DER
KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZU GÖTTINGEN.
VON DEN JAHREN 1866 UND 1867.
IN DER DIETERICHSCHEN BUCHHANDLUNG.
1868.
Ueber
die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen.
Von
B. Riemann.
Aus dem Nachlass des Verfassers mitgetheilt durch R. Dedekind1).
Plan der Untersuchung.
Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, als
die ersten Grundbegriffe für die Constructionen im Raume als etwas
Gegebenes voraus. Sie giebt von ihnen nur Nominaldefinitionen, wäh-
rend die wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen auftreten.
Das Verhältniss dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln; man
sieht weder ein, ob und in wie weit ihre Verbindung nothwendig, noch
a priori, ob sie möglich ist.
Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis auf Legendre,
um den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen,
weder von den Mathematikern, noch von den Philosophen, welche sich
damit beschäftigten, gehoben. Es hatte dies seinen Grund wohl darin,
dass der allgemeine Begriff mehrfach ausgedehnter Grössen, unter wel-
chem die Raumgrössen enthalten sind, ganz unbearbeitet blieb. Ich
habe mir daher zunächst die Aufgabe gestellt, den Begriff einer mehrfach
ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössenbegriffen zu construiren.
Es wird daraus hervorgehen, dass eine mehrfach ausgedehnte Grösse ver-
[134]B. RIEMANN,
schiedener Massverhältnisse fähig ist und der Raum also nur einen be-
sonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse bildet. Hiervon aber
ist eine nothwendige Folge, dass die Sätze der Geometrie sich nicht aus
allgemeinen Grössenbegriffen ableiten lassen, sondern dass diejenigen Ei-
genschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkbaren drei-
fach ausgedehnten Grössen unterscheidet, nur aus der Erfahrung ent-
nommen werden können. Hieraus entsteht die Aufgabe, die einfachsten
Thatsachen aufzusuchen, aus denen sich die Massverhältnisse des Raumes
bestimmen lassen — eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht
völlig bestimmt ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher That-
sachen angeben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Rau-
mes hinreichen; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von
Euklid zu Grunde gelegte. Diese Thatsachen sind wie alle Thatsachen
nicht nothwendig, sondern nur von empirischer Gewissheit, sie sind Hy-
pothesen; man kann also ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der
Grenzen der Beobachtung allerdings sehr gross ist, untersuchen und hie-
nach über die Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der
Beobachtung, sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der
Seite des Unmessbarkleinen urtheilen.
I. Begriff einer nfach ausgedehnten Grösse.
Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die Ent-
wicklung des Begriffs mehrfach ausgedehnter Grössen zu lösen versuche,
glaube ich um so mehr auf eine nachsichtige Beurtheilung Anspruch
machen zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philosophischer Natur,
wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als in der Construction
liegen, wenig geübt bin und ich ausser einigen ganz kurzen Andeutun-
gen, welche Herr Geheimer Hofrath Gauss in der zweiten Abhandlung
über die biquadratischen Reste, in den Göttingenschen gelehrten Anzeigen
und in seiner Jubiläumsschrift darüber gegeben hat, und einigen philo-
sophischen Untersuchungen Herbart’s, durchaus keine Vorarbeiten be-
nutzen konnte.
[135]UEB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
§. 1.
Grössenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff
vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zulässt. Je nachdem
unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer andern ein stetiger
Uebergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder discrete
Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heissen im erstern
Falle Punkte, im letztern Elemente dieser Mannigfaltigkeit. Begriffe,
deren Bestimmungsweisen eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, sind so
häufig, dass sich für beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebilde-
teren Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem sie ent-
halten sind (und die Mathematiker konnten daher in der Lehre von den
discreten Grössen unbedenklich von der Forderung ausgehen, gegebene
Dinge als gleichartig zu betrachten), dagegen sind die Veranlassungen
zur Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige Man-
nigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass die Orte der
Sinnengegenstände und die Farben wohl die einzigen einfachen Begriffe
sind, deren Bestimmungsweisen eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltig-
keit bilden. Häufigere Veranlassung zur Ergeuzung und Ausbildung
dieser Begriffe findet sich erst in der höhern Mathematik.
Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene
Theile einer Mannigfaltigkeit heissen Quanta. Ihre Vergleichung der
Quantität nach geschieht bei den discreten Grössen durch Zählung, bei
den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinander-
legen der zu vergleichenden Grössen; zum Messen wird also ein Mittel
erfordert, die eine Grösse als Massstab für die andere fortzutragen. Fehlt
dieses, so kann man zwei Grössen nur vergleichen, wenn die eine ein
Theil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht
das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem
Falle über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen von Massbe-
stimmungen unabhängigen Theil der Grössenlehre, wo die Grössen nicht
als unabhängig von der Lage existirend und nicht als durch eine Ein
heit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet
werden. Solche Untersuchungen sind für mehrere Theile der Mathematik,
[136]B. RIEMANN,
namentlich für die Behandlung der mehrwerthigen analytischen Functionen
ein Bedürfniss geworden, und der Mangel derselben ist wohl eine Haupt-
ursache, dass der berühmte Abel’sche Satz und die Leistungen von La-
grange, Pfaff, Jacobi für die allgemeine Theorie der Differentialglei-
chungen so lange unfruchtbar geblieben sind. Für den gegenwärtigen
Zweck genügt es, aus diesem allgemeinen Theile der Lehre von den aus-
gedehnten Grössen, wo weiter nichts vorausgesetzt wird, als was in dem
Begriffe derselben schon enthalten ist, zwei Punkte hervorzuheben, wovon
der erste die Erzeugung des Begriffs einer mehrfach ausgedehnten Man-
nigfaltigkeit, der zweite die Zurückführung der Ortsbestimmungen in einer
gegebenen Mannigfaltigkeit auf Quantitätsbestimmungen betrifft und das
wesentliche Kennzeichen einer nfachen Ausdehnung deutlich machen wird.
