten.827)


[630]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

In allen Fällen kann der Imperativ entweder auf ein Thun
oder ein Sein geſtellt werden: dato, facito, capito oder heres,
damnas, jus esto
. Es liegt auf der Hand, daß manche Dispo-
ſitionen ſowohl in der einen wie andern Form gefaßt werden
konnten, z. B. das Damnationslegat konnte lauten: damnas
esto dare
und dato, ohne daß dies einen Unterſchied begrün-
dete. Ob die ältere Zeit hier nicht ſtrenger verfuhr, iſt eine
Frage, die ich nur aufwerfen, nicht beantworten kann.


2. Der Conjunctiv. Er ſchließt ſich dem Imperativ am
nächſten an, denn er iſt zunächſt eine mildere Form des
Befehles
. In dieſem Sinn gebraucht ihn zunächſt der Se-
nat
. Seiner urſprünglichen Stellung nach kann der Senat
nicht befehlen, ſondern nur begutachten, befürworten, an-
empfehlen, auffordern. Die entſprechende Form dafür war der
Infinitiv (ſ. 3) und der Conjunctiv; jener, wie es ſcheint, mehr
für die bloße Erklärung, dieſer mehr für die Aufforde-
rung
. Der Senat behielt dieſe beiden Formen auch dann noch
bei, als er der Sache nach bereits eine geſetzgebende Gewalt
erlangt hatte.828) Ebenſo gebraucht der Prätor in ſeinem
Edict den Conjunctiv. Alle Verfügungen des prätoriſchen
Edicts ſind, inſofern der Prätor nicht in erſter Perſon im In-
dicativ ſpricht, (ſ. u.) im Conjunctiv gehalten. Denn der Prä-
827)
[631]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
tor hat keine geſetzgebende Gewalt, und wenn er trotzdem
Rechtsgrundſätze in dem Edict aufſtellt, ſo darf er ſie doch nicht
in die Form des Geſetzes, d. h. den Imperativ kleiden. Wie die
bonorum possessio ſich zur hereditas verhält, ſo der Conjunctiv
des Prätors zum Imperativ des Volks, d. h. der Sache nach
leiſtet er daſſelbe, aber in der Form iſt er verſchieden. Aus
der reichen Zahl von Beiſpielen nenne ich folgende:829)


  • 1. exhibeas, restituas, satisdet, bona veneant.
  • 2. ne quid facias, immittas, fiat, ne quis in jus vocet, vi
    eximat.
  • 3. ut eant aut satisdent, solvat.

Sodann iſt der Conjunctiv die Form des Entwurfs oder
Antrages. Der Magiſtrat, der einen Geſetzentwurf oder
irgend einen Antrag ans Volk bringt, leitet ihn ein mit den
Worten: rogo, velitis, jubeatis, Quirites, oder vellent, jube-
rent,
dem dann der Antrag ſelbſt durchweg in Form des Con-
junctivs gehalten folgt.830) In derſelben Weiſe bedient ſich der
Senat dem Magiſtrat gegenüber des Conjunctivs, indem er
ihm den Entwurf der von ihm zu treffenden Verfügungen un-
terbreitet. Gewiſſermaßen erſcheint alſo der Conjunctiv, wie oben
als Vertreter, ſo hier als Vorläufer des Imperativs.


3. Der Infinitiv. Er iſt die Form des Meinens,
der Anſicht, Ueberzeugung, Erklärung, des Gutachtens, Ur-
theils. Darum findet er ſeine Hauptanwendung in den Se-
natsbeſchlüſſen.831)


Auch das richterliche Urtheil kann außer der Form der Con-
demnation die des bloßen Ausſpruches annehmen (B. 1
[632]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
S. 158); der dabei benutzte ſolenne Ausdruck iſt: videri.832)
Ebenſo das Zeugniß (Gutachten des Kunſtverſtändigen?), für
welches der Ausdruck: arbitrari üblich war,833) und höchſt
wahrſcheinlich wird man in älterer Zeit dieſe Form auch bei
allen Arten von Gutachten beobachtet haben, ſo z. B. bei
den Reſponſen der Juriſten, Augurn, Fetialen, Pontifices
u. ſ. w.834)


4. Der Indicativ. Er iſt die Form der Behauptung,
Erklärung, Verſicherung, Conſtatirung
. Aber mit
einem wohl zu beachtenden, ungemein feinen Unterſchiede.
Wenn die Thatſache, welche der Sprechende behauptet, ledig-
lich auf ſeiner ſubjectiven Ueberzeugung beruht, z. B. daß
er Eigenthümer oder Gläubiger ſei, ſo kann er nicht ſagen: res
mea est, te mihi dare oportet,
ſondern nur: ajo rem
meam esse, ajo te mihi dare oportere.
835) Anders hingegen,
wenn ſeine bloße Erklärung ausreicht, die beabſichtigte Wir-
kung objectiv hervorzurufen, oder wenn ſie ſeine eigne Hand-
lung oder eine Thatſache, die vor ſeinen Augen geſchieht, con-
ſtatiren, ohren
kundig machen ſoll. Hier ſpricht er kategoriſch,
alſo z. B. auctor fio, praes sum, spondeo, hereditatem adeo,
831)
[633]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
manum injicio, silentium est, dixere (S. 591 Note 751).
Beſonders inſtructiv iſt in dieſer Beziehung die Formel der
Mancipation. Die Behauptung des Empfängers, daß er die
Sache gekauft habe, lautet kategoriſch und objectiv: est emtus;
dagegen die damit verbundene, daß er jetzt Eigenthümer ſei:
ajo, rem meam esse, ähnlich wie die Formel im Vindications-
proceß. Beides gleich logiſch gedacht. Denn die Thatſache
des Kaufes wird durch jene Erklärung objectiv hergeſtellt
und conſtatirt, nicht aber die des Eigenthumserwerbes, denn
ſie iſt von dem Eigenthum in der Perſon des Gebers abhängig,
der Erwerber kann rückſichtlich ihrer mithin nur ſeine ſubjec-
tive
Ueberzeugung äußern.


Das Futurum in erſter Perſon iſt die Ausdrucksform der
Abſicht, und namentlich auch die des Verſprechens. Seine
wichtigſte und intereſſanteſte Anwendung findet es im prätori-
ſchen Edicte; es iſt, ſo zu ſagen, das Monogramm des Prä-
tors. Als Beiſpiel nenne ich: actionem, judicium, in inte-
grum restitutionem, interdictum, bonorum possessionem dabo,
non dabo, jubebo, pacta conventa servabo, ratum habebo,
animadvertam, vetabo, cogam, permittam.
836) Es kann nicht
Zufall ſein, daß der Prätor durchgehends in erſter Perſon
ſpricht. Warum nicht ein einziges Mal das Futurum in drit-
ter
Perſon, z. B. actio dabitur, pacta conventa servabuntur,
ratum erit
u. ſ. w.? Warum ferner ſtets das Futurum, war-
um nicht, wie anderwärts, die Wendung: ratum est? Läge
hier nicht eine Abſicht zu Grunde, es müßte wenigſtens hier und
da ſich auch einmal eine andere Form eingeſchlichen haben. Die
Abſicht iſt nicht ſchwer zu errathen. Der Prätor hatte keine
legislative Gewalt, er konnte alſo z. B. nicht ſagen: Die
Pacta ſollen gültig ſein oder ſind gültig. Was er ver-
mochte, war bloß zu verſprechen: er werde ſie ſchützen, auf-
[634]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
recht halten und auch nur er während der Dauer ſeines Amts-
jahres. Sein Nachfolger konnte das Edict ändern, und darum
durfte er, wenn er nicht mehr verſprechen wollte, als er zu hal-
ten vermochte, nur ſagen: ich werde die Klage ertheilen oder
nicht ertheilen, die Verträge aufrecht halten u. ſ. w. So iſt
mithin dieſe ſtyliſtiſche Nüancirung ungemein prägnant; ſie
zeichnet wie mit einem Pinſelſtrich das ganze Weſen des präto-
riſchen Rechts, und ich glaube damit meine Behauptung auf
S. 625 gerechtfertigt zu haben.


In den ſolennen Formeln des ältern Civilrechts hingegen
hat umgekehrt das Futurum keinen Raum. Sie lauten
ſämmtlich auf das Präſens.837) Für die eigentlichen Legis-
actionen iſt dies ausdrücklich bezeugt. Nulla legis actio, ſagt
Paulus,838)prodita est de futuro; es könnte ebenſogut heißen:
in Futuro: im Futurum. Allein auch für die Rechtsgeſchäfte
iſt dies außer allem Zweifel, es hängt mit einem Princip zu-
ſammen, das ich erſt an einem ſpätern Orte (Theorie des ſubj.
Willens) näher begründen kann, nämlich mit dem Princip der
Präſenz der Requiſite und Wirkungen des Rechts-
geſchäfts im Moment ſeines Abſchluſſes — jene ſollen in dieſem
Moment bereits vorhanden ſein, dieſe ſofort beginnen,
das Rechtsgeſchäft kann nicht anticipirt, noch ſuspendirt
werden.


Es bleibt mir ſchließlich noch:


5. Die Form der Frage und Antwort. Für ge-
wiſſe Gelegenheiten verſteht ſie ſich von ſelbſt, für andere Ver-
hältniſſe hingegen iſt ihre Wahl eine bedeutungsvollere; es
liegt ihr eine beſtimmte Abſicht zu Grunde, die wir zu ermitteln
haben.


[635]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

Wenn der Beklagte bei Beginn des Proceſſes vor dem Prä-
tor (in jure) aus eignem Antriebe ein für den Kläger wichti-
ges Geſtändniß ablegte, ſo hatte dies nicht die Kraft einer
confessio in jure; er mußte gefragt ſein (interrogatio in
jure).
839) Warum? Das Geſtändniß als ſolches iſt etwas
Beziehungsloſes; ſoll daſſelbe eine Beziehung auf dieſen
Kläger erhalten, ſo muß dies durch eine Handlung von ſeiner
Seite vermittelt werden. Dies geſchieht durch die Frage.
Jetzt iſt das Geſtändniß ihm abgelegt (in personam, nicht bloß
in rem).


Ebenſo bei dem Verſprechen. Uns zwar mag es ſo
ſcheinen, als ob die beabſichtigte Richtung des Verſprechens
auf dieſen Gläubiger ſchon vollſtändig dadurch an den Tag
gelegt werde, daß die Leiſtung an ihn erfolgen ſolle, einerlei
ob das Verſprechen ihm gegenüber abgelegt ſei. Allein dann
hätte es auch als confessio in jure gelten müſſen, wenn der
Beklagte ungefragt geſtanden hätte, daß er dieſen Kläger be-
ſtohlen oder von ihm etwas erhalten habe. Die bloße Bezie-
hung des Inhalts auf ihn genügt nicht, die Beziehung mußte
hier wie dort durch eine Willenserklärung des Gläubi-
gers hergeſtellt werden.


Allein warum in beiden Fällen nicht durch Acceptation?
Ein acceptirtes Geſtändniß oder Verſprechen, ſollte man ſagen,
ſtände einem auf Grund der Frage abgelegten völlig gleich.
Die Antwort iſt: weil der, welcher erwerben will, die Initia-
tive ergreifen muß.840) Bei Akten, bei denen die Handlung des
[636]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
einen Theils genügt, wie bei der Mancipation und der gericht-
lichen Abtretung, der andere aber ſich auf eine paſſive Aſſiſtenz
beſchränken kann, bedarf es aus dieſem Grunde der Frage nicht.
Anders aber, wenn der Akt eine Erklärung des zu Verpflichten-
den erfordert, und zwar eine ſolche, die ihm von dem Andern
nicht anbefohlen werden kann. Hier hat letzterer die Er-
klärung zu formuliren und ihm vorzulegen841) und zwar in
Form der Frage, weil dieſe Form, indem ſie die Möglichkeit
der Bejahung oder Verneinung offen läßt, implicite die Freiheit
des andern Theils anerkennt, während der Befehl ſeiner Idee
nach dieſe Freiheit ausſchließt, mithin nur da am Platz iſt, wo
der Andere ihn befolgen muß.


Die Anwendbarkeit der Frage war begreiflicherweiſe auf
dieſe beiden Fälle nicht beſchränkt. Es hat aber kein Intereſſe,
die ſämmtlichen oder auch nur die Hauptfälle aufzuführen.
Dagegen will ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß mir,
ſo weit ich dieſelben habe vergleichen können, überall ein Ge-
ſichtspunkt durchzugehen ſcheint, es iſt nämlich der: daß, wer
von dem Andern etwas erreichen will, mittelſt der Frage die
Initiative ergreift, ſei das zu Erreichende eine bloße Meldung,
Ausſage, wie bei der Frage des Magiſtrats an den Augur
(Note 75) oder eine Autoriſation, wie bei der des Fetialen
an den König842) oder, wie in den eben angegebenen Fällen,
eine Verpflichtung des andern Theils.


Die Form der Bitte, welche namentlich in den Fideicom-
miſſen eine rechtshiſtoriſche Bedeutung gewinnt, gehört mit
letzteren ſelbſt dem ſpätern Recht an; in der ältern Zeit war ſie
die entſprechende Ausdrucksform für rechtlich nicht verbindliche
Auflagen.


[637]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

2. Die juriſtiſche Syntax.

Die rechte logiſche Reihenfolge der Worte und Satztheile
feſtzuſtellen war ein Problem, mit dem das klaſſiſche Alterthum
ſich vielfach beſchäftigt hat. Es konnte nicht ausbleiben, daß
auch die alten Juriſten bei der Abfaſſung der Formeln auf dieſe
Frage geführt und ihr in irgend einer Weiſe gerecht werden
mußten. Ihre Antwort darauf iſt uns aufbewahrt, ſie liegt in
den uns erhaltenen Formeln, aber freilich bedarf es erſt einer
Abſtraction, um ſie zu finden.


Nach Anleitung der Syntax haben wir die Stellung der
einzelnen Worte und die der einzelnen Satztheile ins Auge
zu faſſen. Ueber erſtere habe ich wenig zu ſagen, da es nicht
meine Abſicht ſein kann, mich auf das Gebiet rein grammati-
kaliſcher für uns werthloſer Unterſuchungen zu verlieren. Ich
beſchränke mich auf folgende abgeriſſene Bemerkungen.843)


Wenn mehre einzelne Arten eines Gattungsbegriffs aufge-
führt werden, die aus verſchiedenen Zeiten datiren, im übrigen
aber ſich gleichſtehen, ſo wird die chronologiſche Reihen-
folge
derſelben eingehalten, alſo z. B. die lex vor dem Ple-
biſcit, beide zuſammen vor den Senatsbeſchlüſſen, letztere vor
den Conſtitutionen der Kaiſer genannt.844) Wie ſehr dies in
der Weiſe der Römer gelegen haben muß, geht daraus hervor,
daß eine bei den römiſchen Archäologen ganz verbreitete Anſicht
den Grund, warum bei Anrufung mehrer Götter Janus die
erſte Stelle einnehme, darin finden wollte, daß er der älteſte
geweſen ſei. Ob dieſe Anſicht richtig, und ob nicht vielmehr
umgekehrt die letztere Annahme bloß jener Erklärung zu Liebe
[638]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
aufgeſtellt worden iſt, will ich nicht entſcheiden,845) für unſern
Zweck genügt die bloße Thatſache einer ſolchen Anſicht.846)


Auch der Aberglaube hatte an der Ordnung, in der man
die verſchiedenen Namen aufzählte, ſeinen Antheil. Auf Na-
men glücklicher Vorbedeutung legte man in Rom einen hohen
Werth; die Träger derſelben waren bei Gelegenheiten, wo man
ſich durch dieſe Rückſicht bei der Wahl leiten laſſen konnte, ge-
ſuchte Artikel.847) Aus dieſem Grunde rief man bei Enrolirung
der Mannſchaft die Namen, die eine gute kriegeriſche Vorbedeu-
tung hatten, zuerſt auf, nämlich die Valerii (d. i. die „Kräfti-
gen“ von valere) und Statorii (die „Standhalter“), und waren
keine da, ſo wurden in ächt römiſcher Weiſe—welche fingirt.848)


Nach einem Bericht von Plinius war ſogar in einem Fall
die Ordnung der Worte durch ein Geſetz ausdrücklich be-
ſtimmt.849) Der Magiſtrat hätte nämlich bei Verhängung einer
Brüche zuerſt die Schaafe und dann die Rinder nennen müſ-
ſen, und darin will jener Schriftſteller einen Beweis von Milde
der ältern Geſetze finden. So lauten ſeine Worte, allein es iſt
offenbar, daß dieſelben entweder etwas anderes ſagen ſollen,
oder daß ſie etwas Verkehrtes enthalten. Das Richtige ſchim-
mert deutlich durch. Jene Ordnung bezog ſich auf die Steige-
rung der Brüche bei fortgeſetzter Halsſtarrigkeit. Der Magi-
ſtrat ſollte mit dem niedrigſten Satz: dem Schaaf beginnen und
[639]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
erſt, wenn dieſe Strafe ſich als unausreichend erwieſen, in
Rindern brüchen.850)


Von ungleich höherem Intereſſe als die Reichenfolge der
einzelnen Worte iſt die der einzelnen Satztheile oder die logi-
ſche Gliederung des Gedankens
. Das einfache Prin-
cip dieſer Anordnung beſteht darin: was nach Regeln der Logik
und zwar nicht bloß der allgemeinen, ſondern der auf die Rechts-
begriffe angewandten, vorangeht, muß auch in der Formel zu-
erſt
851) — was nachfolgt, muß in der Formel nachher geſagt
werden. Darum alſo geht der eigentlichen Dispoſition voran:


1. die Beſchreibung des Gegenſtandes oder Verhält-
niſſes. Als bekannteſten Anwendungsfall nenne ich die demon-
stratio
der Formula:
Quod A. A. apud N. N. mensam argenteam deposuit, qua de
re agitur — quidquid ob eam rem
(in den ältern Formeln:
ejus rei ergo) N. N. A. A. dare facere oportet u. ſ. w.
Gaj. IV, 47. — Fundus, qui est in agro, qui Sabinus
vocatur, eum .. meum esse ajo. Cic. pro Mur. 12.

Andere Beiſpiele kommen bei allen Formeln des geiſtlichen,
öffentlichen und Privatrechts in unzähliger Menge vor. Z. B.:
Quam rem Senatus Populusque Rom. de republica deque
ineundo novo bello in animo haberet — ea res uti
u. ſ. w.
Liv. XXXI, 5.


2. Die Erwähnung des Eintritts der Vorausſetzung:
Quod me P. Maevius testamento heredem instituit — eam
hereditatem adeo cernoque Gaj. II, 166. — Quod tu mihi
judicatus sive damnatus es … ob eam rem .. manum
injicio Gaj. IV, 21.
852)
[640]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Quando in jure te conspicio, postulo u. ſ. w. Quando ne-
gas, sacramento provoco Val. Prob. de notis
§. 4 und
Gaj. IV, 16.

Dieſer objective Eintritt der Vorausſetzung läßt ſich ſubjectiv
in vielen, wenn nicht in allen Fällen auch als Grund der
Handlung auffaſſen, dies darf uns jedoch nicht abhalten, des
letztern als eines eignen logiſchen Moments beſonders zu ge-
denken.


3. Der Grund. Dem Schluß oder Entſchluß geht der
Grund logiſch voran. Mit Bezug auf die eben eingelegte Ver-
wahrung nenne ich die Formel der gerichtlichen Prodigalitäts-
erklärung:
Quando tibi bona paterna avitaque nequitia tua disperdis
… ob eam rem tibi ea re commercioque interdico Paul.
Sent. Rec. III, 4a §. 7.

und die der Kriegserklärung, bei der ein doppelter Grund, oder
richtiger ein Grund des Grundes angegeben wird:
Quod populi priscorum Latinorum … adversus P. R. Q.
fecerunt, deliquerunt
(Fundamentum remotum) quod P.
R. Q. bellum cum … jussit esse
(Fundamentum proxi-
mum) … ob eam rem … bellum indico facioque.
Liv. I, 32.


4. Die Bedingung. Denn die ganze Dispoſition iſt nur
für den Fall beabſichtigt, daß die Bedingung eintreten ſollte;
wer über jene zu erkennen hat, muß ſich erſt des Eintritts
dieſer vergewiſſern, jene Anordnung weiſt ihm alſo, ſo zu ſagen,
den Gang an, den er bei der Unterſuchung einzuhalten hat.


Dieſe logiſch nothwendige Stellung der Bedingung kehrt
daher, ſoweit ich habe vergleichen können, überall wieder. Als
Beiſpiele verſchiedener Geſchäfte nenne ich folgende:


  • Das Votum: Si bellum .. confectum erit, tum u. ſ. w.
    Liv. XXXVI, 2.

    853)

  • Die Verwünſchung bei Abſchluß des Födus: Si prior
    defexit .. tu .. Jupiter populum Rom. sic ferito
    u. ſ. w.
    Liv. I, 24.
  • Die Intentio in der Inſtruction an den Richter: Si paret,
    N. N. Ao Ao centum dare debere, condemna, si non
    paret, absolve. Gaj. IV,
    41, 43854) und die angeblich
    älteſte Formel bei Liv. I, 26.
  • Die Erbeseinſetzung und ſämmtliche bedingte Dispo-
    ſitionen des Teſtaments. Gaj. II, 179, 235. L. 40
    §. 3, 8 de statulib.
    (40. 7).855)

Dagegen gehen nach:


1. die Beſchränkung, die Auflage. Darum wird bei
Beſtellung der Servitut durch deductio die Servitut als eine
Beſchränkung des Eigenthums hinter letzterem erwähnt:
ajo hunc fundum meum esse .. deducto usufructu. Vat.
fr.
§. 50.


Aus demſelben Grunde konnte auch das Legat nur hinter
der Erbeseinſetzung Platz finden, denn es enthält eine Vermin-
853)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 41
[642]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
derung der Erbſchaft,856) und eben darum meinten die Juriſten,
welche dieſen Geſichtspunkt für den entſcheidenden anſahen (ſ. u.),
daß die tutoris datiovor der Erbeseinſetzung ſtehen dürfe.857)
Ein anderes Beiſpiel, das ich jedoch erſt bei einer andern Gele-
genheit klar machen kann, gewährt die cretio:
Titius heres esto, cernitoque etc. Ulp. XXII, 33.


2. Die Ausnahme. Der bei weitem wichtigſte Anwen-
dungsfall iſt die Stellung der exceptio in der Formula. Wer
mit mir die Ueberzeugung theilt, daß über Fragen der juriſtiſchen
Syntax nicht ſtyliſtiſche Rückſichten,858) ſondern nur die Geſetze
der logiſchen Ordnung entſchieden, kann darüber nicht zweifel-
haft ſein, daß die exceptio an das Ende der intentio gehörte.
An das Ende der condemnatio geſetzt,859) hätte ſie geſagt: erſt
condemnire, o Richter, und dann unterſuche, ob nicht eine Aus-
nahme vorliegt.


3. Der Zweck. Ich nenne die bekannte Eidesformel:
se uxorem liberorum quaerendorum causa habere.
Gell. IV,
3.


4. Die acceſſoriſche Dispoſition. Von den ver-
ſchiedenen Dispoſitionen eines Geſchäftes iſt diejenige zuerſt
zu nennen, von deren Gültigkeit und Beſtand alle andern ab-
hängen. Damit das Legat zu Recht beſtehe, muß vorher die
Erbſchaft angetreten ſein, die Frage von den Legaten kann erſt
[643]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
aufgeworfen werden, wenn die nach dem Erben erledigt iſt; es
muß alſo im Teſtament die Erbeseinſetzung den Legaten und
allen übrigen Dispoſitionen vorausgehen.860) Die Anſicht der
Proculejaner,861) daß die tutoris datio ihren Platz vor der
Erbeseinſetzung finden könne, war daher im Geiſt des ältern
Rechts entſchieden zu verwerfen, ſie wurzelte in der einſeitigen
Geltendmachung des oben (S. 641 unter 1) angegebenen Ge-
ſichtspunktes.


Wenn ein Teſtator ſeinen Sklaven im Teſtament zugleich
freilaſſen und zum alleinigen Erben einſetzen wollte, welche von
beiden Dispoſitionen hatte er zuerſt zu treffen?


Um Erbe zu werden, mußte der Sklav vorher frei ſein; um
frei zu werden, mußte die Erbſchaft angetreten ſein. Es war
ein Cirkel, aus dem es keinen Ausweg gab, eine logiſche Sack-
gaſſe, und wäre nicht am Ende die Rückſicht auf das praktiſche
Intereſſe in den alten Juriſten doch noch mächtiger geweſen, als
alle Macht der Sophiſtik, ſie würden jene Dispoſition für un-
möglich haben erklären müſſen. In unſern Quellen iſt dies Be-
denken nirgends berührt.


3. Das Geſetz der Correſpondenz der Form.

Zu den bisher erörterten Geſichtspunkten und Regeln, die
das Rechtsgeſchäft in ſeiner Iſolirung auf ſich ſelbſt, als einzel-
nen für ſich ſelbſtändigen Willensact zum Gegenſtand haben,
geſellt ſich als ein die Form beſtimmendes Motiv noch die
innere Beziehung hinzu, in der daſſelbe zu andern
rechtlichen Thatſachen ſteht
:


Wenn der Gläubiger dem Schuldner die Schuld erläßt, ſo
iſt dieſer Erlaß zwar ein einzelner, ſelbſtändiger Act, allein er
41*
[644]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſteht in einem nothwendigen, innerlichen Bezug zu der Schuld
oder, was daſſelbe, zu dem Act, durch den letztere begründet ward.
Daſſelbe gilt von der Klage; auch ſie ſteht und fällt mit dem
Act, durch den das verfolgte Recht ins Leben gerufen iſt. Ja,
gehen wir weiter zurück, ſo fußen alle dieſe drei Acte: Begrün-
dung, Aufhebung und gerichtliche Geltendmachung eines Rechts
als auf ihrem letzten Grund auf dem Geſetz oder dem Recht im
objectiven Sinne.


So alſo knüpft ſich zwiſchen den einzelnen Rechtsgeſchäften
untereinander und mit den Rechtsſätzen und Rechtsbegriffen ein
Band innerlich nothwendiger Beziehungen, und der Grundſatz
des Parallelismus der Begriffe und Formen, den ich S. 511
aufgeſtellt habe, bewahrheitete ſich in dem römiſchen Recht auch
in der Anwendung, daß es dem Vorhandenſein dieſer Bezie-
hungen einen morphologiſchen Ausdruck gegeben hat. Nicht
etwa in der rein äußerlichen, ich möchte ſagen rohen Weiſe, daß
dieſe Beziehung in der Formel erwähnt wird. Dies iſt in den
meiſten Fällen gar nicht anders möglich — wie könnte man z. B.
eine Schuld erlaſſen oder einklagen, ohne ſie ſelbſt d. h. ihre
Entſtehung anzugeben?


Der Einfluß, den dies Moment auf die Formel oder ich
muß allgemein ſagen: auf die Form ausübt, iſt ein ungleich ſpi-
rituellerer, er iſt wirklich morphologiſcher Art, d. h. die
Form oder die Formel legt durch ihren ganzen Zuſchnitt Zeug-
niß ab von der Beziehung, die zwiſchen beiden Geſchäften oder
Thatſachen obwaltet. Und dies iſt es, was ich unter dem Ge-
ſetz der Correſpondenz der Form
verſtehe.


Wäre es nöthig, die einzelnen Anwendungsfälle deſſelben
nach ſtreng logiſcher Ordnung zu gruppiren, ſo müßte ich mit
der Correſpondenz zwiſchen dem Rechtsgeſchäft und dem Recht
im objectiven Sinn beginnen. Allein es ſcheint mir angemeſſe-
ner, die Ordnung zu wählen, welche den Leſer am leichteſten
und bequemſten in die Sache einführt und darum möge die erſte
Stelle einnehmen:


[645]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
1. Die Correſpondenz zwiſchen den Begründungs-
und Aufhebungsformen der Rechtsverhältniſſe
.

Während wir ſonſt bei den ſpäteren römiſchen Juriſten kein
einziges der von mir bisher entwickelten Geſetze der Form aus-
drücklich hervorgehoben finden, bildet das gegenwärtige eine
Ausnahme davon. Und in der That konnte ſich daſſelbe ihrer
Beobachtung kaum entziehen, theils weil es mehr als irgend
ein anderes in die Augen ſprang, theils weil es mehr als
irgend ein anderes auch noch zu ihrer Zeit in ungeſchmälerter
Kraft und Geltung ſtand. Nichts ſei ſo ſehr der Natur der Sache
entſprechend, lautet die Faſſung, die ſie dieſem Princip geben,
als daß etwas auf dieſelbe Weiſe untergehe, wie es entſtanden
ſei.862) Eine unzweifelhafte Anwendbarkeit fand daſſelbe aber
nur bei der Formfrage, der Verſuch, demſelben auch eine mate-
rielle Wahrheit zu vindiciren, war von vornherein verfehlt. An-
wendungsfälle deſſelben ſind folgende:


Der Widerruf des Legats(ademtio legati) von Sei-
ten des Teſtators kann nicht mit beliebigen Worten, ſondern nur
mittelſt „verba contraria“ geſchehen, d. h. durch Wiederho-
lung der Worte der Errichtung mit hinzugefügter Negation alſo
z. B. beim Vindicationslegate (do, lego) mit non do, non lego,
beim Damnationslegat (damnas esto dare) mit damnas ne esto,
bei der Freilaſſung des Sklaven (liber esto) mit liber ne esto.863)


Die Aufhebung einer Nexumsſchuld konnte nur durch
einen der Errichtung derſelben correſpondirenden Act: nexi so-
lutio, liberatio
erfolgen. Der Schuldner, der wirklich gezahlt
hatte, aber ohne jene Form, blieb verhaftet, während er um-
gekehrt ohne Zahlung frei ward, wenn der Gläubiger ihn in
Form dieſer Scheinzahlung liberirt hatte.


Die ſolenne Form des Erlaſſes einer Stipulationsſchuld
[646]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
und ausſchließlich auf letztere beſchränkt864) war die Accepti-
lation
, das directe Gegenſtück der Stipulation. Hier wie dort
ward das Geſchäft durch ſolenne Worte und in Frageform
abgeſchloſſen, aber mit einer Umkehrung beider. Bei der Sti-
pulation fragte der Gläubiger und antwortete der Schuldner,
hier fragte umgekehrt dieſer (acceptum habes) und antwortete
jener (acceptum habeo). Inwiefern dieſe auf „Erhalten haben“
geſtellte Formel der Stipulation gegenſätzlich entſpricht, kann
nur in anderm Zuſammenhange klar gemacht werden.


Daſſelbe galt für den Literalcontract. Ein im Haus-
buch (codices accepti et expensi) eingetragener Poſten (nomen)
mußte im Hausbuch wieder gelöſcht werden. Die Eintragung
war auf die Hingabe (expensum) geſtellt, folglich die Löſchung
auf das Erhalten (acceptum); beim Schuldner umgekehrt.


Die Dürftigkeit unſerer Nachrichten verhindert uns zu ent-
ſcheiden, ob dieſer Grundſatz nicht noch weitere Anwendung
fand, ob z. B. nicht die Auflöſung einer confarreirten Ehe (dif-
farreatio)
der Eingehung derſelben, die exauguratio der in-
auguratio
u. ſ. w. entſprochen habe.865)

2. Correſpondenz zwiſchen der Begründung und
gerichtlichen Geltendmachung des Rechts
.

Ich brauche nicht daran zu erinnern, daß hier überall nur
von formellen Begründungsacten die Rede iſt, alſo z. B.
nicht von Delictsobligationen, Erwerb des Eigenthums durch
Erſitzung u. ſ. w.


Faſſen wir zunächſt die Eigenthumsklage ins Auge, ſo kehrt
das Charakteriſtiſche der Form der Mancipation bei ihr in einer
[647]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Weiſe wieder, daß die Annahme einer Abſicht ſich gar nicht
abwehren läßt. Jenes Charakteriſtiſche lag, wie früher (§. 46)
gezeigt, einmal in dem Ergreifen der Sache und zweitens in der
Formel: ajo rem meam esse. Dieſe Formel nun iſt für die Vin-
dication wörtlich dieſelbe, und daß auch die Hand repe-
tirt, iſt bereits S. 601 bemerkt.


Dieſe Beobachtung muß zu der Frage führen, ob nicht bei
der perſönlichen Klage ein ähnliches Verhältniß obgewaltet ha-
ben mag. Valerius Probus hat uns als eine den Legisactionen
angehörige Formel die oben S. 632 mitgetheilte: ajo te mihi
dare oportere
aufbewahrt, in der man, und gewiß mit Recht,
die der perſönlichen Klage hat finden wollen.866) Im Formular-
proceß lautet die Formel ebenſo (si paret) N. N. Ao Ao dare
oportere.
Als formelle Geſchäfte, denen dieſe Formel corre-
ſpondiren könnte, kommen nur die Sponſion und der Literalcon-
tract in Betracht. Beide aber ſchließen den Gedanken an eine
Wortalluſion aus, denn in dem in der Stipulation wie in der
Formel wiederkehrenden dare wird man ſie nicht erblicken
wollen. Die Correſpondenz war hier eine, wenn ich ſagen darf,
idealere, feinere; ſie ſteckt in dem Gegenſatz der Formulirung der
Klage in rem und in personam. Das Eigenthum als abſolutes
Recht erſcheint ſowohl bei der Begründung wie bei der Geltend-
machung in einer abſoluten Form, die Obligation bei dieſer
wie jener Gelegenheit in einer relativen (ſ. oben S. 511).

3. Correſpondenz zwiſchen der Legisactio und
den Worten des Geſetzes
.

Ich wende mich jetzt einem Anwendungsfall unſeres Grund-
ſatzes867) zu, der ſowohl rückſichtlich der äußeren Ausdehnung
[648]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſeines Anwendungsgebiets, als des tiefeingreifenden Einfluſſes,
den hier die Form ausübt, weitaus die erſte Stelle einnimmt.


Die Legisactionen bilden einen ſo hervorragenden Beſtand-
theil des alten Formalismus, daß ich geglaubt habe, denſelben
eine eingehende Erörterung widmen zu müſſen. Indem ich mich
dazu anſchicke, bemerke ich, daß ich einerſeits zwar nur die all-
gemeine Theorie
derſelben,868) andererſeits dieſelbe aber
ihrem ganzen Umfange nach zu geben beabſichtige, ohne mich durch
den obigen Geſichtspunkt beengen zu laſſen. Gezwungen an
einer Stelle den Gegenſtand im Zuſammenhang zu behandeln,
habe ich mich für die gegenwärtige entſchieden, weil ſie uns den-
jenigen Geſichtspunkt darbietet, der, wenn irgend einer, der na-
türliche Ausgangspunkt der ganzen Darſtellung iſt — ich meine
den morphologiſchen. Mit ihm beginnend, alſo zunächſt:


  • 1. die Form der Legisactio und
  • 2. die damit engverbundene Frage von dem Grunde derſel-
    ben ins Auge faſſend, werde ich ſodann
  • 3. die äußere Ausdehnung und
  • 4. die praktiſche und hiſtoriſche Bedeutung des Le-
    gisactionen-Syſtems zu beſtimmen verſuchen.

Ich beginne mit dem Bericht des Gajus.869) Die Klagen,
deren ſich die Alten bedient, ſagt er, ſeien legis actiones870)
867)
[649]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
genannt worden, entweder daher, weil damals die Klagen871)
ausſchließlich durch die Geſetze, nicht, wie ſpäter, auch durch
die prätoriſchen Edicte gewährt worden ſeien, oder daher — und
daß dieſe Erklärung die allein richtige, wird der Verfolg der
Darſtellung lehren — daß die Klagformeln den Worten der Ge-
ſetze nachgebildet waren.872) Unabänderlich wie die Geſetze ſelbſt
hätten ſie zur Anwendung gebracht werden müſſen, und daher
habe ein Kläger, der wegen abgeſchnittener Weinreben geklagt
und ſich dabei des Wortes vitibus ſtatt des in dem XII Tafeln-
Geſetz gebrauchten arboribus bedient habe, den Proceß verloren.
Eben dieſe Strenge, bei der das geringſte Verſehen den Verluſt
des ganzen Proceſſes nach ſich gezogen, habe ſpäter dieſe Form
des Verfahrens in Mißcredit gebracht und zur Einführung einer
neuen, des Formularverfahrens geführt.