§. 2.
Geht man bei einem Begriffe, dessen Bestimmungsweisen eine ste-
tige Mannigfaltigkeit bilden, von einer Bestimmungsweise auf eine be-
stimmte Art zu einer andern über, so bilden die durchlaufenen Bestim-
mungsweisen eine einfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, deren wesent-
liches Kennzeichen ist, dass in ihr von einem Punkte nur nach zwei
Seiten, vorwärts oder rückwärts, ein stetiger Fortgang möglich ist. Denkt
man sich nun, dass diese Mannigfaltigkeit wieder in eine andere, völlig
verschiedene, übergeht, und zwar wieder auf bestimmte Art, d. h. so,
dass jeder Punkt in einen bestimmten Punkt der andern übergeht, so bil-
den sämmtliche so erhaltene Bestimmungsweisen eine zweifach ausgedehnte
Mannigfaltigkeit. In ähnlicher Weise erhält man eine dreifach ausge-
dehnte Mannigfaltigkeit, wenn man sich vorstellt, dass eine zweifach aus-
gedehnte in eine völlig verschiedene auf bestimmte Art übergeht, und es
ist leicht zu sehen, wie man diese Construction fortsetzen kann. Wenn
man, anstatt den Begriff als bestimmbar, seinen Gegenstand als verän-
derlich betrachtet, so kann diese Construction bezeichnet werden als eine
Zusammensetzung einer Veränderlichkeit von n + 1 Dimensionen aus
einer Veränderlichkeit von n Dimensionen und aus einer Veränderlichkeit
von einer Dimension.
[137]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
§. 3.
Ich werde nun zeigen, wie man umgekehrt eine Veränderlichkeit,
deren Gebiet gegeben ist, in eine Veränderlichkeit von einer Dimension
und eine Veränderlichkeit von weniger Dimensionen zerlegen kann. Zu
diesem Ende denke man sich ein veränderliches Stück einer Mannigfal-
tigkeit von einer Dimension — von einem festen Anfangspunkte an ge-
rechnet, so dass die Werthe desselben unter einander vergleichbar sind —
welches für jeden Punkt der gegebenen Mannigfaltigkeit einen bestimm-
ten mit ihm stetig sich ändernden Werth hat, oder mit andern Worten,
man nehme innerhalb der gegebenen Mannigfaltigkeit eine stetige Fun-
ction des Orts an, und zwar eine solche Function, welche nicht längs
eines Theils dieser Mannigfaltigkeit constant ist. Jedes System von
Punkten, wo die Function einen constanten Werth hat, bildet dann eine
stetige Mannigfaltigkeit von weniger Dimensionen, als die gegebene.
Diese Mannigfaltigkeiten gehen bei Aenderung der Function stetig in
einander über; man wird daher annehmen können, dass aus einer von
ihnen die übrigen hervorgehen, und es wird dies, allgemein zu reden,
so geschehen können, dass jeder Punkt in einen bestimmten Punkt der
andern übergeht; die Ausnahmsfälle, deren Untersuchung wichtig ist,
können hier unberücksichtigt bleiben. Hierdurch wird die Ortsbestim-
mung in der gegebenen Mannigfaltigkeit zurückgeführt auf eine Grössen-
bestimmung und auf eine Ortsbestimmung in einer minderfach ausge-
dehnten Mannigfaltigkeit. Es ist nun leicht zu zeigen, dass diese Man-
nigfaltigkeit n — 1 Dimensionen hat, wenn die gegebene Mannigfaltigkeit
eine nfach ausgedehnte ist. Durch nmalige Wiederholung dieses Ver-
fahrens wird daher die Ortsbestimmung in einer nfach ausgedehnten Man-
nigfaltigkeit auf n Grössenbestimmungen, und also die Ortsbestimmung
in einer gegebenen Mannigfaltigkeit, wenn dieses möglich ist, auf eine
endliche Anzahl von Quantitätsbestimmungen zurückgeführt. Es giebt
indess auch Mannigfaltigkeiten, in welchen die Ortsbestimmung nicht
eine endliche Zahl, sondern entweder eine unendliche Reihe oder eine
stetige Mannigfaltigkeit von Grössenbestimmungen erfordert. Solche Man-
nigfaltigkeiten bilden z. B. die möglichen Bestimmungen einer Function
Mathem. Classe. XIII. S
[138]B. RIEMANN,
für ein gegebenes Gebiet, die möglichen Gestalten einer räumlichen
Figur u. s. w.
II. Massverhältnisse, deren eine Mannigfaltigkeit von
n Dimensionen fähig ist, unter der Voraussetzung, dass die
Linien unabhängig von der Lage eine Länge besitzen, also
jede Linie durch jede messbar ist.
Es folgt nun, nachdem der Begriff, einer nfach ausgedehnten Man-
nigfaltigkeit construirt und als wesentliches Kennzeichen derselben ge-
funden worden ist, dass sich die Ortsbestimmung in derselben auf n Grö-
ssenbestimmungen zurückführen lässt, als zweite der oben gestellten Auf-
gaben eine Untersuchung über die Massverhältnisse, deren eine solche
Mannigfaltigkeit fähig ist, und über die Bedingungen, welche zur Bestim-
mung dieser Massverhältnisse hinreichen. Diese Massverhältnisse lassen
sich nur in abstracten Grössenbegriffen untersuchen und im Zusammen-
hange nur durch Formeln darstellen; unter gewissen Voraussetzungen
kann man sie indess in Verhältnisse zerlegen, welche einzeln genommen
einer geometrischen Darstellung fähig sind, und hiedurch wird es mög-
lich, die Resultate der Rechnung geometrisch auszudrücken. Es wird
daher, um festen Boden zu gewinnen, zwar eine abstracte Untersuchung
in Formeln nicht zu vermeiden sein, die Resultate derselben aber werden
sich dann im geometrischen Gewande darstellen lassen. Zu Beidem sind
die Grundlagen enthalten in der berühmten Abhandlung des Herrn Ge-
heimen Hofraths Gauss über die krummen Flächen.
§. 1.
Massbestimmungen erfordern eine Unabhängigkeit der Grössen vom
Ort, die in mehr als einer Weise stattfinden kann; die zunächst sich
darbietende Annahme, welche ich hier verfolgen will, ist wohl die, dass
die Länge der Linien unabhängig von der Lage sei, also jede Linie durch
jede messbar sei. Wird die Ortsbestimmung auf Grössenbestimmungen
zurückgeführt, also die Lage eines Punktes in der gegebenen nfach aus-
[139]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
gedehnten Mannigfaltigkeit durch n veränderliche Grössen x1, x2, x3,
und so fort bis xn ausgedrückt, so wird die Bestimmung einer Linie
darauf hinauskommen, dass die Grössen x als Functionen einer Verän-
derlichen gegeben werden. Die Aufgabe ist dann, für die Länge der
Linien einen mathematischen Ausdruck aufzustellen, zu welchem Zwecke
die Grössen x als in Einheiten ausdrückbar betrachtet werden müssen.
Ich werde diese Aufgabe nur unter gewissen Beschränkungen behandeln
und beschränke mich erstlich auf solche Linien, in welchen die Ver-
hältnisse zwischen den Grössen dx — den zusammengehörigen Aende-
rungen der Grössen x — sich stetig ändern; man kann dann die Li-
nien in Elemente zerlegt denken, innerhalb deren die Verhältnisse der
Grössen dx als constant betrachtet werden dürfen, und die Aufgabe
kommt dann darauf zurück, für jeden Punkt einen allgemeinen Aus-
druck des von ihm ausgehenden Linienelements ds aufzustellen, welcher
also die Grössen x und die Grössen dx enthalten wird. Ich nehme nun
zweitens an, dass die Länge des Linienelements, von Grössen zweiter
Ordnung abgesehen, ungeändert bleibt, wenn sämmtliche Punkte dessel-
ben dieselbe unendlich kleine Ortsänderung erleiden, worin zugleich
enthalten ist, dass, wenn sämmtliche Grössen dx in demselben Verhält-
nisse wachsen, das Linienelement sich ebenfalls in diesem Verhältnisse
ändert. Unter diesen Annahmen wird das Linienelement eine beliebige
homogene Function ersten Grades der Grössen dx sein können, welche
ungeändert bleibt, wenn sämmtliche Grössen dx ihr Zeichen ändern, und
worin die willkührlichen Constanten stetige Functionen der Grössen x
sind. Um die einfachsten Fälle zu finden, suche ich zunächst einen
Ausdruck für die n̅—̅1̅fach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten, welche vom
Anfangspunkte des Linienelements überall gleich weit abstehen, d. h.
ich suche eine stetige Function des Orts, welche sie von einander un-
terscheidet. Diese wird vom Anfangspunkt aus nach allen Seiten ent-
weder ab- oder zunehmen müssen; ich will annehmen, dass sie nach
allen Seiten zunimmt und also in dem Punkte ein Minimum hat. Es
muss dann, wenn ihre ersten und zweiten Differentialquotienten endlich
sind, das Differential erster Ordnung verschwinden und das zweiter Ord-
S 2
[140]B. RIEMANN,
nung darf nie negativ werden; ich nehme an, dass es immer positiv
bleibt. Dieser Differentialausdruck zweiter Ordnung bleibt alsdann con-
stant, wenn ds constant bleibt und wächst im quadratischen Verhält-
nisse, wenn die Grössen dx und also auch ds sich sämmtlich in demsel-
ben Verhältnisse ändern; er ist also = const. ds2 und folglich ist ds =
der Quadratwurzel aus einer immer positiven ganzen homogenen Function
zweiten Grades der Grössen dx, in welcher die Coefficienten stetige
Functionen der Grössen x sind. Für den Raum wird, wenn man die
Lage der Punkte durch rechtwinklige Coordinaten ausdrückt, ds = ;
der Raum ist also unter diesem einfachsten Falle enthalten. Der nächst
einfache Fall würde wohl die Mannigfaltigkeiten umfassen, in welchen
sich das Linienelement durch die vierte Wurzel aus einem Differential-
ausdrucke vierten Grades ausdrücken lässt. Die Untersuchung dieser
allgemeinern Gattung würde zwar keine wesentlich andere Principien er-
fordern, aber ziemlich zeitraubend sein und verhältnissmässig auf die
Lehre vom Raume wenig neues Licht werfen, zumal da sich die Resul-
tate nicht geometrisch ausdrücken lassen; ich beschränke mich daher
auf die Mannigfaltigkeiten, wo das Linienelement durch die Quadrat-
wurzel aus einem Differentialausdruck zweiten Grades ausgedrückt wird.