So weit Gajus. Das formgebende Moment der legis
actio
hätte demnach in der Correſpondenz der Formel
mit den Worten des
durch ſie zur Anwendung gebrachten
Geſetzes beſtanden, 873) eine Abweichung davon mußte und
[650]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
konnte daher an einer andern Stelle von ihm mit Recht als eine
Singularität bezeichnet werden. Es läge nun ſehr nahe, die Rich-
tigkeit ſeiner Angabe an einem Vergleich der uns erhaltenen
Worte der Geſetze und Formeln zu erproben, allein leider hat
es ſich ſo gefügt, daß in den meiſten Fällen, wo uns die Worte
des Geſetzes, nicht die Formeln, und umgekehrt wo letztere, uns
jene nicht erhalten ſind. Nichtsdeſtoweniger hat mir die Ver-
gleichung der XII Tafeln-Fragmente eine Ausbeute gewährt,
die wenn auch in quantitativer Beziehung höchſt dürftig, ſich
doch in doppelter Weiſe für die Theorie der Legisactionen mit
Erfolg verwerthen läßt. In der einen Richtung kann es erſt
unten geſchehen, in der andern iſt hier der Ort dazu.


Es liegt der Gedanke nahe, daß die alten Juriſten ſich in
derſelben Weiſe, wie bei der Conſtruction der Formeln der Le-
gisactionen, ſo auch bei der der Rechtsgeſchäfte der Worte,
mit denen das Geſetz ſie erwähnte, hätten bedienen können.
Darauf gibt uns jene Vergleichung die Antwort: Nein! die
Nachbildung des Geſetzes beſchränkte ſich ausſchließlich auf die
Legisactionen, und dieſe Antwort iſt, wie ich ſofort zeigen
werde, für die Erkenntniß des wahren Weſens derſelben höchſt
fruchtbar. Zu den Geſchäften, für die uns noch die betreffen-
den Worte der XII Tafeln erhalten ſind, gehören namentlich die
Mancipation, der Verkauf des Hausſohnes, das Teſtament.
Ein Blick auf ihre Formeln beſtätigt die obige Behauptung.
Hätten die Juriſten es gewollt, wie leicht hätten ſie die
entſcheidenden Worte (mancipium facere — filium venun-
dare — legare super pecunia tutelave suae rei)
in der For-
mel anbringen können. Daß es nicht geſchehen, kann nicht
Zufall ſein, ſondern nur darin ſeinen Grund gehabt haben, daß
der Gedanke der Correſpondenz der Formel mit
dem Geſetz in ihren Augen in einer innern und aus-

873)
[651]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
ſchließlichen Beziehung zu den proceſſualiſchen
Handlungen ſtand
.


2. Der Grund der Form.

Worin beſtand dieſe Beziehung?


Wir haben die Antwort ſchon halb gegeben, wenn wir das
eigenthümliche Weſen der Form der Legisactionen ſelbſt richtig
definiren. Es iſt mit dem einen Wort: Citirmethode ge-
ſchehen. Jede Legis Actio citirte das Geſetz, welches ſie zur An-
wendung zu bringen beabſichtigte, aber nicht in der abſtracten
Form einer bloßen Verweiſung auf den Paragraphen oder Ar-
tikel des Geſetzbuchs oder auch der breiteren Form einer Anfüh-
rung der betreffenden Worte, ſondern in einer mehr innerlichen,
concreteren Weiſe.874)Die Formel ſelbſt war das Citat,
ſie verwies auf das Geſetz, ohne es zu nennen, ſie verwies dar-
auf durch ſich ſelbſt, durch ihre Faſſung und Subſtanz, ſie
war, ſo zu ſagen, die proceſſualiſche Incarnation des Geſetzes,
das Geſetz ſelbſt, welches concrete Geſtalt und Leben ange-
nommen hatte und gegen den Uebertreter ins Feld rückte (ge-
wiſſermaßen eine actio legis im ſubjectivgenitiviſchen Sinne).


[652]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Abſtrahiren wir von dieſer eigenthümlichen Form des Ci-
tirens, ſo lautet die obige Frage einfach ſo: warum citirte man
das Geſetz nur bei der Klage, nicht auch beim Rechtsgeſchäft?
Und darauf kann die Antwort nicht ſchwer fallen. Allerdings
bildet das Geſetz für beide die gleichmäßige Grundlage, allein
die Veranlaſſung, dieſe Grundlage in Bezug zu nehmen, iſt
bei beiden höchſt verſchieden. Welchen Sinn hätte es z. B. bei
einem Contract oder Teſtament auf den Paragraphen des Ge-
ſetzes zu verweiſen? Im Proceß hingegen, wo es ſich um die
endgültige Feſtſtellung des Rechtsverhältniſſes, die ſchließliche
Auseinanderſetzung deſſelben mit dem Geſetz handelt, iſt ſowohl
in den Partheiſchriften als in den richterlichen Erlaſſen die Be-
zugnahme auf das Geſetz häufig gar nicht zu umgehen und bil-
det daher hier ebenſoſehr die Regel, als dort die ſeltene Aus-
nahme.


Manche Rechte haben nun dieſe Sitte geradezu zum Geſetz
erhoben; ſo das altrömiſche Recht rückſichtlich der Klage, und
manche neuere Strafproceßordnungen rückſichtlich der Anklage-
acte und des Urtheils. Das Citat iſt damit zu einem formel-
len Requiſit
des betreffenden proceſſualiſchen Acts erklärt.
Scheinbar eine äußerliche Beſtimmung von geringem Belang,
iſt dieſelbe, wie ich unten nachzuweiſen hoffe, in Wirklichkeit
eine Maßregel von äußerſter Tragweite.


Der Zweck derſelben iſt offenbar der, den Richter ſtreng an
die Richtſchnur des Geſetzes zu binden. Dies liegt zwar ſchon
an ſich in dem Begriff des Geſetzes, allein es läßt ſich nicht läug-
nen, daß jene Maßregel die Erreichung dieſes Zwecks im hohen
Maße befördert, ja daß ſie den Richter, wie einerſeits zur Klar-
heit, ſo andererſeits bis zu einem gewiſſen Grade mechaniſch zur
Unpartheilichkeit zwingt. Wie aber, wenn das Geſetz Lücken dar-
bietet? Die Conſequenz der Einrichtung bringt es mit ſich, daß
der Richter dann ſeine Hülfe verſagen muß, und wir werden
unten ſehen, daß das ältere römiſche Recht den Muth gehabt
hat, ſich dieſe Conſequenz gefallen zu laſſen.


[653]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

Im altrömiſchen Proceß ſtützte ſich zwar die Einrichtung
ſchwerlich auf eine geſetzliche Vorſchrift, ſondern ſie war eine
bloße Thatſache des Gewohnheitsrechts. Dies ſchließt jedoch
die Annahme nicht aus, daß ſie auch hier beſtimmt war, den
obigen Zweck zu erreichen. War es doch gerade die Tendenz des
Legalismus, die nach Darſtellung der Römer die Zeit, in die
die Entſtehung der Legisactionen fällt, erfüllte und die XII Ta-
feln ins Leben gerufen hatte.875) Die Jurisprudenz, indem ſie
mittelſt der legis actio die Berufung auf das Geſetz zum formel-
len Requiſit der Klage erhob, gehorchte damit nur dem Drange
der Zeit, vervollſtändigte und befeſtigte, was die XII Tafeln be-
gonnen.876)


3. Die äußere Ausdehnung des Gebiets der Legis-
actio
.

Haben wir hierin das Richtige getroffen, ſo ergibt ſich dar-
aus von ſelbſt, daß dies Requiſit ſich auf alle und jede Klagen
erſtreckte, ſich alſo nicht bloß auf die von Gajus genannten fünf
Grundformen des alten Verfahrens (modi, quibus lege age-
batur)
beſchränkte, m. a. W. daß die rechtliche Verfolgbarkeit
eines Anſpruches die Anerkennung deſſelben im Geſetz zur Be-
dingung hatte. Wenn alſo Gajus von der legis actio sacramento
bemerkt,877) ſie ſei eine generelle Klage geweſen, deren man ſich
überall habe bedienen können, wo nicht das Gegentheil beſtimmt
ſei, ſo iſt dieſe ihre allgemeine Anwendbarkeit nur auf die Form
des Verfahrens
zu beziehen. Eine bloße proceſſualiſche Ein-
kleidungsform, ſetzte ſie, wie die übrigen vier Formen, in jedem ein-
zelnen Fall einen vom Geſetzaner kannten materiellen Anſpruch,
[654]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
alſo eine ſpecielle Legisactio, wie ich ſie nennen will, vor-
aus. Als Beiſpiel diene der oben (S. 649) erwähnte Fall der
actio de arboribus succisis. Das ganze Syſtem der Legisactio-
nen löſte ſich demgemäß, von jenen fünf Grundformen abgeſehen,
in eine Anzahl einzelner Klagen auf, die, ſo zu ſagen, dem Rich-
ter zum Vertrieb übergeben waren. Darüber hinaus hörte ſeine
Macht auf, — er führte nicht den Artikel: Rechtsſchutz im all-
gemeinen, ſondern ein beſtimmtes Sortiment einzelner Species.
Wer eine andere Klage hätte anſtellen oder begehren wollen,
den würde er ebenſo haben abweiſen müſſen, wie ein Kaufmann,
bei dem ein Artikel begehrt wird, den er nicht führt. Nulla actio
sine lege!


Eine nothwendige Folge davon iſt, daß die Zahl der Legis
Actionen keine unbeträchtliche geweſen ſein kann, und dieſer
Schluß und damit die Richtigkeit des ſo eben Behaupteten wird
durch alle Nachrichten in übereinſtimmender Weiſe beſtätigt. Wie
wären Sammlungen, wie die oben S. 622 genannten möglich
geweſen, wenn die Formeln ſich auf die fünf Legis Actionen des
Gajus beſchränkt hätten? Wie vertrüge ſich damit die Nachricht
(S. 418), daß das Depot derſelben beim Pontificalcollegium,
und eben dadurch das Volk von letzterem in Abhängigkeit gewe-
ſen? oder, was Cicero berichtet:878) daß dieſe Formeln intereſ-
ſante Einblicke in Leben und Weiſe der Vorzeit gewährten?
oder die von Gajus dem alten Verfahren zur Laſt gelegte hohe
Gefährlichkeit? Die wenigen Formeln der fünf Legis Actionen
des Gajus ſchloſſen in dem Maße weder die Möglichkeit des
einen, noch des anderen in ſich.


Die Zahl der Legis Actionen war eine eben ſo große, als
die der Geſetze oder der einzelnen ſelbſtändigen Artikel des Ge-
ſetzes, welche einen Rechtsanſpruch gewährten.879) Jedem Satz
[655]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
der XII Tafeln, der ſich dazu eignete, erwuchs eine eigene legis
actio,
und zur vollſtändigen Bearbeitung des Geſetzes gehörte
neben der Interpretation auch die Angabe der Klagformeln, wie
denn z. B. die älteſte juriſtiſche Schrift, von der wir Kunde
haben, der Zwölftafeln-Kommentar des Aelius, in dieſer Weiſe
angelegt war.880)


Es war im bisherigen ausſchließlich von der Erhebung der
Klage die Rede. Daß auch das fernere Verfahren, das ſich
an die Klagerhebung anſchloß, neben dem Raum, den es der
freien Verhandlung gewährte (S. 612), verſchiedentlich zum
Gebrauch von Formeln führte, z. B. bei der Beſtellung des
Richters, des Vindex, Vas, beim Richterſpruch (Note 821)
u. ſ. w. wird ſchwerlich bezweifelt werden. Dagegen öffnete ſich
für die legis actio noch ein anderes Gebiet außerhalb des
Proceſſes
. Ich meine nicht ſowohl das der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit (die in jure cessio S. 579), denn hier handelte
es ſich nur um eine andere Anwendung proceſſualiſcher For-
meln, ſondern die ſolennen, außergerichtlichen Hand-
lungen
, welche das gerichtliche Verfahren theils ergänzten,
vorbereiteten, begleiteten
, theils völlig erſetzten.


Ueber das wahre Verhältniß derſelben hat das Mißver-
ſtändniß der in der Note mitgetheilten Stelle von Gajus881)
[656]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
manche Rechtshiſtoriker irre geführt. Aus dieſer Stelle geht zu-
nächſt ſoviel hervor, daß die Vornahme vor Gericht nicht zum
Begriff der legis actio gehörte. Zwar gab es unter den römi-
ſchen Juriſten eine Minderzahl, welche (vielleicht verleitet durch
die Bedeutung des Ausdrucks actio im ſpätern Proceß) die-
ſes Moment für weſentlich und demgemäß die pignoris capio
für keinelegis actio erklärte, allein die entgegengeſetzte Mei-
nung war die herrſchende. Im Geiſt dieſer letzteren würde die
Definition einer legis actio lauten: eine vom Geſetz anerkannte
(1) und mit den Worten deſſelben vollzogene (2) Handlung
zum Zweck der Rechtsverfolgung (3). Unter dieſen Begriff aber
fallen außer der pign. capio, wie unten gezeigt werden ſoll, noch
manche andere Handlungen.


Wenn nun Gajus die pign. capio zu den „übrigen Legis
Actionen“ (d. h. den vier vorher von ihm behandelten) dadurch
in Gegenſatz ſtellt, daß man ſich der letzteren nur vor Gericht
bedienen könne, der erſteren außer Gericht, ſo hat man dieſe
Aeußerung in der Weiſe mißverſtanden, als ob bei jenen alle
und jede Handlungen
vor Gericht geſpielt hätten. Davon
hätte ſchon der Hinblick auf zwei Acte abhalten ſollen, die durch
ihren bloßen Namen dem angeblichen Erforderniß der Vornahme
in jure widerſprechen, die in jus vocatio und das ex jure
manum consertum vocare
(S. 600).


In der That iſt aber der Gegenſatz, den Gajus hier auf-
ſtellt, ein ganz anderer. Er bezieht ſich auf das Verfahren.
Das Verfahren iſt bei der pign. cap. ein ſchlechthin außergericht-
liches, das Gericht wird völlig umgangen. Bei den andern da-
gegen gelangt die Sache vor Gericht, die Mitwirkung des Rich-
ters iſt zu ihrer Erledigung unentbehrlich; das Verfahren ſelbſt
alſo ließ ſich nur als ein gerichtliches bezeichnen. Darin liegt
aber durchaus nicht, daß alle und jede Acte vor Gericht vorge-
nommen werden müßten. Auch der franzöſiſche Proceß erfor-
dert außergerichtliche Verhandlungen, aber wer würde darum
Anſtand nehmen, ihn ein gerichtliches Verfahren zu nennen?
[657]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Nur dann würde die jenſeitige Annahme gerechtfertigt ſein, wenn
Gajus unter den „ceterae actiones“ nicht, wie der Zuſammen-
hang es ergibt, die vier Arten des Verfahrens („modi“), ſon-
dern ſämmtliche einzelne Handlungen, die bei Gelegenheit
derſelben vorkamen, verſtanden hätte. Selbſt in dieſem Fall aber
bliebe immerhin noch der Ausweg, daß zwar außergerichtliche
Handlungen bei ihnen möglich geweſen, allein nur nicht legis
actiones
genannt worden ſeien.


Setzen wir die Frage, ob ſie ſo genannt worden ſeien, zu-
nächſt aus. Conſtatiren wir vorläufig, einmal: daß ſie in
der That vorkamen und zweitens: daß ſie die oben angege-
benen weſentlichen Kriterien des Begriffs der legis actio theilten,
der Grundſatz der Correſpondenz zwiſchen der Formel und dem
Geſetz auch bei ihnen Anwendung fand.


Wir können im ganzen drei Claſſen der außergerichtlichen
rechtsverfolgenden Handlungen unterſcheiden; ſie griffen Platz:
anſtatt des Proceſſes (die pignoris capio) beim Beginn und
im Lauf des Proceſſes.


Zu den außergerichtlichen Acten bei Beginn des Proceſſes
zähle ich 1) die in jus vocatio, 2) die im Fall ihrer Erfolgloſig-
keit eintretende manus injectio, und 3) die condictio bei der legis
actio per condictionem.


Daß der erſtere Act ein außergerichtlicher war, iſt bekannt;
daß er mit den Worten des Geſetzes erfolgte, ergibt ſich aus der
Vergleichung ſeiner Formel mit den Worten der XII Tafeln. Er-
ſtere lautete: in jus te voco,882) letztere si in jus vocat.883)
Thering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 42
[658]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Das Geſetz fährt fort: ni it, antestator, und der letztere
Ausdruck wiederholt ſich in der an den Zeugen gerichteten Frage:
licet antestari?


Wenn der Gegner ſich weigert zu folgen, ſo verhängt das
Geſetz die manus injectio: Si calvitur pedemve struit,
manum, endo jacito
und die letzteren Worte kehren in der
Formel dieſes Acts wieder: manum endo jacio (injicio).884)
Dieſer letztere Act kam außerdem noch in verſchiedenen Anwen-
dungen vor (B. 1 S. 142 fl.), ſo namentlich auch zum Zweck
der Execution,885) und der Umſtand, daß das Geſetz ihn bei der
letzteren Gelegenheit noch beſonders erwähnt und zwar als
„manus injectio,“ der das Erſcheinen vor Gericht folgen
ſolle, iſt für die Frage, die uns hier beſchäftigt, ungemein wich-
tig. Ein neuerer Schriftſteller886) nämlich iſt in dem Beſtreben,
die vermeintliche Autorität des Gajus in der oben angegebenen
mißverſtändlichen Weiſe aufrecht zu erhalten, ſo weit gegangen,
daß er ſich nicht geſcheut hat, darauf hin der manus injectio den
Charakter einer außergerichtlichen Handlung abzuſprechen und
namentlich mich wegen der B. 1 S. 147 aufgeſtellten entgegen-
geſetzten Behauptung hart anzulaſſen. Ihm zufolge887) ſoll
die manus injectio ſchlechterdings nur vor Gericht vorgenom-
men werden können. Allein wie, wenn der Schuldige nicht fol-
gen will? Hier bleibt doch nichts anderes übrig, als Gewalt
zu gebrauchen und das Geſetz verſtattet ja ausdrücklich das
„manum injicere.“ Gewiß! Allein dieſer Act, lautet der Ein-
wand, iſt keine „wahre,“ keine „eigentliche“ legis actio, denn dieſe
[659]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
muß einmal nach Gajus vor Gericht vollzogen werden. Aber
in dem (Note 885 citirten) Satz der XII Tafeln wird doch
die „manus injectio“vor dem „in jus ducito“ erwähnt, ſie
muß alſo im Sinn des Geſetzes eine „manus injectio“
ſein, und ich meine, wenn über eine Frage aus denXIITa-
feln
zwiſchen letzteren und Gajus wirklich ein Widerſpruch ob-
waltete, ſo müßten ſie doch wohl vorgehen. Für dieſe durch den
Zauberſpruch: „uneigentlich“ beſeitigte manus injectio der De-
cemvirn taucht dagegen die „eigentliche“ unſeres Autors an einer
Stelle wieder auf, an der ſie ſchwerlich Jemand ſuchen würde.
„Sie liegt, ſagt er, in dem folgenden (den Worten von in jus
ducito … secum ducito
), ohne daß ſie mit dieſem Namen
ausdrücklich hier bezeichnet wird.“ Alſo: eine legis actio, d. h.
nach Gajus eine „actio ipsarum legum verbis accommodata“
ohneverba legis, ja ohne die leiſeſte Andeutung im Geſetz, und
umgekehrt verba legis, ja die Bezeichnung des Acts als manus
injectio,
aber keine legis actio! Wir werden wohl thun, dem
Verfaſſer ſeine „eigentliche“ legis actio zum ausſchließlichen Pri-
vatgebrauch zu überlaſſen und uns an die „uneigentliche“ der De-
cemvirn und unſerer ſonſtigen Referenten888) zu halten, die frei-
lich die Sache ebenſowenig verſtanden haben mögen, wie ich.


Die bisherige Unterſuchung hat uns den Weg gebahnt, um
eine höchſt glückliche Idee Kellers gegen die Anfechtung deſſelben
Schriftſtellers in Schutz zu nehmen. 889) Keller hat nämlich
die Anſicht aufgeſtellt, daß bei der legis actio per condictionem
die Ankündigung (condictio) des Klägers an den Beklagten,
ſich nach dreißig Tagen vor Gericht zur Annahme eines Rich-
42*
[660]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ters (im römiſchen Sinn, ſ. S. 80, 81) einzufinden, ein außer-
gerichtlicher Act geweſen ſei. Im Sacramentsproceß kam es ſeit
der lex Pinaria nicht ſchon im erſten Termin zur Beſtellung des
Judicium, derſelbe ſchloß vielmehr mit der Aufforderung ſich
nach dreißig Tagen zu dem letzten Zweck wieder einzufinden.
Die Einführung der genannten Legisactio überhob nun die Par-
theien dieſes erſten Erſcheinens vor Gericht, indem ſie eine außer-
gerichtliche Denunciation an deſſen Stelle ſetzte, 890) und man
braucht ſich bloß den Fall zu denken, daß die Partheien einige
Tagereiſen weit von Rom entfernt wohnten, um ſich von dem
praktiſchen Werth dieſer Neuerung zu überzeugen. Nach Schmidt
hätten dieſelben eine Reiſe nach Rom unternehmen müſſen bloß
zu dem Zweck, damit der Kläger jene Denunciation als „eigent-
liche“ legis actio, d. h. vor Gericht beſchaffe, um nach Ausſpre-
chen der wenigen Worte den Rückmarſch anzutreten und ſodann
nach Ablauf der dreißig Tage ſich zur wirklichen Verhandlung
der Sache von neuem einzufinden! Nach Keller konnten ſie ruhig
zu Hauſe bleiben und ſich mit einer außergerichtlichen condictio
begnügen.


Durfte Gajus das Verfahren, das in dieſer Weiſe eingelei-
tet ward, als ein gerichtliches bezeichnen? Ich meine, mit dem-
ſelben Recht, als die legis actio sacramento und per manus
injectionem.
Auch ſie begannen mit einem außergerichtlichen
Act, jene mit der in jus vocatio, dieſe mit der außergerichtlichen
manus injectio.


Daß ſelbſt der Lauf des Proceſſes außergerichtliche Hand-
lungen nicht ausſchloß, dafür liefert das manum conserere in
ſeiner ſpätern Geſtalt (S. 600) den Beweis. Auch hier wie-
derholt ſich die Correſpondenz zwiſchen den Worten des Geſetzes
[661]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
und denen der Formel. Jene lauteten (XII Tafeln): si qui in
jure manum conserunt
,
dieſe mit Beibehaltung derſel-
ben Reihenfolge der Worte: in jure manum891)conser-
tum
te voco
. Als der Act ein außergerichtlicher ward, verän-
derte man das in jure in ex jure.


Ob nun dieſe außergerichtlichen Handlungen legis actiones
genannt ſind, daran, geſtehe ich gern, liegt mir nichts. Der
Sache nach waren ſie es, d. h. auch ſie waren rechtsverfol-
gende
Handlungen und gehorchten dem Geſetz der Correſpondenz,
und für zwei: die pign. capio und manus injectio iſt es außer
Zweifel. Da der Name ſich, wie oben nachgewieſen, nicht auf die
fünf Grundformen beſchränkte, ſondern auch für die einzelnen
ſpeciellen Klagen gebraucht ward, ſo glaube ich allerdings,
daß er eben ſo gut auf die einzelnen ſolennen Acte des alten
Verfahrens angewandt worden iſt, mochten ſie vor oder außer
Gericht vorgenommen werden. 892)


4. Hiſtoriſche und praktiſche Bedeutung des Legis-
actionen-Syſtems
.

Wir betrachten das Legisactionen-Syſtem jetzt von Seiten
ſeines Zuſammenhanges mit dem römiſchen Leben und Recht,
alſo als einzelnes Stück eines höhern Ganzen. Wie fügte es
ſich in denſelben ein, wie wirkte es auf ihn zurück?


Ich beginne mit der praktiſchen Kritik deſſelben vom Stand-
punkt des römiſchen Lebens.


Ein Anſatz zu einer ſolchen Kritik findet ſich ſchon bei Gajus
(S. 649); er möchte jedoch ſelbſt wiederum der Kritik bedürfen.
Gajus zufolge ſoll das Grundgebrechen des alten Verfahrens
und die Urſache ſeines Unterganges in der übermäßigen Strenge
und Spitzfindigkeit beſtanden haben, mit der das Wort in dem-
ſelben gehandhabt ward.


[662]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Dies Urtheil hat viel Scheinbares, und, ſo viel ich weiß,
hat man bisher nicht verſucht die Richtigkeit deſſelben in Zweifel
zu ziehen. Allein es will mir ſcheinen, als ob daſſelbe weniger
vom Standpunkt der älteren, als der ſpätern Zeit aus gefällt
worden ſei.


Es iſt in dem Begriff der Form mit Nothwendigkeit gelegen,
daß die geringſte Abweichung von der Form einen Formfehler
und damit Nichtigkeit begründet (S. 506). Das gilt heut-
zutage nicht minder, als im alten Rom, und was dort z. B. die
Vertauſchung des Wortes: arboribus mit vitibus, würde heut-
zutage bei Ausſtellung eines Wechſels die des Wortes: „Wechſel“
oder bei Ableiſtung eines Eides die der Worte: „ich gelobe und
ſchwöre“, mit andern Ausdrücken bewirken (S. 615). Gehen wir
aber davon aus, daß die legis actio ihrer Beſtimmung nach
in einem eigenthümlichen rechtlich nothwendigen Citiren der
Geſetzesworte beſtand, ſo werden wir das Verlangen der diplo-
matiſchen Genauigkeit des Citats (d. h. alſo die wörtliche
Wiedergabe der Formel) durchaus nicht für eine übertriebene
Strenge halten können. Wir machen heutzutage an Jemanden,
der uns einen Satz aus einem Geſetz citirt, ganz dieſelbe An-
forderung! 893)


Und daß das Verſehen den Verluſt des Proceſſes zur Folge
hatte, wird uns ebenfalls nicht frappiren können. Bei einem
Rechtsgeſchäft öffnet ſich im Fall eines Verſehens der Ausweg
einer abermaligen fehlerfreien Vornahme deſſelben, und bei den
bloß vorbereitenden außergerichtlichen Legisactionen z. B. der
in jus vocatio mag derſelbe vielleicht auch in Rom offen geſtan-
[663]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
den haben. Daß er bei dem Act, welcher dem ganzen Verfahren
ſeine Grundlage gab: der materiellen legis actio des Klägers, aus-
geſchloſſen war, wird uns nicht Wunder nehmen dürfen, die Na-
tur des Proceſſes bringt dies mit ſich. Eine Parthei, die im heu-
tigen Proceß ein in verkehrter Weiſe abgefaßtes Beweisinterlokut
hat rechtskräftig werden laſſen, kann eben ſo wohl wegen eines
einzigen Wörtchens den Proceß verlieren, wie im alten Rom
— die gefährliche Kraft des Worts iſt geblieben, ſie hat ſich nur
auf einen andern proceſſualiſchen Act geworfen (ſ. u.).


Die „nimia subtilitas“ der alten Juriſten, die nach Gajus
das alte Verfahren verhaßt gemacht und geſtürzt haben ſoll,
kann dies in der That nicht bewirkt haben. Um zu geſchweigen,
daß dieſelbe ſich im materiellen Recht nach wie vor in un-
geſchwächter Kraft behauptete und zwar in einzelnen Theilen
z. B. im Teſtament in einer Zuſpitzung, die hinter dem alten
Proceß um nichts zurückblieb, ſo tauchte dieſelbe ja auch im
Proceß ſofort in anderer Form wieder auf. Das formaliſtiſche
Element des Formularproceſſes ſteht hinter dem des ältern Ver-
fahrens in keiner Weiſe zurück, weder in extenſiver, noch inten-
ſiver Hinſicht. Hier wie dort Formeln für jede Klage, hier wie
dort als unausbleibliche Folge des kleinſten Formfehlers der
Verluſt des ganzen Proceſſes. Und ſodann: wenn einmal ein
ſolcher Umſchwung in der Volksanſicht eingetreten, wie Gajus
ihn ſupponirt, warum ließ man das bisherige Verfahren beim
Centumviralgerichtshof in alter Weiſe beſtehen?


Das alte Verfahren war gefährlicher, als das neue, der
Uebergang von dem einen zum andern bezweckte und bezeichnete
eine Verminderung der Gefährlichkeit — das gebe ich bereitwil-
lig zu. Aber die Erleichterung lag nicht darin, worein Gajus ſie
ſetzt — in einer intenſiven Abſchwächung des Formalismus,
ſondern in einer andern Geſtaltung deſſelben. An die Stelle
des Sprechens trat das Schreiben,894) an die der Parthei
[664]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
der Prätor, — dieſer beiden Umſtände und ihres vortheilhaf-
ten Einfluſſes iſt bereits S. 506 gedacht. Einen dritten füge ich
jetzt noch hinzu. Der gefährliche Act: die unabänderliche For-
mulirung des Anſpruches ward von dem Anfang des Proceſſes
in einen ſpäteren Zeitpunkt verlegt. Der alte Proceß begann
mit der Formel, d. h. der legis actio, der neuere ſchloß ſein
erſtes Stadium mit ihr, die Formel ward erſt concipirt, nachdem
durch erſchöpfende Verhandlung der Streitpunkt ins rechte Licht
getreten, und dadurch die Gefahr eines Mißgriffs in der Formel
ferner gerückt war. Die Formula ſetzte das Maß der Gefährlichkeit
des Formulirens ungefähr auf denſelben Punkt herab, auf dem es
in dem Beweisinterlokut unſeres heutigen Proceſſes ſteht. Beide
werden erſt erlaſſen auf Grund vorgängiger Verhandlung und
üben auf den ferneren Gang und die Geſtaltung des Proceſſes
einen beſtimmenden, formgebenden Einfluß aus, beide ſind Sache
der Obrigkeit, und bei beiden iſt den Partheien Gelegenheit ge-
geben, rechtzeitig auf die Formulirung einzuwirken.


Dem Bisherigen nach hatte es alſo mit der von Gajus gel-
tend gemachten Gefährlichkeit des Legisactionen-Proceſſes
ſeine Richtigkeit, nur lag der Grund derſelben und mithin auch
die dagegen ſich erhebende Reaction nicht da, wo Gajus ſie ſucht:
in dem alten Formalismus als ſolchem, ſondern in der beſon-
dern Geſtalt und Richtung, in der das alte Verfahren das
Formelement zur Geltung gebracht hatte.


Verſchuldete dieſer Umſtand allein den Untergang des alten
Proceſſes? Die alte Zeit wußte noch einen andern Uebelſtand
zu rügen: das Bannrecht, welches er dem Pontificalcollegium
gewährte, und die dadurch bewirkte Abhängigkeit des Volks von
letzterem 895) (S. 418). Die Veröffentlichung der Formeln ließ
894)
[665]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
dieſe Klage bereits im fünften Jahrhundert, alſo noch geraume
Zeit vor ſeiner Aufhebung verſtummen.


Dagegen litt er an einem andern Mangel, der, wenn auch
von den Römern ſelbſt mit keiner Silbe erwähnt, doch von der
Geſchichte in unzweifelhafter Weiſe documentirt iſt.


Es ſteht unter allen Kundigen feſt, daß mit dem Formular-
proceß eine neue Aera für das römiſche Recht datirt — ich
meine nicht etwa bloß den Proceß, ſondern auch das materielle
Recht. Erſt von dieſem Zeitpunkt an beginnt jene Rechtsquelle
zu fließen, die für das ganze Recht eine Quelle neuen Lebens
werden ſollte — das prätoriſche Edict. 896) Es iſt nicht Zufall,
daß dies erſt jetzt geſchah; das Legisactionen-Syſtem und das
Edict waren unverträglich mit einander. Im alten Proceß waren
dem Prätor die Hände gebunden, er war nichts als ein Stück
der Maſchine 897) — er in ihrer Gewalt, ſie nicht in der ſei-
nigen
; erſt das Formularverfahren gewährte ihm jene Freiheit
der Bewegung, die eine weſentliche Bedingung ſeiner rechtsbild-
neriſchen Thätigkeit war. Nicht viel anders verhält es ſich mit
der Jurisprudenz und dem Gewohnheitsrecht; auch ſie waren
durch den alten Proceß in enge Gränzen gewieſen. Dieſen be-
engenden und lähmenden Einfluß des alten Syſtems nachzuwei-
ſen, iſt Gegenſtand der folgenden Darſtellung.


Worauf beruhte er? Nicht bloß auf dem rein proceſſualiſchen
Element des alten Verfahrens. Wäre das Princip der Legis-
actio ein rein proceſſualiſches geweſen, hätte die Gebundenheit
und Unfreiheit ſich lediglich auf den Gang und die Formen des
Verfahrens beſchränkt, das materielle Recht würde dadurch in
ſeiner Entwickelung nicht in ſolchem Maße beeinträchtigt wor-
den ſein. Die durch den Formularproceß gewährte Elaſticität
[666]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
des Verfahrens kann mithin nicht die alleinige Urſache des Um-
ſchwunges geweſen ſein, obſchon es im übrigen eine durch die
Geſchichte vielfach beſtätigte Thatſache iſt, daß jede weſentliche
Umgeſtaltung des Proceſſes auch auf das materielle Recht zu-
rückwirkt. Jener beengende Einfluß lag in etwas anderm, näm-
lich darin, daß das Princip der Legisactio zugleich ein materiel-
les
war m. a. W. daß, wie oben nachgewieſen, jeder materielle
Anſpruch, um gerichtlich verfolgbar zu ſein, im Geſetz anerkannt
ſein mußte, eine Klage nur auf Grund eines Geſetzes möglich
war. Damit war die Geſetzgebung principiell für die
ausſchließliche Quelle aller Klagen erklärt.


Unterſuchen wir, was dies heißen will. Ich habe nicht ge-
ſagt: für die ausſchließliche Quelle des geſammten materiel-
len Rechts
, ſondern der Klagen. Alle Rechtsſätze des Pri-
vatrechts gravitiren um die Klage, allein die Entfernung, in
der ſie es thun, iſt bald eine nähere, bald eine weitere. Gewiſſe
nämlich beziehen ſich unmittelbar auf das Klagrecht, ſie ge-
währen, normiren, beſchränken, verſagen daſſelbe. Andere in-
fluiren nur mittelbar auf daſſelbe, ſie betreffen zunächſt Fra-
gen, welche mit der Klage direct nichts gemein haben. Daß der
Betrüger dem Betrogenen Schadenserſatz leiſten ſoll, iſt ein Satz
der erſten Art; daß ein weſentlicher Irrthum Nichtigkeit erzeuge,
ein Satz der zweiten. Jener findet ſeinen völlig erſchöpfenden
Ausdruck in dem Wort und Begriff der actio de dolo, für dieſen
gebricht es an einer ſolchen der Klage entnommenen Bezeich-
nung, und gerade das Daſein oder Fehlen dieſer der actio ent-
lehnten Bezeichnungsweiſe iſt das Kriterium, ob der Rechtsſatz
der einen oder andern Claſſe angehört.


Der Unterſchied wird klarer werden durch ſeine Anwendung,
nämlich den Nachweis, daß er für das ältere Recht im weſent-
lichen die Gränzſcheide beſtimmt zwiſchen der rechtsbildenden
Gewalt der Geſetzgebung auf der einen, und der Juris-
prudenz
und des Lebens auf der andern Seite. Das Gebiet
des eigentlichen Actionenrechts — der Rechtsſätze der erſten
[667]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Claſſe — gehört principiell der erſteren, den beiden anderen Ge-
walten iſt hier nur ein höchſt beſchränkter Wirkungskreis beſchie-
den, das andere Gebiet hingegen fällt, wenn auch nicht aus-
ſchließlich, ſo doch vorzugsweiſe den letztern anheim.


Ob die Römer ſelbſt ſich dieſer Gränzſcheidung bewußt ge-
weſen, wäre am Ende gleichgültig, wenn ſie ſich nur ſachlich
conſtatiren ließe. Allein ich finde dieſelbe auch in unſern Quel-
len angedeutet. Pomponius 898) zerlegt das alte Recht in drei
Beſtandtheile (tria jura): die Geſetze, die Legisactionen und
das jus civile im engern Sinn des Worts, d. h. das von den
alten Juriſten (veteres, qui tunc jura condiderunt) im Anſchluß
an die Geſetzgebung gebildete Recht (S. 493). Es erſcheint
hier alſo das jus civile als etwas außer und neben den Legis-
actionen befindliches, ungeachtet doch auch letztere der Jurispru-
denz ihren Urſprung verdankten und ebenfalls als „jus“ (Fla-
vianum, Aelianum)
bezeichnet wurden. In Anwendung auf ſie
kann alſo die rechtsbildende Thätigkeit der Juriſten nicht den
Charakter an ſich getragen, nicht den Spielraum gefunden ha-
ben, wie innerhalb des jus civile. Und dieſen Schluß ſoll die
folgende Ausführung beſtätigen.


Ich wende mich zuerſt dem jus civile zu, und zwar nicht, um
die Thatſache der in demſelben enthaltenen ſelbſtändigen Rechts-
bildung zu conſtatiren — dies iſt bereits früher (S. 481 fl.) ge-
ſchehen — ſondern um an einigen Beiſpielen zu zeigen, daß letz-
tere innerhalb der oben angegebenen Gränzen möglich war, ohne
gegen das Princip der legis actio zu verſtoßen.