Man kann einen solchen Ausdruck in einen andern ähnlichen transfor-
miren, indem man für die n unabhängigen Veränderlichen Functionen
von n neuen unabhängigen Veränderlichen setzt. Auf diesem Wege
wird man aber nicht jeden Ausdruck in jeden transformiren können;
denn der Ausdruck enthält Coefficienten, welche willkührliche
Functionen der unabhängigen Veränderlichen sind; durch Einführung
neuer Veränderlicher wird man aber nur n Relationen genügen und also
nur n der Coefficienten gegebenen Grössen gleich machen können. Es
sind dann die übrigen durch die Natur der darzustellenden Man-
nigfaltigkeit schon völlig bestimmt, und zur Bestimmung ihrer Mass-
verhältnisse also Functionen des Orts erforderlich. Die Mannig-
[141]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
faltigkeiten, in welchen sich, wie in der Ebene und im Raume, das Li-
nienelement auf die Form bringen lässt, bilden daher nur einen
besondern Fall der hier zu untersuchenden Mannigfaltigkeiten; sie ver-
dienen wohl einen besondern Namen, und ich will also diese Mannig-
faltigkeiten, in welchen sich das Quadrat des Linienelements auf die
Summe der Quadrate von vollständigen Differentialien bringen lässt, eben
nennen. Um nun die wesentlichen Verschiedenheiten sämmtlicher in
der vorausgesetzten Form darstellbarer Mannigfaltigkeiten übersehen zu
können, ist es nöthig, die von der Darstellungsweise herrührenden zu
beseitigen, was durch Wahl der veränderlichen Grössen nach einem be-
stimmten Princip erreicht wird.
§. 2.
Zu diesem Ende denke man sich von einem beliebigen Punkte aus
das System der von ihm ausgehenden kürzesten Linien construirt; die
Lage eines unbestimmten Punktes wird dann bestimmt werden können
durch die Anfangsrichtung der kürzesten Linie, in welcher er liegt, und
durch seine Entfernung in derselben vom Anfangspunkte und kann daher
durch die Verhältnisse dx0 der Grössen dx in dieser kürzesten Linie und
durch die Länge s dieser Linie ausgedrückt werden. Man führe nun
statt dx0 solche aus ihnen gebildete lineäre Ausdrücke dα ein, dass der
Anfangswerth des Quadrats des Linienelements gleich der Summe der
Quadrate dieser Ausdrücke wird, so dass die unabhängigen Variabeln
sind: die Grösse s und die Verhältnisse der Grössen dα und setze
schliesslich statt dα solche ihnen proportionale Grössen x1, x2, …, xn,
dass die Quadratsumme = s2 wird. Führt man diese Grössen ein, so
wird für unendlich kleine Werthe von x das Quadrat des Linienelements
= Σ dx2, das Glied der nächsten Ordnung in demselben aber gleich
einem homogenen Ausdruck zweiten Grades der Grössen
(x1dx2—x2dx1), (x1dx3—x3dx1), …, also eine unendlich kleine Grösse
von der vierten Dimension, so dass man eine endliche Grösse erhält, wenn
man sie durch das Quadrat des unendlich kleinen Dreiecks dividirt, in
[142]B. RIEMANN,
dessen Eckpunkten die Werthe der Veränderlichen sind (0, 0, 0, …),
(x1, x2, x3, …), (dx1, dx2, dx3, ….). Diese Grösse behält denselben
Werth, so lange die Grössen x und dx in denselben binären Linearfor-
men enthalten sind oder so lange die beiden kürzesten Linien von den
Werthen 0 bis zu den Werthen x und von den Werthen 0 bis zu den
Werthen dx in demselben Flächenelement bleiben, und hängt also nur
von Ort und Richtung desselben ab. Sie wird offenbar = 0, wenn die
dargestellte Mannigfaltigkeit eben, d. h. das Quadrat des Linienelements
auf Σ dx2 reducirbar ist, und kann daher als das Mass der in diesem
Punkte in dieser Flächenrichtung stattfindenden Abweichung der Man-
nigfaltigkeit von der Ebenheit angesehen werden. Multiplicirt mit — ¾
wird sie der Grösse gleich, welche Herr Geheimer Hofrath Gauss das
Krümmungsmass einer Fläche genannt hat. Zur Bestimmung der Mass-
verhältnisse einer nfach ausgedehnten in der vorausgesetzten Form dar-
stellbaren Mannigfaltigkeit wurden vorhin Functionen des Orts
nöthig gefunden; wenn also das Krümmungsmass in jedem Punkte in
Flächenrichtungen gegeben wird, so werden daraus die Mass-
verhältnisse der Mannigfaltigkeit sich bestimmen lassen, wofern nur zwi-
schen diesen Werthen keine identischen Relationen stattfinden, was in
der That, allgemein zu reden, nicht der Fall ist. Die Massverhältnisse
dieser Mannigfaltigkeiten, wo das Linienelement durch die Quadratwurzel
aus einem Differentialausdruck zweiten Grades dargestellt wird, lassen
sich so auf eine von der Wahl der veränderlichen Grössen völlig unab-
hängige Weise ausdrücken. Ein ganz ähnlicher Weg lässt sich zu die-
sem Ziele auch bei den Mannigfaltigkeiten einschlagen, in welchen das
Linienelement durch einen weniger einfachen Ausdruck, z. B. durch die
vierte Wurzel aus einem Differentialausdruck vierten Grades, ausgedrückt
wird. Es würde sich dann das Linienelement, allgemein zu reden, nicht
mehr auf die Form der Quadratwurzel aus einer Quadratsumme von
Differentialausdrücken bringen lassen und also in dem Ausdrucke für das
Quadrat des Linienelements die Abweichung von der Ebenheit eine un-
[143]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
endlich kleine Grösse von der zweiten Dimension sein, während sie bei jenen
Mannigfaltigkeiten eine unendlich kleine Grösse von der vierten Dimension
war. Diese Eigenthümlichkeit der letztern Mannigfaltigkeiten kann daher
wohl Ebenheit in den kleinsten Theilen genannt werden. Die für den jetzi-
gen Zweck wichtigste Eigenthümlichkeit dieser Mannigfaltigkeiten, derent-
wegen sie hier allein untersucht worden sind, ist aber die, dass sich die
Verhältnisse der zweifach ausgedehnten geometrisch durch Flächen darstel-
len und die der mehrfach ausgedehnten auf die der in ihnen enthaltenen
Flächen zurückführen lassen, was jetzt noch einer kurzen Erörterung bedarf.
§. 3.
In die Auffassung der Flächen mischt sich neben den inneren Mass-
verhältnissen, bei welchen nur die Länge der Wege in ihnen in Betracht
kommt, immer auch ihre Lage zu ausser ihnen gelegenen Punkten. Man
kann aber von den äussern Verhältnissen abstrahiren, indem man solche
Veränderungen mit ihnen vornimmt, bei denen die Länge der Linien in
ihnen ungeändert bleibt, d. h. sie sich beliebig — ohne Dehnung — ge-
bogen denkt, und alle so auseinander entstehenden Flächen als gleich-
artig betrachtet. Es gelten also z. B. beliebige cylindrische oder coni-
sche Flächen einer Ebene gleich, weil sie sich durch blosse Biegung aus
ihr bilden lassen, wobei die innern Massverhältnisse bleiben, und sämmt-
liche Sätze über dieselben — also die ganze Planimetrie — ihre Gültig-
keit behalten; dagegen gelten sie als wesentlich verschieden von der Ku-
gel, welche sich nicht ohne Dehnung in eine Ebene verwandeln lässt.
Nach der vorigen Untersuchung werden in jedem Punkte die innern
Massverhältnisse einer zweifach ausgedehnten Grösse, wenn sich das Li-
nienelement durch die Quadratwurzel aus einem Differentialausdruck
zweiten Grades ausdrücken lässt, wie dies bei den Flächen der Fall ist,
charakterisirt durch das Krümmungsmass. Dieser Grösse lässt sich nun
bei den Flächen die anschauliche Bedeutung geben, dass sie das Product
aus den beiden Krümmungen der Fläche in diesem Punkte ist, oder auch,
dass das Product derselben in ein unendlich kleines aus kürzesten Linien
gebildetes Dreieck gleich ist dem halben Ueberschusse seiner Winkel-
[144]B. RIEMANN,
summe über zwei Rechte in Theilen des Halbmessers. Die erste Defini-
tion würde den Satz voraussetzen, dass das Product der beiden Krüm-
mungshalbmesser bei der blossen Biegung einer Fläche ungeändert bleibt,
die zweite, dass an demselben Orte der Ueberschuss der Winkelsumme
eines unendlich kleinen Dreiecks über zwei Rechte seinem Inhalte pro-
portional ist. Um dem Krümmungsmass einer nfach ausgedehnten Man-
nigfaltigkeit in einem gegebenen Punkte und einer gegebenen durch ihn
gelegten Flächenrichtung eine greifbare Bedeutung zu geben, muss man
davon ausgehen, dass eine von einem Punkte ausgehende kürzeste Linie
völlig bestimmt ist, wenn ihre Anfangsrichtung gegeben ist. Hienach
wird man eine bestimmte Fläche erhalten, wenn man sämmtliche von dem
gegebenen Punkte ausgehenden und in dem gegebenen Flächenelement
liegenden Anfangsrichtungen zu kürzesten Linien verlängert, und diese
Fläche hat in dem gegebenen Punkte ein bestimmtes Krümmungsmass,
welches zugleich das Krümmungsmass der nfach ausgedehnten Mannig-
faltigkeit in dem gegebenen Punkte und der gegebenen Flächenrich-
tung ist.
§. 4.
Es sind nun noch, ehe die Anwendung auf den Raum gemacht
wird, einige Betrachtungen über die ebenen Mannigfaltigkeiten im All-
gemeinen nöthig, d. h. über diejenigen, in welchen das Quadrat des Li-
nienelements durch eine Quadratsumme vollständiger Differentialien dar-
stellbar ist.