Zu den ſelbſtändigen Schöpfungen der alten Jurisprudenz ge-
hörte die Uſucapion der Erbſchaft als ſolcher. Indem ſie dieſelbe
einführte, gewährte ſie damit mittelbar allerdings eine Klage
(die hereditatis petitio), allein unmittelbar ward letztere
durch dieſe Neuerung durchaus nicht berührt, ſie blieb, was ſie
war: ein Schutzmittel der Erben. Nicht ſie ſelbſt ward aus-
[668]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
gedehnt (vom Erben auf den Nichterben) ſondern der Begriff des
Erben (auf den Uſucapienten).


Ebenſo verhält es ſich, nur nach entgegengeſetzter Seite hin,
mit der bereits gelegentlich (S. 490) berührten von der alten
Jurisprudenz vorgenommenen Beſchränkung des Inteſtaterbrechts
der Weiber. Dieſelbe fand ihren praktiſchen Ausdruck in der Ver-
ſagung der Erbſchaftsklage, allein ohne daß letztere auch hier
durch die Veränderung unmittelbar betroffen worden wäre. Sie
ward nicht gewiſſen Erben entzogen, ſondern gewiſſe Perſonen
hörten auf Erben zu ſein.


In derſelben Weiſe, wie die Jurisprudenz in dieſen und an-
dern Fällen (z. B. der Einführung des Mancipationsteſta-
ments) mit dem Erbrecht die eingreifendſten Veränderungen vor-
nahm, ich möchte ſagen: in der Tiefe, im Innern des Inſtituts
— ohne daß dieſelben an der Oberfläche der Klage hervortraten,
in derſelben Weiſe konnte ſie es bei allen andern Inſtituten. Die
reivindicatio blieb, was ſie war, auch wenn die Jurisprudenz
die Lehre von den Eigenthumserwerbungsarten, z. B. die Theo-
rie der Uſucapion noch ſo ſehr umgeſtaltete. Die actio confes-
soria
verſpürte nichts davon, ob man bei den Servituten die
Uſucapion ausſchloß oder zuließ u. ſ. w. Nur wenn man ſie
hätte ausdehnen wollen auf Servituten, die das Geſetz nicht
kannte (z. B. die Urbanalſervituten der ſpätern Zeit), würde ſich
ihre Legisactionen-Natur dagegen geſträubt haben; ſie konnte
nur lauten auf iter, via, actus, aquae ductus.


Ueberblickt man die ganze Summe der Inſtitute und Rechts-
ſätze, die dem jus civile angehören, man wird eine Reihe der
eingreifendſten Maßregeln unter ihnen wahrnehmen, 899) aber
alle zuſammen fügen ſich der obigen Formel: unter ihnen be-
findet ſich nicht eine einzige Klage
.


[669]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.

Die Klage gehört dem Geſetz. Für faſt alle Klagen,
die dem ältern Recht entſtammen, läßt ſich dieſe Quelle nachwei-
ſen. So ſparſam die Geſetze auf der ſo eben betrachteten Seite
des Rechts ſind, ſo zahlreich ſind diejenigen, welche das Klag-
recht und die Form des Verfahrens zum Gegenſtand haben. In
den wenigen Paragraphen des Gajus über die Legisactionen
ſind ihrer mehr genannt, als in ſeinen ſämmtlichen vier Büchern
zuſammengenommen,900) und es möchte in der ganzen römiſchen
juriſtiſchen Literatur kein zweites Stück gefunden werden, das
auf ſo kleinem Raum ſo oft des Geſetzes gedenkt. 901) Nur ein
einziges Mal wird das Gewohnheitsrecht erwähnt, nämlich bei
Gelegenheit der gewiſſer Anſprüche wegen den Soldaten ge-
wohnheitsrechtlich zuſtehenden pignoris capio. 902) Die darin
gelegene Abweichung von unſerm obigen Grundſatz möchte ſich
verringern, wenn man bedenkt, daß es ſich hier nicht um eine
eigentliche Klage handelt, ſondern um die Ausdehnung einer
außergerichtlichenlegis actio und zwar nicht um die Ein-
führung einer neuen, ſondern die bloße Ausdehnung einer
bereits vorhandenen. 903) Von einer durch das Gewohnheits-
recht oder die Jurisprudenz erfolgten Ausdehnung einer Klage
(actio utilis) oder der Einführung einer neuen außergericht-
lichen legis actio iſt kein Beiſpiel bekannt.


Ging nun zwar alle ſelbſtändige Bewegung und Bildung
[670]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
auf dieſer Seite des Rechts ausſchließlich von der Geſetzgebung
aus, ſo war damit doch der Jurisprudenz nicht aller und jeder
Raum zur Einwirkung verſchloſſen. Aber der Spielraum war
ein enger; er fiel zuſammen mit dem der alten Interpretation
(S. 481 fl.). Das Wort alſo mußte man ſtehen laſſen, 904)
— darauf war ja die ganze Idee der Legisactionen baſirt —
allein in und mit dem Wort konnte man in der früher charak-
teriſirten Weiſe operiren. Auf dieſem Wege gelang es denn,
ohne Veränderung der Worte manchen Klagen einen weitern,
vielleicht auch engern Umfang zu geben, als ſie dem Geſetz nach
in Anſpruch nehmen konnten, ſo z. B. der actio de tigno juncto,
bei der man das Wort tignum, der actio arborum furtim cae-
sarum,
bei der man das Wort arbores, der actio de glande
legenda,
bei der man das Wort glans im weiteſten Sinn
nahm. 905)


Sehr weit aber reichte dieſes Mittel allerdings nicht. Mochte
man den Sinn des Worts drehen und wenden wie man wollte,
dies hatte doch ſeine Gränze. Aus dem Worte: in jure bei-
ſpielsweiſe konnte man nicht die pure Negation deſſelben machen,
wie dies doch hätte geſchehen müſſen, wenn man die früher be-
ſprochene Veränderung in der Vornahme des manum conserere
(S. 600) rein auf dem Wege der Interpretation hätte bewerk-
ſtelligen wollen. Hier entſchloß man ſich denn mit dem Princip
der legis actio geradezu zu brechen und ein Wort in die Formel
zu bringen, das mit dem des Geſetzes in offenem Widerſpruch
ſtand. Gajus hat noch einen Fall überliefert; 906) die Art und
[671]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Weiſe, wie er ſich über ihn äußert, verräth, daß er darin eine
große Singularität erblickte.


So viel zur Rechtfertigung des oben (S. 665) behaupteten
beengenden Einfluſſes des Legisactionen-Syſtems. So weit letz-
teres reichte, war die Jurisprudenz und die Obrigkeit machtlos.
Sie vermochten weder eine geſetzlich zuſtändige Klage in ihrem
Lauf zu hindern, auch wenn das Reſultat im einzelnen Fall mit
der wirklichen Intention des Geſetzes und dem natürlichen Rechts-
gefühl in noch ſo grellen Widerſpruch gerieth, noch auch ſtand es
in ihrer Macht, umgekehrt in einem Fall, in dem das drin-
gendſte Bedürfniß und der gerechteſte Anſpruch auf Hülfe vor-
handen, eine Klage zu gewähren, die das lückenhafte Geſetz nicht
vorgeſehen hatte. Ich glaube daher nicht zu viel gethan zu ha-
ben, wenn ich den Eindruck, den der alte Proceß auf mich macht,
an anderer Stelle (S. 80) mit dem Bilde einer Maſchine wie-
dergegeben habe.


Ob das Drückende dieſes Zuſtandes vom römiſchen Leben
empfunden, und ob nicht die Oppoſition, die der alte Proceß
nach Gajus im Lauf der Zeit hervorrief, und der er ſchließlich
erlag, ſich eben ſo ſehr auf dieſen Uebelſtand erſtreckte, als auf
den von Gajus gerügten — das, meine ich, darf ich dem Urtheil
eines Jeden überlaſſen. Auch England kannte einſt ähnliche
Zuſtände — denſelben Rigorismus des Geſetzes, denſelben eiſer-
nen Legalismus — aber auch hier machte das Leben ſeine Rechte
geltend. Dieſelbe Erleichterung, die Rom im Formularpro-
ceß, ſuchte England in den Billigkeitsgerichtshöfen (courts of
equity
),907) nur haben letztere ſich allerdings nie zu der Höhe
des rechtsbildneriſchen Einfluſſes erhoben, der dem römiſchen
Prätor beſchieden war.


Eine Nachwirkung iſt meiner Anſicht nach der ſpätern Zeit
noch vom Legisactionen-Syſtem geblieben. Es iſt dies jene für
den ſpecifiſchen Charakter der römiſchen im Gegenſatz zu unſerer
[672]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
heutigen Jurisprudenz ſo beſtimmende Behandlung und Auffaſ-
ſung der Klage. Es iſt ſchwer dieſen Gegenſatz, wie es hier
doch geſchehen muß, im Vorübergehen mit wenig Worten zu
entwickeln; mögen folgende Andeutungen genügen.


Wenn man die wiſſenſchaftliche Form, die der Rechtsſtoff in
der römiſchen und der heutigen Jurisprudenz an ſich trägt, mit
einander vergleicht, ſo findet man als dominirenden Geſichts-
punkt und zwar ſowohl für die Behandlung der einzelnen In-
ſtitute als die Anordnung des ganzen Syſtems dort die Klage,
hier das Recht. Der römiſche Juriſt beginnt regelmäßig mit der
Klage und ſteigt von ihr rückwärts zu dem Recht, welches ihre
Vorausſetzung bildet, hinauf, der heutige ſchlägt den gerade ent-
gegengeſetzten Weg ein. Dem entſprechend ordnet letzterer das ge-
ſammte Syſtem nach Geſichtspunkten, die vom Recht hergenom-
men ſind; während die Römer ſowohl in ihren legislativen
(prätoriſches Edict) als doctrinellen Darſtellungen vielfach den
ganzen Stoff an der Hand der Klagen behandeln. Der römiſche
Ausgangspunkt iſt der des unmittelbar praktiſchen, der
heutige des theoretiſchen, wiſſenſchaftlichen Intereſſes.


Wäre es nun bloß eine Differenz der Ausgangspunkte,
bei der man in entgegengeſetzter Richtung ganz denſelben Weg
zurücklegte, ſie würde nur eine ſyſtematiſche Bedeutung haben.
Allein in der That bedeutet ſie viel mehr, nämlich eine höchſt fol-
genreiche praktiſche Differenz — eine Verſchiedenheit für die
Entwickelung des geſammten Rechts ſowohl rückſichtlich der Art
und Form
, in der, als der Seite, auf der, und der Leich-
tigkeit
, mit der ſie Statt findet. Die Klagen ſind in Rom
die Fußſtapfen der ſtaatlichen rechtsbildenden Gewalten; na-
mentlich des Prätors; der Antheil, den letztere an der Entwicke-
lung des Privatrechts genommen, iſt zum größten Theil in ihnen
zu leſen. Auch noch in ſpäterer Zeit gehört die Klage, wenn
auch nicht mehr wie einſt der lex (im römiſchen Sinn) ſo doch
dem Staat. Das Recht über ſeine Kinder und ſein Haus lei-
tet der Römer nicht vom Staat ab, das hat er von ſich ſelbſt
[673]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
(S. 60), aber die Klage, den Anſpruch auf Schutz von Sei-
ten des Staats betrachtet er als eine Gabe des letzteren. Die
Jurisprudenz kann ihm dieſelbe nicht gewähren. Wenn nicht
das Volk ſelbſt die Sache in die Hand nimmt, kann und mag
die Jurisprudenz, als Vertreterin deſſelben, den Prätor zur Ein-
führung der Klage drängen, aber ihn nicht erſetzen. Der
römiſchen Jurisprudenz war der Prätor unentbehrlich, unſere
heutige erſetzt ihn bis zu einem gewiſſen Grade durch ſich ſelbſt.
Denn das, wozu jene ihn nöthig hatte, erreicht ſie ſchon durch
ſich ſelbſt, und der Grund, daß ſie es kann, liegt eben in ihrer Auf-
faſſung der Klage. Hat ſie nur erſt das Recht gewonnen, iſt ſie
alſo im Stande, auf dem Wege der Deduction die innere Nothwen-
digkeit des letzteren zu erweiſen, ſo verſteht ſich für ſie die Klage
von ſelbſt — die Klage iſt ihr eine bloße Conſequenz des Rechts,
kein eignes Geſchöpf. Der Rechtsſchutz des Staats iſt in ihren
Augen die allgemeine Atmoſphäre, in der die Rechte leben, eine
res communis wie die Luft, die allem, was auf dem Boden des
Rechts zur Exiſtenz gelangt, z. B. auf gewohnheitsrechtlichem
Wege, von ſelbſt zu Gute kommt. Die Klage iſt ihr kein In-
dividuum
, ſondern eine Abſtraction. Den Römern iſt
umgekehrt die Klage ein Individuum. Sie hat ihr beſtimmtes
Gebiet, ihren beſtimmten Begriff, ihren eigenen Namen und ihre
eigne Formel, ihre Entſtehung beruht auf einer beſtimmten hiſto-
riſchen Thatſache, einem eignen Zeugungsact, und es iſt bezeich-
nend, daß ſie die Erinnerung an den Prätor, der ſie eingeführt
hat, häufig in ihrem Namen feſthält. 908)


Aus dem bloßen Stoff und Material allein, durch bloße
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 43
[674]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Deduction und Abſtraction gelangt ſie noch nicht zur Exiſtenz,
es bedarf des belebenden Odems einer mit ſchöpferiſcher Kraft
ausgerüſteten Macht, um ſie ins Daſein zu rufen — kein römi-
ſcher Juriſt hat eine Klage geſchaffen. Erſt mit dieſer ihrer
Geburt iſt der Zeitpunkt gekommen, wo die bildenden Mächte
des Lebens und der Jurisprudenz: das praktiſche Bedürfniß,
die Conſequenz, die Analogie u. ſ. w. ſich an der Klage ver-
ſuchen können, und der Begriff des der Klage zu Grunde liegen-
den Rechts eine productive Potenz wird. Aber wie weit auch
die Ausdehnung und Umgeſtaltung, die dadurch der Klage zu
Theil wird, ſich erſtrecke, immer ſchließt ſich jeder neue Zuwachs,
und wäre es auch in gezwungenſter Weiſe, wie nicht ſelten bei
den Fictionen, eng an ſie an, und immer bleibt ſie ein beſtimmt
abgegränztes Ding, ein Individuum — ſie verliert ſich nie, wie
bei uns in den leeren Raum des abſtracten Staatsſchutzes, ja,
wie ein Baum in der Rinde, fixirt ſie und gränzt ſie unter ein-
ander ab die einzelnen Schüſſe, die ſie im Lauf der Zeit ge-
trieben. 909)


Iſt die einzelne Klage ein Individuum, ſo folgt daraus,
daß auch die Geſammtſumme derſelben nichts iſt, als eine
beſtimmte Zahl einzelner Klagen. Der römiſche Juriſt konnte
die vorhandenen Klagen zählen, wer möchte dies für das heu-
tige Recht über ſich nehmen? Nicht als ob uns die Unüber-
ſehbarkeit der Zahl
Schwierigkeiten machen könnte, ſondern
gerade der Mangel der Zahl.


Die bisher geſchilderte, für die Phyſiognomie des ganzen
römiſchen Rechts ſo außerordentlich ausdrucksvolle Auffaſſung
der Klage hat nun ihre letzten Wurzeln in dem Syſtem der Legis-
actionen. Denn in ihm hat gerade der Gedanke, auf dem ſie
beruht: der der juriſtiſchen Individualität der Klage
ſeine erſte und zur höchſten Schärfe geſteigerte Verkörperung
[675]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
gefunden. Die Legisactionen waren Individuen, wie Kryſtalle:
ſcharfkantig, ſpitz, bis ins Kleinſte hinein feſt, beſtimmt, unab-
änderlich. Einer Jurisprudenz, die Jahrhunderte lang ſie vor
Augen und mit ihnen zu operiren hatte — einer ſolchen Juris-
prudenz, meine ich, mußte die Idee der Individualität der Klage
bis zur Unvergeßlichkeit eingeprägt werden.


Zu der im bisherigen vorgetragenen Auffaſſung der Legis-
actionen ſteht im Widerſpruch die Anſicht eines neuern Schrift-
ſtellers, 910) deren Betrachtung ich aus Gründen der Darſtellung
bis jetzt aufgeſchoben habe.


Die Anſicht ſoll zwar zunächſt nur den Urſprung der Le-
gisactionen beſtimmen, allein ſie trifft mittelbar das ganze We-
ſen derſelben. Ihr Kern beſteht darin: die Formeln hätten einen
heiligen, religiöſen Charakter an ſich getragen, ein Verſehen in
dem Gebrauch derſelben ſei folgeweiſe unter den Geſichtspunkt
einer Sünde gegen die Götter gefallen.


Was den Verfaſſer zuerſt darauf gebracht hat, den letzten
Grund der Legisactionen im Himmel zu ſuchen, iſt ſeiner eignen
Erklärung zufolge die exceſſive Aengſtlichkeit, mit der die Römer
bei ihnen das Wort handhabten. Es würde ihm, wenn er ſei-
nen Blick etwas weiter hätte ſchweifen laſſen wollen, an Paral-
lelen auf Erden nicht gefehlt haben. Um von den Formeln des
materiellen römiſchen Rechts zu ſchweigen, für die er jenen Cha-
rakter ebenſowenig in Anſpruch nehmen wird, als für die des
ſpätern Proceſſes, ſo hätte ihn das Beiſpiel des isländiſchen und
engliſchen Rechts (S. 625 und Note 874) lehren können, daß
das Formelweſen auch auf profanem Boden zu einer Blüthe ge-
deihen kann, die hinter der im alten Rom um nichts zurückſteht.


Auch daß die Diener der Götter, die Pontifices, die Verfaſ-
ſer und Hüter der Legisactionen waren, findet zu jeder Zeit,
in der die Geiſtlichen die Träger der gelehrten Bildung oder,
43*
[676]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
um beſcheidener zu ſprechen, die Schreibmeiſter der Nation wa-
ren, ſein Seitenſtück, und dieſer Umſtand allein würde den von
ihnen verfaßten Formeln ebenſowenig eine religiöſe Weihe zu
verleihen im Stande geweſen ſein, als z. B. der Mönch Mar-
culf im ſiebenten Jahrhundert für ſeine Formularienſammlung
eine ſolche wird vindicirt haben.


Daß die Legisactionen denſelben Geiſt athmen, wie die For-
meln des geiſtlichen Rechts, was bewieſe es anders, als das,
was wir wiſſen: daß ſie denſelben Händen ihren Urſprung ver-
danken? Der pontificiſche Styl (S. 423) geht durch das ganze
Recht, das fas wie das jus, aber eben dieſe letztere, uralte Schei-
dung des Rechts in eine religiöſe und profane Seite (B. 1
S. 258) lehrt, daß nicht jedes Inſtitut dadurch, daß ein Pon-
tifex ſeine Hand daran legte, die religiöſe Weihe erhielt.


Ein Verſehen in der Formel, heißt es weiter, fachte den Zorn
der Götter an, denn die Formel war genommen aus dem Geſetz,
das Geſetz ſelbſt aber vermöge der Auſpicien unter göttlicher
Mitwirkung erlaſſen. Einen Beweis der Richtigkeit dieſer Auf-
faſſung ſoll die legis actio sacramento liefern: das sacramen-
tum
(B. 1 S. 265) ſollte die Götter verſöhnen.


Allein warum erhielten ſie die Sühne bloß bei jener legis
actio,
warum nicht auch bei den vier übrigen, namentlich der
pignoris capio, die ja in gewiſſen Fällen eine ausgeſprochene
religiöſe Beziehung hatte? Waren die Geſetze, in denen ſie
ihren Urſprung hatten, weniger unter göttlichen Schutz geſtellt?
Schrie das Unrecht Jemandes, der illegaler Weiſe eigenmächtig
mit manus injectio oder pignoris capio verfahren, weniger zum
Himmel, als deſſen, der den Weg Rechtens (mittelſt leg. act.
sacramento
) eingeſchlagen und dabei wegen Formfehlers unter-
legen war? Ich ſollte ſagen: weit mehr!


Ein Gebot gab es im alten Proceß, deſſen religiöſe Natur
außer allem Zweifel ſteht: das Gebot der Beachtung der dies
nefasti
(ſ. unten S. 695). Welche Folge hatte nun die Ver-
letzung deſſelben? Die unbewußte konnte und mußte mit-
[677]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
telſt eines Piaculum geſühnt werden, die abſichtliche konnte
es nicht. Den religiöſen Charakter der Proceßformeln ange-
nommen, ſo hätte alſo ein Mißgriff in der Benutzung derſelben
ebenfalls durch ein Piaculum geſühnt werden müſſen. Daß bei
den wirklich religiöſen Formeln das Verſehen dieſe Folge nach
ſich zog, wird uns ausdrücklich bezeugt. 911)


Doch unſer Gegner gibt uns ſelbſt die Waffen zu ſeiner
Widerlegung in die Hand. Seiner Anſicht zufolge ſollen näm-
lich die Proceßformeln bereits vor den XII Tafeln vorhanden
geweſen, ja zum Theil in ſie übergegangen ſein. Damit hat
er ſelbſt den der religiöſen Weihe des Geſetzes entlehnten
Grund beſeitigt. Worauf ſtützten dieſe uranfänglichen For-
meln denn damals ihren „heiligen“ Charakter? In der That,
wenn nicht die Götter Roms dem Volk ſtatt Religionsbücher
eine Sammlung von Proceßformeln in die Wiege gelegt haben,
ich wüßte ihnen denſelben nicht zu retten!


Aber auch als ſich ihnen in den Geſetzen eine denkbare Quelle
deſſelben erſchloß — wie viel hätte es bedurft, um aus dieſer
Quelle zu ſchöpfen! Fühlt die empfindliche Gottheit als Schutz-
patronin des Geſetzes ſich ſchon durch die bloß mittelbare
Uebertretung des Geſetzes verletzt, durch ein fehlendes Wort in
der Legisactio, um wie viel mehr durch eine unmittelbare und
abſichtliche Verletzung deſſelben. Der Gott, dem der Beſtoh-
lene, der bei der actio furti ſich verſpricht, ein Aergerniß
iſt, wie wird er erſt den Dieb die Wucht des Zorns fühlen
laſſen. Allein letzterer geht leer aus — die Götter, die für das
Wort ein ſo ſcharfes Ohr haben, beſitzen für die Handlung
kein Auge! — Der Diebſtahl bringt ihnen nichts ein.


So lange nun der Beweis nicht erbracht wird — und er wird
ewig auf ſich warten laſſen — daß die Uebertretung eines jeden
Geſetzes in Rom als ein Vergehen gegen die Götter angeſehen
[678]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
worden ſei, ſo lange werden wir auch den Verſuch, den gött-
lichen Zorn zur Erklärung des Weſens der Legisactionen zu ver-
wenden, für einen mißlungenen erklären dürfen.


Mit den Legisactionen als dem dritten Anwendungsfall des
Geſetzes der Correſpondenz der Form habe ich die Erörterung
des letzteren und damit meine Theorie der Compoſition der For-
meln überhaupt beſchloſſen.


Ein Gegenſtand, der dem erſten Anlauf eine ſolche Ausbeute
gewährte, ſchließt jedenfalls noch eine Menge ungehobener
Schätze in ſich. 912) Möge mein Verſuch dazu beigetragen haben,
die rechtshiſtoriſche Forſchung mehr als bisher auf dieſen Punkt
zu lenken. 913) Darin würde zugleich das wirkſamſte Gegenge-
wicht liegen gegen eine zu einer Art Modekrankheit gewor-
dene — ich kann keinen andern Ausdruck wählen — Spielerei,
die man mit der Sache getrieben hat.


Ich brauche mich nicht dagegen zu verwahren, als ob ich
das Verdienſtliche einer auf Grund poſitiver Baſis unternom-
menen Reſtitution der Formeln unterſchätze. Wogegen ich mich
[679]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
aber aufs entſchiedenſte erklären muß, iſt jene Ausartung der
Reſtitution in ein reines, aller Anhaltspunkte baares Con-
ſtruiren
, das, nachdem die tonangebenden Meiſter das Bei-
ſpiel gegeben, in den Händen der Geſellen 914) als Probeſtück
correcter rechtshiſtoriſcher Richtung zu einer wahren Caricatur
geworden iſt.


Wer eine Ahnung von den Feinheiten des römiſchen Formel-
weſens hat und beſcheiden genug iſt einzugeſtehen, wie wenig
unſer Auge für ſie entwickelt iſt, 915) wird nirgends ſo ſehr vor
dem Conſtruiren zurückſchrecken, als hier.


Ich wende mich jetzt einer neuen Seite des Formelweſens
zu: der praktiſchen Anwendung deſſelben.


[680]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Wir kennen bereits das Urtheil, das die ſpätere Zeit über
den Geiſt, in dem ſie gehandhabt wurde, fällte, jene Vorwürfe
der übertriebenen Spitzfindigkeit, Silbenſtecherei, minutiöſen
Strenge u. ſ. w. (Note 647 und S. 649), und ebenſo habe ich
bereits S. 615 die Anſicht, als ob dieſe Eigenſchaften nicht über-
all in derſelben Schärfe, ſondern vorzugsweiſe nur in den Legis-
actionen zu Tage getreten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt.
Die Jurisprudenz blieb ſich überall gleich, ihre Strenge kannte
keine Grade, und konnte ſie nicht kennen, denn dieſelbe war ja
nichts Willkührliches, Subjectives, ſondern die mit dem Be-
griff der Form ſelbſt objectiv gegebene Folge einer Verletzung
derſelben. Der Schein des Gegentheils beruht nur darauf, daß
das Maß der Beſtimmtheit der Form bei verſchiedenen Geſchäf-
ten ein verſchiedenes war (S. 612 fl.). Grade in der Strenge
könnte es nur unter der Vorausſetzung geben, daß die Abwei-
chung
von der Form Grade zuließe, daß man zwiſchen leichte-
ren und ſchwereren Formfehlern unterſcheiden dürfte. Allein wie
wäre dies möglich, und wo wäre die Gränze? Möge ein Gran
oder ein Loth am Pfunde fehlen — das Pfund iſt kein volles!
Iſt einmal ein beſtimmtes Wort für die Form weſentlich, wie
könnte es vertauſcht werden mit einem gleichbedeutenden? Sind
es mehre Worte, iſt es eine beſtimmte Reihenfolge derſelben,
wie könnte daran etwas fehlen oder geändert werden? Kurz, es
gibt hier keine Wahl — die exacteſte Genauigkeit, möge dieſelbe
immerhin Kleinigkeitskrämerei und Pedanterie geſcholten wer-
den und den Eindruck größter Kümmerlichkeit machen, iſt die
einzige Rettung gegen Willkühr. Wer ſie nicht will, muß die
ganze Einrichtung nicht wollen, wer letztere will, muß jene in
den Kauf nehmen.


Ich werde jetzt an einigen Beiſpielen nachweiſen, wie die
ältere Jurisprudenz dieſe Conſequenz des Formalismus zur Gel-
tung gebracht hat.


Daß im Legisactionen-Proceß ein einziges Wort den ganzen
Proceß koſten konnte, iſt uns bereits bekannt (S. 649), für den
[681]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Formularproceß galt ganz daſſelbe. 916) Nicht anders bei Rechts-
geſchäften, nur daß hier Nichtigkeit eintrat, ſo z. B. bei der
Stipulation (S. 582). Wie der Ausfall eines Worts oder
die Vertauſchung deſſelben mit einem gleichbedeutenden, ſo
begründete auch die Veränderung der Reihenfolge der
Worte 917) ja ſogar der Gebrauch einer neuern Wortform,
wo ſich für die Formel noch die urſprüngliche erhalten hatte, 918)
einen Nichtigkeitsgrund. Ebenſo Zuſätze, wenn die Formel
eine feſte, unabänderliche (S. 614) war, und zwar traf die
Nichtigkeit nicht etwa den Zuſatz, ſo daß das Geſchäft im übri-
gen gültig geblieben, ſondern das ganze Geſchäft. Auf die Be-
ſchaffenheit
des Zuſatzes kam nichts an; mochte er ſich mit
dem Zweck des Geſchäfts vertragen oder nicht, mochte er inhalts-
los, mochte er gänzlich ſinnlos ſein — es war ein Zuſatz und
die Formel duldete keinen Zuſatz.


Damit hängt eine bekannte Regel des römiſchen Rechts zu-
ſammen, der neuere Juriſten den Ausdruck gegeben haben: ex-
pressa nocent, non expressa non nocent.
919) Die ſolennen
Rechtsgeſchäfte, ſagt Papinian, 920) welche keine Bedingung oder
Zeitbeſtimmung zulaſſen, werden durch das Hinzufügen einer ſol-
chen ſchlechthin nichtig, ſelbſt wenn ſich der Inhalt derſelben von
ſelbſt verſteht, wie z. B. die zu dem bedingten Geſchäft des Pu-
[682]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
pillen (alſo ſtillſchweigend unter derſelben Bedingung) ertheilte
tutoris auctoritas, die acceptilatio einer bedingten Schuld. 921)


Dieſes eiſerne Feſthalten am Wort und an der Formel hat,
wie ich bereitwillig zugebe, etwas höchſt Unerquickliches, und
man kann die relative Nothwendigkeit deſſelben einräumen, ohne
mit dieſem Eindruck zurückhalten zu müſſen. Aber, um gerecht zu
ſein, dürfen wir einen Geſichtspunkt nicht außer Acht laſſen, der
die Sache in einem weſentlich günſtigeren Licht erſcheinen läßt,
ich meine die oben geſchilderte, auf die Abfaſſung der Formeln
verwandte Sorgfalt und Kunſt. Wo jedes Wort aufs ſorgſamſte
erwogen, wo die beſtimmte Ordnung und Reihenfolge der Worte
und Satztheile nur der Ausdruck der innern Logik des Gedan-
kens, die Unabänderlichkeit der Formel nur die Folge und
das Zeichen der gelungenen erſchöpfenden Abgränzung des In-
halts iſt (S. 515), kurz wo das Kleinſte Sinn und Bedeutung
hat, da iſt die genaue Beachtung deſſelben keine bloße Klei-
nigkeitskrämerei. Die Strenge der Jurisprudenz in der Hand-
habung
der Formeln hatte die in der Abfaſſung derſelben
zu ihrem rechtfertigenden Grunde, und wenn meine obige Com-
poſitionstheorie der Formeln auch weiter keinen Werth hätte, ſo
würde ſie ihn ſchon zur Genüge darin finden, daß ſie unſerm End-
urtheil über das römiſche Formelweſen eine ganz andere Ge-
ſtalt geben muß, als es abgeſehen davon lauten dürfte. Wo
das Wort nicht den Werth der Scheidemünze, ſondern eines
Goldſtückes hat, iſt auch die Goldwage am Platz.


Hiermit habe ich meine Darſtellung des zweiten Elements
der Rechtsgeſchäfte: des Worts (S. 603) beſchloſſen. Es ver-
[683]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
bleibt mir noch ein Moment, welches wenn auch keinen Be-
ſtandtheil
, ſo doch einen Rahmen des Rechtsgeſchäftes bil-
det. Es iſt jener Rahme, in den alles, was geſchieht, hin-
einfällt:


3. Raum und Zeit.

Das Verhalten des Rechts zu dieſen beiden Kategorien ſei-
nem ganzen Umfang nach hiſtoriſch zu verfolgen, würde eine
der intereſſanteſten und dankbarſten Aufgaben der vergleichen-
den Rechtsgeſchichte ſein. Als Reſultat würden wir wahrſchein-
lich überall daſſelbe finden, was uns die römiſche Rechtsge-
ſchichte aufweiſt: den fortgeſetzten Kampf des Rechts gegen
den beſchränkenden und beengenden Einfluß jener beiden Mo-
mente, den Fortſchritt von der Unfreiheit zur Freiheit, von
der Abhängigkeit zur vollſtändigſten Herrſchaft über Zeit und
Raum.


An der gegenwärtigen Stelle müſſen wir uns auf ein Stück
dieſer Geſchichte beſchränken: die Bedeutung beider Momente
für die Form der Rechtsgeſchäfte im ältern Recht; an
der rechten Stelle wird das Fehlende nachfolgen.


Ich beginne mit dem Raum.


Welche Bedeutung das Problem der Ueberwindung
des Raums
für die Geſchichte der Erfindungen, des Handels
und die Culturgeſchichte hat, und was der menſchliche Erfindungs-
geiſt auf dieſem Gebiet geleiſtet, iſt allgemein bekannt. Weniger
bekannt dürfte es ſein, daß und wie auch das Recht ſich mit
demſelben Problem hat beſchäftigen müſſen. Die Schwierigkei-
ten, mit denen das Recht zu ringen hatte, lagen nicht in der Außen-
welt, der Natur, ſondern im Menſchen ſelbſt, aber ſie waren
darum nicht minder gering, und es hat nicht weniger Zeit und
Anſtrengung gekoſtet, ſie zu bewältigen, als die, welche den
Vorwurf der Mechanik und Naturwiſſenſchaft bilden. Der Ab-
ſtand zwiſchen dem Einſt und Jetzt, deſſen letztere ſich rühmen
können, gilt auch für das Recht — wer das heutige mit dem
[684]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
altrömiſchen vergleicht, wird ihn kaum weniger erheblich nennen,
als den zwiſchen dem Eiſenbahn- und Telegraphenweſen der
heutigen Zeit und dem Schneckengang der Transportmittel der
Vergangenheit.


Was iſt für unſer heutiges Recht die Entfernung und was
war ſie einſt! Einſt ein abſolutes Hinderniß für die Vornahme
eines jeden Rechtsgeſchäfts, iſt ſie heutzutage für den Verkehr
rechtlich922) ohne den geringſten Einfluß. Contracte ſchließen,
Beſitz und Eigenthum erwerben und übertragen, Proceſſe füh-
ren u. ſ. w., alles das kann man von jeder beliebigen Entfer-
nung aus — Stellvertreter und Briefe erſparen dem Handeln-
den die Mühe des eignen Erſcheinens. Ein alter Römer würde
ſich vielleicht nicht weniger darüber wundern, was man heutzu-
tage mit Papier und Dinte, als was man mit Dampf und
Electricität ausrichtet. Papier und Dinte vertreten bei uns
nicht bloß die Perſon, ſondern auch die Sache, wenigſtens
die wichtigſte derſelben: das Geld. Wechſel, Anweiſungen,
Banknoten, Papiergeld machen es unſerm heutigen Verkehr
möglich, das Gewicht einer Million auf wenige Lothe zu redu-
ciren, und gegenüber den Summen, die täglich in dieſer lufti-
gen Geſtalt den Raum durcheilen, verſchwindet die Maſſe des
verſandten Metallgeldes faſt in nichts. Das Gemeinſame unſe-
res geſammten heutigen Syſtems der Raumüberwindung im
Gegenſatz zu dem früherer hiſtoriſchen Epochen beſteht in der
Subſtituirung todter Mittel an die der lebendi-
gen
. Die Locomotive hat das Laſtthier, der Telegraph den
Boten, die Feder den Menſchen erſetzt — Dampf, Electricität
und Dinte ſind die Hebel des heutigen Verkehrsweſens.


Die Bedeutung des Raums im heutigen Recht beſchränkt
ſich im weſentlichen bloß darauf, daß der Raum die Rechts-
[685]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
territorien und bis zu einem gewiſſen Grade das Domicil
der Rechtsverhältniſſe beſtimmt (Frage von der Colliſion frem-
der und einheimiſcher Geſetze).


Dieſe Geſtalt nun, die unſer heutiges Recht der Raumfrage
gegeben hat, macht uns, eben weil ſie den Ausdruck unſerer mo-
dernen Anſchauungsweiſe enthält, den Eindruck der höchſten Na-
türlichkeit und Nothwendigkeit. Dem alten Römer würde ſie,
wie bereits bemerkt, als das gerade Gegentheil erſchienen ſein —
ein abermaliger Beleg dafür, welche Bewandniß es mit dem
Begriff des „Natürlichen“ hat! Das Natürliche iſt das, was der
Anſchauungsweiſe einer beſtimmten Zeit entſpricht — was die-
ſer Zeit natürlich, erſcheint jener als völlig unnatürlich. Der Ge-
genſatz der Anſchauungsweiſe, welcher der Behandlungsweiſe des
heutigen und altrömiſchen Rechts zu Grunde liegt, läßt ſich mit
einem Wort bezeichnen — es iſt der uns wohlbekannte der
abſtracten und ſinnlichen
. Die Geſtalt, die das Verhält-
niß im altrömiſchen Recht an ſich trägt, iſt nichts als ein
abermaliger und höchſt ſchlagender Beleg für die Macht des
ſinnlichen Elements. Sie war eine im hohen Grade unbequeme
— eine Feſſel für den Verkehr, die man ſich ſelbſt geſchmiedet
hatte, ein Joch, das man trug, weil und ſo lange man daran
glaubte. Aber um ſich von dem Glauben daran und damit von
ihm ſelbſt loszureißen, dazu gehörte erſt ein Umſchwung in der
ganzen Anſchauung, wie er ſich nur im Lauf der Jahrhunderte
und unter dem drängenden und zwingenden Einfluß bedeutender
äußerer Veränderungen vollziehen konnte.


Der Begriff des Rechtsgeſchäfts unter Abweſenden beſteht
darin, daß die handelnden Perſonen ſich an zwei verſchiede-
nen Orten
befinden. Dieſe Doppeltheit des Orts bei einem
und demſelben Rechtsgeſchäft widerſtrebt dem einfachen Sinn.
Denn wenn es ein Geſchäft ſein ſoll, ſo iſt auch Einheit der
Handlung
erforderlich; wie wäre aber letztere möglich, wenn
die Perſonen nicht an demſelben Ort gegenwärtig ſind? Offerte
und Accept, Frage und Antwort, Abſenden und Eintreffen der
[686]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Erklärung fallen hier in ganz verſchiedene Zeitmomente. Ein-
heit der Zeit erfordert nothwendigerweiſe Einheit des Orts,
Aufgeben der letzteren iſt Aufgeben der erſteren. Wollen Zwei
juriſtiſch überein- oder zuſammenkommen (convenire, con-
ventio)
ſo mögen ſie es auch im natürlichen Sinn thun; da ſieht
man, daß ſie etwas Gemeinſames vorhaben — ihre Vereini-
gung im Raum iſt die ſinnlich-natürliche Vorausſetzung ihrer
Vereinigung im Willen. Ebenſo wenn es eine unmittelbare
Dispoſition über eine Sache gilt. Wie könnte man dieſelbe tref-
fen aus der Entfernung? Das iſt dem naiven Sinn zu hoch.
Er verlangt nicht bloß, daß man den Gegenſtand, um den es
ſich handelt, ſehe, ſondern daß das rechtliche Verhältniß, in
das man ſich zu ihm ſetzen oder das man an ihm geltend machen
will, kurz die Beziehung und Richtung des Willens zu ihm ſich
in einer äußern Einwirkung auf ihn kund thue, verkörpere, —
das Erforderniß der Einheit des Orts beſteht auch für die
Sachen: wo die Sache unmittelbarer Gegenſtand des Rechts-
geſchäfts iſt (Beſitz- und Eigenthumsübertragung, Vindication,
operis novi nunciatio923), muß ſie den handelnden Perſonen zur
Hand ſein.


So hat alſo das Rechtsgeſchäft ſeinen räumlichen Kreis,
innerhalb deſſen Perſonen und Sachen gegenwärtig ſein müſſen.
Für die Perſonen iſt er beſtimmt durch das Requiſit der
mündlichen Rede (S. 616), durch Sprechen und Hören, er
reicht ſo weit, als die Stimme und das Ohr trägt. Darum
müſſen bei allen formellen Rechtsgeſchäften und bei allen Hand-
lungen des Proceſſes, bei denen die Rede ſich gegen den Gegner
richtet, beide Theile gegenwärtig ſein. 924) Für die Sachen iſt
[687]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
jener Kreis beſtimmt durch das Requiſit des Greifens (Man-
cipation, Abtretung vor Gericht, Vindication S. 596); er reicht
ſo weit als die Hand. Für die Tradition iſt er im neuern
Recht (S. 453) ungleich weiter gezogen; hier reicht er ſo weit,
als das Auge(traditio longa manu). Die Tragweite des
Willens im Raum ſtuft ſich demnach ab nach dem der Or-
gane
: der Hand, der Sprachwerkzeuge, des Ohrs, des Auges
— darüber hinaus kann der Wille keine Wirkungen ausüben.
Um ihm dieſe zu ermöglichen, hätte man an die Stelle der
mündlichen Rede das Schreiben oder an die der eignen
Rede die des Stellvertreters ſetzen und rückſichtlich der
Sachen das Requiſit der actuellen oder (beim Beſitz) potentiel-
len Einwirkung auf dieſelbe erlaſſen müſſen.


Hat das ältere Recht ſich dazu verſtanden? Die Frage iſt
entſchieden zu verneinen. Nur rückſichtlich des Princips der
Präſenz der Sache ließ man im Vindicationsproceß nicht ſo-
wohl eine Ausnahme, als eine Erleichterung zu: Repräſenta-
tion des Streitobjects (S. 534), 925) die, wie S. 601 zu zeigen
verſucht iſt, auf die Mancipation unbeweglicher Sachen nicht
ohne Rückwirkung bleiben konnte und für ſie die völlige Aufgabe
jenes Princips nach ſich zog.


Das bisher betrachtete Requiſit beſtand für ſämmtliche
Rechtsgeſchäfte. Für gewiſſe Arten derſelben geſellte ſich noch
ein anderes hinzu, welches den Ort nicht bloß relativ, wie jenes,
ſondern abſolut beſtimmte. Alle an die Mitwirkung des
Volks, der weltlichen und der geiſtlichen Behörden
geknüpften Rechtsgeſchäfte (S. 552: 1, 2, 3) waren nur
am Sitz dieſer Gewalten, in Rom926) möglich. Gruppiren
924)
[688]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
wir dieſelben nach den Rechtsgebieten, denen ſie angehörten
(ſ. namentlich S. 580), ſo mußten in Rom vorgenommen werden


  • aus dem Familienrecht:
    die Arrogation, Adoption, Emancipation, Eingehung und
    Trennung einer confarreirten Ehe, Abtretung der Tutel;
  • aus dem Sachenrecht:
    die Manumiſſion, Beſtellung von urbanal und perſönlichen
    Servituten;
  • aus dem Erbrecht:
    die Errichtung des Teſtaments — das hieß aber, da letzt-
    willige Verfügungen nur in Form des Teſtaments möglich
    waren: jede letztwillige Dispoſition — und die Abtretung
    der Erbſchaft;
    927)
  • aus dem Proceß:
    ſämmtliche gerichtliche Legisactionen (S. 655).

Dieſe Regel erlitt jedoch zwei Modificationen. Die erſte:
die freiwillige Gerichtsbarkeit der römiſchen Magiſtrate
(legis actio in dieſem Sinn) war nicht auf Rom beſchränkt, ſie
begleitete dieſelben auch auf ihren Reiſen z. B. in die Provin-
zen. 928) Die zweite: zu Gunſten des Heeres war an die Stelle
926)
[689]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
des testamentum in comitiis calatis das testamentum in pro-
cinctu
geſetzt, und über die Soldaten übte der Feldherr wie die
Straf- ſo auch die Civilgerichtsbarkeit. 929) Darin lag zugleich
die freiwillige Gerichtsbarkeit, und ſämmtliche durch in jure ces-
sio
zu vollziehenden Acte z. B. die Freilaſſung konnten mithin
auch im Felde vorgenommen werden, ſo daß alſo nur die Arro-
gation und die Eingehung oder Trennung der confarreirten Ehe
für die Rückkunft nach Rom aufgeſpart werden mußten — zwei
Beſchränkungen, die kaum ein Intereſſe hatten.


Abgeſehen von dieſen beiden Modificationen mußte Jeder,
der eins der obigen Geſchäfte vollziehen wollte, ſich nach Rom
verfügen. So lange das römiſche Gebiet ſich auf einen kleinen
Umkreis beſchränkte, lag in dieſer Einrichtung keine nennens-
werthe Unbequemlichkeit. Wer kam nicht von Zeit zu Zeit in
die Stadt? Der Marktverkehr, der Gottesdienſt, die Spiele,
Feſte, die Volksverſammlungen u. ſ. w. gaben Anläſſe genug
dazu. Es war kaum ein anderes Verhältniß, als es auch heut-
zutage bei größeren Amtsbezirken Statt findet.


Ganz anders aber ſtellte ſich die Sache, als die Gränze des
Gebiets ſich weiter und weiter von Rom entfernte. Die Verfaſ-
ſung ſowohl wie das Privatrecht waren im weſentlichen berech-
net auf eine Stadt; konnte man ſie beibehalten für ein Reich?
928)
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 44
[690]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Die Frage, die damit an die Geſetzgebung herantrat: Beibehal-
tung des Bisherigen d. h. äußerſte Centraliſation oder ange-
meſſene Decentraliſation war eine der gewichtigſten, die ihr je
zur Entſcheidung vorgelegen, und an der unvollkommnen Löſung
derſelben, an dem Mißverhältniß zwiſchen Stadt und Reich iſt
die Republik mit zu Grunde gegangen. Für das Privatrecht
hatte zwar die Frage bei weitem nicht die Bedeutung, als für
das öffentliche Recht, und die Intereſſen, die ſich ihrer befriedi-
genden Löſung in den Weg ſtellten, waren nach dieſer Seite hin
ungleich geringer. Allein um ſo bezeichnender iſt die Läſſigkeit,
das Widerſtreben, das ſelbſt nach dieſer Richtung hin an den Tag
tritt. Vor allem trifft dieſe Bemerkung alle diejenigen Acte und
Verhältniſſe des Privatrechts, welche eine unmittelbare oder
mittelbare religiöſe Beziehung hatten und als zur Competenz des
Pontificalcollegiums gehörige eben damit an Rom gewieſen
waren. Welches Mißverhältniß war es z. B., daß man noch
zu Gajus Zeit eine Arrogation nur in Rom vornehmen
konnte, 930) alſo aus den entfernteſten Provinzen zu dem Zweck
nach Rom reiſen mußte! Oder daß ein Provinzialſtatthalter von
Bithynien, wie Plinius, ſich die Autoriſation zur Verſtattung
der Verlegung eines Grabmahls erſt vom Pontifex Maximus
in Rom (Trajan) erwirken mußte! 931) Seine minder ſcrupu-
löſen Vorgänger hatten ſich freilich nach ſeinem eignen Bericht
öfter darüber hinweggeſetzt.


Thaten ſie ſo Unrecht daran? Wenn die Geſetzgebung es
unterläßt, unmöglich gewordene Einrichtungen zu beſeitigen, ſo
kann und muß die Praxis ſich ſelber helfen; ſo geſchieht es über-
all, ſo geſchah es auch in Rom. Der Prätor ſollte ſich zum
Manum conserere mit den Partheien aufs Grundſtück verfügen
— wie war das durchführbar, als es zu dem Zweck ſtatt eines
bloßen Ganges, den das Geſetz im Auge hatte, einer förm-
[691]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
lichen Reiſe bedurfte? Die Prätoren hätten, um dieſer Beſtim-
mung zu genügen, ihre ſonſtigen Pflichten vernachläſſigen müſ-
ſen. Wie wir wiſſen, waren ſie verſtändig genug, ſich über jene
Vorſchrift hinwegzuſetzen. 932) Ebenſo machten es die übrigen
Beamten. Der Feldherr reiſte nicht mehr eigens nach Rom zu-
rück, um dort die Auſpicien zu erneuern, der Conſul nicht, um
dort den Dictator zu ernennen, 933) die Fetialen nicht mehr in
Feindes Land, um den Speer hinüber zu werfen. Sie halfen
ſich in ächtrömiſcher Weiſe durch repräſentative Nachbildung des
erforderlichen Grund und Bodens, wenigſtens iſt dies in drei
Fällen ausdrücklich bezeugt. 934)


44*
[692]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Dem Verkehr ward es weniger leicht, ſich von dem läſtigen
Requiſit der Anweſenheit in Rom zu befreien. Vollſtändig ge-
lang es ihm nur rückſichtlich der Teſtamentsform; das von ihm
erfundene Mancipationsteſtament, welches neben andern Vor-
zügen auch den der Ortsentbindung von Rom enthielt, trat ganz
an die Stelle der ältern Form. Rückſichtlich der übrigen Ge-
ſchäfte vermochte er ſich, ſo lange der Prätor ſich nicht ins Mit-
tel legte, nur in unvollkommner Weiſe zu helfen, nämlich durch
factiſche Vornahme der Geſchäfte außerhalb Roms und den
Schutz, den die Sitte ihnen gewährte (S. 514). Das Haupt-
beiſpiel bieten die Freilaſſungen. Man erklärte den Sklaven vor
Zeugen für frei (manumissio inter amicos) und behandelte ihn
fortan als ſolchen, bis ſich Zeit und Gelegenheit fand, in Rom
vor dem Cenſor oder Prätor den Act in aller Form Rechtens zu
wiederholen. 935) Ein anderes Beiſpiel liefert die obrigkeitliche
Beſtellung eines Vormundes nach der lex Atilia (tutor Atilia-
nus)
. Sie mußte in Rom geſchehen. 936) Bis man zur Reiſe
nach Rom Zeit fand, verwaltete, wie es bis zum Erſcheinen des
Geſetzes immer der Fall geweſen, irgend eine dem Pupillen nahe
ſtehende Perſon factiſch das Amt des Tutors. Auch hier
gab ſpäter der Prätor dem Factiſchen rechtliche Geſtalt, näm-
lich mittelſt der Beſtimmungen des Edicts über factiſche Tuto-
ren (Protutoren). 937)


Für den Civilproceß gab es, um ſich der Reiſe nach Rom
zu entziehen, keinen andern Ausweg, als Vereinigung beider
Partheien über ſchiedsrichterliche Entſcheidung. Es gehörte zum
Begriff des „lege agere“ und des judicium legitimum, daß der
[693]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Proceß in Rom ſpielte; Proceſſe unter römiſchen Bürgern
außerhalb Roms, ein Anwendungsfall der judicia imperio
continentia
938) kamen, von dem Note 929 erwähnten Fall ab-
geſehen, erſt in ſpäterer Zeit auf. Aber der alte Proceß ver-
mochte ſich dem Einfluß der Gebietserweiterung doch nicht ganz
zu entziehen, und es ſind bereits früher (S. 600 und S. 660)
zwei Spuren nahmhaft gemacht, in denen dieſer Einfluß unver-
kennbar hervortritt, ich meine die Selbſtdispenſation des Prä-
tors vom Erſcheinen beim Vindicationsact an unbeweglichen
Sachen und die den Partheien durch die lex Silia und Calpurnia
gewährte Dispenſation vom Erſcheinen im erſten Termin. Einen
ähnlichen Zweck, das nutzloſe Reiſen möglichſt zu erſparen, hatte
auch die lex Hortensia aus dem Jahr 465, welche beſtimmte,
daß die Nundinen, welche früher dies nefasti geweſen, 939)dies
fasti
ſein ſollten, was m. a. W. ſo viel hieß: das Landvolk
könne, wenn es doch einmal des Marktes wegen zur Stadt
komme, zugleich ſeine Rechtshändel abmachen. 940)


Dem bisherigen nach dürfte ſich die Behauptung rechtferti-
gen, daß die Form der privatrechtlichen Geſchäfte und die Orga-
niſation des Proceſſes noch Jahrhunderte lang den Charakter
athmeten, den das römiſche Recht urſprünglich an ſich trug —
den eines Stadtrechtes. Denſelben Geſichtspunkt für das
öffentliche und geiſtliche Recht und die Religion 941) zu verfolgen,
liegt außerhalb der Gränzen unſerer Aufgabe; möge ſich dazu
ein Anderer finden!


Die Beſchränkungen, denen die Form942) der Rechtsge-
[694]Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſchäfte rückſichtlich der Zeit unterlag, laſſen ſich ebenfalls auf
zwei Klaſſen zurückführen: relative und abſolute.


Die relative Beſchränkung hat in der Idee der Einheit
des Rechtsgeſchäfts
ihren Grund und äußert ſich daran,
daß die einzelnen Handlungen, welche zur Begründung des
Rechtsgeſchäfts erforderlich ſind, in denſelben Zeitmoment fallen
müſſen. Die Stipulation beſteht aus Frage und Antwort und
beide müſſen ſich unmittelbar aneinander anreihen (S. 582).
Ebenſo die lex mancipii (S. 574) an die Mancipation. Der
Act des Teſtirens darf nicht durch fremdartige Geſchäfte unter-
brochen werden. 943) Die tutoris auctoritas, welche mit dem
Geſchäft des Pupillen ein Ganzes bildet, muß ſich ihr auch der
Zeit nach anſchließen. 944) Mehre Miteigenthümer, welche ge-
meinſchaftlich eine Servitut erwerben oder beſtellen wollen, ha-
ben dies gleichzeitig zu thun, 945) und daſſelbe wird man für
das frühere Recht auch von der activen und paſſiven Begrün-
dung einer Correalobligation annehmen dürfen. 946) Vermächt-
niſſe und ſonſtige letztwillige Verfügungen können nur bei Ge-
legenheit der Erbeseinſetzung getroffen werden, mit der ſie ſtehen
und fallen; die Idee der Codicille (als außerteſtamentariſcher
Dispoſitionen) widerſtritt, ganz abgeſehen von der ihrem Begriff
nicht weſentlichen Formloſigkeit, dem Geiſt des ältern Rechts.


Die abſoluten Beſchränkungen waren doppelter Art: po-
ſitiver
und negativer. Jenes: für gewiſſe Geſchäfte gab
es wie nur einen beſtimmten Ort, ſo auch nur einen ganz be-
ſtimmten Zeitpunkt zu ihrer Vornahme, nämlich für die Teſta-
mente (zwei Mal im Jahr 947) und die Freilaſſungen (alle fünf
[695]Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Jahr einmal, bei Gelegenheit des Cenſus). 948) Beides höchſt
läſtig und auf die Dauer unhaltbar und darum durch den Ver-
kehr ſchon früh beſeitigt. 949)Dieſes: die gerichtlichen Legis-
actionen ſollen nicht an dies nefasti vorgenommen werden. Die
Vorſchrift hatte einen religiöſen Charakter, wie überhaupt die
ganze Zeiteintheilung und beſtand nicht für die Partheien (denen
urſprünglich die Reihenfolge der dies fasti und nefasti ſogar
ein Geheimniß geweſen ſein ſoll), ſondern für den Magiſtrat, 950)
und auch für ihn enthält ſie nur ein bloßes Sollen, d. h. wenn
er ſie übertreten, ſo hatte er dies zwar durch ein Piaculum zu
büßen, allein die Handlung war und blieb in ähnlicher Weiſe
gültig, wie im Privatrecht eine im Widerſpruch zu einer be-
ſtehenden Verbindlichkeit vorgenommene Handlung (z. B. Ver-
äußerung), m. a. W. die Vorſchrift hatte nur die Natur einer
lex minus quam perfecta.951) Aus dieſem Grunde waren alſo
die außergerichtlichen Legisactionen (S. 657) durch jene Vor-
ſchrift ebenſowenig gehindert, 952) wie die Rechtsgeſchäfte. 953)