In einer ebenen nfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit ist das Krüm-
mungsmass in jedem Punkte in jeder Richtung Null; es reicht aber nach
der frühern Untersuchung, um die Massverhältnisse zu bestimmen, hin
zu wissen, dass es in jedem Punkte in Flächenrichtungen, deren
Krümmungsmasse von einander unabhängig sind, Null sei. Die Mannig-
faltigkeiten, deren Krümmungsmass überall = 0 ist, lassen sich betrach-
ten als ein besonderer Fall derjenigen Mannigfaltigkeiten, deren Krüm-
mungsmass allenthalben constant ist. Der gemeinsame Charakter dieser
Mannigfaltigkeiten, deren Krümmungsmass constant ist, kann auch so
[145]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
ausgedrückt werden, dass sich die Figuren in ihnen ohne Dehnung be-
wegen lassen. Denn offenbar würden die Figuren in ihnen nicht belie-
big verschiebbar und drehbar sein können, wenn nicht in jedem Punkte
in allen Richtungen das Krümmungsmass dasselbe wäre. Andererseits
aber sind durch das Krümmungsmass die Massverhältnisse der Mannig-
faltigkeit vollständig bestimmt; es sind daher um einen Punkt nach allen
Richtungen die Massverhältnisse genau dieselben, wie um einen andern,
und also von ihm aus dieselben Constructionen ausführbar, und folglich
kann in den Mannigfaltigkeiten mit constantem Krümmungsmass den Fi-
guren jede beliebige Lage gegeben werden. Die Massverhältnisse dieser
Mannigfaltigkeiten hängen nur von dem Werthe des Krümmungsmasses
ab, und in Bezug auf die analytische Darstellung mag bemerkt werden,
dass, wenn man diesen Werth durch α bezeichnet, dem Ausdruck für
das Linienelement die Form
gegeben werden kann.
§. 5.
Zur geometrischen Erläuterung kann die Betrachtung der Flächen
mit constantem Krümmungsmass dienen. Es ist leicht zu sehen, dass sich
die Flächen, deren Krümmungsmass positiv ist, immer auf eine Kugel,
deren Radius gleich 1 dividirt durch die Wurzel aus dem Krümmungs-
mass ist, wickeln lassen werden; um aber die ganze Mannigfaltigkeit
dieser Flächen zu übersehen, gebe man einer derselben die Gestalt einer
Kugel und den übrigen die Gestalt von Umdrehungsflächen, welche sie
im Aequator berühren. Die Flächen mit grösserem Krümmungsmass,
als diese Kugel, werden dann die Kugel von innen berühren und eine
Gestalt annehmen, wie der äussere der Axe abgewandte Theil der Ober-
fläche eines Ringes; sie würden sich auf Zonen von Kugeln mit kleine-
rem Halbmesser wickeln lassen, aber mehr als einmal herumreichen.
Die Flächen mit kleinerem positiven Krümmungsmass wird man erhalten,
Mathem. Classe. XIII. T
[146]B. RIEMANN,
wenn man aus Kugelflächen mit grösserem Radius ein von zwei grössten
Halbkreisen begrenztes Stück ausschneidet und die Schnittlinien zusam-
menfügt. Die Fläche mit dem Krümmungsmass Null wird eine auf dem
Aequator stehende Cylinderfläche sein; die Flächen mit negativem Krüm-
mungsmass aber werden diesen Cylinder von aussen berühren und wie
der innere der Axe zugewandte Theil der Oberfläche eines Ringes ge-
formt sein. Denkt man sich diese Flächen als Ort für in ihnen beweg-
liche Flächenstücke, wie den Raum als Ort für Körper, so sind in allen
diesen Flächen die Flächenstücke ohne Dehnung beweglich. Die Flächen
mit positivem Krümmungsmass lassen sich stets so formen, dass die Flä-
chenstücke auch ohne Biegung beliebig bewegt werden können, nämlich
zu Kugelflächen, die mit negativem aber nicht. Ausser dieser Unabhän-
gigkeit der Flächenstücke vom Ort findet bei der Fläche mit dem Krüm-
mungsmass Null auch eine Unabhängigkeit der Richtung vom Ort statt,
welche bei den übrigen Flächen nicht stattfindet.
III. Anwendung auf den Raum.
§. 1.
Nach diesen Untersuchungen über die Bestimmung der Massverhält-
nisse einer nfach ausgedehnten Grösse lassen sich nun die Bedingungen
angeben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Raumes hin-
reichend und nothwendig sind, wenn Unabhängigkeit der Linien von der
Lage und Darstellbarkeit des Linienelements durch die Quadratwurzel
aus einem Differentialausdrucke zweiten Grades, also Ebenheit in den
kleinsten Theilen vorausgesetzt wird.
Sie lassen sich erstens so ausdrücken, dass das Krümmungsmass in
jedem Punkte in drei Flächenrichtungen = 0 ist, und es sind daher die
Massverhältnisse des Raumes bestimmt, wenn die Winkelsumme im Dreieck
allenthalben gleich zwei Rechten ist.
Setzt man aber zweitens, wie Euklid, nicht bloss eine von der Lage
unabhängige Existenz der Linien, sondern auch der Körper voraus, so
[147]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
folgt, dass das Krümmungsmass allenthalben constant ist, und es ist dann
in allen Dreiecken die Winkelsumme bestimmt, wenn sie in einem be-
stimmt ist.
Endlich könnte man drittens, anstatt die Länge der Linien als un-
abhängig von Ort und Richtung anzunehmen, auch eine Unabhängigkeit
ihrer Länge und Richtung vom Ort voraussetzen. Nach dieser Auffas-
sung sind die Ortsänderungen oder Ortsverschiedenheiten complexe in
drei unabhängige Einheiten ausdrückbare Grössen.
§. 2.
Im Laufe der bisherigen Betrachtungen wurden zunächst die Aus-
dehnungs- oder Gebietsverhältnisse von den Massverhältnissen gesondert,
und gefunden, dass bei denselben Ausdehnungsverhältnissen verschiedene
Massverhältnisse denkbar sind; es wurden dann die Systeme einfacher
Massbestimmungen aufgesucht, durch welche die Massverhältnisse des
Raumes völlig bestimmt sind und von welchen alle Sätze über dieselben
eine nothwendige Folge sind; es bleibt nun die Frage zu erörtern, wie,
in welchem Grade und in welchem Umfange diese Voraussetzungen durch
die Erfahrung verbürgt werden. In dieser Beziehung findet zwischen den
blossen Ausdehnungsverhältnissen und den Massverhältnissen eine we-
sentliche Verschiedenheit statt, insofern bei erstern, wo die möglichen
Fälle eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, die Aussagen der Erfahrung
zwar nie völlig gewiss, aber nicht ungenau sind, während bei letztern,
wo die möglichen Fälle eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, jede Bestim-
mung aus der Erfahrung immer ungenau bleibt — es mag die Wahr-
scheinlichkeit, dass sie nahe richtig ist, noch so gross sein. Dieser Um-
stand wird wichtig bei der Ausdehnung dieser empirischen Bestimmun-
gen über die Grenzen der Beobachtung in’s Unmessbargrosse und Un-
messbarkleine; denn die letztern können offenbar jenseits der Grenzen
der Beobachtung immer ungenauer werden, die ersteren aber nicht.
Bei der Ausdehnung der Raumconstructionen in’s Unmessbargrosse
ist Unbegrenztheit und Unendlichkeit zu scheiden; jene gehört zu den
Ausdehnungsverhältnissen, diese zu den Massverhältnissen. Dass der
T*
[148]B. RIEMANN,
Raum eine unbegrenzte dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit sei, ist
eine Voraussetzung, welche bei jeder Auffassung der Aussenwelt ange-
wandt wird, nach welcher in jedem Augenblicke das Gebiet der wirk-
lichen Wahrnehmungen ergänzt und die möglichen Orte eines gesuchten
Gegenstandes construirt werden und welche sich bei diesen Anwendungen
fortwährend bestätigt. Die Unbegrenztheit des Raumes besitzt daher eine
grössere empirische Gewissheit, als irgend eine äussere Erfahrung.
Hieraus folgt aber die Unendlichkeit keineswegs; vielmehr würde der
Raum, wenn man Unabhängigkeit der Körper vom Ort voraussetzt, ihm
also ein constantes Krümmungsmass zuschreibt, nothwendig endlich sein,
so bald dieses Krümmungsmass einen noch so kleinen positiven Werth
hätte. Man würde, wenn man die in einem Flächenelement liegenden
Anfangsrichtungen zu kürzesten Linien verlängert, eine unbegrenzte
Fläche mit constantem positiven Krümmungsmass, also eine Fläche er-
halten, welche in einer ebenen dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit
die Gestalt einer Kugelfläche annehmen würde und welche folglich
endlich ist.
§. 3.
Die Fragen über das Unmessbargrosse sind für die Naturerklärung
müssige Fragen. Anders verhält es sich aber mit den Fragen über das
Unmessbarkleine. Auf der Genauigkeit, mit welcher wir die Erschei-
nungen in’s Unendlichkleine verfolgen, beruht wesentlich die Erkenntniss
ihres Causalzusammenhangs. Die Fortschritte der letzten Jahrhunderte
in der Erkenntniss der mechanischen Natur sind fast allein bedingt durch
die Genauigkeit der Construction, welche durch die Erfindung der Ana-
lysis des Unendlichen und die von Archimed, Galliläi und Newton auf-
gefundenen einfachen Grundbegriffe, deren sich die heutige Physik be-
dient, möglich geworden ist. In den Naturwissenschaften aber, wo die
einfachen Grundbegriffe zu solchen Constructionen bis jetzt fehlen, ver-
folgt man, um den Causalzusammenhang zu erkennen, die Erscheinungen
in’s räumlich Kleine, so weit es das Mikroskop nur gestattet. Die Fra-
[149]ÜB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
gen über die Massverhältnisse des Raumes im Unmessbarkleinen gehören
also nicht zu den müssigen.
Setzt man voraus, dass die Körper unabhängig vom Ort existiren,
so ist das Krümmungsmass überall constant, und es folgt dann aus den
astronomischen Messungen, dass es nicht von Null verschieden sein kann;
jedenfalls müsste sein reciprocer Werth eine Fläche sein, gegen welche
das unsern Teleskopen zugängliche Gebiet verschwinden müsste. Wenn
aber eine solche Unabhängigkeit der Körper vom Ort nicht stattfindet,
so kann man aus den Massverhältnissen im Grossen nicht auf die im
Unendlichkleinen schliessen; es kann dann in jedem Punkte das Krüm-
mungsmass in drei Richtungen einen beliebigen Werth haben, wenn nur
die ganze Krümmung jedes messbaren Raumtheils nicht merklich von
Null verschieden ist; noch complicirtere Verhältnisse können eintreten,
wenn die vorausgesetzte Darstellbarkeit eines Linienelements durch die
Quadratwurzel aus einem Differentialausdruck zweiten Grades nicht statt-
findet. Nun scheinen aber die empirischen Begriffe, in welchen die
räumlichen Massbestimmungen gegründet sind, der Begriff des festen
Körpers und des Lichtstrahls, im Unendlichkleinen ihre Gültigkeit zu
verlieren; es ist also sehr wohl denkbar, dass die Massverhältnisse des
Raumes im Unendlichkleinen den Voraussetzungen der Geometrie nicht
gemäss sind, und dies würde man in der That annehmen müssen, sobald
sich dadurch die Erscheinungen auf einfachere Weise erklären liessen.