[][][][]
Notes
*)
So finden ſich z. B. in Kuntze Der Wendepunkt der Rechtswiſſen-
ſchaft Leipz. 1856 S. 74 fl. einige Anklänge an Ideen, die ich in §. 41 aus-
geſprochen habe. Die allgemeine Theorie der Technik (§. 37—41) war bereits
im Frühjahr 1856 vor dem Erſcheinen jener Schrift gedruckt, und die Quint-
eſſenz derſelben hatte ich ſchon in dem Einleitungsaufſatz zu den von Gerber
und mir herausgegebenen Jahrbüchern gegeben — freilich in zu gedrungener
Weiſe, als daß ſie Schriftſtellern von der Faſſungskraft eines Herrn Hof-
rath Lang in Würzburg oder vorlauten Anfängern wie Herrn Muther in Kö-
nigsberg, der in dem „Durch arbeiten eines Collegienheftes“ eine „productive“
Leiſtung finden will, nicht ein Geheimniß hätten bleiben müſſen.
473).
z. B. wenn der Schuldner im Auftrage des Gläubigers an eine
dritte Perſon zahlt, einmal eine Zahlung des Schuldners an den Gläubi-
ger und ſodann ein Rechtsgeſchäft zwiſchen Gläubiger und der dritten Per-
ſon (ſei es gleichfalls eine solutio, oder eine Schenkung, oder ein Darlehn,
oder ein anderes Geſchäft); L. 44 de solut. (46. 3). Auf ſolche Fälle be-
zieht ſich die Bemerkung des Juriſten in L. 3 §. 12 de don. i. v. et u.
(24. 1): celeritate inter se conjungendarum actionum unam occultari.
474).
z. B. wenn der Pächter die Sache vom Verpächter kauft, eine Tra-
dition von jenem an dieſen und von dieſem zurück an jenen (traditio brevi
manu;
der entgegengeſetzte Hergang beim constitutum possessorium).
475).
z. B. die Ratihabition eines früheren ungültigen Geſchäfts als Ab-
ſchluß eines neuenL. 1 §. 2 pro donato (41. 6) quasi nunc donasse
videtur.
476).
z. B. die Aneignung einer vom Eigenthümer preisgegebenen Sache
477).
Hat doch ſogar vor einigen Jahren ein Juriſt ſich nicht geſcheut,
476).
bald als Occupation einer derelinquirten, bald als Erwerb einer tradirten
Sache, oder die gewaltſame Aneignung einer Sache bald als erzwungene
Tradition, bald als Raub.
477).
aus der Werthloſigkeit ſeines Urtheils über die Jurisprudenz eine
Werthloſigkeit der Jurisprudenz“ zu machen! — ein Einfall, den
man durch eine ernſtliche Widerlegung viel zu ſehr geehrt hat.
478).
Aus dem ſächſiſchen Civilgeſetzentwurf würden Ulpian und Paulus
und alle römiſchen Juriſten zuſammengenommen kein römiſches Recht gemacht
haben, und wenn die meiſterhafte Kritik, der Wächter denſelben unterzogen
hat, die Publication deſſelben in ſeiner gegenwärtigen Form abwenden
ſollte, ſo würde ihm Sachſen für dieſe negative That zu kaum geringerem
Dank verpflichtet ſein, als Würtemberg für die Bearbeitung des wür-
temb. Privatrechts.
479).
Namentlich bei der beliebten Frage über deutſches und römiſches
Recht.
480).
Gegenüber einer namentlich unter praktiſchen Juriſten viel verbrei-
teten Anſicht, als ob die ſyſtematiſche Frage im Recht ein rein formales oder
theoretiſches Intereſſe habe, kann ich die hohe praktiſche Bedeutung derſelben
481).
Wie viel Worte hätten wir nöthig, um z. B. den Satz: die Evic-
tionsleiſtung erſtreckt ſich nicht auf necessariae impensae, in die Sprache
des Laien zu überſetzen.
482).
Der Eifer gegen die juriſtiſche Terminologie, das Verlangen, daß
die Jurisprudenz möglichſt ſich der Ausdrücke des gewöhnlichen Lebens bedie-
480).
nicht genug hervorheben. Das Intereſſe der richtigen ſyſtematiſchen Stellung
eines Inſtituts iſt kein anderes, als das der richtigen materiellen Erkenntniß
und Darſtellung deſſelben. Wer irgend einen Gegenſtand falſch claſſificirt,
z. B. einen Vogel zu den Säugethieren ſtellt, ſagt damit von dem Gegenſtand
etwas materiell Falſches aus, und dieſer Eine Irrthum kann die Quelle von
unzähligen andern werden. Syſtematiſche Verſehen ſind daher nicht harmloſe,
unſchuldige Irrthümer, ſondern mit die gefährlichſten, die es gibt, und die
Sorgfalt, welche die Theorie auf die ſyſtematiſche Frage verwendet, iſt im
höchſten Grade gerechtfertigt. Ich glaube, daß es ein höchſt ergiebiges und
dankbares Thema ſein würde, eine Geſchichte der Irrthümer zu liefern, die
lediglich aus einer falſchen ſyſtematiſchen Stellung hervorgegangen ſind. Man
erinnere ſich z. B. einmal der früheren verkehrten Stellung des Retentions-
rechts beim Beſitz; welche verkehrte Ideen über dies Recht ſind dadurch ver-
anlaßt, und welchen Halt hatten ſie, und wie wurden ſie ſtets genährt bloß
durch den ſyſtematiſchen Mißgriff. Jeder ſyſtematiſche Fehler iſt das Product
und zugleich die Quelle einer mangelhaften Erkenntniß des Gegenſtandes, ein
falſcher Wegweiſer, und ſo lange die Wiſſenſchaft noch die rechte ſyſtematiſche
Stelle für den Gegenſtand nicht gefunden, hat ſie ihn auch noch nicht recht
begriffen, denn begreifen heißt nicht, den Gegenſtand bloß an und für ſich er-
faſſen, ſondern auch in ſeinem Zuſammenhange mit andern.
482).
nen ſolle, zeugt von einer zu großen Unkenntniß der praktiſchen Lebensgeſetze
nicht bloß der juriſtiſchen, ſondern einer jeden Wiſſenſchaft, als daß ich ein
Wort dagegen verlieren möchte. Ob man für die lateiniſchen Ausdrücke:
culpa, dolus u. ſ. w. deutſche wählt, nützt dem Bürger und Bauer für das
Verſtändniß des Rechts nicht das mindeſte, es handelt ſich nicht um das Ver-
ſtändniß von Ausdrücken, ſondern von Begriffen, und ſo wenig der Bauer
eine algebraiſche Formel darum verſteht, weil ſie mit gewöhnlichen Buchſta-
ben, Zahlen u. ſ. w. geſchrieben iſt, ebenſowenig verſteht er unſere juriſtiſchen
Formeln, wenn wir ſtatt culpa Schuld, dolus Betrug u. ſ. w. ſagen. Daß
aber die Ausdrücke einer todten Sprache für die Terminologie vortheilhafter
ſind, als die einer lebendigen, bedarf ſchwerlich eines Nachweiſes. Der Sinn,
in dem die Wiſſenſchaft die Worte der Mutterſprache gebraucht, wird und
muß nothwendigerweiſe ein anderer ſein, als in dem das Leben ſie nimmt,
ſchon darum weil die Bedeutung des Ausdrucks im Leben ſich nicht ſelten än-
dert, während die Wiſſenſchaft bei der bisherigen verbleiben muß, und umge-
kehrt, weil das Leben ſich durch die ſcharfe Begriffsbeſtimmung der Wiſſen-
ſchaft ſeinerſeits nicht abhalten läßt, den Ausdruck in ſeinem Sinn zu neh-
men. Die Sprache der Wiſſenſchaft und des Lebens ſind zwei verſchiedene
Sprachen.
483).
Ich habe die Stelle erſt nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ge-
funden, ſonſt würde ich ſie dort bereits benutzt haben. Es iſt Cic. de off. III
17: Aliter leges, aliter philosophi tollunt astutias; leges, quatenus
manu tenere possunt, philosophi, quatenus ratione et intelligentia.
484).
Infantiae und pubertati proximi und venia aetatis. Intereſſant
iſt in Bezug auf den obigen Geſichtspunkt namentlich die Geſchichte der Be-
484).
ſtimmung der Pubertät. Die Sabinianer vertheidigten in dieſer Beziehung
die abſtract richtige, aber praktiſch unbrauchbare einer individuellen Beſtim-
mung der Reife, die Proculejaner die praktiſchere Anſicht des Eintritts der
Pubertät mit einem beſtimmten Alter (Gaj. I, 109), und letztere Anſicht iſt
von Juſtinian mit Recht gebilligt.
485).
Gaj. II, 196.
486).
Ich will einige wenigſtens andeuten. 1. Beweis der Teſtaments-
errichtung erforderte Beweis der familiae mancipatio und nuncupatio; Er-
leichterung: Production eines Teſtaments mit 7 Siegeln, Bon. poss. sec.
tabulas Gaj. II,
119. 2. Beweis der erbſchaftlichen Gläubiger gegen den Er-
ben: Antretung der Erbſchaft; Erleichterung: pro herede gestio. 3. Die
Publiciana actio als Erleichterung des Eigenthumsbeweiſes; 4. Beweis des
mündlichen Abſchluſſes der Stipulation; Erleichterung: Production der un-
terſchriebenen Stipulationsurkunde.
487).
Als Beiſpiel für die Betheiligung des Verkehrs an dieſer Aufgabe
diene namentlich der Gebrauch der Conventionalpön im römiſchen Leben.
S. darüber S. 113.
488).
Andere Beiſpiele: eine erzwungene Tradition und Raub; Stellver-
treter und Bote; Servitut und eine auf Errichtung einer ſolchen oder auf
eine bloß perſönliche Erlaubniß gerichtete Obligation; Vermächtniß oder Ver-
kauf zukünftiger Früchte und ususfructus oder Pacht; donatio sub modo
und zweiſeitiger Contract; Prädialſervitut und ſ. g. irreguläre Perſonalſervi-
tut; Trödelcontract, Dienſtmiethe, Mandat mit Honorar, Societät, bedingter
Kaufcontract (wenn Jemand das Verkaufen einer fremden Sache übernimmt);
Verpfändung der actio emti und Verpfändung der res emta; Delegation,
Aſſignation, Ceſſion; Pfandrecht, ususfructus an einer Maſſe einzelner
Gegenſtände als universitas oder als Summe von Einzelnheiten; Verpflich-
tung als Correalſchuldner und als Bürge, und letzteres in Form der fidejus-
sio,
des mandat. qualif. und constitutum.
489).
So iſt auch die Mehrheit der Mittel und Formen, mit und in denen
ſich ein und derſelbe rechtliche Zweck befriedigen läßt, keineswegs immer aus
einem Bedürfniß des Verkehrs hervorgegangen, ſondern häufig nur die un-
beabſichtigte Folge einer conſequenten Ausbildung der vorhandenen Begriffe.
Man nehme das Beiſpiel der vorigen Note in Betreff des Verkaufens einer
fremden Sache. Die kleinſte Verſchiebung begründet hier eine Verſchiedenheit
des ganzen Verhältniſſes. Vom Standpunkt des Verkehrs oder der Legis-
489).
lation aus wäre eine ſolche Genauigkeit keineswegs erforderlich, allein ſelbſt
wenn ſie ſtatt etwas Wünſchenswerthes etwas Nachtheiliges wäre — die Ju-
risprudenz kann ſich dem einmal nicht entziehen, es iſt die Logik des Verhält-
niſſes, die ſie weiter treibt.
490).
z. B. das Zeichnen der Waare L. 1 §. 2 L. 14 §. 1 de peric.
(18. 6), Ueberlieferung der Urkunden L. 1 Cod. de donat. (8. 54), Geben
einer arrha u. ſ. w.
491).
Eine der ausgebildetſten derartigen Theorien ſcheint in der römi-
ſchen Jurisprudenz für die Novation gegolten zu haben. S. Juſtinians Be-
richt darüber in L. ult. Cod. de novat. (8. 42).
492).
L. 8 de jure dot. (23. 3).
493).
z. B. bei den Novationen L. ult. Cod. de novat. (8. 42), bei der
Frage, ob die von den Partheien verabredete ſchriftliche Abfaſſung des Con-
tracts der Perfection deſſelben oder dem Beweis gelten ſoll L. 17 Cod. de fide
instrum.
(4. 21), bei der Frage, ob beim Abſchluß eines Contracts das in
Bezug genommene arbitrium tertii als arbitrium boni viri oder als perſön-
liches gemeint ſei. L. ult. Cod. de cont. emt. (4. 38) u. a.
494).
Wie wichtig iſt die Frage z. B. bei der Stellvertretung; iſt hier im
Zweifel für den Boten oder für den Stellvertreter zu präſumiren? u. ſ. w.
495).
Nicht zu verwechſeln mit dem Einfluß, den irgend ein beſonderes
Verhältniß, Intereſſe u. ſ. w. auf die Hervorbringung eines allgemeinen
Rechtsſatzes ausüben kann. Als hiſtoriſches Motiv der Einführung der Codi-
495).
cille wird uns die Abweſenheit genannt (pr. I. de codicill. 3. 25 .. pro-
pter magnas et longas peregrinationes
). Allein das Inſtitut ward nicht auf
dieſe Vorausſetzung beſchränkt, es galt allgemein für Anweſende und Abweſende.
496).
Bei der ſpäteren Form der römiſchen Rechtsbildung durch kaiſerliche
Reſcripte war die Gefahr einer ungehörigen Generaliſirung d. h. einer Aus-
dehnung rein individueller, lediglich für den concreten Fall beſtimmter Ent-
ſcheidungen (constitutiones personales) allerdings ungleich größer, aber nicht
die Jurisprudenz verſchuldete ſie, ſondern die Willkühr, mit der die Kaiſer das
Recht als Gnadenſache behandelten. In dem Verbot einer analogen Benutzung
ihrer Reſcripte ſprachen ſie ſich ſelbſt das Urtheil.
497).
L. 44 i. f. de solut. (46. 3) .. damnatus, ut venderet.
498).
Der Gegenſatz der Beurtheilung eines Rechtsverhältniſſes nach Weiſe
des Juriſten und Laien iſt ſchon von Tryphonin in der L. 31 §. 1 Depos.
(16. 3)
ausgeſprochen. Er unterſcheidet hier 1. si per se dantem acci-
pientemque intuemur
(wenn wir die verſchiedenen Verhältniſſe zwiſchen den
zwei Gebern und Empfängern unterſcheiden), haec est bona fides etc., 2. si
totius rei aequitatem, quae ex omnibus personis, quae negotio isto
continguntur
(wenn wir das Geſammtverhältniß und das ſchließliche End-
reſultat ins Auge faſſen).
499).
Stahl in der als Anhang zum zweiten Bande ſeiner Rechtsphilo-
ſophie aufgenommenen Abh. über den Werth des röm. Privatrechts (Aufl. 2
S. 400) und Röder, Grundgedanken u. Bedeutung des röm. u. germ.
Rechts, Leipz. 1855.
500).
z. B. beim Pfandrecht das dingliche ins Sachenrecht, das obliga-
toriſche, der contractus pigneratitius ins Obligationenrecht. So muß man
die einzelnen Elemente der Vormundſchaft aus den verſchiedenſten Theilen des
Syſtems zuſammenſuchen: die Handlungsfähigkeit der bevormundeten Perſo-
nen und den Begriff und die Arten der Stellvertretung im allgemeinen Theil,
501).
Als praktiſche Moral, die ich mir erlauben möchte aus jenem Irr-
thum zu ziehen, ſtehe hier die Bemerkung, die ich namentlich allen Rechtsphilo-
ſophen, welche keine Juriſten ſind, dedicirt haben will: daß ſelbſt eine rein
ethiſche Würdigung eines beſtimmten Rechts nicht möglich iſt ohne Kennt-
niß der Technik.
500).
das Pfandrecht am Vermögen des Vormundes im Pfandrecht, die reiv. util.
gegen ihn beim Eigenthum, das obligatoriſche Verhältniß im Obligationen-
recht oder Familienrecht.
502).
Daſſelbe gilt, wenn der Geſetzgeber uns ausnahmsweiſe die Abſtrac-
tion eines Princips da, wo ſie an ſich möglich wäre, ausdrücklich verboten
hat, wie dies z. B. Juſtinian bei den Enterbungsgründen der Nov. 115
gethan hat.
503).
L. 34 pr. Mand. (17. 1) .. nummi, qui mei erant, tui fiunt.
504).
L. 15 de R. Cr. (12. 1) Singularia quaedam recepta sunt etc.
505).
Ich gebe im Folgenden nur einen Auszug einer größeren Abhand-
lung, zu deren Ausarbeitung der gegenwärtige Paragraph mich veranlaßt
hatte. Der Stoff war mir während der langen Zeit, die ich bei dieſem Punkt
habe verweilen müſſen, ſo angewachſen, daß ich ihn in dieſer Form unmöglich
in mein Buch aufnehmen konnte. Ich habe darum nicht bloß manches ganz
weglaſſen müſſen, ſondern auch hie und da das mitgetheilte nicht in der Ver-
bindung laſſen können, in der es ſich urſprünglich befand, wodurch der Zuſam-
menhang vielleicht etwas gelitten hat. Im übrigen habe ich den Geſichts-
punkt, daß ich auch für Laien ſchreibe, auch hier feſtgehalten und habe daher
in den Hauptpunkten eine gewiſſe Ausführlichkeit nicht vermeiden zu ſollen
geglaubt.
506).
Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß der Unterſchied von Rechts-
ſatz, Rechtsregel und Rechtsprincip etwas durchaus Relatives iſt.
507).
Ich gebe gleich hier einiges Quellenmaterial, das der Leſer für
die folgende Darſtellung benutzen kann. Der Rechtskörper hat in der Sprache
der römiſchen Juriſten ſeine beſtimmte Natur: natura z. B. die Servitut
L. 32 §. 1 de S. P. U. (8. 2), die habitatio L. 3 Cod. de usufr. (3. 33),
die Emphyteuſe §. 3 I. de loc. (3. 25), die Obligation L. 2 §. 1 de V. O.
(45. 1),
die Correalobligation L. 5 i. f. de fidej. (46. 1), das Depoſitum
508).
Alſo z. B. iſt die ſ. g. Genoſſenſchaft ein eigenthümlicher juriſtiſcher
Begriff oder eine (wenn auch modificirte) Societät oder juriſtiſche Perſon?
Als Beiſpiel aus dem römiſchen Recht diene die Zurückführung der traditio
brevi manu,
des constitutum possessorium, des Erwerbs der Früchte von
Seiten des Pächters, des jactus missilium auf die Tradition.
507).
L. 24 Dep. (16. 3), die Frucht L. 69 de usufr. (7. 1); auch wohl causa
L. 24 §. 21 de fid. lib. (40. 5)
. Er hat eine beſtimmte Macht und Kraft:
potestas z. B. die Klage L. 47 §. 1 de neg. gest. (3. 5), L. 11 §. 1 de
act. emt. (19. 1),
die Obligation L. 13 de duob. reis (45. 2), oder ef-
fectus
L. 47 §. 1 cit.,
einen status L. 9 §. 1 de duob. reis (45. 2).
Dieſe Natur und Kraft iſt ein praktiſcher Begriff, es werden daraus z. B.
in den obigen Stellen folgende Folgerungen abgeleitet: daß die Servitut nicht
beſeſſen, gewiſſe Obligationen nicht getheilt werden können, daß gewiſſe Ver-
abredungen als gegen das Weſen des Vertrags (des Depoſitums, der Correal-
obligation) verſtoßend ungültig ſind, daß das Eigenthum erliſcht u. ſ. w.
509).
L. 202 de R. J. (50. 17).
510).
In unſerm juriſtiſchen Unterricht könnte und müßte es in viel höhe-
rem Grade berückſichtigt werden, als es gewöhnlich geſchieht, namentlich rück-
ſichtlich ſo mancher römiſchen Einrichtungen, die unſerm heutigen Verſtändniß
ferner liegen. Die römiſchen Juriſten heben das Zweckmoment nur ſelten her-
vor (als Beiſpiel diene die Uſucapio, Savigny Syſtem Bd. 5 S. 268 Note e),
weil es Demjenigen, der im Leben ſelbſt ſteht, ganz geläufig iſt. Von den
neuern Juriſten hat namentlich Savigny in ſeinem Syſtem ihm die gebüh-
rende Beachtung zu Theil werden laſſen.
511).
Als bekanntes Beiſpiel einer ſolchen teleologiſchen Definition
nenne ich die Einertſche Definition des Wechſels als kaufmänniſchen Papier-
geldes; ſie charakteriſirt bloß die hauptſächlichſte praktiſche Verwendung des
Wechſels, nicht ſeine juriſtiſche Natur. Ontologiſch definirt iſt der Wech-
ſel ein von ſeiner causa abgelöſtes Geldverſprechen, oder, um mit Thöl zu
reden, ein Summenverſprechen.
512).
Jene Momente bedürfen natürlich ihrerſeits ſelbſt wieder einer De-
finition, man denke z. B. an die juriſtiſche Perſon, die universitas rerum.
Als Beiſpiele der Verſchiedenheit der Wirkung nenne ich die conditio und den
dies, den einſeitigen und zweiſeitigen Contract.
513).
Auch bei der hered. jac. fungirt ſie in dieſer Weiſe, auch hier näm-
lich iſt das Subject noch unbeſtimmt, auch hier alſo iſt ſie nur ein Mittelglied
zwiſchen der phyſiſchen Perſon und dem Vermögen.
514).
Damit iſt zugleich ausgeſprochen, daß ſie weniger Sache des Flei-
ßes und der Gelehrſamkeit, als des Talents und der Intuition iſt. Nirgends
verwerthet ſich die Arbeit ſo gut und ſo ſchlecht je nach dem Erfolg, den ſie
hat, als hier. Eine gelungene Conſtruction iſt in meinen Augen eine juri-
ſtiſche That, eine Leiſtung von bleibendem Werth, eine mißlungene iſt abſo-
lut werthlos, die Arbeit völlig verloren. Niemand, der ſich an eine ſolche
Aufgabe wagt, ſollte ſich verhehlen, daß er Lotterie ſpielt; auf Einen Treffer
fallen hier, wie die Erfahrung lehrt, hundert Nieten. Die Schwierigkeit und
das Verdienſtliche derartiger Leiſtungen wird im allgemeinen viel zu wenig
anerkannt. Es beruht dies vielleicht darauf, daß, während der eigentlich
gelehrten Arbeit ſtets der Schweiß anklebt, man einer derartigen Leiſtung von
all der Mühe und Anſtrengung, die ihr vorhergegangen, nichts anſieht und
daher nur zu leicht geneigt iſt in dem, was die Frucht langjährigen Suchens
war, das müheloſe Geſchenk einer glücklichen Stunde zu erblicken. Ein ein-
ziges Wort kann hier oft die Löſung geben, und wenn das Wort ausgeſpro-
chen, erſcheint die Sache ſo natürlich und einfach, daß Jeder es hätte finden
können. Man wird unwillkührlich an die Löſung eines Räthſels erinnert, das
bekanntlich ebenfalls ganz anders ausſieht, je nachdem man die Löſung kennt
oder erſt ſucht. Daß unſere civiliſtiſchen Räthſel nicht ſo leicht zu rathen ſind,
kann man ſchon daraus entnehmen, daß unſere heutige Jurisprudenz, na-
mentlich die germaniſtiſche, ſich noch mit einer großen Zahl trägt, für die der
Oedip noch erſt erwartet wird!
515).
Ein bekanntes Beiſpiel einer geſetzlichen Conſtruction aus der frü-
hern Zeit des römiſchen Rechts liefert die fictio legis Corneliae, aus der
ſpätern Zeit die Beſtimmung Zenos über die ſelbſtändige Natur des emphy-
teuticariſchen Contracts. Im allgemeinen aber kann man der römiſchen Legis-
lation bis auf Juſtinian den Vorwurf eines ſolchen Uebergreifens in das
Gebiet der Wiſſenſchaft nicht machen. Dagegen verfolgte Juſtinians ganzes
Unternehmen bekanntlich den gerade entgegengeſetzten Zweck, ſeine Inſtitutio-
nen und Pandekten ſind Compendien und Geſetzbücher zugleich, und dieſe
Vermiſchung der Wiſſenſchaft und der Geſetzgebung hat nicht bloß für die
moderne Bearbeitung des römiſchen Rechts in reichem Maße die im Text an-
gedeuteten nachtheiligen Folgen nach ſich gezogen, indem die Wiſſenſchaft bei
rein wiſſenſchaftlichen Fragen ſich durch die Autorität Juſtinians hat
einſchüchtern laſſen, ſondern das Beiſpiel des Schulmeiſters auf dem Thron
oder Geſetzgebers auf dem Katheder, das Juſtinian gegeben, hat auch in
neuern Geſetzgebungen nur zu willige Nachfolge gefunden. Die Wiſſenſchaft
ſoll dem Kaiſer laſſen, was des Kaiſers iſt, aber letzterer auch der Wiſſen-
ſchaft, was der Wiſſenſchaft iſt.
516).
So behandeln die römiſchen Juriſten z. B. beim Eigenthum die
Frage von der Fortdauer deſſelben an einer ins Meer gefallenen Sache, an
einem entflogenen Vogel, entronnenem Wilde, ſo unterſuchen ſie das Eigen-
thumsverhältniß an den erbſchaftlichen Sachen vor Antretung der Erbſchaft,
an den unter einer Bedingung legirten Sachen während der Pendenz derſelben
u. ſ. w. So ſtellen ſie an ſich die Anforderung, da, wo ein Rechtsverhältniß
in irgend einem Zeitraum entſtanden, den Zeitpunkt der Entſtehung anzu-
geben und läugnen daher z. B. auch ganz conſequent die Möglichkeit der Ent-
ſtehung überhaupt, wo kein ſolcher einzelner Entſtehungsmoment denkbar war,
L. 9 §. 3 qui post. (20. 4).
517).
Die Zahlung des Bürgen hat die Bedeutung eines Kaufs der For-
derung, ſiehe darüber die L. 76 de solut. (46. 3).
518).
z. B. die traditio in incertam personam. Die ältere Jurisprudenz
konnte ſich den jactus missilium nur als Dereliction von der einen und Occu-
pation von der andern Seite conſtruiren.
519).
Worauf dies Dogma beruht, daß es nämlich nicht bloß in poſitiven
Rechtsſätzen und juriſtiſchen Grundanſchauungen, ſondern auch in allgemein
logiſchen Axiomen beſteht (Beiſpiele der letzteren folgen bei der Theorie des
ſubjectiven Willens), führe ich hier nicht weiter aus.
520).
So z. B. definirten die römiſchen Juriſten urſprünglich das pignus
als Vertrag, und ſie konnten dieſe Definition bei den erſten Fällen des
ſ. g. geſetzlichen Pfandrechts noch mit Anſtand aufrecht halten (quasi tacite
convenerit; pignus tacitum
). Allein als auch eine teſtamentariſche Be-
ſtellung eines Pfandrechts aufkam, ward dies unmöglich, und für das juſti-
nianeiſche Recht mit ſeinen vielen geſetzlichen Pfändern wäre die Zurückführung
deſſelben auf den Geſichtspunkt eines ſtillſchweigenden oder fingirten Vertra-
ges geradezu eine Abſurdität.
521).
Ich erinnere z. B. an den jactus missilium in der Note 518. Das
alte Dogma lautete: kein Rechtsgeſchäft kann in personam incertam gerich-
tet werden. Wollte man daſſelbe aufrecht erhalten, ſo blieb nichts übrig, als
den jactus missilium in Dereliction und Occupation zu zerlegen. Aber die
vermittelnde Conſtruction war eine gekünſtelte, denn ſie that dem Willen des
Jacenten, der eben nicht auf Dereliction, ſondern auf Uebertragung gerichtet
522).
Man nehme z. B. die erbrechtlichen Sätze: nemo pro parte testa-
tus etc., semel heres, semper heres
und ſo manche andere, die bereits zur
Zeit der klaſſiſchen Juriſten mehr figurirten, als galten.
523).
Den römiſchen Juriſten ſchwebte dieſelbe Vorſtellung vor, ſie kann-
ten ein juriſtiſches Schönheitsgefühl und erkannten es als berechtigt an, man
denke z. B. an den Vorwurf einer inelegantia juris (bei Gajus I §. 84. 85)
und an das angebliche Geſetz der Symmetrie (L. 35 de R. J. 50. 17).
521).
war, Zwang an. Die ſpätere Jurisprudenz gab hier nur der Wahrheit die
Ehre, indem ſie eine traditio in incertam personam annahm, und damit
änderte ſie in der That das obige Dogma; was bis dahin als juriſtiſch un-
möglich galt, ward jetzt als möglich angenommen. Wie neuere Juriſten den
Gegenſatz beider Conſtructionen (bei der einen liegen zwei einſeitige, bei der
andern Ein zweiſeitiger Akt vor) überſehen und beide für vereinbar halten
konnten (als ob eine Tradition aus Dereliction und Occupation beſtände!),
iſt mir wahrhaft unbegreiflich.
524).
Solche der Anſchauung der natürlichen Welt entnommene, von den
römiſchen Juriſten für die juriſtiſche Conſtruction adoptirte Sätze ſind z. B.:
was einmal untergegangen, kann ſeine alte Exiſtenz nicht wieder erlangen;
Geſchehenes läßt ſich nicht ändern (z. B. L. 2 de resc. vendit 18. 5); An-
fang und Ende, Urſache und Wirkung verſtatten kein vacuum in der Mitte
(darauf beruht die logiſche Nothwendigkeit der rückwirkenden Kraft der Be-
dingung; ſ. das weitere bei der Theorie der Rechtsgeſchäfte). Dahin gehört
der Gedanke vom Gleichgewicht der Kräfte, mit dem z. B. Venulejus L. 13
de duob. reis
(45. 2) operirt: cum vero ejusdem potestatis sint, non pot-
est reperiri, qua re altera potius quam altera consumatur.
525).
z. B. in der freilich nicht ganz richtigen Abſtraction der Gleichheit
der Entſtehungs- und Endigungsarten L. 38 de R. J. (50. 17): nihil tam
naturale est, quam eo genere quidquid dissolvere, quo colligatum est.
526).
S. Bd. 1 S. 27, 28.
527).
Man vergleiche z. B. die Stellen in der Note 507, wo die römi-
ſchen Juriſten in dieſer Weiſe mit der „natura,“ „potestas“ u. ſ. w. des
Körpers operiren.
528).
S. auch Bd. 1 S. 27, 28.
529).
Man kann Gajus Worte von der Specification hier anwenden: non
novam speciem facit, sed eam, quae est, detegit.
530).
Darum bezeichneten die ſpätern römiſchen Juriſten ihre Vorgänger
aus der Zeit der Republik ganz zutreffend als veteres, qui tunc jura con-
diderunt
.
531).
Wie Puchta Curſus der Inſtit. Bd. 1 §. 76 es will. Das Wiſſen
der ältern Juriſten hätte ſich, meint er, von dem eines jeden Andern nicht qua-
litativ, ſondern bloß quantitativ unterſchieden, Juriſten im eigentlichen Sinn
könne man ſie nicht nennen.
532).
L. 2 §. 35 de orig. jur. (1. 2). Liv. IX, 46. Cicero pro Murena
c. 11. Val. Max. II, 5 §. 2.
533).
Puchta Curſus der Inſt. Bd. 1 §. 17.
534).
L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2).
535).
Die betreffende Formel bei Valerius Probus §. 4 lautet nach der
ohne Zweifel allein richtigen Lesart, die der neueſte Herausgeber, Th. Momm-
ſen, in den Text aufgenommen, ſo: te, Praetor, judicem arbitrumve po-
stulo uti des. Praetor
hieß bekanntlich früher auch der Conſul.
536).
Von den fünf legis actiones war die per pignoris capionem eine
außergerichtliche, die per manus injectionem und per judicis postulatio-
nem
gehörte ausſchließlich vor den Magiſtrat, die durch sacramentum aus-
ſchließlich vor die pontifices; von der per condictionem wird unten die
Rede ſein.
537).
L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2).
538).
S. die Darſtellung bei Pomponius L. 2 §. 5, 6 cit., in der das
jus civile oder das alte Juriſten-Recht ſich unmittelbar an die XII Tafeln
anſchließt.
539).
Wie feſt und treu die römiſche juriſtiſche Tradition war, dafür gibt
die Notiz bei Pomponius L. 2 §. 38 de orig. jur. (1. 2) über den erſten ple-
bejiſchen Pontifex Maximus Tib. Coruncanius, daß man von demſelben zwar
539).
keine Schriften, aber eine Reihe wichtiger Reſponſen kenne, einen eclatanten
Beleg. Beide Juriſten trennte ein Zeitraum von vier Jahrhunderten!
540).
Die legis actiones werden von ſpätern Schriftſtellern auf die Bü-
cher der Pontifices zurückgeführt, ſo von Cicero de orat. I, 43 (Leiſt Ver-
ſuch einer Geſchichte der römiſchen Rechtsſyſteme S. 15) und Valerius Pro-
bus de notis antiquis.
Der letztere Schriftſteller identificirt geradezu die
monumenta pontificum (§. 1) mit den legis actiones (§. 4). S. darüber
Th. Mommſen in ſeiner Ausgabe dieſes Schriftſtellers in den Berichten der
Sächſ. Geſellſchaft der Wiſſ., philoſ.-hiſtor. Claſſe 1853, S. 131 (beſonde-
rer Abdruck, Leipzig bei Hirzel).
541).
Verba certa, solemnia, legitima. S. die Belegſtellen bei Brisso-
nius de voc. ac formul. lib. I, c.
181, 191 und anderwärts z. B. Festus
sub fanum: .. certa verba. Cicero pro domo c. 47 .. solennibus verbis.
542).
z. B. die Formel sive deus sive dea es und seu quo alio nomine
appellari volueris. Brissonius
a. a. O. c. 89.
543).
Ambroſch, die Religionsbücher der Römer S. 29, 30. Daher das
Vorſprechen der von einem weltlichen Beamten anzuwendenden Formel (z. B.
beim öffentlichen votum, bei der devotio, dedicatio u. ſ. w.) durch den Pon-
tif. Maximus. Brissonius c. 181, c.
192 und anderwärts, die Zuziehung
eines custos. Plinius Hist. nat. XXVIII, 3.
544).
Die claſſiſche Stelle darüber iſt Plinius Histor. nat. XXVIII, 3—5.
545).
z. B. die Erſetzung der Menſchenopfer durch geflochtene Binſenmän-
ner. Hartung, römiſche Religion Bd. 2 S. 103 fl. Es galt ja, wie Serv.
Aen. II,
116 ſagt, als Grundſatz, daß bei den Opfern der Schein für die
Wirklichkeit genommen werde, und man daher, wenn man ſich die nöthigen
Thiere nicht verſchaffen könne, ſie von Wachs oder Brod nachforme. Hartung
Bd. 1 S. 160. Wir haben dieſen Punkt bereits Bd. 1 S. 324 fl. berührt,
ſ. namentlich die Beiſpiele auf S. 326.
546).
S. Ambroſch in dem oben angeführten Werk, dem ich auch die im
Texte folgende Notiz über die Claſſification der Götter nach der Kategorie
von res und persona entnommen habe.
547).
Dadurch rechtfertigt ſich alſo wenigſtens zum Theil die Vermuthung
von Hugo (Civil. Magaz. Bd. 6 S. 284), die Eintheilung in res, personae
und actiones ſei urſprünglich nicht für das Recht erfunden, ſondern nur auf
daſſelbe übertragen, und die Bedenken, die dagegen von Andern (z. B. Savi-
gny, Syſtem Bd. 1 S. 396) ausgeſprochen ſind, möchten ſich hiermit erledigen.
548).
Toties ante ludi magni de pecunia certa voti erant, ii primi
de incerta.
549).
Liv. XXVII, 25: .. cum aedem Honori et Virtuti vovisset,
dedicatio ejus a pontificibus impediebatur, quod negabant unam cellam
duobus recte dedicari, quia si de coelo tacta aut prodigii in ea ali-
quid factum esset, difficilis procuratio foret, quod, utri Deo res divina
fieret, sciri non posset; neque enim duobus nisi certis Deis rite una
hostia fieri.
550).
Es gab unbedingte und bedingte Vota. Man vergleiche rückſichtlich
der letzteren die Menge von Beiſpielen, die Brissonius a. a. O. c. 159—162
zuſammengeſtellt hat, si bellatum prospere esset, si rediero u. ſ. w.
551).
Ein Verhältniß des weltlichen Rechts, bei dem daſſelbe ebenfalls
von Alters her der Fall war, ſ. oben S. 176 Note 235.
552).
L. 28 §. 4 de stip. serv. (45. 3): .. heredis familia ex mortis
tempore funesta facta intelligitur.
Die Idee der rückwirkenden Kraft der
Antretung der Erbſchaft für das Civilrecht wird in dieſer Stelle geradezu auf
dies Argument geſtützt und es kann kaum zweifelhaft ſein, daß das geiſtliche
Recht dieſe Idee hier früher hatte und haben mußte, als das Civilrecht.
553).
Brissonius a. a. O. c. 88. Liv. VI, 16: .. Jupiter … ceteri-
que dii deaeque,
und die dort abgedruckte Stelle von Servius: .. more
Pontificum, per quos ritu veteri in omnibus sacris post speciales Deos,
quos ad ipsum sacrum quod fiebat necesse erat invocari generaliter
omnia numina invocabantur.
554).
Gellius I, 12: veluti bello capta. Damit vergleiche man Gaj. IV, 16.
555).
Gell. a. a. O.: excusandam (filiam, nämlich gegenüber dem ca-
pere
zur virgo vest.) ejus, qui liberos tres haberet.
556).
Eine ähnliche Idee ſcheint auch dem Pomponius vorgeſchwebt zu
haben, wenn er von den legis actiones in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2)
ſagt: quas actiones ne populus prout vellet institueret, certas solennes-
que esse voluerunt.
557).
L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2).
558).
S. z. B. Liv. XXX, 1 (a. U. 549): .. juris pontificii peritissimus.
559).
Auf dieſe Weiſe würde ſich der Zweifel von Gajus IV, §. 20: quare
autem haec actio desiderata sit, cum de eo, quod nobis dari oportet,
potuerimus sacramento [aut per judicis postulationem] agere, valde
quaeritur.
560).
Liv. X, c. 6—9.
561).
Selbſt nicht zum Conſulat. Liv. XXIII, 21 i. f., rückſichtlich des
Pont. Max. ſ. Liv. epit. 59.
562).
L. 2 §. 37 de orig. jur. (1. 2). Pomponius hat hier nur irriger-
weiſe den Scipio Naſica vor Coruncanius geſetzt. Zimmern, Rechtsgeſch.
Bd. 1 §. 14.
563).
S. den Ausſpruch des Q. Mucius in L. 2 §. 43 de orig. jur.
(1. 2) turpe esse patricio et nobili et causas oranti jus in quo versare-
tur, ignorare.
564).
Cic. de orat. I, 60 senectutem a solitudine vindicari juris
civilis scientia.
565).
pro Murena c. 11: notas composuerunt, ut omnibus in rebus
ipsi interessent,
womit er auf die Formeln zielt. Das Beiſpiel, das er
folgen läßt, iſt zwar dem Prozeß entlehnt, allein der Vorwurf ſelbſt ein all-
gemeiner.
566).
So wenigſtens zu Cicero’s Zeit. Ob es früher anders geweſen,
und aus welcher Zeit die Trennung zwiſchen Juriſten und Redner herrührt,
läßt ſich nicht beſtimmen. Von dem Juriſten als ſolchem wird auch in älterer
Zeit immer nur das respondere, nie das causas orare erwähnt, und von
erſterem trägt er auch ſeinen Namen: jure consultus. Von Tubero
heißt es in L. 2 §. 46 de orig. jur. (1. 2): transiit a causis agendis
ad jus civile.
Aehnlich von Servius §. 43 ibid. Schon im ſechſten Jahr-
hundert der Stadt verbot ein Geſetz, die lex Cincia, ſich pro causa oranda
bezahlen oder beſchenken zu laſſen. Schon damals alſo ſcheint es ein Er-
werbszweig geweſen zu ſein, und iſt es übrigens auch trotz der lex Cincia
geblieben. Tac. Ann. XI, 5 — 7.
567).
Cic. Top. 17: nam et adsunt multum et adhibentur in consilio
et patronis diligentibus ad eorum prudentiam confugientibus hastas
ministrant. L. 2 §. 47 de orig. jur. (1. 2) .. judicibus scribebant aut
testabantur qui illos consulebant.
568).
Dies gibt auch Cicero von ſich zu, ungeachtet er doch einen Cur-
ſus in der Jurisprudenz bei Quintus Mucius durchgemacht hatte, pro Mu-
569).
pro Murena c. 13. Sic nonnullos videmus, qui oratores eva-
dere non potuerunt, eos ad juris studium devenire.
570).
Tac. Ann. XI, 7: eloquentiam gratuito non contingere.
571).
In recht anſchaulicher Weiſe tritt dieſer Gegenſatz zwiſchen Ju-
riſten und Redner in der Anekdote hervor, die Cicero de orat. I. 56 mit-
568).
rena 13 und de orat. I, 58. Wie weit die Unkenntniß der Redner gereicht
haben mag, ſieht man aus Cic. de orat. I. 56 sq. quod vero impuden-
tiam
admiratus es eorum patronorum
u. ſ. w. Servius (cum in causis
orandis primum locum obtineret ..)
war ſo unkundig, daß er nicht einmal
ein Reſponſum des Quint. Mucius ſofort verſtand. L. 2 §. 43 de orig.
jur.
(1. 2).
572).
Auf Grund der militia urbana respondendi, scribendi, cavendi
bei Cic. pro Murena c. 9 hat man die geſammte praktiſche Thätigkeit in drei
abgeſonderte Zweige: respondere, scribere, cavere zerlegen wollen und Bach
Hist. Jurisp. II
2, §. 8—11 gibt ſich die erdenklichſte Mühe, dieſelben zu be-
ſtimmen und gegen einander abzugränzen. Allein ich glaube, man hat hier
Cicero zu viel Ehre angethan; ich wenigſtens kann in ſeiner angeblichen Claſ-
ſification nichts als eine höchſt äußerliche, wiſſenſchaftlich völlig werthloſe
Aufzählung einzelner juriſtiſcher Geſchäfte erblicken, und er ſelbſt war wohl
weit davon entfernt ein weiteres zu beanſpruchen, denn ſonſt hätte er doch in
ſeiner Schrift de oratore I, 48 das scribere nicht völlig weglaſſen und
dafür agere ſetzen können, was Puchta Curſ. der Inſtit. I, §. 76 veranlaßt,
noch von einem „vierten Beſtandtheil“ zu reden. Auf Grund einer andern
Stelle, nämlich de republ. V, 3. .. responsitando et lectitando et
scriptitando
hätte Puchta noch einen fünften Beſtandtheil annehmen können.
Der Verſuch von Bach hätte, wie ich meine, jeden Spätern von dem Glau-
ben an den Werth dieſer Eintheilung heilen ſollen. Enthält denn das scri-
bere
einen Gegenſatz zu cavere und ſelbſt zu respondere? Wer ein ſchrift-
liches
Gutachten ausſtellte, der nahm zugleich das scribere und respon-
dere
vor (L. 2 §. 47 de orig. jur. 1. 2), wer einen Contract aufſetzte,
das cavere und scribere u. ſ. w. Von einer ſolchen Eintheilung ſollte man
lieber ſchweigen, als reden, jedenfalls aber nicht zu viel Weſens von ihr
machen.
571).
theilt. Das Reſponſum, das der Juriſt ertheilt hatte, war verum magis,
quam ad rem suam (consulentis) accommodatum.
Der Redner weiß
aber Rath: alludens varie et copiose multas similitudines afferre
multaque pro aequitate contra jus dicere
u. ſ. w., kurz er accommodirt
ſeine Anſicht dem Bedürfniß und Wunſch des Anfragenden.
573).
Cic. de orat. III, 33.
574).
Ein Gegenſatz, den Cicero pro Murena 13 mit salubritas und
salus bezeichnet, indem er jene dem Juriſten, dieſe dem Redner zuweiſt.
575).
Der ex privatorum negotiis collecta gratia gedenkt Cicero de
orat. III, 33.
Wie ſehr der Juriſt auf Dank rechnete, darüber ſ. die Anekdote
bei Val. Max. IX, 3, 2.
576).
Hor. Sat. I, 10.
577).
Cic. de orat. I, 45 … in ejus infirmissima valetudine af-
fectaque jam aetate.
578).
de orat. I, 45 oraculum totius civitatis.
579).
L. 2 §. 37 de orig. jur. (1. 2).
580).
Cic. de orat. III, 33.
581).
Eine Blumenleſe daraus habe ich bei einer andern Gelegenheit
gegeben. S. Gerbers und meine Jahrbücher B. 1. S. 31 fl.
582).
Copia jurisconsulti. Daß es daran gefehlt hätte: raro acci-
piendum est L. 9 §. 3 de jur. ign. (22. 6).
583).
L. 1 §. 5 de extr. cogn. (50. 13).
584).
Gaj. III, 219. §. ult. Inst. ad leg. Aq. (4. 3).
585).
Ueber jenes ſ. die L. 22 de V. O. (45. 1), in welcher von der
Stipulation d. h. der aus dem ältern Recht ſtammenden obligatio stricti
juris
die Rede iſt, über dieſes ſ. die L. 9 §. 2 de cont. emt. (18. 1),
welche von dem dem neuern Recht angehörigen Kaufcontract handelt.
Marcellus ſtellt hier zwar noch rückſichtlich deſſelben im Geiſt des ältern
Rechts die Behauptung auf: emtionem esse, quia in corpus consen-
sum est,
allein Ulpian berichtigt ihn.
586).
Es ließe ſich hier auch die erſt durch das ädilitiſche Edict ein-
geführte (alſo dem ältern Recht unbekannte) Verpflichtung des Verkäufers für
die heimlichen Fehler und Mängel einzuſtehen, in Bezug nehmen. Nach älte-
rem Recht hat der Käufer nur im Fall des Nicht-habens (Eviction) einen
Regreß gegen den Verkäufer, nach dem Edict auch im Fall des Schlechter-
habens. — Auch die bekannte Controverſe der Sabinianer und Prokulejaner
über die Specification (Gaj. II, 79) dreht ſich um unſern Gegenſatz. Eine
materialiſtiſche Auffaſſung des Begriffs der Identität der Sache wird mit
den Sabinianern die Subſtanz als das Weſentliche der Sache betrachten
und daher den Einfluß der Specification auf das Eigenthum läugnen, eine
ſpiritualiſtiſchere Auffaſſung aber mit ihren Gegnern die Form und Beſtim-
mung der Sache für das Entſcheidende anſehn und darum mit einer Verände-
rung derſelben eine neue, dem Specificanten zufallende Sache annehmen.
587).
„plerique veterum“ in L. 3 §. 18 de poss. (41. 2).
588).
Papinian in L. 47 de poss. (41. 2). Ebenſo bei der Verwand-
lung des Depoſitums in ein Darlehn in L. 9 §. 9 de R. Cr. (12. 1) …
etiam antequam moveantur .... animo coepit possidere.
589).
L. 1 §. ult. L. 2 de poss. (41. 2).
590).
Ueber jenes ſ. die Anſicht von Labeo in L. 6 §. 1 L. 7 de poss.
(41. 2),
über das neuere L. 3 §. 7, 8 L. 25 §. 2 L. 46 ibid.
591).
Zu einer ähnlichen iſt gelangt Stintzing über das Weſen von bona
fides
und titulus. Heidelberg 1852.
592).
Das Aeußerſte, wozu es nach dieſer Seite hin kommen könnte,
wäre die völlige Beſeitigung des Einfluſſes der Beſitzunterbrechung d. h. die
Zuſammenrechnung der Zeit vor und nach der Beſitzesſtörung. Damit würde
der letzte materialiſtiſche Reſt der altrömiſchen Uſucapionslehre beſeitigt ſein.
Der erſte Anſatz dazu findet ſich ſchon im römiſchen Recht ſelbſt, nämlich in
der angegebenen Fortdauer der Uſucapion während der her. jac. Einen
weiteren Schritt hat das Preuß. Landrecht I 9 §. 601, 602 gemacht, indem
es die Zuſammenrechnung verſtattet, wenn inzwiſchen kein Anderer den Beſitz
gehabt hat, während das öſterreichiſche Recht es beim römiſchen gelaſſen.
Nur das franzöſiſche hat ſich hier, und wie ich glaube mit gutem Grunde und
nachahmenswerthem Beiſpiel, völlig von der traditionellen Behandlungs-
weiſe emancipirt, indem es dem Verluſt des Beſitzes, wenn er nicht über
Jahresfriſt gedauert, oder wenn während der Zeit auf Reſtitution des Be-
ſitzes geklagt iſt (die ſpätere Verurtheilung vorausgeſetzt), die Kraft der Unter-
brechung der Uſucapion abgeſprochen hat. K. S. Zachariä Handbuch des
franz. Civilrechts. Aufl. 5 von Anſchütz Bd. 1 S. 531.
593).
v. Wächter Erörterungen Hft 3 S. 101. Intereſſant iſt es, wie
Conſtantin in L. 10 Cod. de poss. (7. 32) dies rechtfertigt, nämlich damit,
daß der Beſitzer jetzt super jure possessionis vacillet et dubitet — auch
hier ſchimmert wieder die obige Tendenz nach der ſubjectiven Innerlichkeit
durch.
594).
S. im zweiten Abſchnitt den Paragraphen über die realiſtiſche
Natur des Willens.
595).
So z. B. bezeugt die mancipatio, daß die Römer die Periode
des Tauſchhandels ſchon früh zurückgelegt hatten, daß der Kauf urſprünglich
ein Baarkauf war und erſt ſpäter ein Handel auf Credit ward. Die älteſten
595).
beweglichen Tauſchmittel waren Vieh und Getraide (Bd. 1 S. 132 Anm. 50).
In der Werthſchätzung der Sachen ſtanden obenan Grundſtücke, Sklaven
und Zug- und Laſtvieh; dies ergibt ſich aus ihrer Auszeichnung gegenüber
allen andern Sachen (res mancipi — erſtes Kapitel der lex Aquilia — ädi-
litiſches Edict —). Von den Prädial-Servituten ſind Wege- und Waſſer-
gerechtigkeiten die älteſten, erſt ſpäter erkannte man auch den Werth und das
Bedürfniß der übrigen, die Urbanalſervituten ſind das Product der Zeiten des
Luxus, in denen die Begriffe über Bedürfniß (servitus fundo utilis)
Brauchbarkeit, Werth ſich weſentlich verfeinert hatten.
596).
L. 62 pr. de R. V. (6. 1). Den erſten Anſtoß zu jener Ausdeh-
nung mag die fructus licitatio beim interdictum uti possidetis gegeben
haben; hier machte ſie ſich gewiſſermaßen von ſelbſt.
597).
Wie lange die alte Anſchauungsweiſe, die bei der Schätzung nur
die Sache ſelbſt in ihrer Totalität ins Auge faßte, ſich erhielt, dafür gibt die
L. 3 § 1 uti poss. (43. 17) einen intereſſanten Beleg. Wie der Beſitz juri-
ſtiſch etwas anderes iſt als das Eigenthum, ſo hat er auch einen andern Äſti-
mationswerth. Nichts deſto weniger wollte noch Servius den Werth der
Sache als Werth des Beſitzes gelten laſſen: tanti possessionem aestiman[-]
dam, quanti ipsa res est,
wogegen denn Ulpian mit Recht bemerkt: sed
longe aliud est rei pretium, longe aliud possessionis.
S. auch Fr.
Mommſen Lehre vom Intereſſe S. 47 fl.
598).
Daß der Innehaber der patria potestas das Kind einem Andern
ins mancipium oder in die manus geben, und ebenſo der Ehemann als Inne-
haber der manus die Frau durch Remancipation in das Mancipium bringen
konnte, berührt meine obige Behauptung nicht, denn hier wird nicht das
bisherige Herrſchaftsverhältniß übertragen, ſondern ein neues, das bis-
herige nicht bloß beſchränkendes, ſondern aufhebendes und die Perſon in
ihrer Totalität ergreifendes Herrſchaftsverhältniß begründet. Auch hier wird
aber nicht ein Recht an der Perſon, ſondern die Perſon ſelbſt übertragen,
oder wenn wir für Perſon und Sache einen gemeinſamen Namen wählen, der
Gegenſtand. Der Einfall Walters, daß der Mann die manus als ſolche
auf einen Andern hätte übertragen können, verdient kaum eine Erwähnung,
geſchweige eine Widerlegung.
599).
Wie v. Scheurl in ſeiner dissert. de modis liberos in adoptio-
nem dandi Erlangae
1850 treffend nachgewieſen hat. Er vergleicht den Her-
gang mit Recht mit der Delegation, die bekanntlich nicht ſowohl eine Ueber-
tragung
der Obligation, als Untergang der alten und Errichtung einer
neuen iſt.
600).
Es läßt ſich hier die Stelle von Quintilian. Inst. O. V, 10
§. 111 sq.
benutzen, worin er die Frage unterſucht, ob Forderungen Gegen-
ſtand der occupatio bellica ſein können. Dabei heißt es in §. 116: non
potuisse donari a victore jus, quia id demum sit ejus, quod teneat;
jus, quod sit incorporale, apprehendi manu non posse … ut alia sit
conditio heredis, alia victoris, quia ad illum jus, ad hunc res transeat.
601).
Iust. de reb. corporal. et incorpor. (2. 2). Ulp. XIX §. 11
L. 14 pr. de serv. (8. 1) L. 1 §. 1 de R. D. (1. 8).
602).
Intereſſant iſt auch die Erſcheinung, auf die Windſcheid Die Actio
des römiſchen Civilrechts S. 6 aufmerkſam macht, daß der römiſche Sprach-
gebrauch „die Thatſache nennt ſtatt des Rechts auf dieſelbe“ z. B. pignus
603).
So auch das pignus in causa judicati captum. Die Bedeu-
tung des Fortſchrittes vom verus ususfructus zum quasi ususfructus nebſt
den entſprechenden Erſcheinungen des Obligationenrechts (depositum irre-
gulare, locatio irreg.
u. a.) kann ich erſt im dritten Syſtem klar machen.
604).
L. 2 quor. bon. (43. 2). Huſchke Ueber das Recht des Nexum
S. 156 u. fl. iſt der Anſicht, daß von dem Uebergang der bona auf den bo-
norum possessor, emptor
und sector urſprünglich die Forderungen und
Schulden ausgenommen geweſen, der Begriff der Maſſe (bona) ſich alſo an-
fänglich auf die körperlichen Sachen beſchränkt habe. Vom Standpunkt der
im Text entwickelten Idee aus hat dieſe Anſicht eine große innere Wahr-
602).
(das Pfand und Pfandrecht), superficies (das Haus und das Recht darauf),
iter, via (der Weg und die Weggerechtigkeit) u. a. m.
605).
Der Anſpruch des durch ein Delict Verletzten fiel urſprünglich nicht
unter den Geſichtspunkt der Obligation B. 1. S. 122 fl.
606).
§. 17 I. de act. (4. 6) .. rei persequendae causa comparatae
videntur veluti .... commodati, depositi, mandati, pro socio
u. ſ. w.
607).
z. B. damnatus vendere vel locare L. 44 de solut. (46. 3).
604).
ſcheinlichkeit. Im Juſtinianeiſchen Recht iſt ſelbſt die immissio in possessio-
nem
oder das pignus praetorium auf Forderungen ausgedehnt L. 1 Cod. de
praet. pign. (8. 22).
608).
Es genügt auf das bekannte Werk von Brissonius de vocibus ac
formulis
zu verweiſen.
609).
Die XII Tafeln enthielten gegen den Verſuch einer ſolchen An-
wendung der Zauberſprüche Strafbeſtimmungen Plin. Hist. Nat. XXVIII,
2, 4: qui fruges excantasset.
Ueber die dem Wort beigelegte myſtiſche
Kraft ſiehe die in Anm. 544 mitgetheilte Stelle.
610).
Gaj. IV § 30: nimia subtilitas veterum; Conſtantin in L. 1
Cod. de form. subl. (2. 58): Juris formulae aucupatione syllabarum in-
sidiantes,
namentlich aber Cicero z. B. pro Caecina c. 23: aucupia ver-
borum et literarnm tendiculas; de off. I c. 10, pro Murena c. 11—13,
de orat. I, 55: praeco actionum, cantor formularum, auceps syllaba-
rum.
Keiner nahm übrigens wohl einen für das Verſtändniß jenes Wort-
und Formelweſens ſo ungeeigneten Standpunkt ein, als Cicero. Denn ganz
abgeſehen von ſeiner unverkennbaren Tendenz, die Jurisprudenz im Intereſſe
der Redekunſt zu erniedrigen, einer Tendenz, die ihn eingeſtandenermaßen bei
einer Rede pro Murena zu ſeiner bekannten Diatribe gegen die Juriſten ver-
610).
leitete, ſo mußte einem Redner, wie ihm, dem man alles andere eher vorwer-
fen kann, als Aengſtlichkeit im Gebrauch ſeiner Worte, oder gar einem Lite-
raten, wie Mommſen ihn nennt, jenes peinliche und ſcrupulöſe Abwägen der
Worte von Seiten der Juriſten doppelt anſtößig ſein.
610a).
Das Beſte über dieſen Unterſchied findet ſich bei Kierulff
Theorie des Civilrechts S. 21 fl., allein auf den letzten Grund deſſelben iſt
auch er nicht eingegangen.
611).
L. 219 de V. S. (50. 16): In conventionibus contrahentium
voluntatem potius quam verba spectari placuit L. 11 §. 19 L. 18 de
leg. III (32)
(bei Fideicommiſſen) L. 3 §. 9 de adim. leg. (34. 4) …
sensum magis, quam verba.
612).
pro Caecina c. 23: Si contra verbis et literis et ut dici
solet summo jure contenditur, solent ejusmodi iniquitati boni
et aequi nomen
dignitatemque opponere … tum aucupia ver-
borum et literarum tendiculas in invidiam vocant, tum vociferantur,
ex aequo et bono, non ex callido versutoque jure rem judicari
oportere: scriptum sequi calumniatoris esse, boni judicis volun-
tatem scriptoris auctoritatemque defendere. pro Murena c. 12: In omni
denique jure civili aequitatem reliquerunt, verba ipsa tenuerunt. de
off. I, 10: Existunt etiam saepe injuriae calumnia quadam et nimis
callida, sed malitiosa juris interpretatione. Ex quo illud: sum-
mum jus, summa injuria.
613).
§. 2 I. quib. ex caus. (1. 6), worin zugleich die Aenderung von
Juſtinian referirt wird.
614).
L. 19 de hered. inst. (28. 5) L. 16 §. 1 de vulg. et pup.
subst. (28. 6).
Nach den meiſten neuern Pandektenlehrbüchern und ſelbſt
nach dem von Puchta (§. 473 not. c) müßte dies noch heutzutage gelten!
S. dagegen v. Vangerow Leitfaden §. 449 Anm. 1.
615).
S. z. B. L. 83 de cond. et dem. (35. 1). Ebenſo verweiſe ich
auf die cretio perfecta und imperfecta. Ulp. XXII, 34.
616).
L. 56 §. 2 de evict. (21. 2).
617).
So noch Paulus in L. 91 pr. de V. O. (45. 1). Wer die Stel-
len in den beiden vorigen Noten noch für heutiges Recht hält, müßte auch
dieſe noch für anwendbar erklären, und man dürfte z. B. bei einem Tauſch-
contract die dem Andern verſprochene Sache ruhig verbrennen, verderben
u. ſ. w. laſſen, obgleich man ſie mit leichteſter Mühe hätte retten können!
618).
L. 26 §. 2 de V. O. i. f. (45. 1).
619).
Z. B. Verzugszinſen, Verpflichtungen zur diligentia, zur Be-
ſtellung einer cautio dupli (L. 31 §. 20 de aed. ed. 21. 1), Verkaufsrecht
des Pfandgläubigers (früher bedurfte es eines pactum de re vendenda).
Das läßt ſich auch ſo ausdrücken: es hat die accidentalia (quae extrin-
secus veniunt)
in naturalia (quae tacite insunt) verwandelt.
620).
Der Begriff der Umgehung (fraus) wird zwar gewöhnlich nur auf
die Geſetze bezogen und in den Quellen definirt als Beachtung der Worte
und Uebertretung des wirklichen Willens des Geſetzes z. B. L. 29, 30 de
leg. (1. 3) .. in fraudem, qui salvis verbis legis sententiam ejus cir-
cumvenit L. 5 Cod. de leg. (1. 14) verba legis amplexus contra legis
nititur voluntatem,
allein es bedarf keiner Bemerkung, daß die Statthaftig-
keit der Umgehung als unvermeidliche Folge der Wortinterpretation dieſelbe
Ausdehnung hatte, wie letztere, alſo auch bei Rechtsgeſchäften Platz griff.
621).
Quo in genere, ſetzt er hinzu, etiam in re publica multa pec-
cantur
und fügt als Beiſpiel die Auslegung eines Waffenſtillſtands von
30 Tagen hinzu, bei der man den Ausdruck Tag wörtlich genommen und ſich
die Nacht hindurch nicht an den Waffenſtillſtand gebunden erachtet hatte.
622).
L. 6 de suis (38. 16) lex XII tabul. eum vocat ad heredita-
tem, qui moriente eo, de cujus bonis quaeritur, in rerum natura
622).
fuerit. Mit dem moriente eo iſt eben dies intestato moritur ge-
meint.
623).
Ulp. XI, 18 hat die Faſſung: mulieribus pupillisve non ha-
bentibus
tutores, Gaj. l
§. 185 und die Inſtitutionen in pr. I. de Atil.
tut. (L. 20): si cui nullus omnino tutor sit.
624).
L. 17 de tut. (26. 1).
625).
L. 84 de V. S. (50. 16): filii appellatione omnes liberos
intelligimus.
626).
Dies bemerkt auch Cic. Top. c. 4 at in lege aedes non ap-
pellantur et sunt ceterarum rerum omnium, quarum annuus est usus.
627).
Plin. Hist. nat. XVI, 5.
628).
Rückſichtlich des erſten Punktes half die JurisprudenzL. 1
§. 1 de glande leg. (43. 28),
rückſichtlich des letzteren der PrätorL. 1
pr. ibid.
629).
L. 29 §. 1 de statul. (40. 7) .. quoniam lex XII tab. emtionis
verbo omnem alienationem complexa videretur, non interesset, quo
genere quisque dominus ejus fieret.
630).
Vat. fragm. §. 308: in XII patroni appellatione etiam liberi
patroni continentur.
631).
L. 21 pr. de statul. (40. 7) .. sic et verba legis XII tabul.
veteres interpretati sunt: si aqua pluvia nocet i. e. nocere poterit.
632).
L. 120 de V. S. (50. 16) … sed id coangustatum est
vel legum vel auctoritate jura constituentium.
633).
L. 14 C. de legit. her. (6. 58).
634).
Gaj. II, 54 .. postea creditum est, ipsas hereditates usucapi
non posse.
635).
In dieſer Lage haben ſich manche gelehrte Theoretiker der Neuzeit
gegenüber den Interpretationen der früheren Praktiker befunden und ſich nicht
wenig darauf gedünkt, die Unrichtigkeit derſelben aufzudecken. Verdienſtlicher
wäre es geweſen zu fragen, ob denn dieſe Vorgänger ſo mit Blindheit ge-
ſchlagen waren, daß ſie handgreifliche Unwahrheiten für wahr halten konnten.
Dann wäre man wohl dem wahren Grunde auf die Spur gekommen und hätte
ſich nicht verleiten laſſen im Widerſpruch mit dem vielgeprieſenen Vorbilde
der römiſchen Juriſten und der Vorſchrift der L. 23 de leg. (1. 3) an Sätzen
zu rütteln, die die Praxis ihrer ſelbſt wegen für nöthig hielt, und für die
ſie in den Quellen nur nach einem noch ſo ſchwachen äußeren Anhaltspunkt
ſuchte. Dahin gehört meiner Anſicht nach z. B. die Spolienklage und das
Summariiſſimum.
636).
In der bekannten Stelle pro Murena c. 12 .. nam quum per-
multa praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum in-
geniis pleraque corrupta ac depravata suut.
Er ſelbſt räumte bekanntlich
ſpäter ein, daß dies apud imperitos dicta geweſen ſei, de finibus IV 27.
637).
Gaj. IV, 30.
638).
L. 2 §. 5 de orig. jur. (1. 2).
639).
So von Pomponius in der Stelle der vorigen Note, worin das
Juriſtenrecht als Reſultat der interpretatio bezeichnet wird. S. auch S. 73.
640).
S. Note 620.
641).
S. 158 Anm. 190.
642).
Wenigſtens ſcheinen die Worte, mit denen Livius X, 9 die dritte
Redaction deſſelben berichtet: legem tulit diligentius sanctam darauf
hin zu deuten, daß die Nothwendigkeit einer wiederholten ſorgfältigeren Re-
daction in der Umgehung des bisherigen Geſetzes ihren Grund hatte.
643).
Liv. Vii, 16.
644).
Die Uebertreter des Geſetzes wurden von den Aedilen vor dem
Volk auf eine Geldſtrafe belangt. So z. B. Liv. X, 13.
645).
Cic. pro Murena c. 12. Nam quum permulta praeclare legi-
bus essent constituta, ea jureconsultorum ingeniis pleraque corrupta
ac depravata sunt.
646).
Das Hauptbeiſpiel gewährt die lex Furia über die Höhe der Le-
gate, von der bereits S. 61 die Rede war.
647).
L. 1 Cod. de form. subl. (2. 58) (342) juris formulae aucu-
patione syllabarum insidiantes .. L. 15 Cod. de testam. (6. 23) (339)
quoniam indignum est ob inanem observationem … L. 9 Cod. qui
admitti ad B. P. p. (6. 9): Verborum inanium excludimus captiones:
(Constantin) L. 17 Cod. de jure delib. (6. 30) (407) cretionum scru-
pulosam solennitatem hac lege penitus amputari decernimus.
648).
Der einzige, der ſie meines Wiſſens berührt und, wie nicht an-
ders zu erwarten, in höchſt beachtenswerther Weiſe, iſt Savigny Syſtem III
S. 238 und Oblig. R. II 218. Erſt nach Abſchluß der folgenden Dar-
ſtellung iſt mir eine eigne Schrift über den Gegenſtand: von Völderndorf
Die Form der Rechtsgeſchäfte u. ſ. w., Nördlingen 1857, zugegangen. Sie
hat mir keinen Anlaß gegeben an meiner Darſtellung irgend etwas zu ändern,
ſo wenig ich damit im übrigen dem guten Willen, der ſich in ihr ausſpricht,
die Anerkennung verſagen will.
649).
Daß und warum der folgende Gegenſatz nur bei Rechtsgeſchäften,
nicht auch bei Delicten Anwendung leidet, bedarf keiner Ausführung.
650).
Man vergleiche z. B. das pignus publicum und privatum des
neuern römiſchen Rechts, im deutſchen Recht den Gegenſatz der läugenbaren
und unläugenbaren Schuld ſ. u.
651).
In dieſer Weiſe hat man hie und da das Gebot der Zuziehung von
652).
Der Miethcontract mit dem Geſinde iſt in unſerm heutigen Recht
durch das vielfach vorkommende Gebot polizeilicher Anmeldung des Geſindes
kein formeller geworden.
653).
Dieſe Fixirung kann auch lediglich den Ort (z. B. vor Gericht,
auf der Börſe) und denkbarerweiſe könnte ſie auch die Zeit betreffen.
651).
Stempelpapier geſichert. Mit dem obigen Gegenſatz hängt, inſoweit es ſich
dabei um Beachtung einer Form handelt, der der leges perfectae und mi-
nus quam perfectae
zuſammen.
654).
Daher bezeichnen die Römer das Princip der Formloſigkeit mit
Recht als Princip des nackten Willens, nuda voluntas im Gegenſatz zum
rigor juris civilis z. B. Ulp. XXV, 1. L. 18 de leg. III (32).
655).
L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).
656).
Gaj. IV §. 30.
657).
Die Belege zu dem folgenden ſ. bei Bornemann Erörterungen im
Gebiet des preuß. Rechts Heft 1. Berlin 1855. S. 144 fl.
658).
S. folgende Beiſpiele bei Bornemann S. 168: „Die Real-
verträge über bewegliche Sachen bedürfen keiner ſchriftlichen Form, wenn nur
das Rechtsverhältniß, welches nach den Geſetzen durch das Hingeben der
Sache begründet wird, eintreten ſoll; Verabredungen über Nebenverpflichtun-
gen müſſen dagegen ſchriftlich feſtgeſtellt werden.“ S. 151: „Verträge, wo-
durch Jemand zu fortdauernden oder auf unbeſtimmte Zeit verſprochenen wie-
derkehrenden perſönlichen Leiſtungen verpflichtet wird, bedürfen ſchlechthin der
Form, jedoch ſind ausgenommen die Miethverträge mit gemeinem Geſinde,
bei welchem das Nehmen und Geben des Miethgeldes die Stelle des ſchrift-
658).
lichen Vertrages vertritt. Dagegen müſſen Miethverträge mit Hausoffi-
cianten
immer ſchriftlich errichtet werden.“ S. 160: 7. „Pachtverträge
über Landgüter. Iſt der Pachtvertrag bloß mündlich geſchloſſen, ſo gilt er
nur auf ein Jahr. 9. Verlagsverträge. Iſt der Vertrag nicht ſchriftlich
errichtet, die Handſchrift jedoch vom Schriftſteller abgeliefert worden, ſo gilt
die mündliche Verabredung zwar in Anſehung des Honorars, in allen übrigen
Stücken aber ſind die Verhältniſſe beider Theile lediglich nach den geſetzlichen
Vorſchriften zu beurtheilen.“ Siehe noch Fall 10 und 12 bei Bornemann
S. 160, 161 Schenkungen endlich erfordern noch einer beſondern Form,
der gerichtlichen Abſchließung. In der That dies völlig principloſe
Schwanken und Schaukeln zwiſchen Form und Formloſigkeit iſt ganz geeignet
das Gefühl des Schwindels und der Seekrankheit zu erregen.
659).
Auf der billigen Erwägung dieſes Umſtandes beruht die Exemtion
659).
der Schenkung von der Stipulationsform im juſtinianeiſchen Recht, die
ſonſt auf den erſten Blick etwas Befremdendes hat. Die Offerte eines Con-
tractes
rechtfertigt eine geſchäftsmäßige Behandlung derſelben von
der andern Seite, nicht ſo aber das Verſprechen einer Schenkung. Hängt hier-
mit auch die dotis dictio des ältern Rechts zuſammen? Schwerlich, aber meiner
Anficht nach entſchieden die Formloſigkeit der promissio dotis im neuern Recht,
die man ohne Grund und ohne Noth zu einer pollicitatio erhoben hat.
660).
Hierauf beruhen zwei Formen der erleichterten Teſtamentserrich-
tung, das testamentum ruri und tempore pestis conditum. Die Geſtalt des
Soldatenteſtaments hängt nur zum Theil damit zuſammen, wohl aber das
Aufkommen und die Zulaſſung der Fideicommiſſe.
661).
Hierin lag eine der Urſachen der unförmlichen Rechtsgeſchäfte der
Römer in Fällen, in denen es der in jure cessio d. h. für Entfernte einer
Reiſe nach Rom bedurfte, z. B. der unförmlichen Freilaſſung. Die be-
ſchränkte Anerkennung, die der Prätor der letzteren gewährte, war nur eine
billige Berückſichtigung der in der Form gelegenen Inconvenienz, ähnlich
wie in Anm. 659 und 660. Daß aber auch andere Motive mitwirkten, wer-
den wir im dritten Syſtem zeigen.
662).
So weiß ich z. B. aus meinem Vaterlande Oſtfriesland, in dem
dieſes Recht gilt, daß der ganze Productenhandel des Landes ſich über das
Erforderniß der ſchriftlichen Abfaſſung der Verträge hinwegſetzt.
663).
Der neuſte an die Oeffentlichkeit getretene Verſuch von Stobbe,
664).
C. A. Schmidt Der princip. Unterſchied zwiſchen dem röm. und
germ. Recht S. 250: „Das germaniſche Vertragsrecht iſt ganz einfach auf
die Vorſchrift des Sittengeſetzes gegründet, daß Verträge gehalten werden
müſſen u. ſ. w. Anders dachte der alte Möſer (S. Anm. 666) darüber, und
ſein Urtheil wiegt um ſo ſchwerer, als er weder ein Ideolog oder ein romani-
ſirender Theoretiker, ſondern eine durch und durch praktiſche und kernhaft
deutſche Natur war. „Der Narr, ſagt er in nicht ſehr höflicher Weiſe,
der zuerſt das Sprichwort: ein Mann ein Mann, ein Wort ein Wort ſo
ausgelegt hat, daß ein ehrlicher Mann ſein erſtes Wort nicht widerrufen
könne, hat mehr Unglück angeſtiftet, als man glauben ſollte.“
663).
dieſe Behauptung zu beweiſen, hatte mich nicht überzeugt. Je weniger ich
aber in der Lage war, mir über dieſe Frage eine ſelbſtändige Anſicht zu bilden
und zu begründen, mit um ſo größerer Freude habe ich die Löſung aufgenom-
men, die dieſelbe in einer demnächſt erſcheinenden an neuen Ergebniſſen höchſt
reichen Schrift eines Germaniſten von Fach gefunden hat, nämlich in dem
mir bereits in einzelnen Druckbogen mitgetheilten Werk von H. Siegel B. 1
S. 40 über das deutſche Gerichtsverfahren. Derſelbe unterſcheidet zwiſchen
läugenbaren und unläugenbaren Schulden. Der Anſpruch aus einem form-
loſen Vertrag konnte durch den bloßen Eid des Beklagten beſeitigt werden,
zur vollen Wirkung des Vertrages d. h. damit die Schuld eine läugen-
bare ſei, verlangt auch das germaniſche Recht eine Form. Der Gegenſatz
erinnert an den des Legats und des fideicommissum heredi praesenti in-
junctum.
665).
Vortrefflich hat Savigny Syſtem III S. 238 dies ausgedrückt:
„Ein Entſchluß, ſagt er, über wichtige Dinge kömmt ſelten mit einemmal
zur Reife; es pflegt ihm ein Zuſtand der Unentſchiedenheit vorauszugehen,
worin die Uebergänge allmählig und unmerklich ſind, und deſſen Unterſchei-
dung von dem vollendeten Wollen eben ſo ſchwierig ſein kann, als ſie für den
ſpäter urtheilenden Richter unentbehrlich iſt. Hier dient nun die Form als
untrügliches Kennzeichen des reifen Entſchluſſes.“
666).
Obl. Recht II S. 217. Dieſen Geſichtspunkt hatte bereits Möſer
patriot. Phantaſ. B. 2. XXIV (Berlin 1778) S. 121 fl. in ſeiner launi-
gen, aber höchſt treffenden Weiſe hervorgehoben.
667).
Einen hierauf bezüglichen Geſichtspunkt in Betreff der mündlichen
Errichtung des Teſtaments habe ich S. 163 Anm. 204 hervorgehoben.
668).
Aus heutiger Zeit nenne ich das öffentliche Aufgebot bei der Ein-
gehung der Ehe. — Wie auch fiscaliſche, polizeiliche, ſtatiſtiſche u. ſ. w. kurz
ſtaatliche Zwecke durch die Form verfolgt werden können, will ich hier über-
gehen.
669).
Aus dieſem Grunde verdient es alle Anerkennung, daß die augen-
blicklich in Nürnberg tagende Conferenz zur Abfaſſung eines gemeinſamen
deutſchen Handelsrechts, ſoweit es bis jetzt zur öffentlichen Kunde gekommen,
auf die kaufmänniſchen Verhältniſſe das Princip der Form in energiſcher
Weiſe zur Anwendung gebracht hat. Es iſt in der Beziehung vieles gut zu
machen!
670).
Von der Eigenthumsübertragung beweglicher Sachen gilt etwas
ähnliches. Ich komme an einer andern Stelle (Abſchn. IV) darauf zurück.
671).
Auf dieſen „der Nation inwohnenden bewußtloſen Bildungstrieb,
in welchem aber das Bedürfniß der heilſamen Folgen wirkſam iſt“ ſtellt Sa-
vigny Syſtem B. 3 S. 239 die Sache. Im Obligationenrecht Bd. 2 S. 220
äußert er ſich nur dahin, daß dieſe Formen „auf uralter Volksſitte beruhen.“
672).
Gaj. IV, 17.
673).
Michelſen über die festuca notata und die germaniſche Traditions-
ſymbolik. Jena 1856.
674).
Gaj. IV, 16.
675).
Cic. pro Murena 12: Inite viam … redite viam.
676).
Ueber dieſe von den Hochzeitsgebräuchen hergenommenen Beiſpiele
vergl. Roßbach Unterſuchungen über die röm. Ehe. S. 104, 282, 291. Ein
anderes Beiſpiel bei Plin. Hist. Nat. XXXIII, c. 4 .. quo argumento
etiam nunc sponsae muneri ferreus auulus mittitur isque sine
gemma
.
677).
So iſt z. B. die Auffaſſung, deren Puchta Curſ. der Inſtit. B. 2
§. 162 Note m gedenkt, nicht ſo weit wegzuwerfen, als er es thut.
678).
z. B. das Beſtätigungsrecht der Curiatcomitien Liv. I, 18 .. id
sic ratum esset, si patres auctores fierent; hodieque in legibus magi-
stratibusque rogandis usurpatur idem jus vi ademta
(d. h. indem das
Recht der Verweigerung der auctoritas entzogen iſt); priusquam populus
suffragium ineat, in incertum comitiorum eventum patres auctores
fiunt,
die tutela mulierum testamentaria der ſpäteren Zeit Gaj. I, 190—
192, die Huldigung u. ſ. w.
679).
So z. B. ſtatt der Talion eine Geldſtrafe (B. 1 S. 130), ſtatt
der Rinder und Schaafe, worauf die Multa lautete, die geſetzlich tarifirte
Summe. So wird namentlich auch heutzutage noch an einigen Orten und
Ländern (z. B. Schweden) in gewiſſen Fällen Todesſtrafe erkannt, wo
praktiſch eine unbedeutende Geld- oder Gefängnißſtrafe an die Stelle
tritt.
680).
Saturn. I, 12. Auch der Ceres durfte nicht mit Wein libirt wer-
den. Macr. III, 11.
681).
L. 77 de R. J. (50. 17).
682).
Wegen der weiten Ausdehnung des Zeugengeſchäfts war die Strafe
der Unfähigkeit zu demſelben eine der ſchwerſten, die das Recht verhängen
683).
Gaj. III, 123.
682).
konnte. Der „intestabilis“ war nicht bloß unfähig, bei einem ſolchen Ge-
ſchäft als Zeuge zu fungiren, ſondern auch es in eigner Perſon vorzu-
nehmen, und da auch im Proceß Zeugen aufgerufen werden mußten, war er
wahrſcheinlich inſoweit auch unfähig, proceſſualiſche Handlungen mit Erfolg
vorzunehmen. Liegt in Plautus Curc. V, 2. 24 eine Andeutung darauf? Es
wird hier Jemand aufgerufen, als Zeuge bei einer in jus vocatio zu dienen,
und da er ſich weigert, ſtößt der Andere den Fluch gegen ihn aus: Jupiter
te male disperdat, intestatus vivito
d. h. doch wohl nur: möge es
Dir ebenſo gehen und Dir Niemand (unter andern auch zu einer in jus vo-
catio
) Zeugniß gewähren. Im neuern Recht hat der Begriff der Inteſtabilität
aber jedenfalls eine engere Bedeutung erhalten.
684).
Gaj. I, 119. Ulp. XX, 1.
685).
Um über irgend eine Frage z. B. ob Jemand der nächſte Ver-
wandte, Eigenthümer ſei, dies oder jenes gethan habe u. ſ. w. einen richter-
lichen Ausſpruch zu erwirken, ſchloß man eine Stipulation ab, in der der
Eine dem Andern unter der Bedingung, daß die (zur richterlichen Unter-
ſuchung verſtellte) Thatſache wahr ſei, eine beliebige Summe verſprach.
Dieſe Summe ward eingeklagt und dadurch der Richter gezwungen die Be-
dingung zu unterſuchen und mittelbar, indem er den Beklagten verurtheilte
oder freiſprach, über das Daſein oder Nichtdaſein der Thatſache zu entſchei-
den. Was man hier wollte, ſagte man nicht und was man ſagte, wollte
man nicht. Gaj. IV, 93. 94. Puchta Inſtit. II §. 168. Keller Civilproceß
§. 25, 26.
686).
Gaj. IV, 93. 95. Die Fixirung bei den Centumviralgerichtsſachen
hing mit der Sacramentsſumme zuſammen (Gaj. IV, 14).
687).
Beſonders ſchlagend tritt dies hervor bei der in jure cessio. Wo
hätte hier in der Vindicationsformel der Nebenvertrag ſtehen ſollen? Welche
juriſtiſche Monſtroſität wäre darin zum Vorſchein gekommen! Allein für die
mancipatio ſteht die Sache um nichts anders, und es iſt keine bloße Vergeſ-
ſenheit, wenn Gaj. I, 132 bei Beſchreibung der dreimaligen Mancipation des
Sohnes das pactum fiduciae gar nicht erwähnt; es trat ja im Act ſelbſt
gar nicht hervor. Das Kriterium des fiduciae causa geſchloſſenen Geſchäfts
lag lediglich in ſeinem Zweck, nicht in der Form, daher auch die Bezeich-
nung deſſelben nach dieſem Moment: fiduciae causa mancipare, coemptio-
nem facere
u. ſ. w. Hieraus ergibt ſich, wie derartige Wendungen, wie res
mancipatur, ut eam mancipanti remancipet (Boethius ad Cic. Top. c. 10.
Orelli p. 340) quem pater ea lege mancipio dedit, ut sibi remancipe-
tur (Gaj. I,
140) zu verſtehen ſind.
688).
Die im Text gegebene Deutung iſt von den Römern ſelbſt nirgends
ausdrücklich ausgeſprochen, ſie gehört zu den Dingen, die man nur finden
kann, wenn man zwiſchen den Zeilen lieſt. Ob ich richtig geleſen, über-