Die Frage über die Gültigkeit der Voraussetzungen der Geometrie
im Unendlichkleinen hängt zusammen mit der Frage nach dem innern
Grunde der Massverhältnisse des Raumes. Bei dieser Frage, welche
wohl noch zur Lehre vom Raume gerechnet werden darf, kommt die
obige Bemerkung zur Anwendung, dass bei einer discreten Mannigfal-
tigkeit das Princip der Massverhältnisse schon in dem Begriffe dieser
Mannigfaltigkeit enthalten ist, bei einer stetigen aber anders woher hin-
zukommen muss. Es muss also entweder das dem Raume zu Grunde
liegende Wirkliche eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, oder der Grund
der Massverhältnisse ausserhalb, in darauf wirkenden bindenden Kräften,
gesucht werden.
[150]B. RIEMANN, ÜB. DIE HYPOTHESEN u. s. w.
Die Entscheidung dieser Fragen kann nur gefunden werden, indem
man von der bisherigen durch die Erfahrung bewährten Auffassung der
Erscheinungen, wozu Newton den Grund gelegt, ausgeht und diese durch
Thatsachen, die sich aus ihr nicht erklären lassen, getrieben allmählich
umarbeitet; solche Untersuchungen, welche, wie die hier geführte, von
allgemeinen Begriffen ausgehen, können nur dazu dienen, dass diese
Arbeit nicht durch die Beschränktheit der Begriffe gehindert und der
Fortschritt im Erkennen des Zusammenhangs der Dinge nicht durch
überlieferte Vorurtheile gehemmt wird.
Es führt dies hinüber in das Gebiet einer andern Wissenschaft, in
das Gebiet der Physik, welches wohl die Natur der heutigen Veranlas-
sung nicht zu betreten erlaubt.
Appendix A Uebersicht.
- Plan der Untersuchung S. 133
- I. Begriff einer nfach ausgedehnten Grösse 1)„ 134
- §. 1. Stetige und discrete Mannigfaltigkeiten. Bestimmte Theile einer Mannig-
faltigkeit heissen Quanta. Eintheilung der Lehre von den stetigen Grössen
in die Lehre
1) von den blossen Gebietsverhältnissen, bei welcher eine Unabhängigkeit
der Grössen vom Ort nicht vorausgesetzt wird,
2) von den Massverhältnissen, bei welcher eine solche Unabhängigkeit
vorausgesetzt werden muss „ 135 - §. 2. Erzeugung des Begriffs einer einfach, zweifach, …, nfach ausgedehnten
Mannigfaltigkeit „ 136 - §. 3. Zurückführung der Ortsbestimmung in einer gegebenen Mannigfaltigkeit
auf Quantitätsbestimmungen. Wesentliches Kennzeichen einer nfach ausge-
dehnten Mannigfaltigkeit „ 137 - II. Massverhältnisse, deren eine Mannigfaltigkeit von n Dimensionen fähig ist 2),
unter der Voraussetzung, dass die Linien unabhängig von der Lage eine Länge
besitzen, also jede Linie durch jede messbar ist „ 138 - §. 1. Ausdruck des Linienelements. Als eben werden solche Mannigfaltigkeiten
betrachtet, in denen das Linienelement durch die Wurzel aus einer Quadrat-
summe vollständiger Differentialien ausdrückbar ist „ 138 - §. 2. Untersuchung der nfach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten, in welchen das
Linienelement durch die Quadratwurzel aus einem Differentialausdruck zwei-
ten Grades dargestellt werden kann. Mass ihrer Abweichung von der
Ebenheit (Krümmungsmass) in einem gegebenen Punkte und einer gegebenen
Flächenrichtung. Zur Bestimmung ihrer Massverhältnisse ist es (unter ge-
wissen Beschränkungen) zulässig und hinreichend, dass das Krümmungsmass in
jedem Punkte in n Flächenrichtungen beliebig gegeben wird „ 141 - ÜBERSICHT.
§. 3. Geometrische Erläuterung S. 143 - §. 4. Die ebenen Mannigfaltigkeiten (in denen das Krümmungsmass allenthalben
= 0 ist) lassen sich betrachten als einen besondern Fall der Mannigfaltig-
keiten mit constantem Krümmungsmass. Diese können auch dadurch de-
finirt werden, dass in ihnen Unabhängigkeit der nfach ausgedehnten Grössen
vom Ort (Bewegbarkeit derselben ohne Dehnung) stattfindet „ 144 - §. 5. Flächen mit constantem Krümmungsmasse „ 145
- III. Anwendung auf den Raum „ 146
- §. 1. Systeme von Thatsachen, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse
des Raumes, wie die Geometrie sie voraussetzt, hinreichen „ 146 - §. 2. In wie weit ist die Gültigkeit dieser empirischen Bestimmungen wahr-
scheinlich jenseits der Grenzen der Beobachtung im Unmessbargrossen? „ 147 - §. 3. In wie weit im Unendlichkleinen? Zusammenhang dieser Frage mit der
Naturerklärung 1)„ 148
[][][]
Zweck seiner Habilitation veranstalteten Colloquium mit der philosophischen Facultät
zu Göttingen vorgelesen worden. Hieraus erklärt sich die Form der Darstellung,
in welcher die analytischen Untersuchungen nur angedeutet werden konnten; in
einem besonderen Aufsatze gedenke ich demnächst auf dieselben zurückzukommen.
Braunschweig, im Juli 1867. R. Dedekind.
Mannigfaltigkeit ist sehr unvollständig, indess für den gegenwärtigen Zweck wohl ausreichend.
- Holder of rights
- Kolimo+
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bnkm.0