laſſe ich dem Urtheil jedes Kundigen. Die „ſolide“ Rechtsgeſchichte hat hier
andere Wege eingeſchlagen. Um Anderer zu geſchweigen, ſo vergleiche man
z. B. Huſchke Recht des Nexum S. 76 „weil dies Geſchäft (fiducia) auf
Mancipation beruhte“ und S. 117 „er gab das Grundſtück zur fiducia mit
der nuncupatio“, über welche ſeltſame nuncupatio ein Römer kein gelindes
Erſtaunen empfunden haben würde. Bachofen das röm. Pfandrecht Bd. 1
S. 2 Note 1 ſpricht freilich von der „Unmöglichkeit, mit der Tradition das
pactum fiduciae zu verbinden“, allein worauf er dieſelbe ſtützen will, iſt
ſchwer einzuſehen. Er ſcheint ſich, da er auf Vat. fr. §. 47 verweiſt, dies
pactum als etwas ganz Apartes und Rares vorzuſtellen, das ſich für die
ſimple Tradition, da ſie nur juris gentium iſt, nicht ſchickt; ſeiner Verſiche-
rung nach hätten jedoch auch die res nec mancipi durch in jure cessio
deſſelben theilhaftig werden können, was ungefähr ſo gut iſt, als wenn Je-
mand, der durch die Thür ins Haus gehen kann, durch den Schornſtein hin-
einkriechen wollte.
689).
Das erſtere zum Zweck der in adoptionem datio und emancipa-
tio (Gaj. I, 132),
das letztere mit ſpäterem mancipium und Freilaſſung aus
demſelben 1. zum Zweck des Wechſels der tutores legitimi (Gaj. I, 115);
2. zur Erlangung der Teſtirfähigkeit (Gaj. I, 115a); 3. zur Befreiung von
den sacris (Cic. pro Murena c. 12).
690).
S. z. B. Gaj. I, 135 …: qui ex eo filio conceptus est, qui
in tertia mancipatione est.
Der §. 115b hätte ſonſt gar keinen Sinn,
ebenſo §. 118 .. nec ob id filiae loco sit; ferner §. 132 .. etiamsi non-
dum manumissus sit, sed adhuc in causa mancipii,
und noch weniger die
Bemerkung: sed in usu est eidem mancipari und die Wiederholung derſel-
ben in Anwendung auf die dritte Mancipation. S. auch Gaj. II, 41.
691).
Beobachtet man doch auch heutzutage bei dem unvermeidlichen
Avancement eines Prinzen vom gemeinen Soldaten zum General gewiſſe
Zwiſchenräume, ungeachtet die Mittelſtufen auch hier keine ernſtere Bedeu-
tung haben, als bei der Emancipation eines römiſchen Hausſohns, und zur
Noth ebenfalls in einen Tag zuſammengedrängt werden könnten.
692).
L. 12 de Serv. (8. 1) Vat. fr. §. 51.
693).
Gaj. II §. 87. 167. Vat. fr. §. 51. — Mußten ſie die dabei zu
ſprechenden Worte auf den Herrn ſtellen? Daß es möglich und zwar mit
individueller Bezeichnung deſſelben („nomen adjectum“), zeigt der citirte
§. 167 von Gajus. Als Gegenſatz zu dieſer individuellen Bezeichnung
können wir uns ebenſowohl die Stellung der Formel auf den Herrn mit ab-
694).
Vat. fragm. §. 51.
695).
Gaj. II §. 105, 106: domesticum testimonium. Ulp. XX
§. 3—5.
696).
Gaj. II, 108. Cic. pro Milone c. 18.
693).
ſtracter Bezeichnung deſſelben (ajo rem domini esse) als auf den Spre-
chenden ſelbſt (ajo rem meam esse) denken. Letztere Faſſung hätte eine Un-
genauigkeit oder richtiger Unwahrheit enthalten, denn cum istarum perso-
narum nihil suum esse possit, conveniens est scilicet ut nihil (suum
esse) in jure vindicare possint Gaj. II,
96 und können wir hinzuſetzen:
ut nihil suo nomine mancipio accipere possint.
697).
Der Tadel, den Juſtinian in §. 10 I. de test. ord. (2. 10) dar-
über ausſpricht, daß das ganze Recht hier auf den Kopf geſtellt worden ſei
(totum jus conturbatum erat) war daher ganz treffend.
698).
So Gaj. II §. 108 sed tamen … minime hoc jure uti debemus.
Er kann jedoch nicht der letzte geweſen ſein, der gegen den Rechtsſatz bloß
warnte, wenn ſonſt dem Bericht von Juſtinian in §. 10 I. cit. Glauben zu
ſchenken. L. 20 pr. qui test. (28. 1) von Ulpian muß daher interpolirt
ſein (Glück Erläuterung der Pandekten B. 34 S. 245) was durch Ulp. XX,
3—5 faſt zur Gewißheit erhoben wird.
699).
Gaj. II, 34—36.
700).
Gaj. I, 168. Ulp. XI, 6. 8. 17. Die tutela cessitia iſt auch im
übrigen ein redendes Zeugniß für die Behauptung im Text. S. Ulp. XI, 7.
701).
Ueber jenes Gaj. II, 98, über dieſes Gaj. I, 118 verb. nec ob id
filiae loco sit
und 115 b.
702).
Gaj. I, 115 b.
703).
Gaj. I, 140.
704).
Gaj. II, 59, 68.
705).
Gaj. I, 113 imaginaria venditio.
706).
In dieſer Faſſung mit est, nicht esto wird die Formel von drei
verſchiedenen Gewährsmännern angegeben: Gaj. I, 119 und mit ausdrück-
licher Bezugnahme auf ihn von Boethius ad Cic. Top. c. 5. (Orell. 322)
und Paulus in den Vat. fr. §. 50. Schon dieſer Umſtand hätte Huſchke
Nexum S. 23 abhalten ſollen, dieſe Lesart zu verdächtigen und wegen
Gaj. II, 102 (wo das esto vielleicht mit der imperativiſchen Form der Teſta-
mente zuſammenhängt) und III, 167 (wo das esto vielleicht aus est hoc
entſtanden, die Abweichung von der gewöhnlichen Form aber zur Noth auch
durch die Beſonderheit des Falls motivirt ſein könnte) das esto in jene an-
dern Stellen hineinzuemendiren. Das für die Kritik des Gajus ſo wichtige
707).
Der verſtorbene J. Chriſtianſen hat mit großer Hartnäckigkeit
daran feſtgehalten, daß das Schlagen des Erzes an die Wagſchale nur ein
Zeichen der Perfection des Vertrages geweſen ſei. S. deſſen Wiſſenſchaft der
röm. Rechtsgeſch. B. 1 S. 147 fl. und Inſtitutionen S. 566 fl. Als ob
man darum erſt hätte eine Wagſchale requiriren ſollen! In der That es iſt
zu leicht, dieſe Grille zu perſifliren, als daß ich mich der Verſuchung hingeben
möchte. Ueber die vermeintliche Unerklärlichkeit des libram percutere aere
hätte ihm auch unſer heutiges Leben Aufklärung geben können. Wer hätte es
nicht ſchon geſehen, daß man Geldſtücke zweifelhafter Aechtheit am Klange,
alſo durch ein percutere prüft!
708).
Fest. Rodus. Raudusculum hieß, wie Feſtus hier bemerkt, un-
verarbeitetes Metall, und der Ausdruck ward in bekannter römiſcher Weiſe
auch dann noch beibehalten, als man ſich ſtatt deſſen der Bequemlichkeit
wegen eines Aſſes bediente. Daß der Libripens ſprechen mußte, iſt für
die Teſtamentserrichtung dadurch bezeugt, daß er nicht ſtumm ſein
durfte Ulp. XX, 7. Wir werden ſchwerlich fehlgreifen, wenn wir ihm jene
Aufforderung in den Mund legen.
706).
Zeugniß von Boethius hat er freilich ganz überſehen. Ueber die innere Un-
wahrſcheinlichkeit ſeiner Conjectur ſ. den folgenden §.
708a).
Gaj. IV §. 24, 25.
709).
Gaj. III, 173. 175.
710).
Gaj. III §. 173—175. Ein anderer Fall, bei dem ſich dieſem
Zeugniß zufolge dieſe Scheinhandlung noch erhalten, war der Erlaß der Ju-
dicatsſchuld, welche letztere zwar niemals unter, aber ſtets neben dem
Nexum geſtanden hatte.
711).
§. 41 I. de R. D. (2. 1).
712).
Daß emere urſprünglich etwas anderes bedeutet hat als kaufen
(B. 1 S. 108 Anm. 12), was namentlich zu dem Zweck geltend gemacht
worden iſt, um die Auffaſſung der manc. als eines Scheinkaufes abzuweh-
ren, kann man gern zugeben, ohne ſich den Schluß gefallen laſſen zu müſſen;
jene Auffaſſung ſtützt ſich nicht bloß auf das Wort emere, ſondern auf
emere hoc aere d. h. kaufen.
713).
Varro de L. L. VII, 5 §. 105: Nexum Mamilius (Manilius)
scribit omne quod per libram et aes geritur, in quo sint mancipia.
Fest. Nexum. Nexum est ut ait Gallus Aelius quodcunque per
aes et libram geritur idque necti dicitur, quo in genere sunt
(nämlich
als zu ſeiner Zeit praktiſche Fälle) haec: testamenti factio, nexi datio,
nexi liberatio.
714).
Varro a. a. O.: Mutius: quae per aes et libram fiant, ut
obligentur
(Huſchke: obligetur), praeter quam (Niebuhr: quae, Huſchke:
quum), mancipio detur (Niebuhr: dentur). Hoc verius esse ipsum ver-
bum ostendit, de quo quaerit, nam idem quod obligatur per libram ne-
que suum fit
(was nicht behalten, ſondern zurückgegeben werden ſoll d. h.
geliehen wird) inde nexum dictum.
715).
Bei nicht juriſtiſchen Schriftſtellern kömmt jedoch der Ausdruck
716).
Man hat darin, und wie ich glaube mit Recht, eine Anwendung
der aufs Doppelte gerichteten Diebſtahlsklage (furt. nec manifestum) finden
wollen. Der Verkäufer hatte den Käufer um ſein Geld gebracht.
717).
Paul. S. R. II, 17 §. 1 .. pretio accepto auctoritatis
manebit obnoxius, aliter enim non potest obligari.
718).
Man denke z. B. an die Fiction: si peregrinus civis Romanuus
esset Gaj. IV,
37, an die coemptio fiduciae causa. S. oben S. 563.
719).
Man wende mir nicht ein: warum man auch bei der Schenkung
mit aes et libra mancipirt habe, da hier ja ein Preis überall nicht entrichtet
715).
öfter in Anwendung auf die Mancipation und das Eigenthum vor, ſo z. B.
bei Cicero Top. 5 traditur alteri nexu und dazu Boethius (Orelli p. 322),
de harusp. c. 7 jure nexi, de Republ. I c.
7 u. a. In den Augen des
Volks hatte die aes et libra über das minder hervortretende Ergreifen
der Sache das Uebergewicht erlangt, man charakteriſirte den Act nach jenem,
nicht nach dieſem Moment. Daher Wendungen wie mercari libra et aere
(Horaz), emere per assem et libram (Sueton) und ähnliche.
720).
Das Gegentheil iſt zwar behauptet (Huſchke Nexum S. 45, bei
den Mancipationen des Perſonenrechts hätte es keines sestertius nummus
unus
bedurft), allein ohne allen Grund und im Widerſpruch mit den klarſten
Quellenzeugniſſen.
721).
S. §. 47 (bei Gelegenheit der Bedeutung der Hand) und die
Ausführung über das realiſtiſche Element des Willens in der Theorie des
ſubjectiven Willens.
722).
Gaj. I, 121.
723).
Ueber den ſymboliſchen Act des Ohrzupfens ſ. §. 47.
719).
werden ſollte? Eben darum, um alle Fragen und Beweiſe über die causa
des Eigenthumsüberganges abzuſchneiden.
724).
Gaj. II, 104. Ulp. XX, 9.
725).
Gajus an d. a. Stelle gebraucht freilich bloß den Ausdruck: ad-
hibitis
quinque testibus,
allein die L. 21 §. 2 qui test. (28. 1) .. si
ante testimonium certiorentur
und L. 20 §. 8 ibid. suprema conte-
statio
(womit die in der nuncupatio enthaltene gemeint ſein wird) ſcheinen
auf eine vorhergehende rogatio hinzuweiſen.
726).
Fest. Contestari est cum uterque reus dicit: testes estote.
Daß das con nicht nothwendig auf eine Mehrheit der Partheien, ſondern
auch der Zeugen gehen kann, zeigt der Ausdruck contestatio der vorigen Note,
für den derſelbe Ulpian freilich an anderer Stelle (Ulp. XX, 9) den Ausdruck
testatio gebraucht.
727).
Ulp. XX, 7.
728).
Von nomine capere: beim Namen nennen, ſagen. Cic. de off.
III, 16 de orat. I,
57.
729).
Vat. fragm. §. 50.
730).
Gaj. II, 24 quo negante aut tacente. Schon dieſe Verſchieden-
heit in der Faſſung der Formeln hätte, ganz abgeſehen von andern Gründen,
die Idee ausſchließen ſollen, als ob die Stipulation aus der Nuncupation der
Mancipation entſtanden ſei.
731).
Hierzu ſtimmt denn auch die Art, wie Ulp. XX, 9 die Sache dar-
ſtellt: in testamento, quod per aes et libram fit, duae res aguntur,
familiae mancipatio et nuncupatio testamenti.
Ebenſo Gaj. II, 116.
Dieſe nuncupatio gehört demnach nicht mehr zu der mancipatio,
ſie iſt etwas außer und neben ihr, während die nuncupatio bei der
gewöhnlichen mancipatio einen integrirenden Beſtandtheil derſelben bildet.
732).
Gaj. I, 140. S. oben S. 190.
733).
Roßbach Unterſuchungen über die röm. Ehe. S. 67—81.
734).
Gaj. I, 123 .. cum a parentibus et coemptionatoribus iisdem
verbis mancipio accipiuntur, quibus servi, quod non similiter fit in
coemptione.
Im Sinne des gewöhnlichen Lebens — denn eine juriſtiſche
Wahrheit hatte die Auffaſſung ſchwerlich — mochte man ſogar die Frau ſelbſt
als Subject der Coemption bezeichnen: coemptionem facit z. B. Gaj. I, 115
u. a. a. Stellen.
735).
Im richtigen Gefühl davon haben denn auch die römiſchen Juri-
ſten die hereditas nicht unter die res mancipi gerechnet, während ſie die Ru-
ſticalſervituten, trotzdem daß auch ſie res incorporales ſind (Gaj. II, 17)
unter ihrer Zahl aufführen. Ulp. XIX, 1. Daß die mancipirten freien Per-
ſonen unter den res mancipi nicht mit genannt wurden, bedarf keiner Er-
klärung.
736).
Von der fiducia iſt oben, ſoweit es hier nöthig iſt, bereits das
Erforderliche geſagt.
737).
Die frühſte Erwähnung geſchieht in Anwendung auf die Manu-
miſſion für das erſte Jahr der Republik (Liv. II, 5), und zwar verhielt ſich
die manumissio per vindictam zu der bis dahin üblichen manumissio censu
in ähnlicher Weiſe, wie das testamentum per aes et libram zu dem in
comitiis calatis
d. h. beide ſtellten eine zu jeder Zeit anwendbare alſo be-
quemere Form der früheren an gewiſſe Zeiten gebundenen gegenüber. Nach
Paulus in den Vat. fr. §. 50 ſollen die XII Tafeln die in jure cessio an-
erkannt haben; ob „propalam“ oder „per consequentiam“ (Ulp. XI, 3)
d. h. dadurch daß ſie die Vindication anerkannten, ſtände wohl noch zur
Frage. Das „confirmat“ von Paulus kann denſelben Sinn haben, wie das
„jubet“ von Ulp. X, 1.
738).
Gaj. I, 25: Plerumque tamen et fere semper mancipationibus
utimur, quod enim ipsi per nos praesentibus amicis agere possumus,
hoc non est necesse cum majore difficultate apud Praetorem aut apud
Praesidem provinciae quaerere.
Daſſelbe Verhältniß wird ſich zwiſchen
ihr und der Tradition der res nec mancipi annehmen laſſen.
739).
So ſcheint auch Gaj. II, 17 ſich das Verhältniß derſelben zu denken.
740).
Gaj. III, 92, 93. L. 1 §. 6 de V. O. (45. 1).
741).
L. 1 §. 1 de V. O. (45. 1).
742).
Gaj. III, 102. Die L. 1 §. 2—5 de V. O. (45. 1) veranſchau-
licht zugleich die freiere Entwicklung, die ſchon in der verhältnißmäßig kurzen
Zeit von Gajus an bis auf Ulpian Statt gefunden; ſollte das, was Gajus
lehrt, noch ganz das urſprüngliche geweſen ſein? Die alte Geſtalt der Sache
ſchimmert unter den Milderungen der neuern Zeit noch deutlich genug durch.
743).
J. Chriſtianſen (der Aeltere) Inſtitutionen des römiſchen Rechts
S. 308—310 — ein Buch, das neben manchem Ungenießbaren und Verwe-
genen viele tiefe Einblicke enthält. Die zum Theil nicht unverſchuldete geringe
Verbreitung des Buchs hat mich beſtimmt, die citirte Stelle mit Auslaſſung
einiger überflüſſigen Breiten wörtlich abdrucken zu laſſen.
744).
Die Anſicht iſt inzwiſchen auch von Danz der ſacrale Schutz im
römiſchen Rechtsverkehr S. 105 u. fl. angenommen und von neuem ver-
theidigt.
745).
S. z. B. das sacramentum B. 1 S. 267 Anm.
746).
S. den ſchon oben citirten § in der Theorie des ſubj. Willens:
reales Element des Willens.
747).
Stipulatio kommt von stips, letzteres von der Sanskrit-Wurzel
sthâ, von der auch Stab und Stift. Im Lateiniſchen hieß stip, stipit,
748).
Gaj. III, 94. Das foedus war conſtitutiver Art. Das Nähere
an ſpäterer Stelle.
747).
stirp Stamm, welches auch in obstipescere (gleichſam zum Stock werden)
erhalten iſt. So Pott Etymol. Forſch. B. 1 S. 198. Die Inſtitutionen
pr. I. de V. O. (3. 16) treffen mithin das Richtige, indem ſie das Wort
daher ableiten: quod stipulum apud veteres firmum appellabatur, forte
a stipite descendens.
Ganz entſprechend ſowohl ſachlich wie ſprachlich ſind
die deutſchen Ausdrücke: beſtätigen, rechts beſtändig, vor Gericht ge-
ſtedegen (Sachſenſpiegel II, 30 d. i. feſtmachen, wie stipulari). Mit den
Getraidegarben hat zwar das „stipendium“ (Austheilung derſelben an die
Soldaten), dagegen die „stipulatio“ nichts zu thun, und das „Getraide-
geſchäft“, das Huſchke Nexum S. 100 aus ihr gemacht und höchſt anſchau-
lich beſchreibt, iſt um nichts beſſer, als der etymologiſirende Erklärungsver-
ſuch von Isidor V, 24 §. 30.
749).
Ueber die Conventionalpön in Anwendung auf präventive Feſt-
ſtellung des Intereſſes ſ. S. 113.
750).
Ueber einen Verſuch aus neuſter Zeit, dieſe Erſcheinung aus dem
religiöſen Geſichtspunkt zu erklären, ſ. u.
751).
Das Material zu dem obigen ſ. bei Pseudo Ascon. in Verrem I,
§. 55 (Orelli II, 152) II, §. 1 (Orelli II, 156). Cic. de divin. II, 34.
Briss. de voc. ac form. I, c. 219. V,
213.
752).
Die gründliche und gelehrte Schrift von Ever. Otto: de Juris-
prudentia symbolica exercitationum trias. Traj. ad Rhen.
1730 behan-
delt nur einzelne Seiten des Gegenſtandes und ſchließt ſelbſt rückſichtlich
ihrer manche Nachträge nicht aus. Mit Rückſicht auf ſie habe ich im Folgen-
den es mir regelmäßig erſpart, die Belegſtellen anzuführen.
753).
Das dort über die hasta caelibaris Geſagte habe ich nach den
Unterſuchungen von Roßbach über die röm. Ehe S. 289 fl. bereits S. 538
berichtigt.
754).
Macrob. Sat. VII, 13: Veteres non ornatus, sed signandi
causa anulum secum circumferebant, unde nec plus habere quam
unum licebat nec cuique nisi libero, quos solos fides deceret. Plinius
H. N. XXXIII, c. 5. Otto p. 204.
755).
Otto p. 172. Ueber den Fall der wieder erlangten Freiheit
oder der Rückkehr des Römers aus feindlicher Gefangenſchaft, deſſen Otto
nicht gedenkt, ſ. Liv. XXX, 45. XXXIV, 52. Val. Max. V, 2, §. 5, 6
u. a. Der Huth kam auch auf dem Kopf von zum Verkauf ausgebotenen
Sklaven vor zum Zeichen, daß der Verkäufer für ſie keine Garantie über-
nehme (servi pileati) Gell. VII, 4 — ſoll er bedeuten, daß der Sklave die
Bedeckung nöthig habe, weil man ihm nicht auf den Kopf ſehen dürfe? Bei
dem Verkauf der Sklaven kamen überhaupt manche Zeichen vor, ſo z. B. der
Kranz auf dem Kopf der Kriegsgefangenen (sub corona venire). Woher
der Kranz? Gellius VII, 4 deutet eine Erklärung an, die viel Wahrſchein-
liches hat, obſchon er ſelbſt ſie verwirft, nämlich corona bezog ſich urſprüng-
756).
Roßbach a. a. O. S. 288: „Die Pontifices, die Ambarval-
brüder, die Flamines ſchmücken ſich damit, Opferthieren werden ſie um den
Kopf gehängt, Schutzſuchende tragen ſie auf dem Haupt und an ihren Stä-
ben, ſie hängen an den Altären und Pforten der Tempel, auch die Thüren
der Privathäuſer werden bei feierlichen Gelegenheiten damit geſchmückt.“
757).
Cicero de orat. III, 28: ut ex jure civili surculo defringendo
usurpare videatur.
755).
lich auf die corona militum, ward aber ſpäter als Kranz verſtanden — ein
Seitenſtück zu den vielen etymologiſchen Mythen des römiſchen Alterthums,
Schwegler Röm. Geſchichte Bd. I S. 70. Sklaven, die übers Meer nach
Rom gebracht waren, wurden bei ihrer Ausſtellung zum Verkauf an den
Füßen mit Gyps bezeichnet, Brisson. VI c. 10.
758).
Missio sub jugum. Aehnlich das sororium tigillum, unter das
Horatius hindurch mußte. Liv. I, 26.
759).
Eine andere Deutung gibt Macrob. Sat. I, 11 a. E.
760).
Macrob. ibid. II, 7: heredis fletus sub persona risus est.
761).
Die Symbolik des menſchlichen Körpers bildet den Hauptgegen-
ſtand des Werkes von Otto; es findet ſich in dieſem Abſchnitt freilich manches
Problematiſche.
762).
Liv. I, 18 .. si est fas hunc Numam Pompilium, cujusego
caput teneo
, regem Romae esse.
Man wird an das altteſtamentliche
Salben der Könige erinnert. Ebenſo beim pater patratus. Liv. I, 24.
763).
Otto p. 132 sq.
764).
Otto p. 141, 142.
765).
Auch in Rom, ſ. Danz der ſacrale Schutz S. 140. Daher fidem
und dextram dare gleichbedeutend. Die Zurückführung des Mandats auf
dieſe Sitte bei Isidor Orig. V, 24, 20 (man-dare) iſt eines von den vielen
etymologiſchen Märchen, an denen dies Kapitel von Iſidor ſo reich iſt
(ſ. z. B. oben Note 747).
766).
Roßbach a. a. O. S. 308. Ebenſo bei Abſchluß eines Friedens.
767).
Brisson. de voc. ac form. I c. 62. Beim Votum I c. 179.
Bei dem Opfer vorheriges Waſchen der Hände als Zeichen der Reinheit.
I c. 5.
768).
Je nach Umſtänden. Vergleiche Liv. VIII, 9 mit Macrob.
Sat. III, 9.
769).
So in Rom namentlich bei öffentlichen Licitationen von Seiten
des Steigerers, der daher man-ceps hieß. Brisson. de voc. ac form. IV
c. 85.
Aber auch bei andern Gelegenheiten. S. z. B. Liv. III, 46 … quum
instaret .. ut sponsores daret … manus tollere undique multitudo et
se quisque paratum ad spondendum ostendere.
770).
Gaj. II, 104.
771).
Daß beide die Pfoſte gehalten, wie Marquardt in Becker Handb.
der röm. Alterth. IV S. 226 annimmt, beruht auf Mißverſtändniß und wäre
772).
Liv. II, 8. Cic. pro domo 46, 47. Val. Max. V, 10 §. 1.
Serv. ad Georg. III, 16.
Daher die Wendung dedicare, consecrare
manu Cic. de leg. II, 2, pro domo 40,
u. a.
773).
Bei Macrob. Sat. III, 9. Ebenſo beim Votum an die Ops I, 10
und bei den religiöſen Spielen. Cic. de harusp. resp. 11: si puer ille
patrimus et matrimus terram non tenuit.
774).
Ueber den Eid ſ. die Belege bei Briss. a. a. O. VIII, c. 10 und
Danz der ſacrale Schutz S. 45, 113; über das Opfer bei Briss. I c. 63
namentlich Macr. Saturn. III, 2 … quod litare sola non possit
oratio
, nisi is qui deos precatur etiam aram manibus apprehendat.
775).
Deutet Macrobius mit den geſperrten Worten der vorigen Note
771).
eine Monſtroſität geweſen, es hätten denn Beide zugleich dediciren müſſen,
was wiederum nicht möglich. Der Pontifex ward da, wo er nicht ſelbſt dedi-
cirte, dadurch nicht dedicirendes Subject, daß er dem dedicirenden Magiſtrat
die Formel vorſprach.
776).
Die relativ niedere Natur der factiſchen Herrſchaft des Beſitzes
gegenüber der rechtlichen des Eigenthums drückt die Sprache dadurch aus,
daß ſie jenes Verhältniß als bloßen Zuſtand des Seins auf und in der Sache
(Sitzen: Beſitzen, sedere: possidere) erfaßt, es liegt darin die geringere
Anſpannung der Kraft und des Willensvermögens deutlich ausgeſprochen.
777).
Gaj. I, 121 … item animalia, quae mancipi sunt, nisi in
praesentia sint, mancipari non possunt, adeo quidem ut eum qui man-
cipio accipit, adprehendere id ipsum quod ei mancipio datur necesse
775).
nicht auf dieſe Idee hin, daß das bloße Wort zu wenig ſubſtantiell ſei, um
zu genügen? — Beruhte auf dieſer Vorſtellung auch die Sitte (die Stellen bei
Briss. I, c. 49) die Geſchenke an die Götter an die Pfoſten der Tempel
aufzuhängen?
778).
Roßbach a. a. O. S. 328.
779).
S. die Theorie des ſubj. Willens.
777).
sit, unde etiam mancipatio dicitur, quia manu res capitur,
praedia vero absentia solent mancipari.
780).
Gaj. IV, 16.
781).
So ſtellte Gell. XX, 10 wenigſtens die Sache dar.
782).
Cic. pro Mur. c. 12. Ich komme auf die Formel ſpäter zurück.
783).
Keller Der röm. Civilproceß §. 14 conſtruirt den Vorgang etwas
anders, indem er den Bericht von Cicero und Gajus in einer Weiſe combi-
nirt, die ihm ſelbſt nicht ganz unbedenklich erſcheint. Ex jure vocare kann
aber nur den Sinn haben: zu einem Act aufzufordern, der nicht in jure
vorgenommen werden ſoll, dieſer Act aber wird bezeichnet nicht als Holen
der Scholle — die muß bereits da ſein — ſondern als „manum conserere“.
Daſſelbe geſchieht alſo extra jus, möge es an dem Grundſtück ſelbſt oder
an der daſſelbe repräſentirenden Scholle vorgenommen werden, und eben dieſe
Abweichung von dem: in jure manum conserere der XII Tafeln (Gell:
contra XII tabulas
) wird durch jenes: ex jure … vocare in ſolenner
Weiſe kundgegeben. Nach der Kellerſchen Auffaſſung würden die Partheien
im Widerſpruch mit dieſer Formel das manum conserere in jure vornehmen
und (vermöge der Scholle) ein Grundſtück vor Gericht bringen, extra jus
hingegen das nicht thun, zu dem ſie ſich durch die obige Formel auffor-
dern: das manum conserere, und wiederum zu dem, was ſie thun: zu dem
Holen der Scholle, ſich nicht auffordern. Mit der Rückkehr vor Ge-
richt iſt meiner Anſicht nach der Act des manum conserere beendet, nach
Keller (und ebenſo Puchta Inſtit. II §. 162 zu Note o im Texte) beginnt er
erſt jetzt.
784).
Fest: Manumitti … caput aut aliud membrum tenens
dicebat .... et emittebat.
Wie bei der Vindication (und urſprünglich
ſicher auch der Abtretung vor Gericht) kehrt auch hier die Auflegung der Vin-
dicta wieder. Ueber die ſymboliſche Bedeutung des Schlages, den der Sklav
erhält (Unterholzner in der Zeitſch. für geſchichtl. Rechtsw. B. 2 Abh. V
Anm. 20, 25, 29) kann man verſchiedener Anſicht ſein. Das Herumdrehen
des Freizulaſſenden — ein Act, der auch bei der Emancipation vorkam, ſ.
z. B. L. 6 Cod. de emanc. lib. (8. 49): circumductiones — iſt bereits
früher (S. 535) von mir zu erklären verſucht. Uebrigens will ich nicht ver-
ſchweigen, daß derſelbe Act ſich auch in einer Anwendung wiederholt, in der
eine andere Deutung nothwendig wird, nämlich bei der Anbetung der Gott-
heit, ſ. die Stellen bei Brissonius I c. 58.
785).
Im dritten Syſtem werde ich dieſen Uebergang conventioneller
786).
Welcher Juriſt kennt nicht die stipulatio Aquiliana von Aquitius
Gallus (zur Zeit Cicero’s)? Von ſeinen Schriften iſt uns nichts erhalten,
aber jene stipulatio, die postumi Aquiliani und die formulae (actio) doli
mali
haben ſeinen Namen auf die Nachwelt gebracht. Ein anderes Beiſpiel
gewährt die cautio Muciana ſeines Lehrers O. Mucius Scävola. Die Sache
erinnert an eine ähnliche Erſcheinung auf dem Gebiete der Medicin. Neben
785).
Beſtimmungen in geſetzliche an verſchiedenen Beiſpielen erläutern; es iſt eine
der beachtenswertheſten Erſcheinungen in der Bildungsgeſchichte des ſpätern
Rechts, manchen Rechtsſatz kann man nur dann wirklich verſtehen, wenn
man ihn in ſeiner vorgeſetzlichen Form erfaßt.
787).
Varro de re rust. II, 5, 7.
788).
S. z. B. Cato de re rustica 144: oleam legendam hoc modo
locare oportet, 145 .. faciendam hac lege
und die folgenden Kapitel.
Varro de re rustica II, 2: emtor stipulatur prisca formula sic; c. 3,
4, 5: eos cum emimus domitos, stipulamur sic … cum indomitos, sic.
786).
dem Ruhm und der Unſterblichkeit, die ſich an die Erfindung von nach ihrem
Urheber benannten Tropfen, Pillen, Salben, Pflaſtern, Pulvern u. ſ. w.
knüpft, erblaßt der Glanz auch des gefeierteſten mediciniſchen Namens.
789).
So fehlen uns z. B. gänzlich: die Formeln der confarreatio,
diffarreatio, coemptio,
des nexum; bei den von Gajus III, 174 und II,
104 mitgetheilten Formeln der nexi solutio und familiae mancipatio ſind
gerade die entſcheidenden Worte ausgefallen, und welchen Werth die Reſtitu-
tionsverſuche haben, davon unten.
790).
Man vergleiche z. B. die Mancipationsformel bei Gaj. I, 169:
isque mihi emptus est hoc aere aeneaque libra
mit der bei Paulus Vat.
fr. §. 50 emtus mihi est pretio
und die Verwechſlung der Conjunction cum
und quod bei Ulp. XXII, 28 und Gaj. II, 166.
791).
Vergleiche Gaj. III, 102 mit L. 1 §. 4 de V. O. (45. 1).
792).
Ulp. XXI. Gaj. II, 117 .. sed et illa (heredem esse jubeo)
jam comprobata videtur.
793).
Gaj. II, 201. Ulp. XXIV, 4. Die Formel: dare jubeo kennt
Gajus noch nicht, und es iſt daher nicht zu rechtfertigen, wenn die Heraus-
geber bei II, 267, wo die Handſchrift eine abſolute Lücke hat, neben der For-
793).
mel: liber esto aus Ulpian II, 7, auch die: liberum esse jubeo in den
Text geſetzt haben. Letztere war hier ſowohl als beim Legate und der Erbes-
einſetzung jüngern Urſprunges: L. 52 de man. test. (40. 4). Wären unter
den „imperatores“ dieſer Stelle auch nicht Sever und Caracalla, ſondern
Mark Aurel mit ſeinem Bruder oder Sohn zu verſtehen, hätte alſo die hier
erwähnte Conſtitution dem Gajus bekannt ſein können, ſo würde er hier ſo
wenig wie bei der Erbeseinſetzung den ſo neuen Urſprung dieſer Formel zu
erwähnen nicht unterlaſſen haben. Es zeigt ſich hier, wie mißlich es iſt, For-
meln
ohne handſchriftliche Autorität in den Text aufzunehmen; in unſerm
Fall hat man dem Gajus geradezu einen Anachronismus aufgebürdet.
794).
Verba certa, solennia (d. i. sollo = toto anno = alljährlich
wiederkehrende) legitima (ſtreng genommen die einer lex entnommenen, allein
der Sprachgebrauch iſt ein weiterer). Ulp. IX, 1. XIX, 3. Gaj. I, 112.
IV, 29. Gell. XI, 1. Briss. I c. 181.
Bei Nichtjuriſten andere Ausdrücke
z. B. carmen, solenne carmen, certa nuncupatio verborum und auch
formula in Anwendung auf Rechtsgeſchäfte (bei Juriſten vorherrſchend von der
Formula des Formularproceſſes gebraucht, bei Gaj. IV, 24 forma für eine
legis actio, ſ. auch L. 2 §. 7, 12 de orig. jur. 1. 2). Der Ausdruck: con-
cepta verba
(z. B. beim Eid: Briss. VIII, 10, und Formularproceß) weiſt
auf die Abfaſſung im einzelnen Fall hin, allein wie die conceptae feriae
(im Gegenſatz der stativae, die ipso jure an beſtimmte Tage geknüpft wa-
ren) dem Herkommen nach zum Theil immer auf gewiſſe Tage gelegt wurden,
alſo ſtehend waren (Macrob. Sat. I, 16), ungeachtet ſie ihrem Begriff nach
lediglich auf der freien Beſtimmung des Magiſtrats beruhten, ſo auch viel-
fach die concepta verba.
795).
In der Vindicationsformel bei Gajus IV, 16 wird auf einen ſol-
chen vorausgegangenen freien Vertrag der Parthei Bezug genommen: ..
secundum suam causam, sicut dixi.
796).
Vat. fr. §. 318. Non tamen sic putat certis verbis cognito-
rem dari debere, ut si quid fuisset adjectum vel detractum, non valeat
datio ut in legis actionibus.
797).
Liv. I, 32: Audite fines (cujuscunque gentis sunt nominat)
… populum illum (quicunque est, nominat)…
In den Formularen des
Formularproceſſes figuriren die Namen Aulus Agerius Numerius Negidius.
Wenn Ciceros Vorwurf pro Murena 12: et quia in alicujus libris exem-
pli causa id nomen invenerant, putarunt omnes mulieres, quae coemp-
tionem facerent, Gajas vocari
begründet wäre, ſo wären hier die Blan-
kettnamen ähnlich wie in dem Beiſpiel, das Keller Röm. Proc. §. 41 a. E.
aus dem engliſchen Proceß mittheilt, fingirte Namen geworden, ſ. jedoch
darüber Roßbach Unterſ. über die röm. Ehe S. 352.
798).
Gaj. IV, 16 hat bloß: hunc hominem, ähnlich wie bei der in
jure cessio II, 24
und der mancipatio I, 119, und es iſt denkbar, daß bei
Vornahme dieſer Akte an beweglichen Sachen die namentliche Bezeich-
nung der Sache hinweggefallen iſt, da ſie durch die Gegenwart und das Hal-
ten derſelben überflüſſig gemacht wurde.
799).
Dirkſen Civil. Abh. B. 1. Abh. 1.
800).
Als Princip iſt dies indirect anerkannt in der in der folgenden
Note abgedruckten L. 8 §. 4 de accept. Einzelne Anwendungsfälle gewäh-
ren: die sponsio Gaj. III, 93 .. adeo propria civium Romanorum
est, ut ne quidem in graecum sermonem per interpretationem proprie
transferri possit, quamvis dicatur a graeca voce figurata esse,
das Te-
ſtament
L. 21 §. 4 Cod. de test. (6. 23) mit ſeinen ſämmtlichen Beſtim-
mungen, z. B. der Freilaſſung (L. 14 Cod. de test. man. 7. 2), dem Legat
(Ulp. XXV, 9. Gaj. II, 281), der Ernennung eines Tutors (L. 8 Cod. de
tut. test. 5. 28
), vor allem alſo auch der Erbeseinſetzung.
801).
Z. B. bei der Acceptilation L. 8 §. 4 de acc. (46. 4): hoc
jure utimur, ut juris gentium sit acceptilatio,
(d. h. eigentlich wäre ſie
es nicht) et ideo puto et graece posse acceptum fieri, dummodo sic fiat,
ut latinis verbis solet,
bei der Beſtellung eines Cognitor Vat. fr. §. 319,
obgleich dafür certa et quasi solennia verba nöthig waren Gaj. IV, 83,
97,
bei der fidejussio L. 8 pr. de fidej. (46. 1) L. 12 Cod. de fidej. (8.
41).
Bei der gewöhnlichen Stipulation mit Ausnahme der sponsio L. 1
§. ult. de V. O. (45. 1) Gaj. III, 93
kann man kaum von einer Conceſſion
ſprechen, da ſie keiner verba certa et solennia bedarf. Ob ſie aber nicht
überhaupt, ſowohl in der Anwendung auf Peregrinen als Römer, ſpäteren
Urſprunges iſt, ſcheint mir mehr als wahrſcheinlich.
802).
Als Princip ausgeſprochen iſt es meines Wiſſens nirgends, eben
weil es ſich für den Römer von ſelbſt verſtand. Für die Mancipation und
das Nexum lag es in den Worten der Tafeln: uti lingua nuncu-
passit
.
803).
Daher noch im ſpäteren Recht die Wendung: legem dicere
(z. B. suae rei) für eine Vertragsbeſtimmung ſchlechthin.
804).
Haec uti in his tabulis cerisve scripta sunt, ita do ita lego,
ita testor. Ulp. XX, 9.
Ein Beiſpiel aus dem geiſtlichen Rechte gewährt
die Einweihung eines Tempels unter Bezugnahme auf die Fundationsurkunde
eines anderen Tempels ſ. bei Briss. I, 194: ceterae leges huic arae eae-
dem sunto, quae arae Dianae sunt in Aventino dictae.
805).
So z. B.: quantam pecuniam … credidero, tantam dari
spondes (L. 18 §. 3 de stip. serv. 45. 3), fide tua esse jubes (L. 47 §. 1
de fidej. 46. 1).
Beim Teſtament: quem heredem codicillis fecero,
heres esto (L. 73 de hered. inst. 28. 5), quantum legavero .. (L. 38 de
cond. et dem. 35. 1).
Eine ausführliche Erörterung folgt im dritten Sy-
ſtem bei der Theorie der Rechtsgeſchäfte.
806).
In der älteren Sprache wird dieſer Ausdrück für Sprechen ſchlecht-
hin gebraucht, in der neuern ſcheint er vorzugsweiſe für die aus Schrift und
Rede verbundenen Geſchäfte gebraucht worden zu ſein, um mittelſt ſeiner den
mündlichen Theil des Geſchäfts (nuncupatio) im Gegenſatz zu dem ſchrift-
lichen (tabulae) beſonders hervorzuheben; ſo namentlich beim Teſtament und
Votum, ſ. z. B. Sueton. Aug. c. 97. Fest. nuncupat.
807).
Festus: Praejurationes facere dicuntur hi, qui ante alios con-
ceptis verbis jurant, post quos in eadem verba jurantes tantummodo
dicunt: idem in me. Polyb. VI, 21.
Becker Handbuch der röm. Alterth.
(Marquardt) III. Abth. 2 S. 291. Bei Tac. Hist. IV, 31 ſpricht jeder der
Soldaten den Eid vollſtändig nach. Liv. II, 45. XXVIII, 29 läßt gar nicht
erkennen, in welcher Weiſe der Eid abgeleiſtet iſt.
808).
Liv. I, 24. Legibus (foederis) deinde recitatis: Audi, inquit,
Jupiter .... ut illa palam prima postrema
(vom Anfang bis zu Ende)
ex illis tabulis cerave recitata sunt .. illis legibus popu-
lus Romanus prior non deficiet.
809).
Val. Max. IV, 1 §. 10: Sueton. Aug. c. 97. Apulej. Metam.
lib. XI (ed. Bip. p. 257) de libro, de literis fausta vota praefatus.
810).
L. 1. 2. 3 Cod. de sent. ex peric. (7. 44).
811).
Wenn ſonſt das: nomina transscribere bei Liv. XXXVII (a. 559)
im techniſchen Sinn gemeint iſt (Gaj. III, 130), worüber man noch ſtreiten
könnte.
812).
Eine Analogie aus dem ſpätern Recht ſ. bei Paulus Sent. Rec.
V, 7 (Hänel 8) §. 2: quod si scriptum fuerit instrumento promisisse
aliquem, perinde habetur ac si interrogatione praecedente responsum
sit.
813).
Ueber beides ſ. L. 48 de O. et A. (44. 7) .. in quibus negotiis
sermone non opus est. L. 6 §. 1 qui testam. (28. 1) Ulp. XX, 7. 13.

Die tutoris auctoritas L. 1 §. 2, 3 de tut. (26. 1). Mit den verba certa
iſt auch dieſe Conſequenz derſelben im juſtinianiſchen Recht hinweggefallen
L. 10 Cod. qui test. (6. 22).
814).
L. 2 §. 6 de O. J. (1. 2) S. 418 ff., Note 540.
815).
L. 2 §. 7 de O. J. (1. 2).
816).
Weinhold altnordiſches Leben, Berlin 1856. S. 402.
817).
Z. B. sacer, parricida, damnas, talio esto; cogito, reddito, ad-
judicato
u. ſ. w. Briss. II, 20 u. fl. 32 u. fl.
818).
Z. B. auch bei dem Votum eines Ver ſacrum. Liv. XXII, 10.
819).
Z. B. piaculum dato, aram ne tangito.
820).
In Senatsbeſchlüſſen und im prätoriſchen Edict habe ich ihn
vergebens geſucht, dagegen kömmt im Edict der Aedilen zwei Mal der Im-
perativ pronuncianto und mit Bezug darauf eadem faciunto vor, während
daſſelbe ſonſt den Sprachgebrauch des prätoriſchen (ſ. u.) beobachtet.
821).
z. B. Solve L. 59 §. 1 de re jud. (42. 1). Daß für das Urtheil
keine verba solennia erforderlich geweſen ſein ſollten (Keller röm. Proceß
§. 66: läßt ſich höchſtens für die ſpätere Zeit behaupten. Für die ältere
ſ. Varro de L. L. VI, 61 judex .. quibusdam verbis dicendo finit.
Ueber die Form des bloßen Ausſpruches ſ. unten.
822).
z. B. Gell. V, 19.
823).
Gaj. IV, 16. Ebenſo die dort mitgetheilte Formel: sacramento
te provoco,
und bei Val. Prob. de notis §. 4: quando in jure te conspi-
cio, postulo an fas (fuas, fias) autor.
Ebendaſelbſt die gleich nachher im
Text erwähnte Formel der judicis postulatio.
824).
Ausdrücke von Ulp. XXIV, 1 bei Gelegenheit der Legate.
825).
Denn nach der Art wie Gaj. II, 193. Ulp. XXIV, 3 ſich äußern,
kann man ſie nicht, wie die oben S. 609 beſprochenen, für eine Formel jün-
geren Urſprungs halten. Dieſelben Ausdrücke kommen auch in der Formel
der nuncupatio vor, ita do, ita lego; vielleicht liegt darin die Löſung
verborgen.
826).
Gaj. I, 149—152. Vat. fr. 229, 230. — Nach der Art, wie
Gajus ſich äußert, muß die Formel: tutor estoneueren Urſprungs ſein.
827).
Ueber das Födus ſ. Briss. V. c. 48, 49: amicitia esto, jus
828).
Beiſpiele. SC. de Bacchanal. (das älteſte erhaltene): ne quis
adesse velit. SC. de curator. aquarum
(bei Frontin) uti darent, at-
tribuerent, uti liceret, ne cui liceret. SC. de aedificiis non diruendis:
ne quis domum dirueret; poenam inferri cogeretur, venditio irrita
fieret.
Ebenſo in den Municipaldecreten (Beiſpiel bei Haubold. monum.
leg.
S. 232).
827).
belli gerendi ne esto, tradito, restituito; über die lex dedicationis Briss.
I, c. 194: legem dixit .. probe factum esto, jus fasque, eadem lex
esto,
über die Contractsformulare die Werke von Cato und Varro über den
Landbau. Iſt es Zufall, daß Livius, der ſich bei dem foedus des Impera-
tivs bedient (ſ. z. B. XXXVIII, 11 u. a. St. bei Briss.), die von dem
Feldherrn entworfenen Friedensbedingungen XXXIII, 30. XXXIV, 35 im
Conjunctiv faßt?
829).
Eine ganze Blumenleſe von Conjunctiven ſ. in L. 1 §. 10 de
ventre inspic.
(25. 4).
830).
Beiſpiele über verſchiedene Anträge bei Briss. II, c. 1.
831).
Die Einleitungsphraſen waren: placere videri, curae fore,
existimare, censere, arbitrari, aequum censere, judicare
u. a. mit dem
Accuſativ cum Infinitiv oder bei Befehlen mit ut und ne, ſ. Briss. II, c.
73 und fl. Daß dieſelben urſprünglich ohne allen Unterſchied gebraucht ſein
832).
Cic. Acad. prior. II, 47: majores voluerunt … quae judices
cognovissent, ea non ut esse facta sed ut videri pronuntiarent.
Bei-
ſpiele bei Briss. V, c. 218. Namentlich ſcheint im Sacramentsproceß das
Urtheil auf sacramentum (actoris, rei) justum videri gelautet zu haben.
Keller Civilproceß §. 66 bezeichnet das videri bloß als „alt anſtändig“.
833).
Cic. pro Fontejo c. 9: illud verbum consideratissi-
mum
nostrae consuetudinis: arbitror, quo nos etiam tunc utimur,
quum ea dicimus jurati quae comperti habemus, quae ipsi vidimus.
Acad. prior. II,
47.
834).
Daß man ſpäterhin ſich nicht an dieſe Form band, iſt freilich un-
zweifelhaft, allein dies iſt für die ältere Zeit durchaus nicht maßgebend. Bei-
ſpiele jener Reſponſen ſ. bei Briss. I, 211, 215, 218 II, 98 III, 88 u. a.
835).
Die letztere Formel bei Val. Prob. de notis §. 4, die erſtere bei
Gaj. IV, 16.
831).
ſollten, kann ich nicht glauben, habe jedoch meine Unterſuchung nicht ſo weit
ausdehnen können.
836).
Das Präſens kommt faſt nur in der im Edict aufgeſtellten For-
mel der Interdicte vor: vim fieri veto.
837).
So auch die römiſche Stipulationsform mit spondeo. Die
abſtractere an kein beſtimmtes Wort gebundene Stipulation des jus gentium
hingegen (S. 581) kann im Futurum geſchloſſen werden: dabis dabo,
facies faciam.
838).
Vat. fragm. §. 49.
839).
Dies geht hervor aus der Art, wie Ulpian in L. 9 pr. de interr.
(11. 1) ſich äußert: si sine interrogatione quis responderit se heredem,
pro interrogato habetur.
Ein Beiſpiel einer Frage aus dem Legis-
actionenproceß bei Gaj. IV, 16: postulo, anne dicas, qua ex causa vin-
dicaveris.
840).
Die Begründung dieſes Satzes ſ. in der Theorie des ſubj. Wil-
lens. Als Beiſpiel diene die mancipatio; ſelbſt bei der Teſtamentserrichtung
ſpricht zuerſt der familiae emtor und erſt nach ihm der Teſtator.
841).
Damit hängt die Interpretationsregel in L. 39 de pact. (2. 14)
und L. 38 §. 18 de V. O. (45. 1) zuſammen.
842).
Liv. I, 24. Jubesne me, Rex, … foedus ferire .... facisne
me tu regium nuntium
u. ſ. w.?
843).
Daß bei der Anrufung einer Perſon (z. B. der Götter Cato de re
rust. c. 132, 134. Liv. I, 18 VIII,
9) der Name gleich am Anfang genannt
wird und dem entſprechend die Formula mit der Nennung des Richters (M.
M. judex esto)
beginnt, verdient kaum der Hervorhebung.
844).
Ich verweiſe auf die ſtehende Formel lex sive Plebiscitum und
ſodann auf L. 7 §. 7 de pact. (2. 14) .. adversus leges, Plebiscita, SCa,
edicta principum.
845).
Man hatte auch andere Deutungen allegoriſcher Art, die ebenfalls
bei der bekannten Weiſe der Römer große innere Wahrſcheinlichkeit haben,
z. B. daß Janus als Pförtner den Bitten den Eingang öffnen ſolle. Die
ſämmtlichen Belegſtellen ſ. bei Briss. I, c. 75.
846).
Ein anderes freilich problematiſches Beiſpiel einer ſolchen hiſto-
riſchen
Anordnung habe ich S. 570 gegeben.
847).
So z. B. um das Opferthier zu führen. Plin. H. N. XXVIII, 5.
848).
Schol. Bob. ad orat. pro Scauro §. 30 (Orelli II p. 374) necesse
enim erat, ut haec nomina prima essent in exercitu propter omen. Cic.
de nat. deor. II, 27. Cum in omnibus rebus maximam vim haberent
prima et extrema.
849).
Plin. H. N. XVIII, 3.
850).
So iſt Gellius XI, 1 über die multa minima und suprema und
Plinius zu combiniren. Niebuhr Röm. Geſch. B. 2. Aufl. 3. S. 341.
851).
Damit hängt namentlich auch die Stellung der praescriptiones
pro reo
(Keller Röm. Civilproc. §. 43) am Anfang der Formel zuſammen.
852).
Für dieſen Fall iſt ſogar das Erforderniß der vorherigen Nam-
haftmachung der causa von Gaj. IV, 24 ausdrücklich hervorgehoben.
853).
Eine ganze Blumenleſe bei Briss. I, c. 159 und fl. Die bei den
854).
Ich benutze dieſe Gelegenheit, um auf einen für die ſcharfe Faſſung
der Formeln recht lehrreichen Beleg aufmerkſam zu machen. Enthält nämlich
nicht das: si non paret absolve einen Pleonasmus? verſtand es ſich nicht
von ſelbſt, daß der Richter zu abſolviren hatte, wenn die Bedingung der
Condemnation, das si paret nicht eingetreten war? Für uns wohl, und ebenſo
dachten die ſpätern römiſchen Juriſten (L. 37 de R. J. 50. 17 L. 3 de re jud.
42. 1)
, allein die frühern verlangten, daß dies ausdrücklich hervorgehoben
werde, denn das Gegentheil von si paret, condemna iſt ſtreng genom-
men nicht das poſitive: absolve, ſondern das negative: ne condemna. Dar-
auf beruhte auch die Nothwendigkeit der ausdrücklichen exheredatio bei der
bedingten heredis institutio eines suus heres, was ich hier nicht weiter aus-
führen kann. Nur wo beim Nichteintritt der Bedingung lediglich die bedingt
geſetzte Folge ausfallen ſoll (z. B. spondesne dare, si fecerim) bedarf
es der ausdrücklichen Hervorhebung nicht; die reine Negation verſteht ſich
von ſelbſt.
855).
Viele andere Belege bei Briss. VII, c. 62 u. a. a. St.
853).
Dichtern vorkommenden Vota eigner Fabrication können natürlich nicht mit
in Betracht kommen, obgleich auch ſie regelmäßig die Bedingung voranſtellen.
856).
Delibatio hereditatis L. 116 pr. de leg. I. (30).
857).
Gaj. II, 231 .. quod nihil ex hereditate erogatur tutoris
datione.
858).
Wie Savigny Syſtem V §. 226 Note e ſie in die Wagſchale wirft,
indem er gegen die im Text vertheidigte Anſicht den Einwand des „unbehülf-
lichen und undeutlichen Ausdrucks“ geltend macht.
859).
Was Savigny ſchlechthin will und Keller Röm. Civilproc. §. 34
Note 376 wenigſtens für möglich hält. Die lex Rubria c. 20, die er anführt,
beweiſt dies nicht, denn die condemnatio ſteht in der von ihr aufgeſtellten
Formel ganz am Ende (C. S. N. P. A. d. h. Condemna, Si Non Paret
Absolve
). Der Schein des Gegentheils iſt durch die Auflöſung von E. J.
in eum jube veranlaßt — eine Auflöſung, die aus mehren, ziemlich auf der
Hand liegenden Gründen unmöglich iſt.
860).
Gaj. Il, 229. — Ante heredis institutionem inutiliter legatur,
quia testamenta vim ex institutione heredis accipiunt et ob id velut
caput et fundamentum intelligitur totius testamenti heredis institutio
§. 230 (libertas) §. 231 (tutoris datio).
861).
Gaj. II, 231.
862).
L. 35 de R. J. (50. 17) L. 153 ibid. ſ. S. 405. Note 523.
863).
Ulp. XXIV, 29. pr. I. de ademt. leg. (2. 21) L. 13 §. ult. de
statul. (40. 7).
Anders beim Fideicommiß: L. 18 de leg. III, L. 27 Cod. de
fideic. (6. 42).
864).
L. 8 §. 3 de acc. (46. 4): Acceptum fieri non potest, nisi quod
verbis colligatum est. Acceptilatio enim verborum obligationem tollit,
quia et ipsa verbis fit, neque enim verbis potest tolli, quod non
verbis contractum est
.
865).
Otto jurispr. symb. p. 185 findet einen Anwendungsfall darin,
daß wie die Gründung, ſo auch die Zerſtörung der Städte durch den Pflug zu
geſchehen pflegte.
866).
Daß ſie aber, wie Einige wollen, der legis actio per condictio-
nem
ſollte angehört haben, iſt ſchon aus dem Grunde höchſt unwahrſcheinlich,
weil dieſe legis actio zu Probus Zeit lange aufgehört hatte praktiſch zu ſein.
Keller Röm. Civilproc. §. 14 Note 219 überweiſt ſie dem Sacramentspro-
ceß, und dies ſcheint mir das Wahrſcheinlichſte.
867).
Einen andern haben wir bereits in anderm Zuſammenhange S. 602
868).
Die einzelnen Arten ſind bereits früher berührt, ſ. B. 1 S. 146 fl.
und S. 265 fl. B. 2 S. 431.
869).
Gaj. IV, 11, 30.
870).
Der Ausdruck: actio, agere hatte urſprünglich weder eine vorwie-
gend proceſſualiſche Bedeutung — auch die Geſchäftsformulare hießen actio-
nes
S. 313 oben — noch die des Handelns im Gegenſatz zum Spre-
chen
. Varro de ling. lat. (Müller) VI §. 42 .. et cum pronuntiamus, agi-
mus. Itaque ab eo orator agere causam et augures augurium
agere
dicuntur, quum in eo plura dicant, quam faciant.
ſ. auch §. 77,
78 ibid.
867).
oben bei Gelegenheit der Hand kennen lernen: Das Recht, welches durch die
Hand begründet iſt, wird auch durch dieſelbe geltend gemacht, in
einem Fall (daſelbſt Note 784) kommt noch das Entlaſſen aus der Hand
hinzu.
871).
D. h. die materiellen Klagrechte, nicht die Formeln (wie Keller
Röm. Civilproc. §. 12 Gajus verſteht). Daß die alten Geſetze Klagformeln
aufgeſtellt, iſt nicht einmal für einen einzelnen Fall, geſchweige als allge-
meine Einrichtung bezeugt, im Gegentheil heißt es: ex his legibus actio-
nes compositae sunt L. 2 §. 6 de O. J. (1. 2).
872).
Eine dritte Deutung iſt im Widerſpruch mit Gajus aufgeſtellt von
Schmidt de orig. leg. act. Frib. 1857 p. 6. Sie iſt um nichts beſſer, als
die Idee, der zu Liebe ſie erfunden (ſ. u.). Lex ſoll „Spruch“ bedeuten, Legis
actiones
ſeien „actiones formulis dicendis peragendae“ geweſen. Ganz
abgeſehen davon, daß lex als ſolches nie dieſe Bedeutung hat, ſo gibt dieſe
Deutung gerade das Charakteriſtiſche und Treffende des Ausdrucks auf, um
dafür einen Sinn einzutauſchen, in dem derſelbe eben ſo gut auf alle mög-
lichen Formulare und Formeln paſſen würde. Warum kommt denn der Aus-
druck legis actiones niemals in Anwendung auf letztere vor? Durch „Spruch“
wurden auch ſie vollzogen, und „actiones“ ſchlechthin werden auch ſie ge-
nannt (ſ. Note 870).
873).
Sie erſtreckte ſich auch auf die Namen der Klage, z. B. act. de
tigno juncto, membro rupto, glande legenda, arborum furtim caesarum.
873).
Der Name der Klage begründet daher einen Schluß auf die im Geſetz ge-
brauchten Ausdrücke, ſo z. B. der der actio aquae pluviae arcendae.
874).
Dieſelbe wiederholt ſich bis zu einem gewiſſen Grade auch im eng-
liſchen Proceß, der demnach Legisactionen im römiſchen Sinn kennt (ſ.
Note 893). Nach de Lolme Verfaſſung von England (Ueberſ. Altona
1819 S. 122) würde ſogar früherhin in England ein ähnliches Depot für
die Klagformeln beſtanden haben, wie einſt in Rom bei dem Pontificalcolle-
gium: „Dieſe koſtbaren Writs endlich, die Briefs [Auszüge, brevia], wie ſie
auch vorzugsweiſe genannt werden, die in Form und Richtung genau beſtimm-
ten Klagen, das Elixir und die Quinteſſenz des Rechts ſind der beſondern
Sorge eigends dazu angeſtellter Beamten übergeben worden, deren Aemter
von den beſondern Gefäßen den Namen erhalten, die ſie zur Aufbewahrung
des ihnen anvertrauten Pfandes gebrauchen. Das eine heißt nämlich das Ha-
naper (Janaperium Korb), das andere das Schmal (Petty)-Bag Amt (parva
baga
= kleiner Sack, Beutel). Hier werden die Writs aufbewahrt, welche
des Königs, dort die, welche der Unterthanen Intereſſen betreffen.“ Heutzu-
tage geändert: Gneiſt Das heut. engl. Verf. und Verwaltungsrecht B. 1
S. 522, der auch im Uebrigen etwas abweicht.
875).
L. 2 §. 4 de O. J. (1. 2) verglichen mit §. 3 ibid: incerto ma-
gis jure et consuetudine, quam per legem latam — postea ne diutius hoc
fieret … et civitas fundaretur legibus.
876).
L. 2 §. 6 ibid. quas actiones, ne populus prout vellet institue-
ret, certas solennesque esse voluerunt.
877).
Gaj. IV, 13.
878).
Cic. de orat. I, 43.
879).
L. 2 §. 6 de O. J. (1. 2) ex his legibus .. actiones composi-
tae sunt.
880).
Die Tripartita des Aelius (L. 2 §. 38 de O. J.) aus der man ſelt-
ſamer Weiſe ein Werk aus drei Büchern gemacht hat, in deren erſtem der
Verf. die ganzen XII Tafeln abgeſchrieben hätte! Tripartitum heißt hier drei-
ſchichtig, drei Beſtandtheile umfaſſend wie in §. 4 I. de jure nat. (1. 1).
Die drei Beſtandtheile ſind in L. 2 §. 6 ibid. (tria haec jura) genannt. —
So jetzt auch Rudorff in ſeiner [inzwiſchen erſchienenen] römiſchen Rechtsge-
ſchichte B. 1 S. 158.
881).
Gaj. IV, 29. Ex omnibus autem istis causis certis verbis
pignus capiebatur et ob id plerisque placebat, hanc quoque actionem legis
actionem esse, quibusdam autem non placebat, primum quod pignoris
captio extra jus peragebatur i. e. non apud Praetorem, plerumque etiam
absente adversario, cum alioquin ceteris actionibus non aliter uti pos-
sent quam apud Praetorem praesente adversario, praeterea nefasto quo-
que die i. e. quo non licebat lege agere, pignus capi poterat.
882).
Für die in jus vocatio kommen bei den Dichtern noch verſchiedene
Formeln vor: z. B. ambula in jus, eamus in jus u. a. ſ. bei Briss. V. 1.
Seltſamer Weiſe hält dieſer Schriftſteller dieſe Formeln für die ächten, dage-
gen die obige, welche bei Plautus an vier verſchiedenen Stellen ſich wieder-
holt und das unverkennbare Gepräge der Aechtheit an ſich trägt, für eine Er-
findung des Plautus.
883).
Die Zeugniſſe für dieſes und die folgenden Beiſpiele bei Dirkſen
Ueberſicht u. ſ. w. der Zwölftafel-Fragmente. Tafel I.
884).
So bei Gaj. IV, 24. Manus ſtatt man um injicio in §. 20 da-
ſelbſt iſt daher unrichtig.
885).
Tafel III: post deinde manus injectio esto; in jus ducito, ni
judicatum facit aut quips endo em jure vindicit, secum ducito.
886).
Schmidt von Ilmenau in der Note 872 citirten Schrift.
887).
Die folgenden Ausführungen von ihm, auf die ich von ihm (p. 2)
einfach verwieſen werde, um mir dort Raths zu erholen, finden ſich in der Zeit-
ſchrift für geſch. Rechtswiſſ. XIV S. 21 u. fl.
888).
Wie z. B. Liv. III, 44, deſſen Zeugniß der Verfaſſer ebenfalls mit
der Formel „uneigentlich“ ſchlägt. Die Stelle von Servius ad Virg. X, 419:
manus injectio dicitur, quotiens nulla judicis auctoritate ex-
spectata
rem nobis debitam vindicamus
würde der Verf., wenn er ſie
gekannt hätte, alſo wohl in ähnlicher Weiſe beſeitigt haben.
889).
Keller Der römiſche Civilproc. §. 18. Schmidt p. 2 der citirten
Schrift. Bei Gelegenheit der Ausführung über Zeit und Ort (ſ. u.) werde
ich noch ein anderes adminiculirendes Moment hinzufügen.
890).
Der Einwand von Schmidt, daß Gaj. IV, 18 bei „ut adesset“
nicht „in jure“ hinzufüge, erledigt ſich durch die Bemerkung, erſtens daß
Gajus hier nicht die Formel der condictio mittheilt, und zweitens, daß
ein vernünftiger Menſch ſich ad judicem capiendum ſchwerlich
irgendwo anders einfinden konnte, als vor dem Prätor.
891).
Man u consertum bei Cic. pro Mur. c 12 iſt als Verſtoß gegen
das Princip der legis actio falſch.
892).
Varro de L. L. IV, 30 dürfte ſchwerlich ins Gewicht fallen.
893).
Für diejenigen, die geneigt ſein möchten, dieſe Strenge für etwas
ſpecifiſch römiſches zu halten, will ich ein Beiſpiel aus dem engliſchen Recht
anführen, das dem von Gajus IV, 11 ebenbürtig zur Seite ſteht, wenn nicht
gar daſſelbe noch übertrifft. Eine Parlamentsacte verbietet das Schenken gei-
ſtiger Getränke am „Lordsday“ (Sonntag). Ein Contravenient ward vor
einigen Jahren bloß aus dem Grunde frei geſprochen, weil das Denuncia-
tions- oder Anklagelibell ihn beſchuldigt hatte, am „Sunday“ (ebenfalls
Sonntag) geſchenkt zu haben. — Die Klage ſtimmte nicht mit der lex!
894).
Und damit, beiläufig geſagt, auch das Bedürfniß eines beſtimmten
895).
Cic. pro Mur. 12 .. quae dum erant occulta, necessario ab
eis, qui ea tenebant, petebantur
.
894).
Actes, mit dem das Niedergeſchriebene unabänderlich ward. Dieſer Act
war die Litisconteſtatio. Im Legisactionen-Proceß war ein ſolches Bedürfniß
nicht vorhanden; ſo wie das Wort geſprochen, war es bindend.
896).
Gaj. IV, 11: quippe tunc edicta Praetoris, quibus complures
actiones introductae sunt, nondum in usu habebantur.
897).
Cic. pro Mur. c. 12: Praetor interea, ne pulchrum se ac bea-
tum putaret atque aliquid ipse sua sponte loqueretur, ei quoque
carmen compositum est.
898).
L. 2 §. 5, 6 de O. J. (1. 2).
899).
Außer den oben genannten hebe ich namentlich hervor die Umge-
ſtaltung des Familienrechts (Emancipation, Adoption, coemptic fiduciae
causa, in jure cessio tutelae
), die Einführung der manumissio vindicta,
die in jure cessio der hereditas legitima u. ſ. w.
900).
S. das Verzeichniß der leges in der Lachmann’ſchen Ausgabe
p. 428. Natürlich ſind nur die Geſetze aus der Zeit der Legisactionen gemeint.
901).
Des Geſetzes ohne Nennung des Namens: Gaj. IV, 11, 13, 21,
22, 23, 24, 26, 28;
mit Nennung: die XII Tafeln IV, 11, 14, 21, 28, lex
Pinaria 15, Silia, Calpurnia 19, Publilia, Furia de sponsu 22, Furia
testamentaria, Marcia 23, 24, Aebutia
und zwei leges Juliae 30, zwei
leges, deren Name in der Handſchrift nicht erkennbar (praediatoria?) 25, 28.
Daß Gajus noch manche übergangen, iſt nicht zu bezweifeln, z. B. die lex Ho-
stilia, pr. I. de iis, per quos (4. 10)
u. a.
902).
Gaj. IV, 26, 27.
903).
Die pign. capio war bereits in den XII Tafeln anerkannt, jene
Ausdehnung fällt aber mindeſtens 50 Jahr ſpäter, da ſie die Einführung des
Soldes (S. 262 Note 395) zu ihrer Vorausſetzung hatte.
904).
Damit waren die Fictionen ausgeſchloſſen, die Gajus darum auch
erſt bei Gelegenheit des Formularproceſſes (IV, 32 und fl.) erwähnt.
905).
S. über dieſe Beiſpiele L. 1 de tign. junct. (47. 3) L. 3 arb.
furt. (47. 7)
und oben S. 485. Ein anderes Beiſpiel (das Wort nocet in
der act. aquae pluviae arcendae) S. 486.
906).
Gaj. IV, 24 nec me praeterit in forma legis Furiae testamen-
tariae pro judicato verbum inseri, cum in ipsa lege non sit, quod
videtur nulla ratione factum.
907).
S. die Note 874 citirten Werke von de Lolme, Kap. 11 und Gneiſt
§. 125, außerdem Rüttimann der engl. Civilproceß. Leipzig 1851 §. 8—10, 83.
908).
Die Klagen, deren Urſprung ſich in die Vorzeit verliert, tragen
ihren Namen nach der Sache z. B. rei vindicatio, actio confessoria, he-
reditatis petitio,
die der ſpätern Zeit vorzugsweiſe nach ihrem Urſprung
z. B. actio legis Aquiliae, Publiciana, Pauliana, Serviana, interdictum
Salvianum
. Es iſt gewiß nicht zufällig, daß manche Klagen des prätoriſchen
Edicts nach der Perſon des Prätors genannt ſind, andere nicht — eine Be-
merkung, die ich hier jedoch nicht weiter verfolgen darf.
909).
Als Beiſpiel nenne ich namentlich die actio legis Aquiliae di-
recta
, utilis
und in factum actio.
910).
A. Schmidt in der oben Note 872 citirten Gelegenheitsſchrift.
911).
Arnob. adv. gentes IV, 31 Piaculi dicitur contracta esse com-
missio, si per imprudentiae lapsum aut in verbo quisquam … deer-
raverit.
912).
Einige Beobachtungen habe ich aus Mangel an geeigneten Ge-
ſichtspunkten, denen ich ſie hätte unterordnen können, nicht mitgetheilt, man
verſtatte mir, eine hervorzuheben. Warum lautete die Formel des Vindica-
tionslegats: capito, sumito, habeto, die des Damnationslegats: dato, fa-
cito?
Hätten ſie nicht umgekehrt lauten können? Nein! Die Obligation geht
auf eine Leiſtung, ein dare, facere des Schuldners, der Eigenthums-
erwerb beſteht nach römiſcher Anſicht in einem Nehmen des Erwerbers
(B. 1 §. 11), einem capere, sumere, darum lautet die eine Formel auf eine
Handlung des Erben, die andere auf eine des Legatars, ohne des Erben
zu erwähnen (ähnlich wie die Formel der mancipatio und in jure cessio).
913).
Namentlich möchte ich ihn auch der Aufmerkſamkeit der Philologen
anempfehlen. Wo fänden ſie z. B. eine ſo abſichtliche Unterſcheidung der
Conjunctionen quod und quando, als in den vier Formeln der Cognitoris
datio
bei Gaj. IV, 83, von denen die beiden des Klägers ſich der einen, die
des Beklagten ſich der andern bedienen? Ich bin feſt überzeugt, daß die be-
griffliche Nüancirung der Conjunctionen quod, quum, quoniam, quando,
si
u. ſ. w. nirgends ſo beobachtet und folglich auch zu beobachten iſt, als in
den alten Formeln.
914).
Um Anderer zu geſchweigen, greife ich Herrn Muther in Königsberg
(Zur Actio u. ſ. w. Erlangen 1857) heraus, der durch ſein auch in anderer
Weiſe an einen Geſellen erinnerndes bisheriges Auftreten den Anſpruch auf
Schonung von meiner Seite verſcherzt hat. Er ſelbſt gerirt ſich freilich bereits
wie ein Meiſter — eine Selbſttäuſchung, die bei Jemanden, der kaum noch
Schüler ſchon den Schulmeiſter zu ſpielen wagt, allerdings ſehr erklärlich und
auch durch meine Bemerkung, daß Schulmeiſter und Meiſter zweierlei
ſind, — ſchwerlich zu heben ſein wird.
915).
Um ein ſchlagendes Beiſpiel davon zu geben (ſ. außerdem auch Note
706 nebſt S. 633 oben und Note 793), ſo nehme ich die Formel, mit der nach
Puchta, Curſus der Inſt. II §. 162 not. o) der Prätor die Partheien zum
manus conserere bei Grundſtücken aufforderte: suis’utrisque superstitibus
praesentibus vindicias sumite, inite viam.
Statt der geſperrten
Worte hat Cic. pro Mur. 12, dem die Formel entnommen iſt: istam viam
dico,
die aber Ciaconius („satis ingeniose e Festo.“ Orelli ad h. 1.) mit
jenen vertauſcht und darin an Puchta einen Nachfolger gefunden hat. Wer
die Formel bei letzterm lieſt, muß ſie für eine ächte halten, ſie wird mitgetheilt
mit Angabe der Quellenbelege und ohne weitere Warnung. Der Umſtand, daß
ein Mann wie Puchta jene Worte nicht ſofort für unmöglich erkannte, liefert
einen frappanten Beweis dafür, wie wenig wir uns noch in das römiſche For-
melweſen hineingedacht haben; ſie enthalten einen Verſtoß gegen die ein-
fachſte Bauernlogik — jeder Römer würde den Prätor verlacht haben, der
ihm befohlen hätte, zuerſt die Scholle zu holen und dann ſich auf den
Weg zu machen! Daß die Formel in dieſer Faſſung daneben noch den ganzen
Hergang bei jenem Akt verſchiebt (S. 600), will ich gar nicht einmal rügen.
916).
Quint. Inst. orat. VII, 3 quum si uno verbo sit erratum, tota
causa cecidisse videamur.
917).
Plin. H. N. XXVIII, 3 .. ne quid praeposterum dicatur.
918).
Das Wort ovis, im ſpätern Sprachgebrauch Femininum, war ur-
ſprünglich Masculinum, und daran hatte die Formel der multae dictio feſt-
gehalten; als Femininum gebraucht begründete es hier Nichtigkeit. Gell. XI,
1 .. nisi eo genere diceretur, negaverunt justam videri multam.
919).
S. darüber Savigny Syſt. B. 3 S. 124, 125. Daß, um mit ſei-
nen Worten zu reden, „das Weſen hierbei der Form geopfert wird,“ iſt
vollkommen richtig, allein darauf beruht eben das Weſen der Form.
920).
L. 77 de R. J. (50. 17). Der hier gebrauchte Ausdruck: actus
legitimi
ſcheint kaum ein techniſcher geweſen zu ſein, da er ſich bei keinem
andern Juriſten wiederholt, eben ſo wenig civile negotium bei Ulp. XI, 27.
921).
Die beiden Beiſpiele ſ. in L. 77 cit. und L. 8 de tut. auct.
(26. 8). Zu den in der erſten Stelle genannten Geſchäften kommen noch hinzu
die tutoris auctoritas und rückſichtlich der Unzuläſſigkeit der Bedingung die
Beſtellung eines Cognitor (Vat. fr. §. 929) und die in jure cessio. Ein
Beiſpiel einer ſich von ſelbſt verſtehenden Zeitbeſtimmung iſt in den Quel-
len nicht genannt; die tutoris datio von Seiten der Obrigkeit dürfte ein ſol-
ches enthalten: der dies ad quem (die Mündigkeit des Mündels) verſtand ſich
von ſelbſt.
922).
Nur das Familienrecht kennt noch das Requiſit der Anweſenheit —
die Reiſe zur Hochzeit iſt auch heutzutage eine rechtlich nothwendige Reiſe;
das Privatfürſtenrecht hat ſelbſt ſie erlaſſen (Stellvertretung).
923).
L. 5 §. 2 und 3 de O. N. N. (39. 1). Nunciationem autem
in re praesenti faciendam i. e. eo loci, ubi opus fiat .. sufficit in re
praesenti nunciari ei, qui in re praesenti fuerit.
924).
Für die Stipulation, Mancipation, Abtretung vor Gericht und die
Legisactionen (mit Ausnahme der pignoris capio, Gaj. IV, 29) iſt dies be-
reits früher bemerkt; ich hebe außerdem noch die in L. 6 §. 2 de conf.
925).
Nicht bloß bei unbeweglichen Sachen, ſondern auch bei beweglichen,
die ſich ohne Unbequemlichkeit nicht vor Gericht bringen ließen, Gaj. IV, 17.
926).
An welchen Orten innerhalb Roms, iſt damit ſchon geſagt. Es
wäre vielleicht nicht unintereſſant, die Topographie Roms einmal mit Rück-
924).
(42. 2) genannte confessio in jure und jurata operarum promissio
hervor.
927).
Ob nicht auch die Antretung? Es fehlt uns leider an allen Nach-
richten über die urſprüngliche Form der Erbſchaftsantretung. Die dem ſpä-
tern Recht angehörige bonorum possessio mußte vor dem Prätor (wenn auch
nicht immer vor dem Tribunal deſſelben), alſo regelmäßig in Rom nachgeſucht
oder angemeldet werden.
928).
Keller Röm. Civilproc. §. 3. Ob von jeher? Sie ſtammte ja zum
926).
ſicht auf das Recht und den Verkehr in ſeinem weiteſten Umfange zu verfol-
gen. Als Beiträge dazu folgende Notizen. Eidliche Verſprechungen wurden
in alter Zeit an dem Altardes Herkules(ara maxima) abgelegt, Ver-
gleichsverhandlungen im Tempel der Concordia gepflogen (Plin. Epist. V,
1), die Kriegsbeute ward zum Zweck der Recognition von Seiten der frü-
heren Eigenthümer auf dem Marsfeld aufgeſtellt (Liv. III, 10. XXXV, 1)
— man beachte die Allegorie des Orts in den beiden Fällen — die Verkün-
digung der Concurſe durch öffentlichen Anſchlag erfolgte an der columna
Maenia
auf dem Puteal (Schol. Bob. Orelli II, 295), nahe beim Carcer
(Plin. H.N. VII, 60), das sacramentum ward am pons publicius deponirt.
929).
Gell. VII, 1 Val. Max. III, 7, 1. Liv. epit. lib 86. In welcher
Proceßform? Die legis actio sacramento war, ſo wie ſie uns geſchildert
wird, an Rom (B. 1 Note 187) und die Mitwirkung der Pontifices gebun-
den. Bewegte ſich der Proceß im Lager, wo es an Juriſten von Fach fehlte,
etwa in freieren Formen? Das möchte das Wahrſcheinlichere ſein. Der
Proceß vor dem Feldherrn gehörte zur Klaſſe der judicia imperio continentia,
d. h. derer welche mit dem imperiumzuſammenhängen (in dieſem Sinn
kommt continens ſehr häufig vor, z. B. aedificia continentia, woran man
mit Unrecht Anſtoß genommen hat). Die judicia imperio continentia wer-
den aber dem lege aut judicio legitimo agere“ entgegengeſetzt. Ulp.
XI,
27.
928).
Theil erſt aus ſpäterer Zeit, ſ. Note 737. Wie man im römiſchen Leben die
dargebotene Gelegenheit benutzte, darüber ſ. z. B. Plin. Epist. VII, 16, 32.
930).
Gaj. I, 100.
931).
Plin. Epist. X, 73 (69), das Antwortſchreiben von Trajan 74.
932).
Was Gell. XX, 10 von dieſem Fall bemerkt, paßt für alle fol-
gende: Sed postquam praetores propagatis Italiae finibus datis juris-
dictionibus negotiis occupati proficisci vindiciarum dicendarum
causa in longinquas res gravabantur, institutum est contra
XII tabulas tacito consensu etc.
933).
In früherer Zeit ward er von dem Senat zu dieſem Zweck nach
Rom berufen Liv. VII, 19. XXIII, 22, ſpäterhin ward ihm bloß aufgegeben
ut dictatorem in agro Romano diceret (ſ. folg. Note) Liv. XXVII, 29.
Warum mußte der Dictator in der Stadt ernannt werden? Weil er für die
Stadt ernannt ward (Princip der Präſenz). Im Felde hatte er vor dem
Conſul nichts voraus, hier war das imperium beider gleich, dagegen war das
der Conſuln innerhalb der Stadt durch das Interventionsrecht der Tribunen
und die Provocation an die Volksverſammlung beſchränkt, und dieſe Be-
ſchränkungen hinwegzuräumen war der Zweck und Vorzug der Dictatur. Seit
Ausdehnung des Provocationsrechts über die Bannmeile hinaus erhielt eben
damit die (daſſelbe ausſchließende) Dictatur dieſelbe Ausdehnung.
934).
B. 1 S. 326 Note 250, 251. Für den in der vorigen Note be-
ſprochenen Fall fehlt es an einem Zeugniß. Liegt vielleicht in dem „in agro
Romano“
der Formel eine Aufforderung zu einer künſtlichen Herſtellung des
ager Romanus, oder iſt der Begriff ähnlich wie der des Grundeigenthums
von vornherein ein elaſtiſcher geweſen, d. h. bezeichnete er das der römi-
ſchen
Herrſchaft zur Zeit unterworfene Land, ſo daß er mithin mit letzterer
gleichen Schritt hielt? Für beide Begriffe bildete Italien die Gränze, nur daß
der Begriff des Grundeigenthums (praedium in italico solo) ſich durch Ver-
leihung des jus italicum auch auf die Provinzen übertragen ließ, während
dies für den ager Romanus ausgeſchloſſen war. Liv. XXVII, 5: agrum
Romanum .. Italia terminari.
935).
Das geſchah auch noch in ſpäterer Zeit, nachdem die lex Junia
Norbana
die unvollkommen Freilaſſungen geſetzlich anerkannt hatte ſ. z. B.
Plin. Ep. VII, 16. Si voles vindicta liberare, quos proxime inter amicos
manumisisti.
936).
Gegen die Meinung, daß ſie ſich auf ſtadt ſäſſige Pupillen be-
ſchränkt habe (Rudorff Recht der Vormundſchaft B. 1 §. 47) ſ. Th. Mommſen
die Stadtrechte der latin. Gemeinden Salpenſa und Malaca S. 438.
937).
Dig. XXVII, 5 und 6.
938).
Gaj. IV, 105 .. extra primum urbis Romae miliarium.
939).
Fest. Nundinai.
940).
Macrob. Sat. I, 16: Lege Hortensia effectum est, ut (nundi-
nae) fastae essent, uti rustici qui nundinandi causa in urbem venie-
bant, lites componerent.
941).
Die klaſſiſche Stelle dafür iſt Liv. V, 52.
942).
Die höchſt wichtige Beziehung der Zeit zu dem Inhalt des Rechts-
geſchäfts wird in der Theorie des ſubjectiven Willens erörtert werden.
943).
L. 21 §. 3 qui test. (28. 1) uno contextu actus.
944).
L. 9 §. 5 de auct (26. 8).
945).
Daß die L. 18 Com. praed. (8. 4) ſpäteres Recht enthält, wird
ſchwerlich Jemand bezweifeln.
946).
Ribbentrop zur Lehre von den Correalobligationen S. 113.
947).
Gaj. II, 101. Calatis comitiis faciebant, quae comitia bis in
anno testamentis faciendis destinata erant.
948).
Das ergibt ſich ſchon aus der Controverſe im Fragm. de manum.
(Dosith).
§. 19.
949).
Für das Teſtament ſ. S. 577, für die Freilaſſungen Note 737.
950).
Varro de L. L. VI, 29 praetoribus licet dicere. 30 nefas
praetorem dicere.
Ebenſo Macrob. Sat. I, 16.
951).
Varro §. 30 cit. Ulp. Proem. §. 2. Aehnlich wie bei uns Ueber-
tretung der Sonntagsordnung durch Ladengeſchäfte während der Kirchzeit.
952).
Was Gaj. IV, 29 von der pign. capio bemerkt, iſt alſo keine Irre-
gularität oder utilitariſche Beſtimmung (Bethmann-Hollweg Handbuch des
Civilproc. I S. 223 „die pign. cap. litt keinen Verzug,“ wobei ihm mehr die
deutſche Pfändung, als die römiſche pignor. capio vorgeſchwebt haben mag),
ſondern ein nothwendiger Ausfluß des Princips und galt von allen außerge-
richtlichen Legisactionen.
953).
Urſprünglich vielleicht mit Ausnahme der durch in jure cessio zu
vollziehenden; ſpäterhin machte ſich die freiwillige Gerichtsbarkeit von die-
ſer Conſequenz der ſtreitigen, wie von ſo mancher andern (S. 563) frei.
Gaj. I, 20 .. servi semper manumitti solent.

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TextGrid Repository (2025). Jhering, Rudolf von. Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bnm5.0